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Deutscher Wortschatz – interkulturell

0715
2019
978-3-8233-9087-9
978-3-8233-8087-0
Gunter Narr Verlag 
Csaba Földes
Lyubov Nefedova

In den Beiträgen des vorliegenden Bandes wird die Erkenntnis produktiv gemacht, dass sich die Kulturalität von Sprache wohl in Lexik und Phraseologie am deutlichsten und vielfältigsten zeigt. Im analytischen Fokus steht daher der deutsche Wortschatz mit Blick auf Facetten seiner Erforschung, wobei die Interkulturalität als erkenntnisleitendes Prinzip gilt: Die präsentierten Studien erschließen ein breites Spektrum empirischer Untersuchungsaspekte vor allem in deutsch-russischer Perspektive.

<?page no="1"?> Deutscher Wortschatz - interkulturell <?page no="3"?> Csaba Földes/ Lyubov Nefedova (Hrsg.) Deutscher Wortschatz - interkulturell <?page no="4"?> www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen CPI books GmbH, Leck ISSN 2190-3425 ISBN 978-3-8233-8087-0 (Print) ISBN 978-3-8233-9087-9 (ePDF) <?page no="5"?> Inhalt Vorwort .................................................................................................................................. VII Anna Averina | Intentionales JA/ interaktionales ja in verschiedenen Satztypen: Funktionen, semantische Besonderheiten und russische Äquivalente ............................... 1 Irina B. Bojkova | Über eine mögliche Grundlage kontrastiver Wortschatzbeschreibung ....................................................................................................... 17 Natalia Chomutskaja | Eigennamen im Text der Kurzgeschichte Undines gewaltiger Vater von Heinrich Böll: Kulturologischer Aspekt ............................. 33 Ludmila I. Grišaeva | Neubildungen mit der Komponente -Putinin aktuellen deutschen Medientexten ................................................................................. 45 Eugen Hill | Sprachkontakt und die Struktur des Lexikons. Vom Simplex zum Kompositum in deutsch-litauischer Lexikographie des 17. Jahrhunderts ................................................................................................................ 77 Stalina Katajewa | Weiterverwendungsproblematik von NS-Vokabular - interkulturell gesehen ........................................................................................................... 99 Oksana Khrystenko | Lexikalisch-semantische Transferenzen aus dem Deutschen in der geschriebenen Sprache in der heutigen Westukraine als Ergebnis der Sprachkontaktsituation in der bukowinischen Region ......................... 113 Attila Mészáros | Zum Wortschatz der Migrationsdebatte im Spiegel der deutschen und der ungarischen Presse ........................................................................ 131 Lyubov Nefedova | Feste Wortverbindungen als Realienbezeichnungen Deutschlands im russischen Lexikon der deutschen Kultur: Fragen der Lexikographierung von fremden Kulturen ........................................................................ 149 Alexander M. Polikarpov | Interkulturelle Erforschung der niederdeutschen Umgangssprache des 17. Jahrhunderts vom Standpunkt einer komparativen linguistischen Ökologie ....................................................................................................... 169 Tanja Seliazneva | Unkonventionelle Realienbezeichnungen und ihre Manifestation in einem interkulturellen Medienkontext (Deutsch, Russisch) .............. 185 Eugen Zaretsky | Geographie der Wortschatzkenntnisse bei Vorschulkindern in Frankfurt am Main: Migrationshintergrund, Einkommen und andere demographische Einflussgrößen ......................................................................................... 199 Herausgeber, Herausgeberin und Beiträger(innen) .......................................................... 231 <?page no="6"?> 6 <?page no="7"?> Vorwort Der vorliegende Band geht auf die Tagung „Deutscher Wortschatz - interkulturell“ zurück, die als gemeinsame Veranstaltung der Staatlichen Pädagogischen Universität Moskau und der Universität Erfurt vom 9. bis 10. Oktober 2015 in Moskau stattfand. Den Hintergrund der Konferenz bildete die seit 2014 bestehende Germanistische Institutspartnerschaft (GIP) zwischen dem Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft der Universität Erfurt und dem Lehrstuhl für deutsche Sprache der Staatlichen Pädagogischen Universität Moskau, als Nebenpartnerin kam außerdem der Lehrstuhl für Germanistik und Romanistik der Staatlichen Sozial- und Geisteswissenschaftlichen Universität Kolomna hinzu. Das Projekt verfolgt das Ziel, innovative zeitgemäße Konzepte aus der interkulturellen Germanistik für die Partnerschaft und die Partnerhochschulen produktiv zu machen, indem die Interkulturalität als erkenntnisleitendes Prinzip betrachtet wird. Folglich steht die Institutspartnerschaft unter dem Titel: „Interkulturelle Germanistik: Impulse für Forschung und Lehre zu Wort und Text“. Primärer Gegenstand der GIP ist die Kooperation in Forschung und Lehre im Bereich der internationalen germanistischen Linguistik. Regelmäßig stattfindende Tagungen sowie verschiedene weitere Aktivitäten festigen den akademischen Austausch. Besonders gefördert werden Nachwuchswissenschaftler(innen), aber auch Studierende der Germanistik an allen drei Hochschulen; gemeinsame Betreuungen von Promotions- und Habilitationsschriften sollen einen internationalen Synergie- Effekt erzielen. Zum Grundkonzept der Tagung gehört die Erkenntnis, dass kulturelle Kontaktbeziehungen und Interkulturalitätsmanifestationen besonders für die Lexik und die Phraseologie charakteristisch sind. Gleichwohl wird dieser Problematik immer noch nicht hinreichende Aufmerksamkeit geschenkt. Beispielsweise enthält das Register des renommierten HSK-Bandes „Lexikologie“ (Cruse/ Hundsnurscher/ Job/ Lutzeier 2002-2005) 1 weder kulturnoch interkulturalitätsbezogene Stichwörter. Unsere Tagung wurde dem Wirken des herausragenden russischen Germanisten, dem Lexikologen und Lexikographen Valentin Dmitrievi Devkin gewid- 1 Cruse, D. Alan/ Hundsnurscher, Franz/ Job, Michael/ Lutzeier, Peter Rolf (Hrsg.) (2002- 2005): Lexikologie. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. Berlin/ New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 21. 1+2). <?page no="8"?> VIII Vorwort met, der die Germanistik an der Staatlichen Pädagogischen Universität Moskau und in ganz Russland langjährig und nachhaltig mitgeprägt hat. Viele russische Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung fühlen sich V. D. Devkin zu großem Dank verpflichtet, weil er ihren wissenschaftlichen Werdegang mit Rat und Tat unterstützt hat: Unter seiner Betreuung promovierten sich 80 Kolleginnen und Kollegen, 17 wurden habilitiert. Die Schülerinnen und Schüler von V. D. Devkin sind nicht nur im europäischen Teil Russlands, sondern auch im Ural, in Sibirien und im Fernen Osten tätig. In germanistischen Fachkreisen Russlands und Deutschlands sind sein „Deutsch-Russisches Wörterbuch der umgangssprachlichen Lexik“ (1994) und sein fundamentales Werk „Deutsche Lexikographie“ (2005) sehr gut bekannt und geschätzt. 2 Die Abhandlungen des vorliegenden Bandes gehen größtenteils auf die Tagungsvorträge zurück: Präsentiert wird eine Auswahl der vorgetragenen Referate, ergänzt um einige einschlägige Aufsätze, die von Nicht-Teilnehmer(inne)n zum Tagungsthema eingereicht wurden. Unser Anliegen ist es, mit dieser Veröffentlichung die angesprochenen Fragestellungen auf einem anspruchsvollen wissenschaftlichen Niveau in einem Band mit hoher thematischer Konsistenz zu behandeln. Deshalb wurden alle Manuskripte von ausgewiesenen Expert(inn)en der gegebenen Themenfelder „doppelblind“ begutachtet. Hiermit danken wir folgenden Kolleg(inn)en für ihre freundliche Unterstützung: Irmtraud Behr (Paris), Pavel Donec (Charkiw), Hans-Harry Drößiger (Kaunas), Peter Ernst (Wien), Jarmo Korhonen (Helsinki), Holger Kuße (Dresden), Christian Lehmann (Erfurt), Rosemarie Lühr (Jena/ Berlin), Jörg Meier (Innsbruck), Thomas Niehr (Aachen), Stefaniya Ptashnyk (Heidelberg), Ralf Rummer (Kassel), Dieter Stellmacher (Göttingen) und Martin Wengeler (Trier). Dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) danken wir für die langjährige Förderung des GIP-Projekts und in diesem Zusammenhang auch für den großzügigen Druckkostenzuschuss aus Mitteln des Auswärtigen Amtes, durch den die Veröffentlichung der Tagungsbeiträge möglich wurde. Als Bandherausgeber hoffen wir, dass die vorliegende Publikation eine - auch impulsgebende - Bereicherung für die internationale und besonders für die interkulturelle Germanistik sein wird. Erfurt und Moskau, im März 2019 Csaba Földes - Lyubov Nefedova 2 Devkin, Valentin Dmitrievi (1994): Nemecko-russkij slovar' razgovornoj leksiki. Svyše 12000 slov i 40000 slovoso etanij. Deutsch-russisches Wörterbuch der umgangssprachlichen und saloppen Lexik. Moskva; Devkin, Valentin Dmitrievi (2005): Nemeckaja leksikografija. Moskva. <?page no="9"?> Intentionales JA/ interaktionales ja in verschiedenen Satztypen: Funktionen, semantische Besonderheiten und russische Äquivalente Anna Averina (Moskau) Zusammenfassung Im vorliegenden Artikel 1 wird auf die Frage eingegangen, welche Eigenschaften die Partikeln JA (betontes JA im Satzmittelfeld) und ja (unbetontes ja an der Satzspitze) haben. Durch die Analyse ihrer Verwendung in unterschiedlichen Satztypen und ihrer Funktionen auf der Mikrotextebene wird gezeigt, dass betontes JA im Satzmittelfeld als Modalpartikel interpretiert werden sollte, während unbetontes ja an der Satzspitze als Diskurspartikel auftritt. Die Analyse der russischen Äquivalente der genannten Partikeln zeigt, dass die typische Übersetzung der Diskurspartikel ja durch die Partikel da erfolgt, die ihre Position auch an der Satzspitze hat, dem betonten JA entspricht in der russischen Sprache die Partikel že, die in der Regel die zweite Stellung im Satz hat. Basierend auf der Analyse der Eigenschaften von JA/ ja wird vermutet, dass die Position an der Satzspitze für diskursive Elemente typisch ist, während für modale Elemente nicht die Satzspitze, sondern das Mittelfeld charakteristisch ist. Als eine der Funktionen von Diskurspartikeln tritt ihre Fähigkeit auf, einen Gedanken im Rahmen einer thematischen Einheit hervorzuheben. 1 Zielsetzung und Fragestellung Die Partikel ja kann bekanntlich in unterschiedlichen Lesarten auftreten: als Modalpartikel (1), als Fokuspartikel (2) sowie als Diskurspartikel (3), vgl.: (1) Ich achte ja sehr genau darauf (Parlamentsreden). (2) Umfassende Veränderungen, ja Reformen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sind dringend notwendig (Parlamentsreden). (3) Ja hörst Du jetzt auf ? (DeWaC 1). Diese Partikel kann nach Imo auch als Responsiv (Antwortpartikel), als Hörersignal, als Zögerungs- und Planungssignal bzw. Diskursmarker, als Beendigungssignal, als Vergewisserungssignal sowie als Teil von Erkenntnisprozessmarkern 1 Die Autorin ist dem anonymen Gutachter für wertvolle Bemerkungen und Verbesserungsvorschläge dankbar. <?page no="10"?> 2 Anna Averina behandelt werden (Imo 2013: 159f.). Die Zahl der Arbeiten, in denen unbetontes ja als Abtönungs- oder als Modalpartikel analysiert wurde, ist sehr groß, eine ausführliche Übersicht davon gibt es in Thurmair (1989), Abraham (2010; 2011), Coniglio (2011), Meibauer (1994), Hoffmann (2008), Imo (2013), Averina (2015) usw. Die Verwendung von ja als Fokuspartikel ist ebenso aufschlussreich beschrieben worden. Akzentuiertes JA wurde von Meibauer (1993; 1994) behandelt; er charakterisiert JA als ein intentionales Wort, was es von ja wie in (1) unterscheidet, vgl.: (4) Ich darf JA nicht den Termin vergessen (Meibauer 1993: 129f.). Die Partikel ja wie im Falle (3) wurde noch nicht analysiert. Interessant finde ich, dass die betonte Partikel JA und die unbetonte Partikel ja an der Satzspitze in Imperativsätzen bestimmte Affinitäten aufweisen, was anhand folgender Belege beobachtet werden kann, vgl.: (5) Ja MACH endlich das Fenster auf! (6) Mach JA endlich das FENSTER auf! Sowohl in (5) als auch in (6) wird die Aufforderung verstärkt. Die Frage bezüglich der Unterschiede in der Satzsemantik mit dem betonten JA und dem unbetonten ja an der Satzspitze sollte noch geklärt werden. Ich gehe von der Hypothese aus, dass das betonte JA und das unbetonte ja an der Satzspitze Unterschiede in der Satztypendistribution sowie in semantischen Schattierungen haben. Das Ziel meines Beitrages besteht also darin, auf die Eigenschaften der unbetonten Partikel ja im Vor-Vorfeld und der akzentuierten Partikel JA im Mittelfeld einzugehen und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Kodierung der Sprecherintention aufzuschließen. In diesem Zusammenhang möchte ich folgende Problemfragen beleuchten: - Was versteht man unter dem Begriff „Diskurspartikel“? Welchen Unterschied gibt es zwischen Diskurs- und Modalpartikeln? - In welchen Satztypen ist unakzentuiertes ja im Vor-Vorfeld, und in welchen - akzentuiertes JA im Mittelfeld möglich? Wo liegt der Unterschied zwischen der Semantik und der Pragmatik von Sätzen mit dem akzentuierten JA und dem unakzentuierten ja? Welche Situationstypen sind dabei zu beschreiben? - Welche Satzkomponenten werden noch betont? Welchen Status haben die genannten Partikeln? Handelt es sich um Diskurs- oder um Modalpartikeln? Welche Eigenschaften haben Diskurspartikeln, die sie von Modalpartikeln unterscheiden? - Wie können die genannten Satzstrukturen ins Russische übersetzt werden? <?page no="11"?> Intentionales JA/ interaktionales ja in verschiedenen Satztypen 3 Als Belegmaterial habe ich das Web-Korpus DeWaC sowie das Korpus Parlamentsreden der Humboldt-Universität zu Berlin benutzt. Das Korpus DeWaC stellt automatisch generierte deutsche Webkorpora dar und ist formell in einige Untergruppen eingeteilt: DeWaC 1, DeWaC 2, DeWaC 3, DeWaC 4, DeWaC 5 und DeWaC 6. Es enthält deutsche Webseiten im Gesamtumfang von mehr als 1,5 Milliarden Wörtern, die im Jahr 2005 von M. Baroni archiviert wurden. Das Korpus Parlamentsreden enthält Plenarprotokolle des Deutschen Bundestages von 1993 bis 2003. Die Intonation, Betonung, Vokallängung und Tonhöhe sind im Korpus nicht markiert. Um die Betonung zu bestimmen, habe ich mich auf die Meinung von Muttersprachlern gestützt. Für die Veranschaulichung einzelner Erscheinungen habe ich Literaturquellen benutzt. Die Struktur des Artikels sieht wie folgt aus: Im Abschnitt 1 analysiere ich unterschiedliche Definitionen der Diskurs- und Modalpartikeln; im Abschnitt 2 betrachte ich die Satztypendistribution des betonten JA und des unbetonten ja und führe russische Äquivalente an; im Abschnitt 3 gehe ich auf die semantischen Unterschiede von Sätzen, die diese Partikeln enthalten, ein und begründe somit den Status der Partikeln; im Abschnitt 4 gehe ich kurz auf die Wortfolge im Deutschen und im Russischen ein und betrachte allgemeine Gesetzmäßigkeiten in der Position der Partikeln in der Satzstruktur. Im Abschnitt 5 werden die Ergebnisse verallgemeinert. 2 Definitionen von Diskurs- und Modalpartikeln. Der Status des betonten JA und des unbetonten ja Es gibt keine einheitliche Meinung bezüglich der Zugehörigkeit der Gruppe von Modalpartikeln zu Diskurspartikeln. Betrachtet man die Literatur zu diesem Thema, so zeigt sich, dass betontes JA und DOCH sowohl als Modalpartikeln wie bei Meibauer (1994) als auch als Diskurspartikeln wie bei Egg (2011) betrachtet werden. Meibauer weist auf die wesentlichen Charakteristiken der Modalpartikeln im Deutschen hin: Allein können Modalpartikeln nur im Mittelfeld stehen; zusammen mit einem W-Ausdruck können sie im Vorfeld von W-Interrogativsätzen stehen; sie können nicht im Nachfeld stehen (Meibauer 1994: 29f.). Waltereit merkt an, dass Modalpartikeln Affinitäten zu Diskurspartikeln aufweisen (Waltereit 2006: 7f.). Zu den Eigenschaften der Diskurspartikeln zählt Waltereit: Nichtflektierbarkeit; die Möglichkeit der Position am Rande der Diskurseinheit; Diskurspartikeln können betont werden; sie haben einen weiten Skopus; sie sind nicht erfragbar und nicht negierbar, und sie unterliegen grammatischen Beschränkungen in Bezug auf den Satztyp. Nach Waltereit un- <?page no="12"?> 4 Anna Averina terscheiden sich Modalpartikeln von Diskurspartikeln in erster Linie dadurch, dass Modalpartikeln einen Skopus über den ganzen Satz haben, während der Skopus der Diskurspartikeln größer als ein Satz sein kann (ebd.). Ebenso ist Dobrovol’skij der Ansicht, dass sich Modalpartikeln auf einen Satz beziehen, wobei der Satzinhalt mit kommunikativen und argumentativen Zielen und Einstellungen des Sprechers korreliert, während die Hauptfunktion der Diskurspartikeln darin besteht, eine Kohärenz zwischen einzelnen Aussagen und Teilen des verbalen und nonverbalen Kontextes zu schaffen (Dobrovol’skij 2013: 37f.). Im Artikel von Averina (2016) wurde gezeigt, dass die Modalpartikel ja, die im Satzmittelfeld steht, auch einen weiten Skopus hat, weil sie anaphorisch wirkt und sich auf den vorangehenden Satz bezieht, vgl.: (7) Natürlich wollen sie nicht schwimmen! Sie sind ja für den Boden geboren, nicht fürs Wasser (Hesse 1999). Die Aussage ist nach dem Schema modus ponens aufgebaut, das sich wesentlich von anderen kausalen Strukturen unterscheidet, was sich folgendermaßen darstellen lässt: A, A B B A ist eine einfache Prämisse, A B ist eine zusammengesetzte oder analytische Prämisse, ist eine Kopula oder ein Junktor. Zu lesen ist: Wenn die Prämisse A und die analytische Prämisse A B wahr sind, dann ist die Konklusion B auch wahr. Der Satz (7) kann so interpretiert werden: A B: Wenn man für den Boden geboren ist, will man nicht schwimmen. A: Sie sind für den Boden geboren. B (Konklusion): Sie wollen nicht schwimmen. Zwischen Sätzen entstehen dabei implikative Relationen, während im Fall mit der Partikel ja an der Satzspitze additive Verhältnisse wiedergegeben werden, vgl.: (8) Rezzo Schlauch […]: „Fragen Sie mich nicht“. KONTRASTE: „Warum nicht? “ Rezzo Schlauch […]: „Ja weil ich nicht alles kommentieren muss …“ (Parlamentsreden). Hier verstärkt die Partikel ja an der Satzspitze die Aussage. Das Verhältnis zwischen dem Satz mit ja an der Satzspitze und dem vorangehenden Satz (Fragen Sie mich nicht) ist im Unterschied von (7) nicht implikativer, sondern additiver <?page no="13"?> Intentionales JA/ interaktionales ja in verschiedenen Satztypen 5 Natur - der Satz mit ja in (8) ergänzt die Aussage. Auch im folgenden Auszug führt die Partikel ja den Satz ein, der den vorangehenden Satz erweitert und präzisiert, vgl.: (9) Aber niemand nimmt Kenntnis von ihr und sie selbst wirkt ebenso wie das Kind interessiert - ganz im Gegensatz zu den anderen Menschen im Atelier. Ja sie scheint geradezu ergriffen von der Tätigkeit des Malers (DeWaC 1). Wie die Belege zeigen, beziehen sich sowohl die Partikel ja im Mittelfeld (7) als auch die Partikel ja an der Satzspitze auf vorangehende Sätze. Die Partikel ja an der Satzspitze möchte ich als Diskurspartikel betrachten: Sie steht am Satzrand und hat einen weiten Skopus. Es bleibt nun die Frage, wo der Unterschied zwischen dem betonten JA und dem unbetonten ja in den Sätzen (5) und (6) besteht. Um diese Frage zu beantworten, möchte ich zuerst die Satztypendistribution des unbetonten ja und des betonten JA betrachten und die Satzsemantik analysieren. Für die Analyse der typischen Positionen für diskursive und modale Einheiten möchte ich auch russische Äquivalente anführen. 3 Satztypendistribution von ja/ JA und ihre russischen Äquivalente: Struktur, Semantik und Pragmatik der Sätze Unakzentuiertes ja wird in Imperativ-, Frage-, Deklarativsätzen, Nebensätzen und selbständigen Komplementierersätzen verwendet. Akzentuiertes JA ist in Imperativsätzen, Fragesätzen ohne Fragewort, in Deklarativsätzen, in Komplementierersätzen sowie in Finalsätzen möglich. 3.1 Imperativsätze In Imperativsätzen wird neben der Verwendung des unakzentuierten ja das Vollverb betont: (10) „Ja und, was hat das mit dem Mattes zu tun? “ „Ja LASS 2 mich doch ausreden, echt, ihr Männer lasst eine Frau ja nie richtig ausreden“ (DeWaC 6). 2 Mit Großbuchstaben werden hier und im Folgenden Wörter markiert, die eine stärkere Betonung bekommen. <?page no="14"?> 6 Anna Averina Zwischen der Partikel ja und dem Vollverb gibt es keine Pausen, der Akzent fällt auf das Prädikat. In der russischen Übersetzung wird dabei die Partikel že als Verstärkungswort mit der Partikel da an der Satzspitze verwendet: „Da daj že mne vyskasat’sja, pravda, vy muž iny nikogda ne dadite vyskasa sja ženš ine“. In Imperativsätzen mit dem unakzentuierten ja an der Satzspitze wird nach dem betonten Vollverb auch die Partikel mal ziemlich oft verwendet, vgl: (11) Ja SAGen Sie mal, wie definieren Sie eigentlich Eigenständigkeit? (Parlamentsreden) Da skažite že, kak vy opredeljaete avtonomiju? In der russischen Übersetzung werden die Partikel že und das Wort da an der Satzspitze gebraucht. Ihre Funktion besteht darin, zu zeigen, dass der Sprecher seine Bitte mit großem Nachdruck äußert. Typisch für die Partikel ja an der Satzspitze ist es auch, dass sie in solchen Anredeformen wie hör mal, sag mal (ja hör mal, ja sag mal) gebraucht werden kann, vgl.: (12) „Ich hoffe, ihn hat’s nicht so schlimm erwischt wie dich“. „Wieso, bin ich denn schlimm dran? “ „Ja HÖR mal“, kam seine Mutter dazwischen, „Du hattest den Bauch auf und eine schwere Gehirnerschütterung […]“ (DeWaC 2). „Nadejus’, emu ne tak dostalos’ kak tebe“. „Kak že tak, neuželi ja tak ploch? “ „Da poslušaj že, u tebja rasporot život i u tebja sotrjasenie mozga“. Die Verwendung des betonten JA ist in der Anrede nicht möglich. Noch eine Besonderheit des Gebrauchs des unbetonten ja an der Satzspitze besteht darin, dass es Sätze einleitet, die durch Ergänzungssätze bzw. andere Strukturen erweitert werden können, was für Imperativsätze mit dem betonten JA nicht typisch ist, vgl.: (13) Ja verSUCH nur, dich aus deinem Käfig zu befreien! (DeWaC 6) Da popytajsja že osvobodit’sja iz kletki! Nach Hoffmann tritt JA in Imperativsätzen in direktiver Verwendung auf, vgl.: (14) Erzähl mir JA nichts! (DeWaC 6) Ne nado mne to rasskazyvat’! Der Imperativsatz mit dem betonten JA in (14) kodiert eine Aufforderung, wobei der Sprecher einen gewissen Druck auf den Gesprächspartner ausübt. In (10)-(13) zeigt der Sprecher seine Ungeduld. Die Betonung des Prädikats in (10)- <?page no="15"?> Intentionales JA/ interaktionales ja in verschiedenen Satztypen 7 (13) zeugt davon, dass sich die Partikel ja an der Satzspitze auf das Prädikat bezieht. Wird die Modalpartikel JA wie in (14) betont, ist es nicht notwendig, das Prädikat zu betonen. 3.2 Fragesätze In Fragesätzen mit dem unakzentuierten ja an der Satzspitze wird das Prädikativ betont: (15) „Ja bist denn Du schon STEUERpflichtig? “ wollte der Beamte wissen. „Nein, ich bin erst 15 Jahre alt“ (DeWaC 1). „Da razve ty nalogoobjazannyj? “ zachotel uznat’ služaš ij. „Net, mne vsego 15 let“. In Sätzen dieses Typs wird häufig die Modalpartikel denn verwendet. Die Betonung des prädikativen Teils zeugt davon, dass unakzentuiertes ja inhaltlich damit verbunden ist und seine Semantik verstärkt. In der russischen Übersetzung wird die Unzufriedenheit des Sprechers mit Partikeln to li, das Erstaunen mit razve kodiert. Sätze mit dem betonten JA implizieren eine andere Sprechereinstellung: Durch die Frage möchte sich der Sprecher vergewissern, dass es so ist, dass der Sachverhalt, von dem die Rede ist, unbedingt sein muss, dass es unheimlich wichtig ist. Im Korpus DeWaC und im Korpus Parlamentsreden habe ich keine Belege mit dem betonten JA in Fragesätzen ohne Fragewort gefunden, unten führe ich den Beleg von Meibauer an: (16) Hast du auch JA das Fenster geschlossen? (Meibauer 1993: 129f.) Ty to no okno zakryl? In Fragesätzen mit Fragewort wird betontes JA nicht verwendet, während die Partikel ja in diesen Strukturen möglich ist, vgl.: (17) „Rufen Sie an auf der Station, die sollen das abholen! “ „Ja wer sind Sie denn? “ (DeWaC 1) „Pozvonite iz stacionara, oni to dolžny zabrat’“. „A kto Vy takoj? “ (18) Wo bleibt der Glanz der alten Tage? Unsere Identität? Ja wer sind wir denn noch in Europa? (DeWaC 1) Gde ostalsja blesk bylych dnej? Naša identi nost’? Da kto že my eš v Evrope? Die Funktion der Partikel ja an der Satzspitze besteht darin, das Erstaunen des Sprechers zu verstärken: Der Sprecher hat etwas anderes erwartet, mit der Par- <?page no="16"?> 8 Anna Averina tikel ja an der Satzspitze wird gezeigt, dass der Sprecher andere Vorstellungen vom Sachverhalt hatte. Der Unterschied zwischen dem betonten JA und dem unbetonten ja liegt in der Sprecherintention und auch darin, dass Fragesätze mit ja an der Satzspitze einen unmittelbaren Bezug auf die vorangehende Aussage haben. Sie sind interaktionsbezogen. Fragesätze mit dem betonten JA haben eine andere Semantik: Der Sprecher will zeigen, dass der Sachverhalt, von dem die Rede ist, ganz wichtig ist. 3.3 Deklarativsätze In Deklarativsätzen mit der Partikel ja an der Satzspitze werden in der Regel entweder Eigenschaften von Subjekten charakterisiert oder die Position des Gesprächspartners interpretiert. In Averina (2016) wurde gezeigt, dass die Partikel ja an der Satzspitze ziemlich häufig in Deklarativsätzen auftritt, wobei sie das Vor-Vorfeld besitzt, vgl.: (19) Angela lehnte sich ein wenig erstaunt über den Anruf von Marie in ihr muscheliges Sofa und dachte an die tollen Zeiten mit Marie zurück. Ja sie waren von Anfang an dicke Freundinnen gewesen, konnten über alles Mögliche quatschen, bis dieser Kerl Karunakaran ins Spiel kam (DeWaC 6). Udivl nnaja zvonkom Marii, Angela oblokotilas’ na svoj mjagkij divan i podumala o zame atel’nych prošlych vremenach s Mariej. Ved’ byli že oni s samogo na ala zakady nymi podružkami, mogli boltat’ o m ugodno, poka v igru ne vklju ilsja tot Karunakaran. (20) Ein lautes Poltern. Mit einem Aufschrei rannte er die Treppen herunter. Ja er flog förmlich (DeWaC 2). Si nyj grochot. S krikom on skatilsja s lestnicy. Na samom dele da ž e poletel. (21) Im Grunde genommen war Clemens in der Öffentlichkeit eher unauffällig und schüchtern. Ja er sah regelrecht brav aus, als könnte er kein Wässerchen trüben (DeWaC 5). Po suti Klemens byl na ljudjach tichim i robkim. Bolee togo, on v samom dele vygljadel tak, kak budto on muchi ne obidit. In dem Beleg (19) wird im Satz mit der Partikel ja an der Spitze erlebte Rede eingeführt. In (20) und (21) besteht die Funktion der Partikel ja darin, die Handlung/ die Charakteristik des Objekts, von dem die Rede ist, zu präzisieren. In allen diesen Fällen wird der Gedanke im Rahmen einer thematischen Einheit <?page no="17"?> Intentionales JA/ interaktionales ja in verschiedenen Satztypen 9 hervorgehoben. Der Satz mit der Partikel ja an der Satzspitze bildet mit dem vorangehenden Satz inhaltlich ein Ganzes. Die Semantik von Deklarativsätzen mit dem betonten JA ist anders, häufig werden in solchen Sätzen die Modalverben verwendet, z. B. das Modalverb sollen: (22) Was macht die besorgte Mutter? Sie unterdrückt Fieber und Schnupfen mit Medikamenten. Das arme Kind soll JA nicht leiden (DeWaC 4). to že delaet obespokoennaja mat’? Ona podavljaet temperaturu i nasmork medikamentami. Nikak ved’ nel’zja dopustit’, toby reb nok stradal. (23) Er macht so tolle Fortschritte, ist endlich nicht mehr geistig behindert - und nun soll er in die Psychiatrie? Das ist doch Humbug! Er soll JA nicht in die Psych[i]atrie (DeWaC 5). U nego takie uspechi i on uže duševno zdorov - a teper’ on dolžen v psichušku? to že Hamburg! Da ego nikak nel’zja v psichušku. (24) Wir sollen auch JA nicht vergessen, wem wir verdanken unser Essen (DeWaC 1; aus Predigtbeispielen). Nam nikak nel’zja zabyt’, kogo my dolžny blagodarit’ za edu. In den Belegen (22) und (24) kann die Partikel ja sowohl betont (JA) als auch unbetont (ja) sein. Ist sie betont, unterstützt sie den Ausdruck der Übertreibung: in (22) - wehe das Kind leidet, in (23) - wehe, wenn er in die Psychiatrie gebracht werden wird. In (24) unterstreicht betontes JA, dass wir bloß nicht vergessen dürfen. In (22)-(24) wird das betonte JA mit dem Modalverb sollen und mit der Negation nicht kombiniert. Als russische Äquivalente werden Sätze mit den Partikeln že oder ved’ und dem Verstärkungswort nikak verwendet. Die Partikel ja an der Satzspitze hat also einen unmittelbaren Bezug auf die vorangehende Aussage und hebt einen Gedanken hervor, während betontes JA die Wichtigkeit eines Sachverhalts unterstreicht. 3.4 Nebensätze Die Verwendung von ja an der Satzspitze ist nur in Konditionalsätzen möglich: (25) Wenn ich nach Hause komme, ist immer alles leer und kalt. Einzig der ScreenSaver springt über den Monitor. Ja wenn ich nicht wenigstens meinen ComPUter hätte, wär’ das Leben öd’ und leer (DeWAC 1). <?page no="18"?> 10 Anna Averina Kogda ja prichožu domoj, vs kažetsja vsegda pustym i cholodnym. Tol’ko zastavka mel’kaet na kompjutere. Jesli by u menja ne bylo by kompjutera, to žizn’ byla by bezžiznennoj i pustoj. Ich habe keine Belege gefunden, wo diese Partikel an der Satzspitze in anderen Nebensatztypen steht. Ich denke, das kann mit der Kompatibilität dieser Modalpartikel mit der Semantik des Nebensatzes erklärt werden: Durch die Verwendung von ja an der Satzspitze in Konditionalsätzen wird betont, dass diese oder jene Bedingung für den Sprecher relevant ist. Die Verwendung des betonten JA ist in Finalsätzen möglich: (26) Sie hat das getan, damit JA keine ExploSION stattfindet (Parlamentsreden). Ona to sdelala, toby už navernjaka ne bylo vzryva. In den angeführten Belegen werden neben der Partikel JA auch Objekte betont. Der Sprecher zeigt damit, dass die Information, die der Nebensatz enthält, äußerst wichtig für den Protagonisten ist. 3.5 Komplementierersätze Die Verwendung der Diskurspartikel ja an der Satzspitze vor selbständigen Komplementierersätzen (mit konditionalen und kausalen Konjunktionen) ist auch möglich: (27) Ja WENN ich denn die alte Hütte hätte! (DeWAC 1) Vot esli by u menja byla ta staraja chižina! (28) Warum? Ja weil er die Tore ja nicht SELber schießen kann (DeWaC 5). Po emu? Da potomu to on sam ne možet zabit’ nikakich golov. In selbständigen Konditionalsätzen fällt die Betonung auf die Konjunktion. Die Partikel ja an der Satzspitze verstärkt die Sprecherintention: Dadurch wird gezeigt, dass der Sprecher auf einen wichtigen Aspekt hinweist, den der Gesprächspartner nicht berücksichtigt hat. In selbständigen Kausalsätzen fällt die Betonung auf das Wort, das logisch hervorgehoben werden muss. Die Verwendung des akzentuierten JA ist in selbständigen Komplementierersätzen mit dass möglich, vgl.: (29)[E]in etwa 50-Jähriger [sagt] zu seiner deutlich älter aussehenden Begleiterin: „Dass du mir JA am [auf dem] Gehsteig bleibst! “ (DeWaC 2) 50-letnij govorit svoej bolee staršej sputnice: „ toby ne smela uchodit’ s trotuara! “ <?page no="19"?> Intentionales JA/ interaktionales ja in verschiedenen Satztypen 11 Wie die Belege zeigen, hat die Partikel ja an der Satzspitze einen unmittelbaren Bezug auf die vorangehende Aussage. Es handelt sich um Interaktion, während im Falle mit dem betonten JA Sprecherintention kodiert wird: Der Sprecher will, dass der Gesprächspartner seinen Anforderungen strikt folgt. 4 Semantik: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Die Verwendung des unakzentuierten Ja an der Satzspitze und des betonten JA im Satzmittelfeld weist zwar einige Gemeinsamkeiten, jedoch auch viele Unterschiede auf. Die Unterschiede liegen in folgenden Fällen vor: 1. In Fragesätzen mit Fragewort kann nur unakzentuiertes Ja an der Satzspitze verwendet werden. Dabei werden das Erstaunen des Sprechers und seine Ungeduld kodiert. Betontes JA kann in Fragesätzen mit Fragewort nicht verwendet werden. Entscheidungsfragen mit dem betonten JA unterstreichen die Wichtigkeit eines Sachverhalts. 2. Die Verwendung von ja an der Satzspitze trägt in Deklarativsätzen dazu bei, einen Gedanken im Rahmen einer thematischen Einheit hervorzuheben: Dabei kann entweder Präzisierung ausgedrückt oder in bestimmten Textsorten erlebte Rede eingeführt werden. Das betonte JA wird in Deklarativsätzen dazu verwendet, zu zeigen, dass ein Sachverhalt äußerst wichtig für den Sprecher ist. 3. Die Verwendung von ja an der Satzspitze ist nur in Konditionalsätzen möglich, während betontes JA nur in Finalsätzen verwendet werden kann. Bestimmte Affinitäten weisen diese Partikeln in Imperativsätzen auf - in beiden Fällen wird die Aufforderung verstärkt. Es gibt aber wesentliche Unterschiede: (1) die Aufforderung mit JA enthält einen impliziten Verweis auf die Folgen nicht präferierter Handlungen 3 , während mit ja an der Satzspitze die Aufforderung milder wirkt; (2) Imperativsätze mit ja an der Satzspitze können durch Ergänzungssätze erweitert werden, was für Sätze mit dem betonten JA nicht typisch ist, und (3) Imperativsätze mit ja an der Satzspitze können als Anreden verwendet werden, was für Sätze mit dem betonten JA nicht charakteris- 3 Für die Formulierung „Folgen nicht präferierter Handlungen“ bedanke ich mich bei dem anonymen Gutachter. <?page no="20"?> 12 Anna Averina tisch ist. Semantische Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden unten in Tabelle 1 verallgemeinert dargestellt. Aus der Analyse des Belegmaterials ergibt sich, dass durch die Verwendung von Sätzen mit dem unakzentuierten ja an der Satzspitze die rhetorische Aktivität des Sprechers verstärkt wird: Der Sprecher möchte den Gesprächspartner von der Richtigkeit seiner Meinung überzeugen, eventuell seine Unzufriedenheit zeigen, ohne irgendeinen Druck auf ihn auszuüben. Dabei wird erwartet, dass der Gesprächspartner irgendwie auf solche Aussagen reagiert und die Einstellung des Sprechers übernimmt. Ja an der Satzspitze möchte ich daher als ein interaktionales Ja charakterisieren. Diese Partikel verstärkt die Aussage und hebt einen seiner Aspekte hervor, was aus semantischer Sicht als <Verstärkung> und <Hervorhebung> charakterisiert werden kann: Ja dient zur Verstärkung der Aussage; mit ja zeigt der Sprecher an, dass die Proposition nach seiner Meinung besonders wichtig ist und die vorangehende Aussage (manchmal auch steigernd) ergänzt. Satztyp Unakzentuiertes ja an der Satzspitze Betontes JA Deklarativsätze Präzisierung; Hervorhebung eines Gedanken; Einführung der erlebten Rede, Hinweis auf einen besonders wichtigen Aspekt Meist mit Modalverb: Der Sprecher will nicht etwas zulassen und weist auf die Wichtigkeit eines Sachverhalts hin Imperativsätze Verstärkung eines Befehls, einer Bitte; Anrede mit Nachdruck Impliziter Verweis auf die Folgen nicht präferierter Handlungen Fragesätze Verstärken das Erstaunen des Sprechers Unterstreichung der Wichtigkeit eines Sachverhalts (weh dir, wenn du das nicht gemacht hast) Nebensätze Konditionalsätze: Verstärken die Gereiztheit des Sprechers; heben einen wichtigen Aspekt hervor Finalsätze: Hinweis auf die Wichtigkeit eines Sachverhalts Komplementierersätze Konditionalsätze, Kausalsätze: Verstärkung Sätze mit „Dass“: Verstärkung des Sprecherwunsches Bedeutung der Partikeln <Verstärkung>, <Hervorhebung> <Verstärkung> Tab. 1: Semantik von Sätzen mit dem unakzentuierten ja und mit dem akzentuierten JA <?page no="21"?> Intentionales JA/ interaktionales ja in verschiedenen Satztypen 13 Sätze mit dem betonten JA haben eine andere Schattierung: Durch die Verwendung des betonten JA möchte der Sprecher hundertprozentig sicher sein, dass der Gesprächspartner seinen Anforderungen folgt. Nicht die Meinung des Gesprächspartners interessiert den Sprecher, sondern seine Handlung entsprechend den Vorstellungen des Sprechers. Betontes JA im Satzmittelfeld möchte ich als intentionales JA bezeichnen. Ich stimme Thurmair völlig zu, dass JA der Verstärkung des Sprecherwillens dient (Thurmair 1989: 109). 5 Die Position der Partikeln im deutschen und im russischen Satz. Die Partikeln ja/ JA und ihre russischen Äquivalente Der deutsche Satz hat einen verbalen Charakter und eine fixierte Wortfolge - in der deutschen Grammatik spricht man von der Topologie der Satzfelder (Vorfeld, Mittelfeld, Nachfeld). Modalpartikeln im Deutschen stehen nur im Mittelfeld (Abraham 1992). Im Russischen ist die Wortfolge relativ frei - das Verb muss nicht unbedingt die zweite Position im Satz haben. Die Hauptrolle der Wortfolge im Russischen besteht nach Adamec (1966) darin, die kommunikative Satzgliederung zu kodieren. Bezüglich der Position von Partikeln gibt es einige Einschränkungen: So kann z. B. nicht die Partikel že die erste Position im Satz haben (Zalizniak 2008), sie hat die Tendenz, die zweite Position im Satz zu haben, vgl.: (30) Ivan že Petrovi ne soglasen. Ivan Petrovi ist aber nicht einverstanden. (30')(*že) Ivan Petrovi ne (*že) soglasen. Interessant finde ich, dass einige Diskurswörter im Russischen an die Satzspitze rücken: (31) Da ja nikogda ne proboval. (LiveJournal 2004) Ich habe das noch nicht probiert. Die Einbettung des Wortes da in die rechte Satzposition erscheint als ungrammatisch: (31') Ja (*da) nikogda (*da) ne proboval (*da). Die Verstärkung der Sprechereinstellung und die Hervorhebung eines Gedanken, die die deutsche Partikel ja an der Satzspitze kodiert, erfolgt im Russischen durch die Verwendung der Diskurspartikeln da bzw. nu an der Satzspitze, vgl.: <?page no="22"?> 14 Anna Averina (32) a. Da otkroj ty okno! b. Nu otkroj ty okno! Ja mach das Fenster auf! Als Äquivalent des intentionalen JA tritt im Russischen häufig die Partikel že oder nu-ka auf, vgl.: (33) a. Otkryvaj že uže okno! b. A nu-ka otkryvaj okno! Mach JA das Fenster auf! Also stehen die Diskurspartikeln ja im Deutschen und da im Russischen an der Satzspitze und sind anaphorisch, indem sie einen Gedanken im Rahmen einer thematischen Einheit hervorheben. Die betonte Modalpartikel JA im Deutschen kann nicht die Spitzenposition im Satz haben, auch die Verstärkungspartikel že im Russischen kann nicht an die Satzspitze rücken. 6 Fazit und Ausblick Die Analyse des Belegmaterials lässt Folgendes sagen: 1. Es gibt wesentliche Unterschiede in der Satztypendistribution und Satzsemantik mit dem betonten JA und dem unbetonten ja an der Satzspitze. Semantisch kodiert JA <Verstärkung>, ja an der Satzspitze <Verstärkung> und <Hervorhebung>. Unterschiede in der Semantik und in der Satztypendistribution liegen in der Verwendung der Partikeln in Frage-, Imperativ-, Deklarativ-, Neben- und Komplementierersätzen vor. 2. Die Partikel ja betrachte ich als Diskurspartikel, das betonte JA - als Modalpartikel. Zu den diskursiven Eigenschaften des unakzentuierten ja gehört ihr weiter Skopus, ihre Spitzenstellung und ihre Fähigkeit, einen Gedanken im Rahmen einer thematischen Einheit hervorzuheben und eine Aussage einzuführen, die vorangehende Sätze ergänzt und erweitert. Die Beziehungen zwischen einem vorangehenden Satz und einem Satz mit ja an der Satzspitze sind additiver Natur, weil Sätze mit ja bestimmte Tatsachen aneinanderreihen. Neben der Verwendung des unakzentuierten ja an der Satzspitze wird entweder das Prädikat oder der prädikative Teil der Aussage betont, weil die mit dieser Partikel kodierte Verstärkung semantisch mit dem Prädikat verbunden ist. Betontes JA wird als Modalpartikel interpretiert, weil durch die Verwendung dieser Partikel die Aussage verstärkt wird. <?page no="23"?> Intentionales JA/ interaktionales ja in verschiedenen Satztypen 15 3. Als Äquivalente der unbetonten Partikel ja an der Satzspitze werden im Russischen die Partikeln da bzw. vot an der Satzspitze verwendet. Als Äquivalente des betonten JA im Russischen treten die Partikel že oder nu-ka auf. Die Diskurspartikel da im Russischen steht auch an der Satzspitze, die Partikel že kann dagegen nicht die Spitzenposition haben. Im Allgemeinen besteht die Tendenz, auch im Russischen diskursive Wörter in den linken Satzteil zu rücken. 7 Literatur Sekundärliteratur Abraham, Werner (1992): Wortstellung und das Mittelfeld im Deutschen. In: Abraham, Werner (Hrsg.): Erklärende Syntax des Deutschen. Tübingen. S. 27-52. Abraham, Werner (2010): Diskurspartikel zwischen Modalität, Modus und Fremdbewusstseinsabgleich. 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Accented discourse particles. The case of „DOCH“. In: Talk at Sinn und Bedeutung 16. University of Utrecht. S. 225-238. Hoffmann, Ludger (2008): Über ja. In: Deutsche Sprache 36. S. 193-219. Imo, Wolfgang (2013): Sprache in Interaktion. Analysemethoden und Untersuchungsfelder. Berlin u. a. Meibauer, Jörg (1993): Auf dem JA-Markt. In: Rosengren, Inger (Hrsg.): Satz und Illokution. Tübingen. S. 127-149. Meibauer, Jörg (1994): Modaler Kontrast und konzeptuelle Verschiebung. Studien zur Syntax und Semantik deutscher Modalpartikeln. Tübingen. Thurmair, Maria (1989): Modalpartikeln und ihre Kombinationen. Tübingen. <?page no="24"?> 16 Anna Averina Waltereit, Richard (2006): Abtönung. Zur Pragmatik und historischen Semantik von Modalpartikeln und ihren funktionalen Äquivalenten in romanischen Sprachen. Tübingen. Zalizniak, Andrej (2008): Drevnerusskie nklitiki. Moskva. (Beleg-)Quellen DeWaC. www.linguistik.hu-berlin.de/ institut/ professuren/ korpuslinguistik/ korpora (17.8.2015). Parlamentsreden. www.linguistik.hu-berlin.de/ institut/ professuren/ korpuslinguistik/ korpora (19.8.2015). Hesse, Hermann (1999): Der Steppenwolf. Zürich. <?page no="25"?> Über eine mögliche Grundlage kontrastiver Wortschatzbeschreibung Irina B. Bojkova (Moskau) Zusammenfassung Im folgenden Beitrag wird die Möglichkeit einer systematischen kontrastiven Wortschatzbeschreibung begründet. Diese wird auf drei Begriffen aufgebaut: Wort, Wortinhalt, Wirklichkeit. Das Herangehen ermöglicht zwei Richtungen der Beschreibung: die semasiologische und die onomasiologische. Im Text sind einige Ergebnisse eines russischdeutschen Vergleichs angeführt, indem die Richtung Russisch - Deutsch überwiegt. Auf dem semasiologischen Weg werden die Arten der Relationen zwischen den Wortbedeutungen der beiden Sprachen, Motiviertheit und reguläre Mehrdeutigkeit analysiert. Dabei werden semantische Merkmale, die für die interlingualen Bedeutungsunterschiede ausschlaggebend sind, sowie Aspekte der Wirklichkeit, die lexikalisch hervorgehoben werden, festgestellt. Ferner wird postuliert, dass das semasiologische Herangehen bei der Beschreibung primär und das onomasiologische sekundär ist. Es wird auf Kriterien hingewiesen, die den Wert von jeweiligen Kontrasten im Wortschatz bestimmen können. 1 Einleitung In diesem Beitrag wird die Möglichkeit einer systematischen interlingualen Beschreibung des Wortschatzes begründet. Das Ziel der Systematisierung ist, die interlingualen Unterschiede im Wortschatz hervorzuheben und zusammenzufassen. Welche Prinzipien kann man einer solchen Beschreibung zugrunde legen? Kann man die Beschreibung mit den Begriffen „Universalien“ und „Typologie“ verbinden? Zunächst soll auf diese Begriffe kurz eingegangen werden. Unter sprachlichen Universalien versteht man solche Erscheinungen, die alle oder zumindest die meisten natürlichen Sprachen aufweisen. Dabei werden die Universalien in den Einzelsprachen verschieden gestaltet. Eine systematische Erforschung von sprachlichen Universalien begann nach dem Erscheinen des Sammelbandes „Universals of language“, in dem Greenberg/ Jenkins/ Osgood (1963) mit ihrem „Memorandum concerning language universals“ die Möglichkeit einer empirischen Ermittlung von sprachlichen Universalien postulierten und diese in verschiedenen Aspekten klassifizierten. Die im Memorandum formulierten Thesen wurden mit Beiträgen veranschaulicht, u. a. mit der Arbeit von Greenberg (1963), in der am Beispiel von 30 Sprachen 45 Universalien im Bereich der Grammatik formuliert wurden. Laut der oben erwähnten Klassifi- <?page no="26"?> 18 Irina B. Bojkova kation sind das implizierende (implicational) Universalien, die das Vorhandensein einer syntaktischen/ morphologischen Erscheinung in der Sprache mit dem Vorhandensein einer anderen syntaktischen/ morphologischen Erscheinung in Verbindung bringen. Universalien verschiedener Art können also empirisch, d. h. durch eine vergleichende Untersuchung von mehreren (auch genetisch nicht zusammengehörenden) Sprachen festgestellt werden. Bei einer solchen Untersuchung werden zugleich die Besonderheiten der jeweiligen Sprachen hinsichtlich der Universalien beschrieben. So entstehen universalienbezogene typologische Beschreibungen. Da die Erforschung sprachlicher Universalien und Sprachtypologie die Zusammenarbeit von vielen Forschern erforderte, wurden zu diesem Zweck in verschiedenen Ländern Forschungsgruppen gebildet. Eine solche Forschungsgruppe arbeitete an der Kölner Universität unter der Leitung des Schweizer Linguisten Hansjakob Seiler von 1972 bis 1992. Das Projekt hieß „Sprachliche Universalienforschung und Typologie unter besonderer Berücksichtigung funktionaler Aspekte“ (UNITYP). UNITYP konzentrierte sich auf inhaltliche (semantische) Universalien, die als „Konzepte“ bezeichnet wurden, und verfolgte das Ziel, die Verbindung zwischen sprachlichen Tatsachen verschiedener Stufen und einem universellen Konzept zu erklären. Im UNITYP-Projekt wurden acht Konzepte sprachtypologisch untersucht. Die Forschungsergebnisse erschienen in zahlreichen Publikationen. Nach Beendigung des Projekts hat Hansjakob Seiler die Hauptideen und Resultate in einem Buch zusammengefasst (Seiler 2000). Eine vergleichbare Herangehensweise in einem ähnlichen Forschungsbereich entwickelte sich auch im Rahmen der funktional orientierten Feldtheorie. Der Grundbegriff dieser Theorie ist das funktional-semantische Feld. Darunter wird die Gesamtheit von sprachlichen Mitteln verstanden, die eine semantische Kategorie in verschiedenen Varianten ausdrücken und die in der Sprache zusammenwirken (Bondarko 1999: 17f.). Die Vertreter dieser Forschungsrichtung untersuchen universelle semantische Kategorien von großer Wirkungsbreite, die in den Einzelsprachen auf verschiedene Weise grammatisch-lexikalisch bezogen sind. Ein Beispiel für die vergleichende Darstellung des Russischen und des Deutschen unter Berücksichtigung der funktional-semantischen Felder ist das Buch „Russisch im Spiegel des Deutschen“ (Gladrow 1998). Im Vorwort wird die Beschreibung als konfrontativ bezeichnet (Gladrow 1998: 13). Die Termini „konfrontativ“ und „kontrastiv“, die nicht in allen Auffassungen einheitlich verwendet werden, bezeichnen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen oft typologisch orientierten Sprachvergleich, bei dem in der Regel zwei Sprachen einem solchen Vergleich unterzogen werden. Somit kann ein jeder Sprachvergleich zum Bestandteil der typologischen und universalienbezogenen For- <?page no="27"?> Über eine mögliche Grundlage kontrastiver Wortschatzbeschreibung 19 schungen werden. Alle sprachlichen Universalien sind derzeit noch nicht bekannt. Hier sind weitere Untersuchungen notwendig. Den Zweig der Typologie, der die Variierung von semantischen Universalien in den Einzelsprachen untersucht und nach semantischen Universalien forscht, nennt man semantische Typologie. In den letzten Jahren hat sich davon ein Nebenzweig gebildet: die lexikalische Typologie. Wie man aus den allgemeinen Übersichten über die Problematik schließen kann (Koptjevskaja-Tamm 2008; 2012; Rachilina/ Reznikova 2013), sind die Grenzen dieses Spezialgebietes der Typologie noch nicht festgelegt. Es steht aber fest, dass sich die lexikalische Typologie vor allem mit den traditionellen Fragen der lexikalischen Semantik befasst, die sie auf mehrere Sprachen ausdehnt. Viele Analysen werden aus onomasiologischer Perspektive durchgeführt. Als Ausgangspunkt dient ein Sinn- oder Sachbereich, der lexikalisch versprachlicht ist. Lexikalische Mittel, die solche Bereiche abdecken, bilden semantische/ lexikalische Felder (Wortfelder). Früher waren sie Gegenstand der einzelsprachlichen und kontrastiven Forschungen, in der lexikalischen Typologie sind sie zum Gegenstand eines multilingualen Vergleichs geworden. Dabei werden im jeweiligen Sachbereich die Situationen ermittelt, die interlinguale Unterschiede bei der Versprachlichung aufweisen. Des Weiteren werden solche semantischen Parameter, Merkmale und prototypischen Eigenschaften von Mitspielern der Situation festgestellt, die in den Wortbedeutungen verschiedener Sprachen am häufigsten vereinigt oder am häufigsten auseinandergehalten werden. Es wird angenommen, dass diese Gesetzmäßigkeiten universelle Geltung im Lexikon haben. Nach dem Grad der Verallgemeinerung werden die oben genannten Gesetzmäßigkeiten den Teilbedeutungen der grammatischen Kategorien gleichgesetzt. Analogien zu grammatischen Kategorien bleiben in der lexikalischen Typologie vorläufig aus (Rachilina/ Reznikova 2013: 7ff.). Besonders repräsentativ sind die Forschungsergebnisse über das semantische Feld „Aquamotion“: Es wurden dabei die Angaben von 50 Sprachen berücksichtigt (Maisak/ Rachilina 2007). Der Forschungsbereich der lexikalischen Typologie erstreckt sich darüber hinaus auf semantische Kategorien mit größerer Wirkungsbreite, wie z. B. Possession, die grammatisch-lexikalisch bezogen sind und die schon früher in einzelsprachlichen, kontrastiven und typologischen Untersuchungen analysiert wurden (Koch 2012). Aus semasiologischer Perspektive werden im Rahmen der lexikalischen Typologie Arten des Bedeutungswandels diachronisch und synchronisch untersucht (dabei zeigen sie sich als Arten der Polysemie). Sie werden terminologisch als semantische Verschiebungen (semantic shifts) bezeichnet. Der zu erweiternde Katalog semantischer Verschiebungen in mehr als 300 Sprachen umfasst derzeit über 3000 Eintragungen (Zalizniak u. a. 2012). <?page no="28"?> 20 Irina B. Bojkova Zu den Richtungen der lexikalischen Typologie wird außerdem der von Wierzbicka/ Goddard (1994) entwickelte Natural Semantic Metalanguage (NSM)-Ansatz gezählt. Laut dieser Theorie zeigen sich die 60 universellen sprachlichen Inhalte als nicht weiter zerlegbare Endprodukte einer Sem-Analyse, d. h. als semantische Primitiva, die in allen menschlichen Sprachen als Wörter zu finden sind. Trotz hoher Leistungsfähigkeit der NSM-Theorie, die anhand zahlreicher Sprachen getestet wurde, können die semantischen Primitiva nicht alle Bedeutungen einer jeden Sprache erfassen. Inwieweit kann man sich bei einer systematischen interlingualen Wortschatzbeschreibung auf die Ergebnisse der allgemeinen und der lexikalischen Typologie stützen? Die kontrastive Linguistik als Bestandteil der Typologie wird in die Suche nach Universalien und deren Variierung einbezogen. Als selbständige Disziplin untersucht die kontrastive Linguistik Gemeinsamkeiten und Unterschiede zweier Sprachsysteme auf verschiedenen Ebenen, indem sie relevante Erscheinungen (oder relevante Merkmale) der jeweiligen Ebene untersucht. Für die semantisch-lexikalische Ebene sind alle oben genannten Arten von semantischen Universalien natürlich relevant, sie sind jedoch für eine systematische Wortschatzbeschreibung eher ungeeignet - in dem Sinne, dass sie kaum zum Ausgangspunkt des Vergleichs gemacht werden können. Außerhalb der NSM-Theorie sind noch nicht alle semantischen Universalien ermittelt, und sie sind teils grammatisch-lexikalisch, teils lexikalisch bezogen. Wenn man von den vorhandenen semantischen Universalien beim Wortschatzvergleich ausgeht, dann wird dieser lückenhaft; außerdem wird der Wortschatz im Schatten der Grammatik stehen. Wenn man dem vorgenommenen Vergleich semantische Primitiva zugrunde legt, dann wird der Vergleich ebenfalls lückenhaft; außerdem wäre der Weg von einem elementaren semantischen Merkmal zur gesamten Wortbedeutung und weiter zu allen Realisierungen dieses Merkmals im Wortschatz ein theoretisch möglicher, aber kein natürlicher Weg; denn dabei ginge die natürliche menschliche Auffassung von Sprache verloren. Somit bietet der gegenwärtige Entwicklungsstand der Typologie zahlreiche Informationen, aber keine befriedigende Grundlage für eine systematische kontrastive Wortschatzbeschreibung. Derzeit kann man eine solche Beschreibung auf drei evidenten Tatsachen aufbauen: dass es in allen Sprachen Wörter gibt, dass diese Wörter Bedeutungen haben, dass Wortbedeutungen die Wirklichkeit widerspiegeln. Diese Tatsachen sind allgemeiner als sprachliche Universalien und werden nicht zu solchen gezählt, sie bilden aber den Boden für Universalien der Art „in allen Sprachen gibt es Metaphern“, „alle Sprachen entwickeln Polysemie“. Eine vergleichende Wortschatzbeschreibung kann somit auf drei „Eckpfeilern“ basieren. Diese sind: W o rt (bzw. feste Wortverbindung), W o rti n h a lt , W irk li c h k e it . Dabei können die Wortschätze von zwei Spra- <?page no="29"?> Über eine mögliche Grundlage kontrastiver Wortschatzbeschreibung 21 chen auf zweierlei Weisen verglichen werden: s e m a s i o l o g i s c h (Wort Wortinhalt Wirklichkeit) und o n o m a s i o l o g i s c h (Wirklichkeit Wortinhalt Wort). Eine vorläufige Untersuchung hat ergeben, dass auf diesem Weg bestimmte Tendenzen sichtbar werden. Im Folgenden werden diese kurz beschrieben. Wenn man die Begriffe „kontrastiv“ und „konfrontativ“ auseinanderhält, dann geht es um eine kontrastive (nicht konfrontative) Beschreibung, weil diese auf Differenzen zwischen den Sprachen konzentriert ist, während Parallelen eine deutlich untergeordnete Rolle spielen. Des Weiteren werden die wichtigsten Ergebnisse eines vorläufigen deutsch-russischen Vergleichs kurz charakterisiert. Die angeführten Kompetenzbeispiele stammen grundsätzlich aus dem Definitionswörterbuch (Duden 2012). 2 Semasiologisches Verfahren 2.1 Folgende Arten der Relationen zwischen den Wortbedeutungen von zwei Sprachen sind möglich: 2.1.1 Die Wörter der beiden Sprachen sind eindeutig, und ihre Bedeutungen stimmen überein, z. B. karandaš - Bleistift. 2.1.2 Die Wörter der beiden Sprachen sind mehrdeutig, und alle ihre Bedeutungen stimmen überein, z. B. bor’ba - Kampf (in allen Bedeutungen dienen die Wörter als Entsprechungen füreinander). Wörter der Art 2.1.1 und 2.1.2 sind selten. Sie sind noch nicht zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht worden. 2.1.3 Das Wort einer Sprache ist mehrdeutig, und für jede Bedeutung gibt es ein anderes Äquivalent in der Fremdsprache: (1) gluchoj 1 - taub, gluchoj 2 - dumpf, gluchoj 3 - stimmlos …; faul 1 - gniloj, faul 2 - lenivyj, faul 3 - somnitel’nyj. Semantische Relationen im Bedeutungsgefüge verraten kulturspezifische Assoziationen, die sich erst dann als spezifisch erweisen, wenn sie in einer anderen Sprache nicht zu finden sind. Wörter dieser Art kommen in den beiden Sprachen häufig vor, sie sind noch nicht erforscht. 2.1.4 Die Wörter der beiden Sprachen sind mehrdeutig und haben sowohl gleiche als auch verschiedene Bedeutungen. Die semantische Struktur des deutschen Verbs arbeiten unterscheidet sich z. B. von der des russischen Verbs rabotat’ dadurch, dass arbeiten auch die Bedeutung ‚anfertigen‘ besitzt (eine Schale in <?page no="30"?> 22 Irina B. Bojkova Ton arbeiten); das russische Substantiv resoljucija bezeichnet - im Unterschied zum deutschen Resolution - nicht nur einen schriftlichen Beschluss einer Versammlung oder eines Gerichts, sondern auch einen Genehmigungsvermerk. Ähnlich lautende Wörter des Russischen und Deutschen, die gleiche sowie abweichende Bedeutungen haben, sind im „Wörterbuch lexikalischer Parallelen“ von Dubichynskyi/ Reuther (2011) zahlenmäßig stark vertreten. 2.1.5 Ein russisches Wort hat in einer seiner Bedeutungen mehrere Entsprechungen im Deutschen bzw. ein deutsches Wort hat in einer seiner Bedeutungen mehrere Entsprechungen im Russischen, z. B.: (2) vysokij (in räumlicher Bedeutung) - hoch, groß; Schwiegermutter - tëš a, svekrov’. Hier liegt Divergenz vor, d. h. die lexikalische Bedeutung einer Sprache wird in der anderen Sprache aufgespalten. Dies geschieht, weil eine Sprache von bestimmten Eigenschaften der Wirklichkeit abstrahiert und die andere diese Eigenschaften durch semantische Merkmale der Wortbedeutungen hervorhebt. Die semantischen Merkmale, die die Aufspaltung einer Wortbedeutung verursachen, haben unterschiedliche Relevanz für die kontrastive Beschreibung, je nachdem, ob sie nur episodisch oder ob sie häufig wirksam werden. Im zweiten Fall liegt eine reguläre Divergenz vor. In Richtung Russisch - Deutsch wurden einige typische Parameter festgestellt, die für die lexikalischen Bedeutungen im Russischen irrelevant sind und die eine reguläre Divergenz im Deutschen verursachen können. Diese Parameter wurden bei Bojkova (1995) angeführt und mit mehreren Beispielen veranschaulicht. Im vorliegenden Beitrag ist nur der häufige Unterschied zwischen ‚belebt‘ und ‚unbelebt‘ im deutschen Wortschatz mit einigen Beispielen illustriert (s. 2.1.5.1), zu den weiteren Arten der regulären Divergenz wird lediglich je ein Beispiel angeführt. 2.1.5.1 Der Unterschied ‚belebt - nicht belebt‘ ist einer der Parameter, die für lexikalische Bedeutungen im Russischen irrelevant sind und eine reguläre Divergenz im Deutschen verursachen. So grenzen die Merkmale ‚belebt - nicht belebt‘ die Bedeutungen der deutschen Adjektive groß und hoch voneinander ab. Für das russische Adjektiv vysokij in seiner räumlichen Bedeutung ‚sich von unten nach oben weit erstreckend‘ ist dieser Unterschied nicht relevant, z. B.: (3a) vysokij muž ina - ein großer Mann; vysokoje derevo - ein hoher Baum. Dieselbe Ursache der Divergenz liegt im Beispiel (3b) vor. Dem russischen Verb dejstvovat’ in der Bedeutung ‚etwas tun, wirksam sein‘ entsprechen im Deutschen die Verben handeln, vorgehen, wenn die Handlung von einer Person ausgeführt wird, und das Verb funktionieren, wenn es sich um einen Gegenstand handelt: <?page no="31"?> Über eine mögliche Grundlage kontrastiver Wortschatzbeschreibung 23 (3b) My dolžny ne govorit’, a dejstvovat’. - Wir müssen nicht reden, sondern handeln. My dolžny dejstvovat’, sobljudaja zakon. - Wir müssen nach dem Gesetz vorgehen. Pereklju atel’ dejstvuet chorošo. - Der Schalter funktioniert gut. Das russische Verb prisutstvovat’ bedeutet: ‚irgendwo zu einer bestimmten Zeit sein‘. Wenn es um Menschen geht, die irgendwo anwesend sind, gebraucht man im Deutschen die Verbindung anwesend sein oder das Verb beiwohnen (geh.). Geht es um das Vorhandensein bestimmter Erscheinungen o. Ä. in einem Bereich, dann wird im Deutschen die unpersönliche Konstruktion es gibt verwendet: (3c) Oni prisutsvovali na lekcii. - Sie waren bei der Vorlesung anwesend./ Sie wohnten der Vorlesung bei. V so inenii prisutstvujut ošibo nye vyvody. - Im Aufsatz gibt es falsche Schlussfolgerungen. 2.1.5.2 Die Art des in einer bestimmten Situation verwendeten Instruments ist eine weitere typische Ursache der Aufspaltung einer russischen Wortbedeutung im Deutschen, z. B.: (4) vyrezat’ - ausschneiden (mit einer Schere), ausstechen (mit einer Form), ausstanzen (durch Pressen). 2.1.5.3 Verkehrsmittel oder Druckerzeugnisse können situativ ebenfalls zu Bedeutungsmerkmalen werden, die die Wahl einer deutschen Entsprechung bestimmen, z. B. nomer als ‚Zahl, die eine Reihenfolge o. Ä. angibt‘ wird im Deutschen durch Nummer wiedergegeben, für eine fortlaufend erscheinende Zeitung oder Zeitschrift ist auch Ausgabe möglich, für öffentliche Verkehrsmittel gibt es in der Hochsprache nur die Entsprechung Linie: (5) komnata nomer 10 - Zimmer Nummer 10; v erašnij nomer gazety - die gestrige Nummer/ Ausgabe der Zeitung; trollejbus nomer vosem’ - der O-Bus Linie acht. 2.1.5.4 Umstände, die dem bezeichneten Sachverhalt vorangehen bzw. folgen, sind für eine Wortbedeutung im Russischen irrelevant, im Deutschen dagegen werden diese Informationen zu semantischen Merkmalen, die die Wortbedeutungen voneinander abgrenzen. So hat z. B. das russische Verb dochodit’ in der Bedeutung ‚bis zu einer bestimmten Grenze gelangen, an etw. angrenzen‘ im Deutschen zwei Äquivalente: erreichen (dabei ist die vorangegangene Entwicklung/ Bewegung im Rahmen des bezeichneten Sachverhalts berücksichtigt) und reichen (dabei wird ein Sachverhalt ohne Entwicklungsphase gemeint): (6) Skorost’ dochodit do 200 kilometrov v as. - Die Geschwindigkeit erreicht 200 Stundenkilometer. Jubka dochodit do kolen. - Der Rock reicht bis ans Knie. <?page no="32"?> 24 Irina B. Bojkova Die Geschwindigkeit nimmt zu und erreicht endlich 200 Stundenkilometer, der Rock dagegen verlängert sich nicht, bevor sein Rand das Knie berührt. Vgl. auch: (6a) Das Wasser erreichte seine Knie. - Das Wasser reichte ihm bis an die Knie. 2.1.5.5 Graduierung einer Aktivität in den deutschen Wortbedeutungen kann auch zur Ursache der Divergenz in Richtung Russisch - Deutsch werden, z. B.: (7) spit’sja - Alkoholiker werden, sich tottrinken. 2.1.5.6 Deutsche Wortbedeutungen unterscheiden mehrere räumliche Merkmale, die in den russischen Wortbedeutungen eine Ganzheit bilden. Als Beispiel können die Merkmale ‚Ortsruhe‘ (als Antwort auf die Frage ‚wo? ‘) und ‚Bewegung auf den Betrachter zu‘ (als Antwort auf die Frage ‚woher? ‘) dienen, die in den Bedeutungen zahlreicher russischer Adverbien mit dem Präfix nicht auseinandergehalten werden: (8) Vse sumki - v uglu. Tvoja sumka ležit sverchu (wo? ). - Alle Taschen sind in der Ecke. Deine Tasche liegt obendrauf. Sverchu (woher? ) poslyšalis’ golosa. - Von oben hörte man Stimmen. 2.1.5.7 Die lexikalische Divergenz in Richtung Russisch - Deutsch kann grammatisch bedingt sein. Es ist z. B. möglich, dass ein vollendetes Verb und sein unvollendeter Aspektpartner verschiedene Entsprechungen im Deutschen haben: (9) ugovorit’ kogo-l. - jmdn. überreden, ugovarivat’ kogo-l. - auf jmdn. einreden; dogadat’sja - erraten, dogadyvat’sja - ahnen, vermuten. Weitere Beispiele und weitere Arten der regulären russisch-deutschen Divergenz sind bei Bojkova (1995) angeführt. Es stellt sich die Frage, ob die ermittelten (und noch nicht ermittelten) Arten der regulären Divergenz in Richtung Russisch - Deutsch auf den gesamten Wortschatz der beiden Sprachen zutreffen, ob ganz bestimmte Merkmale in den russischen Wortbedeutungen regelmäßig neutralisiert, in den deutschen dagegen hervorgehoben werden. Diese Frage kann erst dann beantwortet werden, wenn eine analoge Untersuchung in Richtung Deutsch - Russisch vorgenommen wird. Dabei sind zweierlei Ergebnisse zu erwarten: Es kann sich herausstellen, dass bei der Divergenz in der entgegengesetzten Richtung dieselben Parameter (Belebtheit, die Art des Instruments u. a.) aktualisiert werden, die aber auf andere Wörter zutreffen; es ist ebenso wahrscheinlich, dass ein deutschrussischer Vergleich ganz andere Arten der regulären Divergenz ergibt, die auf der Hervorhebung anderer Merkmale im Russischen beruhen. Es ist anzuneh- <?page no="33"?> Über eine mögliche Grundlage kontrastiver Wortschatzbeschreibung 25 men, dass die Arten der Divergenz, die in den Wortschätzen nicht zusammenfallen, deren relative semantische Eigenart stärker prägen. 2.1.6 Die Bedeutungen eines russischen und eines deutschen Wortes, die füreinander als Entsprechungen dienen, überschneiden sich, z. B.: (10) zabavnyj (unterhaltsam, belustigend und Interesse erweckend) - amüsant (unterhaltsam, belustigend und Vergnügen bereitend); beznadëžnost’ - Hoffnungslosigkeit (aus der Tatsache, dass sich die Verbindung seine Hoffnungslosigkeit zeigen nicht ins Russische übersetzen lässt, ist zu schließen, dass dieser Zustand im Deutschen als nach außen gerichtet interpretiert werden kann, im Russischen dagegen nicht). 2.1.7 Die Bedeutungen eines russischen und eines deutschen Wortes stehen in einem Inklusionsverhältnis, z. B.: (11) vaza (für Schnittblumen, Obst u. Ä.) - Vase (nur für Schnittblumen). Die Relationen der Art 2.1.6 und 2.1.7 sind derzeit nur wenig erforscht. Idiome, deren lexikalische Bedeutungen „zweischichtig“ sind, weisen mehrere Arten der Überschneidung auf. Bei den Idiomen verschiedener Sprachen können entweder nur die Interpretationen übereinstimmen (vydavat’ ërnoe za beloe - jmdm. ein X für ein U vormachen) oder nur die Ausgangsbilder (iz koži von lezt’ - aus der Haut fahren). Im letztgenannten Fall liegt keine Äquivalenz zweier Idiome vor, weil die Interpretationen voneinander abweichen: iz koži von lezt’ bedeutet ‚sich alle nur erdenkliche Mühe geben‘, aus der Haut fahren dagegen ‚ärgerlich werden‘. Es zeichnen sich deutliche Tendenzen bei der Herausbildung der Interpretation in beiden Sprachen ab: Im Russischen und im Deutschen führt diese in verschiedene Sinn- und Sachbereiche, ist vom Ausgangsbild in unterschiedlichem Grad abstrahiert, hängt verschieden mit positiver und negativer Wertung zusammen, spiegelt nationale Werte und Gepflogenheiten wider. Die Belege dafür sind noch nicht veröffentlicht. Beispiele für Idiome dieser Art lassen sich z. B. bei Mal’ceva (1995) finden. Sowohl die Ausgangsbilder als auch die Interpretationen der Idiome lassen Überschneidungen zu. Es gibt keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen diesen Arten der Überschneidung und (10). Ein Beispiel für die Überschneidung der Ausgangsbilder bei der gleichen Interpretation ist: byt’ pod kablukom - unter dem Pantoffel stehen. Folgendes Beispiel kann als Überschneidung oder als Inklusion der Ausgangsbilder interpretiert werden: kupit’ kota v meške (buchstäblich: ‚den Kater im Sack kaufen‘) - die Katze im Sack kaufen. Für die Überschneidung der Interpretationen bei gleichem Ausgangsbild kann man als Beispiel anführen: prikusit’ jazyk - ‚verstummen, weil man etwas Überflüssiges gesagt hat‘, sich auf die Zunge beißen - ‚an sich halten, um etwas Bestimmtes nicht zu <?page no="34"?> 26 Irina B. Bojkova sagen‘ (gemeinsam für die beiden Interpretationen ist die Phase des Schweigens). Als Beispiel dafür, dass sowohl die Bilder als auch deren Interpretationen sich überschneiden, sei genannt: byt’ na kone (buchstäblich: ‚auf dem Ross sein‘) - ‚sich als Sieger empfinden, selbstsicher sein‘, auf dem/ [s]einem hohen Ross sitzen - ‚hochmütig, überheblich sein‘. 2.1.8 Die Bedeutungen eines russischen und eines deutschen Wortes, die füreinander als Entsprechungen dienen, berühren sich, z. B.: (12) vstretit’ na vokzale - vom Bahnhof abholen. Das russische Verb vstretit’ in der Bedeutung ‚jmdn. dort treffen, wo man ihn erwartet hat‘ und das deutsche Verb abholen in der Bedeutung ‚jmdn. an einem vereinbarten Ort treffen und mit ihm weggehen‘ beziehen sich auf zwei verschiedene, aufeinander folgende Phasen eines Vorgangs, indem die andere Phase als Präsupposition gemeint wird. Welche Phasen der mehrstufigen Vorgänge von deutschen und russischen Wörtern dieser Art bevorzugt werden, ist vorläufig noch nicht klar. Es gibt auch solche Wörter in den beiden Sprachen, die die Unterschiede der Art 2.1.3 - 2.1.8 in verschiedenen Kombinationen vereinigen. 2.1.9 Äquivalenzlose Lexik wird aktiv untersucht, vor allem als Übersetzungsproblem. Für die kontrastive Wortschatzforschung ist eine Gruppe solcher Wörter von besonderem Interesse. Deren Denotate sind Erscheinungen, die in beiden Kulturen bekannt sind, aber nur in einer Sprache bezeichnet werden, z. B.: (13) pozëmka (wirbelnder Wind, der Schneeflocken vom Boden in die Höhe treibt), kipjatok (kochendes Wasser), duša kompanii (Person, die in einem Freundeskreis den Ton angibt und deren Anhänger alle sind), maja it’ (sich in der Ferne undeutlich abzeichnen); Denkfalte, Torschlusspanik, Warteschleife, jmdm. etw. vorleben. Die versprachlichten/ nicht versprachlichten Erscheinungen der Außenwelt und die Präferenzen der beiden Sprachen bei der Versprachlichung sind Gegenstand künftiger Forschung unter Berücksichtigung des ethnolinguistischen und psycholinguistischen Aspekts. <?page no="35"?> Über eine mögliche Grundlage kontrastiver Wortschatzbeschreibung 27 2.2 Die Motiviertheit der lexikalischen Bedeutung kann tot, verdunkelt oder lebendig sein. Die lebendige Motiviertheit gehört zur lexikalischen Bedeutung. Wenn ein russisches Wort und seine deutsche Entsprechung motivierte Bedeutungen haben, dann sind sie entweder gleich oder verschieden motiviert. Beispiele für gleiche Motiviertheit: (14) otezd - Abreise, lesorub - Holzfäller. Beispiele für verschiedene Motiviertheit: (15) podosinovik - Rotkappe, lopatka - Schulterblatt; (16) golovolomka - Geduldsspiel, strachovanie - Versicherung. Die Wahl eines bestimmten Benennungsmotivs gilt als zufällig. Das trifft auf Beispiele wie unter (15) zu, aber die russisch-deutschen Entsprechungen in (16) lassen vermuten, dass die Wahl des Motivs auch kulturell bedingt sein kann. Das bedarf natürlich einer fachgerechten ethnologischen und psycholinguistischen Untersuchung. Einen reichhaltigen Fundus für die Analyse der kulturellen Spezifik der Motiviertheit bieten die Neologismen in beiden Sprachen. Es gibt auch Beispiele, die im Schnittpunkt der äquivalenzlosen Lexik und unterschiedlicher Motiviertheit liegen: (17) trjapka (ein willensschwacher Mensch) - Balkonraucher, Gelbampelbremser, Warmduscher, Schattenparker, Foliengriller, Zwischenzehenraumabtrockner u. a. Einerseits ist (17) ein Beispiel für verschiedene Motiviertheit in den beiden Sprachen. Andererseits werden im Deutschen mehrere Varianten der Motiviertheit für die Bezeichnung ein und desselben Objekts realisiert; dabei wird das Objekt in solchen Aspekten betrachtet, die für das Russische fremd sind. 2.3 Reguläre Mehrdeutigkeit tritt auf, wenn die Sprache typische semantische Relationen zwischen den Bedeutungen ein und desselben Wortes entwickelt (Schippan 1992: 162). Russisch und Deutsch besitzen gleiche wie auch verschiedene Arten der regulären Mehrdeutigkeit. Manche Arten kommen in einer Sprache häufiger als in der anderen vor; so ist z. B. die reguläre semantische Relation ‚Handlung - Subjekt der Handlung‘ in der deutschen Mehrdeutigkeit weiter verbreitet als in der russischen: (18) Aufsicht - prismotr (als Handlung), dežurnyj (als Subjekt der Handlung). <?page no="36"?> 28 Irina B. Bojkova Das deutsche Wort Aufsicht hat für jede seiner zwei Bedeutungen ein anderes Äquivalent im Russischen. Weitere Beispiele deutscher Substantive, die im Unterschied zu den russischen diese Art der Mehrdeutigkeit entwickelt haben, sind: Anschluss, Besuch, Diplomatie, Gelegenheit, Hilfe, Justiz, Konkurrenz u. a. Es gibt auch solche Arten der regulären Mehrdeutigkeit, die nur in einer Sprache vorkommen. So bezeichnet eine Gruppe von russischen Verben sowohl die eigene Handlung (die das Agens auf sich selbst oder auf ein anderes Objekt richtet) als auch eine fremde Handlung zu eigenen Gunsten: brit’sja, stri ’sja, init’, stroit’ u. a. (Apresjan 1995: 209). Aus den Beispielen ist ersichtlich, dass diese Arten der Mehrdeutigkeit sowohl reflexive als auch nicht reflexive russische Verben zeigen. Im Deutschen gibt es für jedes solcher Verben zwei verschiedene Entsprechungen, indem die fremde Handlung immer durch die Verbindung des Verbs lassen mit dem Vollverb wiedergegeben wird, z. B.: (19) On breetsja britvoj. - Er rasiert sich mit der Klinge. On breetsja v parikmacherskoj. - Er lässt sich im Frisiersalon rasieren. On vsë eš ë init svoi botinki. - Er repariert noch immer seine Schuhe. On init obuv’ v toj masterskoj. - Er lässt seine Schuhe in dieser Werkstatt reparieren. Einige Beobachtungen zu den Arten der regulären Mehrdeutigkeit im Russischen - im Unterschied zum Deutschen - lassen sich bei Birkenmaier (1987: 57ff.) finden. Aus den Unterschieden in der regulären Mehrdeutigkeit ist ersichtlich, welche Bereiche und Aspekte der Wirklichkeit die Sprache regelmäßig vereinigt. 3 Onomasiologisches Verfahren Das onomasiologische Verfahren ist eine natürliche Fortsetzung des oben dargestellten semasiologischen. Sinn- und Sachbereiche, die beim semasiologischen Vergleich wesentliche Unterschiede aufgewiesen haben, werden zum Gegenstand der onomasiologischen Beschreibung. Das sind eben die oben genannten lexikalischen Felder, die sich von den funktional-semantischen nicht immer genau abgrenzen lassen. So sind z. B. die kontrastiven Merkmale des Feldes „Lokativität“ im Russischen und Deutschen nicht nur lexikalisch, sondern auch grammatisch bezogen (Bojkova 2001), und Verwandtschaftsbezeichnungen bilden ein typisches lexikalisches Feld, das russisch-deutsche Kontraste aufweist. Dagegen ist eine kontrastive Beschreibung des lexikalischen Feldes „Aquamotion“ beim russisch-deutschen Vergleich nicht aktuell. In diesem Feld lassen sich aber deutsch-englische und russisch-englische Unterschiede finden. Es kann vorkom- <?page no="37"?> Über eine mögliche Grundlage kontrastiver Wortschatzbeschreibung 29 men, dass semantische Parameter in einer Sprache im Vergleich zur anderen nicht nur auf lexikalischer Ebene konsequenter hervorgehoben werden, sondern auch grammatikalisiert sind. Ein Beispiel dafür ist der Parameter „Geschlecht“, der sich im Feld „Verwandtschaft“ beim russisch-deutschen Vergleich deutlich zeigt. Vgl.: (20) Schwiegermutter - tëš a (Mutter der Ehefrau), svekrov’ (Mutter des Ehemannes); Schwiegervater - test’ (Vater der Ehefrau), svëkor (Vater des Ehemannes). Die erste Entsprechung aus (20) wurde oben in (2) als Beispiel für Divergenz angeführt. Ein weiteres Beispiel dieser Art ist (20a) heiraten - ženit’sja (wenn ein Mann heiratet), vychodit’ zamuž (wenn eine Frau heiratet). Die Gegenüberstellung im Rahmen dieses Parameters ist im Russischen nicht nur lexikalisiert, sondern auch grammatikalisiert. Vgl.: (21) on skazal, ona skazala - er sagte, sie sagte. Für russische Substantive im Akk. ist der Unterschied ‚belebt - nicht belebt‘ nur für das maskuline Genus möglich, nicht aber für das feminine, z. B.: (22) On vidit svoego u itelja/ svoj emodan. - Er sieht seinen Lehrer/ seinen Koffer. Aber: (23) On vidit svoju u itel’nicu/ svoju sumku. - Er sieht seine Lehrerin/ seine Tasche. Es ist bekannt, dass die feministische Linguistik in Russland keinen fruchtbaren Boden gefunden hat. Wahrscheinlich liegt es nicht nur an sozialen, sondern auch an sprachlichen Voraussetzungen. Die Anwendung des semasiologischen Verfahrens hat u. a. gezeigt, dass sich die Kontraste nicht nur in Sinn- und Sachbereichen gruppieren, die als Wortfelder bezeichnet werden können, sondern auch in Bereichen ohne Namen. Ein solcher Bereich wurde als Ich-Raum bezeichnet und bei Boykova (2010) beschrieben. In diesem Beitrag wurden nur denotative Bedeutungen von Autosemantika in Betracht gezogen. Wenn man Synsemantika in die Untersuchung mit einbezieht, dann muss man auch Kategorisierungstendenzen berücksichtigen und semantische Merkmale von der Kategorisierung abgrenzen. <?page no="38"?> 30 Irina B. Bojkova 4 Fazit Der gegenwärtige Entwicklungsstand der universalienbezogenen Typologie bietet keine sichere Grundlage für eine systematische kontrastive Wortschatzbeschreibung. Derzeit kann man eine solche Beschreibung auf drei Begriffen aufbauen: Wort, Wortbedeutung, Wirklichkeit. Es ist anzunehmen, dass eine konsequente kontrastive Beschreibung aus semasiologischer, sodann aber auch aus onomasiologischer Perspektive ein produktiver Weg zur Erschließung der lexikalischen Eigenart der verglichenen Sprachen ist, und zwar unter verschiedenen Aspekten: semantischen, psycholinguistischen und ethnolinguistischen. Unter semantischem Aspekt berühren sich der lexikalische Vergleich und der grammatische. Regelmäßige Berücksichtigung eines bestimmten Parameters nicht nur im Wortschatz, sondern auch in der Grammatik einer Sprache beweist einen hohen Wert dieses Parameters für das Sprachsystem. Das Vorhandensein oder das Fehlen einer solchen lexikalisch-grammatischen Koordination hinsichtlich eines Parameters in den verglichenen Sprachen kann zum Kriterium bei der Erarbeitung einer Hierarchie von Kontrasten werden. Ein anderes Kriterium, das anscheinend nur im lexikalischen Bereich gilt, ist Gleichheit bzw. Verschiedenheit von Parametern (und semantischen Merkmalen), die lexikalische Divergenz in den beiden verglichenen Sprachen verursachen: Verschiedenheit ist vermutlich ranghöher als Gleichheit. Kulturspezifische Assoziationen, die den Wortschatz prägen, werden beim Vergleich der Mehrdeutigkeit, der Motiviertheit und der Bedeutungen von Idiomen in den Sprachen festgestellt. Erforschung und Interpretation der Kontraste in diesem Bereich liegen am Schnittpunkt von Semantik, Psycholinguistik und Ethnolinguistik. Zwischen den kulturspezifischen Assoziationen und den hervorgehobenen semantischen Parametern bestehen - mit hoher Wahrscheinlichkeit - inhaltliche Zusammenhänge. In praktischer Hinsicht kann das in diesem Beitrag skizzierte Herangehen zu zweisprachigen Definitionswörterbüchern führen. Theoretisch gesehen ist das, wie gesagt, ein sicherer Weg zur Ermittlung und Zusammenfassung von inhaltlichen Unterschieden im Wortschatz, die in Wirklichkeit die Eigenart der verglichenen Sprachen offenbaren: „Beim Mechanismus der Sprache dreht sich alles um Gleichheiten und Verschiedenheiten, wobei die letzteren nur das Gegenstück von den ersteren sind“ (Saussure 1931: 129). <?page no="39"?> Über eine mögliche Grundlage kontrastiver Wortschatzbeschreibung 31 5 Literatur Sekundärliteratur Apresjan, Jurij D. (1995): Izbrannye trudy. Tom 1. Leksi eskaja semantika. Moskva. Birkenmaier, Willy (1987): Einführung in das vergleichende Studium des deutschen und russischen Wortschatzes. Tübingen. Bojkova, Irina (1995): „Fremde“ Bedeutungen in der Fremdsprache Deutsch. In: Das Wort. Germanistisches Jahrbuch. S. 124-134. Bojkova, Irina (2001): Räumliche Beziehungen im Russischen und Deutschen. 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Wörterbücher Dubichynskyi, Vladimir/ Reuther, Tilmann (2011): Russisch-deutsches Wörterbuch lexikalischer Parallelen. Moskau. Duden (2012): Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. 4., vollst. überarb. Aufl. Mannheim. <?page no="41"?> Eigennamen im Text der Kurzgeschichte Undines gewaltiger Vater von Heinrich Böll: Kulturologischer Aspekt Natalia Chomutskaja (Kolomna) Zusammenfassung Im Prozess der interkulturellen Kommunikation ist der kulturologische Aspekt der Eigennamen von Bedeutung, da diese einen unentbehrlichen Bestandteil jeder Sprache bilden. Viele von ihnen treten nicht nur in benennender Funktion auf, sondern verfügen auch über weitere Sinnebenen, welche zumeist kulturologischen Charakter haben. Der kulturologische Inhalt der Bedeutung der Eigennamen spielt z. B. für die Ausbildung der Deutschstudierenden im Ausland eine besondere Rolle, da diese Eigennamen naturgemäß oft in den Werken der schöngeistigen Literatur auftreten: Sie verleihen jedem Text ein einzigartiges Kolorit und helfen besonders bei der Schaffung der Zeit- und Ortsperspektiven sowie der Charakteristik der Haupthelden. Insgesamt sollen sie dem Leser helfen, den Ideengehalt des literarischen Werkes zu rezipieren. Die Analyseziele sind: 1. Die Rolle des kulturologischen Aspektes von Eigennamen beim Verstehen der Hauptidee der Kurzgeschichte von H. Bölls Undines gewaltiger Vater zu bestimmen; 2. die kulturbezogenen Informationen und ihre Semantisierung für russische Deutschlernende zu erheben; 3. die Rolle der „nichtliterarischen“ Namen als Bezeichnungen der im Text erwähnten authentischen Personen und Objekte unter kulturologischem Aspekt herauszuarbeiten. 1 Theoretische Grundlage der Studie Die Eigennamen stehen schon seit langem im Zentrum verschiedener Wissenschaften. Die Namenkunde (Eichler 1996) hat interdisziplinäre Verbindungen zu historischen Disziplinen (Archäologie, Geographie, Siedlungsgeschichte). Der Eigenname ist nach Fleischer (2001: 648) ein Ausdruck, dessen Hauptfunktion die Benennung eines Einzelobjekts ist. Er unterscheidet sich vom Appellativum (wofür auch der Ausdruck Gattungsname gebraucht wird, der jedoch wegen des Zweitglieds -name nicht zu empfehlen ist), mit dem sowohl Objektklassen (Begriffe) als auch, kontextuell bedingt, Einzelstücke der jeweiligen Klasse benannt werden können. [Kursive Hervorhebungen: im Original.] Rozen (2000: 43) unterstreicht, dass sie [die Eigennamen] sich von den Appellativa durch ihre Funktion in der Sprache und durch ihre lexikalischen Eigenschaften unterscheiden. <?page no="42"?> 34 Natalia Chomutskaja Blanár (1996: 1179) betont: In der proprialen Nomination wird das gedanklich verarbeitete onymische Objekt sprachlich und onymisch gestaltet, d. h. es wird in die kategoriellen und subkategoriellen Merkmale des Substantivs eingegliedert, aber seine ontologische Beschaffenheit bestimmen auch spezifisch onomastische Merkmale. […] Die propriale Nomination geht im Rahmen des vorhandenen Sprachsystems und des zugehörigen onymischen Systems vor sich. In der Onomastik ist der semasiologische Aspekt angemessen. Schließlich bringt das Metzler-Lexikon Sprache (Glück 2010b: 449) folgende Definition der Onomastik: Namenkunde (auch: Namenforschung, Onomastik < griech. (onoma) ‚Name‘) Wiss. Untersuchung der Entstehung, Herkunft, Etymologie, räuml. Verbreitung, Bedeutung und Systematik von Eigennamen. Schippan (2002: 62) betont: Die Onomastik - die Wissenschaft von den Eigennamen - ist heute eine selbständige Disziplin: Sie hat ihren eigenen Gegenstand - den Namenschatz einer Sprache -, hat ihre eigenen Methoden der Erforschung und Beschreibung sowie der lexikographischen Erfassung der Eigennamen (Nomina propria) entwickelt. Für die durchgeführte Untersuchung ist die Meinung von Krüger (2004: 123) von Bedeutung: Namen (= Eigennamen, Nomina proporia) gehören zu den textkonstitutiven lexikalischen Einheiten, die maßgeblich am Textaufbau beteiligt sind. Kalverkämper (1994: 208) betont: Ein Sprachzeichen (bzw. eine Sprachzeichenkette) fungiert dann als Eigenname, wenn es als ein solcher intendiert (das ist die Sender-Position des Textes) und über geeignete kontextuelle Sprachmittel wie auch situative (pragmatische) Signale als ein Name verstanden ist (was ergänzend, somit für das propriale Sprachzeichen das kommunikative Zusammenspiel von Sender und Partner betonend, die Empfänger- Position mit einbezieht). Zur theoretischen Fundierung der Studie gehört auch das Postulat von Sobanski (2000: 57), dass „jeder in einem literarischen Text auftretende Eigenname als literarischer Name gilt, unabhängig davon, ob er Menschen, Orte oder gegenständliche Objekte bezeichnet“. Für die vorliegende Studie ist ferner die Feststellung von Gutschmidt (1985: 69) maßgebend: Nicht alle Namen, die in einem literarischen Werk vorkommen, sind jedoch literarische Namen. <?page no="43"?> Eigennamen in Heinrich Bölls Kurzgeschichte Undines gewaltiger Vater 35 In diesem Zusammenhang definiert er: ‚Nichtliterarische Namen‘ bezeichnen die im Text erwähnten authentischen Personen und Objekte. Obwohl im Text der Kurzgeschichte Undines gewaltiger Vater alle Eigennamen authentische Namen sind, verfügen sie über weitere Sinnebenen, welche zumeist einen kulturologischen Charakter haben. Damit nähern sie sich den literarischen Namen. Die lexikalischen Eigenschaften der Eigennamen schließen zusätzliche Bedeutungen in sich ein, darunter auch solche, die kulturologischen Charakter haben. Den Terminus „Kulturologie“ benutzte zum ersten Mal der deutsche Wissenschaftler Friedrich Wilhelm Ostwald im Jahre 1913. Später findet man diesen Terminus z. B. in den Forschungen des amerikanischen Anthropologen Leslie A. White (1959). Nach Glück (2010a: 378) postuliert das Programm der Kulturologie bzw. Kulturwissenschaft die Möglichkeit, Kunst- und Architekturgeschichte, Literatur-, Sprach- und Medienwiss., Ethnologie und Volkskunde, Philosophie, Rechts- und Staatswiss., Theologie, Psychologie, Soziologie und weitere Disziplinen zu einem interdisziplinären Fach zusammenzuführen. Vom Ziel des vorliegenden Beitrags ausgehend, ist die Aussage von Schildberg- Schroth (1995: 21) von Bedeutung: Als Ausgangspunkt einer systemtheoretischen Betrachtung wird zu fragen sein, wann und für wen und was Eigennamen zu einem kommunikativen Ereignis werden. Dabei wird man, je nach sozialfunktionalem Bezug und den dazugehörenden Codes und Medien, die Namen und Namengebung nach Bereichen von Recht, Wirtschaft, Politik und so weiter differenzieren können. […] [W]eiter wird bei der Beschreibung auch dem Rechnung zu tragen sein, was der Name als Signifikat bedeutet, wobei indes die so genannte ‚semasiologische‘ nicht gegen eine ‚onomasiologische‘ operierende Auswertung ausgespielt werden kann. Beide Näherungen werden vielmehr als in gleicher Weise kommunikativ-relevant anzusehen sein. Bekanntlich gibt es viele Typen von Eigennamen. Auch anhand des untersuchten empirischen Materials ist der Feststellung von Rozen zuzustimmen (2000: 247), dass die Haupttypen der Eigennamen Anthroponyme und Toponyme sind. Als Objekt der im Folgenden durchgeführten Analyse dienen die Eigennamen in der Kurzgeschichte von Heinrich Böll Undines gewaltiger Vater. <?page no="44"?> 36 Natalia Chomutskaja 2 Merkmale der Kurzgeschichte Die Kurzgeschichte als literarische Gattung erlangte in Deutschland in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg besondere Beliebtheit. Seit dem Ende der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts wird die Kurzgeschichte auch in der deutschen Sprachdidaktik intensiv untersucht. Vom Ziel der Untersuchung ausgehend, ist der Umstand bedeutsam, dass für die deutsche Kurzgeschichte Verschlüsselung und Mehrdeutigkeit charakteristisch sind. Das Allerwichtigste, worüber der Autor erzählen will, befindet sich zwischen den Zeilen. Allkemper/ Eke (2014: 117) betonen: Ist novellistisches Erzählen konzentriertes Erzählen, so das der Kurzgeschichte eher aussparendes Erzählen: Der Umfang ist noch geringer, das bedingt eine noch straffere Komposition. Verzichtet wird auf Einleitung und Hinführung, der „Ausschnitt“ der Handlung setzt unmittelbar ein, wird nicht erläutert durch eine Vorgeschichte o. ä. Bühnentechnisch könnte man sagen, wird der Ausschnitt so hell und scharf ausgeleuchtet, dass jede Umgebung und jeder Hintergrund usw. im Dunkeln bleiben; auch die Personen sind nicht charakterisiert, sondern typisiert (mit Vorliebe für Außenseiter) und der Schluss bleibt offen, er stellt in Frage, wirkt provokativ. [Kursive Hervorhebungen: im Original.] 3 Kurze biographische Angaben über den Autor der untersuchten Kurzgeschichte Heinrich Böll gehört zur Generation der deutschen Schriftsteller der Nachkriegsliteratur. Er wurde 1917 in Köln als Sohn eines Bildhauers geboren. Nach dem Abitur war er Buchhandelslehrling. Böll studierte ein Semester Germanistik und Altphilologie, bevor er 1939 zur Wehrmacht einberufen wurde. Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Dezember 1945 schlug sich Böll als Gelegenheitsarbeiter durch. 1947 veröffentlichte er seine erste Kurzgeschichte, 1949 folgt die Erzählung Der Zug war pünktlich. 1951 gewann er mit der Satire Die schwarzen Schafe den Preis der Gruppe 47. Danach veröffentlichte Böll als freier Autor mit großem Erfolg Kurzgeschichten, Romane, Satiren. Darüber hinaus begleitete er mit kritischen Essays, Reden und öffentlichen Auftritten den wirtschaftlichen und politischen Aufbau der Bundesrepublik. Im Jahre 1972 wurde ihm der Literatur-Nobelpreis verliehen. Böll ist insgesamt als Romanschriftsteller, Erzähler, Hörspiel- und Drehbuchautor, Essayist, Dramatiker und Übersetzer bekannt. <?page no="45"?> Eigennamen in Heinrich Bölls Kurzgeschichte Undines gewaltiger Vater 37 4 Eigennamen im Text der Kurzgeschichte: kulturologischer Aspekt Krüger (2004: 125) zählt [z]u den Kriterien, die einen Text zum Text machen, die also Bedingung für Textualität sind […]: Informativität, Situationalität, Intentionalität, Akzeptabilität, Kohäsion, Kohärenz und Intertextualität. Namen sind an der Erfüllung dieser Kriterien beteiligt, sind somit textkonstitutive sprachliche Mittel. Die Hauptidee der untersuchten Kurzgeschichte ist, die Bedeutung des Rheins für die Deutschen aus der Sicht eines Deutschen unter historischem Aspekt zum Ausdruck zu bringen. Nicolaisen (2004: 249; 250) unterstreicht: Ein Teil onomastischer Forschung in der Literatur besteht aus Bemühungen, die Absichten von Autoren in der Benennung von fiktiven Figuren zu verfolgen und damit zur Erhellung der Fiktion als solcher beizutragen. […] Was für Personennamen zutrifft, ist ebenso wichtig für das Inventar der Ortsnamen in einem literarischen Werk. Im Text der behandelten Kurzgeschichte gibt es nur „wirkliche“ authentische Namen. Sie gehören zu zwei Haupttypen der Eigennamen: Anthroponymen und Toponymen. Schon der Titel der Kurzgeschichte setzt textexternes Wissen voraus: Böll verweist auf mythologische Gestalten, mit denen die Geschichte des Flusses eng verbunden ist. Wie Anreiter (2005: 20) behauptet, ist „[o]hne Kenntnis der Sagenwelt […] eine Oronomastik undenkbar“. Drachen, Nixen und Riesen versammeln sich an den Ufern des Rheins. Die mythologische Figur von Undine existiert dabei nicht nur in den deutschen Sagen, sondern auch in der Folklore vieler anderer Völker, etwa in den altgriechischen Mythen und im Volksglauben in den baltischen Ländern. Die Beschreibung dieses geheimnisvollen Wesens erfolgt jedoch unterschiedlich. Bei einigen Völkern ist die Undine eine schöne Gestalt von schlanker Figur und mit wunderbarem Haar. Im baltischen Volksglauben ist Undine hingegen eine gewöhnliche Nixe mit Fischschwanz. Undine wurde im gleichnamigen Märchen des bekannten deutschen Romantikers Friedrich de la Motte Fouque beschrieben, ein Werk, welches von Wassilji Andrejewitsch Shukowskij ins Russische übertragen wurde. Im Gedicht Lorelei von Heinrich Heine findet sich hingegen die Gestalt einer schönen Dame mit goldenem Haar und einer wunderbaren Stimme. Trotz ihrer Gestalt ist sie die Ursache des Todes vieler Fischer. Undine heißt auch die Oper von E. T. A. Hoffmann. Durch die Benennung Undine entsteht beim Leser ein komplexes Gesamtbild, in dem historische, literarische und musikalische Elemente verflochten sind. Wie schon oben erwähnt, sind die Eigennamen der untersuchten Kurzgeschichte in zwei Gruppen einzuteilen: Anthroponyme und Toponyme. Im em- <?page no="46"?> 38 Natalia Chomutskaja pirischen Datenmaterial gehören mythologische und historische Gestalten sowie berühmte Maler zu den Anthroponymen. Alle diese Eigennamen sind authentisch, aber sie verfügen über eine zusätzliche Information. Wenn dem Leser diese bekannt ist, hilft ihm das, den Hauptinhalt des Textes adäquat zu verstehen. Eines der Kriterien, das einen Text zum Text macht, ist die Kohärenz. Dietlind Krüger betont (1994: 109), dass „Kohärenz sich auf das Verstehen des im Text Ausgedrückten, des Textsinns unter Zuhilfenahme des Weltwissens bezieht“. Ein Beispiel ist Agrippina die Jüngere, die Tochter des römischen Heerführers Germanicus und der älteren Agrippina. Sie gehörte zur julisch-claudischen Dynastie, war die Mutter Neros und die Ehefrau des Kaisers Claudius. Sie ist in Köln am Rhein geboren, deshalb wird in der Kurzgeschichte ihre Geburt erwähnt: Agrippina: ein rheinisches Mädchen war die Tochter des Germanicus, Enkelin Caligulas, Mutter Neros, Frau und Mörderin des Claudius, später von ihrem Sohn Nero ermordet. Rheinisches Blut in den Adern Neros! (205) Der bekannte deutsche Dichter Erich Weinert hat in seinem Werk Bänkelballade vom Kaiser Nero die Tat ihres Sohnes Nero mit der deutschen Geschichte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts verbunden. In diesem Beispiel haben wir es mit Intertextualität zu tun. In der Kurzgeschichte treten auch der altgriechische Gott Dionysos und die römische Göttin Venus auf, deren Geschichten als bekannt vorausgesetzt werden. In der griechischen Mythologie ist Dionysos der jüngste Gott im Olymp. Er ist der Gott des Weins und der Freude, wie auch des Wahnsinns und der Ekstase. Venus ist in der römischen Mythologie hingegen die Göttin der Schönheit, Liebe, Fruchtbarkeit. Sie gilt als Urmutter des römischen Volkes. Es gibt viele Gemälde von bekannten Malern (Tizian, Botticelli, Veronese, Velázquez usw.), die diesen Gestalten gewidmet sind. [H]ier standen sie, die römischen Soldaten, starrten auf das unversöhnliche Ostufer; opferten der Venus, dem Dionys, feierten die Geburt der Agrippina. (205) Heinrich Böll erwähnt auch die Namen der weltbekannten niederländischen Maler Rembrandt und Breughel, deren Gemälde dem Rhein gewidmet sind: [D]er Rhein der lieblichen mittelrheinischen Madonnen fließt auf Rembrandt zu und verliert sich in den Nebeln der Nordsee […], der Rhein der Krähen, die auf Eisschollen nordwestwärts ziehen, den Niederlanden zu, ein Breughel-Rhein, dessen Farben Grüngrau sind, Schwarz und Weiß. (206) Wenn dem Leser die Werke bekannt sind, entsteht auf diese Weise ein Dialog zwischen Dichter und Leser. <?page no="47"?> Eigennamen in Heinrich Bölls Kurzgeschichte Undines gewaltiger Vater 39 Wenn der Autor den Weintrinkerrhein beschreibt, so erwähnt er die Nibelungen, die dort wohnten, wo der Wein wächst, [sie] waren ein sehr fröhliches Geschlecht. Blut war ihre Münze, deren eine Seite Treue, deren andere Verrat war. (206) Das Leben der Nibelungen wird im Werk Das Niebelungenlied von einem unbekannten Autor (um das Jahr 1200) beschrieben. Durch die Anspielung darauf erhält der Leser zusätzliche Informationen. Angesichts des Forschungsanliegens des vorliegenden Beitrags ist auch folgender Satz von Bedeutung: Zu viele Heere hat dieser Fluß gesehen, der alte grüne Rhein, Römer, Germanen, Hunnen, Kosaken, Raubritter - Sieger und Besiegte, und - als letzte Boten der sich vollziehenden Geschichte - die den weitesten Weg hatten: die Jungen aus Wisconsin, Cleveland oder Manila, die den Handel fortsetzten, den römische Söldner um das Jahr Null herum begonnen hatten. (206) Römer, Germanen, Hunnen und Kosaken gehören zu den Ethnonymen. Die Namen der Römer und Germanen sind allgemein bekannt, und ihre Geschichte ist bereits viele Jahrhunderte mit dem Rhein verbunden. Um die Nennung der Hunnen in diesem Kontext zu begreifen, benötigt der Leser jedoch zusätzliches Wissen aus der Geschichte. Die Hunnen sind ein Sammelbegriff für einen Völkerverband einiger Stämme aus Asien, den Wolgasteppen und dem Vor-Uralgebirge. Sie bildeten ein Reich, welches von der Wolga bis zum Rhein reichte. Ihre Blütezeit erreichten sie während der Regierungszeit von Attila. Einige Ereignisse aus dieser Epoche sind im Text des Werkes Hildebrandslied (8. Jahrhundert) zu finden, dessen Handlung auch an den Ufern des Rheins zu verorten ist. Die Verbindung von Geschichte und Literatur hilft dem Leser, die Hauptidee der Kurzgeschichte Bölls besser zu verstehen. Kosaken sind eine soziale Schicht, die im 15.-17. Jahrhundert am Rande Russlands entstanden ist. Sie bewohnten die Steppen Russlands und der Ukraine, besiedelten später das Wolgagebiet, das Vor-Uralgebirge, Sibirien und den Fernen Osten. Viele von ihnen dienten in der russischen Zarenarmee. Während der Kriege waren sie mehrmals in deutschen Landen. Einige von ihnen sind dort geblieben und haben viele Fragmente der russischen Kultur mitgebracht. Neben den Anthroponymen spielen im Text auch Toponyme eine bestimmte Rolle. Rozen (2000: 247) unterstreicht: Toponyme drücken die Weltwahrnehmung der Menschen, der Kultur, des Alltags, Sitten und Bräuche, ihrer alltäglichen Umgebung, des psychologischen Zustandes und der Kommunikation aus. <?page no="48"?> 40 Natalia Chomutskaja Im oben zitierten Satz aus Bölls Geschichte finden wir Ortsnamen (Städtenamen) aus den USA: Wisconsin, Cleveland und Manila. Vermutlich wollte Böll damit auf die zeitliche Periode der ersten Nachkriegsjahre verweisen. Im Text der Kurzgeschichte gibt es eine Vielzahl geographischer Benennungen, die für den Inhalt eine Rolle spielen. Man könnte mit ihnen eine Karte zusammenstellen, welche die kognitive Welt des Autors veranschaulicht. Die wichtigsten Reisepunkte sind hier Mainz, Köln, Rüdesheim, Deutz, Xanten, Duisburg und Bonn. Sie verweisen auf Inhalte der deutschen Geschichte, die mit dem kulturologischen Aspekt eng verbunden sind. Für die russischen Deutschlernenden sind folgende Momente von Bedeutung: In Mainz siedelten Kelten, Römer, Burgunder und Franken. In der Stadt stehen die großen Kaiserdome aus dem Mittelalter. Der Mainzer Kurfürst war zeitweilig Erzkanzler des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“. Köln wurde in römischer Zeit gegründet: Hier wurde Agrippina, die Tochter des Heerführers Germanicus, geboren, die später die Stadt gegründet und besondere Rechte für Köln vom Ehemann Clauduis erhalten hat. Die Stadt ist berühmt durch seine romanischen Kirchen, den gotischen Dom und seine Museen. Rüdesheim ist der berühmteste Winzerort am Rhein, seine Drosselgasse wird jährlich von etwa drei Millionen Touristen besucht. Xanten wird im Nibelungenlied erwähnt, und zwar als der Geburtsort vom edlen Ritter Siegfried. Duisburg ist die größte Binnenhafenstadt in Deutschland. Bei den alten Römern war die Stadt ein Verkehrsknotenpunkt. Hier ist die Luft kühl, und der Rhein strömt der Nordsee entgegen. Als Zeuge der alten Geschichte gilt die Benennung des Aquaparks als „Claudius Therme“. Bonn ist als Stadt ebenfalls tief in die deutsche Geschichte eingedrungen. Historisch gesehen, war die Stadt eine Zeitlang (1949-1991) die Hauptstadt der Bundesrepublik. Im kulturellen Leben des Landes ist Bonn als Beethoven-Stadt bekannt. Wichtig ist auch die folgende Stelle im Text: Römischer Flitter wurde im Jahre Null hier gegen germanische Frauenehre getauscht und im Jahre 1947 Zeißgläser gegen Kaffee und Zigaretten, die kleinen weißen Räucherstäbchen der Vergangenheit. (206) Die Erwähnung der Jahreszahl ist hier nicht zufällig. Sie symbolisiert einige historische Tatsachen der deutschen Geschichte. Für die deutsche Literatur gilt das Jahr 1947 als Gründungsjahr der Gruppe 47. Für die Leser entstehen sofort die Assoziationen mit den Namen der Schriftsteller und ihren Werken. Heinrich Böll gehörte auch zu dieser Gruppe. Im Jahre 1947 gab es Deutschland noch nicht wieder als offiziellen Staat. Das Jahr 1947 ist - historisch gesehen - der Anfang eines neuen Kapitels in der deutschen Geschichte. <?page no="49"?> Eigennamen in Heinrich Bölls Kurzgeschichte Undines gewaltiger Vater 41 Geographisch gesehen fließt der Rhein durch viele Länder: die Schweiz, Liechtenstein, Österreich, Deutschland, Frankreich und die Niederlande. Der Rhein ist nicht nur ein Verkehrsmittel zwischen den Ländern und Regionen, sondern auch stummer Zeuge vieler Ereignisse. Wie viele andere der großen Flüsse ist der Rhein dadurch geheimnisvoll, märchenhaft und sagenumwoben. Die sagenhafte Lorelei regt die Phantasie vieler Menschen an. Von der Schönheit des Rheins und der Rheinlandschaften haben sich im Laufe der Zeit viele Schriftsteller, Maler und Musiker immer wieder inspirieren lassen. Die Beschreibung des Rheins unter kulturologischem Aspekt motiviert auch den Leser, selbst zusätzliche Informationen zu suchen und sich ein vollständiges Bild über die Bedeutung dieses Flusses zu machen. Wenn der Leser über dieses zusätzliche Wissen verfügt, fällt es ihm leichter die Hauptidee der Kurzgeschichte zu verstehen, ungeachtet dessen, ob er ein Deutscher, Russe, Franzose, Spanier … ist. 5 Fazit Die durchgeführte Analyse hat aufgezeigt bzw. erneut belegt: die Eigennamen bilden einen unentbehrlichen Bestandteil der deutschen Sprache; die Hauptfunktion der Eigennamen ist die Benennung eines Einzelobjektes. Dabei unterscheidet man literarische und authentische Eigennamen. Die Studie konnte die Erkenntnis von Sobanski (2000: 57) bestätigen, dass jeder in einem literarischen Text auftretende Eigenname als literarischer Name, unabhängig davon, ob er Menschen, Orte oder gegenständige Objekte bezeichnet, gilt. Obwohl im Text der Kurzgeschichte Undines gewaltiger Vater alle Eigennamen authentische Namen sind, verfügen sie über weitere Sinnebenen, welche zumeist kulturologischen Charakter haben. Das nähert sie den literarischen Namen an. Die durchgeführte Untersuchung konnte folgende Ziele erreichen: 1. Es wurden Eigennamen im Text der Kurzgeschichte im Rahmen eines kulturologischen Aspektes analysiert und ihre Rolle bei der Realisierung der Hauptidee des Werkes bestimmt. 2. Es wurde die Herausarbeitung der kulturbezogenen Informationen und ihre Semantisierung für russische Deutschlernende durchgeführt. 3. Es wurde die Rolle der „nichtliterarischen“ Namen als Bezeichnung der im Text erwähnten authentischen Personen und Objekte unter kulturologischem Aspekt untersucht. <?page no="50"?> 42 Natalia Chomutskaja Die Eigennamen bekannter Persönlichkeiten, Städte und Flüsse rufen bei den Lesern zusätzliche Assoziationen hervor, die zur besseren Verständigung der Hauptidee des Werkes führen (können). Die meisten der bei den Lesern entstehenden Assoziationen haben einen kulturologischen Charakter. Der kulturologische Inhalt der Bedeutung von Eigennamen spielt eine besondere Rolle in der Ausbildung ausländischer Deutschstudierender, damit sie Geschichte, Literatur, Alltagsleben, Kultur, Sitten und Bräuche des Landes, dessen Sprache sie studieren, besser verstehen. 6 Literatur Sekundärliteratur Allkemper, Alo/ Eke, Norbert Otto (2014): Literaturwissenschaft. 4. aktualisierte Aufl. Paderborn (UTB; 2590). Anreiter, Peter (2005): Ein Wunschgedanke: Die tiefere interdisziplinäre Verankerung der Onomastik. In: Brendler, Andrea/ Brendler, Silvio (Hrsg.): Namenforschung morgen. Ideen, Perspektiven, Visionen. Hamburg. S. 13-21. Blanár, Vincent (1996): Das anthroponymische System und sein Funktionieren. In: Eichler, Ernst/ Hilty, Gerold/ Löffler, Heinrich/ Steger, Hugo/ Zgusta, Ladislav (Hrsg.): Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik. Berlin/ New York 1996 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 11.2). S. 1179-1182. Eichler, Ernst/ Hilty, Gerold/ Löffler, Heinrich/ Steger, Hugo/ Zgusta, Ladislav (Hrsg.) (1996): Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik. Berlin/ New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 11.2). Fleischer, Wolfgang (2001): Grundsätzliches: der Eigenname. In: Fleischer, Wolfgang/ Helbig, Gerhard/ Lerchner, Gotthard (Hrsg.): Kleine Enzyklopädie - deutsche Sprache. Frankfurt am Main u. a. S. 648-663. Glück, Helmut (2010a): Art. Kulturwissenschaft. In: Glück, Helmut (Hrsg.) (2010): Metzler Lexikon Sprache. 4., aktualisierte und überarb. Aufl. Stuttgart/ Weimar. S. 378f. Glück, Helmut (2010b): Art. Namenkunde. In: Glück, Helmut (Hrsg.) (2010): Metzler Lexikon Sprache. 4., aktualisierte und überarb. Aufl. Stuttgart/ Weimar. S. 449. Gutschmidt, Karl (1985): Namenarten und Namenklassen in der schönen Literatur. In: Eichler, Ernst/ Sass, Elke/ Walther, Hans (Hrsg.), Der Eigenname in Sprache und Gesellschaft. Leipzig. S. 62-69. 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Grišaeva (Woronesch) Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag wird durch die Analyse von Neubildungen mit der Komponente Putin-/ -Putin/ -Putinerklärt, wie und warum paradigmatisch neutrale Einheiten im Textganzen ein negatives axiologisches Potential erwerben und somit im Mediendiskurs Manipulationspotential entfalten können. Diesen Einheiten wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt, weil sie, indem sie nach aktuellen und häufigen Wortbildungsmodellen gebildet werden, von den Textrezipienten leicht verarbeitet werden können und über ein weit gefächertes Funktionspotential verfügen: Sie können (1) das Wissen über zwei Kulturen zugleich aktivieren und entsprechende Wissensbestände aufeinander beziehen, (2) das unter aktuellen kommunikativen Bedingungen wahrzunehmende Wissen durch Subkategorisieren einer mentalen Kategorie zuordnen, (3) dem Identifizieren und zugleich Charakterisieren von Referenten dienen, (4) zur Textkohärenz beitragen, indem sie mehrere Isotopieketten in diversen Medientexten durch gemeinsame Glieder miteinander verbinden, wobei im Mediendiskurs neue, längere Zeit bestehende Textkomplexe entstehen, (5) den im Diskurs entstehenden Medientextkomplex als fein differenzierte, gegliederte Bezeichnung für ein aktuelles und wichtiges Medien-Ereignis in allen seinen Phasen durch den Rezipienten wahrnehmen und durch den Forscher interpretieren lassen, (6) mit der politischen, öffentlichen und medialen Agenda in der deutschen und russischen Kultur eng verbunden werden, (7) das Wissen in verschiedenen thematisch-begrifflichen Bereichen umstrukturieren, (8) das Handeln der Rezipienten manipulativ beeinflussen. 1 Problemstellung und Zielsetzung Im Mittelpunkt der Forschung stehen in der folgenden Untersuchung Neubildungen mit der Komponente Putin-/ -Putin/ -Putin-, die den aktuellen deutschen Medientexten entnommen worden sind. Das Interesse dafür ist durch eine Reihe von Auffälligkeiten, die dem erwähnten sprachlichen Material eigen sind, bedingt: Es ist erstens die Tatsache, dass nicht nur die Neubildungen mit der Komponente -Putin-, sondern auch der Personenname Putin im deutschen wie internationalen Mediendiskurs häufig genug vorkommen. Zwar kann als Erklärung dafür gesagt werden, die Person Putin sorge schon seit mehreren Jahren im internationalen Mediendiskurs für rei erische Schlagzeilen und somit auch - <?page no="54"?> 46 Ludmila I. Grišaeva nolens volens - mittelbar oder unmittelbar für hohe Auflagen der entsprechenden Medien. Eine solche Erklärung wäre aber oberflächlich und linguistisch kaum annehmbar bzw. angebracht. Trotzdem bleibt der angeschnittene Umstand nicht ohne Einfluss beim Generieren und Rezipieren der Medientexte: Denn ohne mehr oder weniger genaue Vorstellungen von der erwähnten Person kann der Rezipient den Medientext, in dem der Adressant den entsprechenden Eigennamen und/ oder Neubildungen mit der gleichen Wortbildungskomponente verwendet, nicht situationsgerecht wahrnehmen. Deshalb ist die Suche nach der Antwort, warum und wozu die angesprochenen Neubildungen im Mediendiskurs intensiv verwendet werden, ohne Zweifel von linguistischem Interesse. Interessant ist dies auch deswegen, weil im Mediendiskurs die Wahl von Ausdrucksmitteln mit einer bestimmten Absicht erfolgt. Zweitens zeugt das Aufkommen von Neubildungen mit einer gewissen Wortbildungsstruktur, die in verschiedenen Diskursformaten mehrfach nachgebildet wird, von wichtigen kognitiven und soziokulturellen Prozessen, die sowohl das kollektive Subjekt als auch einzelne Individuen betreffen: Die Neubildungen als Resultat solcher Prozesse belegen, dass das neue Wissen benannt und unter konkreten diskursiven Bedingungen den Kommunikanten mitgeteilt wird, wobei der Adressant dabei einen bestimmten Zweck verfolgt. Solche Prozesse sind besonders deutlich im Mediendiskurs zu beobachten, denn die Medientexte sind unmittelbar in den aktuellen Kultur- und Medienkulturkontext eingebettet; sie beinhalten sozial wichtige Informationen; diese sind für den Rezipienten als kollektives Subjekt von besonderer Relevanz (Volodina 2015: 21). Das hängt eng mit der zunehmenden Rolle von Medientexten in fast jedem Diskursformat zusammen. Medientexte verschiedener Textsorten beinhalten Muster für die sprachliche Bewältigung der außersprachlichen Situationen bzw. lassen diese entstehen, was die anderen Textsorten so effektiv wie Medientexte heutzutage kaum zu leisten vermögen. Des Weiteren ist auch der - aktive und passive, mittelbare und unmittelbare - Einfluss der Sprachverwendung im Mediendiskurs auf die Wahrnehmungs-, Kategorisierungs- und Konzeptualisationsprozesse vom zu rezipierenden Wissen sowie auf verschiedene Handlungen der Rezipienten - lies: Kommunikanten - in der realen Welt als Einflussfaktor beim Studium der Sprachverwendungsweisen zu nennen. Mit den Worten von Fix (2008: 273), die unter anderem „Medientexte diesseits und jenseits der ‚Wende‘“ beschreibt, kann auch die Leistung der Medientexte insgesamt als „Individualisieren“ des „kollektiven Sinns“ „in der Dimension von gesellschaftlicher Veränderung und Normenwandel“ bezeichnet werden. So kann eine Hypothese aufgestellt werden: Die Neubildungen mit der Komponente -Putinermöglichen dem Adressanten eines Medientextes, das neue Wissen über eine fremde Kultur dem Rezipienten so mitzuteilen, dass <?page no="55"?> Neubildungen mit der Komponente -Putinin aktuellen deutschen Medientexten 47 dieses in die bereits durch die Sozialisation vorgeprägten mentalen Strukturen eingegliedert wird, damit entsprechende Prozesse mit den Ansichten des kollektiven Subjekts konform gehen. Diese Hypothese zu verifizieren bzw. zu falsifizieren ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung. Dabei werden die zu untersuchenden Einheiten unter kognitivem, wortbildendem und textgrammatischem Blickwinkel beschrieben. Die lexikalisch-semantischen, wortbildenden, grammatischen und textgrammatischen Eigenschaften der zu beschreibenden Einheiten werden als Verbalisierungsmechanismen für heterogene, heterosubstrate und heterochronische Erkenntnisse über die au ersprachliche Wirklichkeit angesprochen. 2 Charakteristiken der Neubildungen mit der Komponente -Putin- Das empirische Material stellen Neubildungen mit der Komponente Putin-/ -Putin/ -Putindar, die deutschen Medientexten über die Präsidentschaftswahl 2012 in Russland entnommen worden sind. Das in diesen Texten zu berichtende Medienereignis ist offensichtlich ein Teil der russischen, deutschen sowie internationalen (globalen) Agenda. Diese kommunikativen Gebilde sind Texte diverser Textsorten (Bericht, Interview, Kommentar, Nachricht, Meinungsäu erung) über eine für den deutschen Rezipienten fremde bzw. andere 1 Kultur. Die Entscheidung für die Analyse der Neubildungen mit der Komponente -Putinist durch folgende Erwägungen bedingt: Erstens sind diese lexikalischen Einheiten inhaltlich zweifellos von Sprach- und Kulturteilhabern als Neubildungen erkennbar. Sie sind sowohl in den deutschen als auch in den russischen kulturellen Kontext eingebettet und dadurch für die Untersuchung interessant. Zweitens sind die angesprochenen Einheiten nach den produktivs- 1 Im Unterschied zu der in der Fachliteratur dominierenden Meinung, dass die soziokulturell und kulturanthropologisch relevanten Faktoren fremd und anders als identisch bzw. gegeneinander austauschbar zu betrachten seien, wird hier die Auffassung vertreten, dass Wesen, Inhalt, Wirkung, Funktionsbereich und Einfluss auf das Rezipieren, Konzipieren und Kategorisieren der wahrzunehmenden Wissensbestände durch die Kommunikanten in einer aktuellen Interaktion grundverschieden sind (s. die eingehendere Begründung in Grišaeva 2007). Die angesprochenen Faktoren bestimmen den Wahrnehmungsrahmen: entweder fremd - eigen oder anders - eigen, und somit selegieren sie das wahrzunehmende Wissen quantitativ und qualitativ. Folglich werden im Endeffekt die Wahl der Handlungsbzw. (Interaktions-)strategien und auch die Wahl von Verbalisierungsmechanismen beim Versprachlichen des konzipierten und kategorisierten Wissens beeinflusst. <?page no="56"?> 48 Ludmila I. Grišaeva ten deutschen Wortbildungsmodellen gebildet und ermöglichen daher, die aktuellen Trends im lexikalischen Bereich zu verfolgen. Drittens bezeichnen diese Einheiten solche Referenten, die für die deutschen Sprach- und Kulturteilhaber einen besonderen Stellenwert sowohl in der deutschen als auch in der russischen Kultur haben. Als Ausdrucksmittel für kommunikativ bedeutsame Informationen sind diese viertens mehr oder weniger zuverlässige Marker für bestimmte kognitive, nominative und damit eng verbundene diskursive Strategien, die im entsprechenden Diskurs auf verschiedene Art und Weise realisiert werden. Für die Untersuchung sind au erdem noch einige Tatsachen von Bedeutung: Alle zu beschreibenden Neubildungen haben eine Komponente gemeinsam, die auf den Eigennamen, und zwar auf den Personennamen, zurückgeht. Die Personennamen als semantische Klasse zeichnen sich dadurch aus, dass sie Lebewesen, Dinge u. a. bezeichnen, „die so, wie sie sind, nur einmal vorkommen“ (Duden 1998: 196). „ Mit einem Eigennamen wird also etwas Bestimmtes, Einmaliges benannt; er ist in der Regel einzelnen Lebewesen oder Dingen zugeordnet und gestattet, diese zu identifizieren“ (Duden 1998: 196). Die Forscher machen uns auf folgende Eigenschaften der Personennamen aufmerksam: „[J]ede Person und jeder Ort bleibt ‚Individuum‘, d. h. ein bestimmtes unteilbares Einzelnes“ (Duden 1998: 196). Vor diesem Hintergrund gilt für den Rezipienten das Wissen über Putin als eine Art Prototyp, weil die Kategorisierung der zu rezipierenden Neubildungen aufgrund des Ähnlichkeitsgrades mit dem Prototyp der betreffenden Kategorie erfolgt. Und ein Prototyp ist ein typischer Vertreter einer Kategorie; dieser Kategorie werden andere Elemente aufgrund der Ähnlichkeit mit dem Prototyp, die der Rezipient wahrnimmt, zugerechnet (Langacker 1987: 371). Auf den Rezipienten wirken die zu behandelnden Einheiten dreifach fremdartig: (1) Die genannte Komponente hebt sich schon allein aufgrund ihrer morphematischen und lautlichen Struktur von anderen im Kontext vorhandenen Einheiten ab. (2) Die Komponente Putin-/ -Putin/ -Putinaktiviert durch ihre Form das Wissen über eine Ethnie, mit dem in der deutschen Kultur alle Sprach- und Kulturteilhaber vertraut sind; dieses Wissen existiert in Form verschiedener Heterostereotype bzw. Vorurteile und dient als Grundlage für die Verarbeitung von aktuell wahrzunehmenden Informationen durch den Rezipienten. Die so bezeichnete Person wird als Träger von einer Kultur kategorisiert, über die nur wenige Rezipienten der zu besprechenden Medientexte ein differenziertes und zuverlässiges Wissen besitzen. (3) Diese Person übt einen Beruf aus, von dem viele Rezipienten, wenn nicht die allermeisten, eine nur vage Vorstellung haben. Das unzureichende Wissen wird aber von den Rezipienten nicht als störender Faktor empfunden, der diese von einem Urteil fernhalten <?page no="57"?> Neubildungen mit der Komponente -Putinin aktuellen deutschen Medientexten 49 würde, weil sich die Rezipienten beim Konzipieren und Kategorisieren der zu verarbeitenden Kenntnisse über die eigene und fremde Welt derjenigen Verhaltensmuster und Denkmodelle bedienen, die sie durch die Sozialisation verinnerlicht haben. Die zu analysierenden Neubildungen, die vom Kontext isoliert, d. h. paradigmatisch betrachtet werden, lassen sich in vier Gruppen einteilen, die wortbildend, lexikalisch-semantisch, stilistisch, morphologisch und syntaktisch höchst heterogen sind: (1) positiv konnotierte Einheiten (Putin-Fans); (2) negativ konnotierte Einheiten (Pro-Putin-„Kaderrevolution“); (3) ambivalente Einheiten, deren paradigmatisches axiologisches Potential erst im Text genau bestimmbar ist und qualitativ bedeutend von den Wertvorstellungen der Kommunikanten abhängt (Putin-Getreue, Super-Putin); (4) neutrale Einheiten (Putin-Lager, Putin-Inauguration). Im Text aber kann auch eine positiv/ negativ konnotierte Einheit ihren Eigenschaften entgegen interpretiert werden; Verbalisierungsmechanismen und/ oder Textgestaltungstechniken sind diesbezüglich mehr oder weniger neutral, wie das folgende Beispiel zeigt: Der Kreml reagiert ratlos auf den Protest. Die Opposition sei ‚einfallslos‘. Sie destabilisiere das Land, wettert Sergej Newerow, ein Kader der Putin-Partei ‚Einiges Russland‘, es drohe eine ‚Revolution in Orange‘, wie in der Ukraine. (Bidder/ Offenberg 2012) Anders gesagt hei t es, dass das axiologische Potential der zu beschreibenden Einheiten im Diskurs modifizierbar und nicht von der Beschaffenheit der Wortbildungsmodelle allein abhängig ist. Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass das paradigmatische axiologische Potential vor allem auf den lexikalischen Besonderheiten (Fehlen bzw. Vorhandensein des Sems Wertung in der semantischen Struktur entsprechender lexikalischer Einheiten, vgl.: Aktion vs. Jubel) und/ oder auf dem Potential des Wortbildungsmusters (vgl.: Pro-Putin-Demonstration vs. Antin-Putin-Demonstration) basiert; danach richtet sich mehr oder weniger auch der Funktionsbereich der zu beschreibenden Einheiten sowie die Entscheidung des Adressanten, diese im Diskurs zu verwenden. Die angeführten Tatsachen stellen unter Beweis, dass die erwähnten Einheiten unter dem paradigmatischen Blickwinkel über ein weit gefächertes Funktionsrepertoire verfügen müssen und ihr Potential im Diskurs entfalten und bereichern können. Die bereits beschriebenen Neubildungen sind 84 Spiegel-online-Medientexten über die Geschehnisse in Russland in der Zeitspanne vom September 2011 bis Juni 2012, die die Präsidentschaftswahl in Russland als Thema haben, entnommen. Somit stellen die zu behandelnden Medientexte Texte über eine fremde bzw. andere Kultur dar, denen die Gegenwirkung von solchen kognitiv, dis- <?page no="58"?> 50 Ludmila I. Grišaeva kursiv und kulturanthropologisch relevanten Parametern wie fremd eigen, anders eigen, fremd anders 2 beim Rezipieren bzw. Konzipieren und Kategorisieren von Wissensbeständen zugrunde liegt. Die genannten Faktoren bestimmen die Beschaffenheit des Wahrnehmungsrahmens beim Rezipieren. Der Wahrnehmungsrahmen beeinflusst die Beschaffenheit der wahrzunehmenden Informationen und somit deren Selegieren. Dabei verarbeitet der Rezipient die Informationen über die fremde bzw. andere Wirklichkeit auf der Basis derjenigen Patterns, die er sich bei der Enkulturation zu eigen gemacht hat. Für die beabsichtigte Untersuchung ist dieser Umstand von Belang, weil von der Beschaffenheit des Wahrnehmungsrahmens die Entscheidung des Rezipienten für Patterns, nach denen das zu rezipierende Wissen kategorisiert und konzipiert wird, abhängt. Und es ist klar: Das Resultat wird schlie lich nicht unbedingt der zu beschreibenden Situation gerecht. Dies ist mit einer bekannten Volksweisheit vergleichbar: „Was Hänschen über Grete sagt, sagt mehr über Hans aus als über Grete“. Dank der komplexen Untersuchung der deutschen Medientexte über die russischen Präsidentschaftswahlen 2012 konnte nachgewiesen werden, dass die deutschen axiologischen Auto- und Heterostereotype sowie deutsche Vorurteile bezüglich der Russen, Russlands im Allgemeinen und der Wahlen in Russland im Besonderen sowie der Staatsmacht in Russland überhaupt als Grundlage beim Generieren und Rezipieren der Texte gedient haben (Grišaeva 2014). Zugleich aber erlaubt uns die vorgenommene Untersuchung, zu enträtseln, wie paradigmatisch neutrale Ausdrucksmittel einen deutlich ausgeprägten eindeutig negativen Kontext zu kreieren imstande sind. Der angesprochene Umstand ist nun unter anderem ein Grund, der Leistung von Neubildungen mit der Komponente Putin-/ -Putin/ -Putinim Text als Ganzheit nachzugehen. So z. B. kann eine der zu besprechenden Neubildungen das negative Potential des Medientextes sowie der entsprechenden Neubildung verstärken; vgl. im Folgenden das paradigmatische Potential der Neubildung Putin-Inszenierung mit der im Diskurs entstandenen selben Einheit: Den scheinbaren Beweis für die Spontaneität der Tränen Putins lieferte am Tag nach der Wahl sein Pressesprecher. Doch, die Tränen seien echt gewesen, sagte der. Aber Putin habe nicht geweint. Es sei nur der ‚scharfe Ostwind‘ gewesen, der ihm in die Augen gefahren ist. Echte Männer flennen nicht, schon klar. Ist das nicht eine so offensichtlich vorgeschobene Erklärung, dass sie zu weiteren Spekulationen einlädt? Waren es doch 2 Siehe oben den Kommentar zur Interpretation dieser kulturanthropologischen Faktoren. <?page no="59"?> Neubildungen mit der Komponente -Putinin aktuellen deutschen Medientexten 51 falsche Tränen, die Emotionalität also nur eine neue Facette der Putin-Inszenierung als liebender Landesvater? (Kuzmany 2012). 3 Der Diskurs generiert auch die Metapher „Die Wahlen (in Russland) sind eine Inszenierung“ als Wahrnehmungs- und Interpretationsrahmen, durch den das rezipierte Wissen selegiert, kategorisiert und konzipiert wird. Dieser Umstand ist auch ein Grund für das Multiplizieren des negativen axiologischen Potentials dieses konkreten Medientextes sowie des Medientextkomplexes insgesamt. Es ist auch ein Beleg für das Zusammenwirken der paradigmatischen und syntagmatischen Eigenschaften von sprachlichen Ausdrucksmitteln im Mediendiskurs. Zwar gilt für die Komposita allgemein die These: Wichtiger sind zunächst das Textwissen (darüber, in welcher Verbindung, in welchem Kontext die Wortbildung auftritt) und die Kenntnis von Syntax und Semantik der Wörter einer Sprache, aus denen das Kompositum besteht, insbesondere der Bedeutungen von A und B (also das Wortwissen). (Duden 1998: 413) Diese Feststellung muss jedoch auf die Analyse der zu beschreibenden Neubildungen umso mehr bezogen werden; denn die inhaltliche situationsgerechte Interpretation dieser Einheiten ist erst im Textganzen möglich. Da dieselben Einheiten in mehreren Medientexten, die miteinander thematisch aufs Engste verbunden sind, als kommunikative Gebilde, die konsequent im Laufe von mehreren Monaten über ein Ereignis berichten, zu betrachten sind, ist es folgerichtig, anzunehmen, dass alle in Frage kommenden Medientexte einen Komplex bilden. Dieser Komplex wird funktional, intentional, inhaltlich und strukturell nach bestimmten Prinzipien organisiert und ist textgrammatisch zu untersuchen (s. eine eingehendere Beweisführung in: Grišaeva 2014). Diesem Medientextkomplex als textsemantisch und textsyntaktisch organisierter kommunikativer Einheit liegt die Struktur des Ereignisses Wahlen zugrunde, und daher lässt sich der zu behandelnde Medientextkomplex aufgrund der Kriterien (1) Phasen der Wahlkampagne und (2) Autorenschaft in folgende Gruppen aufteilen (s. Tab. 1). 3 Es muss betont werden, dass der Rezipient den oben zitierten Abschnitt vor dem Hintergrund des ersten Absatzes und des Titel-Untertitel-Komplexes wahrnimmt und interpretiert: „Und plötzlich glitzerten die Tränen: Das Bild des gerührten Wladimir Putin am Abend seines Wahlsieges gibt den Blick frei auf einen russischen Präsidenten ohne Maske. Der sonst so stählern emotionslose Herrscher war für einen kurzen Moment gerührt - von seiner eigenen Grö e“ (Kuzmany 2012). <?page no="60"?> 52 Ludmila I. Grišaeva Phasen in der Wahlkampagne Texte mit Autorenschaft-Angabe Texte ohne Autorenschaft-Angabe Kandidieren (6 Medientexte) 4 ( 57,0 %) 3 ( 43,0 %) zwischen Parlamentswahl und Präsidentschaftswahl (42 Medientexte) 26 ( 62,0 %) 16 ( 38,0 %) am Wahltag (8 Medientexte) 3 ( 37,0 %) 5 ( 63,0 %) nach der Wahl und vor der Inauguration (20 Medientexte) 3 ( 37,0 %) 14 ( 63,0 %) nach der Inauguration (5 Medientexte) 1 ( 20,0 %) 4 ( 80,0 %) insgesamt 40 ( 48,0 %) 44 ( 52,0 %) Tab. 1: Spiegel-Texte über die Präsidentschaftswahlen in Russland Die quantitative Analyse verdeutlicht nicht nur die Interpretation der Agenda durch die Adressanten der Medientexte, sondern auch die innere, genuine Verflechtung von verschiedenen Texten im Mediendiskurs. Diese wird an textinternen und textexternen Relationen, denen verschiedene Regularitäten zugrunde liegen, erkannt. Textinterne Relationen sind Beziehungen zwischen den Textelementen diverser Prägung und Natur im Rahmen eines Textes. Textextern sind Beziehungen zwischen den Textelementen diverser Prägung und Natur sowie zwischen einzelnen Texten. Textexterne Beziehungen konstituieren einen Textkomplex, in dem auch intertextuelle Beziehungen nachweisbar sein können, aber nicht müssen. In den zu analysierenden Medientexten sind 101 Neubildungen anzutreffen: putinhörig (auch Putin-hörig), Putin-konform, Anti-Putin-Demonstration, Putin- Anhänger etc. und sogar Putlandia. Zehn Neubildungen sind in dem Titel- Untertitel-Komplex zu finden: Putin-Gegner, Anti-Putin-Aktion, Putin-Jubel, Putin-Show. Der Titel-Untertitel-Komplex ist grundlegend, weil er ma geblich die Beschaffenheit des Wahrnehmungsrahmens beim Selegieren, Konzipieren und Kategorisieren von Erkenntnissen über die Welt bestimmt. Für Texte über eine fremde/ andere kulturelle Wirklichkeit ist diese Feststellung von besonderer Bedeutung, vor allem weil Texte als solche in jeder Hinsicht kulturspezifisch sind und Kulturalität als grundlegende Textkategorie neben Kohärenz, Intertextualität, Themenentfaltung (Thema-Rhema-Progression) u. a. zu nennen ist (Fix 2011; auch Fix 2008 u. a. m.) Und da sich der Rezipient beim Wahrnehmen derjenigen Patterns, die er bei der Enkulturation, d. h. Sozialisation in die eigene Kultur, verinnerlicht hat, bedient, ist das Resultat des Konzipierens und Kategorisierens von Informationen über fremde/ andere Wirklichkeit entweder nicht <?page no="61"?> Neubildungen mit der Komponente -Putinin aktuellen deutschen Medientexten 53 korrekt oder der Situation (zum Teil oder ganz) nicht angemessen oder sogar falsch bzw. verfehlt. Es bedeutet auch, dass die Entscheidung, thematisch verbundene Texte, die ein Medienereignis bezeichnen, als textsemantisch und textsyntaktisch organisiertes Gebilde zu untersuchen, begründet ist. Davon zeugen u. a. auch textexterne Beziehungen, für welche in erster Linie die zu behandelnden Neubildungen Marker sind. Aus diesem Grunde ist es nicht verwunderlich, dass die Zahl von Neubildungen in den zu analysierenden Medientexten unterschiedlich stark ausgeprägt ist (s. die Zahlen in Tab. 2 unten). An dieser Stelle ist es angebracht, auf einige Charakteristiken der zu behandelnden Einheiten genauer einzugehen. Die zu behandelnden Neubildungen sind meist Zusammensetzungen, die in verschiedenen Varianten vorkommen und diverse Referenten bezeichnen. Diese sind sowohl von der Intention des Adressanten als auch von der Beschaffenheit des zu bezeichnenden Ereignisses (und zwar dessen kognitiver Struktur) - Wahlen - abhängig: - Bezeichnungen für Personen: Putin-Rivale, Putin-Zögling, Putin-Kritiker, Putin-Gegner, Putin- Anhänger, Putin-Fans, der Putin-Vertraute, Putin-Getreue, Super-Putin, „Puszta-Putin“, Anti-Putin-Demonstranten. - Bezeichnungen für das kollektive Subjekt: Putin-Lager. - Bezeichnungen für emotionale Zustände: Putin-Jubel. - Bezeichnungen für soziale Prozesse verschiedenen Geltungsbereiches: Putin-Wahl, Anti-Putin-Revolution, Pro-Putin-„Kaderrevolution“. - Bezeichnungen für Aktionen verschiedener Personen, die mitunter auch entsprechende Prozesse bezeichnen: Putin-Show, Putin-Inauguration, Anti-Putin-Bewegung, Anti-Putin-Umzug, Anti-Putin-Protest, Anti-Putin-Demos, Pro-Putin-Aktion, Pro-Putin-Demo, Pro-Putin-Fraktion, Pro-Putin- Kundgebungen. <?page no="62"?> 54 Ludmila I. Grišaeva - Bezeichnungen für Produkte der menschlichen Tätigkeit: Putin-Puppe, Putin-Karikaturen, Anti-Putin-Film, Anti-Putin-Song. - Bezeichnungen für Organisationen: „Putin-Jugend“, Anti-Putin-Bündnis. 4 Es ist offensichtlich, dass die Neubildungen sowohl konkrete, als auch abstrakte Einheiten der au ersprachlichen Wirklichkeit benennen. Bei einigen Neubildungen ist es problematisch, genau festzustellen, wie das entsprechende Lexem entstanden ist: Anti-Putin-Song: Anti-Putin + Song oder Anti + Putin-Song, Anti- Putin-Bewegung: Anti-Putin + Bewegung oder Anti + Putin-Bewegung etc. Dies ist aber in der vorzunehmenden Untersuchung nicht wichtig, weil in jedem Fall das Grundwort durch das Lexem Putin näher bestimmt wird. Die weitgefächerte Palette von Referenzbezügen der Neubildungen und deren Funktionen in einem konkreten Medientext und somit auch im Mediendiskurs basiert auf den inhaltlichen Interpretationsmöglichkeiten des Lexems Putin: als konkrete Person/ Individuum, als (international wirkender und bekannter) Politiker, als Vertreter/ Verkörperung Russlands, als Präsident Russlands/ Machthaber mit bestimmten Rechten und Pflichten, als Sprach- und Kulturteilhaber/ Russe. Dies bedingt, dass der Wissensbestand, der durch das Lexem Putin jeweils abgerufen wird, als Komponente verschiedener mentaler Kategorien immer anders interpretierbar ist. So können einzelne Assoziationsketten zum Beispiel aussehen: (1) Putin Russe axiologische (positive und negative) sowie neutrale deutsche Stereotype über Russen, deren Vorstellungen von der Welt, deren Äu eres und Handeln, deren Werte; (2) Putin Russland axiologische (positive und negative) sowie neutrale deutsche Heterostereotype über Russland, dessen Stellenwert in der Welt und Kultur, dessen Innen- und Au enpolitik etc. sowie Heterostereotype über Russen, deren Vorstellungen von der Welt, deren Äu eres und Handeln, deren Werte etc.; (3) Putin Präsident/ Staatsoberhaupt Auto- und 4 Interessant ist der Vergleich der aufgezählten Referenten für die Neubildungen mit der Komponente Putinmit den allgemeinen Regularitäten, die z. B. Ol’šanskij/ Guseva (2005: 102) zusammenfassend darstellen: „Das Bestimmungswort kann das Grundwort in vieler Hinsicht näher bestimmen“: Urheber, Besitzer, Abstammungsverhältnis, Objekt, Ort, Richtung, Zeit, zeitliche Ausdehnung, Stoff, Grund, Zweck, Instrument. Hierin wird das Grundwort durch solche Subkategorien wie Eigenschaften, die einer konkreten Person eigen sind, Eigenschaften, die einer konkreten Person in ihrer Funktion als Politiker eigen sind, Eigenschaften, die einer Person als Kandidat für eine Wahl eigen sind, näher bestimmt. <?page no="63"?> Neubildungen mit der Komponente -Putinin aktuellen deutschen Medientexten 55 Heterostereotype über den entsprechenden Funktionsbereich, Pflichten der diesen Staatsposten innehabenden Person, Persönlichkeitsprofil etc.; (4) Putin russischer Präsident axiologische (positive und negative) sowie neutrale deutsche Heterostereotype über Russland und Russen, deren Vorstellungen von der Welt, deren Äu eres und Handeln, deren Werte etc.; (5) Putin Person Persönlichkeitsprofil, das zum grö ten Teil bzw. ma geblich durch die Medien konstruiert worden ist, und solche Vorstellungen sind sowohl für den Diskurs, der nachher generiert wird, als auch für den Rezipienten ma gebend geworden. 5 Neben Stereotypen sind auch Vorurteile als Grundlage beim Verarbeiten des zu rezipierenden Wissens in Betracht zu ziehen. Jede einzelne der oben genannten Interpretationen wird vom deutschen Rezipienten vor dem Hintergrund der deutschen Autound/ bzw. Heterostereotype oder Vorurteile geistig verarbeitet, was auch für die Forschung wichtig ist. Denn darauf basiert schlie lich auch das Multiplizieren des axiologischen Potentials der zu beschreibenden Einheiten, vgl. dazu den ersten Absatz des Kommentars, den Benjamin Bidders (2011) folgendermaßen formuliert: Willkommen in Putlandia. Der Präsident wird Regierungschef, der Regierungschef Präsident - und dann wird noch einmal getauscht. Der Machtdeal zwischen Wladimir Putin und Dmitrij Medwedew ist eine Farce. Das stolze Russland gleicht einem neuzeitlichen Gro fürstentum. Dann wird im Kommentar die aktuelle Situation beschrieben. Und erst im letzten Absatz wird die Semantik der Neubildung erklärt: Die Boulevardzeitung ‚Moskowskij Komsomolez‘ nennt sein Reich am Tag nach dem Parteitag deshalb ‚Putlandia‘. Putins Russland ist keine Diktatur wie der Iran Mahmud Ahmadineschads oder das Wei russland des Diktators Alexander Lukaschenko. Putin hat aus einem stolzen Land blo ein neuzeiliches Gro fürstentum gemacht. (Bidder 2011) Aktiviert werden Stereotype über ein modernes demokratisches Land, Stereotype über demokratische Wahlen und positive Autostereotype über Deutsch- 5 In diesem Zusammenhang ist die Analyse, wie Putin die Sprache in seiner Tätigkeit als Politiker verwendet, von Interesse (Fleischmann 2010). Fleischmann, der sich mit der Sprachverwendung durch Putin intensiv befasst, nennt Putin den einflussreichsten russischen Politiker, macht alle auf sein Können, seine Gedanken treffend zu formulieren (geschickter Formulierer), aufmerksam, rückt Besonderheiten seiner Rhetorik in den Vordergrund (Zurückgreifen auf sprachliche Stereotype der Sowjetzeit), betont, wie er an religiöse Werte (Zurückgreifen auf den […] religiösen Wortschatz), an Fortschritt und Innovationen (Vorliebe für Fortschrittswortschatz) appelliert, beschreibt auch andere Stilistika, durch die sich Putin als Person und Politiker auszeichnet (ein entschlossener Kämpfer, der […] an Entschiedenheit und Deutlichkeit nichts fehlen lässt) (Fleischmann 2011: 229). <?page no="64"?> 56 Ludmila I. Grišaeva land als demokratisches Land, die kognitiv einen Hintergrund beim Profilieren des Wissens über Diktaturen darstellen, und negative Heterostereotype und/ oder verschiedenartige Vorurteile über Russland. Abgesichert wird diese Interpretation durch den expliziten Vergleich der Lage im aktuellen Russland mit einem neuzeitlichen Gro fürstentum, dem Iran und Wei russland, die im deutschen Mediendiskurs eine Art Prototyp für die Denkkategorie Diktatur darstellen. Die meisten Zusammensetzungen sind Determinativkomposita, in denen, wie Fleischer (Fleischer/ Stepanowa 1985: 110) betont, „eine UK [= unmittelbare Konstituente] der anderen untergeordnet […] [ist], d. h., […] durch das ‚Grundwort‘ [= die zweite UK] näher ‚bestimmt‘, ‚determiniert‘ [wird]; aus einer allgemeineren Begriffsbenennung wird eine speziellere“. (Vgl. auch eine analoge Erläuterung in Duden 1998: 410ff.) In den zu untersuchenden Neubildungen wird der allgemeinere Begriff durch einen Eigennamen determiniert, mit dem etwas „aus der Menge anderer Individuen, Institutionen, Gegebenheiten oder Ideen herausgehoben [wird], […] sie werden individualisiert bzw. identifiziert“ (Götze/ Hess-Lüttich 2002: 205). Das hat zur Folge, dass das jeweilige Grundwort durch die Eigenschaften, die nur einer Person, die einmalig vorkommt, innewohnen, näher bestimmt wird. Die angesprochene wesenhafte Eigenschaft der Determinativkomposita kann mit dem folgenden Abschnitt belegt werden: Udalzow gewann in dieser Woche einen mächtigen Verbündeten: den Führer der Kommunisten und Präsidentschaftskandidat Gennadij Sjuganow. Sjuganow, der für Samstag eigene Proteste ankündigte, schloss einen Pakt mit Udalzow. Der Kommunistenchef will Forderungen von Udalzows ‚Linker Front‘ durchsetzen, wenn er die Präsidentenwahlen gewinnt. Er will Neuwahlen des Parlaments, die Absetzung des Chefs der Putinhörigen Wahlkommission und eine Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten von sechs auf vier Jahre. Sjuganow versprach weiterhin, der Medienzensur in Russland ein Ende zu setzen und das Recht auf nationale Volksentscheide wieder einzuführen. (Braun/ Bidder 2012) Die Semantik von hörig wird im Duden-Wörterbuch (1989: 736) wie folgt ausgelegt: „an jmdn. od. etw. […] so stark gebunden sein, dass der Betreffende von ihm völlig abhängig ist u. sich seinem Willen bedenkenlos unterwirft“. Das Negative wird auf die Wahlkommission bezogen, die normalerweise keinesfalls hörig sein darf. Verstärkt wird das Negative dadurch, dass dabei die Person, von der die Kommission „völlig abhängig ist“, unverblümt genannt wird. Dank dieser Eigenschaft sind die Neubildungen imstande, dem Rezipienten mit verschiedener interkultureller Kompetenz ein höchst differenziertes Bild über eine fremde/ andere Wirklichkeit zu präsentieren und ihn anzuregen, sein Weltbild und entsprechende Wissensbestände mitunter entscheidend umzustrukturieren, wobei sich die Anordnung der Erkenntnisse in dem entsprechenden Wissensbestand ändert. Da aber die Zusammensetzung nach wie vor „die <?page no="65"?> Neubildungen mit der Komponente -Putinin aktuellen deutschen Medientexten 57 wichtigste und häufigste Form der deutschen Wortbildung“ (Ol’šanskij/ Guseva 2005: 100) und „die substantivische Zusammensetzung […] in der deutschen Sprache besonders produktiv“ 6 ist (Ol’šanskij/ Guseva 2005: 101), ist die Dominanz von Substantiven zum einen als beinahe selbstverständlich zu betrachten (vgl. die Mächtigkeit der Wortklasse Substantiv mit der der anderen Wortarten). Zum anderen hat diese Form die Intention, die aus der Sicht des Adressanten verbundenen bedeutenden Parameter der fremden/ anderen kulturellen Wirklichkeit dem Rezipienten vor Augen zu führen. Mit anderen Worten: Die zu besprechenden Neubildungen sind aus der Sicht des Adressanten ein effektives Ausdrucksmittel beim Vermitteln der Informationen über ein für den deutschen Rezipienten fremdes Land. In Abhängigkeit davon, wo die Wortbildungskomponente -Putinin der Neubildung vertreten ist, werden verschiedene Erkenntnisse über Russland, Wahlen in Russland, russische Politiker, Macht in Russland, Gesellschaft in Russland etc. aktiviert (s. o. den Kommentar zu verschiedenen Lesarten von Putin) und die durch die Neubildung aktivierten Wissensbestände verschieden profiliert. Anders gesagt: Es geht nicht nur um das Kategorisieren von Wissen, sondern auch um dessen Subkategorisieren und das Uminterpretieren einzelner begrifflicher Subbereiche und Bereiche. Die Grundlage dafür ist das sich stufenweise entwickelnde Aktivieren von mentalen Strukturen, in denen das Wissen gespeichert wird, sowie das Aktivieren der Relationen zwischen Ober- und Unterbegriffen, das Klix durch die Valenz von Begriffen erklärt hat (Klix 1984: 14f.; 68ff.). Und noch eine interessante Tatsache: Nur eine lexikalische Einheit stellt eine Zusammenbildung dar - Putlandia. Dieses Lexem ist aber keine Neubildung von einem deutschen Sprachträger, sondern die eines russischen, s. o. S. 55 das Zitat aus dem Kommentar Benjamin Bidders Putins Rückkehr in den Kreml (Bidder 2011). Dieser Umstand zeugt meiner Meinung nach höchstwahrscheinlich von der Intention des deutschen Adressanten, das alte und das neue Wissen aufeinander zu beziehen und auch die deutschen Rezipienten auf Aktionen der Putin- Opponenten diverser Prägung aufmerksam zu machen. Grammatisch gesehen sind die allermeisten Neubildungen mit der Komponente Putin-/ -Putin/ -Putin- Substantive mit der Wortklassensemantik Gegenständlichkeit, nur einige wenige sind Vertreter der Wortklasse Adjektiv: Putinhörig, putin-freundlich, Putin-treu, Putin-kritisch mit der Wortklassensemantik Eigenschaft. Das kommt offensichtlich davon, dass, wenn auch die zu behan- 6 Vgl. die Modelle der Determinativkomposita, die Stepanova behandelt (Stepanova/ ernyševa 1985: 117). <?page no="66"?> 58 Ludmila I. Grišaeva delnden Einheiten verschiedenartige Referenten bezeichnen, sie verschiedenen kognitiven Kategorien zuzuordnen sind. Die wortbildenden, grammatischen und kognitiven Eigenschaften der zu analysierenden Neubildungen lassen auf deren Grundleistung schlie en: Sie sind berufen, ein Objekt der au ersprachlichen Wirklichkeit nicht nur zu identifizieren, sondern auch zugleich zu charakterisieren: Sie werden nicht nur als Elemente einer mentalen Kategorie konzipiert, sondern auch als Elemente einer axiologischen Kategorie bestimmt. Das Gesagte bedeutet, dass die entsprechende Einheit das zu Bezeichnende unmittelbar auf soziokulturell relevante Werte bezieht und es dadurch in einen axiologischen Kontext einbettet. Und da diese Interpretation nicht konventionalisiert worden ist, wird das entsprechende au ersprachliche Objekt vom Rezipienten nicht nur als kognitive Figur, sondern auch als kommunikativer Fokus ausgelegt. Der angeschnittene Umstand ist wichtig, weil beim Identifizieren und axiologischen Kategorisieren ein und desselben Objektes verschiedene Wissensbestände aktiviert werden, wobei die entsprechenden Mengeneinheiten - also sämtliche Informationseinheiten jeglicher Art - nicht unbedingt eine Schnittmenge haben. Vgl. Puszta-Putin - der ungarische Putin - der wie Putin handelnde Orbán - der für Orbán als Beispiel dienende Putin etc.: Der Ruck nach Rechts ist kein russisches, sondern ein gesamteuropäisches Phänomen. Osteuropa driftet nach rechts. Nationalostische Parolen und die Einschränkung der Pressefreiheit haben in Ungarn Regierungschef Viktor Orbán sogar den Spitznamen ‚Puszta-Putin‘ eingebracht. (Bidder 2012a) Mit anderen Worten bedeutet die Verwendung einer Neubildung mit der Komponente -Putin, dass der Wissensbestand über Putin prototypisch beim Verarbeiten des Wissens über Orbán ist. Dies bedeutet ohne Zweifel die Bereicherung des Potentials von den zu beschreibenden Neubildungen im Diskurs und durch den Diskurs. Die den zu analysierenden Medientexten entnommenen Neubildungen lassen sich aufgrund des Kriteriums Ereignis-Phase wie folgt verteilen: Ereignis-Phase Zahl der Neubildungen Einstieg in die Wahlkampagne 6 Wahlkampf 67 Abstimmung 12 nach der Abstimmung 16 Inauguration 1 Tab. 2: Vorkommen der Neubildungen in den zu analysierenden Medientexten <?page no="67"?> Neubildungen mit der Komponente -Putinin aktuellen deutschen Medientexten 59 Tabelle 2 ist zu entnehmen, dass die Verteilung von Neubildungen in Verbindung mit inhaltlich eng zusammengehörigen Medientexten höchst ungleichmä ig ist und die allermeisten beim Berichten über den Wahlkampf verwendet werden. Es ist anzunehmen, dass dies kein Zufall ist: Bezogen auf die quantitativen Angaben, die in Tabelle 1 angeführt worden sind, verdeutlicht die Verteilung von zu analysierenden Neubildungen in den Medientexten die kognitive und kommunikative Relevanz von Informationen, die auf verschiedene Art und Weise verbalisiert werden: Der Adressant ist überzeugt, dass der Rezipient das fein differenzierte Wissen über die Bestandteile des Ereignisses Wahlen braucht, und diese Überzeugung spiegelt sich unter anderem in dem Häufigkeitsvorkommen der Neubildungen wider. Die Neubildungen in den analysierten Medientexten machen deren Rezipienten auf spezifische Weise mit der fremden Kultur bekannt. Sie erreichen dies durch den Einsatz von aktuellen Wortbildungsmustern, indem sie die sich gegenseitig verstärkende Wirkung von Bekanntem bzw. Vertrautem auf der einen und Neuem bzw. Fremdem auf der anderen Seite fördern, Form-Inhalt- Beziehungen aktivieren und den Aha-Effekt auslösen; vgl.: Putin-Gegner vs. Navalny, Putin-Rivale vs. Rivale, Putin-Fans vs. Fans, Putin-Wahl vs. Wahl, Anti- Putin-Song vs. Song, Pro-Putin-Demo, Anti-Putin-Demo vs. Demo/ Demonstration. Der Vergleich von Neubildungen und Lexemen, die als Grundwort in der Zusammensetzung verwendet werden, belegt die Beziehungen zwischen Kategorien und Subkategorien einerseits. Andererseits bedeutet es auch, dass der Unterbegriff (oder die Subkategorie) erst vor dem Hintergrund des Oberbegriffs (oder der Kategorie) produktiv mental zu verarbeiten ist. Nicht zu vergessen ist, dass der Unterbegriff ursächlich, wie auch das Wortbildungsmodell angibt, mit den Eigenschaften eines Individuums - Eigenschaften, die Putin als Person, als Politiker, als Beamter hat - verbunden ist. Hier noch ein Beispiel, mit dem das Umschlagen der positiven Einschätzungen in negative sowie das Zusammenspiel des (neutralen) paradigmatischen und (axiologischen) syntagmatischen Potentials einzelner Einheiten im Diskurs belegt werden kann: Anton Orech, Starkolumnist des Moskauer Senders ‚Echo Moskau‘ ist putin-freundlicher Umtriebe eigentlich unverdächtig. Putins Artikel aber lobt auch der Radio-Mann. Es freue ihn, dass ‚der Anführer das Problem richtig verstanden hat‘, sagt Orech. Härtere Einwanderungsregeln allein aber seien zu wenig, Putin müsse auch konkrete Lösungsansätze anbieten. Eine Antwort aber auf die nationale Frage, sagt Orech, sei Russlands starker Mann noch immer schuldig geblieben. (Bidder 2012a) Mit anderen Worten bedeutet das Gesagte, dass die zu beschreibenden Neubildungen für den Rezipienten die Agenda markieren, sie fein genug differenzieren, das Wissen über die fremde und die eigene Kultur nach (relativ) neuen <?page no="68"?> 60 Ludmila I. Grišaeva Prinzipien strukturieren, dem Rezipienten das differenzierte Wissen darüber liefern und somit sich aktiv am Wissensmanagement beteiligen. 3 Axiologische Leistung der Neubildungen mit der Komponente Putin-/ -Putin/ -Putin- Am Anfang dieses Abschnittes muss nochmals erwähnt werden, dass die Texte über die Wahlen in Russland für den deutschen Rezipienten verfasst worden sind. Das hei t auch, dass alle Informationen in einen axiologischen Kontext eingebettet werden, weil alle Informationen durch den Wahrnehmungsrahmen, der von den kognitiv, diskursiv und kulturanthropologisch relevanten Faktoren fremd und eigen gebildet wird, selegiert und dann kategorisiert und konzipiert werden. Denn die prototypische Semantik des Faktors fremd kann als „unbekannt und deswegen potentiell gefährlich“ und die des Faktors eigen als „bekannt und deswegen nicht gefährlich“ ausgelegt werden (s. eingehender dazu: Grišaeva 2007). Vor diesem Hintergrund entfaltet sich das Funktionspotential der zu behandelnden Neubildungen. Das axiologische Potential der Neubildungen lässt sich in zwei Gruppen unterteilen: das paradigmatisch bedingte, d. h. das ihnen als lexikalische Einheiten innewohnende, und das syntagmatisch bedingte, d. h. das im Diskurs (in einem Text bzw. in einem Textkomplex) entstehende. Das paradigmatische axiologische Potential basiert auf den lexikalisch-semantischen, wortbildenden und referentiellen Eigenschaften der zu analysierenden Einheiten. Für die Entstehung und Entfaltung des axiologischen Potentials der Neubildungen im Diskurs sorgen heterogene Textgestaltungsmechanismen verschiedener Natur, kognitive Metaphern sowie diverse syntaktische Verbalisierungsmechanismen, deren Wirkungsbereich verschiedenartig ist. Als Beispiel kann die Neubildung Putin-Gegenkandidat angeführt werden: Und wenn auch die Komponente Gegennegativ konnotiert ist, wird das Potential der Einheit Gegenkandidat vor dem Hintergrund Wahlen neutralisiert; aber in der Wortverbindung drei handzahme Putin-Gegenkandidaten (Braun/ Bidder 2012) gewinnt die genannte Neubildung ihre negative Wirkung, die im Textganzen verstärkt wird. Es ist in diesem Zusammenhang angebracht, einige angesprochene Aspekte, die für das empirische Material von besonderer Bedeutung sind, eingehender zu behandeln. In erster Linie sind kognitive Charakteristiken zu besprechen. Der Umstand, dass die zu beschreibenden Neubildungen das Wahrzunehmende verschiedenen Kategorien zuordnen (Personen: Putin-Herausforderer, Putin-Gegner, Ereignis- <?page no="69"?> Neubildungen mit der Komponente -Putinin aktuellen deutschen Medientexten 61 sen: Putin-Show, Putin-Wahl, Zuständen: Putin-Jubel, Handlungen: Anti-Putin- Aktion etc.), zeigt an, dass das Wissen eines deutschen Sprach- und Kulturteilhabers über den russischen Politiker Putin nicht nur als kognitiver Hintergrund, sondern auch als kognitive Figur interpretierbar ist. Anders gesagt hei t es: Zum einen wird das Wissen über den genannten Politiker und/ bzw. Russland kognitiv wichtig und vor dem Hintergrund der im konkreten Medientext zu berichtenden Informationen konzipiert; zum anderen werden andere russische Politiker vor dem Hintergrund des Wissens über Putin kategorisiert. Diese Wirkung basiert auf den Subkategorisierungsmechanismen, wobei das Wissen über Putin als Subklassifizierungsgrundlage dient. Dies gilt für jede Neubildung - unabhängig davon, welche Kategorie das Grundwort bezeichnet. Mit anderen Worten: Das Rezipieren der Medientexte ist vom Differenziertheitsgrad des Wissens über Putin beim konkreten Rezipienten abhängig. Und dies lässt schon an Manipulationstechniken denken, denn die im Text bezeichneten Objekte werden nicht aufgrund der kognitiv primär relevanten Merkmale, die ihnen innewohnen, kategorisiert, sondern aufgrund des Ähnlichkeitsgrades mit den Merkmalen, die in der betreffenden Kultur der Kategorie Putin zugesprochen werden. Das bedeutet, dass die Relation kognitiver Hintergrund - kognitive Figur jeweils anders sein kann, s. u. einige Beispiele für den Einfluss des kognitiven Hintergrunds und der kognitiven Figur, die belegen, dass beim Aktivieren der kognitiven Figur bzw. der kognitiven Hintergrundinformationen verschiedene Verbalisierungsmechanismen wirksam sind. Die angeführten Belege bezeichnen ein und denselben Referenten - die Opposition. Das Wissen über die Opposition wird unter verschiedenen kommunikativen Bedingungen, unter denen entsprechende Texte generiert worden sind, durch verschiedenartige Verbalisierungsmechanismen aktiviert und verbalisiert: - wortbildende Verbalisierungsmechanismen: Putin-Gegner, Anti-Putin-Rede, Putin-Kritiker, die Anti-Putin-Demonstranten u. a. m.; - weniger oft syntaktische und morphologische Verbalisierungsmechanismen: die Gegner Wladimir Putins, ein erbitterter Gegner von Wladimir Putin etc.; - syntaktische Verbalisierungsmechanismen: Demokraten und Andersdenkende gegen die Kritiker des Immer-wieder-Präsidenten etc.; - syntaktische Verbalisierungsmechanismen, die textsyntaktisch relevante Reflexe aufweisen: Protest gegen Putin vs. eine Handvoll außerparlamentarischer Oppositioneller - unsere Freunde - Freunde unserer Freunde, Verwandte und Bekannte - ein zufällig gemixter Cocktail - unter den jungen Aufrührern - unser liberaler prowestlicher Rebell etc. als Bezeichnung für Putin-Gegner. <?page no="70"?> 62 Ludmila I. Grišaeva Die angeführten Beispiele veranschaulichen, wie der Adressant den für die Kommunikation aktuellen Wissensbestand profiliert, aus welcher Perspektive er die zu bezeichnende Situation wahrnimmt. Dadurch erhält der Rezipient eine immer andere Vorstellung von den zu berichtenden Sachen, Personen, deren Aktionen, Meinungen etc. Der Wechsel kognitiver Hintergrund - kognitive Figur ist für die Analyse umso mehr zu berücksichtigen, als der „normale“ deutsche Sprach- und Kulturteilhaber höchstwahrscheinlich kein differenziertes Wissen über Russland und seine Politikerinnen und Politiker besitzt. Das scheint u. a. eine Erklärung für das Häufigkeitsvorkommen der zu analysierenden Einheiten in den Medientexten über Russland zu sein (s. oben die quantitativen Angaben in Tab. 2). Diese Feststellung wirkt noch überzeugender, wenn die zu beschreibenden Einheiten mit den anderen verglichen und kognitive Merkmale, die beim Verbalisieren entscheidend sein können, in Betracht gezogen werden, z. B.: - Einheiten zum Identifizieren von Personen und anderen Referenten: zu berücksichtigen sind in der betreffenden Kultur primäre Merkmale für eine mentale Kategorie: die Gegner - Regierungsgegner - Wahlgegner - die Oppositionelle Kundgebung „für faire Wahlen“ - der Anti-Korruptions- Aktivist Alexej Navalny - Demonstranten etc. In diesem Fall werden die zu bezeichnenden Objekte der Wirklichkeit als solche, d. h. ohne Bezug auf Putin, kategorisiert. - Einheiten zum mittelbaren Identifizieren von Personen: zu beachten sind weniger oft in der betreffenden Kultur aktivierte Merkmale für eine mentale Kategorie bei deren Kategorisieren: auf seinen [= Putins] Gegenkandidaten Michail Prochorow - seine [= Putins] vier Gegenkandidaten - der kritische Radiosender Echo Moskwy etc. In solchen Fällen werden zu bezeichnende Referenten durch den mittelbaren Bezug auf eine Person oder Menschen durch die Merkmale eines Objektes identifiziert. - Einheiten zum Charakterisieren und Auswerten von verschiedenen Referenten: beachtet werden Merkmale eines au ersprachlichen Objektes, die beim axiologischen Kategorisieren wichtig sind: der aktive Protest gegen Putin - der radikale Teil der Opposition um die kommunistische „Linke Front“ - Massenproteste - Aktivistengruppen (Gruppenmitglieder werden charakterisiert und zugleich deren Handlungen ausgewertet) - seinem [= Putins] unterlegenen Gegenkandidaten - zum Teil vermummte Nationalisten etc. In diesen Fällen wird Bezug auf eine negative Wertung von Personen und deren Handlungen genommen, wobei axiologisch relevante Merkmale kommunikativ und kognitiv wichtig sind und nicht diejenigen, die beim Identifizieren des Objektes primär sind. <?page no="71"?> Neubildungen mit der Komponente -Putinin aktuellen deutschen Medientexten 63 - Einheiten zur Deskription: aktiviert werden Merkmale beim Kategorisieren eines au ersprachlichen Objektes, die vom konkreten kommunikativen Kontext abhängig sind: Putin hatte sie […] pauschal mit „Judas“ gleichgesetzt - sein [= Navalnys] regierungskritischer Blog - eine besonders hinter dem Ural-Gebirge verbreitete Form des Protestes gegen Wahlfälschungen - der Chef der oppositionellen Linksfront Sergej Udalzow - in Oppositionskreisen als möglicher künftiger Präsidentschaftskandidat etc. In solchen Fällen werden verschiedenartige Merkmale aktiviert, und das zu bezeichnende Objekt wird mehr oder weniger komplex beschrieben. - Einheiten zur negativen Wertung: aktiviert werden Merkmale einer axiologischen Kategorie: zersplitterte Opposition - Moskaus Demonstranten als Schafböcke - Bürger „mit russischem Pass, die im Interesse fremder Staaten arbeiten“ - schmutzige Medien-Kampagnen gegen die Opposition - Ultranationalisten - das Anti-Kreml-Bündnis - ein schlaksiger junger Mann - Regimekritiker Alexej Navalny etc. Die angeführten Beispiele veranschaulichen eine deutlich ausgeprägte Tendenz zur Überbetonung einer Person bei deren Beteiligung an der Wahlkampagne - ein Gedanke, der so deutlich in keinem Text geäu ert wird. Vgl. die oben genannten Beispiele mit den anderen Ausdrucksmitteln für die negative Wertung, die höchst heterogen verbalisiert wird und auf verschiedene Objekte Bezug nimmt: die Gegner Wladimir Putins - Massenkundgebungen gegen Putin - das Wohl der Putin-kritischen Demonstranten - die dem Kreml nicht genehmen Kandidaten - Hochburg seiner [= Putins] Gegner - blutige Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften - die Liberaldemokratische Partei des Ultranationalisten Wladimir Schirinowski - viele linke Spontis etc. Die angeführten Erwägungen sind ein Beweis dafür, dass für das Entfalten des axiologischen Potentials der zu beschreibenden Neubildungen einige Faktoren von besonderer Bedeutung sind. Diese Faktoren sind Beschaffenheit des Wahrnehmungsrahmens, durch den der Rezipient das Wissen rezipiert und das aktivierte Wissen mental interpretiert, Inhalt der Auto- und Heterostereotype als Patterns für die mentale Verarbeitung des Wissens (u. a. Weltwissen, Sprachwissen - darunter auch das Textmusterwissen, Interaktionswissen) und damit eng verbundene Erwartungsnormen, die in der betreffenden Kultur gelten, Wertesysteme, Konfiguration von Beziehungen zwischen den Ober- und Unterbegriffen im Weltbild u. a. m. Und da der Text das durch verschiedenartige Verbalisierungsmechanismen versprachlichte Wissen enthält, ist es klar, dass der minimale Kontext, in dem das axiologische Potential generiert wird und modifiziert sein kann, der Text mit einer bestimmten thematischen, syntaktischen und semantischen Struktur ist, durch den der Adressant konkrete kommunikative/ diskursive Strategien realisiert. <?page no="72"?> 64 Ludmila I. Grišaeva Der Wechsel kognitiver Hintergrund - kognitive Figur sichert auch die Ausstrahlung der negativen Wertung von einem Objekt der au ersprachlichen Wirklichkeit auf ein anderes. In linguistischen Termini bedeutet das, dass die negativen Konnotationen bzw. die negative Wertung in einem Semem sowohl in einem Medientext als auch im ganzen Medientext-Komplex auf andere, paradigmatisch neutrale Einheiten ausstrahlen, sodass die letzteren auch negativ wahrgenommen werden. Dadurch erwerben paradigmatisch neutrale Einheiten, und zwar lexikalisch-semantisch, stilistisch, grammatisch-stilistisch, wortbildend neutrale Einheiten, unter ganz konkreten Kontextbedingungen ihre (negative) Wertung, vgl.: einen unliebsamen Kritiker und Rivalen - die zur Wahl nicht zugelassene Opposition - gegen den inhaftierten Putin-Kritiker Michail Chodorkowski etc. Das hat zur Folge, dass ein Objekt gegen die gewohnte mentale Verarbeitung als Mitglied einer axiologischen Kategorie konzipiert wird. Als Nebenwirkung gewinnen sowohl die Kampagne selbst als auch die daran Beteiligten eine negative Wertung, die aber in einem vom Mediendiskurs isolierten Medientext nicht so offensichtlich zu Tage tritt. Deshalb ist es berechtigt, die zu untersuchenden Neubildungen als Ausdrucksmittel für die diskursive Strategie der Manipulation zu beschreiben. 4 Textinterne und textexterne Beziehungen der Neubildungen mit der Komponente Putin-/ -Putin/ -Putinim Medientextkomplex Das Streben, sprachliche Ausdrucksmittel vor dem Hintergrund der Textregularitäten zu untersuchen, wird heute von den Sprachforschern als Selbstverständlichkeit empfunden. Und nicht nur aus dem Grunde, dass „alle Sprachwissenschaft […] Textlinguistik“ ist (Wolf 2009: 223) und sie theoretisch über eine hohe Aussagekraft verfügt, sondern weil sie kommunikative Gesetzmä igkeiten aufzudecken und zu erläutern imstande ist. Dazu zählt auch die Aufgabenstellung der vorliegenden Untersuchung - den Wandel des axiologischen Potentials einer Einheit im Diskurs zu erklären. Die bereits angesprochene Verfahrensweise, die Neubildungen vor dem Hintergrund der Kohäsion und Kohärenz, im Textganzen, vor dem Hintergrund eines textsemantisch und textsyntaktisch organisierten Textkomplexes, zu betrachten, trägt den grundlegenden Eigenschaften von Wortbildungsprodukten, die Fleischer (Fleischer/ Barz 1995: 75) seinerzeit eingehend behandelt hat, Rechnung, da diese „[a]ls Einheiten des Wortschatzes […] potentielle Bausteine von Texten“ sind. Dabei nimmt Fleischer (Fleischer/ Barz 1995: 75) auf die folgenden Merkmale der Textualität wie Kohäsion, Akzeptualität, Informativität, Situationalität und Intertextualität Bezug. <?page no="73"?> Neubildungen mit der Komponente -Putinin aktuellen deutschen Medientexten 65 Auch rückt Stepanowa (Stepanowa/ Fleischer 1985: 216), indem sie die Wortbildungen im Text untersucht, folgende Beziehungen innerhalb des Textes durch Wortbildung in den Vordergrund: Identität, Subordination, Koordination und kontrastive Polarität. Au erdem bezeichnet Fleischer (Fleischer/ Barz 1995: 76) die „Glieder eines Wortbildungsnestes im Text“ als „ideale Topikalisierungsmittel“ und veranschaulicht die angeführte Feststellung durch das Schema „Topikalisierung durch Wortbildung“ (Fleischer/ Barz 1995: 77). In der vorliegenden Untersuchung wird nicht der Beitrag der Wortbildungen zur Textkohärenz behandelt, was im Mittelpunkt der oben zitierten Untersuchungen stand, sondern die Leistung der Neubildungen mit einer bestimmten Struktur vor dem Hintergrund einer Reihe von thematisch eng verbundenen Texten. Darin besteht der Unterschied zwischen den zwei Herangehensweisen - der Fleischers und Stepanowas auf der einen und der hier zu erläuternden auf der anderen Seite. Die angesprochenen Eigenschaften der Wortbildungseinheiten, die die oben zitierten Forscher(innen) in einem Text als Ganzheit nachgewiesen haben, sind bei der Beschreibung der Textgestaltung ohne Zweifel textgrammatisch relevant: Die Wortbildungseinheiten aktivieren textinterne Beziehungen in diversen Bereichen. Die zu beschreibenden Neubildungen können nicht nur textinterne Beziehungen hervorrufen, sondern auch textexterne Beziehungen zwischen verschiedenen Medientexten, die im Mediendiskurs unter aktuellen Bedingungen generiert werden, begründen. Als Folge wird die Wertung von einer Einheit auf die andere übertragen, oder aber der Intensitätsgrad dieser Wertung ändert sich. So wird z. B. der russische Ex-Präsident an einer Stelle im Text als Putin- Zögling (www.spiegel.de/ politik/ ausland/ kreml-berater-surkow-versetzt-auf-neuenposten-a-805991.html [06.07.2012]) bezeichnet und an der anderen als Putins politischer Ziehsohn (Braun 2012a). Eindeutig negatives Wissen über beide Politiker wird dabei - auch wenn die Begründung für diese Wertung offenbar unterschiedlich ist - aktiviert, was selbstverständlich nicht ohne Wirkung für die Zukunft, d. h. für die Rezeption weiterer Texte zu demselben Thema, bleibt. Deshalb hinterlässt der Text vom 25.01.2012 unter dem Titel Medwedew bei Jungjournalisten. Tote Ente im Kreuzverhör (Bidder 2012b) besonders expressive Eindrücke. Diese werden bei der Textrezeption nur verstärkt, und zwar wie folgt: erster Satz: „Russlands angezählter Präsident Medwedew hat nicht mehr viel zu verlieren dieser Tage.“ Dann am Anfang des zweiten Drittels des Textes: „Lahme Ente? Tote Ente! Medwedew, der sich gern liberal gibt, will nun an der Jourfak verlorenes Ansehen zurückgewinnen.“ Das negative Potential, das mehrfach durch heterogene Verbalisierungsmechanismen hervorgerufen wird, wird auch auf andere Texte - und Personen - ausgestrahlt. <?page no="74"?> 66 Ludmila I. Grišaeva Zu beachten ist auch, dass sich der Begriff textexterne Beziehungen nicht mit dem Begriff intertextuelle Beziehungen deckt, weil dessen Wesen anders ist und die dadurch aktivierten Wissensbestände, die als Grundlage für die Kohärenz-Herstellung dienen, grundverschieden sind. 7 Deshalb müssen die Erkenntnisse über die Wortbildungen im Text m. E. auf einen thematisch organisierten Komplex von mehreren Medientexten übertragen werden - dies ist der Unterschied der vorliegenden Untersuchung gegenüber den anderen Beschreibungen der textgrammatischen Eigenschaften von Wortbildungen. 8 Einzelne nominative Ketten, die ein gemeinsames Glied Putin bzw. -Putinhaben, werden miteinander nicht nur in einem Text verbunden, sondern im ganzen Medientextkomplex. Anders gesagt erstreckt sich das textkonstituierende Potential der zu besprechenden Neubildungen nicht nur auf einen Text (Neubildungen des zu analysierenden Typs als Marker für textinterne Beziehungen), sondern auch auf den Medientextkomplex insgesamt (Neubildungen des zu analysierenden Typs als Marker für textexterne Beziehungen). Die textgrammatische Analyse von Neubildungen mit der Komponente Putin-/ -Putin/ -Putinsowohl in einem Medientext als auch im Medientext-Komplex zeigt, dass die Wiederholung sehr aktiv als Textgestaltungsmechanismus verwendet worden ist. Wiederholt werden mehrmals in allen 84 Medientexten Wortbildungsmuster, stilistische Figuren, lexikalische Einheiten, kognitive Muster für die Verarbeitung von rezipiertem Wissen, Themen, Isotopierelationen sowie die Struktur von nominativen Ketten, die alle dazu noch das gemeinsame Glied Putin-/ -Putin/ -Putinbesitzen. Und dieser Umstand ist ein Beweis für die Relevanz der angesprochenen Einheiten bei der Textgestaltung: Durch das Aktivieren des Wissens über Putin wird das Wissen über alle anderen verschiedenartigen Aspekte der Wahlkampagne nicht nur in Russland, sondern auch in Deutschland aktiviert, werden nominative Ketten miteinander verflochten und Isotopierelationen als grundlegende Textstrukturen hergestellt. Wie wichtig die Verflechtung von nominativen Ketten für die Textgestaltung ist, belegt die Struktur des Ereignisses W a h l, deren Bestandteile verschieden benannt werden; darunter werden auch Neubildungen mit der Komponente -Putinverwendet (s. Beispiele oben): 7 Textexterne Beziehungen sind auch mit den Beziehungen, die beim Generieren eines Hypertextes entstehen, nicht identisch. Auf deren Unterschiede wird hier nicht weiter eingegangen. 8 Die kognitiven, textgrammatischen und funktionalen Argumente für das Bestehen von Medientextkomplexen im Mediendiskurs sind detailliert bei Grišaeva (2014) dargelegt worden. <?page no="75"?> Neubildungen mit der Komponente -Putinin aktuellen deutschen Medientexten 67 - Russland - Wahltag - Wahlort - Kandidaten Favorit Person Aktionen Symbole Wahlprogramm Chancen dessen Gegner dessen Freunde Wähler deren Reaktionen auf Aktionen der Kandidaten deren Verhalten zu Wahlprogrammen von Kandidaten deren Erwartungen Wahlprogramme von Kandidaten Somit verbinden die zu beschreibenden Neubildungen nicht nur einzelne Bezeichnungen für ein und denselben Referenten als Glieder einer nominativen Kette im Text, sondern auch verschiedene Texte zu einem Komplex als fein gegliederte Bezeichnung für ein Medienereignis. Dadurch wird durch die Verwendung der zu behandelnden Einheiten das Wissen, welches nicht nur im aktuell wahrzunehmenden Text enthalten ist, sondern auch in den anderen Texten, die der Rezipient schon vorher rezipiert hat, abgerufen (vgl. oben die Liste von Neubildungen). Die Wiederholung von verschiedenartigen Text-Elementen im Komplex von Medientexten über die Wahlen in Russland bereichert und differenziert die Vorstellungen des deutschen Sprach- und Kulturteilhabers von der für sie fremden Kultur. Zugleich trägt die Wiederholung von Bezeichnungen für ein und denselben Referenten zur Uminterpretation von inhaltlichen Schwerpunkten in einem Medientext sowie im Medientext-Komplex bei. Das beeinflusst die Thema-Rhema-Progression in einzelnen Mikrotexten und im Textganzen, führt zu einer Ausstrahlung des axiologischen Potentials einer nominativen bzw. aktionalen Kette auf die anderen Ketten im Textganzen und ruft schlie lich das Umstrukturieren der in Frage kommenden Wissensbestände hervor (s. Beispiele dafür oben). Dies führt zu einer Uminterpretation des Neutralen zum Negativen aufgrund der miteinander verflochtenen nominativen Ketten „Putin“, „Putin- <?page no="76"?> 68 Ludmila I. Grišaeva Gegner“, „Wahl“, „Russland“ u. a. Das Gesagte kann anhand von Tabelle 3 veranschaulicht werden. Ereignis-Phase Publikationsdatum Titel + Untertitel Textsorte Neubildungen mit der Komponente Putin-/ -Putin/ -Putin- Einstieg in die Wahlkampagne 25.09.2011 Putins Rückkehr in den Kreml. Der Staat bin ich Kommentar 2 - Putlandia, der Putin-Vertraute Boris Gryslow, „Putlandia“ 27.11.2011 Wahlkampf in Russland. Tricksen, täuschen, drohen Mitteilung 2 - Putin-Partei Einiges Russland, mit Putin- Karikaturen Wahlkampf machen … … … … Wahlkampf 03.12.2011 Russlands Botschafter im Interview. „Nato- Raketenabwehr vernichten“ Interview 1 die Putin-Partei „Einiges Russland“ 15.12.2011 TV-Fragestunde. 275 Minuten Putin-Show Mitteilung 2 - 275 Minuten Putin-Show, Schicksal des inhaftierten Ex- Milliardärs und Putin-Rivalen Michail Chodorkowskij 27.12.2011 Kreml-Berater Surkow. Versetzt auf neuen Posten Mitteilung 1 - Einsetzung des Putin-Zöglings Medwedew … … … … nach der Inauguration 24.05.2012 Nach Haftentlassung. Putin- Gegner ruft zu Protesten auf Mitteilung 1 - Putin-Gegner … … … … Tab. 3: Zusammenwirken von Titel-Untertitel-Komplex und Neubildungen im Medientext in der Phase „Einstieg in die Wahlkampagne“, „Wahlkampf“, „Nach der Inauguration“ (Auswahl) Die Analyse von Titel-Untertitel-Komplex, Ereignis-Phase und Zahl der Neubildungen in den entsprechenden Medientexten zeigt an, wie sehr sie einander bedingen. Aber die Beschaffenheit von Neubildungen scheint in diesem Sinne <?page no="77"?> Neubildungen mit der Komponente -Putinin aktuellen deutschen Medientexten 69 auch von anderen Faktoren anhängig zu sein: Ihr negatives axiologisches Potential erwerben sie durch die bizarre Verflechtung von nominativen Ketten mit gleichen Gliedern im Textganzen und durch Ausstrahlung und Multiplikation des negativen Potentials im Medientext-Komplex. Als Beleg dafür kann folgendes Beispiel angeführt werden: Eine Amphore bzw. Amphora (von altgriechisch, amphores) ist ein bauchiger enghalsiger Krug mit zwei Henkeln meist aus Ton. In Russland seit 2011 auch als Ma einheit verwendet. Nach einer von Spezialisten der Russischen Akademie der Wissenschaften entwickelten Skala misst Amphore den Abstand zwischen Realität und Fiktion. Eine Amphore entspricht der Diskrepanz zwischen der Behauptung staatlicher Medien, Wladimir Putin habe bei einem spontanen Tauchgang im Schwarzen Meer 1500 Jahre alte Amphoren vom Grund des Meeres geholt (‚Ein Fund von historischer Bedeutung‘) und der Einschätzung unabhängiger Archäologen, dass Tongefäße neuesten Datums eigens für die Putin-Propaganda-Show im Wasser platziert wurden. Auf der nach oben hin offenen Amphoren-Skala wurde die gefälschte Parlamentswahl im Dezember mit drei Amphoren bewertet. (Schepp u. a. 2012) Die Analyse belegt das Zusammenwirken des axiologischen Potentials des Titel- Untertitel-Komplexes mit dem der Medientexte, die eine Phase der Wahlkampagne behandeln, einerseits sowie dem des Medientext-Komplexes andererseits. So wird z. B. der ganze Text, der Putins Rückkehr in den Kreml. Der Staat bin ich (Bidder 2011: 25.09.2011) genannt worden ist, vom Rezipienten negativ interpretiert, weil sich das Staatsoberhaupt eines demokratischen Staates unter keinen Umständen mit dem Staat gleichsetzen wird. Es ist klar, dass der Intensitätsgrad des negativen Potentials ansteigt, wenn die Titel aller den Komplex bildenden Medientexte in die Betrachtung mit einbezogen werden. Vor diesem Hintergrund werden auch alle Neubildungen mit der Komponente -Putininterpretiert. Die Untersuchung des Titel-Untertitel-Komplexes, der Textsorten-Beschaffenheit und der qualitativen und quantitativen Eigenschaften der im entsprechenden Text eingesetzten Neubildungen verdeutlicht auch, wie das axiologische Potential ausgestrahlt wird. Die Analyse der Leistung von Neubildungen vor dem Text-Hintergrund erlaubt es, textinterne und textexterne Beziehungen zu verfolgen. Aufgrund dieser Bezüge kann auch erklärt werden, warum beim Wahrnehmen der zu bezeichnenden Situation das aktivierte Wissen über die fremde/ andere kulturelle Wirklichkeit nicht ganz der zu rezipierenden Situation und der Intention des Adressanten entsprechend konzipiert werden kann. Textexterne und textinterne Beziehungen, die durch Neubildungen mit der Komponente -Putinhergestellt werden, werden an textsyntaktischen und textsemantischen Verbalisierungsmechanismen erkannt: - nominative Ketten und andere Isotopierelationen sowohl in einem Medientext als auch im inhaltlich eng zusammengehörigen Medientext-Komplex, <?page no="78"?> 70 Ludmila I. Grišaeva - Struktur von nominativen Ketten mit gemeinsamen Gliedern (Putin bzw. Neubildungen mit der Komponente -Putin-), - Wechsel kognitiver Hintergrund - kognitive Figur, wobei das Wissen, welches in der Kategorie Putin gespeichert werden soll, mal so, mal so konzipiert wird, - Ausstrahlung der negativen Wertung von einer nominativen Kette auf die andere und schlie lich auf den Text als Ganzheit. Aufgrund von textinternen und textexternen Beziehungen der zu analysierenden Neubildungen wird im Medientextkomplex der negative axiologische Kontext generiert, vor dem einzelne paradigmatisch neutrale Einheiten eine negative Wertung bekommen. Die Letztere kann auch multipliziert und/ oder potenziert werden, weil sie sich auch mit paradigmatisch negativen Einheiten verbinden können (s. Beispiele oben). Das hier behandelte Analyseverfahren und Fleischers Meinung über die Leistung der Wortbildungsmittel als Kohärenz-Mittel (Fleischer/ Barz 1995: 76) unterscheiden sich grundlegend, denn im ersten Fall werden textexterne Bezüge und Beziehungen angesprochen, im zweiten textinterne. Besonders hervorgehoben werden Erkennen von gemeinsamen Bedeutungsmerkmalen, Signalisieren von verschiedenen Arten der semantischen Äquivalenz, Verbindung von mehreren Isotopieketten durch Wortbildungskonstruktionen mit mehreren Grundmorphemen und sprachliches Hervortreten des sachorientierten Umfeldes durch alle Wortbildungsprodukte eines Textes aufgrund gemeinsamer Grundmorpheme. Dieselben Textgestaltungsmechanismen bleiben auch im thematisch organisierten Medientextkomplex von Belang. Aber im Unterschied zu der oben zitierten Interpretation von Wortbildungskonstruktionen durch Fleischer werden in der vorliegenden Untersuchung nicht nur verschiedenartige textinterne Beziehungen, die durch Neubildungen mit der Komponente -Putinhergestellt werden, aktiviert, sondern auch textexterne, die den Komplex als solchen im Mediendiskurs zusammenhalten und dazu führen, dass die Rezipienten diesen Komplex längere Zeit als diskursive Einheit wahrnehmen und alle Informationen als Ganzheit interpretieren. Auf dieser Grundlage können die negativen Einheiten ihr Potential auf andere paradigmatisch neutrale Einheiten ausstrahlen und den negativen axiologischen Kontext, vor dem das zu berichtende Wissen mental anders als unter gewohnten Bedingungen verarbeitet wird, für den ganzen Medientextkomplex bestehen lassen. Die angesprochenen Eigenschaften der Neubildungen belegen zweifelsohne, dass die beschriebenen Erscheinungen an eine Manipulation denken lassen: Manipulation definiert Tsvasman (2006: 226) als eine „Interaktion, durch die eine tendenziell absichtliche und interessengeleitete Handlungsbeeinflussung <?page no="79"?> Neubildungen mit der Komponente -Putinin aktuellen deutschen Medientexten 71 unterschwellig ggf. zum fremden Nutzen bezweckt wird“. Durch die zu analysierenden Medientexte wird dem Rezipienten ein Bild über die fremde/ andere Wirklichkeit vorgeführt, das vor dem Hintergrund der eigenen Auto- und Heterostereotype profiliert wird. Bezeichnungen mit negativem konnotativem Potential beeinflussen dabei das axiologische Konzipieren des wahrzunehmenden Wissens durch den Rezipienten. Daraus folgt: Die Erscheinungen der au ersprachlichen Wirklichkeit werden nicht einfach identifiziert, sondern als Elemente einer axiologischen Kategorie rezipiert, d. h. sie werden vor allem ausgewertet, einer axiologischen Kategorie zugeordnet. Ob absichtlich oder nicht - die Adressanten informieren in solchen Medientexten ihre Rezipienten nicht, sie veranlassen jene in erster Linie, über die fremde/ andere Kultur ein Urteil zu fällen, welches aus verständlichen Gründen keinesfalls auf dem Experten-Wissen über die entsprechende Kultur beruht. Deshalb ist es berechtigt, von einer Manipulation zu sprechen. Zugleich kommt es zu einem impliziten Vergleich von Russland und Deutschland, der Wahlen in beiden Ländern sowie zu einem Vergleich von Putin und anderen Kandidaten, von Putin und der Opposition in Russland. Pugatschjow (2006: 230ff.), der diverse Manipulationsverfahren eingehend behandelt, nennt einige davon: Halbwahrheit, Etikettierung, Euphemisierung, Schweigespirale. Diese Verfahren lassen sich alle so oder anders in dem zu analysierenden Medientext-Komplex verfolgen (s. die eingehende Analyse in Grišaeva 2014 sowie die Beispiele oben). Besonders intensiv wird die Etikettierung und Euphemisierung beansprucht, weil die Bezeichnung von verschiedenen Referenten durch Neubildungen mit der Komponente -Putindie Sachen und Situationen, von denen im Medientext berichtet wird, mittelbar identifiziert, wenn es um Identifizieren geht, sowie charakterisiert - so werden diejenigen Merkmale der zu bezeichnenden Sachen und Situationen aktiviert, die mitunter nichts mit der entsprechenden mentalen Kategorie zu tun haben. Somit impliziert die entsprechende Äu erung (bzw. der Text oder der ganze Medientextkomplex) einen Vergleich mit Putin, wenn auch ein solcher Vergleich nicht ganz berechtigt zu sein scheint. Aus den genannten Gründen können die untersuchten Medientexte als höchst expressiv bezeichnet werden. Nicht ohne Berechtigung kann auch die Charakteristik von rituellen Texten, die Fix verallgemeinernd den Pressetexten gibt, auf die untersuchten Medientexte bezogen werden: Rituelle 9 Texte sind in der Regel geprägt von Expressivität. Sie dienen nicht bzw. nicht in erster Linie der Sachinformation, sondern dem Ausdruck von Wertbezügen, 9 Gemeint sind Pressetexte . <?page no="80"?> 72 Ludmila I. Grišaeva der Herstellung bzw. Bestätigung von Bindungen, der Integration. Dies lässt sich sicherer und nachhaltiger über Emotion als über Kognition erreichen. Das Expressive hat daran einen nicht zu unterschätzenden Anteil. (Fix 2008: 277) Und einen bedeutenden Beitrag zum „Ausdruck von Wertbezügen“, zur „Herstellung bzw. Bestätigung von Bindungen“, „zur Integration“ (Fix 2008: 277) von Rezipienten leisten in den Medientexten über die letzten Präsidentschaftswahlen in Russland die Neubildungen mit der Komponente Putin-/ -Putin/ -Putin-. Diese Texte sind für den Rezipienten eine Bestätigung für die längst verinnerlichten Stereotype und Vorurteile. 5 Fazit Die komplexe Analyse von paradigmatischen und syntagmatischen Eigenschaften der Neubildungen mit der Komponente Putin-/ -Putin/ -Putinerlaubt die Schlussfolgerung, dass die zu Beginn aufgestellte Hypothese verifiziert worden ist. Indem die Neubildungen das Alte und das Neue aufeinander beziehen, profilieren sie auch das Wissen, das als zur kollektiven Identität des kollektiven Subjekts gehörend interpretierbar ist. Von Vorteil ist dabei, dass dieses Wissen aus subjektiver Perspektive eines Individuums als Träger der persönlichen Identität aktiviert wird. Dadurch kommt das normalerweise im Diskurs nicht versprachlichte, das implizite Wissen zur Sprache, Inhalte und Werte, die sonst gewöhnlich mitgedacht werden, werden offen besprochen, Probleme, die selten im öffentlichen Diskurs vorkommen, ausdiskutiert. So verwandelt sich das Individuelle in das Kollektive und das Kollektive in das individuell Relevante. Von Bedeutung sind die besprochenen Neubildungen auch deswegen, weil sich die angeschnittenen soziokulturell bedeutenden Prozesse vor dem Hintergrund fremd - eigen entfalten. Zusammenfassend lassen sich einige Schlüsse ziehen, die von verschiedenen Standpunkten aus relevant sind: W o rt b il d e n d gesehen bereiten die Neubildungen mit der Komponente Putin-/ -Putin/ -Putin-, die grammatisch vor allem als Substantive existieren und meistenteils als Determinativkomposita gebildet worden sind, dem deutschen Sprach- und Kulturteilhaber keine Schwierigkeiten. Mit den entsprechenden Wortbildungsmustern sind die Sprachträger gut vertraut und verstehen es, das auf solche Weise zu Bezeichnende kognitiv sicher, semantisch korrekt und kommunikativ adäquat zu interpretieren. Da die allermeisten Neubildungen Determinativkomposita sind, identifizieren die Sprach- und Kulturteilhaber die zu bezeichnenden Sachen als Element einer dem Sprachträger bekannten mentalen Kategorie und ordnen diese zugleich einer anderen - der axiologischen - <?page no="81"?> Neubildungen mit der Komponente -Putinin aktuellen deutschen Medientexten 73 Kategorie zu bzw. charakterisieren diese unter verschiedenen Blickwinkeln, d. h. es geht nicht nur ums Kategorisieren, sondern auch ums Subkategorisieren und Umkategorisieren eines im Mediendiskurs aktivierten Wissens. Diese mentalen Prozesse hängen aber in bedeutendem Ma e von der Beschaffenheit, Differenziertheit und Vollständigkeit des Wissens über Putin, welches der konkrete Rezipient besitzt, ab. So dient die entsprechende Kategorie als eine Art Prototyp, mit dem das aktuell zu rezipierende Wissen aufgrund des Ähnlichkeitsgrades verschiedenartiger Merkmale verglichen wird. Somit sind die zu behandelnden Neubildungen aufgrund der wortbildenden Semantik imstande, nicht nur das kommunikativ relevante Wissen über das zu Berichtende zu differenzieren und zu vertiefen, sondern auch den k o g n iti v e n Hintergrund und die kognitive Figur im aktuellen Erkenntnis- und Interaktionsakt wechseln zu lassen. Darauf basiert die Eigenschaft der beschriebenen Einheiten, die auf diverse Weise aktivierten heterogenen Wissensbestände im Diskurs verschieden zu profilieren. Das Wissen über Putin sowie seine Person, seine Handlungen, Ideen, Interpretationen, Einschätzungen usw., das durch die entsprechenden Neubildungen aktiviert wird, kann aufgrund der Medientexte, die über Russland im deutschen Kulturraum generiert worden sind, eindeutig als Teil der politischen, medialen und öffentlichen Agenda im deutschen und russischen politischen Mediendiskurs interpretiert werden. Das führt zur Überbetonung einer Person im Diskurs und in mentalen Prozessen, was für das Konzipieren und Kategorisieren des Wissens - besonders des Wissens über eine für den Rezipienten fremde Kultur - nicht ohne negative Wirkung bleibt. Die entsprechende Leistung dieser Neubildungen bleibt auch t e x t g r a m m a ti s c h nicht ohne Folgen: Die Neubildungen mit der Komponente Putin-/ -Putin/ -Putinerbringen eine wichtige semantische, syntaktische, thematische und textgrammatische Leistung: Sie beeinflussen die Thema-Rhema-Progression, und zwar sowohl transphrastisch als auch im Textganzen, weil dadurch verschiedene Wissensbestände in den kognitiven und kommunikativen Fokus gerückt werden. Die Neubildungen verflechten verschiedene, für den betreffenden Text grundlegende nominative Ketten miteinander und tragen auf solche Weise zur Textkohärenz bei. Mehr noch: Da in verschiedenen Texten grundlegende nominative Ketten ein identisches Glied -Putinbesitzen, entsteht ein Medientextkomplex, der im Diskurs als textgrammatische Ganzheit interpretierbar ist. Durch eine bizarre Verflechtung von grundlegenden nominativen Ketten mit dem identischen Glied Putin erwerben ursprünglich axiologisch neutrale Einheiten einen eindeutig negativen Inhalt. Dies entsteht dadurch, dass das negative (konnotative) Potential einer nominativen bzw. aktionalen Kette auf die anderen in einem Text und/ oder in anderen Texten ausstrahlt. Somit können die Neubildungen im Mediendiskurs konstitutiv auf den Text wie auf den Medientext-Komplex wirken. <?page no="82"?> 74 Ludmila I. Grišaeva Das Gesagte bildet die Voraussetzung für die Entfaltung des M a n i p u l a ti o n s p o t e n ti a l s bei einer paradigmatisch neutralen Einheit in einem bestimmten kommunikativen Kontext. Die Ausstrahlung der negativen Wertung bewirkt das Umschlagen des Informierens in das Manipulieren im Mediendiskurs. Dadurch lassen sich die Medientexte, die über ein Medienereignis berichten, in zwei ungleich gro e Gruppen einteilen: diejenigen, die das Manipulieren von Anfang an intendieren, und Medientexte, die das Manipulieren als den sog. „Kollateralschaden“ verursachen, ohne dass der Adressant beim Generieren des betreffenden Medientextes darauf hingezielt zu haben scheint. Auf den ersten Blick wirkt das Rezipieren der Medientexte, in denen textkonstituierende Ketten das gemeinsame Glied Putin besitzen, paradox: Durch das Rezipieren wird der (negative) axiologische Hintergrund generiert, vor dem das durch den Text aktivierte Wissen konzipiert und kategorisiert wird. Die syntagmatisch mehrmals wiederholte negative Wertung von paradigmatisch neutralen Einheiten, die im Diskurs und durch den Diskurs generiert worden ist, sowie die Relation koginitive Figur - kognitiver Hintergrund bei der Verarbeitung des aktivierten Wissens können sich in einem Medientext und/ oder Medientext-Komplex in ihr Gegenteil verwandeln. Die Wiederholung von negativen Charakteristiken für einen Referenten bzw. für mehrere verschiedene Referenten im Textganzen führt einerseits zum Multiplizieren und Potenzieren des negativen Potentials, unterstützt aber das vom Adressanten Beabsichtigte kaum oder nur bedingt. Andererseits verursacht die Relation koginitive Figur - kognitiver Hintergrund die Überbetonung einer Person. Dadurch wird auch deren Beitrag zum einen oder anderen Prozess und deren Einfluss auf Menschen und Sachen immer und überall überbetont. Als Endeffekt entsteht die superpositive Einschätzung der betreffenden Person, weil die anderen nur oder erst vor dem Hintergrund des Wissens über eine konkrete Person und im Vergleich zu dieser Person wenig profiliert sind. Die Neubildungen mit der Komponente Putin-/ -Putin/ -Putinsind auch i nt e r k u lt u r e ll interessant. Denn sie aktivieren zugleich zwei Wissensbestände: das Wissen über die eigene und das Wissen über die fremde bzw. andere Kultur. Diese Neubildungen treten somit als eine Art Interface bei der Rezeption von Medientexten über eine fremde/ andere Kultur auf, indem sie neue Erkenntnisse über die Welt in die bei den Rezipienten schon vorhandenen mentalen Strukturen, dank derer sie Texte zu verarbeiten vermögen, einordnen und diese mitunter umstrukturieren. Das führt im Grunde genommen zur situationsgerechten mentalen Verarbeitung von entsprechenden Wissensbeständen und zum Herausbilden von Interpretations- und Handlungsstrategien in der interkulturellen Kommunikation, die unter diesen Bedingungen korrekt und erfolgversprechend sind. <?page no="83"?> Neubildungen mit der Komponente -Putinin aktuellen deutschen Medientexten 75 6 Literatur Sekundärliteratur Fix, Ulla (2008): Texte und Textsorten - sprachliche, kommunikative und kulturelle Phänomene. Berlin. Fix, Ulla (2011): Was ist kulturspezifisch an Texten? Argumente für eine kulturwissenschaftlich orientierte Textsortenforschung. In: Russkaja germanistika. Moskva. (Ježegodnik Rossijskogo sojuza germanistov; 8). S. 172-183. Fleischmann, Eberhard (2010): Das Phänomen Putin. Der sprachliche Hintergrund. Leipzig. Fleischmann, Eberhard (2011): Philologisch-translatologische Untersuchung als Komponente interdisziplinärer Forschung. 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In Sprechergemeinschaften mit einem hohen Anteil von nichtmuttersprachlichen Sprechern werden etymologisch undurchsichtige Simplizia tendenziell durch synchron durchsichtige Komposita abgelöst. Diese Erscheinung, die z. B. für die Sprachen der sogenannten „jenissejischen“ Sprachfamilie in Südsibirien sicher dokumentiert ist, wird im vorliegenden Beitrag erstmals für eine historische Varietät des Deutschen beschrieben. Eine Tendenz zur Ersetzung ererbter Simplizia durch neugebildete Komposita lässt sich nämlich vom Material der deutsch-litauischen Lexikographie des 17. Jahrhunderts ablesen. Es ist bekannt, dass die einschlägigen deutsch-litauischen Wörterbücher aus dem Herzogtum Preußen stammen. Das Deutsche spielte in weiten Teilen des frühneuzeitlichen Preußens die Rolle einer Verkehrssprache, deren sich Sprecher unterschiedlicher Muttersprachen bedienten. Das macht verständlich, warum es offenbar auch hier, ähnlich wie in den geographisch wie typologisch weit entfernten Jenissej-Sprachen, zur besonders häufigen Ersetzung ererbter Simplizia durch etymologisch durchsichtige Komposita kam. 1 Einleitung Sprachkontakt kann sich auf den Wortschatz einer Sprache in vielfältiger Weise auswirken (vgl. z. B. den Überblick bei Stanforth 2002). Es kommt zur Entlehnung von Lexemen (also Lehnwörtern), zu hybriden Bildungen (bei denen nur ein Bestandteil des Wortes entlehnt ist), zur Nachbildung fremder Lexeme mit den Mitteln der eigenen Sprache (Lehnbildungen und Lehnprägungen), schließlich auch zu Neuschöpfungen als Ausdruck für übernommene Konzepte und Ersatz für schwer sprechbare Fremdwörter (hierüber z. B. Mull 2011; Lühr 2011). Das Thema des vorliegenden Beitrags ist eine weitere, potenziell kontaktinduzierte Erscheinung im Wortschatz von Sprachen. Es handelt sich um die Ten- <?page no="86"?> 78 Eugen Hill denz zur Ersetzung etymologisch nichtdurchsichtiger Simplizia durch synchron durchsichtige Komposita, die zu diesem Zweck neu entstehen. Der Zweck der Untersuchung ist die Ermittlung von Bedingungen, unter denen sich diese Tendenz in natürlichen Sprachen zeigt. Das soll Hypothesen über die Ursachen der besagten Erscheinung ermöglichen. Die Arbeit versteht sich als Beitrag zu einem Forschungsprogramm, das sich folgendermaßen skizzieren lässt: Sollte im Deutschen wirklich eine relativ starke Vorliebe für Zusammensetzungen und ‚durchsichtige‘ Wörter in bestimmten Sprachgebrauchsbereichen nachzuweisen sein, wäre in einer interdisziplinär-sprachvergleichenden historischen Wortbildungslehre nach dem Alter und den Ursachen zu fragen […]. (von Polenz 2002: 459) Besonders im Bereich der Substantive ist das Deutsche eine ausgeprägt kompositionsfreudige Sprache (vgl. dazu z. B. Schlücker 2012). Doch ist es nicht überall und nicht zu jeder Zeit gleich kompositionsfreudig. Umso drängender erscheint die Frage nach den möglichen Ursachen für die Unterschiede. Der Aufsatz gliedert sich in folgende drei Hauptabschnitte. In seinem ersten Teil wird die angesprochene Tendenz zur Ersetzung nichtdurchsichtiger Simplizia durch durchsichtige Komposita anhand zweier deutsch-litauischer Wörterbücher aus dem 17. Jahrhundert vorgestellt und eingehend untersucht (Kap. 2). Die Untersuchung wird zeigen, dass man im Befund der Quellen mehrere Schichten von neuen Komposita unterscheiden muss, die erstens unterschiedliches Alter besitzen und zweitens teilweise auch unterschiedlich erklärt werden müssen. Im zweiten Hauptabschnitt der Arbeit wird eine typologische Perspektive eröffnet, indem aus einer entlegenen Region der Welt zwei Sprachen herangezogen werden, deren Wortschatz durch die zu untersuchende Erscheinung stärker betroffen ist als der deutsche (Kap. 3). Eine Analyse der soziolinguistischen Situation, in der sich die Sprecher dieser Sprachen befinden, macht es möglich, als die Ursachen der Erscheinung den verfestigten Multilingualismus und den häufigen Sprachwechsel zu identifizieren. Im dritten und letzten Abschnitt der Arbeit wird diskutiert, inwiefern diese Erkenntnis auch die beobachtete häufige Ersetzung alter Simplizia durch neue Komposita in der deutschlitauischen Lexikographie des 17. Jahrhunderts erklären kann (Kap. 4). <?page no="87"?> Sprachkontakt und die Struktur des Lexikons 79 2 Komposition in der deutsch-litauischen Lexikographie des 17. Jahrhunderts 2.1 Allgemeines zur deutsch-litauischen Lexikographie des 17. Jahrhunderts In den lexikographischen Werken mit den Titeln Lexicon Lithuanicum und Clavis Germanico-Littvana, die beide aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts stammen, erscheinen unter den deutschen Lemmata auffällig viele Simplizia durch synchron durchsichtige Komposita ersetzt. Bevor diese Erscheinung im Detail untersucht werden kann, seien diese hochinteressanten Quellen kurz vorgestellt. Das Lexicon Lithuanicum und die Clavis Germanico-Littvana sind nur handschriftlich überlieferte deutsch-litauische Wörterbücher, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Herzogtum Preußen entstanden sind. Die unbekannten Verfasser der Wörterbücher (vgl. zu ihrer Entstehung und ihrem Nachwirken jetzt vor allem Schiller 2002; 2006; 2007; 2009) waren wahrscheinlich evangelische Pfarrer, weil sich für das Litauische in der betreffenden Zeit im ganzen deutschen Sprachgebiet nur preußische Geistliche interessierten. Im reformierten Preußen des 16. und 17. Jahrhunderts wurde von den Geistlichen erwartet, dass sie die ihnen anvertrauten Gemeinden in der Muttersprache der Gläubigen unterwiesen. Da diese Sprache vielerorts das ostbaltische Litauisch war, erschienen im Herzogtum Preußen in der betreffenden Zeit der erste litauische Katechismus (1547) und die aus dem Deutschen übersetzte erste litauische Postille (1591). Die um 1590 abgeschlossene Übersetzung von Luthers Bibel ins Litauische blieb ungedruckt. Um die praktische Arbeit mit den Gläubigen und die Übersetzungstätigkeit dieser Art zu fördern, sammelten viele Geistliche lexikalisches und grammatisches Material zum Litauischen. So entstanden zu Beginn des 17. Jahrhunderts die als Lexicon Lithuanicum und Clavis Germanico- Littvana bekannten handschriftlichen Wörterbücher. 2.2 Nominale Komposition in der deutsch-litauischen Lexikographie des 17. Jahrhunderts Schon eine flüchtige Durchsicht des deutschen Sprachmaterials des Lexicon Lithuanicum und der Clavis Germanico-Littvana offenbart eine auffällige Besonderheit dieser Wörterbücher in denjenigen ihrer Teile, die nicht aus einem anderen Werk, wie z. B. aus einer Bibelkonkordanz, direkt übernommen sind, sondern wahrscheinlich auf den oder die Verfasser der Wörterbücher selbst zurückgehen. Solche Partien des Lexicon Lithuanicum und der Clavis Germanico- Littvana enthalten nämlich auffällig viele zusammengesetzte Substantive, die dem <?page no="88"?> 80 Eugen Hill deutschen Standard von heute und wahrscheinlich auch den meisten deutschen Dialekten fremd sind. Von solchen Komposita bezeichnen wiederum auffällig viele Begriffe, für die das Standarddeutsche Simplizia verwendet, die aus synchroner Perspektive etymologisch nicht durchsichtig oder nur schwer zu durchschauen sind. Unter solchen Simplizia sind nichtzusammengesetzte Substantive folgender drei Gruppen zu verstehen: - Lexeme wie z. B. Stirn, Teer oder Blitz lassen im Deutschen keine derivationsmorphologische Analyse zu. - Substantive wie Getreide oder Imker enthalten Affixe, die eine derivationsmorphologische Analyse nahelegen. Die betreffenden Lexeme lassen sich aber trotzdem nicht der Wortfamilie um ein morphologisch einfacheres Nomen oder Verb zuordnen. - Schließlich ist eine solche Zuordnung bei Zügel oder Mühle, die von ziehen und mahlen abgeleitet sind, zwar möglich, sie liegt aber aus der Perspektive eines in der Sprachwissenschaft nicht geschulten Sprechers nicht nahe. Für Begriffe, die im Standarddeutschen durch Substantive dieser drei Kategorien ausgedrückt werden, verwenden das Lexicon Lithuanicum und die Clavis Germanico-Littvana auffällig häufig Komposita, die oft wie ungelenke Gelegenheitsbildungen wirken. So entspricht dem Simplex Treber der deutschen Standardsprache im Lexicon Lithuanicum das Kompositum Grund uppe (LxL 44v), das an der betreffenden Stelle der Clavis Germanico-Littvana als Grund=Suppe erscheint (ClG I 817). 1 Für den Begriff Söller findet man im Lexicon Lithuanicum ganze zwei Komposita, einmal Holt rahmen (LxL 50v) und einmal Rahm Hölt er (LxL 69v). Heerfahrt für Krieg (ClG I 873) neben Weiß=Kopff für Greis (ClG II 944 b ) zeigen, dass bei dieser Ersetzung von etymologisch undurchsichtigen Substantiva durch durchsichtige Komposita gleichermaßen Determinativwie Possessivkomposita entstehen konnten. Von der beschriebenen Erscheinung sind innerhalb des Wortschatzes, der in den deutsch-litauischen Wörterbüchern des 17. Jahrhunderts verarbeitet wurde, mehrere semantische Bereiche oder Wortfelder betroffen. Auffällig viele Komposita der gegebenen Art findet man unter Bezeichnungen wilder Tiere, Vögel etc. Vgl. folgende repräsentative Auswahl aus dem ziemlich umfangreichen Material: 1 Die Siglen LxL und ClG beziehen sich hier und im Weiteren entsprechend auf das Lexicon Lithuanicum und die Clavis Germanico-Lithvana. Bei der Angabe der Belegstellen richte ich mich nach den in Hock u. a. (2015: 10-12, 1350 und 1357) dargelegten Prinzipien. <?page no="89"?> Sprachkontakt und die Struktur des Lexikons 81 (1) Kompositum Beleg Glosse Qvirrll=hacke LxL 69r Kranich Wasser=Eydex LxL 103v Molch Weiß fi ch LxL 104v Ukelei Holt bock LxL 51r Zecke Holt Wurm ClG I 973 Grille Weniger zahlreich, aber durchaus vorhanden, sind Komposita, die Körperteile von Menschen und Tieren bezeichnen: (2) Kompositum Beleg Glosse forder=Haupt LxL 37r Stirn Bru t Knochen LxL 20v Kropf Hirn chale ClG I 949 Schädel Eine umfangreiche Gruppe bilden Verwandtschaftsnamen, von denen viele, wie z. B. das Wort weibs chwe ter mann (LxL 104r) für Schwager einen besonders unbeholfenen Eindruck macht. Repräsentativ ist die folgende Auswahl aus dem auch hier ziemlich reichhaltigen Material: (3) Kompositum Beleg Glosse Brudern Tochter LxL 20r Nichte Schwe ter Tochter LxL 78v Nichte Schwe ter Sohn LxL 78v Neffe Brudern=Sohn ClG I 401 Neffe Die meisten Komposita aber findet man unter Fachausdrücken aus der Landwirtschaft und dem Handwerk. Vgl. außer dem oben bereits angesprochenen Fall von Holt rahmen (LxL 50v), Rahm Hölt er (LxL 69v) für Söller folgende Wörter: (4) Kompositum Beleg Glosse Dresch=land LxL 24v Tenne Kornboden LxL 55v Speicher Brod=korn LxL 20r Getreide Hüner Korb LxL 51v Käfig Bircken Oel LxL 18 Teer Hopffen Kopff LxL 51r Knoten Lauffleine LxL 57v Zügel Schlaffbanck LxL 75r Pritsche Haupt pfühl LxL 46v Kissen Schröpffkopff LxL 77r Becher Mahl=Stube ClG II 9 Mühle Zimmer=Holtz ClG I 936 Balken Schwart =Ball ClG II 512 Ruß Wagen eyl ClG II 895 Strang Kuller=Ra e dchen ClG I 1127 Walze Egd=Nagel ClG I 507 Zinke Mi t Laack ClG II 57 Jauche Weber Schlicht ClG II 917 Kleister <?page no="90"?> 82 Eugen Hill Vereinzelt erscheinen in den Wörterbüchern ferner zusammengesetzte Neubildungen auch unter Berufs- und Standesbezeichnungen. In diesem Wortfeld sind insgesamt nur die folgenden vier sicheren Fälle zu belegen: (5) Kompositum Beleg Glosse Bienen=Warter LxL 17v, ClG I 351 Imker landman LxL 57r Bauer Flei chhauer LxL 36v Metzger LandPfleger ClG I 1147 Schulze Schließlich sind Zusammensetzungen auch anstelle von Simplizia bezeugt, die elementare Naturerscheinungen und Gegebenheiten von Landschaften bezeichnen. Besonders instruktiv sind hier die folgenden drei Fälle: (6) Kompositum Beleg Glosse Wa er=furch LxL 103v Rain Donner trahl LxL 24r Blitz Wa er=Sumpff ClG II 915 See Aus dem angeführten Material folgt, dass die Bildung von synchron durchsichtigen Komposita für Begriffe, die im Deutschen auch mit einem synchron nichtdurchsichtigen Simplex bezeichnet werden, in der Sprache der deutsch-litauischen lexikographischen Werke des 17. Jahrhunderts zumindest eingeschränkt produktiv war. In den jetzt folgenden Abschnitten soll der Frage nach dem Alter solcher Komposita, ihrer Verbreitung im Deutschen, ihrer Verwendung in den Varietäten des Deutschen, die sie belegen, und, schließlich, nach ihrer Funktion im Sprachsystem nachgegangen werden. Die Erörterung dieser Fragen kann allerdings erst beginnen, wenn für die Komposita besagten Typs eine handliche und eindeutige Bezeichnung gefunden ist. Eine solche scheint in der internationalen Wortbildungsforschung bisher nicht vorgeschlagen. Da terminologische Fragestellungen nicht zu den Aufgaben des vorliegenden Beitrags gehören, sollen die hier zu besprechenden Komposita im Weiteren nach einem besonders instruktiven Fall provisorisch mit dem Terminus „Donnerstrahl-Komposita“ bezeichnet werden. 2 2 Ich folge hier der altindischen grammatischen Tradition, in der semantische Gruppen von Komposita jeweils nach einem prototypischen Vertreter benannt sind (vgl. dazu und generell zu dieser Einteilung von Komposita heute z. B. Olsen 2000: 908; Olsen 2012 oder Bauer 2009). Für Determinativkomposita benutzt man dabei den Terminus Tatpurusha-Komposita (nach altind. tat-puru a- ‚dessen Diener‘ aus tad ‚dieses‘ + puru a- ‚Mensch‘), die Possessivkomposita heißen Bahuvr hi-Komposita (nach altind. bahu-vr hi- ‚wohlhabend, wohlhabender Mensch‘, aus bahu- ‚reichlich‘ + vr hi- ‚Reis‘, also ‚jemand, der viel Reis hat‘), und die Kopulativkomposita heißen Dvandva- Komposita (nach altind. dva -dva- ‚Paar, Gegensatz‘, das wortwörtlich ‚zwei-zwei‘ <?page no="91"?> Sprachkontakt und die Struktur des Lexikons 83 2.3 Das Alter der Donnerstrahl-Komposita in deutsch-litauischen Wörterbüchern des 17. Jahrhunderts Die meisten der in deutsch-litauischer Lexikographie des 17. Jahrhunderts überlieferten Donnerstrahl-Komposita machen den Eindruck von rezenten Bildungen. Ein klares Indiz für ein sehr junges Alter sind Fälle mit variabler Verwendung der Bestandteile als Vorder- oder Hinterglied des Kompositums. Vgl. z. B. das oben bereits erwähnte Wort für Söller, das zugleich als Holt rahmen (LxL 50v) und Rahm Hölt er (LxL 69v) überliefert ist. Es lässt sich allerdings zeigen, dass einige der Donnerstrahl-Komposita, die im Lexicon Lithuanicum und in der Clavis Germanico-Littvana synchron nichtdurchsichtige Simplizia zu ersetzen scheinen, in der Tat ein hohes Alter besitzen und potenziell älter als diese Simplizia sind. Ein solcher Nachweis lässt sich für die folgende Gruppe von synchron durchsichtigen Monatsnamen erbringen: (7) Kompositum Beleg Glosse Brachmonath, Brach=Monat LxL 19r, ClG I 385 Juni Herb t monath LxL 48 September Wein Monath LxL 104v November Chri tmonath, Chri t=monat LxL 21v, ClG I 429 Dezember Diese Monatsnamen sind in den Wörterbüchern neben eingedeutschten lateinischen überliefert, mit denen sie in einigen Fällen konkurrieren: (8) april LxL 7v April ClG I 134 Mey LxL 61v Mey ClG II 45 Herb t monath LxL 48 September ClG II 1135 Dass es sich bei den komponierten Monatsnamen vom Typ Brachmonath, Brach=Monat und Chri tmonath, Chri t=monat um rezente Neuschöpfungen handelt, ist allerdings unwahrscheinlich. Zwei dieser Komposita existieren im Deutschen offenbar seit althochdeutscher Zeit. Dem Brachmonath, Brach=Monat ‚Juni‘ der deutsch-litauischen Wörterbücher entspricht althochdeutsch br hhm n th ‚Juni‘, das bereits in der Vita Caroli Magni von Einhard († 840) überliefert ist (weitere Belege bei Karg-Gasterstädt/ Frings 1968: 1310 oder Starck/ Wells 1990: 72). Der Monatsname ist als br ch-m n t ‚Juni‘ auch in mittelhochdeutschen Quellen bezeugt. Ähnlich verhält es sich mit Herb t monath ‚September‘. Das Wort ist als herbist-m n th mit der Bedeutung ‚November‘ bereits bei Einbedeutet). Dieses praktische terminologische Verfahren wird heute z. B. auch bei der Erforschung des Englischen angewendet, wo die linksköpfigen bzw. umgekehrten Bahuvrihi-Komposita nach ihrem bekanntesten Vertreter bei vielen Forschern die „armstrong-Komposita“ heißen. <?page no="92"?> 84 Eugen Hill hard überliefert und kommt als herbest-m n t ‚der erste Herbstmonat, Herbstmonat allgemein‘ auch in mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Quellen vor. Der Monatsname Wein Monath ‚November‘ entspricht sicher spätmittelhochdeutsch w n-m n t, frühneuhochdeutsch wein-monet ‚Oktober‘. Es handelt sich somit um ererbte Monatsnamen, die wohl jahrhundertelang mit ihren Entsprechungen lateinischen Ursprungs koexistierten, ohne diese zu verdrängen oder, wie im Standarddeutschen späterer Zeit, von diesen verdrängt zu werden. Die komponierten Monatsnamen des Typs Brachmonath, Brach=Monat entstanden also mehrere Hundert Jahre vor der Hauptmasse der oben angeführten Neuschöpfungen vom Typ Holt rahmen bzw. Rahm Hölt er. Ein Teil dieser Monatsnamen kann noch vor der Übernahme und Eindeutschung der entsprechenden Simplizia existiert haben. Es ist somit sinnvoll, die komponierten Monatsnamen aus der weiteren Diskussion um die Donnerstrahl-Komposita in deutsch-litauischer Lexikographie des 17. Jahrhunderts auszuschließen. 2.4 Die Verwendung der deutschen Donnerstrahl-Komposita im Preußen des 17. Jahrhunderts Das Deutsche der deutsch-litauischen Wörterbücher aus dem 17. Jahrhundert enthält somit zahlreiche synchron durchsichtige zusammengesetzte Substantive zur Bezeichnung von Begriffen, für die im Deutschen auch ein synchron nichtdurchsichtiges Simplex bestand. Die Verwendung solcher Donnerstrahl-Komposita lässt sich anhand der Quellen, die ja Wörterbücher sind, kaum untersuchen. Es kann jedoch festgehalten werden, dass die komponierten Neuschöpfungen die entsprechenden Simplizia im Preußen des 17. Jahrhunderts zumindest nicht in allen Fällen endgültig ablösten. Gegen eine solche endgültige Ablösung des Simplex durch das neugeschaffene Donnerstrahl-Kompositum spricht die Tatsache, dass die älteren Simplizia im Lexicon Lithuanicum und in der Clavis Germanico-Littvana vereinzelt bezeugt sind. Man findet sie von Zeit zu Zeit an einer anderen Stelle desselben Wörterbuchs, wobei die litauischen Interpretamente identisch oder nahezu identisch sind. Vgl. z. B. (9) Qvirrll=hacke LxL 69r = Kranich LxL 55v lit. gerv Mutter Schwe ter LxL 63r = Muhm LxL 62v lit. teta Schwart =Ball ClG II 512 = Ruß ClG II 347 lit. suodis Gelegentlich ist das Simplex auch durch das jeweils andere der beiden Wörterbücher überliefert, so z. B. im Falle von (10) Mutter Schwe ter Mann LxL 63r = Vetter ClG I 740 lit. tet nas Wagen eyl ClGII 895 = Strang LxL 84v lit. viržys <?page no="93"?> Sprachkontakt und die Struktur des Lexikons 85 Daraus folgt, dass die neugebildeten Donnerstrahl-Komposita die entsprechenden ererbten Simplizia kaum im ganzen Sprachsystem und bei allen Sprechern verdrängt haben, sondern eher nur in bestimmten Registern oder bei bestimmten Gruppen von Sprechern. Es handelt sich somit um das Aufkommen einer Synonymie, die potenziell zum Absterben des älteren der beiden Synonyme führen konnte. 2.5 Zur Verbreitung der Donnerstrahl-Komposita im Deutschen Die deutsch-litauischen lexikographischen Werke aus dem Preußen des 17. Jahrhunderts sind natürlich nicht die einzigen Quellen, die deutsche Donnerstrahl- Komposita belegen. Solche Komposita sind für Varietäten des Deutschen seit dem Beginn seiner Textüberlieferung in der Mitte des 8. Jahrhunderts und über seine ganze dokumentierte Geschichte bis zum heutigen Tag vereinzelt bezeugt. Vgl. bereits in althochdeutschen Glossen: 3 (11) w n-beri (w n ‚Wein‘ + beri ‚Beere‘) gl. uva, botrys, racemus II 27,55, II 247,19, III 582,54 für dr bo gl. botrys, racemus II 251,62, II 497,49 ‚Traube‘ himil-zunga (himil ‚Himmel‘ + zunga ‚Zunge‘) gl. sidus I 560,3 für sterno gl. stella, sidus I 48,19, III 4,24 ‚Himmelskörper, Gestirn‘ brust-rok (brust ‚Brust‘ + hrok ‚Hemd‘) gl. thorax II 498,22 für brunna gl. lorica, thorax I 283,57, I 507,64 ‚Harnisch‘ etc. Aus mittelhochdeutscher Zeit lassen sich z. B. kol-wurm für r pe ‚Raupe‘, erdsen für pfluok ‚Pflug‘ oder mül-stein für kürne ‚Mühlstein‘ anführen. Das Frühneuhochdeutsche steuert z. B. Fauststange für Speer und Scheelsucht für Neid bei (Grimm/ Grimm 3: 1385; 14: 2521). In noch jüngerer Zeit entstehen die auch heute gebräuchlichen Komposita Geldstück für Münze, Hornvieh für Rind etc. In einigen wenigen Fällen lässt sich ein im Lexicon Lithuanicum oder in der Clavis Germanico-Littvana dokumentiertes Donnerstrahl-Kompositum in exakt derselben Form und mit derselben oder einer sehr ähnlichen Semantik auch in 3 Die Belegstellenangaben beziehen sich auf die Ausgabe der althochdeutschen Glossen von Steinmeyer/ Sievers (1879-1922). Weitere, zum Teil weniger sichere Belege sind verzeichnet bei Starck/ Wells (1990: 82, 161, 731). <?page no="94"?> 86 Eugen Hill Quellen ohne expliziten Bezug zu Preußen belegen. So findet sich z. B. das in LxL 57r überlieferte Donnerstrahl-Kompositum landman, das für das Simplex Bauer (z. B. LxL 13r) steht, vereinzelt auch in deutsch-lateinischen Wörterbüchern aus dem 18. und 19. Jahrhundert (so z. B. lantman, landman = rusticus, inoppidatus) und den zeitgenössischen literarischen Texten (vgl. Grimm/ Grimm 12: 124-125). Allerdings belegt die Mehrheit der Quellen, vor allem die älteren davon, das Lexem nur mit der Bedeutung ‚Bewohner eines Landes, Landsmann‘ (so z. B. lantman = indigena, compatriota in westdeutscher Lexikographie des 15. und 16. Jahrhunderts, vgl. wieder Grimm/ Grimm 12: 125). Das spricht dafür, dass es sich bei landman ‚Bauer‘ eher um unabhängige Neuschöpfungen in verschiedenen Teilen des deutschen Sprachgebiets als um gemeinsames Erbe mehrerer Dialekte handelt. Donnerstrahl-Komposita entstehen also in verschiedenen Dialekten des Deutschen immer wieder, was angesichts der bekannten Kompositionsfreude des Deutschen auch nicht verwunderlich ist. Das Besondere am Lexicon Lithuanicum und an der Clavis Germanico-Littvana ist somit nicht das Vorkommen solcher Komposita unter den verarbeiteten deutschen Lexemen, sondern ihre ungewöhnliche Häufung. Diese Besonderheit der Quellen soll im Weiteren benutzt werden, um die Funktion der Donnerstrahl-Komposita im Deutschen bzw. den Grund für ihre Entstehung zu ermitteln. 2.6 Die Funktion der Donnerstrahl-Komposita in deutsch-litauischen Wörterbüchern des 17. Jahrhunderts Für einige der im Lexicon Lithuanicum und der Clavis Germanico-Littvana dokumentierten Donnerstrahl-Komposita bietet sich eine einfache Erklärung an, wenn man die Natur der Quellen berücksichtigt. Bei diesen Quellen handelt es sich um Listen von deutschen Wörtern mit ihren litauischen Entsprechungen. Der Zweck dieser zweisprachigen Wortlisten bestand laut historischer Überlieferung vornehmlich darin, dem deutschen bzw. deutschkundigen Pfarrer die Kommunikation mit den litauisch sprechenden Gläubigen (vor allem zwecks religiöser Unterweisung) zu ermöglichen oder zu erleichtern. Bei der Aufstellung der Wortlisten ging es also nicht um die Erschließung des deutschen Wortschatzes, sondern umgekehrt um das Auffinden eines passenden litauischen Lexems. Wie sich dies auf die Gestalt der deutschen Einträge in den handschriftlichen Wörterbüchern auswirken konnte, zeigen einige Verwandtschaftsnamen, unter denen man auch Donnerstrahl-Komposita findet. Wie oben bereits festgehalten, entsprechen den deutschen Verwandtschaftsnamen Neffe und Nichte im Lexicon Lithuanicum und der Clavis Germanico- Littvana jeweils Brudern Tochter (LxL 20r), Brudern=Sohn (ClG I 401) und Schwe ter <?page no="95"?> Sprachkontakt und die Struktur des Lexikons 87 Tochter (LxL 78v), Schwe ter Sohn (LxL 78v). Ins Litauische werden die Bezeichnungen für Kinder eines Bruders mit dem Femininum broly ia und Maskulinum brolynas übersetzt, bei denen es sich um Suffixableitungen zu lit. brolis ‚Bruder‘ handelt. Für die Kinder einer Schwester werden entsprechend sesery ia und seserynas verwendet, die auf lit. sesuo ‚Schwester‘ basieren. Der Grund für die Verwendung von Donnerstrahl-Komposita liegt hier offensichtlich im Bestreben der Wörterbuchautoren, die Differenzierung zwischen den Kindern eines Bruders und denen einer Schwester - in dem ihnen vertrauten Litauisch wohl obligatorisch - auch im Deutschen einzuhalten. Das Litauische besaß zwar ursprünglich fast exakte Entsprechungen von deutsch Neffe und Nichte, nämlich nepuotis, neptis ‚Neffe‘ und nepuot , nept ‚Nichte‘. Diese Lexeme kommen in litauischen Texten aus dem Preußen des 16. Jahrhunderts noch vereinzelt vor (bei Martynas Mažvydas † 1563, Johannes Bretke † 1602 und in der 1600 erschienenen Margarita Theologica, vgl. Hock u. a. 2015: 695). Belege aus späterer Zeit sind aber so selten (Kruopas u. a. 1970: 670 verzeichnen nur einen), dass diese Verwandtschaftsnamen zumindest in den meisten litauischen Dialekten wohl spätestens um 1600 nicht mehr in Gebrauch waren. Die heute gebräuchlichen neutralen Termini dukter ia ‚Nichte‘ und s n nas ‚Neffe‘ (s. z. B. Križinauskaus/ Smagurauskas 2006: II,93 und 98) - wortwörtlich etwa ‚Quasitochter‘ und ‚Quasisohn‘ (vgl. dukt ‚Tochter‘, s nus ‚Sohn‘) - waren im 17. Jahrhundert möglicherweise noch gar nicht in Gebrauch. Bezeichnenderweise sind im preußisch-litauischen Wörterbuch von Kurschat (1883) weder die älteren noch die jüngeren neutralen Ausdrücke für Nichte und Neffe verzeichnet. Es ist somit sehr wahrscheinlich, dass die angeführten Donnerstrahl-Komposita die entsprechenden Simplizia Neffe und Nichte in den deutsch-litauischen lexikographischen Sammlungen des 17. Jahrhunderts deshalb verdrängten, weil diese in dem den Lexikographen zugänglichen Litauisch keine exakten Entsprechungen besaßen. So lässt sich ein Teil des vorliegenden Materials erklären. Eine ähnliche Erklärung verbietet sich allerdings bei Donnerstrahl-Komposita aus anderen semantischen Feldern. Nicht möglich ist sie bei Tiernamen wie Kranich (Qvirrll=hacke LxL 69r) oder Zecke (Holt bock LxL 51r), bei Naturphänomenen wie Blitz (Donner trahl LxL 24r) oder See (Wa er=Sumpff ClG II 915). Auch bei Berufsbezeichnungen wie Imker (Bienen=Warter LxL 17v, ClG I 351) oder Metzger (Flei chhauer LxL 36v) oder bei einfachen technischen Termini wie Walze (Kuller=Ra e dchen ClG I 1127) oder Kleister (Weber Schlicht ClG II 917) liegt eine solche Erklärung nicht nahe. Um auch die Donnerstrahl-Komposita aus den genannten semantischen Feldern zu erklären, scheint es notwendig, das Problem aus typologischer Perspektive anzugehen. Es empfiehlt sich, nach Sprachen oder Dialekten einer Sprache zu suchen, die für die Erforschung der Donnerstrahl-Komposita mehr <?page no="96"?> 88 Eugen Hill Material bieten als die spärlichen lexikographischen Aufzeichnungen aus dem Preußen des 17. Jahrhunderts. Zu diesem Zweck wird im folgenden Abschnitt eine Gruppe von typologisch wie geographisch weit entfernten Sprachen herangezogen werden, die in ihrer Neigung zur Bildung von Donnerstrahl-Komposita das Deutsche bei Weitem übertreffen. 3 Donnerstrahl-Komposita aus typologischer Sicht 3.1 Die Jenissej-Sprachen Die jenissejische Sprachfamilie bzw. die Jenissej-Sprachen sind eine überschaubare Gruppe genetisch verwandter Sprachen in Sibirien. Nach Ausweis der Toponymie waren sie einmal über ein riesiges Territorium vom Baikal-See im Osten bis zum Fluss Irtyš im Westen verbreitet (vgl. Verner 1996: 169-170 mit Lit.). Zum Zeitpunkt der Eroberung der Region durch russische Kosaken um 1600 lebten die Sprecher der Jenissej-Sprachen am oberen und mittleren Jenissej. Die bekanntesten und am besten erforschten Jenissej-Sprachen sind die beiden besonders nahe verwandten nordjenissejischen Sprachen, nämlich Ketisch, das heute noch gesprochen wird (s. die Grammatiken von Dul’zon 1968; Werner 1997b; Vajda 2004; Georg 2007), und das um 1990 ausgestorbene Jugisch. Weniger gut erforscht ist das um 1850 noch gesprochene südjenissejische Kottisch (s. Castrén 1858; Werner 1997a). Von den bereits im 18. Jahrhundert erloschenen Jenissej-Sprachen sind nur einige Hundert Wörter und einzelne Flexionsformen von Verben und Nomina bekannt (s. ausführlich Werner 2005). Vgl. noch die annotierte Bibliographie zum Jenissejischen von Vajda (2001) und das vergleichende Wörterbuch der Jenissej-Sprachen von Werner (2002). 3.2 Die Donnerstrahl-Komposita im Nordjenissejischen Die Jenissej-Sprachen sind ähnlich kompositionsfreudig wie das Deutsche (vgl. z. B. Werner 1998: 49-52). Bei zusammengesetzten Substantiven sind dieselben zwei Hauptgruppen zu unterscheiden, Determinativ- und Possessivkomposita, wobei die Possessivkomposita selten sind. Als Vorderglied eines Kompositums kann ein Substantiv, ein Adjektiv oder auch ein Adverb dienen. Vgl. aus dem Ketischen: 4 4 Die Notierung von ketischen und jugischen Wörtern folgt im Wesentlichen den Prinzipien von Vajda (2000; 2004) und Georg (2007). Die kottischen Lexeme werden nach Castrén (1858) zitiert. <?page no="97"?> Sprachkontakt und die Struktur des Lexikons 89 (12) Determinativkomposita Kompositum Vorderglied Hinterglied Bedeutung bá ol ba ‚Erde‘ ô l ‚Behälter‘ ‚Grab‘ bókul bo k ‚Feuer‘ l ‚Wasser‘ ‚Schnaps‘ hóltaq ho l ‚kurz‘ t q ‚Finger‘ ‚Daumen‘ Possessivkomposita Kompositum Vorderglied Hinterglied Bedeutung bólkup bo l ‚dick‘ k p ‚Schnabel‘ ‚Art Vogel‘ tátbul t t ‚quer hindurch’ b l ‚Bein‘ ‚Art Pflanze‘ Die einander besonders nahestehenden nordjenissejischen Sprachen Ketisch und Jugisch weisen in ihrem Wortschatz eine erstaunliche Anzahl von Donnerstrahl-Komposita auf. Diese findet man hier in allen semantischen Feldern, auch unter Wörtern für die alltäglichsten Begriffe. Vgl., vielleicht besonders instruktiv, die folgende knappe Auswahl von Lexemen, die Naturphänomene und Ähnliches bezeichnen: (13) Kompositum Vorderglied Hinterglied Bedeutung ket. úles, jug. úres ket. l, jug. r ‚Wasser‘ ket. s, jug. s ‚Himmel‘ ‚Regen‘ ket. ésqaj, jug. és aj ket. s, jug. s ‚Himmel‘ ket. qa j, jug. a j ‚Berg‘ ‚Wolke‘ ket. úldes, jug. úrdes ket. l, jug. r ‚Wasser‘ ket. d s, jug. d s ‚Auge‘ ‚Tropfen‘ ket., jug. tájes ket., jug. ta j ‚kalt‘ ket. s, jug. s ‚Himmel‘ ‚Frost‘ Verbreitet sind die Donnerstrahl-Komposita auch unter den nordjenissejischen Körperteilbezeichnungen: (14) Kompositum Vorderglied Hinterglied Bedeutung ket. t , jug. ket. ty , jug. y ‚Kopf‘ ket., jug. i ‚Fell‘ ‚Haare‘ ket., jug. úlat ket., jug. û l ‚glatt‘ ket., jug. a t ‚Knochen‘ ‚Rippe‘ ket. bátpul, jug. bátpyl ket., jug. ba t ‚Gelenk‘ ket. b l, jug. b l ‚Bein‘ ‚Knie‘ ket. désqat, jug. dés at ket. d s, jug. d s ‚Auge‘ ket. q t, jug. t ‚Wolle‘ ‚Wimper‘ ket. sáqpul, jug. sá pyl unklar ket. b l, jug. b l ‚Bein‘ ‚Ferse‘ Dass solche Komposita einmal synchron nichtdurchsichtige Simplizia abgelöst haben, lässt sich zwar nicht beweisen. Die betreffenden Simplizia sind weder im Ketischen noch im Jugischen bewahrt. Es scheint aber sehr unwahrschein- <?page no="98"?> 90 Eugen Hill lich, dass die Vorfahren der nordjenissejischen Völker des 19.-21. Jahrhunderts kein morphologisch einfacheres Wort für Begriffe wie ‚Wolke‘ oder ‚Knie‘ besaßen. Die im Nordjenissejischen aufgegebenen Simplizia scheinen ferner manchmal im südjenissejischen Kottisch erhalten, das irgendwann nach 1850 ausgestorben sein muss. So entsprechen den Donnerstrahl-Komposita ket. t , jug. ‚Haare‘ und ket. bátpul, jug. bátpyr ‚Knie‘ in den kottischen Aufzeichnungen Castréns (1858) die offensichtlichen Simplizia êk ‚Haare‘ und arša ‚Knie‘. Die Ersetzung ererbter nichtdurchsichtiger Simplizia durch synchron durchsichtige Komposita schritt im Bereich der Körperteilbezeichnungen zumindest im Ketischen auch nach der Trennung vom Jugischen fort. So erklären sich z. B. folgende Bildungen, die keine jugischen Entsprechungen besitzen: (15) Kompositum Vorderglied Hinterglied Bedeutung ket. dó ol ket., jug. do ‚Gehirn‘ ket. ô l ‚Behälter‘ ‚Schädel‘ ket. k lat ket. k l ‚krumm‘ ket., jug. a t ‚Knochen‘ ‚Hals, Kehle‘ ket. hóltes ket. h l, jug. f l ‚fett‘ unklar ‚Bauch‘ Das letzte Wort in dieser Liste ersetzt in Dialekten des Ketischen das sicher dokumentierte ererbte Simplex ket. h j, jug. f j ‚Bauch‘. Besonders instruktiv ist der Fall des im Jugischen bewahrten Simplex bi ‚Hand‘, das in Dialekten des Ketischen gleich durch zwei unterschiedliche Donnerstrahl-Komposita mit dem gleichen Hinterglied ersetzt wurde: (16) Kompositum Vorderglied Hinterglied ket. lá at ket. la ‚Quaste‘ ket., jug. a t ‚Knochen‘ ket. tólat ket. t l ‚Reihe, Zaun‘ ket., jug. a t ‚Knochen‘ 3.3 Wie kommt das Nordjenissejische zu seinen Donnerstrahl-Komposita? In einigen wenigen Fällen lässt sich die Ersetzung ererbter Simplizia durch Donnerstrahl-Komposita im Nordjenissejischen aus kulturhistorischer Perspektive nachvollziehen. Dies betrifft z. B. ket. mámul, jug. mámyr ‚Milch‘, das sich aus ket., jug. ma m ‚weibliche Brust, Euter‘ und ket. l, jug. r ‚Wasser‘ zusammensetzt. Das in den nordjenissejischen Sprachen aufgegebene Simplex ist möglicherweise in kottisch šut ‚Milch‘ erhalten. 5 Die Ersetzung des ererbten 5 Bei kottisch šut kann es sich allerdings auch um eine rezente Entlehnung aus einer der Turksprachen Südsibiriens handeln. Ähnlich klingende Wörter für ‚Milch‘ findet man nämlich in geographisch entfernten Turksprachen (wie z. B. türkeitürkisch süt, <?page no="99"?> Sprachkontakt und die Struktur des Lexikons 91 Wortes durch ein synchron durchsichtiges Kompositum wird begreiflich, wenn man bedenkt, dass Milch bei den Nordjenissejern kein Grundnahrungsmittel war. Durch ihre historisch dokumentierte Abwanderung von Südsibirien in immer nördlichere Breiten (vgl. z. B. Dul’zon 1968: 14-15) wurden die Sprecher der nordjenissejischen Sprachen zu spezialisierten Jägern und Sammlern. Dementsprechend begegneten sie dem Begriff ‚Milch‘ wohl nur anlässlich stillender Mütter und säugender Tiere (wie z. B. der Jagdhunde), deutlich seltener als z. B. die Pferdezüchter der südsibirischen Steppe. Durch die abnehmende Frequenz im Diskurs und die geringere Bedeutung im Alltag wurde das ererbte Simplex für ‚Milch‘ für viele Sprecher des Nordjenissejischen obsolet und konnte ersetzt werden. 6 Eine kulturhistorische Erklärung kommt für die Mehrheit der nordjenissejischen Donnerstrahl-Komposita nicht in Betracht. Alle Lexeme, die Begriffe wie z. B. ‚Regen‘, ‚Tropfen‘, ‚Wolke‘ etc. bezeichnen, sind durch ihre Semantik vor fast beliebigen Umwälzungen im Leben der Sprecher geschützt. Körperteilnamen für ‚Knie‘, ‚Bauch‘ oder ‚Hand‘ werden zwar in vielen Sprachen gelegentlich durch Neubildungen ersetzt (vgl. z. B. lit. ranka ‚Hand‘, das auf dem Verb rinkti ‚sammeln‘ beruht), doch kaum je in einem Ausmaß, wie man es in Dialekten des Ketischen beobachtet. Was hat die bemerkenswerte Zunahme von Donnerstrahl-Komposita in den nordjenissejischen Sprachen Ketisch und Jugisch dann verursacht? Der Grund für diese Erscheinung ist wahrscheinlich das unvollständige Erlernen der nordjenissejischen Sprachen durch jede neue Generation ihrer Sprecher, die aufgrund einer besonderen soziolinguistischen Situation bereits im Kindesalter mehrere Sprachen meistern mussten. Ersetzung ererbter Simplizia durch etymologisch durchsichtige Komposita verringert den beim Erlernen eines Wortschatzes unvermeidlichen Aufwand. Die Auswirkungen dieser Lernstrategie auf die Verwendbarkeit der Sprache halten sich offenbar in Grenzen. Ketisch war baschkirisch hot). Es kann sich aber auch um eine urtürkische Entlehnung ins Urjenissejische oder ein urjenissejisches Lehnwort im Urtürkischen handeln. In beiden Fällen wäre kottisch šut ein Erbwort, dessen nordjenissejische Entsprechung durch ein Donnerstrahl-Kompositum ersetzt wäre. Vgl. zu den urtürkisch-jenissejischen Kontaktbeziehungen Georg (2001). 6 Vgl. aus typologischer Perspektive das oben bereits erwähnte deutsche Donnerstrahl- Kompositum Fauststange ‚Speer‘. Sein Aufkommen in frühneuhochdeutscher Zeit hängt am ehesten mit der Verdrängung des Speeres durch Schusswaffen zusammen. Deutsch Speer konnte sich im Unterschied zum jenissejischen Simplex für ‚Milch‘ letztendlich doch behaupten, aber wohl nur aufgrund einer viel größeren Sprecherzahl und einer konservierenden Schriftkultur. <?page no="100"?> 92 Eugen Hill im beschriebenen Zustand zumindest von 1846-47 (Castréns Reisen) bis in die 1960er und 1970er Jahre (Dul’zons und Werners Expeditionen) ein vollwertiges Kommunikationssystem, das auch bei den wenigen einsprachigen Keten funktionierte. 3.4 Zur Soziolinguistik des Nordjenissejischen Sprecher der beiden nordjenissejischen Sprachen Ketisch und Jugisch bewohnten bis zu ihrer fast vollständigen Assimilierung durch Russen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts weite Gebiete am mittleren Jenissej nördlich der Stadt Jenissejsk. Die traditionelle Lebensweise der Nordjenissejer war die von Nomaden, die überwiegend vom Fischfang und von der Jagd lebten, wobei die in der Region sehr verbreitete Rentierzucht nur eine untergeordnete Rolle spielte (vgl. z. B. Alekseenko 1969). Laut historischen und ethnologischen Quellen leben die Nordjenissejer bereits seit Jahrhunderten in einem intensiven Austausch mit Sprechern mehrerer nichtverwandter Sprachen, darunter des Russischen. Ketisch und Jugisch weisen eine große Menge russischer Lehnwörter auf, unter denen etliche noch vor den ersten Aufzeichnungen des nordjenissejischen Wortschatzes um 1725 übernommen sein dürften. 7 Die Beherrschung des Russischen muss bei der Mehrheit der Nordjenissejer, die sich nach dem um 1600 erfolgten Anschluss an Russland zunehmend auf die Zobel- und Eichhörnchenjagd zwecks Verkauf der Felle spezialisierten, weit verbreitet gewesen sein. Spätestens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden gute Russischkenntnisse zur Norm. Eine ganz zentrale Rolle spielten ferner die gut dokumentierten Kontaktbeziehungen zu den samojedischen Sprachen der Region. Zumindest seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im ganzen 20. Jahrhundert war die wichtigste Kontaktsprache der Jenissejer das südsamojedische Selkupisch. Die weit verbreitete und durch zahlreiche Mischehen unterstützte selkupischketische und selkupisch-jugische Zweisprachigkeit führte oft zu einem Wechsel des dominierenden und als Muttersprache aufgefassten Sprachsystems. Werner (1997c: 3-4) gibt an, dass einige der letzten Familien, in denen in den 1960er und 1970er Jahren neben Russisch noch Jugisch gesprochen wurde, eigentlich 7 Vgl. z. B. jug. fólak, ket. hólak < russ. pólog ‚Bettvorhang‘ oder jug. fóra , ket. hólaq < russ. pórox ‚Schießpulver‘. Diese Lehnwörter wurden noch von der Lautentwicklung urjenissejisch *p > jug. f, ket. h erfasst, die nach Auskunft der Wortlisten Müllers (s. Werner 2005) in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts bereits abgeschlossen gewesen sein muss. <?page no="101"?> Sprachkontakt und die Struktur des Lexikons 93 selkupischer Abstammung waren. Laut Georg (2007: 31) sprechen viele Selkupen noch im 21. Jahrhundert fließend Ketisch, entweder neben dem Selkupischen und dem Russischen oder als die einzige ihnen geläufige Sprache außer dem Russischen. Eine der besten Informantinnen, die Georg bei der Arbeit an seiner Grammatik des Ketischen in den Jahren 1999 und 2001 konsultieren konnte, ordnet sich trotz besserer Ketischkenntnisse den Selkupen zu. Ähnlich intensiv müssen in älterer Zeit die Kontaktbeziehungen der Nordjenissejer zu nordsamojedischen Sprachen gewesen sein. Der nordjenissejischnordsamojedische Bilingualismus war in der Region einmal so verbreitet, dass der Walddialekt des nordsamojedischen Enzisch die nordjenissejischen Pronomina für die 2. und 3. Person Singular entlehnt hat (vgl. Tereš enko 1966: 447- 448). Die auffällige Verbreitung von Donnerstrahl-Komposita im Ketischen und Jugischen geht meines Erachtens am ehesten auf diesen bei der überwältigenden Mehrheit der Sprecher seit Generationen tief verwurzelten nordjenissejischsamojedisch-russischen Multilingualismus zurück. Es ist bekannt, dass Mehrsprachigkeit nicht mit mehrfacher Einsprachigkeit gleichgesetzt werden darf (s. ausführlich Földes 2005; 2007 mit weiterführender Literatur). Die Mehrsprachigkeit kann sich auf die beteiligten Sprachsysteme sowohl bereichernd als auch im einschränkenden Sinne auswirken. Die Notwendigkeit, im Alltag mehrere unterschiedliche Sprachen nebeneinander zu benutzen, und der häufige Wechsel der dominierenden Sprache in einer Familie führten im Falle der nordjenissejischen Sprachen offenbar zum unvollständigen Erlernen des Nordjenissejischen durch jede neue Generation seiner fast durchgängig multilingualen Sprecher. Dies begünstigte die unter anderen Bedingungen eher seltene Ersetzung vieler synchron nichtdurchsichtiger Simplizia durch durchsichtige und dadurch auch für einen halbkompetenten Sprecher verständliche Komposita. 4 Die soziolinguistische Situation im frühneuzeitlichen Preußen Eine ähnliche Erklärung bietet sich auch für das von den anonymen Verfassern der handschriftlichen deutsch-litauischen Wörterbücher benutzte Deutsch an. Das Herzogtum Preußen, aus dem diese Wörterbücher stammen, war in der betreffenden Zeit von Sprechern mehrerer verschiedener Sprachen besiedelt. In der Mitte des 16. Jahrhunderts sprach die Mehrheit der Bevölkerung Preußens im Alltag eine der baltischen Sprachen: entweder das ostbaltische Litauisch oder das westbaltische Altpreußisch. Ein drittes baltisches Idiom, das mit dem ostbaltischen Lettisch verwandte Kurisch, breitete sich durch Abwanderung seiner Sprecher von der Kurischen Nehrung im ganzen Herzogtum aus. Aus <?page no="102"?> 94 Eugen Hill Polen wanderten ferner in bedeutenden Zahlen Sprecher des westslavischen Polnisch ein. Hochdeutsch, die einzige im Preußen des 16. Jahrhunderts zugelassene Amtssprache, wurde außer von Beamten und Geistlichen vor allem von Nachkommen deutscher Kolonisten als Muttersprache gesprochen, die in vorausgehenden Jahrhunderten vom Deutschen Orden als Bauern angesiedelt worden waren. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung variierte von Ort zu Ort. Es ist allerdings bezeichnend, dass deutsche Pfarrer in der Mitte des 16. Jahrhunderts auch in Städten wie z. B. Friedland - eine im Süden des Herzogtums gelegene und laut Steuerlisten von Deutschen bewohnte Stadt - zum Predigen einen sogenannten „Tolken“ brauchten, der ihre Worte ins Altpreußische oder Litauische übersetzte (vgl. ausführlich Falkenhahn 1941: 1-37 und 48-86). Selbst in der Hauptstadt Königsberg wurden ein litauisch- und ein polnischsprachiger Pfarrer benötigt. Mitte des 18. Jahrhunderts sahen die zeitgenössischen Quellen die deutschsprachige Bevölkerung Preußens jedoch eindeutig in der Mehrheit (vgl. wieder Falkenhahn 1941: 148), während eine der ehemals verbreiteten baltischen Sprachen, das Altpreußische, bereits nicht mehr gesprochen wurde. Das bedeutet aber, dass zwischen ca. 1550 und ca. 1750 in der Sprachenlandschaft des Herzogtums Preußen ein durchgreifender Wandel stattgefunden haben muss, bei dem sich die Amts- und Verkehrssprache Deutsch als die Erstsprache der meisten Einwohner durchsetzte und die baltischen Sprachen stark zurückdrängte. Der Übergang von der Dominanz der baltischen Idiome im Preußen des 16. Jahrhunderts zum Hochdeutschen als der Sprache einer Mehrheit der Bevölkerung im 18. Jahrhundert erfolgte in erster Linie durch einen Wechsel vieler Sprecher der baltischen Sprachen und wohl auch des Polnischen zum Deutschen. Ein solcher Wechsel setzt aber eine Phase weit verbreiteter Bi- und Multilingualität voraus. In diese Zeit fällt das Erstellen der handschriftlichen deutsch-litauischen Wörterbücher, deren Wortschatz durch die vielen Donnerstrahl-Komposita überrascht. Da sich die evangelischen Geistlichen in Preußen überwiegend aus Landeskindern rekrutierten, war das ihnen geläufige Deutsch vor allem das in Preußen gesprochene Deutsch bi- und multilingualer Sprecher. Die auffällige Häufung von Donnerstrahl-Komposita im Lexicon Lithuanicum und in der Clavis Germanico-Littvana lässt sich also trotz der beträchtlichen geographischen und typologischen Distanz auf dieselbe Art und Weise erklären wie im Falle der nordjenissejischen Sprachen, nämlich durch die unvollständige Reproduktion der betreffenden Sprache unter Bedingungen einer stark verbreiteten Mehrsprachigkeit. <?page no="103"?> Sprachkontakt und die Struktur des Lexikons 95 5 Literatur Quellen ClG = Ivaškevi ius, Adolfas u. a. (Hrsg.) (1995-1997): Clavis Germanico-Lithvana. Handschriftliches deutsch-litauisches Wörterbuch des 17. 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Es stellte sich heraus, dass es auch in anderen Ländern einer Aufarbeitung des NS-Erbes, insbesondere einer konsequenten Kritik von NS-typischen sprachlichen Rückfällen, bedarf. Dieses Phänomen muss interkulturell behandelt werden. Im folgenden Artikel werden an einigen Beispielen rechtsextremer Propaganda neue Modifikationen und Wiederverwendungen belasteter „nazitypischer“ Vokabeln sowie sprachliches Handeln und sprachpolitische Strategien aufgezeigt, die das klassische Wörterbuch des Unmenschen (Sternberger u. a. 1957) um neue Beispiele ergänzen können, da über sie eine ideologische Aktualisierung faschistischer Ideologeme in der Gegenwart erfolgt. Die Transformationen der nationalsozialistischen ideologischen Amalgame in die gesellschaftliche Gegenwart sind in vollem Gange. Konrad Ehlich (1989: 30) 1 Der Umgang mit dem sprachlichen „NS-Erbe“ in Deutschland Jede Zeit hinterlässt ihre lexikalischen Spuren. Das lexikalische NS-Erbe wird immer wieder in verschiedenen politischen Situationen, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern in Gang gebracht, denn „für die Ideologie des Faschismus wie für seine Propagierung und Durchsetzung waren und sind Sprache und sprachliches Handeln von herausragender Bedeutung“ (Ehlich 1989: 27). Die politische Sprache, die sich mit dem Thema „Sprachliche Vergan- <?page no="108"?> 100 Stalina Katajewa genheitsbewältigung“ befasst, hat diesem Phänomen immer große Bedeutung beigemessen. Es ist zu einem genuinen Untersuchungs- und gleichzeitig zum Streitgegenstand germanistischer Linguistik geworden. Davon zeugt eine Reihe von „klassisch“ gewordenen sprachkritischen Arbeiten aus der frühen Nachkriegszeit 1 und der Gegenwart 2 , obwohl Gerhard Voigt schon 1974 das Ende der Sprache des Nationalsozialismus verkündet hat. 3 Man versuchte, an Beispielen der Verwendung von „belasteten“ Vokabeln aus der NS-Sprache vor ihrem Nachwirken in der deutschen Sprache nach 1945 zu warnen, Vokabeln, die wie ein „‚schleichendes Gift‘ oft unbewusst und unkritisch weiterverwendet und weitertransportiert werden“ (Widmer 1966: 67). Es handelte sich dabei um Arbeiten, die der Kritik der Sprache im Dritten Reich selbst, der Kritik von inhumaner Sprache in der BRD und der sozialistischen Sprachkultur der DDR gewidmet waren. Diese Problematik wurde während der Studentenbewegung thematisiert, aber auch in den 90er Jahren, nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Die bedeutendsten Dokumente dieser sprachwissenschaftlichen Analyse von NS-typischem Wortschatz in der frühen Nachkriegszeit sind die weit rezipierte und zitierte Schrift „LTI“ (Lingua Tertii Imperii = Sprache des Dritten Reiches) von Victor Klemperer (1947) und eine sprachkritische Artikelserie (1945- 1947) von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind, die 1957/ 1968 auch in Buchform unter dem Titel Aus dem Wörterbuch des Unmenschen erschienen ist. Des Weiteren ist das 1964 von Cornelia Berning zusammengestellte „Vokabular des Nationalsozialismus“ zu nennen, das unter dem Titel Vom „Abstammungsnachweis“ zum „Zuchtwart“ erschienen ist. Diese Forschungsrichtung mit dem Schwerpunkt auf lexikologisch-lexikographischen Arbeiten überliefert reichhaltiges Material über die Sprache der NS-Zeit, die als „nazistische Sprachpest“, „Nazi-Deutsch“, „Braun-Deutsch“ u. Ä. charakterisiert wird. Die Diskussionen über den „Missbrauch der Sprache“, die „Misshandlung der Sprache“ oder die „Machtübernahme über die Sprache“ durch die Nationalsozialisten schreiben der Sprache die oft beschworene „Macht des Wortes“ zu, eine Macht, die sich, wie Heringer schreibt, „als ein Mittel der Vergangenheitsbewältigung, und auch als ein Mittel der Reinwaschung des guten alten Deutsch [erweist]“ (Heringer 1982: 12). Diese Forschungsrichtung wurde auch während der Spaltung Deutschlands (in der BRD und DDR) fortgesetzt, wobei man versuchte, auf die naheliegende Gleichung von faschistischer Sprache 1 Siehe z. B. Klemperer (1947); Borée (1952); Fricke (1952); Sternberger u. a. (1957). 2 Siehe Bergsdorf (1996); Ehlich (1989); Jäger (1992); Kinne (1989); Klein (2010), Maas (1991); Sauer (1989); Stötzel (1995); Volmert (1989) u. a. 3 So lautet der Titel des Beitrags von Gerhard Voigt (1974): Bericht vom Ende der „Sprache des Nationalsozialismus“. In: Diskussion Deutsch 19. <?page no="109"?> Weiterverwendungsproblematik von NS-Vokabular - interkulturell gesehen 101 und faschistischer Wirklichkeit zu verzichten, weil faschistische Barbarei nicht auf „Wortimperialismus“ beschränkt bleibt (vgl. Winkler 1970: 9). Die gegenseitigen Beschuldigungen der Sprachwissenschaftler im Osten und Westen Deutschlands, Erben der Nazi-Sprache, „Beerbte von Hitler, Himmler und Goebbels“ u. Ä. zu sein (Sauer 1995: 18), zeugen davon, dass in den 50er Jahren oft nicht die sprachkritische, sondern die „politisch-propagandistische Ausrichtung die Sprachwissenschaft nach dem Kriegsende eindeutig dominiert“ (Bauer 1993: 49). Im Rückblick auf die ersten sprachkritischen Arbeiten der sprachlichen Vergangenheitsbewältigung in Deutschland hält Horst Dieter Schlosser (1996: 102) „die Fixierung der so genannten LTI auf eine abgeschlossene Phase deutscher Geschichte für fragwürdig“, denn „auch unter veränderten politischen Bedingungen können sich inhumane Sprachwie Denkmuster halten, die der öffentlichen Kritik bedürfen“. Beispiele, so Schlosser weiter, dass sprachliche und reale Inhumanitäten ihre Fortsetzung auch nach 1945 finden, gibt es genug, darunter auch die „bis in die Gegenwart eines demokratischen Deutschlands reichende Kontinuität rassistischen Denkens und Sprechens“, die ständig Anlass gibt, die „sprachliche Gegenwart kritisch anzugehen“ (Schlosser 1996: 102). In den späteren sprachkritischen Beiträgen Aus dem Wörterbuch des Unmenschen (1968) haben Sternberger, Storz und Süskind ihre Kritik nicht nur auf die Nazizeit beschränkt, sondern auch auf die Verhältnisse der Bundesrepublik und ihren inhumanen Sprachgebrauch ausgedehnt. Die in diesem Buch angeführten „postnationalistischen Belege einer unmenschlichen Sprache“ waren für Schlosser ein klarer Erweis des Fortwirkens alter Einstellungen, die als „eindeutige Zeugnisse sprachlichen Terrors“ gewertet werden können (vgl. Schlosser 1996: 104-106). Die vergangenheitsbezogenen Diskussionen dauern in beiden Teilen Deutschlands in den brisanten Auseinandersetzungen bis in die Gegenwart an. Das Thema der NS-Sprache taucht als Folge des „Nazi-Komplexes“ (Stötzel 1995) noch während der Studentenunruhen Ende der 60er Jahre auf und wird als „Schuldfrage der Väter“ thematisiert. Eine „Subgeneration“ dieser Zeit, die sogenannten „Achtundsechziger“, rüttelt, so Ehlich (1989: 9-10), an der „mit einem moralischen Schleier einfacher Tugenden“ notdürftig drapierten Selbstverständlichkeit und Geschichtsvergessenheit der Elterngeneration. Die Ergebnisse dieser studentischen Aktionen gegen die unaufgearbeiteten geschichtlichen Probleme „eskalierten schließlich in der bisher wohl schwersten ideologischen Krise der Bundesrepublik“. Ebenso wird die moderne Sprache der Bürokratie und des Rechtsextremismus wie auch die Sprache der technokratischen Entwicklung im Westen in Kon- <?page no="110"?> 102 Stalina Katajewa tinuität mit der Sprache des Nationalsozialismus gesehen. 4 Anhand von Beispielen der Verwendung „belasteter“ Vokabeln wird versucht, das Fortleben einer nationalsozialisitischen Gesinnung im Wortschatz zu dokumentieren. Kritisiert wird etwa die Sprache in der sogenannten „verwalteten Welt“, in der Welt der Bürokratie und Technik, kritisiert werden „Plastikwörter“, „Unwörter“, das „Behördendeutsch“ der BRD und der „Parteijargon“ der DDR. Dass die „belasteten“ nazitypischen Wörter im Zeitalter der gegenwärtigen „verwalteten Welt“ auftauchen und dass sie wieder und wieder in Gebrauch kommen, macht Erhard Eppler (1992) durch die Analyse einzelner Wörter und die Zerlegung typischer Äußerungen von Politikern deutlich, und er kommt zu dem Schluss, dass sie jederzeit wie „Kavalleriepferde beim Hornsignal“ 5 zur Verfügung stünden. Darin sieht er auch eine Ursache für die in der letzten Zeit wachsende „Politikverdrossenheit“ (Eppler 1992: 9). Siegfried Jäger (1989) zeigt an einigen Beispielen rechtsextremer Propaganda neue und neueste Modifikationen auf, über die die ideologische Aktualisierung faschistischer Ideologeme erfolge. Diese Problematik wurde auch in den 90er Jahren nach der Wiedervereinigung Deutschlands aktuell. Neuerlich taucht das Thema „Sprache im Nationalsozialismus“ 1996 bei Wolfgang Bergsdorf im Kontext der sprachlichen Veränderungen auf, die die deutsche Geschichte der letzten Jahre hervorgebracht hat. Als Praktiker und Politikwissenschaftler geht er besonders präzise auf den NS-spezifischen Sprachgebrauch ein und vergleicht den totalitären und demokratischen Sprachgebrauch. Dabei behandelt er aktuelle Sprachentwicklungen seit der Wiedervereinigung Deutschlands. Dieses Thema, fortgesetzt in einer Analyse mit der Fragestellung „Wie totalitäre Regime in Deutschland die Sprache prägten“, wird nach der Wende, so Bergsdorf (1996: 24), als „individuelles und gesellschaftliches Selbstverständnis der Deutschen thematisiert“. Das - auch 50 Jahre nach dem Zusammenbruch des faschistischen und 6 Jahre nach dem Ende des kommunistischen Regimes in der DDR - anhaltend hohe Forschungsinteresse an diesem brisanten Thema erklärt Bergsdorf unter anderem so: Deutschland verfügt über eine zweifache Erfahrung mit totalitärer Herrschaft: dem 12jährigen Regime des ‚ 1000jährigen Reiches‘ der Nationalsozialisten folgte in einem Teil des Landes nahezu ohne Übergang ein kommunistisches Herrschaftssystem. Insofern ist die deutsche Sprache die einzige, die zweimal eine totalitäre Blutvergiftung zu überstehen hatte. (Bergsdorf 1996: 25) 4 Siehe die Arbeiten von Bachem (1983); Jäger (1989); Korn (1958); Eppler (1992); Ehlich (1989); Pörksen (1988). 5 Dieser bildliche Vergleich entstammt dem Titel eines Buches von Eppler (1992): „Kavalleriepferde beim Hornsignal. Die Kritik der Politik im Spiegel der Sprache“. <?page no="111"?> Weiterverwendungsproblematik von NS-Vokabular - interkulturell gesehen 103 Der politische Sprachgebrauch in dieser Zeit erleidet nach Bergsdorf eine „wesentliche Verarmung und Verkürzung“, was die „Folge des Zweckes des politischen Sprechens im totalitären System ist“ (Bergsdorf 1996: 25) und mit der „Tendenz zu einer extremen Vereinfachung komplexer Realitäten“ (Bracher 1982: 17 [zit. n. Bergsdorf 1996: 26]) korreliert. Karl Dietrich Bracher, ein prominenter Totalitarismusforscher, schreibt, dass für totalitäres Denken der Anspruch [typisch sei], sie [ die komplexe Wirklichkeit; S. K. ] auf eine Wahrheit zu reduzieren und zugleich dichotomisch aufzuspalten in gut und böse, richtig oder falsch, Freund oder Feind, mit einem einzigen Erklärungsmuster die Welt bipolar zu erfassen, wie es insbesondere die marxistische Klassentheorie oder die nationalsozialistische Rassentheorie versucht. (Bracher 1982: 17) Solche Schwarzweißmalerei wurde zum Konstruktionsprinzip der nazistischen Ideologie, was dazu führte, dass es weder im Dritten Reich noch in der DDR möglich war, in der öffentlichen Kommunikation Zwischentöne zu vernehmen (vgl. Bergsdorf 1996: 26). Was die allgemeine NS-Sprachlenkung anging, so war sie geprägt von Deutschtümelei, Gigantomanie, Tautologie, superlativistische Steigerungen, Tarnung, Euphemisierung, Tabuisierung, pathologische Metaphorik, Umdeutung der Begriffe. Das diese Ideologie kennzeichnende Vokabular wird allgemein als der NS-Jargon bezeichnet, der über einen relativ kleinen Wortschatz verfügt und der durch militärische, religiöse, technische und biologische Begriffe aufgefüllt wird. Er lässt sich nach Bergsdorf (1996: 30) an seinen dominierenden stilistischen Elementen erkennen, z. B. an „arroganten Wörtern und Wendungen der forschen Totalität und Kraftmeierei“, die ein „aggressives Wir-Bewusstsein“ erzeugen sollten, oder am „kollektiven Singular“, der als Mittel totalitärer Simplifizierung benutzt wurde. Bergsdorf definiert den „NS-Jargon“ wie folgt: Der NS-Jargon war ein Sprachgebrauch, der den Zielen einer totalitären Politik dienen sollte. Er überschwemmte die politische Sprache mit einer Fülle negativ oder positiv bewerteter Begriffe und drängte neutrale Begriffe zurück; er radikalisierte den Schwarz-Weiß-Schematismus und baute die Differenzierungsmöglichkeiten ab; er generalisierte und nivellierte die Anwendungsregeln von Wörtern und Wendungen und entfremdete sie so zu individuellen Sprachempfindungen; er bewirkte eine Gleichschaltung der sprachlichen Ausdrucksformen, die alle sprachlichen Unterschiede geschichtlicher, sozialer, regionaler Herkunft durch die uniformierende Kraft der auf Heroik gestimmten Parteisprache einebnete. (Bergsdorf 1996: 31) Den politischen Sprachgebrauch dieser Zeit charakterisiert auch Peter von Polenz, indem er feststellt, dass die „NS-Texte von heroisierenden, generalisierenden und simplifizierenden Wörtern wie jeder, alle, unvergleichlich, kolossal, heroisch, rücksichtslos, total u. a. durchwuchert waren“ (Polenz 1978: 168). Bergsdorf war noch 1996 optimistisch und hoffte, dass dieser „Jargon der Lüge, der <?page no="112"?> 104 Stalina Katajewa auf die Angst und die Anpassungsbereitschaft der Menschen abzielte“, mit dem „Absterben des Kommunismus“ verschwinden würde (Bergsdorf 1996: 26). Die Vergangenheitsbewältigung als ein deutsches Phänomen bedeutet auf der sprachlichen Ebene eine kritische Aufarbeitung der Sprache im Nationalsozialismus und - angefangen von der sogenannten „Stunde Null“ bis in die Gegenwart hinein) - eine fortdauernde Kritik von sprachlichen Rückfällen, denn, wie bereits eingangs erwähnt wurde, die „Transformationen der nationalsozialistischen ideologischen Amalgame in die gesellschaftliche Gegenwart sind in vollem Gang“ und der „Diskurs über den Faschismus in der Bundesrepublik ist“, so Konrad Ehlich" „schwierig“. (1989: 30) Dieses Thema wird auch weiter virulent sein, zumindest so lange, wie von extremen, potentiell in die Diktatur führenden Kräften (in Gestalt des Rechtsextremismus und des Linksradikalismus) eine Gefahr ausgeht. Auch das 2007 von Thorsten Eitz und Gerg Stötzel erschienene Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung signalisiert die aktuelle Relevanz der Problematik. Dieses brisante Thema ist auch in der Gegenwart von Bedeutung und nimmt in der letzten Zeit sogar an Schärfe zu. 2 Die Reaktualisierung des NS-Wortschatzes in Ländern Osteuropas Wie es in Deutschland „seit der früheren Nachkriegszeit […] eine sprachkritische Tradition gegenüber NS-infiziertem Sprachgebrauch und daher auch quer über die im Bundestag vertretenen Parteien eine große Scheu gibt, des rassistischen Sprachgebrauchs beschuldigt zu werden“ (Klein 2010: 12), so sind auch einige postsowjetische Republiken von analogen Rückfällen nicht verschont geblieben, und es stellte sich heraus, dass es auch hier einer Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und einer konsequenten Sprachkritik dringend bedarf. Die jüngsten Ereignisse im Baltikum und in der Ukraine zeugen davon, dass die „Vergangenheitsbewältigung“ nicht nur ein „deutsches Phänomen“ ist. Dieses aktuelle Problem wird von Sprachwissenschaftlern, Politikwissenschaftlern und Politolinguisten in zahlreichen Auseinandersetzungen heftig und kontrovers diskutiert. Das veranlasst Sprachforscher in verschiedenen Ländern, dieses Phänomen interkulturell zu behandeln. Im Folgenden wird das an einigen Beispielen gezeigt. So zeugt die moderne Zeitgeschichte im Baltikum von einer gewissen Geschichtsvergessenheit, wenn z. B. das „lettische Auschwitz“, das Konzentrationslager Salaspils, in dem Hunderttausende Menschen grausam vernichtet und Kinder für medizinische Experimente misshandelt wurden, verharmlosend als <?page no="113"?> Weiterverwendungsproblematik von NS-Vokabular - interkulturell gesehen 105 „Erziehungs- und Arbeitslager“ bezeichnet wird. 6 Es wird mit keinem einzigen Wort erwähnt, dass das KZ Salaspils eine Fabrik zur Gewinnung von Blut für die Wehrmachtsoldaten war, das regelmäßig den Kindern entnommen wurde. Eine solche Verharmlosung der Vergangenheit durch den Gebrauch des euphemistischen Ausdrucks „Erziehungs- und Arbeitslager“ anstelle von „Konzentrationslager/ Vernichtungslager“ kommt nicht von ungefähr: An diesem Holocaust nahmen auch lettische SS-Sonderkommandos teil, was in einer Besprechung über das Buch Geschichte Lettlands. 20. Jahrhundert euphemistisch „Teilnahme der Letten am Krieg in deutschen Uniformen“ (Tannberg 2007: 279) genannt wird. Mit solchen Euphemismen wird für gewöhnlich „ethisch-emotionale Neutralität suggeriert, um zugrunde liegende ethisch-emotionale Problemfragen zu verdecken“ (Schröter/ Carius 2009: 41). Sie tragen zur Bagatellisierung von Untaten der lettischen SS-Männer bei und beziehen sich direkt auf den NS-Sprachgebrauch. Derartige Euphemismen hatten nach Bergsdorf einen „herausgehobenen Stellenwert im NS-Jargon, die die Ziele und Mittel der NS-Politik tarnen und von ihnen ablenken sollten“ (1996: 30). Die Verharmlosung der NS-Vergangenheit ist insoweit gefährlich, als sie den KZ-Terror nachträglich legitimieren und dabei die Gefühle der Opfer tief verletzen. Davon zeugt auch die Empörung, die diesem Buch von überlebenden ehemaligen Insassen des Todeslagers Salaspils entgegengebracht wurde. 7 Über die gegenwärtige Tendenz der Geschichtsvergessenheit schreibt auch der deutsche Politolinguist Armin Burkhardt in seinem bekannten Artikel Können Wörter lügen? : Tatsächlich sind aber viele Wörter aus dem NS-Vokabular des Unmenschen keineswegs aus der Sprache entfernt worden, sondern verwendbar geblieben, weil sie „entnazifiziert“ wurden, indem mit der Erinnerung an die Nazi-Verbrechen auch der ideologische Verweis auf die NS-Sprache Schritt für Schritt verdrängt oder getilgt wurde. (Burkhardt 1992: 831f.) Burkhardt unterstreicht dabei die besondere Rolle der politischen Euphemismen als Formen uneigentlichen Sprechens, 8 die einerseits „eine Form der Un- 6 Die Rede ist vom 2005 erschienenen Buch „Geschichte Lettlands. 20. Jahrhundert“, das von höchster staatlicher Ebene unterstützt wurde, dessen Schirmherrin die ehemalige Präsidentin der Republik Lettland, Waira Vike-Freiberga, war, die es auch feierlich als „offizielle Darlegung der lettischen Geschichte“ präsentierte. 7 Siehe den Brief von Elvira Iljachina, ehemalige Insassin des KZs und heute lettische Staatsbürgerin, den der Chef der Fraktion „Partei der Volkseinheit“ im lettischen Parlament und Präsident der Stiftung „Baltisches Forum“, Janis Urbanivic, 2005 dem russischen Präsidenten übergeben hat (http: / / www.russland.ru/ lettland 10.02.2005). 8 Siehe Armin Burkhardt (1992: 834): „In der Sprache der Politik haben sich die Formen sprachlicher Beschönigung (Euphemismen) ganz besonders durchgesetzt“. <?page no="114"?> 106 Stalina Katajewa wahrheit und Unredlichkeit“ sei, die helfe, mit unangenehmen Wirklichkeiten fertig zu werden, und die deswegen ein „psychologischer Schutzwall“ sei; andererseits sei die „Beschönigung zugleich ein strategisches Mittel der Überzeugungsarbeit“, das untergründig verhindere, dass negative Aspekte der Wirklichkeit zu Bewusstsein kommen könnten. Er warnt vor einem eingespielten Sprachgebrauch der Euphemismen in öffentlicher Kommunikation, wenn sie neben beiden genannten Funktionen - Verbergen der eigenen Gedanken und Verdrängen unangenehmer Tatsachen - eine dritte, eher unbeabsichtigte Funktion erfüllten, indem die bereits konventionalisierten Euphemismen zu einem lügenhaften Bestandteil einer partiell falschen Weltsicht und zu einer verzerrten Wahrnehmung und einem behinderten Denken führten, was Burkhardt als Selbstbehinderung des Denkens bezeichnet (vgl. 1992: 834f.). Wie könnte man sonst anders erklären, dass die ehemaligen Kriegsverbrecher im heutigen Lettland heroisiert und verherrlicht werden? Jährlich marschieren sie auf den Straßen lettischer Städte und Dörfer, und sie gelten in Lettland als Helden des Krieges, was daran deutlich wird, dass die Kriegsveteranen von der anderen Frontseite (Letten, Russen, Weißrussen), die gegen den Faschismus gekämpft haben, in diesem Land verfolgt und abschätzig behandelt werden. 9 Eine solche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Lettland erinnert an das bekannte Prinzip „Verschwiegen - Vergessen - Verdrängt“ (Zabel 1990). Es sei erwähnt, dass ein leichtfertiger und fragwürdiger Umgang mit der KZ- Problematik auch im deutschen Fernsehen (2007, 2008) zu beobachten war, als die Moderatorinnen Juliane Ziegler und Eva Herman die Inschriften an den Eingangstoren der Konzentrationslager in Auschwitz („Arbeit macht frei“) und Buchenwald („Jedem das Seine“) in Unterhaltungssendungen als einfache Redewendungen zitierten. Beiden wurde nationalsozialistischer Sprachgebrauch vorgeworfen, woraufhin sie entlassen wurden. 10 Ein solcher unreflektierter Umgang mit dem sprachlichen Erbe der NS-Diktatur in der Unterhaltungsindustrie ist „zutiefst fragwürdig“, weil er, wie Frank Brunssen schreibt, „eine der großen gesellschaftspolitischen Leistungen der Bundesrepublik untergräbt: die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit“ (Brunssen 2010: 20). Ein anderes Beispiel für das Fortbestehen einer zutiefst inhumanen Sprache, die zugleich die gesellschaftliche Inhumanität illustriert, stellt auch der jüngste Konflikt in der Ukraine dar. Ebenso wie in den baltischen Republiken werden 9 Davon war die Rede auf der 28. Tagung des UN-Menschenrechtrates „Gegen Rassismus und rassistische Diskriminierung“, die 24.03.2015 in Genf stattfand (Evgrafov 2015). 10 Diese Fälle wurden 2010 von Frank Brunssen im Artikel „Jedem das Seine“ - zur Aufarbeitung des lexikalischen NS-Erbes beschrieben. <?page no="115"?> Weiterverwendungsproblematik von NS-Vokabular - interkulturell gesehen 107 die ehemaligen ukrainischen Nazi-Verbrecher und ihre Rädelsführer, wie z. B. Stepan Bandera und Roman Schuchewitsch, die angesichts ihrer Gräueltaten während des Zweiten Weltkrieges im Bewusstsein der normal empfindenden Menschen nur als Mörder in Erinnerung sind, aus der „Mottenkiste“ des vergangenen Krieges geholt und als Helden glorifiziert. In Kiew und anderen ukrainischen Städten werden massenhaft Straßen zu Ehren dieser „Helden“ (Bandera und Schuchewitsch) umbenannt. Dieser gesellschaftliche Wandel in der Ukraine zieht auch einen entsprechenden Sprachwandel nach sich, der Linguisten, Journalisten und Politologen veranlasst hat, neue russisch-ukrainische Wörterbücher und Glossarien von Neologismen zu verfassen (z. B. Labina 2014, Kara-Murza 2014 u. a.). Es werden nazitypische Vokabeln wiederverwendet, um politische Gegner zu diffamieren und Feindbilder zu schaffen. Die beiden ukrainischen Frontseiten bezichtigen einander, sich faschistischer Ideologie bedient zu haben und Faschisten, Nazisten u. Ä. zu sein. Dabei werden zahlreiche Techniken der Sprachmanipulation (übertriebene Nazi-Vergleiche, sprachliche Parallelisierungen, Metaphorisierung, Euphemisierung u. Ä.) verwendet, die der politischen Bewusstseinslenkung der Ukrainer dienen sollen. Um die Geschehnisse in der Ukraine zu charakterisieren, werden in Massenmedien oder Blogs alte Begriffe wiederbelebt oder neu gebildet - Begriffe, die oft einen direkten Bezug zum NS-Vokabular haben. Im Folgenden sollen dazu einige Beispiele genannt werden: Nachdem der Führer der nationalistischen Partei der Ukraine Svoboda, Oleg Tjagnibok, öffentlich erklärt hatte, dass die Triebkraft des Maidans der Nationalismus gewesen und die „Revolution der Würde“ „ein krasses Beispiel der ‚Banderisierung‘“ (Tjagnibok 2015) der Ukraine sei, wurde die neu gebildete Macht in der Ukraine von den politischen Gegnern als Bandera-Regime (Kamenev 2015) bezeichnet; die ukrainischen nationalistischen Organisationen wie Svoboda („Freiheit“), Prawyj Sektor (der „Rechte Sektor“) und militarisierte Einheiten der Radikalen (die vom ukrainischen Oligarchen Kolomoiski finanzierten „freiwilligen Bataillone“) wie Asow, Aidar u. a. werden nationalistische Schlägertruppen oder Todesschwadrone genannt; ihre Ideologie mit der Losung „Ukraine über alles“ („Ukraine ponad usjo“) (Michejev 2014) wird als samtener Nazismus (Marachovski 2015 - in Analogie zur „samtenen Revolution“ in Europa) bezeichnet; ihr Handeln in der sogenannten Antiterroristischen Operation (ATO), das mehr als sechstausend Menschenleben (v. a. in der Zivilbevölkerung) kostete, wird u. a. mit ethnischen Säuberungen (Radio „Echo Moskvy“ 2014) gleichgesetzt. Derartige Analogien häufen sich. Selbst die Neubildung ATO, die offizielle Bezeichnung der sogenannten Antiterroristischen Operation, ist ein Euphemismus, ein vorsätzlich zum Zwecke der lügenhaften Beschönigung gebildeter Neologismus, dessen Kern der abstrakte, negative Aspekte vermeidende Oberbegriff Operation statt militärischer Kampfeinsatz/ Angriff der ukrainischen Armee und <?page no="116"?> 108 Stalina Katajewa freiwilligen Bataillone bildete. Durch neutral wirkende Bezeichnungen (wie der neologistische Euphemismus Antiterroristische Operation und seine noch stärker verschleiernde Abbreviatur ATO) wird der Massenmord an der Zivilbevölkerung in den rebellischen Regionen der Ostukraine verdeckt; zugleich werden irreführende Nominationen legitimiert. Über Euphemismen als „bewährte Tricks der Meinungsmache“ bei der deutschen Berichterstattung über die Situation in der Ukraine und deren „recht einseitige Sicht der Dinge“ schreibt der bekannte Sprachkritiker Wolfgang Teubert (2014: 98-101). Er hält die mediale Darstellung der Wirklichkeit in der Ukraine für „(sprach)kritikwürdig“ und unterzieht die deutschen Mainstream-Medien hinsichtlich der Form und der Inhalte einer scharfen Kritik, besonders die „nicht immer um Objektivität bemühte ‚Tagesschau‘“ (27.04.2014), in der Militärspione in der Ostukraine zuerst irreführend als „neutrale“ OSZE-Beobachter bezeichnet und später durch den euphemistischen Ausdruck Military Verification Team ersetzt wurden (Teubert 2014: 99). Der englische Ausdruck Military Verification Team soll, so Teubert, „implizieren, dass man es hier mit Fachsprache zu tun hat, derer sich Experten bedienen, wenn es um Inhalte geht, die sich Laien nicht ohne weiteres erschließen und daher so, wie sie sind, akzeptiert werden müssen“ (Teubert 2014: 100). An diesem konkreten Beispiel wird gezeigt, wie die Fakten von den Medien verdreht bzw. durch einen fachlichen Anglizismus verschleiert und getarnt wurden. Teubert verschärft seine Medienkritik weiter, indem er am Beispiel der Ukraine beweist, dass der mediale „Diskurs kein Spiegelbild irgendeiner realen Wirklichkeit“ ist (Teubert 2014: 101). Er schreibt: Der mediale Diskurs, auf den die Bürger überwiegend angewiesen sind, ist speziell für sie geschaffen, während hinter verschlossenen Türen oft ganz andere Wirklichkeiten gelten. So sehen beispielsweise transnationale Konzerne wie Cargill und Monsanto die Ukraine als ein Einfallstor, durch das sie genmanipulierte Lebensmittel in ganz Europa zur Selbstverständlichkeit werden lassen können, 11 während wir Nachrichtenkonsumenten glauben sollen, dass in der Ukraine um die Einführung von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft nach westlichem Muster gerungen wird. (Teubert 2014: 105) Andererseits werden die Traditionen des Nazi-Vokabulars fortgesetzt, indem es durch neue Beispiele der nazitypischen pathologischen Metaphorik erweitert wird. So werden die Aufständischen in der Ostukraine, die zum Großteil Russen sind, die sich gegen die totale „Ukrainisierung“ erhoben haben, als Terroristen abgestempelt und mit Insekten (Kartoffelkäfern) gleichgesetzt. Die Kartoffelkäfer werden im Russischen auch „Coloradokäfer“ genannt (nach dem US-amerikanischen Bundesstaat, aus dem sie nach Russland eingeführt worden sind). Wegen ihrer gelben und schwarzen Streifen auf dem Rücken sehen sie den Georgiewski- 11 Vgl. http: / / www.orangejuiceblog.com/ 2014/ 04/ the-cargill-monsanto-ukraine-connection. <?page no="117"?> Weiterverwendungsproblematik von NS-Vokabular - interkulturell gesehen 109 Bändchen ähnlich, einem Siegessymbol des russischen Volkes im Zweiten Weltkrieg; diese Bändchen trägt man in Russland gerne am Tag des Sieges (9. Mai) als Erinnerungszeichen. Die Bezeichnung der ostukrainischen Rebellen als Schädlingsinsekten, die umgangssprachlich auf die Formel Kolorady („Koloraden“) (Kara-Murza 2014; Michejev 2014; Labina 2014) verkürzt wird, ist zum festen Bestandteil im Wortschatz der ukrainischen Rechtsextremisten geworden, was eindeutig an die Verachtung und Verfolgung der sogenannten „minderwertigen Menschen“ im Dritten Reich erinnert oder an ihre abschätzige Abstempelung als „Untermenschen“. Diese metaphorische Nomination, die abschätzig auf alle Menschen im ukrainischen Süd-Osten übertragen wird, wird sehr schnell nicht nur in den marginalen nationalistischen Kreisen der Ukraine verbreitet, sondern auch landesweit und in verschiedenen Medien (Presse, Hörfunk, Fernsehen, Internet). Dieser diffamierende, entmenschlichende Begriff wurde auch zynisch für die Opfer der Tragödie verwendet, die in Odessa am 2. Mai 2014 von dem nationalistischen „Rechten Sektor“ lebendig verbrannt wurden. Man sprach in rechtsextremistischen Kreisen schadenfroh und höhnisch von geräucherten Koloraden oder Schaschlyk im Mai (Dmitrova 2014). Dieser Massenmord in Odessa wird in den ukrainischen Medien verschwiegen, und das verbrecherische Handeln der Rechtsradikalen wurde bis heute nicht einmal offiziell verurteilt. Abfällig und herabwürdigend klingt auch die in dieser Zeit geschaffene Nomination Watnik (russisch: wattierte Jacke der einfachen Menschen auf dem Lande oder der Arbeiter) (Dmitrova 2014; Tretjakov 2014; Labina 2014), die abschätzig in Bezug auf Russen und Menschen aus den rebellierenden Gebieten der Ukraine verwendet wird und nahezu zu einem Schimpfwort geworden ist. In diesem Sinne dient auch das andere semantische Derivat „Watte“ als verallgemeinerte rassistische Bezeichnung für Russen und prorussische ostukrainische Aktivisten. Die semantische Umdeutung „Watte“ kommt in Kommentaren der ukrainischen Blogs vor, die über die im Mai 2014 lebendig verbrannten Menschen in Odessa zynisch schrieben: „wie gut die verbrannte Watte duftet“ (Baranova 2014). Diese durch die metonymische Übertragung entstandenen und im ukrainischen Konflikt oft gebrauchten abwertenden Bezeichnungen für die Einwohner der ostukrainischen Gebiete sind auch Beispiele für die Entwürdigung von Menschen, die für die nationalsozialistische Rassentheorie charakteristisch ist. Angesichts der erschreckenden Ereignisse in der Ukraine erweist sich die Bezeichnung des ukrainischen Machtwechsels 2014 als „Revolution der Würde“ als bitterer Hohn. Es sei betont, dass dieses Ereignis im Volksmund mancherorts längst als Oligarchenwechsel bezeichnet wird, was exemplarisch für die sprachpolitische Strategie der ideologierelevanten „Bezeichnungskonkurrenz“ steht. <?page no="118"?> 110 Stalina Katajewa Die genannten Begriffe sind nur einige besonders verbreitete Beispiele einer pathologischen Metaphorik, die zynisch die Nicht-Ukrainer und andere „Feinde“ entmenschlichen und zu Insekten (Koloraden) herabwürdigen oder Menschen durch erniedrigende Metonymien mit Gegenständen (etwa dem Kleidungsstück Watnik oder dem Material Watte) gleichsetzen. Die Untersuchung dieser negativ konnotierten Nominationen zeigt eindeutig Parallelen zum NS-typischen Sprachgebrauch. Diese wenigen Beispiele einer rechtsextremen Propaganda und eines inhumanen Sprachgebrauchs samt seiner sprachpolitischen manipulativen Strategien zeigen neue Modifikationen NS-spezifischen Vokabulars, die das klassische Wörterbuch des Unmenschen ergänzen können. Da über dieses neue und doch alte Vokabular die ideologische Aktualisierung neofaschistischer Ideologeme in der Gegenwart erfolgt, ist es umso wichtiger, auch unter veränderten politischen Bedingungen die bis in die Gegenwart reichende Kontinuität rassistischen Denkens und Sprechens zu fixieren, inhumane Sprach- und Denkmuster öffentlicher Kritik auszusetzen und die Sprache der Gegenwart kritisch zu hinterfragen, um einen erneuten Rückfall in die „braune Barbarei“ zu verhindern. 3 Literatur Sekundärliteratur Bachem, Rolf (1983): Rechtsradikale Sprechmuster der 80er Jahre. Eine Studie zum Sprachgebrauch der „harten NS-Gruppen“ und ihnen nahestehender Rechtsextremisten. In: Muttersprache 93. S. 59-81. Bauer, Dirk (1993): Das sprachliche Ost-West-Problem. Untersuchungen zur Sprache und Sprachwissenschaft in Deutschland seit 1945. Frankfurt am Main u. a. Bergsdorf, Wolfgang (1996): Wiedervereinigung der Sprache. Einige Bemerkungen zum politischen Sprachgebrauch in Deutschland. 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Jahrhundert in der heutigen Westukraine ereignet haben, darunter auch in der bukowinischen Region, hatten eine Stärkung der interethnischen Kontakte und eine gegenseitige Beeinflussung mehrerer Sprachsysteme zur Folge. Eine große Anzahl deutscher Entlehnungen als Ergebnis dieser Transferenz ist in der westukrainischen Varietät der Standardsprache 1 und in den Bukowiner Mundarten zu finden. Mit dem Einfluss des Deutschen auf das Ukrainische und der Entstehung der Verschiebungen interferenziellen Charakters in Kontaktsprachen am Beispiel der süd-westlichen Mundarten, v. a. in den Mundarten von Transkarpatien, haben 1 Gemeint ist die territoriale Varietät der ukrainischen Standardsprache, die sich als Gegensatz zur ostukrainischen Varietät der ukrainischen Standardsprache etablierte und die durch territoriale Teilung sowie durch die Zugehörigkeit der heutigen Ukraine zu unterschiedlichen Staaten im 17.-20. Jahrhundert bedingt wurde. Die literarischen Texte Bukowiner Schriftsteller des 19.-20. Jahrhunderts sind in der westukrainischen territorialen Varietät der ukrainischen Standardsprache geschrieben. Anhand dieser Texte werden die Kontaktphänomene belegt. <?page no="122"?> 114 Oksana Khrystenko sich bisher nur einige Forschungsarbeiten im ukrainischen Sprachraum beschäftigt (vgl. Melika 1993; Ko ergan 1997; Oguy 2013). Das Ziel dieses Beitrags ist die Betrachtung der wichtigsten historischen Voraussetzungen, die zur Entstehung und Entwicklung des interethnischen und intersprachlichen Kontaktes (vgl. Haarmann 1999: 782) in der Bukowina beigetragen haben, und der Besonderheiten der Integration von lexikalischen Transfers aus der mit den ukrainischen Sprachvarietäten kontaktierenden deutschen Sprache. Die möglichen Voraussetzungen für die Abschwächung der Verwendung von deutschen Entlehnungen in den geschriebenen Sprachvarietäten des Ukrainischen stehen auch im Fokus des Beitrags. Das Korpus der Untersuchung setzt sich aus insgesamt 5 Romanen, 38 Kleinprosawerken und 61 Gedichten ukrainischer Schriftsteller(inn)en der Bukowina des 19. bis 20. Jahrhunderts sowie 5 Internetzeitungen und 64 Threads aus Bukowiner Foren zusammen. Außerdem wurden sämtliche Germanismen aus dem Wörterbuch Bukowiner Mundarten untersucht. Aufgrund des Erschließens der lexikalischen Kontaktphänomene wurde ein Korpus aus 604 Lexemen, die einen unterschiedlichen Grad der Integration in die Sprachvarietäten des Ukrainischen erfahren haben, zusammengestellt. Für diesen Beitrag wurden die quantitative Methode sowie die Typisierung von lexikalisch-semantischen Transfers angewendet, für die Feststellung der Herkunft mancher Transfers wurden etymologische Wörterbücher herangezogen. Folgende Fragestellungen sind für den Beitrag relevant: 1. Welche außersprachlichen Faktoren haben die Entstehung der exoglossen Spachsituation vom 18. bis zum 20. Jahrhundert im Bukowiner Raum beeinflusst? 2. Welche wichtigsten Besonderheiten der Integration von Germanismen auf der phonetischen, lexikalisch-semantischen und morphologischen Ebene können nachverfolgt werden? 3. Kann man von der Dominanz eines bestimmten Transferenztyps in den Text- und Wörterbuchkorpora sprechen? 4. Welche Sachgruppen von Germanismen lassen sich in dem aus literarischen und medialen Texten sowie dem Wörterbuch bukowinischer Mundarten erschlossenen Korpus herausfiltern? 5. Bestehen quantitative Unterschiede im Auftreten von Germanismen, die sich aus dem Vergleich unterschiedlicher Korpora ergeben? <?page no="123"?> Lexikalisch-semantische Transferenzen in der bukowinischen Region 115 2 Die wichtigsten Voraussetzungen der Entstehung einer Sprachsituation in der Bukowina vom 18. bis zum 20. Jahrhundert Politische Veränderungen und der damit verbundene gesellschaftliche Wandel in der Bukowina vom 18. bis zum 20. Jahrhundert haben sich auch in der Änderung der Sprachsituation der Region niedergeschlagen. Die Stärkung des deutschukrainischen Sprachkontaktes kann durch folgende Faktoren erklärt werden: - historische Veränderungen, u. a. die Änderung der staatlichen Zugehörigkeit der Bukowina, die eine Zeit lang zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehört hat (1775-1918). Zuvor war die Region ein Teil des Fürstentums Moldau (ab 1359), der Kiewer Rus sowie des Königreichs Halitsch (im 9.-14. Jahrhundert); - politische Faktoren, die auf „die Verbesserung der Infrastruktur der bukowinischen Region zurückzuführen sind und das Einbeziehen der deutschsprachigen Bevölkerung zur Kolonisierung des Landes voraussetzten“ ( guy 2013a: 111). Eine entscheidende Rolle spielten dabei einige Patente nach 1780, die zur Besiedelung der Region durch Protestanten, Handwerker und Landwirte beigetragen haben (vgl. Scharr 2010: 182) 2 . Die Erteilung von einigen Patenten, wie z. B. das „Toleranzpatent für die niederösterreichischen Juden“ (1782), hat nach Meinung mancher Forscher „den Einzug von deutschsprachigen Juden in die Großstädte der Bukowina verursacht“ ( guy 2013a: 112), und „die Zahl der deutschsprachigen Familien stieg laut Angabe aus dem Jahr 1890 von 526 bis auf 15000“ an (Kostyšyn 1998: 8); - Veränderungen in der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung in der Bukowina. Während zur Zeit des Anschlusses an die Österreichisch- Ungarische Monarchie Ende des 18. Jahrhunderts der Anteil der Ukrainer 3 2 „Patent der Gestaltung der freyen Religions-Exercitii und die Begünstigungen für die hereinwandernden Ackerleute und Professionisten“ (17. September 1781) sowie das „Toleranzpatent für die Nichtkatholiken in Österreich“ (Linz, 13. Oktober 1781), durch das die Bekennungsfreiheit der Orthodoxen und Akatholiken garantiert wurde. Es wurde ihnen erlaubt „allenthalben, auch in den Provinzen, die sich selbst gegen das Josephinische Toleranzpatent abzuschließen wußten, Grund zu besitzen, Gewerbe zu treiben, jedwedes Amt zu bekleiden, vom niedrigsten bis zum höchsten […], sie können sich als kirchliche Gemeinde konstituieren, Kirchen, Schulen und Gottesdienste errichten“ (Schwarz 1985: 126). 3 Es muss erwähnt werden, dass die Bezeichnung „Ukrainer“ das Ethnonym „Ruthenen“ erst im 20. Jahrhundert allmählich verdrängt hat. Bis zum 20. Jahrhundert nannte sich „die ukrainische Bevölkerung in Galizien und in der Bukowina Ruthenen“ (Kožolianko 2013: 317). <?page no="124"?> 116 Oksana Khrystenko in der Region noch 54-58 % betragen hatte, verringerte sich deren Anteil laut Volkszählung von 1910 auf nur noch 38,4 % von der Gesamtbevölkerung. Den Rest der Bevölkerung machten Rumänen (34,4 %), Juden (12,9 %) und Deutsche (8,3 %) aus (vgl. German 2008: 10); - Veränderungen in der staatlichen Sprachpolitik. Für die Bukowina waren „sowohl Endoals auch Exoglossie […] und Hierarchie der Verwendungsbereiche der vorhandenen Sprachen kennzeichnend“ (Oguy 2013 : 110). Im untersuchten Zeitraum waren in der Bukowina solche Hauptsprachen wie Ruthenisch (Ukrainisch), Rumänisch, Deutsch, Polnisch und Jiddisch präsent, wobei sich die deutsche Sprache „als Staatssprache und dabei als Sprache einer nationalen Minderheit nach der Annexion der Bukowina durch Österreich bestätigte“ (Oguy 2013b: 46). Die deutsche Sprache war in der Region in einigen Varietäten vertreten - als „Buchenländisch oder Verkehrsdeutsch des Marktes, als literarische Amtssprache und als lokale Umgangssprache von rheinfränkischen Schwaben, Gründler Zipsern und bairischen Böhmerwäldern“ (Oguy 2013b: 46). Die erwähnten Varietäten des Deutschen beeinflussten die westukrainische Varietät der Standardsprache sowie die archaischen ukrainischen Mundarten (Bukowiner Mundarten), was die „Interferenzen 4 in den Äußerungen des zweisprachigen Sprechers sowie die Interferenzerscheinungen in der Sprache (phonetische, grammatische, semantische und stilistische Integration der fremden Elemente), die zur festen Gewohnheit wurden“ (Weinreich 1976: 28), zur Folge hatte. Die Einführung des Polnischen sowie des Deutschen als Pflichtsprachen für die Verwendung in den Bildungsinstitutionen nach der Vereinigung der Bukowina und Galiziens (1787) hat dazu geführt, dass die exoglosse Sprachsituation immer unausgeglichener wurde (Oguy 2013 : 112). So wurde in der Zeitung Bukowina vom 15. Februar 1885, die vor allem auf ukrainische Leser(inn)en zugeschnitten war, das Verdrängen des Ukrainischen aus Volksschulen beklagt: ô , ô ô […] 3 , 5 ô , - (Bukowina 1885: 1) 6 . 4 In diesem Beitrag wird weiterhin der Terminus „Transferenz“, „deren Einzelfälle Transfers sind“ (Clyne 1991: 160), verwendet. Die negative Semantik des Terminus „Interferenz“ (vgl. Riehl 2004: 28) und dessen Bezug „auf die Verletzung der Norm in einer einsprachigen Diskursgemeinschaft“ (Földes 2005: 75) wurden in der Forschung mehrfach kritisiert. 5 Das Adjektiv „ “ (ruthenisch) wird zur Bezeichnung der ruthenischen oder altukrainischen Sprache verwendet. 6 Übersetzung: „Die ganze Wissenschaft wird auf Deutsch unterrichtet, wobei die Mehrheit das gar nicht braucht; wenn es 3 qualifizierte Professoren für Deutsch und <?page no="125"?> Lexikalisch-semantische Transferenzen in der bukowinischen Region 117 Ende des 19. Jahrhunderts wurde „der Gebrauch des Ukrainischen in Kreisen der Bukowiner Intelligenz immer regelmäßiger“ (Tka 2008: 11), eine Entwicklung, die durch schriftstellerische Tätigkeit, durch die Verbreitung der lokalen Presse sowie durch Ethnokonsolidierung bedingt wurde. 3 Lexikalische Transfers und ihre Integration in die Sprachvarietäten des Ukrainischen Ein hoher Anteil von Entlehnungen, deren Vorbilder der deutschen Sprache entstammen, ist in den Texten Bukowiner Schriftsteller aus dem 19.-20. Jahrhundert zu finden. Dass sich mancher Bukowiner Schriftsteller seine unzureichende ukrainische Sprachkompetenz eingesteht, zeigt, wie sich die damalige Sprachsituation gestaltet hat: , - , , , - [es ist mein wunder Punkt] (Kobyljanska 1963: 269) 7 . Aus den literarischen Werken Bukowiner Schriftsteller wurden 286 Germanismen erschlossen. Der Anteil von Transfers, die aus dem Wörterbuch bukowinischer Mundarten ausgewählt wurden, betrug 2,4 % (287 Transfers von insgesamt 11 816 Einheiten). Aufgrund der Klassifikation der lexikalisch-semantischen Transferenzen (Duckworth 1977; Betz 1974; Krysin 2002; Földes 2005; 2007) werden die ausgewählten Transfers wie folgt eingeteilt: Die direkten Übernahmen, „d. h. der unmittelbare Transfer einer Phonemreihe samt Bedeutung aus einer Sprache in die andere“ (Földes 2007: 8). Die direkten Übernahmen machen die Mehrheit im Korpus aller erschlossenen Transferenzen aus: 82 % oder 243 Lexeme in literarischen Texten und sogar 95 % oder 272 Germanismen im Wörterbuchkorpus kann man zu den direkten Transfers rechnen. Wenn man über direkte Übernahmen spricht, muss man auch den Grad ihrer Integration in die Sprachvarietäten des Ukrainischen berücksichtigen. Rumänisch gibt, gibt es für die ruthenische Sprache nur einen Professor, und außer ihm lehren Ruthenisch die Verräter - Rumänen“. [Diese und auch die weiteren Übersetzungen im vorliegenden Beitrag stammen von O. Khrystenko.] 7 Übersetzung: „Die Geschichte ist fast fertig, aber ich wollte noch meine Sprache korrigieren lassen, weil, wie ich Ihnen schon geschrieben habe, es mein wunder Punkt ist, dass ich die ruthenische Sprache nicht gut genug beherrsche.“ <?page no="126"?> 118 Oksana Khrystenko 3.1 Integration der direkten Transfers Die Integration von Transfers in die integrierende Sprache geschieht nach phonetisch-phonologischen, morphologischen und graphischen Kriterien. Die phonetische Integration hat ihre „Realisation von Fremdphonemen primär der Imitation, der Orientierung an den Quellsprachen zu verdanken“ (Munske 1988: 52). Die phonetische Integration von lexikalischen Transfers in die westukrainische Varietät der Standardsprache und in die Bukowiner Mundarten, soweit es sich aus geschriebenen Quellen erkennen lässt, ist mit einigen wichtigen Prozessen verbunden: 1. Es fehlt die progressive Kontaktassimilation, wie sie dem Mittelhochdeutschen eigen ist: z. B. Zimber (vgl. mhd. zimber, statt: Zimmer ; in bukowinischen Mundarten: ): ! - , [Sie lügen mich an! - schrie ich ins Wachzimber laufend] (Fed’kovy 2009: 222). [Unser Haus mit drei Zimbern] (Gujvaniuk 2005: 624). 2. Die deutschen Vokale [y] - ü, [ø] - ö werden mit entsprechender Delabialisierung durch Vokale der vorderen Reihe [i] und [e] in der westukrainischen Varietät der Standardsprache substituiert Die Delabialisierung und Substitution mancher Vokale der hinteren Reihe [u] - u durch Vokale der vorderen Reihe [i]: die Möwe [mø: v ] - , der Förster [ fœrst ] - / , die Fuhre [ fu r ] - : [ich war gestern bei Frau Försterin], (Kobyljanska 1963: 95). [wie weiße Möwen flatterten die Gedanken] (Kobyljanska 1988: 112). , [eine große Fuhre war vollgestopft mit unseren Menschen] (Kobyljanska 1988: 499). - [unser Förster ist ein guter Mann] (Gujvaniuk 2005: 587). 3. Die reduzierten Vokale in unbetonten Positionen am Ende der Silbe werden in der integrierenden Sprache oft weggelassen, was auch graphisch realisiert wird: das Gewehr [ ve ] - / r . Das geschieht allerdings nicht in allen Fällen. Die Artikulation des unbetonten kurzen e „unterscheidet sich entsprechend den qualitativen Eigenschaften der dann folgenden betonten Vokale“ (Steriopolo 2004: 112); je nachdem, ob der nächste Vokal geschlossen oder offen ist, wird der Artikulationscharakter des Vokals Schwa [ ] geändert. Der Zentralvokal [ ], welcher vor den Silben mit offenen Vokalen im Deutschen wie z. B. [ ] steht, wird denen in der Aussprache ähnlich. In diesem Fall kommt in den Nehmervarietäten das graphische Weglassen [ ] in der Regel nicht vor - Geschäft [ ft] - : , [Der Sohn würde 3 Jahre arbeiten, statt Gewehre zu putzen] ( obyljanska 1988: 563). , , [Meiner Meinung nach könnte unser Leben Kunst sein, es wird aber zum Geschäft] ( obyljanska 1963: 119). <?page no="127"?> Lexikalisch-semantische Transferenzen in der bukowinischen Region 119 4. Der Diphthong eu [ ] wird in der Regel in der deutschen Sprache durch die Lautverbindung (Kreuzer [k ts ] - ) wiedergegeben, der Diphthong au [a ] wird durch den Laut „ “ ersetzt, wobei ei [a ] durch die Lautverbindung wiedergegeben wird: Gefreiter [ f a t ] - , Wachtmeister [ va t ma st ] - , Hauptplatz [ha pt] - , fein [fa n] - , [niemand war so wie der Gefreite Tewtun] (Fed’kovy 2009: 250). , [… er wurde vom Hauptplatz magisch angezogen] ( obyljanska 1988: 29). , [In Zastavnia gibt es einen Arzt, der die Zähne fein behandelt] (Gujvaniuk 2005: 576). 5. Dem lateralen „l“ der deutschen Sprache entsprechen im Ukrainischen der harte Konsonant [ ] vor manchen Vokalen ( , , , , ), im Wortauslaut sowie vor Konsonanten und das weiche [ ' ]. Vorwiegend wird in den analysierten Sprachvarietäten das laterale [l] durch palatales [ ' ] wiedergegeben. Graphisch wird die Palatalität des Konsonanten in der Verbindung Weichheitszeichen + o „ “ oder mittels dessen Verbindung mit Buchstaben , , realisiert: [ á ' ] - Mantel [ mantl], [ ' ] - Luft [ l ft], Urlaub [ u la p ] - [ ' ]: 2 [Ich bitte Herrn Kapitän wenigstens um 2 Monate Urlaub] (Fed’kovy 2009: 233). , [Du gehst wie ein Urlauber] (Gujvaniuk 2005: 570). Die Akkomodation nach der Lippenstellung im Deutschen, die in Form von leichter Labialität eines Konsonanten vor dem gerundeten Vokal entsteht, wird in der Zielsprache durch die Verbindung Weichheitszeichen + o „ “ wiedergegeben: Los [lo: s]- [ 'oc]: , ’ [So ist mein Los, dass ich fünf Kinder hatte, und alle sind weggezogen] (Gujvaniuk 2005: 271). 6. Typisch bei der Integration der Germanismen in die Zielsprache ist die Prothese oder das Anfügen eines zusätzlichen nichtethymologischen Lautes am Wortanfang zur Erleichterung der Aussprache (Arrest : [ich wurde in den Arrest geführt]), (Fed’kovy 2009: 233) sowie die Epenthese (Schanz ) und die Metathese (der Absatz [apzats] ). Die Elidierung, die in der mündlichen Rede im Deutschen sehr oft vorkommt, wird in einigen Entlehnungen in der westukrainischen Varietät graphisch realisiert (vgl. Kamerad [ kam a t ] ): , , [Die Grille, die hier hervorgekrochen war, ist mein einziger Kamerad] (Kobyljanska 1988: 596). 7. Der unbetonte Murmellaut am Ende des Wortes ([ ]) wird in der westukrainischen geschriebenen Varietät der Literatursprache oft durch „ “ [a] ersetzt: Bude [ bu d ] - [ ], Rate - , Möwe - . <?page no="128"?> 120 Oksana Khrystenko Die phonetische Integration der Germanismen in Bezug auf die Konsonanten umfasst einige wichtige Prozesse. 8. So geschieht die Wiedergabe des palatalen frikativen [ç] und des uvularen frikativen [ ] durch den frikativen Hinterzungen-Laut [ ], weil die im Deutschen vorhandenen koartikulatorischen Allophone im Ukrainischen nicht existieren: Randtuch - (Mel'ny uk 2006: 26), Stich - : , , [vgl. Rote Stiefel, Randtuchhemd und Perlen am Hals] (Fed’kovy 2009: 173). 9. Die deutschen Phoneme [g] und [h] werden entsprechend durch ukrainische plosive [ ] und frikative [ ] wiedergegeben, im Schriftbild durch die Buchstaben : Kurhaus - , Agraffe - / , andel - , fnhd. heften - 8 : , [sich über der Stecharbeit krumm machen], ( obyljanska 2008: 253). , [Kommen Sie in den Park nicht weit vom Kurhaus] ( obyljanska 1963: 213). 10. Die Wiedergabe der Affrikata [pf] in der westukrainischen geschriebenen Varietät sowie in bukowinischen Mundarten erfolgt durch den aus dem Griechischen entlehnten Konsonantenlaut [ ]: pf (pfänden , Pfennig ), die Affrikata z [ts] wird in der Nehmersprache durch [ ]/ seltener durch [ ] wiedergegeben: Schanz - , Spenzer - , Zeiger - : , ’ , [Ich war noch klein, aber erinnere mich daran, wie es bei uns damals für irgendwelche unbezahlten Steuern gepfändet wurde] (Gujvaniuk 2005: 580). 11. Die Substitution der Laute d , g am Ende des Wortes/ der Silbe erfolgt in den analysierten Sprachvarietäten wegen der vorhandenen Auslautverhärtung im Deutschen (Anzug / , Abschied - ): [Er hat seinen Militärabschied herausgenommen und allen gezeigt] ( obyljanska 1988: 52). 12. Der wortfinale velare Nasal [ ], bei dem die Auslautverhärtung [k] statt [ ] (vgl. Fery 2016: 184) eintreten kann, wird in den Mundarten und in der westukrainischen Varietät der Standardsprache meist durch [ ] wiedergegeben wie in Ablösung . 8 Ukr. ( ) wird mit dem fnhd. heften und dem ahd. haft in Verbindung gebracht (Mel’ny uk Bd. 1. 1982: 469). <?page no="129"?> Lexikalisch-semantische Transferenzen in der bukowinischen Region 121 Die morphologische Integration der Germanismen in die Nehmervarietäten hängt z. T. von ihrer Wortart ab. Anhand der Endungsform im Ukrainischen werden die Substantive dem Genus zugeordnet. So werden die auf Konsonanten endenden Substantive auch in den schriftlichen Varietäten in der Regel dem Maskulinum zugeordnet, die Nomen auf - oder dem Neutrum, die Substantive auf dem Femininum. Das semantische Kriterium wirkt auch, wenn das grammatische Geschlecht der entlehnten Substantive nach der Analogie den bereits existierenden Entsprechungen in der ukrainischen Standardsprache zugeschrieben wird. Am häufigsten kommt diese Änderung des grammatischen Geschlechts bei der Entlehnung der Neutra aus dem Deutschen vor, weil in der Standardsprache bereits die femininen oder maskulinen Entsprechungen existieren (n Los [Maskulinum] , n Zimmer [Femininum] , n Zeichen [Femininum] ). Die entlehnten Verben werden mittels Annahme der ukrainischen verbalen Flexion integriert (-en - , selten: - / : treffen , melden , konsumieren , irritieren ; rn wird im Ukrainischen durch wiedergegeben: füttern ; -eln durch - : handeln ): - ? [Du fütterst das Pferd, singst nicht? ] (Fed’kovy 2009: 47). Das Hinzufügen der ukrainischen Vorsilben -, - (melden - , mustern - ) zu den entlehnten Infinitiven dient dem Ausdruck des Aspekts der Vollendung. Es sind die Verben, die eine vollendete Handlung in der Vergangenheit oder eine Handlung mit Hinweis auf ihre Vollendung in der Zukunft bezeichnen: , , ? [es wird von mir gemeldet, dass nach dem Arzt geschickt wird? ](Fed’kovy 2009: 128). Die Integration der Adjektive geschieht mittels Anfügen der Endung - , die für die ukrainische Standardsprache typisch ist: rustikal - , fein - , blechern - . Die Integration der deutschen Entlehnungen auf der lexikalisch-semantischen Ebene schließt folgende Erscheinungen ein: - Entlehnung eines Lexems nur in einer Bedeutung (Bedeutungsverengung), wobei die Entsprechung im Deutschen polysem sein kann. So weist das Lexem „Absatz“ in bukowinischen Mundarten nur eine Bedeutung auf: - Teil einer Schuhsohle; Koffer; - vollschlanke Frau. - Weitere Bedeutungsverengung in der westukrainischen Varietät der Literatursprache, obwohl anfangs die Entlehnung dieselbe Bedeutung wie im <?page no="130"?> 122 Oksana Khrystenko Deutschen aufwies. Als Beispiel für die Bedeutungsverengung dieser Art kann man dementsprechend das Lexem Trunk anführen. In den Werken der Bukowiner Schriftsteller wird das Wort noch in der Bedeutung „Getränk“ 9 verwendet, in späteren Quellen hat es hingegen die Bedeutung „giftige Flüssigkeit/ vergiftetes Getränk“. - Bedeutungsumkehr, die nur im Korpus der Germanismen im Wörterbuch der bukowinischen Mundarten zu finden ist (28 Lexeme oder 9,7 %). In dem Fall wird das Wort in der Nehmersprache in der Bedeutung verwendet, die in der Quellsprache nicht existiert, z. B.: Brauerei ukr. „ “ - (Zoff), Spiegel ukr. „ “ - (Karpfen). 3.2 Einige Besonderheiten der Entlehnung von deutschen Komposita in die Nehmervarietäten des Ukrainischen Die Determinativkomposita in ukrainischen literarischen Werken der Bukowina werden oft mittels der Verbindung „Adjektiv + Substantiv“ wiedergegeben. In diesem Fall wird das Grundwort, das unmittelbar transferiert wird, durch das Substantiv und das Bestimmungswort (in der Regel Kalkierung) durch das Adjektiv ersetzt: - Herzattacke; - Fensterscheibe; - Militärabschied; - Schönliteratur: [Die große Fliege prallte gegen die Fensterscheibe] ( obyljanska 2008: 89). [Sie war bei ihm, als er eine Herzattacke bekam]( obyljanska 1988: 541). , , , [Es war ein feierlicher Moment, als er seinen Militärabschied herausnahm] ( obyljanska 2008: 63). [Von der Schönliteratur gefielen ihm manche polnischen Schriftsteller] ( byljanska 2008: 201). Bei manchen endozentrischen Determinativkomposita wird das Grundwort übersetzt, z. B. vgl. Staatsprüfungen: [Nestor hatte seine Staatsprüfungen schon abgelegt und war ein junger Angestellter] (Kobyljanska 1963: 110). Die hybriden Komposita mit einer „gemischten Morphemstruktur“ (Földes 2005: 116) sind nur im erschlossenen Korpus der Germanismen aus lexikographischen Quellen anzutreffen (3,2 %). Hierbei stellt das Grundwort eine direkte Übernahme aus dem Deutschen dar, und das Bestimmungswort ist ein Lexem 9 „ [Alle sind nach dem Trunk fest eingeschlafen], “ (Kobyljanska 1988: 288). <?page no="131"?> Lexikalisch-semantische Transferenzen in der bukowinischen Region 123 aus dem Moldauischen/ Rumänischen, der ukrainischen Standardsprache oder der dialektalen Varietät, z. B.: „ “ Grenzherr m [‚derjenige herr, welcher die gränze eines landes oder gebiethes besitzet‘] (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm http: / / woerterbuchnetz.de/ cgi-bin/ WBNetz. [28.05.2017]; Mold. „ “ [Grenze] + Herr). In bukowinischen Mundarten sind auch Mischkomposita anzutreffen, bei denen die Nachbildung des im Deutschen existierenden Modells nicht vorliegt: das 2. Glied ist die direkte Übernahme aus dem Deutschen „Tasche“, wobei das erste Glied dieser Wortzusammensetzung slawischer Herkunft ist: „ “ (selbst) Rolltasche; Schlitten; vgl. „ “ (taub) und „Mann“. 3.3 Transferenzildungen 10 3.3.1 Übersetzungstransferenzen Die Übersetzungstransferenz (Lehnübersetzung) als „genaue (morphologische) Nachbildung des fremden Vorbildes Element für Element“ (Weinreich 1976: 73) mittels Glied-für-Glied-Übersetzung (vgl. Betz 1974: 136) ist vorwiegend in den Werken Bukowiner Schriftsteller des 19. bis 20. Jahrhunderts (14,3 %) vertreten und nur vereinzelt in Bukowiner Mundarten zu finden - vgl. hablich/ wohlhabend , Eins , abziehen , Sechsling , Steher : K - … ( ’ ), [als wir aus … (der Name der Gegend ist mir entfallen) abziehen mussten, blieb ich in der Schanze] ( byljanska 1988: 597). [der Zigeuner wird zwei Sechslinge bestimmt nicht zurücklassen] ( byljanska 1988: 516). , [Und die Eins hat auch ihre gute Seiten, wenn ein reiches Väterchen sie im Zeugnis seines Sohnes sehen will] ( obyljanska 2008: 11). Infolge der Übersetzungstransferenz werden einige im Deutschen vorhandene Determinativkomposita im Ukrainischen nachgebildet. In diesem Fall werden sie mittels der Konstruktion Adjektiv + Substantiv wiedergegeben, die dem Bestimmungs- und Grundwort eines Lexems in der Quellsprache entsprechen: - Zugehfrau; - Herzschlag; - Muttersprache: 10 Die im Beitrag verwendete Terminologie zu den einzelnen Transferenz-Bildungen (Übersetzungs-, Bedeutungs-, Übertragungstransferenzen, Transferenz-Schöpfungen) stammt von Földes (2005: 122 ff.). <?page no="132"?> 124 Oksana Khrystenko , [der Arzt trat an ihr Bett heran, wie sie den Herzschlag bekam] ( byljanska 1988: 555). , , […] [die Zugehfrau, die uns bediente, hat uns die Eintrittskarte gegeben] ( byljanska 1988: 529). - , [Die Diskussion haben wir in Englisch angefangen, aber in der Muttersprache beendet] ( byljanska 1988: 532). 3.3.2 Übertragungstransferenzen Übertragungstransferenz (Lehnübertragung), auch „ - “ (Bychovetz 1989: 82) genannt, stellen eine „freiere Teilübertragung“ (Betz 1974: 136) dar, in der es sich um eine freiere Nachbildungsart handelt. Leider sind die Transferenzen dieser Art in den Texten der Bukowiner Schriftsteller nur spärlich (2 %) vertreten. Bei dieser Art des lexikalischen Transfers wird nur ein „allgemein r Anhalt für die Nachbildung“ (Weinreich 1976: 73) dargestellt, und die Wiedergabe der Semantik in einem der Bestandteile eines zusammengesetzten Wortes oder in einem Halbaffix in einer Wortbildung ist nicht exakt: Oberförster , Oberlehrer (statt: „ / “): [drei Jahre lang wohnt neben uns ein reicher Oberförster mit seiner Tochter] ( byljansk 2008: 24). 3.3.3 Transferenz-Schöpfungen Transferenz-Schöpfung (Lehnschöpfung) ist die mehrdeutigste Kategorie von allen Transferenzarten, deren Zugehörigkeit zu den Transfers allerdings bezweifelt wird. Nach Höfler liegt bei Lehnschöpfungen „die Übernahme eines begrifflichen Inhalts aus einem fremden Kultur- oder Sprachkreis [vor], doch fehlt dabei die sprachliche Bindung an einzelsprachliche Moneme, wie sie etwa Voraussetzung für Lehnübersetzung oder auch Lehnbedeutung ist“ (Höfler 1971: 64). Trotzdem wird diese Art der Transferenz von den meisten Forschern von anderen Transferenzarten unterschieden und als „die vor dem Vorbild formal unabhängige Neubildung […], nachahmende Neuschaffung von Semantem 11 in der eigenen Sprache“ (Betz 1974: 136) definiert. Zu den einzelnen Transferenzschöpfungen kann man folgende Beispiele rechnen: „ “ (vgl. dt. Thermometer), ein Kompositum, dessen Komponenten „recht indirekt der Vorlage entsprechen“ (Földes 2005: 124) - „ “ (Wärme) und „ “ (Messer) von „ “ : „ , ? “ [Mit welchen Augen würden Sie mich sehen, 11 Ein Semantem ist der Bestand von Sememen eines Lexems (Sternin/ Salomatina 2011: 4). <?page no="133"?> Lexikalisch-semantische Transferenzen in der bukowinischen Region 125 wenn das Thermometer (der Wärmemesser) meine normale Temperatur verrät? ] (Wilde 1990: 250). 3.3.4 Lehnbedeutungen Ebenfalls nicht sehr zahlreich sind Bedeutungstransferenzen (Lehnbedeutungen), die „die Änderung der Bedeutung eines in der integrierenden Sprache vorhandenen Lexems unter dem Einfluss eines fremden Lexems darstellen“ (Žluktenko 1974: 158). Als Beispiel kann man folgende Bedeutungsveränderungen nennen „ “ ( , ), die in den Texten der Bukowiner Schriftsteller mit der Bedeutung „Veranstaltung/ Beisammensein“ (dt. Musikabend; bunter Abend) verwendet wird. Das im Ukrainischen vorhandene Wort „ “ (altslawisches Wort „ “) bedeutete anfangs nur „hinterer Tagesabschnitt“ (vielleicht aus dem altindischen *ue- „herunter“ *kara- „Sonnenstrahl“ [Mel’ny uk Bd. 1. 1982: 366]): „ “ [An diesem Abend habe ich jenen Mann gesehen] (Kobyljanska 2008: 211). In den Werken der schönen Literatur sind die phraseologischen und grammatischen Transferenzen häufig anzutreffen, die einer besonderen Erforschung bedürfen und von der Intensität der Sprachkontakte des Deutschen und Ukrainischen im 18. bis 20. Jahrhundert zeugen. Zu Letzteren gehört bspw. die Übernahme der Rektion des deutschen Verbes in die ukrainische Sprache: gratulieren D. zu D. - Dat. (vgl. ukr. + Akk.) - „ “ [ich danke Ihnen für alle Neuigkeiten und gratuliere Ihnen] ( byljanska 2008: 291). Dasselbe betrifft manche Kollokationen, die eine Ergänzung verlangen, welche mit einer Präposition (z. B. „auf“) angeschlossen wird: Wert legen auf Akk. - ( , ! [Darauf legen Sie aber Wert, Frau Professorin! ] ( byljanska 2008: 31). 4 Sachgruppen von Germanismen Im Vergleich zu dem Korpus der Germanismen, die aus den literarischen Texten erschlossen wurden, unterscheidet sich das Germanismenkorpus in den Bukowiner Mundarten in folgenden Punkten: - Es gibt einen quantitativen Unterschied in der Zahl der erschlossenen Germanismen - 287 Germanismen im Wörterbuch Bukowiner Mundarten gegen 296 Lexeme, die aus den Literaturtexten ausgewählt wurden. Dabei haben sich 69 Einheiten in beiden Korpora wiederholt. <?page no="134"?> 126 Oksana Khrystenko - Es gibt Unterschiede in den lexikalischen Sachgruppen. Die Entlehnungen aus dem Deutschen, die aus dem Wörterbuch Bukowiner Mundarten ausgewählt wurden, kann man grob auf folgende Sachgruppen verteilen: Sachgruppen Items Beispiele Haushaltsgegenstände und Werkzeuge 42 (14,6 %) (Bratpfanne), (Bratrohr), (Hartmeißel), (Krummzange) Arbeitswelt (v. a.Tätigkeiten in der Landwirtschaft) 31 (10,8 %) (Weizen), (schaben), (schweißen) Kleidung und Accessoires 26 (9 %) a (Tasche), (Fleituch), (Absatz), (Randtuch) Gebäude und ihre Umgebung, Bauteile und Baustoffe 23 (8 %) (Hof), (Winkel), (Stock) Berufe und Tätigkeiten 17 (5,9 %) (Geschäft), (Grenzherr), (Zeiger+ eister) Sauberkeit, Pünktlichkeit und Ordnung 17 (5,9 %) (Glanz), (Macht), (putzen) Handel und Finanzen 13 (4,5 %) (handeln), , (pfänden) Etikette und Abstrakta 10 (3,4 %) (gratulieren), , (Alarm) motionale Sphäre und Bewertungen 10 (3,4 %) - (Mieze), (fein), ( Brauerei ) Menschliche Fähigkeiten und Charakteristiken 9 (3,1 %) (Mann), (Koffer), (machen) Militärbereich 9 (3,1 %) r (Gewehr), (Kanone), (Zirkel), (Kaserne) Medizin und Anatomie 6 (2 %) (Grad), (Bruch) Freundschaft und Familie 6 (2 %) (Schwager), (Familie), , (Kamerad) Bildung 4 (1,4 %) (Zwei), (studieren) Verkehrsmitel 4 (1,4 %) (Fuhre), (Zug), (Schiff) Betrug und Unehrlichkeit 4 (1,4 %) , (machen) Monatsnamen 4 (1,4 %) (November), (Februar) Gerichte 4 (1,4 %) (Plätzchen), (Strudel) Rechtswesen und amtliche Dokumente 3 (1 %) p (Recht), (Papierschein) Magie 3 (1 %) (fabelhaft) Sport 3 (1 %) (Ski), (rodeln) Anderes 24 (8,3 %) (Vorrat), (fest) usw. <?page no="135"?> Lexikalisch-semantische Transferenzen in der bukowinischen Region 127 Es muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass einige Sachgruppen zur Bezeichnung von Elektroinstrumenten, Verkehrsmitteln, Monatsnamen, Bauteilen, Kücheninventar und manchen Berufen in dem Korpus der aus Literaturtexten erschlossenen Germanismen nicht vorhanden sind. Stattdessen sind dort folgende Sachgruppen zu finden: Militärbereich - (55 Lexeme) 18,9 %, Kleidung und Accessoires - 6,3 %, Finanzen und Handlungen, die mit der Sparsamkeit verbunden sind - 5,4 %, Hausarbeit und Landwirtschaft - 12,4 %. Spärlich vertreten waren die Gruppen zur Bezeichnung von Innenaustattung und Haushaltsgegenständen - 4,5 %, Bildungsbereich - 3,4 %, Familienbeziehungen und freundschaftliche Verhältnisse - 3,4 %. Nicht mehr als je 3 % betrugen folgende Gruppen wie z. B. Beruf, Aussehen, Brautwerbung, Redeverhalten, Medizin usw. In jüngerer Zeit ist die Gebrauchsfrequenz der Entlehnungen mit einem deutschen Etymon viel geringer geworden. So hat das Korpus der aus Bukowiner Foren, Online-Zeitungen und regionaler Presse erschlossenen Germanismen nur 21 Einheiten enthalten, was auf das relativ junge Alter der Kommunikationsbeteiligten im Internet zurückzuführen ist. Die Germanismen zur Bezeichnung von verschiedenen Handlungen und Tätigkeiten (Bewegungen, soziale Verhaltensweisen) waren in Medientexten am zahlreichsten ( , , , , ), weniger zahlreich waren die Gruppen „Bauten und Haushaltsgegenstände“ ( , , , ), „Bildung“ ( ; ), „Gerichte“ ( , ), „Landschaften“ ( ). Vorhanden waren auch einzelne kommunikative Phraseologismen deutscher Herkunft: „B , “ = vgl. Der Schlag soll dich treffen! (http: / / www. chas.cv.ua [5.5.2017]). Die Verringerung der Zahl deutscher Entlehnungen ist die Folge des Schwunds vieler im vorigen Jahrhundert noch aktueller Gegenstands- und Objektbezeichnungen, was wiederum mit dem Schwund ihrer Denotate (z. B. , , , ) zu erklären ist. Die Archaisierung und regionale Beschränktheit mancher Bezeichnungen ist mit den Veränderungen der Sprachsituation und der nachlassenden Intensivität der entsprechenden Kontakte erklärbar. Nach der Volkszählung 1989 betrug der Anteil der Deutschen nur noch 0,04 % der Gesamtbevölkerung in der Region (395 Menschen). <?page no="136"?> 128 Oksana Khrystenko 5 Fazit Im lexikalischen Bestand der Bukowiner Region kann man infolge des langen Einflusses der deutschen Sprache und interethnischer Kontakte manche Veränderungen feststellen. Aus dem Vergleich der unterschiedlichen Korpora ergeben sich folgende Unterschiede: - qualitative Unterschiede in den Sachgruppen von Germanismen, aus denen die Verknüpfungen mit der damaligen Realität hergestellt werden können. Während in den Literaturwerken die meisten Lexeme einen Bezug zum oft von Schriftstellern kritisierten Heereswesen haben, dominieren in den Bukowiner Mundarten Sachgruppen, die Bezeichnungen des sozialbedingten Gebrauchs beinhalten; - quantitative Unterschiede im Auftreten von Germanismen in den analysierten Korpora, die einen unterschiedlichen Grad der Integration in die Nehmervarietäten erfuhren. Obwohl die direkten Übernahmen die Mehrheit aller erschlossenen Transferenzen in allen Korpora ausmachten, gab es in den Werken der Literatur auch Beispiele für Transferenz-Bildungen. In den Bukowiner Mundarten waren schließlich auch Lexeme vorhanden, die Bedeutungsänderungen im Vergleich zu den deutschen Entsprechungen erfuhren. Die oben genannten Sprachkontaktphänomene, die aus dem Deutschen - auch als Teil der deutschen Kultur - ins Ukrainische gelangten, können für kulturwissenschaftlich-linguistische Untersuchungen relevant sein. Auch wenn die „Forschungsmotivation der Kulturlinguistik primär nicht aus kulturellen Kontaktphänomenen kommt, könnten die Untersuchungen zu Kultur-, Kommunikations- und Sprachkontaktphänomenen daran anschließen“ (Kuße 2011: 119). 6 Literatur Sekundärliteratur Betz, Werner (1974): Lehnwörter und Lehnprägungen im Vor- und Frühdeutschen. In: Maurer, Friedrich/ Rupp, Heinz (Hrsg.): Deutsche Wortgeschichte. Bd. 1. Berlin/ New York. S. 135-164. 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Der aktuelle Flüchtlingsstrom heißt jedoch nicht nur die Ankunft bzw. die Aufnahme von großen Menschenmassen, sondern auch die Auseinandersetzung mit anderen Sprachen, Kulturen und Mentalitäten. Diese Frage zeichnet sich daher als zentraler Gegenstand des öffentlichen Diskurses u. a. in Deutschland und Ungarn ab, der im vorliegenden Beitrag in Bezug auf die lexikalische Ebene untersucht wird. Es werden anhand einer kontrastiven Korpusanalyse jene Leitbegriffe ermittelt und erklärt, die den öffentlichen Sprachgebrauch dominieren und Einstellungen bzw. Mentalitäten im jeweiligen Diskursraum ausdrücken. 1 Einleitung Die Einwanderung stellt spätestens seit der Nachkriegszeit insbesondere für die hochentwickelten Länder wie die USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland ein multidimensionales Problem dar. Neben den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bezügen zeichnet sich diese Problematik zugleich als prominenter Untersuchungsgegenstand für die Linguistik aus. Im deutschsprachigen Raum sind vor allem die einschlägigen Werke von Niehr, Böke, Wengeler (vgl. hierzu Niehr 1993; Stötzel u. a. 1995; Böke u. a. 1996a; Niehr/ Böke 2000) zu erwähnen, die dieses breite Feld u. a. aus der sprachlichen, historischen und öffentlich-politischen Perspektive thematisieren. Während noch bis vor Kurzem das Problem der massenhaften Einwanderung eher die wirtschaftlich starken Länder betraf, stellte die 2015 ausgebrochene Flüchtlingskrise manche europäische Staaten vor neue Herausforderungen, in denen dieses Phänomen bisher unbekannt war. Die verzweifelte Suche nach (Schein-)Lösungen und Kompromissen generierte von Anfang an europaweit heftige Diskussionen; der öffentliche Diskurs wurde durch ein breites Spektrum von Standpunkten und Meinungen zwischen Solidarität und Ablehnung geprägt. <?page no="140"?> 132 Attila Mészáros Als prototypische Beispiele zeichnen sich dabei Deutschland und Ungarn aus. Die Beurteilung der Flüchtlingsfrage ist in beiden Ländern nicht nur auf theoretischer Ebene sehr gegensätzlich, auch hinsichtlich des praktischen Umgangs mit dem Problem vertreten sie völlig unterschiedliche Standpunkte. Die durch die Flüchtlingskrise ausgelösten innen- und außenpolitischen Konflikte sowie die Bemühungen der jeweiligen Regierung, das eigene Volk und die europäischen Institutionen über die vermeintlich besten Lösungen zu überzeugen, fanden bzw. finden weiterhin auch im öffentlichen Sprachgebrauch ihren Niederschlag. Es handelt sich dabei nicht nur um Leitvokabeln oder Stichwörter, mit denen die einzelnen Akteure des Diskurses ihre Einstellungen ausdrücken. Hierzu gehören auch komplexe Strukturen auf der transphrastischen Ebene, u. a. diskursspezifische Topoi und Argumentationsformen sowie Denk- und Sprachgebrauchsmuster (Gardt 2007: 28). Im vorliegenden Beitrag steht die lexikalische Ebene im Mittelpunkt. Es wird versucht, anhand von ausgewählten Beispielen aus dem Vokabular des aktuellen Migrationsdiskurses diejenigen Leitbegriffe aufzuzeigen, die als diskursrelevante Ausdrücke wichtige Aufschlüsse über die Flüchtlingsdebatte in der Bundesrepublik und in Ungarn liefern können. Als Grundlage dient eine diskurslinguistisch orientierte Analyse auf Basis von Presseartikeln aus der deutschen und ungarischen Presse. Diese wird als Bestandteil eines sprachkontrastiv ausgerichteten Projektes zur Erforschung der deutschen und der ungarischen Migrationsdebatte durchgeführt. Die hier präsentierten Daten verstehen sich daher als erste Ergebnisse dieser Untersuchung, die im Weiteren noch ergänzt und in weitere Kontexte eingebettet werden können. 2 Vorüberlegungen und theoretische Grundlagen 2.1 Analysemodelle Die einzelnen Forschungsrichtungen zeichnen sich sowohl bei der Bestimmung des Diskursbegriffes als auch bei den methodischen Umsetzungen der Diskursanalyse durch eine hohe Diversität aus (vgl. etwa Gardt 2007: 24-26; Spitzmüller/ Warnke 2011: 78-117). Eine allgemein akzeptierbare Definition des Begriffes liegt daher nicht vor, die einzelnen Autoren versuchen vielmehr, die Diskursanalyse dem jeweiligen Forschungsansatz entsprechend zu erörtern bzw. zu präzisieren. Betrachtet man die Diskursanalyse als Methode, dann wird der Begriff grundsätzlich als eine Art regelgeleitetes Verfahren zur Erschließung von Diskursen (Gardt 2007: 27) verstanden. Es werden hier wort-, satz- und textsemantische <?page no="141"?> Zum Wortschatz der Migrationsdebatte im Spiegel der Presse 133 Methoden hervorgehoben, die einerseits auf den einzelnen sprachlichen Ebenen, u. a. auf der lexikalischen und der syntaktischen Ebene, andererseits auf einer sog. transphrastischen Ebene (Texte) realisiert werden. Der Diskursanalyse geht es dabei um eine Top-down-Perspektive, d. h. inwieweit die jeweils kleineren Komponenten zur Semantik der größeren (übergeordneten) Einheiten beitragen können. Die so verstandene Diskursanalyse versucht, hinter die semantische Oberflächenstruktur der Texte zu blicken und dadurch „verdecktes Wissen [zu] explizieren, […] latent verhandelte Themen [zu] analysieren, dominante Denkmuster heraus[zu]finden.“ (Gardt 2007: 30) Eine Bündelung von methodologischen Standards zur Diskursanalyse bietet das von Spitzmüller und Warnke erarbeitete DIMEAN-Modell (Spitzmüller/ Warnke 2011). Dieses operiert mit einer intratextuellen und einer transtextuellen Ebene, wobei die Ebene der Akteure (Ebene 3) als zentrale Dimension betrachtet wird. Aus forschungspraktischen Gründen knüpft die vorliegende Abhandlung auf das Mehr-Ebenen-Modell von Spieß (2008) an, das die Diskursanalyse analog zu Warnke und Spitzmüller als Mehr-Ebenen-Analyse versteht, jedoch ein wesentlich leichter zu handhabendes Instrumentarium zum Durchführen von konkreten Analysen liefert. Der polydimensionale Ansatz von Spieß erfasst den Diskurs in seiner Mikro- und Makroebene, wobei die dritte, die sog. di s k u r s i v e Ebene im Zusammenspiel der beiden sich konstituiert. 2.2 Die Wortebene in der Diskursanalyse Die Diskursanalyse heißt weder die exklusive Beschäftigung mit der transphrastischen Ebene noch die Vernachlässigung der Ebenen des Sprachsystems; je nach Erkenntnisinteresse findet man unterschiedliche Akzentuierungen. Gerade bei einem Forschungsanliegen, das Leitbegriffe eines Diskurses - hier: der Migrationsdebatte - erforschen soll, kommt der lexikalischen Ebene eine besondere Rolle zu. Durch lexikalische Einheiten können nämlich Einstellungen und Bewertungen ausgedrückt werden (Spieß 2011) 1 . Sie bilden somit die Grundlage von diskursgeschichtlichen Analysen, wobei durch eine solche Reduktion der Untersuchung des Diskurswortschatzes auf das bloße lexikalische Inventar gerade das Essentielle der Diskursanalyse verloren geht (vgl. auch Jung 1996). 1 Zum Nominationskonzept siehe z. B. Girnth (2015: 65-73) und Spitzmüller/ Warnke (2011: 141). <?page no="142"?> 134 Attila Mészáros 2.3 Wörter als diskursrelevante Indikatoren Hier wird davon ausgegangen, dass Diskurse Indikatoren von öffentlich relevanten Themen enthalten. Als prominente Einheiten von diskurslinguistischen Analysen zeichnen sich dabei die Wörter als Grundelemente von Aussagen aus. Hierzu gehören einerseits singuläre Wörter wie etwa Flüchtling und Asyl, andererseits jedoch auch Mehrworteinheiten (Kollokationen). Letztere können neue Bedeutungen generieren, die u. a. in O k k a s i o n a li s m e n zum Ausdruck kommen. Diese Überlegungen resultieren in der Annahme, dass der Wortschatz als Ausgangspunkt von linguistischen Diskursanalysen dienen soll, um später komplexere Einheiten (auf der transphrastischen bzw. transtextuellen Ebene) erschließen zu können. Es sind in erster Linie die Wörter, die zeigen sollen, „was ist“ (Kuhn 1975: 11). Es wird hier der Annahme gefolgt, dass Wörter keine feste Bedeutung haben, diese ist lediglich durch den Verwendungskontext erschließbar. Auf diese Auffassung greift auch die historische Semantik zurück, die besagt, dass die Bedeutung erst durch den Gebrauch im Diskurs entsteht (vgl. Hermanns 1995). Die linguistische Diskursanalyse hat daher die Aufgabe, jene semantischen Voraussetzungen und diskurssemantischen Grundfiguren im Diskurs aufzuzeigen, die durch regelhafte und rekurrente Sprachphänomene, u. a. Argumentations- und Sprachgebrauchsmuster, Metaphern oder Einstellungen geprägt werden (vgl. Gardt 2007). Es sind dabei auch die Prinzipien der S p e z i fi z it ä t und der D i s k o nti n u it ä t des Foucault’schen Diskursbegriffes zu erwähnen, die ebenfalls eine wiederholte Aktualisierung der Bedeutung im Diskurs besagen. Wörter sind „Vehikel der Gedanken“ (vgl. Hermanns 1995), sie können als solche Aufschlüsse über Einstellungen und Denkmuster der Gesellschaft zu einem bestimmten Thema liefern. Die Wortwahl drückt in der Regel nicht nur gewisse Haltungen und Mentalitäten des Individuums aus (vgl. Jung u. a. 2000), sondern durch das regelhafte Auftreten gilt sie als Indikator von „mentalitätsgeschichtlichen“ Änderungen auf der Ebene der Gesellschaft (vgl. Hermanns 1995). Die Wörter sind die auffälligsten Zeichen dafür, welche Themen durch ihre sprachliche Thematisierung für die jeweilige Gesellschaft relevant sind. Das gilt exponentiell bei den Medien, verkörpert durch den J o u r n a li s t e n , der sich seiner Aufgabe, die Ereignisse der Welt möglichst objektiv sprachlich zu erfassen, als Agenda Setter bewusst sein sollte. Es ist jedoch zuzugeben, dass selbst die Tätigkeit der Meinungsmacher, d. h. der Journalisten, die die Stimme des jeweiligen Mediums gemeinsam formulieren, durch mehr oder weniger streng festgelegte Regeln begrenzt werden kann, zu denen etwa C o r p o r a t e W o r di n g oder eben p o liti s c h e K o r r e k t h e it gehören. <?page no="143"?> Zum Wortschatz der Migrationsdebatte im Spiegel der Presse 135 2.4 Die Erschließung von Leitbegriffen Bei den untersuchten Ein- und Mehrworteinheiten zeichnen sich die folgenden Klassen durch die größte Relevanz aus (vgl. Spitzmüller/ Warnke 2011: 140): Eigennamen, Kollektiva, Schlüsselwörter, Schlagwörter und Okkasionalismen. Im Rahmen von Diskursanalysen interessiert man sich bei Eigennamen jeglicher Art vor allem für Personen- und Ortsnamen, die in Hinsicht auf den jeweiligen Diskurs wichtige Akteure bzw. Orte und Ereignisse markieren. Bei den Kollektiva handelt es sich um die „semantische Funktion der Klassenzusammenführung“ (Spitzmüller/ Warnke 2011: 141), die dem Prinzip von Verallgemeinerung durch Aussagen entspricht. Es wird dabei eine Gruppe, d. h. ein Kollektiv generalisierend bewertet und dadurch zugleich eine Haltung aufgenommen (etwa: Alle Flüchtlinge sind Terroristen). Unter S c h lü s s e l w ö rt e r n versteht Hermanns (1994) solche Lexeme, die das Selbstverständnis und die Ideale eines Kollektivs ausdrücken. Liebert (2003) unterscheidet fünf Merkmale von Schlüsselwörtern. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt auch Stötzel (1995: 9), dessen Ansicht nach Schlüsselwörter folgenden Kriterien entsprechen müssen: - explizite Thematisierungen des Sprachgebrauchs - Bezeichnungskonkurrenzen - häufige Gelegenheitskomposita - Neologismen bzw. Neubedeutungen. Diese Kriterien ermöglichen eine relativ leichte und sichere Extrahierung der für den jeweiligen Diskurs relevanten Vokabeln. Bei den Bezeichnungskonkurrenzen handelt es sich um einen „verdeckten“ Sprachkampf (vgl. Böke u. a. 1996b), da dieser hier eher indirekt thematisiert wird. Der „offene“ Sprachkampf findet hingegen in Form von expliziten oder direkten Thematisierungen statt, zu denen u. a. S c h l a g w ö rt e r oder sogar verbotene bzw. unangemessene (Non- PC-)Wörter gehören. Schlagwörter können oft nur schwer von Schlüsselwörtern abgegrenzt werden. Das entscheidende Merkmal ist dabei, dass sie nur vorübergehend als Schlagwort bezeichnet werden, d. h. für die Zeit, solange sie die öffentliche Meinung beeinflussen können. Zu betonen sind dabei die sog. Stigmawörter, die sich durch eine abwertende Funktion auszeichnen. Im Flüchtlingsdiskurs verfügte das Wort Asylant für längere Zeit über einen solchen Status, und vor Kurzem wurde auch das Unwort des Jahres 2015, der Gutmensch, dieser Kategorie zugeordnet. <?page no="144"?> 136 Attila Mészáros 2.5 Gliederung des politischen Wortschatzes Der hier thematisierte Bereich stellt ein Segment des öffentlichen Diskurses dar, der zugleich als politischer Diskurs u. a. durch politische Akteure und kommunikative bzw. Sprachstrategien geprägt werden kann. Äußerlich zeichnet sich der politische Diskurs durch den politischen Wortschatz aus, der in der einschlägigen Fachliteratur bereits ausführlich erforscht wurde (siehe u. a. Girnth 2015; Klein 1989; Stötzel u. a. 1995). Es stellt dabei weiterhin ein Problem dar, den politischen Wortschatz von der Alltagssprache abzugrenzen. Als Ursache dafür lässt sich die bereits behandelte These nennen, dass Bedeutungen erst im Kontext entstehen. Das heißt, je nachdem, mit welcher Absicht die alltagssprachlichen Begriffe von den jeweiligen Akteuren im Diskurs verwendet werden, können sie als Elemente eines (virtuellen) politischen Wortschatzes betrachtet werden. Unter den Versuchen, das politische Lexikon zu gliedern, zeichnen sich die Vorschläge von Dieckmann (1975) und Klein (1989) aus, wobei mehrere Überlappungen zu beobachten sind. Grundsätzlich ist hier zu unterscheiden zwischen a) Institutionsvokabular, b) Ressortvokabular und c) Ideologievokabular. Eine Erweiterung gegenüber der Klassifizierung von Dieckmann stellt das allgemeine Interaktionsvokabular dar. Hierzu werden diejenigen Begriffe gerechnet, die weder fachsprachlich noch ideologiesprachlich betrachtet werden können. Klein gliedert in diese Gruppe die „Bezeichnungen für menschliche Interaktion und ihre verschiedenen Aspekte“ ein (Klein 1989: 7). Es ist anzunehmen, dass diese Kategorie als diejenige gilt, zu der der hier erforschte Wortschatz primär zugeordnet werden kann. Auf der anderen Seite muss jedoch auch anerkannt werden, dass Begriffe wie Flüchtlinge immer mehr zum festen Bestandteil des Ideologievokabulars von einigen Parteien und politischen Gruppierungen avancieren. 3 Methodisches Vorgehen 3.1 Auswahl der Presseorgane Die empirische Basis für die Erschließung von Leitbegriffen im aktuellen deutschen und ungarischen Migrationsdiskurs bilden je zwei Textkorpora. Sie enthalten Texte aus elektronischen Zeitungsarchiven der folgenden Presseorgane: - deutschsprachige Ressourcen: Süddeutsche Zeitung (SZ), Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) - ungarischsprachige Ressourcen: Népszabadság (NOL), Magyar Nemzet (MNO). <?page no="145"?> Zum Wortschatz der Migrationsdebatte im Spiegel der Presse 137 3.2 Eingrenzung des Zeitraums und der Textsorten Die Textquellen wurden so gewählt, dass sie möglichst unterschiedliche Pole des politischen Spektrums repräsentieren Die einzelnen Teilkorpora decken den Zeitraum zwischen dem 1.1.2015 und dem 31.1.2016 ab, wodurch eine diachrone Sichtweise bei der Diskursanalyse ermöglicht wird. Es handelt sich dabei um die Ansammlung von meinungs- und informationsbetonten Texten, in denen die Stimme des jeweiligen Presseorgans zum Ausdruck kommt. Das sind insbesondere Berichte, Reportagen, Feuilletons und Leitartikel. Diese journalistischen Textsorten wurden ohne weitere Selektion in die jeweiligen Teilkorpora aufgenommen, da eine Trennung zwischen meinungsbetonten und informationsbetonten Artikeln häufig kaum möglich war. Das betrifft insbesondere Berichte, die zwar auf sachlich und objektiv formulierten Agenturmeldungen basieren, jedoch vom jeweiligen Autor - dem Journalisten oder dem Redakteur - durch eigene Textteile ergänzt und somit in die Richtung der Meinungsbildung verschoben werden. 3.3 Vorbereitung der Textkorpora Die Kandidaten für die Aufnahme in das jeweilige Teilkorpus wurden durch einfache Suche in den elektronischen Archiven der ausgewählten Zeitungen herausgefiltert. Zur Suche wurden die Stichwörter menekült und migráns (dt.: Flüchtling und Migrant) verwendet. In die Teilkorpora wurden also nur diejenigen Texte aufgenommen, in denen eines der beiden Stichwörter mindestens einmal vorkommt. Es spielte dabei keine Rolle, ob es sich um Flüchtlinge aus dem Nahen Osten handelt oder ob es Flüchtlinge aus der Ukraine oder gerade in Indonesien sind. Den konkreten (Teil-)Korpora liegen jeweils Referenzkorpora gegenüber, wodurch plausible Ergebnisse gewährleistet werden können. 3.4 Gegenstand der konkreten Analysen Den hier präsentierten Untersuchungen liegt ein Konzept zugrunde, das die Öffentlichkeit als D i s k u r s r a u m betrachtet. Darunter wird ein von oben nach unten gesteuerter Raum verstanden, in dem sich Handlungen und Ereignisse abspielen, die auf der Ebene der p a r o l e ihren Niederschlag finden. Wichtiger Bestandteil des Konzeptes sind die Akteure, die einerseits intentionell handeln und andererseits diese Handlungen in Form von sprachlichen Äußerungen manifestieren. Es wird dabei von einem erweiterten Akteurbegriff ausgegangen (vgl. Latour/ Roßler 2007), nach dem die Unterscheidung zwischen Mensch und Nicht-Mensch aufgehoben wird, d. h. neben Personen, Gruppen und Institutio- <?page no="146"?> 138 Attila Mészáros nen auch Dinge oder auch Orte als Akteure betrachtet werden. Diese Auffassung der Akteure zeigt sich hier als erforderlich, da gerade in der aktuellen Migrationsdebatte wiederholt Entitäten wie Zaun, Bahnhof oder Flüchtlingslager vorkommen, die den Diskurs maßgebend bestimmen, mit dem herkömmlichen Akteurbegriff jedoch nur schwierig zu erfassen sind. 4 Analysen 4.1 Akteure als personale Größen Die Auswahl der Texte anhand der beiden Stichwörter begründet die Annahme, dass bei den konkreten Datenanalysen die beiden Ausdrücke (siehe Abs. 3.3) mit einer besonders hohen Häufigkeit vorkommen werden. Die Ergebnisse bestätigen diese Hypothese, diese sind in der Abb. 1 visualisiert. Die inneren Ringsegmente stellen den relativen Anteil der einzelnen Konkurrenzbezeichnungen am NOL-Korpus dar, die äußeren sinngemäß am MNO-Teilkorpus. Die bevorzugte Verwendung des Wortes menekült in den NOL-Artikeln lässt sich wohl damit erklären, dass die linksliberale Zeitung Népszabadság auch mit der Wortwahl versucht, sich von dem Sprachgebrauch der Regierung zu distanzieren. Die Zeitung Magyar Nemzet wird hingegen oft als Sprachrohr der ungarischen Regierung betrachtet, dementsprechend ist auch die Häufigkeit (relativ zur Korpusgröße) von migráns sowie von bevándorló (dt.: Migrant bzw. Einwanderer) wesentlich höher. Beide Ausdrücke werden in der Kommunikation der Regierung gerne verwendet, und dieses Presseorgan scheint sich die „offizielle“ Terminologie auch anzueignen. Die Konkurrenzform menedékkér (dt.: Asylbewerber) kommt hingegen in beiden ungarischen Teilkorpora relativ selten vor. Die Ursache der niedrigeren Frequenz liegt wohl darin, dass unter den Flüchtlingen Ungarn grundsätzlich nicht als Zielland betrachtet wird. Dementsprechend werden sie im öffentlichen Sprachgebrauch auch nicht unbedingt mit der Institution des Asyls in Verbindung gebracht. Vielmehr spricht man von ihnen als Menschen, die vor dem Krieg flüchten (d. h. menekültek) oder migrieren bzw. in Bewegung sind (d. h. migránsok). Der Aspekt der Bewegung spiegelt sich auch im Wort bevándorló wider. Die Wortfrequenzen werden vor allem dann interessant, wenn man auch die häufigsten Attribute als Kollokatoren berücksichtigt (siehe Abb. 2). <?page no="147"?> Zum Wortschatz der Migrationsdebatte im Spiegel der Presse 139 Abb. 1: Konkurrenzbezeichnungen von „menekült“ in den ungarischen Teilkorpora (relativer Anteil in %) Abb. 2: Vergleich der Kollokatoren für Flüchtende in den ungarischen Teilkorpora Auffallend ist die wesentlich höhere Frequenz von Wortverbindungen im MNO-Korpus, die beim Leser negative Einstellungen hervorrufen sollen. Wenn man die von der ungarischen Regierung öffentlich gegen Flüchtlinge propagierten Phrasen (u. a. „Nem vehetitek el a magyarok munkáját“ - dt.: „Ihr dürft den <?page no="148"?> 140 Attila Mészáros Ungarn nicht die Arbeit wegnehmen“) berücksichtigt, korrelieren die hier ermittelten Ergebnisse mit dieser Kommunikation. Wenn man regelmäßig über Wirtschaftsflüchtlinge, Sozialflüchtlinge oder illegale Flüchtlinge liest, fällt man dieser gezielten Propaganda leicht zum Opfer, die in jedem Flüchtling einen potenziellen Arbeitnehmer sieht. Diese Ausdrücke, insbesondere in den oben präsentierten Verbindungen, entwickeln sich schnell zu Stigmawörtern. Im Sinne der Regierungskommunikation sind sie jedoch hervorragende Instrumente, um die Bevölkerung zu verunsichern bzw. zu verängstigen. Neben Flüchtlingen, Migranten und Zuwanderern zählen zu den Hauptakteuren der Migrationskrise die Polizisten, Helfer, Minister und Schleuser (ung.: rend r, segít , miniszter, csempész). Es handelt sich dabei um jene Personen, die entweder mit den Flüchtlingen am häufigsten direkt in Kontakt kommen oder die über das Phänomen in der Öffentlichkeit reden. Charakteristisch ist dabei die Verwendung von Konkurrenzformen, z. B. von civil und önkéntes (dt.: Zivilist und Freiwillige). Die Analyse der deutschsprachigen Teilkorpora liefert wesentlich vielfältigere Ergebnisse. Das heißt, im Diskurs treten deutlich mehr Akteure auf als im Falle der ungarischen Teilkorpora, wobei auch Konkurrenzbezeichnungen eine größere Vielfalt aufweisen (siehe Abb. 3). Abb. 3: Wortwolke „Akteure“ anhand des SZ-Teilkorpus Diese Tatsache lässt sich einerseits damit erklären, dass das Phänomen Migration in Deutschland spätestens seit 1945 ein kontinuierlich aktuelles Thema ist. Das bedeutet, dass im Laufe der Jahrzehnte in der Bundesrepublik sich jene Institutionen und Foren bereits etabliert haben, die im Diskurs als Akteure auftreten (müssen). Auf der anderen Seite gilt Deutschland unter diesem Aspekt als Zielland, was den Staat - im Gegensatz z. B. zu Ungarn - vor wesentlich andere Herausforderungen stellt. Abb. 3 macht am Beispiel einer Wortwolke sichtbar, welche Ausdrücke die Kategorie A k t e u r e a l s p e r s o n a l e G r ö ß e n im deutschsprachigen Diskurs dominieren. Eine starke Präsenz zeigen die Bundesregierung (Kanzlerin, Innenminister bzw. Personennamen wie z. B. Seehofer) sowie die Parteien und Institu- <?page no="149"?> Zum Wortschatz der Migrationsdebatte im Spiegel der Presse 141 tionen (CDU, SPD, BAMF, EU). Die Variabilität der Konkurrenzbezeichnungen für Flüchtlinge ist in beiden Teilkorpora gut ersichtlich: Die höchste Frequenz im Wortgebrauch weisen die Ausdrücke Flüchtlinge, Asylbewerber und Migranten auf, wesentlich seltener kommen Asylsuchende und Einwanderer vor. Es ist hervorzuheben, dass im FAZ-Teilkorpus auch die Bezeichnung Asylant (19 Belege) erscheint. Es handelt sich dabei um einen Ausdruck, der insbesondere in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts wegen der vermeintlichen Diskriminierung der öffentlichen Kritik zum Opfer fiel (vgl. Stötzel u. a. 1995: 735). Aus diesem Grund wurde Asylant zu einem Stigmawort und sollte möglichst vermieden werden (vgl. Böke u. a. 1996a: 48; Spitzmüller/ Warnke 2011: 144) 2 . Im Vergleich mit den ungarischen Teilkorpora liegt dabei die Betonung auf dem Aspekt der S i c h e r h e it . Deutschland gilt als sicherer Ort, dementsprechend ist auch die Häufigkeit von Komposita mit dem Glied Asylwesentlich größer (vgl. Asylbewerber, Asylsuchende, Asylant). 4.2 Akteure als Orte O rt e bezeichnen im untersuchten Diskurs diejenigen Plätze, Orte und Räumlichkeiten, wo die zum Phänomen Migration gehörenden Ereignisse stattfinden. Es handelt sich also um die Stationen der Wanderung: - Orts- und Länderbezeichnungen: magyarország, németország, ausztria, röszke, csongrád, dublin, szerbia, debrecen, bicske - Orte: pályaudvar, vasútállomás, keleti, befogadóállomás, tábor, határ. Einzelne Länder - wie Serbien, Ungarn, Österreich und Deutschland - zeichnen sich als Stationen des Flüchtlingsstroms vor dem Aufbau des Grenzzauns an der südlichen Grenze Ungarns aus. Unabhängig von der gewählten Route (d. h. über Ungarn oder Kroatien und Slowenien) gilt Deutschland weiterhin als Ziel der Wanderung, sodass der Begriff németország in beiden ungarischen Teilkorpora mit hoher Frequenz (NOL: 10,40 %, MNO: 7,03 %) vorkommt. Die Wörter röszke, csongrád, debrecen und bicske bezeichnen ungarische Ortschaften, die vom Flüchtlingsstrom besonders betroffen sind. In den beiden ungarischen Teilkorpora finden sich diesbezüglich keine signifikanten Unterschiede. Besonders häufig tauchen jene Ausdrücke auf, die Aufenthaltsorte von Flüchtlingen bezeichnen: (befogadó) állomás, (menekült) tábor, (keleti) pályaudvar, tranzitzóna - dt.: Aufnahmestation, (Flüchtlings-)Lager, (Ost-)Bahnhof, Transitzone. Der Begriff befogadóállomás ist Bestandteil des Institutionsvokabulars, im 2 Vgl. auch Gierke: Warum „Asylant“ ein Killwort ist: http: / / www.sueddeutsche.de/ politik/ sprache-im-migrationsdiskurs-warum-asylant-ein-killwort-ist-1.2262201 (21.2.2016). <?page no="150"?> 142 Attila Mészáros öffentlichen Sprachgebrauch treten jedoch Wortbildungen mit tábor wesentlich häufiger auf. Diese stehen im starken Kontrast zum eher neutral wirkenden offiziellen Terminus, da sie ohne Verschönerung die Realität ausdrücken (z. B. menekülttábor, zárt tábor, ideiglenes tábor). Zu einem Symbol der Behandlung von verzweifelten Flüchtlingsmassen entwickelte sich der Ostbahnhof in Budapest - in den Teilkorpora verweist man darauf mit Hilfe der Konkurrenzbezeichnungen pályaudvar (dt.: Bahnhof), vasútállomás (dt.: Bahnhof), Keleti (dt.: Ostbahnhof). Das häufige Vorkommen der Eisenbahninfrastruktur korreliert zugleich mit dem bevorzugten Verkehrsmittel der Flüchtlinge, dem Z u g (NOL: 424 Belege, MNO: 131 Belege). Abb. 4: Schlüsselwörter und Kollokationen zum Thema Unterkunft anhand des FAZ-Teilkorpus In den deutschsprachigen Teilkorpora sieht die Verteilung der Ortsbezeichnungen ähnlich wie im Ungarischen aus, jedoch mit einer größeren Variabilität. <?page no="151"?> Zum Wortschatz der Migrationsdebatte im Spiegel der Presse 143 Die Ortsbezeichnungen beziehen sich sinngemäß in erster Linie auf Orte in Deutschland. Durch eine besonders hohe Frequenz zeichnen sich diejenigen Orte aus, die in direkter Verbindung zum Flüchtlingszustrom stehen. Hierzu zählen insbesondere die Kommunen, die Institutionen für Flüchtlinge - Flüchtlingsheime, Hotspots oder andere Aufnahmeeinrichtungen - bereithalten. Ein Teil dieser Ausdrücke kann dem Institutionsvokabular zugeordnet werden, z. B. Erstaufnahmeeinrichtung, Asylbewerberheim und Erstaufnahmestelle. Die Adhoc-Bildungen bzw. Ad-Hoc-Bedeutungen wie Hotspot oder Transitzone weisen dabei auf die Versuche der jeweiligen Akteure hin, zur Lösung der Flüchtlingsproblematik immer wieder neue Mittel einzusetzen. In Abb. 4 (s. o. S. 142) ist ein Netz von Schlüsselwörtern (Quelle: FAZ) zum Thema Unterkunft dargestellt, wo diese zusammen mit deren Kollokatoren visualisiert sind. Aus der Grafik wird einerseits die Vielfältigkeit der Konkurrenzbezeichnungen ersichtlich, auf der anderen Seite sieht man auch, in welchen Kontexten diese hauptsächlich verwendet werden (u. a. die Zustände in diesen Einrichtungen oder die Angriffe gegen Flüchtlingsheime). 4.3 Akteure als Dinge Dieser Kategorie werden hier diejenigen Ausdrücke zugeordnet, die Gegenstände oder Phänomene bezeichnen, die im Migrationsdiskurs eine bedeutende Rolle spielen. Anhand der Korpusanalysen zählen hierzu in erster Linie die Wörter kerítés, vonat, busz, plakát (dt.: Zaun, Zug, Bus, Plakat). Hier finden sich gleich zwei der bekanntesten Stichwörter des aktuellen Migrationsdiskurses in Ungarn. Das Erste ist kerítés (dt.: Zaun), das zugleich über eine besonders hohe Anzahl von Konkurrenzbezeichnungen verfügt. Diese drücken einerseits die Grenzmetaphorik aus (kerítés, határzár, vasfüggöny), andererseits beziehen sie sich auf das Material bzw. die Qualität dieses Zaunes: drót, drótkerítés, drótakadály, szögesdrót, pengedrót, pengésdrót, NATO-drót (dt.: Draht, Drahtzaun, Drahthindernis, Stacheldraht, NATO-Draht). Zwei Ausdrücke sind hier hervorzuheben. In Bezug auf den Aufbau des Grenzzaunes spricht die Presse ungarn- und europaweit vom neuen eisernen Vorhang. Diese Wortwahl findet sich bevorzugt auf der Seite der ungarischen Opposition, so auch in der Zeitung Népszabadság (60 Belege). Die Magyar Nemzet verwendet jedoch auch hier lieber die offizielle Terminologie, indem in den untersuchten Artikeln die Bezeichnungen határzár und kerítés bevorzugt vorkommen (35 Belege für vasfüggöny, die jedoch teilweise auch die Opposition zitieren und somit nicht die „eigene Stimme“ der gewählten Zeitung darstellen). Den größten Erfolg erlebte dabei das Wort gyoda, eigentlich eine Abkürzung für den zum militäri- <?page no="152"?> 144 Attila Mészáros schen Wortschatz gehörenden Begriff gyorstelepítés drótakadály (dt.: schnell installierbares Drahthindernis). Der zweite berühmte Ausdruck der letzten Zeit bezeichnet auch ein wichtiges Instrument der ungarischen Regierungskampagne gegen die Einwanderung. Das Wort plakát kommt in beiden ungarischen Teilkorpora relativ häufig vor, die Kookkurrenzanalyse zeigt jedoch signifikante Unterschiede auf. Die Zeitung Népszabadság berichtet in diesem Zusammenhang über plakátkampány, óriásplakát und kormány (dt.: Plakatkampagne, Billboard, Regierung). Im MNO-Teilkorpus finden sich darüber hinaus weitere Belege für bevándorlás, üzenet, nemzeti, plakátrongálás (dt.: Einwanderung, Botschaft, national, Plakatvernichtung). Hervorzuheben sind dabei die Kookkurrenzpartner üzenet und plakátrongálás. Die KWIC 3 -Analysen zeigen, dass die Magyar Nemzet über die Plakate im Kontext von üzenet in erster Linie den Standpunkt der Regierung vermittelt, indem diese behauptet, dass die Botschaft der Plakate die Zielgruppe erreicht habe. Mit plakátrongálás berichtet die Zeitung wiederum über illegale Tätigkeiten von oppositionellen Aktivisten, die der Ansicht der Regierung bzw. der Zeitung nach versuchen, durch die Vernichtung der Plakate bzw. durch die Veröffentlichung von Anti-Plakaten die Botschaften der Regierung zu eliminieren. Dagegen kommen im untersuchten Zeitraum in den deutschsprachigen Teilkorpora abstrakte Phänomene vor, die der hier beobachteten Kategorie zugeordnet werden können. Hierzu zählen insbesondere die Ausdrücke Asylantrag, Asylverfahren, Abschiebung und Aufnahme. Deutschland wird aktuell als Hauptziel der Flüchtenden betrachtet, dementsprechend finden dort die einzelnen Schritte im Asylverfahren statt, beginnend mit der Einreichung des Asylantrags bis zur eventuellen Abschiebung. Die untersuchten Presseorgane weisen hinsichtlich der Wortfrequenz keine signifikanten Unterschiede auf, die qualitative Auswertung der Kontexte soll dabei in einer weiteren Untersuchung durchgeführt werden. 5 Fazit Die hier dargestellten Untersuchungen konzentrieren sich auf Nomina, was jedoch nicht bedeutet, dass ausschließlich Substantive bei wortorientierten Analysen behandelt werden sollten. Es ist jedoch gerade diese Wortart, in der sich 3 KWIC = Keyword in Context. <?page no="153"?> Zum Wortschatz der Migrationsdebatte im Spiegel der Presse 145 die Leitmotive und -begriffe des Migrationsdiskurses konstituieren, sodass es sich gut begründen lässt, ihnen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Ausgehend von der Aufteilung bei Spitzmüller und Warnke (2011: 140) kann die Mehrheit der im Rahmen der Analysen ermittelten Ein- und Mehrworteinheiten der Kategorie der Eigennamen zugeordnet werden. Diese weisen auf Akteure in Gestalt von personalen Größen (Kanzlerin, Flüchtling, Migrant) und Institutionen (Aufnahmestation, Landesamt für Gesundheit und Soziales), aber auch in Gestalt von Ortsbezeichnungen (Ostbahnhof, Röszke, Hegyeshalom) hin. Es ist anzumerken, dass Kollektivbezeichnungen wie Flüchtlinge und Migranten gleichzeitig als Schlagwörter dienen, indem sie als temporäre Diskursmarker auftreten (vgl. Hermanns 1994: 12). Sowohl im deutschen als auch im ungarischen Diskurs ist eine besonders hohe Frequenz von Bezeichnungskonkurrenzen und von (Gelegenheits-)Komposita (Okkasionalismen) charakteristisch, was die D i s k u r s r e l e v a n z dieser Ausdrücke indiziert. Im Deutschen motivieren in erster Linie die Substantive Asyl und Flüchtling die Bildung von neuen Wörtern, im Ungarischen sind es die Begriffe menekült und migráns. Die Tatsache, dass gleichzeitig vier bis fünf Konkurrenzbezeichnungen - z. B. beim Flüchtling - im öffentlichen Sprachgebrauch kursieren, sorgt jedoch auch für Irrtümer und führt zu Missverständnissen. Es ist kein Zufall, dass die Medien versuchen, den Unterschied zwischen den einzelnen Ausdrücken zu erklären, 4 wobei sie selbst - wie es auch die Analysen zeigen - bei der Wortwahl bei Weitem nicht einheitlich sind. Auch wenn die hier präsentierten Analysen bzw. deren Ergebnisse keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder gar Endgültigkeit erheben wollen, so liefern sie doch einen ersten Einblick in die Flüchtlingsdebatte in Deutschland und in Ungarn. Wie es die ermittelten Leitbegriffe zeigen, wird man hier nicht nur mit zwei unterschiedlichen Sprachen, sondern auch mit unterschiedlichen Mentalitäten konfrontiert, die die Einstellungen und Reaktionen auf die Flüchtlingsproblematik grundsätzlich bestimmen. Diese bieten zugleich ausreichend Material und Ausgangspunkte zu weiteren, umfangreichen Untersuchungen, die (auch) anhand von qualitativen Analysen neue Aufschlüsse über dieses komplexe Phänomen bringen können. 4 Siehe auch Stefanowitsch: Asylanten, Flüchtlinge, Refugees und Vertriebene - eine Sprachkritik: http: / / derstandard.at/ 2000022449906/ Asylanten-Fluechtlinge-Refugeesund-Vertriebene-eineSprachkritik (21.2.2016). <?page no="154"?> 146 Attila Mészáros 6 Literatur Böke, Karin/ Jung, Matthias/ Wengeler, Martin (Hrsg.) (1996a): Öffentlicher Sprachgebrauch. Praktische, theoretische und historische Perspektiven; Georg Stötzel zum 60. Geburtstag gewidmet. Unter Mitarbeit von Georg Stötzel. Opladen. Böke, Karin/ Liedtke, Frank/ Wengeler, Martin (1996b): Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära. Berlin/ New York (Sprache, Politik, Öffentlichkeit; 8). Dieckmann, Walther (1975): Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache. 2. Aufl. 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Im ersten Abschnitt werden die Begriffe ‚Realie‘, ‚Realienbezeichnung‘, ‚Lehnübersetzung‘, ‚Lehnübertragung‘, ‚Ent-Idiomatisierung‘ und ‚Ent-Metaphorisierung‘ kurz erläutert sowie traditionelle Verfahrensweisen für die Übersetzung von Realien vorgestellt; im zweiten Abschnitt wird die Handhabung von Realienbezeichnungen im Lexikon untersucht. Aus dem Vergleich von originalen deutschsprachigen Realienbezeichnungen und ihren Übersetzungen ins Russische werden die verbreitetsten Arten der Wiedergabe von festen Wortverbindungen in einem Lexikon der Kultur herausgearbeitet und kritisch bewertet. Der Beitrag wird mit Schlussfolgerungen abgeschlossen, in denen auf die Bedeutung der Lexikographierung von fremden Kulturen und der interlingualen Kontrastierung für das Erlernen von Fremdsprachen und für das Kennenlernen fremder Kulturen hingewiesen wird. Einleitung Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Problem der Lexikographierung von fremden Kulturen. Im Mittelpunkt der Studie steht die Analyse der Wiedergabe von lexikographisch fixierten deutschsprachigen festen Wortverbindungen, die Realienbezeichnungen Deutschlands mit einem stark ausgeprägten kulturspezifischen Charakter sind, in der Zielsprache Russisch. Als Materialquelle für die Untersuchung dient das russische Lexikon der deutschen Kultur mit dem Titel Kul’tura Germanii: lingvostranoved eskij slovar‘ = Kultur Deutschlands: Realienwörterbuch von Ljudmila Markina, Natal’ja Muravleva und Jevgenija Muravleva (2006) 1 und seine verarbeitete Ausgabe Germanija: lingvostranoved eskij slovar‘ = Deutschland: Realienwörterbuch von Natal’ja Muravleva, Jevgenija Muravleva und Tatjana Nasarova (2011). 1 Siehe auch die gescannten Seiten im Anhang zu diesem Beitrag (S. 166-168). <?page no="158"?> 150 Lyubov Nefedova Für den russischen Terminus „Lingvostranoved eskij slovar‘“ (wörtlich „linguolandeskundliches Wörterbuch“) gibt es keine Analogien in der westlichen Lexikographie: als Pendants dienen dt. „Realienwörterbuch“, engl. „Encyclopedic Dictionary“, franz. „dictionnaire de civilisation“ (Ivaniševa 2015: 45). Wie die Autorinnen des Wörterbuchs Deutschland in ihrem Vorwort schreiben, unterscheidet sich ein solches Wörterbuch von anderen lexikographischen Werken dadurch, dass es den Wortschatz enthält, der für Vertreter anderer Kulturen höchst unzugänglich und rätselhaft sei und der von üblichen zweisprachigen Wörterbüchern nicht berücksichtigt werde (Muravleva, N. u. a. 2011: 3). Als das einzige ihnen bekannte Wörterbuch dieser Art von westlichen Lexikographen wird das Lexikon der Russischen Kultur von Norbert Franz (Hrsg.) angegeben (Muravleva, N. u. a. 2011: 3). Das 2002 herausgegebene Lexikon stellt die zentralen Begriffe der russischen Kultur aus den Bereichen Politik, Geschichte, Philosophie, Religion, Kunst, Literatur und Wissenschaft, inklusive der Alltagskultur, vor. Das analysierte Lexikon der deutschen Kultur wird auf Deutsch als Realienwörterbuch bezeichnet, es handelt sich aber um eine Enzyklopädie - ein Lexikon zur Kulturgeschichte des Landes, in dem die wichtigsten Begriffe der deutschen Kultur erörtert werden. Das Ziel des Lexikons besteht darin, vor allem russischen Deutschstudierenden und -lernenden Grundkenntnisse der deutschen Kultur zu vermitteln. Das Lexikon enthält als alphabetisch aufgebaute Lemmata deutschsprachige Namen von herausragenden deutschen Persönlichkeiten, Bezeichnungen von kulturellen Einrichtungen, Festen und Bräuchen, wichtigen historischen Ereignissen usw., mit einem Wort ‚Realienbezeichnungen‘, und ihre Äquivalente im Russischen mit einem Kommentar bzw. einer Erläuterung auf Russisch. Alle Lexikonartikel sind russisch konzipiert, die Stichwörter sind jedoch bilinguale, deutsch-russische Realienbezeichnungen. Das sind sowohl deutsche Eigennamen/ Onyme (Nymphenburg; Volkswagen; Lessing, Gotthold Ephraim; Norddeutsches Tiefland; Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina; „Mach mit, mach’s nach, mach’s besser“ - russ. „Delaj s nami, delaj kak my, delaj lu še nas“ ‚Titel einer Sportsendung in der DDR‘) als auch Gattungsnamen/ Appellative, die Begriffe des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens sowie des Alltagslebens bezeichnen (Wörter: Junkertum; Meistersang; Komposita: Früchtebrot; Gretchenfrisur; feste Wortgruppen: erster Beigeordneter; mittlere Reife; zweiter Bildungsweg; dokumentarisches Theater) und Zitate („[…] von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ - russ. „ot Maasa do Nemana, ot Adidže do Bel’ta“). Spraul hat Recht, wenn sie schreibt, dass es sich bei Realienbezeichnungen meistens um Mehrwortbenennungen, Komposita, Wortfügungen und ähnliche <?page no="159"?> Feste Wortverbindungen als Realienbezeichnungen Deutschlands 151 lexikalische textuelle Einheiten handelt (Spraul 2015: 107). Ihrer Struktur nach sind die Realienbezeichnungen vorwiegend Nomengruppen und seltener festgeprägte Sätze. Sie stellen das zentrale Untersuchungsobjekt der vorliegenden Studie dar. Hauptmethode zur Untersuchung ist der Sprachvergleich. Die Zuwendung zu Realienbezeichnungen, die feste Wortverbindungen sind, ist damit begründet, dass sie besondere sprachliche Einheiten sind, deren Bedeutung über das Merkmal „kulturbedingt“ bzw. „ethno- und kulturspezifisch“ verfügt, weil sie ein Kulturphänomen sind und kulturelle Inhalte vermitteln. In solchen sprachlichen Einheiten sind Sprache und Kultur aufs engste miteinander verbunden, und man muss sie in einen erläuternden kulturellen Kontext einbetten, wenn man sie den Vertretern einer anderen Sprach- und Kulturgemeinschaft vermitteln möchte. Für ihr Verständnis muss Landes- und Kulturwissen, mit anderen Worten Hintergrundwissen herangezogen werden, weil sie an bestimmte Orte und Regionen gebunden sind, die für andere Sprach- und Kulturgemeinschaften fremd sind. Es gibt Arbeiten, die sich mit allgemeinen Fragen der Übersetzung von Realienbezeichnungen (z. B. Bödeker/ Freese 1987; Kujamäki 2004; Reinart 2009; Drahota-Szabó 2013; Alekseeva 2013; Drößiger 2013; 2015) beschäftigen, und solche, in denen die Übersetzung von „kulturgebundenen“ lexikalischen Einheiten (culture-bound units), die kulturspezifische Gegenstände (culture specific items) bezeichnen, behandelt wird (z. B. Lendvai 2007; Fodor/ Heltai 2012). Der Übersetzung von Phrasemen in einem zweisprachigen Wörterbuch und in einem literarischen Text sind Arbeiten von Korhonen (2004), Koller (2007), Piirainen (2007) und Sabban (2007) gewidmet. Die Repräsentation von Realienbezeichnungen in einem Lexikon der fremden Kultur ist aber bisher noch nicht zum Objekt einer speziellen Untersuchung geworden. Der Begriff „feste Wortverbindung“ wird als Oberbegriff für verschiedene Arten von festen Wortkomplexen verwendet. Darunter fallen Idiome (Blaue Minna; Erster Spatenstich; Leipziger Allerlei; auch engl. Love Parade; Walk of Ideas; Blue Chips; lat. Numerus clausus), Teil-Idiome (Grüne Weihnachten; Weiße Ostern; Äpfel im Schlafrock), Kollokationen (Bürgerlicher Stil; Badische Weine; erweitertes Schöffengericht), Losungen/ Slogans/ Protestparolen (Wohlstand für alle; Blut und Boden) sowie geflügelte Worte und Zitate als fest geprägte Sätze („Aber bitte mit Sahne! “; „Man lebt nur einmal in der Welt“). Sie können als Phraseme im weiteren Sinne beschrieben werden, weil Kollokationen, Sprichwörter und formelhafte Texte in die Phraseologie mit einbezogen werden (Burger u. a. 2007: 2). Allerdings verfügen viele feste Wortverbindungen als Realienbezeichnungen über kein Merkmal der Idiomatizität; Phraseologismen sind aber nach Fleischer <?page no="160"?> 152 Lyubov Nefedova sprachliche Einheiten mit den Merkmalen Stabilität, Idiomatizität, Lexikalisierung, Reproduzierbarkeit und Mehrgliedrigkeit (Fleischer 1997: 72). Mit dem Begriff „feste Wortverbindung“ wird betont, dass es stabile und mehrgliedrige sprachliche Einheiten sind. Da sich die vorliegende Arbeit konkret mit der Repräsentation von deutschen Realien in einem russischen Lexikon befasst, besteht das Ziel des Beitrags darin, verschiedene Arten der Wiedergabe von deutschsprachigen festen Wortverbindungen mit besonderer Kulturreferenz als deutsch-russische Stichwörter des Lexikons empirisch darzustellen und optimale Lösungen der Wiedergabe zu finden. Die Aufmerksamkeit wird auch auf die Übersetzungsschwierigkeiten von idiomatischen Realienbezeichnungen gerichtet, wobei auf einzelne Übersetzungsverfahren eingegangen und das bevorzugte Übersetzungsverfahren ermittelt wird. Ein Wörterbuch enthält Informationen über Wörter, die Gegenstände, Begriffe, Erscheinungen bezeichnen; eine Enzyklopädie informiert dagegen über Gegenstände, Begriffe, Erscheinungen als solche. In einem Lexikon geht es also primär nicht um die Erschließung der Bedeutung von Realienbezeichnungen wie in einem Wörterbuch oder in einem literarischen Text, also nicht um semantisches Wissen, sondern um Repräsentation von enzyklopädischem Wissen. In einem Lexikon der Kultur geht es dabei konkret um die Repräsentation von spezifischen kulturgebundenen Informationen, die sich im Wortschatz mit besonderer Kulturreferenz widerspiegeln. Diese Tatsache ist für die Wiedergabe von Realienbezeichnungen in einem fremdsprachigen Lexikon von ausschlaggebender Bedeutung. Im ersten Teil dieses Beitrags „Theoretische Grundlagen der vorliegenden Studie“ wird auf die Begriffe ‚Realie‘, ‚Realienbezeichnung‘, ‚Lehnübersetzung‘, ‚Lehnübertragung‘, ‚Ent-Idiomatisierung‘ und ‚Ent-Metaphorisierung‘ sowie auf Fragen der Übersetzung von Realienbezeichnungen eingegangen. Im zweiten Teil „Feste Wortverbindungen des Deutschen als Realienbezeichnungen und ihre Wiedergabe im russischen Lexikon der deutschen Kultur“ rückt die Frage der Übersetzung von deutschsprachigen festen Wortverbindungen, die Realien Deutschlands bezeichnen, ins Russische in den Vordergrund, wobei zuerst ein ausgewähltes Inventar von festen Wortverbindungen präsentiert wird. In der anschließenden Zusammenfassung werden die Ergebnisse der Untersuchung vorgestellt. Damit sollen im Beitrag weitere Aspekte der kontrastiven Phraseologie betrachtet werden, die sich in vorhandene Studien der interlingualen Kontrastivität einreihen. Der Beitrag konzentriert sich aber nicht nur auf eine rein kontrastive Analyse von deutschsprachigen festen Wortverbindungen und ihren russischsprachigen Pendants, sondern verweist auch auf Probleme der Vermitt- <?page no="161"?> Feste Wortverbindungen als Realienbezeichnungen Deutschlands 153 lung der durch feste Wortverbindungen bezeichneten Realien Deutschlands, die kulturspezifisch sind, in der russischen Sprach- und Kulturgemeinschaft. Es ist noch zu erwähnen, dass einige Fragen der Wiedergabe von festen Wortverbindungen, die deutsche Realien bezeichnen, im Russischen teilweise bereits in einem früheren Artikel (Nefedova 2015) behandelt wurden. 1 Theoretische Grundlagen der vorliegenden Studie 1.1 Realien/ Realia Übersetzer und Kontrastivisten sehen sich immer wieder mit lexikalischen Einheiten in einzelnen Sprachen konfrontiert, die auf Realitäten des eigenen Landes verweisen und die in anderen Sprach- und Kulturgemeinschaften unbekannt sind. Dies ist der Bereich der ‚Realien‘ oder ‚Realia‘, das heißt der spezifischen landesbeziehungsweise kulturkonventionellen Sachverhalte politischer, institutioneller, sozialer sowie geographischer Art und des dazugehörigen Wortschatzes. Der Begriff ‚Realien‘ (russ. realija) wurde in Russland 1941 von dem Übersetzungswissenschaftler F dorov eingeführt, der damit einen kulturspezifischen Gegenstand oder eine Erscheinung und das Lexem, das den Gegenstand bzw. die Erscheinung benennt, bezeichnete. Realien gehören zur nulläquivalenten Lexik. Vereš agin und Kostomarov verstehen darunter Wörter, die solche Begriffe zum Ausdruck bringen, die in anderen Kulturen und Sprachen fehlen, die keine Äquivalente außerhalb der Sprachen, denen sie angehören, haben (Vereš agin/ Kostomarov 1980). Die bulgarischen Linguisten Vlahov und Florin definieren in ihrem Buch Neperevodimoje v perevode (dt. „Unübersetzbares bei der Übersetzung“) ‚Realien‘ (oder ‚Realia‘) als „Wörter und Wortverbindungen, die Objekte benennen, welche für das Leben eines Volkes charakteristisch und anderen Völkern fremd sind. Als Träger des nationalen und/ oder historischen Kolorits haben sie keine Äquivalente in anderen Sprachen und können nicht wie andere Lexeme übersetzt werden, sondern sollten extra behandelt werden“ (Vlahov/ Florin 1986: 47). Als Realien bezeichnet man heute in der russischen Übersetzungswissenschaft kulturspezifische, kulturell markierte Naturphänomene, Endemismen, kulinarische Gerichte, Getränke, Kleidung, Schuhe, Wohnräume und Wohngegenstände, Beförderungsmittel, Maß- und Geldeinheiten, Institutionen, Behörden sowie staatliche und gesellschaftliche Organisationen. Realienbezeichnungen gehören sowohl zum appellativen als auch onomastischen Wortschatz. Onomastische Realienbezeichnungen sind Anthroponyme, Toponyme, Titel <?page no="162"?> 154 Lyubov Nefedova literarischer und künstlerischer Werke; Sachverhalte/ Artefakte und historische Ereignisse; Bezeichnungen staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen, Aphorismen, Zitate, geflügelte Worte und Redensarten (Alekseeva 2013: 170). In der deutschen Übersetzungswissenschaft versteht man ‚Realien‘ als Gegenstände oder Phänomene, „die nur in einer bestimmten Kultur vorkommen und daher für Angehörige anderer Kulturen oft unbekannt oder schwer verständlich sind […]“ (Nord 2010: 233). Für diese kulturspezifischen Lexeme werden auch andere präzisere Bezeichnungen verwendet, unter denen die Bezeichnung ‚Exotismus‘ sehr verbreitet war (z. B. Schippan 2002), wobei der fremde Charakter der Bezeichnungen im Vordergrund steht. Heutzutage versteht man darunter ein „fremdsprachiges Wort, das auf einen Begriff der fremdsprachigen Umwelt beschränkt bleibt (z. B. College; Iglu; Hazienda)“ (www.duden.de). Drößiger plädiert dafür, dass der Begriff ‚Realienbezeichnung‘ mit Christiane Nord in einer übergreifenden, allgemeinen Lesart verwendet werden sollte, ohne das Kriterium der „Fremdheit“ im Zuge der Begriffsbeschreibung ins Spiel zu bringen (Drößiger 2010: 43). Ende des 20. Jahrhunderts entwickelt sich in der Slavistik eine neue interdisziplinäre Wissenschaft, die „Linguokulturologie“, ein integratives Wissensgebiet, das Forschungsergebnisse in Kulturologie, Sprachwissenschaft, Ethnolinguistik und kultureller Anthropologie einschließt (Maslova 2001: 32). Vorobjev führt den Begriff ‚Linguokulturem‘ ein, unter dem eine komplexe dialektische Einheit von linguistischem und extralinguistischem Inhalt verstanden wird. Zur Bedeutung eines sprachlichen Zeichens kommt eine kulturelle Komponente als extralinguistischer Inhalt hinzu (Vorobjev 1997: 47f.). Feste Wortverbindungen als Realienbezeichnungen enthalten offensichtlich kulturelle Komponenten und gehören zum kulturspezifischen Wortschatz, sodass sie als Linguokultureme betrachtet werden können. 1.2 Übersetzung von Realien F dorov nennt drei Verfahrensweisen für die Übersetzung von Realien: 1) vollständige oder partielle Transliteration; 2) Lehnübersetzung; 3) verallgemeinernde Übersetzung (F dorov 1953: 139). Wie Alekseeva anmerkt, fehlt in dieser Klassifikation Transkription, die als Terminus in der sowjetischen Übersetzungspraxis erst in den sechziger Jahren eingeführt wurde (Alekseeva 2013: 171). Dabei kann man Drößiger recht geben, dass nur große Textkorpora hinreichend abgesicherte Ergebnisse für Fragen der Äquivalenz im Rahmen von Übersetzungen liefern (Drößiger 2015). <?page no="163"?> Feste Wortverbindungen als Realienbezeichnungen Deutschlands 155 Alekseeva beschreibt als Ergebnis der Analyse von zweiundzwanzig Klassifizierungen von Verfahren zur Übersetzung von Realien vier Typen: Direktübernahme, Lehnübersetzung, kommentierende Übersetzung und Analogiebildung (Alekseeva 2013: 172). Die Direktübernahme schließt Transkription und Transliteration ein, weil es sich bei der Direktübernahme um einen unmittelbaren phonetischen und graphemischen Transfer des ausgangssprachlichen Wortes in die Zielsprache ohne jegliche Veränderungen handelt. Transkription ist eine Wiedergabe der Lautung eines fremdsprachigen Ausdrucks in der Zielsprache, Transliteration ist eine Wiedergabe seines Buchstabenbestandes. Manchmal verwendet man beide Arten in der Zielsprache als Symbiose. Neben dem Begriff ‚Lehnübersetzung‘ werden in der Linguistik die Begriffe ‚Lehnübertragung‘, ‚Lehnschöpfung‘ und ‚Lehnwendung‘ verwendet. Im Metzler Lexikon Sprache (2010: 392) wird Lehnübersetzung als Übersetzung eines fremdsprachigen Ausdrucks in die Nehmersprache definiert. Lehnübertragung ist eine annähernde Übersetzung, und Lehnschöpfung ist eine relativ freie semantische Nachbildung eines fremdsprachigen Ausdrucks. Fremdsprachige Redewendungen, Zitate oder geflügelte Worte, die wörtlich in eine Nehmersprache übernommen werden, sind Lehnwendungen (Betz 1959). Die kommentierende Übersetzung hat zwei Formen: Paraphrasen und Explikationen im Text, in der Fußnote oder im Glossar (Alekseeva 2013: 173f.). Dabei wird der Bedeutungsinhalt von Realien expliziert oder umschrieben. Analogiebildung ist die Wiedergabe durch analoge Wörter in der Zielsprache, Hyponyme und Hyperonyme. Als Nachteil dieser Art der Übersetzung sei der Verlust des kulturhistorischen Kolorits zu nennen (Alekseeva 2013: 173f.). Zwischen diesen Übersetzungsverfahren sind Kombinationen möglich. Direktübernahmen (Transkription und Transliteration) benötigen oft Explikationen. Bei der Übersetzung von Realien, die Idiome und Teil-Idiome sind, aus der Originalsprache in die Zielsprache ist es oft nicht möglich, ihre metaphorische Bedeutung beizubehalten. Als Folge sind für die Übersetzung von Metaphern verschiedene Transformationen typisch. Der Prozess der Transformation von Metaphern in der Zielsprache wird als Ent-Metaphorisierung (russ. demetaforizacija) bezeichnet. Darunter versteht man in der Übersetzungswissenschaft den Ersatz einer metaphorischen Art und Weise des Gedankenausdrucks durch eine direkte (Latyschev/ Semjonov 2003). Grund der Transformation bei der Übersetzung sind Unterschiede der lexikalischen Systeme von Sprachen bzw. Kulturen. Feste Wortverbindungen, die Idiome sind, werden als Umschreibungen in der Zielsprache wiedergegeben, die freie Wortverbindungen sind. Die Rede ist dabei vom Prozess der Ent-Idiomatisierung. Im nächsten Abschnitt wird an konkreten Beispielen gezeigt, wie sich der Prozess der Ent-Idiomatisierung bei der Übersetzung vollzieht. <?page no="164"?> 156 Lyubov Nefedova 2 Feste Wortverbindungen des Deutschen als Realienbezeichnungen und ihre Wiedergabe im russischen Lexikon der deutschen Kultur 2.1 Feste Wortverbindungen im Lexikon der deutschen Kultur Das Inventar von festen Wortverbindungen, die deutsche Realien im Lexikon bezeichnen, ist mannigfaltig. Solche Wortfügungen erfordern spezifische Übersetzungsverfahren. Die meisten untersuchten Mehrwortbenennungen sind Onyme/ Eigennamen. Deutsche Eigennamen sind in die Untersuchung mit einbezogen worden, weil sie als feste Wortverbindungen fungieren und unterschiedlich im Russischen wiedergegeben werden können. Feste Wortverbindungen, die Eigennamen sind, gehören zu Personennamen/ Anthroponymen (Albert Einstein; Wilhelm Conrad Röntgen; Frau Renate - ‚eine Figur in einem Dr.-Oetker-Werbespot‘) und Ortsnamen/ Toponymen (Lüneburger Heide; Schweriner See). Weitere Gruppen bilden Namen von staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; Norddeutscher Rundfunk; Die Linkspartei. PDS [Die Linke. PDS], DIE LINKE), Namen von historischen Ereignissen (Dreißigjähriger Krieg; Montagsdemonstration in Leipzig), von Sachverhalten/ Artefakten (Porta Nigra; Palast der Republik; Teterower Bergring), von Produktnamen (Asbach Uralt), von Gasthöfen („Zum goldenen Kreuz“) oder Titel literarischer und künstlerischer Werke (Die Leiden des jungen Werthers; Die Meistersinger von Nürnberg). Eigennamen in Verbindung mit Attributen gehören zu Appellativen, z. B. deutscher Michel (scherzh.) - russ. nemeckij Michel (nationale Personifikation der Deutschen), Strammer Max (ugs.) - russ. štrammer Maks (Spiegelei auf Schinken und Brot). Unter appellativischen Bezeichnungen sind solche Realien zu nennen wie: kulinarische Gerichte (Teltower Rübchen - russ. tel’tovskaja brjukovka), Kleidung (Sorbische Volkstracht - russ. lužickij nacional’nyj kostjum), Wohnräume (kreisfreie Stadt - russ. gorod so statusom rajona; gute Stube - russ. paradnaja komnata), Institutionen (integrierte Gesamtschule - russ. kompleksnaja škola; integrierte Studiengänge - russ. integrirovannyje kursy) oder Begriffe der Schulbildung (Höhere Schule - russ. staršie klassy školy; Mittlere Reife, Mittlerer Schulabschluss - russ. sredneje obrazovanie). Einige Realienbezeichnungen sind umgangssprachliche Eigennamen: Faule Magd (ugs. scherzh.) - russ. lenivaja devka (eine alte Kanone in der Burg Königstein); Aachener Wetter (ugs.) - achenskaja pogoda (eine Bronzeskulptur in Aachen, die drei Mädchen mit zwei Schirmen darstellt). Umgangssprachliche <?page no="165"?> Feste Wortverbindungen als Realienbezeichnungen Deutschlands 157 Benennungen gibt es auch unter Gattungsnamen: z. B. Nürnberger Ei - russ. njurnbergskoje jajco (eine ovale Taschenuhr). Viele Realien sind feste Wortverbindungen mit der Komponente deutsch (Deutsches Museum; Deutsche Oper; Deutscher Beamtenbund). Einige Realien beziehen sich auf die Europäische Union (z. B. vier Grundfreiheiten), viele haben die Komponente europäisch (Europäische Schule; Europäischer Filmpreis; Europäischer Literaturpreis: Europäischer Kulturmonat). Einige Realienbezeichnungen sind Doppelbezeichnungen, d. h. sie sind mehrdeutig und benennen verschiedene Realien: - Gattungsnamen und Eigennamen, z. B. grüne Hochzeit: Tag der Heirat und ein deutscher Spielfilm von Herrmann Zschoche aus dem Jahr 1989; - zwei Eigennamen, z. B. „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“: eine 1974 erschienene Erzählung von Heinrich Böll und ein Film von Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta. Feste Phrasen sind Werbeslogans wie „Quadratisch, praktisch, gut“; „Haribo macht Kinder froh (und Erwachsene ebenso)“, geflügelte Worte oder Zitate („Ich bin ein Berliner“, „Mögen hätt ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut“). Zu den Realienbezeichnungen gehören, wie bereits oben erwähnt, englische feste Wortverbindungen, wie die Bezeichnung der Skulptur „Walking man“ - russ. „Šagajuš ij muž ina“, deren Autor ein Künstler aus den USA ist; Checkpoint Charlie - russ. ekpoint arli; Historic Emigration Office/ Hamburg (dt. Historisches Auswanderungsbüro) - russ. Chistorik emigrejšen ofis/ Gamburg. 2.2 Deutsch-russische Stichwörter des Lexikons: Arten der Wiedergabe von festen Wortverbindungen als Realienbezeichnungen Auf der Grundlage des Vergleichs der deutschen Prototypen und ihrer Übersetzungen ins Russische als Stichwörter im angegebenen Lexikon wurden vier Hauptarten der Wiedergabe von festen Wortverbindungen herausgearbeitet: 1. Direktübernahme (Transkription/ Transliteration); 2. Lehnübersetzung (Lehnübertragung); 3. Umschreibung; 4. Kombination von Verfahrensweisen. 2.2.1 Direktübernahme Als Direktübernahmen stellen sich hauptsächlich aussprachebasierte Transkriptionen dar: Deutsches Eck/ Koblenz - russ. doj es ekk/ Koblenc; Kalte Ente - russ. kal’te ente; „Hummel! Hummel! “ - russ. „Chummel’! Chummel’! “. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass die Transkription im analysierten Lexikon der Transliteration vorgezogen wird. Die feste Wortverbindung <?page no="166"?> 158 Lyubov Nefedova Leipziger Schule heißt jetzt auf Russisch ljapcigskaja škola und nicht wie früher lejpcigskaja; Die Meistersinger von Nürnberg sind majsterzingery, nicht meistersingery. Gelegentlich wird aber auch die alte Transliteration beibehalten (wie z. B. der Name Leibnitz, der im Russischen mit den Buchstaben ei wiedergegeben wird, die als [ei] ausgesprochen werden). Direktübernahmen sind jedoch im Allgemeinen ohne Kommentar nicht verständlich. Man könnte denken, dass kal’te ente eine Speise und kein Getränk ist. Und der Ausruf „Chummel’! Chummel’! “ ist ohne Situationsbeschreibung ganz unverständlich. 2.2.2 Lehnübersetzung/ Lehnübertragung Feste Wortverbindungen, die zu Lehnübersetzungen gehören, sind z. B.: Grüne Weihnachten - russ. zeljonoe roždestvo; Hundertjähriger Kalender - russ. stoletnij kalendar’; Lange Nacht der Museen - russ. dlinnaja no muzeev; Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt - russ. Jena-Auerštedskoje sraženije; Schneider von Ulm - russ. ulmskij portnoj. Darunter sind Lehnwendungen, z. B. „Wir sind das Volk“ - russ. „my narod“; „Wir sind ein Volk“ - russ. „my odin narod“. Beispiele für Lehnübertragungen sind: Grünthaler Hammer - russ. grjuntal’skaja kuznica; Löffelerbsen Berliner Art - russ. gorochovyj sup po berlinski. Bei den Lehnübertragungen stehen russische Äquivalente oft in einer metonymischen Beziehung zu deutschen festen Wortverbindungen: Hammer - russ. kuznica (Schmiede); Löffelerbsen - russ. gorochovyj sup (Erbsensuppe). Eine besondere Art der Wiedergabe ist eine erweiternde Lehnübersetzung, wenn zur Verdeutlichung einer Realie ein zusätzliches Wort in eine russischsprachige Wortverbindung hinzugefügt wird, wie z. B. „Trauernde Magdeburg“ - russ. „skorbjaš aja deva Magdeburga“ (eine Bronzeskulptur, die eine trauernde Frau darstellt); „Petri heil! “ - russ. „Slava apostolu Petru! “; „Petri Dank! “ - russ. „Spasibo apostolu Petru! “ (die traditionelle Grußformel und die Antwort der Fischer und Angler); Optisches Museum/ Jena - russ. muzej opti eskich priborov/ Jena; Altmärkisches Museum/ Stendal - russ. muzej regiona Altmark/ Štendal; Pinakothek der Moderne - russ. pinakoteka sovremennogo iskusstva. Lehnübersetzungen von Realienbezeichnungen sind für russische Rezipienten auch nicht klar: zeljonoe roždestvo ist Weihnachten, aber warum grün? Lehnübertragungen sind klarer: Löffelerbsen Berliner Art - russ. gorochovyj sup po berlinski. Aber was bedeutet Berliner Art? Lange Nacht der Museen - russ. dlinnaja no muzeev ist eine Ausnahme, weil es eigentlich keine deutsche Realie mehr ist: In Moskau und in St. Petersburg gibt es auch lange Nächte der Museen. <?page no="167"?> Feste Wortverbindungen als Realienbezeichnungen Deutschlands 159 2.2.3 Umschreibung Umschreibungen sind assoziative Übersetzungen: Hauptleute und Leutnante - russ. mladšij oficerskij sostav; Unteroffiziere mit Portepee - russ. staršij unteroficerskij sostav; Unteroffiziere ohne Portepee - russ. mladšij unter-oficerskij sostav; Höhere Schule - russ. staršie klassy školy. Teil-Umschreibungen können auch als Lehnübertragungen interpretiert werden: Leutnant zur See - russ. lejtenant flota, wörtlich ‚Leutnant der Flotte‘; Kapitän zur See - russ. kapitan pervogo ranga, wörtlich ‚Kapitän ersten Ranges‘; Mittlere Reife, Mittlerer Schulabschluss - russ. sredneje obrazovanije, wörtlich ‚mittlere Bildung‘. Manchmal werden entsprechende russische Realien angeführt, die einzelne Wörter im Russischen sind: Himmel und Hölle - russ. klassy/ klassiki; Zoologischer Garten - russ. zoopark. Wenn Realienbezeichnungen eine regionale Form haben, werden zur Verdeutlichung ihrer Bedeutung noch ihre entsprechenden standardsprachlichen Formen angegeben, z. B. „Planten un Blomen“ - russ. „planten un blomen“ („Pflanzen und Blumen“, „rastenija i cvety“), „Weck, Worscht un Woi“ („Weck[en], Wurst und Wein“) - russ. „vek, voršt un voi“. Bei den Umschreibungen von Realienbezeichnungen ist es klar, was Realien sind. Aber wichtige kulturspezifische Konnotationen bleiben verborgen und benötigen einen Kommentar. Der russische Rezipient versteht, dass Himmel und Hölle ein Kinderspiel ist, aber warum es so heißt, müsste erläutert werden. 2.2.4 Kombination von Verfahrensweisen Als Kombination von Verfahrensweisen werden Transkription/ Transliteration und Umschreibung, Lehnübersetzung/ Lehnübertragung und Umschreibung sowie Transkription, Lehnübersetzung und Umschreibung verwendet. Für das Idiom Freund Hain wird z. B. zuerst eine Transkription frojnd chain angeführt, anschließend wird erläutert, dass es eine euphemistische Bezeichnung für den Begriff ‚Tod‘ ist, und zum Schluss wird eine russische Lehnübersetzung angegeben „drug (družiš e) Chain“. Redewendungen, die als Transkriptionen wiedergegeben werden, enthalten auch russischsprachige Pendants, z. B. der Ausspruch „Berg heil! “, mit dem Bergsteiger einander Glück wünschen, wird als „berg chail“ transkribiert. Zusätzlich werden entsprechende russische Aussprüche angeführt: „Al’pinisten privet! “ („Alpinisten, seid gegrüßt! “); „Ura! Da zdravstvujet gora! “ („Hurra! Es lebe der Berg! “). Dasselbe gilt für den Gruß „Ski heil! “ - russ. „Privet lyžnikam! “ („Skiläufer, seid gegrüßt! “), das russische Pendant im Lemma ist „Chorošej lyžni! “ („Eine gute Skispur! “). Die Kombination von Verfahrensweisen ist für die Übersetzung von Realienbezeichnungen am informativsten und sollte bevorzugt werden. <?page no="168"?> 160 Lyubov Nefedova 2.3 Russische Lemmata im Lexikon: Explikationen von Realien Eine Besonderheit des Lexikons einer fremden Kultur besteht darin, dass seine Aufgabe ist, nicht die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken zu erläutern, sondern landeskundliche Informationen zu vermitteln und Realien in Kommentaren zu beschreiben. Zur Wiedergabe von Realienbezeichnungen, die Stichwörter der Lexikoneinträge sind, kommen Realienbeschreibungen hinzu, die erläuternde Texte sind. Lehnübersetzungen von festen Wortverbindungen, die genaue Übersetzungen sind, enthalten unbedingt zusätzliche erläuternde Kommentare: Eine wörtliche Übersetzung ist für das Verständnis einer Realie nicht ausreichend, z. B. Ahrensburger Kultur - russ. arensburgskaja kultura; Alemannische Kunst - russ. alemanskoe iskusstvo. Diese Begriffe müssen erläutert werden. „Tag des Buches“ heißt auf Russisch „den’ knigi“. Erst aus dem Kommentar wird klar, dass es um den 10. Mai als Erinnerung an den 10. Mai 1933 geht, als in Deutschland Bücher von den Nationalsozialisten verbrannt wurden. Bei festen Wortverbindungen wie z. B. Meißener Porzellan (russ. maisenskij farfor) macht ein Kommentar deutlich, dass es sich dabei nicht um den Werkstoff, sondern um Erzeugnisse einer Porzellanfabrik handelt. Die Paraphrase „Venedig des Nordens“ als Bezeichnung für den Spreewald wird als „Severnaja Venecija“ übersetzt. „Severnaja Venecija“ ist für russische Muttersprachler St. Petersburg. Dass der Spreewald „Venedig des Nordens“ genannt wird, ist aus einem Kommentar zur Paraphrase ersichtlich. Man hätte hinzufügen können, dass einige deutsche Städte wie Hamburg, Emden, Friedrichstadt, Papenburg oder Stralsund auch „Venedig des Nordens“ heißen. In manchen Fällen sollte der Kommentar ausführlicher sein, wie z. B. bei der Übersetzung des Zitats „Ich bin ein Berliner“. Es sollte hinzugefügt werden: korrekt muss der Satz „Ich bin Berliner“ lauten. 2.4 Wiedergabe von deutschsprachigen Idiomen im russischen Lexikon der Kultur Anschließend können Besonderheiten der Wiedergabe von festen Wortverbindungen, die Idiome sind, behandelt werden. Da Idiome als Realienbezeichnungen zur nulläquivalenten Lexik gehören, muss ihre Bedeutung in der Zielsprache explizit erläutert werden. In den meisten Fällen entsprechen den Idiomen und Teil-Idiomen der Gebersprache freie Wortverbindungen in der Nehmersprache, Idiome werden entidiomatisiert und entmetaphorisiert. Die Komponenten eines deutschen Teil-Idioms, die eine metaphorische Bedeutung haben, werden im Russischen durch Wörter in ihrer direkten Bedeu- <?page no="169"?> Feste Wortverbindungen als Realienbezeichnungen Deutschlands 161 tung ersetzt. Teil-Idiome werden dadurch zu freien Wortverbindungen: Grüner Hering (Teil-Idiom) - russ. svežaja sel’d’ (frischer Hering ist eine freie Wortverbindung); Mülheimer Gottestracht (Teil-Idiom) - russ. Mjul’chajmskaja processija v den’ prazdnika tela gospodnja (Mülheimer Prozession am Fronleichnamstag ist eine freie Wortverbindung). Dasselbe gilt für die folgenden Beispiele: Äpfel im Schlafrock sind jabloki v teste (Äpfel im Teig); Bratwürste im Schlafrock sind kolbaski (sosiski) v teste (Bratwürste im Teig) im Russischen. Das umgangssprachliche Idiom „Blauer Brief“ (eine Metapher) entspricht im Russischen den freien Wortverbindungen „uvedomlenie ob uvol’nenii s raboty“ (Kündigungsschreiben) und „predupreditel’noje pis’mo iz školy“ (Mitteilung der Schule an die Eltern über die gefährdete Versetzung ihres Kindes). Eine metaphorische Art und Weise des Gedankenausdrucks wird durch eine direkte ersetzt. Die Ent-Metaphorisierung ist damit eine Grundlage für Ent-Idiomatisierung (Ent-Phraseologisierung) eines Idioms: auf diese Weise wird eine feste Wortverbindung entlexikalisiert; im Russischen wird ein deutschsprachiges Lexem als Verbindung von mehreren Lexemen wiedergegeben. Die Wörter als Komponenten einer freien Wortverbindung bilden eine vollkommen verständliche Einheit. Das trägt zur Motivierung der Wortverbindung im Russischen bei. Der russische Rezipient versteht dadurch, was gemeint wird: Der Begriff „goluboe pis’mo“ („Blauer Brief“) ist z. B. in der russischen Kultur nicht bekannt. Ganz selten kommt es vor, dass russische Äquivalente auch Idiome sind. Das Teil-Idiom „bemooster Karpfen“ wird auch als Teil-Idiom wiedergegeben: russ. „karp pod šuboj Karpfen unter einem Pelzmantel“ („pod šuboj“ heißt wörtlich „unter einem Pelzmantel“). Die Komponente „pod šuboj“ ist umgedeutet. Der russische Rezipient ist sich sofort darüber im Klaren, was gemeint ist, was natürlich einen zusätzlichen Kommentar nicht ausschließt. In diesem Fall wird hinzugefügt, dass es ein traditionelles Fischgericht ist, das zu Weihnachten und Silvester zubereitet wird. Im Weiteren wird gezeigt, dass kulturspezifische Konnotationen bei der Übersetzung verlorengehen. Zu solchen kulturspezifischen lexikalischen Einheiten gehören feste Wortverbindungen, die Farbbezeichnungen enthalten, für die zusätzliche kulturelle Informationen notwendig sind, wie z. B. feste Wortverbindungen mit dem Adjektiv grün. Im Teil-Idiom grüne Weihnachten - russ. zeljonoe roždestvo (Weihnachten ohne Schnee) hat grün die Bedeutung ‚ohne Schnee‘ (vgl. weiße Ostern - ‚Ostern mit Schnee‘). Wenn es ganz selten in Russland keinen Schnee zu Weihnachten gibt, ist es nicht grün. Die Lehnübersetzung zeljonoe roždestvo ist für russische Deutschlernende insofern nicht klar. Im Idiom grünes Herz Deutschlands - russ. zeljonoje serdce Germanii (Thüringen) bedeutet grün ‚mit Wald bewachsen‘: Dahinter steht, dass es in Thüringen einen ausgedehnten bewaldeten Höhenzug gibt, den Thüringer Wald; das <?page no="170"?> 162 Lyubov Nefedova Idiom grüne Woche - russ. zeljonaja nedelja ist eine Messe in Berlin, auf der landwirtschaftliche Erzeugnisse von Herstellern und Vermarktern aus aller Welt präsentiert werden. Im Russischen ist das Adjektiv grün mit den Substantiven Weihnachten, Herz, Woche auch im übertragenen Sinne inkompatibel. Die feste Wortverbindung Der grüne Punkt - russ. zeljonoe klejmo ist ein Idiom im Deutschen, weil seine Bedeutung ganz umgedeutet ist. Es handelt sich um ein europaweites Kennzeichnungssystem im Verpackungsrecycling. Das Piktogramm ist in fast allen europäischen dualen Sammel- und Verwertungssystemen in der Mülltrennung üblich und international ein geschütztes Markenzeichen. Das Piktogramm des Grünen Punktes ist in einigen Fällen übrigens nicht grün, sondern passt sich der Farbe der Verpackung an, um Kosten für zusätzliche Druckfarben einzusparen. Es handelt sich beim Idiom um ein Symbol, wo das Adjektiv grün als ‚dem Umweltschutz verpflichtet/ ihn fördernd‘ verstanden wird. Ohne zusätzliche Erläuterung würde man das russischsprachige Adjektiv als Farbbezeichnung verstehen. Die feste Wortverbindung Grünes Schloss Weimar - russ. zeljonyj dvorec heißt so, weil es einst Arkaden besaß, die zur Parkseite hin grün gestrichen waren. So hatte das Adjektiv grün ursprünglich eine direkte Bedeutung, heutzutage ist das Grüne Schloss nicht mehr, wie zu erwarten wäre, grün. Die Lehnübersetzung zeljonyj dvorec sollte deswegen im Russischen zusätzliche Erläuterungen in Bezug auf den Namen erhalten. Obwohl grün in allen Fällen als zeljonyj/ aja/ oe ins Russische übersetzt wird, wird dieses Adjektiv im Russischen nicht mit Begriffen wie z. B. ‚ohne Schnee‘ und ‚landwirtschaftlich‘ assoziiert. Im Lexikon der Kultur und im Unterrichtsfach „Deutsch als Fremdsprache“ wird daher die Bedeutung von Realienbezeichnungen mit der Komponente grün für russische Deutschlernende erläutert. Das Adjektiv grün ist in den oben angeführten deutschen Wortverbindungen ein Wort mit kulturspezifischen Konnotationen. 3 Schlussfolgerungen Man kann schlussfolgern, dass Transkription und Lehnübersetzung bei der Wiedergabe von deutschsprachigen Realienbezeichnungen, die feste Wortverbindungen sind, in einem russischen Lexikon überwiegen. Beide Arten der Wiedergabe der Realienbezeichnungen sind für die Repräsentation von Realien aber nicht ausreichend. Eine Realienbezeichnung, die eine Transliteration/ Transkription oder Lehnübersetzung/ Lehnübertragung darstellt, ist für fremde Sprach- und Kulturgemeinschaften bedeutungsleer oder teilweise nicht klar. Zu ihrer <?page no="171"?> Feste Wortverbindungen als Realienbezeichnungen Deutschlands 163 Aneignung sind daher zusätzliche Explikationen nötig, die verschiedene Formen haben können: Verdeutlichung, Erläuterung, Beschreibung, Kommentar. In einem Lexikon der fremden Kultur kommt es deswegen in erster Linie nicht auf Übersetzung der Realienbezeichnungen, sondern auf Repräsentation von Realien an: deutsche Realien werden im russischen Lexikon ausführlich expliziert. Im Unterschied zu zweisprachigen Wörterbüchern, die fremdsprachige Äquivalente von Wörtern und festen Wortverbindungen anführen und damit semantisches Wissen von sprachlichen Zeichen vermitteln, spielt das bei Realien eine untergeordnete Rolle. Feste Wortverbindungen, die Idiome und Teil-Idiome sind, werden in der Regel als freie Wortverbindungen übersetzt und erläutert. Nur ganz selten werden entsprechende russischsprachige idiomatische Wortverbindungen angeführt. Die interlinguale Kontrastierung fördert das Erlernen einer Fremdsprache: Die durch den Sprachkontrast in der Phraseologie gewonnenen Erkenntnisse können zur Steigerung der Effektivität des Unterrichts und zur Optimierung der Lernergebnisse wesentlich beitragen (vgl. Földes 1996: 192). Lexika der fremden Kultur oder Realienwörterbücher (linguolandeskundliche Wörterbücher) können dabei behilflich sein. Sie können außerdem äußerst aufschlussreiche Forschungsobjekte für interkulturelle linguistische Studien sein. Um jedoch objektive Ergebnisse zu bekommen, sollte die Erforschung von Übersetzungsfragen hinsichtlich derjenigen Realienbezeichnungen, die durch feste Wortverbindungen ausgedrückt werden, anhand von großen Textkorpora fortgesetzt werden. 4 Literatur Sekundärliteratur Alekseeva, Marija (2013): Realia als Übersetzungsproblem. In: Menzel, Birgit/ Alekseeva, Irina (Hrsg.): Russische Übersetzungswissenschaft an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Berlin. S. 169-178. Betz, Werner (1959): Lehnwörter und Lehnprägungen im Vor- und Frühdeutschen. In: Maurer, Friedrich (Hrsg.): Deutsche Wortgeschichte. Bd. 1. 2. Aufl. Berlin. S. 127-147. Bödeker, Birgit/ Freese, Katrin (1987): Die Übersetzung von Realienbezeichnungen bei literarischen Texten: Eine Prototypologie. In: TEXTconTEXT 2/ 3. S. 137-165. Burger, Harald/ Dobrovol’skij, Dmitrij/ Kühn, Peter/ Norrick, Neal R. (Hrsg.) 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Polikarpov (Archangelsk) Zusammenfassung Das Ziel des vorliegenden Beitrags besteht darin, niederdeutsche Alltagsgespräche und umgangssprachliche Lexik, die im niederdeutsch-russischen Sprachbuch von Johannes von Heemer aus dem Jahre 1696 enthalten sind, aus einer linguistisch-ökologischen Sicht vom Standpunkt der interkulturellen Germanistik zu erforschen. Bei der Untersuchung werden die Methoden der linguistisch-kulturologischen Gesprächsanalyse sowie der interaktionalen Diskursanalyse und Komponentenanalyse angewendet. Als Belege werden zahlreiche sprachliche Einheiten aus diesem Sprachführer angeführt, die für die Ausgewogenheit der heutigen Alltagskommunikation nützlich sein können und mit dem neu gefundenen niederdeutsch-russischen Sprachführer verglichen werden. Anhand analysierter sprachlicher Formen und Strukturen werden sowohl positive als auch negative Tendenzen in der Sprachnutzung aufgezeigt, die für die Vorbereitung der künftigen Dolmetscher und Übersetzer im Sinne der integrativen Translationswissenschaft von Bedeutung sind. 1 Einleitung Bei der Erforschung der Übersetzungsgeschichte im Russischen Norden, die dank der finanziellen Unterstützung des RGNF-Forschungsprojektes 12-04-00215 in Archangelsk an der Nördlichen (Arktischen) Föderalen Universität in den Jahren 2012-2014 von einem wissenschaftlichen Team durchgeführt wurde, haben wir einige lexikographische Quellen wiederentdeckt, die im 17. Jahrhundert in der Archangelsker Region von Ausländern geschaffen wurden und deren Handschriften bis heute in europäischen Bibliotheken aufbewahrt werden. Als Sprachmaterial für die vorliegende Studie dient ein handschriftliches niederdeutschrussisches Gesprächsbuch. Meine Literaturrecherchen in der Universitätsbibliothek von Uppsala, die im Mai 2015 dank finanzieller Unterstützung des Schwedischen Instituts (Stockholm, Schweden) möglich wurden, gestatteten es, diesen alten Sprachführer in der Form durchzuarbeiten, wie er im wissenschaftlichen Werk der deutschen Slawistin Erika Günther unter dem Titel Das niederdeutschrussische Sprachbuch von Johannes von Heemer aus dem Jahre 1696 angeführt wurde (Günther 2002). Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die niederdeut- <?page no="178"?> 170 Alexander M. Polikarpov sche Umgangssprache des 17. Jahrhunderts vom Standpunkt einer komparativen linguistischen Ökologie anhand des oben erwähnten Sprachführers zu erforschen, wobei interkulturelle Aspekte der Kommunikation in den Fokus gerückt werden. 2 Der Status des Niederdeutschen und die Rolle der niederdeutschen Umgangssprache im 17. Jahrhundert Bevor wir zur Behandlung des eigentlichen Themas unseres Beitrags kommen, sollten wir feststellen, was für eine Sprachform Niederdeutsch ist und welche Rolle die niederdeutsche Umgangssprache im 17. Jahrhundert gespielt hat. Wir gehen von der Tatsache aus, dass es bis heute eine niederdeutsche Philologie gibt, die als eigenständiges wissenschaftliches Fach angesehen wird. Unter „niederdeutscher Philologie“ versteht man dabei die Wissenschaft von der niederdeutschen Sprache und Literatur. An mehreren norddeutschen Universitäten sowie an Hochschulen angrenzender Länder, vor allem der Niederlande, wird Niederdeutsch heute immer noch gelehrt und studiert; 1 es werden dementsprechend auch verschiedene Aspekte des Niederdeutschen von Sprachwissenschaftlern erforscht. In der heutigen Zeit der Bildungsreformen und der Einrichtung von neuen Bachelor- und Masterstudiengängen werden in Deutschland die Stimmen zum Schutz des akademischen Faches „Niederdeutsch“ und zu einer neuen wissenschaftlichen Begründung desselben immer lauter. Argumentiert wird dabei zum Beispiel mit Hilfe von metaphorisch gestalteten Thesen: Das Fach Niederdeutsch ist der Schlüssel zum kulturellen Gedächtnis der norddeutschen Region und darüber hinaus auch Nordeuropas; […] Das Fach Niederdeutsch ist ein Seismograph der aktuellen Entwicklung der regionalen Sprache und Kultur in Norddeutschland. (Schröder 2005: 43-46) 1 Zu nennen sind: Universität Flensburg, Seminar für Germanistik, Abteilung für Niederdeutsche Sprache und Literatur: http: / / www4.uni-flensburg.de/ ? 1602 - Universität Hamburg, Geisteswissenschaftliche Fakultät, Fachbereiche SLM I und II, Niederdeutsche Sprache und Literatur (NdSL): https: / / www.slm.uni-hamburg.de/ niederdeutsch/ ueber-die-abteilung.html - Unter https: / / www.slm.uni-hamburg.de/ niederdeutsch.html finden sich auch Hinweise auf die Kongresse zur niederdeutschen Sprache im Jahr 2016 - Christian-Albrechts Universität zu Kiel, Deutsche Sprachwissenschaft, Germanistisches Seminar, Lehrbereich Niederdeutsch: https: / / www.germanistik.uni-kiel.de/ de/ lehrbereiche/ niederdeutsch - Verein für niederdeutsche Sprachforschung: http: / / www.vnds.de, dazu auch Niederdeutsch an Hochschulen: http: / / www.vnds.de/ de/ niederdeutsch-an-hochschulen.html. <?page no="179"?> Interkulturelle Erforschung der niederdeutschen Umgangssprache des 17. Jhs. 171 Im Streben nach der Erhaltung der nationalen und regionalen Identität während der sich vollziehenden Umwandlungen im europäischen Hochschulwesen werden solche Bildungs- und Forschungsprojekte entwickelt, die für eine Neugestaltung des akademischen Faches „Niederdeutsch“ plädieren und es an die modernen Trends der Sprachpolitik anzupassen versuchen. Dabei wird die niederdeutsche Sprachwissenschaft als germanistische Disziplin angesehen, die sich der regionalen Mehrsprachigkeit als einer spezifischen Facette der Kommunikation widmet. Es wird mit Recht darauf hingewiesen, dass die Alltagssprache in Norddeutschland in ihren differenzierten Ausformungen von einem kontinuierlichen Sprachkontakt Niederdeutsch - Hochdeutsch geprägt wird: Konsequenz auf pragmatischer Ebene ist eine adressatenabhängige, situativ und funktional gesteuerte Wahl der Sprachform. Auf struktureller Ebene besteht eine wechselseitige Beeinflussung mit der Integration hochdeutscher Sprachelemente in das Niederdeutsche und mit niederdeutschen Interferenzen im Hochdeutschen. Dieses sprachliche Spektrum bildet einen komplexen Forschungsgegenstand, der gegenüber dem traditionellen Bezugsbereich der Dialektologie neben den Basisdialekten in ihrer geographischen Varianz die gesamte Sprachlagenkonfiguration mit ihren variativen Misch- oder Interferenzformen einschließt. (Schröder 2005: 46) Ferner ist aus historischer Sicht nicht zu übersehen, dass unter den Autoren von Bildungsromanen zu Themen der Aufklärung im 17. Jahrhundert (u. a. soziales Leben, Wirtschaft) auffallend viele aus dem norddeutschen Bereich zu finden sind (Biesterfeld 2014). 2 Recht überzeugend scheint in diesem Zusammenhang die Vermutung zu sein, dass Niederdeutsch einen wesentlichen Beitrag zur germanistischen Forschung und Lehre zu leisten vermag, indem es nicht nur als eigenständiges Fach, sondern vor allem integriert in eine differenzierte und perspektivenreiche Germanistik, besonders an norddeutschen Universitäten, an Bedeutung gewinnen kann. Dabei wird mit Recht auf die Varietätenlinguistik hingewiesen, die einerseits zur Erhaltung des Niederdeutschen beitragen kann und andererseits durch die Erforschung des Niederdeutschen neue Impulse für die Untersuchung von Substandardformen bekommt: Die niederdeutsche Sprachwissenschaft ist dabei, sich verstärkt in Richtung Varietätenlinguistik zu öffnen, und bezieht zunehmend Sprachformen des Substandards als Forschungsobjekte ein. Auf diese Weise kommt sie ihrer Aufgabe nach, die aktuelle Sprachentwicklung zu beschreiben und zu analysieren. (Schröder 2005: 65) 2 Freundlicher Hinweis von Dr. Gabriele Ziethen (Worms/ Deutschland), die derzeit eine ausführliche Besprechung der Monographie von Wolfgang Biesterfeld vorbereitet. <?page no="180"?> 172 Alexander M. Polikarpov Aufgrund der gegenwärtig immer geringer werdenden Rolle des Niederdeutschen sowohl in der deutschen Sprachlandschaft als auch in der globalisierten Welt ist sein Status in der Sprachwissenschaft recht umstritten. Aus sprachhistorischer Perspektive gibt es ganz verschiedene Bewertungen des Niederdeutschen: von der Annahme einer Mundartengruppe aufgrund ihrer funktionalen Beschränktheit (Gooßens 1983: 27; Sanders 1982: 32f.; Stellmacher 2000: 92) bis hin zur Anerkennung als einer eigenständigen Sprache, basierend auf der Selbsteinschätzung der Mehrheit der niederdeutschen Sprecher (Menke 1998: 183). Man kann jedoch nicht abstreiten, dass das Niederdeutsche bei aller Einheitlichkeit sehr vielfältig in seinem Wesen ist und sich in verschiedene Dialekte aufteilt. Oben haben wir schon erwähnt, dass Niederdeutsch unter gewissen Bedingungen als Sprache definiert werden kann. Wenn man zum Beispiel davon ausgeht, dass Sprache als System oder als Diasystem betrachtet werden kann, scheint die These vom Niederdeutschen als einer Sprache gar nicht verfehlt. Im ersten Fall kann es sich um „ein menschliches Kommunikationssystem mit einer bestimmten Struktur“ handeln, wobei darunter bald „das von einem bestimmten Individuum, sogar zu einer bestimmten Zeit verwendete System (Idiolekt)“, bald „ein System mit bestimmten sozialen und regionalen Differenzierungen“ verstanden wird. Im zweiten Fall geht es um „eine linguistische Konstruktion, zusammengesetzt aus den Elementen einer Reihe von Kommunikationssystemen […], die alle in einer Formel untergebracht werden können, weil jedes dieser Systeme fundamentale Übereinstimmungen mit jedem einzelnen anderen System aufzeigt, aber in bestimmten Punkten von ihnen abweicht“ (Gooßens 1983: 10). Man kann dem Niederdeutschforscher Jan Gooßens darin zustimmen, dass für die räumliche und zeitliche Begrenzung einer als Diasystem verstandenen Sprache zwei Kriterien herangezogen werden können: das Kriterium der Überdachung, wobei ein „überdachendes Element in der Form einer Kultursprache“ vorausgesetzt wird, das nur einem System angehört, und das Kriterium der Bruchstelle in der Sprachlandschaft, wobei „eine Gruppe von Sprachsystemen“ betrachtet wird, „die sich in einem Diasystem vereinigen lassen, sich [aber] nach außen scharf von den angrenzenden Systemen abhebt“ (Gooßens 1983: 12). Die Frage, ob dasjenige, was man unter „Niederdeutsch“ versteht, als System oder als Diasystem, d. h. als Sprache, definierbar ist, hängt auch von ihrer historischen Entwicklung ab. So wurde das Mittelniederdeutsche vom 13. bis zum 16. Jahrhundert nicht nur als Schriftsprache im norddeutschen Sprachraum, sondern darüber hinaus als Verkehrssprache der Hanse im gesamten Ostseeraum verwendet. Hinsichtlich der spätmittelalterlichen Entwicklung des Niederdeutschen und seiner Entwicklung in der Neuzeit bis zum 16. Jahrhundert besteht praktisch keine Divergenz der Meinungen bezüglich seiner sprachlichen Bestimmung. <?page no="181"?> Interkulturelle Erforschung der niederdeutschen Umgangssprache des 17. Jhs. 173 Es wird zwar ebenfalls zwischen Nd. [Niederdeutsch] im weiteren und Nd. im engeren Sinne unterschieden, aber die größeren Darstellungen des Mnd. [Mittelniederdeutschen] beschäftigen sich ausschließlich mit Sprachformen aus dem Norden des heutigen dt. [deutschen] Sprachraums und aus dem Nordosten des nl. [niederländischen] Bereichs östlich der IJssel. […] Der Grund für die Übereinstimmung der Meinungen liegt wohl darin, dass das Mnd. als ein Diasystem mit einem überdachenden Element aufgefasst werden kann, obwohl die Autoren selbstverständlich nicht diese Terminologie verwendet haben. Das überdachende Element ist die mnd. Schreibsprache, die sich in Lübeck herausbildete, eine Schreibsprache, die „seit Mitte des 14. Jh. eine beherrschende Stellung als hansische Verkehrssprache gewann und die älteren schriftsprachlichen Typen mit stärker ausgeprägten landschaftlichen Zügen zurückdrängte“. (Gooßens 1983: 15f.; Zitat im Zitat aus: Foerste, W., Geschichte der niederdeutschen Mundarten. In: W. Stammler [Hrsg.]: Deutsche Philologie im Aufriß. Berlin 1957. Sp. 1729-1898, hier Sp. 1764f.) Wir teilen die Meinung Gooßens, dass „das Kriterium der Bruchstelle“ kaum dafür benutzt werden kann, Niederdeutsch als Diasystem zu bestimmen. Es kann nur helfen, „wechselnde Teile des niederländischen und Teile des niederdeutschen Gebiets für eine Reihe von Problemen zusammen als eine Einheit einem süddt. [süddeutschen] Areal gegenüberzustellen“ (Gooßens 1983: 24). Man kann also behaupten, dass das Niederdeutsche den Menschen in Norddeutschland und im Osten der Niederlande über Jahrhunderte als Alltagssprache diente. Aber seit dem 16. Jahrhundert fand das Hochdeutsche über Religion, Bildung und Druckwesen Zugang zum niederdeutschen Sprachraum und verdrängte das Niederdeutsche aus dem öffentlichen Sprachgebrauch. 3 Seit dieser Zeit bis heute besteht das Niederdeutsche nur noch als eine Vielzahl räumlich begrenzter Dialekte ohne überdachende Schriftsprache, praktisch als Umgangssprache. Die Meinungen der Linguisten unterscheiden sich hinsichtlich des Umfanges der dazu gehörenden Dialekte. Manche zählen zum Niederdeutschen nur Dialekte aus dem Geltungsbereich der deutschen Sprache, die anderen betrachten als Niederdeutsch Mundarten sowohl aus dem deutschen als auch aus dem niederländischen Sprachraum, aber in beiden Auffassungen „werden zwei verschiedene Kriterien für die genauere Begrenzung des Nd. an der Südseite verwendet: das negative des Nichtvorkommens der zweiten Lautverschiebung und das positive des Auftretens von sog. niedersächsischen Merkmalen, wie etwa 3 Dies hängt mit der Bibelübersetzung Martin Luthers zusammen. Die sächsische Kanzleisprache - also eine juristische Fachsprache - bahnte den Weg zum Hochdeutschen. Noch heute gilt die Region um Hannover als Vorbild für korrektes Hochdeutsch. Zur Diskussion der Einordnung des Niederdeutschen in die Gruppe der Dialekte bzw. der Bewertung des Niederdeutschen als einer (eigenständigen) Sprache s. Elmentaler 2012. <?page no="182"?> 174 Alexander M. Polikarpov des Einheitsplurals“ (Gooßens 1983: 13). Vom sprachgeographischen Standpunkt unterscheidet man je nach den verlaufenden Grenzen und je nach dem Auftreten bzw. Fehlen von bestimmten sprachlichen Merkmalen mindestens zehn verschiedene Ansichten über die Mundarten, die als niederdeutsch zu betrachten sind (Gooßens 1983: 14). Wenn wir davon ausgehen, dass dasjenige, was wir unter Niederdeutsch verstehen, mit Hilfe des Kriteriums der Überdachung seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr als eine Sprache definiert werden kann, schlagen wir vor, die Gesamtheit von niederdeutschen Dialektformen als niederdeutsche Umgangssprache zu bezeichnen. Der Terminus „niederdeutsche Umgangssprache“ wird für die Bezeichnung der Gesamtheit von niederdeutschen Mundarten von vielen deutschen Sprachforschern verwendet (vgl. Ruge 2000: 141; Rohlfing 2014). Man sollte darauf hinweisen, dass der sprachwissenschaftliche Terminus „Umgangssprache“ in der heutigen Germanistik oft benutzt wird, um die Alltagssprache von der Standardsprache abzugrenzen. Begrifflich wird in der modernen deutschen Sprachwissenschaft zwischen Dialekten bzw. Mundarten, Umgangssprachen und Standardsprachen unterschieden. Als Merkmal, nach dem diese Unterscheidung vorgenommen wird, betrachtet man in der Regel die kommunikative Reichweite einer Sprachform. Während der Sprachraum, in dem Dialekte bzw. Mundarten ohne Schwierigkeiten verstanden werden, in der Regel sehr klein ist, liegen die Umgangssprachen hinsichtlich ihres Wirkungsbereiches meistens zwischen den kleinräumigen Dialekten und den überregionalen Standardsprachen. In unserem Fall gab es im 17. Jahrhundert keine niederdeutsche Standardsprache mehr, aber das sollte uns nicht daran hindern, den Terminus „niederdeutsche Umgangssprache“ zu verwenden. Wir sind fest davon überzeugt, dass es sich bei unserer Untersuchung des niederdeutsch-russischen Sprachführers empfiehlt, die oben genannte Bezeichnung zu wählen, weil sie unserem Aufgabenkreis entspricht. Das schließt jedoch nicht aus, dass man unter der niederdeutschen Umgangssprache zweierlei Mundarten vereinigt: die sogenannten norddeutschen Mundarten und die sogenannten niederländischen Dialekte. 3 Komparative linguistische Ökologie, interkulturelle Germanistik und ihre Grundprinzipien Auch bei der Erforschung der niederdeutschen Umgangssprache des 17. Jahrhunderts kann uns die linguistische Ökologie helfen, die Zusammenhänge zwischen dieser Sprachform und ihrer Umwelt besser zu verstehen und zu erforschen. Die interkulturelle Germanistik, deren Ideen ein besseres Verstehen des hanseatischen Einflusses auf die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der <?page no="183"?> Interkulturelle Erforschung der niederdeutschen Umgangssprache des 17. Jhs. 175 Weißmeerregion ermöglichen, verstehen wir in Anlehnung an das Mitarbeiterteam des Kompetenzzentrums „Interkulturelle Germanistik/ Linguistik“ unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. Csaba Földes als eine Kombination von Forschungskonzepten und -orientierungen, „die jeweils nicht bloße Unterschiede zwischen einzelnen Kulturprodukten (Sprache, Literatur etc.) thematisieren, sondern das produktive Besondere in spezifischen interkulturellen Kontexten untersuchen“ (Homepage des Kompetenzzentrums Interkulturelle Linguistik/ Germanistik: https: / / www.uni-erfurt.de/ sprachwissenschaft/ germanistisch/ internationales/ ifnig/ ). Einleuchtend scheint in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass dabei nur das untersucht werden sollte, „was weder in der einen noch in der anderen ‚Kultur‘ allein existiert, sondern nur durch eine Interaktion zweier oder mehrerer kultureller Systeme entsteht“ (https: / / www.uni-erfurt.de/ sprachwissenschaft/ germanistisch/ internationales/ ifnig/ ). Die komparative linguistische Ökologie, die wir als eine aussichtsreiche Forschungsrichtung betrachten, wird hier als ein linguistischer Wissenszweig interdisziplinären Charakters angesehen, der mit der allgemeinen Ökologie viel Gemeinsames aufweist. Sie erlaubt Sprachen und Sprachformen als Teile von Ökosystemen und die Umwelt als ein Sprachkonzept anzusehen. Recht instruktiv erscheint uns die Definition der komparativen linguistischen Ökologie, laut der sie als eine Wissenschaft angesehen wird, die die Zusammenhänge der Sprache und des Denkens in verschiedenen Kulturen auf vergleichende Weise erforscht, wobei das national spezifische sprachliche Handeln in unterschiedlichen Sphären der menschlichen Tätigkeit untersucht wird, bei der Berücksichtigung der Sprachfähigkeit die objektive Realität zu beeinflussen. Von der Pragmatik, die als linguistische Teildisziplin Beschreibungen der sprachlichen Handlungsmöglichkeiten gibt - d. h. das aufzeigt, was die Sprachbenutzer mit ihrer Sprache tun können 4 - und den Gebrauch von Äußerungen eines Menschen in konkreten Kommunikationssituationen untersucht, unterscheidet sich die linguistische Ökologie als eine interdisziplinäre Forschungsrichtung dadurch, dass sie mit sprachlichen Mitteln eine „Verschmutzung der Umwelt“ verhindert. Die linguistische Ökologie erforscht im gesellschaftlichen Zusammenhang Prozesse, die heute die Sprachen und das Bewusstsein der Sprechenden beeinflussen. Deshalb ist dieser Wissensbereich für die Studien von interkulturell-historischen Quellen von besonderem Interesse. Bei einer solchen Bestimmung der Grundideen der linguistischen Ökologie können die allgemein ökologischen Prinzipien auf die Sprache übertragen werden. 4 Vgl. z. B. die Auffassung der Pragmatik von Klaus R. Wagner (2001: 18). <?page no="184"?> 176 Alexander M. Polikarpov Die objektive Realität wird damit auch als sprachliche Umwelt interpretiert, und die Sprache wird als existenzielle Mitwelt des Menschen gewertet. Die damit verbundenen Forschungskonzepte sind für das Verstehen des Translationsprozesses sehr wichtig, denn immer häufiger klingt unter den Translationswissenschaftlern die Idee von dem Bestreben einer Harmonie beim Übersetzen bzw. Dolmetschen als einer Qualitätssicherung an. Die Bedeutung von komparativ orientierten linguistisch-ökologischen Forschungsaspekten in der Translationswissenschaft kann zum einen durch ein wachsendes Interesse der Gesellschaft an Umweltproblemen erklärt werden und zum anderen durch einen ständigen Drang nach Erkenntnis, wie die Wirklichkeit im Bewusstsein des Menschen modelliert wird. Die komparative linguistische Ökologie bahnt einen Weg für die Entwicklung bzw. Vervollkommnung eines ökologischen Denkens bei den Dolmetschern und Übersetzern, das für die Berücksichtigung wichtiger systematischer Beziehungen sorgt: Mensch - Sprache - Bewusstsein - Kultur - Gesellschaft - Handeln - Umwelt. In einer komparativen linguistischen Ökologie sollte insbesondere auf die Vertiefung des ökologischen Wissens geachtet werden, denn dieses Wissen kann uns helfen, oben genannte Zusammenhänge zu reflektieren, zu überdenken und die Rolle der Sprache bei der Veränderung unserer Denkweise und als Folge der Umgestaltung unserer Umwelt zu verfolgen. Eine besondere Rolle kommt in der komparativen linguistischen Ökologie der Erschließung des geistigen Leistungsvermögens von sprachlichen Einheiten, Äußerungen und Texten, der Aufdeckung der Faktoren einer harmonischen verbalen Interaktion beim Dolmetschen und Übersetzen und der Pflege einer musterhaften Sprachverwendung, zum Beispiel in älteren lexikographischen Quellen, zu. Negative Erfahrungen aus einer unharmonischen verbalen Interaktion beim Translationsprozess helfen, nach „umweltfreundlicheren“ verbalen Mitteln zu suchen. In der integrativen Translationswissenschaft, die zurzeit an der Nördlichen (Arktischen) Föderalen Universität aktiv ausgearbeitet wird, kommt der Entwicklung der komparativen linguistischen Ökologie eine besondere Rolle zu, indem eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Zweigen herangezogen wird. Die Ökologie hilft dabei, eine kognitive Basis für das neue Fachwissen und einen entsprechenden terminologischen Apparat zu schaffen. Eine langjährige Erfahrung der vergleichenden Sprachwissenschaft ist für eine kontrastive Erforschung von Sprachen und sprachlichen Erscheinungen sehr wertvoll, aber dieses Wissen sollte fortan für die Untersuchung von sprachlichen Codes als Instrumenten einer positiven Einflussnahme auf das Bewusstsein genutzt werden mit dem Ziel, eine bewusstere Beziehung zur Umwelt, zu Differenzen in verschiedenen ethnischen Gruppen und bei ihren Vertretern zu schaffen sowie ein fei- <?page no="185"?> Interkulturelle Erforschung der niederdeutschen Umgangssprache des 17. Jhs. 177 neres Gefühl für eine Sprachverwendung und für die Benutzung von verschiedenen Sprachformen zu bekommen. Die Psychologie kann uns helfen, Mechanismen der verbalen Einwirkung besser zu verstehen. Die Kulturwissenschaft ermöglicht eine neue Reflexion von Grundprinzipien des interkulturellen Zusammenwirkens und ein grundsätzliches Überdenken von Mitteln und Verfahrensweisen in der Redekultur. Soziologie und Philosophie gestatten es, wesentliche Übereinstimmungen in der Sprachnutzung von verschiedenen Sprachträgern aufzudecken und neue Tendenzen in der Entwicklung von kontaktierenden Gesellschaften und im globalen Wissenstransfer aufzuzeigen. Die Ethik kann einen Überblick über moralisch-ethische Eigenschaften der Menschen verschaffen, die zur Harmonisierung von Persönlichkeiten beitragen und Vertreter verschiedener Kulturen vor dem destruktiven Verhalten und verbaler Aggression schützen. Die komparative linguistische Ökologie, die all diese und viele andere Wissenschaften zu integrieren versucht, bildet eine gute wissenschaftliche Grundlage für die Beobachtung von Redeprozessen und für die Mitverfolgung von existierenden Beziehungen zwischen Sprache und Kultur anhand konkreter Sprachformen und -verwendungen, hilft ein positives Potential von Spracherscheinungen, Redeeinheiten und Diskursen aufzudecken und dadurch einen Zusammenhang zwischen Sprache und ihrer Umgebung kontrastiv aufzuzeigen. Mit Hilfe einer komparativen linguistischen Ökologie kann man verschiedene Aspekte einer erfolgreichen verbalen Interaktion zwischen Vertretern kontaktierender Kulturen offenlegen und dadurch zum Beispiel den Translationsprozess qualitativ verändern. Die Verwendung eines komplexen Herangehens an die Interpretation von interkulturell-germanistischen Daten aus der Sicht einer komparativen linguistischen Ökologie kann eine solide Grundlage für die Vorbereitung von Dolmetschern und Übersetzern mit der Ausgangssprache Deutsch und Zielsprache Russisch bilden und gleichzeitig Voraussetzungen für die Realisierung von Grundprinzipien der komparativen linguistischen Ökologie für Translationsziele schaffen. Die komparative linguistische Ökologie erlaubt die im Translationsprozess funktionierenden Sprachen bzw. Sprachformen als Teile von verschiedenen Ökosystemen wahrzunehmen, die eine globale ökologische Aufgabe erfüllen. Besonders wichtig für die weitere Entwicklung einer integrativen Translationswissenschaft scheint dabei die These, dass die kontaktierenden Sprachen keine geschlossenen Systeme bilden, sodass es keinen Sinn hat, sprachliche Strukturen ohne Berücksichtigung von Kommunikationssituationen bzw. Diskursen, d. h. außerhalb einer interkulturellen Interaktion, zu betrachten. <?page no="186"?> 178 Alexander M. Polikarpov 4 Erforschung der niederdeutschen Umgangssprache anhand einer älteren lexikographischen Quelle aus Archangelsk Als Gegenstand unserer Forschung betrachten wir die niederdeutsche Umgangssprache des 17. Jahrhunderts, die man im oben erwähnten, in Archangelsk geschaffenen niederdeutsch-russischen Sprachführer vorfindet. Man beachte dabei gleichzeitig linguistisch-ökologische Gesichtspunkte und aktuelle interkulturellgermanistische Forschungen. Mit Hilfe einer solchen integrierenden Forschungsaufgabe erzielen wir die Einbindung von regional relevanten Fragestellungen in den interkulturell gestalteten DaF-Unterricht sowie in die translatologische Ausbildung und sensibilisieren damit die Studierenden für die Kulturgeschichte des russischen Nordens. Das Zusammenspiel einer komparativen linguistischen Ökologie und einer interkulturellen Germanistik bei der Erforschung des oben genannten niederdeutsch-russischen Sprachführers erfordert ein aufmerksames Herangehen an die Analyse dieser lexikographischen Quelle, die als Produkt der interkulturellen Interaktion der niederdeutschen Vertreter und der russischen Kaufleute im Norden Russlands entstanden ist und die für die interkulturelle Alltagskommunikation - insbesondere beim Handel in der Region Archangelsk - bestimmt war. Die Herkunft des Sprachführers zeigt mit aller Offensichtlichkeit sowohl niederdeutsche Wurzeln als auch einen Bezug zum kaufmännischen Kontext in Russland: Heemer könnte den niederdeutschen Text aus anderen Quellen zusammengestellt haben, kann aber auch nur der Besitzer der Handschrift gewesen sein. Viele Stellen der Handschrift weisen auf die Verbindung des Verfassers mit dem niederdeutschen Sprachraum hin, z. B. die Titel von Würdenträgern, geographischen Angaben u. a. Andererseits werden Realien des russischen Lebens, vor allem des Handels, sowie russische geographische Namen erwähnt, was dafür spricht, dass das Sprachbuch einem Kaufmann als sprachliche Orientierung beim Handel in Russland dienen sollte. (Günther 2002: 9) Woher wissen wir eigentlich, dass dieser Sprachführer in Archangelsk geschrieben wurde? Einen expliziten Hinweis auf die Herkunft der lexikographischen Quelle enthalten schon das Titelblatt des sogenannten Sprachbuches mit der Aufschrift „Archangel d 6 Meert Anno 1696. Johannes von Heemer“ (Günther 2002: 8) sowie die folgenden Zeilen auf Niederdeutsch, die ebenfalls zur Gestaltung des Titelblattes gehören: „Wordt Buch van nederduits in russe sprach oversettet van alle duijtse en russe woorden en tsaemen sprachen. Auij in Archangel d 6 Meert 1696 JWV Heemer“ (Günther 2002: 8). Für Archangelsk als Ursprungsort des Sprachführers spricht ferner der niederdeutsche Satz aus dem Sprachführer, der ebenfalls eine direkte Erwähnung der Stadt Archangelsk <?page no="187"?> Interkulturelle Erforschung der niederdeutschen Umgangssprache des 17. Jhs. 179 beinhaltet: ick sal direkta na Argangel gaen 12v/ 109 (= ich soll direkt nach Archangelsk gehen) - ja woarchangelskoj gorodt pojedoe 5 . Auch die Verwendung von lexikalischen Äquivalenten, die die Züge eines nordgroßrussischen Dialekts aufweisen, bildet einen Beweis dafür, dass das Sprachbuch in der Region Archangelsk geschaffen wurde. Vgl. z. B. folgende Einträge aus dem Sprachbuch: omanout 9v/ 18 (nddt. bedriegen = betrügen, heute auf Russisch in der lateinischen Transliteration „omanut’“); topere 16v/ 17 (jetzt); ulei 8v/ 16 (nddt. doet in tis = gieße ein); neporato 11v/ 27 (nddt. so veel niet = nicht so viel); reditz 9v/ 11 (nddt. accorderen = sich kleiden, heute auf Russisch in der lateinischen Transliteration „reditze“) u. a. Der Aufbau des Sprachführers gleicht sich demjenigen „der Gattung zweisprachiger Sprachbücher an, wie sie im 15.-17. Jh. für viele Sprachpaare bekannt sind“ (Günther 2002: 7). Solche „Sprachbücher“ enthielten in der Regel thematische Wortlisten in zwei Sprachen, Alltagsgespräche verschiedener Art, Vornamen in zweisprachiger Ausführung, Zahlenverzeichnis, Abkürzungsverzeichnis, Zarentitel u. a. Das zu analysierende Sprachbuch aus dem 17. Jahrhundert, das in Jahre 1959 in der Niedersächisischen Landesbibliothek entdeckt und durch die Dissertation von Erika Günther (1964) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, weist eine ähnliche Struktur auf, aber es beinhaltet noch einige verbale Teilparadigmen und Sprichwörter. Die Handschrift ist mit einem Pappdeckel gebunden und besteht aus 20 doppelseitig beschriebenen Blättern, deren Nummerierung nicht gleich bei der Schaffung, sondern viel später erfolgte, was „Schrift und Übergehung des ausgerissenen Blattes beweisen“ (Günther 2002: 7). Die slawistisch orientierte Forschung von Erika Günther aus dem Jahre 2002 und die darin angeführten vier Faksimiles, die einen guten Eindruck vom Original vermitteln können, geben zu erkennen, dass die Anordnung der Vokabulare und Gesprächstexte in drei Spalten erfolgt, wobei die Zahl der Zeilen nicht immer konstant bleibt, aber in der Regel etwa 40 beträgt. Der ganze Aufbau von insgesamt 30 Seiten des Sprachführers zeigt die gleiche Struktur. Die erste Spalte enthält niederdeutsche Vokabeln, Wendungen, Sprüche bzw. Gesprächstexte, die zweite Kolumne gibt deren russische Übersetzung mit kyrillischen Buchstaben wieder, und in der dritten Spalte befindet sich die lateinische Transliteration bzw. die mit Transkription vermischte Transliteration der übersetzten Wörter, Sätze oder Texte. Alle Seiten der lexikographischen Quelle zeigen, dass der Schreiber der niederdeutschen Texte und der Schriftführer des russischen transliterierten bzw. transkribierten Textes verschiedene Personen waren. Ob der kyrillische und der transliterierte Text von der gleichen Hand stammen, 5 Heute würde die Übersetzung ganz anders aussehen: ja wo arhangelskoj gorod poedu. <?page no="188"?> 180 Alexander M. Polikarpov lässt sich nicht eindeutig bestimmen, aber Erika Günther vermutet, dass die Texte eher von zwei verschiedenen Personen geschrieben wurden, was kleinere Abweichungen in der Schreibweise bestätigen könnten (Günther 2002: 7). Interessant sind für unsere interkulturell orientierte Forschung die Beobachtungen von Erika Günther bezüglich des Übersetzers, der an dem Sprachführer mitwirkte: Der Übersetzer beherrschte das Niederdeutsche, das er übersetzen musste, nicht völlig, wovon eine ganze Reihe von Missverständnissen des nddt. Textes zeugt. Dennoch bleibt unklar, welches seine Muttersprache war. Möglicherweise war er ein Deutscher, der durch langen Aufenthalt in Russland das Deutsche nicht mehr perfekt beherrschte, oder er sprach einen anderen deutschen Dialekt. Seine russische Übersetzung weist eine Reihe von unverständlichen Stellen auf, andererseits aber auch interessante Wendungen, Konstruktionen, Ausdrücke usw., die von einer guten Beherrschung des Russischen mit nordgroßrussischen Dialektzügen zeugen. (Günther 2002: 12) Diese wissenschaftlich fundierten Beobachtungen zeigen, dass wir es auf jeden Fall mit einem Untersuchungsobjekt zu tun haben, das den Anforderungen der interkulturellen Germanistik voll entspricht. Der Sprachführer spiegelt gleichzeitig mehrere Begegnungsebenen wider, basiert aber auf einer niederdeutschen Umgangssprache, die mehrere Dialektbzw. Mundartenzüge aufweist. Ausgerechnet diese Umgangssprache war früher ein Wegweiser zur Völkerverständigung im norddeutschen und ostniederländischen Sprachraum, diente aber gleichzeitig als Umgangssprache im internationalen Handelsverkehr, unter anderem auch in Archangelsk als dem ersten russischen Handelshafen. Kulturgeschichtlich ist zu bemerken, dass Niederdeutsch seit dem 16. Jahrhundert auf den Straßen von Archangelsk oft zu hören war, denn die meisten deutschen Handelsleute kamen aus den norddeutschen Hafenstädten, außerdem kamen über Archangelsk viele Kaufleute aus den Niederlanden nach Russland. 1584 wurden die Stadt und der Hafen von Archangelsk in der Nähe des Archangel‘skij monastyr’ gebaut, damit hatten die Holländer erstmals die Möglichkeit, ohne Vermittlung der Hanse und ohne Beeinträchtigung des Seeweges durch Dänemark oder Schweden direkt mit Russland zu handeln. (Günther 2002: 15) Wichtig ist, dass die niederdeutsche Alltagssprache in der angegebenen Quelle durch die russische Kultur bzw. durch die Sichtweise eines vermutlich in Archangelsk sesshaften Deutschen beeinflusst wurde, was unseren Forschungen eine interkulturelle Sicht ermöglicht. Warum kann die Erforschung der niederdeutschen Umgangssprache anhand eines niederdeutsch-russischen Sprachführers aus dem 17. Jahrhundert unter linguistisch-ökologischen Gesichtspunkten im Rahmen der interkulturellen Germanistik interessant sein? Unser Bemühen um eine ökologisch relevante Neuentdeckung der angeführten lexikographischen Quelle bei einer eingehenden Analyse der sich darin widerspiegelnden Alltags- <?page no="189"?> Interkulturelle Erforschung der niederdeutschen Umgangssprache des 17. Jhs. 181 sprache bzw. des Alltagsvokabulars führten zu der Überzeugung, dass dabei Grundideen einer komparativen linguistischen Ökologie bestätigt werden. Es lässt sich z. B. feststellen, dass viele Wörter und Wendungen aus dem niederdeutschen Wortschatz in Heemers Sprachführer von einer harmonischen verbalen Interaktion zeugen. Als Nachweis dafür kann man u. a. folgende niederdeutschen Vokabeln und dialogischen Strukturen betrachten: wel 15r/ 33 (Partikel zum Ausdruck einer Schlussfolgerung oder Zustimmung) - ladno; Belieft V mede na de kerck te gaen 7v/ 1,2 = Beliebt es dir, in die Kirche zu gehen? (als eine Einladung zu einem Kirchenbesuch) - Jsswolischli Somnoj kzerkwi itti (heute würde die Übersetzung ganz anders aussehen: Ne izwolisch li so mnoj shodit‘ v cerkov’? ); Godt gelejdse en bewaerse vor quaet 8v/ 14 = Behüte dich Gott vor dem Bösen! - Sprovodi isograni bogh otsla (die heutige lateinische Transliteration der Übersetzung ins Russische würde auch wohl ganz anders aussehen: Spasi i sohrani, gospodi ot zla! ); dat kont gij wel denken wat dat gij so onbeleeft sijt 12v/ 110 = Sonst kannst du wohl denken, dass du so unhöflich bist? = to mosesch tie dumat sto tie Stool neweslif (A neto ty možeš podumat‘, što ty stol‘ nevežliv); alst V belieft Mijne Heeren; godt bewaer V mijn heer 13v/ 33 = Gott bewahre dich, mein Herr! - Soghrani tebae bogh gospodin moij (Sohrani tebja bog, gospodin moj! ). Ökologisch wirken z. B. auch folgende niederdeutschen Begrüßungs- und Anredeformen wie goeden dag mijn vrindt 9r/ 13 = Guten Tag, mein Freund! - Sdorovo drough moij (die transliterierte Übersetzung sollte heute folgenderweise geschrieben werden: Zdorovo, drug moj! ); goeden dag Mijn heer 12r/ 36 = Guten Tag, mein Herr! - Sdorovo gospodin moj; wel godt danck om V te dienen 6v/ 3 = Grüß Gott! - Sdorovo ghwala bogoe tebe Sloesit (Zdorovo, hvala bogu tebe služit). Eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Handel waren damals höfliche Formeln des Widersprechens (Streitens), der Versöhnung und der Entschuldigung, die im Sprachbuch in Alltagsgesprächen angeführt werden (het is mij leet dat ik V daer een Wort van gesegt hebbe = Tut mir leid, dass ich dir kein Wort davon gesagt habe - Sal mne tsto Ja tebe slova otom neskasall [Žal mne što ja tebe slova o tom ne skazal]; komt laet ons vrinrschap maecken 12r/ 22 = Kommt, lasst uns Freundschaft machen! - poidem Smirimse [pojdem smirimse! ]; wel so vaert dan wel 12r/ 24 = Gut, lassen wir es sein - dobro prostisse [Dobro, prosti že! ]). In der niederdeutschen Umgangssprache des 17. Jahrhunderts, so wie sie im Sprachführer dargestellt ist, gab es viele Höflichkeitsformen, die zur Verständigung der internationalen Handelspartner einen wichtigen Beitrag leisteten: komt laet mij eens sien hoe veel poede Jugten daer sijn 15r/ 28 = Komm, lass uns sehen, wieviel Pfund Juchtenleder (Rindsleder) das ist! - podi daij mne posmotritt Skolko poedof juftej tam est (podi, daj mne posmotret‘, skol’ko pudof juftej tam est); Ick bid V doet mij so veel eer 16r/ 10 = Ich bitte dich, tu mir so viel Ehre! - posaluj utsini mne stol mnoge tsesti (Požaluj u ini mne stol‘ mnogo <?page no="190"?> 182 Alexander M. Polikarpov esti! ); Ick bid V doet mij die gunst 16r/ 12 = Ich bitte dich, tu mir den Gefallen und […] - posaluj utsini mne to prijatstvo […] (požaluj u ini mne prijatstvo […]); doet mij de vrindschapt dan en brentse mede hier […] 16r/ 31 = Sei bitte so nett und bringe hierher […] - utsini mne toe drushboe da priwedi suda ssoboju (u ini mne tu družbu, da privedi s soboju […]). In linguistisch-ökologischer Hinsicht verfügen viele der im Sprachbuch angeführten Sprichwörter und Sprüche über eine positive Ausstrahlung, die Handelskommunikation zu bereichern und zu harmonisieren vermochten: laet nijit de gront van V beurs sein 17v/ 21 = Lass nie den Grund für das Böse zeigen - nikogda nekasi mosennogo dna (nikogda ne kaži mošennogo dna); die haest betrout die is haest bedroogen 17v/ 17 = Die Hast betreut die Hast des Betrugs - gto skoro nadejetse tot skoro i oomanen (kto skoro nadeetsja, tot skoro i omanen). In den Sprachführer sind wohl mit Absicht auch solche niederdeutschen Wörter und Wendungen aufgenommen, die die Kommunikation negativ beeinflussen bzw. obszön wirken können. Aber gerade sie vermitteln ein wahrheitsgetreues Bild des Umgangs, der im 17. Jahrhundert herrschte: hoer jager 5r/ 14 = Hurenjäger - Bladun; een geck 5r/ 20 = Dummkopf - doerak (durak); gaudief 4r/ 5 = Gaudi - lutoy Wor (ljutoj wor); dat dank V de duijvel ook = Das verdanken wir auch dem Teufel - tak i tzort tebe tose Spasibo dast [freie Übersetzung] (tak i jort tebe tože spasibo dast). 5 Fazit Ausgehend von der Kulturverbundenheit als einem wichtigen Prinzip der interkulturellen Germanistik kommen wir zu der Schlussfolgerung, dass eine komparative linguistische Ökologie ein aufmerksameres Verhältnis sowohl zu den negativen als auch zu den positiven sprachlichen Tendenzen voraussetzt, die für das Bewusstsein der Sprachnutzer und ihrer Kultur bedeutend sind. Als Sprachkorpus wurde für unsere Zwecke das niederdeutsch-russische Sprachbuch von Johannes von Heemer aus dem 17. Jahrhundert gewählt. In diesem Sprachführer wurden viele Wörter, Wendungen, Sätze und Sprüche entdeckt, die eindeutig ein positives Potential aufzeigen und den heutigen Sprachökologen bei der Erforschung von Kommunikationsproblemen gute Hilfe leisten können. Es wurde bewiesen, dass manche sprachlichen Strukturen und Eigenheiten von Alltagstexten, die in einem interkulturellen Kontext verwendet wurden, eine negative Wirkung auf die Kommunikation ausüben konnten, jedoch die reale Situation in der niederdeutschen Umgangssprache des 17. Jahrhunderts lexikographisch widerspiegeln. Die Berücksichtigung der Kulturalität in der Dialogfor- <?page no="191"?> Interkulturelle Erforschung der niederdeutschen Umgangssprache des 17. Jhs. 183 schung und eine linguistisch-ökologische Herangehensweise an das Forschungsmaterial führten zu folgenden Ergebnissen: Mehr als 25 deutsche Alltagsdialoge in Form von niederdeutschen Gesprächstexten wurden nach den genannten Methoden analysiert, wobei linguistischökologische Formeln gesammelt wurden, die uns gezeigt haben, dass man im 17. Jahrhundert im Alltag manchmal viel harmonischer kommunizierte als heute. Besondere Aufmerksamkeit wurde den Gesprächstexten geschenkt, die für den russischen Alltag in Archangelsk im 17. Jahrhundert relevant waren (gemeinsamer Besuch des Marktes, Aufforderung zum gemeinsamen Kirchenbesuch, Gespräche beim Einkaufen, Tischgespräche, Streit zwischen Kaufleuten wegen zu hoher Preise, Umtrunk usw.). Es wurde an einzelnen Beispielen verdeutlicht, dass der Archangelsker Übersetzer, der für das Sprachbuch arbeitete, die niederdeutsche Umgangssprache als Gesamtheit aller westgermanischen Mundarten des kontinentalen nördlichen Europa nicht ganz gut beherrschte (obwohl er vermutlich Deutscher war). In einigen Alltagsgesprächen und einzelnen Sätzen kann man Übersetzungsfehler entdecken, die die interkulturelle Alltagskommunikation der damaligen Zeit negativ beeinflussen konnten. Zum Beispiel wurde der niederdeutsche Satz „schelmt uen schelt gij nog lange“ 13r/ 12 = „Schimpfst und schiltst du noch lange? “ ins Russische übersetzt mit „Vor branisse ty ese dolgo? “, was wortwörtlich aus dem Russischen übersetzt so viel bedeutet wie „Dieb, schiltst du noch lange? “ Schlussfolgernd kann man sagen, dass die komparative linguistische Ökologie mit der Erforschung und Vermittlung adäquater sprachlicher Mittel einen Beitrag zur Bewahrung epochenabhängiger und berufsgruppenspezifischer Kommunikationsformen leisten kann. Sie erforscht im gesellschaftlichen Zusammenhang Prozesse, die heute in den Sprachen und dem Bewusstsein der Sprachbenutzer ablaufen bzw. früher abgelaufen sind. So ermöglicht dieser Wissenszweig für interkulturelle Forschungen neue Erkenntnisse zu den sprachlichen, gesellschaftlichen und kulturell-historischen Prozessen sowie zur Entwicklung von Wirtschaftsbeziehungen in der jeweils behandelten Epoche. 6 Literatur Sekundärliteratur Biesterfeld, Wolfgang (2014): Der Fürstenspiegel als Roman. Narrative Texte zur Ethik und Pragmatik von Herrschaft im 18. Jahrhundert. Baltmannsweiler. Elmentaler, Michael (2012): In Hannover wird das beste Hochdeutsch gesprochen. In: Anderwald, Liselotte (Hrsg.) (2012): Sprachmythen - Fiktion oder Wirklichkeit? Frankfurt am Main u. a. S. 101-115. <?page no="192"?> 184 Alexander M. Polikarpov Gooßens, Jan (1983): Niederdeutsche Sprache: Versuch einer Definition. In: Gooßens, Jan (Hrsg.): Niederdeutsch: Sprache und Literatur. Eine Einführung. Bd. 1: Sprache. Neumünster. S. 9-27. Günther, Erika (1964): Zwei russische Gesprächsbücher aus dem 17. Jahrhundert. Dissertation. Berlin. Günther, Erika (2002): Das Niederdeutsch-russische Sprachbuch von Johannes von Heemer aus dem Jahre 1696. Frankfurt am Main u. a. Menke, Hubertus (1998): Niederdeutsch: Eigenständige Sprache oder Varietät einer Sprache? In: Hartel, Nina/ Meurer, Barbara/ Schmitsdorf, Eva (Hrsg.): Lingua Germanica. Studien zur deutschen Philologie. Jochen Splett zum 60. Geburtstag. Münster/ New York. S.172-184. Rohlfing, Gerd (2013): Die verlorene Umgangssprache: Vom Niedergang des Niederdeutschen. Hamburg. Ruge, Jürgen (2000): Generationsspezifische Untersuchungen am mundartlichen Fachwortschatz. In: Stellmacher, Dieter (Hrsg.): Dialektologie zwischen Tradition und Neuansätzen. Beiträge der Internationalen Dialektologietagung, Göttingen, 19.-21. Oktober 1998. Stuttgart (ZDL Beihefte; 109). S. 138-142. Sanders, Willy (1982): Sachsensprache, Hansesprache, Plattdeutsch: sprachgeschichtliche Grundzüge des Niederdeutschen. Göttingen. Schröder, Ingrid (2005): Die Zukunft des akademischen Faches Niederdeutsch. In: Stellmacher, Dieter (Hrsg.): Zur Wissenschaft vom Niederdeutschen. Beiträge zu einem Fachjubiläum und Dokumentation eines Kapitels germanistischer Fachgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Neumüster (Name und Wort; 16). S. 43-66. Stellmacher, Dieter (2000): Niederdeutsche Sprache. Berlin. Wagner, Klaus R. (2001): Pragmatik der deutschen Sprache. Frankfurt am Main u. a. Internetquellen Homepage des Kompetenzzentrums Interkulturelle Linguistik/ Germanistik: https: / / www. uni-erfurt.de/ sprachwissenschaft/ germanistisch/ internationales/ ifnig/ (22.2.2016). http: / / www4.uni-flensburg.de/ ? 1602 (29.3.2016). https: / / www.slm.uni-hamburg.de/ niederdeutsch/ ueber-die-abteilung.html (29.3.2016). https: / / www.slm.uni-hamburg.de/ niederdeutsch.html (29.3.2016). https: / / www.germanistik.uni-kiel.de/ de/ lehrbereiche/ niederdeutsch (29.3.2016). http: / / www.vnds.de (29.3.2016). http: / / www.vnds.de/ de/ niederdeutsch-an-hochschulen.html (29.3.2016). <?page no="193"?> Unkonventionelle Realienbezeichnungen und ihre Manifestation in einem interkulturellen Medienkontext (Deutsch, Russisch) Tanja Seliazneva (Erfurt) Zusammenfassung Im vorliegenden Artikel werden am Beispiel von in deutschen und russischen Pressetexten vorhandenen unkonventionellen Realienbezeichnungen neue Entwicklungstendenzen in der Metaphorik der Mediensprache kritisch dargestellt. Auf der Basis einer empirischen Untersuchung deutscher und russischer Pressetexte wird überprüft, ob Realienbezeichnungen in den beiden Sprachkulturen durch andere lexikalische Einheiten ersetzt und mit ihrer Hilfe metaphorisiert werden. Die Ergebnisse dieser empirischen Untersuchung sind Gegenstand des vorliegenden Beitrages. Durch die Beschreibung des Textkorpus sowie durch die Klärung einiger methodischer Fragen wird schließlich eine These entwickelt, wie das Phänomen unkonventioneller Realienbezeichnungen in den beiden Sprachkulturen vermutlich entstanden ist. 1 Hintergrund Im 21. Jahrhundert ist der Aspekt eines „rethinking language users as language makers“ als eine neue Forschungsperspektive in der Linguistik entdeckt worden (Davis/ Taylor 2003: 11). Die Entwicklungstendenzen der Sprach- und Zeichentheorie haben neue Perspektiven in der Sprachanalyse eröffnet, und zwar die „peinture“-Auffassungen der Sprache: die Bestimmung des sprachlichen Bildes als Redefigur und Metapher (Kövecses 2005; Hecke 2011; Drewnowska-Vargáné 2015 u. a.). Die Sprache wird dabei zunehmend als Produkt der menschlichen Fähigkeit zur fortwährenden Metaphorisierung bezeichnet (Rapaj 2008: 16), was die Palette neuer Lexeme im Bestand der Gegenwartssprache zumindest teilweise erklären kann. Insbesondere die Verwendung von neuer Lexik in Zeitungen kann der lexikologischen Forschung als Datengrundlage dienen, um spezifische Erkenntnisse über die Bildung, Verteilung und Funktion neuer Wörter im Kommunikationsbereich der Pressesprache zu gewinnen (Peschel 2002; Elsen 2011). Die Verwendung von Sprache in den Medien stellt einen Teil des gesellschaftlichen Lebens dar; in Zeitungen werden täglich Ereignisse aus Politik, Kultur und Gesellschaft behandelt und diskutiert, und es wird mit neuen Wörtern auf diese Entwicklungen reagiert (Heyne/ Vollmer 2016: 1). Das neue Benennen bekannter <?page no="194"?> 186 Tanja Seliazneva Sachverhalte, die textuelle Gestaltung und die stilistische Aufbereitung aktueller Themenkomplexe begünstigen den Einsatz von neuen Lexemen in Printmedien. Der Forschungsgegenstand dieser Studie ist ein in der Pressesprache verbreitetes lexikalisches Phänomen, das als Produkt unkonventioneller und innovativer Textgestaltung der Pressesprache betrachtet werden kann. Dabei handelt es sich um eine Gruppe lexikalischer Einheiten, die die bereits existierenden Realienbezeichnungen auf eine neue und/ oder unkonventionelle Art benennen. Diese oft in den Pressetexten vorkommenden unkonventionellen Benennungen/ Bezeichnungen bekannter Realien nenne ich unkonventionelle Realienbezeichnungen. Das Verstehen und die Interpretation solcher Lexeme können allerdings große Schwierigkeiten bereiten. Neue Wörter, die entweder in ihrer Form oder in ihrer Bedeutung oder in beidem eine Neuheit aufweisen, werden divers im Kommunikationsbereich der Pressesprache eingesetzt (Heyne/ Vollmer 2016). Der in dieser Studie geprägte Terminus „unkonventionelle Realienbezeichnungen“ schließt eine Lücke in der lexikalischen Medienforschung, indem er alternative Benennungen bekannter landeskundlicher Realien definiert, die sich strukturell durch stilistische Sprachfiguren (Metaphern, Metonymien oder Periphrasen) konstituieren und die jeweils eine bestimmte Funktion in der Pressesprache ausüben. Beispiele solcher Benennungen sind häufig in Pressetexten vorzufinden: Fast noch mehr Renommee gewann der hippe Betonierer mit seiner inzwischen kultverdächtigen „Antivilla“, die durch den Umbau eines alten DDR-Textilstofflagers am Krampnitzsee bei Potsdam entstand (Süddeutsche Zeitung vom 22.07.2016, S. 31; bei dem Betonierer handelt es sich um Arno Brandlhuber, ein in Berlin ansässiger deutscher Architekt und Hochschullehrer). Mediendiskurse können als Möglichkeitsbedingungen der Profilierung von Begriffen dienen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Medien zum einen die Vermittler von Wissen und zum anderen die Erzeuger von Wissen sind, denn als Diskursakteure entscheiden sie, welche politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Ereignisse aus welcher Perspektive und vor welchem Hintergrund in einer Diskursgemeinschaft profiliert werden (Czachur 2015: 234). Wissen und Bedeutung können in einem oder durch einen Mediendiskurs in einer Diskursgemeinschaft profiliert werden, indem Gegenstände oder Personen bewertet werden. Der Diskurs gilt als Ort semantischer Perspektivierungen oder als Ort der Wertekämpfe (Felder 2006). Es handelt sich also um diskursive, vielschichtige und bewusste Handlungen, die darauf ausgerichtet sind, die eigene Sichtweise und die eigenen Interessen sprachlich oder nicht-sprachlich durchzusetzen. Für Mediendiskurse (als Gesamtheit der durch unterschiedliche Mas- <?page no="195"?> Unkonventionelle Realienbezeichnungen und ihre Manifestation 187 senmedien vermittelten Aussagen) ist charakteristisch, dass diskursive Medienakteure, so Miko ajczyk (2004: 40), - ein politisch relevantes Ereignis thematisieren und dabei bewusst bestimmte Themenaspekte selektieren und adressieren, - selektierte und adressierte Argumente für oder gegen das geschilderte Thema vorbringen und durch die Präsenz von bestimmten Politikern, Intellektuellen oder Experten diese legitimieren, - bei ihrer Zielgruppe gezielt bestimmte Wissensbestände (Emotionen, Konnotationen usw.) auszulösen versuchen und - dadurch das geschilderte Thema bewerten. Dies erfolgt mit bestimmten Benennungsstrategien, denn aufgrund eines bestimmten Ausdrucks wird ein Objekt, ein Sachverhalt, eine Person, eine Handlung zu etwas Bewertetem (Czachur 2015: 236). Die Bewertungen werden in dem Fall durch bestimmte sprachliche und nicht-sprachliche Bewertungsstrategien in Form von Schlüsselwörtern, Argumentationsmustern oder Stilfiguren aktiviert. Mit der bewertenden Versprachlichung […] erfolgt eine inhaltliche Kondensierung (Vereinfachung, Perspektivierung, Polarisierung usw.), die die Einstellungsbekundung der Diskursakteure zum Ausdruck bringt (Czachur 2011). In diesem Beitrag gilt es zu klären, ob das Phänomen unkonventioneller Realienbezeichnungen, das hier analysiert wird, zu den Benennungsstrategien gehört, die heutzutage in Pressetexten angewendet werden. Dazu soll in einem ersten Schritt zunächst klar definiert werden, was im Folgenden unter Realien einerseits und Realienbezeichnungen andererseits verstanden wird. Realien sind „Identitätsträger eines nationalen/ ethnischen Gebildes, einer nationalen/ ethnischen Kultur - im weitesten Sinne - und werden einem Land, einer Region, einem Erdteil zugeordnet“ (Snell-Hornby 1998: 288), d. h. sie sind kulturspezifische Gegenstände (z. B. Speisen, Währungen, Feste, Verkehrsmittel usw.), politisch-gesellschaftliche Institutionen sowie Eigennamen (Personennamen, geographische Namen usw.). Unter Realienbezeichnungen werden hier die B e z e i c h n u n g e n für kulturspezifische Gegenstände und Begriffe (z. B. Speisen, Währungen, Feste, Verkehrsmittel usw.), für politisch-gesellschaftliche Institutionen und Begriffe (z. B. Bezeichnungen im Zusammenhang mit der Staatsverwaltung und Nachrichtenübermittlung, mit dem Gesundheitswesen und Handel usw.; Bezeichnungen von sozialen Schichten) sowie Eigennamen (Personennamen, geographische Namen usw.) verstanden (Fodor/ Heltai 2012). Die erwähnte unkonventionelle Nomination im Fall von Realienbezeichnungen erfolgt - laut den unten dargestellten Untersuchungsergebnissen - mittels Metaphern, Metonymien und Periphrasen. In Abkehr von klassischen Theorien, <?page no="196"?> 188 Tanja Seliazneva die in diesen stilistischen Mitteln rein sprachliche Phänomene sahen, die ausschließlich ästhetischen Zwecken dienen, wurden einige Begriffe - in erster Linie die Begriffe Metapher und Metonymie - in der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts grundlegend erweitert, als die kognitiven und kommunikativen Funktionen dieser stilistischen Mittel erkannt wurden (Jäkel 1997; Gibbs 1999). Das kognitive Verständnis von Metaphern und Metonymien basiert auf den Theorien von Wissenschaftlern wie Lakoff, Johnson, Radden, Kövecses, Gibbs u. a. und sieht in deren Manifestationen das Ergebnis verschiedener kognitiver Prozesse (Lakoff/ Johnson 1980; Radden 2000; Kövecses 2005; Gibbs 1999). Diese stilistischen Mittel strukturieren zum einen die alltäglichen Wahrnehmungen und Handlungen, zum anderen veranschaulichen sie abstrakte Sachverhalte und erklären komplexe Zusammenhänge. Aus diesem Grund werden hier Metapher und Metonymie weiterhin nicht nur (und nicht so sehr) unter linguistischen Gesichtspunkten betrachtet, sondern auch als mentale Konstruktionsmechanismen angesehen. Diese Vorgehensweise wurde bereits von anderen Autoren postuliert: [I]t should come as no surprise that […] metaphor and metonymy are not primarily discussed as literary devices - as has long been the case - but as cognitive operations finding their expression in language (Hecke 2011: 34). Es bleibt also festzuhalten, dass auch in diesem Beitrag Metapher und Metonymie von ihrer semantischen und funktional-pragmatischen Seite her betrachtet werden. Im Rahmen des klassischen Metaphernverständnisses, d. h. im Rahmen der traditionellen Substitutions- und Vergleichstheorie, wird die Metapher als ein auf objektiven Ähnlichkeiten basierender Vergleich angesehen, bei dem das eigentlich gemeinte Wort durch einen „uneigentlichen“, metaphorischen Begriff ersetzt wird (Jäkel 1997: 89). Dabei wird Metapher als ein bewusst eingesetztes, schmückendes, rein rhetorisches Element angesehen, das keinen Zusammenhang zwischen der Kognition und dem Erzeugen und Verstehen von Metaphern herstellt. Das ‚neuere‘ Metaphernverständnis, das etwa im Rahmen der Interaktionstheorie (Black 1962) anzutreffen ist, richtet sich gegen die Konventionalität des reinen Substitutions- und Vergleichsmodells und weist der Metapher „eine wesentliche wirklichkeitsstrukturierende Rolle“ zu (Pielenz 1993: 63). Demgemäß werden durch eine Metapher zwei verschiedene Gegenstandssysteme miteinander verbunden, wobei auf den ersten Gegenstand bestimmte „Wissensbestände“ übertragen werden, welche in der jeweiligen Sprachgemeinschaft allgemein mit dem zweiten Gegenstand assoziiert werden - ganz gleich, ob diese Wissensbestände einer objektiven Wahrheit entsprechen oder lediglich auf Hypothesen basieren (Jäkel 1997: 101). Bei einer solchen metaphorischen Über- <?page no="197"?> Unkonventionelle Realienbezeichnungen und ihre Manifestation 189 tragung kommt es zu einer Veränderung in der Wahrnehmung: Die verschiedenen Gegenstände werden unterschiedlich betrachtet, da nun die bestimmten/ einzelnen Eigenschaften gesehen und andere Charakteristika verdeckt werden. Eine metaphorische Aussage kann in diesem Fall zu einer veränderten Sichtweise führen. Somit sieht die Interaktionstheorie in der Metapher ein „einflußreiches Instrument zur Gestaltung und Strukturierung unserer Wirklichkeit“ (Jäkel 1997: 99). Mit der Substitutions- und Vergleichstheorie hat die Interaktionstheorie jedoch gemeinsam, dass sie sich in erster Linie auf kreative und innovative Metaphern bezieht. Sowohl die Metapher als auch die Metonymie werden hier nicht nur als Stilmittel betrachtet, sondern auch als ein grundlegender Konzeptualisierungsmechanismus gesehen, der sich in sprachlichen Äußerungen niederschlagen kann. Bemerkenswert ist die sich immer mehr verfestigende Einsicht, dass auch die Metonymie in der Sprache und im menschlichen Denken eine zentrale Rolle einnimmt (Kern 2010: 2). The impulse to speak and think with metonymy is a significant part of our everyday experience. […] [M]enonymy shapes the way we think and speak of ordinary events (Gibbs 1999: 61). [Also the metonymy] […] has graduated from a ‚stand-for‘ decorative device to the mechanism of obtaining mental access to certain mental entities through others (D ere -G owacka 2007: 335). Die Unterscheidung zwischen metaphorischer und metonymischer Übertragung scheint jedoch manchmal schwierig zu sein. Die Abgrenzung beider Phänomene wird auch im 21. Jahrhundert diskutiert (Barcelona 2000; Radden 2000; Grygiel 2007), da beide „fuzzy boarders“ haben (Grade ak-Erdelji 2007: 93). Einige Autoren binden Metapher und Metonymie zusammen: [T]he target or the source of a potential metaphor must be understood or perspectivised metonymically for the metaphor to be possible (Barcelona 2000: 31). Trotzdem wird dieser Unterschied immer noch unterstrichen: [M]etaphoric mapping is a projection of similarity between conceptual elements and metonymic mapping can be interpreted as a transfer of contiguity resulting in narrowing or broadening of specifications within the conceptual elements pertaining to particular domains. Thus, both metaphoric and metonymic mappings constitute associative relationships which can lead to an alteration of meaning (Grygiel 2007: 228). Die Kontiguitätsrelationen im Fall der Metonymie können dabei entweder physischer oder konzeptueller Natur sein: The discussions of metonymy are focused on the relation of contiguity, which is either physical contiguity or conceptual contiguity ( liwa 2007: 289). <?page no="198"?> 190 Tanja Seliazneva Das heißt: Obwohl Metonymien und Metaphern sich desselben Typs semantischer Operationen bedienen, „die in Gestalt von noch zu fixierenden Parametern Ansatzmöglichkeiten für die Realisierung von pragmatisch bzw. kognitiv gesteuerten metonymischen und metaphorischen Interpretationen zur Verfügung stellen“, beinhalten die zwei betrachteten Tropen konzeptuelle Beziehungen unterschiedlichen Typs. Während bei den Metaphern Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den involvierten Arten, die ihrerseits mit der in der Metaphernbildung realisierten konzeptuellen Projektion verbunden sind, zugrunde liegen, spiegelt bei den Metonymien die Beziehung zur wörtlichen Bedeutung eine ontologische Relation zwischen Elementen der jeweiligen Bezugsdomänen wider (Dölling 1999: 31-32). Die beiden stilistischen Mittel - Metapher und Metonymie - werden manchmal auch als „bildliche Periphrase“ bezeichnet (Midjana 2005: 84). In diesem Beitrag wird Periphrase jedoch als ein spezifisches Ausdrucksmittel in der Metaphorik betrachtet, da Periphrase und eigentliche Bezeichnung nur auf der Referenzebene, nicht aber auf der Bedeutungsebene identisch sind (Midjana 2005: 15). Als klassische Definition der Periphrase nehmen wir diejenige, in deren Rahmen sie als ein stilistisches Mittel auftritt, welches die Eigenschaft der einheitlichen Nomination hat, und als Mittel der zweiten Benennung von Objekten der Wirklichkeit und ihrer Charakteristik aus der Perspektive eines Merkmals in einem bestimmten Kontext oder einer bestimmten Situation dient (Sinina 2012: 211). An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass dieser Beitrag kein weites Verständnis der Begriffe Metapher, Metonymie und Periphrase vertritt. Einbezogen werden nur jene Aspekte der betrachteten Begriffe, welche einerseits auf lexikalisch-semantischer und andererseits auf funktionaler Ebene Bedeutung und Referenz besitzen. 2 Zielsetzung Das Ziel dieses Beitrags besteht darin, dass das Phänomen unkonventioneller Realienbezeichnungen am Beispiel deutscher und russischer Pressetexte analysiert wird. Dabei soll Folgendes ermittelt werden: - lexikalische Bestandteile, die als unkonventionelle Realienbezeichnungen auftreten (im Deutschen und Russischen); <?page no="199"?> Unkonventionelle Realienbezeichnungen und ihre Manifestation 191 - Sprachmittel, die unkonventionellen Realienbezeichnungen zugrunde liegen, und stilistische Besonderheiten, die in ihrer Metaphorik im Deutschen und Russischen vorzufinden sind; - Funktion(en), die unkonventionelle Realienbezeichnungen in einem Medienkontext erfüllen. Diesbezüglich werden in dieser Arbeit die Ausdrucksmittel unkonventioneller Realienbezeichnungen aus einer semantischen und einer funktional-pragmatischen Sicht betrachtet. 3 Korpus Für diesen Beitrag wurden ca. 200 unkonventionelle Realienbezeichnungen aus den beiden betrachteten Sprachen (je 100 für das Deutsche und Russische) untersucht. Die ausgesuchten Einheiten stammen aus den Tageszeitungen Süddeutsche Zeitung und zwischen Januar und März 2015. 4 Analyse Nicht nur Psychologen, sondern auch Linguisten gehen heute davon aus, dass menschliches Verhalten motiviert ist. Sprache und Sprachgebrauch sind von daher auch motiviert, und zwar pragmatisch, soziolinguistisch und kognitiv: [H]uman behavior is usually motivated. Language as a form of human behavior thus should be motivated (Radden/ Panther 2004: 53). Mit der Verwendung von besonderen Benennungsstrategien werden immer nur bestimmte Bedeutungsaspekte der Gegenstände in Verbindung gebracht, andere werden ausgeblendet. Dies erfolgt auf der Basis von kulturspezifischen Sichtweisen (Czachur 2011). Die linguistische Analyse sollte in der Lage sein, durch die Untersuchung der diskursspezifischen Verwendung von Lexemen die spezifischen Denk- und Sichtweisen einer Sprachgemeinschaft zu rekonstruieren. Eine Sprachgemeinschaft ist eine Gruppe von Sprachbenutzern, die von sich denkt, die gleiche Sprache zu gebrauchen (Perrin 2015: 150). Die primäre linguistische Analyse der 200 unkonventionellen Realienbezeichnungen hat gezeigt, welche Realienbezeichnungen in den deutschen und russischen Pressetexten durch ihre unkonventionellen Äquivalente ersetzt werden. Dazu gehören folgende Wortgruppen (Bauer 1998: 55-59): <?page no="200"?> 192 Tanja Seliazneva 1. Anthroponyme (Namen für Menschen bzw. für menschenähnlich vorgestellte Wesen): Einzelnamen: Der deutsche Elvis (Peter Kraus), / Primadonna (Alla Pugatschewa); Kollektivnamen: eine rot-rot-grüne Koalition (eine Koalition der Parteien SPD, Die Linke und Die Grünen), / Zhelesnodorozhniki (Fußballclub „Lokomotive“ in Moskau). 2. Toponyme (Ortsnamen): Makrotoponyme: Mainhatten (Frankfurt am Main, Deutschland), / Neftegazovaja stolitza Rossii (Tumen, Russland); Mikrotoponyme: Telespargel (der Fernsehturm in Berlin), / Schtschepka (Moskauer Kunstschule von M. S. Schtschepkin); 3. Ergonyme (Objektnamen, d. h. Namen von Schiffen, Flugzeugen und anderen Fahrzeugen, Gebäuden u. a.): Kaffkieker (der älteste deutsche Museums-Dampfzug), / Kopejka (Shiguli, Modell I). Ein prinzipieller Unterschied solcher Einheiten zu „reinen“ Eigennamen ist der pragmatische Aspekt ihrer Verwendung in der Sprache. Wellmann zufolge ist das Proprium (und gerade die Namensform) nicht auf die langue reduzierbar, da gerade das Proprium ein langue-Phänomen ist (Wellmann 1982: 118). Das „So-und-so-Genanntsein“ bezieht sich als semantischer Aspekt des Propriums immer auf das Nennen, nicht auf das Genannte, und insofern handelt es sich nicht um einen „Dingbegriff“, sondern um einen „Funktionsbegriff“, der die Semantisierung der Sprachform betrifft (Willems 1996: 134). Die Bedingungen für diese Semantisierung sind in der Sprache selbst gegeben. Aufgrund der spezifischen Eigenschaft der Sprache als Form-Bedeutung-Gebilde kann man die eigene Form der Sprache jederzeit zur Bedeutung machen (Willems 1996: 130). Obwohl in den meisten Sprachgebieten auch viele Eigennamen vorkommen, die ursprünglich fremder Herkunft sind, verfügen die Vertreter verschiedener Kultur- und Sprachgemeinschaften dementsprechend über einen besonderen „Eigennamenschatz“ (Herbermann 1982: 375) und „geschichtliche Ausdruckssysteme“ (Willems 1996: 128). Als Bestandteile der Lexik stellen unkonventionelle Realienbezeichnungen Bestandteile dieses „Eigennamenschatzes“ dar. Die semantische Analyse solcher Einheiten zeigt, dass diese in der Mediensprache mittels (1) Metaphern, (2) Metonymien und (3) Periphrasen (Tabelle 1) ausgedrückt werden: <?page no="201"?> Unkonventionelle Realienbezeichnungen und ihre Manifestation 193 Bildungsmittel Deutsch Russisch Metapher Hohler Zahn (die evangelische Kaiser- Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, die im Zweiten Weltkrieg zerstört und zur Mahnung nicht wieder aufgebaut wurde) / Internet Explorer ( / Europaplatz in Moskau, auf dem ein riesiges Internet-Logo- Denkmal errichtet wurde) Metonymie der Knigge (das bekannteste Werk des deutschen Schriftstellers Adolph F. Knigge (1752- 1796), das erstmals im Jahre 1788 erschien, sich mit „guten Umgangsformen“ beschäftigt und nach dem Autor benannt wurde) / Kalashnikov (AK-47, ein sowjetisch-russisches Sturmgewehr, das 1947 von Michail T. Kalaschnikow entwickelt wurde und mit ihm assoziiert wird) Periphrase Deutschlands Hollywood (Filmstudio Babelsberg in Potsdam- Babelsberg, das häufig nach der Ausstattungsqualität mit Hollywoodstudios in den USA verglichen wird) / „Stadt der Bräute“ (Iwanovo, Stadt in Russland mit einem großen Frauenanteil) Tab. 1. Unkonventionelle Realienbezeichnungen: Bildungsmittel Die weitere Analyse hat verdeutlicht, für welche Zwecke Realienbezeichnungen durch ihre unkonventionellen Äquivalente in Pressetexten ersetzt werden: - Bestimmte Medien, z. B. die russische Zeitung , verwenden oft Metaphern, um ihren Lesern ökonomische und politische Sachverhalte zu erklären. Als Beispiel hierfür kann Doktor Lisa dienen (der alternative Name von Elisaweta Glinka, Leiterin der Stiftung „Faire Hilfe“ und Mitglied des Menschenrechtsrates in Russland): , (1- ), (2- ), „ “ (3- ). , ( vom 5.02.2015). - Am Beispiel mancher Pressetexte merkt man die sogenannte „totale Metaphorisierung für das ästhetische Vergnügen“, das Bedürfnis nach einem Spiel mit Bedeutungen, das der Mensch im Laufe des Lebens entwickelt (Gudkov/ Kovschova 2007: 13). <?page no="202"?> 194 Tanja Seliazneva Unsere Sprachen sind unsere Medien. Unsere Medien sind unsere Metaphern. Unsere Metaphern schaffen den Inhalt unserer Kultur. (Postmann 2002: 25) Ohne die Möglichkeit, die eigenen Emotionen, persönliche Erfahrungen des Umgangs mit der umgebenden Realität mit Hilfe der in der Sprache schon existierenden Mittel zu äußern, schafft die metaphorische Natur der sprachlichen Fähigkeit des Menschen neue Ausdrucksweisen sowie neue lexikalische Einheiten. Neue Benennungsstrategien kommen zustande, indem man in dem engen Rahmen der abgesonderten sprachlichen Einheiten neben dem Denotat auch das emotive Potential (d. h. das Spektrum der Konnotationen oder die Gesamtheit der Assoziationen) ausdrücken will, das von diesem oder jenem Objekt/ Phänomen hervorgerufen wird. Als Beispiel der „Metaphorisierung für das ästhetische Vergnügen“ könnte Schwangere Auster (der alternative Name für das „Haus der Kulturen der Welt“ in Berlin) gelten: Die Schwangere Auster hat ihren Standort im Herzen des Tiergartens, der grünen Lunge Berlins und mitten im Regierungsviertel, unweit vom Bundeskanzleramt. (Süddeutsche Zeitung vom 16.02.2015) Durch solche lexikalischen Dubletten werden einige Gegenstände (in dem Fall einige Realienbezeichnungen) aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Eine weitere Funktion unkonventioneller Realienbezeichnungen in Pressetexten besteht darin, was bei einigen Autoren als „Fokussierungseffekt“ (Jäkel 1997: 37), bei anderen als „highlighting and hiding“ (Lakoff/ Johnson 1980: 10) bezeichnet wird. Ein Gegenstand kann dabei aus unterschiedlichen Perspektiven erfasst und sprachlich-metaphorisch realisiert werden. Es werden jeweils adäquate Aspekte der Realien hervorgehoben, die anderen bleiben dabei zwar immer latent erhalten, werden jedoch durch diesen Vorgang der Fokussierung verborgen. Unkonventionelle Realienbezeichnungen reflektieren in diesem Sinn eine ganz bestimmte Weltsicht; mit ihnen werden gewisse Aspekte - bewusst oder unbewusst - hervorgehoben. Auf diese Weise kann die menschliche Wahrnehmung einiger Realien beeinflusst werden. Im Dargestellten lassen sich also drei Funktionen unkonventioneller Realienbezeichnungen in Pressetexten herausstellen: die Erklärungsbzw. Verständnisfunktion, das kreative Potenzial sowie der Fokussierungseffekt. 5 Zusammenfassung Wie die durchgeführte Analyse zeigt, werden viele Realienbezeichnungen Deutschlands und Russlands in Pressetexten durch ihre unkonventionellen Äquivalente ersetzt. Zu den Realienbezeichnungen, die solche „alternativen“ <?page no="203"?> Unkonventionelle Realienbezeichnungen und ihre Manifestation 195 Namen erworben haben, gehören Anthroponyme, Toponyme und Ergonyme, über die in den Printmedien zumindest einmal diskutiert wurde. Der pragmatische Aspekt der Verwendung solcher Einheiten in der Sprache besteht darin, dass erst durch diese unkonventionellen Realienbezeichnungen manche realen Gegenstände erklärt, verstanden und aus diversen Perspektiven betrachtet werden können (manchmal aus der Perspektive einzelner Autor[inn]en). Mittels Metaphern, Metonymien und Periphrasen, durch die sich solche Einheiten konstituieren, werden in der Mediensprache unterschiedliche Perspektiven auf die Gegenstände geäußert, die im Alltag lediglich von einer bestimmten Seite her betrachtet werden. Durch die Möglichkeit, die eigenen Einstellungen zu bestimmten Realien, persönlichen Erfahrungen und unterschiedlichen Perspektiven auf die Realität mit Hilfe dieser Einheiten zu äußern, schafft die metaphorische Natur der sprachlichen Fähigkeit des Menschen neue Ausdrucksweisen sowie neue unkonventionelle Realienbezeichnungen. Damit kommt in einem Medienkontext bestimmter Sprachgemeinschaften eine neue Benennungsstrategie zustande, indem man in dem engen Rahmen der abgesonderten sprachlichen Einheiten neben dem Denotat auch das emotive Potential (d. h. das Spektrum der Konnotationen oder die Gesamtheit der Assoziationen) ausdrücken will. Dieses emotive Potenzial wird von jenen Realien hervorgerufen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt im Medienkontext an Aktualität gewinnen. 6 Literatur Barcelona, Antonio (2000): On the plausibility of claiming a metonymic motivation for conceptual metaphor. In: Barcelona, Antonio (Hrsg.): Metaphor and Metonymy at the Crossroads: a cognitive perspective. Berlin/ New York. S. 31-58. Bauer, Gerhard (1998): Deutsche Namenkunde. Berlin. Black, Max (1962): Models and metaphors: Studies in Language and Philosophy. Ithaca, NY. Czachur, Waldemar (2011): Diskursive Weltbilder im Kontrast. Linguistische Konzeption und Methode der kontrastiven Diskursanalyse deutscher und polnischer Medien. Wroc aw. Czachur, Waldemar (2015): Semantischer und funktionaler Wandel von Metapher und Metonymie: polnische Wirtschaft im deutschen Mediendiskurs zur Wirtschaftskrise. In: Spieß, Constanze/ Köpcke, Klaus-Michael (Hrsg.): Metapher und Metonymie. 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Beiheft; N.F.; 47). <?page no="207"?> Geographie der Wortschatzkenntnisse bei Vorschulkindern in Frankfurt am Main: Migrationshintergrund, Einkommen und andere demographische Einflussgrößen Eugen Zaretsky (Marburg) Zusammenfassung In der Studie wurde geprüft, inwiefern Wortschatzkenntnisse von deutschen Vorschulkindern mit und ohne Migrationshintergrund mit den demographischen Merkmalen ihrer Stadtteile zusammenhängen. Des Weiteren wurde der Frage nachgegangen, ob ein statistischer Zusammenhang zwischen den Fehlermustern der Kinder und ihrem Wohnort sowie anderen soziolinguistischen und demographischen Merkmalen, wie z. B. Dauer des Kitabesuchs, besteht. Die Gesamtscores der richtigen Antworten im Wortschatz- Untertest der validierten Kurzversion vom „Marburger Sprachscreening“ und im Wortschatztest AWST-R wurden mit demographischen Merkmalen der Frankfurter Stadtteile korreliert. Ausgewertet wurden Antworten von 1017 Kindern: Altersmedian 51 Monate; 418 monolingual deutsch, 565 zwei- oder mehrsprachig, 34 unbekannt. Niedriges Einkommen einschl. Arbeitslosengeld sowie Herkunft aus bestimmten außereuropäischen Gebieten wurden als benachteiligende Faktoren beim Wortschatzerwerb identifiziert. Relativ einfache Fehlermuster lassen sich mit spätem und eingeschränktem Sprachkontakt, aber auch mit schlechterer Gesundheit in Verbindung bringen und kommen gehäuft in den Stadtteilen vor, in denen Kinder Deutsch unter ungünstigen Bedingungen erwerben. 1 Einleitung Der Spracherwerb, zu dem auch der Erwerb des Wortschatzes gehört, stellt einen Entwicklungsprozess dar, an dem biologische und umweltliche bzw. soziale Faktoren beteiligt sind (Klann-Delius 1999; Tager-Flusberg 2005). Zwar wird gut die Hälfte der interindividuellen Unterschiede in sprachlichen Fähigkeiten durch genetische Faktoren erklärt (Stromswold 2001), das bedeutet jedoch auch, dass die andere Hälfte durch Variablen erklärt wird, die als sozial bzw. soziolinguistisch zu bezeichnen sind. Eine Gruppe von Faktoren betrifft die verbale Interaktion der Bezugspersonen mit den Kindern und hierbei Qualität wie Quantität des sprachlichen Inputs (s. z. B. Bernstein Ratner 2013). Der Migrationshintergrund ist vielfach als Faktor genannt worden, der den Erwerb einer bestimmten Sprache beeinflusst (z. B. Zaretsky/ Lange 2015c-e). Aber auch Kontakte <?page no="208"?> 200 Eugen Zaretsky zu den gleichaltrigen Peers, deren Sprache u. a. je nach Gebiet bzw. Stadtteil elaboriert oder eher grammatisch fehlerhaft und lexikalisch einfach sein kann, bleiben nicht ohne Folgen für Kinder sowohl im Vorschulals auch im Schulalter (Paradis/ Jia 2016). Der fortgeschrittene Wortschatzerwerb bei Vorschulkindern wurde in Verbindung mit solchen Faktoren gebracht wie niedrigeres Alter, höherer Bildungsgrad und höheres Einkommen der Eltern (Czinglar u. a. 2015; Hao u. a. 2004), häufiges Vorlesen durch Eltern oder Erzieher (Westerlund/ Lagerberg 2008), bestimmte Interaktionsarten zwischen dem Kind und der Mutter, z. B. sog. Expansionen bzw. Erweiterungen der kindlichen Äußerungen (Levickis u. a. 2014), Ausstattung der Kindergärten (Becker 2010) u. v. m. Diese Faktoren sind wiederum miteinander sowie mit weiteren soziolinguistischen und demographischen Faktoren verknüpft, etwa häufigeres Vorlesen mit dem Bildungsgrad der Mutter (der generell wichtiger zu sein scheint für die Entwicklung des Kindes als der Bildungsgrad des Vaters) (Yarosz/ Barnett 2001), mit der Gesundheit der Mutter (Kenney 2012) und mit dem durchschnittlichen Einkommen im jeweiligen Stadtteil (Waanders u. a. 2007). Subjektiv wahrgenommene Hilfsbereitschaft unter den Nachbarn korreliert ebenfalls signifikant mit der Neigung der Eltern, ihren Kindern vorzulesen (Kohen u. a. 2008). Der eingeschränkte Wortschatzerwerb im Vorschulalter ist laut früheren Studien assoziiert mit solchen Faktoren wie Fernsehen (falls von Eltern unbegleitet, unkommentiert und vor allem bei nicht für Kinder geeigneten Sendungen) (Hudon u. a. 2013), Depression der Mutter (Pan u. a. 2005), vier oder mehr Kinder in der Familie (Taylor u. a. 2013), niedrige soziale Schicht (Horton-Ikard/ Ellis Weismer 2007), wobei einige von diesen Faktoren ggf. auch neutralisiert werden können, der letztere z. B. durch den Kindergartenbesuch (Basílio u. a. 2005). So ließen sich laut einer kanadischen Studie (Geoffroy u. a. 2010) die Wortschatzkenntnisse der Vorschulkinder, deren Mütter über niedrige Bildungsabschlüsse verfügten, durch den Kindergartenbesuch deutlich verbessern im Vergleich mit den Kindern, die zuhause erzogen wurden. Damit konnten auch die späteren Schulleistungen einschl. Lesefähigkeit verbessert werden. Da einige der genannten Faktoren, u. a. der sozioökonomische Status, geographisch ungleichmäßig verteilt sind, ist eine weitere relevante Variable, die mit dem Wortschatzerwerb korreliert, die Wohngegend, z. B. der jeweilige Stadtteil, in dem ein Kind aufwächst. Mehrere Studien (z. B. Caughy u. a. 2006; da Rocha Neves u. a. 2016; de Marco/ Vernon-Feagans 2013; Froyland u. a. 2014, Rydland u. a. 2014; Sampson u. a. 2008; Vernon-Feagans u. a. 2013; Zaretsky/ Lange 2015a; 2015b; 2016a; 2016b) haben diese geographischen bzw. geolinguistischen Korrelate des Spracherwerbs bereits in den Fokus gerückt. <?page no="209"?> Geographie der Wortschatzkenntnisse bei Vorschulkindern in Frankfurt/ M. 201 Ungleichmäßig geographisch verteilt sind auch solche sprachassoziierten medizinischen Auffälligkeiten wie geistige Behinderung (Xue u. a. 2005), Hörstörungen (Muhr u. a. 2007; vgl. Zaretsky/ Lange 2016a), diverse Genmutationen (Mahdieh/ Rabbani 2009), Prävalenz von Erkrankungen wie Meningitis (Geffner Sclarsky u. a. 2001), Frühgeburt bzw. niedriges Geburtsgewicht (Ncube u. a. 2016) und Depression (Mair u. a. 2008). Die geographische Verteilung der Krankheiten bzw. Auffälligkeiten lässt sich durch eine schwer überschaubare Vielzahl von Faktoren erklären, darunter teils durch ungleichmäßige Distribution von sozial benachteiligten Gruppen und Nationalitäten (z. B. Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung bei Hispanoamerikanern: Collins/ Cleary 2016), teils durch regional unterschiedliche Vorgehensweisen von Ärzten (Rangan u. a. 2012) und Behörden, teils durch die Verfügbarkeit von medizinischen Leistungen (z. B. Einführung eines Neugeborenenhörscreenings: Fulcher u. a. 2015; Verfügbarkeit von sprachtherapeutischen Angeboten in mehreren Sprachen: Verdon u. a. 2014), teils durch die Einstellung der breiten Bevölkerungsschichten (Norbury/ Sparks 2013) sowie der Entscheidungsträger (z. B. Lehrer) zu kranken und behinderten Kindern (Stephens u. a. 2000). Ungleichmäßig geographisch verteilt sind auch solche sprachbezogenen Fähigkeiten bzw. Merkmale der Kinder wie phonologische Bewusstheit, Intelligenzquotient und phonologisches Kurzzeitgedächtnis, die je nach sozioökonomischem Status variieren (Alloway u. a. 2014). Follow-up-Studien lassen die Schlussfolgerung zu, dass der Einfluss der geolinguistischen Variablen auf den Spracherwerb des Kindes einschl. Lesefähigkeit sich auch mehrere Jahre später nachweisen lässt, in der Studie von Lloyd/ Hertzman (2010) beispielsweise sieben Jahre nach der Ersttestung (Ersttestung im Alter von 5 bis 6 Jahren, Nachtestung im Alter von 12-13). Demographische und soziolinguistische Faktoren, die den Spracherwerb negativ beeinflussen, neigen zu Akkumulation und gegenseitiger Verstärkung. So wurde u. a. festgestellt, dass die Lese-Rechtschreibschwäche unter Schülern in Paris geographisch sehr ungleichmäßig verteilt ist, von 3 % bis 24 % aller Schüler im jeweiligen Stadtteil, und dabei stark von dem sozioökonomischen Status der Nachbarschaft abhängt. Dieser Status geht aber auch mit dem niedrigen Bildungsgrad der Mütter, mit der schwachen phonologischen Bewusstheit der Kinder sowie ihren Aufmerksamkeitsdefiziten einher (Fluss u. a. 2009). Auch Entwicklungsverzögerungen bei Vorschulkindern kommen oft gehäuft vor: Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung gehen mit Auffälligkeiten im Verhalten, in der Motorik, Aufmerksamkeit etc. einher und nehmen dabei stärker ausgeprägte Formen an als in isolierter Form (Valtonen u. a. 2004). Da in mehreren deutschen Bundesländern diverse Sprachstandserfassungsprogramme eingeführt wurden, ließ sich die geographische Variation der Sprach- <?page no="210"?> 202 Eugen Zaretsky leistungen im Vorschulalter anhand von großen Stichproben für Deutschland bestätigen. Im Rahmen des Sprachstandserfassungsprogramms „Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstands Fünfjähriger (HAVAS 5)“ wurde etwa festgestellt, dass der Sprachförderbedarf je nach Hamburger Stadtteil zwischen 10 % und knapp 40 % variiert (BBSH 2004). Im Rahmen eines anderen Sprachstandserfassungsprogramms wurden solche Unterschiede zwischen Stadtteilen auch in Bremen gefunden (Kretschmann/ Schulte 2007). In Nordrhein-Westfalen variierte der Anteil an förderbedürftigen Vorschulkindern je nach Stadt zwischen 10 % und 31 % (MSWLNRW 2007). Es liegen bereits einige Studien zu geolinguistischen Aspekten des Deutscherwerbs in Hessen vor, wobei (von denselben Autoren) zum Teil dieselbe Stichprobe der überwiegend vierjährigen Kinder ausgewertet wurde, die auch in der vorliegenden Studie zum Einsatz kam. Statistische Methoden entsprachen dabei denen der hier vorliegenden Studie, u. a. (a) Spearman-Korrelationen für die Analyse der Zusammenhänge zwischen Sprachleistungen bzw. soziolinguistischen Merkmalen der Kinder einerseits und demographischen Merkmalen der Stadtteile, in denen sie wohnen bzw. den Kindergarten besuchen, andererseits; (b) punktbiseriale Korrelationen zwischen dichotomisierten Fehlermustern der Kinder einerseits und demographischen Eigenschaften der Stadtteile andererseits. So wurde für dieselbe Stichprobe wie in der hier vorliegenden Studie demonstriert, dass die (mit Sprachleistungen assoziierte) Dysphonie, häufig oder permanent heisere Stimme, überwiegend in Frankfurter Stadtteilen mit einem hohen Anteil an Migranten, vor allem Türken und Afrikanern, aber auch an alleinerziehenden Eltern vorkam sowie in Stadtteilen, in denen relativ wenige Kinder den Übergang ins Gymnasium schafften, was einen beachtenswerten Prozentsatz bildungsferner Familien in der Umgebung vermuten lässt (Zaretsky/ Lange 2015a). Die Korrelationen erwiesen sich allerdings als sehr schwach. Laut Zaretsky und Lange (2016a; 2016b) kam auch das Stottern in den Stadtteilen mit ungünstigen Spracherwerbsbedingungen, wie hoher Anteil an Migranten, Arbeitslosen bzw. Geringverdienern, gehäuft vor. Eine Stichprobe von fünf und sechs Jahre alten Frankfurter Kindern wurde bei der Einschulungsuntersuchung sprachlich getestet. Es zeigten sich schwache, aber statistisch signifikante Assoziationen zwischen fortgeschrittenen Deutschkenntnissen und demographischen sowie soziolinguistischen Merkmalen der Frankfurter Stadtteile, die man in folgenden Kategorien zusammenfassen kann: (a) höheres Einkommen, (b) geringerer Prozentsatz von Migranten (allerdings mit einigen Ausnahmen), (c) geringerer Prozentsatz von Arbeitslosen und Empfängern von diversen Leistungen seitens des Staates sowie (d) hohes Durchschnittsalter bzw. wenige Kinder pro Familie (Zaretsky/ Lange 2015b). Vergleichbare Assoziationen wurden auch für <?page no="211"?> Geographie der Wortschatzkenntnisse bei Vorschulkindern in Frankfurt/ M. 203 zwei Stichproben einschließlich derjenigen, die in der hier vorliegenden Studie zum Einsatz kommt, für jene Stadtteile bestätigt, in denen Kinder einen Kindergarten besuchen (Zaretsky/ Lange 2016a; 2016b). Ebenfalls vergleichbare Assoziationen, wenn auch schwach ausgeprägt, wurden für die hier verwendete Stichprobe in der Verteilung der Fehlermuster in der Pluralbildung gefunden, wobei Kinder, die Deutsch unter relativ günstigen demographischen bzw. sozioökonomischen Bedingungen erwarben, d. h. in den Stadtteilen mit relativ hohem Durchschnittseinkommen und geringem Anteil an Migranten wohnten, relativ fortgeschrittene Fehlermuster produzierten: Sie fügten falsche Pluralmarker hinzu (außer -[e]n, dem häufigsten Pluralmarker im Sprachinput, der auch am frühesten erworben wird) statt Wiederholung der Singularform oder anderer Ausweichstrategien (Zaretsky/ Lange 2015b). Obwohl hessische, darunter auch Frankfurter Kinder schon von den Autoren der hier vorliegenden Studie in einigen Arbeiten zur Geolinguistik untersucht wurden, beschränkten sich frühere Analysen auf einen allgemeinen Überblick über Korrelationen zwischen bestimmten Eigenschaften der Stadtteile bzw. Städte und Sprachleistungen der Kinder in den wichtigsten linguistischen Domänen: Sprachverständnis, Wortschatz, Grammatik, Aussprache und phonologisches Kurzzeitgedächtnis. Eine spezielle Untersuchung zum Wortschatzerwerb, einschl. Untersuchung der Fehlermuster, liegt noch nicht vor. Daher hatte die hier vorliegende Studie zum Ziel, näher zu untersuchen, inwiefern die demographischen Merkmale der Frankfurter Stadtteile mit den Wortschatzkenntnissen und Fehlermustern der dort wohnenden Vorschulkinder zusammenhängen. Da sowohl sprachfördernde als auch benachteiligende soziolinguistische und demographische Merkmale oft dazu tendieren zu clustern, etwa Sprach- und Verhaltensstörungen bei dem Kind mit dem niedrigen Einkommen in der Familie sowie eingeschränktem Wortschatz und einer schwachen Lesefähigkeit der Mutter (Prior u. a. 2011), müsste man davon ausgehen, dass auch in der aktuellen Studie soziolinguistische und demographische Merkmale der Frankfurter Stadtteile sich genauso clustern werden. Aufgrund der oben beschriebenen bereits identifizierten Assoziationen (u. a. positive Korrelationen zwischen fortgeschrittenen Deutschkenntnissen und höherem Einkommen im entsprechenden Frankfurter Stadtteil, geringerem Prozentsatz von Migranten sowie von Arbeitslosen und Empfängern von diversen Leistungen seitens des Staates) konnte damit gerechnet werden, dass Kinder mit relativ guten Wortschatzkenntnissen und relativ „fortgeschrittenen“ Fehlermustern in den Stadtteilen wohnen, die einen qualitativ und/ oder quantitativ besseren Zugang zur deutschen Sprache bieten können, d. h. Stadtteilen mit einem relativ geringen Anteil an Migranten und Geringverdienern bzw. Arbeitslosen. Ein geringer Prozent- <?page no="212"?> 204 Eugen Zaretsky satz an Migranten bedeutet, dass der Spracherwerb weniger durch Interferenzen aus anderen Sprachen und ungrammatische bzw. stilistisch fragwürdige Konstruktionen gestört wird. Im Fall des relativ hohen Einkommens lässt sich der Einfluss von zahlreichen weiteren Faktoren vermuten, die den Spracherwerb direkt oder indirekt begünstigen, ob hochwertige Sprachbzw. sprachbezogene Therapien (z. B. bei Hörstörungen) im Fall der privaten Krankenversicherung, kürzere Wartezeiten bei der Therapieversorgung, Freundeskreise mit hohem Bildungsniveau und hiermit vergleichsweise elaboriertem Sprachstil, ausgeklügelte, kostenaufwendige Spielzeuge, die die kognitive Entwicklung stimulieren, oder besserer Zugang zu hochwertigen Sprachförderkursen, die von einigen Kindertageseinrichtungen angeboten werden. Trotz der Wichtigkeit des Wohlstands in der jeweiligen Gegend für den Spracherwerb kann man nicht automatisch davon ausgehen, dass direkt erfasstes Einkommen, etwa durchschnittliches Bruttoarbeitsentgelt im jeweiligen Stadtteil, am höchsten (unter geolinguistischen Variablen) mit dem Wortschatzerwerb korreliert, schon deswegen nicht, weil das offiziell in der Steuererklärung angegebene Einkommen nicht unbedingt dem tatsächlichen entspricht. Andere Indikatoren wie PKWs oder Wohnfläche pro Stadteinwohner bzw. Anteil an Minijobbern könnten eine genauere Auskunft über den Wohlstand liefern. In manchen Fällen sind logische Zusammenhänge zwischen geolinguistischen Faktoren direkt nachvollziehbar, etwa dass in den US-amerikanischen Gebieten mit besonders ungünstiger Verkehrs- und Einkaufslage sowie in den Gebieten, in denen die Nachbarn als relativ wenig hilfsbereit eingeschätzt wurden, Kinder desselben Alters (Peers) signifikant seltener miteinander spielen als in anderen Gegenden (Kenney 2012). Das Clustern einiger geolinguistischer Variablen kann aber auch über die auf den ersten Blick offensichtlichen Zusammenhänge hinausgehen. So müsste auch das Durchschnittsalter der Einwohner im jeweiligen Stadtteil negativ mit den Wortschatzkenntnissen korrelieren: Die Geburtenrate ist in nicht-deutschen Familien im Vergleich zu deutschen höher, denn Ausländerinnen gebären im Schnitt 1,8 Kinder, deutsche Frauen dagegen nur 1,3 (HMSI 2015). Subjektiv wahrgenommene Diskriminierung wurde bei einigen Untergruppen von Migranten in Deutschland (Polen, Vietnamesen) als Prädiktor einer Depression identifiziert (Merbach u. a. 2008), und diese spiegelt sich, wie oben erwähnt, in schlechteren Sprachkenntnissen der Kinder wider. Niedriges Einkommen und Arbeitslosigkeit, von denen Migranten häufiger betroffen sind als Einheimische, verursachen ebenfalls Depression (Rask u. a. 2016). Alleinerziehende leiden deutlich häufiger an einer Depression als Eltern in vollständigen Familien (Whitley u. a. 2015), sind häufiger arbeitslos oder gering beschäftigt, verfügen dementsprechend über ein eingeschränktes Einkommen <?page no="213"?> Geographie der Wortschatzkenntnisse bei Vorschulkindern in Frankfurt/ M. 205 und sind häufiger chronisch krank (Lanzi u. a. 1999). Das Letztere gilt auch für ihre Kinder (Rattay u. a. 2014). Da es sich bei dieser Studie um eine retrospektive Auswertung der Daten aus Sprachstandserfassungsprojekten handelt, war es nicht möglich, eine direkte Vergleichbarkeit mit den Ergebnissen der oben zitierten Sprachstandserfassungsstudien, die in anderen deutschen Bundesländern durchgeführt wurden, zu gewährleisten. Es wäre aber zu erwarten, dass die Korrelationen zwischen dem Wortschatz und Variablen, die sich auf den Migrationshintergrund beziehen, in Hessen etwas höher ausfallen als in den meisten anderen Bundesländern: Von hessischen Kindern im Vorschulalter hatte im Jahr 2015 jedes zweite einen Migrationshintergrund (48 %; HMSI 2015), 12 % mehr verglichen mit dem gesamtdeutschen Durchschnitt (36 %; BFSFJ 2016). Direkt prüfen lässt sich diese These aber nicht. Die Höhe der entsprechenden Korrelationen wird in Zukunft u. a. abhängig davon variieren, in welchen Bundesländern Flüchtlinge, die zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags massenhaft nach Deutschland kamen, verteilt wurden, weil nur 2 % der Asylantragsteller aus der Flüchtlingswelle von 2015 über Deutschkenntnisse verfügten (BMF 2016). 2 Methoden 2.1 Stichprobe Die Stichprobe bestand aus 1017 deutschen Vorschulkindern mit und ohne Migrationshintergrund: 559 Jungen (55 %), 458 Mädchen (45 %); 418 monolingual deutsch (41 %), 565 zwei-/ mehrsprachig (56 %), 34 unbekannt (3 %); Altersspanne: 36-71 Monate, Median 51. Kinder, die für die Studie rekrutiert wurden, durften nicht jünger als drei und nicht älter als fünf Jahre alt sein, ansonsten bestanden keine Einschränkungen und keine Ausschlusskriterien, soweit die Eltern bzw. Sorgeberechtigten mit der Teilnahme ihrer Kinder an der Studie einverstanden waren. Etwa 70 % der angesprochenen Eltern unterschrieben die entsprechende Einverständniserklärung. 2.2 Messinstrumente Kinder, die in die Studie aufgenommen wurden, wurden sprachlich mit der validierten Kurzversion des „Marburger Sprachscreenings“ (MSSb: Euler u. a. 2010; Neumann u. a. 2011) getestet, die Untertests zum Sprachverständnis, Wortschatz, phonologischen Kurzzeitgedächtnis (Nachsprechen von Kunstwörtern und Sätzen) sowie zur Aussprache und Grammatik enthält. Soziolinguistische und demo- <?page no="214"?> 206 Eugen Zaretsky graphische Variablen wurden in den Fragebögen für Eltern und Kindergarten- Erzieher dokumentiert, die zum MSSb gehören. Des Weiteren wurde eine Untergruppe der Studienteilnehmer (N = 282) mit dem „Aktiven Wortschatztest für 3bis 5-jährige Kinder - Revision“ (AWST-R: Kiese-Himmel 2005) untersucht. Die AWST-R-Ergebnisse wurden bei Berechnungen der Zusammenhänge zwischen demographischen Merkmalen der Frankfurter Stadtteile und Gesamtscores der richtigen Antworten im MSSb-Wortschatzuntertest zum Vergleich herangezogen und sollten idealerweise dieselben Assoziationen aufweisen. Eine Spearman-Korrelation zwischen MSSb- und AWST-R-Wortschatzscores lag in der aktuellen Stichprobe bei = 0,795, p < 0,001, N = 282, was einem hohen Zusammenhang entspricht. Darüber hinaus wurden Fehlermuster im MSSb-Wortschatzuntertest bzgl. ihrer Assoziationen mit Merkmalen der Frankfurter Stadtteile sowie mit soziolinguistischen und demographischen Variablen aus den MSSb-Fragebögen für Eltern und Kindergarten-Erzieher analysiert. So lieferten Kinder auf die Frage „Welche Form hat das Fenster? “ ein breites Spektrum von Antworten wie gute Form, so, Junge hier, wie Tisch, wie zuhause, blau statt der erwarteten Antwort viereckig bzw. Viereck. Als relativ fortgeschritten galten bei Adjektiven folgende Fehlermuster: Form und andere Eigenschaften wie Dreieck, subjektive Bewertungen wie schön, Vergleiche wie Sieht nach dem Tisch zuhause aus. Als relativ simpel galten Fehlermuster mit allgemeinen, vagen Orts- und Situationsbeschreibungen (Der Junge daneben), Farben (weil entsprechende Adjektive besonders früh erworben werden), semantisch unpassenden Antworten wie Auto sowie das Nachsprechen der Fragen. Bei Substantiven wie im Item „Was ist das? - Ein Klettergerüst“ wurden Eigenschaften einschl. Funktionsbeschreibung (zum Klettern) sowie Unterbegriffe (Leiter) als relativ fortgeschrittene Fehlermuster klassifiziert; Oberbegriffe (Spielplatz), unpassende Begriffe (Ball), Verformungen (Kletterdings) sowie das Nachsprechen der Fragen als relativ einfache Fehlermuster. Auf diese Weise wurden drei dichotomisierte Variablen zu Fehlermustern im MSSb-Wortschatzuntertest angelegt: Items „Welche Form hat das Fenster? - Viereckig“, „Wie fühlt sich die Rutsche an? - Hart/ glatt/ kalt“, „Was ist das? - Ein Klettergerüst“. 2.3 Testdurchführung Die Sprachtestungen wurden in den Kindergärten von Frankfurt am Main im Rahmen von diversen Sprachstandserfassungsstudien durchgeführt und in der aktuellen Studie retrospektiv ausgewertet. Dieselbe Stichprobe, ebenfalls retrospektiv ausgewertet, kam auch in einigen in der Einleitung beschriebenen Studien von Zaretsky und Lange (2015a-h; 2016a-c) zum Einsatz. <?page no="215"?> Geographie der Wortschatzkenntnisse bei Vorschulkindern in Frankfurt/ M. 207 Sowohl in MSSb als auch in AWST-R müssen diverse Fragen anhand von kindgerechten Bildern beantwortet werden, die typische Gegenstände und Situationen aus dem Alltag der Kinder schildern. In Aufgaben zum phonologischen Kurzzeitgedächtnis müssen Wörter und Sätze nachgesprochen werden, ohne dass Bilder oder andere Hilfsmittel zum Einsatz kommen. Bei Bedarf wurden die Testungen auf zwei Termine aufgeteilt. Auch bei mangelhafter Mitarbeit wurde versucht, alle Testungen fertigzustellen. Die meisten Testungen wurden von Doktoranden, wissenschaftlichen Mitarbeitern (klinischen Linguisten) sowie (geschulten) Praktikanten durchgeführt. Anhand von Audioaufnahmen, die während der Testung angefertigt wurden, ließen sich Lücken in der Testbatterie schließen bzw. fragwürdige Stellen prüfen. 2.4 Statistische Analyse Insgesamt 46 demographische Merkmale der 45 Frankfurter Stadtteile wurden der offiziellen Internetseite der Stadt Frankfurt (www.frankfurt.de) entnommen. Die meisten von diesen Merkmalen gehören in folgende Kategorien: (a) Beschäftigtenbzw. Arbeitslosendichte, (b) Einkommen bzw. Besitztümer, (c) Alter, (d) Bildungsgrad, (e) in Anspruch genommene Leistungen des Staates, (f) Migrationshintergrund der Einwohner (Liste s. in Tab. 1). Die Angaben beziehen sich auf denselben Zeitraum, in dem auch Sprachtestungen im Rahmen der Studie stattfanden, d. h. 2007-2012. Frankfurter Stadtteile wurden je nach Ausprägung einzelner Merkmale in eine Reihenfolge gebracht, wodurch 46 Variablen mit Ranglisten der Stadtteile entstanden. Wortschatztestscores in MSSb und AWST-R wurden mit den Ranglisten der Ausprägung von diversen demographischen Merkmalen in 45 Frankfurter Stadtteilen korreliert (Spearman-Korrelationen, ). Mit punktbiserialen Korrelationen (r pb ) wurde ferner untersucht, inwiefern die dichotome Einteilung der Fehlermuster in relativ einfache und fortgeschrittene mit denselben demographischen Merkmalen zusammenhängt. Des Weiteren wurde anhand von zwei multiplen Korrelationsanalysen (schrittweisen linearen Regressionen, vgl. Borz 2005: 461-463) untersucht, welche von den 46 verfügbaren geolinguistischen Variablen am stärksten mit den abhängigen Variablen - Wortschatzkenntnissen laut MSSb und AWST-R - zusammenhängen. Mit dem Kruskall-Wallis H-Test wurde geprüft, ob signifikante Unterschiede zwischen Frankfurter Stadtteilen in der Verteilung der Gesamtscores der richtigen Antworten im MSSb-Wortschatzuntertest bestehen (die Fallzahl in AWST- R, N = 282, reichte für so einen Vergleich nicht aus). Nur Stadtteile mit mindes- <?page no="216"?> 208 Eugen Zaretsky tens 20 getesteten Kindern wurden dabei berücksichtigt. Soziolinguistische und demographische Merkmale der fünf Frankfurter Stadtteile mit den höchsten Wortschatztestscores wurden mit denen anderer Frankfurter Stadtteile mittels Mann-Whitney U-Tests sowie Kreuztabellierung (Chi-Quadrat = 2 , Linear-mit- Linear-Zusammenhang = lml) verglichen. Die Effektstärke ist bei Mann-Whitney U-Tests mittels „probability of superiority index“ (p, Grissom und Kim 2012) quantifiziert. Des Weiteren wurde der Frage nachgegangen, ob soziolinguistische und demographische Merkmale der Kinder und ihrer Familien, die in den Fragebögen für Eltern und Kindergarten-Erzieher erfasst wurden, mit den Wortschatztestscores und der Einteilung der Fehlermuster in relativ einfache und fortgeschrittene zusammenhängen. Dafür wurden ebenfalls Mann-Whitney U-Tests und Kreuztabellierung herangezogen. 3 Ergebnisse Tabelle 1 zeigt statistisch signifikante Korrelationen zwischen demographischen Merkmalen der Frankfurter Stadtteile und den Wortschatztestscores sowie Fehlermustern bei drei MSSb-Wortschatzitems. Die Fallzahlen in den Berechnungen zu den Fehlermustern variierten abhängig davon, wie viele klassifizierbare falsche Antworten vorlagen. Wortschatzscore: MSSb Wortschatzscore: AWST- R Item viereckig: Fehlermuster Item hart/ glatt: Fehlermuster Item Klettergerüst: Fehlermuster N 1017 282 443 322 246 r pb Beschäftigtendichte in % .165*** n. s. .101* .153** n. s. Arbeitslosendichte in % -.178*** -.190** -.123** n. s. n. s. Arbeitslosendichte in % (SGB III) -.073* n. s. n. s. n. s. n. s. Arbeitslosendichte in % (SGB II) -.182*** -.189** -.128** -.112* n. s. Arbeitslosendichte Frauen in % -.200*** -.196** -.122* -.111* n. s. Arbeitslosendichte Männer in % -.158*** -.169** -.110* n. s. n. s. Arbeitslosendichte Deutsche in % -.189*** -.180** -.123* -.110* n. s. <?page no="217"?> Geographie der Wortschatzkenntnisse bei Vorschulkindern in Frankfurt/ M. 209 Wortschatzscore: MSSb Wortschatzscore: AWST- R Item viereckig: Fehlermuster Item hart/ glatt: Fehlermuster Item Klettergerüst: Fehlermuster r pb Arbeitslosendichte Ausländer in % -.145*** -.133* -.111* n. s. n. s. Grundsicherung für Arbeitssuchende je 1000 Einwohner -.206*** -.187** -.104* -.131* n. s. Grundsicherung im Alter je 1000 Einwohner -.095** n. s. n. s. n. s. n. s. Hilfe zum Lebensunterhalt je 1000 Einwohner -.108** n. s. -.110* n. s. n. s. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung je 1000 Einwohner -.094** n. s. -.098* n. s. n. s. Wohnfläche je Einwohner (m 2 ) .222*** .159** .111* .114* n. s. Bruttoarbeitsentgelte von sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten .184*** .170** .114* n. s. n. s. Minijobber je 1000 Einwohner -.193*** -.117* -.101* -.137* n. s. % der Einwohner unter 18 -.102** n. s. n. s. n. s. -.174** Bevölkerungsdurchschnittsalter .138*** .149* n. s. n. s. .127* % der Alleinerziehenden -.116*** n. s. n. s. n. s. -.137* Personen je Haushalt -.088** n. s. n. s. n. s. -.137* % der Familien mit Kindern -.086** n. s. n. s. n. s. -.158* % der Familien mit 3+ Kindern -.175*** n. s. -.113* n. s. -.179** Kitakinder, die über 7 Std./ Tag betreut werden in % von allen Kitakindern .132*** n. s. n. s. .131* n. s. % der sprachlich unauffälligen Kinder in der Einschulungsuntersuchung .065* n. s. n. s. n. s. n. s. % der Übergänge der Kinder ins Gymnasium .125*** .152* n. s. n. s. n. s. % der Ausländer -.185*** -.222*** -.122* n. s. n. s. % der Deutschen mit Migrationshintergrund -.185*** n. s. -.124** -.136* -.176** % der Kitakinder mit ausländischer Herkunft mindestens eines Elternteils -.187*** -.172** -.107* -.142* n. s. <?page no="218"?> 210 Eugen Zaretsky Wortschatzscore: MSSb Wortschatzscore: AWST- R Item viereckig: Fehlermuster Item hart/ glatt: Fehlermuster Item Klettergerüst: Fehlermuster r pb % der Kitakinder, die überwiegend andere Sprache(n) sprechen als Deutsch -.174*** -.158** -.111* -.113* n. s. % der Kinder ohne Migrationshintergrund von allen Kindern unter fünf .191*** .184** .127** .160** n. s. % der Deutschen ohne Migrationshintergrund unter Grundschülern .158*** .193** n. s. .144* n. s. % der Griechen unter allen Migranten n. s. n. s. .099* n. s. n. s. % der Türken unter allen Migranten -.131*** -.154** n. s. -.145** n. s. % der Ausländer mit Herkunftsland Türkei von allen Ausländern -.079* n. s. n. s. -.148** n. s. % der türkischen Bürger von allen Ausländern -.120*** -.148* n. s. -.138* n. s. % der EU-Ausländer unter allen Ausländern .096** n. s. n. s. .202*** n. s. % der Europäer unter allen Ausländern n. s. n. s. n. s. .146** .163* % der Italiener unter allen Migranten .124*** n. s. .101* .137* n. s. % der Afrikaner unter allen Ausländern -.181*** -.140* n. s. -.125* -.153* % der Amerikaner unter allen Ausländern .184*** .120* n. s. .114* n. s. Tabelle 1. Spearman- ( ) und punktbiseriale Korrelationen (r pb ) zwischen Merkmalen der Frankfurter Stadtteile und (a) Wortschatztestscores in den Sprachtests „Marburger Sprachscreening“ (Kurzversion MSSb) und „Aktiver Wortschatztest für 3bis 5-jährige Kinder - Revision“ (AWST-R) sowie (b) Klassifikation der Fehlermuster in drei MSSb-Wortschatzitems als relativ einfach bzw. fortgeschritten. *** p < .001, ** p < .01, * p < .05, n. s. = nicht signifikant Folgende demographischen Merkmale lieferten keine signifikanten Korrelationen und wurden daher in die Tabelle 1 nicht aufgenommen: Einwohnerdichte pro Hektar, Prozentsatz der Asiaten und Australier unter allen Ausländern (lei- <?page no="219"?> Geographie der Wortschatzkenntnisse bei Vorschulkindern in Frankfurt/ M. 211 der wurde zwischen diesen zwei Gruppen in der offiziellen Statistik der Stadt Frankfurt nicht unterschieden), Prozentsatz der Ausländer mit Herkunftsland Russland von allen Ausländern, Prozentsatz der Einpersonenhaushalte, PKW je 1000 Einwohner und die Zahl der Staatsangehörigkeiten im Stadtteil. Alle 46 verfügbaren geolinguistischen Variablen wurden darüber hinaus in zwei multiplen Korrelationsanalysen, nämlich in schrittweisen linearen Regressionen, in Bezug auf ihren Zusammenhang mit den Gesamtscores der richtigen Antworten in beiden Wortschatztests (MSSb, AWST-R) untersucht. Ergebnisse dieser Regressionen sind Tabelle 2 zu entnehmen. Unabhängige Variablen Beta- Koeffizienten, standardisiert T VIF (variance inflation factor) Regression 1: MSSb-Wortschatzuntertest als abhängige Variable (r = 0,302, korr. R 2 = 0,086, F (5, 920) = 18,49***) Wohnfläche je Einwohner (m 2 ) 0,269 4,49*** 3,63 % der Italiener unter allen Migranten 0,117 3,45** 1,16 % der Deutschen ohne Migrationshintergrund unter Grundschülern 0,270 3,97*** 4,68 % der Ausländer -0,200 -3,51*** 3,27 Kitakinder, die über 7 Std./ Tag betreut werden in % von allen Kitakindern 0,118 3,17** 1,40 Regression 2: AWST-R als abhängige Variable (r = 0,235, korr. R 2 = 0,052, F (1, 251) = 14,72***) % der Ausländer -0,235 -3,84*** 1,00 Tabelle 2. Zwei lineare Regressionen (Methode „Schrittweise“): 46 geolinguistische Faktoren als unabhängige Variablen, Gesamtscores der richtigen Antworten in beiden Wortschatztests (MSSb, AWST-R) als abhängige Variablen *** p < 0,001, ** p < 0,01 Die Multikollinearität (s. letzte Spalte in Tab. 1) lag weit unter dem kritischen Bereich von 10+. Laut Kruskal-Wallis H-Test waren die MSSb-Wortschatztestscores nicht gleichmäßig über die Frankfurter Stadtteile, in denen mindestens 20 Kinder getestet wurden, verteilt: 2(25) = 42,94, p = 0,014, N = 846. Die höchsten Scores wurden in Bergen-Enkheim, Eschersheim, Ostend, Heddernheim und Bockenheim identifiziert. Kinder aus diesen fünf Stadtteilen erzielten signifikant höhere Ergebnisse auch in anderen MSSb-Untertests sowie im Gesamtscore: Us = 27.044-46.196, Zs -2,17, ps < .05, ps 0,45, Ns 764. Die Effektstärken deuten aber auf eher geringe Unterschiede hin. <?page no="220"?> 212 Eugen Zaretsky Kinder aus den fünf Frankfurter Stadtteilen mit den höchsten Wortschatztestscores unterschieden sich in folgenden Hinsichten von den Kindern aus allen anderen Stadtteilen (mit Ns 20): Bei ihnen zuhause wurde häufiger nur Deutsch gesprochen (lml = 15,18, p < 0,001, N = 727), sie wurden von Universitätssprachexperten (einer Gruppe von klinischen Linguisten, Sprachtherapeuten, Logopäden und Professoren) seltener als pädagogisch förderbedürftig ( 2(1) = 12,83, p < 0,001, N = 787) und klinisch abklärungsbedürftig eingestuft ( 2(1) = 5,44, p = 0,020, N = 787), sie nahmen - trotz geringeren Bedarfs - häufiger an Sprachförderkursen teil ( 2(1) = 6,41, p = 0,011, N = 96), sie waren häufiger monolingual deutsch ( 2(1) = 7,64, p = 0,006, N = 877), sie spielten häufiger gerne mit anderen Kindern (lml = 5,39, p = 0,020, N = 335) und äußerten sich häufiger sprachlich bei Gruppenaktivitäten (lml = 7,43, p = 0,006, N = 333), sie fingen früher an, Deutsch zu lernen bzw. zu erwerben (lml = 17,27, p < 0,001, N = 370), dasselbe galt für ihre Väter (U = 293, Z = -3,43, p = 0,001, p = 0,24, N = 80), sie besuchten häufiger einen Verein oder Spielkreis ( 2(1) = 3,88, p = 0,049, N = 526), sie produzierten häufiger relativ fortgeschrittene Fehlermuster im MSSb- Wortschatzuntertest ( 2(1) = 8,21, p = 0,004, N = 361; Item viereckig). Die Fallzahlen variierten je nachdem, wie viele Eltern bzw. Kindergarten-Erzieher die Fragen beantworteten, sowie danach, ob das Fragebogen-Item während der ursprünglichen Sprachstandserfassungsstudien schon verfügbar war. Eine Reihe von weiteren Faktoren, wie die Länge des Kitabesuchs oder das Alter und Geschlecht des Kindes, zeigte keine signifikanten Ergebnisse. Abgesehen von der statistischen Assoziation zwischen der Verwendung von bestimmten Fehlermustern im Wortschatz und Merkmalen der Frankfurter Stadtteile, wurden für die Verteilung der Fehlermuster auch andere Assoziationen identifiziert, was hier am Beispiel des Items „Welche Form hat das Fenster? - Viereckig“ demonstriert wird. Kinder mit fortgeschrittenen Fehlermustern waren laut Mann-Whitney U-Tests älter als Kinder mit relativ einfachen Fehlermustern: U = 18.396, Z = -1,99, p = 0,047, p = 0,44, N = 440. Des Weiteren wurden sie häufiger monolingual deutsch erzogen ( 2(1) = 12,23, p < 0,001, N = 439), sie wurden von den Universitätssprachexperten seltener als pädagogisch förderbedürftig ( 2(1) = 31,07, p < 0,001, N = 423) bzw. klinisch abklärungsbedürftig ( 2(1) = 13,98, p = 0,001, N = 423) eingestuft, sie spielten häufiger mit deutschsprachigen Kindern nach der Kindergartenzeit ( 2(1) = 8,14, p = 0,004, N = 417) und äußerten sich dabei häufiger sprachlich (lml = 5,79, p = 0,016, N = 173), sie hörten seltener schlecht (lml = 9,42, p = 0,002, N = 335), sie hatten früher so viel Sprachkontakt, dass sie Deutsch lernen bzw. erwerben konnten (lml = 4,30, p = 0,038, N = 211), sie sprachen häufiger nur Deutsch zuhause und seltener nur (eine) andere Sprache(n) (lml = 13,31, p < 0,001, N = 362), sie hatten seltener Verwandte mit „Problemen mit Lesen und Schreiben“ ( 2(1) = 4,67, p = 0,031, N = 341), mit Stottern <?page no="221"?> Geographie der Wortschatzkenntnisse bei Vorschulkindern in Frankfurt/ M. 213 ( 2(1) = 4,57, p = 0,033, N = 233) und, marginal signifikant, mit Sprachstörungen ( 2(1) = 3,75, p = 0,053, N = 352). Des Weiteren waren Kinder mit relativ fortgeschrittenen Fehlermustern durchgehend sprachlich stärker in allen MSSb-Untertests sowie im Gesamtscore laut Mann-Whitney U-Tests im Vergleich mit Kindern, die relativ einfache Fehlermuster produzierten: Us = 8103-18.214, Zs -2,40, ps < 0,05, ps 0,43, Ns 377. 4 Diskussion Die Wortschatzkenntnisse der deutschen Vorschulkinder waren in den Stadtteilen von Frankfurt am Main nicht gleichmäßig verteilt. Bessere Wortschatzkenntnisse korrelierten positiv mit höherem durchschnittlichem Bruttoarbeitsentgelt, geringerem Prozentsatz an Immigranten (Ausnahmen: Europäer, insb. Italiener, und Amerikaner, nicht näher definiert), Arbeitslosen bzw. Geringverdienern und Empfängern von diversen sozialen Leistungen seitens des Staates, mit höherem Durchschnittsalter und dementsprechend geringerem Prozentsatz an Kindern unter den Stadtteilbewohnern, wobei die letzten zwei Faktoren mit dem höheren Anteil an monolingual Deutschen zusammenhängen. Die Korrelationskoeffizienten erwiesen sich allerdings ausnahmslos als niedrig ( < 0,3), ebenso die Prozentwerte der erklärten Varianz in beiden linearen Regressionen, was darauf hinweist, dass die identifizierten Assoziationen relativ schwach ausgeprägt waren. Sowohl Kinder aus den fünf Frankfurter Stadtteilen mit den besten Wortschatzkenntnissen als auch Kinder, die relativ fortgeschrittene Fehlermuster im Wortschatz produzierten, erwarben Deutsch unter relativ günstigen Bedingungen, die man mit vier Punkten zusammenfassen kann: mehr Sprachkontakt, früherer Sprachkontakt, weniger Immigranten in der Umgebung (d. h., vor allem, weniger fehlerhaften Deutschinput) und weniger medizinische Auffälligkeiten. Zwei lineare Regressionen identifizierten die wichtigsten geolinguistischen Variablen, die mit den Wortschatzkenntnissen der Vorschulkinder assoziiert sind. Dazu zählen eine größere Wohnfläche je Einwohner (d. h. Wohlstand im entsprechenden Stadtteil), höhere Prozentanteile (a) der Kinder, die über sieben Stunden pro Tag in den Kindergärten betreut werden (d. h. längerer täglicher Kontakt zur deutschen Sprache), und (b) der Italiener (die, wie man aus früheren Studien weiß [Zaretsky und Lange 2015g], über relativ fortgeschrittene Deutschkenntnisse verfügen und in den Stadtteilen mit denselben soziolinguistischen und demographischen Merkmalen wohnen wie monolingual Deutsche) sowie niedrigerer Prozentanteil von Ausländern (d. h. weniger Sprachkontakt zum fehlerhaften, eingeschränkten Deutsch). Die Regression mit AWST-R-Gesamt- <?page no="222"?> 214 Eugen Zaretsky score als abhängige Variable identifizierte nur diesen letzten Punkt, vermutlich wegen des deutlich kleineren Stichprobenumfangs im Vergleich mit der MSSb- Stichprobe. Die Wirkung dieser geolinguistischen Variablen ist eher als indirekt zu verstehen, daher die Angaben der dahinterstehenden Faktoren in Klammern, etwa längerer täglicher Sprachkontakt bei längerem Kindergartenbesuch in Stunden pro Tag. Die Zahl und die Auswirkung derjenigen latenten Faktoren, die sich hinter geolinguistischen Variablen verbergen, sind schwer überschaubar. Hoher Migrantenanteil in der Umgebung des Kindes wurde z. B. in einer US-amerikanischen Studie in Verbindung mit eingeschränktem Weltwissen und auch schwacher Kommunikationskompetenz gebracht (Oliver u. a. 2007). Niedriger sozioökonomischer Status und Sprachbarrieren der Eltern resultieren laut einer australischen Studie in seltenerer Inanspruchnahme von diversen medizinischen Leistungen einschl. Angeboten für Kinder (Ou u. a. 2010), was vermutlich dazu führt, dass auch sprachbezogene medizinische Auffälligkeiten der Kinder vergleichsweise spät diagnostiziert werden. Höherer sozioökonomischer Status war laut der Längsschnittstudie von Walker u. a. (1994) mit differenzierterem und extensiverem Wortschatzoutput der Eltern sowie mit mehr Zeitinvestition in die Kommunikation mit Kindern verbunden, was schon im Alter von 7 bis 36 Monaten den Wortschatzerwerb deutlich begünstigte und auch mit höheren IQ-Werten der Kinder einherging. Positive Effekte dieses verbalen Inputs ließen sich noch im Schulalter sowohl in den expressiven als auch in den rezeptiven Sprachfähigkeiten nachweisen. Identifizierte Assoziationen zwischen geolinguistischen und demographischen Merkmalen der Frankfurter Stadtteile einerseits und Wortschatzkenntnissen andererseits finden mehrfach Bestätigung in der Literatur nicht nur zum Deutscherwerb, sondern auch zum Erwerb von anderen (Mutter-)Sprachen, zumindest in den Ländern, die man zur westlichen Zivilisation zählt. So ging in der US-amerikanischen Studie von Oliver u. a. (2007) die fortgeschrittene Sprachentwicklung der Vorschulkinder mit einem höheren Anteil an Muttersprachlern (in diesem Fall Englischsprachigen) in der jeweiligen Region sowie mit einem höheren Einkommen und einem geringeren Anteil an Alleinerziehenden, Arbeitslosen und Personen ohne Hochschulabschluss einher. Chase-Landsdale u. a. (1997) fanden einen signifikanten positiven Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status der Nachbarschaft und dem PPVT-R-Gesamtscore („Peabody Picture Vocabulary Test - Revised“) bei US-amerikanischen Vorschulkindern. Während in der aktuellen Studie familiäre Einflüsse auf den Sprachstand der Kinder im multivariaten Design nicht berücksichtigt wurden, wurde in manchen anderen Studien auch unter Heranziehung der soziolinguistischen und demo- <?page no="223"?> Geographie der Wortschatzkenntnisse bei Vorschulkindern in Frankfurt/ M. 215 graphischen Merkmale der jeweiligen Familie die Beeinflussung der Vorschulkinder, etwa ihrer Lernbereitschaft, durch die Umgebung, d. h. Peers und Erwachsene aus ihrer Gegend, als unabhängiger Faktor bestätigt (Oliver u. a. 2007). Bemerkenswert ist die Tatsache, dass in der aktuellen Studie gerade die Kinder aus den fünf Stadtteilen mit den besten Wortschatzkenntnissen, d. h. Kinder, die besonders selten als pädagogisch förderbedürftig bzw. klinisch abklärungsbedürftig bzgl. ihrer Sprachentwicklung eingestuft und auch meist monolingual deutsch erzogen wurden, signifikant häufiger an Sprachförderkursen teilnahmen als Kinder aus anderen Stadtteilen. Dies entspricht aber anderen Assoziationen, die für dieselbe, aber auch zwei andere Stichproben der deutschen Vorschulkinder von Zaretsky und Lange (2015c) beschrieben wurden. Nicht Migrantenkinder, die von den Universitätssprachexperten signifikant häufiger als klinisch abklärungsbedürftig eingestuft wurden im Vergleich mit monolingual deutschen Kindern, sondern die monolingual Deutschen erhielten verhältnismäßig häufiger die Möglichkeit, an Sprachtherapien teilzunehmen - an Therapien, die sie meist nicht brauchten, weil in zwei von drei Stichproben 54- 73 % der Therapieteilnehmer weder als klinisch abklärungsbedürftig noch als pädagogisch förderbedürftig von den Universitätssprachexperten eingestuft wurden (in der dritten Stichprobe waren immerhin 53 % therapie- und 63 % förderbedürftig). Es bestanden darüber hinaus laut Zaretsky und Lange (2015c) mehrere indirekte Hinweise darauf, dass sowohl Vorschulkinder als auch Erwachsene mit Migrationshintergrund einen eingeschränkten Zugang zur medizinischen Versorgung hatten, soweit man dies anhand von subjektiven Angaben in den Elternfragebögen beurteilen kann. So glaubten die Migranteneltern aus allen drei Stichproben signifikant seltener als monolingual Deutsche daran, dass ihre Kinder an diversen sprachbezogenen Krankheiten leiden, ob Mittelohrentzündungen, generell Hörstörungen, Stottern, einer „Krankheit oder Störung, die die Sprache betrifft“, wobei auch fast alle anderen erfassten Krankheitsbilder bzw. medizinischen Auffälligkeiten, ob signifikant oder nicht signifikant, deutlich häufiger oder ausschließlich in der Untergruppe der monolingual deutschen Kinder laut Elternfragebögen vorkamen. So waren 36 von 38 Kindern mit Verletzungen und/ oder Operationen im Kopfbereich, alle zwölf Kinder, die regelmäßig Medikamente einnehmen mussten, sowie alle zehn Kinder mit einer diagnostizierten auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung in der hier verwendeten Stichprobe monolingual deutsch. Des Weiteren glaubten erwachsene Migranten laut Elternfragebögen aus allen drei Stichproben signifikant häufiger als Deutsche, dass unter ihren Verwandten keiner an Sprachstörungen, Stottern bzw. „Problemen mit Lesen und Schreiben“ leidet (Zaretsky/ Lange 2015c). Dieser „Effekt des gesunden Immigranten“ ist auch aus anderen <?page no="224"?> 216 Eugen Zaretsky Ländern bekannt, verschwindet nach und nach mit der wachsenden Aufenthaltsdauer im jeweiligen Land (Ng u. a. 2011) und lässt sich bei Migranten aus den Ländern mit relativ gut entwickeltem Gesundheitswesen, z. B. aus Russland, nicht beobachten (Wittig u. a. 2004). Die subjektive Meinung der Migranteneltern bzgl. des gesundheitlichen Zustands ihrer Kinder stand im direkten Widerspruch nicht nur zur Meinung der Universitätssprachexperten, sondern zum Teil auch zu den Antworten der Kindergarten-Erzieher in den entsprechenden MSSb-Fragebögen (Zaretsky/ Lange 2015c). So glaubten die Erzieher, dass Migrantenkinder nicht signifikant seltener, sondern signifikant häufiger als Deutsche an Hörstörungen litten. In ihrer Gesamtheit lassen diese Hinweise vermuten, dass eine Vielzahl von sprachbezogenen Krankheiten bzw. Auffälligkeiten im Falle der Migranten unentdeckt bleibt, oft bis ins Erwachsenenalter hinein, und dass dieser Umstand zum unverhältnismäßig geringen Prozentsatz an Kindern mit Migrationshintergrund sowohl in den Sprachtherapien als auch in der Sprachförderung führte. Andererseits bekommen viele monolingual deutsche Kinder auch dann die Chance, an Sprachtherapien bzw. -förderkursen teilzunehmen, wenn die Motivation dafür seitens der Entscheidungsträger schleierhaft bleibt, zumindest zum Zeitpunkt der Studiendurchführung, wie anhand von drei Stichproben der Vorschulkinder in Zaretsky und Lange (2015c) demonstriert wurde. Aber auch der Versuch, die Motivation für die Therapieteilnahme in der Vergangenheit der Kinder zu finden, musste für eine von diesen drei Stichproben - die einzige, in der so eine Überprüfung dank Follow-up-Studiendesign möglich war - in den meisten Fällen scheitern: Während im Alter von fünf bis sechs Jahren 73 % der Kinder in der Sprachtherapie diese Therapie nach der Beurteilung der Universitätssprachexperten nicht brauchten, lag dieser Wert für dieselben Kinder im Alter von vier, d. h. ein bis zwei Jahre zuvor, bei 66 % (Zaretsky/ Lange 2015e), was sich auf zwei Weisen erklären lässt: entweder sprachbezogene Auffälligkeiten vor dem Alter von vier Jahren oder eine falsche Einschätzung des Therapiebedarfs. Die zweite Erklärung wird indirekt durch die Ergebnisse der Regressionen mit Teilnahme an Sprachtherapien als abhängige Variable bestätigt: In allen drei Stichproben lieferte die unabhängige Variable „monolingual deutsch vs. Migrant“ signifikante Ergebnisse (Zaretsky/ Lange 2015c). Das Fehlen des Migrationshintergrunds erwies sich hiermit als unabhängiger Prädiktor solcher Teilnahme, und zwar unabhängig sowohl von den Sprachleistungen des Kindes als auch von der Klassifikation hinsichtlich des Bedarfs einer Sprachbzw. sprachbezogenen Therapie durch die Universitätssprachexperten. Daher, obwohl die Einschätzung des Gesamtsprachstands sowohl durch Eltern als auch durch Kindergarten-Erzieher besonders hoch mit dem MSSb-Wortschatztestscore im Vergleich mit anderen MSSb-Untertests korreliert (Zaretsky/ Lange <?page no="225"?> Geographie der Wortschatzkenntnisse bei Vorschulkindern in Frankfurt/ M. 217 2015f), führen Auffälligkeiten im Wortschatzbereich nicht unbedingt zur Teilnahme des Kindes an Therapie- und Fördermaßnahmen. In den meisten Fällen blieb die Motivation für eine solche Teilnahme in der hier untersuchten Stichprobe nicht (mehr) nachvollziehbar (vgl. Zaretsky/ Lange 2015c). In der englischsprachigen Fachliteratur verwendete Begriffe wie „neighborhood concentrated disadvantage“ (Lloyd/ Hertzman 2010) deuten darauf hin, dass geolinguistische Merkmale in Gruppen vorkommen. Wie von Zaretsky und Lange (2015d) gezeigt wurde, geht in der Tat der hohe Anteil an Migranten in Frankfurter Stadtteilen mit anderen demographischen Variablen einher: einem höheren Anteil an Arbeitslosen, Geringverdienern, Empfängern von diversen Sozialleistungen. Hiermit lässt sich der Migrationshintergrund gewissermaßen als Prädiktor von zusätzlichen Faktoren betrachten, die den Spracherwerb kaum begünstigen können: Kinder in Stadtteilen mit einem hohem Prozentsatz von Migranten haben, abgesehen vom relativ eingeschränkten und fehlerhaften Sprachinput im Deutschen, auch geringere Chancen auf Teilnahme an diversen sprachfördernden Aktivitäten, wie kostenpflichtigen Kursen bzw. Maßnahmen, sowie geringere Chancen, kostenpflichtige Therapien wahrzunehmen und Zugang zu relativ gebildeten, gut verdienenden Gesellschaftskreisen zu erhalten. Die Wichtigkeit des Faktors Geld wird dadurch betont, dass die Wohnfläche pro Einwohner in der hier vorliegenden Studie am höchsten mit den Wortschatzkenntnissen korrelierte: In den Stadtteilen mit besonders großer Wohnfläche wurden die höchsten Gesamtscores im MSSb-Wortschatzuntertest erreicht (vgl. dasselbe Ergebnis für die Stadtteile, in denen Kinder Kindertageseinrichtungen besuchten: Zaretsky/ Lange 2016a; 2016b). Die Wohnfläche kann offensichtlich als viel präziserer Indikator des finanziellen Wohlstands betrachtet werden im Vergleich mit dem offiziell deklarierten Bruttoarbeitsentgelt, zumal der finanzielle Wohlstand der Familie nicht nur am aktuellen Einkommen, sondern auch an Ersparnissen zu messen ist. Sowohl die Wohnfläche als auch das Bruttoarbeitsentgelt korrelierten hoch signifikant auch mit dem Bildungsgrad der Eltern in einer Stichprobe der etwas älteren Frankfurter Vorschulkinder (Zaretsky/ Lange 2016b). Der Zusammenhang zwischen dem Wohlstand in der Gegend, in der das Kind aufwächst, und entwicklungspsychologischen und physiologischen Merkmalen des Kindes, die den Spracherwerb direkt oder indirekt beeinflussen können, etwa seinem IQ (Brooks-Gunn u. a. 2015), Lernbereitschaft (Oliver u. a. 2007) und Geburtsgewicht (Sellström/ Bremberg 2006), wurde in früheren Studien nachgewiesen. Unter anderem zeigte sich der sozioökonomische Status des jeweiligen Stadtteils (am Beispiel von Paris) als ein wichtiger Prädiktor der Lesefähigkeit der Kinder in der zweiten Schulklasse, wobei ein klarer Zusammenhang <?page no="226"?> 218 Eugen Zaretsky zwischen dem sozioökonomischen Status und der phonologischen Bewusstheit der Kinder bestand (Billard u. a. 2009). Da der hohe Anteil an Migranten mit weiteren benachteiligenden soziolinguistischen und demographischen Faktoren einhergeht, hätte man erwarten können, dass die Migranten, die in Stadtteilen mit überwiegend deutscher Bevölkerung wohnen, in ihren Deutschkenntnissen fortgeschritten sind. In der Tat, ein hoher Anteil an Italienern war laut Tabelle 1 mit besseren Wortschatzkenntnissen im entsprechenden Stadtteil assoziiert. Laut dem hessischen Sprachstandserfassungsprogramm liegt der Anteil an sprachlich Unauffälligen unter italienischen Vorschulkindern sogar höher als in allen anderen Migrantengruppen (Bodensohn u. a. 2012). Wie in Zaretsky und Lange (2015d) demonstriert wurde, erwerben Italiener Deutsch unter relativ günstigen Bedingungen bzgl. der Quantität des Sprachkontakts, und laut Zaretsky und Lange (2016a) wohnen sie auch relativ häufig in Stadtteilen mit denselben Merkmalen wie bei monolingual deutschen Kindern, einschl. geringeren Anteils an Migranten. Dementsprechend haben sich Italienischsprachige in ihren demographischen, soziolinguistischen und sogar medizinischen Merkmalen an Deutsche angeglichen: So haben sie u. a. psychosomatische Beschwerden nicht signifikant häufiger als Deutsche, im Gegensatz zu Russisch- und Türkischsprachigen (Bermejo u. a. 2012). Das Vorhandensein dieser Beschwerden war seinerseits negativ mit dem Wohlfühlen in Deutschland assoziiert. Was die Wortschatzkenntnisse der Migranten in ihrer Muttersprache anbelangt, zeigt sich laut derselben Quelle ein etwas anderes Bild: In diesem Fall war der hohe Anteil an Migranten im entsprechenden Frankfurter Stadtteil fast schon alleine entscheidend, weil dieser offensichtlich die ausreichende Qualität und Quantität des muttersprachlichen Inputs garantierte (Zaretsky/ Lange 2016a). So stellten Vervoort u. a. (2012) fest, dass der hohe Anteil an Immigranten aus der Türkei in bestimmten Stadtteilen bzw. Regionen von Holland dazu führte, dass diese Migranten vergleichsweise langsam Holländisch erwarben bzw. lernten, aber dafür auch in der zweiten Generation über gute Muttersprachkenntnisse im Vergleich mit anderen Migrantengruppen verfügten. In der vorliegenden Studie wurde die Neigung zu relativ schwachen Wortschatzkenntnissen im Deutschen in den Stadtteilen mit einem hohen Anteil an türkischen Einwohnern ebenfalls demonstriert, und in Zaretsky und Lange (2015d) wurde für dieselbe Stichprobe gezeigt, dass türkische Familien die Muttersprachkenntnisse ihrer Kinder signifikant positiver einschätzten als andere Migranten, was die Ergebnisse von Vervoort u. a. (2012) bestätigt. In einer der früheren Studien für dieselbe Stichprobe demonstrierte niedrige Werte der Migrantenkinder in den Aufgaben zum phonologischen Kurzzeitgedächtnis (Zareckij 2015) stehen in keinem Widerspruch zu fortgeschrittenen <?page no="227"?> Geographie der Wortschatzkenntnisse bei Vorschulkindern in Frankfurt/ M. 219 Muttersprachkenntnissen dieser Kinder, weil entsprechende Aufgaben im MSSb in Anlehnung an die deutsche Phonotaktik entwickelt wurden und daher Kinder mit anderen Muttersprachen als Deutsch gewissermaßen benachteiligen. Dies wurde z. B. für Türkischsprachige nachgewiesen, die signifikant häufiger als andere Migranten Konsonantengruppen im Auslaut der Kunstwörter vereinfachten, vermutlich weil im Türkischen Konsonantengruppen in dieser Position nicht zulässig sind (Zaretsky u. a. 2013). In der hier präsentierten Studie wurde nur zwischen monolingual deutschen und zweibzw. mehrsprachigen Kindern unterschieden. Für die Untergruppen der Migrantenkinder wurden keine gesonderten statistischen Analysen durchgeführt, weil dies den Rahmen der Arbeit sprengen würde. Allerdings wurde für dieselbe Stichprobe in einer früheren Publikation demonstriert, dass die Deutschkenntnisse der Kinder je nach Muttersprache variieren, mit relativ guten Ergebnissen, wie bereits oben erwähnt, in der Untergruppe der Italienischsprachigen und relativ eingeschränkten Deutschkenntnissen in den Untergruppen der Türkisch- und Arabischsprachigen (Zaretsky/ Lange 2015g). Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Durchschnittswerte der richtig beantworteten Fragen im MSSb-Wortschatzuntertest in der hier vorliegenden Studie diese Ergebnisse bestätigten: Die Mittelwerte lagen bei 3,2 bei Türkischsprachigen, 3,7 bei Arabischsprachigen und 5,1 bei Italienischsprachigen (vgl. 6,9 bei monolingual Deutschen, 5,0 bei Russischsprachigen, 5,9 bei Griechischsprachigen). Diese Ergebnisse spiegeln sich später auch in den Anteilen der pass-Ergebnisse („bestanden“) der Einschulungsuntersuchung wider, wenn auch viel schwächer als man es von den weit verbreiteten Thesen über die Sprache als Schlüssel zum Bildungserfolg erwarten würde: Während nur 38 % der Türkischsprachigen und 50 % der Arabischsprachigen aus der aktuellen Stichprobe den Sprachteil der Einschulungsuntersuchung bestanden, lag dieser Wert bei Italienischsprachigen bei immerhin 54 % (Zaretsky/ Lange 2016c). Der höchste Wert der pass- Ergebnisse in der hessischen Einschulungsuntersuchung wurde von den Russischsprachigen erreicht (69 %), die sich in ihren Deutschkenntnissen nicht signifikant von dem Durchschnitt aller Migranten unterscheiden (Zaretsky/ Lange 2016c; vgl. Bodensohn u. a. 2012; Zaretsky/ Lange 2015g), aber immer wieder besonders gute Schulleistungen in vergleichenden Studien demonstrieren. Unter anderem sind sie an deutschen Gymnasien überrepräsentiert, z. B. 37 % der Russischvs. 10 % der Italienischsprachigen in nordrhein-westfälischen Gymnasien (Kemper 2009), 33 % der Russischvs. 8 % der Italienischsprachigen in bayerischen Gymnasien (Burgmaier/ Traub 2007). Dies lässt schlussfolgern, dass sehr gute Deutschkenntnisse als der wichtigste Faktor für die Integration, an Schulleistungen gemessen, doch etwas überschätzt wird. <?page no="228"?> 220 Eugen Zaretsky Ob im Wortschatz (aktuelle Studie) oder in der Grammatik (Plural: Zaretsky/ Lange 2015b; Partizipien: Zaretsky/ Lange 2015h), produzierten Kinder aus sozioökonomisch schwachen Frankfurter Stadtteilen relativ einfache Fehlermuster, mit einem hohen Anteil an Vermeidungsstrategien wie Wiederholung der Frage oder allgemeine, vage Antworten ohne Zielwort. Im Fall der Partizipien neigten sie nicht etwa zu Übergeneralisierung von starken (gemachen) oder schwachen (gekommt) Verben, sondern zur Nennung des Agens ohne Verb, nicht relevanten Antworten sowie zu Infinitiven. Jegliche Morphologie wurde vermieden, bis auf die Infinitivendung -en. Dabei wurde anhand von Fragebögen für Eltern und Kindergarten-Erzieher festgestellt, dass Kinder, die relativ schwache Fehlermuster produzierten, tatsächlich unter Bedingungen aufwuchsen, die den Deutscherwerb kaum begünstigen: Diese Kinder wurden häufiger zwei-/ mehrsprachig erzogen (im Vergleich mit den Kindern, die fortgeschrittene Fehlermuster, d. h. solche mit Fehlern in der Morphologie, produzierten), sie fingen später an Deutsch zu lernen, sie besuchten den Kindergarten häufiger halbtags und nicht ganztags, sie spielten seltener mit deutschen Kindern in den Kindergärten und äußerten sich bei den Gruppenaktivitäten seltener sprachlich, sie besuchten seltener Vereine bzw. Spielkreise, in den Kindergärten sprachen sie häufiger Türkisch oder Arabisch (ihre Muttersprachen, und nicht Deutsch), sie hatten häufiger sprachbezogene medizinische Auffälligkeiten, wie etwa Hörstörungen (Zaretsky/ Lange 2015h). Diese Merkmale sind mit denen vergleichbar, die in der hier vorliegenden Studie Kinder mit einfachen Fehlermustern im Wortschatz sowie Kinder aus den Frankfurter Stadtteilen mit relativ schwachen Wortschatzkenntnissen demonstrierten. Nicht alle geolinguistischen Variablen lieferten in der aktuellen Studie signifikante Korrelationen mit den Wortschatztestscores. Da aber auch vorliegende signifikante Korrelationen allesamt als schwach einzustufen sind, kann man davon ausgehen, dass einige Korrelationen nur zufälligerweise das Signifikanzniveau nicht erreichten. Dies könnte u. a. für die Variable „PKW je 1000 Einwohner“ gelten: Sie lieferte eine signifikante positive Korrelation mit dem AWST-R- Gesamtscore bei etwas älteren Frankfurter Vorschulkindern (Zaretsky/ Lange 2015b). Ein hoher Anteil an Russischsprachigen im Frankfurter Stadtteil, in dem fünf- und sechsjährige Kinder den Kindergarten besuchten, lieferte ebenfalls eine signifikante positive Korrelation mit dem AWST-R-Gesamtscore (Zaretsky/ Lange 2016b). Aus den anthropologischen und soziologischen Studien geht hervor, dass Menschen, die ähnliche demographische Merkmale aufweisen, etwa vergleichbares Einkommen und Bildungsniveau, eher miteinander interagieren als solche mit unterschiedlichen Ausprägungsgraden von diesen Variablen (Bayer u. a. 2004; Joseph u. a. 2007; McPherson u. a. 2001). Auch wenn man als politisch motivierte Maßnahme die Einwohner von armen Gegenden unter Einwohnern von eher <?page no="229"?> Geographie der Wortschatzkenntnisse bei Vorschulkindern in Frankfurt/ M. 221 wohlhabenden Gegenden ansiedelt, sind freiwillige und belastbare Kontakte zwischen diesen zwei Bevölkerungsgruppen, darunter auch bei Minderjährigen, kaum zu erwarten. Trotzdem profitieren Kinder aus benachteiligten Familien durch solche Kontakte (Carpiano u. a. 2009; Keels 2008). Die Nähe zu „gebildeten und wohlhabenden Profis“ begünstigte u. a. den Wortschatzerwerb der sozioökonomisch benachteiligten Kinder im Schulalter laut Dupere u. a. (2010). In hessischen Kleinstädten, wo der Anteil an monolingual deutschen Kindern relativ hoch ist im Vergleich mit Groß- und Mittelstädten, verfügen auch zweibzw. mehrsprachige Kinder über bessere Deutschkenntnisse (Mertens u. a. 2011), vermutlich dank verstärktem Sprachinput von monolingual Deutschen. Sollte man also Empfehlungen auf der Grundlage der hier vorliegenden Studie zur Verteilung der Wortschatzkenntnisse in den Frankfurter Stadtteilen formulieren wollen, würde vor allem ratsam erscheinen, der „natürlichen“ Ghettobildung der sozioökonomisch Schwachen entgegenzuwirken und für gleichmäßigere Distribution der Frankfurter Einwohner mit niedrigem Einkommen und Migrationshintergrund über die Stadtteile zu sorgen. Bei Kindern aus den Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status ließ sich immer wieder auch der positive Einfluss der Kindertageseinrichtungen auf den Spracherwerb nachweisen. Voraussetzung dafür ist die elaborierte und grammatisch korrekte Ausdrucksweise der Kindergarten-Erzieher. So wurde in der längsschnittlichen Studie von Dickinson und Porche (2011) demonstriert, dass die Verwendung des anspruchsvollen Wortschatzes durch Kindergarten- Erzieher mit Kindern aus Familien mit niedrigem Einkommen positiv mit den Lesefähigkeiten in der vierten Klasse korrelierte. Auch der Wortschatzumfang in der vierten Klasse ließ sich schon auf der Grundlage der Verhaltensweisen von Kindergarten-Erzieher, etwa ob sie mit Kindern Bücher besprachen, vorhersagen. Daraus lässt sich eine weitere Empfehlung für Kinder aus den Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status ableiten, nämlich, abgesehen vom Kindergartenbesuch, eine Teilnahme an Lesekreisen und der Besuch von Vereinen mit Fokus auf Sprache und Lesen. Das Vorlesen von kindgerechten Büchern zeigt klare positive Effekte auf den Wortschatz des Kindes auch in den Familien mit einem niedrigen sozialen bzw. sozioökonomischen Status (Hammer u. a. 2010). Die Berechnungen, die in der hier vorliegenden Studie präsentiert wurden, demonstrierten in MSSb sowie AWST-R ein sehr einheitliches Bild ohne kontraintuitive bzw. widersprüchliche Befunde, die man schon aufgrund der Vielzahl von hier präsentierten statistischen Analysen nicht hätte ausschließen können. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, wurden vergleichbare Assoziationen auch für den MSSb-Gesamtscore bestätigt, d. h. nicht nur für den Wortschatz, sondern auch für andere Sprachdomänen: Sprachverständnis, Grammatik, Aussprache und phonologisches Kurzzeitgedächtnis. Das einheitliche Bild bzgl. geographi- <?page no="230"?> 222 Eugen Zaretsky scher Verteilung von Sprach-, Redeflusssowie Stimmstörungen (s. Einleitung) zeigt, dass diese Auffälligkeiten mit gehäuft vorkommenden sozioökonomischen bzw. demographischen Faktoren assoziiert sind, die den Zugang sowohl zu Förderals auch zu Therapieangeboten erschweren. 5 Literatur Alloway, Tracy P./ Alloway, Ross G./ Wootan, Samantha (2014): Home sweet home: Does where you live matter to working memory and other cognitive skills? In: Journal of Experimental Child Psychology 124. S. 124 131. Basílio, Carmen S./ Puccini, Rosana F./ da Silva, Edina M./ Pedromonico, Márcia R. 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Bojkova | Staatliche Pädagogische Universität Moskau, Lehrstuhl für deutsche Sprache, Prospekt Vernadskogo 88, 117571 Moskau, Russland, E-Mail: irbbo@mail.ru Dr. Natalia Chomutskaja | Staatliche Sozial- und Geisteswissenschaftliche Universität Kolomna, Lehrstuhl für Germanistik und Romanistik, Seljonaja-Str. 30, 140411 Kolomna, Russland, E-Mail: khomutskayan@rambler.ru Prof. Dr. Dr. Csaba Földes | Universität Erfurt, Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft, Nordhäuser Str. 63, 99089 Erfurt, Deutschland, E-Mail: csaba.foeldes@uni-erfurt.de Prof. Dr. Ludmila I. Grišaeva | Staatliche Universität Woronesch, Lehrstuhl für deutsche Philologie, Universitätsplatz 1, 394006 Woronesch, Russland, E-Mail: grischaewa@rgph.vsu.ru Prof. Dr. Eugen Hill | Universität zu Köln, Institut für Linguistik, Abt. Historisch- Vergleichende Sprachwissenschaft, 50923 Köln, Deutschland, E-Mail: eugen. hill@uni-koeln.de Prof. Dr. Stalina Katajewa | Staatliche Pädagogische Universität Lipetsk, Lehrstuhl für Deutsche und Französische Sprache, Lenin-Str. 42, 398020 Lipetsk, Russland, E-Mail: katajewa@rambler.ru Dr. Oksana Khrystenko | Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Institut für Germanistik, Innrain 52, 6020 Innsbruck, Österreich, E-Mail: Oksana.Khrystenko @gmx.net Dr. Attila Mészáros | J.-Selye-Universität Komárno, Neuphilologisches Institut, Bratislavská 3322, 94501 Komárno, Slowakei, E-Mail: meszarosa@ujs.sk Prof. Dr. Lyubov Nefedova | Staatliche Pädagogische Universität Moskau, Lehrstuhl für deutsche Sprache, Prospekt Vernadskogo 88, 119571 Moskau, Russland, E-Mail: la.nefedova@mpgu.su <?page no="240"?> 232 Herausgeber, Herausgeberin und Beiträger(innen) Prof. Dr. Alexander M. Polikarpov | Nördliche (Arktische) Föderale Lomonossow- Universität, Lehrstuhl für angewandte Linguistik und Translationswissenschaft, Nabereshnaja Sewernoj Dviny 17, 163002 Archangelsk, Russland, E-Mail: a.polikarpov@narfu.ru Dr. des. Tanja Seliazneva | Universität Erfurt, Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft, Nordhäuser Str. 63, 99089 Erfurt, Deutschland, E-Mail: tatsiana.seliazneva@uni-erfurt.de Dr. Eugen Zaretsky | Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Marburg, Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, Baldingerstr. 1, 35043 Marburg, E-Mail: zaretsky@med.uni-marburg.de