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Der Chor in den Tragödien des Sophokles

Person, Reflexion, Dramaturgie

0918
2017
978-3-8233-9095-4
978-3-8233-8095-5
Gunter Narr Verlag 
Bastian Reitze

Ausgehend von der formalen und inhaltlichen Differenz von Chor- und Sprechpartien innerhalb der Tragödie bietet dieser Band eine ausführliche Interpretation und Einordnung aller chorischen Äußerungen in den sieben erhaltenen Tragödien des Sophokles. Das Phänomen ,Chor' wird dabei zunächst in seiner lebensweltlichen und literarischen Bedeutung verortet, bevor mit den im Titel genannten Punkten "Person, Reflexion, Dramaturgie" die Maßstäbe der Interpretation abgesteckt werden. Der Fokus liegt auf der Gestaltung der einzelnen Partien, ihrer Einordnung sowie den damit verbundenen dramaturgischen Absichten. Dabei kann gezeigt werden, dass zwischen der chorischen dramatis persona, den spezifischen Reflexionsstrategien der einzelnen Lieder sowie der dramaturgischen Funktionalisierung des Chors ein innerer, wesensmäßiger Zusammenhang besteht. Neben einem vertieften Verständnis der einzelnen Chorpartien sowie der Tragödien bezüglich Struktur und Wirkabsicht bietet der Band eine Gesamtschau des sophokleischen Chorgebrauchs.

<?page no="0"?> Bastian Reitze Der Chor in den Tragödien des Sophokles Person, Reflexion, Dramaturgie DRAMA 20 Studien zum antiken Drama und zu seiner Rezeption Bernhard Zimmermann (Hrsg.) <?page no="1"?> Der Chor in den Tragödien des Sophokles <?page no="2"?> DRAMA Neue Serie . Band 20 Studien zum antiken Drama und zu seiner Rezeption Herausgegeben von Bernhard Zimmermann <?page no="3"?> Bastian Reitze Der Chor in den Tragödien des Sophokles Person, Reflexion, Dramaturgie <?page no="4"?> Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG · Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 1862-7005 ISBN 978-3-8233in <?page no="5"?> memoriam amici Marc Baum 1985-2014 <?page no="7"?> 11 A 13 I. 15 II. 16 III. 31 1. 31 2. 33 3. 38 3.1 38 3.2 43 IV. 51 1. 51 2. 53 2.1 53 2.2 54 2.3 56 3. 57 3.1 57 3.2 59 3.3 61 4. 62 Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung: Thema, Instrumentarium, Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung: Struktur der Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meinungen zum Chor: Forschungsabriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Chor: Phänomen - Dichtung - Formteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitz im Leben: song-and-dance culture, Kult, Polis . . . . . . . . . . . Chor und Dichtung: Chorlyrik und Tragödie . . . . . . . . . . . . . . Der Chor als Formteil der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spektrum I: der tragische Chor als (kollektive) dramatis persona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formale Gegebenheiten: Konventionalität - Dualismus Sprechpartien lyrische Partien - Erscheinungsbild des Chors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chorische Reflexion - Reflexionsstrategien - Dramaturgische Funktionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexion und Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spektrum II: Reflexionsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thematisch-begriffliche Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . Imaginativ-visualisierende Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . Spektrum III: Dramaturgische Funktionalisierung . . . . . . . . . . Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fokussierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontextualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chorische Binnengliederung - dramaturgische Implikationen des Einzelstücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . - <?page no="8"?> V. 66 1. 66 2. 68 3. 73 3.1 73 3.2 76 3.3 78 B 79 I. 81 1. 81 81 162 2. 167 167 252 3. 259 Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit - praeliminaria . . . . . . . . . Zielsetzung und wesentliche Charakteristika dieser Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau der Arbeit, methodische Entscheidungen und Vorgehen im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . praeliminaria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datierung und Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Text und Textkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen, Zitation u. Ä. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelinterpretationen sowie Gesamtschauen der Großabschnitte . . . . . Chöre wehrfähiger Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philoktet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur . . . . . . . . . . . . . . Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Prolog (v. 1-134) S. 83 - Parodos bzw. Wechselgesang (v. 135 - 218) S. 86 - Erstes Epeisodion (v. 219 - 675) S. 101 - Stasimon (v. 676-729) S. 116 - (Schlaf-)Lied (v. 827 - 864) S . 134 - Kommos Philoktet-Chor (v. 1081 - 1217) S. 145 - Exodos (v. 1222 - 1471) S. 158 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur . . . . . . . . . . . . . . Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Prolog (v. 1-133) S. 170 - Parodos (v. 134 - 200) S. 175 - Amoibaion Tekmessa-Chor (v. 201 - 256) S. 1 83 - Kommos Aias-Tekmessa-Chor (v. 348-429) S. 188 - Erstes Stasimon (v. 596 - 645) S. 1 98 - Zweites Stasimon (v. 693 - 718) S. 206 - Drittes Epeisodion und Abtritt des Chors (v. 719 - 814) S. 217 - (Monolog des Aias,) Epiparodos und Kommos Chor-Tekmessa (v. 815 - 960) S. 223 - Drittes Stasimon (v. 1185 - 1222) S. 23 3 - Viertes Epeisodion und Exodos (v. 1223 - 1420) S. 248 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtschau zu den Chören wehrfähiger Männer: Abhängigkeit, Imagination, Fokussierung . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 <?page no="9"?> II. 264 1. 264 264 340 2. 346 346 422 3. 428 III. 434 1. 434 434 521 2. 528 528 Frauenchöre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trachinierinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur . . . . . . . . . . . . . . Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Prolog (v. 1-93) S. 265 - Parodos (v. 94 - 140) S. 27 0 - Chorlied im ersten Epeisodion (v. 205 - 224) S. 279 - Erstes Stasimon (v. 497 - 530) S. 287 - Zweites Stasimon (v. 633 - 662) S. 2 99 - Drittes Stasimon (v. 821-862) S. 309 - Lyrische Wechselpartie Chor-Amme mit anschließender Szene (v. 863 - 895 bzw. 946) S. 325 - Viertes Stasimon (v. 947 - 970) S. 331 - Wechselgesang und Exodos (v. 971-1278) S. 336 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elektra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur . . . . . . . . . . . . . . Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Prolog (v. 1-85) S. 349 - θρῆνος/ Monodie Elektras und Kommos/ Parodos (v. 86-250) S. 354 - Erstes Stasimon (v. 472 - 515) S. 369 - Zweites Epeisodion und Kommos Elektra-Chor (v. 516 - 870) S. 382 - Zweites Stasimon (v. 1058 - 1097) S. 394 - Drittes Stasimon mit anschließendem Wechselgesang (v. 1384 - 1441) S. 408 - Exodos (v. 1442 - 1510) S. 419 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtschau Frauenchöre: emotionale Bindung, bipolare Imagination / Visualisierung, kontextualisierende Deutung . . Greisenchöre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oidipus Tyrannos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur . . . . . . . . . . . . . . Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Prolog (v. 1-150) S. 437 - Parodos (v. 151 - 215) S. 439 - Erstes Stasimon (v. 463-511) S. 45 0 - Erstes Amoibaion (v. 649 - 696) S. 462 - Zweites Stasimon (v. 863 - 910) S. 470 - Drittes Stasimon (v. 1086-1109) S. 488 - Viertes Stasimon (v. 1186 - 1222) S. 498 - Kommos/ zweiter Wechselgesang v. 1297 - 1366/ 68) S. 510 - Exodos (v. 1369-1530) S. 519 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oidipus auf Kolonos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="10"?> 642 3. 650 650 748 4. 755 C 763 1. 765 2. 766 3. 769 4. 773 5. 778 6. 782 783 1. 783 2. 785 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Prolog (v. 1-116) S. 531 - Parodos (v. 117 - 253) S. 534 - Wechselgesang im ersten Epeisodion (v. 510 - 548) S. 550 - Erstes Stasimon (v. 668-719) S. 559 - Amoibaion im zweiten Epeisodion (v. 833-843, 876-886) S. 580 - Zweites Stasimon (v. 1044 - 1095) S. 586 - Drittes Stasimon (v. 1211 - 1248) S. 601 - Amoibaion (v. 1447-1499) S. 614 - Viertes Stasimon (v. 1556 - 1578) S. 628 - Kommos (v. 1670 - 1750) S. 6 35 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antigone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur . . . . . . . . . . . . . . Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 Prolog (v. 1-99) S. 653 - Parodos (v. 100 - 162) S. 656 - Erstes Stasimon (v. 332-383) S. 668 - Zweites Stasimon (v. 582 - 630) S. 686 - Drittes Stasimon (v. 781 - 800) S. 698 - Kommos (v. 806 - 882) S. 711 - Viertes Stasimon (v. 944 - 986) S. 718 - Fünftes Stasimon (v. 1115-1152) S. 732 - Kommos (v. 1155 - 1353) S. 743 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtschau Greisenchöre: Polisidentifikation, Prinzipienreflexion, Kontextualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückblick auf die Arbeit und ihre Teile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Gesichtspunkte der sophokleischen Chorführung Verhältnis der drei Spektren zueinander: chorisches Koordinatensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Chor als Rahmen der sophokleischen Tragödie: Versuch einer Wesensbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick: Weitung der Perspektive und mögliche Nutzbarmachung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textausgaben, Kommentare, Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . Lexika und Lexikonartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 10 786 3. Monographien, Zeitschriftenartikel und weitere Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="11"?> Danksagung Das vorliegende Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung der gleichna‐ migen Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie, die dem Fachbereich 07 Geschichts- und Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im November 2015 vorgelegt wurde; das Promotionskolloquium fand im Juli 2016 statt. Es ist mir eine freudige Pflicht, an dieser Stelle einer Reihe von Personen meinen Dank auszusprechen. Allen voran danke ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Jochen Althoff (Mainz), der das Entstehen dieser Arbeit sowie meine Stu‐ dien im Ganzen stets mit besonderem Interesse, persönlichem Einsatz sowie Rat und Hilfe begleitet und gefördert hat. Frau PD Annemarie Ambühl (Mainz / Leiden) danke ich für die Übernahme des Korreferats sowie manchen wertvollen Hinweis. Auch den weiteren Gut‐ achtern, den Mainzer Professoren Wilhelm Blümer, Tamara Choitz und Ulrich Volp, gilt mein besonderer Dank. Herrn Prof. Bernhard Zimmermann (Freiburg) danke ich sehr für die unkom‐ plizierte Aufnahme der Arbeit in die DRAMA -Reihe; dem Narr Verlag Tübingen, im Besonderen Herrn Tillmann Bub, bin ich für die reibungslose Zusammenar‐ beit bei der Realisierung des Buchs, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stif‐ tung für Geisteswissenschaften für die Gewährung eines Druckkostenzu‐ schusses sehr dankbar. Mein Dank gilt zudem allen ehemaligen Lehrern, Freunden und Bekannten, die mir beim Korrekturlesen der Arbeit geholfen haben. Besonders verbunden bin ich darüber hinaus dem Gymnasium an der Stadt‐ mauer, Bad Kreuznach, den Damen und Herren Karl-Ulrich Nordmann, Jo‐ hannes Th. Thormaelen, Etta Engelmann, Dr. Hans Lier, Renate Peukert, Gunt‐ hard Müller und Benedikt Kloppenborg - sowie freilich dem ganzen Mainzer ‚Seminar für Klassische Philologie‘, im Besonderen Frau Dr. Rebekka Schirner, Frau Simone Arzt sowie meinen collegis maioribus und Freunden Günter Böck‐ eler und Dr. Wolfram Brinker. Für ihren Rat, ihren Zuspruch und ihre Freundschaft (weit über die Angele‐ genheiten des Verfahrens hinaus) danke ich einer Reihe lieber Menschen, im Besonderen Tobias Chr. Weißmann, Jacqueline Beisiegel und Ina Maria Theile. <?page no="12"?> Von Herzen danke ich schließlich meiner Mutter Claudia Reitze sowie meiner Frau Johanna Reitze, ohne deren Unterstützung, Geduld und Rückhalt dieses Buch, wie so vieles, nicht hätte entstehen können. Gewidmet ist die Arbeit dem Andenken meines Schul- und Studienfreundes Marc Baum. Nur allzu gerne würde ich mit ihm noch einmal über Literatur, Philosophie und die Gegenstände dieses Buches sprechen. Sein Humor, sein wacher Verstand und sein unglaublich feines Gefühl für Sprache und Dichtung bleiben mir unvergessen. Mandel, im Juni 2017 Bastian Reitze Danksagung 12 <?page no="13"?> A Einleitung: Thema, Instrumentarium, Methode <?page no="15"?> I. Vorbemerkung: Struktur der Einleitung In dieser Einleitung soll mit dem tragischen Chor das Thema der Untersuchung, das der Interpretation zu Grunde liegende Konzept sowie die im Hauptteil an‐ gewandte Methode vorgestellt werden. Aufgabe dieser Einleitung ist es dabei einzig, den Rahmen der eigentlichen Untersuchungen abzustecken; sie ist dem‐ entsprechend möglichst kurz gehalten und verweist regelmäßig auf weitere Forschungsliteratur, die bei weitergehenden Fragestellungen oder dem Wunsch nach thematischer Vertiefung im Einzelnen konsultiert werden kann. Der Forschungsabriss ( II ) sucht dabei, die vorliegende Arbeit innerhalb der wissenschaftlichen Beschäftigung zu verorten und benennt grundlegende An‐ sichten und Konzepte, die dieser Arbeit zu Grunde liegen. Im Sinne einer the‐ matischen Hinführung soll der folgende Abschnitt ( III ) zunächst die Veranke‐ rung des Phänomens „Chor“ in der griechischen bzw. attischen Lebenswelt, dann die Eigenheiten der chorischen Dichtung, schließlich die Verbindung zwi‐ schen Chor und Tragödie kurz aufzeigen. Mit dem Chor als festem Formteil der Tragödie, wie sie uns vorliegt, beschäftigt sich der letzte Unterabschnitt. In Abschnitt IV sollen daraufhin die für die Einzelanalysen zentralen Kon‐ zepte chorischer Reflexion und ihrer basalen dramaturgischen Funktionalisie‐ rung ausgeführt werden, bevor der die Einleitung beschließende Abschnitt V konkret das Ziel und die Methode der Arbeit formuliert und einige praeliminaria angibt. <?page no="16"?> 1 Die Forschungsliteratur zum (tragischen) Chor ist ebenso unüberschaubar wie die zu Sophokles. Hier kann daher nicht der Versuch unternommen werden, eine umfassende Würdigung aller Beiträge und Forschungsrichtungen oder auch nur eine annähernd vollständige Bibliographie zu geben. 2 K I T Z I N G E R (2008). The choruses of Sophoklesʼ Antigone and Philoktetes: a dance of words, Leiden, S. 1-10. 3 G R U B E R (2009). Der Chor in den Tragödien des Aischylos: Affekt und Reaktion, Tü‐ bingen, S. 1-43. 4 G O L D H I L L (1997). „Modern critical approaches to Greek tragedy.“ in: The Cambridge Companion to Greek Tragedy, hrsg. v. E A S T E R L I N G (1997), Cambridge, S. 324-347. 5 S I L K (1998 b). „‘Das Urproblem der Tragödie’: notions of the chorus in the nineteenth century.“ in: Der Chor im antiken und modernen Drama, hrsg. v. R I E M E R und Z I M M E R‐ M A N N (1998), Stuttgart und Weimar, S. 195-226. 6 Mit K R A N Z (1933). Stasimon: Untersuchungen zu Form und Gehalt der griechischen Tragödie, Berlin, beginnen sowohl G R U B E R (2009) S. 1 ff. als auch R U T H E R F O R D (2012). Greek Tragic Style: form, language and interpretation, Cambridge, S. 223 f. 7 K R A N Z (1933) S . 171; M ÜL L E R (G.) (1967). „Chor und Handlung bei den griechischen Tragikern.“ in: Sophokles, hrsg. v. D I L L E R (1967), Darmstadt (Wege der Forschung Band XCV), S. 212-283. II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss 1 In ihrer „Introduction“ 2 gibt K ITZING E R einen kenntnisreichen und konzisen Überblick der neuesten (hauptsächlich der angelsächsischen Forschung ent‐ stammenden) Positionen hinsichtlich des Chors und seiner Verwendung in der attischen Tragödie. Entsprechendes leistet G R U B E R in seinem umfangreichen Methodenkapitel mit speziellem Blick auf die deutschsprachige Forschung. 3 Eine besonders weite Perspektive nimmt G OLDHILL in seinem Abriss zur modernen Forschungsgeschichte ein. 4 Auf diese Überblicke sei hier besonders verwiesen. Einen speziellen Fokus auf die Aufarbeitung des neunzehnten Jahrhunderts legt S ILK 5 , der sich mit Hegel und Nietzsche einem über die eigentliche altphilologi‐ sche Beschäftigung hinausgreifenden Rahmen zugewendet hat. Als prägend für die allgemeine Beschäftigung mit dem Phänomen „Chor“ innerhalb der Tragödie (und dort im Besonderen für die deutsche Forschung) hat sich die auf K RANZ zurückgehende Angabe dreier „Funktionen“ des Chors erwiesen. 6 Dem Chor, so die von M ÜLL E R zitierte Version, wird dabei zuge‐ schrieben, „erstens Person des Stücks zu sein, zweitens Instrument zur Beglei‐ tung, Gliederung, Vertiefung und drittens ‚Organ des dichterischen Ich‘“. 7 Auch wenn diese griffige Dreiteilung weder der Komplexität des Phänomens „tragi‐ scher Chor“ noch der umfangreichen wissenschaftlichen Auseinandersetzung <?page no="17"?> 8 Eine besonders eingehende Beschäftigung mit der Nachwirkung der funktionalen Drei‐ teilung des Chors durch K R A N Z findet sich zudem bei G R U B E R (2009) S . 1-16. 9 Einen konzisen Überblick über generelle Tendenzen und Entwicklungen innerhalb der (angelsächsischen) Sophokles-Forschung bis in die neueste Gegenwart gibt D A V I D S O N (2014). „Scholarship on Sophoclean Drama, Eighteenth Century to the Present.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R O I S M A N (2014), Malden (MA), S. 1223-1230. 10 Die entsprechenden Zitate sowie eine ausführlichere Diskussion (die sich mutatis mu‐ tandis von Aischylos auch auf Sophokles übertragen lässt) finden sich bei G R U B E R (2009) S. 2 ff. gerecht zu werden vermag, 8 bietet es sich an, an ihr als einem Leitfaden einige wesentliche Deutungsansätze auszuführen und die vorliegende Arbeit im Kon‐ text der Sekundärliteratur zu verorten. 9 Es erscheint ratsam, die von K RANZ als letzte aufgeführte Funktion des Chors hier in aller Kürze als erstes zu behandeln: Die auf im Wesentlichen Schlegel und Schiller zurückzuführende Anschauung des Chors als „Sprachrohr des Dichters“ bzw. als „idealisiertem Zuschauer“ 10 trennte die lyrischen Partien des Chors vom eigentlichen Handlungsverlauf. Als Sprecher der innerhalb der Deu‐ tung auf ihr reflektorisches Moment reduzierten Chorpassagen erscheint dabei letztlich der Dichter selbst, der qua Chor zu seinem Publikum spricht, es ermahnt oder unterweist und ihm so den gedanklichen Rahmen zum Verständnis des jeweiligen Stücks (und darüber hinausgehender Sachverhalte) an die Hand gibt. Wenn auch dieses Verständnis der reflektorischen Qualität einzelner Chorlieder gerecht zu werden scheint, läuft es dennoch Gefahr, in einer methodisch nicht haltbaren Weise Aussagen des Chors für Äußerungen des Dichters zu halten. Rekonstruktionen der Anschauungen des Dichters, gar seiner Theologie anhand der Chorpartien einer bestimmten Tragödie sind daher mit äußerster Vorsicht zu handhaben; dem Verständnis des Einzelstücks als eines dramatischen Kunst‐ werks dienen die Ansätze der Sprachrohr-Theorie nur selten. Den Chor (nur) als Mitspieler der Tragödie zu sehen, war und ist innerhalb der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Tragödien Ausgangspunkt vielfäl‐ tiger Arbeiten: Zu erweisen, inwieweit der Chor als ein Mitspieler, ein Akteur im dramatischen Gefüge bezeichnet werden kann, ob und wie sein spezifischer Charakter ausgeformt ist, inwiefern dieser Charakter konsistent ist und in wel‐ chem Verhältnis schließlich der so als Mitspieler verstandene Chor zu den an‐ deren Akteuren sowie den Geschehnissen steht, kurz: die Untersuchung des II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss 17 <?page no="18"?> 11 So bereits M U F F (1877). Die chorische Technik des Sophokles, Halle. C O L E M A N (1972). „The Role of the Chorus in Sophoclesʼ Antigone.“ in: PCPS 18, S. 4-27. E S P O S I T O (1996). „The Changing Roles of the Sophoclean Chorus.“ in: Arion 4.1, S. 85-114. S C H W I N G E (1971). „Die Rolle des Chors in der sophokleischen Antigone.“ in: Gymnasium 78 (1971), 294-321. 12 Poetik 1456 a 25; siehe unten Seite 38f. 13 Vgl. S E G A L (1995). Sophoclesʼ Tragic World: Divinity, Nature, Society, Cambridge (Mass.) S. 184: „In the case of Sophocles there has been a fairly general agreement, supported by the judgement of Aristotle, that the chorus is an integral part of the action. It is also agreed that the Sophoclean chorus does not speak out of character and has a fairly consistent role as an actor“. 14 G A R D I N E R (1987). The Sophoclean Chorus: A Study of Character and Function, Iowa City. 15 P A U L S E N (1989). Die Rolle des Chors in den späten Sophokles-Tragödien: Untersu‐ chungen zu „Elektra“, „Philoktet“ und „Oidipus auf Kolonos“, Bari. 16 G A R D I N E R (1987) S. 4. Eine ganz ähnliche Entwicklung konstatiert H O S E (1990) für die Beschäftigung mit Euripides im zwanzigsten Jahrhundert: „[…] teilte sich die Forschung über den Chor in zwei Richtungen: die eine konzentrierte sich auf den Chor als dramatis persona, die andere auf das Chorlied“ (H O S E (1990 / 1). Studien zum Chor bei Euripides, Stuttgart, S. 13). 17 A.a.O. S. 5. Bereits K I R K W O O D (1958) bemerkt: „It will be necessary to consider what the chorus is, as well as what it says or sings - the personality and the words - together as often as they belong together“ (K I R K W O O D (1958). A Study of Sophoclean Drama, Ithaca (NY), S. 186). Chors als dramatis persona ist die selbstgesteckte Aufgabe zahlloser Analysen. 11 Besonderen Rückhalt erhält diese Aufgabenstellung dabei durch die Bemerkung des Aristoteles zum richtigen Gebrauch des Chors 12 , die man so zu untermauern sucht. 13 Als umfassendere Studien in diesem Bereich zu mehreren bzw. allen erhal‐ tenen Tragödien unseres Autors verstehen sich dabei die Arbeiten von G AR‐ DIN E R 14 und P AUL S E N 15 . So konstatiert erstere eine Fehlentwicklung, die sich bei der ausschließlichen Beschäftigung mit den poetischen Qualitäten der analy‐ sierten Chorpartien einstelle: Yet in these examinations of the lyrics the chorusʼ character has been largely neglected, to such an extent that the odes often seem to take on an existence apart from the chorus that sing them. 16 Die Aufgabe ihrer Arbeit charakterisiert sie demnach folgendermaßen: This investigation therefore attempts to redress the existing imbalance between the study of poetry and the study of character by analyzing the roles of the chorus in each of Sophoclesʼ extant tragedies and determining the extent to which he meant the au‐ dience to perceive the chorus as a character in the play. 17 II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss 18 <?page no="19"?> 18 P A U L S E N (1989) S. 19. 19 M ÜL L E R (G.) (1961). „Überlegungen zum Chor der Antigone.“ in: Hermes 89 (1961) S. 398-422, S. 422. 20 „Wenn dies richtig ist, dürfen wir uns der Übereinstimmung mit Aristoteles freuen“ a. a. O. Inwieweit M ÜL L E R s strenge Auffassung des Chors als eines Akteurs der Tragödie und ihrer Struktur gerecht wird, bleibt zu fragen; in ihrer letzten Konsequenz scheint er eher zu versuchen, die Richtigkeit der aristotelischen Aussage zu bestätigen und so mehr Aristoteles verteidigen als die Dichtungen des Sophokles in ihrer je eigenen Komposition als dramatische Werke nachvollziehen zu wollen. 21 A. a. O. 22 M ÜL L E R (1961) S. 7: „Über das anerkannte Maß hinaus wird in den Worten des Textes Doppelsinn gefunden, der es erlaubt, hinter die Meinung der handelnden und irrenden Personen die Aussage des Dichters zu hören“. 23 M ÜL L E R (1967) S. 227 im Speziellen zum Chor des Oidipus Tyrannos: „Es muß gesagt werden, daß jedes Wort, das aus dem Munde des Chors kommt, […] weit entfernt davon ist, eine Deutung des Geschehens vom Dichter aus zu geben, sondern nur eine Beur‐ teilung von irrenden Menschen, irrenden Mitspielern gibt“. Auch P AUL S EN sieht das Hauptanliegen seiner Studie mit Rückgriff auf die oben ausgeführte funktionale Dreiteilung […] in einer Untersuchung der ersten der genannten Funktionen. Es soll bewiesen werden, daß der Chor Mitspieler und Person des Stückes ist und somit den Schau‐ spielern vergleichbar. 18 Eine besonders radikale Position vertritt dabei M ÜLL E R : Er kommt zunächst, vornehmlich ausgehend von seiner Interpretation der Antigone, zu dem Ergebnis „1. Der Chor ist eine konsequent denkende Person. 2. Alle Äußerungen des Chors dienen dem Dichter dazu, Gestalt und Größe der Protagonistin heraus‐ zuarbeiten“. 19 Er sieht damit das aristotelische Postulat vom mitspielenden Chor verwirklicht 20 und wagt die vorsichtige Generalisierung: „Es ist zu vermuten, daß der Chor in den anderen Tragödien des Sophokles keine grundsätzlich an‐ dere Funktion hat“. 21 Im Gegensatz dazu steht der leitende Gesichtspunkt seines Antigone-Kom‐ mentars: Dort will M ÜLL E R gerade aus den Aussagen des als einer dramatis per‐ sona verstandenen Chors dennoch die Stimme des Dichters erschließen und so auf Basis des gefundenen „Doppelsinns“ den „theologischen Sinn der Tragödie“ herausarbeiten. 22 Die genuin dramaturgische Komponente der einzelnen Partien zu untersuchen, liegt ihm allerdings fern. Während er es rundheraus ablehnt, in den Aussagen des Chors die eigene Meinung des Dichters zu sehen 23 - also dem Chor die dritte Funktion vollständig abspricht -, glaubt er dennoch, durch die Annahme des Zweit- und Drittsinns geradezu e negativo die Ansichten des Dichters sowie dessen Einschätzung des Geschehens aus den Chorpartien he‐ II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss 19 <?page no="20"?> 24 M ÜL L E R (1961) S. 7: „Der Doppelsinn ist vor allem konstitutiv für die Chorlieder, die vordergründig niemals das Urteil des Dichters wiedergeben, sondern es in einem zweiten oder öfter sogar dritten Sinn durchhören lassen“. 25 Vgl. dafür die Untersuchung der Antigone ad locum, im Besonderen seine Analyse des vierten Standliedes. 26 K I R K W O O D (1958). „4. The Role of the Chorus.“ in: A Study of Sophoclean Drama, ders., New York. S. 181-250. 27 „But it is a dangerous, though easy, step to assume therefore that these reflections are intended to represent Sophoclesʼ reflections on the action in which they occur and to treat them as clues provided by the poet for the understanding of his play“ S. 183, sowie „[…] to accept choral reflections as the poet’s reflections with respect to the drama is not a universally safe procedure“ S. 184. 28 Ders. S. 186. 29 A. a. O. 30 Ders. S. 201. 31 A. a. O. rausarbeiten zu können. 24 Die Ergebnisse - gerade in seiner Interpretation der Antigone - sind im Einzelnen allerdings zweifelhalft. 25 Einen ähnlichen Zugang wie G AR DINE R und P AUL S E N beschreitet bereits K I R K‐ WOOD , 26 wenn er auch einen für diese Untersuchung entscheidenden Gesichts‐ punkt hinzufügt. Einer simplen Gleichsetzung der Reflexionen des Chors mit denen des Dichters erteilt er dabei zunächst eine Absage; 27 für ihn steht vielmehr der Personencharakter des Chors im Vordergrund. So gibt er an, die Aussagen des Chors untersuchen zu wollen als utterances by characters in plays - strange characters, no doubt, with a penchant for lyrics and abstraction, but characters nevertheless, neither omniscient nor stupid, but limited like other characters by the natural limitations of their position and their in‐ terest in the action. 28 Dass damit nicht das gesamte Spektrum der chorischen Präsenz abgedeckt werden kann, gesteht er ein: „We shall find that this approach is not altogether sufficient in itself and that there is a degree of abstraction in some odes that does not reflect the personality of the particular choral group“. 29 Ausgehend von der spezifischen Wirkung der kontrastiv vor der entscheidenden katastrophalen Wendung positionierten Lieder im Aias (zweites Stasimon), der Antigone (viertes Stasimon) und dem Oidipus Tyrannos (drittes Stasimon) hält er zunächst fest: „They are integral and contributing parts in the dramatic structure“, 30 bevor er schließlich ganz zu Recht verallgemeinert: […] these odes are not isolated phenomena but simply the most striking examples of a customary Sophoclean technique in which the choral odes influence the rhythm of the play by a contrast or some similar structural effect. 31 II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss 20 <?page no="21"?> 32 Zur Auseinandersetzung siehe unten. 33 B U R T O N (1980). The Chorus in Sophoclesʼ Tragedies, Oxford. Sein methodischer Zugang sowie sein grundlegendes Verständnis des Chors bzw. der chorischen Partien und ihrer so umrissenen „Funktion“ sind für die vorliegende Arbeit zentral; B U R T O N bleibt trotz des Alters seiner Ausführungen gerade auf Grund der textnahen Herangehensweise so ein wichtiger Referenzpunkt. 34 B U R T O N (1980) S. 1. 35 Ders. (1980) S. 3. 36 Ders. (1980) S. 4. 37 Ders. S. 3. Während K I R KWO OD so die Sprachrohrfunktion des Chors ablehnt, verortet er sich im Rahmen der von K RANZ eröffneten Trias zwischen der ersten und zweiten Funktion des Chors. Gemein ist den aufgeführten Ansätzen dabei, dass sie von einer durchgängig kohärenten Charakterzeichnung des Chors ausgehen, der so als ein Akteur unter anderen am dramatischen Geschehen partizipiert und dem Dichter als zusätzlicher Schauspieler zur Verfügung steht. Inwiefern sie dabei einerseits dem aristotelischen Postulat, andererseits der Realität der Tragödien gerecht werden, bleibt indes fraglich. 32 Die der reinen dramatis persona-Theorie verhaf‐ tete Ausdeutung hat daher in der Forschung einigen Widerstand hervorgerufen. Besonderen Fokus auf die eher strukturellen Momente des Chors und damit den zweiten der von K RANZ aufgeführten Punkte legt dagegen B U R TON , 33 der als Ziel seiner Untersuchung angibt: […] to determine their [d. h. der Chorlieder] different kind of relevance, their functions as instruments of dramatic irony, […] and their effects upon the minds and emotions of audience and reader as required by the dramatist at each stage in the movement of his plots. 34 Er geht dabei von einer fundamentalen Differenz zwischen Chor und Akteuren aus: „In its role as singers the chorus is distinct from the actors“ 35 sowie: […] the chorus as singers are kept distinct from the other dramatis personae and […] this distinction is due mainly to their being a group, not an individual. 36 Hinsichtlich der Kohärenz der Person des Chors ergeben sich aus dieser Einsicht besondere Schlussfolgerungen: Further, since the chorus has a group personality, we do not expect from it the same consistency or coherence of character as we expect from an individual. 37 II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss 21 <?page no="22"?> 38 Vgl. dazu exemplarisch die Behandlung des Stasimons des Philoktet durch B U R T O N (1980) S. 238. Damit steht er letztlich in der Tradition, die Tycho von W I L A M O W I T Z (1917) in Opposition zur psychologisierenden Deutung seiner Zeit begründet hatte und die den Fokus der Betrachtung weniger auf die Zeichnung der Charaktere als auf die formalen Zusammenhänge, den Aufbau der einzelnen Szenen, ihre Komposition, kurz: auf die „dramatische Technik“ des Dichters legte. Inkonsequenzen und Widersprüche in Charakterzeichnung und Handlung nahm W I L A M O W I T Z dabei nicht nur in Kauf, er scheint sie teilweise regelrecht gesucht zu haben (W I L A M O W I T Z , Tycho von (1917). Die dramatische Technik des Sophokles, Berlin.). Man wird sich D A V I D S O N s Urteil über (den viel gescholtenen) W I L A M O W I T Z anschließen („While his thesis clearly went too far, […] he nevertheless created the platform for a more nuanced appreciation of Sophoclesʼ art“ S. 1226) und trotz aller teilweise berechtigten Kritik die Bedeutung seines Ansatzes für eine Würdigung der Tragödien als literarischer Kompositionen wertschätzen. 39 So u. a. D A V I E S (1991). Sophocles Trachiniae with introduction and commentary, Ox‐ ford; M A R C H (2001). Sophocles Electra edited with introduction, translation and com‐ mentary, Warminster; F I N G L A S S (2007). Sophocles Electra edited with introduction and commentary, Cambridge; S C H E I N (2013). Sophocles: Philoctetes, Cambridge. 40 R I E M E R ((1998). „Chor und Handlung in den Tragödien des Sophokles.“ in: Der Chor im antiken und modernen Drama, hrsg. v. R I E M E R und Z I M M E R M A N N (1998), Stuttgart und Weimar, S. 89-111.) konzentriert sich im Wesentlichen auf die Aussagen des Chorfüh‐ rers innerhalb der Sprechpartien der Tragödien. Für die vorliegende Arbeit, die sich besonders den lyrischen Partien widmet, ist er daher von untergeordneter Bedeutung. Einen „Rückgriff “ auf die Betrachtung formaler Momente stellt R U T H E R F O R D (2012) dar. Gegen das strenge Diktum des Chors als reinen Mitspielers betont B U R TON so die dramaturgische Einbindung der Chorlieder als Strukturmoment der Tra‐ gödie; gelegentliche Inkongruenzen in der Zeichnung des Charakters nimmt er dabei mit Blick auf die vom Dichter intendierten dramaturgischen Implikati‐ onen - meines Erachtens zu Recht - in Kauf. 38 Dieser eher formale Ansatz, der die verschiedenen Formteile der Tragödie im Einzelnen beleuchtet und damit einen Beitrag zum Verständnis des jeweiligen Stücks leisten möchte, ist mit Blick auf Sophokles - abgesehen von Kommen‐ taren zu einzelnen Tragödien 39 - in der Folgezeit etwas in den Hintergrund ge‐ treten. 40 Die neuere, vor allem angelsächsische Forschung, hat - bedingt durch ein verstärktes Interesse an den performativen Komponenten des antiken Dramas - einen anderen Ansatz gefunden, der im Besonderen die rituellen Di‐ mensionen der chorischen Präsenz innerhalb der Tragödie betont und diese im politischen Kontext der Gattung sowie einem generell soziokulturellen Rahmen II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss 22 <?page no="23"?> 41 Einen ebenfalls konzisen Überblick über generelle Tendenzen der Tragödienforschung des zwanzigsten Jahrhunders mit besonderem Blick auf diesen „performative turn“ gibt R A D E R (2014). „Scholarship on Greek Tragedy, Twentieth Century to the Present.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R O I S M A N (2014), Malden (MA), S. 1218-1223. Vgl. H A L L (1999). „Actor’s song in tragedy.“ in: Performance culture and Athenian democracy, hrsg. v. G O L D H I L L / O S B O R N E (1999), Cambridge, S. 96-122, S. 101 f.: „The German-speaking philological tradition has produced important books about the formal and metrical elements of tragedy […] The French and Americans (at least since the 1960s), on the other hand, have written about gender, polis group identity, democ‐ racy, myth, and the interpenetration of cultural artefacts such as plays and vase-pain‐ tings with the more civic discourses. In Britain until recently scholars at Oxford largely read the analytical Germans, while those at Cambridge preferred the synthetic French“. So verallgemeinernd ihre Zuweisung ist, trifft sie doch eine gewisse Tendenz; die klare Trennung zwischen „deutscher“ und „französischer“ Schule ist allerdings nach dem „performative turn“ nicht mehr durchzuführen. Vgl. darüber hinaus u. a.: H E N R I C H S (1994-5). „‘Why should I dance? ’ The Chorus in Greek Tragedy and Culture.“ in: Arion 3.1, S. 56-111; L O N S D A L E (1993). Dance and Ritual Play in Greek Religion, Baltimore; N A G Y (1994 / 5). „Transformations of Choral Lyric Traditions in the Context of Athenian State Theater.“ in: Arion 3.1 (1994 / 5), S. 41-55; eine Gegenposition bietet R O S E N M E Y E R (1993). „Elusory Voices: Thoughts about the Sophoclean Chorus.“ in: Nomodeiktes: Greek Studies in Honor of Martin Ostwald, hrsg. v. R O S E N und F A R R E L L (1993), Ann Arbor, S. 557-71, „The new orthodoxy, with its sights trained in the community and its rituals and institutions, glances away from the author and his idiosyncratic and un‐ welcome authority. […] On this view poetry loses its privileged status as literature and is collapsed into the reservoir of communication by which the group talks to itself. The concern with institutions, social stratification, and tribal poetics has swamped our abi‐ lity to submit to the poetry as poetry and as a very special artifact“ (S. 563). 42 W I N K L E R / Z E I T L I N (edd.) (1990). Nothing to do with Dionysos? Athenian Drama in Its Social Context, Princeton (NJ). Im Besonderen hat W I N K L E R s eigene These, die Chöre der Tragödienaufführungen seien von Epheben gebildet worden, nachgewirkt (S. 20-62); vgl. G O U L D (1996). „Tragedy and Collective Experience.“ in: Tragedy and the Tragic Greek Theatre and Beyond, hrsg. v. S I L K (1996), Oxford, S. 217-243 und G O L D‐ H I L L (1996). „Collectivity and Otherness - The Authority of the Tragic Chorus: Response to Gould.“ in: Tragedy and the Tragic Greek Theatre and Beyond, hrsg. v. S I L K (1996), Oxford, S. 244-256. zu verorten sucht. 41 Entscheidenden Anstoß bei dieser Rekontextualisierung gaben dabei W INKL E R und Z E ITLIN . 42 II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss 23 <?page no="24"?> 43 G O U L D (1996) S. 217: „Aristotle (notoriously) could define ‘tragedy’ without reference to the chorus, but we can hardly do so. […] [I]f we are trying to clarify for ourselves the notions of ‘tragedy’ and ‘the tragic’, in their fifth-century Greek context at least, we must inevitably come to grips with the essential and distinctive part played by the chorus in our construction of such terms“. 44 G O U L D (1996) S. 234: „But however we read it, the role of the chorus remains a distinctive and necessary part of the tragic perception in ancient Greek culture. It cannot be dis‐ carded, and we diminish our understanding of ‘the tragic’ if we allow ourselves to overlook it“. 45 Ders. S. 224. Kritisch dazu G R U B E R (2009), der besonders das dem Chor eigene Identifi‐ kationspotential gegenüber dem Rezipienten herausstellt (vgl. S. 55 ff. sowie S. 65: „Schon allein durch seine Existenz als χορός der song-and-dance culture dürfte der Chor der Tragödie beim Zuschauer einen Vertrauensvorschuss haben“). 46 G O U L D (1996) S. 233: „a social group which roots in a wider community“. 47 G O U L D (1996): „to ‘contextualiseʼ the tragic“ a. a. O. 48 G O U L D (1996): „the inherited stories and the inherited, gnomic wisdom of social memory and of oral tradition“ a. a. O. 49 G O U L D (1996) S. 233. G O ULD sucht im Anschluss daran ganz allgemein den Chor als ein zentrales Moment der Tragödie 43 und „des Tragischen“ 44 neu zu denken und betont im Besonderen die „Andersartigkeit“ („otherness“) des Chors, die er allerdings nicht nur auf den bereits von B U R TON entwickelten Gegensatz zwischen den Einzel‐ akteuren und dem Kollektiv „Chor“ beschränkt, sondern sozio-politisch aus‐ deutet: [T]he ‘otherness’ of the chorus, its essential role within the tragic fiction, resides indeed in its giving collective expression to an experience alternative, even opposed, to that of the ‘heroic’ figures. […] That ‘otherness’ of experience is indeed tied to its being the experience of a ‘community’, but that community is not that of the sovereign (adult, male) citizen-body. 45 Diese Präsenz einer in einer größeren sozialen Gemeinschaft gegründeten Gruppe „Chor“ 46 kontextualisiere dabei „das Tragische“ 47 durch Rückgriff auf ererbte Geschichten sowie ererbte gnomische Weisheit eines kollektiven sozi‐ alen Gedächtnisses und der mündlichen Tradition. 48 Dass diese allgemeine Ein‐ sicht erst in der Auseinandersetzung mit den einzelnen Stücken wirkliche Er‐ kenntnisse liefern kann, ist G O ULD bewusst: For the ‘othernessʼ of the chorus, we must acknowledge, takes no single form, and no one formula will define it for us. It can only be defined in terms of the very variety of the different perspectives which the playwright may impose upon his tragic fic‐ tion. […] The collective experience and the collective voice of the chorus may oppose that of the individual tragic agent in an almost bewildering variety of ways. 49 II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss 24 <?page no="25"?> 50 G O U L D (1996) S. 231: „We misread them [d. h. die Äußerungen des Chors] as soon as we think of them as in any sense a privileged presence within the tragic fiction“ sowie: „We must read each choral utterance as the response of this chorus, at this point in the tragic fiction, to what has occured, a response which is no more protected from fallibility than any other“. 51 G O U L D (1996) S. 231: „The chorusʼs voice is not ‘the poetʼs voice’“. 52 G O U L D (1996) S. 232: „[…] equally of the essence of the chorusʼs role is the theatrical and dramatic fact of its collective presence. […] The continuity of fictional experience […] is powerfully enacted in this continuous massed presence of the chorus“. 53 Die Behandlung der „Ausnahmen“ von G O U L D S Diktum „the dramatic space is never empty“ (S. 232) - in unserem Kontext v. a. der Ab- und Wiederauftritt im Aias - in Anm. 86 (S. 242) kann nicht überzeugen. Inwieweit es ein Aspekt der Andersartigkeit („aspect of its ‘othernessʼ“) ist, dass der Chor - anders als die Akteure - innerhalb der tragischen Erfahrung („tragic experience“) verbleiben müsse und eben nicht abtreten könne („it cannot exit“), erschließt sich so nicht. 54 G O U L D (1996) S. 232. 55 So besonders in der Elektra, in der die Situation Chor-Protagonist nicht nur konstitutiv für die emotionale Ausleuchtung der Protagonistin ist, sondern auch wesentliche dra‐ maturgische Funktionen übernimmt. 56 G O L D H I L L (1996). Dass der Chor dabei allerdings ein Akteur des Geschehens bleibt, steht für G O ULD außer Frage; seine allgemeinen Bemerkungen zur „Rolle“ des Chors und dessen Einbindung ins dramatische Geschehen 50 sowie seine Absage an die Gleichsetzung „Äußerung des Chors = Äußerung des Dichters“ 51 sind dabei im Wesentlichen so zentral wie bekannt. Seine Ausführungen zur dauernden Prä‐ senz des Chors als eines zentralen Moments 52 sind dabei größtenteils nachvoll‐ ziehbar. 53 G O ULD zieht daraus folgende Konsequenzen: After the opening scene […] nothing is spoken, nothing experienced […] except in the presence of that collective, emotionally involved witness. There is no privacy in that world, and even the silence of the choral presence can exert a palpable force. 54 Dies scheint mir allerdings zweierlei zu verkennen: Zum einen nimmt sich der Chor (wie die Einzelanalysen der sieben Sophokles-Tragödien zeigen werden) oft genug aus dem eigentlichen Bühnengeschehen völlig zurück und ist zwar physisch präsent, übt jedoch kaum einen wirklichen Einfluss auf das dramati‐ sche Handeln der Akteure aus. Zum anderen bildet gerade die Gesprächssitua‐ tion Protagonist-Chor oft eine besonders intime Szenerie, in der erst das volle Seelenleben der Figur seinen Ausdruck findet. 55 G OLDHILL 56 legt in seiner Beantwortung des Aufsatzes von G O ULD einen etwas anderen Fokus: Mit Blick auf die soziokulturellen Implikationen sowie die kul‐ II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss 25 <?page no="26"?> 57 Ob die Wahl der Identität des Chors sich tatsächlich, wie G O L D H I L L S. 247 f. ausführt, so eng an rituell-kultische Gruppen der Polis Athen (junge Mädchen, alte Männer…) an‐ lehnt und somit ganz wesentlich von außerdramatischen Faktoren bestimmt ist, bleibt fraglich. 58 G O L D H I L L (1994) S. 252 f. sowie im Besonderen S. 253: „[…] while Gould is certainly right not to cede the chorus the authority of the poet’s voice or of a simple, privileged, de‐ terminative view of the action, his rejection of any authority or privileged presence inevitably distorts the way that tragedy engages with the question of authority and the collective“. 59 G O L D H I L L (1994) S. 255. 60 S I L K (1998 a). „Style, Voice and Authority in the Choruses of Greek Drama.“ in: Der Chor im antiken und modernen Drama, hrsg. v. R I E M E R und Z I M M E R M A N N (1998), Stuttgart und Weimar, S. 1-26. 61 S I L K (1998 a) S. 24: „[…] the different varieties of choral lyric style that a given chorus presents, even perhaps within a single ode, themselves constitute different voices, de facto. These ‘different’ voices are the chorus“ (Hervorhebungen im Original durch Kur‐ sivdruck). 62 S I L K (1998 a) S. 25. tisch-politischen Momente 57 will er G O ULD s Ansatz weiterdenken und aus‐ führen. Im Besonderen fragt er nach der Autorität des Chors und seiner „Stimme“ 58 angesichts der von G O ULD hypostasierten „Marginalität“ der Person des Chors in sozialer Hinsicht. Sein Fazit bleibt vor dem Hintergrund der ent‐ falteten Details allerdings sehr allgemein: The chorus both allows a wider picture of the action to develop and also remains one of the many views expressed. The chorus thus is a key dramatic device for setting commentary, reflection, and an authoritative voice in play as part of tragic conflict. 59 Besonderen Widerhall finden die Ausführungen von G O ULD und G OLDHILL in den theoretischen Ansätzen, die konkret nach der Autorität („authority“), d. h. der Verlässlichkeit chorischer Aussagen in verschiedenen Kontexten fragen. So postuliert S ILK 60 ausgehend von einer Unterscheidung der Stilebenen in ver‐ schiedenen Chorpartien das Vorhandensein mehrerer „Stimmen“ („voices“), deren Gesamtheit den Chor einer jeweiligen Tragödie ausmacht. 61 Diese „Poly‐ phonie“ des Chors gibt ihm dabei Anlass zur berechtigten Warnung, dem Chor in seinen Aussagen generell mehr Kohärenz zuzuschreiben als ihm innewohnt: [W]e must, of course, listen to each play, and each lyric, to decide how much coherence and how much uniformity there actually is - and we must be prepared for the degree of coherence and uniformity to vary from play to play, as also within each play. 62 Festzuhalten bleibt, dass die Ansätze von G O ULD (und G OLDHILL ) im Wesentli‐ chen nachvollziehbar sind und gerade das bereits bei B U R TON herausgestellte Moment der „otherness“ als Gegenmoment der reinen dramatis persona-Theorie II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss 26 <?page no="27"?> 63 So z. B. Abtritt des Chors im Aias gegen G O U L D s These von der Dauerpräsenz des Chors (G O U L D (1996) S. 242) oder die Erwähnung einer (chorischen) Gruppe alter Frauen in Aischylosʼ Eumeniden v. 1027 gegen die These, es habe solche Gruppen nicht gegeben (G O L D H I L L (1994) S. 247 f.). 64 G O L D H I L L / O S B O R N E (edd.) (1999). Performance culture and Athenian democracy, Cam‐ bridge. 65 H A L L (1999). 66 H A L L (1999): „Tragic song and metre, therefore, are not to be separated from the soci‐ ology of tragedy, and what is relevant to the sociology of tragedy is relevant to the sociology of the polis“ S. 121. 67 Inwieweit angesichts des rudimentären Überlieferungsstands der attischen Tragödie auf der einen, der teils nur wenig gesicherten Kenntnis der „Soziologie“ antiker Gesell‐ schaften auf der anderen Seite eine solchermaßen sozio-historische Analyse der Tra‐ gödien zu tragfähigen und allgemeingültigen Ergebnissen kommen kann, bleibt aller‐ dings fraglich. 68 Zu Schlegel und der Überwindung der These vgl. u. a. H O S E (1990) I S. 32 f. 69 C A L A M E (1999). „Performative aspects of the choral voice in Greek tragedy: civic identity in performance.“ in: Performance culture and Athenian democracy, hrsg. v. G O L D H I L L / O S B O R N E (1999), Cambridge, S. 125-153. für die vorliegende Untersuchung von einiger Bedeutung ist. Allerdings bleibt zu betonen, dass gerade die von den Autoren gefällten Generalaussagen über den Chor, die Tragödie und das Tragische dazu neigen, ein zu einheitliches Bild der besonders komplexen und reichhaltigen Phänomene zu zeichnen. Dass sich zu einzelnen Kernaussagen dabei immer wieder konkrete Gegenbeispiele finden lassen und von den Autoren auch eingeräumt werden, 63 muss im Ergebnis dazu führen, die allgemeinen Thesen mit einiger Vorsicht anzunehmen und sie ge‐ gebenenfalls an den Werken selbst zu überprüfen. Die vorliegende Arbeit stellt, wenn auch unter anderen methodischen Vorzeichen und mit einer anderen Zielsetzung, womöglich eine Basis für dieses Vorgehen dar. Die Frage der Performanz des antiken Dramas und im Besonderen der Tra‐ gödie verfolgen schließlich G OLDHILL / O S B O R N E 64 und die in ihrem Sammelband vertretenen Wissenschaftler weiter. Von gewisser Bedeutung für die vorlie‐ genden Studien sind dabei die Ausführungen von H ALL 65 zur Darbietung lyri‐ scher Partien durch die Schauspieler. Sie sieht in diesem Phänomen eine beson‐ dere soziologische Komponente, 66 die eine zeitgeschichtliche Deutung der Gattung Tragödie und ihrer Formen herausfordert. 67 In Auseinandersetzung mit Schlegels These vom Chor als idealisiertem Zu‐ schauer 68 versucht C ALAME , 69 das Wesen des tragischen Chors innerhalb eines komplexen theoretischen Rahmens zu bestimmen: In those textual games played by word and action on gender and on the mask, in the many dimensions in which its voice plays a part, does the figure of the tragic choros II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss 27 <?page no="28"?> 70 C A L A M E (1999) S. 130. 71 Vgl. u. a.: E S P O S I T O (1996). „The Changing Roles of the Sophoclean Chorus.“ in: Arion 4.1, S. 85-114; L A D A -R I C H A R D S (1998). „Staging the Ephebeia: Theatrical Role-Playing and Ritual Transition in Sophoclesʼ Philoctetes.“ in: Ramus 27.1 (1998), S. 1-26. 72 K I T Z I N G E R (2008) S. 2. 73 K I T Z I N G E R (2008) S. 3. 74 K I T Z I N G E R (2008) S. 1. 75 K I T Z I N G E R (2008) S. 8: „But these moments do not dissolve the fundamental difference between the two, which is visible and audible in the alternation of episode and stasimon and also, as we shall see, in the shared song of a kommos […]“. Dass dieses auf einem nachvollziehbaren Gedanken fußende theoretische Konstrukt allerdings in der kon‐ kreten Überprüfung an den Texten problematisch wird, zeigt bereits die Beschäftigung mit dem Aias, in dessen zweiten Kommos sich Chor und Protagonist in ganz eigener Form zueinander verhalten. Siehe die Diskussion ad locum. 76 K I T Z I N G E R (2008) S. 10: „In Sophocles these differences are indicative of fundamentally different ways of seeing the world“. 77 K I T Z I N G E R (2008) S. 10: „The division between chorus and actors […] exists vividly in the different modes of their expression“. coincide principally with the ideal spectator or with the actual spectator, with the virtual author, or, as performer, with the real author, or just with the figure of a (masked) actor engaged in a dramatic plot? 70 In der Folgezeit haben die referierten theoretischen Ansätze zum Teil eine auf Sophokles bzw. einzelne Stücke konkretisierte Anwendung gefunden. 71 K IT‐ ZING E R wählt im Anschluss an die ausgeführten theoretischen Ansätze in ihrer Studie zu den Chören der Antigone und des Philoktet einen differenzierten und im Ganzen nachvollziehbaren Ausgangspunkt. Ihrer Untersuchung stellt sie dabei zwei Grundannahmen voraus: Während sie zunächst postuliert that, in Sophokles, the words of the chorusʼ songs provide evidence for a consistent choral perspective, from play to play and from scene to scene within a play, however much the song is also integrated into the particular circumstances of the chorusʼ cha‐ racter and of the plot, 72 stellt sie im Anschluss an B U R TON und G O ULD mit Nachdruck fest: „that the chorusʼ function cannot be understood by analogy with the actors“. 73 Zwischen den Akteuren und dem Chor herrsche vielmehr „essential difference“, 74 die weder die Beteiligung des Chorführers an den Sprechszenen noch das Vorhan‐ densein gesungener, d. h. lyrischer Partien der Akteure aufhebe, sondern sich vor allem im Wechsel von Epeisodien und Stasima verwirkliche 75 und Ausdruck einer unterschiedlichen Sicht auf die Welt darstelle. 76 Ihr Interesse gilt dabei vor allem der Sprache der Chorpartien, 77 in der sie - zusätzlich zu Musik, Gestik und Tanz - die Differenz zwischen Chor und Akteuren besonders realisiert sieht. II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss 28 <?page no="29"?> 78 G O W A R D (1999). Telling Tragedy: Narrative Technique in Aeschylus, Sophocles and Euripides, London. 79 M A R K A N T O N A T O S (2002). Tragic Narrative: A Narratological Study of Sophoclesʼ Oe‐ dipus at Colonus, Berlin, New York. 80 Vgl. die Verweise in der Einzelanalyse ad locum. 81 Vgl. M A R K A N T O N A T O S (2002) „Time Games“ S. 7 ff. 82 V.a. bei der Behandlung des zweiten Standliedes S. 100 ff. 83 G R U B E R (2009) S. 11. 84 H O S E (1990 / 1). 85 G R U B E R (2009). Den Versuch, die Gattung Tragödie, konkret den Oidipus auf Kolonos, dezi‐ diert mit den Begriffen und Methoden der Narratologie zu interpretieren, un‐ ternimmt im Anschluss an G OWAR D 78 schließlich M AR KANTONATO S . 79 Unter den Gesichtspunkten der vorliegenden Arbeit lässt sich festhalten: M AR KANTONA‐ TO S ʼ feinsinnige Interpretationen einzelner Chorpassagen sind besonders ge‐ winnbringend. 80 Sowohl in der theoretischen Auseinandersetzung mit seinem Konzept einer „dramatischen Narratologie“ als auch bei der Analyse des Dramas selbst spielen dabei beispielsweise mit dem Tempo der „Erzählung“, 81 der Frage nach der Lokalisation der „dramatisch erzählten“ Handlung 82 und dergleichen gewisse Momente eine bedeutende Rolle, denen auch in der vorliegenden Arbeit besondere Aufmerksamkeit gilt. Einen übergeordneten, theoretischen Stand‐ punkt zum Chor, etwa eine „Narratologie des Chors“ entwickelt er dabei (noch) nicht. Zu einer konkreten Auseinandersetzung mit den einzelnen Dramen des So‐ phokles, ihrer Dramaturgie bzw. ihrer dramatischen Faktur kommt es bei den referierten, teilweise sehr theoretischen Ansätzen und Studien nur am Rande. Anders gesagt: Die Ablösung des dem Text verpflichteten werkästhetischen Standpunkts durch die vielfältig ausgestalteten performativen, soziokulturellen bzw. rezeptionsästhetischen Kategorien lässt eine vertiefte Fokussierung auf die Tragödie als dramatische Komposition geraten erscheinen. In derselben Weise glaube ich, die von G R U B E R in Folge der „performativen Wende“ eingeforderte „Rekontextualisierung“ 83 der Tragödie um ein entscheidendes Moment erwei‐ tern zu können - schließlich ist auch die Wissenschaft nach der performativen Wende der Notwendigkeit nicht enthoben, nach den inneren Gesetzen einer Gattung, eines einzelnen Dramas zu fragen. Während ferner mit der Studie von H O S E 84 eine umfassende Interpretation der euripideischen Chorlieder vorliegt und sich die Arbeit von G R U B E R 85 den Chorpartien der aischyleischen Tragödien (freilich unter einem genuin rezept‐ ionsästhetischen Standpunkt) nähert, gibt es in der Nachfolge von B U R TON keine II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss 29 <?page no="30"?> 86 G A R D I N E R (1987) und P A U L S E N (1989) verfolgen, wie gezeigt, mit ihren Arbeiten andere Ziele. Gesamtschau der sophokleischen Chorlieder, deren Fokus auf einer textnahen Interpretation der Chorpartien sowie ihrer dramaturgischen Funktionalisierung läge. 86 II. Meinungen zum Chor: Forschungsabriss 30 <?page no="31"?> 1 G R U B E R (2009) S. 28-43 bzw. 44-70. 2 Zur Erwähnung „chorlyrischer“ Gattung bereits in den homerischen Epen vgl. G R U B E R (2009) S. 28 f. 3 S W I F T ((2010). The Hidden Chorus: echoes of genre in tragic lyric, Oxford, S. 36): „Choral performance permeated every aspect of Greek life, whether private or public, religious or secular“; sowie L E Y (2014). „Chorus.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy I, hrsg. v. R O I S M A N (2014), Malden (MA), S. 220-224: „The chorus is […] a defining feature of ancient Greek society“. III. Der Chor: Phänomen - Dichtung - Formteil 1. Sitz im Leben: song-and-dance culture, Kult, Polis Es ist im Wesentlichen das Verdienst der philologischen und historischen For‐ schung im Anschluss an den performative turn der späten sechziger und frühen siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, die historischen, soziokulturellen und politischen Begleitumstände des Phänomens „Chor“ erneut in Erinnerung gerufen und es so innerhalb der Lebenswelt der griechischen Antike rekontex‐ tualisiert zu haben. Mit Blick auf die bereits im Forschungsabriss erwähnten Arbeiten im Allgemeinen sowie im Besonderen auf G R U B E R s einleitende Aus‐ führungen zur Einordnung des Chors in der griechischen song-and-dance culture und - mit einigen der speziellen Intention geschuldeten Abstrichen - seine Be‐ merkungen zum Chor als „Boden der Tragödie“ 1 kann sich der folgende Abriss in aller Kürze auf einige entscheidende Punkte beschränken. Dabei ist nicht intendiert, eine umfassende Einordnung der angesprochenen Phänomene zu geben oder größere historische Entwicklungslinien nachzuzeichnen, sondern einzig einige Aspekte, die zum Verständnis des methodischen Rahmens dieser Arbeit sowie der Einzelanalysen notwendig sind, ins Bewusstsein zu rufen. Chor, Chorgesang und (chorischer) Tanz waren bereits seit frühester Zeit 2 ein gemeingriechisches, im Alltag fest verankertes Kulturphänomen; 3 anders ge‐ sagt: Das Phänomen „Chor“ ist konstitutiver Bestandteil der als song-and-dance culture passend umschriebenen griechischen Gesellschaftsordnung. Als fester Bestandteil rituell-kultischer Anlässe und Handlungen kann besonders die Be‐ <?page no="32"?> 4 Vgl. G R U B E R (2009), der konzise zusammenfasst: „Dieser Sitz im Leben kann näher de‐ finiert werden als eine prinzipielle Gebundenheit von Chor und chorischer performance an Kult und Fest“ S. 29; sowie Z A M I N E R (1997). „Chor.“ in: DNP Band 2, Sp. 1141-1144: „Im Leben gehörten chorische Gesänge und Tänze zu Kult und Fest (Götter- und He‐ roenfeste, Totenkult, Hochzeit, sportliche und musische Wettkämpfe, Festmahl, Wein‐ lese)“. 5 Vgl. K A I M I O (2014). „Chorus and Citizenship.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy I, hrsg. v. R O I S M A N (2014), Malden (MA), S. 224-225, S. 224: „Choral performance is by nature a social act and flourished in the context of occasions emphasizing community feeling, like religious ceremonies and initiatory rites“. 6 Vgl. G R U B E R (2009): „Innerhalb von Kult und Fest dient der Chor insbesondere der Er‐ ziehung der Jugendlichen, die an der Schwelle zum Erwachsenenalter und somit vor dem Eintritt in die Gemeinschaft stehen, welche sie als Männer und Frauen, durch Kriegsdienst und Kindergeburt, fortan erhalten sollen“ S. 31 sowie die folgenden Aus‐ führungen im Einzelnen. Vgl. auch W I N K L E R / Z E I T L I N (1990). 7 G R U B E R (2009) S. 43. 8 Zur Institutionalisierung des Chorwesens in Athen vgl. im Besonderen W I L S O N (2000). The Athenian Institution of the Khoregia: The Chorus, the City and the Stage, Cam‐ bridge. deutung des Chors für die griechische Religiosität kaum überschätzt werden: 4 Als Repräsentation eines kultischen Kollektivs kommt ihm dabei eine besonders integrative und identitätsstiftende Rolle zu, der zudem das Moment der Öffent‐ lichkeit innewohnt. 5 Die Zuordnung gewisser Chöre und Formen chorischer Dichtung zu bestimmten kultischen Festen und ihre Assoziierung mit den ent‐ sprechenden Gottheiten ist dabei konstitutiv und prägt die Chorlyrik, der sich der folgende Abschnitt etwas genauer widmen wird, maßgeblich. Die solchermaßen im kulturellen Horizont verorteten Chöre waren dabei nach Kriterien wie Geschlecht und Alter der Choreuten homogen zusammen‐ gesetzt und rekrutierten sich aus fest umrissenen Segmenten der Gesellschaft. Vor allem Knabenbzw. Heranwachsendensowie Mädchenchöre waren dabei innerhalb der Erziehung und Bildung der Jugend von enormer Bedeutung. 6 G R U B E R betont dabei im Besonderen die Rolle der Erziehung zur „Ordnung“ (τάξις), die durch die chorische (bei jungen Männern: proto-militärische) Aus‐ bildung geleistet wurde; er geht dabei soweit, anzunehmen, dass man die Be‐ griffe „Chor“ und „Ordnung“ „im Verständnis der Antike […] fast gleichsetzen kann“. 7 Es nimmt angesichts dieser Bündelung entscheidender sozialer und religiöser Dimensionen nicht wunder, dass die Chorkultur auch im politischen Kontext der griechischen Stadtstaaten, d. h. in der Polis-Kultur, institutionalisiert und instrumentalisiert wurde. 8 Mit Blick auf die dramatischen Formen, deren Ur‐ sprung in den chorischen Gattungen zu suchen ist, ist die Förderung und Insti‐ tutionalisierung des Dionysoskults im sechsten Jahrhundert von entscheidender III. Der Chor: Phänomen - Dichtung - Formteil 32 <?page no="33"?> 9 Vgl. dazu Z I M M E R M A N N (2011). „Drama: 1. Einleitung und 2. Die attische Tragödie.“ in: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit, hrsg. v. Z I M M E R M A N N (2011), Mün‐ chen, S. 451-610, S. 462 ff. 10 Vgl. S W I F T (2010): „The role of the chorus in Athenian life is not in doubt“ S. 39. Zum Chorwesen vgl. u. a. Z A R I F I (2007). „Chorus and dance in the ancient world.“ in: The Cambridge Companion to Greek and Roman Theatre, hrsg. v. M C D O N A L D und W A L T O N (2007), Cambridge, S. 227-246. 11 Vgl. zu den einzelnen Autoren die konzisen Überblicke sowie die Literaturangaben bei Z I M M E R M A N N (2011). Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit, München, S. 180 ff. 12 Vgl. Z I M M E R M A N N (2011) S. 231 ff. 13 Vgl. Z I M M E R M A N N (2011) S. 223 ff. Bedeutung: 9 Diese zunächst in Korinth, später in Athen durchgeführten religi‐ onspolitischen Maßnahmen etablierten im Besonderen die Gattung des Dithy‐ rambos in einem politischen Umfeld und verankerten die Chorkultur als ele‐ mentaren Bestandteil der institutionellen Selbstvergewisserung und -inszenierung der Polis im Rahmen verschiedener kultischer Feste und Ri‐ tuale. 10 Wir dürfen also davon ausgehen, dass das (der Moderne meist fremde) Phä‐ nomen „Chor“ in der Lebenswirklichkeit der Autoren und Rezipienten der uns vorliegenden Tragödien einen entscheidenden Platz einnahm und in besonderer Weise mit einigen für das Selbstverständnis des Einzelnen und das der poli‐ tisch-kultischen Gemeinschaft zentralen Assoziationen verbunden war. 2. Chor und Dichtung: Chorlyrik und Tragödie Die früheste uns fassbare literarische Ausprägung der griechischen Chortradi‐ tion stellen im Wesentlichen die überlieferten Reste der Dichtungen von Alkman, Stesichoros und Ibykos aus dem siebten bzw. sechsten Jahrhundert v. Chr. dar. 11 Die für die frühe griechische Lyrik ohnehin typische schlechte Überlieferungslage erlaubt es nicht, sich ein wirklich umfassendes Bild von den einzelnen Dichtern, den Gattungen oder dem literarischen Umfeld zu machen. Am greifbarsten ist uns das Genre der Chorlyrik daher erst in Form der beiden herausragenden Dichter Pindar 12 (geb. 522 bzw. 518, gest. nach 446) und Bak‐ chylides 13 (Lebensdaten umstritten), die als geringfügig jüngere Zeitgenossen des Aischylos (525 / 24-456 / 55) parallel zum attischen Tragödienschaffen wirkten. Als literarisch geformte Gebrauchsdichtung im besten Sinne war die Chor‐ lyrik geprägt von einer Vielzahl verschiedener Gattungen und Formen, die je 2. Chor und Dichtung: Chorlyrik und Tragödie 33 <?page no="34"?> 14 Vgl. Z I M M E R M A N N (2011) S. 458: „Er [Aristoteles] definiert demnach, wie dies im offi‐ ziellen athenischen Sprachgebrauch üblich war, Komödie und Tragödie als chorische Gattungen, in denen das tänzerische Element im Lauf der Entwicklung zugunsten des sprachlichen an Bedeutung verlor“ (in leichter Oppostion zu G O U L D (1996), hier zitiert S. 24, Anm. 43). G R U B E R (2009) bezeichnet den Chor im gleichnamigen Kapitel dement‐ sprechend als „Boden der Tragödie“ S. 44 ff. 15 Arist. Poetik 1449 a 2 ff. Vgl. Z I M M E R M A N N (2011) S. 458: „Den Sitz im Leben und den Ursprung der beiden dramatischen Hauptgattungen sieht Aristoteles im Dionysoskult und den mit ihm verbundenen, ursprünglich improvisierten chorischen Formen, im Dithyrambos und in den Phallika“. 16 Vgl. Z I M M E R M A N N (2011) S. 451: „Die Entstehung der dramatischen Gattungen Tragödie, Komödie und Satyrspiel gehört seit der Antike zu den mit großem spekulativen Auf‐ wand äußerst kontrovers diskutierten Fragen“; sowie R U T H E R F O R D (2012) S. 39: „Evi‐ dence for the original form of Greek tragedy as developed in the sixth century is in‐ adequate“. 17 Vgl. dazu im Besonderen G R U B E R (2009) „Entstehungsfragen“ S. 44-49. nach Anlass, religiös-kultischer Verortung, Darbietungsweise sowie Inhalt und Grad der Emotionalisierung des Liedes differenziert waren. Für uns sind diese vielfältigen Gattungen der Chorlyrik (z. B. Linos, Paian, Threnos, Hymenaios, Hyporchema, Embaterion, Hormos, Hymnos, Prosodion, Dithyrambos, Parthe‐ nion) nur noch in Ansätzen trennscharf zu greifen; das klarste Bild lässt sich auf Basis der Werke der beiden Dichter Pindar und Bakchylides vom Genos des Epinikions entwerfen, wohingegen andere Genera für uns reine Namen bleiben. Wir dürfen allerdings davon ausgehen, dass sowohl Dichter als auch Publikum der attischen Tragödie des fünften Jahrhunderts mit den verschiedenen Cha‐ rakteristika der einzelnen Gattungen auf Grund ihrer Verortung in der kultur‐ ellen Lebensrealität vertraut waren. Die attische Tragödie ist sowohl kultisch, gattungstechnisch als auch hinsicht‐ lich ihrer Stellung innerhalb des sozialen Gefüges der Polis aufs Engste mit der Chorlyrik verknüpft - mehr noch: Sie ist selbst für Aristoteles eine genuin cho‐ rische Gattung. 14 Dass sich die dramatischen Formen in Griechenland auf Grundlage der chorischen (Dionysos-)Dichtung entwickelt und von der Gegen‐ überstellung eines Vorsängers und des zugehörigen Chors ihren Anfang ge‐ nommen hat, galt bereits Aristoteles als gesichert. 15 Auch wenn dabei die genaue Rekonstruktion möglicher „protodramatischer“ Gattungen sowie die Zwischen‐ stufen zwischen reiner Chorlyrik und bereits etablierter dramatischer Form im Einzelnen schwer nachzuvollziehen sind, 16 ist es auch heute noch communis opinio, in kultischen, ursprünglich narrativen Dionysos-Gesängen, im Beson‐ deren in den Dithyramben, die Keimzelle der attischen Tragödie zu sehen. 17 Dabei spielt für das Anliegen dieser Untersuchungen weniger die detaillierte Entwicklung dieser Gattung eine Rolle. Festzuhalten bleibt, dass spätestens mit III. Der Chor: Phänomen - Dichtung - Formteil 34 <?page no="35"?> 18 Thespisʼ erste „Tragödien“-Aufführung fand nach allgemeiner Meinung zwischen 535 und 533 statt. Zur Datierung sowie der Kritik daran vgl. Z I M M E R M A N N (2011) S. 484. 19 Folgen wir der konventionellen Datierung (vgl. L A T A C Z (2003). Einführung in die grie‐ chische Tragödie, Göttingen, S. 79), dann fand der erste Tragödien-Agon unter der Mit‐ wirkung des Thespis um das Jahr 534 statt. 20 Dass damit gerade die Rolle des Chors einer fundamentalen Wende unterzogen wurde, betont zu Recht Z I M M E R M A N N (2011), der von einem „radikalen Bruch mit chorischen Traditionen“ spricht. Vgl. unten 3.1. 21 Aristoteles Poetik 1449 a 15 ff.; vgl. Z I M M E R M A N N (2011) S. 499. 22 Die beiden Pole, zwischen die für Z I M M E R M A N N (1993). „Das Lied der Polis: Zur Ge‐ schichte des Dithyrambos.“ in: Tragedy, comedy and the polis: papers from the Greek Drama Conference, Nottingham, 18-20 July 1990, hrsg. v. S O M M E R S T E I N et alii (1993), Bari, S. 39-54 die Gattung des Dithyrambos „eingespannt“ ist („[…] auf der einen Seite steht der Kult, auf der anderen die Ästhetik und das Bestreben des Dichters, das Kultlied in eine künstlerische, ansprechende Form zu bringen“ S. 53), wird man mutatis mutandis auch für die Tragödie annehmen dürfen. Angesichts ihrer mit großem Aufwand re‐ konstruierten Vorgeschichte, Entstehung und gesellschaftlichen Verankerung darf nicht vergessen werden, dass ihre uns vorliegende Gestalt auch von literarischen, damit formalästhetischen Kriterien bedingt ist, zu deren Betrachtung ein werkimmanenter Ansatz eingenommen werden muss. 23 Zu den besonderen Implikationen dieser Komposition in Tetralogien vgl. den ent‐ sprechenden Abschnitt dieser Einleitung IV. 4 (S. 62). 24 Zur Festgeschichte und den diesbezüglichen Fragestellungen vgl. P I C K A R D -C A M B R I D G E ( 2 1968). The Dramatic Festivals of Athens, Oxford. Thespis in den dreißiger Jahren des 6. Jahrhunderts 18 der tragödientypische Du‐ alismus von (Chor-)Gesang und Sprechpartien etabliert wurde. 19 Der Übergang vom narrativ-reflektierenden Gestus der (frühen) Chorlyrik zu einer nachahm‐ enden, dramatischen Form der Darstellung, in der dem Chor selbst eine gewisse Rolle zukommt, war damit geleistet. 20 In der weiteren Entwicklung der Tragödie hat dann - vor allem durch Ais‐ chylos als erste zentrale Figur - die Ausweitung der Sprechpartien, die Einfüh‐ rung eines zweiten Schauspielers 21 und die damit verbundene Kürzung der Chorpassagen das (für uns nach Aristoteles) charakteristische Profil der Tra‐ gödie als einer durch die Nachahmung von Handlungen bestimmten Bühnen‐ form geprägt. 22 Das fünfte Jahrhundert markiert dabei mit den Eckdaten 499 / 98 (erste Teilnahme des Aischylos am Agon) und 405 (Tod des Sophokles) bzw. 401 (posthume Aufführung des Oidipus auf Kolonos) den chronologischen Rahmen dieser Entwicklung und zugleich ihre Blütezeit. Ihren Sitz hatte diese neue Kunstform - komponiert in Tetralogien, bestehend aus drei Tragödien und einem Satyrspiel 23 - innerhalb der Agone an bestimmten Dionysosfesten Athens: den Lenäen sowie den Großen (Städtischen) und den Kleinen (Ländli‐ chen) Dionysien. 24 Die tragischen Agone blieben nichtsdestoweniger im offi‐ 2. Chor und Dichtung: Chorlyrik und Tragödie 35 <?page no="36"?> 25 Vgl. G R U B E R (2009) S. 62 f. 26 Vgl. W I L S O N (2000) S. 50 ff., P I C K A R D -C A M B R I D G E ( 2 1988) S. 79 ff. 27 Vergleiche dazu die Tabelle bei L A T A C Z (2003) S. 45. 28 Attischer Bürger zu sein, war Voraussetzung für die Mitwirkung in den tragischen Chören; vgl. dazu und zu anderen juristischen Begleitumständen K A I M I O (2014). Zur These, die tragischen Chöre seien von Epheben gestellt worden, vgl. den bereits zitierten maßgeblichen Beitrag von W I N K L E R / Z E I T L I N (1990) S. 57: „[…] the chorus members were young men in (or viewed in relation to) military training“. Kritisch dazu K A I M I O (2014). Trotz dieser Differenzen kann man sich G R U B E R (2009) S. 64 anschließen: „[D]er Zuschauer kann aus unmittelbarer eigener Erfahrung wissen, was es heißt, als Choreut zu singen und zu tanzen“. 29 Die Information gibt die Vita des Sophokles (TrGF IV, T1, S. 30, Abschnitt 4): Der Dichter habe wegen seiner schwachen Stimme mit der Konvention gebrochen, selbst als Schau‐ spieler aufzutreten. Vgl. K O V A C S (2014). „Actors and Acting.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy I, hrsg. v. R O I S M A N (2014), Malden (MA), S. 3-7. ziellen Verständnis chorische Aufführungen, was sich an der Nomenklatur der entsprechenden Vorgänge zeigt. 25 Dabei hat die Entwicklung der Dramatik aus der Chorlyrik diese keineswegs vollständig absorbiert. Gerade im angesprochenen und anderenorts 26 wesentlich ausführlicher beleuchteten institutionellen Rahmen der mit den attischen Dio‐ nysosfesten verbundenen Wettkämpfe hatte die Chorlyrik weiterhin ihren festen Platz: Am ersten Festtag der Großen Dionysien, also am Vortag des Tra‐ gödienagons, 27 fand die Dithyrambenkonkurrenz der die Phylen repräsentier‐ enden Chöre statt. Zudem fällt, wie bereits angesprochen, das Wirken der beiden herausragenden Lyriker Pindar und Bakchylides zum Teil mit der Schaffenszeit des Aischylos zusammen; die uns greifbarste Ausprägung der auftragsgebun‐ denen Chorlyrik fällt dementsprechend in die Blütezeit der attischen Tragödie. Auch hinsichtlich der Aufführungsbedingungen greifen Chorlyrik und Dra‐ matik eng ineinander: Die Tragödien- und Dithyrambenchöre wurden in klas‐ sischer Zeit nicht durch professionelle Sänger, sondern von Bürgern (bzw. an‐ gehenden Bürgern) der Polis Athen gestellt; 28 ein fester Schauspielerbzw. Choreutenberuf bildete sich erst gegen Ende des fünften Jahrhunderts heraus, während Sophokles der Überlieferung zufolge in seinen frühen Stücken noch selbst mitgespielt haben soll. 29 Mit Chorlyrik und Dramatik haben wir es demnach mit zwei Ausprägungen der kultisch und politisch fest institutionalisierten (Gebrauchs-)Literatur zu tun, die miteinander in engstem Zusammenhang stehen. Das mit der Entwicklung der Dramatik aus der Chorlyrik begründete generische Verhältnis der beiden Großgattungen erschöpft sich nicht in einem Nacheinander in sich abgeschlos‐ sener literarischer Phänomene. In geradezu sublimierter Weise hat die Gattung der Tragödie vielmehr mit dem für sie konstitutiven Chor ihre Keimzelle in sich III. Der Chor: Phänomen - Dichtung - Formteil 36 <?page no="37"?> 30 Vgl. Z I M M E R M A N N (1992) Dithyrambos: Geschichte einer Gattung, Göttingen, im Be‐ sonderen S. 117 ff. 31 Vgl. G R U B E R (2009) S. 53: „Gebunden ist jeder Tragödiendichter zunächst an die an‐ scheinend unbedingte Konvention der Homogenität und inneren Geschlossenheit des Chores, in dem das Individuum keine Rolle spielt“. 32 Z I M M E R M A N N (2011) S. 551. 33 Ähnlich G R U B E R (2009), der festhält, dass auch der tragische Chor die von ihm ausge‐ machten „drei Merkmale […] des prädramatischen χορός, nämlich Gemeinschaft, Ord‐ nung, Emotionen“ behält und „in den Erwartungshorizont des Tragödienzuschauers“ integriert (S. 53). 34 Vgl. L E Y (2014). integriert und, wie noch zu zeigen sein wird, transformiert. Gerade das institu‐ tionalisierte Nebeneinander der beiden Genres konstituiert dabei einen Rahmen gegenseitiger Beeinflussung und Nutzbarmachung. So verwundert es einerseits nicht, dass tragische Dichter auch Chorlyrik verfasst haben sollen (Sophokles wird die Autorschaft von Paianen zugeschrieben), andererseits ist ein Reflex der „Neuen Musik“, wie sie die Komposition der Dithyramben ab einem gewissen Zeitpunkt geprägt hat, in den Tragödien des Euripides zu finden. 30 Auch dem tragischen Chor haften so trotz seiner Überführung und Implemen‐ tierung in eine andere Gattung entscheidende Charakteristika der selbststän‐ digen Chorlyrik und damit des kulturellen Phänomens „Chor“ an. Anders ge‐ sagt: Mit dem Chor ist ein den Zuschauern zutiefst vertrautes Moment der sie umgebenden und ihren Alltag maßgeblich prägenden song-and-dance-culture konstitutiver Bestandteil der Tragödie. Für den Rezipienten erfahrbar wird dieser Umstand in der eigentlichen Performativität des tragischen Chors, die in vielen Punkten der eines realen, d. h. der Lebenswirklichkeit entstammenden Chors entspricht: Der tragische Chor singt Lieder, die hinsichtlich ihres Inhalts oder ihrer (musikalischen) Form an real existierende Gattungen und Genres der Chorlyrik angelehnt sein können, er tritt als homogenes Kollektiv auf, 31 seiner Performanz haftet im Rahmen des darzustellenden Mythos das Moment der Öf‐ fentlichkeit an, er ist mit einiger Regelmäßigkeit Träger gewisser angedeuteter oder ausgeführter Rituale (im Besonderen: Anrufung von Gottheiten) und hat „Zugang zum Bereich der Erinnerung“, 32 d. h. kann sich gegebenenfalls Ein‐ sichten des kulturellen und gemeinschaftlichen Gedächtnisses der Polis bzw. der Gesellschaft zu eigen machen. 33 Für das ursprüngliche Publikum war das Phänomen Chor also sowohl in seiner rituell-lebensweltlichen Ausprägung als auch in seinen literarischen Formen (und demnach auch innerhalb der Tragödie) kein den Seh- und Lebens‐ gewohnheiten fremdes Phänomen; vielmehr lässt sich mit L E Y formulieren: „For Athenians, the tragic chorus was a part of their lives“. 34 Als der Alltagskultur 2. Chor und Dichtung: Chorlyrik und Tragödie 37 <?page no="38"?> 35 Vgl. im Besonderen „Identifikation durch Performativität“ S. 57-65. 36 G R U B E R (2009) S. 65. 37 Z I M M E R M A N N (2011) S. 551. 38 Vgl. Z I M M E R M A N N (2011) S. 467: „[D]ie Choreuten treten nicht mehr als Repräsentanten einer Gemeinschaft auf, die zur aitiologischen Erinnerung einer Konfliktbeseitigung einer Gottheit singen und tanzen, sondern sind Akteure in einem mythischen Spiel mit wechselnden Inhalten, deren Charakter zwischen dionysischem Chor und dramatischer Rolle oszilliert“. 39 Im Besonderen zu dieser Identität des Chors sowie zum „Ich“ des tragischen Chors im Vergleich zum Dithyrambos und anderen Gattungen der Chorlyrik vgl. G R U B E R (2009) S. 49 ff. entspringendes Moment ist der Chor für G R U B E R ein besonderes Identifikati‐ onsmoment, das geradezu eine Brücke zwischen der den tragischen Mythos zeigenden Heroenwelt und dem Erfahrungsbereich der Rezipienten darstellt; 35 zwischen Chor und Zuschauer bestehe dementsprechend eine „natürliche Nah‐ beziehung“. 36 Mit dieser performativen Ähnlichkeit bzw. Verwandtschaft zum (dionysi‐ schen) Chor der song-and-dance-culture ist ein Pol der von Z IMME RMANN soge‐ nannten „janusköpfigen Natur“ 37 des tragischen Chors bezeichnet. Inwieweit der so verstandene Chor nun innerhalb der Tragödie selbst verankert ist, wird der folgende Abschnitt zeigen. 3. Der Chor als Formteil der Tragödie 3.1 Spektrum I: der tragische Chor als (kollektive) dramatis persona Den tragischen Chor unterscheidet ein zentraler Umstand vom realen Chor, wie er zentraler Bestandteil der Lebenswirklichkeit der attischen Bürger war: Dem Chor kommt in jeder Tragödie eine je eigene, im Personenspektrum des Stücks verortete Rolle zu. Innerhalb der dramatischen Fiktion tritt der Chor demnach nicht als anonymer (dionysischer) Ritualchor auf, sondern nimmt an der Nach‐ ahmung der Handlung als (kollektive) dramatis persona teil. 38 Als solche kann er klar benannt werden, steht zu den übrigen Personen des Stücks in einem konkret zu bestimmenden Verhältnis, kann über sich selbst sprechen und sich innerhalb seiner Ausdeutung der Situation verorten. 39 Bereits in seiner Poetik formuliert so auch Aristoteles die Forderung, dass der tragische Chor ein den Schauspielern analoger Bestandteil des Dramenganzen sein soll: III. Der Chor: Phänomen - Dichtung - Formteil 38 <?page no="39"?> 40 Übersetzung: S C H M I T T (2008). Aristoteles Poetik übersetzt und erläutert, Darmstadt, S. 26. Von besonderem Wert sind die Erläuterung und Diskussion der Stelle S. 568-576, in der S C H M I T T u. a. festhält, dass es Aristoteles „nicht um das quantitative Verhältnis von Chor- und Schauspielerpartien, sondern um die funktionale Integration des Chors in die Handlung“ geht (S. 569). Im Sinne der aristotelischen Zielbestimmung der Tra‐ gödie, Furcht und Mitleid zu erregen (vgl. Poetik 1449 b 25 ff.), skizziert S C H M I T T darüber hinaus, welchen Beitrag der Chor in seiner „vermittelnde[n] Funktion zwischen den tragischen Hauptpersonen und den Zuschauern“ (S. 572) zur Erreichung dieses Ziels leistet. Darüber hinaus erweist S C H M I T T , warum der Chor im aristotelischen Sinne ein ‚Handelnder‘ genannt werden kann, und sucht so zu erweisen, ob Aristoteles „dem ‚lyrischen‘ Charakter der Chorpartien gerecht“ wird (S. 573 ff.). καὶ τὸν χορὸν δὲ ἕνα δεῖ ὑπολαμβάνειν τῶν ὑποκριτῶν καὶ μόριον εἶναι τοῦ ὅλου καὶ συναγωνίζεσθαι μὴ ὥσπερ Εὐριπίδῃ ἀλλ’ ὥσπερ Σοφοκλεῖ. τοῖς δὲ λοιποῖς τὰ ᾀδόμενα οὐδὲν μᾶλλον τοῦ μύθου ἢ ἄλλης τραγῳδίας ἐστίν· διὸ ἐμβόλιμα ᾄδουσιν πρώτου ἄρξαντος Ἀγάθωνος τοῦ τοιούτου. (1456 a 25 f.) Den Chor aber muss man wie einen der Schauspieler behandeln, er muss Teil des Ganzen sein und an der Handlung beteiligt sein, nicht wie bei Euripides, sondern wie bei Sophokles. Bei den übrigen Dichtern gehören die gesungenen Partien um nichts mehr zur jeweiligen Handlung als zu irgendeiner anderen Tragödie. Daher sind die gesungenen Partien bei ihnen <bloße> Einlagen. Der erste, der damit begann, war Agathon. 40 Die geradezu vorbildliche Verwirklichung seiner Forderung sieht Aristoteles so in besonderem Maß bei Sophokles gegeben, dessen Chortechnik er nicht nur einerseits von der des Euripides, andererseits von der Praxis „anderer Dichter“ abgesetzt, sondern damit implizit empfiehlt und so zur nachahmenswerten Norm erhebt. Damit ist das Spannungsfeld des tragischen Chors eröffnet, wie es sich hin‐ sichtlich seiner Genese sowie seiner Verortung in der Tragödie selbst ergibt: Das aus der Lebenswirklichkeit sowie der an ihr orientierten (Gebrauchs-)Dichtung stammende Phänomen Chor bildet als konstitutiver Bestandteil der Gattung Tragödie nicht nur ihren literarischer Ursprung, sondern ist gänzlich in die dra‐ matische Struktur eingepasst, selbst dramatisiert und somit in einer übergrei‐ fenden Ordnung geradezu aufgehoben. 3. Der Chor als Formteil der Tragödie 39 <?page no="40"?> 41 Generelle Erwägungen zur „Dramatisierung“ eines Mythos durch den Dichter bietet F ÖL L I N G E R (2003). Genosdependenzen: Studien zur Arbeit am Mythos bei Aischylos, Göttingen, S. 25 ff. im Anschluss an Aristoteles sowie unter Einbeziehung neuerer Li‐ teratur; zum komplexen Verhältnis von (allgemeinem) Mythos und (konkretem) Plot vgl. zudem ihre (an Aischylos gewonnenen) allgemeingültigen Erkenntnisse S. 303, „daß jede dichterische Aneignung eines Mythos einen neuen Mythos schafft“, sowie, „daß man einen Mythos nicht von der erzählerischen Gestalt, in der er erscheint, trennen kann“. 42 Neben den uns erhaltenen Persern des Aischylos können wir insbesondere in zwei Werken des Phrynichos Bearbeitungen zeitgenössischer Stoffe greifen: Wir besitzen Kenntnis von seinen Tragödien Einnahme Milets (492) sowie Phoinissen (476) (die Tes‐ timonien und Fragmente finden sich TrGF vol. 1, IV, 3; vgl. zur Einnahme Milets im Besonderen T 2, die Fragmente aus den Phoinissen tragen die Nummern F8-12). Mög‐ licherweise kann man in der Abkehr von zeitgenössischen und der Fokussierung auf mythologische Stoffe eine Entwicklung sehen, die die Gattung der Tragödie in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz besonders geprägt hat. Zu den Persern als einem „his‐ torischen Drama“ bzw. einem „Geschichtsdrama avant le lettre“, den damit zusammen‐ hängenden Fragen sowie weiteren Dramen zeithistorischen Inhalts vgl. F ÖL L I N G E R (2003) S. 241 ff., die zum Schluss kommt, dass angesichts der durch Aischylos geleisteten „Mythisierung der jüngsten Geschichte“ (S. 246) auch die vorliegende Tragödie in Ana‐ logie zu Dramen mythischen Inhalts behandelt werden könne. 43 Vergleiche dazu die Bemerkung des Aristoteles zu einer Tragödie des Agathon, deren Handlung weder aus dem Mythos noch aus der Zeitgeschichte geschöpft wurde (Poetik 1451 b 21 ff.). Nach unserer Kenntnis hat Sophokles einzig Tragödien mythologischen Inhalts geschrieben. 44 Vgl. B U R I A N (1997). „Myth into muthos: the shaping of tragic plot.“ in: The Cambridge Companion to Greek Tragedy, hrsg. v. E A S T E R L I N G (1997), Cambridge, S. 178-208, S. 198: „The choice of a chorus is one obvious way for the poet to articulate his approach to a legendary subject“. 45 H O S E (1990) S. 16 f. Was lässt sich im Rahmen der hier zu gebenden Einführung zur Einbindung des Chors als einer kollektiven dramatis persona in den darzustellenden Mythos und die jeweilige Einzeltragödie festhalten? 41 Im Bereich der mythologischen Tragödie, die den Anteil der tragischen Dich‐ tungen mit zeitgeschichtlichem 42 oder frei erfundenem Inhalt 43 überwogen haben wird, bietet die Besetzung des Chors dem Dichter die nahezu größten Gestaltungsmöglichkeiten. 44 So sind die zentralen Figuren der Handlung bei einem mythologischen Stoff bereits mehr oder minder vorgegeben, die Rollen‐ zuweisung an den Chor jedoch unterliegt ausschließlich der dichterischen Ge‐ staltung. Zwei grundlegende Möglichkeiten, den Chor einer Tragödie mythi‐ schen Inhalts zu besetzen, führt H O S E auf: 45 Entweder stelle der Chor die Verkörperung einer vom Mythos bereits gegebenen und in ihm notwendiger‐ weise handelnden Gruppe dar (z. B. die Freier der Penelope in einer Tragödie, die Odysseusʼ Heimkehr und Rache inszeniert), oder er bestehe aus Personen, III. Der Chor: Phänomen - Dichtung - Formteil 40 <?page no="41"?> 46 Ders. S. 17. 47 So bildeten bei Aischylos und Euripides in ihren Philoktetdramen die Einwohner der Insel Lemnos den Chor, bei Sophokles sind es die Schiffsleute des Neoptolemos; vgl. die Ausführungen im entsprechenden Kapitel ad locum S. 82 ff. 48 Vgl. B U R I A N (1997) S. 198: „Sophoclesʼ choice of Theban elders for the chorus of Anti‐ gone, rather than companions or servants of the heroine, initially furthers her isolation but then permits a dramatically crucial shift in their understanding and sympathy“. 49 So zu Aischylos auch G R U B E R (2009) S. 52: „Was die Rollenidentität selbst betrifft, mit der der Chor für jede Tragödie neu ausgestattet wird, so steht es dem Dichter zunächst völlig frei, welche Personengruppe und welches Segment der Polisgemeinschaft, in‐ nerhalb derer der dargestellte Mythos spielt und die Einzelfiguren agieren, den Chor bildet - die Wahl steht aber in engster Verbindung mit der Gestaltung des Plots, so dass im Einzelfall unter Umständen Gedankenexperimente helfen können, die Besonderheit gerade des gewählten Chores zu erklären“. „die in der jeweiligen Sage nicht explizit erscheinen, jedoch leicht aus dem Be‐ reich, in dem die Sage angesiedelt ist, ergänzt werden können“. 46 Dass in den überlieferten Tragödien die auf die zweite Art gebildeten Chöre weitaus über‐ wiegen, ist auf Grund der von H O S E aufgeführten dramaturgischen Schwierig‐ keiten eines dem Mythos bereits immanenten Chors nachvollziehbar. Die geplante Aussageabsicht der Tragödie, das intendierte Verhältnis der Personen zum Chor und die gesamte dramaturgische Komposition fließen so bei der Konzeption des Chors zusammen. Konkret gesagt: Indem Sophokles bei‐ spielsweise seinen Philoktet - im Gegensatz zu Aischylos und Euripides - auf einer völlig unbewohnten Insel sein Dasein fristen lässt, prägt er den Mythos gemäß seiner Konzeption der Tragödie und muss daher auch dem Chor eine speziell für diese Komposition passende Rolle zuweisen. 47 Im Gegenzug kann man sich vorstellen, dass die Antigone eine völlig andere Tragödie wäre, wenn der Chor nicht aus dem politisch und religiös in das Leben der Polis eingebun‐ denen Rat der Alten, sondern zum Beispiel aus den Frauen der Stadt Theben bestünde (vgl. die Konstruktion in der Elektra). Nicht nur das Verhältnis der Choreuten zur Protagonistin und zu Kreon, sondern auch die Gedankenwelt der chorischen Reflexion, ja sogar die Sprache innerhalb der Chorlieder und damit die ganze dramaturgische Komposition wären andersartig. 48 Eine ähnliche Über‐ legung ergibt sich, wenn wir uns eine Aiastragödie vorstellen, in der nicht wie bei Sophokles die Schiffsleute des Protagonisten, sondern die des Odysseus oder sonstige griechische Soldaten den Chor bildeten. 49 Im uns überlieferten Werk des Sophokles lassen sich hinsichtlich der Rollen‐ identität der Chöre zweckmäßiger Weise drei Kategorien bilden, die sozusagen das Spektrum der vom Chor dargestellten dramatis personae umfassen: So stellt 3. Der Chor als Formteil der Tragödie 41 <?page no="42"?> 50 G R U B E R (2009) weist darauf hin, dass „junge Männer im wehrfähigen Alter, die dem athenischen Zuschauer als unmaskierte Choreuten der vielen Dithyramben- und sons‐ tigen Chöre offenbar sattsam bekannt waren und […] wohl auch als Chorsänger für die Tragödien herangezogen wurden, im Gesamtspektrum der Tragödienchöre eine seltene Ausnahme sind“ S. 53. Vor diesem Hintergrund ist bei den beiden derartigen Chören im überlieferten Werk unseres Autors im Besonderen zu fragen, was Sophokles mit dieser Rollenzuweisung intendiert hat. 51 Die in Prosa verfasste Hypothesis zum Philoktet gibt an, der Chor bestehe „aus den mit Neoptolemos segelnden Greisen“ (ὁ δὲ χορὸς ἐκ γερόντων τῶν τῷ Νεοπτολέμῳ συμπλεόντων, P E A R S O N (1924), zweite Hypothesis). Dieser wohl aus den Anreden des Neoptolemos als τέκνον (v. 141) und παῖ (v. 201) geschlossenen Annahme folge ich mit J E B B (2004) und K A M E R B E E K (1980) ausdrücklich nicht. Ich teile dagegen K A M E R B E E K s Einschätzung: „the sailors were presumably Achillesʼ companions“ (S. 45). Dass sie älter als der jugendliche Neoptolemos sind, steht dabei zwar außer Frage (auch wenn sich der Altersunterschied nicht konkret angeben lässt); in ihnen allerdings Greise zu sehen, verkennt meines Erachtens zum einen die vom Dichter als zentrales Moment der Cha‐ rakterzeichung seines Helden lancierte Jugend des Neoptolemos (vgl. J E B B (2004) S. 31: „As he [Neoptolemos] is so youthful […], they can adress him as τέκνον (141), παῖ (201). It does not follow that they were actually γέροντες, as the author of the prose Argu‐ ment […] calls them“). Zum anderen scheint mir die Annahme, solchermaßen nicht mehr wehrfähige Männer seien auf einer so wichtigen Mission wie der Rückholung des Philoktet Bestandteil der Schiffsbesatzung gewesen, geradezu widersinnig. 52 Vgl. dazu innerhalb dieser Einleitung den Abschnitt V. 2 (S. 68 ff.). der Chor in zwei Tragödien wehrfähige Männer 50 dar (Philoktet  51 und Aias), ebenfalls in zwei Tragödien Frauen (Trachinierinnen und Elektra) sowie in drei Stücken Greise (Oidipus Tyrannos, Oidipus auf Kolonos und Antigone). Diese drei Gruppen eignen sich besonders gut dazu, als Kategorisierungsmoment die Rei‐ henfolge der Einzelinterpretationen im Hauptteil zu bestimmen. 52 In der Regel hat der Chor zudem zu einer (oder mehreren) Person(en) eine he‐ rausgehobene Beziehung: Während dabei in einigen Fällen ein emotionales Nahbzw. Abhängigkeitsverhältnis zwischen Chor und dem entsprechenden Akteur vorliegt (vgl. das Verhältnis von Aias zu seinen Schiffsleuten), stehen sich an‐ dernorts Chor und Bezugsperson in unausgesprochener oder gar betonter Dis‐ tanz gegenüber. Gerade der Gesprächssituation Chor-Bezugsperson kommt so bei der Interpretation der Tragödie besondere Bedeutung zu (vgl. im Besonderen die Gesprächssituation Protagonistin-Chor in der Elektra). Nicht in allen Fällen ist dabei die primäre Bezugsperson des Chors auch der Protagonist der Tragödie: Von besonderem Interesse ist in diesen Fällen die Verortung des Chors in seiner gegebenen Rollenidentität zwischen zwei (oder mehreren) Akteuren des Stücks (vgl. Philoktet oder Antigone). Die Interpretationen des Hauptteils werden versuchen, auf Grundlage der jeweiligen Rollenidentität bestimmte für die einzelne Tragödie prägende Muster III. Der Chor: Phänomen - Dichtung - Formteil 42 <?page no="43"?> 53 So R U T H E R F O R D (2012): „Greek tragedy is a hybrid form, and the different parts of the drama are differentiated in form and style“ S. 29; vgl. zudem H A L L (1997). „The sociology of Athenian tragedy.“ in: The Cambridge Companion to Greek Tragedy, hrsg. v. E A S‐ T E R L I N G (1997), Cambridge, S. 93-126, S. 100: „An inclusive genre, it [die Tragödie] ab‐ sorbed multifarious metrical forms originating in places across the Greek-speaking world, such as Doric choral lyric and Aegean monody“. 54 Vgl. E A S T E R L I N G (1997). „Form and performance.“ in: The Cambridge Companion to Greek Tragedy, hrsg. v. E A S T E R L I N G (1997), Cambridge, S. 151-177, die in einer Leitfrage bereits einige entscheidende und für das moderne Verständnis besonders fremde Kon‐ ventionen aufzählt (S. 152): „How could a genre as novel and sophisticated as tragedy have been hedged about by every kind of rule and restriction, with limits on the number of speaking actors, the showing of violent events on the stage, the relation of the chorus to the stage action, the distribution of spoken and sung parts, and even, perhaps, the choice of subject-matter, which must surely have been a deterrent to creative talent? “ 55 Vgl. E A S T E R L I N G (1997) a. a. O.: „[…] there is no evidence surviving from the fifth century which suggests that the dramatists were inhibited from experimentation, and plenty to indicate the opposite“. innerhalb der sprachlichen Gestaltung der Chorpartien, der Gesprächssituati‐ onen zwischen Chor und Akteuren und der Verortung des Chors im Personen‐ spektrum herauszustellen. Im Folgenden soll daher ein rascher Überblick einige formale Gegebenheiten der chorischen Präsenz in Erinnerung rufen, um die jeweils konkrete Ausgestaltung des Wechselspiels von Chor und Akteuren im Einzelstück genauer untersuchen zu können. 3.2 Formale Gegebenheiten: Konventionalität - Dualismus Sprechpartien-lyrische Partien - Erscheinungsbild des Chors Die attische Tragödie als eine zur Zeit des Sophokles innerhalb der Polis sowie der Lebenswirklichkeit der Athener fest verankerte Institution präsentiert sich in ihrer uns vorliegenden Gestalt als im besten Sinne „hybride literarische Form“, 53 die aus verschiedenen (mehr oder minder selbstständigen) Genera und Formteilen zusammengesetzt ist. Sie unterliegt dabei einer Reihe von teilweise rigiden Konventionen, die teils ihrer Entstehungsgeschichte, teils ihrem insti‐ tutionellen Rahmen, d. h. ihrem Sitz im Leben der Polis, teils gattungsinternen Gegebenheiten geschuldet sind. 54 Obwohl aber die Gattung bestimmten Kon‐ ventionen unterlag, gehen die einzelnen Dichter innovativ und kreativ mit diesen Regeln und Formgesetzen um, was auch den gelegentlichen Bruch mit einzelnen Konventionen einschließt. 55 Anders gesagt: Man wird nicht fehlgehen, den Kompositionsprozess einer Tragödie gerade hinsichtlich ihrer formalen 3. Der Chor als Formteil der Tragödie 43 <?page no="44"?> 56 Zum Begriffspaar vgl. F ÖL L I N G E R (2003) S. 12, die ihre Studie der Untersuchung des Spannungsverhältnisses von Tradition und Innovation bei der „Arbeit am Mythos“, d. h. seiner „Dramatisierung“ widmet. 57 Vgl. L A T A C Z (2003) im Besonderen zur Vertrautheit des attischen Publikums mit den einzelnen Gattungen der Chorlyrik, besonders ihrer metrischen Gestaltung: „Da der Chorgesang in Griechenland eine uralte Tradition hatte […], mußten die unterschied‐ lichen Rhythmen und Melodien des Chores innerhalb der Tragödie für die athenischen Theaterbesucher des 5. Jh. bereits verschiedene Ausdruckswerte repräsentieren (an Rhythmus, Bauart, Melodieführung, aber auch an der gewählten ‚Tonart‘ konnten z. B. Gebetslieder, Trauergesänge, Hymnen, Hochzeitslieder usw. erkannt werden). Dadurch waren besonders eindringliche Assoziationseffekte zu erzielen“ (S. 69). Für uns sind diese „Assoziationseffekte“ nicht mehr greifbar. Vergleichbar sind allerdings verschie‐ dene Phänomene innerhalb der Musik der Barockzeit bzw. der Klassik: So sind die den höfischen Tänzen und ihren stilisierten Formen (Allemande, Courante, Sarabande, Gigue, Menuett usw.) eigenen Rhythmen fest mit dem jeweiligen Charakter des Tanzes verknüpft; dies prägt schließlich ihre Verwendung in umfassenderen Gattungen wie der Suite und, im Fall des Menuetts (sowie seiner „Umdeutung“ ins Scherzo), der Sym‐ phonie. Dabei waren gewisse Rhythmen durchaus mit Bedeutung aufgeladen: So ist der „Siciliano-Rhythmus“, ein fließender, punktierter 12 / 8 (bzw. 6 / 8)-Rhythmus, gegebe‐ nenfalls mit einem Holzblasinstrument als melodieführender Stimme (vgl. Vivaldi Mag‐ nificat RV 589, Aria „Domine Deus“ (Sopran mit Oboe), Händel „Der Messias“ Nr. 13 „Pifa“, Haydn „Die Schöpfung“, Teil I, Nr. 8, Arie „Nun beut die Flur das frische Grün“), in solchem Maß mit pastoralen, oft idyllischen Inhalten assoziiert, dass bereits der Be‐ ginn eines entsprechenden Instrumental- oder Vokalstücks beim zeitgenössischen Hörer dementsprechende Assoziationen hervorgerufen haben muss. Entsprechendes gilt für die Verwendung gewisser Tonarten, so d-Moll als geradezu „typische“ „Re‐ quiemtonart“ sowie das heroische Es-Dur aus Beethovens dritter Symphonie. Die Bei‐ spiele ließen sich beliebig fortsetzen. Auch wenn die Vergleiche nicht in allen Punkten mit den antiken Gegebenheiten übereinstimmen, lässt sich die grundlegende Vertraut‐ heit des Publikums mit gewissen Kompositionsmomenten auf diese Weise zumindest ansatzweise nachvollziehen. Struktur als kreative Auseinandersetzung mit den bestimmenden Polen von „Tradition und Innovation“ zu verstehen. 56 Angesichts der Formung, die die einzelnen Bestandteile der Tragödie ent‐ weder in ihrem eigenständigen kultischen bzw. literarischen Umfeld oder im Rahmen der Gattung Tragödie erlangt haben, sowie der Institutionalisierung der Tragödie und ihrem Bezug zur Lebenswelt der Rezipienten wird man davon ausgehen können, dass das Publikum mit den basalen Formteilen und Konven‐ tionen der Gattung bekannt war. 57 Darunter verstehe ich kein poetisches Spe‐ zialwissen, sondern eine an den Sehgewohnheiten geschulte Vertrautheit und III. Der Chor: Phänomen - Dichtung - Formteil 44 <?page no="45"?> 58 Als besonders eindrückliches Beispiel bietet sich der Abgang und Wiederauftritt des Chors an, wie ihn Sophokles in seinem Aias inszeniert; angesichts des uns vorliegenden Überlieferungsstands wird man davon ausgehen können, dass dieser besonders effekt‐ volle Bruch mit der Konvention auch dem Publikum aufgefallen sein wird. Aber auch formale Eigenheiten wie die Komposition lyrischer Großpartien (so z.B: im Eingang der Elektra) oder der Verzicht auf die regelmäßige Einschaltung „konventioneller“ Stasima (Philoktet) werden ihre dramaturgische Wirkung nicht zuletzt auf Basis der Vertrautheit des Publikums mit den Formteilen der Tragödie erreicht haben. 59 Vergleichbar ist bereits Aristotelesʼ Aufzählung der quantitativen Teile der Tragödie (Poetik 1452b14-27). Einen besonders konzisen Überblick über verschiedene Form‐ konstituenten der griechischen Tragödie im Allgemeinen gibt Z I M M E R M A N N (2011) S. 516 ff. 60 Auch hier ist keine Vollständigkeit angestrebt; es soll vielmehr das kurz entfaltet werden, was zum Verständnis der Einzelinterpretationen nötig ist. 61 So im Besonderen die sogenannten Marschanapäste, die den Auftritt des Chors be‐ gleiten können und dabei entweder einer lyrischen Parodos vorangehen (Aias) oder zwischen die Strophen des Auftrittsliedes gesetzt sind (Antigone). Der Einsatz des re‐ zitierten trochäischen Tetrameters zur Steigerung des Effekts in besonders bewegten, emotionalen Partien ist bei Sophokles im Gegensatz zu Aischylos eingeschränkt (Bei‐ spiele: Oidipus Tyrannos v. 1515 ff., Philoktet v. 1402 ff.); vgl. Z I M M E R M A N N (2011) S. 531. 62 Zur Metrik der Sprechverse vgl. Z I M M E R M A N N (2011) S. 530 sowie W E S T (1982). Greek Metre, Oxford, S. 81 ff. Erwartungshaltung, die durch die konkrete Gestaltung des Dichters entweder erfüllt oder konterkariert wird. 58 Wenn auch der Entwicklungsprozess der Gattung nicht mehr im Einzelnen nachzuvollziehen ist, bleibt eine Betrachtung der einzelnen Formteile von ent‐ scheidender Wichtigkeit. 59 In Vorbereitung auf die Analyse der Einzeldramen, wie sie der Hauptteil dieser Arbeit bietet, sollen hier einige Bemerkungen 60 folgen, um den Rahmen der im Wesentlichen unter formalen Gesichtspunkten stehenden Interpretation anzudeuten. Die Tragödie, wie sie im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, ist auf Grund ihrer historischen Entwicklung formal besonders vielfältig, und diese Vielfalt lässt sich zweckmäßig nach der Art der Darbietung des dramatischen Texts gliedern: Auf der einen Seite stehen die gesprochenen (freilich metrisch komponierten) Passagen, die größtenteils den eigentlichen Akteuren, d. h. den je eine Person der Handlung verkörpernden Schauspielern zukommen, auf der anderen die gesungenen, mit Tanz unterlegten lyrischen Abschnitte, deren Darbietung im Wesentlichen dem Chor obliegt. Als Zwischenform können die rezitierten Par‐ tien angesehen werden, die im Wesentlichen klar funktionalisiert sind 61 und sowohl dem Chor wie auch den Akteuren zukommen können. Während bereits die Sprechpartien einen gewissen Formenreichtum auf‐ weisen, der sich im Besonderen hinsichtlich der metrischen Gestaltung 62 sowie 3. Der Chor als Formteil der Tragödie 45 <?page no="46"?> 63 Vgl. M A N N S P E R G E R (1971). „Die Rhesis.“ in: Die Bauformen der griechischen Tragödie, hrsg. v. J E N S (1971), München, S. 143-181 S E I D E N S T I C K E R (1971). „Die Stichomythie.“ in: Die Bauformen der griechischen Tragödie, hrsg. v. J E N S (1971), München, S. 183-220. 64 Vgl. Überblick und Materialsammlung bei B A R N E R (1971). „Die Monodie.“ in: Die Bau‐ formen der griechischen Tragödie, hrsg. v. J E N S (1971), München, S. 277-320. 65 Vgl. das Duett zwischen Elektra und Orest nach der Wiedererkennung Elektra v. 1232-1287. 66 Vgl. Überblick und Materialsammlung bei P O P P (1971). „Das Amoibaion.“ in: Die Bau‐ formen der griechischen Tragödie, hrsg. v. J E N S (1971), München, S. 221-275. 67 Zum Phänomen des „singenden Schauspielers“ vgl. H A L L (2002). „The singing actors of antiquity.“ in: Greek and Roman actors: Aspects of an ancient profession, hrsg. v. E A S‐ T E R L I N G und H A L L (2002), Cambridge, S. 3-38. 68 Vgl. H E A T H (1987). The Poetics of Greek Tragedy, London, S. 152: „We can now see more clearly the importance of distinguishing the Chorusʼ role within the act from the Chorusʼ act-dividing role“. S C H M I T T (2008) S. 573 teilt die Äußerungen des Chors in drei Formen, indem er die rein chorischen Lieder noch einmal von den Wechselgesängen unterscheidet. 69 G R U B E R (2009) S. 63 sieht in dieser „selbstverständlichen Annahme der Forschung, dass in den reinen Sprechpartien nur der Chorführer, nicht aber der gesamte Chor mit der Einzelfigur gesprochen habe […] möglicherweise ein Missverständnis“. Für ihn stehen der Annahme, der ganze Chor habe in den Sprechversen gemeinsam gesprochen, keine praktischen Einwände entgegen; zudem erhöhe dieses Vorgehen die Wirkung der Aus‐ sage und unterstreiche „auch im direkten Kontakt die Auswirkung der Handlung auf die Gemeinschaft“ S. 64. der Sprechersituation differenzieren lässt, 63 ist die Bandbreite der lyrischen Formen sowohl hinsichtlich der Metrik als auch der innerhalb des Dramas ver‐ wendeten oder verarbeiteten (chorischen) Gattungen besonders umfangreich. Dass dieser Dualismus und die mit ihm einhergehende Zuordnung (Sprech‐ partien: Akteure; lyrische Passagen: Chor) freilich kein trennscharfes Gesetz darstellt, beweist zum einen die Einbindung des Chors in die Sprechpartien, zum anderen die von Akteuren entweder unter sich (Monodien 64 oder lyrische Du‐ ette 65 ) oder im Austausch mit dem Chor dargebrachten lyrischen Abschnitte (Amoibaia 66 bzw. epirrhematische Passagen). 67 Der Chor legt so rein formal gesehen ein doppeltes Erscheinungsbild 68 an den Tag: Neben den in dieser Arbeit im Vordergrund stehenden Liedern und lyri‐ schen Wechselpartien tritt der Chor auch mit den Personen des Dramas in Di‐ alog oder schaltet sich in die Unterhaltung mehrerer Personen ein und nimmt so an den ausgewiesenen Sprechpartien des Stücks teil. Dabei tritt höchstwahr‐ scheinlich der Chorführer aus der Riege der restlichen Choreuten heraus, 69 spricht sozusagen in deren Namen und bedient sich der konventionellen Sprech‐ verse des Dramas (meist iambischer Trimeter). In zwei Fällen erscheinen dabei solche Einschaltungen des Chors geradezu standardisiert und klar funktionali‐ III. Der Chor: Phänomen - Dichtung - Formteil 46 <?page no="47"?> 70 Iambische Auftrittsankündigungen finden sich z. B. Aias v. 1040 ff. (verbunden mit dem Rat an Teukros, nicht weiter zu sprechen), Trachinierinnen v. 177 f., Oidipus Tyrannos v. 631 ff., Oidipus auf Kolonos v. 549 f. Schließt sich eine Auftrittsankündigung an ein Chorlied an, so ist sie oft in Anapästen komponiert (vgl. Antigone v. 155 ff., 376 ff., 626 ff.). 71 So z. B. Antigone v. 766 f., 1091 ff., Trachinierinnen v. 813 f. 72 Vgl. Aias v. 331 f., Oidipus Tyrannos v. 834 f. 73 Vgl. Antigone v. 211 ff. 74 Vgl. Oidipus Tyrannos v. 404 ff. 75 Von besonderer formaler Strenge ist dabei das dritte Epeisodion der Antigone mit den moderierenden Einwürfen v. 681 f. und 724 f. Vgl. zudem Aias v. 1316 f., Elektra v. 369 f., 464 f. 76 Von besonderem Wert bleibt zu formalen Gesichtspunkten sowie als „Materialsamm‐ lung“ R O D E (1971) Das Chorlied in: J E N S (1971) S. 85-115. 77 Zur entscheidenden Wirkung von Auf- und Abtritten bei Aischylos vgl. die maßgebliche Arbeit von T A P L I N (1977 und spätere Auflagen). siert: Zum einen kündigt der Chorführer oft den Auftritt sich nahender Personen an 70 oder kommentiert den Abtritt von Akteuren. 71 Zum anderen kommt es mit einiger Regelmäßigkeit dem Chorführer zu, einen längeren Monolog einer Person mit einer kurzen, meist einen iambischen Doppelvers umfassenden Be‐ merkung zu kommentieren; inhaltlich reichen die Kommentare dabei von Be‐ kräftigung des bzw. Zustimmung zum Gesagten 72 über größtmögliche Ambiva‐ lenz 73 bis hin zur Warnung vor anstößiger Rede und der Mahnung, Maß zu halten. 74 Gerade in Konfliktstichomythien bilden die Kommentare des Chor‐ führers nach bzw. zwischen den Rheseis der Antagonisten solche moderie‐ renden Einwürfe, die sich teils durch eine besondere Wertschätzung beider Mo‐ nologe, und damit durch besondere Ambivalenz, auszeichnen, oder aber allgemein zur Mäßigung aufrufen. 75 In beiden Fällen kommt den Äußerungen des Chorführers eine das Drama bzw. die entsprechende Szene strukturierende Bedeutung zu. Dass dabei auch der Verzicht auf die standardisierten Kommentierungen und Einwürfe einen besonderen dramaturgischen Wert haben kann, wird die Einzeluntersuchung am Rande ad locum erweisen. Die mit Musik und Tanz versehenen Lieder 76 (Parodos, gegebenenfalls Epipar‐ odos sowie Stasima) dienen dagegen formal und oberflächlich betrachtet zu‐ nächst als zwischen die (meist durch Aufbzw. Abtritte gegliederten 77 ) Szenen 3. Der Chor als Formteil der Tragödie 47 <?page no="48"?> 78 Für R O D E (1971). „Das Chorlied.“ in: Die Bauformen der griechischen Tragödie, hrsg. v. J E N S (1971), München, S. 85-115 sind die in Form von Strophe und Gegenstrophe kom‐ ponierten, d. h. „antistrophischen“ Lieder des Chors im Wesentlichen „unmimetisch“, da sie eine Art Lyrik darstellen, „die eine Handlung oder einen Vorgang nur mittelbar zum Ausdruck bringt, etwa durch bloße Erzählung, oder die rein konsiderativ ist, mit möglichst wenig Elementen direkter Darstellung (wie Ausrufen der Freude oder des Schmerzes), die zwar nie ganz fehlen, aber sich häufig etwa nur in der Pathos-Färbung des Stils äußern“ S. 94. Mögliche „Lösungsansätze“ der Dichter, solchermaßen unmi‐ metische Lieder organisch in die ansonsten mimetische Tragödie zu integrieren, sie geradezu zu „mimetisieren“, beschreibt er auf den Seiten 100-103. Ob die Unterschei‐ dung in mimetische und unmimetische Äußerungen des Chors wirklich tragfähig ist, bleibt zweifelhaft; von besonderem Wert ist allerdings der Verweis auf die grundlegende Differenz zwischen den lyrischen Passagen des Chors und seiner Einbindung in die Sprechpartien. 79 Vgl. H E A T H (1987) S. 138: „The basic function of act-dividing lyric is, not suprisingly, to divide acts: to keep the successive units of predominantly spoken texture apart, and to fill in the gap left by their being kept apart with words that will keep the audience entertained […] Act-dividing lyric therefore performs its basic function by diversifying the main narrative text with contrasting and aesthetically heightened material“. 80 Im Hauptteil dieser Arbeit wird es keine ausgreifenden metrischen Analysen geben. Ich verweise zu diesem Zweck auf die grundlegenden Werke zur griechischen Metrik (s. Literaturverzeichnis) und die jeweiligen Kommentare zu den einzelnen Tragödien. 81 Grundlegend dazu: S W I F T (2010). 82 So z. B. die dem Epinikion angelehnte Parodos der Antigone sowie das dritte Stasimon der Trachinierinnen, die Verwendung von Motiven des Invokationshymnos (viertes Stasimon der Antigone, „Schlaflied“ im Philoktet und andernorts) sowie die der Gattung des Paian nahestehenden Anrufungen Apolls in der Parodos des Oidipus Tyrannos. gesetzte reflektorische Passagen 78 zur Trennung größerer Abschnitte („Akte“). 79 Sie unterliegen in ihrer metrischen sowie sprachlich-motivischen Komposition in besonderem Maß dem Gestaltungswillen des Dichters, 80 der dabei u. a. auf die Gattungen der Chorlyrik sowie deren Konventionen zurückgreift. 81 So tragen einzelne Chorlieder innerhalb der Tragödie eindeutig strukturelle und inhalt‐ liche Merkmale gewisser Gattungen der eigenständigen, in der Regel im kulti‐ schen Rahmen zu verortenden Chorlyrik. 82 Dabei sind, wie schon bei den Werken der selbstständigen (Chor-)Lyrik, sowohl Musik als auch Tanzfiguren für uns im Allgemeinen verloren. Wir dürfen indes, ungeachtet aller Diskussion um antike Musik im Allgemeinen sowie bestimmte performative Momente der antiken Tragödie im Speziellen, davon ausgehen, dass die in den Liedern vor‐ herrschenden Effekte und Emotionen auch in der Vertonung ihren Niederschlag III. Der Chor: Phänomen - Dichtung - Formteil 48 <?page no="49"?> 83 Vgl. L A T A C Z (2003) S. 69: „Die Stasima sind gesanglich-tänzerische Höchstleistungen. Das gesungene Wort und die getanzte Figur stehen dabei in engstem Ausdruckszusam‐ menhang, die tänzerische Körpergestik unterstützt das gesungene Wort“. Für G R U B E R (2009) stellt dieses emotionale, affektive Moment ein Grundkonstituens der chorischen Präsenz dar (vgl. den Untertitel „Affekt und Reaktion“ sowie den Abschnitt „πάθος durch λόγος: Die Affekte des Chores und ihre Transmission“, S. 70 ff.) 84 Dagegen bleiben die „moderierenden“ Einwürfe des Chors in Agonszenen (z. B. viertes Epeisodion im Aias bzw. drittes Epeisodion in der Antigone) meist unbeantwortet, nehmen allerdings direkt Bezug auf die vorhergehenden Äußerungen der jeweiligen Personen. 85 Dass dennoch die Ansprache einer Person bzw. eines konkreten Akteurs ein besonders prägendes Moment der chorischen Reflexion sein kann, wird der folgende Abschnitt ausführen. 86 Wie z. B. während der Parodos des aischyleischen Agamemnon. In den Tragödien des Sophokles gibt es einige Fälle, in denen nicht genau zu klären ist, ob Akteure für die Dauer gewisser Chorlieder den dem Publikum sichtbaren Bühnenraum verlassen oder nicht, so z. B. Kreon während des dritten Stasimons und des folgenden Amoibaions in der Antigone. 87 Vgl. B U R I A N (1997) S. 199: „As moments of lyric reflection, choral odes draw the spec‐ tator away from the immediate concerns of the plot, while at the same time they ine‐ vitably have an effect on dramatic mood, providing a kind of objective correlative for the spectatorsʼs response to the action“. Inwieweit man bei den Reflexionen des Chors tatsächlich von einem „objektiven Korrelativ“ sprechen kann, bleibt allerdings fraglich. 88 Die weitere Entwicklung der Tragödie hat es mit sich gebracht, dass die Chorlieder ihren inhaltlichen und dramaturgischen Bezug zur Handlung des Stücks schrittweise verloren haben und immer mehr zu formalen Abschnittsteilern wurden, die thematisch und motivisch für sich allein standen und schließlich völlig austauschbar wurden. Für diese Untersuchung mit ihrer Konzentration auf Sophokles spielt allerdings die weitere Gattungsgeschichte der Tragödie keine bedeutende Rolle mehr. gefunden haben und so die Bühnenwirkung des jeweiligen Stückes ver‐ stärkten. 83 Während die vom Chorführer vorgetragenen Sprechverse (meist 84 ) eine di‐ rekte Kommunikation mit den Personen des Dramas darstellen, steht der Chor während seiner Lieder allein im Zentrum der Aufmerksamkeit und hat keinen direkten Gesprächspartner, mit dem ein Austausch zustande käme. 85 In der Regel befindet sich während eines Chorliedes keine Person mehr auf der Bühne. An‐ dernfalls tritt diese in den Hintergrund oder agiert stumm, wobei die Kommen‐ tierung der Handlungen dem Chor zufällt. 86 Die Chorlieder in den Tragödien unseres Autors werden dabei - grob gesagt - inhaltlich durch Reflexion, Deu‐ tung und Verarbeitung sowie Vorahnung der dramatischen Handlung be‐ stimmt; 87 sie stehen so der Handlung als solcher zunächst gegenüber und er‐ gänzen sie. Zu zeigen, in welchem Verhältnis diese Passagen zur Handlung, zum dramatischen Geschehen und den einzelnen Personen stehen, ist Aufgabe der Einzelinterpretationen im Hauptteil der vorliegenden Arbeit. 88 Der folgende 3. Der Chor als Formteil der Tragödie 49 <?page no="50"?> Abschnitt wird sich mit verschiedenen Techniken bzw. Strategien dieser spezi‐ fisch chorischen Reflexion beschäftigen. III. Der Chor: Phänomen - Dichtung - Formteil 50 <?page no="51"?> 1 Auf die Amoibaia, im Besonderen das sog. „Aktionsamoibaion“ (vgl. P O P P (1971) S. 253 ff.) wird in einem gesonderten Abschnitt eingegangen werden. 2 Vgl. K I T Z I N G E R s (2008) Konzept der „otherness“ bzw. „essential difference“, das im Be‐ sonderen auf die audio-visuellen Momente Musik und Tanz rekurriert; siehe S. 28, im Besonderen Anm. 75. 3 Vgl. W I L L M S (2014). Transgression, Tragik und Metatheater: Versuch einer Neuinter‐ pretation des antiken Dramas, Tübingen, S. 375 zum Chor des Oidipus Tyrannos, „der ein Kollektivum repräsentiert und ein drameninternes Rezeptionsmedium bietet“. 4 Die Unterscheidung von R O D E (1971) in wenig mimetische, antistrophisch gebaute Chorlieder, die hauptsächlich in der Tragödie vorkommen, auf der einen, sowie stark mimetische, astrophische Lieder, die im Besonderen im Satyrspiel zu finden sind (S. 113 f.), ist problematisch. Im Wesentlichen scheint er allerdings das Richtige zu treffen, wenn er den Chorliedern einen „unmimetischen“ Charakter zuspricht; damit scheint zudem die „otherness“ des Chors, wie sie gerade von K I T Z I N G E R (2008) he‐ rausgestellt wurde, vorgezeichnet zu sein. 5 Gerade diese Form der schrittweisen „Annäherung“ an den eigentlichen Berührungs‐ punkt zwischen dramatischem Geschehen und chorischer Reflexion ist, wie im Fol‐ genden theoretisch entwickelt und in den Einzelinterpretationen gezeigt werden wird, für Sophokles typisch. Damit verbunden ist freilich eine besondere Lenkung der Auf‐ merksamkeit und Perspektive des Rezipienten, was eigene dramaturgische Implikati‐ onen mit sich bringt. IV. Chorische Reflexion - Reflexionsstrategien - Dramaturgische Funktionalisierung 1. Reflexion und Handlung Innerhalb der Tragödie besteht, wie bereits festgehalten, zwischen Chor- und Sprechpartien 1 nicht nur eine formale, für den ursprünglichen Rezipienten au‐ diovisuell wahrnehmbare, 2 sondern auch eine inhaltliche Differenz: Als im We‐ sentlichen reflektierende Partien eines Kollektivs 3 stehen die lyrischen Ab‐ schnitte des Chors den eigentlichen dramatischen, d. h. die Aktion der Akteure darstellenden Teilen der Tragödie gegenüber. 4 Da sich mit dem Chor ein im personellen Rahmen des dargestellten Mythos verorteter Sprecher, eine dramatis persona äußert, bilden den Gegenstand der Reflexion dabei allerdings letztlich das Bühnengeschehen bzw. mit ihm in Zu‐ sammenhang stehende Momente oder Phänomene. Auch wenn der Bezug der chorischen Partie zum dramatischen Rahmen nicht unmittelbar ersichtlich ist oder sich erst im Lauf des Liedes herauskristallisiert, 5 ist bei unserem Dichter durchgängig ein Bezug der chorischen Reflexion zum Stückganzen bzw. zu ent‐ <?page no="52"?> 6 Vgl. im Einzelnen G A R D I N E R (1987) sowie P A U L S E N (1989), aber auch schon, wenn auch unter etwas anderen Gesichtspunkten, B U R T O N (1980). 7 G R U B E R (2009) S. 516 f.; dort auch die anderen Zitate. 8 Mit besonderem Blick auf Aischylos versteht er darunter im Besonderen den soge‐ nannten „Dike-Diskurs“, der im Werk dieses Dichters geradezu eine leitmotivische Be‐ deutung hat. Inwiefern sich auch bei Sophokles ein Leitmotiv bzw. ein Leitthema der chorischen Reflexion angeben lässt, wird erst nach den Einzelanalysen der Tragödien zu verhandeln und damit Gegenstand der Gesamtschau sein. scheidenden Motiven festzustellen. Anders gesagt: Die chorische Reflexion steht immer in einem klar zu umreißenden Verhältnis zur eigentlichen Handlung oder zu ihr zu Grunde liegenden Motiven. Um den Nachweis der konkreten An‐ knüpfungspunkte und die Verortung der jeweiligen Chorpartien haben sich im Besonderen die dem (reinen) dramatis persona-Konzept verpflichteten Arbeiten verdient gemacht. 6 Hinter die so deutlich vor Augen geführte Einbindung der chorischen Partien als Äußerungen einer dramatis persona zurückzufallen und, wie es die Sprachrohr-Theorie oder die Identifikation des Chors mit dem idea‐ lisierten Zuschauer insinuierte, die Chorpartien gänzlich von der Handlung zu trennen, ist auch angesichts der von der neueren Forschung betonten „other‐ ness“ des Phänomens Chor und seiner Rekontextualisierung im politisch-kul‐ tisch-sozialen Umfeld nicht statthaft. Die Analysen des Hauptteils werden die chorischen Partien und ihre Reflexion dementsprechend immer als Äußerung der im Geschehen verorteten Choreuten verstehen. Das Chorlied ist weiterhin, wie G R U B E R formuliert, „der autonome Kommu‐ nikationsraum für die Lenkung der Perspektive des Zuschauers“. 7 Dass den Lie‐ dern dabei genuin dramaturgische Funktionen wie die Steigerung oder Drosse‐ lung des dramatischen Tempos sowie die Gliederung und Strukturierung gewisser Abschnitte des Dramas oder des ganzen Stücks zukommen, ist folge‐ richtig; die Einzelinterpretationen des Hauptteils werden im Besonderen diese dramaturgischen Implikationen einer jeden Partie herauszustellen versuchen. Bereits G R U B E R gibt daraufhin einen kurzen Abriss verschiedener Punkte, die in der Reflexion des Chors eine Rolle spielen können: die Einblendung ver‐ schiedener Zeitebenen, die Eröffnung einer anderen Perspektive hinsichtlich des Handlungsraums sowie eine Interpretation des Geschehens nach „ver‐ trauten Deutungsmustern“. 8 Damit ist in aller Kürze bereits ein gewisses Pano‐ rama chorischer Reflexionsinhalte und -strategien umrissen, die sich auch bei unserem Autor finden. Um der tatsächlichen Fülle an reflektierenden Partien im Werk des Sophokles gerecht zu werden und angesichts der geradezu „chamäle‐ ongleiche[n] Multifunktionalität“, durch die sich nach W ILLM S der Chor im at‐ IV. Chorische Reflexion - Reflexionsstrategien 52 <?page no="53"?> 9 W I L L M S (2014) S. 291; vgl. zudem S. 336, Anm. 130: „Grundsätzlich ist die Frage nach der Funktion des Chors schwierig zu lösen, wobei die einzelnen Hypothesen sich in unter‐ schiedlichem Umfang verifizieren lassen“. Bei aller Vertrautheit mit der modernen li‐ teraturwissenschaftlichen Forschung, aller methodischen Versiertheit und der teils sub‐ tilen theoretischen Durchdringung der von ihm behandelten Dramen scheint mir W I L L M S ʼ „Versuch einer Neuinterpretation des antiken Dramas“ dem zumindest für die attische Tragödie zentralen Phänomen des Chors in der Ausdeutung nur wenig Raum zuzugestehen. Inwieweit er der Tragödie in ihrer Genese sowie der konkreten Ausprä‐ gung (zumindest bei Aischylos und Sophokles) damit gerecht wird, bleibt offen. tischen Drama auszeichnete, 9 ist es geraten, der Untersuchung der einzelnen Dramen und Partien eine grundsätzliche Kategorisierung vorauszuschicken, die die zielgerichtete Untersuchung der Einzelpassagen und schließlich eine zu‐ sammenfassende Einordnung der behandelten Partien ermöglichen wird. Mit den folgenden grundsätzlichen Überlegungen soll so ein theoretischer Rahmen eröffnet werden, der zum einen mögliche Vorgehensweisen chorischer Reflexion vorstellen, zum anderen ihre basale dramaturgische Funktionalisie‐ rung kurz anreißen wird. Mit Hilfe des so entwickelten Instrumentariums können die Analysen des Hauptteils die konkrete Ausprägung der hier allge‐ mein entworfenen Sachverhalte untersuchen und ein detailliertes Bild der je‐ weiligen dramaturgischen Implikationen nachzeichnen. Neben das bereits erläuterte und mit Blick auf die vorliegenden Tragödien konkretisierte Spektrum der Rollenidentität des Chors, in das die Person des Chors sowie seine Beziehung zu den Akteuren innerhalb des gesamten Stücks eingeordnet werden kann, treten dabei zwei weitere Spektren, die die Einord‐ nung der Chorpassagen selbst ermöglichen sollen. 2. Spektrum II: Reflexionsstrategien 2.1 Begriffsklärung Unter „Reflexionsstrategien“ soll der je eigene Zugang verstanden werden, den die Chorpartie bei der Beschäftigung mit ihrem Gegenstand beschreitet und der so die Chorpassage nicht nur in Bezug auf die in ihr verhandelten Momente der Handlung, sondern auch mit Blick auf ihre eigene sprachliche und poetische Gestalt maßgeblich prägt. Anders gesagt: Mit Reflexionsstrategie soll im We‐ sentlichen der Ansatz gemeint sein, der für die entsprechende Partie oder einen Teil derselben programmatische Bedeutung hat. Mit Blick auf die Vielfalt und Verschiedenheit der chorischen Reflexionen unseres Autors lässt sich guten Gewissens keine Einteilung in fest umrissene 2. Spektrum II: Reflexionsstrategien 53 <?page no="54"?> 10 Bei Euripides scheint die Sachlage bereits eine gänzlich andere zu sein, wie die Eintei‐ lung und Kategorisierung der Chorpartien von H O S E (1990) vor Augen führt. 11 Der theoretischen Darstellung der beiden Strategien sind in den Anmerkungen exemp‐ larische Belegstellen beigegeben; diese Stellenangaben sollen weder die Einzelanalyse der betreffenden Partie noch die in der Zusammenfassung erfolgende Gesamtschau ersetzen. Vielmehr sollen sie einen konkreten Eindruck von der beschriebenen Refle‐ xionsstrategie bieten und die Erwartungshaltung mit Blick auf den Hauptteil steuern. Typen oder Kategorien vornehmen. 10 Vielmehr soll hier versucht werden, das weite Spektrum verschiedener Reflexionsstrategien bzw. -ansätze zunächst von seinen Enden her aufzuzeigen. Diese im Folgenden aufgeführten Randpunkte verstehen sich dabei als geradezu theoretische Extreme, die sich einerseits ge‐ genseitig kontrastiv definieren, andererseits in der konkreten Verwirklichung nie in Reinform auftreten; es wird daher den Einzelanalysen des Hauptteils zu‐ kommen, die jeweiligen Partien innerhalb dieses so umrissenen Spektrums ein‐ zuordnen. Als Rahmenpunkte des Spektrums der Reflexionsstrategien sollen hier das Kon‐ zept einer thematisch-begrifflichen von einer imaginativ-visualisierenden Refle‐ xion unterschieden werden. Diese Distinktion erfolgt dabei zwar zunächst abs‐ trakt, versteht sich aber als an der Realität der Chorpassagen entwickelt. 11 Mit Blick auf die Interpretationen des Hauptteils sind der Beschreibung des jewei‐ ligen Reflexionsansatzes zudem einige die Interpretation leitende Fragen bei‐ gegeben; diese Leitfragen konstituieren so den methodischen Rahmen der Ein‐ zelanalysen. 2.2 Thematisch-begriffliche Reflexion Unter thematisch-begrifflicher Reflexion verstehe ich eine chorische Auseinan‐ dersetzung mit dem jeweiligen, der Handlung entspringenden bzw. mit ihr in Verbindung stehenden Gegenstand, die im Wesentlichen bestrebt ist, ein (oder mehrere) mehr oder minder abstraktes Thema (bzw. Themen) zu verhandeln. Ein solcher Ansatz bedient sich dabei gedanklicher und weitestgehend unge‐ genständlicher Konzepte: Geleitet von einer teils deskriptiven, teils argumen‐ tativen Logik versucht eine derartige Reflexion, durch den Aufweis von Gründen, Folgerungen, Einschränkungen, Beweisen u. Ä. das in Rede stehende Thema darzustellen, es argumentativ zu durchdringen und gegebenenfalls die Position des Chors dazu zu markieren. Die Verbalisierung des Themas selbst kann dabei an verschiedenen Stellen innerhalb der reflektierenden Partie erfolgen, was den gedanklichen Aufbau der Passage wesentlich prägt. So kann eine Themenangabe durch ein Schlagwort IV. Chorische Reflexion - Reflexionsstrategien 54 <?page no="55"?> 12 Vgl. Antigone, erstes Stasimon v. 332. 13 Vgl. Oidipus Tyrannos, viertes Stasimon v. 1186 ff. 14 Vgl. Antigone, erstes Stasimon v. 332 ff. 15 Vgl. Aias, erstes und drittes Stasimon v. 596 ff. bzw. 1185 ff. 16 Vgl. Philoktet, Parodos und Stasimon v. 169 ff. bzw. 676 ff. 17 Die verschiedenen Strategien zur „Anbindung“ der Chorpartie an das Geschehen bzw. zur Verortung in der Handlung selbst werden im folgenden Abschnitt (IV, 3) behandelt werden; sie berühren bereits das, was unter „dramaturgische Funktionalisierung“ ver‐ standen werden soll. bereits zu Beginn der Partie erfolgen, 12 die Mitte der Ausführungen bilden oder das Ende der Reflexion markieren. Ebenso ist es möglich, geradezu leitmotivisch an verschiedenen Punkten der Passage das eigentliche Thema aufzurufen. Das Thema selbst übt dabei wesentlichen Einfluss auf das Abstraktionsniveau und die sprachliche Gestaltung der Reflexion aus: So wird sich die Behandlung eines besonders unanschaulichen, spekulativen Themas (z. B. der Wandelbarkeit des menschlichen Schicksals 13 oder bestimmter menschlicher Grundeigen‐ schaften 14 ) von der eines dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung entnom‐ menen Themas (z. B. der konkreten Unwirtlichkeit des Krieges 15 oder der Schwierigkeiten des Überlebens unter widrigen Umständen 16 ) hinsichtlich der gedanklichen Tiefe und der gewählten Formulierungen und Begriffe unter‐ scheiden. In welcher konkreten Beziehung das so behandelte Thema (und dementspre‐ chend die gesamte Reflexion) zur dramatischen Handlung steht, kann dabei de‐ zidiert ausgesprochen oder auch nur implizit angedeutet werden. 17 Das Verständnis derartiger Reflexionen ist zunächst davon abhängig, das ei‐ gentliche Thema bzw. die Themen zu bestimmen bzw. zu umreißen. Die nach‐ vollziehende Interpretation derartiger Partien legt ferner besonderen Wert auf das Verständnis der kausallogischen Verknüpfung der einzelnen Gedanken und das Erfassen der Gedankenbewegung, sowie gegebenenfalls auf die Rekon‐ struktion eines abstrakten, teils spekulativen Reflexionsrahmens, innerhalb dessen sich die konkrete Ausdeutung verorten lässt. 2. Spektrum II: Reflexionsstrategien 55 <?page no="56"?> 18 Versteht man unter „Reflexion“ im strengen Sinne eine gedankliche Auseinanderset‐ zung mit einem gegebenen Thema bzw. eine „Vertiefung in einen Gedankengang“ (vgl. D U D E N (2006). Die deutsche Rechtschreibung, 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, hrsg. von der Dudenredaktion, Band 1, Mannheim / Leipzig / Wien / Zürich, S. 838, s.v.), ist der Gebrauch des Begriffs an dieser Stelle freilich problematisch. In Ana‐ logie zur oben mehrfach festgehaltenen Teilung der Tragödie in eigentlich dramatische, d. h. handlungstragende (mimetische) (Sprech-)Partien auf der einen Seite sowie den im weitesten Sinne reflektierenden, d. h. keine Handlung darstellenden (Chor-)Partien auf der anderen Seite, soll hier dennoch am Begriff der Reflexion festgehalten werden, auch wenn dabei gerade keine gedankliche Durchdringung, sondern vielmehr ein be‐ stimmter Modus der „Betrachtung“ (a. a. O.) gemeint ist. Gerade dieses auch vom D U D E N erwähnte Bedeutungsspektrum „Betrachtung“ kommt der hier eröffneten Kategorie „Imagination / Visualisierung“ besonders nahe. 19 Vgl. Antigone, viertes Stasimon v. 944 ff., in dem das in mehrere Bilder umgesetze Motiv der Einkerkerung und des Verlusts des Lichts die motivische Klammer bildet, die die verschiedenen mythologischen Schlaglichter miteinander verknüpft. 20 Vgl. Oidipus auf Kolonos, zweites und viertes Stasimon v. 1044 ff. bzw. 1556, die je eine hinterszenische Handlung visualisieren. 21 Vgl. Antigone Parodos v. 100 ff. oder Trachinierinnen, erstes Stasimon v. 497 ff., die je ein zurückliegendes Geschehen visualisieren. 22 Vgl. Oidipus Tyrannos, erstes Strophenpaar des ersten Stasimons v. 463-482. 23 Vgl. Aias, erstes Stasimon v. 596 ff. mit der Imagination von Salamis sowie Aiasʼ Eltern. 2.3 Imaginativ-visualisierende Reflexion 18 Anliegen eines imaginativ-visualisierenden Reflexionszugangs ist es dagegen, ein möglichst plastisches, figuratives Bild zu entwerfen. Der dem dramatischen Geschehen entnommene Gegenstand der Reflexion wird so in eine oder mehrere imaginative bzw. visualisierende Szenen umgesetzt, die entweder detailliert und umfassend ausgestaltet oder im Sinne eines Schlaglichts kurz angerissen sein können. Dabei kann ein bildlich ausgestaltetes Motiv für eine Passage program‐ matische Wirkung haben und verschiedene Szenen miteinander verbinden. 19 Es ist dabei von Zeit zu Zeit hilfreich, innerhalb dieses Reflexionsansatzes etwas weiter zu differenzieren: Unter Visualisierung soll das konkrete Sichtbar‐ machen eines der eigentlichen Handlung zugehörigen, den Rezipienten - d. h. dem Theaterpublikum - aber nicht erfahrbaren, weil hinterszenischen 20 oder zurückliegenden 21 Geschehens verstanden werden. Imagination meint dagegen die bildhafte Ausgestaltung eines der Handlung entsprungenen oder mit ihr in Zusammenhang stehenden Moments, das allerdings kein eigentliches zum engen Rahmen der Handlung gehörendes Geschehen darstellt. So kann bei‐ spielsweise eine der dramatischen Situation innewohnende Stimmung durch den Chor in einem Bild illustriert werden 22 oder aber die Imagination von Orten oder Personen außerhalb des Handlungsorts zur Kontrastierung mit dem ei‐ gentlichen Geschehen erfolgen. 23 IV. Chorische Reflexion - Reflexionsstrategien 56 <?page no="57"?> 24 Dieses basale Verständnis weiß sich dementsprechend einem aristotelischen Konzept verpflichtet. Die Interpretation der durch den imaginativ-visualisierenden Reflexionszugang geprägten Partien hat ihr Augenmerk demnach im Speziellen auf die Gestaltung der poetisch-bildhaften Details zu richten und den Einsatz besonders promi‐ nenter poetischer Mittel (v. a. die Personifikation bzw. Prosopopoiie, gegebe‐ nenfalls die Narrativik der Passage) zu untersuchen. Gerade der Einsatz von Adjektiven, die Verortung des aufgeworfenen Bildes in Zeit und Raum (in Re‐ lation zum eigentlichen Bühnengeschehen) und das je eigene Verhältnis ein‐ zelner Bildebenen sind bei der nachvollziehenden Interpretation von beson‐ derem Interesse. 3. Spektrum III: Dramaturgische Funktionalisierung 3.1 Begriffsklärung Dass den reflektierenden Chorpartien als Mittel zur Lenkung der Aufmerksam‐ keit des Zuschauers genuin dramaturgische Funktion zukommt, ist oben bereits angemerkt worden. Diese Arbeit verzichtet bewusst darauf, ein (theaterwissen‐ schaftlich-)theoretisch fundiertes, modernes Konzept von Dramaturgie zu ent‐ werfen. Was mit dem Begriff „Dramaturgie“ und der damit zusammenhän‐ genden dramaturgischen Funktionalisierung bzw. den dramaturgischen Implikationen verstanden werden soll, muss dennoch in aller Kürze umrissen werden. Dramaturgie meint im Rahmen dieser Arbeit die mit Blick auf die Lenkung der Aufmerksamkeit des Rezipienten vorgenommene Anordnung der einzelnen Formteile der Tragödie sowie ihre absichtsvolle Gestaltung im Einzelnen. 24 Ganz vom jeweils dargestellten Mythos, dem Plot der Tragödie ausgehend, fragen die unter dem Schlagwort „Dramaturgie“ subsumierten Ansätze daher sowohl nach der Struktur der Tragödie im Ganzen, der Komposition ihrer Teile sowie der damit einhergehenden bzw. durch sie konstituierten Dramatisierung der ei‐ gentlichen Handlung bzw. der mit ihr in Zusammenhang stehenden Phänomene und Momente. Entscheidende Untersuchungsgegenstände sind dabei unter anderem die Steuerung des dramatischen Tempos, d. h. der bewusste Wechsel von Partien, die die Handlung beschleunigen, und solchen, die den Fluss des Geschehens verlangsamen, sowie der Einsatz bestimmter Formelemente zur Strukturierung 3. Spektrum III: Dramaturgische Funktionalisierung 57 <?page no="58"?> des Dramas. Der besondere Fokus dieser Arbeit liegt dabei auf den Chorpartien sowie der chorischen Präsenz im Ganzen. Deren dramaturgischen Wert für das jeweilige Einzelstück herauszustellen sowie den Versuch einer Gesamtschau über die uns überlieferten Tragödien des Sophokles zu umreißen, ist eine Haupt‐ aufgabe der Untersuchung. Um den spezifischen dramaturgischen Wert einer untersuchten Chorpassage zu fassen, sollen dabei die durch ihre Gestaltung im Einzelnen sowie ihre Positionierung innerhalb des Stückganzen gegebenen dra‐ maturgischen Implikationen aufgespürt werden. Konkret wird daher gefragt werden, wie einzelne poetische bzw. reflektierende Momente und Gestaltungs‐ prinzipien dramaturgisch funktionalisiert werden. Im besten Fall lässt sich da‐ raufhin die dramaturgische Funktion einer ganzen Partie möglichst konzise an‐ geben. Wie bereits bei den Reflexionsstrategien muss auch hier eine grundlegende Einordnung und Kategorisierung vorgenommen werden, die als Leitfaden für die Interpretation der Einzelpassagen dienen kann. Der Fülle an Ansätzen zur Reflexion sowie ihrer konkreten Ausgestaltung in den jeweiligen Chorpassagen steht auch hier eine besonders vielgestaltige und je im Einzelfall zu betrachtende Fülle an dramaturgischen Implikationen gegenüber. Wieder scheint es dabei geraten, von einem breitgefächerten Spektrum auszugehen, das am besten er‐ neut über seine Ränder abgesteckt wird. Da, wie eben ausgeführt, unter Dramaturgie im Wesentlichen die der jewei‐ ligen Handlung angepasste, ihr entsprechende Komposition der einzelnen Formteile verstanden werden soll, spielt bei der Frage des Spektrums drama‐ turgischer Funktionalisierung das spezielle Verhältnis von chorischer Reflexion zu dramatischer Handlung eine entscheidende Rolle. Zwei Arten der Nutzbar‐ machung reflektierender Partien in Relation zur Handlung sollen dabei die Randpunkte des Spektrums bezeichnen. Wieder ist, wie oben, vorauszuschicken, dass diese beiden Punkte Extreme darstellen, die einzig den Rahmen umfassen, innerhalb dessen sich die konkreten, d. h. in den Stücken selbst zu erweisenden Funktionalisierungen und dramaturgischen Implikationen finden lassen. Inwie‐ weit eine Realisierung des einen oder anderen Funktionalisierungskonzepts in Reinform anzutreffen ist, wird die Einzelanalyse ad locum zu ergründen versu‐ chen. Entsprechendes gilt für das Verhältnis der beiden Funktionalisierungs‐ konzepte untereinander und den Übergang von einem zum anderen. Auch diese Entscheidung muss jeweils in der Untersuchung der Einzelstelle bzw. der vor‐ liegenden Tragödie erfolgen; eine Faustregel soll dabei erste Klarheit schaffen und den Blick auf die Problematik öffnen. IV. Chorische Reflexion - Reflexionsstrategien 58 <?page no="59"?> 25 Mit dem Begriff „Fokussierung“ glaube ich, dem bereits in „Reflexion“ innewohnenden optischen Bild zu entsprechen. Die analoge Bezeichnung „Streuung“ statt „Kontextua‐ lisierung“ trifft im Wesentlichen das Gemeinte, wird hier allerdings wegen der mögli‐ chen Konnotation „Ablenkung, Zerstreuung“ nicht systematisch verwendet. Der Be‐ griff „Kontextualisierung“ findet sich auch bei G O U L D (2001). „Myth, Memory and the Chorus: ‘Tragic Rationality’“, in: Myth, Ritual Memory, and Exchange: Essays in Greek Literatur and Culture, Oxford, S. 405-414, S. 408 (in dieser Arbeit zitiert S. 256, Anm. 310). 26 In Analogie zum vorhergehenden Abschnitt sind auch dieser Gegenüberstellung exemplarische Belegstellen aus dem zu behandelnden Textcorpus beigegeben; sie er‐ füllen die gleiche Funktion wie die Stellenangaben in Abschnitt IV, 2. 27 Im optischen Bild (vgl. Anm. 25) entspricht dem die Sammellinse. Im Bereich der möglichen Funktionalisierung chorischer Reflexion im Ver‐ hältnis zur Handlung sollen im Folgenden Fokussierung und Kontextualisie‐ rung 25 als Eckpunkte des Spektrums unterschieden werden. 26 Von der in diesem Spektrum verorteten dramaturgischen Funktionalisierung ist der jeweilige Re‐ zeptionsansatz - thematisch-begrifflich oder imaginativ-visualisierend - dabei zunächst unabhängig. Das heißt, dass theoretisch eine thematisch-begriffliche Reflexion sowohl im Sinne einer Fokussierung als auch einer Kontextualisie‐ rung funktionalisiert sein kann; Entsprechendes gilt für imaginativ-visualisie‐ rende Reflexionen. Es ist die Aufgabe der Gesamtschau am Ende dieser Arbeit, auf Basis der Einzelanalysen das Verhältnis dieser beiden Spektren zueinander näher zu bestimmen; für den Moment, d. h. die theoretische Erarbeitung der als Instrumentarium der Analyse verstandenen Begriffe, interessiert diese Relation noch nicht. 3.2 Fokussierung Eine chorische Reflexion kann dazu dienen, auf ein bestimmtes Moment der Handlung dezidiert hinzuweisen und so die Aufmerksamkeit des Rezipienten darauf zu bündeln. 27 Der Begriff „Moment“ ist dabei besonders weit gefasst: das Handeln eines Akteurs, die momentane oder generelle Situation eines Akteurs (gegebenenfalls des Chors selbst), eine Einwirkung von außen, der Ort des Ge‐ schehens, ein bestimmter Gegenstand, ein im Bühnengespräch aufgeworfenes Problem oder Thema - kurz: alles, was einen konkreten Bezug zur Handlung, zur Bühnensituation oder zum Bühnengespräch hat oder aus ihnen hervorgeht. Eine Fokussierung auf ein so geartetes Moment der Handlung verortet die chorische Reflexion und damit den Chor als ihren Sprecher dabei punktgenau im dramatischen Kontext; der konkrete Anknüpfungspunkt zwischen Chor‐ partie und Kontext ist in der Regel explizit bezeichnet: Stellt ein Akteur den 3. Spektrum III: Dramaturgische Funktionalisierung 59 <?page no="60"?> 28 Vgl. Oidipus auf Kolonos, drittes Stasimon v. 1239. 29 Vgl. Oidipus Tyrannos, erstes Stasimon v. 484. 30 Vgl. Aias, erstes, zweites und drittes Stasimon v. 609 f., 711, 717, 1213. 31 Vgl. Elektra zweites Stasimon v. 1084 ff. 32 Vgl. Elektra, erstes Stasimon v. 481. 33 Vgl. Antigone, drittes Stasimon v. 793. 34 Vgl. Trachinierinnen, zweites Stasimon v. 633 ff. 35 Vgl. Aias, drittes Stasimon v. 1185 ff. 36 Vgl. Trachinierinnen, zweites Stasimon v. 633. Fokus der chorischen Reflexion dar, so kann er durch ein Demonstrativum 28 oder eine andere Benennung 29 bezeichnet, namentlich genannt 30 oder auch angeredet werden. 31 Den Bezug auf ein konkretes, womöglich der direkt vorausgehenden Szene entsprungenes Vorkommnis oder einen Gegenstand leisten entweder die konkrete Bezeichnung 32 oder ein rückblickendes Demonstrativum. 33 Den eigentlichen Rahmen der Handlung und einiger mit ihr zusammenhän‐ gender Phänomene verlässt eine fokussierende Reflexion dabei kaum; allenfalls bündelt sie eine Situation exemplarisch in der Fokussierung auf ein spezielles Moment derselben und entwirft so ein Panorama der jeweiligen Verhältnisse, wie sie sich aus Sicht der Choreuten darstellen. Als Faustregel kann zunächst gelten: Solange dabei der unmittelbare Bezugsrahmen der der Handlung imma‐ nenten Gegebenheiten nicht verlassen wird, ist die Grenze zur Kontextualisie‐ rung noch nicht überschritten. Dramaturgisch gesehen entspringt eine fokussierende Reflexion nicht nur konkret dem Geschehen, sondern wirkt im Gegenzug auch in besonders direkter Weise auf dieses zurück. Sie kann gerade hinsichtlich des dramatischen Tempos sowohl zu einer Steigerung als auch zu einer Drosselung desselben beitragen: Die konkrete, auf ein (innerdramatisch) problematisches Moment der Handlung fokussierende Reflexion reizt dabei die Erwartung einer (Auf-) Lösung, ist also im Wesentlichen dynamisch, 34 wohingegen die auf einen erreichten Zustand fokussierende Reflexion eine eher statische Konstatierung und Bekräftigung darstellt 35 - die möglicherweise als Folie einer plötzlich hereinbrechenden Wen‐ dung dienen kann. 36 Wird diese Wendung durch den Rezipienten bereits anti‐ zipiert, so ist die entsprechende Chorpartie ein wesentlicher Bestandteil der In‐ szenierung dramatischer Ironie und damit klar dramaturgisch funktionalisiert. Die Analysen des Hauptteils werden zeigen, inwieweit darin ein geradezu stan‐ dardisierter Einsatz der chorischen Reflexion vorliegt. Die Interpretation der Chorpartien wird dementsprechend zu zeigen versuchen, inwieweit die Reflexion auf ein bestimmtes Moment der Handlung fokussiert, wie sich diese Fokussierung zum Rahmen der innerdramatischen Gegeben‐ IV. Chorische Reflexion - Reflexionsstrategien 60 <?page no="61"?> 37 In der Optik entspricht dies der Zerstreuungslinse. 38 Vgl. Antigone, Parodos v. 100 ff. 39 Vgl. Oidipus Tyrannos, zweites Stasimon v. 863. 40 Vgl. Antigone, erstes Stasimon v. 332 ff. 41 Vgl. Oidipus Tyrannos, viertes Stasimon v. 1186 ff. 42 Vgl. Elektra, Epode des ersten Stasimons und erstes Strophenpaar des zweiten Stasimons v. 504 bzw. 1058-1081. 43 Vgl. Antigone, viertes Stasimon v. 944 ff. heiten verhält und welche (gegebenenfalls standardisierten) dramaturgischen Implikationen sich gerade hinsichtlich des dramatischen Tempos daraus er‐ geben. 3.3 Kontextualisierung Eine kontextualisierende Reflexion bezieht sich ebenfalls auf ein bestimmtes Moment der Handlung (worunter der oben gegebenen Definition entsprechend auch die momentane Gesamtlage der am Geschehen beteiligten Akteure ver‐ standen werden kann); anstatt dieses allerdings fokussiert zu betrachten und hinsichtlich einiger ihm immanenter Facetten auszuleuchten, sucht diese Re‐ flexion vielmehr, es in einen größeren Rahmen einzuordnen, der den unmittel‐ baren Bezugsrahmen des dramatischen Geschehens übersteigt. 37 Dieses Kon‐ textualisieren eines Moments dient dabei dazu, eine weitere Deutungsebene einzublenden, vor der das dramatische Moment selbst bzw. auch die gesamte Handlung neu oder anders ausgedeutet werden können. Welche umfassenderen, den Rahmen des unmittelbaren dramatischen Ge‐ schehens übersteigende Kontexte kommen dabei in Frage? Eine reflektierende Partie kann das Geschehen bzw. einen Aspekt desselben in einen theologisch-re‐ ligiösen oder einen allgemeinphilosophisch-gnomischen Kontext einordnen und dabei entweder nur das Wirken (quasi-)göttlicher, 38 abstrakter 39 Mächte bzw. menschlicher Grundkonstanten 40 feststellen, oder - in einem noch umfas‐ senderen Sinne kontextualisierend - dem Geschehen als Konkretisierung einer allgemeinen Wahrheit geradezu exemplarischen Charakter zusprechen. 41 Ähn‐ liches gilt im Fall der Einordnung dramatischer Momente in den Zusammenhang der (Familien-)Geschichte 42 oder beim Aufweis mythischer Parallelen, 43 die eine Kontextualisierung des Bühnengeschehens ermöglichen bzw. andeuten. Ob dabei das dramatische Moment den Ausgangspunkt der Partie bildet oder die Reflexion erst konkretisierend auf das dramatische Moment zuläuft, bleibt im Wesentlichen der bewussten Komposition des Dichters überlassen, der damit je eigene dramaturgische Absichten verfolgt: Ein zu Beginn einer kontextuali‐ 3. Spektrum III: Dramaturgische Funktionalisierung 61 <?page no="62"?> 44 Vgl. Antigone, viertes Stasimon v. 944 ff. 45 Vgl. Antigone, erstes Stasimon v. 332 ff.; ähnlich Oidipus auf Kolonos, drittes Stasimon v. 1211 ff. sierenden Partie gesetzter Bezug zum dramatischen Kontext holt die Rezipienten geradezu in der Handlung ab und öffnet das Geschehen in Richtung einer wei‐ teren Deutungsebene, 44 womit - über die gesamte Partie gesehen - grundsätz‐ lich eine Entschleunigung des dramatischen Tempos gegeben sein wird. Da‐ gegen bewirkt die entgegengesetzte Struktur, d. h. die Nennung des Anknüpfungspunkts erst am Ende der kontextualisierenden Partie, über alles gesehen eine beschleunigende Rückführung in die dramatische Realität, nachdem sich der Beginn der Passage zunächst vom unmittelbaren Kontext ab‐ gehoben haben wird. 45 Näheres muss dabei die Einzelinterpretation ad locum zeigen; auch inwiefern eine der beiden Kompositionsformen für kontextuali‐ sierende (und andere) Chorpassagen typisch ist, wird sich erst nach Auswertung der Einzelergebnisse feststellen lassen. Die Interpretation solchermaßen kontextualisierender Passagen hat dement‐ sprechend im Besonderen den jeweiligen Anknüpfungspunkt zum dramati‐ schen Geschehen herauszustellen und den Rahmen zu umreißen, in den das Geschehen durch den Chor gestellt wird. Auf der Basis dieser durch die Refle‐ xion entworfenen Deutungsebene(n) müssen darüber hinaus die dramaturgi‐ schen Implikationen der entsprechenden Partie sowie ihre motivische Veran‐ kerung innerhalb des Dramenganzen untersucht werden. 4. Chorische Binnengliederung - dramaturgische Implikationen des Einzelstücks Von besonderer Bedeutung wird es bei der Interpretation der Einzeltragödien sein, den Beziehungen zwischen den Chorpartien selbst nachzugehen, d. h. zu fragen, ob gewisse Chorpartien einander ergänzen, aufeinander Bezug nehmen oder hinsichtlich ihrer Motivik, ihrer Reflexionsinhalte und -strategien bzw. der ihnen eigenen dramaturgischen Funktionalisierung miteinander korrelieren. Diese Bezugnahmen der Chorpartien untereinander sollen dabei unter dem Stichwort „chorische Binnengliederung“ zusammengefasst werden. Von besonderer dramaturgischer Bedeutung ist dabei das strukturierende Potential, das einer so gearteten chorischen Binnengliederung zukommt: Jen‐ seits der rein formalen Gliederung, die die regelmäßige Einschaltung lyrischer Partien mit sich bringt, ist dem Dichter mit den Chorpartien so ein besonders wirksames Mittel gegeben, seine Tragödie auch motivisch-thematisch zu glie‐ IV. Chorische Reflexion - Reflexionsstrategien 62 <?page no="63"?> 46 So der Begriff bei L A T A C Z (2003) S. 170 et passim. 47 Das sich daran anschließende Satyrspiel stand dabei entweder inhaltlich oder hinsicht‐ lich des dramatischen Personals in Beziehung zu den Tragödien und bildete so den Abschluss der in sich geschlossenen Tetralogie. Zum Satyrspiel vgl. L ÄM M L E (2011). „Das Satyrspiel.“ in: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit, hrsg. v. Z I M‐ M E R M A N N (2011), München, S. 611-663. 48 Dass Sophokles auch mindestens eine Inhaltstetralogie geschrieben hat, führt u. a. L A‐ T A C Z (2003) S. 170 ff. am Beispiel der Telepheia aus; vgl. auch L E S K Y (1972). Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen, S. 260. 49 Vgl. zur aischyleischen Tetralogie G A N T Z (1980). „The Aeschylean Tetralogy: Attested and conjectured groups.“ in: AJP 101, 2 (1980) S. 133-164. 50 Vgl. E W A N S (2014). „Sophocles: Dramatic Innovations.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R O I S M A N (2014), Malden (MA), S. 1276-1278, S. 1276: „He [So‐ phokles] also made single, unrelated plays the norm in his offering of three tragedies and a satyr play at each festival“. Als Erklärung dieser Entwicklung hat W E B S T E R (1965). „The order of tragedies at the Great Dionysia.“ in: Hermathena 21 (1965), S. 21-28 eine Veränderung des Aufführungsmodus im tragischen Agon der Großen Dionysien vor‐ geschlagen (vgl. L E S K Y a. a. O. sowie Z I M M E R M A N N (2002). „Tetralogie.“ in: DNP Band 12 / 1, Sp. 195): Demnach wären ab 450 / 49 nicht mehr die drei zusammenhän‐ genden Tragödien eines Dichters hintereinander, sondern pro Tag nur noch eine Tra‐ gödie jedes Dichters aufgeführt worden; später hätte man diese Regelung allerdings wieder zu Gunsten einer durchgängigen Aufführung der jeweiligen Trilogie fallen ge‐ lassen. Wie auch L E S K Y bemerkt, ist gerade der letzte Punkt „nicht erweisbar“ (a. a. O.). dern bzw. zu runden. Um die Bedeutung zu ermessen, die dem strukturellen Potential chorischer Binnengliederung im Fall unseres Autors zukommt, muss ein besonderer Umstand des uns vorliegenden Werks ins Gedächtnis gerufen werden. Die uns vollständig überlieferten Tragödien des Sophokles waren nicht Be‐ standteile von Inhaltstetralogien, 46 bei denen zumindest die drei zum Wettbe‐ werb eingereichten Tragödien (tragische Trilogie) als eine Folge von Fortset‐ zungsstücken abschnittsweise und chronologisch aufeinander aufbauend einen Mythos auf die Bühne brachten. 47 Mit aller gebotenen Vorsicht lässt sich auf Grund der Quellenlage behaupten, dass gerade Sophokles ab einem gewissen Zeitpunkt 48 die Abkehr vom (aischyleisch geprägten) Kompositionsschema der Inhaltstetralogie 49 hin zur Komposition von drei (Tragödien) bzw. vier thema‐ tisch in sich geschlossenen Stücken propagiert hat. 50 Die so zu einer Tetralogie zusammengefassten Stücke waren, wenn überhaupt, nur noch thematisch-mo‐ 4. Chorische Binnengliederung - dramaturgische Implikationen des Einzelstücks 63 <?page no="64"?> 51 Die Bemerkung der Suda, Sophokles habe als Erster das στρατολογεῖσθαι durch das δρᾶμα πρὸς δρᾶμα ἀγωνίζεσθαι ersetzt (A D L E R (1971). Suidae Lexicon IV, Stuttgart, S. 402), ist verschiedentlich dahingehend gedeutet worden, als habe er die Abkehr von der Inhaltstetralogie initiiert (so z. B. L A T A C Z (2003) S. 170). Diese Zuschreibung ist al‐ lerdings unhaltbar. Zum einen ist die Bedeutung des Infinitivs στρατολογεῖσθαι strittig, zum anderen waren bereits die Perser des Aischylos (und damit das älteste uns ganz überlieferte Drama) mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht Bestandteil einer Inhaltstet‐ ralogie, sondern bildeten ein Einzelstück innerhalb einer (vermutlich) thematisch ge‐ schlossenen Trilogie bzw. Tetralogie (vgl. R O S E N B L O O M (2006). Aeschylus: Persians, London, S. 15: „As it stands, the Persians is both the sole surviving historical tragedy and the only self-contained tragedy in Aeschylusʼ extant oeuvre“; sowie G A R V I E (2009) S. Xl ff.; zur in Rede stehenden Trilogie vgl. zudem F ÖL L I N G E R (2003) S. 237 ff., die aus‐ gehend von der „Unmöglichkeit, einen gemeinsamen Handlungsstrang für die Stücke der Trilogie oder sogar Tetralogie auszumachen“ (S. 239) mit aller Vorsicht schließt: „Als thematische Gemeinsamkeit ergäbe sich also die Hybris, die von dem unvorsichtigen und pietätlosen Umgang mit außergewöhnlichen Mitteln herrührt“ S. 241). Auf Basis der in Anm. 50 erwähnten These von W E B S T E R (1965) erwägt bereits L E S K Y (1972) die Umdeutung der Suda-Bemerkung: „Das bekannte δρᾶμα πρὸς δρᾶμα ἀγωνίζεσθαι (Wettbewerb von Stück gegen Stück) der Suda bekäme so einen besonderen Sinn“ (a. a. O.): In diesem Fall würde die Suda Sophokles nicht die Veränderung gewisser Kompositionsprinzipien, sondern die Umstrukturierung des tragischen Agons in seinem Ablauf zuschreiben. Inwieweit Sophokles auf den Ablauf des Agons Einfluss hatte oder die Suda schlicht eine Fehlinformation bietet, ist allerdings nicht zu klären. Auf keinen Fall aber hält eine starre Gleichsetzung „Aischylos: Inhaltstetralogien“, „So‐ phokles: Einzelstücke“ der genaueren Überprüfung der komplexen (und uns nur zum Teil bekannten) Gegebenheiten stand. Besonders vorsichtig, aber der Sache ange‐ messen, bemerkt D U G D A L E (2014). „Features of Greek Tragedy.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy I, hrsg. v. R O I S M A N (2014), Malden (MA), S. 507-513, S. 507: „Aeschylus favored tetralogies, while Sophocles and Euripides seem to have preferred putting on four unrelated plays“. 52 In der Poetik herrscht bereits die Betrachtung des Einzeldramas vor. Dass Aristoteles damit ein zentrales Moment der historischen Tragödien, ihrer Entwicklung und insti‐ tutionellen Verankerung außer Acht lässt, erklärt sich teils aus dem zeitlichen Abstand, der ihn von der Blütezeit des attischen Theaterwesens (und des attischen Polis-Systems) trennt, teils aus seiner grundsätzlichen Intention. Entsprechend fehlt in seiner theore‐ tischen Darstellung von Tragik und tragischer Schuld jedes theologisch-religiöse Mo‐ ment, was dem in vielen Tragödien selbst thematisierten Diskurs nicht gerecht wird. tivisch miteinander verknüpft. 51 Eine Rekonstruktion der so gearteten sopho‐ kleischen Tetralogien ist allerdings bereits auf Grund der mangelnden Zeugnisse sehr schwierig: Bei vielen Stücken ist schlicht nicht bekannt, mit welchen an‐ deren Dramen sie in einer Tetralogie zusammengefasst waren. Dass von einem Großteil der Tragödien einzig die Titel bekannt sind, erschwert eine Gesamt‐ schau zudem. Beginnend mit Aristoteles 52 scheint darüber hinaus auch die Tra‐ gödienphilologie der späteren Zeit kein besonderes Gewicht mehr auf die Tri‐ logienbzw. Tetralogienkomposition gelegt zu haben (vgl. die uns vorliegende IV. Chorische Reflexion - Reflexionsstrategien 64 <?page no="65"?> 53 Zu bedenken bleibt weiterhin, dass uns zwar mit der Orestie des Aischylos eine tragische Trilogie erhalten geblieben, das zugehörige Satyrspiel allerdings verloren ist. Selbst von Aischylos, als dessen „Charakteristikum“ die Inhaltstetralogie gilt, besitzen wir dem‐ nach keine einzige vollständige Folge vier zusammenhängender Stücke. 54 Vgl. erstes und drittes Standlied des Aias. 55 Vgl. besonders Oidipus auf Kolonos und Elektra. Auswahl von sieben Einzelstücken sowie der darin enthaltenen byzantinischen Trias zu Schulzwecken). Auch wenn uns so in Sophoklesʼ Fall die Vergleichsmöglichkeiten genommen sind, 53 lässt sich schließen, dass sich die Komposition einer in den Verbund einer Inhaltstetralogie eingebundenen Tragödie von der eines als Einzelstück kom‐ ponierten Dramas unterschieden haben muss: Die Anordnung der einzelnen Formteile, Szenen und Auftritte, die Phasierung des Stücks und demgemäß die poetisch-motivische Arbeit im Einzelnen dienen dem Aufbau eines auf die Dauer eines Stücks bemessenen Spannungsbogens. Dass in diesem Zusammenhang gerade die Gestaltung der Chorpassagen und ihre dramaturgische Funktionali‐ sierung auch diesem Zweck dienen, ist folgerichtig. Konkret gesagt: Die formale Geschlossenheit, gar die durch offensichtliche Bezüge und Spiegelungen inhalt‐ licher 54 oder formaler 55 Natur erzeugte Rundung einer der uns überlieferten Tragödien festzustellen, ist vor dem Hintergrund dieser Überlegungen alles an‐ dere als banal. 4. Chorische Binnengliederung - dramaturgische Implikationen des Einzelstücks 65 <?page no="66"?> 1 So bereits H O S E (1990) I S. 13 zu Euripides. 2 S P I R A (1960). Untersuchungen zum Deus ex machina bei Sophokles und Euripides, Kallmünz / Opf. S. 12. V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit - praeliminaria 1. Zielsetzung und wesentliche Charakteristika dieser Untersuchung Die vorliegende Arbeit setzt es sich zur Aufgabe, die „chorische Technik“ 1 des Sophokles eingehend zu beleuchten. Zu diesem Zweck soll auf der Basis einer detaillierten Interpretation der einzelnen Chorpassagen innerhalb der Tragö‐ dien ein möglichst umfassendes Bild des Formteils „Chor“ bei Sophokles ge‐ geben werden. Im Vordergrund steht dabei zunächst das vertiefte Verständnis der entsprechenden Partie bzw. der in Rede stehenden Tragödie auf Basis des in dieser Einleitung entwickelten Instrumentariums. Ausgehend von den so erar‐ beiteten Einzelergebnissen soll ein schrittweiser Überblick über größere Ein‐ heiten (Lied / Chorpartie - Einzelstück - Gruppe - Gesamtwerk) generelle Er‐ kenntnisse zur chorischen Technik bzw. zur Chorführung herausarbeiten. Im Besonderen wird dabei zu fragen sein, ob, und wenn ja, was für ein Zu‐ sammenhang zwischen den drei in der Einleitung eröffneten Spektren (Person / Rollenidentität, Reflexionsstrategie, dramaturgische Funktionalisie‐ rung) besteht, d. h. ob sich feste Zuordnungen ausmachen lassen und was damit für die Betrachtung der Tragödien im Ganzen gewonnen ist. So ist die vorliegende Arbeit sowohl hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Auffas‐ sung der Tragödie als auch mit Blick auf ihre Zielsetzung und den zu unter‐ suchenden Gegenstand im Ganzen S P I RA s wohlbegründeter Ansicht ver‐ pflichtet: Daß Handlung und Charaktere, in anderen Worten, dramatische Technik und Psy‐ chologie, untrennbar voneinander der Gesamtkonzeption des Dramas dienen, ist un‐ sere feste Auffassung. 2 Bereits in ihrer Konzeption, das Phänomen Chor im Rahmen der drei oben ent‐ worfenen Spektren zu untersuchen (und damit das Gegeneinander einer - ver‐ meintlich aristotelischen - reinen dramatis persona-Auffassung, einer aus‐ <?page no="67"?> 3 S P I R A (1960). „Das entspricht dem mittleren Weg, den die Forschung betreten konnte, nachdem Tycho von Wilamowitz die Fessel einer zu engen psychologischen Betrach‐ tungsweise einmal gesprengt und (wenn auch nun seinerseits etwas extrem) die Be‐ deutung der dramatischen Technik in das Blickfeld gerückt hatte.“ a. a. O. 4 S P I R A (1960), a. a. O. 5 G R U B E R (2009) S. 27. schließlich dramentechnischen Betrachtung sowie einer einzig an rituell-performativen Aspekten oder den theologisch-geistesgeschichtlichen In‐ halten der Chorlieder interessierten Beschäftigung zu überwinden), weiß sich diese Untersuchung auf der von S P I RA innerhalb der Forschung ausgemachten und beschrittenen via media zwischen den Extremen. 3 Wenn sich der Fokus der Interpretationen dabei auch von Zeit zu Zeit auf Einzelaspekte (wie beispiels‐ weise die Einbindung der chorischen Person in das Personenspektrum der Tra‐ gödie oder die strukturelle Verankerung gewisser Lieder) konzentriert, so wird doch an dieser für das Selbstverständnis der Arbeit konstitutiven Ausrichtung festgehalten. Dass dabei das besondere Augenmerk eher auf die formalen As‐ pekte der einzelnen Tragödien sowie des Dramas überhaupt gerichtet ist, ver‐ steht sich vor diesem Hintergrund nicht als Abweichung von der angespro‐ chenen via media, sondern als besonders geeignetes Instrument, den Untersuchungsgegenstand adäquat auszudeuten; „denn in der dramatischen Form erscheint ja alles, was interpretiert und nach dessen Sinngebung gefragt werden kann“. 4 Die vorliegende Arbeit ist diesen Überlegungen und Verortungen entspre‐ chend im Wesentlichen deskriptiv und werkimmanent ausgerichtet. Sie wird dabei im Besonderen den bereits angedeuteten strukturellen, d. h. im besten Sinne dramaturgischen Effekten der einzelnen Lieder nachgehen. In ihrer grundlegenden Intention weiß sie sich dabei in besonderer Nähe zu G R U B E R : Sie sucht in ihrer Frage nach der Dramaturgie des Einzeldramas zu ergründen, welche Bedeutung das jeweilige Chorlied bzw. die Gesamtheit der chorischen Passagen eines Dramas für die Komposition des Stücks besitzt; sie fragt daher mittelbar auch, „auf welche Weise der Chor im Ablauf einer Tragödie die Re‐ zeptionshaltung des Zuschauers prägt“. 5 Der Rezeptionsästhetik G R U B E R S setzt sie allerdings den fokussierten Blick auf das Wechselspiel der Formteile der 1. Zielsetzung und wesentliche Charakteristika dieser Untersuchung 67 <?page no="68"?> 6 Wie bereits dargelegt, entzieht sich der eigentliche Produktionsprozess der Tragödien, d. h. das konkrete Vorgehen des Dichters in der Komposition des einzelnen Dramas, unserer Kenntnis. Der Begriff „Produktionsästhetik“ wäre daher im strengen Sinne un‐ haltbar. Da hier nun die Stücke bzw. der Text der Stücke den alleinigen Ausgangspunkt der Interpretation bildet, bietet es sich an, von einem „werkästhetischen“ Zugang zu sprechen. 7 Vergleichbar ist bereits G A R D I N E R (1987) mit ihren Kategorien „Men at War“, „Men at Home“, „Women“. Tragödie entgegen und weiß sich damit einer eher produktionsbzw. werkäs‐ thetischen 6 Position verpflichtet. Das Ziel der Arbeit, das Verständnis des jeweiligen Einzelstücks als einer dra‐ matischen Komposition zu fördern, rückt sie von Zeit zu Zeit in die Nähe einer geradezu kommentierenden Auseinandersetzung und macht gegebenenfalls die deutende Wiedergabe längerer Textpartien nötig. 2. Aufbau der Arbeit, methodische Entscheidungen und Vorgehen im Einzelnen Der Aufbau der vorliegenden Arbeit ergibt sich aus der oben umrissenen Ziel‐ setzung: Die Gestaltung und Anordnung ihrer Teile versucht dabei, das oben erwähnte schrittweise Überblicken der dem Gegenstand eigenen Abschnitte zu spiegeln. Den Hauptteil der Arbeit (B) bilden dementsprechend die Einzelinterpretati‐ onen der sieben uns vorliegenden Tragödien des Sophokles (samt den Gesamt‐ schauen der einzelnen Großabschnitte). Wie oben bereits bemerkt, sind diese Einzelinterpretationen nach den Rollenidentitäten der jeweiligen Chöre kate‐ gorisiert: 7 So kommen zunächst die Tragödien mit Chören wehrfähiger Männer in den Blick, daraufhin die mit Frauen-, schließlich die mit Greisenchören. So‐ wohl die Anordnung dieser Großabschnitte selbst als auch die Reihenfolge der ihnen zugehörigen Einzeltragödien unterliegt dabei inhaltlich-formalen Ge‐ V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit - praeliminaria 68 <?page no="69"?> 8 Zur auf den ersten Blick ungewöhnlichen Anordnung des späteren Philoktet vor dem früheren Aias vgl. die Gesamtschau des entsprechenden Abschnitts (B, I, 3.) sowie die Synthese (C, 3.). Dass dabei die ohnehin unsichere Chronologie der Stücke für die vor‐ liegende Studie allenfalls eine untergeordnete Bedeutung besitzt, entfaltet zudem der entsprechende Abschnitt der Einleitung (V, 3.1). Die Anordnung der drei Stücke mit Greisenchören (Oidipus Tyrannos, Oidipus auf Kolonos, Antigone) ermöglicht zum einen den linearen Nachvollzug der in ihnen dargestellten mythischen Episoden. Dass die drei Stücke dabei nicht als aufeinander folgende Teile einer tragischen Trilogie komponiert wurden und zu unterschiedlichen Zeit entstanden sind, bleibt davon völlig unberührt. Zum anderen entspricht gerade die Schlussstellung der Antigone denselben inhaltlichen Gesichtspunkten, die die Positionierung des Philoktet am Beginn der Untersuchung rechtfertigen. Vgl. auch dazu die angegebenen Abschnitte dieser Arbeit. 9 Ich folge damit F ÖL L I N G E R (2003), die den Einzelbetrachtungen der Aischylos-Tragödien ebenfalls kurze Inhaltsübersichten voranstellt. sichtspunkten, die die Interpretation selbst ergeben und die entsprechenden re‐ sümierenden Partien sozusagen im Rückblick erläutern werden. 8 Die den sieben Dramen gewidmeten Abschnitte sind dabei ganz parallel auf‐ gebaut: Der Interpretation der einzelnen Partien geht jeweils unter der Über‐ schrift „Vorbemerkungen“ eine kurze Angabe des Inhalts der Tragödie sowie ein Überblick zum Personal und entscheidenden strukturellen Momenten voran. 9 Eine Zusammenfassung wird im Anschluss an die Analyse die entscheidenden Punkte der Einzelinterpretation der Chorpartien prägnant zu wiederholen su‐ chen. Sie wird dazu das gesamte Drama in den Blick nehmen, eine Übersicht der Chorlieder geben und den Blick auf größere Formaleinheiten innerhalb des Stü‐ ckes weiten. Im Besonderen wird dabei gemäß den in der Einleitung eröffneten Kategorien nach dem Verhältnis des Chors zur jeweiligen Bezugsperson, nach den Reflexionsstrategien, der dramaturgischen Funktionalisierung der Chor‐ partien sowie nach ihrer Binnengliederung und damit gegebenenfalls ihrer strukturierenden Funktion zu fragen sein. Eine vergleichende Gegenüberstellung der hinsichtlich der Rollenidentität des Chors zusammengehörigen Tragödien bieten die sog. Gesamtschauen am Ende der jeweiligen Großabschnitte. Sie dienen dazu, Parallelen und Unter‐ schiede der Chorführung der entsprechenden Dramen aufzuzeigen, und orien‐ tieren sich dabei gezielt an den in der Einleitung beschriebenen Spektren. Dabei verstehen sie sich jeweils als Zwischen-Fazit, das auf Basis der Einzelinterpre‐ tationen entscheidende Punkte herausstellt und den Blick weitet. Der mit „Synthese und Ausblick“ überschriebene Abschnitt C stellt den ab‐ schließenden Versuch dar, die in den Einzelinterpretationen herausgearbeiteten und in den Gesamtschauen abschnittsweise miteinander verglichenen Ergeb‐ nisse zu einem Gesamtbild zusammenzuführen. Dabei sollen zunächst einige allgemeine Gesichtspunkte der sophokleischen Chorführung beleuchtet 2. Aufbau der Arbeit, methodische Entscheidungen und Vorgehen im Einzelnen 69 <?page no="70"?> 10 Einen anderen, systematischen Ansatz verfolgt dagegen H O S E (1990 / 1), der die ein‐ zelnen Tragödien des Euripides nicht Stück für Stück durchgeht, sondern die Chorlieder nach bestimmten (dramaturgischen) Kategorien sortiert und sie dann im Einzelnen ausdeutet. werden, bevor sich je ein Unterabschnitt mit dem Verhältnis der drei in der Einleitung entworfenen Spektren sowie einigen sich daraus ergebenden Folge‐ rungen mit Blick auf das Gesamtwerk auseinandersetzt. Ein kurzer Ausblick wird versuchen, mögliche Nutzbarmachungen der hier vorgelegten Analysen und Ergebnisse zu umreißen. Einige methodische Entscheidungen haben dabei besonderen Einfluss auf die Gestaltung der Interpretationen im Einzelnen; sie sollen daher hier kurz ausge‐ führt werden. Die zu untersuchenden, zumeist lyrischen Partien des Chors sind bereits sprachlich und inhaltlich so komplex, dass mit Blick auf die Zielsetzung dieser Arbeit mit einem reinen Überblick oder einer kurzen Inhaltsangabe nicht be‐ sonders viel gewonnen wäre. Da die Analyse im Einzelfall zeigen will, welche Bedeutung gerade der sprachlich-poetischen Komposition der einzelnen Chor‐ partien (d. h. dem Gedankenfortschritt, der Verknüpfung einzelner Bilder, Ge‐ danken oder Motive) sowohl mit Blick auf die Verortung des Liedes im Ablauf der Handlung als auch seiner dramaturgischen Funktionalisierung zukommt, ist es unausweichlich, den entsprechenden Partien größtenteils in einer engen, textnahen Interpretation zu folgen. Gerade die dramaturgischen Zusammenhänge und Strukturen der Chorlieder einer Tragödie können dabei meines Erachtens nur sinnvoll untersucht werden, wenn die Lieder (und die für die Dramaturgie bedeutsamen Aussagen des Chors innerhalb der Sprechteile des Dramas) zunächst für sich und im Zusammenhang mit dem Handlungsverlauf betrachtet werden. 10 Erst auf Basis eines so gearteten textnahen Nachvollzugs sowie einer teilweise kleinteiligen Betrachtung können die einzelnen Aspekte der Chorführung eines Dramas bzw. einer Gruppe von Dramen beleuchtet werden. Die vom Dichter festgelegte Reihenfolge der Gedanken und Reflexionen, d. h. das konkrete Nacheinander der einzelnen Sätze, Strophen und Abschnitte ist dabei konstitutiv; fragt man so nach der konkreten Einbettung des Liedes im Zusammenhang des Dramas, ist ein Nachvollzug der zu untersuchenden Partie in der Reihenfolge der Rezeption und somit ein (zumindest erster) Durchgang durch den vorliegenden Text notwendig. Da ferner gerade die Verortung der jeweiligen Lieder im Kontext des Stückes, d. h. im Besonderen der motivisch-thematische Konnex zwischen Sprechpartien V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit - praeliminaria 70 <?page no="71"?> 11 Die vorliegende Arbeit folgt methodisch so B U R T O N (1980) sowie G R U B E R (2009), der ebenfalls zum Schluss kommt: „Insofern rechtfertigt es sich, die Tragödie so zu unter‐ suchen, wie sie der Zuschauer präsentiert bekommt, also in ihrem linearen Ablauf “ S. 101. 12 Ausführliche metrische Analysen finden sich in der vorliegenden Arbeit allerdings nicht. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die entsprechenden Kommentare (besonders neueren Datums), die sich ad locum der Metrik der Chorpartien widmen. und lyrischen Abschnitten, zu erfragen ist, müssen auch gewisse nicht-chori‐ sche Passagen einer genaueren Untersuchung unterzogen werden (im Beson‐ deren freilich die Prologe, denen als Startpunkt der Tragödien herausgehobene Bedeutung gerade auch hinsichtlich ihrer Beziehung zur Parodos zukommt). Die entsprechenden Passagen dieser Arbeit sind dabei nicht als Digression zu ver‐ stehen, sondern wollen in besonders fokussierter Weise die Ausdeutung des folgenden (oder vorangehenden) Chorliedes ermöglichen. Kurz gesagt: Die Einzelinterpretationen folgen so dem Verlauf des jeweiligen Stücks sowie den einzelnen Partien im Wesentlichen linear; einzelne Vor- oder Rückblenden ergeben sich dabei aus der Sache selbst: So ist es beispielsweise bei der Einordnung einer gewissen Passage in den übergeordneten Kontext des Dramas notwendig, das Verhältnis des in Rede stehenden Abschnitts zu voran‐ gegangenen oder kommenden Partien zu beleuchten. Am grundlegenden Cha‐ rakter der Einzelanalyse als eines Durchgangs durch die entsprechende Tra‐ gödie ändert dies allerdings nichts. 11 Trotz der formalen und thematischen Vielfalt der zu betrachtenden Chor‐ lieder sowie der jeweils unterschiedlichen Einbindung in den Zusammenhang des Dramas ist es geraten, die Interpretation der chorischen Passagen einem groben Schema folgen zu lassen: So geht der eigentlichen Interpretation eine Hinführung zur Partie voraus, die die vorhergehende Sprechszene rekapituliert. Es folgt in der Regel ein rascher formaler Überblick über die eigentliche chori‐ sche Partie, wobei neben der Angabe des grundlegenden Themas besonders die Ausdehnung, die metrisch-strophische Gliederung, 12 die (intendierte) Ge‐ sprächssituation und etwaige gattungseigene Merkmale im Vordergrund stehen. Daran schließt sich ein detaillierter Nachvollzug der Partie an, der im Beson‐ deren die Gedankenbewegung, die motivische Arbeit und die sprachliche Aus‐ gestaltung beleuchten wird. Es wird dabei nötig sein, gewisse Abschnitte sehr textnah zu paraphrasieren, andere - v. a. kommatische Partien - können hin‐ gegen kursorisch abgehandelt werden. Dem differenzierten und deskriptiven Nachvollzug der Einzelheiten folgt in der Regel ein zusammenfassender Über‐ blick, der versucht, zum einen die dramaturgischen Implikationen der Partie 2. Aufbau der Arbeit, methodische Entscheidungen und Vorgehen im Einzelnen 71 <?page no="72"?> 13 Eine Beschäftigung mit dem Chor der Satyrspiele bedürfte darüber hinaus einer eigenen theoretischen Erörterung gattungsspezifischer Besonderheiten (v. a. die „permanente Identität des Chors“ (L ÄM M L E (2011) S. 612), d. h. seine über alle Stücke hinweg kon‐ stante Rolle) sowie ihrer Verortung im Verhältnis zu den anderen dramatischen Gat‐ tungen. Die Überlieferungssituation sowie die ernüchternde Kenntnis der Gattung und der ihr eigenen Gesetze und Formen lässt dies allerdings nur in begrenztem Umfang zu. 14 Darüber hinaus bleiben angesichts der ernüchternden Quellenlage viele konkrete Ein‐ zelfragen sowohl zur Entstehung und Einstudierung der einzelnen Dramen (konkret: „Wie hat man sich den Kompositionsprozess einer Tragödie vorzustellen? “, „Wie liefen die Proben mit Schauspielern, Musikern und dem Chor ab? “) als auch zu den Rezi‐ pienten selbst („Wie war das Publikum zusammengesetzt? “, „Welche Vorkenntnisse in‐ haltlicher oder formaler Natur hatte das Publikum? “) offen. herauszustellen, zum anderen ihre Relation zu den anderen lyrischen Partien des Dramas zu beleuchten. Angesichts des Ziels sowie des angedeuteten Vorgehens dieser Arbeit ist er‐ sichtlich, warum in diesem Rahmen weder eine Behandlung der Tragödienfrag‐ mente noch der Satyrspiele unseres Autors geleistet werden kann: Die unzu‐ reichende Überlieferung macht es unmöglich, dem Fortgang der jeweiligen Dramen zu folgen oder gar einzelne Partien genauer zu analysieren, um auf dieser Basis valide Erkenntnisse zur Dramaturgie der Einzelstücke zu ge‐ winnen. 13 Die Arbeit will und kann trotz ihres Umfangs und der Behandlung aller sieben überlieferten Stücke zudem keine umfassende Gesamtinterpretation der Tragö‐ dien liefern. Dass im hier gewählten formalen Zugang zu den Tragödien eine Reihe von Aspekten unbearbeitet bleibt, dass womöglich mit der Betonung der kompositorischen Prinzipien ein einseitiges Bild der dramatischen Werke ge‐ zeichnet wird und die vorgelegte Studie den Dramen nicht in Gänze gerecht werden kann, ist mir bewusst. Grundsätzlich bleibt dabei allerdings zu bedenken: Weder darf der unzurei‐ chende Überlieferungsstand der Werke unseres Autors auf der einen noch die Unkenntnis über die konkrete Musik, den Tanz und sonstige mit der Auffüh‐ rungspraxis unmittelbar verbundenen Phänomene auf der anderen Seite außer Acht gelassen werden. Gerade die Beschäftigung mit dem Chor innerhalb der Tragödie hat so einige Leerstellen anzuerkennen, die eine umfassende Würdi‐ gung des sophokleischen Werks gerade hinsichtlich seiner Wirkung auf das Publikum ohnehin weitestgehend unmöglich machen. 14 Auch die verdienstvolle Auseinandersetzung mit den historischen Umständen der Gattung Tragödie und ihrer soziokulturellen Verankerung innerhalb der Polis Athen darf dabei nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass selbst ein rezeptionsästhetischer An‐ satz zum Verständnis der Einzelstücke mit dieser generellen Unkenntnis umzu‐ V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit - praeliminaria 72 <?page no="73"?> 15 G R U B E R (2009) S. 24 f., der einen dezidiert rezeptionsästhetischen Ansatz verfolgt, betont daher zu Recht mehrmals, nicht den tatsächlichen Rezipienten der (aischyleischen) Tragödie, d. h. den zuschauenden Athener im Theater des fünften Jahrhunderts, son‐ dern den dem Text immanenten, sogenannten impliziten Rezipienten im Blick zu haben. 16 Besonders schwierig gestaltet es sich dementsprechend, das zeitliche Verhältnis der Tragödien unseres Autors zu Werken anderer Dichter zu bestimmen und gegenseitige Abhängigkeitsverhältnisse oder Einflüsse zu konstatieren. Notorisch umstritten ist dabei das Verhältnis der sophokleischen zur euripideischen Elektra; vgl. u. a. V Ö G L E R (1967). Vergleichende Studien zur sophokleischen und euripideischen Elektra (Diss.), Heidelberg. 17 Gerade dieses Beispiel lehrt, dass selbst mit der Datierung der Aufführung eben nur der Zeitpunkt der Produktion gewonnen ist, wohingegen über die eigentliche Entstehungs‐ zeit des Dramas damit noch kein Urteil gefällt ist. gehen hat. 15 Gerade die von neueren Tendenzen mit einiger Entschiedenheit ins Feld geführte Rekontextualisierung der attischen Tragödie scheint allzu oft die Leerstellen innerhalb der Überlieferung sowie unsere Unkenntnis aus dem Blick zu verlieren; dass gerade eine zielgerichtete Fokussierung auf die inneren Struk‐ turen der Tragödien und ihre Kompositionsprinzipien das Verständnis fördern kann, will dagegen die vorliegende Arbeit zeigen. Die diese Arbeit im Wesent‐ lichen prägende Konzentration auf den Text der sophokleischen Tragödien ver‐ steht sich so nicht als andere Aspekte ausblendende Reduktion, sondern ist sich ihrer Beschränkung durchaus bewusst. Gemäß ihrem Ziel, zunächst das Ver‐ ständnis der Einzeltragödien zu fördern, schließlich ein Gesamtbild des sopho‐ kleischen Chorgebrauchs zu zeichnen, sieht sie allerdings in der Beschäftigung mit dem Tragödientext den angesichts der Überlieferungslage einzig gangbaren Weg. 3. praeliminaria 3.1 Datierung und Chronologie Sowohl die relative wie auch die absolute Datierung der sieben uns erhaltenen Tragödien des Sophokles ist besonders umstritten. 16 Der Mangel an äußeren Zeugnissen hat zur Folge, dass sich einzig die Aufführungen zweier Tragödien durch äußere Indizien sicher datieren lassen: Philoktet im Jahr 409, Oidipus auf Kolonos posthum im Jahr 401. 17 Die Datierungsversuche der anderen fünf Stücke 3. praeliminaria 73 <?page no="74"?> 18 Vgl. vor allem die Trachinierinnen, deren Produktion von 457 bis in die 430er Jahre angesetzt wird (vgl. L E V E T T (2014). „Sophocles: Women of Trachis (Τραχίνια).“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R O I S M A N (2014), Malden (MA), S. 1323-1328, S. 1323), sowie der Aias, der entweder als besonders frühes Werk in die 450er Jahre, oder als recht spätes Werk in die Zeit zwischen 435-425 datiert wird (vgl. R O S E N B L O O M (2014). „Sophocles: Ajax (Αἴας).“ in: The Encyclopedia of Greek Tra‐ gedy III, hrsg. v. R O I S M A N (2014), Malden (MA), S. 1255-1264, S. 1256 f.). Weiteres zu den Datierungen der einzelnen Stücke ad locum. 19 Z I M M E R M A N N (2011) S. 575. 20 Vgl. im Besonderen B O W R A (1967): „Sophokles über seine eigene Entwicklung.“ in: So‐ phokles, hrsg. v. D I L L E R (1967), Darmstadt (Wege der Forschung Band XCV), S. 126-146, der nicht nur zu erweisen sucht, dass Plutarch ein wörtliches (gesprochenes, nicht durch ihn selbst verschriftliches) Zitat des Dichters darbietet, sondern die darin entdeckte Entwicklung des Sophokles sowie das Zitat selbst zeitlich verortet (seines Erachtens vor 421) und mit Triptolemos, Aias und Antigone exemplarische Stücke der drei Schaffensperioden angibt. 21 Fraglich sind zunächst Herkunft und Zuverlässigkeit des von Plutarch angeführten „Zitats“. Ob dabei einzig die Entwicklung der Sprache bzw. des Stil, oder aber des ge‐ samten künstlerischen Schaffens, mithin das „Dichten“ selbst zur Debatte steht, ist ebenso unklar wie die genaue Bedeutung einzelner, für die Aussage des gesamten Satzes zentraler Begriffe wie v. a. das ohnehin umstrittene διαπεπαιχώς. Darüber hinaus bietet Plutarch die Bemerkung des Dichters nicht, um Informationen über dessen künstleri‐ sches Schaffen zu geben, sondern nutzt das sprachlich zudem höchst undurchsichtige Testimonium als Vergleichsglied für die von ihm hypostasierte Entwicklung im Redestil (? ) der φιλοσοφοῦντες. 22 Vgl. z. B. die Datierung der Elektra durch V Ö G L E R (1967) S. 86 ff. 23 Besonders prominent ist die v. a. von W E B S T E R ( 2 1969). An Introduction to Sophocle s, London vertretene Ansicht, erst mit dem Fortschreiten seiner dramatischen Technik habe Sophokles die „Diptychon-Struktur“ der als früh gekennzeichneten Stücke (i.B. Aias und Trachinierinnen, z.T. noch Antigone) überwunden, um mit dem Oidipus Ty‐ rannos schließlich zum Typus des dramatisch einheitlichen Stücks zu gelangen. So u. a. L A T A C Z (2003) S. 173 ff., der diese Entwicklungshypothese mit dem erwähnten, Plutarch entstammenden Testimonium zu verbinden sucht. divergieren teils erheblich. 18 Angesichts dieser grundlegenden Schwierigkeiten sowie der ohnehin dürftigen Kenntnis des Gesamtwerks unseres Dichters ist Z IMME RMANN zu Recht den Versuchen, Entwicklungslinien innerhalb der uns vorliegenden Stücke erkennen zu wollen, mit einiger Vorsicht entgegenge‐ treten. 19 Selbst aus der oft zu Rate gezogenen Stelle in Plutarchs de prof. in virt. (79 B), in der man ein verlässliches Selbstzeugnis des Sophokles über den Wer‐ degang seiner Kunst gesehen hat, 20 gewinnt man bei genauerer Untersuchung kein zufriedenstellendes Konzept, das aus sich heraus Anhaltspunkte für eine Chronologie der sieben uns erhaltenen Tragödien liefern könnte. 21 Die Ansätze, aus den Tragödien selbst auf Basis innerer, d. h. sprachlicher, stilistischer, 22 dra‐ maturgischer oder sonstiger Kriterien eine Chronologie zu entwickeln, 23 können V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit - praeliminaria 74 <?page no="75"?> 24 So auch L E F K O W I T Z (2014). „Sophocles: Literary Biography.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R O I S M A N (2014), Malden (MA), S. 1291-1295, S. 1292: „Mo‐ dern attempts to provide a chronology for the undated plays are based primarily on stylistic criteria, which are necessarily subjective and conjectural, given the small size of the database on which all such judgements must be made“. 25 So wird zur Datierung des Oidipus Tyrannos gelegentlich mit dem Ausbruch der „Pest“ in Athen im Jahr 430 (bzw. ihrem erneuten Hereinbrechen 427) als terminus post quem argumentiert (v. a. K N O X (1956). „The date of the Oedipus Tyrannus in Sophocles.“ in: AJP 77 (1956), S. 133-147). Wirklich zwingend ist der freilich thematisch besonders passende Zusammenhang zwischen der aktuellen Seuche in Athen sowie der auf Grund von Oidipusʼ Verfehlungen in Theben grassierenden verheerenden Krankheit allerdings nicht; vgl. W I N N I N G T O N -I N G R A M (1980). Sophocles: An Interpretation, Cambridge (im Speziellen zur Datierung nach 427) S. 342: „This argument is plausible, but less com‐ pelling“. 26 Wie eine solche Datierung aus inneren Kriterien zu falschen Ergebnissen führen kann, beweist die Frühdatierung der Hiketiden des Aischylos, die man auf Grund der promi‐ nenten Rolle des Chors teilweise sogar für das älteste Stück hielt, bevor man die Perser sicher datieren konnte; vgl. Z I M M E R M A N N (2011) S. 563 sowie zur Datierung der Hike‐ tiden L O S S A U (1998). Aischylos, Hildesheim, Zürich, New York, S. 66. 27 Z I M M E R M A N N (2011) S. 563. daher keine letzte Gültigkeit beanspruchen. 24 Auch die Datierung auf Grund von Anspielungen oder Reflexen auf außerdramatische Gegebenheiten innerhalb der Stücke ist letztlich nicht zwingend und vielfach äußerst spekulativ. 25 Diese Arbeit will dementsprechend dezidiert keinen Beitrag zur Datierungs‐ debatte liefern. Es wäre methodisch völlig unhaltbar, aus der Untersuchung eines - wenn auch zentralen - Kompositionsmoments wie der dramaturgischen Einbindung und Funktionalisierung der Chorpassagen einen Maßstab gewinnen zu wollen, an dem sich die untersuchten Stücke chronologisch einordnen ließen. 26 Angesichts der von Z IMME RMANN angedeuteten Gefahr von „Zirkel‐ schlüssen“ 27 ist es zudem ratsam, den Einzelinterpretationen keine Vorstel‐ lungen von künstlerischer Entwicklung zu Grunde zu legen und so etwa von vorneherein davon auszugehen, der Gebrauch des Chors oder die dramatische 3. praeliminaria 75 <?page no="76"?> 28 Auch die Annahme eines „Altersstils“, die vor allem die Einschätzung des Oidipus auf Kolonos geprägt hat, ist weder auf Basis des Texts noch methodisch haltbar. Angesichts des Mangels an Vergleichsstücken aus der letzten Lebensphase des Dichters (der un‐ gefähr acht Jahre früher aufgeführte Philoktet ist, wie die Interpretation zeigen wird, formal und strukturell ganz anders geartet und behandelt zudem einen völlig anderen Mythos) lassen sich keine Kriterien aufstellen, die einwandfrei das Vorhandensein eines mehr oder minder fest umrissenen „Altersstils“ erweisen könnten. Bestimmte, dem Oidipus auf Kolonos eigene teils thematisch-motivische, teils dramaturgisch-struktu‐ relle Momente dagegen rundheraus als Kennzeichen des „Altersstils“ anzusehen, ver‐ kennt den Umstand, dass die kompositorischen Mittel des Dichters zunächst dem the‐ matisierten Mythos, d. h. der Handlung entsprechend ausgesucht sind. Das angedeutete Vorgehen einer Konstruktion des „Altersstils“ wäre so einer der von Z I M M E R M A N N angedeuteten Zirkelschlüsse. 29 Die Überlieferung des Textes überblickt M A R K A N T O N A T O S (2014). „Sophocles: Trans‐ mission of Text.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R O I S M A N (2014), Malden (MA), S. 1316-1321. Komposition der erwiesen späten Stücke Philoktet oder Oidipus auf Kolonos seien per se elaborierter als die der früheren Dramen. 28 Da die vorliegende Arbeit alle sieben erhaltenen Stücke unseres Autors be‐ leuchtet, muss eine Reihenfolge der Einzeluntersuchungen gefunden werden. Wie bereits angedeutet, ist dafür die Rollenidentität des Chors entscheidendes Ordnungsmoment; innerhalb der das Spektrum gliedernden drei Gruppen (wehrfähige Männer, Frauen, Greise) erfolgt die Reihenfolge der Einzelinter‐ pretationen, wie oben bereits ausgeführt, dabei nach inhaltlichen Gesichts‐ punkten, die in der Gesamtschau ausgeführt werden sollen. Vergleiche oder kontrastive Gegenüberstellungen einzelner Stücke bzw. gewisser struktureller Momente werden sich dabei aus der Sache selbst ergeben und nicht allein auf Grund (angenommener) chronologischer Nähe ins Auge gefasst werden. 3.2 Text und Textkritik Die lyrischen Partien der Tragödie gehören bereits auf Grund ihrer sprachlichen Schwierigkeit zu den textkritisch umstrittensten Abschnitten der jeweiligen Stücke. Während Gestalt und Sinn einzelner Abschnitte bereits innerhalb der hellenistischen Redaktion der Texte Anlass zu textkritischen Bemerkungen und vorgeschlagenen Änderungen boten (die uns zum Teil in den Scholien greifbar sind) 29 , ist im Besonderen die moderne Philologie von Beginn ihrer Beschäfti‐ gung mit Sophokles an den vielfältigen Schwierigkeiten des Texts zunehmend mit einer Flut an Konjekturen begegnet. Eine philologische, d. h. textnahe Aus‐ einandersetzung mit den Tragödien und speziell den Chorpartien wird sich daher neben divergierenden Lesarten und größeren Textausfällen auch immer V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit - praeliminaria 76 <?page no="77"?> 30 L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990). Sophoclis fabulae recognoverunt brevique adnotatione critica instruxerunt, Oxford, Preface S. vi; ebendort die anderen Zitate. 31 Inwieweit diese Zielsetzung allerdings der Realität entspricht oder Wunschdenken ent‐ springt, ist zweifelhaft. Auch die Ausgabe von L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) bietet si‐ cherlich keinen wesentlich „populäreren“ Zugang zu den Tragödien unseres Autors, als es die Ausgabe von P E A R S O N (1924). Sophoclis Fabulae recognovit brevique adnotatione critica instruxit, Oxford, tat. In diesem Zusammenhang besonders erwähnenswert ist dagegen die Ausgabe der Tragödien und der wichtigsten Fragmente in drei Bänden von L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1994). Sophocles: edited and translated, I-III, Cambridge (MA), die dem Text eine mit Gewinn zu lesende englische Übersetzung beigibt. 32 L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) S. vi: „a text which can be read with few interruptions“. 33 Vgl. L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) S. vi. 34 So z. B. die Änderung der dialektal gefärbten Formen Antigone v. 110 und 113, sowie die teils zweifelhaften Änderungen überlieferter Textbestände wie z. B. Oidipus Tyrannos v. 464, Oidipus auf Kolonos v. 1733, Antigone v. 603 et passim; siehe jeweils Interpretation ad locum. 35 Besonders umfangreichen Gebrauch dieser ultima ratio im Umgang mit (vermeintlich) unheilbar verderbten Stellen macht D A W E in seinen Ausgaben (vgl. Literaturverzeichnis unter 1); dabei bietet er, wie auch M A R K A N T O N A T O S (2014) S. 1320 feststellt, leider oft einen durch lacunae und Konjekturen entstellten Text, dem zu folgen daher selten ge‐ raten erscheint. wieder den bald geglückten, bald zweifelhaften Rekonstruktionsversuchen mo‐ derner Gelehrter widmen müssen. Nach P EAR S ON liegen mit der Ausgabe von L LO YD -J ON E S / W IL S ON die voll‐ ständig überlieferten Tragödien unseres Autors bereits in der zweiten Edition innerhalb der Oxford Classical Texts ( OCT ) vor. Als Zielpublikum ihrer Ausgabe (sowie der gesamten OCT ) schwebt ihnen dabei „a wider circle of readers“ 30 vor, der sich nicht allein auf Mitglieder des akademischen Betriebs („professional scholars“) beschränke. 31 Die selbstgestellte Aufgabe, diesem weiteren Adressa‐ tenkreis einen Sophoklestext zu bieten, der ohne größere Unterbrechungen ge‐ lesen werden kann, 32 lässt die Herausgeber schließlich formulieren: „This policy has led us to adopt a number of emendations which may seem radical.“ 33 In der Tat zeigt sich bei der genauen Interpretation einiger (Chor-)Passagen, dass L LO YD -J ON E S / W IL S ON dazu neigen, sich gegen einen gut oder gar einhellig über‐ lieferten Textbestand und für eine Konjektur oder einen anderen Eingriff in den Text zu entscheiden. 34 Auch mit dem Setzen von cruces zur Bezeichnung ver‐ derbter Stellen sind sie bei weitem vorsichtiger als noch P EAR S ON , 35 der im Ganzen gesehen einen wesentlich konservativeren, d. h. strenger am überlie‐ ferten Bestand orientierten Text bietet. Man fühlt sich daher gezwungen, der Kritik, die M AR KANTONATO S grundsätzlich an modernen Editoren sowie im Spe‐ ziellen an der Ausgabe von L LO YD -J ON E S / W IL S ON übt, zumindest in Teilen zu‐ zustimmen: 3. praeliminaria 77 <?page no="78"?> 36 M A R K A N T O N A T O S (2014) S. 1320. It is sad that some modern editors of Sophocles have chosen to deviate from the time-honored paradosis, putting all their energies into proposing attractive but ines‐ sential changes so as to prove that the lectio tradita is incorrect. […] Lloyd-Jones and Wilson have produced a text which is more readable, but their willingness to accept uncertain readings as safe restorations of Sophoclesʼ words undermines their achievement. 36 Die textkritischen Ausführungen im Rahmen der Einzelinterpretationen sollen dabei jeweils zum Verständnis der einzelnen Stelle beitragen; es ist dabei von Zeit zu Zeit geraten, dem Text von L LO YD -J ON E S / W IL S ON eine Alternative ent‐ gegenzusetzen. Im Umgang mit verderbten Stellen soll hier allerdings nicht der Anspruch erhoben werden, letztgültige Entscheidungen zu fällen. 3.3 Abkürzungen, Zitation u. Ä. Wie bereits in Teil A werden in den Einzelinterpretationen die zitierten Werke bei ihrer ersten Nennung mit vollem Titel zitiert, danach mit Verfassernamen und Jahreszahl. Einschlägige Nachschlagewerke werden wie folgt abgekürzt: LSJ A Greek-English Lexicon compiled by H. G. L I D D E L L and R. S C O T T […] revised and augmented by H. St. J O N E S , 1961, Oxford. KG R. K ÜH N E R / B. Gerth, Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache, Satzlehre (zwei Bände) 4 1955, Hannover. DKP Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike auf der Grundlage von Paulyʼs Re‐ alencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, bearb. und hrsg. v. K. Z I E G L E R , W. S O N T H E IM E R und H. G ÄR T N E R , Stuttgart 1964-1975. DNP Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hrsg. v. H. C A N C I K / H. S C H N E I D E R , Stuttgart 1996-2002. RE Paulyʼs Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, neue Bearb. beg. v. G. W I S S O WA , fortges. v. W. K R O L L u. K. M I T T E L HA U S , hrsg. v. K. Z I E G L E R , Stuttgart u. a. 1893 ff. LIMC Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae, Zürich u. a. 1981 ff. V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit - praeliminaria 78 <?page no="79"?> B Einzelinterpretationen sowie Gesamtschauen der Großabschnitte <?page no="81"?> 1 Vgl. R O I S M A N (2014). „Sophocles: Philoctetes (Φιλοκτήτης).“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R O I S M A N (2014), Malden (MA), S. 1309-1316, S. 1309. Die Datierung stützt sich dabei auf die Angaben der Hypothesis (Text bei P E A R S O N (1924)). 2 Die genaue Forderung des Orakels ist nicht auszumachen, da Sophokles auf eine un‐ abhängige Wiedergabe des Spruchs verzichtet. Dem Problem widmet sich V I S S E R (1998). Untersuchungen zum Sophokleischen Philoktet: Das auslösende Ereignis in der Stück‐ gestaltung (Diss.), Stuttgart und Leipzig, ausführlich, vgl. S. 1. Eine im Ganzen über‐ zeugende Lösung des Problems skizziert bereits S P I R A (1960) in seinem „Exkurs zum Helenosorakel“ S. 31 f. I. Chöre wehrfähiger Männer 1. Philoktet Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur Neben dem Oidipus auf Kolonos ist die vorliegende Tragödie die einzige in So‐ phoklesʼ überliefertem Werk, deren Aufführung sich sicher, d. h. auf Basis ex‐ terner Quellen, datieren lässt: Sie fand im Jahr 409 im Rahmen der städtischen Dionysien statt. 1 Zunächst soll hier kurz die Handlung repetiert werden. Philoktet, der vom sterbenden Herakles als Dank für letzte Dienste seinen Bogen samt Pfeilen geschenkt bekommen hatte, war den Griechen vor Troia zu einer unerträglichen Last geworden: Auf Grund eines Schlangenbisses am Fuß verletzt war er zum einen militärisch nicht mehr zu verwenden, zum anderen verhinderten seine Schmerzensäußerungen sogar die Durchführung kultischer Handlungen im Heereslager (vgl. v. 8 f.). Die Atriden beschlossen daraufhin, ihn auf der Insel Lemnos auszusetzen, wobei Odysseus diese Aufgabe übernahm. Philoktet steht seitdem den militärischen Führern sowie insbesondere Odysseus mit besonderer Abneigung gegenüber. Als die Belagerung Troias nach neun Jahren schließlich keinen erkennbaren Fortschritt mehr zeigt, erinnern sich die Griechen eines Orakels: Zur Eroberung der Stadt seien Philoktet, sein Bogen sowie die zugehörigen Pfeile notwendig. 2 Auch die Rückholaktion übernimmt Odysseus, dem Neoptolemos, Achills Sohn, zur Seite gestellt ist. Das vorliegende Drama nun schildert beginnend mit der Ankunft dieser griechischen Gesandtschaft die Geschehnisse auf Lemnos selbst: Odysseus, der um Philoktets Groll gegen ihn weiß, kann Neoptolemos davon überzeugen, mit einer List das Vertrauen des Einsiedlers zu gewinnen, um so in den Besitz des Bogens zu kommen und die Rückführung nach Troia vorzube‐ <?page no="82"?> 3 Vgl. T A P L I N (1978). Greek Tragedy in Action, London, S. 153: „Although he was very old, possibly over 90, when he composed Philoctetes, Sophocles is here especially bold and novel in his structural techniques“. 4 Eine überzeugende, weil aus der Analyse der inneren Struktur der Tragödie gewonnene Deutung des deus ex machina als einer vom Dichter durch Ethopoiie dramentechnisch aus dem Stückganzen entwickelten „rettende[n] Epiphanie in einer menschlichen Grenzsituation“ (S. 32) sowie eine Verortung des dramaturgischen Kunstgriffes „im dichterischen Werk des Sophokles“ gibt S P I R A (1960) S. 27-30 sowie S. 32. 5 Vgl. dazu die maßgebliche Arbeit von M ÜL L E R (C. W.) (1997). Philoktet: Beiträge zur Wiedergewinnung einer Tragödie des Euripides aus der Geschichte ihrer Rezeption, Stuttgart und Leipzig. 6 Dazu vgl. die Ausführungen zum Prolog weiter unten. reiten. Trotz seiner moralischen Vorbehalte willigt Neoptolemos ein und führt Odysseusʼ Plan zunächst zielstrebig aus, bis ein akuter Krankheitsausbruch bei Philoktet sein Mitleid erregt und er sich schließlich in offener Konfrontation mit Odysseus dazu durchringt, den zwischenzeitlich an sich genommenen Bogen an Philoktet zurückzugeben und ihm die Fahrt in die Heimat in Aussicht zu stellen. Erst der Auftritt des Herakles als eines deus ex machina kann Philoktet kurz vor der in Angriff genommenen Abfahrt davon überzeugen, sich dem Willen der Heeresführung zu beugen und mit Neoptolemos nach Troia zu segeln. Mit dem Auszug des Personals in Richtung Kriegsschauplatz endet die Tragödie. Das vorliegende Drama ist, wie noch gezeigt werden wird, gerade in formaler Hinsicht bemerkenswert: 3 Der im Rahmen der uns überlieferten Tragödien un‐ seres Dichters einmalige Einsatz des deus ex machina, 4 die fast ausschließliche Dialogisierung chorischer Partien und die besonderen Implikationen, die die von Odysseus erdachte Intrige sowie ihr Scheitern für den Ablauf des Stücks mit sich bringen, werden dabei im Folgenden besonders zu untersuchen sein. Eine Ent‐ scheidung unseres Dichters hebt sein Philoktet-Drama gegenüber den Bearbei‐ tungen desselben Stoffs durch die beiden anderen Tragiker 5 heraus: Sophokles lässt Lemnos unbewohnt sein, sodass Philoktet als Einsiedler sein Leben fristet. 6 Den Chor, der so nicht aus Einwohnern der Insel bestehen kann, bilden, wie bereits erwähnt, die Schiffsleute des Neoptolemos, die zu ihrem Herrn in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis stehen, gegenüber Philoktet aller‐ dings eine je eigene Haltung an den Tag legen. Dass ihnen dabei einzig in der Mitte der Tragödie eine rein chorische Reflexion in Form eines Stasimons zu‐ kommt, ist ein besonders eigenwilliges Kompositionsmoment, dessen drama‐ turgische Implikationen zu beleuchten sein werden. Zu den bereits erwähnten, genuin mythologischen Personen - d. h. solchen, die namentlich aus dem troianischen Sagenkreis bekannt sind - tritt des Wei‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 82 <?page no="83"?> 7 Der Philoktet ist die einzige uns erhaltene griechische Tragödie mit rein männlicher Besetzung (vgl. H A L L (1997) S. 105. Das „Fehlen“ einer Frau im Personenspektrum lässt sich meines Erachtens schlichtweg aus dem behandelten Mythos und der Sophokles eigenen Gestaltungsabsicht erklären: Zum einen ist es im Rahmen der Aussendung einer Delegation des griechischen Heeres nach Lemnos nicht einsichtig, welche Frau aus welchen Gründen hier auftreten sollte. Da Sophokles des Weiteren die Insel bis auf den Haupthelden unbewohnt sein lässt, kann keine Frau innerhalb des Stücks auftreten. Einzig die Erscheinung einer weiblichen Gottheit bliebe dann als Möglichkeit übrig (vgl. Athenes Rolle im Aias); Sophokles allerdings entscheidet sich gegen diese Option, schon allein weil mit Herakles bereits eine quasi-göttliche Macht auftritt. Ob sich in diesen bewussten Entscheidungen hinsichtlich der Darbietung des Mythos von Seiten des Dichters ein genuin soziokulturelles Moment verbirgt, muss also bezweifelt werden. 8 W E B S T E R (1970). Sophocles Philoctetes, Cambridge erkennt ganz zu Recht: „The pro‐ logue has two sections: 1-49, setting the scene, 50-134, making the plan“ S. 66. Die angedeutete Parallele zum Prolog der Elektra ist dagegen nur teilweise von Bedeutung: Zwar ist die grundlegende Aufteilung ähnlich, die formale Gestaltung allerdings (zwei ausführliche Monologe mit angeschlossenem kurzen Zwiegespräch) sowie die perso‐ nelle Konstellation (Elektra als Protagonistin bricht mit ihrem Schrei geradezu in das Bühnengeschehen ein, während sie im Prolog selbst nicht thematisiert wurde) unter‐ scheiden sich vom vorliegenden Philoktet gerade hinsichtlich der dramaturgischen Wirkung allerdings wesentlich. teren ein Späher auf, dem als vermeintlichem Kaufmann in der durch Odysseus lancierten Intrige besondere Bedeutung zukommt. 7 Interpretation Prolog (v. 1 - 134) Ausgangspunkt der Handlung ist die Ankunft von Odysseus und Neoptolemos auf der Insel Lemnos, die allein von Philoktet bewohnt wird. Odysseus infor‐ miert in einem Monolog (v. 1-25) seinen Begleiter - und damit auch das Pub‐ likum - über die wesentlichen Gegebenheiten, indem er den Ort der Handlung, die Vorgeschichte und die wissenswerten Umstände über die Zielperson Phi‐ loktet kurz thematisiert. Mit dem Auftrag, die Wohnhöhle des Gesuchten aus‐ findig zu machen, wendet er sich schließlich direkt an Neoptolemos (v. 16 f.). Damit verbunden ist eine genauere Beschreibung der Lokalität, wie sie das Büh‐ nenbild angedeutet haben wird. Die Höhle ist bald ausgemacht; die im folgenden kurzen Wechselgespräch (v. 26 ff.) ausgetauschten Informationen machen deut‐ lich: Dies ist ohne Zweifel die Wohnstätte Philoktets, der sie nur kurz verlassen zu haben scheint und sich wohl noch in unmittelbarer Nähe aufhält (v. 40 ff.). Odysseus geht daraufhin dazu über, die eigentliche Mission sowie die anzu‐ wendende Methode darzulegen: 8 Auch wenn es für Neoptolemos eine schwie‐ rige, seiner Natur widerstrebende Aufgabe sei, müsse er die Seele des Philoktet 1. Philoktet 83 <?page no="84"?> 9 Auf die vielfältigen Probleme, die sich bei der Betrachtung dieses Orakelmotivs und seiner dramatischen Realisierung ergeben, kann und soll hier nicht im Einzelnen ein‐ gegangen werden. Ich verweise dazu exemplarisch nur auf die Studie von V I S S E R (1998), im Besonderen die Seiten 1-5. 10 Zu dieser bekannten Junktur und ihrer konkreten Ausdeutung vgl. S C H E I N (2013) S. 143. geradezu mit Worten täuschen (v. 54 f.), um ihn so zur Rückkehr ins Heerlager vor Troia zu bewegen. Neoptolemos solle angeben, er sei auf dem Rückweg vom Kriegsschauplatz, trage großen Groll gegen die Griechen, die die Waffen seines Vaters nicht ihm, sondern Odysseus übergeben hätten. Bei diesem Trugszenario, so Odysseus, könne er selbst auf Grund seiner Vergangenheit nichts ausrichten, Neoptolemos müsse es gelingen, die unbesiegbaren Waffen zu rauben (drastisch formuliert in der Wendung κλοπεὺς γενήσῃ v. 77 f.). Auch wenn ihm diese Tat zunächst widerstreben sollte, so müsse er sie dennoch wagen; etwaige Bedenken hätten hier keinen Platz (v. 79-85). Es folgt eine Auseinandersetzung zwischen den beiden Prologsprechern, in der die von Odysseus intendierte Methode sowie deren moralische Einordnung diskutiert werden. Neoptolemos sei, so bekundet er, zwar bereit, Philoktet die Waffen unter Gewalt (πρὸς βίαν) zu entwenden, nicht aber durch List und Be‐ trug. Odysseus argumentiert dagegen: Gewaltanwendung habe selbst gegen den invaliden Philoktet keine Aussicht auf Erfolg, und außerdem könne auch Neo‐ ptolemos, den ein Orakelspruch als Bezwinger Troias verheißen habe, ohne die in Frage stehenden Waffen sein Ziel nicht erreichen 9 . Achills Sohn ist schließlich überzeugt: Mit der Aussicht, bei Erfolg seines Plans sowohl „klug als auch gut“ genannt zu werden (σοφὸς κἀγαθός v. 119), 10 gibt er alle moralischen Bedenken auf (πᾶσαν αἰσχύνην ἀφείς v. 120). Odysseus instruiert ihn abschließend (v. 123-132): Während Neoptolemos hierbleiben und Philoktet gegenübertreten solle, werde er selbst die Szenerie verlassen und, wenn die Zeit allzu lang zu werden drohe, den mitgebrachten Späher als Kaufmann verkleidet hinzuschi‐ cken. Mit einem Gebet um den Beistand von Hermes, Nike und Athene (v. 133 f.) begibt sich Odysseus zu seinem Schiff und überlässt Neoptolemos die Situation. Mit Vers 135 beginnt daraufhin die Parodos des Chors. Folgendes soll zusammengefasst werden. Der vorliegende Prolog ist in dra‐ maturgischer Hinsicht von herausragender Meisterschaft: Mit der Ankunft auf Lemnos beginnt das Drama mit dem natürlichen Anfangspunkt der darzustel‐ lenden Handlung; die Einführung in Ort, Zeit und Personal geschieht dabei ganz aus der dramatischen Fiktion heraus und bildet den Auftakt zur sich entspinn‐ enden Bühnenhandlung. Gerade die Suche und Beschreibung der Wohnstätte des Philoktet ist von wirkungsvoller Drastik und sinnlicher Erfahrbarkeit; indem das Gespräch der beiden Akteure dabei den Schauplatz konkret aus‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 84 <?page no="85"?> 11 W E B S T E R (1970): „Both Aeschylus and Euripides had accepted the tradition of an inha‐ bited Lemnos“ S. 66. Vgl. auch die folgende Anm. 12 Vgl. dazu die ohnehin für den Vergleich der drei Tragödien grundlegende 52. Rede des Dion von Prusa (C R O S B Y (1956). Dio Chrysostom with an English translation IV, Cam‐ bridge (MA), besonders Abschnitte sieben und fünfzehn, S. 342 und 350). Verwiesen sei auf den gewinnbringenden Vergleich des sophokleischen mit dem rekonstruierten eu‐ ripideischen Drama bei M ÜL L E R (1997). leuchtet, bindet es die Handlung ganz intensiv an den Bühnenraum. Anders gesagt: Der in besonderer Weise gestaltete Bühnenraum ist selbst entschei‐ dendes Moment der Handlung. Der Hauptheld ist dabei zwar als Person nicht anwesend, aber dennoch durch die Beschreibung seines Lebensumfelds, der von ihm genutzten Werkzeuge und Einrichtungen sowie auf Grund der Annahme, er befände sich ganz in der Nähe, vor dem geistigen Auge der Akteure und des Publikums in hohem Maße präsent. Hier bereits wird der Auftritt des Protagonisten vorbereitet und rückt in den Erwartungshorizont der Rezipienten. Mit den Instruktionen des Odysseus ist weiterhin der Ablauf des Stückes grob gezeichnet: Neben Philoktets Erscheinen ahnen Zuschauer (und Leser) ebenso mögliche Trugreden des Neoptolemos, den mit einiger Sicherheit erfolgenden Auftritt des Spähers und - als Kulminationspunkt - eine mögliche Konfronta‐ tion Philoktet-Odysseus bereits voraus. Zugleich mit diesen dramaturgischen Implikationen zeichnet Sophokles im vorliegenden Prolog die Charaktere der beiden Akteure trennscharf und ein‐ fühlsam: Indem sich dabei über die moralische Bewertung der anstehenden Handlungen eine belebte Diskussion entwickelt (vgl. die Stichomythie der Verse 100-122), stellt schon der Prolog eine lebendige, konfrontativ-dialogisierende Szene dar; der Einstieg in das Drama präsentiert so nicht bereits fertige Ergeb‐ nisse in Form unwiderruflich feststehender Entschlüsse, sondern ist selbst schon Teil der dramatischen Problematisierung, der Auseinandersetzung mit einem der Handlung und der Personenkonstellation innewohnenden Sachverhalt. Der Kunstgriff unseres Dichters, Philoktet auf einer unbewohnten Insel hausen zu lassen, wurde oben bereits erwähnt. Aischylos und Euripides folgten dagegen der Tradition 11 und brachten in ihren Bearbeitungen die Einwohner von Lemnos gar als Chor auf die Bühne. 12 Sophokles hat es dabei nicht versäumt, schon ganz zu Beginn der Tragödie auf diesen Umstand hinzuweisen (Odysseusʼ Feststellung über Lemnos: βροτοῖς ἄστιπτος οὐδʼ οἰκουμένη v. 2) und so die mögliche Erwartungshaltung des Publikums in besonderer Weise zu brechen. Nach dem innerdramatisch motivierten Abtritt des Odysseus, der in seinen In‐ 1. Philoktet 85 <?page no="86"?> 13 M ÜL L E R (1997) spricht S. 222 in dieser Beziehung von Odysseusʼ „Rolle des Regisseurs, der die Fäden des Intrigenspiels vermeintlich souverän in der Hand hält“. 14 Ganz anders der gewollte Bruch zwischen Prologszene und Parodos als „Neubeginn“ der Bühnenhandlung im Aias oder der Antigone, in abgeschwächter Form in den Tra‐ chinierinnen. Ähnlich wie an unserer Stelle des Philoktet, allerdings nicht in letzter Konsequenz (keine „Dauerpräsenz“ eines wirklichen Prologsprechers) im Oidipus Ty‐ rannos und der Elektra. Der Oidipus auf Kolonos bietet in dieser Hinsicht die ähnlichste formale Gestaltung, wobei dort allerdings der Titelheld selbst samt einem weiteren Akteur (Antigone) die dramatische Brücke darstellt. So konstatiert auch B U R T O N (1980) S. 228: „in the earlier ones [d. h. den früheren Stücken] there is a break after the prologue, so that the parodos constitutes a fresh start“, sowie speziell zum Philoktet: „both pro‐ logue and parodos are essential parts of the action“. Die darin enthaltene Kontrastierung früher und später Dramen sowie die implizit angedeutete „Entwicklung“ hin zu einer durchgehenden Handlung ist allerdings problematisch. Gerade S C H M I D T (1973). So‐ phokles Philoktet: Eine Strukturanalyse, Heidelberg, S. 55 lässt es bei der Analyse der vorliegenden Szenerie nicht unversucht, „exemplarisch einige Merkmale für die Ent‐ wicklung der dramatischen Formen im sophokleischen Werk aufzuzeigen“. Vgl. dazu den Abschnitt V. 3.1 der Einleitung. 15 Zur Frage, wann genau der Chor auftritt und wie sich dementsprechend sein Vorwissen gestaltet, vgl. die Diskussion bei V I S S E R (1998) S. 113 f. und ihr Fazit S. 114: „Sophokles hat das Vorwissen des Chores so gestaltet, daß man seine Genese nicht im vollen Um‐ fang rekonstruieren kann“. 16 Vgl. zum Folgenden W E B S T E R s (1970) Analyse S. 79. struktionen den intendierten Gang der Handlung bereits insinuiert hatte, 13 kann daher nicht der Auftritt der lemnischen Bevölkerung folgen. Die auf der Bühne präsente Personenkonstellation könnte sich daher einzig im Auftritt des Titel‐ helden selbst wesentlich öffnen, d. h. einen wirklichen Handlungsfortschritt in‐ szenieren. Die ebenso der dramatischen Fiktion geschuldete andauernde Büh‐ nenpräsenz des Neoptolemos macht darüber hinaus bereits vor dem Eintreffen des Chors deutlich, dass mit der Parodosszenerie nichts unmittelbar Neues etab‐ liert werden kann. Neoptolemos bildet in diesem Sinn geradezu die dramatische Brücke, die die beiden Formteile Prolog und Parodos verbindet und so in einen durchgängigen Handlungsfluss einordnet. 14 Parodos bzw. Wechselgesang (v. 135 - 218) Die Auftrittsszenerie des Chors 15 gestaltet Sophokles an unserer Stelle als um‐ fangreiche lyrische Partie, die die Formteile Parodos und Kommos miteinander verknüpft und damit einen wirkungsvollen dramatischen Akzent setzt. Machen wir uns zunächst die formale Struktur des Ganzen klar, bevor wir die Passage im Einzelnen durchgehen. 16 Das Wechselgespräch entwickelt sich zunächst in der Abfolge zweier Stro‐ phen des Chors (v. 135-143 sowie 150-185), auf die Neoptolemos in anapästi‐ schen Versen antwortet (v. 144-149 sowie 159-168, unterbrochen durch den I. Chöre wehrfähiger Männer 86 <?page no="87"?> 17 Die Angabe der Spalte „Metrik“ dient nur zur Unterscheidung von genuin lyrischen sowie rezitativisch anapästischen Versmaßen und verweist daher zur genaueren Klä‐ rung auf die Analysen der Kommentare (z. B. W E B S T E R (1970) S. 79, 82, 84). Chor in Vers 161). Die folgenden zwei Strophenpaare des Chors (v. 189-190) werden durch Neoptolemos erneut in Anapästen kommentiert (v. 191-200), worauf sich wiederum ein Strophenpaar des Chors anschließt, das durch zwei kurze Zwischenfragen (v. 201 und 210) unterbrochen wird. Die folgende Tabelle soll dies verdeutlichen: Sprecher Anzahl der Verse Metrik 17 strophische Einordnung Chor 9 „lyrisch“ Strophe A Neoptolemos 6 anapästisch Chor 9 „lyrisch“ Gegenstrophe Aʼ Neoptolemos + Chor (! ) 91 anapästisch anapästisch Chor 11 „lyrisch“ Strophe B Chor 11 „lyrisch“ Gegenstrophe Bʼ Neoptolemos 10 anapästisch Chor + Frage durch Neopt. 8 „lyrisch“ Strophe C Chor + Frage durch Neopt. 8 „lyrisch“ Gegenstrophe Cʼ Betrachten wir zunächst kurz diesen formalen Befund: Sophokles komponiert an unserer Stelle einen besonders vielfältigen Wechselgesang, der neben (lyri‐ scher) Rede und (anapästischer) Gegenrede dem Chor Raum für eine ausführ‐ liche und ununterbrochene lyrische Ausleuchtung - geradezu eine Kurzode v. 169-190 - lässt und schließlich in ein bewegtes Vorausahnen des bevorste‐ henden Auftritts Philoktets mündet. Die Auftrittsszene des Chors zeichnet sich so - neben ihrer Länge von über 80 Versen - durch die Verbindung unterschied‐ licher Formteile aus, mit der sich, wie der inhaltliche Durchgang zeigen wird, eine spezielle, gegliederte dramaturgische Wirkabsicht verbindet. Die Passage soll im Detail nachvollzogen werden. Der Chor wendet sich mit seiner ersten Äußerung direkt an Neoptolemos, dem er als seinem „Herrn“ 1. Philoktet 87 <?page no="88"?> 18 Eine syntaktische Klärung der Passage und der passivischen Form ἀνάσσεται bietet K A M E R B E E K (1980). The Plays of Sophocles, Commentaries Part VI The Philoctetes, Leiden, S. 44. 19 Dazu W E B S T E R (1970) S. 80: „The sailors were brought to Troy by Achilles so that Ne‐ optolemos is at least ten years younger than they are“. 20 Zur Übersetzung „Vorteil“ vgl. J E B B (2004). Sophocles: Plays. Philoctetes, hrsg. v. E A S‐ T E R L I N G , Cambridge (main text as reprint of J E B B 1898), ad locum: „‘for thine occasion’ i.e., ‘for the moment at which a thing can be done for thine advantage’ […] And how naturally ὁ σὸς καιρός might approximate (esp. in lyric poetry) to the sense of τὸ σὸν κέρδος, is suggested by such phrases as that in Her[odot]. I. 206 […]. (δέσποτʼ) mit besonderer Verehrung gegenübersteht: Was, so fragen die Schiffs‐ leute, müssen sie in der aktuellen Situation, d. h. als Fremde in der Fremde, ver‐ bergen, was dürfen sie gegenüber dem „argwöhnischen Mann“ (ἄνδρʼ ὑπόπταν) aussprechen (στέγειν ἢ λέγειν)? Neoptolemos soll ihnen dies darlegen, da er sich durch die spezifische Fähigkeit (τέχνα) eines Regenten in besonderer Weise auszeichne. 18 Schließlich sei auf Neoptolemos, wenn auch jung (vgl. die Anrede ὦ τέκνον 19 ), die gesamte altehrwürdige Macht (seines Vaters und von dessen Vorfahren) gekommen. Ein zweiter Imperativ schließt die Strophe ab und fordert den Angesprochenen erneut auf, darzulegen, wie der Chor ihm zur Seite stehen soll (ὑπουργεῖν). Mit besonderen sprachlichen Mitteln gestaltet Sophokles einige zentrale Mo‐ mente der Aussage. So prägt die Strophe ganz der emotional fragende Duktus des Chors: Das zu Beginn verdoppelte τί wird im folgenden Vers (136) wieder aufgegriffen und leitet zudem den letzten Vers (143) vor Neoptolemosʼ Antwort ein. Damit in Verbindung stehen die schon erwähnten zwei Imperative φράζε und ἔννεπε, einmal nach der durch τί eingeleiteten Frage, einmal davor. Das klangliche Spiel mit ξένᾳ ξένον spiegelt sich kurz danach in τέχνα τέχνας, was die beiden Pole des Reflexionshorizonts deutlich hervortreten lässt: auf der einen Seite die fremde und unbekannte Situation, auf der anderen die überlegene Qualität des Neoptolemos. Der Angesprochene richtet den Blick des Chors in seiner ersten anapästischen Partie zunächst auf die Wohnstätte Philoktets (δέρκου θαρσῶν) und erbittet sich daraufhin vom Chor für den Fall von dessen Auftreten eine der Situation ange‐ messene Unterstützung (τὸ παρὸν θεραπεύειν) unter seiner Anleitung (πρὸς ἐμὴν χεῖρα). Der Chor unterstreicht in seiner Antwort (v. 150 ff.) zunächst die enge Bin‐ dung zwischen ihm selbst und Neoptolemos: Gerade auf den Vorteil 20 ihres Herrn bedacht zu sein, ist für die Schiffsleute schon lange (πάλαι) Gegenstand ihrer Sorge. Die Doppelung μέλον μέλημα bildet dabei (zusammen mit dem nachklappenden μοι) die sprachlich durch Alliteration und etymologisches Spiel I. Chöre wehrfähiger Männer 88 <?page no="89"?> 21 J E B B (2004): „with a certain emphasis“ S. 34. herausgehobene Verbalisierung des innigen Vertrauensverhältnisses zwischen dem Chor und seinem jugendlichen Kapitän. 21 Der Blick der Choreuten wendet sich im Anschluss erneut in die dramatische Gegenwart: Jetzt (νῦν δέ in Ab‐ grenzung von bzw. Fortführung des πάλαι v. 150) solle Neoptolemos sie mit weiteren Informationen versorgen und ausführen, welche Behausung Philoktet genau bewohnt. Dies zu wissen sei sicherlich nicht unvorteilhaft (ἀποκαίριον), um nicht vom plötzlich heranstürmenden (προσπεσών) Einsiedler überrascht zu werden. Den Schluss der Gegenstrophe bildet die Aneinanderreihung von drei Fragen nach den genauen Umständen der Wohn- und Aufenthaltssituation Philoktets: „Um welchen Ort geht es genau, was ist sein genauer Wohnsitz, welchen Pfad benutzt er, d. h. wo ist er im Moment, in seiner Höhle oder außer‐ halb? “ Die referierte Passage spiegelt in gewisser Weise die erste Strophe wider und entwickelt sie auf Grund der bereits gegebenen Antwort weiter. Erneut ist die Äußerung des Chors, nach der Versicherung der Sorge um Neoptolemos, vom fragenden Duktus geprägt: Wurden bei der ersten Äußerung des Chors Instruk‐ tionen über das weitere Vorgehen erbeten, so steht hier nun die konkrete In‐ formation über die Zielperson und ihren Aufenthaltsort im Vordergrund. Wieder sind es vier durch eine Form von τίς eingeleitete Fragen, die sich um einen die Beantwortung erbittenden Imperativ gruppieren (λέγʼ v. 153). Nachdem bereits Neoptolemos in Vers 146 f. Philoktet zum Subjekt einer er‐ wartbaren Handlung gemacht hat, tritt der Protagonist auch in der Gegen‐ strophe immer mehr in den Fokus der Betrachtung: War er zunächst nur reines Gegenüber (πρὸς ἄνδρʼ ὑπόπταν v. 136), so richtet sich das Interesse des Chors nun konkret auf sein Tun und seine Lebenswirklichkeit; Philoktet erscheint demgemäß als Subjekt der Fragen nach Wohn- und Aufenthaltsort (ναίει v. 154, ἔχει v. 154, 157), wobei sein Auftreten als konkrete Aussicht in die Reflexion einbezogen wird (προσπεσών v. 156). Neoptolemos verweist zunächst wieder auf die „doppeltürige“ Behausung und wird daraufhin sogleich vom Chor unterbrochen, der sich nach dem aktu‐ ellen Aufenthaltsort Philoktets erkundigt (v. 161). Die Apostrophierung des Protagonisten in diesem Vers als ὁ τλήμων ist von besonderer Bedeutung: Zum ersten Mal innerhalb der lyrischen Partie wird die Figur des Haupthelden mit einem Adjektiv bedacht, das Mitleid und Anteilnahme von Seiten des Chors erkennen lässt. Der die Symmetrie der Sprecherverteilung (siehe Tabelle oben) brechende Vers enthält so eine Andeutung des im Folgenden bestimmenden emotionalen Blicks auf den Protagonisten; seine besondere Stellung korrespon‐ 1. Philoktet 89 <?page no="90"?> 22 K A M E R B E E K (1980) S. 48: „genus, modus“; W E B S T E R (1970) S. 81: „the essential character of his life“. 23 Die bei P E A R S O N (1924) und L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) in den Text aufgenommene und durch das Scholion zur Stelle motivierte Konjektur von Brunck ist umstritten. W E B S T E R (1970): „Oxford text unnecessarily alters the MSS στυγερὸν στυγερῶς ‘wret‐ chedly’ to σμυγερὸν σμυγερῶς ‘painfully’: the scholiast’s note ἐπίπονος ‘laboriously’ would explain the former as well as the latter“ S. 81. K A M E R B E E K (1980) führt S. 48 weiter an: „στυγερός can very well mean ‘wretched’ (Trach. 1016)“. 24 B U R T O N (1980) S. 229: „action yields place to reflection“. diert mit der perspektivischen Verschiebung, die sich in den folgenden beiden Strophen des Chors (v. 169-190) zu einem ausgreifenden Panorama weiten wird. Die Frage des Chors beantwortet Neoptolemos im Anschluss: Philoktet be‐ finde sich, so viel sei ihm klar, in der Nähe auf Nahrungssuche; immerhin, so sage man (λόγος ἐστί), sei es die grundlegende Art und Weise seines Lebens, 22 in mühseliger Weise mit seinen Pfeilen auf die Jagd zu gehen, wobei sich jedoch keine Linderung seiner Übel einstelle. Die wesentlichen Fakten der dramatischen Situation sind so an den Chor weitergegeben; die Information über die aktuelle Lage hat damit ein Ende ge‐ funden und ist, nach einer Bemerkung zum allgemeinen Zustand Philoktets, unversehens in die Imagination des von Schmerzen geplagten Jägers überge‐ gangen. Gerade die eindrucksvolle Junktur στυγερὸν στυγερῶς bzw. σμυγερὸν σμυγερῶς 23 sowie der Hinweis auf die fehlende - und damit impliziert: er‐ sehnte - Heilung nehmen Abstand vom rein informierenden Sprachduktus und bieten der Ausgestaltung des konkreten Bildes den direkten Anknüpfungspunkt für die einsetzende Reflexion des Chors. 24 So beginnt schließlich auch die zusammenhängende Passage chorischer Aus‐ leuchtung mit der betonten Bekundung des eigenen Mitgefühls (v. 169). Dabei rahmen das Prädikat οἰκτίρω „Mitleid fühlen“ und das herausgehobene ἔγωγʼ „ich für meinen Teil“ das Objekt νιν, was die emotionale Nähe zwischen dem Chor und dem Protagonisten geradezu greifbar werden lässt. Grund und Ge‐ genstand der Sympathie entfaltet das Folgende wortreich: Ohne je das vertraute Gesicht eines sorgenden Mitmenschen zu sehen, sei Philoktet zutiefst unglück‐ lich und immerzu allein (δύστανος, μόνος αἰεί v. 172) - eine differenzierende und ausgestaltende Fortführung des so bedeutenden ὁ τλήμων aus Vers 161. Die eigentliche Ursache dieses Leidens benennt der Chor erneut unter betonter Stellung der Prädikate νοσεῖ und ἀλύει: Philoktet leide an einer bösartigen Krankheit und sei außer sich bei jeder neuen Anwandlung seiner Not. Der af‐ fektvollen Frage in Vers 175, wie Philoktet dem nur standhalten könne (πῶς ποτε πῶς ἀντέχει), antwortet ein gedoppelter Anruf (v. 177 ff.) der Hände, d. h. I. Chöre wehrfähiger Männer 90 <?page no="91"?> 25 Man kann mit gutem Recht den bei J E B B (2004) S. 37 und W E B S T E R (1970) S. 82 f. gege‐ benen Gründen folgen und mit D A W E (1979). Sophoclis Tragoediae: II Trachiniae, An‐ tigone, Philoctetes, Oedipus Coloneus, Leipzig und L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) die Konjektur Lachmanns θεῶν für θνητῶν akzeptieren. Zweifelnd zeigt sich allerdings K A M E R B E E K (1980) S. 49: „I prefer to retain the mss reading […], but not without misgiv‐ ings“. Neben metrischen Gründen (vgl. W E B S T E R (1970)) spricht für die Änderung des über‐ lieferten Texts der Kontrast zwischen göttlicher Einwirkung und menschlichem Un‐ glück, wobei das schillernde Wort παλάμη ein Panorama unterschiedlicher Deutungen aufwirft („cunning, art, device, either in good or bad sense“ LSJ). Vom Standpunkt der logischen Abfolge ließe sich einwenden: Eine wirkliche Antwort auf die vorhergehende Frage kann Vers 177 nur sein, wenn darin ein Bezug auf Philoktet und seine Fähigkeit, Leid zu ertragen, gegeben ist. Mit dem textkritischen Problem verbunden ist damit die Entscheidung, den zweifachen Ausruf (oder zumindest seinen ersten Teil) als Antwort auf die aufgeworfene Frage verstehen zu wollen, oder beides - Frage und Ausruf - als affektvolle Äußerungen nebeneinander zu stellen. Letzteres scheint plausibler. 26 Der Text ist hier wie auch schon in Vers 187 heftig umstritten. Hier soll sich keine erneute textkritische Untersuchung anschließen, ich folge L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990). der Macht und der Kunstgriffe, der Götter (παλάμαι θεῶν 25 ) und der unglück‐ seligen Menschengeschlechter, deren Leben das Normalmaß übersteigt (μὴ μέτριος αἰών). Damit schließt die Strophe nach der konkreten Mitleidsäußerung gegenüber Philoktet mit der Frage nach seiner augenscheinlich überragenden Leidensfähigkeit und einer generellen Einordnung in die moralisch-theologi‐ schen Kategorien von göttlichem Einfluss und menschlicher Maßüberschrei‐ tung. Einen erneuten Blick auf den einsamen Helden wirft die Gegenstrophe. Unter der betonten Voranstellung des οὗτος - der Bezug ist jedem offensichtlich - entwickelt sie den Kontrast von Anspruch und Wirklichkeit, den die Figur Phi‐ loktets in den Augen des Chors darstellt: Er stehe zwar hinsichtlich seiner Ab‐ kunft einem Spross vornehmer Familien in nichts nach, friste aber dennoch sein Leben aller Dinge beraubt (πάντων ἄμμορος), einsam und getrennt von anderen Standesgenossen unter wilden Tieren. Von Schmerzen und Hunger geplagt leide er so an nicht zu beschwichtigenden schweren Sorgen (ἀνήκεστʼ ἀμερίμνητα βάρη). Dabei begleite sein jammervolles Klagen (πικραῖς οἰμωγαῖς) das Echo. 26 Die ausführliche Äußerung des Chors hat damit ein Ende gefunden. Die beiden Strophen erweisen sich bei genauerer Untersuchung als in besonderer Weise motivisch und sprachlich aufeinander abgestimmt. Zentrales Thema der Partie ist die Einsamkeit des Haupthelden, was sich in den leicht variierten For‐ mulierungen μόνος αἰεί (v. 172) und μοῦνος ἀπʼ ἄλλων (v. 183) widerspiegelt. Während dabei die erste Strophe das Augenmerk auf die körperlichen Gebre‐ chen Philoktets, den Mangel an ihm entgegengebrachter Fürsorge und seine 1. Philoktet 91 <?page no="92"?> ungebrochene Duldsamkeit legt, verschiebt die Gegenstrophe den Fokus auf die soziale Dimension: Sie malt dabei ein eindrucksvolles Bild der „Gesellschaft“ des Helden aus „gefleckten“ und „zottigen“ Tieren, ruft die in der ersten Strophe ausgeführte Krankheit in ὀδύναις in Erinnerung und verweist mit Rückgriff auf Vers 162 ff. auf den Hunger als drängende Sorge Philoktets. Gezeichnet wird so das Bild eines in Sorgen und Kummer gefangenen, seiner ihm eigentlich zu‐ kommenden Stellung beraubten und in unwürdigen Verhältnissen lebenden Heros. Die auf ihn bezogenen Adjektive spiegeln diesen erbarmungswürdigen Zustand: δύστανος, μόνος, δύσμορος in der Strophe, ἄμμορος (was das voran‐ gegangene, den eigentlichen Anspruch markierende οὐδενὸς ὕστερος mit der Kraft der Realität geradezu aufhebt), οἰκτρός und μοῦνος in der Gegenstrophe. Dass dabei pro Strophe je drei Begriffe den aktuellen Zustand des Helden aus‐ leuchten und zudem in beiden Strophen durch ἔχων bzw. μὴ ἔχων dem Mangel an menschlicher Zuwendung ganz konkret die Fülle an Sorgen gegenüberge‐ stellt wird, ist ein Ausweis der besonders abgestimmten und feinen Kompositi‐ onsabsicht. Die Thematisierung des Echos am Ende der Gegenstrophe schließt dabei die Imagination der Lebensumstände Philoktets treffend ab: Indem mit diesem Phänomen die einzige Antwort auf die Klagen des Helden, sein alleiniger Gesprächspartner benannt wird, setzt es den Protagonisten in Beziehung zu seiner menschenleeren Umwelt und charakterisiert so seine Einsamkeit und Verlassenheit indirekt aus dem entworfenen Bild heraus. Im Vergleich zum Ende der Strophe (v. 177 ff.) lässt sich feststellen: Während dort die allgemeinere Per‐ spektive göttlichen und menschlichen Handelns bzw. Erleidens angeschnitten wurde, bieten die vorliegenden Verse 188 ff. ein zwar indirektes, allerdings ganz aus der konkreten Situation entnommenes Panorama, das den Fokus wieder auf die in Raum und Zeit lokalisierbare dramatische Situation zurückführt. Wie schon beim ersten Strophenpaar der lyrischen Szene (v. 135-143 sowie 150-158) begegnet also auch hier eine Abfolge sprachlich und motivisch aufei‐ nander abgestimmter Strophen, die einen inhaltlichen Fortschritt bzw. eine Si‐ tuationsdeutung unter zwei unterschiedlichen Aspekten bieten. Sophokles ver‐ steht es dabei, zwei dramaturgische und motivische Impulse für den Fortgang der Reflexion bzw. der Handlung zu setzen: Zum einen wird kurz eine allge‐ meine, theologisch umfassende Deutungsebene eingeblendet, was seinen Nach‐ hall in Neoptolemosʼ Ausdeutung v. 192 ff. finden wird. Zum anderen lässt sich in οἰμωγαῖς (v. 190) und der Echo-Thematik bereits ein Hinweis auf die während des dritten Strophenpaars vom Chor vernommenen Lautäußerungen Philoktets (αὐδὰ τρυσάνωρ v. 208 f.) lesen, die schließlich in seinem Auftritt nach Vers 219 / 220 gipfeln werden. Anders gesagt: Die emotionale, mitleidsvolle Partie dient nicht nur der Imagination des Protagonisten und der bildhaften Ausge‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 92 <?page no="93"?> staltung seiner Lebensumstände, sondern bringt die Reflexion selbst wesentlich voran und bereitet die folgenden Entwicklungen bzw. Ausführungen bereits vor. Kommen wir zur Antwort des Neoptolemos in den Versen 191-200. Wie be‐ reits erwähnt, deutet er die Situation Philoktets unter theologischen Vorzeichen: Nichts von alledem, so bekennt er, setze ihn in Erstaunen; es seien die göttlichen Leiden (θεῖα παθήματα) der grausamen Chryse, die Philoktet auszuhalten habe. Des Weiteren ist er überzeugt: Es sei schlicht nicht möglich (οὐκ ἔσθʼ), dass die aktuellen Leiden des Helden ohne göttliche Einflussnahme (οὐ θεῶν μελέτη) bezüglich des Untergangs Troias zu Stande gekommen seien. So werde der Held seine Waffen erst gegen die Stadt richten, wenn die richtige, d. h. gottbestimmte Zeit ihres Untergangs gekommen ist; bis dahin - so der implizite Schluss - sei es ihm durch das verhängte Leid unmöglich, in den göttlichen Plan einzugreifen. Damit hat der mittlere Abschnitt der Passage ein Ende gefunden. In Vers 201 wird der Chor mit dem Hinweis auf hinterszenische Geräusche das Eintreffen Philoktets in greifbare Nähe rücken und so die Reflexionen und Einordnungen zu Gunsten der Vorbereitung auf den bevorstehenden Auftritt des Protagonisten unterbrechen. Machen wir uns daher klar: Die anapästische Antwort des Neo‐ ptolemos leistet eine für das Drama wesentliche Konkretisierung der durch den Chor angedeuteten Motivik. Während in Vers 177 ff. allgemein das Unheil eines maßüberschreitenden Lebens - eventuell mit einem Hinweis auf den göttlichen Einfluss - thematisiert wurde, steht für Neoptolemos die Existenz eines hinter den Geschehnissen waltenden göttlichen Plans außer Frage. Mit der Einordnung der aktuellen Lage Philoktets in den Troia-Kontext ist die durch den Chor re‐ flektierte und imaginierte Situation im Handlungsgefüge verortet. Anders ge‐ sagt: Die Bildhaftigkeit und Emotionalität der Kurzode (v. 169-190) findet hier ihren Kontrapunkt in einer auf die großen Zusammenhänge der Handlung ge‐ richteten Ausdeutung, die Zuschauern und Lesern wesentliche, im Prolog be‐ reits entfaltete Motive wieder in Erinnerung ruft. Wenn an unserer Stelle aller‐ dings Neoptolemos seine Rolle bei der Einnahme Troias verschweigt (vgl. v. 114 ff.), so ist dies der ausschließlichen Fokussierung auf Philoktet und seine Rolle in der dramatischen Gegenwart sowie der intendierten Zukunft ge‐ schuldet. Dem so erreichten Ausblick in die Zukunft nach einer geglückten Mission auf Lemnos, d. h. der Zielvorstellung, die der Intervention von Odysseus und Neo‐ ptolemos zu Grunde liegt, ist reflektorisch nichts mehr hinzuzufügen. Mit Vers 201 erfährt die Szenerie eine besondere Dynamik. Der Chor unter‐ bricht seinen Herrn und gibt - nach einem vernehmbaren hinterszenischen Ge‐ räusch - auf die Frage „Was ist das? “ Antwort: Man hat das Getrappel Philoktets als eines gequälten Mannes vernommen, auch wenn es (noch) nicht genau zu 1. Philoktet 93 <?page no="94"?> 27 Zur möglichen Positionierung der Schauspieler und des Chors im Bereich der Bühne vgl. W E B S T E R (1970) S. 84 f. 28 Ich kann K A M E R B E E K (1980) S. 54 nicht folgen, der im Bild vom ungastlichen Ankerplatz den Blick Philoktets auf das an der Küste der Insel liegende Schiff des Neoptolemos und seiner Mannschaft erkennt. Vielmehr wählen die Seeleute hier ein Bild aus ihrem all‐ täglichen Erfahrungsschatz. lokalisieren ist (v. 204). Die Wirkung der ebenso deutlich gehörten Stimme (ἐτύμα φθογγά) bildet das verdoppelte βάλλει in Vers 205 wirkungsvoll ab; Phi‐ loktet, so die Konsequenz der Lautäußerungen, scheint unter Schmerzen seinen Pfad entlang zu kriechen (ἕρποντος). Auch der von Erschöpfung zeugende Laut (αὐδὰ τρυσάνωρ) ist dem Chorführer nicht verborgen geblieben, da er ganz vernehmlich zu hören war (v. 209). Beachtenswert ist die sprachlich fein abgewogene Komposition der Strophe: Drei klangliche Phänomene - κτύπος, φθογγά und αὐδά - bilden den Anlass der Äußerung und erfahren innerhalb der Strophe ihre Ausgestaltung. In jeweils paralleler Stellung ist der Nennung des Geräuschs zunächst das Prädikat vo‐ rangestellt - προὐφάνη, βάλλει βάλλει sowie (οὐδέ) λάθει; während dabei κτύπος durch kein kongruentes Adjektiv ausgestaltet wird, gesellt sich zu φθογγά die Angabe ἐτύμα, αὐδά wird durch die beiden Angaben βαρεῖα (vor‐ gestellt) und τρυσάνωρ (nachgestellt) eingerahmt. Schritt für Schritt wird so an Hand der Begriffe das Bild des kranken Philoktet entfaltet, bis schließlich mit seiner deutlich vernehmbaren Stimme (διάσημα) geradezu seine ganze Person vor dem geistigen Auge der Zuschauer präsent ist und sie seinen baldigen Auf‐ tritt erwarten. Die Gegenstrophe beginnt erneut mit einer Aufforderung des Chors an seinen Herrn, die dieser für eine kurze und affektvolle Frage unterbricht. So wird Ne‐ optolemos auf die neue Situation aufmerksam gemacht: Philoktet ist nicht au‐ ßerhalb seines Wohnsitzes (ἔξεδρος), sondern in der Höhle angelangt, d. h. dem eigentlichen Bühnengeschehen ganz nahe gekommen (ἔντοπος v. 211). 27 Was folgt, ist eine weitere Beschreibung der wahrgenommenen Geräusche und Laut‐ äußerungen des Heros, diesmal weniger durch beigestellte Adjektive, sondern in bildhaften Vergleichen: So gleiche sein Rufen nicht dem Gesang der Syrinx, die ein Hirte bei sich trägt; vielmehr lasse er strauchelnd und durch Not ge‐ zwungen (πταίων ὑπʼ ἀνάγκας) einen weithallenden Klageschrei (τηλωπὸν ἰωάν) erschallen, als sähe er einen für ankommende Schiffe äußerst ungastlichen Ankerplatz. 28 Noch einmal bekunden die Choreuten daraufhin die Gewalt und Lautstärke Philoktets (προβοᾷ τι δεινόν), bevor dieser in Vers 219 endgültig in den für Neoptolemos, den Chor und die Zuschauer sichtbaren Bereich tritt. I. Chöre wehrfähiger Männer 94 <?page no="95"?> 29 So die Formulierung von B U R T O N (1980) S. 230, der es leider versäumt, darin eine Pa‐ rallele zum Zentralbegriff des zweiten Strophenpaars zu sehen. Machen wir uns kurz den Zusammenhang dieses letzten Abschnitts klar, bevor wir die Passage im Ganzen überblicken. Mit der Gegenstrophe ist Phi‐ loktets Präsenz auf ein Höchstmaß gesteigert: Während zunächst, d. h. in den Versen 201-209, noch die Lautäußerungen selbst Gegenstand der Betrachtung und zugleich grammatikalisches Subjekt waren, fokussiert sich an unserer Stelle die Betrachtung ganz auf den Protagonisten selbst. Er ist Handlungsträger, selbst das zu beschreibende Phänomen und daher Subjekt der ausgreifenden Periode v. 212 ff. Die dabei seinen Lauten zukommenden Beschreibungen werfen zu‐ nächst das kontrastreiche Bild eines wandernden Hirten auf, bilden dann die Realität ab und enden in einem Vergleich, der ganz aus der nautischen Perspek‐ tive der Schiffsleute gesprochen ist. Man mag in dieser Dreigliedrigkeit einen Widerhall der prominenten Dreigliederung in der vorangegangenen Strophe erkennen und den dort gegebenen Ausgestaltungen so die Vergleiche der Ge‐ genstrophe zur Seite stellen. Das „Echo“ 29 der Junkturen κατʼ ἀνάγκαν und ὑπʼ ἀνάγκας (v. 206 und 215) ist dabei ein wirkungsvolles Mittel, den zentralen Gedanken des Strophenpaars zum Ausdruck zu bringen. Wie schon im vorangegangenen Abschnitt das Motiv der Einsamkeit durch die Wiederholung des Begriffs μόνος bzw. μοῦνος (v. 172 und 183) als wesentliches Moment der Reflexion herausgearbeitet wurde, so verknüpft auch hier das Echo die Zusammengehörigkeit des Strophenpaars und stellt mit Philoktets Not einen bedeutenden dramatischen Umstand dar. Wir sind unversehens dazu gekommen, das Verhältnis des letzten Strophen‐ paars zu den anderen Teilen der umfangreichen lyrischen Szene klarzustellen. Ohne Vollständigkeit anstreben zu wollen, müssen die wesentlichen und ins Auge stechenden Bezüge hier aufgeführt werden. Gerade mit dem ersten Stro‐ phenpaar der Passage (v. 135-168) steht der Schlussabschnitt in vielfältiger be‐ grifflich-motivischer Verbindung: Dem fragenden τίς τόπος (v. 157) steht zu‐ nächst das unbestimmte ἤ που τᾷδʼ ἢ τᾷδε τόπων (v. 204), schließlich das bestimmte ἔντοπος (v. 211) gegenüber. Das mit dieser letzten Angabe kontras‐ tierende οὐκ ἔξεδρος (v. 211) spiegelt zudem die Frage τίς ἕδρα, ebenfalls aus Vers 157, sowie die Bezeichnung ἔνεδρος (v. 153). Auch die Frage nach dem Weg des Helden (τίνʼ ἔχει στίβον v. 157) klingt in der lokal noch unscharfen Formu‐ lierung φθογγά του στίβον ἕρποντος v. 206 erneut an. Die schlichte Benennung des Helden als „Mann“ (ἀνήρ v. 212) ist eine Reminiszenz an die erste Apostro‐ phierung des Protagonisten als ἀνὴρ ὑποπτάς (v. 136). Während der Chor zudem in der ersten Gegenstrophe noch die Furcht äußerte, den herannahenden Phi‐ 1. Philoktet 95 <?page no="96"?> 30 B U R T O N (1980) S. 229. 31 P A U L S E N (1989) S. 78 f., ähnlich auch S C H M I D T (1973) S. 54 f. 32 P A U L S E N (1989), vgl. B U R T O N (1980) S . 229: „the same circular or ABA construction in the parodos“. loktet im Ernstfall nicht wahrzunehmen (μή με λάθῃ v. 156), ist der nun an das Ohr der Choreuten dringende Ruf des Gequälten untrüglich: οὐδέ με λάθει (v. 207 f.). Es ist nach dieser Aufzählung offensichtlich: Die beiden Strophenpaare sind absichtsvoll in der Form von Frage und Antwort aufeinander hin komponiert. Die Sprechersituation ist dabei annähernd gespiegelt: Während zunächst Neo‐ ptolemos den Chor mit den nötigen Informationen versorgte, ist es am Ende der Partie am jugendlichen Kapitän, sich selbst über die Vorgänge ins Bild setzen zu lassen. Die virulenten Fragen vom Beginn der Partie werden so beantwortet. Aber auch das inmitten dieser motivisch-begrifflichen Klammer positionierte eigentliche Lied, d. h. das zweite Strophenpaar v. 169-190, klingt in einigen For‐ mulierungen der Schlusspartie wieder an: Auf die strukturelle Ähnlichkeit mit Blick auf die Betonung eines Zentralbegriffs ist bereits hingewiesen worden; augenfällig sind weiterhin die Spiegelung von τηλεφανής (v. 189) in τηλωπόν (v. 216), die erneute Verwendung des Partizips ἔχων (v. 213, vgl. v. 171 und 187) sowie die möglicherweise bewusste Anspielung auf die Tierthematik aus Vers 184 im Bild des Hirten v. 214 f. Diese Wiederaufnahmen und Spiegelungen er‐ schöpfen sich dabei nicht in reiner Wiederholung oder Ausmalung bereits be‐ handelter Sachverhalte, sondern sind auf Grund ihrer dramatischen Brisanz wesentlich dazu geeignet, die eigentliche Handlung erneut anzustoßen und fortzuführen. Die gesamte Auftrittsszenerie des Chors kann nun überblickt werden. Kurz lässt sich zusammenfassen: Die im ersten Strophenpaar ausgetauschten Infor‐ mationen setzt der Chor im mittleren Abschnitt der Passage in ein vitales Bild vom Protagonisten um und bereitet damit zugleich dessen Auftritt vor, den das dritte Strophenpaar als affektvolle Liminalszene in greifbare Nähe rückt. Es bietet sich an, die Passage in die drei Abschnitte Information und Erkundung, Imagination und Ausdeutung sowie Auftrittsvorbereitung zu gliedern. Wenn B U R TON 30 und P AUL S E N 31 darin das strukturelle „Schema A-B-A“ 32 erkennen, so treffen sie sicherlich den richtigen Sachverhalt. Gerade die oben angeführten vielfältigen Bezüge zwischen dem ersten und dem dritten Strophenpaar spre‐ chen in dieser Hinsicht für sich. Allerdings läuft die gewählte Formulierung Gefahr, die komplexe Struktur der Partie zu vereinfachen. Statt eines simplen dacapo - um, der Sache ganz und gar angemessen, mit Begriffen der Musik zu reden - bietet sich an, etwas differenzierter von einer Abfolge Exposition - I. Chöre wehrfähiger Männer 96 <?page no="97"?> 33 Vgl. dazu K O R Z E N I E W S K I (1962). „Zum Verhältnis von Wort und Metrum in Sophoklei‐ schen Chorliedern.“ in: Rheinisches Museum für Philologie 105 (1962), S. 142-152, der sich auf den Seiten 144-148 der Parodos des Philoktet widmet und gerade auch mit Blick auf die Metrik von einer „konzentrischen Struktur“ der lyrischen Partie (S. 147) spricht. 34 Die von B U R T O N (1980) S. 229 und P A U L S E N (1989) S. 78 f. aufgeführte Ähnlichkeit der vorliegenden Passage mit der Parodos der Elektra stößt spätestens hier an ihre Grenzen: Zwar mag die Dreiteilung beider Abschnitte ein übereinstimmendes Moment dar‐ stellen, hinsichtlich der dramaturgischen Wirkung allerdings unterscheiden sie sich maßgeblich. Während hier einer der Prologsprecher auf der Bühne verbleibt und zum direkten Gesprächspartner des Chors wird, unterbricht Elektra als Protagonistin durch ihren Schrei das Prologgespräch, etabliert sich und ihre eigene Anwesenheit auf der Bühne (vgl. den langen anapästischen Monolog v. 86-120) und tritt erst dann mit den aufgetretenen Frauen in ein Zwiegespräch. Durchführung - Reprise zu sprechen und so das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander genauer zu fassen. 33 Grundthema und Ausgangspunkt der gesamten Partie ist dabei mit Philoktet der Protagonist selbst: Sein elendes Leben auf der sonst menschenleeren Insel bildet in der bildhaften Ausgestaltung des zweiten Strophenpaars die Mitte des Abschnitts. Gerahmt wird diese dabei durch die Erkundung der konkreten Le‐ bensumstände des Helden durch den Chor sowie die schrittweise Konfrontation mit dem realen Philoktet, der schließlich auf der Bühne erscheinen wird. Die Szenerie entfaltet in dieser Hinsicht gerade gegen Ende eine enorme Sogwir‐ kung, die rückblickend geradezu das dramatische Crescendo der bisherigen Ab‐ folge von Prolog und Auftrittsszene des Chors darstellt. War Philoktet bereits seit den ersten Worten des Odysseus (v. 4 ff.) Gegenstand und Bezugspunkt von Handlung und Reflexion, so sind mit der lyrischen Partie der Protagonist selbst, das Verhältnis der Akteure einschließlich des Chors untereinander und die ge‐ samte dramatische Umwelt in höchstem Maß ausgeleuchtet. Schon angesprochen wurde der durchgehende Handlungsfluss im Übergang vom Prolog zur Auftrittsszene des Chors. Indem der Chor keine leere Bühne betritt, sondern sich zu Neoptolemos als einem der Prologsprecher gesellt und mit ihm in ein Gespräch eintritt, ist die gesamte folgende Szenerie als direkter Anschluss an die vorangegangene Unterredung etabliert: Kein Neubeginn, son‐ dern dramatische Kontinuität prägt das Bühnengeschehen. 34 Dementsprechend sind bestimmende Motive und Strukturmomente des Prologs auch für die lyri‐ sche Passage von Bedeutung: Zunächst ist letztere wesentlich dialogisch, d. h. Austausch zwischen Mannschaft und Kapitän. Statt dem Zwiegespräch Odys‐ seus-Neoptolemos also eine rein reflektierende, monologische Partie folgen zu lassen, belebt Sophokles die bereits etablierte und mit dem Abtritt des Odysseus zu einem ersten Ende gekommene Dynamik des Dialogs neu. 1. Philoktet 97 <?page no="98"?> 35 S C H M I D T (1973) S. 55. Die Erkundung des dramatischen Raums, d. h. der Bühne, sowie die Beschrei‐ bung der Höhle und der Lebensbedingungen Philoktets bilden zudem eine wei‐ tere Brücke zwischen Prolog und Parodos. Indem auch der Chor über einige wesentlichen Momente der Handlung informiert wird und sich selbst ein Bild von der Lage macht, wiederholt sich die strukturelle Ausgangssituation des Prologs. Wenn dabei die beiden dialogisch strukturierten Strophenpaare eine reflektierende und imaginierende Kurzode umrahmen, ist das Prologgespräch in einer anderen Personenkonstellation, also unter veränderten Vorzeichen, ge‐ spiegelt und - unter Einschaltung und Nutzbarmachung eines anderen Formele‐ ments - geradezu fortgeführt. Damit allerdings nicht genug. In entscheidender Hinsicht kontrastiert die Auftrittsszene des Chors mit dem Prolog und setzt sich in wesentlichen Ele‐ menten von ihm ab: Zum einen lenkt die lyrische Passage den Blick ganz und gar auf den Protagonisten und blendet dabei die moralische Diskussion sowie das Unbehagen des Neoptolemos angesichts der geplanten Intrige aus. Indem er seiner Mannschaft als „souveräner Führer in der Kopie des Od[ysseus]“ 35 gegenübertritt und zudem das ausgemalte Leid einzuordnen und zu deuten ver‐ steht (v. 191 ff.), ist die Problematik seines Vorhabens und der in Rede stehenden Täuschung ganz aus dem Blick geraten. Statt einer Problematisierung des wei‐ teren Vorgehens, wie es die einleitende Frage des Chors (v. 135 f.) vermuten ließ, entfaltet sich eine farbenreiche Imagination des Protagonisten, wobei zudem das Verhältnis zwischen den verschiedenen Akteuren (Neoptolemos, Chor, Phi‐ loktet) ausgeleuchtet wird. Damit Hand in Hand geht die zweite Verschiebung gegenüber dem Prolog: Während sich Odysseus und Neoptolemos in ihrer Unterredung vom Schicksal des Philoktet mehr oder minder unbeeindruckt zeigten, nimmt der emoti‐ onal-mitleidende Blick in der lyrischen Passage eine zentrale Rolle ein. Hatte also der Prolog im Wesentlichen den intendierten Fortgang der Handlung im Blick, reflektiert die Auftrittsszenerie des Chors ein bedeutendes Moment der Handlung in emotional-bildhafter Ausgestaltung. Die Auftrittsszene des Chors ist so von einer besonderen Spannung geprägt: Als Fortführung struktureller Momente des Prologs unter Verschiebung entschei‐ dender Vorzeichen reiht sie sich in die dramatische Kontinuität, vervollständigt dabei allerdings durch eine Perspektiv- und Akzentverschiebung das Bild vom I. Chöre wehrfähiger Männer 98 <?page no="99"?> 36 So auch S C H M I D T (1973) S. 55, der als Hauptfunktionen der Passage festhält: „Fortset‐ zung der Exposition“ und „Beginn der Intrige“. Gewinnbringend sind dabei seine Aus‐ führungen über die „Hauptfunktionen der Parodos bei Sophokles“. 37 Auf die Funktion der Partie als Exposition der dramatischen „Rolle“ des Chors geht S C H M I D T (1973) S. 53 f. ein, der im Besonderen die „Treue und Ergebenheit“ der Matrosen ihrem Herrn gegenüber betont und darin ein besonderes Charaktermerkmal des „ein‐ fachen Mannes“ erblickt. 38 Die thematischen (und teilweise begrifflichen) Bezüge sind klar: So ergeben sich als Überschneidungspunkte der beiden Partien die Motive der Krankheit (v. 173 νόσον ἀγρίαν und 265 f. ἀγρίᾳ νόσῳ sowie 313), der Hilflosigkeit (v. 170 ff. und 281) sowie des Hungers bzw. der Jagd und Nahrungssuche (v. 162 ff., 185 ἐν ὀδύναις ὁμοῦ λιμῷ τ’ und 312 f. ἐν λιμῷ τε καὶ κακοῖσι 287 ff.). Auf die kommentierenden Verse des Chors 317 f. und ihre Einordnung wird weiter unten eingegangen. Protagonisten und der gesamten dramatischen Ausgangssituation. 36 Die weit‐ greifende Imagination des Protagonisten innerhalb seiner Umwelt bildet dabei den Auftakt zum Auftritt Philoktets und dem damit verbundenen Fortschreiten der Handlung. Zudem ist, wie sich später zeigen wird, mit der breit entfalteten Mitleidsthematik ein Grundmotiv der chorischen Reflexion an unserer Stelle prominent etabliert. 37 Die ausführliche Passage nimmt damit eine besondere Gelenkfunktion zwi‐ schen dem Prolog und dem ersten Epeisodion ein. Gerade mit Blick auf die sich anschließende Szene lässt sich weiterhin feststellen, dass die Imagination der widrigen Lebensumstände des Haupthelden in dessen ausgreifendem Monolog (v. 254-316) in gewisser Weise beantwortet und gespiegelt wird. 38 Insofern voll‐ zieht sich die Exposition des Heros, seiner Geschichte und seiner Situation in einem Dreischritt: Der Prolog hatte kurz sowohl den eigentlichen Akt der Aus‐ setzung durch Odysseus thematisiert sowie einen ersten Blick auf die Figur Phi‐ loktets geworfen. Die lyrische Passage, v. a. die Kurzode v. 169-190, war dem‐ gegenüber trotz ihres Mangels an konkreter Erfahrung von bildhafter Drastik und detaillierter Ausgestaltung geprägt, während Philoktets eigene Worte er‐ neut eine umfassende, d. h. seine Aussetzung, die Beschreibung der Insel sowie der momentanen Situation bietende Ausleuchtung aus der Perspektive des Be‐ 1. Philoktet 99 <?page no="100"?> 39 Eine inhaltliche Gliederung der Rhesis sowie eine strukturell-rhetorische Einordnung bietet ebenfalls S C H M I D T (1973) S. 73 ff. 40 Es ist daher fraglich, inwieweit S C H M I D T (1973) S. 58 f. Recht hat, wenn er kontrastierend feststellt: Der erste Teil des ersten Epeisodions sei „in den Dramen bis zum OT“ - den sog. älteren Stücken - „noch eindeutig Teil der Exposition“, während die Veränderungen im Aufbau der „späteren Stücke“ „zweifellos eine Straffung des vor allem informier‐ enden und exponierenden Teiles“ darstellten. So liegt doch gerade hier eine besondere Form der „Parallelkomposition“ (S. 55), der „Wiederholung in anderer Kunstform“ (S. 56) vor, nur eben nicht als reine Wiederaufnahme der Prologinformationen im Auf‐ trittslied des Chors, sondern in der Form der Beantwortung durch einen folgenden Monolog, was der lyrischen Partie - nach den motivischen Andeutungen im Prolog - eine reizvolle Mittelstellung einräumt. 41 S C H M I D T (1973) S. 59 formuliert in diesem Zusammenhang sehr treffend: „Zum anderen wird der Ablauf der Parodos in ‚Geschehen‘ umgesetzt“. troffenen darstellen werden. 39 Die lyrische Passage ist so motivisch und thema‐ tisch geklammert. 40 So vielgestaltig die Passage in formeller Hinsicht ist, so polyvalent erscheint sie mit Blick auf die dramaturgischen Implikationen. Zusammengefasst soll festgehalten werden: Sophokles versteht es, der Auftrittsszene des Chors als einer traditionell an Handlungsfortschritt armen Stelle innerhalb des dramati‐ schen Ablaufs dennoch besondere dramatische Brisanz und Dynamik zu ver‐ leihen. 41 Die Rahmung der rein reflektierenden Partie (v. 169-190) durch die dialogisch gestalteten Strophenpaare verankert dabei die Imagination fest im Ablauf des Gesprächs und der Handlungsentwicklung. Mit der oben erläuterten motivisch-thematischen Klammerstellung ist gerade der reflektierend-imagi‐ native Teil auf dramatische Fernwirkung konzipiert und reiht sich als zweites, ausführliches und wesentlich emotionales Moment in die ausgreifende Schil‐ derung des Protagonisten. Mit der Gestaltung der Partie als einer umfangreichen Komposition von drei formal unterschiedenen Abschnitten setzt Sophokles des Weiteren gleich zu Beginn des Stücks einen wesentlichen Akzent, der den Auftritt des Protago‐ nisten umso wirkungsvoller in Szene setzt. Dass mit der Gesprächssituation Neoptolemos-Chor zudem eine typische und die weiteren chorischen Partien entscheidend prägende Konstellation etabliert ist, wird sich im Fortgang des Stückes zeigen. I. Chöre wehrfähiger Männer 100 <?page no="101"?> 42 Die besonderen Formen chorischer Präsenz im vorliegenden Epeisodion machen eine ausführliche Behandlung dieses Abschnitts nötig. Geradezu exemplarisch kann dabei Wesentliches zur Chorführung der gesamten Tragödie erarbeitet werden. 43 Die außerordentliche Komposition der Tragödie wird besonders deutlich, wenn man sich folgenden Sachverhalt vor Augen hält: Bereits mit dem Ende des ersten (und ein‐ zigen) Stasimons in Vers 729 ist die arithmetische Mitte des Stücks annährend erreicht (Gesamtumfang 1471 Verse, Mitte in Vers 735). 44 B U R T O N (1980) S. 231: „In the following long epeisodion (219-675) Sophocles uses his chorus sparingly“. Erstes Epeisodion (v. 219 - 675) 42 Unter zwei Gesichtspunkten ist das folgende Epeisodion für unsere Untersu‐ chung von Bedeutung: Zum einen überrascht seine ausgreifende Länge: Erst nach Vers 676 - also nach mehr als 450 Versen - werden mit Philoktet und Neoptolemos die zentralen Akteure die Bühne verlassen und der Chor sein (erstes) Stasimon beginnen. 43 Das umfangreiche Epeisodion umfasst dabei das erste Gespräch zwischen Neoptolemos und dem aufgetretenen Philoktet, das Erscheinen und den Abtritt des von Odysseus bereits im Prolog angekündigten (vorgeblichen) Kaufmanns (v. 126 bzw. 627) sowie eine erneute Unterredung der beiden verbliebenen Personen. Sophokles lässt dabei Auf- und Abtritt des dritten Schauspielers zu einem wesentlichen Strukturmoment des Epeisodions werden, das die Handlung bedeutend voranbringt: Die durch den Kaufmann intendierte Eile (vgl. v. 620) prägt das weitere Geschehen und bietet zur vorangegangenen Unterredung zwischen Neoptolemos und Philoktet in ihrer ausgreifenden Weit‐ schweifigkeit einen wirkungsvollen und dynamischen Gegenpol. Von besonderem Interesse sind weiterhin die im besten Sinne sparsam, 44 aber mit besonderer Absicht eingebundenen chorischen Äußerungen innerhalb des ersten Epeisodions. Neben der standardisierten Auftrittsankündigung v. 539 ff. und der kurzen, aber bedeutsamen Kommentierung v. 317 f. fallen dabei beson‐ ders die beiden metrisch korrespondierenden Strophen v. 391-402 sowie 506-518 ins Auge. Machen wir uns vor einer kurzen Analyse dieser Partien den Ablauf der Situation überblicksartig klar. Mit dem Auftritt des Protagonisten in Vers 219 entspinnt sich zwischen ihm und Neoptolemos eine erste Unterredung, in der die beiden Gesprächspartner die nötigen Informationen untereinander austauschen. Zunächst ist es an Phi‐ loktet, Herkunft, Namen und Zielort seines Gegenübers zu erfahren: Die Freude, Griechen getroffen zu haben (v. 234 f.), wird dabei durch die Überraschung, ge‐ rade den Sohn Achills vor sich zu wissen, noch übertroffen (v. 242) und findet im Erstaunen über die Teilnahme des jungen Mannes am Kriegszug gegen Troia seinen Höhepunkt (v. 246). Neoptolemos - ganz seiner Rolle innerhalb der Int‐ rige gemäß - gibt sich unwissend (v. 253) und bietet so dem Protagonisten die 1. Philoktet 101 <?page no="102"?> 45 Zwar hat W E B S T E R (1970) durchaus Recht, wenn er die Kommentierung des Chors als konventionelles Moment bezeichnet („The usual two lines of chorus to mark the end of a major speech“ S. 92), die betont wörtliche Beziehung zum Beginn des zweiten Stro‐ phenpaars der „Parodos“ (v. 169) macht jedoch die besondere Einordnung und Bewer‐ tung der Passage nötig. Möglichkeit zu einer umfangreichen Vorstellung seiner Person, der Vorge‐ schichte und der momentanen Situation (v. 254-316). Schon oben wurde auf die besondere Einbindung dieses Monologs in den Ablauf der expositorischen Teile des Dramenbeginns hingewiesen. Es reicht daher, Folgendes zu bemerken: Die Zuschauer - ebenso wie die an der Szene beteiligten dramatischen Personen - erfahren aus dem Mund Philoktets keine wesentlichen neuen Informationen; die emotionale Ausgestaltung der sogar Neoptolemos bereits bekannten Fakten (Philoktets Identität, seine Krankheit, Aussetzung, Ernährung auf der Insel sowie deren Beschaffenheit und die daraus folgende Einsamkeit) lässt allerdings aufhorchen. Indem hier der Betroffene selbst zum ersten Mal umfangreich seine Perspektive der Dinge darlegt, wird aus dem bisher maßgeblichen Reden über den Protagonisten die Selbstdarstellung des entscheidenden Charakters. Dass mit den Ausführungen Philoktets die Imagination des Chors in gewisser Weise gespiegelt bzw. beantwortet wird, ist oben schon erwähnt worden. Es überrascht daher nicht, dass die erste Kommentierung des Monologs (v. 317 f.) gerade dem Chorführer zufällt; vielmehr ist dieser anscheinend standar‐ disierte Hinweis auf die Sympathie mit dem Sprechenden bewusst in den Zu‐ sammenhang eingepasst. 45 Machen wir uns klar: Philoktet hatte zum Abschluss seiner Ausführungen dargelegt, wie zufällig und unfreiwillig auf Lemnos Ge‐ landete ihn zwar mit Worten bedauerten, ihm Essen und Kleidung bereitstellten, ihn jedoch trotz seiner Bitten nicht nach Hause brächten (v. 305 ff.). Nach einer zusammenfassenden Verfluchung der aus Sicht des Protagonisten für seine Leiden verantwortlichen Heerführer bekundet schließlich der Chor sein Mitge‐ fühl: „Auch ich scheine gleich den hier angekommenen Fremden dich zu be‐ mitleiden, Sohn des Poias“ (v. 317 f.). Bemerkenswert ist dabei der Rückgriff auf den Beginn des zweiten Strophenpaars: Hatte dort die zweite Strophe in Vers 169 mit den Worten οἰκτίρω νιν ἔγωγʼ - also der betonten Formulierung einer eigenen Position - begonnen, so bietet die Formulierung an unserer Stelle κἀγὼ ἐποικτίρειν σε sogar eine wörtliche Reminiszenz. Die kurze, formal dem Stan‐ dard chorischer Kommentierung folgende Äußerung ruft so erneut die ausgrei‐ fende Imagination und deren emotionale Färbung ins Gedächtnis; die Ausfüh‐ rungen des Protagonisten werden endgültig zur lyrischen Partie vom Eingang des Stücks in Beziehung gesetzt, geradezu gerahmt und damit fest im motivi‐ schen Ablauf der einzelnen Teile verortet. I. Chöre wehrfähiger Männer 102 <?page no="103"?> 46 B U R T O N (1980) S. 231. 47 K A M E R B E E K (1980) S. 69. 48 S C H M I D T (1973) S. 79. 49 A. a. O. 50 In diese Richtung weist V I S S E R (1998) S. 115: „[…] er [der Chor] drückt sein Mitleid aus, allerdings ohne sich auf bestimmte Handlungsweisen festzulegen und ohne Konse‐ quenzen daraus zu ziehen“. 51 So auch S C H M I D T (1973) a.a.O: „Daher bemüht er sich nach Kräften, in dieser schwe‐ benden Situation nichts zu verderben“. Die Frage, ob der Chor an unserer Stelle echtes Mitleid bekundet oder gera‐ dezu heuchelnd zum Mitspieler der Intrige wird, ist so schwierig wie um‐ stritten - und für die vorliegende Untersuchung von geringer Bedeutung. Ein rascher Blick auf die gängigen Ansichten soll genügen: Während B U R TON be‐ merkt „the coryphaeus comments on Philoctetesʼ speech with an expression of pity“ 46 und K AME R B E E K vorsichtig anmerkt: „some irony is perhaps to be per‐ ceived“, 47 ist sich S CHMIDT sicher: Es bleibt völlig im Unklaren, ob er [sc. der Chor] wirklich beeindruckt und von echtem Mitleid erfaßt ist oder ob ihn der Einsame nur wie die vorher Angekommenen dauert, die ihm kleine Trostgaben zukommen ließen. […] Nach den bewegenden Strophen in der Parodos läßt sich eine herzliche Teilnahme an den Klagen des Ph[iloktet] erwarten, wie sie einige Interpreten deshalb auch gefunden haben. Statt dessen reagieren die Seeleute jedoch mit allem Bedacht verstellt! 48 Sicherlich weist S CHMIDT dazu mit Recht auf die „geschraubte Formulierung“ hin, „die, in sich schon zweideutig und vage, durch das ἔοικα noch halb wieder zurückgenommen wird“. 49 Ob man allerdings dem Chorführer eine innere An‐ teilnahme gänzlich absprechen kann, scheint mit Blick auf die Reminiszenz an Vers 169 und der dort ausgedrückten emotionalen Einbindung fraglich. Die durch die Formulierung intendierte Ambivalenz ist zwar offenkundig, lässt sich allerdings aus der dramatischen Situation heraus als ein vorsichtig abwartendes und dennoch strategisch kluges Herantasten an die beherrschende Figur des Protagonisten deuten. 50 Der Wahrheitsgehalt der Mitleidsbekundung steht dabei zunächst nicht zur Debatte. Anders gesprochen: Die kurze Kommentierung durch den Chor(-führer) bietet den Auftakt für die sich anschließende Unterre‐ dung zwischen Philoktet und Neoptolemos und ist zu diesem Zweck so unver‐ fänglich wie möglich. 51 Ob dabei einem Gefühl der Anteilnahme Ausdruck ver‐ liehen wird oder die Bemerkung als reine Verstellung zu werten ist, bleibt zunächst unbeantwortet, ja wird bewusst in der Schwebe gehalten. Solange die sicherlich intendierte Ambivalenz der Aussage vom Rezipienten wahrge‐ 1. Philoktet 103 <?page no="104"?> 52 Vgl. die S. 102, Anm. 45 zitierte Bemerkung W E B S T E R s sowie seine Bezeichnung der Passage als „excited iambo-dochmiac strophe (instead of the normal two lines of iambic comment after a major speech)“ S. 95. 53 Eine metrische Analyse bietet W E B S T E R (1970) S. 96. 54 Zur Frage der Gattung bemerkt J E B B (2004): „This strophe […] is a ὑπόρχημα, or ‘dance-song’“ (S. 70) und nimmt daher eine besonders ausgeprägte Untermalung durch Tanz an. Wie schon in den Trachinierinnen (v. 205 ff.) ist allerdings mit dem nicht exakt zu fassenden Begriff ὑπόρχημα auch hier nichts Wesentliches gewonnen (siehe dazu S. 190 ff.). nommen wird und so ihre Wirkung entfaltet, ist eine Diskussion der inneren Beweggründe des Akteurs von geringerer Bedeutung. Zunächst sollen die weiteren Äußerungen des Chors innerhalb des Epeis‐ odions betrachtet werden. Dem kurzen Wechselgespräch der beiden Akteure in den Versen 319-342, in dem der Protagonist mit der Nachricht vom Tod des Achill konfrontiert wird, schließt sich die ausführliche Trugrede des Neopto‐ lemos an (v. 343-390). Wortreich schildert er darin seine (angebliche) Kränkung durch Odysseus und die Atriden, die ihm die Waffen seines verstorbenen Vaters vorenthielten. Wirkungsvoll wird dabei die erfundene Situation durch die scheinbar wörtlich wiedergegebenen Reden der Beteiligten (Atriden, Neopto‐ lemos selbst sowie Odysseus) ausgestaltet (v. 364-367, 369 f., 372 f. und 379-381). Diese heftige Auseinandersetzung, so Neoptolemos, sei der Grund für seine Ab‐ reise von Troia gewesen (v. 383). Letztlich mache er jedoch nicht Odysseus, sondern die Atriden für die erlittene Entehrung verantwortlich; deswegen sei ihm selbst und den Göttern jeder willkommen, der den in Rede stehenden An‐ führern feindlich gesonnen sei (v. 385-390). Dabei bildet diese implizite Verflu‐ chung den Schlusspunkt der Ausführungen, der durch das vorgeschaltete λόγος λέλεκται πᾶς (v. 389) besonders herausgehoben ist. Der über die Intrige infor‐ mierte Zuschauer und Leser hört den jungen Mann an dieser Stelle geradezu aufseufzen: Er hat sich bei seiner ersten Begegnung mit Philoktet bewährt, seine moralischen Zweifel überwunden und eine überzeugende Trugrede dargeboten, die ihre Wirkung nicht verfehlen wird. Von besonderer Bedeutung für unsere Untersuchung sind die folgenden Verse 391-402. Sophokles lässt auch hier auf einen wichtigen Monolog eine kurze Kommentierung durch den Chor folgen, erweitert allerdings den standardi‐ sierten Doppelvers 52 (vgl. v. 317 f.) hin zu einer vollklingenden Orchestration der verklungenen Rhesis des Akteurs. Der formalen Analyse der Passage wird ihr inhaltlicher Nachvollzug und ihre motivische Einordnung folgen. Eingeschaltet ist an unserer Stelle eine im Wesentlichen in iambischen und dochmischen Versen 53 komponierte Strophe, 54 die ihre metrische Entsprechung in den Versen 507-518 finden wird. Diese - zumindest in den Tragödien unseres I. Chöre wehrfähiger Männer 104 <?page no="105"?> 55 Die von J E B B (2004) S . 70 angeführte Parallele unserer Stelle zum Oidipus auf Kolonos v. 1086 f. sowie W E B S T E R s (1970) Vergleiche mit Passagen beider Oidipustragödien (S. 96) verfehlen, wie auch schon B U R T O N (1980) S. 232 gesehen hat, die formale Son‐ derstellung unserer Passage und damit den Kern der Sachlage. 56 B U R T O N (1980) S. 232: „This is an effect unique in extant Sophocles and is found else‐ where only in Euripidesʼ Orestes 1353 ff. = 1537 ff. and Hippolytos 362 ff. = 669 ff., a much longer interval; and there, the antistrophe to the chorusʼs strophe is sung by an actor“. Auch der formale Vergleich der Orestes-Stelle mit unserer Passage erweist signifikante Unterschiede: Bei Euripides eröffnet die Äußerung des Chors v. 1353-1365 einen aus‐ führlichen lyrischen Wechselgesang mit dem neu hinzutretenden Phryger, an den sich vor der „Gegenstrophe“ (v. 1537-1549) noch ein stichomythisches Zwiegespräch des‐ selben mit Orest (v. 1506-1526) und ein Monolog des Protagonisten (v. 1527-1536) an‐ schließen. Während also im Orestes die Strophe in eine lyrische Großpassage mit Be‐ teiligung des Chors eingebunden ist und diese geradezu einleitet, die Gegenstrophe die Szene dagegen abschließt, steht das Strophenpaar bei Sophokles eingerahmt von reinen Sprechpartien, in denen dem Chor keine umfangreichen Wortmeldungen zukommen. 57 Vgl. J E B B (2004) S. 70: „[…] the Chorus seizes this moment in order to deepen the im‐ pression left on the mind of Philoctetes“. Dichters 55 - einmalige Konstruktion 56 eines durch Sprechpartien der Akteure geteilten Strophenpaars stellt zunächst ein wesentliches und wirkungsvolles Strukturmoment der Szene dar. Die Einschaltung der lyrischen Partie bedeutet in diesem Sinn in beiden Fällen zunächst eine Unterbrechung des Handlungs‐ flusses; Zuschauer und Leser sind sich gleich mit dem Strophenbeginn der be‐ sonderen Aufmerksamkeit bewusst, die der aktuellen Szenerie durch die lyrische Zäsur beigelegt wird. Der Grund dieser herausgehobenen Gestaltung an unserer (ersten) Stelle ist offensichtlich: Wie schon ausgeführt, hat der Monolog des Neoptolemos die Realisierung der im Prolog geplanten Intrige geleistet. 57 Die umfangreiche Schilderung Philoktets in den Versen 254-316 hat damit ihre Be‐ antwortung gefunden: Nachdem der Protagonist seine Vorgeschichte detailliert vorgebracht hatte, referierte Neoptolemos mit der fiktiven Streitszene das an‐ geblich ausschlaggebende Ereignis der momentanen Situation. Die Vorstellung der beiden Akteure ist damit beendet, beide sind über den Hintergrund, die ak‐ tuelle Situation und die Absichten bzw. Wünsche des jeweils anderen informiert. Die mutwillige Täuschung des Protagonisten durch seinen Gesprächspartner und die damit forcierte Informationsungleichheit zwischen Philoktet und den restlichen Akteuren sowie den Rezipienten erfüllt die Szenerie dabei mit enormer Brisanz. Wenden wir uns dem Inhalt der Partie zu. Die gesamte Strophe ist eine An‐ rufung der Erde (Γᾶ), deren Rang als Göttermutter ihr eine besondere Verehrung zukommen lässt. Die Ansprache der Gottheit im ersten Vers ist dabei durch zwei der Namensnennung vorangehende Adjektive sowie eine folgende Angabe zur genealogischen Einbindung ausgestaltet, die drei besondere Eigenschaften der 1. Philoktet 105 <?page no="106"?> 58 Vgl. dazu J E B B (2004) S. 70: „[…] these characters are completely fused in the unity of the ματὴρ πότνια“ sowie W E B S T E R (1970) S. 96 und B U R T O N (1980) S. 232. 59 Vgl. F U H R E R (1998). „Hymnos.“ in: DNP Band 5, Sp. 789, wo die „klassische“ Dreiteilung des hymnischen Gebets in invocatio - pars epica - precatio ausgeführt wird. 60 Vgl. dazu W E B S T E R (1970) S. 97; anders J E B B (2004) S. 71 f. 61 Dass die Junktur kein zweiter Vokativ ist, sondern als Apposition zu τεύχεα verstanden werden muss, ist bei den Kommentatoren unbestritten, so J E B B (2004) S. 72, W E B S T E R (1970) S. 97, K A M E R B E E K (1980) S. 78. Gottheit vor Augen führen und damit die Identifikation mit drei göttlichen Per‐ sonen ermöglichen: Γᾶ hat eine besondere Beziehung zu Bergen (ὀρεστέρα), ist „allnährend“ (παμβῶτι) und zudem, wie der zweite Vers darstellt, die Mutter des Zeus. Damit sind drei Gottheiten - Gaia, Kybele und Rhea - zu einer umfas‐ senden göttlichen Person vereinigt, 58 die geradezu als Übergottheit das Pantheon der olympischen Götter mit ihrem Oberhaupt Zeus zu überbieten scheint. Es passt dabei ins Bild, dass als göttliche Macht ausschließlich Zeus bisher vom Chor namentlich erwähnt wurde (v. 140); unsere Stelle kontrastiert in ihrer aus‐ greifenden Hinwendung zu einer göttlichen Person so mit der bisherigen Zu‐ rückhaltung des Chors. Ganz in der Form eines traditionellen Götteranrufs 59 schließt sich an die na‐ mentliche Nennung der Gottheit ein Relativsatz mit der Angabe eines bevor‐ zugten Herrschaftssitzes an: Hier ist es der große, goldführende Fluss Paktolos in Kleinasien (τὸν μέγαν Πακτωλὸν εὔχρυσον), den Gaia bewohnt (νέμεις). Die eigentliche invocatio der Göttin ist damit abgeschlossen; es folgt die Erinnerung an eine bereits erfolgte Anrufung, wobei Ort und Anlass dieses (fiktiven) Gebets die logische Verbindung zur dramatischen Situation schaffen. Dort nämlich (κἀκεῖ) - gemeint ist, wie aus dem Folgenden hervorgeht, das Heerlager vor Troia - habe der Chor sich schon einmal an die Gottheit gewandt (σὲ ἐπηυδώμαν), als nämlich (ὅτʼ) die gesamte Hybris der Atriden seinen Herrn, d. h. Neoptolemos, getroffen hatte. Ein zweiter, ebenfalls durch ὅτε eingeleiteter Temporalsatz konkretisiert die erlittene Schmach und wiederholt den uner‐ hörten Sachverhalt: Die Waffen seines Vaters (τὰ πάτρια τεύχεα) seien nicht Neoptolemos, sondern Odysseus zugesprochen worden. Eingebettet in diese Ausführung ist ein erneuter, emotional aufseufzender Anruf (ἰὼ μάκαιρα) der herrschaftlich thronenden Gottheit. 60 Betont nimmt die Bezeichnung σέβας ὑπέρτατον - „Gegenstand allerhöchster Verehrung“ - für die in Frage stehenden Waffen 61 die Schlussstellung der Strophe ein. So abrupt wie die Strophe begann, schließt sie an diesem Punkt; Philoktet meldet sich zu Wort und bekundet seine Sympathie mit dem entehrten Neoptolemos. Machen wir uns rückblickend bewusst: Mit dem Bezug auf die Erzählung des Neoptolemos sind die Choreuten ganz im eigentlichen Thema angelangt. Wäh‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 106 <?page no="107"?> 62 So auch S C H M I D T (1973) S. 88: „In einem Gebet, das in der Form auch nicht den kleinsten Anstoß gibt, das die Beinamen der angerufenen Göttin, ihre Stellung im Geschlecht der Götter und ihren Lieblingsaufenthalt nennt, beschwören sie die hehre Göttermutter Kybele / Ge […]“. 63 Vgl. Antigone v. 1140 oder Oidipus Tyrannos v. 167. rend der Anruf der Gaia zu Beginn der Strophe noch überraschend und im Kon‐ text der Szene zunächst fremd wirkte, hat die Passage in Vers 396 f. ihre thema‐ tische (und arithmetische) Mitte erreicht. Ein doppeltes Hinweisen prägt diese Zentralpartie der Strophe, bettet sie in die aktuelle Situation ein und macht ihr spezifisches Zeitverhältnis deutlich: Während das Demonstrativpronomen τόνδʼ (v. 396) auf den präsenten Neoptolemos verweist und ihn erneut als Opfer der Entehrung in den Vordergrund rückt, weist die dreimalige Konkretisierung der Szene des Waffenstreits in die Vergangenheit. Schrittweise führt der Chor dabei zum Kern der Situation: Das noch unbestimmte κἀκεῖ (v. 395) wird durch die beiden Temporalsätze mit Leben gefüllt, die Schlusspartie der Strophe wie‐ derholt in unvermittelter Abfolge mit dem erneuten Anruf der Göttin sowie der Angabe des Nutznießers Odysseus und des Streitgegenstandes drei wesentliche inhaltliche Momente. Die Anmaßung der Atriden als ausschlaggebendes Mo‐ ment nimmt dabei die Mitte der Ausführungen ein (ὕβρις in v. 397). In diesem Sinne ist die Strophe des Chors eine komprimierte, emotionale Ausleuchtung der entscheidenden Motive des vorangegangenen Monologs; sie unterstreicht die Opferrolle des Neoptolemos, hebt die Verantwortlichkeit der Atriden heraus und bekundet die - vom Standpunkt des über die Intrige informierten Zu‐ schauers und Lesers - doppelbödige Verstrickung des Chors in den Handlungs‐ ablauf. Versuchen wir weiterhin, die Partie im Ganzen zu überblicken und einzu‐ ordnen. Die Passage führt in geradezu exemplarischer Weise einzelne Formteile eines klassischen Gebetshymnos vor Augen: namentliche Invokation der Gott‐ heit, genealogische Angabe, Hinweis auf eine bevorzugte Kultstätte sowie die Ausgestaltung einer bereits erfolgten Anrufung. 62 Der Verzicht auf eine verba‐ lisierte Aktualisierung (precatio, eingeleitet durch καὶ νῦν 63 oder ähnliches), d. h. auf eine konkrete Bitte in der momentanen Situation, ist dabei genauso ab‐ sichtsvoll auf die dramatische Einbindung abgestimmt wie die Erwähnung der einzelnen, formal traditionellen Motive. Wie gesehen, stellen die Kompilation der drei Gottheiten zur angerufenen Mutter Erde und der betonte Hinweis ihrer genealogischen Einordnung eine Überbietung der bisher durch den Chor getä‐ tigten theologischen Aussagen dar. Die Erwähnung des Paktolos als eines klein‐ asiatischen Flusses mag des Weiteren der groben geographischen Hinführung zur entscheidenden Szene dienen, während die Angabe κἀκεῖ sowie die zwei 1. Philoktet 107 <?page no="108"?> 64 Vgl. z. B. die Vergegenwärtigung des Kampfes um Deianeira im ersten Stasimon der Trachinierinnen. ὅτε-Sätze das von Neoptolemos referierte Geschehen direkt in den Blick nehmen. Der Chor projiziert sich dabei in die fragliche Situation zurück und gibt an, was er damals tat bzw. sagte. Indem er so seinen Beitrag in Erinnerung ruft, verortet er sich im vergangenen Geschehen, komplettiert Neoptolemosʼ Schil‐ derung der angeblichen Entehrung und reichert sie durch eine theologische Note an. Dass dabei die in Rede stehende Situation mitsamt der Götterinvokation fiktiv ist und als Bestandteil der Intrige zur Täuschung des Protagonisten bei‐ trägt, verleiht der dramaturgischen Eingliederung und Nutzbarmachung der traditionellen Motive eine nicht zu überbietende dramatische Brisanz. Sophokles lässt also den Chor an unserer Stelle eine in hohem Maße kon‐ ventionelle Strophe singen, deren einzelne Motive allerdings passgenau in den dramatischen Kontext eingearbeitet und auf Grund der speziellen Situation ge‐ radezu pervertiert sind. Er kappt dabei das gewohnte Schema des Gebetshymnos und lässt die aktuelle Bitte ersatzlos wegfallen, da ganz allein die imaginierte und fiktive Szene der Vergangenheit im Fokus steht. Mit Blick auf diese Eng‐ führung der standardisierten Form liegt nur der Rumpf eines eigentlichen Ge‐ betes vor. Die ins Zentrum gerückte Erinnerung an eine bereits erfolgte Invo‐ kation der Gottheit nimmt dabei die im vorangegangenen Monolog beschrittene Methode der Situationsausdeutung wieder auf: Indem der Chor sich die (fiktive) Szene vergegenwärtigt und sich in dieser verortet, setzt er Neoptolemosʼ He‐ rangehensweise fort; die lebhafte Wiedergabe der wörtlichen Reden aus den Versen 364 ff. wird so an unserer Stelle durch den emotionalen Einwurf des Chors gespiegelt. Mit Blick auf die Rolle des Chors lässt sich dabei festhalten: Die Schiffsleute erweisen sich in der Anwendung des typisch chorischen Schemas 64 der Verge‐ genwärtigung und Selbstverortung als treue Diener ihres Herrn; sie lassen ihm zudem gerade durch das Fehlen einer dezidiert aktuellen Bitte an die Gottheit alle Möglichkeiten, die Unterredung mit Philoktet im Folgenden nach seinen Maßstäben zu gestalten. Die kommentierende Strophe des Chors lässt so Neoptolemosʼ Monolog mehr als nur nachklingen, sie orchestriert ihn im Sinne einer Coda und ist zum Fort‐ gang der Handlung hin offen. Der bisher spannungsreichste Moment der Tra‐ gödie - die seit dem Prolog erwartete Konfrontation des Protagonisten mit der Intrige - hat damit eine besonders wirkungsvolle Ausgestaltung erfahren, deren formale Einzigartigkeit die Wichtigkeit des dramatischen Moments widerspie‐ gelt. S CHMIDT s geradezu überschwängliches Lob der kurzen Partie mit Blick auf I. Chöre wehrfähiger Männer 108 <?page no="109"?> 65 S C H M I D T (1973) S. 89. 66 Das durch ὡς ἔοικε (v. 403) mit Rückblick auf Vers 317 intendierte Spiel mit dem Wis‐ sensvorsprung der Zuschauer und Leser ruft mit der doppelbödigen Struktur den wahren Sachverhalt der Situation erneut ins Gedächtnis. 67 Zu diesem, der Sphäre des Epos entlehnten Moment der „Heldenschau“ („review of heroes“ W E B S T E R (1970) S. 97) vgl. S C H M I D T s (1973) Ausführungen unter der Überschrift „Troiahelden“ S. 91-98. die Gestaltung als Lügenrede („Diese Chorstrophe ist ein wahres Meisterstück! Die Mittel sind so vorzüglich gewählt, der Ton so echt, daß von daher die Lüge nicht mehr greifbar wird“ 65 ) lässt sich aus der Perspektive dieser Untersuchung nur wiederholen: Die vorliegende Passage zeigt zum einen exemplarisch, wie präzise die einzelnen, formal durchaus unterschiedenen Teile der Tragödie mo‐ tivisch und dramaturgisch ineinandergreifen und aufeinander abgestimmt sind. Zum anderen demonstriert sie - wie der Überblick über das gesamte Epeisodion noch fundierter zeigen wird - die bewusste, ökonomische und wirkungsvolle Handhabung traditioneller chorischer Gattungen, Motive und Methoden durch den Dichter sowie deren Kombination und Umdeutung mit Blick auf ihre Funk‐ tionalisierung in der jeweiligen dramatischen Situation. Eine volle Würdigung der chorischen Präsenz im vorliegenden Epeisodion lässt sich jedoch erst unter Einbeziehung der zweiten eingeschobenen Strophe (v. 507-518) erreichen. Die weitere Handlungsentwicklung soll rasch überblickt werden. Philoktet zeigt sich von Neoptolemosʼ Erzählung und der chorischen Inter‐ vention beeindruckt: Er ist überzeugt, Leidensgenossen vor sich zu haben, die wie er Opfer der Atriden und des Odysseus geworden sind. 66 Aus Philoktets Erstaunen, wie der große Aias (Αἴας ὁ μείζων v. 411) die Entehrung des Neo‐ ptolemos nur hinnehmen konnte, entwickelt sich ein Zwiegespräch, in dessen Verlauf Neoptolemos den Protagonisten über die Verfassung einiger bedeu‐ tender Griechen informiert. Entsetzt muss Philoktet dabei erfahren, dass gerade die von ihm hochgeschätzten Mitstreiter entweder bereits gestorben sind oder schwere Schicksalsschläge erleiden mussten. 67 Dagegen ist, nach Neoptolemosʼ Auskunft, der verhasste Thersites noch am Leben, was Philoktet schließlich zu einer Klage über die Ungerechtigkeit göttlichen Wirkens hinreißt (v. 446-452). Neoptolemos bekundet daraufhin, Troia und die Atriden nun gänzlich hinter sich lassen zu wollen; seine Heimatinsel Skyros genüge ihm vollkommen (ἐξαρκοῦσα v. 459), da auch er die Überlegenheit der moralisch Schlechten über die Guten - wie sie im griechischen Heerlager herrsche - nicht ertragen könne. Mit dem betonten νῦν δʼ setzt Neoptolemos in Vers 461 einen neuen drama‐ tischen Impuls, der die Erfüllung seiner Mission vorantreiben soll: Nun werde 1. Philoktet 109 <?page no="110"?> 68 L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) athetieren die Verse 504-506. Dem Monolog ist nichts Wesentliches mit diesen Versen genommen; inwieweit die in ihnen ausgedrückte Ver‐ allgemeinerung der momentanen Lage tatsächlich als echt zu beurteilen ist oder als spätere Randglosse verworfen werden muss, bleibt fraglich. Angesichts der einhelligen Überlieferung bedarf eine Streichung der Verse allerdings einer besonderen Rechtfer‐ tigung. Unter den Gesichtspunkten dieser Untersuchung ist diese Frage jedoch von untergeordneter Bedeutung. er sich zu seinem Schiff begeben, um sich dort auf die Abfahrt von Lemnos vorzubereiten. Nach einer ersten Verabschiedung (καὶ σύ, Ποίαντος τέκνον, χαῖρʼ ὡς μέγιστα) und der erstaunten Nachfrage Philoktets („Schon brecht ihr auf ? “ v. 466), bekräftigt er erneut seine feste Überzeugung, nun sei der richtige Moment gekommen, die Insel zu verlassen (καιρὸς γὰρ καλεῖ). Mit der mit Vers 468 einsetzenden Rede Philoktets schließt sich der dritte umfangreiche Monolog des Epeisodions an, an dessen Ende erneut eine Kommentierung durch den Chor erfolgt. Vergegenwärtigen wir uns Inhalt, Aufbau und Motivik der mehr als 35 Verse umfassenden Rhesis. Unter Aufbietung aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel fleht Philoktet sein Gegenüber an, ihn nicht auf Lemnos zurückzulassen. Auch wenn ihm dabei klar sei, welche Schwierigkeiten mit dem Transport des Schwerkranken ver‐ bunden seien (δυσχέρεια τοῦδε τοῦ φορήματος v. 473 f.), stellt er Neoptolemos, sollte er sich seiner erbarmen, eine wesentliche Vermehrung seines Ruhms in Aussicht (πλεῖστον εὐκλείας γέρας v. 478). Neoptolemos solle es wagen (τόλμησον) und ihn dabei an der Stelle auf seinem Schiff unterbringen, wo er den Mitreisenden am wenigsten zur Last falle (v. 481 ff.). Unter Anruf des Zeus (πρὸς αὐτοῦ Ζηνὸς ἱκεσίου v. 484) bittet Philoktet, Neoptolemos solle ihn entweder zu sich nach Hause oder nach Euboia bringen; von dort habe er es nicht mehr weit in seine Heimat, wo er seinen Vater wie‐ derzusehen hoffe. Schon lange habe er zudem die Sorge, sein Vater sei gestorben: Denn trotz wiederholter Nachrichten, die er den zufällig auf Lemnos Gelandeten mitgab, sei noch keine Antwort eingetroffen. Vielleicht, so die Überlegung des Protagonisten, sei dieser Umstand allerdings auch den Boten geschuldet, die, ohne sich um ihn zu kümmern, nur auf ihre eigene Heimfahrt bedacht gewesen seien (v. 488 ff.). Jetzt aber (νῦν δʼ v. 500) sei es an Neoptolemos, ihn zu retten und sich seiner zu erbarmen (σὺ σῶσον, σύ μʼ ἐλέησον v. 501). Eine allgemeine Überlegung schließt den Monolog ab: Vor dem Hintergrund des gefahrenreichen menschlichen Lebens sei es geboten, dass gerade diejenigen, die vom Leid un‐ berührt sind, aufmerksam auf das Unheil anderer achten, um nicht unversehens selbst zu Grunde zu gehen (v. 502 ff.). 68 I. Chöre wehrfähiger Männer 110 <?page no="111"?> 69 Vgl. J E B B (2004) S. 89: „ordeals consisting in πόνοι, sufferings“. Der von Neoptolemos in Vers 461 gesetzte Impuls hat seine Wirkung nicht verfehlt: Nachdem der Handlungsfluss in der Heldenschau der Verse 412 ff. zu einem Ruhepunkt gekommen war, beschleunigt und emotionalisiert sich das Bühnengeschehen an unserer Stelle erneut. Bestimmendes Moment des vorlie‐ genden Monologs ist dabei die gehäufte Verwendung von Imperativen, die bald positiv - θοῦ με v. 473, τλῆθι v. 475, ἴθʼ v. 480, τόλμησον und ἐμβαλοῦ v. 481 usw. (besonders beachtenswert: ἔκσωσον v. 488 wieder aufgegriffen in σῶσον v. 501) - bald verneint - μὴ λίπῃς v. 470, μή μʼ ἀφῇς v. 486 - der Szene ungeahnte Intensität und Dynamik verleihen. Die Berufung auf Zeus in seiner Schutzfunk‐ tion gegenüber Bittflehenden in Vers 484 sowie die kurze allgemeingültige und geradezu warnende Ausführung zur Wandelbarkeit des menschlichen Glücks v. 502 ff. erfüllen eine doppelte Funktion: Zum einen unterstreichen sie die Emo‐ tionalität der Ausführungen und führen die Verzweiflung Philoktets vor Augen, der beim Versuch, Neoptolemos zu überzeugen, buchstäblich sämtliche Register zieht. Zum anderen ermöglichen sie trotz ihrer streiflichtartigen Kürze Phil‐ oktets Situation innerhalb eines allgemeineren, theologischen Kontextes zu ver‐ orten. Die Reaktion des Chors in der sich anschließenden Strophe wird diese Andeutung aufgreifen. Nach der Schilderung seines Elends im ersten ausgreifenden Monolog des Epeisodions (v. 254-316) hat sich der Protagonist an unserer Stelle zum zweiten Mal ausführlich zu Wort gemeldet. Zugleich bildet die vorliegende Rhesis nach der eingeschalteten Lügenrede des Neoptolemos (v. 343-390) den dritten um‐ fassenden Wortbeitrag der Szene. Von besonderem Interesse ist für die vorlie‐ gende Untersuchung die sich nun anschließende (dritte) Kommentierung durch den Chor. Wie schon angesprochen folgt in Vers 507 das metrische Pendant zur Chorstrophe v. 391-402. Vollziehen wir zunächst Inhalt und sprachliche Ge‐ staltung nach, bevor wir eine motivische und dramaturgische Einordnung ver‐ suchen. Wie schon der Protagonist in seinem eben verklungenen Monolog, so wendet sich auch der Chor direkt an Neoptolemos: Der Imperativ οἴκτιρ(ε) mit dem angeschlossenen Vokativ ἄναξ („Hab Erbarmen, Herr! “) eröffnet die Strophe volltönend. Parataktisch angeschlossen folgt als Begründung der emotionalen Involvierung der Verweis auf Philoktets herausragendes Schicksal: Das Maß an leidvollen, unerträglichen Torturen (δυσοίστων πόνων ἆθλʼ), 69 das Philoktet ge‐ radezu „gesammelt“ (ἔλεξεν) habe, wünscht der Chor keinem seiner Freunde. Wenn, so der Chor in erneuter Hinwendung an seinen Herrn (ἄναξ v. 510), Neoptolemos Hass gegen die Atriden hege, so würde er selbst (der Chor) die 1. Philoktet 111 <?page no="112"?> 70 Vgl. W E B S T E R (1970) S. 102: „converting the harm done by them into a gain for him“. 71 Vgl. J E B B (2004) S. 89, der die Formulierung als „a respectful suggestion“ beezeichnet. üble Tat der griechischen Feldherren zu Philoktets Vorteil umdeuten, 70 diesen auf dem Schiff dahin bringen, wohin es ihn verlange, und so einer göttlichen Vergeltung entfliehen (θεῶν νέμεσιν ἐκφυγών). Der Aufbau und die sprachliche Gestaltung der wiedergegebenen Konditio‐ nalperiode sind dabei sprachlich besonders ausgefeilt: Während der konditio‐ nale Vordersatz - eingeleitet durch ein fortführendes δέ - sich der Gefühlsre‐ gung des angesprochenen Akteurs versichert, entwickelt der Hauptsatz den Vorschlag der Choreuten. Dabei wird das Prädikat (πορεύσαιμʼ ἄν) durch zwei Partizipien gerahmt, von denen das erste (μέγα τιθέμενος) die beabsichtigte Rettung als Umdeutung der Verhältnisse interpretiert, das zweite (ἐκφυγών) einen Nebenzweck des Vorhabens angibt. Die betonte Selbstverortung des Chors (ἐγὼ μέν, „ich für meinen Teil“ v. 511) auf der einen, die vorsichtig-höfliche Formulierung auf der anderen Seite (Verwendung des potentialen Optativs 71 ) unterstreicht dabei den Vorschlag des Chors als selbstbewussten Diskussions‐ beitrag, illustriert jedoch gleichzeitig das Verhältnis der Schiffsleute zu ihrem Herrn. So wird auf ein mit Vers 511 korrespondierendes und damit inhaltlich kontrastierendes δέ bewusst verzichtet: Die Strophe bleibt in diesem Sinne offen und fordert Neoptolemosʼ Antwort geradezu heraus. Dass dabei die Erwähnung der θεῶν νέμεσις das Ende der Strophe bildet, ist freilich nicht zufällig: Der Chor konkretisiert damit die moralisch-theologischen Streiflichter des vorangegan‐ genen Monologs - v. a. die Berufung auf Zeus v. 484 - und lässt so hinter seinem Vorschlag, Philoktet nach Hause zu bringen, die Drohkulisse einer möglichen göttlichen Vergeltung aufscheinen. Zum eingeforderten Mitleid (v. 507) und dem Hass auf die Atriden (v. 510) gesellt sich so die Furcht vor einer derartigen Be‐ strafung als drittes Argument für ein beherztes Einschreiten von Seiten des Neo‐ ptolemos und seiner Mannschaft; als drastischster Beweggrund nimmt es dabei die Schlussstellung innerhalb der Partie ein. Wie lässt sich die Strophe in den dramatischen Kontext einordnen? Die Partie bietet ein konzentriertes Abbild der aktuellen Situation sowie der involvierten Personen: Sie führt erneut Philoktets Leid vor Augen, leistet die Selbstverortung des Chors im dramatischen Diskurs und zielt auf Neoptolemosʼ Antwort sowie sein aktives Einschreiten. Damit kommt ihr eine besondere Übergangsfunktion zu: Indem der Chor vor der entscheidenden Antwort seines Herrn auf Philoktets Bitte die Situation pointiert zusammenfasst und selbst engagiert Partei ergreift, markiert er eine brisante Gelenkstelle der Handlung. Anders gesprochen: So‐ phokles zögert an diesem Punkt der Tragödie den Fortgang der Geschehnisse I. Chöre wehrfähiger Männer 112 <?page no="113"?> 72 So auch B U R T O N (1980) S. 233: „In its opening words, οἴκτιρ’ ἄναξ, the theme of pity, echoed from the central section of the parodos, is heard again. It has now become an essential element in the duping of Philoctetes […]“. erneut für einen Moment heraus; statt Neoptolemos sofort zu Wort kommen zu lassen, rekapituliert der Chor den erreichten Status und vertieft den Eindruck des verklungenen Monologs. Wie ist die Strophe nun konkret in den Kontext eingepasst, welche Methode wendet Sophokles zur Vertiefung des dramatischen Moments an? Aufschluss‐ reich ist der Beginn der Partie: War schon in Philoktets Monolog der Imperativ das zentrale sprachliche Phänomen, so setzt auch die Strophe des Chors diese Anrede an Neoptolemos fort und reiht sich damit in die Gesprächssituation ein. Mit dem Sprecherwechsel ist dabei freilich eine Perspektivverschiebung ver‐ bunden: Aus dem Reden des Protagonisten wird erneut ein Hinweisen auf und Sprechen über ihn. Ein grundlegendes Moment der vorangegangenen Rhesis ist damit wieder aufgenommen und dient unter veränderten Vorzeichen als Auftakt der chorischen Kommentierung. Dass dabei gerade der Aufruf zum Mitleid diese herausgehobene Stellung einnimmt, ordnet die Strophe in den motivischen Ho‐ rizont der Choräußerungen ein: Die erste ausführliche Leidensschilderung in‐ nerhalb der Parodos mit ihrem betonten οἰκτίρω (v. 169) wird an unserer Stelle durch den Imperativ οἴκτιρε wieder aufgerufen; das zentrale Motiv des Mitleids ist so im aktuellen Kontext verankert und erscheint mit Blick auf die im Raum schwebende Täuschungsabsicht des Neoptolemos geradezu pervertiert. 72 Aus dieser Perspektive nimmt weiterhin die begriffliche Reminiszenz aus Vers 318 (ἐποικτίρειν σε) eine Mittelstellung ein. Weiterhin leistet die kurze Strophe schon mit dem Verweis auf die Leiden des Protagonisten sowohl die Selbstverortung des Chors als auch eine persönliche Emotionalisierung: Dem konstatierenden Ausruf, Philoktet habe ein hohes Maß an Leid zu ertragen, folgt der Wunsch nach Verschonung der eigenen Freunde. Indem der Chor so das vor Augen liegende Elend Philoktets bis zu einem ge‐ wissen Grad in Beziehung zu sich und seiner eigenen Lebenswirklichkeit setzt, bekundet er (erneut) seine emotionale Involvierung. Gerade der Bezug auf die korrespondierende Strophe v. 391-402 ergibt so eine grundlegende strukturelle Parallele: Hatte sich der Chor dort in die von Neo‐ ptolemos entworfene (fiktive) Szenerie der Vergangenheit zurückprojiziert und damit seine aktive Rolle am damaligen Geschehen bekundet, so verorten sich die Schiffsleute an unserer Stelle ganz bewusst in der dramatischen Realität. War im ersten Fall ein konkreter Bezug auf die Gegenwart oder die Zukunft bewusst ausgeblieben, so leistet die zweite Strophe genau dies: Sie wirkt in ihrer Kon‐ zentration bündelnd und stellt mit dem Vorschlag der Choreuten einen mögli‐ 1. Philoktet 113 <?page no="114"?> 73 Zur Frage, wie die Wahrhaftigkeit der chorischen Aussagen an unserer Stelle zu be‐ werten ist, äußert sich S C H M I D T (1973). S. 105 erneut äußerst kritisch: „Die Fürsprache klingt erneut so verwirrend echt, daß man unsicher werden könnte, ob nicht der Chor jetzt aus aufrichtigem Mitleid bitte. Aber der Inhalt zeigt deutlich, wie kaltblütig auch diese ‚warme‘ Fürsprache vorgespielt wird“. Zur Diskussion vgl. V I S S E R (1998) S. 123. 74 Geschickt nimmt Philoktets ἀνάγκῃ (v. 538) dabei einen Zentralbegriff aus dem dritten Strophenpaar der Parodos wieder auf (vgl. v. 206 f. und 215 f.). chen Fortgang der Handlung in Aussicht. In beiden Fällen setzen die Strophen dabei Strukturen und Motive des jeweils vorangegangenen Monologs fort und orchestrieren diesen durch den Wechsel von Sprecher und Perspektive. Als verbindendes Motiv der beiden Strophen fallen bei näherer Betrachtung zudem die Atriden, ihr Handeln und die Reaktion darauf ins Auge: War dabei in der ersten Strophe die Hybris der Feldherren (v. 395 f.) unmittelbarer Grund des referierten Götteranrufs, so ist der Hass auf Agamemnon und Menelaos (v. 510) in der zweiten Strophe emotionales Ausgangsmoment der ausgespro‐ chenen Empfehlung. 73 Betrachten wir an diesem Punkt kurz den Fortgang des Epeisodions, um ab‐ schließend zu einer Einordnung und Bewertung der chorischen Präsenz im Ganzen zu kommen. Neoptolemos tritt im Anschluss an die Chorstrophe in ein kurzes Gespräch mit dem Chorführer ein. Dieser versichert ihn, trotz der möglichen Belästi‐ gungen durch Philoktets Krankheit zu seinem eben vorgebrachten Vorschlag zu stehen. Neoptolemos gibt sich daraufhin überzeugt und willigt ein, den Kranken auf seinem Schiff mitzunehmen. Philoktet ist von Freude und Dankbarkeit über‐ wältigt: Vor der Abfahrt lädt er seinen „Retter“ ein, die Höhle in Augenschein zu nehmen, in der er sein Dasein in den letzten Jahren gefristet hat. So könne Neoptolemos seine Leidensfähigkeit und Duldsamkeit erst recht bemessen; denn, so der Protagonist, keiner, der auch nur den Anblick der Behausung erlebt habe, könne wohl das ertragen, was er selbst ausgehalten habe (v. 536 f.). Er allerdings habe gezwungenermaßen 74 gelernt, sich auch mit Üblem zufrieden zu geben (v. 538). Bevor sich die Akteure daraufhin in das Bühnengebäude zurückziehen, un‐ terbricht der Chor die angestoßene Aktion: In einer drei Verse umfassenden Auftrittsankündigung (v. 539-541) weist er auf zwei sich der Szenerie nähernde Schiffsleute hin, von denen der eine der Mannschaft des Neoptolemos angehört, der andere den Choreuten unbekannt (ἀλλόθρους) ist. Diese, so die Aufforde‐ rung, sollten vor dem Eintritt in die Höhle erst angehört werden. In Vers 542 entfaltet der aufgetretene Kaufmann in direkter Ansprache an Neoptolemos schließlich den Grund seines Kommens. I. Chöre wehrfähiger Männer 114 <?page no="115"?> Zuschauer und Leser sind sich dabei freilich bewusst, dass Odysseus seine Ankündigung aus dem Prolog verwirklicht hat: Der zur Szene gestoßene Kauf‐ mann ist in Wahrheit der in den Versen 127 ff. vorgestellte Späher, dessen Auf‐ trag es ist, Neoptolemos geeignete Argumente für seine Mission zu liefern und so den Fortgang der Intrige zu beschleunigen. Der Chor folgt der Szene im Weiteren wortlos: Sowohl in die Unterhaltung der drei Akteure (v. 542-627) als auch in das sich anschließende erneute Zwie‐ gespräch zwischen Philoktet und Neoptolemos (v. 628-675) mischt er sich nicht mehr ein. Erst nach deren endgültigem Abtritt beginnt der Chor sein Stasimon in Vers 676. Der Inhalt der Kaufmannszene und des angeschlossenen Dialogs soll daher hier zunächst nicht ausgeführt werden; vor der Behandlung des Standliedes wird eine kurze Rekapitulation die entscheidenden Momente he‐ rausarbeiten. An dieser Stelle soll zunächst ein Überblick über das gesamte Epeisodion in seiner formalen Gestaltung erfolgen. Machen wir uns dazu Folgendes bewusst: Die ausgreifende Szene zerfällt in drei Teile: kurzer Wortwechsel zwischen Neoptolemos und Philoktet, Kauf‐ mannszene sowie anschließender Austausch der auf der Bühne Verbliebenen. Der Auftritt des Kaufmanns in Vers 542 unterbricht den von den Akteuren auf der Bühne intendierten Fortgang der Handlung und stellt nach Neoptolemosʼ Ankündigung aus Vers 461 ff., Lemnos verlassen zu wollen, einen zweiten dra‐ matischen Impuls dar, der den bis dahin entwickelten Status der Handlung in eine neue Richtung lenkt. War die Szenerie nach Neoptolemosʼ Einwilligung und Philoktets euphorischer Reaktion in Vers 538 zu einer ersten Auflösung gelangt, so steigert der Auftritt des Kaufmanns - und damit das hinterszenische Ein‐ greifen des Odysseus - die dramatische Brisanz erneut. Nach dem Abtritt des dritten Akteurs in Vers 627 hat sich erneut eine dem ersten Teil des Epeisodions vergleichbare Gesprächssituation eingestellt: Wieder stehen sich Neoptolemos und Philoktet gegenüber, wieder scheint die Abreise von Lemnos unmittelbar bevorzustehen. Während dabei der Chor dem zweiten und dritten Teil des Epeis‐ odions still folgt, ist seine Präsenz bis zum Auftritt des dritten Schauspielers von entscheidender struktureller und motivischer Bedeutung. Die drei ausführlich besprochenen Äußerungen des Chors markieren dabei jeweils das Ende wich‐ tiger Monologe und reflektieren formal wie inhaltlich das unmittelbar Voraus‐ gegangene. Sie sind, wie gezeigt wurde, passgenau in den dramatischen und motivischen Kontext eingearbeitet: Gerade die Reaktion auf Philoktets ersten Monolog (v. 317 f.) war trotz ihrer standardisierten Form bereits von besonderer Brisanz geprägt gewesen, hatte sie doch zum einen die Ambivalenz der chori‐ schen Haltung vor Augen geführt, zum anderen in besonderer Weise auf das bereits entfaltete Mitleidsmotiv angespielt. 1. Philoktet 115 <?page no="116"?> 75 Was B U R T O N (1980) über die Parodos S. 231 sagt („Perhaps the most impressive feature of this parodos is its fusion of action and emotion into an intensely dramatic whole to which chorus and actor together make their contribution“), lässt sich so - mutatis mu‐ tandis - auch auf den ersten Teil des vorliegenden Epeisodions anwenden. Auch hier versteht es der Dichter, aus den unterschiedlichen Formteilen mitsamt ihren Implika‐ tionen ein wirkungsvolles Ganzes zu komponieren, das die dramatische Situation in ihrer Gesamtheit abbildet. 76 Vgl. dazu die Behandlung der Stelle S. 279 ff. 77 J E B B (2004) S. 111: „the only proper στάσιμον of the play“. Besonderes Augenmerk verdienen indes die beiden lyrisch komponierten Äußerungen des Chors innerhalb der Szene: Indem Sophokles hier den kon‐ ventionellen Doppelvers der chorischen Kommentierung in einer (für uns) bei‐ spiellosen Komposition an zwei Stellen durch korrespondierende Strophen er‐ setzt, schafft er einen besonderen Akzent. Für die Dramaturgie der Szene ist damit zweierlei gewonnen: Zum einen ist die Fülle chorischer Präsenz innerhalb der Szene punktuell nutzbar gemacht; zum anderen sind die lyrischen Passagen so fest im dramatischen Ablauf eingebunden, dass sie die Handlung nicht un‐ terbrechen, sondern geradezu fortsetzen und intensivieren. Dass an den ent‐ sprechenden Stellen kein Spannungsabfall eintritt, ist der Fortführung struktu‐ reller und sprachlicher Motive aus dem unmittelbar Vorangegangenen in den Strophen selbst geschuldet. Anders gesagt: Sophokles integriert die chorische, d. h. lyrische Ausdeutung der Situation, wie sie im Regelfall ein strophisches Chorlied (oder ein lyrischer Wechselgesang) leistet, mitsamt der einhergehenden Bühnenwirkung (Musik, Tanz) in die Szene selbst und macht sie zudem zum strukturellen Bestandteil des Epeisodions. 75 Die metrische Korrespondenz der beiden Strophen ist dabei ein entscheidendes Moment: In den Trachinierinnen ist das Lied des Chors im ersten Epeisodion (v. 205-224) - formal die am ehesten vergleichbare Stelle unseres Dichters - ein spontaner, nicht strophisch komponierter Freudenausbruch. 76 Hier ist der Eindruck ein anderer: Die Komposition trägt zur Strukturierung der Passage bei und stellt eine Verbindung zwischen den beiden Strophen her. Sie sind in besonderer Weise aufeinander abgestimmt, nehmen dabei unterschied‐ liche inhaltliche Momente und Zeitebenen in den Blick und geben so der ge‐ samten Szene einen strukturellen Rahmen. Stasimon (v. 676 - 729) 77 Der Fortgang des ersten Epeisodions nach dem Auftritt des angeblichen Kauf‐ manns wurde bereits angedeutet. Hier soll ein kurzer Überblick zur Einordnung genügen. I. Chöre wehrfähiger Männer 116 <?page no="117"?> 78 Man wird die Verse 671-673 - auch gegen die MSS - mit W E B S T E R (1970) („must be given to Neoptolemos“ S. 110), J E B B (2004) und L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) Neopto‐ lemos geben und damit der Wiederherstellung von Doederlein folgen. In seiner Unterredung mit Neoptolemos entfaltet der aufgetretene Akteur den (vorgeschobenen) Grund seines Kommens: Er sei hier, um Neoptolemos zur Eile zu mahnen, denn Phoinix und die Söhne des Theseus verfolgten ihn bereits (διώκοντες v. 561). Odysseus und Diomedes seien dagegen bestrebt, Philoktet zu fassen und ihn nach Troia zu bringen. Unmittelbarer Beweggrund der ange‐ stoßenen Rückholaktion sei ein Orakelspruch des Seher Helenos: Ohne Phi‐ loktet in ihren Reihen sei es den Griechen nicht möglich, Troia einzunehmen. Odysseus habe sich daher bereiterklärt, den vormals Ausgesetzten nötigenfalls mit Gewalt ins Heerlager zu bringen. Nach Philoktets entsetztem Aufschrei, er werde gezwungen werden, gleich einem Toten erneut ans Licht zu kommen (v. 622-625), verlässt der Kaufmann zügig die Bühne. Philoktet ist sich im Folgenden der gebotenen Eile voll und ganz bewusst; er fordert Neoptolemos nachdrücklich auf, sich gleich in Bewegung zu setzen (χωρῶμεν v. 635, ἴωμεν v. 637). Dieser verweist auf die Notwendigkeit günstigen Windes und schlägt seinem Gesprächspartner vor, gemeinsam in der Höhle die Dinge zusammenzusuchen, die Philoktet am nötigsten hat. Neben einem be‐ stimmten Kraut (φύλλον τι v. 649), das zur Schmerzlinderung beiträgt, findet dabei der Bogen Philoktets besondere Erwähnung. Neoptolemos, der sich aus den Belehrungen des Odysseus der überragenden Bedeutung dieser Waffe be‐ wusst ist (vgl. v. 68, 77 f., 113), fragt mit ehrfurchtsvoller Scheu nach der Er‐ laubnis, das Requisit berühren, ja, es sogar einem Gott gleich küssen und ver‐ ehren zu dürfen (v. 656 f.). Philoktet gestattet seinem zukünftigen Retter freimütig den Umgang mit seinem ganzen Besitz - im Besonderen mit seinem Bogen, den er als Lohn für eine gute Tat erhalten habe (v. 667 ff.). Vor dem ge‐ meinsamen Abtritt in die Höhle bekundet schließlich Neoptolemos seine enge Bindung zum Protagonisten: Es betrübe ihn nicht, Philoktet kennen gelernt und als Freund gewonnen zu haben; denn einer, der nach erlittenen Widrigkeiten gutes Verhalten an den Tag legt, sei als Freund nützlicher als jeder Besitz. 78 Nach Vers 676 verlassen die Akteure schließlich den für das Publikum sichtbaren Teil der Bühne, worauf der Chor sein Standlied beginnt. Machen wir uns die Situation kurz bewusst. Der Auftritt des Kaufmanns hat der Szene ungeahnte Dynamik verliehen: Vor der durch das doppelte Verfol‐ gungsszenario aufgebauten Drohkulisse zeichnet sich der baldige Aufbruch von Lemnos als unvermeidlicher nächster Schritt innerhalb der Intrige lebhaft ab. Die Thematisierung des Orakels ruft dabei - wie bereits erwähnt - bei Neopto‐ lemos und dem Publikum die Ausführungen des Odysseus vom Beginn der Tra‐ 1. Philoktet 117 <?page no="118"?> 79 Ich verweise in der Frage des „Bogen-Mann-Problems“, d. h. der Problematik, ob das Helenos-Orakel nur die Mitnahme des Bogens oder die Anwesenheit Philoktets selbst vor Troia fordert, ausdrücklich auf V I S S E R (1998), zu unserer Stelle im Besonderen die Seiten 100-110. 80 So auch V I S S E R (1998) S. 109 f., die der „Hervorhebung des Motivs ‚Bogen‘“ eine „wich‐ tige rezeptionsrelevante Funktion“ zuerkennt. 81 Es ist dabei höchst bemerkenswert, dass Odysseus gerade seine wahre Absicht - die Einnahme Troias - zum Gegenstand der Intrigenrede macht. Der geschickte Einsatz der „Wahrheit“ im trügerischen Kontext soll so Philoktet nur noch schneller zur ge‐ wünschten Handlung bringen. gödie ins Bewusstsein. Dem über die wahren Zusammenhänge informierten Leser und Zuschauer ist damit erneut vor Augen geführt, dass die Einnahme Troias als Endzweck hinter den Maßnahmen zur Täuschung des Protagonisten steht. Das Bühnengeschehen rund um die Akteure Philoktet und Neoptolemos ist damit schlagartig in den größeren Zusammenhang der gesamten Intrige ge‐ rückt. Anders gesagt: Der durch den Auftritt des dritten Schauspielers erfolgte Impuls hat die Perspektive des Geschehens geweitet und dabei grundlegende Momente der Handlung (den Orakelspruch, die beabsichtigte Einnahme Troias sowie Odysseusʼ hinterszenischen Einfluss) überdeutlich ins Gedächtnis ge‐ rufen. Ihre bühnenwirksame Umsetzung in dramatische Handlung erfährt die in der Kaufmannsszene angerissene Thematik schließlich im Spiel um den Bogen in den Versen 652 ff., das einen Kulminationspunkt des bisherigen Handlungsver‐ laufs darstellt: Als Moment höchster Vertrautheit zwischen Philoktet und Neo‐ ptolemos führt die Szene zugleich das Zielobjekt der Intrige mitsamt ihrem Endzweck - der Einnahme Troias - geradezu handgreiflich vor Augen. 79 Dabei steht der Bogen zugleich sinnbildlich für die aktuelle Lage des Protagonisten, der auf seinen Einsatz als Jagdwaffe angewiesen ist (vgl. Neoptolemosʼ Vermu‐ tungen v. 165 sowie Philoktets eigene Ausführungen 287 v.). In diesem Sinn laufen beide motivische Linien - der Bogen als Waffe zur Eroberung Troias auf der einen, als notwendiges Jagdinstrument Philoktets auf der anderen Seite - an diesem Punkt zusammen und konzentrieren die Aufmerksamkeit des Publi‐ kums auf den Kern der dramatischen Situation. 80 Halten wir daher fest: Die Aussendung des Kaufmanns durch Odysseus hat ihren innerdramatischen Zweck erfüllt und die beteiligten Akteure in be‐ triebsame Eile versetzt. Dramaturgisch gesehen macht sie die enorme Brisanz der Bühnensituation deutlich: Sie ruft die hinterszenische Präsenz des Odysseus sowie den von ihm intendierten Fortgang der Geschehnisse erneut ins Ge‐ dächtnis und bietet die Gelegenheit, in einer motivischen Engführung den Bogen als zentrales Utensil des Intrigenkomplotts (vgl. v. 113) zu inszenieren. 81 I. Chöre wehrfähiger Männer 118 <?page no="119"?> 82 Zu den Vermutungen, die beiden Akteure Neoptolemos und Philoktet könnten bereits vor oder während der zweiten Gegenstrophe auf die Bühne bzw. in das Blickfeld der Choreuten und des Publikums kommen vgl. die knappen Ausführungen weiter unten. 83 Der Text des Liedes ist in vieler Hinsicht äußerst umstritten. Ich folge hier der Ausgabe von L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) und lasse Fragen der Textkritik und -rekonstruktion, soweit sie das Anliegen dieser Untersuchung nicht wesentlich berühren, außer Acht. 84 Die in den codices überlieferte Angabe Ἰξίονα hinter ποτέ wurde u. a. aus metrischen Gründen gestrichen (K A M E R B E E K (1980) S. 104: „[…] leaving out Ἰξίονα, considered as intrusive gloss“). Zur Identifikation des Mythos bedurfte es vor antikem Publikum einer Namensnennung sicherlich nicht. 85 Vgl. R O S C H E R (1965). „Ixion.“ in: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie Band II. 1, hrsg. v. W. H. R O S C H E R (1965), Sp. 766-772. 86 So auch V I S S E R (1998) S. 125: „Dieser Anfang [des Stasimons] muß zunächst befremden; denn Ixion ist bisher an keiner Stelle des Stückes erwähnt worden, und ein Zusam‐ menhang mit Philoktet ist zunächst nur schwer auszumachen“. Mit dem Abtritt der beiden Akteure nach Vers 676 kommt die dramatische Spannung zu einem vorläufigen und vordergründig harmonischen Ruhepunkt. Die augenfällige Intimität zwischen Neoptolemos und Philoktet schließt den ersten Teil der Intrige und damit der gesamten Handlung: Das Vertrauen des Protagonisten ist erlangt, die anfängliche Fremdheit und Unsicherheit im Um‐ gang miteinander ist einem freundschaftlichen Austausch gewichen, dem wei‐ teren Ablauf der Intrige scheint nichts mehr im Wege zu stehen. Seinen sinn‐ fälligen Ausdruck findet der erreichte Status der Handlung in einem bis dahin nicht genutzten Effekt: Zum ersten Mal innerhalb der Tragödie - also seit mitt‐ lerweile über 670 Versen - leert sich die Bühne vollständig, worauf der Chor ungestört die dramatische Situation reflektiert. 82 Das Lied entfaltet in zwei Strophenpaaren eine Gesamtschau der bisher ent‐ wickelten Handlung, wie sie sich vor den Augen der Choreuten abgespielt hat. Erneut steht dabei die Figur des Protagonisten im Mittelpunkt, dessen leidvoller Vergangenheit der Chor eine hoffnungsfrohe Zukunftsaussicht entgegenstellt. Das Lied beginnt mit einem sprachlich scharf gezeichneten Kontrast: 83 Der Chor habe durch Erzählung (λόγῳ) zwar gehört, jedoch nie mit eigenen Augen gesehen (ὄπωπα δʼ οὐ μάλα), wie Zeus seinen ehemaligen Lagergenossen an einem umlaufenden Rad gefangen hielt (δέσμιον ἔλαβεν). Der mythologische Bezug ist durch die Erwähnung der Einzelheiten - Teilhabe am Lagerplatz der Götter sowie das drehende Rad als Folterinstrument - auch ohne namentliche Nennung des Helden 84 klar: Die Rede ist von Ixion, der als Strafe für die miss‐ brauchte Gastfreundschaft des Göttervaters an ein drehendes (Sonnen-)Rad ge‐ heftet wurde. 85 Der Bezug zum unmittelbar Vorangegangenen innerhalb der dramatischen Handlung ist dabei an unserer Stelle noch nicht klar, 86 das plötzliche mytholo‐ 1. Philoktet 119 <?page no="120"?> 87 Wie schon V I S S E R (1998) S. 125 gesehen hat, ist der Vergleichspunkt zwischen der my‐ thologischen Gestalt und dem Protagonisten der Bühnenhandlung ausschließlich die „Feindlichkeit des Schicksals“, während sich die beiden Personen sonst „kategorial“ unterscheiden. 88 Sicherlich wird dabei - wie wohl schon in Vers 681 - eine in die Richtung der Höhle weisende Geste des Chors den Vortrag begleitet und die Identifikation mit dem Prot‐ agonisten deutlich gemacht haben. gische Schlaglicht wirkt überraschend. Dagegen lässt der Hinweis auf die man‐ gelnde Augenzeugenschaft hinsichtlich der Ereignisse um Ixion eine Kontras‐ tierung mit tatsächlich Erlebtem erahnen, zumal die Formulierung des ersten Verses (676) besonderen Nachdruck auf diesen Umstand legt: Das zunächst völlig unbestimmte λόγῳ eröffnet das Stasimon und erweist sich sogleich als genauere Bestimmung des folgenden Prädikats ἐξήκουσα, dem das kontrastie‐ rende ὄπωπα direkt folgt. Von besonderem Interesse sind die Tempora der beiden Formen: Drückt der Aorist ἐξήκουσα das (einmalige) Hören der Ixion-Geschichte in der Vergangenheit aus, so forciert das negierte Perfekt ὄπωπα die fehlende Kenntnis aus eigener Erfahrung. Nach der betont an den Schluss der Periode gestellten Subjektsangabe des ὡς-Satzes - παγκρατὴς Κρόνου παῖς - setzt das folgende Perfekt οἶδα den spezifischen Tempusgebrauch des Eingangs fort. In den beiden Partizipien κλυών und ἐσιδών findet zudem die Begrifflichkeit „Hören und Sehen“ aus dem ersten Vers des Liedes eine Fortset‐ zung. Der Chor konstatiert, er kenne sonst keinen anderen Menschen, der mit einem feindlicheren Los zusammengetroffen sei, als es das Schicksal dieses (τοῦδʼ v. 681) Menschen ist. 87 Der sich anschließende Relativsatz klärt den viel‐ leicht zunächst missverständlichen Bezug des Demonstrativpronomens: Der in Rede Stehende hat niemandem etwas zu Leide getan, niemanden getötet, son‐ dern ist als Gleicher unter Gleichen (ἴσος ἐν ἴσοις) so unverdient zu Grunde gegangen (ὤλλυθʼ v. 685). Gemeint ist damit freilich Philoktet, wobei eine Na‐ mensnennung, wie schon bei Ixion zu Beginn der Strophe, nicht nötig ist. In Analogie zu τοῦδʼ v. 681 sticht auch hier das hinweisende ὧδʼ (v. 685) hervor. 88 Es lohnt dazu erneut ein Blick auf den Tempusgebrauch: Der demonst‐ rative Aspekt verbindet sich mit dem Aorist ὤλλυθʼ und schildert so ein Ge‐ schehen aus der Vergangenheit. Anders gesagt: Der Chor ist nach dem mytho‐ logischen Schlaglicht an unserer Stelle zwar bei Philoktet als der für die Reflexion entscheidenden Person, allerdings explizit (noch) nicht in der drama‐ tischen Gegenwart angekommen; was sich im Folgenden anschließt, versteht sich dezidiert als Blick in die Vergangenheit. Dem entspricht der konsequente Gebrauch der verbalen Vergangenheitsformen (Indikativ der Nebentempora sowie iterative Aoriste) im Folgenden. I. Chöre wehrfähiger Männer 120 <?page no="121"?> 89 So nach dem Text von L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990), die einer Konjektur von Bothe folgen. Ich tendiere an dieser Stelle allerdings mit J E B B (2004) und K A M E R B E E K (1980) S. 106 zur Beibehaltung des (einhellig! ) überlieferten πρόσουρος in Vers 691 (statt πρόσουρον) und lese: „Er war selbst sein eigener Nachbar, da ihm die Kraft zum Gehen fehlte“ (vgl. LSJ „power to step“ s.v. βάσις). Gegen dieses wirkungsstarke Oxymoron (vgl. K A M E R B E E K a. a. O.) verblasst die konjizierte Lesart erheblich. Ein weiteres Demonstrativpronomen markiert den Fortgang der Reflexion: Dieser staunenswerte Umstand (τόδε θαῦμα v. 686) hält den Chor in seinem Bann: Wie nur, so die angeschlossene Frage, konnte Philoktet, der doch ganz alleine das Brausen der Brandung hört, so sein tränenreiches Leben behaupten (κατέσχεν v. 690)? Auch hier gesellt sich zum Demonstrativpronomen τόδε (v. 686) mit οὕτω (v. 689) ein hinweisendes Adverb, das den Blick deutlich auf die geradezu vor Augen liegenden Lebensumstände des Protagonisten lenkt. Unter Rückgriff auf den Beginn des Stasimons hat sich bereits hier ein Kreis ge‐ schlossen: War dort die fehlende Augenzeugenschaft inhaltlich ein bestim‐ mendes Moment, so macht die Häufung der Demonstrativa an unserer Stelle klar, dass der Chor in Philoktets Fall auf eigene Erfahrung zurückgreifen kann und sich diese unter Verweis auf die Bühnensituation und das eben Erlebte ak‐ tuell ins Bewusstsein ruft. Der thematisch-perspektivische Rahmen ist damit abgesteckt: Es folgt ein erneuter Blick auf die Lebensumstände des Protago‐ nisten, der unter der Leitmotivik vom Beginn des Stasimons zum Panorama des feindlichen Schicksals (v. 681 f.) Philoktets wird, das - und das ist die Besonder‐ heit dieses Liedes - aus Sicht des Chors der Vergangenheit angehört. Die Gegenstrophe nimmt dementsprechend Philoktet selbst (αὐτός v. 691) in den Blick und stellt syntaktisch die Fortführung der bereits begonnenen Periode dar: Mit ἵνα (v. 691), „wo“, ist auf das konkrete Umfeld des Helden, seine Umwelt und damit die erlebte Bühnensituation verwiesen. Der ausgreifende Nebensatz präzisiert damit das „tränenreiche Leben“ (v. 659), erfüllt den abstrakten Begriff mit Leben und setzt die demonstrativen Gesten der vorangegangenen Strophe fort. Zunächst erfährt Philoktets Einsamkeit (und in Verbindung damit seine furchtbare Krankheit) ihre poetische Ausgestaltung: Der Heros sei alleine ge‐ wesen (ἦν) und habe weder Zugang zu einem Nachbarn 89 noch einen Einhei‐ mischen als Leidensgenossen gehabt, bei dem er seine Krankheit hätte beweinen können. Die konkrete Ausgestaltung dieser Passage ist von herausgehobener und bisher ungekannter Drastik: Folgen wir dem Text von L LO YD -J ON E S / W IL S ON (1990), so kommen der Krankheit (νόσον) als dem Gegenstand von Philoktets Klage die Adjektive βαρυβρῶτα und αἱματηρόν - „tief nagend“ und „blu‐ tenden“ - zu, während das Stöhnen selbst (στόνον) als ἀντίτυπον - „widerhal‐ 1. Philoktet 121 <?page no="122"?> 90 Durch ihre Konjektur νόσον umgehen L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) die Häufung der sonst auf στόνον bezogenen Adjektive (so W E B S T E R (1970) S. 112: „all the adjectives qualify στόνον“). 91 So die lückenfüllende Konjektur von D A W E (1979), dem sich L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) anschließen, während J E B B (2004) vorschlägt, αἱμάς „Blutstrom“ zu ergänzen. 92 Vgl. S C H M I D T (1973) S. 132. lend“ - charakterisiert wird. 90 Damit ist eine Funktion des nicht vorhandenen Leidensgenossen bestimmt: Er hätte als Gegenüber des gequälten Helden zu dessen Tröstung beitragen können. Damit nicht genug: Die in αἱματηρόν an‐ gerissene Blutmotivik erhält im folgenden, mit οὐδʼ ὅς angeschlossenen Rela‐ tivsatz (v. 696 ff.) ihre konkrete Ausgestaltung: Philoktet habe niemanden ge‐ habt, der den aus seinem Fuß hervorbrechenden warmen Blutstrom mit aufgehobenen Blättern hätte stillen können. Das Lied hat hier seinen Höhepunkt an anschaulicher und wortgewaltiger Schilderung gefunden. Dabei ist die Dar‐ stellung des Krankheitsanfalls keineswegs Selbstzweck und erschöpft sich nicht in der reinen Wiedergabe möglichst abstoßender Details. Sie ist vielmehr ein‐ gebunden in die Einsamkeitsthematik und stellt mit der Schilderung eines An‐ falls (σπασμός 91 v. 699) den bitteren Alltag des einsamen Helden dar: Als Mittel der äußersten Drastik entwirft der Chor das Bild des einsamen Philoktet, dem nicht nur kein Gesprächspartner zur Verfügung stand, sondern der seinen Krankheitsanfällen hilflos ausgeliefert war. 92 Vom fehlenden Eingreifen eines Nachbarn wendet sich der Blick in Vers 701 wieder auf Philoktet selbst, wobei der Subjektswechsel durch δʼ forciert wird: Der Held kroch hin und her und wandte sich dabei wie ein der Amme entrissenes Kind zu den Plätzen, wo sich auf Grund der Beschaffenheit des Weges Erleich‐ terung einstellte (πόρου εὐμάρεια), sobald die Not nachließ. Der eingebundene Vergleich des Protagonisten mit einem Knaben (παῖς v. 703) variiert das Motiv der unbedingten Hilflosigkeit und Einsamkeit unter anderen Vorzeichen und findet nach der farbigen Schilderung des Krankheitsanfalls ein intimeres, aber nicht weniger eindrucksvolles Sprachbild. Durch δακέθυμος ἄτα (v. 705) schließt die Gegenstrophe den Blick auf die Beschwernisse des Helden mit einem gewichtigen Begriff, der die umfassende Leidensthematik des Stasimons in dessen Mitte verbalisiert. Syntaktisch schließt die zweite Strophe an das Vorangegangene an und setzt die umfangreiche Periode mit Philoktet als ihrem Subjekt fort. Thematisch hat sich der Fokus allerdings verschoben: Nicht mehr die umfassende Einsamkeit und Hilflosigkeit des von seinem Leiden geplagten Helden, sondern sein ent‐ behrungsreicher Lebenswandel hinsichtlich der Ernährung steht nun im Blick der chorischen Reflexion. So habe der Heros als Nahrung keine Saat der Erde I. Chöre wehrfähiger Männer 122 <?page no="123"?> 93 Vgl. B U R T O N (1980) S. 263: „a cry of compassion“. 94 Vgl. W E B S T E R (1970) zum folgenden Relativpronomen ὅς S. 113: „the sense construction shows how near ψυχή is to meaning the whole personality“. 95 Dagegen S C H M I D T (1973), der S. 133 zum Schluss kommt, „daß es sich hier im Stasimon ebensowenig wie vorher in den beiden eingelegten Strophen […] um Mitleidsäuße‐ rungen des Chores handelt“. aufgesammelt (ἱερᾶς γᾶς σπόρον v. 707) noch irgendetwas anderes, von dem sich die betriebsamen Menschen sonst ernähren; einzig die Jagd mit Pfeil und Bogen habe es ihm gestattet, seinem Bauch etwas Nahrung zu verschaffen (ἀνύσειε γαστρὶ φορβάν v. 711). Die Mitte der Strophe nimmt darauf ein mitleidsvoller Ausruf ein: 93 ὦ μελέα ψυχά (v. 712) - „Oh elendes Leben / oh elender Mensch! “ 94 Die lebhafte Imagi‐ nation des Protagonisten gipfelt an unserer Stelle in einer direkten Ansprache, die keinen Zweifel an der emotionalen Verfasstheit des Chors zulässt. 95 Ein fol‐ gender Relativsatz bringt den Blick auf die Vergangenheit des Protagonisten zu seinem Abschluss und reichert die Nahrungsthematik der Strophe um ein wei‐ teres konkretes Bild an: Philoktet hat über die Dauer von zehn Jahren keinen Wein mehr genossen, sondern stehende Gewässer genutzt. Der Aorist ἥσθη (v. 715) ist dabei bewusst gesetzt: Er kontrastiert mit dem folgenden, die Gewohn‐ heit Philoktets verbalisierenden Imperfekt προσενώμα (v. 717) und macht so überdeutlich, dass dem Helden im angegebenen Zeitraum von zehn Jahren selbst einmaliger Weingenuss versagt blieb. Vor dem Hintergrund der Imagination des am Boden kriechenden Helden aus der ersten Gegenstrophe ergibt sich auch hier ein eindrucksvolles und lebhaftes Bild: So hielt Philoktet zunächst Ausschau (λεύσσων), um eine geeignete Was‐ serstelle ausfindig zu machen, und bewegte sich dann darauf zu (προσενώμα). Machen wir uns im Überblick klar: Das Motiv „Nahrung“ rahmt den ersten Teil der Strophe durch die Klammerstellung von φορβάν v. 707 sowie 711 be‐ grifflich. Die Verbindung zur vorangegangenen Gegenstrophe ist dabei von as‐ soziativer Bildhaftigkeit: War schon in der Krankheitsschilderung die Rede vom Aufnehmen der Blätter und Kräuter von der nährenden Erde (φορβάδος τι γᾶς v. 700), so nutzt die zweite Strophe die verwendeten Begrifflichkeiten zur poetischen Umsetzung der Nahrungsthematik. Kontrastiert werden dabei, ähn‐ lich wie in der zweiten Gegenstrophe, zunächst ein Mangel bzw. eine nicht an den Tag gelegte Verhaltensweise sowie die tatsächlichen Handlungen bzw. Zu‐ stände des Helden. Der zweite Teil der Strophe (v. 714 ff.) thematisiert in ähnli‐ cher Gegenüberstellung die Einschränkungen Philoktets hinsichtlich seines Trinkverhaltens, wobei, wie S CHMIDT zu Recht anmerkt, der Mangel an Wein‐ 1. Philoktet 123 <?page no="124"?> 96 Vgl. S C H M I D T (1973) S. 132. 97 Mit einigem Recht wird man davon ausgehen können, dass mit der konkreten Zeitan‐ gabe auch die zehnjährige Belagerung Troias evoziert wird, deren Ende der Chor nun bereits vor Augen hat. Als Subordinierte des Neoptolemos werden die Schiffsleute schließlich auch an den kriegerischen Handlungen sowie dem Alltag im Heerlager be‐ deutenden Anteil gehabt haben. Eingeflochten in die Beschreibung der Lebensum‐ stände des Haupthelden ist so eine subtil auf sie selbst bezogene Aussage der Choreuten. 98 J E B B (2004) S. 119: „will finish his course in happiness“. 99 Zum Dativ πλήθει vgl. K A M E R B E E K (1980) S. 109. V I S S E R (1998) S. 131 verweist zu Recht auf diese problematische „Terminangabe“, deren Interpretation durchaus umstritten ist. 100 Der Begriff „mythologisch“ ist in diesem Zusammenhang problematisch, da Herakles in innerem Zusammenhang mit der Handlung steht und nicht, wie Ixion, als kaum greifbares, im besten Sinne „mythisches“ (λόγῳ ἐξήκουσα) Exempel angeführt wird. 101 So die bei L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) gegebene Konjektur Hermanns für das metrisch unpassende πᾶσι. genuss die Implikation der Ausgeschlossenheit von menschlicher Gesellschaft beinhaltet. 96 Eingebunden in dieses letzte Moment der Vergangenheitsbetrachtung ist dabei der betonte Hinweis auf die Dauer der Entbehrungen (δεκέτει χρόνῳ v. 715). Die mehr oder minder unbestimmten Angaben des Liedes werden so mit einer konkreten Zahl unterfüttert, deren Nennung gerade am Schluss des Lei‐ denspanoramas einen wirkungsvollen Kontrast zum sich anschließenden νῦν δʼ herstellt. 97 Ein betontes, die abschließende Gegenstrophe einleitendes „jetzt aber“ (v. 719) bildet das Gegengewicht zum ausführlichen Blick in die Vergangenheit, wie ihn die ersten Strophen dargeboten haben. An unserer Stelle ist der Chor explizit in der Gegenwart, d. h. beim momentanen Stand der Dinge angekommen. Nun, da Philoktet auf den Sohn „anständiger“ Männer (ἀνδρῶν ἀγαθῶν) getroffen sei, werde er glücklich und groß (εὐδαίμων καὶ μέγας v. 720) aus jenen Übeln (ἐκ κείνων) hervorgehen. 98 Auf den angesprochenen „Sohn“ (παῖς v. 719) bezieht sich der folgende Re‐ lativsatz: Dieser bringe Philoktet nach der Dauer vieler Monate 99 auf dem Schiff zurück in dessen thessalische Heimat. Deren „mythologisch“ 100 -geographische Bestimmung bildet den Schluss des Stasimons. Konkret spricht der Chor dabei von der heimatlichen Wohnstatt der maliadischen Nymphen (πατρίαν αὐλὰν Μηλιάδων νυμφᾶν) und den Ufern des Spercheios (Σπερχειοῦ ὄχθαι) - dem Ort, wo Herakles - der „Mann mit dem ehernen Schild“ (ὁ χάλκασπις ἀνήρ) - seine Apotheose erlebt und sich als Gott (θεός), 101 hell erleuchtet von göttlichem Feuer, den Göttern genähert habe. Die erneut geographische Angabe Οἴτας ὑπὲρ ὄχθων - „über den Hügeln des Oita“ - schließt die Gegenstrophe ab. I. Chöre wehrfähiger Männer 124 <?page no="125"?> 102 Dass an unserer Stelle jedoch keineswegs der dramatische Horizont verlassen wurde, wird die explizite Bezugnahme des Protagonisten auf den Tod seines Freundes im fol‐ genden Epeisodion (v. 801 f.) erweisen. Mehr dazu unten. Darüber hinaus darf man davon ausgehen, dass die Rezipienten von der besonderen Beziehung zwischen He‐ rakles und Philoktet (vgl. v. 262 ! ) wussten. 103 S C H M I D T (1973) S. 132. So auch K A M E R B E E K (1980) S. 109: „There is no break in the song“, der allerdings andere Schlüsse daraus zieht. 104 V I S S E R (1998) S. 129: „Die Erklärung des Chores, Neoptolemos werde Philoktet in die Heimat bringen, stimmt mit der unmittelbar vorliegenden Situation nicht überein“. 105 V I S S E R (1998) S. 129-133. Die Interpretation der Gegenstrophe ist in mancher Hinsicht problematisch. Die mit νῦν δʼ eingeleitete Periode bietet einen Blick in die Zukunft: Das Futur ἀνύσει steht zu den Vergangenheitsformen der verklungenen Strophen in augenfäl‐ ligem Kontrast und bildet geradezu den Fluchtpunkt der gesamten Gedanken‐ bewegung (vgl. ἐκ κείνων). Dabei verbalisiert das Partizip ὑπαντήσας (im Kon‐ trast zum vorigen οὐκ ἔχων v. 691) den der positiven Zukunftsaussicht zu Grunde liegenden Umstand. Vor dem Hintergrund der im Lied entfalteten Ver‐ gangenheit des Protagonisten ist damit die radikale Wende für Philoktet darge‐ stellt: War gerade seine Einsamkeit und die daraus resultierende absolute Hilf‐ losigkeit das bestimmende Moment seines Daseins auf Lemnos, so ist es die Begegnung mit dem namentlich ungenannten Neoptolemos, die sein „tränen‐ reiches Leben“ (v. 689) zu Glück und Größe wenden wird. Wie schon in den vorherigen Strophen (v. 684, 694, 696, 713) konkretisiert daraufhin ein Relativsatz die aufgeworfene Thematik und schildert die unmit‐ telbar bevorstehende Überführung Philoktets in dramatischer Vergegenwärti‐ gung als bereits gegenwärtiges Ereignis (ἄγει). Mit der mythologischen Aus‐ leuchtung der geographischen Angaben löst sich das Stasimon an seinem Ende (scheinbar) aus der unmittelbaren Fokussierung auf Philoktet zu Gunsten eines farbig ausgestalteten Schlaglichts auf die Apotheose des Herakles. Wie schon zu Beginn des Liedes, so scheint sich auch hier sein Ende vom unmittelbaren Zusammenhang innerhalb der Handlung abzuheben. 102 Ich gehe aus den gegebenen Gründen (kontrastierender Tempusgebrauch, syntaktische Parallelen zwischen den Strophen, Bündelung der entfalteten Mo‐ tive in der zweiten Gegenstrophe sowie strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Beginn und Ende des Liedes), wie auch S CHMIDT , grundsätzlich von der „ein‐ heitlichen Konzeption“ 103 des Stasimons aus. Das augenscheinliche Auseinanderfallen des vom Chor gezeichneten posi‐ tiven Bildes der bevorstehenden Heimholung Philoktets und der tatsächlichen dramatischen Situation 104 gab Anlass zu vielfältigen Lösungsvorschlägen. Die von V I S S E R erstellte kenntnisreiche Übersicht 105 lässt dabei zwei Grundpositi‐ 1. Philoktet 125 <?page no="126"?> 106 V I S S E R (1998) S. 133. 107 So versuche ich auch hier erneut, den Chor und seine Lieder nicht nur partiell als ein „Instrument des Dichters“ zu verstehen (vgl. V I S S E R (1998) S. 130), sondern ihn in seiner ganzen Präsenz als ein solches zu erweisen. Konkret: Nicht nur die zweite Gegenstrophe stellt eine - wie auch immer geartete - Einflussnahme des Dichters auf sein Publikum dar, sondern das ganze Stasimon ist wesentlich unter dramaturgischen und publikums‐ führenden Gesichtspunkten komponiert. Ich muss in diesem Sinn S C H M I D T (1973) S. 129 f. widersprechen, wenn er dem Chor des Philoktet die - um mit K R A N Z (1933) zu sprechen - Funktion der „Begleitung, Gliederung, Vertiefung des Dramas“ nur mit Mühe zusprechen kann und in dieser Hinsicht von einem möglichen „Rollenwechsel“ des „ganz als Nebenperson gestalteten“ Chors spricht. Wie sehr gerade das Stasimon durch seine prominente, effektvolle Positionierung zur Gliederung der Tragödie bei‐ trägt, hat die vorliegende Interpretation auszuleuchten versucht. Schließlich äußert sich S C H M I D T selbst, wenn auch kurz, zur genuin dramaturgischen „Funktion“ des Liedes S. 134. 108 So z. B. J E B B (2004) S. 119 zu v. 718 f. „As Ph. and Neoptolemos are now seen to be leaving the cave […]“; G A R D I N E R (1987) S. 34 f.: „Then, as the two actors appear from the cave, the chorus revert to the deception“ sowie in der zugehörigen Anm. 42 „This movement was assumed by Jebb and has been widely accepted […]“. onen deutlich hervortreten: Während auf der einen Seite versucht wird, die Aussage des Chors dramenimmanent, d. h. als dezidierte Ausdeutung der Situ‐ ation aus der Perspektive der Choreuten zu verstehen - wobei im Besonderen der mögliche Wiederauftritt bzw. das Erscheinen der abgetretenen Akteure be‐ reits in Vers 719 in Erwägung gezogen wird -, plädiert man auf der anderen Seite für eine Herauslösung der Partie aus dem unmittelbaren Kontext. So seien hier wahlweise die Erwartungen Philoktets, die Gedanken des Neoptolemos oder die auf das Ende der Tragödie hinweisende Stimme des Dichters zu ver‐ nehmen. Eine ausführliche Diskussion dieser Positionen soll hier nicht erfolgen, ebenso wenig eine favorisierende Übernahme einer Ansicht. Man wird sich V I S S E R anschließen, wenn sie zugibt: Eine Entscheidung zwischen den Möglichkeiten (1) und (2) [d. h. der dramenimma‐ nenten Interpretation der Gegenstrophe oder ihrer Herauslösung aus dem Kontext] scheint mir hier - allein von der Basis des Textes aus - nicht mehr möglich zu sein. 106 Demgegenüber will die vorliegende Interpretation versuchen, auf der Basis des durchaus ambi- und polyvalenten Texts einige genuin dramaturgische Implika‐ tionen des Liedes herauszustellen, die seine Positionierung, Gestaltung und Funktion erhellen. 107 Ich gehe dabei mit B U R TON davon aus, dass sowohl ein Wiederauftritt von Philoktet und Neoptolemos vor dem eigentlichen Ende des Liedes, d. h. in Vers 719, 108 als auch die Annahme, die Choreuten sprächen in der I. Chöre wehrfähiger Männer 126 <?page no="127"?> 109 So z. B. S C H M I D T (1973) S. 132: „Sie [S C H M I D T s Interpretation] setzt voraus, daß der Chor das Lied wenigstens in der Annahme singt, daß Ph es hören könne“. 110 B U R T O N (1980) S. 237: „This would destroy the intensely dramatic effect of the attack of agony following immediately upon the exalted optimism of the end of the song“. Meinung, zumindest von den Akteuren gehört zu werden, 109 nicht notwendig sind, um das Stasimon mitsamt seiner zweiten Gegenstrophe zu verstehen - ja dass sogar ein Wiederauftritt vor Vers 730 den intendierten Kontrasteffekt im Übergang vom Lied zur Szene mindern, wenn nicht gar zerstören würde. 110 Es wird nun nötig sein, den unmittelbaren Kontext des Liedes und seine Wir‐ kung zu beleuchten. Zu diesem Zweck soll zunächst noch einmal der Aufbau des Liedes rekapituliert werden. Nach dem abrupten Beginn mit seinem Bezug auf Ixion konkretisiert die erste Strophe den dramatischen Bezug: Als Rahmenthema der folgenden Reflexion ist das unverhältnismäßige Leid des Protagonisten abgesteckt, dessen Schilde‐ rung den Mittelteil des Stasimons darstellt. Dabei sind die Einsamkeit und die konkreten Entbehrungen hinsichtlich der Versorgung mit Nahrung die zent‐ ralen Motive. Die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Schilderungen ver‐ steht der Chor als der Vergangenheit zugehörig, wohingegen die zweite Gegen‐ strophe die grundsätzliche Wende des Geschehens thematisiert. Ganz in der imaginierten Szene aufgehend verschiebt der Chor dabei seinen Fokus vom un‐ mittelbar greifbaren Umfeld, d. h. der konkreten Bühnensituation als dem Ort von Philoktets Vergangenheit, hin zur außerhalb des lokalen Rahmens liegenden Heimat des Protagonisten. Innerhalb der ausgreifenden Imagination des Mittelteils erfahren wir also nichts wesentlich Neues. Vielmehr können wir sogar sagen: Sämtliche Motive, die im Stasimon ihre Ausgestaltung finden, sind im bisherigen Verlauf der Tra‐ gödie zumindest angeklungen, wenn ihnen nicht sogar zentrale Bedeutung zukam. Dabei fallen zunächst die zum Teil begrifflichen Bezüge zur Parodos ins Auge. Die Einsamkeit des Helden war schon in der Auftrittsszene des Chors bestimmendes Thema: Mit dem programmatischen μόνος (v. 688) ist ein Zent‐ ralbegriff dieser Partie (v. 172 sowie 182) wieder aufgenommen. Zudem wieder‐ holt die Partizipialkonstruktion οὐκ ἔχων […] τινʼ ἐγχώρων (v. 691) die Wortwahl der Parodos, in der es hieß μή […] σύντροφον ὄμμʼ ἔχων (v. 170 f.). Die Schilde‐ rung des Anfalls liest sich vor diesem Hintergrund geradezu als Konkretisierung der in der Parodos konstatierten νόσος ἀγρία (v. 173) und ὀδύναι (v. 185). Die dort aufgeworfene Frage nach dem schier unermesslichen Durchhaltevermögen des Protagonisten πῶς ποτε πῶς […] ἀντέχει (v. 175 f.) findet ihr Echo in Vers 687 ff.: πῶς ποτε πῶς […] κατέσχεν. Das einleitende τόδε […] θαῦμά μʼ ἔχει ist dabei die späte Antwort auf Neoptolemosʼ entschiedenes οὐδὲν τούτων 1. Philoktet 127 <?page no="128"?> θαυμαστὸν ἐμοί v. 192. Weitere bereits in der Parodos angedeutete Nebenmotive und Parallelen sind außerdem das jammernde, widerhallende Klagen des Prot‐ agonisten (στόνος ἀντίπυρος ἀντίτυπος) schon in v. 186 ff., 208 f., 216 f. und das Bild des kriechenden Helden aus v. 206 f. (unter Wiederholung des Begriffs ἕρπω in v. 701, während das drastische εἰλυόμενος v. 702 Philoktets eigene Wortwahl εἰλυόμην aus v. 291 widerspiegelt). Auch die Nahrungsproblematik war bereits im Auftrittslied des Chors ange‐ sprochen worden (Neoptolemosʼ Erklärung v. 164 f. sowie λιμῷ v. 186); die kon‐ krete Ausgestaltung im Standlied speist sich dagegen im Einzelnen aus der Schilderung des Protagonisten, die er in den Versen 287 ff. gegeben hatte (vgl. v. a. die Angabe γαστρί v. 287 sowie 711 und die Thematisierung der Trankbe‐ schaffung v. 292 ff.). Dass dabei Philoktet auf Lemnos keine „helfende Hand“ zur Seite stand (v. 694 ff.), hatte er in seiner umfassenden Schilderung der eigenen Situation bereits selbst angedeutet (v. 280 ff.). Auch der zweite ausführlichere Monolog des Protagonisten (v. 468-506) dient dem Chorlied geradezu als motivische Fundgrube: So sind die geographischen Details - der Fluss Spercheios sowie das Oita-Gebirge - am Ende des Liedes bereits in Philoktets Bitte v. 488 ff. genannt worden. Eine subtilere Reminiszenz innerhalb des Stasimons erfährt des Weiteren die im direkt vorangegangenen Gespräch virulente Bogenthematik. So entsprechen die Aussagen zur Nahrungsbeschaffung mit Hilfe der Waffe in der zweiten Strophe (v. 710 f.) zwar durchaus der von Philoktet selbst gegebenen Schilde‐ rung, wiederholen damit die bereits etablierte Motivik und Bildersprache und insinuieren in keiner Weise einen direkten Bezug auf die Bedeutungsaufladung, die das Requisit im ersten Epeisodion erfahren hat. Andererseits stellt die pro‐ minente Bezugnahme auf die Apotheose des Herakles am Ende des Liedes einen - wenn auch zunächst vielleicht nicht direkt greifbaren - Bezug zur Bo‐ genthematik dar: Mit dem Wissen um die Vorgeschichte der Waffe als eines Geschenks an Philoktet für dessen aktives Einschreiten bei der Verbrennung des Herakles (v. 801 f.) erscheint die Schlussszene des Liedes in neuem Licht. Sie fungiert so nicht mehr als kontextfreier, mythologischer Abschluss eines Liedes, das seinen Fokus vom unmittelbaren dramatischen Geschehen abgewendet hat. Vielmehr berührt das Lied in dieser Partie ein zentrales Motiv der Tragödie in imaginativ-assoziativer Manier und leistet einen Beitrag zur unterschwelligen I. Chöre wehrfähiger Männer 128 <?page no="129"?> 111 So stellt auch W E B S T E R (1970) an einigen Punkten der Tragödie subtile Bezüge zu He‐ rakles fest (vgl. seine Kommentierung zu Vers 453 mit Verweis auf Vers 4 S. 100). Die von ihm gerade in diesen geographischen Zuweisungen entdeckten Hinweise auf die Verbindung zwischen Philoktet und Herakles finden dementsprechend an unserer Stelle am Ende des Stasimons einen ersten Kulminationspunkt. 112 Keine Erwähnung im vorliegenden Standlied finden dagegen die Orakelsowie die Troiathematik. 113 Vgl. S. 101, Anm. 43. 114 So auch B U R T O N (1980) S. 238: „So that […] we are not unprepared for a peripateia of emotions, a change from pity to hope for the future“. Heraklesthematik der Tragödie, 111 die im Auftritt des Vergöttlichten in Vers 1409 kulminieren wird. 112 Es ist klar geworden: Das Stasimon verarbeitet und intensiviert unter leichter Verschiebung der Perspektive Motive aus zentralen Partien der Tragödie teils expressis verbis, teils auf subtile Weise, die erst ein Blick über die gesamte Tra‐ gödie und die ihr zu Grunde liegenden Motivstränge zu Tage fördert. Das Lied beantwortet als rein chorische Passage im Besonderen die Parodos als bisher längste lyrische Partie sowie den Bericht des Protagonisten v. 254-316. Von entscheidender Bedeutung ist bei dieser Spiegelung und Wiederaufnahme die zeitliche Einordnung: Der Chor bezeichnet bewusst einen Wendepunkt inner‐ halb des Geschehens, indem er die Bündelung und drastische Ausarbeitung ent‐ scheidender Motive als Blick in die Vergangenheit inszeniert, dem eine dezi‐ dierte Zukunftsaussicht entgegengestellt wird. Das Standlied füllt so den nach dem Abgang der Akteure erreichten Ruhepunkt mit einer Gesamtschau über das Drama, wie es sich bis zu diesem Punkt ereignet hat. Dieser herausgeho‐ benen Funktion entspricht seine bewusste Positionierung im Rahmen der Bin‐ nenstruktur der chorischen Partien: Es markiert mit seinem Panorama bewusst die Mitte der Tragödie 113 und kontrastiert mit den im ersten Epeisodion einge‐ passten Strophen. Während diese jeweils zur Intensivierung des aktuellen Mo‐ ments dienten und dabei nur einen begrenzten argumentatorischen bzw. emo‐ tionalen Aspekt entfalteten, bietet das Lied an unserer Stelle einen umfassenden, die unmittelbaren Grenzen des Bühnengeschehens übersteigenden Rundum‐ blick. In diesem Sinn bereitet es Zuschauer und Leser auf eine Wende innerhalb des Geschehens vor: 114 Es markiert die Gelenkstelle der Handlung durch moti‐ vische Engführung im Rahmen einer sinnstiftenden Einteilung des Geschehens in Vergangenheit und Gegenwart / Zukunft. Seine besondere dramaturgische Brisanz erfährt das Stasimon aus der be‐ wussten Differenz zwischen dem in ihm ausgedeuteten Zeitverhältnis und dem unmittelbaren Zusammenhang innerhalb des Handlungsverlaufs. Konkret ge‐ sagt: Das Wissen des Zuschauers um die dramatische Situation mitsamt der zu 1. Philoktet 129 <?page no="130"?> 115 Noch viel entschiedener S C H M I D T (1973) S. 129: „Während dort [im Monolog des Prot‐ agonisten] nach einer Andeutung des Ausmaßes alle Ausweglosigkeit gemeistert war, erscheinen hier [im Stasimon] die Entbehrungen als unbezwingbare Widerstände und sogar in einer bisher nicht vernommenen Dimension“. Seine Einschätzung, die Art der Darstellung von Philoktets Lasten sei hier im Stasimon „völlig unabhängig vom Leid‐ bericht“ scheint mir in Anbetracht der aufgezeigten Motivübernahmen etwas zu über‐ spitzt formuliert; die anschließende Feststellung, sie sei „seinem [d. h. des Leidberichts] Anliegen gerade entgegengesetzt“ (a. a. O.) trifft allerdings das Richtige. ihrem Höhepunkt entwickelten Intrige macht ein affirmatives Nachvollziehen der chorischen Ausdeutung schwierig, geradezu unmöglich. Dabei fällt nicht nur die umstrittene zweite Gegenstrophe aus dem Rahmen. Schon der Blick in die Vergangenheit, wie ihn das Stasimon entwirft, ist dabei problematisch: So entspricht das hier in den ersten drei Strophen gezeichnete Bild des Protago‐ nisten nur zum Teil der im Drama bisher erlebten Präsenz. In seiner ausführli‐ chen Drastik und Zentrierung auf das Leid stellt es einen leichten Gegenpol zum bereits zitierten Monolog des Helden (v. 254-316) dar, der - neben Klage und Jammer - den Fokus eher auf die Bewältigung der einzelnen Probleme legte. 115 Anders gesagt: Philoktet war auf der Bühne zwar durchaus als Leidender prä‐ sent, die ausgreifende Farbigkeit und Drastik entspringt allerdings an unserer Stelle - wie schon in der Parodos - der Imagination des Chors und hat keinen direkten Rückhalt im dramatischen Spiel. Diese subtile Akzentverschiebung findet ihren Gegenpart im Ausblick auf die Zukunft: Dass Philoktet nun „glück‐ lich und groß“ aus den gegenwärtigen Übeln hervorgehen werde, entspricht genauso wenig der Erwartung des informierten Zuschauers und der sich an‐ schließenden Szene wie die drastische Zeichnung der Vergangenheit der bishe‐ rigen Realisierung von Philoktets Leid auf der Bühne. Das reale, d. h. dramati‐ sche Zeitverhältnis, ist im Vergleich zum Stasimon gerade umgekehrt: Während die Bühnenhandlung bis jetzt einen zwar leidenden, jedoch standhaften und ausdauernden Philoktet inszeniert hat, gehört der vom Stasimon im Rahmen einer Vergangenheitsschau geschilderte Ernstfall der Einsamkeit und Hilflosig‐ keit, d. h. der Krankheitsanfall, der kommenden Szene an. Nicht nur, dass damit der optimistische Ausblick schlagartig mit der eindrucksvollsten, emotionalsten und eindringlichsten Szene kontrastiert; die Ausgestaltung der Vergangenheit realisiert sich als entscheidendes, die Peripetie auslösendes Moment der Tra‐ gödie in ungeahnter Drastik. Dass dabei dem leidenden Protagonisten bei seinem Anfall ein „Freund“ zur Seite steht, stellt natürlich eine gewisse Abwei‐ chung zu dem in der ersten Gegenstrophe präsenten und bestimmenden Ein‐ samkeitstopos dar. Die unverhohlene Anschaulichkeit der Szene ruft allerdings das im Stasimon evozierte Bild in seiner ganzen Wirkmächtigkeit wieder auf, während die von Neoptolemos an den Tag gelegte Hilflosigkeit angesichts der I. Chöre wehrfähiger Männer 130 <?page no="131"?> 116 Exemplarisch geradezu das zweite Stasimon des Aias, das dritte Stasimon des Oidipus Tyrannos sowie das letzte Stasimon der Antigone. 117 Es bleibt ohnehin auch an anderen Stellen innerhalb der sophokleischen Tragödien fraglich, ob ein „überraschendes“ Auftreten einer Person gegen Ende eines Liedes den Chor zu einer Themenänderung oder Perspektivverschiebung drängt (so z. B. die Epodos des ersten Stasimons der Elektra). Wie dort, so scheint auch an unserer Stelle der spontane Auftritt der Akteure als Hilfsmittel zum Verständnis des Chorliedes re‐ konstruiert; ob er dazu allerdings notwendig ist, bleibt gerade mit Blick auf das vorlie‐ gende Stasimon des Philoktet fraglich. Vgl. auch P A U L S E N (1989) und seine Kritik zum „stillschweigenden Auftritt einer Person während eines Stasimons“ S. 88. 118 W E B S T E R s (1970) Deutung S. 114 bleibt - bei durchaus ähnlichen Herangehen - unbe‐ friedigend: „They simply accept the situation as Neoptolemos has put it. But, as in 391 f., they are more engaged than one expects a Sophoclean chorus to be“. konkreten Phänomene des Anfalls und das völlige Schweigen des Chors bis Vers 827 die Krankheitssituation nur wenig beeinflussen. Halten wir fest: Die geradezu standardisierte Funktion eines Stasimons, die einbrechende Katastrophe bzw. Wendung auf der Folie einer positiven Zu‐ kunftsaussicht umso greller hervortreten zu lassen, 116 ist an unserer Stelle meis‐ terhaft erreicht: Das Stasimon forciert den Wendepunkt innerhalb der Tragödie, untergräbt allerdings mit einer eigenen sinnstiftenden Zeitverortung des Ge‐ schehens das eigentliche Handlungsgefüge. Die Kontrastierung der unter‐ schiedlichen Bildwelten und Emotionen am Ende des Stasimons (Heimkehr und Größe Philoktets, Vergöttlichung des Herakles) und am Beginn der folgenden Szene (Ausgeliefertsein des Helden an Krankheit, Leiden und Schmerz sowie generelle Hilflosigkeit) potenziert dabei geradezu ihre Wirkung, da die positive Stimmung der Schlussstrophe gerade aus der Negierung just dessen gewonnen wurde, was das folgende Epeisodion inszeniert. Aus einem „nicht mehr“ wird so ein überdeutliches „jetzt gerade“. Das Zeitgefüge der chorischen Reflexion ist damit gebrochen: Die dramatische Realität pervertiert das vom Chor entworfene Deutungsschema, so wie das Lied in seinem Blick in die Vergangenheit bereits die Handlung selbst umgedeutet hatte. Man mag in diesem Zusammenhang von einer geradezu doppelten Pervertierung sprechen. Im bewussten Auseinanderfallen der dramatischen Sachlage sowie der cho‐ rischen Deutung liegt - wenn man sich von anderen Deutungsversuchen dis‐ tanziert und zudem versucht, den Text des Liedes ohne parallel einhergehendes Bühnengeschehen (Auftritt oder Erscheinen der Akteure 117 ) als chorische Aus‐ deutung zu lesen 118 - die Spannung des Stasimons und letztlich seine drama‐ turgische Absicht. Es fügt sich nicht in die Erwartungen des Publikums, sondern konterkariert diese bewusst. Die (antiken) Zuschauer werden sich der vorlie‐ genden Ambivalenz und der doppelten Pervertierung bewusst gewesen sein. Geht man neben einer zumindest rudimentären Informiertheit über die Grund‐ 1. Philoktet 131 <?page no="132"?> 119 Vgl. S C H E I N (2013) S. 228 f. 120 B U R T O N (1980) S. 238. 121 A. a. O. 122 So will diese Untersuchung ja gerade den Chor nicht „auf eine Funktion als dramatisches Instrument des Dichters reduzieren“ (P A U L S E N (1989) S. 19), sondern nur diese (im Ganzen unbestrittene) Funktion genauer illustrieren. 123 M ÜL L E R (1967) S. 216. strukturen des dramatisch verarbeiteten Mythos von einer gewissen Vertraut‐ heit mit den basalen Techniken der (sophokleischen) Tragödie, ihren Formteilen und deren genregemäßem Einsatz aus, dann wird man die (freilich unbewiesene und wohl auch unbeweisbare) Hypothese aufstellen dürfen, der Zuschauer im Theater habe ahnen oder gar wissen können: Je positiver der Chor in einer kri‐ tischen bzw. ambivalenten Situation die Zukunft zeichnet, desto näher, umfas‐ sender und katastrophaler ist die meist im direkten Anschluss folgende Wende. In anderen Worten: Die augenscheinliche Differenz zwischen Bühnenhandlung und chorischer Ausdeutung erlaubt an unserer Stelle einen Blick hinter die dra‐ matische Fiktion - die dennoch nicht aufgehoben ist - und lässt gerade einen informierten bzw. vertrauten Zuschauer die dramaturgische Funktion und den weiteren Fortgang des Bühnengeschehens erkennen. 119 Mit diesem Deutungsversuch nehme ich eine mögliche Inkonsequenz inner‐ halb der Charakterisierung des Chors hinsichtlich seiner Stellung innerhalb der Intrige bewusst in Kauf. Ich stimme in diesem Punkt allerdings ganz B U R TON zu, der im Bezug auf „Sophoclesʼ habit of using his choruses as an instrument with which to guide the mind and emotions of his audience in any direction required by the immediate dramatic context“ 120 anmerkt: This role of the chorus leads in occasion to inconsistencies between parts of the same song and between one song and another which can only be explained if we always remember the presence of an audience whose thoughts and feelings have to be en‐ gaged and directed. 121 Dass das Publikum an einer so motivierten Inkonsistenz Anstoß genommen haben könnte, erscheint mir dabei zweifelhaft. An der grundsätzlichen Einbindung des Chors als Rolle innerhalb des Dramas will diese Ausleuchtung dagegen in keiner Weise rütteln. 122 Will man das Ver‐ halten des Chors, genauer: das der Matrosen des Neoptolemos erklären, so wird man sich am besten M ÜLL E R 123 anschließen und von einem Irrtum, d. h. einer falschen Einschätzung der Lage, ausgehen. Diese Anschauung bleibt allerdings für sich gesehen unbefriedigend; die funktionellen, d. h. publikumswirksamen I. Chöre wehrfähiger Männer 132 <?page no="133"?> 124 Eine ganz ähnliche, wenn auch in ihrer Kontrastivität abgeschwächte Parallele bilden das dritte Stasimon des Oidipus Tyrannos sowie das zweite Stasimon des Aias, die durch den informierten Rezipienten nicht affirmativ nachvollzogen werden können. Konsequenzen dieses Irrtums kann erst eine genuin dramaturgische Betrach‐ tung wie die hier vorgelegte erweisen. Bis zur Hälfte der Tragödie hat Sophokles bereits ein reiches Panorama un‐ terschiedlicher Formen chorischer Präsenz zum Einsatz gebracht: die dialogi‐ sche Parodos mit anapästischen Einschüben des Neoptolemos und umrahmter Kurzode, die korrespondierenden Strophen innerhalb des ersten Epeisodions sowie das traditionelle Standlied des Chors auf leerer Bühne. Während dabei die Parodos als dialogische Szene unter Dauerpräsenz des Neoptolemos und die in das erste Epeisodion eingestreuten Strophen sich in den dramatischen Fluss eingeordnet haben, fügt Sophokles an unserer Stelle eine bewusste Pause innerhalb der Handlung ein. Das Stasimon kommt dabei zwi‐ schen zwei äußerst dynamischen Szenen zu stehen: Während das vergangene Epeisodion die Annäherung zwischen Neoptolemos und Philoktet unter struk‐ tureller Präsenz des Chors inszenierte und die entscheidende Verschärfung der dramatischen Brisanz in Form eines außerszenischen Impulses verwirklichte, wird der kommende Auftritt der Akteure die bisher drastischste Szene der Tra‐ gödie darstellen. Es hat sich bei der Behandlung des Liedes gezeigt, dass Sophokles durchaus standardisierte strukturelle Eigenschaften und Motive eines Stasimons zur An‐ wendung bringt, die vereinfachend zusammengefasst werden können: Bezug zur Parodos unter Verschiebung der Perspektive; damit einhergehende Intensi‐ vierung und gesteigerte Drastik der Motivik, was den dramatischen Handlungs‐ fortschritt abbildet; der unmittelbaren Handlung scheinbar abgelöste Beginn- und Schlussmotivik, dazwischen die ausgreifende Konkretisierung dramatischer Vergangenheit; positive Zukunftsaussicht unmittelbar vor dem Einbrechen der entscheidenden Wende. Die Singularität des Liedes verleiht dabei gerade diesen Strukturmerkmalen die entscheidende Wirkung: Indem die Reflexion des Chors hier zum ersten und einzigen Mal unter Rückgriff auf den bekannten Formenschatz des Stasimons erfolgt, ist die standardisierte Art cho‐ rischer Präsenz innerhalb der Tragödie zu einem einmaligen Ereignis geworden. Es konnte dabei gezeigt werden, dass die Verwendung der aufgezählten Merk‐ male des Stasimons an unserer Stelle durch ihre Einpassung in den dramatischen Kontext und ihre spannungsvolle Bezugnahme aufeinander (v. a. die doppelte Pervertierung innerhalb des Zeitgefüges) eine virulente dramaturgische Funk‐ tion erfüllt, die die Aufmerksamkeit des Publikums in besonderer Weise he‐ rausfordert. 124 1. Philoktet 133 <?page no="134"?> 125 Eine bemerkenswerte Stelle: Zum ersten Mal fordert der Protagonist selbst expressis verbis zum Mitleid mit ihm auf. Das gerade in den chorischen Aussagen prominente Leitmotiv des οἰκτίρειν (v. 169, 318, 507) findet hier seinen drastischen Höhepunkt und dient zur Darstellung des dramatischen Fortschritts und der radikal gewandelten Sicht auf den Helden: Wieder ist das Reden über den Protagonisten vom Reden des Prot‐ agonisten selbst abgelöst worden (vgl. die mehrfache Information am Beginn des Dramas im Prolog, der „Pardos“ und schließlich der Rede Philoktets); Philoktet erscheint an dieser Stelle nun endgültig als die hilflose und von seiner Krankheit gezeichnete Figur, deren farbiges Bild das Stasimon in seinem Vergangenheitsblick zeichnete. (Schlaf-)Lied (v. 827 - 864) Kommen wir zum zweiten Epeisodion, das bereits mit dem Wiederauftritt der beiden Akteure einen effektvollen Akzent setzt. Auf Neoptolemosʼ Aufforde‐ rung, die Höhle zu verlassen, antwortet Philoktet zunächst nicht (σιωπᾷς κἀπόπληκτος ἔχῃ v. 731). Seine Schmerzensschreie und Klagen (v. 732, 736, 739) wirken daraufhin als Realisierung des im Stasimon thematisierten „wider‐ hallenden Stöhnens“ (v. 694) und lassen das Publikum wohl bereits den wahren Sachverhalt erahnen: Ihn hat ein akuter und heftiger Krankheitsanfall ergriffen, der eine sofortige Abfahrt mit Neoptolemos unmöglich macht. Blicken wir kurz auf die Gliederung und Ausgestaltung der Szene, bevor wir uns der chorischen Äußerung zuwenden. Das emotionale Wechselgespräch der beiden Akteure vollzieht sich zunächst in der Form von Frage und Antwort: Neoptolemos sieht sich zur eigenen Überraschung mit dem leidenden Protago‐ nisten konfrontiert und sucht nach einer ersten Vermutung - „Hast du etwa Schmerzen auf Grund der an dich herangetretenen Krankheit? “ (v. 734) - die genauen Gründe für Philoktets Klagen und Jammern zu erfahren. Die Reakti‐ onen des Angesprochenen sind durch ein hohes Maß an Emotionalität und Si‐ tuativität gekennzeichnet: So scheinen ihm die Schmerzen teils das Reden un‐ möglich zu machen (so schon v. 731, ebenso 740 f.), teils bricht es aus ihm heraus, wobei vor allem die bemerkenswerte Häufung der verschiedenen Interjektionen (ἆ, ἰώ, ἀτταταῖ, παπαῖ, παπᾶ sowie der ganz aus Interjektionen bestehende Vers 746), die drastische und wiederholte Wortwahl (ἀπόλωλα v. 742 und 745, διέρχεται 743 f., βρύκομαι 745) sowie die gehäuften (Selbst-)Anrufungen (Phi‐ loktet an Neoptolemos: (ὦ) τέκνον v. 733, 742, 745 2x, 747, 753; ὦ παῖ 750, 753; Philoktet über sich selbst: δύστηνος, ὢ τάλας ἐγώ 744; Neoptolemos an Phi‐ loktet: δύστηνε σύ, δύστηνε 759 f.) die der Situation eigene Drastik, Dynamik und Unmittelbarkeit verbalisieren. Neoptolemos steht dem Geschehen zunächst hilflos gegenüber: Nachdem er sich grob über die Situation klargeworden ist, fragt er nach Philoktets Auffor‐ derung, Mitleid zu haben (v. 756), 125 nach konkreten Handlungsanweisungen zur Unterstützung des Leidenden (v. 757 und 761). Dieser äußert nur einen gedop‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 134 <?page no="135"?> pelten Wunsch: Neoptolemos solle ihn während des Anfalls und des darauffol‐ genden Schlafs nicht alleine lassen sowie seinen Bogen sicher verwahren und niemandem übergeben. In der Folge dieser Bitte kommt es mit Vers 776 f. zur Übergabe des zentralen Requisits: Neoptolemos ist nun im Besitz der Wunder‐ waffe und bittet nach dem Empfang des Utensils in bewusst ambivalenter Sprache um günstigen Wind für die bevorstehende Abfahrt (v. 779 ff.). Soweit der erste Teil der Szene, der in der Übergabe des Bogens gipfelt und damit das Spiel mit dem Requisit aus dem ersten Epeisodion (v. 654 ff.) fortsetzt. War Phi‐ loktet dabei zwischen den Versen 757 und 782 scheinbar von akuten Anfalls‐ symptomen verschont geblieben, so beschreibt er in einer zweiten längeren Rhesis (v. 782-805) zunächst das neu einsetzende Herausträufeln von Blut aus seinem Fuß und entfaltet daraufhin neben der Bitte, in seiner Situation jetzt nicht alleine gelassen zu werden (v. 789), ein Panorama seiner Emotionen: So erfolgt zunächst die anklagende Apostrophierung der für sein Übel Verantwort‐ lichen - Odysseus, Agamemnon und Menelaos - (v. 791-796), darauf die An‐ rufung des Todes (v. 797 f.) und die direkt an Neoptolemos gerichtete Aufforde‐ rung, ihn als letzten Freundschaftsdienst zu verbrennen (v. 799 ff.) und damit Philoktets eigenes Handeln an Herakles zu wiederholen. Ähnliche sprachliche Mittel wie die eben herausgestellten prägen auch diesen zweiten längeren Re‐ debeitrag: Während die Fülle der Interjektionen und ihre Dichte etwas nachlässt, beherrschen die vollklingenden Anrufungen die Passage und verleihen Phil‐ oktets verzweifelt-wütender Verfassung passenden Ausdruck. Es schließt sich trotz Neoptolemosʼ anfänglichem Schweigen zu den drasti‐ schen Bitten seines Gegenübers (v. 804 f.) ein erneutes kurzes Wechselgespräch der beiden Akteure an (v. 806-820), das in seinem schnellen Sprecherwechsel (v.a. v. 810, 814, 816) die Klimax der Szene darstellt. Inhaltlich bekundet Neo‐ ptolemos sein tiefempfundenes Mitgefühl (v. 806) und verpflichtet sich per Handschlag, am Ort des Geschehens zu bleiben und Philoktet nicht alleine zu lassen; dieser sinkt kurz darauf unter seinen Schmerzen zu Boden (v. 819 f.). Neoptolemos gibt seinen Matrosen darauf eine knappe Beschreibung des schweiß- und blutüberströmten Protagonisten und weist sie schließlich an, ihn ungestört liegen zu lassen. Mit Vers 827 beginnt der Chor daraufhin sein Lied. Machen wir uns vor der Beschäftigung mit der chorischen Partie Folgendes klar: Die zentrale Figur der gesamten Szenerie ist Philoktet: Seine Präsenz be‐ stimmt das Verhalten der anderen Akteure, stößt das Bühnengeschehen an und hält es am Laufen. Damit einher geht eine bisher ungeahnte visuelle Drastik: Schon der Auftritt des kriechenden Helden (vgl. Neoptolemosʼ Aufforderung ἕρπʼ v. 730) lässt ein Leitmotiv der Beschreibung Philoktets erfahrbar werden (vgl. die dezidierten Hinweise auf das Kriechen als Fortbewegungsart des Ge‐ 1. Philoktet 135 <?page no="136"?> peinigten v. 207 und 701). Die Schmerzensschreie und Verlaufsbeschreibungen des Krankheitsausbruchs (vgl. verdoppeltes διέρχεται v. 743, προσέρπει, προσέρχεται v. 788 f. sowie das plastische στάζει φοίνιον κηκῖον αἷμα v. 783) geben ein detailliertes Bild der Situation. Die Schilderung eines Anfalls aus der ersten Gegenstrophe des Stasimons ist dabei gerade in der Blut-Thematik (vgl. v. 694 ff.) erneut evoziert und in doppelter Hinsicht überboten: Zum einen steht an unserer Stelle der rein imaginativen Drastik des Chors die dramatische, sich aktuell vollziehende Realität gegenüber. Zum anderen schildert hier der unmit‐ telbar betroffene Held sein Leiden selbst: Kein aus Mitleid motiviertes Hin‐ schauen, Beschreiben und reflektierendes Einordnen durch einen mehr oder minder außenstehenden Dritten beherrscht die Szenerie, sondern das an Drastik nicht zu überbietende augenblickliche Mitteilen des Gequälten selbst. Aus diesem Blickwinkel lässt sich eine mögliche formale Frage beantworten: Der Chor steht der gesamten Szenerie wortlos gegenüber, es erfolgt keine Kom‐ mentierung von seiner Seite. Hätte nicht gerade hier ein Kommos zwischen dem Protagonisten und den Matrosen, möglicherweise auch eine größere Ensem‐ bleszene unter Einbindung des Neoptolemos zur Vertiefung und effektvollen Ausgestaltung der Situation dienen können? Die Zurückhaltung des Chors lässt sich - abseits möglicher Erklärungen aus der Rollentypologie - auch unter for‐ malen Gesichtspunkten nachvollziehen: Indem am Beginn des zweiten Epeis‐ odions Philoktet alleine die Szenerie dominiert, ist seine herausgehobene, ge‐ radezu einsame Stellung wirkungsvoll herausgearbeitet. Sophokles gestaltet dabei einen bewussten Kontrast zum bildreichen Stasimon als umfangreicher chorischer Partie, die dezidiert eine Pause innerhalb des unmittelbaren Hand‐ lungsverlaufs füllt, und dem Weitergang des Bühnengeschehens, das sich ohne Unterbrechung bis zum Einschlafen des Protagonisten (und darüber hinaus) entwickelt. Anders gesagt: Der Auftritt des Protagonisten und sein Krankheits‐ anfall auf offener Bühne eröffnen den zweiten Teil der Tragödie mit der Peri‐ petie, bei deren Ausgestaltung der Dichter bewusst auf gewisse Effekte ver‐ zichtet. Statt also die Anfallsszene zu einer großen Chorszene auszubauen, lenkt Sophokles bewusst den dramatischen Fokus auf den Protagonisten, dessen Handlung und Präsenz gewisse Leitmotive der Beschreibung seiner Person ak‐ tuell auf die Bühne bringen. Philoktets Hinsinken und Einschlafen in den Versen 819 ff. lassen die unmit‐ telbare Drastik zu einem vorläufigen Ende kommen: Das Lied des Chors scheint zunächst, wie schon das Stasimon, die eingetretene Pause im Verlauf der Hand‐ lung zu füllen. Die Szenerie ist allerdings eine ganz andere: Neben dem Chor befinden sich Philoktet - wenn auch schlafend - und Neoptolemos weiterhin auf der Bühne. Das mit Vers 827 beginnende Lied wird sich so zu einer Unter‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 136 <?page no="137"?> 126 Die Chorpassage ist gerade auf Grund ihrer äußerst ambivalenten und unkonkreten Sprache sehr schwierig zu verstehen; hinzu kommen auch hier textkritische Probleme (vor allem in der Gegenstrophe und der Epode), die hier allerdings nicht in extenso behandelt werden. 127 Vgl. W E B S T E R (1970) S. 121: „Their prayer for healing Sleep was genuine but not disin‐ terested, as the ethic datives ἡμῖν, μοι show“. So auch B U R T O N (1980) S. 241: „[…] the ethic datives ἡμῖν and μοι which stress the personal interest of the person praying“. 128 So J E B B (2004) S. 135: „Rather τάνδʼ αἴγλαν is ‘dream-light’, - such as illuminates the visions that come in sleep“. Dieser Interpretation schließen sich auch LSJ an und ver‐ zeichnen s.v. αἴγλη unter Angabe unserer Stelle „dream light“. redung weiten, die mit dem Verweis auf die Intrigensituation die Brisanz der Szene in Erinnerung rufen und verdeutlichen wird. 126 Ein detaillierter Nach‐ vollzug gerade der ersten Strophe wird grundlegende Strukturen des Liedes he‐ rausstellen; die beiden weiteren Strophen können daraufhin kürzer abgehandelt werden. Die Aufforderung des Neoptolemos, den erschöpften Philoktet in Ruhe dem Schlaf zu überlassen (v. 826), findet ihre begriffliche Fortsetzung mit dem Beginn des Liedes: Ein direkter Anruf des Schlafes eröffnet die chorische Partie. Doch nicht nur die gedoppelte Wiederholung des Wortes Ὕπνος in Vers 827 macht die Kontextbezogenheit der chorischen Aussagen besonders deutlich: Indem der Schlaf als unkundig (ἀδαής) im Bereich von Schmerz (ὀδύνας) und Leiden (ἀλγέων) apostrophiert wird, ist die vorangegangene Szene mit ihrer drasti‐ schen Inszenierung von Philoktets Qualen verbalisiert und zugleich als ver‐ gangen gekennzeichnet. Nun solle eben der Schlaf kommen (ἔλθοις), wobei sich die Choreuten durch ἡμῖν (v. 828) bewusst als in die Situation involviert ver‐ stehen. 127 Die Häufung der Adjektive (ἀδαής, εὐαής sowie das verdoppelte εὐαίων) erweckt neben der gezielten Ansprache des Gottes dabei den Eindruck eines kultischen Invokationshymnos, der die Epiphanie der betreffenden gött‐ lichen Person herbeisehnt. Die angeschlossene konkrete Bitte in den Versen 830 f. bietet im Einzelnen manche Schwierigkeit, v. a. hinsichtlich der konkreten Bedeutung von τάνδʼ αἴγλαν. Man wird wohl am besten mit J E B B αἴγλα als das „Traumlicht“ 128 ver‐ stehen, das der Schlaf dem Niedergesunkenen nun vorhalten soll. W E B S T E R illustriert gerade mit Blick auf das abschließende Παιών (v. 832 / 3) - ein stere‐ otypes Epitheton des Asklepios - die begrifflich-genealogische Verbindung, die der Chor an unserer Stelle zwischen Ὕπνος und dem Gott der Heilung samt seiner Tochter Αἴγλα herstellt. Die in Frage stehende Junktur τάνδʼ αἴγλαν kann so ebenfalls als mit der Heilung einhergehender „Schimmer von Gelassenheit“ verstanden werden, der Philoktet nun zuteilwerden solle bzw. bereits zuteil ge‐ 1. Philoktet 137 <?page no="138"?> 129 W E B S T E R (1970) S. 121: „Paion, healer, is an epithet of Asclepius, and Aigla is his daughter, the gleam of serenity which the god of healing brings“. K A M E R B E E K (1980) S. 120 legt sich in seiner Deutung nicht fest, zieht aber die beiden referierten Positi‐ onen - αἴγλα als „serenity“ oder „dreamlight“ - gleichberechtigt in Erwägung. B U R T O N (1980) S. 241 f. ist zu Recht überzeugt: „[…] that αἴγλα here is metaphorical. […] The use of αἴγλα instead of the more usual φάος or φέγγος is to be explained by the mythical association of αἴγλη with Asclepius“. worden ist. 129 Allen Deutungen gemein ist die von Ὕπνος erbetene „Bewusst‐ losigkeit“ Philoktets, der im Schlaf nicht mehr von seinen akuten Leiden gequält werden soll; dass er dabei von der aktuellen Situation, d. h. dem sich anschlie‐ ßenden Gespräch des Chors mit Neoptolemos nichts wahrnehmen kann, ist im‐ plizit bereits angedeutet und, wie der Verlauf des Liedes zeigen wird, elemen‐ tarer Bestandteil der Bitte an die Gottheit. Mit Vers 833 bricht der begonnene Invokationshymnos ab; der Chor richtet sein Augenmerk auf Neoptolemos und redet ihn mit ὦ τέκνον direkt an. Der Vokativ steht so im bewussten Kontrast zum vorangegangenen Ὕπνʼ (v. 827) und macht die Verschiebung der Perspektive deutlich: Nicht mehr der herbei‐ gerufene Schlaf steht im Fokus des Interesses, sondern Neoptolemos und sein weiteres Vorgehen. Dieser solle sich nämlich, so die Aufforderung der Schiffs‐ leute, über seinen eigenen Standpunkt klar werden (ποῦ στάσῃ), bedenken, welche Schritte er nun in Angriff nimmt (ποῖ βάσῃ), und wie mit den sich aus der Situation ergebenden Sachverhalten (τἀντεῦθεν) umgegangen werden soll. Der Chor scheint aus seiner Perspektive bereits die notwendigen Konsequenzen gezogen zu haben: Worauf, so die entschiedene Frage v. 836, müsse man noch warten; der richtige Augenblick, der Einsicht über alle Dinge besitze, gewinne jedenfalls großen Einfluss durch eine schnell ausgeführte Aktion. Erst die Antwort des Neoptolemos konkretisiert die allenfalls implizit an‐ deutenden und keineswegs leicht zu verstehenden Aussagen des Chors: Zwar höre Philoktet zur Zeit nichts, er aber, Neoptolemos, sehe, dass das ganze Un‐ ternehmen vergeblich in Angriff genommen wurde, sollte man jetzt mit dem Bogen nach Troia fahren, den Helden selbst aber auf Lemnos zurücklassen. Phi‐ loktets Herbeischaffung habe das Orakel gefordert, ihm gelte der Siegeskranz; überhaupt sei es schwere Schmach, sich einer mit Lügen ausgeführten und letztlich erfolglosen Mission zu rühmen. Machen wir uns an diesem Punkt bewusst: Der inhaltliche Fokus des Liedes und des daraus hervorgegangenen Austauschs zwischen Chor und Akteur hat sich im Lauf der Strophe auf eine andere Ebene verlagert. Nicht mehr das Leid des Protagonisten und die Möglichkeit, es zu lindern, stehen im Mittelpunkt. Vielmehr erfährt die gegenwärtige Lage Philoktets ihre polarisierende Ausdeu‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 138 <?page no="139"?> 130 Vgl. S C H M I D T s (1973) Einschätzung S. 151 f.: „Alles, was der Chor äußert, bleibt wohl verschlüsselt; sein eigentliches Anliegen […] wird sogar mit keinem Wort, auch nicht in verstelltem Zusammenhang (852) angedeutet“. 131 Das genaue Verständnis der hier wiedergegebenen Passage v. 849 ff. ist auf Grund der extrem ambivalenten und mehrdeutigen Sprache sehr schwierig und umstritten - so v. a. die konkrete Bedeutung von v. 849, der Bezug von κεῖνο (v. 850) und ὅν (v. 852) Vgl. dazu die Kommentare ad locum. Die Fülle an verschiedenen Überlieferungsvarianten erschwert das Verständnis zudem in textkritischer Hinsicht. Die hier gegebenen in‐ haltlichen Andeutungen erheben daher nicht den Anspruch eines detaillierten Nach‐ vollzugs des sophokleischen Textes, sondern wollen einzig eine grobe inhaltliche Ein‐ ordnung bieten. tung im Kontext der Intrigensituation: Indem der Chor zwar äußerst ambiva‐ lent, 130 für seinen Gesprächspartner aber durchaus verständlich, zum sofortigen Einschreiten auffordert, füllt er die entstandene Pause im Handlungsablauf mit ungeahnter Dynamik. Der Kontrast zwischen der Anrufung des Schlafs und der unerwarteten Gesprächsaufnahme mit Neoptolemos macht dabei den Wechsel der Fokussierung besonders deutlich. Die in der ersten Strophe virulente Zweiteilung der Blickrichtung - einmal auf den Protagonisten und seinen Zustand, einmal auf Neoptolemos und die sich aus der Situation für ihn ergebenden Konsequenzen - prägt auch den Fortgang des Liedes. Während sich Neoptolemos selbst nicht mehr zu Wort meldet und erst in Vers 865 dem Chor Stille gebietet, entfalten die Schiffsleute ihre Ausdeu‐ tung der momentanen Situation als selbstbewusste Handlungsempfehlung an ihren Herrn. So legen sie ihm in ausgesuchter Ambivalenz nahe, die nun ein‐ getretene Gelegenheit beim Schopf zu packen und zu seinen Gunsten zu nutzen. Ein kurzer Überblick über die beiden folgenden Strophen soll dies verdeutlichen. Den Bedenken des Neoptolemos hinsichtlich der durch den Orakelspruch geforderten Mitwirkung Philoktets an der Einnahme Troias tritt der Chor prag‐ matisch entgegen: Danach werde Gott selbst sehen (τάδε μὲν θεὸς ὄψεται v. 843). Ihr Herr solle im Moment, so die angeschlossene konkrete Bitte in den Versen 844 ff., nur leise antworten, da der Schlaf von Kranken „scharfblickend“ (εὐδρακὴς λεύσσειν) sei und so - implizit gesagt - die Gefahr bestehe, von Phi‐ loktet gehört zu werden. Weiterhin solle Neoptolemos genau Acht geben (ἐξιδοῦ v. 851), dass er das angedeutete Unternehmen (κεῖνο) in aller Heimlichkeit aus‐ führe; wenn er dagegen an seiner Meinung festhalte, 131 könne man als verstän‐ diger Beobachter schon jetzt schwierige und ausweglose Ereignisse (ἄπορα πάθη) voraussehen. Gegen diese negative Zukunftsaussicht setzt die Epode mit Vers 855 einen erneut auffordernden Blick auf die aktuelle Gegenwart: Für Neoptolemos sei jetzt eine günstige Gelegenheit (οὖρος) eingetreten, da Philoktet gleich einem 1. Philoktet 139 <?page no="140"?> 132 Bei S C H M I T T (1973) findet sich in diesem Zusammenhang S. 152 lediglich der Hinweis: „Auffallend sind weiter die zahlreichen Wiederholungen von Wörtern […], Wen‐ dungen […] und Gedanken“. 133 So hält auch S C H M I D T (1973) zum Aufbau der Strophen S. 154 fest: „Die zweite und dritte Strophe sind wie die erste deutlich zweigeteilt: Der erste Teil richtet sich auf das Leiden des Kranken […], der zweite Teil auf die notwendige Tat“. Toten ohne Macht über seinen eigenen Körper hingestreckt sei. Ein erneutes ὅρα (v. 862 vgl. v. 833) eröffnet eine letzte Aufforderung an Neoptolemos: Er solle zusehen, ob er der Situation angemessene Dinge spreche (καίρια φθέγγῃ); die Vorgehensweise mit der größten Aussicht auf Erfolg sei aus Sicht der Cho‐ reuten - bemerkenswert das betonte ἐμᾷ φροντίδι v. 864 - ein furchtloses Han‐ deln (πόνος μὴ φοβῶν κράτιστος). Die sorgfältige sprachlich-motivische Gestaltung der Chorpassage soll hier nicht unerwähnt bleiben. 132 Zwei Aspekte treten dabei besonders deutlich hervor. Zum ersten: Wie schon erwähnt, prägt der gedoppelte Blick auf Philoktet und Neoptolemos die gesamte Partie. 133 Wiederkehrendes und geradezu gliederndes Moment sind dabei die Anreden an Neoptolemos sowie die begriffliche The‐ matisierung des Schlafs, an deren gegenseitigem Wechselspiel innerhalb des Liedes die spezielle Perspektive des Chors auf die Situation verdeutlicht werden kann: Unterbricht der Vokativ (ὦ) τέκνον v. 833 in der ersten Strophe den durch das verdoppelte Ὕπνε volltönend begonnenen Invokationshymnos, so nimmt diese vertraute Anrede auch in den beiden folgenden Strophen prominente Stel‐ lungen ein. Sie eröffnet die Gegenstrophe (v. 843) und markiert so die bewusste Antwort auf Philoktets Einwand, wird in Vers 845 zur Intensivierung der Auf‐ forderung nach gedämpfter Lautstärke wiederholt und steht erneut am Beginn der Epode v. 855, um dem Angesprochenen die günstige Lage geradezu plastisch vor Augen zu führen οὖρός τοι, τέκνον, οὖρος. Wenn der Chor am Schluss des Liedes (v. 864) seinen Herrn mit παῖ anspricht, so lässt diese Variation aufmerken und macht den besonderen Nachdruck der vom Chor vorgebrachten Empfeh‐ lung erfahrbar. Die p-Alliteration des Vokativs mit dem aus Vers 835 übernom‐ menen φροντίδος und dem folgenden πόνος ist dabei ein starkes Mittel, das der Passage erneut Nachdruck verleiht; anders gesagt: Die in der ersten Strophe aufgeworfenen Fragen an Neoptolemos, v. a. πῶς δέ σοι τἀντεῦθεν φροντίδος v. 834, sind hier am Ende der Passage aus Sicht des Chors trotz aller Ambivalenz deutlich und unmissverständlich beantwortet. Demgegenüber erfährt der Schlaf als Gegenpol des chorischen Fokus im Lauf des Liedes je verschiedene Ausdeutungen: War er als Gottheit am Beginn der ersten Strophe noch Heiler und erbetener Wohltäter - mithin eine mit positiven I. Chöre wehrfähiger Männer 140 <?page no="141"?> 134 Vers 859 bereitet in textkritischer Hinsicht einige Probleme: Ersetzt man das einhellig überlieferte (! ), allerdings dem Kontext völlig enthobene ἀλεής duch Reiskes Konjektur ἀδεής, liest sich die Parenthese als direkter Rückbezug auf Vers 827 und damit auf den unmittelbaren Beginn des Invokationshymnos. 135 So die sicherlich richtige Konjektur von Hermann, der sich P E A R S O N (1924) und L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) anschließen. Attributen versehene, personifizierte Abstraktion -, so thematisiert die Gegen‐ strophe die Gefahr, die der konkrete und „scharfblickende“ Schlaf des kranken Philoktet für Neoptolemos und den Chor in sich birgt: das Mithören der Intri‐ genpläne, bzw. genauer das Sehen (λεύσσειν) der wirklichen Gegebenheiten. Die Epode setzt dagegen ein anderes Bild: Der im Schlaf Hingesunkene gleicht in seiner Ohnmacht und Wahrnehmungslosigkeit einem Toten. Dieser Zustand, der dem Protagonisten jeden Kontakt zur und jede Interaktion mit der umge‐ benden Realität unmöglich macht, steht dabei in scharfem Kontrast zum ὕπνος ἄυπνος (v. 848) der Gegenstrophe, nimmt aber zugleich Begrifflichkeit und In‐ halt der ersten Strophe wieder auf und erweitert das dort gezeichnete Bild. So bezeichnet ἀνόμματος (v. 856) eben jenen Zustand, den die Bitte in den Versen 830 ff. herbeigesehnt hatte: War dort geradezu aus der Innenperspektive Phi‐ loktets von der αἴγλη - „dream light“ - die Rede, die den Augen des Helden vorgehalten werden sollte (ὄμμασι δʼ ἀντίσχοις), so verbalisiert nun νύχιος (v. 857) den augenscheinlichen Eindruck, den der Schlafende bei Betrachtern her‐ vorruft. Dass in beiden Fällen die identische Form von (ἐκ)τείνω (τέταται v. 831, ἐκτέταται v. 857) verwendet wird, macht die Bezugnahme umso deutlicher. 134 Herausragende Aufmerksamkeit verdient zum zweiten der konsequent ab‐ sichtsvolle Gebrauch des Begriffsfelds „Sehen“ innerhalb der Passage. Die Po‐ larität des gedoppelten Blicks auf Philoktet und Neoptolemos tritt hier besonders hervor: Während der Schlaf Philoktet gerade seine Sehkraft nehmen bzw. ein‐ schränken soll (v. 830 f.) und der so versunkene Held schließlich ἀνόμματος (v. 856) genannt wird, bedient sich der Chor in den Aufforderungen an Neopto‐ lemos dezidiert der Begrifflichkeiten des Sehens und Hinschauens. So leitet der Imperativ ὅρα (v. 833) die dreigliedrige Frage nach Standpunkt und weiterem Vorgehen ein, ἐξιδοῦ (v. 851) fordert zum verborgenen Handeln auf, und ein erneutes ὅρα (v. 862) - diesmal durch βλέπ(ε) gesteigert 135 - mahnt zu situati‐ onsangepasstem Sprechen. Dementsprechend versichert Neoptolemos den Chor in seiner Antwort, er „sehe“ (ὁρῶ v. 839), dass eine Abfahrt ohne Philoktet dem Orakelspruch widerspreche, wohingegen dessen leichter Schlaf in der Formu‐ lierung der Schiffsleute gerade auf Grund des „scharfblickenden Sehens“ (εὐδρακὴς λεύσσειν v. 847 f.) eine Gefährdung der vertrauten Gesprächssitua‐ tion darstellt. Schließlich verbalisiert das futurische ὄψεται (v. 843) die in Aus‐ 1. Philoktet 141 <?page no="142"?> 136 Es nimmt daher nicht wunder, dass Philoktets erste Worte nach seinem Erwachen (v. 867) der Begrüßung des Lichts (φέγγος) gelten: Auf der Folie des verklungenen Liedes erhält diese Freude am Wieder-sehen-Können eine geradezu pikante Note. sicht gestellte göttliche Fürsorge um die konkrete Erfüllung der Prophezeiung, während die vom Chor antizipierten ἄπορα πάθη als im wahrsten Sinne „vo‐ raussehbar“ (ἐνιδεῖν v. 854) bezeichnet werden. 136 Neoptolemosʼ Aufforderung in Vers 865, nun angesichts der wahrnehmbaren Bewegungen Philoktets Stille zu halten, bringt das Lied zu einem entschiedenen Ende. Der Protagonist erwacht und begrüßt sogleich das Licht; sein Monolog (v. 867-881) nimmt daraufhin nach einem Dank an Neoptolemos konkret die Fort‐ führung der Handlung, d. h. den Aufbruch zum Schiff in den Blick (v. 877). Vom verklungenen Chorlied hat Philoktet indes nichts wahrgenommen. Die darin erreichte Zuspitzung der Situation bildet in dieser Hinsicht eine Grundierung, auf der sich gerade das Lob, das der Protagonist Neoptolemos und seiner wohl‐ gearteten Natur (εὐγενὴς φύσις v. 874) entgegenbringt, umso kontrastreicher abhebt. Anders gesagt: Wurde in der chorischen Partie der Fokus dezidiert auf Neoptolemos und seine weiteren Schritte gelenkt, so spitzt sich diese Verengung durch Philoktets Aussagen weiter zu. Die Peripetie wird so in spannungsvoller Kontrastierung bereits antizipierbar. Machen wir uns an diesem Punkt klar: Der Begriff des Sehens ist für die Motivik des Liedes grundlegend; sie deutet damit den augenscheinlichen Zu‐ stand des Protagonisten aus und macht so die konkrete Bühnensituation poe‐ tisch nutzbar. Das Begriffsfeld „Sehen“ erfährt in dieser Hinsicht eine spezifische Erweiterung und dramaturgische Aufladung: Indem der Chor auf der einen Seite seine Bitte an den Schlaf richtet, auf der anderen Neoptolemos zu genauem Hinschauen und dementsprechendem Handeln auffordert, thematisiert er die virulente Intrigensituation bildhaft und geradezu handgreiflich. Sehen bedeutet in diesem Zusammenhang, Einsicht über die wahre Situation zu haben und die konkrete Bühnenrealität im Licht des Orakel- und Intrigenzusammenhangs zu begreifen. Anders gesagt: Der ständige Wechsel der Blickrichtung zwischen Philoktet und Neoptolemos wird durch die konsequente Motivik des Sehens zusammengehalten; diese ist der dramatischen Situation, d. h. konkret dem Ein‐ schlafen des Protagonisten, entnommen und bildet den Rahmen für die Aus‐ leuchtung der Szenerie und der sich aus ihr ergebenden Konsequenzen für die Handelnden. Der Aufbau des Liedes, seine charakteristische Perspektive und die damit ver‐ bundene geradezu dialektische Frage-Antwort-Relation der drei Strophen un‐ tereinander sind verdeutlicht worden. Die Passage erreicht durch diese über‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 142 <?page no="143"?> legte Gestaltung und den konsequenten Einsatz einer unmittelbar aus dem Bühnengeschehen erwachsenden Motivik und Begrifflichkeit eine formale Ge‐ schlossenheit, die ihrer Positionierung innerhalb des Dramas entspricht: Zwar forciert das Lied den Fortgang der Handlung und weitet sich selbst zur dialo‐ gischen Szene. Nichtsdestoweniger füllt es eine Handlungspause, in deren klar konturiertem Rahmen die umfassende Reflexion zu stehen kommt. Die Szenerie des „Schlafliedes“ korrespondiert mit Blick auf die Gesprächs‐ situation mit der Parodos: Wieder stehen sich Neoptolemos und seine Mann‐ schaft gegenüber, wieder geht es in dieser vertraulichen Unterredung um das weitere Vorgehen (vgl. die ratsuchende Haltung der Choreuten in der Parodos), wobei sich das Verhältnis jedoch verschoben hat. Diesmal ist es nicht Neopto‐ lemos, der den Choreuten Andeutungen zum weiteren Vorgehen macht, sondern der Chor, der seinem Herrn ein gewisses Verhalten vorschlägt - situationsbe‐ dingt sehr klausuliert und ambivalent. Die Präsenz Philoktets auf der Bühne sorgt für einen grandiosen Effekt und inszeniert die Doppelstruktur der Intrigenhandlung plastisch: Während die drastische und effektvolle Handlung um Philoktet selbst zu einem Ruhepunkt gekommen ist, nimmt das Lied die unterschwellig virulente Intrigensituation forciert in den Blick. Damit ist die Intensität der vorangegangenen Szene um‐ geleitet: Nicht mehr die drastische Bühnenpräsenz des Protagonisten, sondern die spezifische Situation, in der sich Neoptolemos befindet, wird so als Leitthema der sich anschließenden Szene etabliert. Die Situation der Parodos ist auch mit Blick auf die Anwesenheit des Prot‐ agonisten wiederaufgenommen, geradezu transferiert und effektvoll auf die Spitze getrieben: War dort das Nahen Philoktets und damit seine gefühlte Prä‐ senz die Grundlage der bald angstvollen, bald neugierigen Stimmung, so be‐ findet sich an unserer Stelle Philoktet zwar leibhaftig auf der Bühne, ist Gegen‐ stand der Auseinandersetzung zwischen Chor und Akteur, nimmt aber nicht am Gespräch teil. Die Anzeichen seines Aufwachens veranlassen Neoptolemos, das Gespräch zu beenden (v. 865 f.), so wie die nahenden Schritte (v. 201) und das deutliche Rufen Philoktets (v. 205 f., 218) die Unterredung zwischen den Schiffs‐ leuten und ihrem Herrn zu einem Ende führten. Indem das Lied dabei zwischen der Beschreibung des schlafenden Philoktet und der sich daraus für Neoptolemos ergebenden Konsequenzen pendelt, ver‐ schiebt es den Fokus der Darstellung schrittweise auf Neoptolemos; dessen Handeln wird den weiteren Fortgang der Geschehnisse maßgeblich bestimmen. Machen wir uns daher klar: Das Lied blendet nach dem Höchstmaß an äußerer Drastik die virulente Intrigensituation ein und schafft damit den Übergang zur Konfrontation des Protagonisten mit der eigentlichen Realität. Es bereitet in 1. Philoktet 143 <?page no="144"?> 137 R E I N H A R D T ( 3 1960). Sophokles, Frankfurt am Main, S. 190. seiner Umleitung der Drastik und der Problematisierung des Neoptolemos die folgende Szene vor: Wenn Neoptolemos im Anschluss (v. 895 ff.) an der Situation scheitert und seinen Gewissenskonflikt offenlegt, so nehmen seine Äußerungen die Begrifflichkeiten der Gegenstrophe (im Besonderen fassbar bei ἄπορον und πάθος) bewusst wieder auf. Deutlich hat sich so die Einschätzung des Chors realisiert, die in der Gegenstrophe antizipierte Situation ist eingetreten. Das Lied hat sich so aus der unmittelbaren Bezugnahme auf die konkrete Situation des Protagonisten zu einer hintersinnigen Ausleuchtung der dramatischen Realität gewandelt. Dass dabei dem impliziten Rat des Chors, Philoktet zu verlassen, die Andeutung größter Schwierigkeiten gegenübergestellt wird, erweist sich im Fortgang der Handlung als konkrete Zukunftsaussicht auf den weiteren Verlauf der Handlung. Die chorische Passage kommt so an einem - scheinbaren - Ru‐ hepunkt der Handlung zu stehen, greift die eingetretene Stimmung auf und moduliert sie in geschickt kontrastierender Weise zu einer brisanten Auseinan‐ dersetzung mit der Handlung kurz vor ihrem Wendepunkt. Die Form des Liedes spielt dabei meisterhaft mit der Erwartungshaltung des Publikums. Begann die Passage mit ihrer personifizierenden Ausdeutung als ein aus der Situation des Protagonisten motivierter Invokationshymnos, so markiert der Wechsel des Adressaten in Vers 833 das unvermittelte Eintreten in einen Dialog mit dem auf der Bühne verbliebenen Akteur. Aus dem Schlaflied wird so „ein Lied der leisen, aber umso stärkeren Verführung zum Verrat“, 137 aus dem rein chorischen, stasimon-ähnlichen Gesang zur Szenentrennung wird ein Aus‐ tausch zwischen Chor und Akteur, eine Übergangsszene im besten Sinne. Selbst wenn Neoptolemosʼ Anteil an der Unterredung gering ist, evozieren doch die gehäuften Vokative (τέκνον v. 833, 843, 845, 855; παῖ v. 863 / 4) mitsamt den pro‐ minenten Imperativen (ὅρα v. 833, 862; πέμπε v. 846; ἐξιδοῦ v. 851; βλέπ(ε) v. 862) den Charakter eines lebhaften Diskussionsbeitrags von Seiten des Chors, der geradezu auf Antwort bzw. Reaktion ausgerichtet ist. Fassen wir zusammen: Sophokles nutzt die im Verlauf der Handlung einge‐ tretene Pause durch die Einschaltung einer chorischen Partie zur Umleitung der Drastik und der Wendung des Fokus. Die sich anschließende Peripetie ist damit vorbereitet; anders gesagt: Die Zuschauer sind sich der für Neoptolemos hoch‐ problematischen Situation erneut bewusst und können auf der Folie der im Lied implizit gegebenen Ratschläge die konfliktreiche folgende Szene bereits antizi‐ pieren. Das Gespräch zwischen Neoptolemos und dem Protagonisten in den Versen 867 ff. hat so als (erster) Wendepunkt innerhalb der Handlung ein cho‐ risches Präludium erhalten, das zum einen die vorangegangene Szene be‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 144 <?page no="145"?> 138 So K A M E R B E E K s (1980) Bezeichnung der Partie S. 119. W E B S T E R (1970) bemerkt S. 119 schlicht „A lyric dialogue of unusual form“. 139 So S C H M I D T (1973) S. 151. schließt, dabei allerdings selbst bewusst Szene des Dramas, d. h. Dialog und Austausch zwischen Beteiligten, sein will. Anders gesprochen: Sophokles lässt an dieser Stelle der Handlung keine wirkliche Ruhe aufkommen. Statt in einem reinen Invokationshymnos an den Schlaf die unmittelbare Drastik der Anfalls‐ szene zu lindern und damit dem dramatischen Schwung einen Kontrapunkt entgegenzusetzen, heizt gerade die chorische Partie die dramatische Brisanz weiter an. Den Effekt des „lyric interlude“ 138 verstärken dabei die konkrete Bühnen- und Sprechsituation, das bewusste, die Erwartungen des Publikums unterlaufende Spiel mit festen Formen chorischer Beteiligung (Invokations‐ hymnos, Stasimon, lyrischer Austausch zwischen Akteur und Chor) und die subtile sprachlich-motivische Komposition, die der Ambivalenz, Uneindeutig‐ keit und „Chiffrierung“ 139 der Sprache eine besonders subversive Wirkung ver‐ leiht. Kommos Philoktet-Chor (v. 1081 - 1217) Mit dem Wechselgesang v. 1081-1217 kommen wir zur letzten umfangreichen Chorpartie der Tragödie. Bevor die Gesprächssituation, die formale Anlage der Passage, ihre Motivik und Thematik sowie die dramaturgischen Implikationen erläutert werden, soll ein kurzer Überblick die Einordnung des Kommos in den Handlungsablauf ermöglichen. Nach dem Aufwachen des Protagonisten hatte Neoptolemos die Wahrheit nicht mehr zurückhalten können und Philoktet mit den Gegebenheiten kon‐ frontiert: Es sei notwendig (δεῖ v. 915, πολλὴ κρατεῖ ἀνάγκη v. 921 f.), gemeinsam nach Troia zu fahren und dort die Stadt einzunehmen. Philoktet reagiert er‐ schüttert; in einem ersten Monolog (v. 927-962) konfrontiert er seinen Ge‐ sprächspartner mit schwerwiegenden Vorwürfen: Er, ein Schutzbedürftiger (προστρόπαιος, ἱκέτης v. 930) sei getäuscht, geradezu hinters Licht geführt worden (besonders eindrücklich die Perfektformen ἠπάτηκας v. 929 und ἠπάτημαι v. 949). Wenigstens den Bogen solle man ihm zurückgeben, denn mit‐ samt diesem Utensil habe man ihm das Leben selbst geraubt (v. 931 ff.). Dem‐ entsprechend fällt das Urteil über seinen eigenen Zustand vernichtend aus: οὐδέν εἰμʼ ὁ δύσμορος (v. 951). Neoptolemos antwortet trotz der mehrfachen direkten Ansprache durch Philoktet nicht (v. 934 f., 951), bekundet allerdings nach der an ihn gerichteten Frage des Chors nach dem weiteren Vorgehen (v. 963 f.) sein überaus großes Mitleid (οἶκτος δεινός), das ihn nicht erst jetzt, son‐ dern schon vor längerer Zeit befallen habe. 1. Philoktet 145 <?page no="146"?> Bevor es zu einer Übergabe des Bogens und Entscheidung für oder gegen die Abfahrt nach Troia bzw. in Philoktets Heimat kommen kann, betritt Odysseus ohne Vorankündigung die Bühne. Zum ersten Mal treten so die drei wesentli‐ chen Akteure der Handlung in direkte Auseinandersetzung. Philoktet wird sich rasch bewusst, dass letztlich Odysseus für seine momentane Lage verantwort‐ lich ist (v. 978 f.), und droht schließlich, sich der Situation durch einen Sprung vom Felsen zu entziehen (v. 999 f.). Odysseusʼ Gehilfen packen den Protagonisten daraufhin und verhindern so die Selbsttötung. Philoktet, nunmehr festgehalten von Statisten, greift in einem zweiten Monolog (v. 1004-1044) Odysseus scharf an: Dieser habe Neoptolemos, den Philoktet unbekannten Knaben (παῖδα ἀγνῶτʼ ἐμοί v. 1008), geradezu als Schutzwehr (πρόβλημα) benutzt, um sein Vorhaben umzusetzen. Ein entschiedenes ὄλοιο (v. 1019) bringt Philoktets Ver‐ achtung und Entrüstung gegenüber Odysseus wirkungsvoll zur Sprache. Selbst die erfolgte Festsetzung und Überführung seiner selbst nach Troia, so Philoktet, werde für die Griechen keinen Vorteil bringen: In seinem Zustand - lahm und stinkend (χωλός, δυσώδης v. 1032) - stelle er bei der Eroberung Troias eher ein Hindernis als eine Unterstützung dar. Die Ursache seiner Aussetzung auf Lemnos, d. h. seine Krankheit und die daraus erwachsenen Probleme, seien schließlich noch immer virulent. Philoktet schließt mit einer Anrufung der Götter seiner Heimat (v. 1040 ff.): Diese sollten die für sein Leid Verantwortlichen allesamt (ξύμπαντας) bestrafen; denn selbst unter diesen widrigen Lebensbe‐ dingungen (ζῶ οἰκτρῶς v. 1043) könne Philoktet die Gewissheit um die Bestra‐ fung seiner Widersacher geradezu als Befreiung von seiner Krankheit em‐ pfinden. Wieder ist es der Chor, der nach dem Monolog des Protagonisten eine kurze Einschätzung gibt, diesmal in Form einer direkten Anrede an Odysseus (v. 1045 f.): Philoktet habe eine heftige Rede gehalten, die kein Anzeichen eines Nachgebens erkennen lasse. Der Angesprochene bekundet, er wolle nun nicht viele Worte machen. Zwar wünsche er, Odysseus, in der Regel, den Sieg aus einer Situation davonzutragen, Philoktet aber lasse er freiwillig zurück. Denn, so die Einschätzung, mit dem Besitz des Bogens bestehe keine Notwendigkeit, Philoktet selbst nach Troia zu bringen. Er gibt schließlich den Befehl, Philoktet loszulassen, und fordert Neoptolemos auf, nun mit ihm selbst zum Schiff zu gehen. Nacheinander wendet sich Philoktet daraufhin in je einem Doppelvers an Odysseus (v. 1063 f.), Neoptolemos (v. 1066 f.) und den Chor (v. 1069), verfehlt allerdings sein Ziel, die übrigen Akteure durch seine erschüttert-ungläubigen Fragen zum Bleiben zu bewegen. Der Chorführer macht sein weiteres Vorgehen von Neoptolemosʼ Vorgaben abhängig. Dieser gibt daraufhin in den Versen 1074 ff. eine - zumindest für den Moment - klare Handlungsanweisung: Er for‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 146 <?page no="147"?> dert den Chor auf, bei Philoktet zu bleiben, während er selbst mit Odysseus zu den Göttern beten wolle. Vielleicht, so seine Hoffnung, werde Philoktet noch zu einem anderen, der eigenen Sache günstigeren Entschluss kommen. Sobald er jedenfalls das Signal zum Aufbruch geben werde, sollten sich auch die Schiffs‐ leute rasch aufmachen. Nach diesen Worten verlassen Neoptolemos und Odys‐ seus das Geschehen, zurück bleiben Philoktet und der Chor. Machen wir uns an diesem Punkt die Bühnensituation erneut klar: Mit Neo‐ ptolemosʼ Eingeständnis in den Versen 895 ff. hat die bisher virulente Doppel‐ bödigkeit der Handlung ein Ende gefunden. Schrittweise erfährt nun auch der Protagonist die eigentlichen Hintergründe der Geschehnisse, wobei der über‐ raschende Auftritt des Odysseus in Vers 974 die Klimax der Szenerie darstellt: Zum ersten Mal stehen sich nun die beiden Antipoden der Handlung konkret gegenüber. Die seit dem Prolog bereits antizipierbare Konfrontation des ‚Strip‐ penziehers‘ Odysseus mit dem Hauptleidtragenden seiner Intrige bringt damit den Kern der Personenkonstellation auf die Bühne; Neoptolemos und der Chor folgen dementsprechend dem Streitgespräch der beiden Akteure lange Zeit wortlos, einzig die kurze Einschätzung des Chorführers v. 1045 unterbricht diese Zurückhaltung. Erst die Antwort auf Philoktets direkte Ansprache und die da‐ rauf von Neoptolemos gegebenen Handlungsanweisungen (v. 1072 ff.) bilden die erste Einschaltung der durch die Bühnenpräsenz des Odysseus und die Intensität des wortreichen Konflikts geradezu ins Abseits geratenen weiteren Charaktere. Mit Odysseusʼ Auftritt im entscheidenden, geradezu aporetischen Moment (vgl. Neoptolemosʼ hilflose Frage „Was sollen wir tun, Männer? “ und Odysseusʼ entsetzte Auftrittsworte „Was tust du da? “ v. 974) erfährt also die festgefahrene Szenerie eine ungeahnte und überraschende Dynamisierung und personelle Verschiebung. Während bis zu diesem Punkt die im „Schlaflied“ bereits antizi‐ pierte Problematisierung des Neoptolemos und seines Verhaltens dramatisch umgesetzt wurde, weitet und vertieft sich durch Odysseusʼ Auftreten die Di‐ mension des Geschehens. Die Feindschaft zwischen ihm und Philoktet wird dabei drastisch inszeniert: Das hochemotionale Rededuell der beiden, die An‐ kündigung des Selbstmords, die anschließende Fesselung des Protagonisten sowie seine Freilassung bringen einige Aktion auf die Bühne. Neoptolemos steht dabei geradezu zwischen den Fronten und kann erst am vorläufigen Ende des Streits als Herr der Schiffsleute aktiv in das Geschehen eingreifen bzw. dessen weiteren Fortgang ordnen. Für Philoktet scheint an diesem Punkt der Handlung alles verloren, seine Lage hat sich durch Odysseusʼ Eingreifen und den Abgang der Akteure in Vers 1081 noch einmal akut zugespitzt. Der sich anschließende Kommos überbietet in 1. Philoktet 147 <?page no="148"?> 140 Vgl. v. a. zur Metrik W E B S T E R (1970) S. 135 f., 138, 142 f. 141 So die Bezeichnung W E B S T E R s (1970) S. 135. K A M E R B E E K (1980) S. 150: „the long epodic part“. 142 K A M E R B E E K (1980) spricht den Strophen S. 150 zu Recht „a formally ‘regular’ character“ zu und kontrastiert dazu: „the long epodic part shows a much more diversified pattern of exchange of longer or shorter utterings and answers between the two“. Vgl. zudem seine zutreffende Charakterisierung der Partie in Abgrenzung zum vorangehenden Teil der lyrischen Passage S. 160. dieser Hinsicht die bereits emotionalen Monologe in den Versen 927-962 sowie 1004-1044 und leuchtet so die erreichte Situation expressiv aus. Der eigentliche Wechselgesang besteht augenscheinlich aus zwei Teilen, die sich hinsichtlich ihrer Metrik, der Dialogstruktur und der jeweiligen Bühnenwir‐ kung unterscheiden: 140 Auf die beiden Strophenpaare in den Versen 1081-1168 folgt eine Epode 141 von beträchtlichem Ausmaß (v. 1169-1217). Die Verse 1218-1221 bilden im Anschluss daran als Auftrittsankündigung für Odysseus und Neoptolemos den konkreten Übergang zur folgenden Szene. Die Sprecher‐ verteilung in den Strophen ist dabei von ausgesuchter Regelmäßigkeit: Auf eine längere Partie des Protagonisten (im ersten Strophenpaar jeweils 14 Verse, im zweiten je 17) antwortet der Chor mit einer kürzeren Einschätzung und Bewer‐ tung (je zweimal 6 Verse in jedem Strophenpaar), sodass der Redeanteil Phil‐ oktets deutlich überwiegt (62 Verse gegenüber 24 Versen des Chors). Die Epode setzt gegen diese durchsichtige Struktur einen virulenten Akzent: Der rasche Sprecherwechsel, das Nebeneinander von kurzen und längeren Äußerungen und das gegenseitige Ins-Wort-Fallen der Gesprächspartner (v. a. in den Versen 1182 f.) lassen den Eindruck einer lebhaften und hochemotionalen Kommuni‐ kation entstehen, die sich schon rein formal vom eher statischen Austausch in den beiden Strophenpaaren abhebt. 142 Blicken wir nach dieser ersten formalen Einschätzung zunächst auf die im Kommos behandelten Themen und Motive, um den inhaltlichen Aufbau der Partie zu erfassen. Philoktet gibt nach dem Abgang von Odysseus und Neopto‐ lemos seiner Erschütterung und dem Gefühl der Ausweglosigkeit in einem di‐ rekten Anruf seiner Höhle Ausdruck: Diesen Ort werde er nun nicht mehr ver‐ lassen, ja sogar an ihm sterben (v. 1084 f.). Nach einer Klageinterjektion (ὤμοι μοί μοι) folgen zwei schmerzerfüllte Fragen Philoktets: Warum (τίπτʼ v. 1089) werde die mit Leid angefüllte unselige Behausung ihm nun zur täglichen Um‐ gebung (τὸ κατʼ ἦμαρ), und woher solle er jetzt noch - d. h. nach Verlust des Bogens - die Hoffnung auf Nahrung schöpfen? Der Blick zu den am Himmel I. Chöre wehrfähiger Männer 148 <?page no="149"?> 143 Die Verse 1092-1094 sind textkritisch höchst umstritten. Ich folge dem Rekonstrukti‐ onsversuch von L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990), die zwar den überlieferten Textbestand im Wesentlichen durch Konjekturen ersetzen, dadurch allerdings eine mehr oder minder probate Lösung gefunden haben. entlangziehenden Vögeln ist dementsprechend resignierend: Philoktet kann sie nicht mehr einfangen. 143 Der Protagonist scheint in dieser ersten Äußerung an einem wirklichen Aus‐ tausch mit den Schiffsleuten nicht interessiert: Der Fokus seiner Einschätzung liegt ganz auf den Umständen seines eigenen Daseins, wobei vor allem die Höhle und das Problem der Nahrungsbeschaffung im Vordergrund stehen. Eine direkte Ansprache der Choreuten findet nicht statt, die Anwesenheit derselben spielt für Philoktet an dieser Stelle (noch) keine Rolle. Dennoch melden sich die Choreuten im Folgenden zu Wort (v. 1095-1100) und versuchen, die von Philoktet aufgeworfenen Fragen zu beantworten: Er selbst sei für seine Situation verantwortlich. Nicht das Schicksal (ἁ τύχα) sei hier geradezu „von außen“ (ἄλλοθεν) am Werk, sondern er allein, der die Möglichkeit gehabt hätte, die günstigere Alternative zu wählen, habe sich entschlossen, dem Übleren (τὸ κάκιον) zuzustimmen. Diese alleinige Verantwortung Philoktets wird in der vorliegenden Passage prominent ausgestaltet: So eröffnet das be‐ tonte σύ τοι die direkte Wendung an den Protagonisten und rückt ihn selbst in den inhaltlichen Fokus. Indem die beiden einzigen finiten Verbformen (κατηξίωσας und εἵλου) sich gerade auf Philoktet beziehen, ist er als der ei‐ gentlich verantwortlich Handelnde gezeichnet, dessen Wahl die Ursache der momentanen Situation darstellt. Die betonte Anrede evoziert dabei eine Ge‐ sprächssituation, die so vom Protagonisten in seiner ersten Äußerung nicht in‐ tendiert war. Eine Antwort scheint Philoktet nämlich nicht erwartet zu haben und fährt auch im Folgenden fort, ohne direkt auf die Schuldzuweisung von Seiten des Chors näher einzugehen. Die Gegenstrophe eröffnet mit Vers 1101 ein erneuter Anruf, mit dem Phi‐ loktet diesmal konkret seine eigene Person (ὢ ἐγώ) thematisiert: Er selbst, elend (verdoppeltes τλάμων) und von Mühsal geradezu misshandelt (μόχθῳ λωβατός), werde nun zu Grunde gehen (ὀλοῦμαι). Drei Partizipien geben Gründe und Begleitumstände dieser vernichtenden Selbsteinschätzung an: die Wohnsituation (ναίων) in völliger Einsamkeit, die problematische Nahrungs‐ versorgung (οὐ φορβὰν προσφέρων) sowie der Verlust der eigenen Waffen (οὐ … ἴσχων). Dem gerade in den beiden letzten, verneinten Partizipien verba‐ lisierten Mangel setzt Philoktet mit ἀλλά (v. 1111) seine Sicht der Vorgeschichte entgegen: Undeutliche und verborgene Worte eines betrügerischen Verstandes hätten sich eingeschlichen (ὑπέδυ). Philoktet schließt mit einer Verfluchung: Er 1. Philoktet 149 <?page no="150"?> 144 So auch W E B S T E R (1970) S. 138: „This that caught you is fate […], not a trick […]“. 145 Vgl. K A M E R B E E K (1980) S. 155: „Just as 1101 Philoctetes continues as if the Chorus had said nothing whatsoever“. wolle denjenigen, der das ersonnen habe, die gleiche Zeit seine eigenen Schmerzen erleiden sehen. Die mit einiger Sicherheit gegen Odysseus gerichtete Invektive (vgl. die fol‐ gende Strophe) veranlasst den Chor zu einer unmittelbaren Richtigstellung: Was den Philoktet hier in Besitz genommen habe (ἔσχʼ v. 1119), 144 sei das Geschick von δαίμονες, keine List von Seiten des Chors (ὑπὸ χειρὸς ἐμᾶς). Mit Verflu‐ chungen anderer solle er sich daher zurückhalten; denn dem Chor liege daran (ἐμοὶ τοῦτο μέλει), dass Philoktet die gegenseitige Freundschaft nicht von sich stoße. Offensichtlich haben die Schiffsleute den Protagonisten zumindest leicht missverstanden: Die deutliche Betonung der eigenen Unschuld an Philoktets Leid (vgl. die betonte Hervorhebung der eigenen Person im Possessivpronomen ἐμᾶς v. 1119 sowie das Personalpronomen ἐμοί v. 1121) macht die eingenommene Abwehrhaltung augenscheinlich; dass Philoktet bei seiner Verwünschung kon‐ kret Odysseus vor Augen gehabt haben könnte, spielt für den Chor zunächst keine Rolle. Schwerer wiegt für die Schiffsleute der implizite Vorwurf, den die Junktur δολερᾶς φρενός v. 1112 möglicherweise beinhaltete; dementsprechend bildet die entschiedene Zurückweisung eines Betruges (δόλος v. 1117) den wört‐ lichen Anknüpfungspunkt zur Vorrede des Protagonisten. Der so aufgenom‐ mene Begriff δόλος wird scharf von πότμος δαιμόνων unterschieden und findet so seinen Platz in der bereits in den Versen 1095 ff. etablierten Terminologie. War dort Philoktet als βαρύποτμος angesprochen worden, der unter Einfluss eines besseren Daimon (λωίονος δαίμονος) anders entschieden hätte, so ist diese Motivik an unserer Stelle zur Junktur πότμος δαιμόνων verschmolzen, die in Abgrenzung zu δόλος erneut besonderes Gewicht erhält. Anders gesagt: Die zweite Wortmeldung des Chors stellt eine Konkretisierung und Verdichtung seiner ersten Aussagen dar, wobei der aus Philoktets Beitrag übernommene Be‐ griff δόλος als virulenter Gegenpol innerhalb der Bewertung die deutliche Selbstverortung des Chors im Geschehen evoziert. Ein wirklicher Dialog kommt allerdings auch an dieser Stelle nicht zustande, die Gesprächspartner reden vielmehr aneinander vorbei. Philoktet fährt in Vers 1123 erneut in seiner Klage fort, ohne konkret auf den Einwurf des Chors ein‐ zugehen, 145 wobei er thematisch da einsetzt, wo er vor der Einschaltung des Chors stehen geblieben war: bei Odysseus als dem für sein Leid Verantwortli‐ chen. I. Chöre wehrfähiger Männer 150 <?page no="151"?> 146 Vgl. dazu das Ende des Stasimons (v. 727 ff.), dessen bildmächtige Schlussszene die Apotheose des Herakles in Philoktets Heimat vor Augen führt. Das in Vers 1123 direkt nach der Klageinterjektion οἴμοι μοι eingefügte καί macht den direkten Anschluss an die vorherigen Äußerungen Philoktets greifbar: Subjekt der folgenden Periode ist der in den Versen 1113 ff. in den Blick geratene Urheber von Philoktets Leid und damit Odysseus, dessen Name aller‐ dings nicht genannt wird - und auch nicht genannt werden muss. Dieser, so die Imagination, sitzt nun auf der Fläche des Meers und verlacht Philoktet, während er mit dem Bogen des Helden geradezu dessen Nahrungsversorgung (τροφά) in den Händen schwingt. Ein Anruf der Waffe verleiht der Verzweiflung des Prot‐ agonisten besonderen Nachdruck (v. 1128 ff.): Der Bogen selbst sehe - wenn er Verstand habe -, dass ihn der jammervolle Gefährte des Herakles im Folgenden nicht mehr benutzen werde; vielmehr werde er nun einem listenreichen (πολυμήχανος v. 1135) Mann übergeben und könne dabei mitansehen, wie dieser verhasste Unhold eine Unzahl an betrügerischen und schändlichen Taten auf‐ blühen lasse (ἀνατέλλοντα), die er gegen Philoktet ersonnen habe. Der Protagonist ist auch an dieser Stelle ganz auf seine eigene Ausdeutung des Geschehens konzentriert: In einem schlaglichtartigen Bild stellt er sich Odysseus vor Augen und lenkt daraufhin den Blick ganz explizit auf den nun‐ mehr endgültig verlorenen Bogen. Die Ansprache der Höhle aus der ersten Strophe als einer unbelebten und doch für das Geschehen eminent wichtigen Entität wird dadurch noch gesteigert: Der Bogen, die zentrale Lebensversiche‐ rung Philoktets und essentielles Requisit des Dramas, wird hier nicht nur an‐ geredet, sondern geradezu beseelt und als Handlungsbzw. Perspektivträger wahrgenommen. Der Besitzerwechsel der Waffe ermöglicht so einen erneuten intensiven Blick auf Odysseus und dessen schändliches Tun. An die Herkunft der Waffe erinnert die Selbstbezeichnung Philoktets als Ἡράκλειον (v. 1131), „Gefährte des Herakles“. Damit klingt neben der bereits entfalteten Nahrungs‐ thematik kurz eine weitere Bedeutungsebene des Bogens an, wie sie bereits in der Anfallsszene eingeflochten war (v. 799 ff.) und auch im Monolog des Prot‐ agonisten v. 943 angedeutet wurde: Die Waffe als Geschenk des Herakles ist fassbarer Beweis der engen Bindung zwischen diesem mittlerweile vergött‐ lichten Helden 146 und dem Protagonisten. Gegen jedes Recht hat sich Odysseus, so die implizite Konsequenz, in diese vertrauensvolle Beziehung eingemischt und wird im Folgenden den geraubten Bogen zum stummen Augenzeugen seiner verwerflichen Handlungen machen. Die in Vers 1140 folgende Bemerkung des Chors versucht, der vernichtenden Kritik Philoktets an Odysseus eine andere Perspektive entgegenzusetzen. Den 1. Philoktet 151 <?page no="152"?> 147 Die Verse sind hinsichtlich ihrer Bedeutung und ihres Bezugs sehr umstritten. Vgl. die divergierenden Lösungsvorschläge bei J E B B (2004) S. 179, K A M E R B E E K (1980) S. 156 f. sowie die Diskussion bei W E B S T E R (1970) S. 140. Die von L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) in den Text aufgenommene Konjektur von Kells (possessives ὅν statt εὖ in Vers 1140) erleichtert dabei das Verständnis wesentlich. 148 K A M E R B E E K (1980) S. 157. 149 So der von L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) gegebene Text; anders noch die OCT von P E A R S O N (1924) (τοῦτ’) sowie die Teubneriana von D A W E (1979) (τάνδʼ). 150 Auch dazu K A M M E R B E E K (1980) S. 157: „Again there is no reply“. Anfang macht dabei eine gnomische Feststellung (v. 1140-1142): 147 Es sei Auf‐ gabe eines Mannes, sein eigenes Rechtsverständnis (τὸ μὲν ὃν δίκαιον) vorzu‐ bringen; allerdings müsse er sich davor hüten, damit neidvollen Schmerz her‐ vorzurufen. Der Bezug des folgenden, konkret die Situation ins Auge fassenden κεῖνος (v. 1143) scheint nach Philoktets vorangegangenen Ausführungen deut‐ lich: Odysseus müsste gemeint sein. Jener habe, so der Chor, als Einzelner auf Anweisung (ταχθείς) vieler gehandelt und damit seinen Freunden gemeinsame Hilfe (κοινὰν ἀγωράν) geleistet. K AME R B E E K 148 macht allerdings mit Blick auf den Bezug von κεῖνος auf eine durch den überlieferten Text bedingte Feinheit aufmerksam: Lesen wir in Vers 1144 das überlieferte Demonstrativpronomen im gen. sg. masc. τοῦδʼ, 149 so sind mit κεῖνος (v. 1143) und der Form von ὅδε (v.1144) verschiedene Personen ge‐ meint. Der eigentlich Handelnde (κεῖνος) wäre dann Neoptolemos, der auf Ge‐ heiß des Odysseus (τοῦδʼ ἐφημοσύνᾳ) seinen Auftrag auszuführen suchte. Was zunächst wie eine textkritische Quisquilie wirkt, wäre für die Gesprächssitua‐ tion dennoch symptomatisch. Nicht nur, dass der Chor an unserer Stelle ganz und gar loyal gegenüber der Obrigkeit das Vorgehen gegen Philoktet in den Zusammenhang von Beauftragung und Dienst einordnet und so der emotio‐ nalen und zutiefst persönlichen Redepartie Philoktets ein abgeklärteres, den größeren Zusammenhang betrachtendes Moment entgegengestellt. Mit der feinen Differenzierung zwischen Odysseus und Neoptolemos verwehrt sich der Chor gegen eine Generalkritik des Protagonisten. Die gedankliche Hinwendung zu Neoptolemos (der zum Chor ohnehin in engerer Beziehung steht als Odys‐ seus) zeugt dabei nicht etwa von einem Missverständnis des Chors gegenüber Philoktets Aussagen - im Gegenteil: Gerade auf dieser Basis könnte sich ein Gespräch über Auftrag und Verantwortung entwickeln. Nichts davon geschieht: Auch dieser Einwurf des Chors verhallt, ohne bei Philoktet eine wirkliche Re‐ aktion hervorzurufen. 150 Mit einem erneuten Anruf der ihn umgebenden Natur leitet der Protagonist die zweite Gegenstrophe ein: Sowohl Vögel als auch die einheimischen Land‐ tiere werden von nun an nicht mehr fluchtartig aus ihren Behausungen eilen, I. Chöre wehrfähiger Männer 152 <?page no="153"?> 151 Ich folge damit dem Lösungsversuch K A M E R B E E K s (1980) S. 159 f. und identifiziere den in Rede stehenden Leidtragenden mit Philoktet. da Philoktet seine bisherige Stärke (ἀλκά) nicht mehr in Händen halte; eine wehmütige Selbstansprache v. 1152 rundet das Bild des verzweifelten Helden. Daraufhin wendet sich Philoktets Blick erneut den Tieren zu: Diese könnten nun unbesorgt herumkriechen - er stelle in seinem lahmen Zustand keine Ge‐ fahr mehr für sie dar -, ja, selbst zur Rache am eigenen Leib fordert er die Tiere indirekt auf, da er sein Leben ohnehin in Kürze verlieren werde. In zwei Fragen gibt er die Begründung dieser hoffnungslosen Zukunftsperspektive: Woher solle der nötige Lebensunterhalt kommen? Und wer könne sich selbst ernähren, wenn er über nichts mehr verfüge, das die lebensspendende Erde hervorbringt? Dem vernichtenden Bild des dem sicheren Untergang Geweihten setzt der Chor in seiner Erwiderung v. 1163 ff. geradezu eine Einladung entgegen. Phi‐ loktet solle sich, so die Aufforderung der Choreuten, nähern, wenn er dem Fremden, d. h. dem Chor, gegenüber die nötige Ehrfurcht habe (εἴ τι σέβῃ). Dieser jedenfalls sei ihm ein Nachbar in aller Wohlgesonnenheit. Allerdings solle Phi‐ loktet wissen, dass es an ihm liege, dem so sicher scheinenden Verderben zu entfliehen: Jammervoll sei es, dieses Verderben zu nähren (βόσκειν v. 1167), Philoktet dagegen unkundig, das damit einhergehende vielfache Leid zu er‐ tragen. 151 Erst an diesem Punkt (v. 1169), d. h. nach knapp 90 Versen des einseitigen lyrischen Austauschs, wird Philoktet zum ersten Mal auf die Einlassungen des Chors reagieren. Der erste, statische Teil des Kommos hat damit sein Ende ge‐ funden. Machen wir uns daher kurz bewusst, was die lyrische Passage bis zu diesem Einschnitt geprägt hat. In ausgreifenden und hochemotionalen Bei‐ trägen kreiste Philoktet um das für ihn zentrale und folgenschwere Ereignis des scheinbar endgültigen Bogenverlustes, auf dessen Grundlage sich die Einschät‐ zung seiner Situation in bisher unbekanntem Maß dramatisiert hat. Während dabei die Angst, nunmehr der gewohnten Nahrungsbeschaffung nicht mehr nachgehen zu können und dadurch entweder dem Hunger oder den wilden Tieren schutzlos ausgeliefert zu sein, als Grundthema in allen Strophen anklingt, entfaltet Philoktet ein weites Panorama größtenteils bereits bekannter Motive: seine Wohnsituation und Einsamkeit, die erlittene Täuschung, der Hass auf Odysseus sowie das nahende Ende des eigenen Lebens. In einen Dialog mit dem Chor tritt er dabei nicht ein; auf die teils moralisierend-mahnenden, teils rich‐ tigstellenden Einwürfe des Chors zeigt der Protagonist keine erkennbare Reak‐ tion. Vielmehr verharrt er in einer geradezu monologischen Versunkenheit, die 1. Philoktet 153 <?page no="154"?> 152 Dass der Abtritt des Chors grundsätzlich nicht unmöglich wäre, zeigt der Aias. Hier allerdings wird dieser zwar denkbare, aber höchst seltenen Bühneneffekt lediglich in Erwägung gezogen. die Rolle seiner eigenen Person im lokalen, personalen und zeitlichen Rahmen der Handlung grell ausleuchtet. Das sich anschließende Gespräch mit dem Chor können wir hinsichtlich der in ihm behandelten Thematik kurz zusammenfassen: Philoktet wendet sich in den Versen 1169 ff. zum ersten Mal direkt an die Choreuten, wirft ihnen vor, ihn an das alte Leid erneut zu erinnern, und fragt sie sichtlich erregt, warum sie ihn zu Grunde gerichtet und was sie ihm angetan hätten, als sie planten, ihn in das ihm verhasste Troia zu bringen (v.1175). Diese Überführung des Helden sei, so die Schiffsleute, allerdings die aus ihrer Sicht beste Lösung (v. 1176). Philoktet for‐ dert daraufhin den Chor auf, ihn zu verlassen (v. 1177). Dieses Ansinnen des Protagonisten scheint ganz der Intention der Schiffsleute zu entsprechen (φίλα ταῦτα παρήγγειλας ἑκόντι v. 1177 f.). Schon fordern sie einander zum Abtritt auf (ἴωμεν ἴωμεν v. 1179), da unterbricht sie Philoktet: Unter dem Anruf des Zeus erbittet er von ihnen, nicht fortzugehen (μὴ ἔλθῃς), sondern hier zu bleiben (μείνατε). Das Gespräch erreicht an dieser Stelle (v. 1180 ff.) einen ersten Höhe‐ punkt: Nachdem die Absicht des Chors, nun den Ort des Geschehens zu ver‐ lassen, die Szenerie unversehens dynamisierte und das vermeintliche Ende der Gesprächssituation in Aussicht stellte, 152 wendet sich hier die Situation erneut. Philoktet scheint in seinem Sprechen ganz seinen Emotionen und dem ihn über‐ kommenden Leid zu folgen, eine rationale Auseinandersetzung mit ihm ist un‐ möglich. Der rasche Sprecherwechsel unserer Stelle (vgl. v.a. v. 1181 ff.) steht dabei in wirkungsvollem Kontrast zu den ausgreifenden Redepartien des ersten Teils. War dort die an den Tag gelegte Emotionalität besonders von eher dis‐ tanzierter Betrachtung und Reflexion geprägt, so entlädt sie sich nun in kurzen, konkrete Handlungen in den Blick nehmenden Anrufen. Philoktet bricht trotz der Mahnung des Chors, sich zu mäßigen, in Vers 1186 in eine erneute Wehklage aus, die nach der Anrufung seines δαίμων und seines Fußes in der Bitte an den Chor gipfelt, nun wiederzukommen. Die vorsichtig optimistische Frage des Chors v. 1191 nach einer möglichen Meinungsänderung sowie dem weiteren Vorgehen wird von ihm allerdings zurückgewiesen: Je‐ mandem, der von wildem Schmerz geplagt werde, dürfe man nicht zürnen, selbst wenn er gleichsam von Sinnen klage. Der Aufforderung des Chors, sich nach seinen Anweisungen in Bewegung zu setzen (v. 1196), erteilt der Protagonist eine entschiedene Absage: Mit größtem Nachdruck betont er, selbst wenn Zeus ihn mit den Strahlen seines Blitzes nach Troia senden wolle, nicht zu folgen. I. Chöre wehrfähiger Männer 154 <?page no="155"?> Ilion und alle Untergebenen des Odysseus, die ihn damals aussetzten, sollten, so der Wunsch des entschlossenen Helden, zu Grunde gehen. Eine Bitte richtet Philoktet daraufhin an die Schiffsleute des Neoptolemos: Ihn verlangt, wie das folgende Wechselgespräch (v. 1204-1211) herausstellt, nach einem Schwert, einem Beil oder einer sonstigen Waffe, mit der er sich selbst töten könne, um so seinen Vater im Hades aufzusuchen. Prägnant fasst Philoktet dabei sein mo‐ mentanes Trachten in Vers 1209 zusammen: φονᾷ φονᾷ νόος ἤδη „Nach Mord, nach Mord steht mir schon der Sinn! “ Wie schon in den Versen 1180 ff., so in‐ tensiviert sich auch an dieser Stelle das Gespräch: Die teilweise extrem kurzen Zwischenfragen des Chors (v. 1204, 1206, 1210, 1211) lassen den Eindruck einer hastigen, geradezu fieberhaften Kommunikation entstehen, die von den stür‐ mischen und wild auffahrenden Einwürfen des Protagonisten geprägt ist. Mit Vers 1213 scheint bei Philoktet dagegen die Resignation erneut die Oberhand zu gewinnen. Ein Anruf seiner Heimatstadt, die er, nachdem er sie als Unterstützer der verhassten Danaer verließ, wohl nie wieder zu Gesicht bekommen werde, gipfelt in den niederschmetternden Worten ἔτʼ οὐδέν εἰμι (v. 1217) „Darüber hinaus bin ich nichts mehr“. Dass Philoktet nach diesen Worten in seine Höhle geht und damit das unmittelbare Bühnengeschehen verlässt, zeigen die späteren Aufforderungen des Neoptolemos v. 1261 f. Halten wir daher fest: Die ausgrei‐ fende lyrische Passage mündet an unserer Stelle in den Abtritt des Protago‐ nisten, nachdem bereits in den Versen 1177 ff. das Abtreten des Chors unmit‐ telbar bevorstand. Mit Philoktets Abgang hat die prägende Gestalt der vorangegangenen Szene das Geschehen verlassen und die außergewöhnliche Gesprächssituation so ein Ende gefunden. Die Passage soll nun als Ganze in den Blick genommen werden. Motivisch schöpft der Wechselgesang in beiden Teilen aus den Monologen des Protago‐ nisten in der vorangegangenen Szene. Anders gesagt: Etwas wesentlich Neues teilt Philoktet nicht mit. Die teilweise begrifflichen Reminiszenzen an die vo‐ rangegangene Szene sind dabei offensichtlich; es genügt, die folgenden Punkte aufzuzählen: Der Anruf der Felsenbehausung zu Beginn des Wechselgesangs (v. 1081 f.) nimmt Vers 952 wieder auf; das nunmehr problematische, d. h. gefahr‐ volle Verhältnis Philoktets zu den ihn umgebenden Tieren, wie es im Besonderen die zweite Gegenstrophe verbalisiert, war bereits in den Versen 956 ff. ähnlich drastisch geschildert worden; die vernichtende Selbsteinschätzung, nunmehr dem Tode näher zu sein als dem Leben, ja geradezu nichts mehr zu sein (v. 1217), fand ihren prägnanten Ausdruck bereits in Vers 951. Die Bitte des Prot‐ agonisten an die Schiffsleute um eine geeignete Waffe zur Selbsttötung (v. 1204 ff.) spiegelt dazu die Androhung Philoktets in den Versen 999 ff., sich in den 1. Philoktet 155 <?page no="156"?> 153 So auch B U R T O N (1980) S. 244: „The way to it [i.e. the lyric dialogue] has been prepared throughout the preceding iambic scene from 865, and it is a natural continuation in song of the last twenty or thirty lines of that scene“. 154 Durch einen so gearteten Handlungsanstoß „von außen“ leitet der Dichter z. B. nach dem zweiten Kommos der Elektra v. 871 (Auftritt der Chrysothemis) oder dem ersten Klagegesang innerhalb der Antigone v. 883 (Einschaltung Kreons) unmittelbar in die sich anschließende Szene über. Tod zu stürzen, wenn auch die unmittelbare Gefahr für das Leben des Helden an der früheren Stelle wesentlich virulenter war. Es dürfte bereits aus diesen Andeutungen klar geworden sein: Der Wechsel‐ gesang setzt die vorangegangenen Monologe des Protagonisten motivisch fort 153 und stellt zugleich mit seinem statischen ersten Teil einen Kontrapunkt zur be‐ lebten vorangegangenen Szene dar. Nach der überraschenden Einschaltung des Odysseus in die Bühnenhandlung und dem aktionsreichen Rededuell zwischen ihm und dem Protagonisten kehrt so zunächst Ruhe ein. Die Gesprächssituation Protagonist-Chor ist im Ablauf der Tragödie dabei einmalig und markiert den vorliegenden Kommos als besonderen emotionalen Höhepunkt des Stückes. Seine Ausdehnung (über 130 Verse) ermöglicht die wort- und effektreiche Be‐ leuchtung der zutiefst verfahrenen Situation. Wie gesehen, versenkt sich Phi‐ loktet dabei zunächst ganz in die Klage über das erlittene Unrecht und stellt in einem umfassenden Blick sich und seine hoffnungslose Lage dar. Die Kommu‐ nikation mit dem Chor ist dabei einseitig: Auf die Bemerkungen der Schiffsleute geht Philoktet nicht ein, sondern setzt seine Klage geradezu monologisch fort. Der zweite, wesentlich dialogischere und aktivere Teil des Kommos greift die abgeklungene Dynamik wieder auf: Mit dem Spiel um den Abgang des Chors und der effektvollen Meinungsänderung Philoktets kommt einige Aktion auf die Bühne. Die Schlusspartie der Passage entfaltet daraufhin erneut das bereits mehrmals angeklungene Todesmotiv und mündet dabei in den spannungsrei‐ chen Abtritt des Protagonisten. Die energische lyrische Partie findet so einen dramatischen, d. h. aus dem Geschehen selbst motivierten, Endpunkt. Dabei entsprang die Belebung des zur Ruhe gekommenen Bühnengeschehens in Vers 1169 der Initiative des Protagonisten, d. h. sie erwuchs aus der lyrischen Partie selbst. Nicht die Einschaltung eines weiteren Akteurs leitete nach dem statischen und wenig handlungsintensiven Passus der Verse 1081-1168 zum ei‐ gentlichen Fortgang der Handlung über, 154 sondern die dem Impetus Philoktets entspringende Wendung zum Chor sowie die damit einhergehenden Aufforde‐ rungen zum Abtritt bzw. Bleiben. Philoktet dominiert so erneut die lyrische Passage, die durch sein Sprechen und Handeln zu einer besonders dynamischen und betont brisanten Liminalszene wird. I. Chöre wehrfähiger Männer 156 <?page no="157"?> Die motivische Bündelung an unserer Stelle entfaltet erneut ein Panorama der Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit Philoktets und erlaubt so einen letzten ausführlichen Blick auf die Lebensumstände und die vermeintliche Zukunft des Haupthelden. Beim Blick auf die Binnenstruktur der chorischen Partien innerhalb der Tra‐ gödie fällt ein besonderes Moment der Kompositionsabsicht ins Auge: Die vor‐ liegende letzte Chorpartie des Dramas korrespondiert hinsichtlich der Ge‐ sprächssituation und Thematik in besonderer Weise mit der Parodos als der ersten chorischen Passage und beantwortet sie als deren Gegenstück. Unter‐ hielten sich nach dem Prolog des Dramas die Schiffsleute mit Neoptolemos über Philoktet, seine Lebensumstände und sein Schicksal, so ist hier der Protagonist selbst Gesprächspartner und zugleich inhaltlicher Hauptbezugspunkt. Die Rol‐ lenverteilung zwischen Chor und Akteur ist dabei geradezu vertauscht: In der Parodos waren die Aussagen des Chors von Mitleid und Anteilnahme geprägt, während Neoptolemos versuchte, durch das Aufzeigen konkreter Handlungs‐ empfehlungen und den Verweis auf das göttliche Wirken in Philoktets Schicksal eine abgeklärtere Position einzunehmen. Die Dominanz des Chors und seiner emotionalen Ausleuchtung war dabei gerade durch das eingeschobene rein cho‐ rische Strophenpaar (v. 169-190) offensichtlich, entfielen doch von den über 80 Versen der Passage nur rund 24 auf Neoptolemos. An unserer Stelle nun ist es der Protagonist, d. h. der dem Chor gegenüberstehende Akteur, dessen emo‐ tional aufgeladenes Selbstmitleid mit der zur Mäßigung ratenden Einordnung des Chors kontrastiert. Dementsprechend überwiegt hier, wie oben schon be‐ merkt, der Redeanteil Philoktets deutlich. Ein weiterer Vergleichspunkt bietet sich an: In der Parodos stand das Auf‐ treten des Protagonisten unmittelbar bevor und wurde besonders von den Cho‐ reuten mit einer Mischung aus Angst, Mitleid und einer Art von Neugierde bzw. Schaulust erwartet. Das Herannahen der Schritte belebte dabei die ausgreifende Reflexion im Mittelteil der Passage in Vers 201 ff., worauf das Rufen Philoktets seinen Auftritt in greifbare Nähe rücken ließ. Das vernehmliche ἰὼ ξένοι (v. 219) beendete schließlich die Parodos und damit das Gespräch zwischen Neo‐ ptolemos und seinen Schiffsleuten. Die Parodos bereitete so den Auftritt des Protagonisten und damit den Beginn der im Prolog intendierten Intrigenhand‐ lung vor. Ihre ‚Stretta‘ ab Vers 201 ließ sie dabei zu einer geradezu gedoppelten Liminalszene werden: Nicht nur wurde zu Beginn der Partie der Auftritt des Chors ereignis- und effektvoll in Szene gesetzt, ihren eigentlichen Kulminati‐ onspunkt fand sie im Erscheinen des Protagonisten. Der Kommos an unserer Stelle spielt erneut mit der Bühnenpräsenz des Prot‐ agonisten: Nachdem der Auftritt des Odysseus in der vorangegangenen Szene 1. Philoktet 157 <?page no="158"?> 155 So auch B U R T O N (1980) S. 248: „So ends the powerful scene which began with the awa‐ kening of Philoctetes after his attack of agony“. der dominierenden Präsenz Philoktets einen natürlichen Widerpart entgegen‐ setzte, ist die lyrische Partie, wie gesehen, ganz von Philoktet bestimmt. Sein Abtritt ist der effektvolle Schlusspunkt der lyrischen Passage, die damit die aus‐ greifende und ununterbrochene Szene schließt, die mit dem Erwachen des Haupthelden v. 865 begonnen hatte. 155 Die durchgehende Lyrisierung der Partie (in der Parodos kamen Neoptolemos bis auf die kurzen Beiträge im abschließenden Strophenpaar nur anapästische Verse zu) unterstreicht dabei die gesteigerte Emotionalität und Brisanz. Aus der Perspektive des mit dem Mythos in Grundzügen vertrauten Zu‐ schauers bildet der Kommos die spannungsreiche Einleitung der Schlusspartie des Stücks. So ist mit dem Abtritt des Protagonisten die Handlung zu einem Ruhepunkt gelangt, der allerdings nicht das Ende der Tragödie darstellen kann: Letztlich - so das Vorwissen des informierten Betrachters - wird Philoktet doch mit nach Troia fahren und dort seinen Beitrag zur Einnahme der Stadt leisten. Wie allerdings die Situation innerhalb der Tragödie aufgelöst werden kann, ist nach der umfangreichen lyrischen Partie nicht abzusehen. Eine Versöhnung des Haupthelden mit Odysseus scheidet nach der im Kommos deutlich herausge‐ stellten Verbitterung Philoktets jedenfalls aus. Sophokles forciert so an unserer Stelle gerade durch den scheinbar endgültigen Abtritt des Protagonisten den Fortgang der Handlung. Eine weitere grundlegende dramaturgische Funktion der umfangreichen und sowohl formal wie auch emotional herausragenden ly‐ rischen Partie ist damit bestimmt: Sie fordert die Erwartungshaltung des Pub‐ likums in besonderem Maß heraus. Was zunächst geradezu als lyrisches An‐ hängsel an die vorangegangene Szene wirkte, wird so zur effektvollen und spannungsreichen Einleitung der Schlusspartie der Tragödie. Exodos (v. 1222 - 1471) Bis auf die zu einem gewissen Grad standardisiert zu nennenden Schlussverse der Tragödie (v. 1469-1471) meldet sich der Chor bzw. der Chorführer in der letzten Szene des Stückes nicht mehr zu Wort. Diese signifikante Zurückhaltung erstaunt zunächst, war doch der Chor im bisherigen Verlauf der Tragödie be‐ ständiger Gesprächspartner in groß komponierten lyrischen Dialogszenen (Par‐ odos, Austausch mit Neoptolemos im „Schlaflied“, Kommos mit Philoktet) und auch in den Sprechpartien durch kommentierende Einschätzungen präsent (so z.B. v. 317 f., 522 f., 1045 f.). Das erste Epeisodion hatte zudem gezeigt, wie sogar lyrische Partien in den Handlungsablauf integriert werden können. Die Schluss‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 158 <?page no="159"?> partie der Tragödie spielt sich nun ganz ohne die Einschaltung des Chors ab. Wie lässt sich dieser bewusste Verzicht auf jegliche chorische Einschaltung ge‐ rade aus dramaturgischen Gesichtspunkten nachvollziehen? Machen wir dazu die folgenden Punkte klar: Die Exodos der vorliegenden Tragödie ist von ausgreifender Länge (rund 250 Verse) und dabei durch das Auf- und Abtreten der Akteure in sich gegliedert (Auftritt von Neoptolemos und Odysseus v. 1222, Abtritt bzw. Verbergen des Odysseus v. 1258, Auftritt Philoktet v. 1263, Wiederauftritt Odysseus v. 1293, Abtritt desselben v. 1298, Erscheinen des Herakles v. 1409). Die Handlung ist dabei von unerwarteten Umschwüngen und erheblicher Brisanz geprägt: Nachdem Odysseus von Neoptolemosʼ Absicht gehört hat, Philoktet den Bogen zurückzugeben, droht er mit Waffengewalt, was Neoptolemos erwidert (v. 1254 ff.). Philoktets Wiedererscheinen steht in Kon‐ trast zu seinem als endgültig inszenierten Abgang am Ende des Kommos und gipfelt in der offenen Auseinandersetzung mit dem mittlerweile wieder auf der Bühne präsenten Odysseus (v. 1299 ff.). Auch hier droht die Situation zu eska‐ lieren: Die Androhung Philoktets, Odysseus mit einem Pfeil zu töten, präsentiert den Protagonisten in wiedererlangter Stärke. Die Kräfteverhältnisse zwischen ihm und Odysseus sind mit Blick auf die Fesselungsszene (v. 1003 ff.) gerade entgegengesetzt. Der Bedrohte entzieht sich der Situation durch Flucht. Mit Ne‐ optolemosʼ Monolog (v. 1314-1347) und der Antwort des Protagonisten (v. 1348-1372) kehrt vorübergehend etwas Ruhe ein. Das anschließende stichomy‐ thische Wechselgespräch der beiden (v. 1380-1392) und der Austausch in tro‐ chaeischen Tetrametern v. 1402-1408 beleben die Szenerie erneut und entwi‐ ckeln eine besondere dramatische Sogwirkung: Das Ende der Handlung steht nun endgültig bevor, nachdem Odysseus seinen Einfluss auf Philoktet und Neo‐ ptolemos gänzlich verloren zu haben scheint. Die Erscheinung des Herakles schließlich ist geradezu die Überbietung der an Wendungen und Umschwüngen reichen Schlussszene: Erst durch die Epiphanie des Halbgottes kommt das Büh‐ nengeschehen endgültig zur Ruhe, die klaren Anweisungen ordnen das weitere Vorgehen, deuten die Handlung abschließend und geben einen Ausblick auf die kommenden Geschehnisse um Troia. Das Bühnengeschehen innerhalb der Exodos ist, wie gesehen, von einiger Aktion geprägt und entfaltet durch seine unerwarteten Wendungen eine be‐ sonders mitreißende Dynamik. Das Fehlen chorischer Äußerungen unter‐ streicht dabei ein besonderes Moment der dramatischen Gestaltung: Die akti‐ onsreiche Darstellung lässt schlichtweg keine Zeit für eine reflektierende oder auch nur motivisch vertiefende Anmerkung des Chors, der in das eigentliche Handlungsgeschehen sowieso nicht mehr eingebunden ist. Anders stellte sich die Situation noch zu Beginn der Tragödie dar, als die Mithilfe der Schiffsleute 1. Philoktet 159 <?page no="160"?> 156 Vgl. B U R T O N s (1980) Einschätzung zum Ende des Kommos (v. 1217) S. 248: „At this point the sailorsʼ part is done, and we hear no more of them until the conventional anapaestic coda“. bei der Täuschung des Haupthelden ein wirklicher Bestandteil der Handlung war. Im Schlussteil der Tragödie dagegen entwickelt sich die Handlung aus‐ schließlich im engen Personengeflecht zwischen Neoptolemos, Odysseus, Phi‐ loktet und Herakles, ohne dass dem Chor noch eine signifikante Rolle zu‐ käme. 156 Wenn dabei der Chor geradezu als Unbeteiligter dem Geschehen folgt und keine wahrnehmbare Einmischung zeigt, unterstreicht dies die rasche und in einigen Punkten nicht vorauszusehende Handlungsentwicklung. Anders ge‐ sagt: Der völlige Verzicht auf chorische Beteiligung verschiebt den dramatischen Fokus ganz auf das Beziehungsgeflecht der Akteure untereinander und bündelt die Aufmerksamkeit auf die finale Lösung des Konflikts. Zugleich wertet der Verzicht auf eine chorlyrische Passage innerhalb der Exodos den vorangegangenen Kommos mit dem Protagonisten auf und verleiht ihm im Nachhinein besonderes Gewicht: Der expressive und ausgreifende Wechselgesang ist die letzte Chorpartie der Tragödie. Die abschließenden Verse 1469-1471 fallen demgegenüber kaum ins Gewicht. Das im Austausch mit Phi‐ loktet erreichte Maß an Emotionalität, Bühnenwirkung und Spannung wird ge‐ rade nicht durch eine erneute lyrische Partie beantwortet, sondern findet seine Fortsetzung und schließlich seine Auflösung im konkreten Handlungsge‐ schehen. Im Sinne des ökonomischen Einsatzes chorischer Partien und ihrer Binnenstruktur über die ganze Tragödie hinweg setzt Sophokles mit dem Kommos so den bewussten Schlusspunkt chorischer Beteiligung, der als moti‐ vischer und szenischer Kulminationspunkt unübertroffen, ja: unangetastet bleibt. Auf die Schlussverse der Tragödie wurde mehrmals hingewiesen. Sie sind im besten Sinne konventionell zu nennen und zeugen doch von der besonderen Gestaltungsabsicht des Dichters. Beleuchten wir kurz ihre Einbindung in die Situation: Nachdem Philoktet die Stimme seines Freundes Herakles als solche erkannt hat (v. 1445 ff.), bekundet er, den gegebenen Anweisungen Folge leisten zu wollen, d. h. sich nun nach Troia zu begeben und dort die Griechen bei der Eroberung der Stadt zu unterstützen. Dem schließt sich Neoptolemos in einer kurzen Bemerkung (v. 1448) an, worauf Herakles zu schnellem Handeln mahnt. Philoktet nimmt daraufhin in einem letzten Monolog (v. 1452-1468) von seiner Behausung und der Insel Lemnos Abschied und bittet um die Begünstigung der unmittelbar bevorstehenden Seefahrt. Die drei Verse des Chors rufen daraufhin zunächst zum gemeinsamen Aufbruch; betont schließen sich dabei die Cho‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 160 <?page no="161"?> 157 Zu dieser rätselhaften Bemerkung vgl. W E B S T E R (1970) S. 159: „again something we have never heard of before“ und K A M E R B E E K (1980) S. 194: „indubitably a spring sacred to Apollo Lycius, probably known to the audience, but for us unknown from elsewhere“. reuten selbst ein (χωρῶμεν) und leiten damit den Abgang des gesamten drama‐ tischen Personals ein. Diesem Auszug vorausgehen bzw. ihn begleiten soll die Anrufung der Meernymphen, denen als „Retter“ (σωτῆρας) die Sorge um den günstigen Ausgang der Heimfahrt obliegt. Dieses chorische Echo der Aussagen des Protagonisten schließt die Tragödie. Machen wir uns klar: Als einzige der überlieferten Tragödien unseres Autors schließt der Philoktet mit einer konkreten Handlungsanweisung, durch die der Chor seinen unmittelbar bevorstehenden oder schon eingeleiteten Abgang kommentiert. Die Konventionalität der Verse liegt dabei in ihrer kurzen, coda-artigen Prägnanz, die mit Verweis auf göttliche Mächte das Geschehen abzuschließen sucht. Ihren besonderen Reiz entfalten die scheinbar so beliebigen Verse durch ihre Positionierung am Ende der Szene und im Anschluss an Phi‐ loktets letzten Monolog. Dieser hatte sich dabei zum letzten Mal direkt an die ihn umgebende Natur, seine Wohnstatt und die Insel gewandt, wobei er das Ungemach seines Aufenthalts auf Lemnos in zwei kurzen Reminiszenzen auf‐ leuchten ließ (die Erinnerung an das Tosen des Meers und den damit einher‐ gehenden, Regen mit sich führenden Südwind v. 1455 ff. sowie das Echo des eigenen Klagens v. 1458 ff.). Die folgenden Anrufungen der Quellen (v. 1461), des „lykischen Tranks“ 157 (v. 1461) sowie der Insel Lemnos selbst (v. 1464) sind erneut ganz von der Hoffnung auf den bevorstehenden Aufbruch geprägt. Die Freude geht sogar so weit, den lemnischen Boden selbst aufzufordern: „Schicke mich zufrieden in glücklicher Fahrt! “ (v. 1465). Philoktet scheint sich an diesem Punkt nach der Einwirkung des Herakles mit der Insel geradezu versöhnt zu haben, die bald resignierende, bald aggressive Stimmung des Kommos hat sich hier am Ende der Tragödie aufgelöst. Der Wechselgesang des Protagonisten mit dem Chor dient dabei der unmit‐ telbaren Schlusspartie (v. 1452-1471) des Dramas als motivische Folie, auf der sich die schlagartig veränderte Stimmung wirkungsvoll abheben kann. An zwei Momenten lässt sich die Verwandtschaft der Szenen und die zu Grunde liegende Kompositionsabsicht aufzeigen: Die Anrufungen der unmittelbaren Umwelt als gliederndes und prägendes Moment bestimmen die Struktur beider Partien (vgl. v. a. die Ansprache der Behausung v. 1081 ff. sowie v. 1453). Mit der Aussichts‐ losigkeit des Kommos, an Ort und Stelle bleiben zu müssen, kontrastiert hier die freudige Erwartung; aus dem verzweifelten Anruf des gewohnten Umfelds ist der hoffnungsvoll-versöhnte Abschiedsgruß geworden. 1. Philoktet 161 <?page no="162"?> Die Ankündigungen des eiligen Abgangs reihen sich des Weiteren in die Kette der scheinbar unmittelbar bevorstehenden Abfahrten und Abtritte (so v. 461 ff., v. 637, v. 1408), setzen allerdings durch die bewusste Selbstaufforderung des Chors im Besonderen die Motivik des Kommos (v. 1177 ff.) fort. Hatte dort der Chor willig in die Bitte Philoktets, ihn zu verlassen, eingestimmt (ἴωμεν ἴωμεν v. 1179), um schließlich von ihm zurückgerufen zu werden, so kommen die Choreuten am Schluss der Tragödie erneut den Aufforderungen Philoktets nach. Diesmal allerdings setzen sie sich mitsamt den Akteuren in Bewegung und ver‐ lassen tatsächlich den Ort des Geschehens. Das in der lyrischen Partie virulente Spiel mit Abtritt und Bühnenpräsenz findet so am Schluss der Tragödie seinen natürlichen Zielpunkt. Es ist demnach alles andere als Zufall oder reine Konvention, dass der Chor mit seinen Schlussversen auf den Monolog des Protagonisten antwortet: Mit dem chorischen Echo ist neben der Motivik sowohl die Gesprächssituation als auch die zielgerichtete Funktion des Kommos - wenn auch kurz - in Erinnerung gerufen und beantwortet. Der Anteil des Chors in dieser finalen Liminalszene der gesamten Tragödie ist dabei so gering wie möglich, erlaubt allerdings doch die Reminiszenz an die umfangreichste chorische Partie des Dramas. Zusammenfassung 1. Mit Blick auf das erste der in der Einleitung entworfenen Spektren (Spektrum I: der tragische Chor als (kollektive) dramatis persona) lässt sich im Anschluss an die Einzelanalyse Folgendes festhalten: Wie auch im Aias ist der Chor der vorliegenden Tragödie hinsichtlich seiner Rollenidentität, d. h. als dramatis per‐ sona, wesentlich an einen Akteur, in diesem Fall an Neoptolemos gebunden. Als Subordinierte stehen die Choreuten dabei in einem besonderen Abhängigkeits‐ verhältnis zu ihrem Herrn, den sie in kritischen Situationen (vgl. erstes Epeis‐ odion, im Besonderen v. 391 ff.) vorbehaltlos unterstützen und dessen Position sie in Auseinandersetzungen (vgl. Kommos Philoktet-Chor v. 1081) vertreten. Dem Austausch zwischen dem Chor und Neoptolemos kommt dabei inner‐ halb der Tragödie entscheidende Bedeutung zu: Bereits die in Form einer Un‐ terweisungsszene gestaltete Parodos inszeniert die entsprechende Gesprächs‐ situation als bedeutsamen Rahmen der chorischen Präsenz. Das (zumindest partielle) Wissen des Chors um die eigentlichen Absichten der auf Lemnos ge‐ landeten Gesandtschaft des griechischen Heeres lässt den Chor dabei zum Mit‐ intriganten werden und unterlegt den Austausch zwischen Neoptolemos und seiner Mannschaft zudem mit besonderer Brisanz. Die Gesprächssituation dient gerade in ihrer Reinszenierung im Anschluss an das „Schlaflied“ (v. 827 ff.) zur I. Chöre wehrfähiger Männer 162 <?page no="163"?> Einblendung der virulenten Intrigensituation; in Abwesenheit des Odysseus übernimmt so die chorische Präsenz und ihre Einbindung in das Bühnenge‐ spräch die Funktion, die mit der Intrige gegebene doppelte Ebene im Bewusst‐ sein zu halten. Mit der Aufdeckung der Intrige durch Neoptolemos selbst (v. 895 ff.) verliert daraufhin auch der Austausch zwischen dem Chor und seiner rollenimma‐ nenten Bezugsperson an Relevanz: Der einzige lyrische Austausch des letzten Teils der Tragödie ist dementsprechend der Kommos zwischen Philoktet und dem Chor (v. 1081 ff.). Die spärlichen iambischen Einwürfe des Chors (v. 963 f., 1045 f., 1072 f. sowie die Auftrittsankündigung v. 1218 ff.) nach der Aufdeckung der Intrigensituation sind dahingegen kaum mehr als zum Teil dramaturgisch klar funktionalisierte Äußerungen, die zum einen die Ratlosigkeit des Chors, zum anderen seine ungebrochene Ausrichtung auf Neoptolemos verbalisieren; einen inhaltlich bedeutsamen Beitrag zur Handlung leisten sie nicht. Während die chorische Präsenz so im ersten Teil der Tragödie (d. h. vom Ende des Prologs bis zur Aufdeckung der Intrige) die der Handlung zu Grunde liegende Intrigen‐ konstellation inszeniert und so mitten im Geschehen verankert ist, verschiebt sich ihre dramaturgische Funktion zum Ende der Tragödie: Statt am Hand‐ lungsfluss aktiv teilzuhaben und, wie im „Schlaflied“, den Gang der Ereignisse beeinflussen zu wollen, kommt dem Chor mehr und mehr eine betrachtende Position zu, während sich das eigentliche Geschehen zwischen den Akteuren Odysseus, Neoptolemos und Philoktet (in wechselnden Kombinationen) ab‐ spielt. 2. Wie lassen sich die Chorpartien des Philoktet nun innerhalb des zweiten Spektrums (Spektrum II : Reflexionsstrategien) verorten? Zur Beantwortung dieser Frage ist es zunächst geboten, sich die in den Partien verhandelten Themen und Gegenstände erneut vor Augen zu führen. Neben Neoptolemos als rollenimmanenter Bezugsperson und hauptsächlichem Gesprächspartner des Chors bildet die Gestalt des Protagonisten das eigentliche inhaltlich-themati‐ sche Zentrum der chorischen Aussagen: Sein aktuelles Schicksal und der jewei‐ lige Grad seiner Präsenz sind in geradezu monothematischer Ausrichtung Ge‐ genstand aller lyrischen Partien. Während die Choreuten dabei in den dialogischen Partien, d. h. im Besonderen im direkten Austausch mit Neopto‐ lemos und dem Protagonisten selbst eine als pragmatisch zu beschreibende Hal‐ tung gegenüber Philoktet an den Tag legen, dominiert in den rein chorischen Passagen (v. a. im zweiten Strophenpaar der Parodos v. 169 ff. sowie im Stasimon 676 ff.) ein emotionaler Zugang, der im Besonderen das Moment des Mitleids und Bejammerns betont. 1. Philoktet 163 <?page no="164"?> 158 Der geradezu lapidare Verweis, ein Gott werde danach sehen (v. 843), ist in diesem Zusammenhang programmatisch. 159 Anders die entweder der Einblendung der Vorgeschichte oder einer Zukunftsaussicht dienenden Chorpartien anderer Tragödien (vgl. Antigone, Parodos; Trachinierinnen, erstes Stasimon bzw. Elektra, erstes Stasimon; Aias, zweites Strophenpaar des ersten Stasimons). Eine andere Komposition wäre - mutatis mutandis - auch hier möglich gewesen: So hätte ein über die Hintergründe der Mission zumindest partiell infor‐ mierter Chor in seinem Auftrittslied gewisse Momente der Vorgeschichte sowie die Zielsetzung des Unternehmens anreißen können, um in einem zweiten Schritt von Neo‐ ptolemos über die konkreten Gegebenheiten informiert zu werden. In ihrer thematischen Ausrichtung auf den Protagonisten sind die chorischen Passagen immer punktgenau im dramatischen Geschehen zu verorten. Sie be‐ dienen sich dabei im Wesentlichen imaginierender Reflexionsstrategien: Im Vordergrund steht jeweils die möglichst anschauliche Darstellung der Situation des Protagonisten sowie einzelner Details (v. a. die Einsamkeit des Haupthelden sowie die Schwierigkeit der Nahrungsversorgung), die - über das ganze Stück betrachtet - geradezu leitmotivischen Charakter tragen. Die geradezu exklusive thematische Zentrierung der chorischen Reflexion auf den Protagonisten und die jeweilige dramatische Situation bringt eine be‐ sondere Verengung der Perspektive und die Ausblendung einiger mit der Hand‐ lung assoziierter Momente mit sich: So kommt innerhalb der chorischen Refle‐ xion weder der Vorgeschichte der Handlung (konkret: der Aussendung der Mission nach Lemnos, dem Helenos-Orakel oder gar den Ursachen für Phil‐ oktets Leiden) noch der moralischen Dimension der intendierten Intrige oder auch der Zielsetzung des Unternehmens, d. h. der Einnahme Troias, sowie der Bogen-Mann-Problematik besondere Bedeutung zu. 158 Die Einblendung anderer Zeitebenen ist dementsprechend kein strukturelles Moment der chorischen Re‐ flexion; 159 auch die das eigentliche Geschehen subtil konterkarierende zeitliche Verortung des entworfenen Panoramas innerhalb des Stasimons dient dabei der Ausleuchtung des dramatischen „Hier und Jetzt“, das seinerseits als mittlerweile überwundene Stufe ausgedeutet wird und damit als Ausgangspunkt einer al‐ lenfalls angedeuteten Zukunftsaussicht fungiert. Auch hinsichtlich des personellen Rahmens bieten die Chorpartien keine Weitung des Bezugsrahmens: Einzig Anfang und Ende des Stasimons mit ihrer mythischen Parallele (Ixion) sowie der Erwähnung des Herakles greifen über das eng umrissene Personenspektrum der bis zum Zeitpunkt des Liedes unmit‐ telbar mit der Handlung in Zusammenhang stehenden Gestalten aus. Während I. Chöre wehrfähiger Männer 164 <?page no="165"?> 160 Vgl. die Einordnung der Schlusspartie des Stasimons, wie sie in der Interpretation ad locum geleistet wurde. Ixions Beispiel dramaturgisch nicht funktionalisiert wird, steht Herakles freilich in engem Zusammenhang mit dem Geschehen. 160 3. Bis auf das einzige Stasimon sind alle Chorpassagen der vorliegenden Tra‐ gödie entweder dezidiert als Beitrag eines Austauschs mit einem der Akteure funktionalisiert oder in einen derartigen Unterredungskontext eingepasst (v. a. zweites Strophenpaar der Parodos). Sowohl die eigentlichen Amoibaia bzw. epirrhematischen Partien als auch die in den Lauf des Bühnengesprächs einge‐ setzten Strophen des Chors verstehen sich so bewusst als Bestandteil der Hand‐ lung und des dramatischen Fortschritts, auch wenn, wie im Fall der Parodos, genuin reflektorische Partien enthalten sind. Auf die regelmäßige Einschaltung chorlyrischer Stasima, wie sie den Ablauf anderer Tragödien maßgeblich prägen, verzichtet Sophokles im vorliegenden Stück dabei bewusst. Indem er die geradezu standardisierte Form chorischer Präsenz auf ein Mindestmaß reduziert, macht er die eigentlich konventionelle Situation des alleine auf der Bühne reflektierenden Chors zu einem besonderen Moment im Ablauf der Tragödie. Dieser Einmaligkeit des Stasimons wird durch die ihm eigene, in mehrfacher Hinsicht gebrochene Beziehung der Reflexion zur Handlung besondere Brisanz verliehen. Die chorische Stimme ist so weitestgehend dramatisiert, d. h. in den Aus‐ tausch der Personen eingebunden und als eine Stimme unter anderen klar funk‐ tionalisiert. 4. Welche genuin dramaturgischen Implikationen ergeben sich nun aus dieser Funktionalisierung der Chorpassagen (Spektrum III )? Einen umfassenden Re‐ flexionsrahmen, in den das Geschehen eingeordnet würde, bietet die chorische Reflexion nicht. Zwar setzt der Chor im zweiten Strophenpaar der Parodos Phi‐ loktets Schicksal in Beziehung zur allgemeinen Verfasstheit des menschlichen Lebens (v. 177 ff.) und beginnt das Stasimon mit einem mythischen Vergleich, der die Schwere des dem Haupthelden zugefallenen Schicksals herausstellen soll; diesen Verweisen kommt allerdings keine ausgreifende strukturelle oder thematische Bedeutung zu: So bleibt die kurze Apostrophierung der „Men‐ schengeschlechter“ in Vers 178 einzig ein Ausruf innerhalb der Imagination der Lebensumstände des Protagonisten, der Verweis auf Ixion zu Beginn des Stasi‐ mons dient nur als Kontrastfolie und spielt für den Fortgang des Liedes keine Rolle. Eine Auseinandersetzung mit den der Handlung zu Grunde liegenden Wirkmechanismen oder mit den durch sie aufgeworfenen Problemen (so z. B. 1. Philoktet 165 <?page no="166"?> das Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum, Fragen nach dem Wert der Pflichterfüllung, der Instrumentalisierung anderer, des Konflikts von Veranla‐ gung des Einzelnen und Anspruch der Gemeinschaft) werden nicht behandelt. Anders gesagt: Der Chor deutet das Geschehen nicht aus, er interpretiert es nicht und unterlegt es keinem größeren Sinnzusammenhang. Dementsprechend be‐ ansprucht der Chor auch keine besondere Autorität bei seinen Äußerungen: Weder intendiert er, allgemeine Wahrheiten vorzutragen, noch aus einer dem Geschehen enthobenen Position ein Gesamtbild der mit der Handlung assozi‐ ierten Momente zu liefern. Im Ganzen lässt sich festhalten, dass der Chor des Philoktet im besonderen Maß an der Handlung teilnimmt und sich als in das Geschehen eingebunden versteht. Die chorischen Partien dienen dementsprechend weniger der Ausdeu‐ tung und Kontextualisierung der Geschehnisse, sondern nehmen wiederholt den Haupthelden in den Blick, fokussieren also auf ein entscheidendes Moment der Handlung. Der weitgehende Verzicht auf eine Strukturierung der Tragödie durch regelmäßig eingeschaltete reine Chorpartien garantiert dem Stück im Ganzen einen durchgängigen Handlungsfluss, in den der Chor sowohl hin‐ sichtlich seiner Person als auch der von ihm getätigten Äußerungen eingewoben ist. Einzig für die Dauer des Stasimons wird das Voranschreiten der Handlung kurzzeitig angehalten und das dramatische Tempo gedrosselt - um sich im di‐ rekten Anschluss mit dem Krankheitsausbruch des Haupthelden mit unge‐ ahnter Dynamik wieder zu beschleunigen. I. Chöre wehrfähiger Männer 166 <?page no="167"?> 161 In Abgrenzung zu der Tragödie, in der Sophokles den gleichnamigen Heroen Aias aus Lokris ins Zentrum stellt, trägt das vorliegende Drama auch den Beinamen Αἴας μαστιγοφόρος. Der Αἴας λοκρός dagegen ist nur in Bruchstücken überliefert; die Frag‐ mente finden sich in R A D T (1977). Tragicorum Graecorum fragmenta IV Sophocles, Göttingen unter den Nummern 10 ff. 162 So die (zumindest in der deutschsprachigen Forschung) vertretene communis opinio; vgl. L A T A C Z (2003) S. 168. Z I M M E R M A N N (2011) formuliert im Rahmen seiner zu unter‐ stützenden Kritik an Datierungsversuchen S. 575 besonders vorsichtig: „Ai. und Trach. gelten aufgrund der zweigeteilten Struktur („Diptychonform“) seit Webster und Rein‐ hardt (1976, 250) als frühe Stücke“, beginnt seine Darstellung der Tragödien allerdings wie selbstverständlich mit dem Aias. Dass die „Diptychonform“ an sich weder von dra‐ maturgischer Unbeholfenheit zeugt noch Momente einer besonders „archaischen“ Stufe der Gattungsentwicklung in sich tragen muss, zeigt ihr bewusster Einsatz durch Euri‐ pides (Alkestis, Hippolytos, Herakles), der sich dabei möglicherweise an Sophokles an‐ lehnt, das formale Schema allerdings mit besonderer Meisterschaft handhabt. Wenn der Aias unter die „frühen Stücke“ unserers Autors gezählt wird, darf freilich nicht aus den Augen verloren werden, dass Sophokles bereits im Jahr 470 zum ersten Mal eine Tet‐ ralogie aufführte und schon 468 seinen ersten Sieg bei den Dionysien errang (vgl. L A T A C Z (2003) S. 162 f.). Er war demnach zum vermuteten Entstehungszeitpunkt des Aias bereits gute zehn Jahre aktiv und überdies erfolgreich als Dichter präsent. Mit dem Aias liegt so das Werk einer bereits etablierten Künstlergestalt vor, die mit den Kon‐ ventionen der attischen Bühne vertraut war und das Handwerk des (Tragödien-)Dich‐ tens vollauf beherrschte. 163 Einen Überblick gibt R O S E N B L O O M (2014) S. 1256 f. Demnach reichen die Datierungen von den 450er Jahren bis zu extrem späten Ansätzen (geschlossen aus einer möglichen Zugehörigkeit des Aias zur selben Trilogie wie der von Aristophanes in den Wolken zitierte Teukros: „[…] Ajax may have been performed somewhere in the vicinity of 423, the date of the Cloudsʼ first performance“ S. 1257). Vgl. im Besonderen den Ansatz von K A M E R B E E K (1953). The Plays of Sophocles, Commentaries Part I The Ajax, Leiden, S. 15 ff., der trotz des Mangels an externen Datierungsmöglichkeiten auf Grund re‐ konstruierter politischer Zusammenhänge S. 17 vorschlägt: „[…] it would be not sur‐ prising if the tragedy of Ajax appeared to have been written shortly after Cimon’s death (449)“, und den Aias (mitsamt den Trachinierinnen) zu den frühen Stücken zählt. 2. Aias Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur Der Aias  161 ist gemäß der allgemeinen Meinung eine der ältesten, wenn nicht die älteste der überlieferten Tragödien unseres Autors. 162 Als wahrscheinliche Aufführungszeit werden die fünfziger Jahre des fünften Jahrhunderts ge‐ nannt. 163 Wie auch der Philoktet, so ist die nach ihrem Haupthelden Aias be‐ nannte Tragödie im unmittelbaren Kontext der Kämpfe vor Troia angesiedelt. Auch dass in beiden Tragödien Odysseus, eine besonders prominente Gestalt 2. Aias 167 <?page no="168"?> 164 Die Charakterisierung des Odysseus ist dabei in beiden Stücken grundverschieden: Während er im Philoktet mit geradezu sophistischen Mitteln die Rückholaktion verfolgt und dabei Neoptolemos zwingt, gegen seine Natur zu handeln, verkörpert er im Aias, wie noch zu zeigen sein wird, Versöhnung und Menschlichkeit auch im Angesicht menschlichen Scheiterns. 165 Ich gehe davon aus, dass Aias zwischen dem Ende des Prologs und v. 333 (seiner ersten hinterszenischen Wortmeldung nach dem Prolog) wieder klares Bewusstsein erlangt. Sowohl seine Äußerungen im Kommos zwischen ihm, Tekmesssa und dem Chor (v. 348-427) sowie im anschließenden zweiten Teil des ersten Epeisodions als auch seine „Trugrede“ (v. 646-692) sind dementsprechend bewusste Äußerungen. Auch der Ent‐ schluss zum und die Durchführung des Suizids sind meines Erachtens daher keine „Wahnsinnstaten“. des entsprechenden Sagenkreises, eine zentrale Rolle spielt, 164 bildet eine her‐ vorzuhebende Parallele zwischen Aias und Philoktet. Bedenken wir zudem, dass die Chöre der beiden Tragödien aus Schiffsmannschaften bestehen (einmal die des Neoptolemos, hier die des Haupthelden Aias), dass in beiden Fällen die Haupthelden geradezu paradigmatische Einzelgänger innerhalb bzw. gegenüber der als Gruppe gedachten griechischen Heermacht sind, dass schließlich beide Einzelgänger gegen die Atriden und / oder Odysseus einen besonderen Groll hegen, so scheinen die beiden Tragödien auf den ersten Blick einiges gemein zu haben. Dass die beiden Stücke trotz dieser Parallelen hinsichtlich ihres settings ganz verschieden sind, beweist bereits ein kurzer Blick auf die Handlung der vorliegenden Tragödie. Der griechische Heros Aias ist bei der Vergabe der Waffen des gefallenen Achill Odysseus unterlegen. Er gerät in Wut auf die Heerführer, im Besonderen auf Agamemnon und Menelaos, sowie auf Odysseus. Bevor er allerdings den Griechen gravierendes Leid zufügen kann, schlägt ihn Athene, die traditionelle Schutzgottheit des Odysseus, mit Wahnsinn, sodass er im Glauben, die ver‐ hassten Griechen zu bestrafen, auf Schafherden einstürmt und diese grausam niedermetzelt. Nachdem er wieder bei Sinnen ist, 165 erkennt er die Bandbreite seiner Tat: Als Ausweg aus Schmach und Schande wählt er den Selbstmord und stürzt sich in sein Schwert. Im Anschluss daran thematisiert das sophokleische Drama den Streit um die Bestattung des Aias: Sein Halbbruder Teukros über‐ nimmt die Sorge um die Hinterbliebenen und drängt darauf, Aias eine Beerdi‐ gungszeremonie zukommen zu lassen. Die Atriden allerdings verbieten dies zu‐ nächst. Odysseus, der durch Athene schon zu Beginn der Handlung über den Geisteszustand des Helden, dessen Beweggründe und die grundlegende Abhän‐ gigkeit der Menschen vom Handeln der Götter informiert wurde, erreicht schließlich ein Umdenken bei Agamemnon: Aias darf bestattet werden; statt I. Chöre wehrfähiger Männer 168 <?page no="169"?> 166 Vgl. Odysseusʼ Treffen auf Aias in der Unterwelt bei Homer (Odyssee 11, 541 ff.). Einen knappen Überblick über Sophoklesʼ Behandlung des Aias-Mythos gibt R O S E N B L O O M (2014) S. 1257 f. 167 Schon der Titel des aischyleischen Dramas (ὅπλων κρίσις) deutet die veränderte The‐ matik an. Die Fragmente und ihre mögliche Einordnung in das Stück finden sich in R A D T (1985). Tragicorum Graecorum Fragmenta V, Göttingen unter den Nummern 174 ff. 168 Dass Tekmessa durch Aias bei einem Kriegszug erbeutet wurde und damit streng ge‐ nommen eine Sklavin darstellt, hat in der vorliegenden Tragödie keine Bedeutung; ihre beinahe standesgemäße Stellung scheint vielmehr gerade ein Charakteristikum der so‐ phokleischen Version des Mythos zu sein (vgl. R O S C H E R (1965). „Tekmessa.“ in: Aus‐ führliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie Band V, hrsg. v. W. H. R O S C H E R (1965), Sp. 211-213, „Sophokles läßt jedoch das Sklavenlos der T[ekmessa] möglichst wenig drückend erscheinen; sie nimmt fast die Stellung einer rechtmäßigen Gattin ein und ist in treuer Liebe ihrem Herrn ergeben, an dessen Händen nicht, wie eine spätere Sage erzählte, das Blut ihres Vaters klebte“ (Sp. 211). 169 Die Rolle des Knaben Eurysakes in der vorliegenden Tragödie ist stumm. Feindschaft und Missgunst stehen Menschenfreundlichkeit und Versöhnung am Ende des Dramas. Sophokles greift damit eine bekannte Episode des troianischen Sagenkreises auf und prägt sie mit Bezug auf andere literarische Vorlagen 166 in besonderer Weise. Im Gegensatz zu Aischylos, der in seinem Aiasdrama den Streit um die Waffen des Achill dargestellt haben muss, 167 verschiebt er den zeitlichen Aus‐ schnitt der Handlung: Er rückt den Selbstmord des Protagonisten in die Mitte des Stücks und lässt so den Haupthelden nur in der ersten Hälfte des Dramas überhaupt auftreten. Durch den Abtritt des Chors vor der Selbstmordszene (v. 813 f.) und seinem Wiederauftritt nach erfolgtem Suizid des Haupthelden (v. 866 ff.) ist das Drama rein äußerlich in zwei Blöcke geteilt (Diptychonform). Diese Trennung in die Zeit vor und nach dem Tod des Protagonisten bestimmt die Struktur der Tragödie in besonderer Weise und wird bei der Interpretation im Folgenden dementsprechend behandelt werden. Es wird dabei auch zu zeigen sein, inwieweit die chorischen Partien einem Auseinanderfallen beider Teile entgegenwirken. Der Chor besteht aus der Schiffsmannschaft des Aias, die zusammen mit Tekmessa (der „Frau“ 168 des Aias), Eurysakes 169 (dem Sohn von Aias und Tek‐ messa) und schließlich Teukros (dem Halbbruder des Aias) die Angehörigen des Helden bilden. Diese stehen zum Haupthelden in einem besonderen Abhängig‐ keitsverhältnis: Aiasʼ Wohlergehen und sein Stand unter den Anführern des griechischen Heeres vor Troia sind Garant ihrer Sicherheit und Unversehrtheit. Der erste Teil der Tragödie spielt sich dabei im Wesentlichen innerhalb des durch die Angehörigen des Helden bezeichneten persönlichen Rahmens ab. 2. Aias 169 <?page no="170"?> 170 Vor allem im Vergleich mit der Antigone oder dem Oidipus Tyrannos. Vgl. dazu im Be‐ sonderen die Ausführungen zum Abtritt des Chors (im Anschluss an v. 813 f.) ad locum. 171 Der die Gottheit darstellende Schauspieler wird möglicherweise auf dem θεολογεῖον oder einer anderen „Zwischenbühne“ aufgetreten sein, sodass er für das Publikum zwar sichtbar, dem restlichen Bühnengeschehen allerdings deutlich „enthoben“ war. Diesem engsten Kreis um Aias stehen mit Menelaos und Agamemnon die entscheidenden Befehlshaber der Griechen gegenüber; ihre Auftritte im zweiten Teil der Tragödie (Menelaos in v. 1047, Agamemnon in v. 1226) leiten dabei die entscheidenden Konfrontationsszenen ein. Odysseus schließlich hat eine ge‐ wisse Mittelstellung inne: Als Aiasʼ Gegner bei der Entscheidung um Achills Waffen und einflussreicher Feldherr scheint er dem Haupthelden zunächst kon‐ frontativ entgegenzustehen. Seine ihm im Prolog durch Athene vermittelte Ein‐ sicht in die wahren Gegebenheiten aber macht ihn in der zweiten Konfrontati‐ onsszene (v. 1318 ff.) zu einem Fürsprecher im Interesse von Aiasʼ Angehörigen. Der Aufbau des gesamten Stückes ist im besten Sinne unkonventionell 170 und unterliegt, wie noch zu zeigen sein wird, ganz der dramatischen Aussageabsicht, Aias als Dreh- und Angelpunkt der Handlung ins Bild zu setzen. Interpretation Prolog (v. 1 - 133) Bereits der die dramatische Handlung eröffnende Prolog ist eine Szene voller bildkräftiger Bühnenwirkung. Athene erscheint Odysseus, der am Rande des griechischen Lagers vor Troja die Behausungen des Aias inspiziert, um heraus‐ zufinden, was sich in der vergangenen Nacht dort tatsächlich abgespielt hat. Dabei kann Odysseus einzig die Stimme der Göttin wahrnehmen (vgl. v. 14 ὦ φθέγμʼ Ἀθάνας). 171 Der Göttin kommen die ersten Worte der Tragödie zu: Sie begrüßt ihren Schützling, lobt seinen Spürsinn (v. 7 f.) und stellt in Aussicht, dass sie ihn hinsichtlich seiner Suche aufklären werde (v. 11 ff.). Odysseus verleiht daraufhin seiner Freude über die Erscheinung der Gottheit Ausdruck und er‐ klärt, dass er sich angesichts der allgemeinen Ungewissheit über die tatsächli‐ chen Vorfälle der letzten Nacht ein eigenes Bild der Situation zu machen ver‐ suche (v. 31 ff.). In einem durch einen Doppelvers der Göttin eingeleiteten stichomythischen Gespräch (v. 38-50) und einem sich anschließenden Monolog (v. 51-73) klärt Athene Odysseus über den wahren Sachverhalt auf: Aias sei auf Grund der Entscheidung der Heerführer, die Waffen des gefallenen Achill nicht ihm zuzusprechen, in Zorn geraten. Seinen Plan, ein Blutbad unter den Griechen anzurichten und dabei vor allem die Heerführer Agamemnon und Menelaos sowie Odysseus qualvoll zu töten, habe Athene selbst vereitelt, indem sie den I. Chöre wehrfähiger Männer 170 <?page no="171"?> Helden mit Wahnsinn geschlagen habe. Aias habe sich stattdessen auf eine Schafherde der Griechen gestürzt und diese gnadenlos niedergemetzelt. Im Glauben, Odysseus in die Hände bekommen zu haben, habe er dabei einen Bock mit in sein Zelt genommen, den er nun mit einem Lederriemen peitsche. Schließ‐ lich ruft Athene den wütenden Aias und fordert ihn auf, aus seinem Zelt zu treten (v. 71 ff.). Odysseus ist zunächst entsetzt und fürchtet, sollte Aias tatsäch‐ lich erscheinen, um sein Leben. Nachdem ihn Athene allerdings versichert hat, Aias könne ihn nicht wahrnehmen, lässt er die Göttin gewähren. Der Titelheld, von Athene erneut herbeigerufen, betritt daraufhin in Vers 91 die Bühne und bietet einen für Odysseus und das Publikum gleichermaßen schauderhaften Anblick: Blutbespritzt, mit dem Lederriemen bewaffnet und vom Wahnsinn getrieben wird er zum Demonstrationsobjekt göttlicher Macht. Nach einer kurzen Unterhaltung mit Athene, in deren Verlauf er sich mit seiner Tat brüstet und Athene sein Vorgehen gegen seine vermeintlichen Gegner schil‐ dert, tritt Aias nach Vers 117 wieder in sein Zelt, um sich erneut seiner „Aufgabe“ zu widmen, d. h. die vermeintlichen Griechenfürsten zu peinigen. Dabei ver‐ säumt er es nicht, Athene um ihren immerwährenden Beistand als „Kampfge‐ nossin“ (σύμμαχον v. 117) zu bitten. Odysseus offenbart in der Konfrontation mit dem gestürzten Helden seine edle Gesinnung: Nicht Triumph über den in der Entscheidung um die Waffen des Achill Unterlegenen, nicht Spott und Häme gegen den vom Wahnsinn Ge‐ triebenen, sondern Mitleid (ἐποικτίρω v. 121) und Einsicht in das unstete Wesen des Menschen sowie die Nichtigkeit seiner Existenz (v. 125 f.) prägen seine Re‐ aktion. Athene beschließt daraufhin den Prolog mit Worten der Warnung: Odysseus solle selbst kein überhebliches Wort den Göttern gegenüber verlieren und auch im Fall besonderer Überlegenheit gegenüber anderen keine Aufge‐ blasenheit (ὄγκον v. 129) an den Tag legen, da ein einziger Tag alles Menschliche (ἅπαντα τἀνθρώπεια v. 132) neigen und aufrichten könne. Mit einer besonders universellen Bemerkung tritt sie schließlich ab: Die Götter liebten die Beson‐ nenen, die Schlechten aber hassten sie (v. 133). Odysseus tritt, ohne dem göttli‐ chen Spruch zu antworten, ebenfalls ab; mit Vers 133 hat sich die Bühne gelehrt. Fassen wir einige Momente des Prologs mit Blick auf seine dramaturgischen Implikationen zusammen. Unter Einbeziehung der Höchstzahl von drei Ak‐ teuren komponiert Sophokles eine besonders eindrückliche und effektvolle Ein‐ gangsszene. Der Auftritt einer Gottheit im Prolog ist im Rahmen der uns über‐ 2. Aias 171 <?page no="172"?> 172 Überhaupt ist der Auftritt von Gottheiten in den uns überlieferten Tragödien des Dich‐ ters ein äußerst sparsam eingesetztes dramatisches Mittel (vgl. E S P O S I T O (2014 a). „Gods and Fate.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R O I S M A N (2014), Malden (MA), S. 1286-1291. Für acht der fragmentarisch überlieferten Tragödien rekonstruiert er insgesamt elf Theophanien): Die vorliegende Stelle ist die einzige, in der eine olym‐ pische Gottheit als Akteur in das Geschehen eingreift. Im Philoktet bringt dagegen der Auftritt / die Erscheinung des Herakles, immerhin eines vergöttlichten Heros, als eines deus ex machina am Ende der Tragödie (v. 1409) die entscheidende Wende der Hand‐ lung. Die Stellen sind trotz ihrer personellen Gemeinsamkeit - Aufritt einer Gottheit bzw. eines vergöttlichten Helden - nur äußerst bedingt miteinander vergleichbar. Be‐ reits die unterschiedliche Positionierung des „Götterauftritts“ - im Prolog oder ganz am Ende des Stücks - führt grundverschiedene dramaturgische Implikationen mit sich. E S P O S I T O (2014 a) S. 1286 sieht in der kurzen Erscheinung Athenes im Prolog, nach dem die Handlung von Aias dominiert wird, paradigmatische Züge: „So Athena’s cameo appearance serves, as do Sophoclesʼ other brief theophanies, primarily as a springboard for exploring existential human struggles […]“. 173 Vgl. die Prologe der Tragödien Alkestis, Hippolytos, Troerinnen, Ion und Bakchen. 174 K A M E R B E E K s (1953) Notiz S. 19 „Of all Aeschylusʼ extant prologues the one to Prome‐ theus is to a certain extent comparable with the prologue to Ajax“ ist nicht in Gänze nachzuvollziehen, da eine genaue Klärung der Berührungspunkte zwischen den beiden doch sehr unterschiedlichen Partien ausbleibt. Möglicherweise soll die behauptete Ähnlichkeit implizit die Frühdatierung des Aias untermauern, indem sie Sophoklesʼ Schaffen in die Nähe seines Vorgängers rückt. Ein Mehrwert unter unseren Gesichts‐ punkten lässt sich daraus allerdings nicht ziehen. lieferten Tragödien des Sophokles einmalig. 172 Der Unterschied zum typisch euripideischen Götterprolog ist dabei allerdings augenfällig: 173 Hier erfolgt keine umfassende Einführung in den der Handlung zu Grunde liegenden Mythos, keine Vordeutung der Geschehnisse durch einen umfangreichen Monolog der Gottheit. 174 Vielmehr ist der vorliegende Prolog bereits eine Dialogszene, die mit Odysseus und Aias die zwei zentralen Figuren der Bühnenhandlung exponiert. Die Einführung einer Gottheit als Akteur eröffnet Sophokles dabei eine Reihe dramaturgischer Möglichkeiten. Zum einen arrangiert er die Personenkonstel‐ lation geschickt um die Figur der Athene: Sie ist sowohl der Zentralpunkt des Prologgesprächs als auch die entscheidende Impulsgeberin. Im elaborierten Ge‐ flecht von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit differenziert Sophokles darüber hi‐ naus die Beziehungen der einzelnen Akteure untereinander: So ist Athene für I. Chöre wehrfähiger Männer 172 <?page no="173"?> 175 Ein zuverlässiges Indiz, ob Aias die erschienene Göttin nur hören oder auch sehen kann, findet sich im Text nicht. Angesichts seiner Vorstellung, Athene stehe ihm bei der Aus‐ führung seiner Rache bei (vgl. die Konstatierung ihrer Hilfe v. 92 sowie die Bitte um weitere Hilfe v. 117), kann man zumindest die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Aias glaubt, Athene zu sehen, ihr also im Moment des Gesprächs leibhaftig gegenüberzu‐ stehen. Das oben ausgeführte Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit wäre in diesem Fall noch komplexer gestaltet und um die Innenperspektive eines Akteurs er‐ weitert. Nebenbei sei bemerkt, dass die Prologszene nicht zuletzt wegen dieser raffi‐ nierten Konstruktion gerade auch dem modernen Theater den Einsatz besonderer Ef‐ fekte ermöglicht (zu denken wäre an Klangbzw. Videoinstallationen, die die Erscheinung der Gottheit und das Verhältnis der einzelnen Akteure dazu besonders deutlich ausleuchten). Odysseus (und wahrscheinlich Aias) 175 nur hör-, nicht aber sichtbar, Odysseus bleibt gänzlich Aias verborgen, während er den Titelhelden wiederum sehen kann. Dramaturgischer Nutznießer dieser so diffizilen Konstruktion ist dabei freilich das Publikum: Die Zuschauer sind über die genauen Vorgänge informiert und überblicken die Gesprächssituation im Ganzen. Ihr Wissen um die Zusam‐ menhänge teilen sie dabei mit Odysseus, der durch die Göttin eines besonderen Einblicks in die wahren Verhältnisse gewürdigt wurde. Die Einführung einer Gottheit als Prologsprecher ermöglicht es dem Dichter zudem, den Protagonisten selbst in die Wiedergabe des der Bühnenhandlung unmittelbar vorausgegangenen Geschehens einzubinden und darüber hinaus die hinterszenische und damit für das Publikum unsichtbare Ebene der Hand‐ lung (das Geschehen in der Hütte des Aias) zumindest partiell sichtbar zu ma‐ chen. Der Auftritt des Haupthelden, den die Göttin für eine kurze Zeitspanne aus seiner rasenden Tätigkeit herausruft, holt so das Geschehen der unmittel‐ baren Vorgeschichte geradezu in actu auf die Bühne. Das zum Verständnis der Haupthandlung nötige Vorwissen wird so nicht nur berichtet, sondern zu einem gewissen Teil selbst dargestellt und damit im besten Sinne dramatisiert. Die dabei schon rein visuelle Drastik ist für die Wirkung des vorliegenden Prologs prägend und geradezu konstitutiv. Anders gesagt: Die vorliegende Tragödie be‐ ginnt mit einem Schockeffekt, der allerdings zugleich durch Athenes Handeln und Deuten, d. h. innerdramatisch, eingeordnet und funktionalisiert wird. Zuschauer und Leser müssen sich im Folgenden nicht an den vom Chor be‐ schriebenen Vermutungen über die Ursache der Raserei des Aias beteiligen; ihnen ist vielmehr bereits im Prolog durch die Gegenüberstellung von Aias als dem gefallenen Helden und Odysseus, der darauf mit Mitleid reagiert, ein Grundmuster der gesamten Handlung in nuce präsentiert worden. Im Blick auf die kommende Bühnenhandlung nimmt der Prolog der Tragödie dabei trotzdem eine gewisse Sonderstellung ein: Von der eigentlichen Haupt‐ 2. Aias 173 <?page no="174"?> 176 Anders z. B. in den Prologen der Antigone, der Elektra oder den Trachinierinnen, wo ähnlich intime Zusammenkünfte von Akteuren im Prolog mit einem für die weitere Handlung wichtigen Entschluss eines Handlungsträgers (Antigones Entschluss, ihren Bruder zu bestatten; Orests Planung der Rache an der eigenen Mutter) oder der Aus‐ sendung eines weiteren Akteurs (Hyllos als Kundschafter nach seinem Vater Herakles) und damit einem wichtigen dramatischen Impuls enden. handlung scheint er in mancherlei Hinsicht getrennt zu sein. Als geradezu in‐ time, durch offensichtliches Götterhandeln geprägte Szene bildet der Prolog ein abgeschlossenes Ganzes, das in seinem setting einen Kontrapunkt zur weiteren Bühnenhandlung bildet. Als Mitwisser aus geradezu göttlicher Perspektive weiß sich der Zuschauer mit Odysseus dem eigentlichen Geschehen rund um Aias bis zu einem gewissen Grad enthoben; aus einer um die wahren Zusammenhänge und deren theologische Einordnung Wissender steht er der Handlung somit von vorneherein gegenüber. Es ist zudem ein fein komponierter Kunstgriff, den Ti‐ telhelden im Prolog als vom Wahnsinn Getriebenen vorzuführen, um dann die Handlung mit seinem Erwachen aus der Raserei erneut beginnen zu lassen. Schließlich fängt die eigentliche Tragödie aus Aiasʼ Perspektive in dem Moment an, in dem er sich seines Falls bewusst wird (referiert zunächst in Tekmessas Bericht v. 257 ff., dramatisiert schließlich mit eigenen Worten ab v. 333) und auf seine eigene Tat reagieren muss. Als vom Wahn Getriebener wird Aias im Fol‐ genden nicht mehr auftreten, er ist gleich mit seinem ersten Wiederauftritt nach dem Prolog (v. 348) ein gebrochener Held. Die heroischen und kämpferischen Qualitäten, die im Prolog ins Wahnhafte verzerrt waren, weichen zunächst Ent‐ setzen über die eigene Tat und münden schließlich in den Entschluss zum bzw. die Ausführung des Suizids. Die Odysseus und dem Publikum im Prolog ge‐ währte Einsicht bildet dabei die Folie, vor der sich dieses eigentliche Geschehen abspielen wird. Trotz des mitunter belebten Gesprächs, der ausgeklügelten Gesprächssitua‐ tion und der durch Auf- und Abtritt des Titelhelden geprägten Dynamik der Szene wird im Prolog keine Spannung aufgebaut oder ein für das Folgende wichtiger Impuls gegeben. 176 Die sich auf der Bühne abspielende Szenerie wirkt dagegen im Wesentlichen statisch und in sich geschlossen. Die einzige perso‐ nelle Kontinuität zwischen dem Prolog und der folgenden Handlung ist dabei Odysseus, der nicht nur dem rasenden Aias, sondern auch seiner Leiche mit Mitleid und Menschlichkeit begegnen wird. Indem so die Prologszene ihren eigenen Kosmos bildet, ermöglicht sie, eine gewisse Distanz zum Geschehen einzunehmen: Die Ausführungen von Athene und Odysseus entwerfen bereits vor Beginn der eigentlichen Bühnenhandlung den Reflexions- und Deutungsrahmen, der die Einordnung des Kommenden in I. Chöre wehrfähiger Männer 174 <?page no="175"?> einen weiteren Kontext ermöglichen wird. Als in sich geschlossener Einblick in die der Handlung zu Grunde liegenden Strukturen bildet der Prolog so im besten Sinne eine Vor-Szene, die bereits entscheidende Momente der Handlung an‐ deutet und einordnet. Folgendes lässt sich festhalten: Sophokles versteht es, durch die im Rahmen der von ihm überlieferten Tragödien einmalige Konstruktion des Dramenbeginns, Zuschauer (und Leser) zu Mitwissern der zweiten (göttlichen) Ebene der Hand‐ lung und so bereits von Beginn an zu Deutern des Geschehens zu machen. Weit über die rein funktionalen Erfordernisse eines Prologs (Einführung in Ort, Zeit und Personenkonstellation der Handlung) hinaus steckt der Dichter so den Rahmen der folgenden Bühnenhandlung besonders eindrucksvoll ab und weist den Rezipienten eine herausragende Stellung zu. Im besonderen In- und Mitei‐ nander von visueller Drastik und reflektierender Distanz gestaltet er die Pro‐ logszene des Aias zu einer im besten Sinne dramatischen Partie, deren funktio‐ nale Polyvalenz gerade auch dem im Anschluss auftretenden Chor eine spezifische dramaturgische Funktion zuweist. Parodos (v. 134 - 200) Nach dem Abgang von Athene und Odysseus zieht der Chor der salaminischen Seeleute in die Orchestra ein. Diese Auftrittsszenerie ist dabei ein umfassender Großabschnitt, der sich vom Ende des Prologs in Vers 133 bis zum Beginn der Sprechverse des ersten Epeisodions in Vers 263 über mehr als 130 Verse er‐ streckt. Grob zerfällt die Passage in zwei Abschnitte: Dem rein chorischen Auf‐ trittslied (v. 134-200) folgt ein Amoibaion mit Tekmessa, die in Vers 201 mit den Schiffsleuten in einen Austausch eintritt. Beide Abschnitte lassen sich wiederum unter metrisch-formalen Gesichtspunkten in jeweils zwei Teile untergliedern: Innerhalb der eigentlichen Parodos folgen einer ausgedehnten anapästischen Passage (v. 134-171) je eine lyrisch komponierte Strophe, Gegenstrophe und Epode des Chors. Der Austausch des Chors mit Tekmessa ist zunächst ebenfalls in anapästischen Versen komponiert (v. 201-220), an die sich ein lyrisches Stro‐ phenpaar des Chors anschließt (v. 221-232 sowie 245-256), in dessen Mitte (v. 233-244) und an dessen Ende (v. 257-262) wiederum anapästische Verse Tek‐ messas zu stehen kommen. Bereits dieser kurze Überblick macht deutlich: Der vorliegende Abschnitt ist eine komplexe Komposition aus verschiedenen Form‐ teilen der Tragödie, in denen die chorische Präsenz in je eigener Form zu Tage tritt. Die vorliegende Komposition, besonders die Voranstellung einer ausge‐ 2. Aias 175 <?page no="176"?> 177 Vgl. K A M E R B E E K (1953), dessen apodiktische Schlussfolgerung S. 46 hinsichtlich der Da‐ tierung des Aias allerdings mit einiger Vorsicht zu behandeln ist: „This form of parodos occurs nowhere else in Sophocles and is in itself a proof of the comparatively early date of the piece“. 178 Hier nun zu fragen, wie genau die Schiffsleute des Aias an die ihnen vorliegenden Informationen gekommen sind, ist müßig; gar eine Pause zwischen Prolog und Auftritt des Chors anzunehmen, während derer der Chor die Reaktion des griechischen Heeres auf Odysseusʼ Bericht erlebt haben könnte, wie es S T A N F O R D (1963) S. 76 vorschlägt, geht an der Realität der dramatischen Illusion vorbei: Es spielt unter dramaturgischen Gesichtspunkten keine Rolle, wie die Choreuten an ihr Wissen gelangt sind; wichtig ist, was sie vorbringen und wie sich ihre spezifische Sicht der Dinge zum Prolog und damit dem Wissensstand des Publikums verhält. dehnten anapästischen Partie vor das eigentliche lyrische Auftrittslied, ist dabei im erhaltenen Werk unseres Dichters einzigartig. 177 Es ist am zweckmäßigsten, zunächst den rein chorischen Abschnitt (v. 134-200) als eigentliche Parodos zu behandeln und sich danach dem Amoibaion zwischen Chor und Tekmessa zu widmen. Diese Teilung soll allerdings nicht über die grundsätzliche Zusammengehörigkeit der beiden Partien hinwegtäu‐ schen: Die volle Würdigung der Komposition unter unseren dramaturgischen Gesichtspunkten wird in der besonderen Gegenüberstellung der beiden Partien und einem Überblick zu leisten sein. Mit einer direkten Ansprache an Aias und einer Bekundung der Verbundenheit zu ihrem Herrn betreten die Choreuten die Orchestra (v. 134 ff.): Wenn es ihm, dem Herrn des „ringsumflossenen, meernahen Salamis“ (τῆς ἀμφιρύτου Σαλαμῖνος) gut gehe, seien sie selbst erfreut (ἐπιχαίρω). In kontrastiver Fort‐ führung der Periode (σὲ δʼ) bekennen die Choreuten allerdings, dass sie große Verdrossenheit (μέγαν ὄκνον) trügen sowie in Schrecken und Angst um ihren Herrn gesetzt seien (πεφόβημαι v. 139), seitdem ein „Schlag des Zeus“ (πληγὴ Διός v. 137) oder die verleumderische Rede von Seiten der Griechen (ζαμενὴς λόγος ἐκ Δαναῶν) gegen ihren Herrn angerückt seien. Mit Vers 140 kommt der Chor auf die aktuelle Situation zu sprechen und entfaltet im Folgenden ver‐ schiedene Gedanken in schneller Abfolge: Im Lauf der vergangenen Nacht sei lautes Lärmen (μεγάλοι θόρυβοι) bezüglich der Tat des Aias durch das Lager der Griechen gedrungen und hätte auch die Seeleute des Aias erreicht: 178 Mit dem Schwert, so haben sie erfahren, soll ihr Herr die Schafe der Danaer getötet haben. Als konkretes Feindbild steht den Choreuten dabei Odysseus vor Augen (v. 148 ff.): Dieser erdichte die verleumderischen Reden über Aias, verbreite unter den Griechen die Kunde von den Geschehnissen der letzten Nacht und über‐ zeuge damit in besonderem Ausmaß (σφόδρα πείθει): Jeder, der Odysseusʼ Worte I. Chöre wehrfähiger Männer 176 <?page no="177"?> 179 Anspielungsreich greift Sophokles an dieser Stelle auf homerische Beschreibungen des Aias zurück, die sicherlich auch dem antiken Publikum bekannt waren (vgl. Od. 11, 556, Il. 3, 229). 180 Vgl. K A M E R B E E K (1953) S. 51: „supported by“. höre, reagiere mit Schadenfreude (χαίρει v. 152) und erhebe sich in abfälliger, hochnäsiger Weise über Aiasʼ Leid (καθυβρίζων). Es folgt eine kurze allgemeine Reflexion über das Verhältnis zwischen ge‐ sellschaftlich herausragenden und durchschnittlichen Personen, wie es sich aus der Perspektive der Schiffsmannschaft darstellt. Ein Held wie Aias biete auf Grund seiner seelischen und charakterlichen Größe, so der Chor, einige An‐ griffsfläche für derartige verleumderische Reden; wer nämlich über einen Nor‐ malmenschen wie den einzelnen, einfachen Seemann (κατὰ … ἐμοῦ v. 155) ab‐ wertende Gerüchte in die Welt setzt, werde kaum überzeugte Zuhörer finden. Die zur Begründung dieses Sachverhalts angeschlossene Sentenz v. 157 verba‐ lisiert, auf welche Motivation die Schiffsleute die Verleumdungen ihres Herrn zurückführen: Neid nämlich richte sich nur gegen denjenigen, der „besitzt“ (τὸν ἔχονθʼ), d. h. den besonders Einflussreichen. Dagegen stellten die „Kleinen“ (σμικροί v. 158) ohne die „Großen“ (μεγάλοι) einzig eine schwache Schutzwehr (σφαλερὸν πύργου ῥῦμα) dar, seien also auf die Hilfe der Mächtigen unmittelbar angewiesen. 179 Denn, so der Chor, ein Geringer (βαιός v. 160) dürfte wohl „ge‐ meinsam mit Großen“ (μετὰ μεγάλων), ein Großer durch den Dienst der Ge‐ ringen (ὑπὸ μικροτέρων) 180 aufgerichtet werden (ὀρθοῖθʼ v. 161). Nun aber werde ihr Herr Aias von Menschen verfolgt, die das nicht verstehen könnten; der Chor bekennt indes, selbst keine Kraft mehr zu haben (οὐδὲν σθένομεν v. 165), ohne die Hilfe seines Herrn den Anschuldigungen entgegen‐ zutreten. Die Choreuten sind sich gewiss, dass ein erneutes Auftreten des hel‐ denhaften Aias vor den Griechen für Ruhe sorgen werde, auch wenn diese jetzt noch hinter dem Rücken des Helden Verleumdungen ausstießen (v. 170 f.): Schnell dürften sie, so die Versicherung in v. 170 f., sobald Aias erscheine, „durch Schweigen wortlos in Angst geraten“ (σιγῇ πτήξειαν ἄφωνοι). Der erste anapästische Teil der Parodos hat hier sein Ende gefunden. Es ist für unsere Zwecke vorteilhaft, in der Wiedergabe des Liedes an dieser Stelle kurz innezuhalten. Einige Aspekte der wiedergegebenen Verse 134-171 sollen im Folgenden näher untersucht werden. Gleich vom Beginn ihres Auftritts steht für die Schiffsbesatzung des Aias ihr Herr im Mittelpunkt; der erste Teil der Par‐ odos ist so wirkungsvoll gerahmt von der direkten Anrede in v. 134 und einem bereits implizit mitgedachten Imperativ („Erscheine endlich, Aias! “) in v. 170, den die Verse 192 ff. in aller Deutlichkeit wieder aufgreifen werden. Erstaunlich 2. Aias 177 <?page no="178"?> wenig beschäftigt die Choreuten bis zu diesem Punkt die eigentliche Tat des Aias, von der sie gehört haben: Gerade einmal fünf Verse (143-147) widmen sie der in indirekter Rede gestalteten Wiedergabe der Gerüchte. Besonderer Nach‐ druck liegt dagegen auf dem aus Sicht der Schiffsleute eigentlichen Skandal: der üblen Nachrede, der ihr Herr ausgesetzt ist. Mit Odysseus als Anstifter und Ver‐ breiter der Gerüchte entwerfen sie dabei geradezu den Gegenentwurf zum strahlenden Helden Aias. Die Schilderungen des Chors von der Initiierung einer Verleumdung, mehr noch: der Anstiftung zum Rufmord an Aias, stehen so in wirkungsvollem Kontrast zur tatsächlichen Geisteshaltung des Odysseus, der sich im Prolog als vorsichtiger Kundschafter und Anteil nehmender Betrachter erwiesen hatte. Von den heroischen Qualitäten seines Herrn ist der Chor indessen weiterhin überzeugt. Die Thematisierung der größeren Angriffsfläche, die ein gesell‐ schaftlich herausstehender Held gegenüber einem Normalmenschen biete (v. 154-157), dient dabei zugleich der Selbstcharakterisierung des Chores und der Darstellung seiner Ansichten: Im festen Menschen- und Gesellschaftsbild der Schiffsbesatzung begründen Adel und heroische, d. h. kriegerische Tugend den berechtigten Anspruch auf Gefolgschaft und Unterstützung (v. 161); auf Seiten des „Helden“ geht dabei eine zumindest implizite Verpflichtung zum Schutz seiner Untergebenen einher. Die Choreuten sind sich bewusst, welche Rolle sie in diesem wechselseitigen Gefüge spielen und in welcher Beziehung sie zu ihrem Herrn stehen. Ihre Schutzbedürftigkeit bejahen sie vorbehaltlos und stehen so in fester Treue zu Aias. Auf eine Selbstvorstellung ihrer Person oder gar auf Andeutungen ihrer Identität verzichten sie dementsprechend ganz; sie sind so ausschließlich über ihre Zugehörigkeit zu Aias definiert. Hinsichtlich der dramaturgischen Implikationen der Passage soll zunächst Fol‐ gendes festgehalten werden. Sophokles unterwandert mit der vorliegenden Partie eine mögliche Erwartungshaltung des Publikums: Statt die im wahrsten Sinne unerhörte nächtliche Tat des Haupthelden zum Gegenstand der ersten chorischen Wortmeldung zu machen, lässt er die Schiffsleute über das Perso‐ nenspektrum der an der Handlung beteiligten Akteure räsonieren. Damit ist einerseits die Selbstverortung der salaminischen Schiffsleute in ansprechender Weise gelungen; zum anderen ermöglicht die Konzentration auf die beiden Hauptakteure des Prologs und Antipoden der gesamten Handlung - Aias und Odysseus - die besondere Absetzung der Partie vom Prolog. Die durch den Chor in der anapästischen Partie entworfenen Bilder der beiden Heroen stehen dem Eindruck, den das Publikum im Prolog erhalten hat, diametral entgegen: Aias, der in Wahn Gefangene, ist in der Imagination des Chors immer noch der strah‐ lende Held, der seinen Untergebenen Schutz und Sicherheit garantiert, wohin‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 178 <?page no="179"?> 181 Der eingeschobene, an Artemis gerichtete Vokativ ὦ μεγάλα φάτις, ὦ μᾶτερ v. 173 kann dabei von der grundlegenden Adressierung an Aias nicht ablenken. 182 Der Text ist an unserer Stelle (v. 176-177) in mancherlei Hinsicht umstritten, da man am überlieferten Textbestand Anstoß nahm. Vgl. die Diskussionen bei K A M E R B E E K (1953) S. 52, der vorsichtig für eine Beibehaltung der Überlieferung plädiert („Probably the text can remain as it stands, but divided as by myself “) und S T A N F O R D (1963). So‐ phocles Ajax: edited, with introduction, revised text, commentary, appendix, indexes and bibliography, London, S. 81 f. In den Text von L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990), der dieser Untersuchung im Wesentlichen zu Grunde liegt, haben einige Konjekturen Ein‐ gang gefunden, die hier allerdings im Einzelnen nicht diskutiert werden sollen. Die Stelle behält trotz der Konjekturen im Einzelnen einige Schwierigkeiten. gegen Odysseus, den wir im Prolog als vorsichtigen, abwägenden und besonders mitfühlenden Anführer kennengelernt haben, hier nun als Anstifter des Ruf‐ mords gegen Aias figuriert. Das Verhältnis dieses ersten Teils der Parodos zum eben verklungenen Prolog ist dementsprechend von starker Kontrastivität ge‐ prägt: Vor allem in der Ausleuchtung der beiden Zentralfiguren der Handlung (Aias und Odysseus) sowie ihrer Beziehung zueinander ist die Einschätzung der Schiffsleute dem Informationsstand der Rezipienten entgegengestellt. Ein rein affirmativer Nachvollzug der chorischen Partie ist dem Zuschauer daher nicht möglich. Der lyrische Teil des Einzugsliedes beginnt thematisch noch einmal an einem anderen Punkt. Die grobe Gedankenbewegung ist offensichtlich: Der Spekula‐ tion über die Ursache der Raserei des Aias folgt erneut die Beschäftigung mit dem zentralen Moment der üblen Nachrede, bevor die Aufforderung, Aias solle sich jetzt aus seinem Zelt begeben und den Gerüchten ein Ende machen, die Partie beschließt. Bevor wir uns der Dramaturgie der Parodos widmen, ist es geboten, die drei Strophen etwas genauer zu betrachten. Die ganze erste Strophe ist eine direkte, zweigeteilte, an Aias adressierte Frage (σε v. 172, σοί v. 179): 181 War es Artemis, die Tochter des Zeus, die 182 - betrogen um den Dank für einen militärischen Sieg (τινος νίκας v. 176), die einem Feind abgenommene angesehene Rüstung (κλυτῶν ἐνάρων) oder den Erfolg bei der 2. Aias 179 <?page no="180"?> 183 Dabei ist ἄδωρος freilich aus der Sicht der betrogenen Göttin gesprochen, die das ihr zustehende Dankesgeschenk nicht erhalten hat. 184 Ich folge K A M E R B E E K (1953), der S. 54 festhält: „three reasons are given in 176-177 for the anger of Artemis“; seine Einschränkung „The difficulty is that it is hard to see the difference between the first and the second reason“ ist nicht erheblich. Mit den ersten beiden Gründen einer möglichen Entehrung der Göttin liegt vielmehr ein Hendiadyoin vor; die Erwähnung der Rüstung als eines herausragenden Beuteprunkstücks stellt dabei einen besonderen Aspekt, eine Spezialisierung des in Rede stehenden Sieges dar. Besonders verdeutlicht wird die Kriegsthematik daraufhin durch die konkrete Einbe‐ ziehung des Ares. Darüber hinaus übersieht K A M E R B E E K den in κλυτῶν ἐνάρων gege‐ benen subtilen motivischen Bezug auf die eigentliche Ursache von Aiasʼ Wahnsinn: die Entscheidung um die Waffen des Achill. 185 Ich schließe mich der Textgestaltung von L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) an, die der Kon‐ jektur von Reise folgen und statt des überlieferten ἤ das Personalpronomen σοι lesen. Das bringt es mit sich, entgegen der Notiz im Scholion (vgl. K A M E R B E E K (1953) S. 55) ἐνυάλιος als Beinamen des Ares zu verstehen statt zwei Gottheiten anzunehmen. Vgl. G O R D O N (1997). „Enyalios.“ in: DNP Band 3, Sp. 1053 f. und seine Einschätzung: „In lit. Texten war E[nyalos]. meist nur Syn. für Ares“. Hirschjagd (ἀδώροις 183 ἐλαφαβολίαις) 184 - ihn zu den Herden der Griechen ge‐ trieben habe; oder war es der mit seinem Beinamen Enyalios bezeichnete Ares 185 (v. 179), der dem Helden so eine Schmähung (λώβαν) des Gottes beim gemein‐ samen Waffengang (ξυνοῦ δορός v. 180) durch die „nächtlichen Machen‐ schaften“ (ἐννυχίοις μαχαναῖς) heimzahlte? In einer ausführlichen Periode hat der Chor damit zwei göttliche Mächte auf‐ geführt, die wegen eines möglichen Fehltritts des Helden an ihm nun Rache genommen haben könnten. In ihrer Bilderwelt von Krieg und Jagd sprechen die Choreuten dabei ganz aus der Erfahrungswelt des adligen Herrn, dessen zentrale Lebensbereiche damit abgesteckt sind. Die Gegenstrophe liefert die Begründung (γάρ v. 182) der Annahme, Aiasʼ Handeln müsse göttlich motiviert gewesen sein, wobei die Schiffsleute immer noch ihren Herrn direkt ansprechen: Aus Überlegung und mit klarem Verstand (φρενόθεν v. 182) nämlich wäre er nie „so weit gegangen“ (ἔβας τόσσον) und in die falsche Richtung (ἐπʼ ἀριστερά) abgewichen. Es müsse daher, so die vor‐ sichtig im Optativ formulierte Vermutung, eine „göttliche Krankheit“ (θεία νόσος v. 185) vorliegen. Das Zugeständnis göttlicher Beeinflussung (v. 184 f.) mündet daraufhin gleich in den Wunsch, Zeus und Phoibos sollten die böse Rede der Griechen abwehren (v. 185 f.). Wenn aber (εἰ δʼ) die „großen Könige“ (μεγάλοι βασιλῆς v. 188), sowie der dem Geschlecht des Sisyphos entstammende König im Geheimen trügerische Reden verbreiteten (ὑποβαλλόμενοι κλέπτουσι μύθους v. 187 f.), dann, so die Aufforderung des Chors, solle Aias sich nicht durch sein Bleiben im Zelt noch weitere üble Nachrede zuziehen (κακὰν φάτιν ἄρῃ v. 190). Was so als konkrete I. Chöre wehrfähiger Männer 180 <?page no="181"?> 186 Vgl. K A M E R B E E K (1953) S. 60, der unter Angabe der Stelle den kühnen Bildgebrauch als Verarbeitung eines homerischen Bildes erklärt. Ausgestaltung der φάτις und ihrer Verbreitung begann, schließt am Ende der Gegenstrophe in der konkreten Ansprache der Schiffsleute an ihren Herrn. Der in die durch geminiertes μή verneinte Aufforderung eingesetzte Vokativ ἄναξ (v. 190) kontrastiert dabei wirkungsvoll mit der bewussten, die Namen der Gegner vermeidenden Umschreibung im Konditionalsatz. Dass mit den „großen Königen“ die Atriden, mit dem Nachfahren des Sisyphos Odysseus gemeint ist, steht dabei außer Frage. Mit Vers 190 ff. setzt der Chor die Ansprache an seinen Herrn auch zu Beginn der Epode fort: Aias solle sich nun aus seinem Sitz erheben, wo er die Kamp‐ fespause verbringe und zugleich den verachtenden Übermut seiner Gegner immer weiter anfache. Poetisch kleidet der Chor den Sachverhalt dabei in das besonders eindrucksvolle Bild eines Waldbrandes, 186 das die Motivik der Ge‐ genstrophe prägt: Indem er nicht eingreift, entfache Aias eine „bis zum Himmel aufflackernde Ate“ (ἄταν οὐρανίαν φλέγων), während die furchtlose Hybris der Gegner unter dem geradezu bakchischen Taumel all derer, die durch ihre Reden äußerst Schmerzliches (βαρυάλγητʼ) hervorbrächten, in „luftigen Schluchten“ (ἐν εὐανέμοις βάσσαις) rase. Eine so knappe wie wirkungsvolle Bekundung des eigenen Leids der Schiffsleute (v. 200) beschließt daraufhin die Epode und führt aus dem poetischen Bild wieder in die dramatische Realität zurück. Die Gedankenbewegung des dreistrophigen Liedes ist augenfällig: Während die erste Strophe mit Artemis und Ares zwei mögliche göttliche Verursacher der Raserei des Aias nennt sowie das eventuell zu Grunde liegende Fehlverhalten des Helden anreißt, konstatiert die Gegenstrophe erneut den Einfluss göttlicher Mächte und erbittet von ihnen konkrete Hilfe bei der Abwehr der im Lager der Griechen kursierenden Gerüchte. Die schließlich an den eigenen Herrn adres‐ sierte Aufforderung bildet die Überleitung zur Epode, die den als Hybris und Ate bezeichneten verbalen Ansturm der Gegner des Aias in einem poetischen Bild ausgestaltet. Gegenüber der anapästischen Partie hat sich der Schwerpunkt der chorischen Darstellung nicht wesentlich verschoben: Mit der Thematisierung der üblen Nachrede und der Abwertung der aus Sicht des Chors dafür Verantwortlichen sind zentrale Momente der anapästischen Verse auch im lyrischen Teil promi‐ nent vertreten. Die Vermutungen hinsichtlich möglicher Ursachen für Aiasʼ Verhalten sowie die konkreten Aufforderungen, den Nachreden nun aktiv ent‐ gegenzuwirken, rahmen dabei die Auslassungen gegen die Atriden und Odys‐ seus. 2. Aias 181 <?page no="182"?> Betrachten wir nach dieser kurzen Auflistung thematisch-motivischer und struktureller Momente einige dramaturgische Aspekte der Parodos. Der Chor ist mit seinem Auftritt gleich mitten im Geschehen angekommen; keine lange Erzählung der Ereignisse der vergangenen Nacht oder Reflexionen über den Krieg oder die allgemeine Lage bilden den Auftakt der eigentlichen dramati‐ schen Handlung nach dem Prolog, sondern die virulente Sorge der mit dem Prot‐ agonisten eng verbundenen Schiffsleute. Besonders fassbar wird dieser Umstand in der vom Chor intendierten Gesprächssituation: Die gesamte chorische Partie ist als Anrede an den nicht auf der Bühne präsenten Aias gestaltet. Nach dem im besten Sinne eigenartigen und vom eigentlichen Bühnengeschehen abge‐ trennten Prolog führt Sophokles mit dem Auftritt des Chors ins Zentrum der Handlung, d. h. zu Aias selbst, der zwar nicht real präsent ist, dafür allerdings als wesentlicher Bezugspunkt der chorischen Reflexion etabliert wird. Das Verhältnis der Parodos zum Prolog ist dabei, wie schon gesagt, besonders kontrastiv: Die im lyrischen Teil erneut verbalisierte Geringschätzung des Odys‐ seus - diesmal erweitert um die Spitze gegen die Atriden - verschärft das bereits entworfene negative Bild und steht im Gegensatz zu dem Verhalten, das Odys‐ seus selbst im Prolog an den Tag gelegt hatte. Hinsichtlich der Vorgeschichte der unmittelbaren Handlung gestaltet sich das Verhältnis von Prolog und Parodos bedingt durch den spezifischen Wissens‐ stand des Chors ebenfalls spannungsreich: Der Chor ist über die Hintergründe der nächtlichen Geschehnisse sowie deren genauen Ablauf nicht informiert. Dementsprechend entfällt jede Thematisierung des Waffenstreits sowie Ausge‐ staltung der hinterszenischen Vorgänge um Aias. Die Spekulationen über gött‐ liches Handeln als mögliche Ursache von Aiasʼ Verhalten in der Strophe (v. 172 ff.) wirken dabei als besonderer Kontrapunkt zur im Prolog inszenierten Götterhandlung, die die wahren Umstände bereits deutlich gemacht hat. Das Chorlied drängt dabei vor allem durch seinen imperativischen Charakter (vgl. v. 190 ff.) sowie seine fortgesetzte Stilisierung als Ansprache des Haupt‐ helden direkt zur dramatischen Handlung, indem es den Auftritt des Protago‐ nisten herbeisehnt. Dass dieser sich allerdings durch die Einschaltung der Un‐ terredung zwischen Tekmessa und dem Chor verzögert, wird die Spannung nochmals erhöhen. Das im Lied inszenierte Reden über Aias und seine Tat bzw. deren Folgen für die Angehörigen verdichtet so die dramatische Aufmerksam‐ keit. Anders gesagt: Die Parodos lenkt alle Konzentration auf Aias, indem sie die Beziehung zwischen ihm und seiner Schiffsmannschaft sowie das gestörte Verhältnis zwischen ihm und den anderen Griechen ausleuchtet. Im Vergleich mit der Charakterzeichnung des vorangegangenen Prologs lie‐ fert sie dabei einen Gegenentwurf: Der um den bevorstehenden Suizid wissende I. Chöre wehrfähiger Männer 182 <?page no="183"?> 187 Zum problematischen Begriff „(Ehe-)Frau“ vgl. S. 169, Anm. 168. 188 Die Partie als einen Kommos zu bezeichnen, lässt, streng genommen, ihre formale Komposition als einer durch anapästische Passagen durchsetzten Chorpartie außer Acht. Während Tekmessa dabei im Wesentlichen die Sachverhalte verbalisiert, kommt die eigentliche emotionale Ausleuchtung der Situation den lyrischen Abschnitten des Chors zu. Eine in Ansätzen vergleichbare Struktur bietet die Parodos der Antigone, in der allerdings die anapästischen Partien nicht von einem Akteur, sondern vom Chor‐ führer rezitiert werden. Zum Kommos im Allgemeinen vgl. Z I M M E R M A N N (1999). „Kommos [2].“ in: DNP Band 6, Sp. 682-683 bzw. P O P P (1971). 189 Inwieweit die anapästischen Partien vom Chorführer alleine oder vom ganzen Chor rezitiert wurden, kann hier nicht geklärt werden. Vgl. dazu die analoge Diskussion zur Zuweisung der dem Chor zukommenden Sprechverse S. 46, Anm. 69. Im Folgenden wird in der Regel auf eine Differenzierung verzichtet und der Sprecher der in Rede stehenden Verse generell mit „Chor“ bezeichnet. Zuschauer antizipiert, dass Aias im Folgenden als gebrochener, gefallener Held auftreten wird, und weiß zugleich, dass die Stilisierung, die ihm der Chor zu‐ kommen lässt, mittlerweile ihrer Grundlage entbehrt. Entsprechendes gilt mit Blick auf Odysseus: Mit dem Wissen um sein Handeln im Prolog erscheint die in der Parodos gegebene Ausleuchtung seines Tuns als Zerrbild der von Sorge um Aias und sich selbst sowie von starker Antipathie gegen „die Griechen“ ge‐ leiteten Schiffsleute. Amoibaion Tekmessa-Chor (v. 201 - 256) Mit dem Auftritt der Tekmessa hat die eigentliche Parodos, d. h. das Auftrittslied des Chors, in Vers 201 ihr Ende gefunden. Die Erwartung des Chors allerdings, Aias möge erscheinen, ist enttäuscht worden. Statt seiner tritt Tekmessa, die Frau des Haupthelden 187 auf, die, wie sie später angibt (v. 328 ff.), sich auf den Weg zur Schiffsmannschaft des Aias gemacht hat, um die Freunde ihres Mannes um Unterstützung zu bitten. Sophokles bedient sich an unserer Stelle eines Amoibaions, d. h. einer (kla‐ genden) Wechselpartie zwischen einem Schauspieler und dem Chor, 188 um Tek‐ messas Auftritt wirkungsvoll zu inszenieren. Indem er so den ersten Auftritt der eigentlichen Bühnenhandlung mit einem (zumindest in Teilen) lyrischen Form‐ element beginnen lässt, schafft er einen gleitenden Übergang zur vorangegan‐ genen Parodos, die sich geradezu natürlich zu einem Wechselgespräch weitet. Zunächst soll die Struktur der Partie überblickt werden: Einem anapästischen Wechselgespräch zwischen Tekmessa und dem Chor(-führer) 189 (v. 201-220) folgt eine lyrische Strophe des Chors (v. 221-232), auf die sich eine erneut ana‐ pästische Wortmeldung Tekmessas (v. 233-244) anschließt. Nach der die emo‐ tionale Reaktion der Schiffsmannschaft verbalisierenden Gegenstrophe des Chors (v. 245-256) kommt es Tekmessa in einem abschließenden anapästischen 2. Aias 183 <?page no="184"?> 190 Vgl. K A M E R B E E K (1953), der S. 62 ad locum zu Recht festhält: „Tecmessa’s description bears testimony to the dreadful awe she feels for her lord“. Abschnitt (v. 257-262) zu, die neuesten Entwicklungen zu berichten. Ein iam‐ bischer Doppelvers des Chors (v. 263 f.) leitet daraufhin die folgende Sprech‐ szene ein. Formal gesehen mag man die vorliegende Partie dementsprechend als anapästischen Austausch zwischen Tekmessa und dem Chor(-führer) be‐ trachten, in den zwei metrisch korrespondierende Strophen des Chors einge‐ flochten sind. Auf einen detaillierten inhaltlichen Nachvollzug der Partie im Einzelnen soll hier verzichtet werden, ein grober Überblick mag genügen. In ihrer ersten ana‐ pästischen Partie (v. 201-220) lenkt Tekmessa das Augenmerk mit einer den Chor einschließenden Bekundung der eigenen Sorge und Trauer (v. 202 ff.) er‐ neut direkt auf Aias: Er, der „Gewaltige, Große, mit roher Kraft Ausgestattete“ (ὁ δεινὸς μέγας ὠμοκρατής v. 205) 190 kranke an einem „trüben Sturm“ (θολερῷ χειμῶνι v. 206 f.). Der Chor fordert sie in seiner anapästischen Gegenrede an‐ schließend auf (v. 208 ff.), ihn über die aktuellen Geschehnisse in Kenntnis zu setzen; als „Lagergenossin“ (v. 210 ff.) des Helden werde sie sicher nicht un‐ kundig (οὐκ ἂν ἄιδρις) Auskunft geben können. Die Angesprochene zögert zu‐ nächst, stellt den Schiffsleuten dann allerdings in Aussicht, sie würden ein dem Tod geradezu gleiches Leid (θανάτῳ ἴσον πάθος) von ihr erfahren. Eine gene‐ relle Aussage stellt sie dabei an den Beginn ihres Berichts: Der in Wahn gefan‐ gene Aias sei in der Nacht in Schande geraten (ἀπελωβήθη v. 216 f.). Einen vir‐ tuellen Blick in das Bühnengebäude eröffnet sie ihren Zuhörern mit den Versen 218-220: Innerhalb des Zeltes könne man blutbeschmierte, gespaltene „Opfer‐ tiere“ sehen. Damit ist die in Vers 346 erfolgende Öffnung des Bühnengebäudes (bzw. der Einsatz des Ekkyklemas) bereits vorbereitet und ein besonders schau‐ derhaftes Detail zu antizipieren. Die Reaktion der Schiffsleute auf die Beschreibung der Zustände im Innern des Zeltes bietet die Strophe v. 221-232: Die Botschaft Tekmessas sei zugleich untragbar und unentrinnbar (ἄτλατον οὐδὲ φευκτάν sowie ἀέξει v. 226); das Bevorstehende (τὸ προσέρπον v. 227) erfülle sie (die Schiffsleute) mit Furcht (φοβοῦμαι); Aias, der „berühmte Mann“ (περίφαντος ἁνήρ v. 228), werde sterben (θανεῖται), da er mitsamt den Weidetieren auch die Hirten getötet habe (βοτὰ καὶ βοτῆρας). Tekmessa gibt daraufhin in den anapästischen Versen 233-244 eine zwar knappe, aber ausgesprochen drastische Schilderung von Aiasʼ Wüten gegen die Schafe; besonders erwähnt sie die Sonderbehandlung, die Aias zwei Widdern zukommen ließ: Während er dem einen Kopf und Zunge abgeschnitten habe, I. Chöre wehrfähiger Männer 184 <?page no="185"?> 191 Vgl. K A M E R B E E K (1953) S. 66: „Here, too, there is dramatic irony. The Chorus do not, of course, think of suicide“. habe er den anderen an einen Pfeiler gebunden und ihn unter Ausstoßung übel‐ ster Schimpfreden (κακὰ δεννάζων) mit Peitschenhieben traktiert. Die Reaktion des Chors in der sich anschließenden Gegenstrophe (v. 245-256) zeugt von tief‐ ster Scham und Sorge: Es sei nun an der Zeit, mit verhülltem Haupt, d. h. un‐ kenntlich, der Szenerie entweder zu Fuß oder auf einem schnellen Schiff zu entfliehen. Die Atriden, so der Chor, stießen heftige Drohungen gegen sie (καθʼ ἡμῶν v. 253), die Mannschaft des Aias, aus: Sie fürchteten sich vor dem „stei‐ nigenden Ares“, d. h. der Hinrichtung durch Steinigung, die sie mit Aias erleiden müssten. Ihn, so die abschließende Bewertung des Chors, halte ein „unnahbares Geschick“ (αἶσʼ ἄπλατος v. 256). Tekmessa referiert daraufhin in den abschlie‐ ßenden anapästischen Versen 257-262 die neueste Entwicklung: Aias sei gera‐ dezu blitzartig wieder zu Verstand gekommen, leide aber nun angesichts des durch ihn verursachten Unheils außerordentlich. Mit einer von vorsichtiger Hoffnung angesichts des Wiedererwachens seines Herren getragenen Bemerkung des Chors in den Versen 263 f. geht die Wech‐ selpartie daraufhin fließend in den in iambischen Trimetern strukturierten Di‐ alog über. Im Folgenden sollen einige dramaturgische Implikationen der Partie genauer betrachtet werden. Während des Amoibaions tritt die eigentliche Handlung ge‐ radezu auf der Stelle: Tekmessa verleiht stattdessen ihrem Entsetzen, ihrer Trauer und ihrer Sorge um sich und ihren Mann Ausdruck, sie berichtet kurz, aber dennoch in eindrücklicher Weise von den Geschehnissen der vergangenen Nacht (v. 235-244), und endet schließlich mit der Aussage, dass Aias nun zwar zur Besinnung gekommen sei, sein Schmerz und Leid allerdings noch größere Ausmaße angenommen hätten. Der Chor antwortet auf die Andeutungen und Beschreibungen Tekmessas jeweils mit einer besonders emotionalen Bekun‐ dung seiner eigenen Betroffenheit und Furcht. Dabei erscheint die Äußerung der Seeleute zum sicheren Tod ihres Herrn in der ersten Strophe (περίφαντος ἁνὴρ θανεῖται v. 228 f.) als tragisch-ironische Andeutung der kommenden Ent‐ wicklungen; dass dabei den Choreuten allerdings nicht der Selbstmord, sondern eine Strafe durch die Heereskommandanten vorschwebt, zeigt sich an der Pa‐ rallelstelle der zweiten Strophe (v. 253 ff.): 191 Fürchtet der Chor in der ersten Strophe noch unbestimmt das „Herankriechende“ (φοβοῦμαι τὸ προσέρπον v. 227), d. h. die nicht näher bezeichnete unmittelbare Zukunft, so bezieht sich die Angst in der zweiten Strophe konkret auf den Tod durch Steinigung. Dem prä‐ 2. Aias 185 <?page no="186"?> 192 Erst in ihrem Monolog wird sie von der Beschimpfung der Atriden durch Aias berichten (v. 301 ff.), bringt dabei allerdings nicht explizit zum Ausdruck, dass Aias die Tiere für seine Gegner hält. Vgl. K A M E R B E E K (1953) S. 67: „Tecmessa relates what she has seen without having understood the background of the sinister happenings“. 193 K A M E R B E E K (1953): „It is therefore wrong to object that the representation of the facts does not in every respect tally with what was said in ll. 100-111“ a. a. O. sentischen φοβοῦμαι aus v. 227 steht dabei das intensivierende Perfekt πεφόβημαι (v. 253) gegenüber, was den Zustand virulenter Furcht unterstreicht. An die Stelle des vom Chor herbeigesehnten Auftritts des Protagonisten ist also nach dem Ende der Parodos wiederum eine Passage getreten, in der über Aias und seine Taten gesprochen wird, er selbst aber nicht präsent ist und die Handlung dementsprechend ruht. Für Leserschaft und Publikum bringt der Wechselgesang (wie auch der folgende ausführliche Bericht Tekmessas v. 285 ff.) bis auf den Umstand, dass Aias mittlerweile wieder bei Sinnen ist, keine weitere, im eigentlichen Sinne neue Information, sondern einzig eine detailliertere Be‐ schreibung der in ihren Grundzügen bereits bekannten Vorgänge. Nach der Darstellung der Situation durch den Chor unter den für die salaminische Schiffs‐ mannschaft entscheidenden Gesichtspunkten erfolgt hier allerdings ein Per‐ spektivwechsel: Tekmessa ist nicht auf Spekulationen angewiesen, sondern war als Einzige dem Geschehen so nahe, dass sie als Augenzeugin auftreten und die Geschehnisse mit einiger Detailgenauigkeit berichten kann. Ihre Ausführungen in v. 241 ff. wirken dabei aus der Perspektive der Rezipienten wie eine nach‐ trägliche Beschreibung des im Prolog vorgeführten Protagonisten und seiner Tat. Während Tekmessa so das Geschehen zwar wiedergibt, es aber nicht völlig auszudeuten vermag - sie weiß zum Beispiel nicht, dass Aias die beiden Widder für seine Widersacher hält 192 -, verstehen die Rezipienten auf Grund der im Prolog mitgeteilten Informationen die Hintergründe. Dass dabei Tekmessas Be‐ richt in Details von der im Prolog durch die Göttin gegebenen Erzählung ab‐ weicht, ist - wie auch K AME R B E E K festhält 193 - ganz aus der dramatischen Situ‐ ation zu verstehen; die so bewusst lancierte Ambiguität zwischen den beiden Berichten unterstreicht dabei die formal gänzlich verschiedene Wirkung von informierendem (Götter-)Prolog auf der einen und emotionaler kommatischer Partie auf der anderen Seite. Der Kommos zwischen Tekmessa und dem Chor ist demnach ein erstes, das vom Chor herbeigewünschte Erscheinen des Haupthelden retardierendes Mo‐ ment. Statt nach dem andeutungsreichen und bildmächtigen Prolog und der zweifelnden, von Hoffnung auf ein Wiedererstarken des Protagonisten getra‐ genen Parodos die Handlung weiterzuführen, schaltet der Dichter hier ein er‐ neut reflektierendes Element ein, das die Ausgangslage der Tragödie aus einer I. Chöre wehrfähiger Männer 186 <?page no="187"?> 194 Auf die besondere Bedeutung der Rolle der Tekmessa weist im Besonderen S T A N F O R D (1963) S. l f. hin. neuen Perspektive beleuchtet. Dass die Partie dabei zugleich als besonders um‐ fangreiche und wirkmächtige Auftrittsszenerie Tekmessas dient, darf nicht ver‐ wundern: 194 Die Komposition entspricht der dramaturgischen Relevanz der Rolle Tekmessas, die sich im Folgenden besonders in der Auseinandersetzung mit Aias selbst widerspiegeln wird. So ist Tekmessa zunächst der einzige Akteur auf der Bühne und somit alleiniger Gesprächspartner des Chors. Nach Aiasʼ Auftritt bildet sie den Widerpart des Protagonisten und bildet geradezu die Kontrastfolie seiner auf ein Höchstmaß gesteigerten heroischen Selbstbezüg‐ lichkeit. Bis zum Ende des ersten Epeisodions in Vers 595 steht sie so als Kont‐ rapunkt des Protagonisten im Zentrum der Bühnenhandlung und ist integraler Bestandteil des dramatischen Gefüges. Auch der folgende Dialog zwischen Tekmessa und dem Chor hat noch einmal die Wahnsinnstaten des Aias zum Gegenstand. Nach einer kurzen Erläuterung, dass ihr Mann jetzt, nachdem er wieder zu klarem Bewusstsein gekommen sei, größeres Leid zu tragen habe als vorher (v. 263-283), schildert Tekmessa auf Nachfrage des Chors erneut das gesamte Geschehen der vergangenen Nacht: Detailliert und an der Chronologie orientiert entfaltet sie vor dem Chor und dem Publikum die miterlebten Ereignisse. Ab Vers 310 ist sie in der dramatischen Gegenwart angelangt und beschreibt die Reaktion des aus dem Wahn erwachten Aias auf sein eigenes Tun. In einer weniger emotionalen Weise als noch im Amoibaion (beachtenswert sind v. a. die chronologische Reihenfolge des Er‐ zählten sowie das Fehlen emotionaler Interjektionen) gibt sie hier also den zweiten und abschließenden Bericht über die unmittelbare Vorgeschichte der Bühnenhandlung. Erst die zunächst hinterszenischen Einwürfe des Aias und sein Erscheinen ab Vers 348 werden die Handlung erneut in Gang bringen. Betrachten wir kurz die dramaturgische Gestaltung dieser Partie des Dramas bis zum erneuten Auftreten der Hauptperson. Schritt für Schritt deckt die Ent‐ wicklung nach dem Prolog bis zu diesem Punkt die Ereignisse vor dem Beginn des Dramas auf: In der Parodos ist der Chor über den genauen Hergang noch nicht informiert, sondern auf die im griechischen Lager zirkulierenden Speku‐ lationen angewiesen. Viel mehr als die Tat selbst stand dabei für die Schiffs‐ mannschaft, wie wir gesehen haben, die üble Nachrede, der Aias ausgeliefert ist, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und der Kritik. Der Auftritt Tekmessas lenkte daraufhin den Blick endgültig auf die Tat und ihre unmittelbaren Folgen für Aias selbst sowie für seine Angehörigen. Erst durch sie erfolgt die ausführ‐ liche Schilderung der einzelnen Vorgänge, die für die Zuschauer und Leser schon 2. Aias 187 <?page no="188"?> 195 Vgl. die Parodos der Antigone, in der der Chor die Ereignisse der soeben vergangenen Nacht referiert. 196 Vgl. B U R T O N (1980) S. 20: „The gradual build-up of tension and expectation, retarded but never broken, culminates in the protagonist’s appearance heralded by cries off stage“. ab dem Prolog durch den Auftritt des blutverschmierten Helden bildmächtig präsent waren. Indem Sophokles die Parodos dabei organisch in ein Amoibaion münden lässt, komponiert er eine umfangreiche, insgesamt 128 Verse umfas‐ sende (v. 133-262), maßgeblich chorisch geprägte Partie. Dabei ist es allerdings nicht der Chor, der die unmittelbare Vorgeschichte des Dramas erzählt; vielmehr informiert eine andere Person die zunächst unwissenden Schiffsleute über den genauen Hergang der Ereignisse vor dem Beginn der Bühnenhandlung. Was ist damit für die Struktur des Dramas gewonnen? Versuchen wir, die spezifische Wirkung des vorliegenden Dramenbeginns e negativo zu umreißen: Die Konstruktion eines von vorneherein um die Vorgeschichte wissenden Chors hätte sicherlich schneller zu einem Handlungsfortschritt geführt. Nach einer die Geschehnisse der letzten Nacht imaginierenden Parodos 195 hätte ein direkter Auftritt des Protagonisten das Geschehen unmittelbar dynamisiert. Im Vergleich dazu wirkt die vorliegende Struktur des Dramas geradezu stationär und mit der Forcierung des bildgewaltigen Prologs und den gedehnten emotionalen Pas‐ sagen im ersten Epeisodion mehr auf expressive Bühnenwirkung ausgelegt. Die Konstruktion eines zunächst nur halb informierten Chors gibt dem Dichter zudem die Möglichkeit, die Figur der Tekmessa organisch in das Geschehen einzuführen und mit ihr dem Chor vor dem Auftritt des Haupthelden einen Dialogpartner gegenüberzustellen, mit dem er hinsichtlich seiner Person be‐ sonders verbunden ist. Erst die durch Amoibaion und Sprechdialog ausgeführte zweimalige Schilderung der Umstände und Thematisierung des Aias bereitet endgültig den Boden für den (zweiten) Auftritt des Haupthelden und damit den Fortgang der Handlung. Die für ein modernes, handlungsorientiertes Ver‐ ständnis sich eher schleppend entwickelnde Eingangspassage der Tragödie zeugt so von der besonderen Kompositionsabsicht des Dichters, der einen sol‐ chermaßen effektvollen, das Publikum in mehreren Hinsichten überwälti‐ genden Beginn seines Dramas einer rasch vorantreibenden Handlungsentwick‐ lung vorgezogen hat. Kommos Aias-Tekmessa-Chor (v. 348 - 429) Effektvoll gestaltet Sophokles das Erscheinen des Aias als Kulminationspunkt der bis hierher aufgebauten spannungsvollen Erwartung in sich erneut schritt‐ weise: 196 Nach dem umfangreichen Monolog Tekmessas (v. 284-330) und einem Doppelvers des Chorführers (v. 331 f.) sind zunächst hinterszenische Klagerufe I. Chöre wehrfähiger Männer 188 <?page no="189"?> 197 Die Konstruktion erinnert rein formal an den Auftritt der Titelheldin in der Elektra, deren visuelle Präsenz zunächst ebenfalls durch einen hinterszenischen Klageruf an‐ gekündigt wird (v. 77), deren Auftritt daraufhin ein Kommos mit dem Chor folgt. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich jedoch Unterschiede: Während der völlig unerwar‐ tete Ausruf Elektras zum Abbruch der heimlichen Zusammenkunft von Orest und dem Pädagogen führt und somit das Prologgespräch beendet, ist Aiasʼ Wortmeldung an un‐ serer Stelle - wenn auch immer noch überraschend - einerseits wesentlich erwartbarer, andererseits nicht Anlass zum Abtritt anderer Akteure. Vielmehr erweitert sich durch Aiasʼ solchermaßen angekündigten Auftritt das Personenspektrum, die Szene bricht nicht ab, sie öffnet sich. Ein gleiches bzw. sehr ähnliches dramaturgisches Mittel - die Vorbereitung des Auftritts des Protagonisten durch dessen hinterszenisches Rufen - ist so in zwei verschiedenen Tragödien jeweils abgewandelt eingesetzt und hinsichtlich der dramaturgischen Wirkung unterschiedlich funktionalisiert. 198 Z I M M E R M A N N (2011) S. 508 geht davon aus, dass Aias „inmitten des von ihm erschla‐ genen Viehs“ auf dem Ekkyklema aus dem Bühnengebäude gerollt wird. Als Mittel besonderer Drastik und Eindrücklichkeit kommt es Tekmessa zu, in einem Doppelvers (v. 344 f.) den eigentlichen Akt der Öffnung zu kommentieren und so das Geschehen durch Verbalisierung zu doppeln. zu hören (v. 333 ff.), die schnell als von Aias kommend identifiziert werden. Während der Protagonist zunächst zweimal seinem gesammelten Schmerz durch die Klageinterjektionen ἰώ μοί μοι Ausdruck verleiht (v. 336 und 339), daraufhin mit ἰὼ παῖ παῖ (v. 339), wie Tekmessa schließt, seinen Sohn Eurysakes apostrophiert, ruft er in Vers 342 f. nach seinem Halbbruder Teukros. Mit den drei klagenden Ausrufen sowie der Frage nach Teukros tritt der wieder zu Sinnen gekommene Aias hier zum ersten Mal in das Bühnengespräch ein; seiner körperlichen, visuellen Präsenz im Bühnengeschehen ab Vers 348 geht so eine akustische Ankündigung voraus. 197 In Vers 346 erfolgt schließlich die Öffnung des Bühnengebäudes bzw. das Herausrollen des Ekkyklemas, 198 wodurch der Blick auf Aias freigegeben wird und er zum ersten Mal nach dem Prolog wieder auf der Bühne ist. Ausgelöst durch die sicherlich bildmächtig inszenierte Ansicht des Titelhelden inmitten des von ihm angerichteten Blutbades folgt auch hier mit dem zu untersuchenden Kommos ein äußerst emotionaler Formteil, in dem der Protagonist ausführlich seine eigene Lage ausleuchtet. Eine genauere formale Untersuchung des mit über achtzig Versen (347-429) sehr umfangreichen Wechselgesangs soll hier exemplarisch die Komposition eines ausgedehnten Kommos mit drei Beteiligten (Aias, Chor, Tekmessa) ver‐ deutlichen sowie zur Einordnung der Passage hinsichtlich ihres dramaturgi‐ schen Wertes beitragen. Das Amoibaion gliedert sich in drei Paare von Strophe und Gegenstrophe, die jeweils metrisch verschieden komponiert sind. Dabei kommen einzig Aias lyri‐ 2. Aias 189 <?page no="190"?> 199 Vgl. K A M E R B E E K (1953) S. 83: „The first thing that deserves notice in this long kommos is that only the protagonist sings“. 200 Die auch in der neuen Oxford-Ausgabe von L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) in eine ein‐ zelne Zeile gesetzten Interjektionen vor bzw. innerhalb der Äußerungen des Protago‐ nisten gebe ich in der Übersicht gesondert an; ob man sie in der Verszählung der fol‐ genden Zeile zuschlägt oder nicht, macht keinen großen Unterschied, solange man konsequent verfährt. Die Zählung der Verse ist ohnehin in einigen Fällen problematisch; die praktikable Zählung in Übereinstimmung mit der maßgeblichen Ausgabe bietet sich für unsere Zwecke an. 201 Wie bereits oben erwähnt, findet sich hier keine ausgreifende metrische Analyse. Ich verweise dazu im Besonderen auf die einschlägigen Kommentare S T A N F O R D (1963) S. 254 ff. und J E B B (1896) Sophocles The Plays and Fragments with critical notes, com‐ mentary and translation in English prose: Part VII The Ajax, Cambridge, S. lxiii ff. 202 Bzw. Zeilen der maßgeblichen Ausgabe L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990). 203 Diese Spalte ist nur zum Überblick gedacht und soll die ausführlichen metrischen Ana‐ lysen der Kommentare nicht ersetzen (doch. = dochmische; aeol.= aeolische; iamb. = iambische Maße). sche, d. h. gesungene Verse zu; 199 sein Redeanteil ist zudem der größte: Von den 86 Verszeilen 200 entfallen siebzig auf ihn, auf den Chor zehn und auf Tekmessa sechs, wobei Letztere sich iambischer Trimeter bedienen. 201 Die einzelnen Verteilungen innerhalb der Strophen sind von ausgeklügelter Komposition, die durch die folgenden Tabellen verdeutlicht werden sollen: 1. Strophe 1. Gegenstrophe Sprecher Verse  202 Metrik  203 Sprecher Verse Metrik Aias 6 Interjektion + doch./ iamb./ aeol. Aias 6 Interjektion + doch./ iamb./ aeol. Chor 2 iamb. Trimeter Chor 2 iamb. Trimeter I. Chöre wehrfähiger Männer 190 <?page no="191"?> 204 Ich folge damit wie auch die Herausgeber L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) auf Basis einiger MSS Müller, der aus Gründen der Symmetrie den betreffenden Vers (371) Tekmessa und nicht dem Chor zuteilt (anders D A W E (1996). Sophoclis Aiax, Stuttgart und Leipzig). Inhaltlich ist dabei die Sprecherverteilung an dieser Stelle letztendlich nicht zu klären; K A M E R B E E K s (1953) Bemerkung S. 87 f. („Furthermore the cry πρὸς θεῶν has a more touching note than would be expected of the Chorus in this κομμός“) ist angesichts der im Amoibaion mit Tekmessa eingetretenen Entfremdung zwischen den Schiffsleuten und ihrem Herrn grundsätzlich nachzuvollziehen, stellt aber kein zwingendes Argu‐ ment für oder gegen die Zusprechung dar. Für S T A N F O R D s (1963) Ausführungen hin‐ sichtlich der Wortwahl ὕπεικε (S. 109 f.) gilt dasselbe. 205 Die Zuteilung der Schlussverse an Tekmessa durch Hermann aus Gründen der Sym‐ metrie hat keinen Rückhalt in den MSS. 2. Strophe 2. Gegenstrophe Sprecher Verse Metrik Sprecher Verse Metrik Aias 4 doch./ iamb. Aias 4 doch./ iamb. Tekmessa 1 iamb. Trimeter Chor 1 iamb. Trimeter Aias 2 iamb. Trimeter + Interjektion Aias 2 iamb. Trimeter + Interjektion Tekmessa 204 1 iamb. Trimeter Chor 1 iamb. Trimeter Aias 5 doch./ iamb. Aias 5 doch./ iamb. Chor 2 iamb. Trimeter Tekmessa 2 iamb. Trimeter 3. Strophe 3. Gegenstrophe Sprecher Verse Metrik Sprecher Verse Metrik Aias 17 Interjektion + doch./ iamb. Aias 17 Interjektion + doch./ iamb. Tekmessa 2 iamb. Trimeter Chor 205 2 iamb. Trimeter Die durchdachte Symmetrie des Wechselgesangs ist offenkundig. Halten wir einige wichtige Punkte fest: Im Zentrum des Kommos steht Aias mit seinen Ausführungen, die durch Tekmessa oder den Chor meist kurz kommentiert werden, wobei Äußerungen des Entsetzens (v. 354 f. u.a.) oder Einhalt gebietende Ausrufe (v. 368, 371, 386 u. a.) überwiegen. In noch höherem Maß als das erste 2. Aias 191 <?page no="192"?> 206 Vgl. K A M E R B E E K s (1953) Einschätzung des Amoibaions S. 93: „essentially a monologue“, sowie B A R N E R (1971) S. 315: „Im Aias bleibt sie [sc. die monodische Klage] noch so stark [sc. an das vorausgehende Amoibaion] gebunden, daß man nur zögernd von ‚Monodie‘ sprechen wird; immerhin ist bei v. 394 eine gewisse Zäsur spürbar: das Dialogische tritt zurück, die Klage wird leidenschaftlicher, auch prinzipieller, die lyrischen Partien schwellen plötzlich an“. Die ersten beiden Strophenpaare dabei „dialogisch“ zu nennen, ist allerdings angesichts der geradezu marginalen Beiträge von Chor und Tekmessa gewagt. wirkt das dritte Strophenpaar dabei nahezu als lyrischer Monolog, als Arie des Protagonisten, die nur noch durch zwei Einwürfe gegliedert wird. 206 Wie schlägt sich dabei die Emotionalität der Szene in der sprachlichen Ge‐ staltung nieder? Beachtenswert ist zunächst die Häufung der Interjektionen, durch die in den Versen 333 ff. der Auftritt des Aias bereits angekündigt wurde. Innerhalb des Kommos sind sie wirkungsvoll an den Beginn der Strophen (erstes und drittes Strophenpaar) bzw. in deren Mitte (zweites Strophenpaar) gesetzt und leisten so einen nicht unerheblichen Beitrag zur Gliederung der Partie im Einzelnen. Die hinterszenischen Rufe des Protagonisten finden so in seinen Äu‐ ßerungen während des Kommos eine erweiterte Fortsetzung. Führen wir uns als Beispiel der affektgeladenen Stilisierung der Sprache des Weiteren das dritte Strophenpaar vor Augen: Jeweils durch eine Interjektion und die Anrede unbelebter Entitäten eingeleitet (ἰὼ σκότος, ἐμὸν φάος v. 394 - ἰὼ πόροι ἁλίρροθοι v. 412) kommen besonders wirksame poetische Mittel zur Anwendung: affektvolle Wiederholungen (ἕλεσθʼ ἕλεσθέ με v. 396, πολὺν πολύν με … v. 414 ), rhetorische und an sich selbst gestellte Fragen (ποῖ τις οὖν φύγῃ; ποῖ μολὼν μενῶ; v. 404), Steigerungen und Ausgestaltungen bereits getroffener Aussagen (οὐκέτι μʼ, οὐκέτʼ ἀμπνοὰς ἔχοντα v. 415). Die für uns verlorene Musik der Tragödie wird den Eindruck des Kommos noch verstärkt haben. Dabei ist bemerkenswert, dass die Emotionalisierung der Partie durch die Anwendung starker sprachlicher Mittel ausschließlich in den lyrischen Partien stattfindet und damit im Wesentlichen dem Protagonisten obliegt. Inhaltlich steht für Aias seine Tat und die sich daraus ergebende Entehrung gegenüber den anderen griechischen Kriegern im Mittelpunkt. Wir können die gedankliche Entwicklung der Partie für unsere Zwecke kurz nachvollziehen; da gedankliche und metrische Gliederung einander weitestgehend entsprechen, bietet sich ein rascher Durchgang der einzelnen Strophen an. Die erste Strophe ist dabei ein einziger Anruf des Protagonisten an seine Schiffsleute, in denen er die ihm allein verbliebenen treuen Freunde sieht (ἐμμένοντες ὀρθῷ νόμῳ v. 350): Sie sollten ihn, der gleich einer Welle vom Sturm umhergepeitscht werde, betrachten (ἴδεσθέ μʼ). I. Chöre wehrfähiger Männer 192 <?page no="193"?> 207 Dass Aias dabei in συν-δάιξον die Schiffsleute zur Hilfe beim Selbstmord auffordert, wie K A M E R B E E K (1953) S. 85 zu bedenken gibt („help me to slay myself “), ist nicht schlüssig. Die Gegenstrophe eröffnet eine erneute Apostrophierung der Schiffsmann‐ schaft, in der Aias den einzigen Helfer gegen sein Leiden sieht (μόνον πημονὰν ποιμένων ἐπαρκέσοντʼ v. 360). Die Hauptaussage birgt erneut ein Imperativ: Aias fordert seine Mannschaft auf, ihn zu töten, 207 was die Choreuten in ihrer kurzen Antwort (v. 361 f.) freilich entrüstet ablehnen. Ein eindrückliches Bild seines moralischen Falls entwirft der Hauptheld in der zweiten Strophe: Wiederum in direkter Anrede seiner Mannschaft stellt er seine heroischen Qualitäten den Taten der vergangenen Nacht und der damit einhergehenden Entehrung entgegen. Nachdem er daraufhin Tekmessa davon abgehalten hat, sich ihm und der Hütte zu nähern (v. 369), kontrastiert er seine eigentliche Intention mit dem Ergebnis seines Wütens: Die eigentlichen Misse‐ täter (ἀλάστορας v. 373) habe er gehen lassen (μεθῆκα) und sich stattdessen mit dem Blut von Rindern besudelt. Die zweite Gegenstrophe richtet sich daraufhin ganz gegen Odysseus, der bereits den Schiffsleuten in der Parodos als Feindbild schlechthin vorschwebte (vgl. v. 148 ff. sowie 187 ff.): Unter wüsten Beschimpfungen unterstellt Aias ihm, er werde mit Gelächter auf die vorliegende Situation reagieren. Obwohl der Plan, die Heeresführer und Odysseus zu töten, nach dem Eingreifen der Athene ge‐ scheitert war und er sich mittlerweile mit dem Ergebnis seines Handelns kon‐ frontiert sieht, hegt Aias, wie die Verse 386 ff. zeigen, immer noch konkrete Rachegedanken: Die Anrufung des Göttervaters in Vers 387 eröffnet die Frage, wie Aias nach vollbrachter Tötung seiner Gegner (ὀλέσσας v. 390) schließlich den eigenen Tod finden könne (πῶς […] τέλος θάνοιμι καὐτός v. 391). Das dritte Strophenpaar konzentriert sich daraufhin ganz auf die bereits evo‐ zierte Todesthematik. Aias ruft die Unterwelt an, ihn als Bewohner aufzu‐ nehmen (v. 396 f.), da er selbst nicht mehr würdig sei, Götter oder Menschen zu sehen. Ihn martere die „wehrhafte Tochter des Zeus“, d. h. Athene; zudem be‐ stehe die Möglichkeit, dass das ganze, von den beiden Atriden geführte (δίπαλτος) Heer ihn auf Grund seiner entehrenden Tat töte (v. 408 f.). Die dritte Gegenstrophe schließlich stellt die Apostrophierung der unmittel‐ baren Umgegend des Handlungsraums dar: Aias bekundet in direkter Ansprache an die Natur, dass diese ihn bereits lange Zeit vor Troia festgehalten habe, er allerdings schon jetzt nicht mehr er selbst sei und kein „Atmen“ mehr besitze (οὐκέτʼ ἀμπνοὰς ἔχοντα v. 416 f.), d. h. nun bereits eigentlich nicht mehr lebe. Ein erneuter Anruf des Skamander wandelt den Gedanken daraufhin leicht ab: 2. Aias 193 <?page no="194"?> 208 Vgl. S T A N F O R D (1963) S. 114: „[…] this intensifying use of οὐ μή with aorist subjunc‐ tive […]‚no, no longer shall you look upon …‘“. 209 Für P O P P (1971) ist die vorliegende Szene geradezu ein Paradebeispiel des von ihm sogenannten „Pathos-Amoibaion“ (S. 255 ff.), das er gegen das „Aktionsamoibaion“ (S. 253 ff.) abgrenzt. Als ein Hauptmerkmal des „Pathos-Amoibaions“ führt er zudem S. 257 an: „Der lyrische Part gehört notwendig dem Helden“. 210 Geradezu programmatisch der Bezug von K A M E R B E E K (1953) S. 88 auf Wilamowitz ad locum: „U. v. Wilamowitz (Vsk. 503 n. I) is right in saying that such a hackneyed thought needs no comment“. Unter keinen Umständen 208 werde der apostrophierte Fluss „diesen Mann“ (ἄνδρα τόνδʼ v. 420 f.), d. h. Aias mehr lebend sehen - Aias, der mit keinem der übrigen Griechen vor Troia verglichen werden konnte. Nun aber, so sein hoff‐ nungsloses Fazit, sei er vor aller Augen solchermaßen entehrt (ἄτιμος ὧδε πρόκειμαι v. 426 f.). Die gedankliche Entwicklung der Partie schlägt einen motivischen Bogen, der alle bisher thematisierten Aspekte des Dramas aufnimmt und aus der Sicht des Protagonisten einem Ziel zuführt. Dabei werden die einzelnen Themen und Motive nicht der Reihe nach abgehandelt, sondern durch Wiederaufnahmen und Parallelen zu einem umfangreichen Panorama verknüpft: Während die erste Strophe vor allem als Bündelung der Aufmerksamkeit auf den Protagonisten und seinen Auftritt fungiert, entfaltet bereits die erste Gegenstrophe das viru‐ lente Todesmotiv (v. 361), das in der zweiten Gegenstrophe wiederholt wird (v. 391) und in der Anrufung der Unterwelt (v. 393 ff.) sowie den Versicherungen gegenüber der Natur (v. 416 ff.) innerhalb des dritten Strophenpaares seine Klimax erfährt. Solchermaßen gerahmt bildet die Kontrastierung der heroischen Vergangenheit gegenüber der ehrlosen Gegenwart den Gegenstand der zweiten Strophe, die Auseinandersetzung mit den Gegnern den der entsprechenden Ge‐ genstrophe. Beide Motive klingen daraufhin im dritten Strophenpaar erneut an (v. 423 ff. sowie 408 und 420). Dabei obliegt die motivisch-thematische Arbeit innerhalb der Partie ganz dem Protagonisten. 209 Gegenüber den lyrischen Äußerungen des Aias sind die Kom‐ mentare und kurzen Antworten des Chors und Tekmessas von völlig unterge‐ ordneter Bedeutung: Die Versicherung an Tekmessa, „im Übermaß Zutref‐ fendes“ vorhergesagt zu haben (v. 354 f.), legt Zeugnis von der Überraschung des Chors ab, bleibt aber darüber hinaus wenig konkret; die Mahnungen an Aias, nicht durch weiteres Übel das bisher eingetretene zu vergrößern (v. 362 f.) bzw. sich seines Verstandes zu bedienen (v. 371), sind formal und inhaltlich konven‐ tionell, wohingegen sich die Einwürfe in den Versen 377 f. 210 und 383 als geradezu nichtssagend erweisen. Die Schlussverse des Chors (v. 428 f.) verbalisieren zwar sinnfällig die Ratlosigkeit der Schiffsleute, entbehren sonst allerdings jeder spe‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 194 <?page no="195"?> 211 Vgl. K A M E R B E E K (1953) S. 89: „All words spoken to Aias lose their effect on him. He is caught in the consciousness of his tainted honour and is implacable“. 212 Vgl. P O P P (1971) S. 256 f.: „Der Leidende hört in diesen Zwischenbemerkungen die Ab‐ lehnung, die ihn der Vereinsamung ausliefert; im übrigen ignoriert er sie: die Dialogi‐ sierung der Form hebt also gerade hervor, daß es sich wesensmäßig um einen Monolog handelt“. zifischen Konnotation. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusam‐ menhang einzig die im eigentlichen Sinne sympathische Bemerkung Tekmessas, die in Vers 393 f. ihrer tiefen Verbundenheit mit Aias Ausdruck verleiht und angibt, sich im Falle seines Todes den eigenen Tod zu wünschen. Das Todesmotiv als prägender thematischer Grundton der gesamten Partie wird hier in der Äu‐ ßerung der zentralen Nebenrolle gespiegelt. Dass die Einwürfe weiterhin auf Aias keinen Einfluss haben, er vielmehr unbeirrt mit seinen Ausführungen fort‐ fährt, 211 ist sinnfälliger Ausdruck der geradezu monologischen Gesprächs‐ struktur der Partie. 212 Tekmessa und der Chor sind so zwar am Amoibaion beteiligt, vertreten aber keine besonders profilierte eigene Position, die es erlauben würde, von ihnen als wirklichen Mitspielern zu sprechen. Sie sind vielmehr im Wesentlichen Folie und Resonanzboden der Emotionalität des Protagonisten; gerade die teilweise nichtssagenden Aussagen des Chors gehorchen dabei ausschließlich dramatur‐ gischen Maßgaben. Anders gesagt: Während der Chor in der Parodos seine de‐ zidiert eigene Ausdeutung der Lage gab, sich dabei im Verhältnis zu Aias posi‐ tionierte und so eine eigene Stellung zum Geschehen einnahm, befindet er sich an unserer Stelle nunmehr ausschließlich in dramaturgischer Abhängigkeit vom Protagonisten und etabliert keine eigene Sicht der Dinge. Machen wir uns also zusammenfassend klar: Sophokles gestaltet die vorliegende Partie als besonders effektgeladene und emotionsreiche Szene, die in geschickter Umkehrung formaler Prinzipien den Haupthelden in den Fokus der Aufmerk‐ samkeit stellt: Ausdeuter der Situation ist dabei Aias selbst, dem Tekmessa und der Chor als Resonanzboden seiner Äußerungen gegenübergestellt sind. Dass gerade ihm dabei die lyrischen Verse zukommen, er im letzten Abschnitt der Partie zudem fast ungestört singt und sich auch trotz der Einwürfe kein wirkli‐ 2. Aias 195 <?page no="196"?> 213 Dass der sophokleische Aias als wehrfähiger, „athenischer“ Held, dem in der vorlie‐ genden Partie umfangreiche Singverse zukommen, im Rahmen der uns überlieferten Tragödien eine gewisse Sonderstellung einnimmt, bemerkt H A L L (1999), wenn sie S. 121 zugesteht: „Besides Sophoclesʼ Ajax, Athenian men tend not to sing […]“. Vgl. ihre Be‐ merkungen zur „Ausnahmesituation“ des Sophokles hinsichtlich des Einsatzes lyrischer Partien von Akteuren S. 112: „It is a distinctive and remarkable feature of Sophoclean heroic protagonists that they sing lyrics when in physical pain or extreme emotional turmoil, apparently regardless of gender. […] But Aeschylean and Euripidean singers are generally the‘othersʼ of the free Greek man in his prime“. Die besondere Wirkmacht der vorliegenden Passage hebt sich vor dem Hintergrund der bei den anderen Tragikern beobachteten Zurückhaltung, ihre männlichen Heroen singen zu lassen, besonders ab. Angesichts dieser „Sonderstellung“ des Sophokles und dem generellen Überlieferungs‐ stand sollte man darüber hinaus mit Generalisierungen zur soziokulturellen Differen‐ zierung gewisser innerdramatischer Formen in der attischen Tragödie des fünften Jahr‐ hunderts sehr vorsichtig sein. cher Austausch zwischen den Beteiligten entwickelt, ist eine besonders wir‐ kungsvolle Verkehrung möglicher Erwartungen. 213 Welche dramaturgische Funktion nimmt diese Passage im Ablauf der Tra‐ gödie ein? Der analysierte Klagegesang inszeniert den ersten Auftritt des Haupt‐ helden, nachdem er aus seinem Wahn erwacht ist, als besonders effektvollen und emotionsgeladenen Moment. Die Schiffsmannschaft sieht sich nun mit ihrem Herrn konfrontiert, der von Anfang an den Mittelpunkt ihrer Reflexionen ausgemacht hatte. Betrachten wir den stetig ansteigenden Grad an Pathos in den vorangegangenen lyrischen Partien, so erscheint unsere Passage geradezu als Gipfel einer auf dieses Ziel hin komponierten Bewegung. Mit dem erneuten Auftritt des Aias schließt so ein erster dramaturgischer Großabschnitt, der von der Sorge des Chors und der schrittweisen Aufdeckung der Geschehnisse be‐ stimmt war. Auch inhaltlich greift der Wechselgesang, wie bereits gesehen, die Themen und Aspekte des vorangegangenen Abschnitts auf und führt sie in der direkten Auseinandersetzung mit dem Haupthelden und seinen eigenen Äuße‐ rungen einem (vorläufigen) Abschluss entgegen. Indem der Dichter so in der Person des Aias alle thematischen und motivischen Fäden zusammenführt, macht er die zentrale Stellung des Haupthelden innerhalb des dramatischen Geschehens und der dramaturgischen Komposition unmissverständlich deut‐ lich: Erst seine Erscheinung bündelt alle vorangegangenen Reflexionen und stößt die eigentliche Handlung erneut an. Ins Auge fällt bei der dramaturgischen Eingliederung des Kommos in das Ganze des Dramas ein weiterer Aspekt: Das erste Epeisodion erstreckt sich vom Ende der Parodos (v. 201) bis zum Beginn des ersten Standliedes (v. 596) über annähernd 400 Verse und erreicht so eine gewaltige Ausdehnung. Der analy‐ sierte Kommos nimmt innerhalb dieses Epeisodions die Mitte ein und trennt I. Chöre wehrfähiger Männer 196 <?page no="197"?> 214 Wie Sophokles seinen Aias dabei auf der Folie der homerischen Schilderung vom Ab‐ schied Hektors (Ilias 6, 369 ff.) geradezu als einen Anti-Hektor in Szene setzt, führt W I N N I N G T O N -I N G R A M (1980) S. 16 ff. aus. sowohl formal durch den Auftritt eines weiteren Schauspielers als auch thema‐ tisch zwei ähnlich lange Abschnitte (v. 201-347: 146 Verse sowie v. 430-595: 165 Verse). Das erste Epeisodion erreicht so im Auftritt des Aias und seiner ly‐ rischen Auseinandersetzung mit Tekmessa und dem Chor sein thematisches Zentrum, das wiederum selbst die Überleitung zum folgenden Abschnitt dar‐ stellt. Der umfangreiche Kommos erfüllt damit in gewisser Weise die Funktion eines Stasimons, indem er Vorhergegangenes abschließt und das Kommende einleitet. Die geschickte Komposition des Dichters ermöglicht es, den Übergang zu einem neuen dramaturgischen Großabschnitt - der mit dem Selbstmord des Protagonisten enden wird - in thematischer und formaler Stringenz mit dem Vorangegangenen zu verbinden. Gerade die virulente Todesthematik der bei‐ nahe solistischen Äußerungen des fest entschlossenen Protagonisten im dritten Strophenpaar entfalten eine ungeheure dramaturgische Sogwirkung. Sie lassen den antiken, mit dem Mythos vertrauten Rezipienten den Tod des Aias bereits antizipieren. Dass allerdings nach dem Prolog und der Vorführung des wahn‐ sinnigen Helden sowie seinem zweiten, von emotionaler Klage und Pathos be‐ stimmten Auftritt inmitten des von ihm angerichteten Blutbades eine dritte drastische und bildgewaltige Szene den Selbstmord des Protagonisten insze‐ nieren wird, ist einem mit den Bühnenkonventionen seiner Zeit vertrauten Publikum noch nicht bewusst. Mit unserem Kommos erreicht so das Stück seinen vorläufigen und aus Sicht des Rezipienten nicht zu überbietenden Hö‐ hepunkt an drastischer Bühnenwirkung. Nicht so ausführlich soll der folgende Teil des ersten Epeisodions (v. 430-595) untersucht werden. 214 Formal gliedert sich die Szene in drei ausgedehnte Mo‐ nologe (Aias v. 430-480, Tekmessa v. 485-524 und wiederum Aias v. 545-582), wobei sich zunächst eine stichomythische Partie (v. 525-544), schließlich eine teils antilabische Passage anschließt (v. 591-595). Dem Chor fällt dabei nur eine moderierende Rolle zu; seine Äußerungen beschränken sich - ähnlich wie im Kommos - auf abwehrende oder zur Vernunft rufende Einwürfe (v. 481-484; 525 f. und 583 f.). Das Publikum wird dabei im Lauf der Szene Zeuge, wie Aias nach einem Ausweg aus seiner entehrenden Lage sucht, den eigenen Tod in Erwägung zieht und schließlich die ersten Vorbereitungen seines bevorstehenden Selbstmords trifft. Es ist hier nicht der Ort, in den Monologen des Aias nach den Beweisen 2. Aias 197 <?page no="198"?> 215 Im Besonderen v. 475-480 sowie K A M E R B E E K s (1953) Einschätzung zu v. 479 f. S. 105: „The sentence is an admirable instance of concise directness“. seiner festen Entschlossenheit zu suchen. 215 Bereits die Aussagen des Haupt‐ helden im Kommos (vgl. v. a. drittes Strophenpaar) haben meines Erachtens deutlich gezeigt, dass Aias seinen eigenen Tod fest vor Augen hat. Seine Aus‐ führungen im zweiten Teil des ersten Epeisodions wirken demgegenüber gera‐ dezu als in ihrer Emotionalität gedrosselte Rekapitulation des bereits erreichten Zustands unumstößlicher Gewissheit. Die emotionale Szene, in deren Verlauf Eurysakes auf Aiasʼ eigenes Geheiß mit den Taten des Vaters konfrontiert wird (v. 545 ff.) und der Protagonist im Folgenden jede Nachfrage nach seinen Plänen schroff zurückweist (v. 586), er‐ hält so ihre dramatische Spannung aus einem Ungleichgewicht: Während dem Publikum - bald aus Kenntnis des Mythos, bald aus den Äußerungen des Prot‐ agonisten selbst - der bevorstehende Tod des Aias bereits vor Augen steht, ent‐ zieht sich diese Aussicht dem Erfahrungshorizont der anderen am dramatischen Geschehen Beteiligten völlig: Weder für Tekmessa noch für den Chor ist ein Selbstmord des Helden denkbar. So stehen in einer ähnlichen Situation wie nach dem Prolog unwissende und rätselnde Personen einem informierten Publikum gegenüber. Das lange erste Epeisodion schließt mit der nach Fortsetzung drängenden Entschlossenheit des Protagonisten, durch dessen Andeutungen zu Tod und Selbstmord die Handlung wieder in Gang gekommen ist. Zum zweiten Mal nach dem Prolog herrscht unter den Angehörigen des Aias sorgenvolle Ungewissheit über das weitere Schicksal des Helden, nachdem sich die anfängliche Spannung durch den emotionalen und drastischen Auftritt des Haupthelden gelöst hatte. Mit der noch wirkmächtigeren Abfolge von zweitem Stasimon (v. 693-718), sorgenvollem Gespräch zwischen dem Boten, Tekmessa und dem Chor (v. 719-814) sowie dem Wiederauftritt des Chors nach dem Selbstmord des Aias (v. 866-960) wird auch dieser Spannungsbogen sein Ende finden. Erstes Stasimon (v. 596 - 645) Aiasʼ sehr rabiater Vorwurf gegenüber seiner Frau bildet den Schluss des ersten Epeisodions (v. 594b f.): Sie scheine ihm Törichtes (μῶρα) zu denken, wenn sie glaube, sein eigenes Wesen (ἦθος) noch erziehen zu können. Solchermaßen zu‐ rechtgewiesen verlässt Tekmessa samt ihrem Sohn die Bühne; auch Aias tritt ab, bevor der Chor das erste Stasimon anstimmt. Im Folgenden sollen zunächst die Gedankenbewegung dieses Liedes, seine unmittelbare Einordnung in den I. Chöre wehrfähiger Männer 198 <?page no="199"?> 216 S T A N F O R D (1963) S. 136 weist zu Recht auf den angesichts des attischen Publikums be‐ wusst lancierten Anachronismus hin, den eine Nennung der Insel Salamis im Wissen um ihre Bedeutung in den Perserkriegen beinhaltet. 217 Neben ἁλίπλακτος ist auch ἁλίπλαγκτος überliefert; hinsichtlich des für unsere Zwecke marginalen Bedeutungsunterschieds sowie der genauen Überlieferungssitua‐ tion vgl. K A M E R B E E K (1953) ad locum S. 127 f. 218 Die von K A M E R B E E K (1953) S . 128 gegebene Erklärung „it denotes the conspicuous position of the island“ wirkt zunächst etwas blass. Sieht man allerdings in der Nennung der Insel die erste von drei, die Periode gliedernden (quasi-)topographischen Angaben, so kontrastiert περίφαντος inhaltlich mit ἀΐδηλος (v. 607); siehe unten. 219 Der Passus (im Besonderen v. 601) ist überlieferungstechnisch zutiefst verderbt und nicht zu heilen; L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) klassifizieren ihn als locus desperatus und setzen Vers 601 in cruces. Der Sinn der Aussage ist zwar verständlich, eine genaue (Nach-)Konstruktion des Textbestandes bleibt allerdings unmöglich. Handlungsverlauf sowie seine Wirkung auf die Rezipienten und damit seine dramaturgische Funktionalisierung untersucht werden. Scheinbar der Situation enthoben beginnen die Choreuten mit einem Anruf ihrer Heimatinsel Salamis, deren Apostrophierung als „berühmt“, 216 „vom Meer gepeitscht“ (ἁλίπλακτος 217 ), „glückselig“ (εὐδαίμων) und „allen sichtbare“ (περίφαντος 218 ) sogleich kontrastiv der gegenwärtigen Lage der Schiffsmann‐ schaft gegenübergestellt wird: Seit einer unzählbaren Anzahl von Monaten, so die Klage der Schiffsleute, lagerten sie hier am Idagebirge 219 und würden durch die Zeit geradezu aufgerieben (χρόνῳ τρυχόμενος v. 605). Ein die Situation be‐ sonders belastendes Moment verbalisiert der Chor mit der in Vers 606 f. ange‐ schlossenen Partizipialkonstruktion: Die Choreuten bekunden, Angst vor Hades zu haben, der sie möglicherweise vernichten werde (ἀνύσειν v. 607). Zwei ineinander verwobene Kontrastierungen gliedern dabei die Periode, die die ganze erste Strophe umfasst: Zum einen ist dem die Insel Salamis apostro‐ phierenden σὺ μέν (v. 596) das ἐγὼ δʼ aus Vers 600 entgegengestellt. Die durch die Personalisierung der Insel erreichte Kontrastierung der Heimat des Chors gegenüber seinem momentanen Aufenthaltsort setzt die Entfremdung der sa‐ laminischen Schiffsleute besonders deutlich in Szene. Zum anderen um‐ schließen die beiden (quasi-)topographischen Pole die Gedankenbewegung: So stehen sich das als ungenau lokalisierte (που) und damit besonders fern imagi‐ nierte, zugleich positiv konnotierte Idealbild der Heimat (κλεινὰ Σαλαμίς) sowie das als „abgeschieden“ und „unsichtbar“ bezeichnete Totenreich (ἀπότροπον ἀΐδηλον ᾍδαν v. 608) gegenüber; in der Mitte findet mit ἀνʼ Ἴδαν λειμῶνι die gegenwärtige Position der Sprecher Erwähnung. Dieser Topographie implizit eingeschrieben ist ein zeitliches Panorama, das mit Salamis die positiv konno‐ tierte Vergangenheit, mit Ida die aufreibende Gegenwart, schließlich mit Hades den Ausblick in eine zutiefst negative Zukunft umfasst. Die erste Strophe de‐ 2. Aias 199 <?page no="200"?> 220 Zur genauen Bedeutung des der militärischen Fachsprache entnommenen ἔφεδρος ver‐ gleiche K A M E R B E E K (1953) ad locum S. 129 f. sowie LSJ s.v. 221 Vgl. den Gebrauch des vorliegenden Kompositums bei Hippokrates, Über den Arzt, 10, s. LSJ s.v. 222 K A M E R B E E K (1953) weist ad locum S. 130 zu Recht auf die begriffliche Spiegelung von θεῖα νόσος aus Vers 130 hin. monstriert so die Einordnung der im Drama gegebenen räumlichen und zeitli‐ chen Situation aus der angstvollen Sicht des Chors und entwirft mit dem in Erwägung gezogenen eigenen Tod der Soldaten eine düstere Perspektive. Den Anschluss an die Gegenstrophe, die die gegenwärtige Lage thematisiert, bildet ein einfach anreihendes καί (v. 609 f.): Ihm, dem Chor, sei der „schwer zu behandelnde“ (δυσθεράπευτος) Aias als „Beisitzer / Kampfesgenosse“ 220 beige‐ sellt. Damit ist das Lied gedanklich bei Aias als seinem Zentralpunkt angelangt. Besonderes Augenmerk verdient dabei die Apostrophierung des Haupthelden als δυσθεράπευτος: Mit dem der medizinischen Fachsprache 221 entlehnten Ter‐ minus wird sowohl in einem engen Sinn die Unheilbarkeit seiner „Krankheit“ (vgl. die Einschätzung als νόσος v. 185), d. h. seines Wahns bezeichnet, als auch in einem übertragenen Sinn der Schroffheit seines Wesens Rechnung getragen: Er ist auch in dieser Hinsicht schwer zu behandeln. Nach dem Einschub einer Klageinterjektion (ὤμοι v. 610) entwirft der Chor seine Sicht auf die dem Leid des Helden zu Grunde liegende Ursache: Er wohne einer göttlichen Manie bei (θείᾳ μανίᾳ ξύναυλος v. 611). 222 Der folgende Rela‐ tivsatz setzt die direkte Apostrophierung der Heimatinsel fort: Hatte Salamis den Aias vormals (πρίν) als besonders kriegstüchtigen Helden (θουρίῳ κρατοῦντʼ ἐν Ἄρει v. 613 f.) ausgeschickt, so bedeute er nun für seine Freunde großes Leid (μέγα πένθος v. 615). Weiterhin seien die von ihm damals voll‐ brachten Taten größter heroischer Qualität (μεγίστας ἀρετᾶς) nun in der Wert‐ schätzung durch die Atriden gefallen, d. h. jeglicher Anerkennung beraubt. Mit der Kontrastierung πρὶν δή (v. 612) und νῦν δʼ (v. 614) fassen wir die zentrale Struktur der Periode bzw. der ganzen Gegenstrophe: Wieder ist die Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart das entscheidende Re‐ flexionsmoment. Dabei verdeutlicht im Besonderen der Tempusgebrauch die elaborierte Verwebung der einzelnen Zeitebenen: Beginnend mit einer Aussage über die Gegenwart (Präsens ξύνεστιν v. 610) wendet sich der Blick zunächst auf die Vergangenheit des Aias als eines Kriegshelden zu Beginn des troiani‐ schen Feldzugs (Aorist ἐξεπέμψω v. 613), konstatiert den momentanen Zustand als Folge vergangenen Tuns (Perfekt ηὕρηται v. 615 f.) und fokussiert daraufhin geradezu komplexiv die völlig veränderte Wertschätzung der Taten des Aias (Aorist ἔπεσε v. 620). Wie schon in der Strophe durchschreitet der Chor auch I. Chöre wehrfähiger Männer 200 <?page no="201"?> 223 Zur inhaltlich schwierigen Passage sowie der Unterscheidung der verschiedenen Kla‐ gearten vgl. S T A N F O R D (1963) S. 139 f. ad locum sowie L L O Y D -J O N E S (1985). „Sophocles, Ajax 624 f.“ in: Catalepton Festschrift für Bernhard Wyss zum 80. Geburtstag, hrsg. v. Christoph S C HÄU B L I N (1985), Basel, S. 16-18. Ich neige dazu, das gedoppelte αἴλινον v. 627 nicht als dritte Klageart, sondern als geradezu aus der Sicht der Mutter gesprochene Interjektion zu betrachten. 224 K A M E R B E E K (1953) ad locum S. 132. hier Vergangenheit und gegenwärtige Situation und schafft dabei ein besonders eindrückliches Panorama. Der Chor macht sich so das bereits von Aias selbst angewandte Deutungsmuster der Gegenüberstellung eines heroischen „Früher“ mit dem zutiefst widrigen „Jetzt“ (vgl. v.a. v. 364 ff.) zu eigen und verwebt es aus seiner Perspektive zudem mit einer topographischen Einordnung. Nach Ver‐ gangenheit und Gegenwart, wie sie die erste Gegenstrophe ausgedeutet hat, wird das zweite Strophenpaar im Anschluss daran eine konkrete Zukunftsaus‐ sicht entwerfen. Halten wir kurz fest: Das erste Strophenpaar hat in einer umfassenden Be‐ wegung ein besonders perspektivreiches Panorama der aktuellen Situation ge‐ liefert, wie sie sich für die Schiffsleute darstellt. Motivisches Zentrum war dabei einerseits der Ort der Handlung, das Kriegslager vor Troia, das in der Strophe vor der Folie der Heimatinsel Salamis sowie des Totenreiches beleuchtet wurde, zum anderen Aias selbst. Der Chor reflektiert so - trotz des zunächst dem un‐ mittelbaren Kontext enthoben scheinenden Beginns - den Kern der Handlung selbst: Ort und Hauptperson des Dramas stehen im Zentrum des Stasimons und bilden den Ausgangspunkt der Überlegungen des Chors. In einer detaillierten Schilderung imaginiert der Chor im Folgenden die mög‐ liche Reaktion der als Greisin vorgestellten Eriboia, der Mutter des Aias, auf die Kunde vom Wahnsinn ihres Sohnes: Nicht den Schrei einer klagenden Nachti‐ gall (οἰκτρᾶς γόον ὄρνιθος ἀηδοῦς v. 629) werde sie ausstoßen, sondern schrille Klagelieder anstimmen (ὀξυτόνους ᾠδάς), 223 durch Schläge auf die Brust dumpfe Töne von sich geben und sich das graue Haar raufen (v. 631 ff.). Dabei ist offen‐ sichtlich, dass das so imaginierte Trauerverhalten der Mutter zwar nur den Wahnsinn des Haupthelden zur Ursache hat (vgl. v. 325 f.), dennoch aber einer rituellen Totenklage gleicht. Diese Thematik nimmt der Beginn der folgenden Gegenstrophe auf: Aias, der „fruchtlos Krankende“ (ὁ νοσῶν μάταν v. 635), sei, so der Chor, besser im Hades verborgen. In einem Relativsatz fahren die Schiffsleute fort: Aias komme aus allerbester Familie, sei, wie K AME R B E E K 224 es formuliert, hinsichtlich seiner Her‐ kunft zwar keinem anderen Griechen unterlegen, nun allerdings nicht mehr im 2. Aias 201 <?page no="202"?> 225 Zum vielschichtigen Begriff ὀργή vgl. LSJ s.v. „natural impulse or propensity […] hence, temperament, disposition, mood“ sowie der Verweis auf die Junktur ἀστύνομοι ὀργαί „social dispositions“ Antigone v. 356, sowie K A M E R B E E K s Wiedergabe mit dem latei‐ nischen indoles (a. a. O.). 226 B U R T O N (1980) S. 25. Bereich seines durch Erziehung erworbenen Wesens (συντρόφοις ὀργαῖς 225 v. 639 f.), sondern bewege sich geradezu außerhalb desselben (ἀλλʼ ἐκτὸς ὁμιλεῖ v. 640). In Vers 641 wendet sich der Chor daraufhin direkt an Aiasʼ Vater, den er als τλᾶμον apostrophiert: Ein unerträgliches Unheil (δύσφορον ἄταν) warte da‐ rauf, von ihm in Erfahrung gebracht zu werden - ein Unheil, das kein Nach‐ komme des Aiakos bis auf den durch das wirkungsvoll an das Ende der Strophe gestellte Demonstrativum τοῦδε bezeichneten Aias je „genährt“ habe. Mit dieser die Imagination der klagenden Mutter aus der Strophe spiegelnden Fokussie‐ rung auf den Vater des Haupthelden schließt das Standlied; der Wiederauftritt des Protagonisten in Vers 646 eröffnet daraufhin das zweite Epeisodion. Einige Aspekte des Liedes sollen genauer untersucht werden. Der Chor meldet sich mit dem vorliegenden Stasimon nach einer langen gesprochenen Passage wieder zu Wort. Erneut steht Aias im Mittelpunkt der Überlegungen: Seine Tat, sein jetziger Zustand und sein Nachleben bzw. die Reaktion seiner engsten Fa‐ milienangehörigen bilden für die Schiffsmannschaft das gedankliche Zentrum ihrer Aussagen. Anders aber als in der Parodos oder dem Kommos mit Tekmessa ist der Chor jedoch hier nicht mehr auf Spekulationen oder die Informationen eines Dritten angewiesen, sondern durch eigene Augenzeugenschaft über den Zustand seines Herrn im Bilde. Dennoch stellt das Lied, wie B U R TON zu Recht festhält, keine Reaktion auf das unmittelbar Vorausgegangene dar: „There is no comment on Ajaxʼ bitter words or Tecmessaʼs appeals, no expression of hope that she may prevail upon him.“ 226 Die erste Strophe bildet thematisch gesehen einen Auftakt zum kommenden Panorama der Auswirkungen und möglichen Reaktionen auf die Tat des Aias. Im Zentrum der ersten Überlegungen stehen dabei die Choreuten selbst. Sie thematisieren betont individualisiert (ἐγώ v. 600) ihre eigene Lage und bedienen sich eines zeitlichen Schemas, indem sie die Vergangenheit auf der Insel Salamis vor dem Krieg, die jetzige Situation vor Troia sowie die drohende Zukunft im Hades gegeneinander absetzen. Dieser Beginn des Standliedes ist zunächst im unmittelbaren Zusammenhang des Dramas überraschend und lässt den Rezipi‐ enten aufhorchen. Statt nämlich eine Kommentierung des eben von Aias an den Tag gelegten Verhaltens zu liefern, nimmt der Chor Bezug auf seine im Kommos mit Tekmessa bereits thematisierte Angst vor dem Tod (v. 227 und 253 ff.). An‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 202 <?page no="203"?> 227 Dabei stehen σὺ μέν … ναίεις (Salamis) und ἐγὼ δʼ … εὐνῶμαι gerade durch ihre Gleich‐ zeitigkeit in einem besonders kontrastiven Verhältnis zueinander, das dem zunächst allgemein-überzeitlichen ναίεις eine doch konkrete und eben als Negativfolie fassbare Dimension verleiht. ders gesagt: Sophokles beginnt dieses Standlied nicht - wie noch die Parodos - mit einem sich direkt aus der Bühnenhandlung ergebenden Gegenstand. War dort der Protagonist vom ersten Wort an Gegenstand der Äußerungen, erfolgt hier nun die explizite Thematisierung des Protagonisten erst zu Beginn der ersten Gegenstrophe, in der Aiasʼ Anwesenheit als besonders negatives Moment der ohnehin schwierigen Situation eingeführt wird. Das Phänomen „Aias“ bildet dabei zwar das zentrale Moment, um das die Gedanken der Choreuten kreisen und auf das die Schilderung der Situation in der ersten Strophe hinausläuft, den Eingang des Liedes hat der Dichter allerdings bewusst anders gestaltet. Ist je‐ doch mit Vers 609 das Zentralthema einmal erreicht, wird es bis zum Ende des Stasimons nicht wieder verlassen. Den thematischen Höhepunkt des Liedes stellt der Beginn der zweiten Gegenstrophe (v. 635) dar: Ohne es zu ahnen, deutet der Chor an dieser Stelle den Fortgang der Handlung an und nimmt so aus der Perspektive des wissenden Zuschauers und Lesers in tragischer Ironie die kommenden Ereignisse bereits vorweg. Hinsichtlich der behandelten Thematik und Motivik unterscheiden sich die beiden Strophenpaare signifikant voneinander: Bildete im ersten Teil des Stasi‐ mons die konkrete Situation der Choreuten den Ausgangspunkt, ihr Verhältnis zu Aias sowie dessen Lage genauer zu bestimmen, so wirft das zweite Stro‐ phenpaar einen Blick in eine andere Sphäre, die vom momentanen Aufent‐ haltsort der Schiffsleute bereits topographisch sowie hinsichtlich des vom Chor imaginierten Personals verschieden ist. Dass darüber hinaus das zweite Stro‐ phenpaar eine ganz andere Zeit thematisiert, zeigt ein Blick auf den Tempus‐ gebrauch. Den ersten Teil des Standliedes prägt die Kontrastierung von Ver‐ gangenheit und dramatischer Gegenwart: Während das von Salamis gesagte Präsens ναίεις noch fast außerzeitlich-allgemeingültigen Charakter hat, be‐ zeichnen die weiteren (Perfekto-)Präsentien dezidiert die konkret fassbare Si‐ tuation vor Ort (εὐνῶμαι (v. 604 f.), ξύνεστιν (v. 610), ηὕρηται (v. 616)), der in der Gegenstrophe die Vergangenheit gegenübergestellt wird. 227 Einzig die Aussicht, vor Troia zu sterben (Infinitiv Futur ἀνύσειν abhängig vom Partizip ἔχων v. 606 f.), eröffnet dabei eine futurische Perspektive. Die Imaginationen des zweiten Strophenpaars werfen dagegen teils dezidiert, teils implizit einen Blick 2. Aias 203 <?page no="204"?> 228 L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) folgen gegen die einhellige Überlieferung ἥσει (so noch P E A R S O N (1924), außerdem K A M E R B E E K (1953) und S T A N F O R D (1963)) hier der Konjektur von Reiske und setzen σχήσει in ihren Text. Neben der Überlieferungssituation spricht zudem die Parallele in Aiasʼ Todesmonolog v. 851 für die Beibehaltung von ἥσει. in die Zukunft: Den futurischen Hauptsatzprädikaten (σχήσει/ ἥσει 228 v. 630, θρηνήσει v. 632) der einen prospektiven Temporalsatz (ὅταν ἀκούσῃ v. 626) umfassenden Periode entspricht zu einem gewissen Grad μένει v. 642, das eben‐ falls eine in der Zukunft liegende Handlung bzw. das sich in der Zukunft ver‐ wirklichende Potential bezeichnet. Der Konzentration auf das dramatische Hier und Jetzt, wie es im Besonderen die erste Strophe geprägt hatte, ist so die Ima‐ gination einer unbestimmten, allerdings in greifbarer Nähe zu verortenden Zu‐ kunft entgegengestellt, die durch die tragische Ironie für den um den Mythos wissenden Rezipienten mit besonderer Brisanz angereichert wird. Anders ge‐ sagt: Stellen für den Chor die Klage der Mutter und des Vaters Ereignisse einer nicht weiter spezifizierten Zukunft dar, antizipieren die Rezipienten, dass sich die Imagination der rituellen Totenklage geradezu als Vorausdeutung der tat‐ sächlichen Geschehnisse erweisen wird. Mit der Thematisierung bzw. Anrufung der Eltern des Aias erweitert der Chor also gedanklich den Personenkreis und ordnet das aktuelle Geschehen sowie die Hauptfigur selbst in einen Kontext ein, der auch eine (wenn auch imaginative) Zukunftsaussicht bietet und so das unmittelbare Bühnengeschehen etwas über‐ steigt. Dabei wirkt in der ausgreifenden Imagination von Vater (Telamon) und Mutter (Eriboia) freilich die Thematisierung der eigenen Familie im letzten Mo‐ nolog des Protagonisten nach (v. 565 ff.): Dort hatte Aias den Chor aufgefordert, Teukros nach dessen Eintreffen an die Sorge um seinen Neffen Eurysakes zu erinnern; diesen solle er in die Heimat bringen, damit er sich dort um Aiasʼ Eltern kümmern könne (γένηται γηροβοσκός v. 570). In der Wiederaufnahme dieser Familienthematik, die in der Apostrophierung von Eriboia und Telamon gipfelt, setzt der Chor so die von Aias insinuierte Szenerie fort. Auch wenn sich der Fokus der chorischen Reflexion dabei von der Bühnensituation als solcher ent‐ fernt, bleibt der wesentliche Bezug zur Handlung und ihrem Zentralpunkt, d. h. zu Aias gewahrt: Nach dem detailreichen Blick auf die Gegebenheiten, mit denen sich die Schiffsleute als mit Aias eng Verbundene konfrontiert sehen, erfolgt die ebenfalls detaillierte Fokussierung auf einen anderen Bereich, in dem sich eben‐ falls Angehörige des Haupthelden mit seiner Person und seinem Tun konfron‐ tiert sehen und darauf reagieren müssen. Die im zweiten Strophenpaar imagi‐ nierte Szenerie bietet rein strukturell so geradezu die Verdoppelung der aktuellen Bühnensituation unter Veränderung des Personals (Eltern statt Frau und Freunde) sowie einer dadurch bedingten Intensivierung der Emotionalität. I. Chöre wehrfähiger Männer 204 <?page no="205"?> 229 Vgl. W I N N I N G T O N -I N G R A M (1980) S. 36: „In both stanzas the Chorus attempt a lyric description of the diseased state of the hero’s mind; in both he is seen as having placed himself outside a certain range“. Gerade in dieser Perspektivverschiebung des zweiten Strophenpaars entfaltet das Stasimon dabei seine dramaturgische Fernwirkung, indem es mit der Zu‐ spitzung des ohnehin prominenten Todesmotivs das kommende Geschehen an‐ deutet. Die dabei eingeflochtene familiäre Dimension dient zudem der Wiederauf‐ nahme und Steigerung der Charakterisierung des Protagonisten. Die zweite Gegenstrophe legt besonderen Wert auf die Sonderstellung, die Aias gegenüber seiner Familie und seiner Sozialisation einnimmt: In der prägnanten Formulie‐ rung ἀλλʼ ἐκτὸς ὁμιλεῖ (v. 640) sowie dem Schlussgedanken der zweiten Ge‐ genstrophe (v. 644 f.) ist Aiasʼ Singularität besonders unterstrichen. Waren bisher aus Sicht des Chors die herausragende heroische Größe und Kriegstüchtigkeit des Haupthelden die entscheidenden Distinktionsmerkmale, die Aias im Ver‐ gleich zu den anderen Griechen eine herausragende Position garantierten, so fügt das vorliegende Standlied dieser Charakterzeichnung eine weitere Facette hinzu: Auch aus dem Rahmen seiner Familie, seiner engsten Umgebung fällt Aias heraus. 229 Vergegenwärtigen wir uns darüber hinaus noch folgendes formale Moment, bevor wir abschließend die dramaturgische Funktion des Stasimons zu um‐ reißen versuchen: Mit der Beschreibung der Mutter des Aias entwirft der Chor nach den ausgedehnten Kommoi des vergangenen Epeisodions das Bild einer sich im Klagegesang ergehenden Frau; mit dem Ausruf αἴλινον αἴλινον v. 627 leihen die Choreuten der imaginierten Gestalt dabei geradezu ihre Stimme und bringen die vorweggenommene Totenklage auf die Bühne. Die Emotionalität der kommatischen Passagen wirkt hier im Chorlied nach: Kein ruhiges Abwägen der gegenwärtigen Lage, kein Panoptikum der Geschehnisse, sondern der prä‐ sente Eindruck imaginierter Stimmungen leitet den Chor in seinen Reflexionen. Selbst die Überlegung, der Tod des Aias sei für alle Beteiligten vorteilhafter (v. 635 ff.), überdeckt nur kurz und scheinbar rational die ungeheure Emotionalität, die sich gleich darauf im Anruf des Telamon Bahn bricht (v. 641 ff.). Abschließend soll Folgendes festgehalten werden: Das Chorlied verdichtet die emotionale Stimmung des Vorhergegangenen, fokussiert den Blick zunächst dezidiert auf die aktuelle Situation, die aus Sicht der Choreuten eine umfassende Ausdeutung erhält, und lenkt die Aufmerksamkeit schließlich auf das Kom‐ mende, indem es die durch den Protagonisten etablierte Todesmotivik in einer ausgreifenden Imagination verarbeitet. Als besonders wirkungsvoll erweist sich 2. Aias 205 <?page no="206"?> 230 Einen generellen Überblick über die Forschungsmeinungen gibt R O S E N B L O O M (2014) S. 1259 f., der im Besonderen die in jüngster Zeit erwachsene Behandlung „metatheat‐ ralischer“ Aspekte dieser Partie auflistet. Ich verweise darüber hinaus noch auf P A R L A‐ V A N T Z A -F R I E D R I C H (1969). Täuschungsszenen in den Tragödien des Sophokles, Berlin, S. 16-24; F U C H S (1993). Pseudologia ΨΕΥΔΟΛΟΓΙΑ: Formen und Funktionen fiktio‐ naler Trugrede in der griechischen Literatur der Antike, Heidelberg, S. 76-80, die kon‐ zise Übersicht der verschiedenen Lehrmeinungen bei G A R V I E (1998). Sophocles Ajax edited with introduction, translation and commentary, Warminster, S. 184-186; sowie die explizit diesem Abschnitt des Dramas gewidmete Appendix D bei S T A N F O R D (1963) S. 281-288. dabei die Kontrastierung der beiden Strophenpaare, die sich hinsichtlich ihres imaginierenden Reflexionszugangs entsprechen, dabei allerdings zwei verschie‐ dene Situationen in den Blick nehmen. Gerade mit der Erweiterung der perso‐ nalen, räumlichen und zeitlichen Perspektive, wie sie das zweite Strophenpaar vornimmt, geht zugleich eine Intensivierung der zentralen Motivik sowie der Emotionalisierung einher, die darüber hinaus den Fortgang des Stücks in den Blick nimmt. Die scheinbare Digression erweist sich so als tragisch-ironische Vorwegnahme des Kommenden, wobei die Imagination der Wehklage in der zweiten Strophe eine formale Reminiszenz an die vorhergehenden Amoibaia bietet. Machen wir uns zudem bewusst: Mit Aiasʼ Abtritt ist die Handlung zu einem abrupten Ruhepunkt gelangt; das eigentliche Geschehen wirkt geradezu einge‐ froren. Da das Zwiegespräch zwischen Aias und Tekmessa keine Lösung des die Situation bestimmenden Konflikts herbeigeführt hat, wird erst Aiasʼ entschie‐ denes Handeln, d. h. sein Selbstmord, die eigentliche Handlung weiterführen. Das in diese Pause des dramatischen Fortschritts eingesetzte Stasimon ver‐ dichtet die spannungsvolle Bühnensituation und führt sie - freilich in tra‐ gisch-ironischer Brechung - einer Lösung zu, die zugleich den Fortgang der Handlung bereits vorwegnimmt. Zweites Stasimon (v. 693 - 718) Keine fünfzig Verse nach Ende des ersten Standliedes beginnt der Chor das zweite Standlied. Das gesamte zweite Epeisodion besteht dabei einzig aus einem Monolog des Haupthelden, der als sog. ‚Trugrede‘ des Aias ausgiebig in der Forschung behandelt wurde. Es ist in dieser Arbeit nicht der Ort, diese ohne Zweifel bedeutende und eindrückliche Passage ausgreifend zu analysieren; 230 einzig einige Aspekte sollen hier den Überblick verschaffen, der zur Einordnung des zweiten Standliedes nötig ist. Dass ich die Partie dabei als wirkliche Trugrede des Aias verstehe, der bewusst seinen wirklichen Plan, d. h. die Durchführung I. Chöre wehrfähiger Männer 206 <?page no="207"?> 231 Beim Vergleich der beiden gänzlich verschieden komponierten ersten beiden Epeisodia der vorliegenden Tragödie bleibt bei der Frage nach den Konstituenten eines Epeis‐ odions nur die aristotelische Antwort (Poetik 1452 b 20 f.): Was an Sprechversen zwi‐ schen zwei Liedern des Chors zu stehen kommt, ist ein Epeisodion. Aspekte wie die Länge der Szenen oder die Sprecherverteilung auf mehrere Personen spielen dabei keine Rolle. Einmal mehr ist auch an diesem Punkt offensichtlich, wie die gesamte Kompo‐ sition des Aias nicht auf eine möglichst ausgewogene Gestaltung einzelner Formteile und ihr Verhältnis zueinander abzielt, sondern ganz dem Inhalt untersteht und die Zentralstellung des Protagonisten zu unterstreichen sucht. 232 Möglicherweise geben Tekmessa und / oder der Chor ihrer Erleichterung angesichts der scheinbar glücklichen Wendung durch Gesten Ausdruck; zu Wort melden sie sich al‐ lerdings nicht. 233 Auf die Unübersetzbarkeit des als acc. respectus beigestellten στόμα weist K A M E R B E E K (1953) S. 135 ad locum hin: „It is the mouth of Ajax […] but at the same time the sharp edge of the sword to which he compares himself “. der Selbsttötung verschleiert, sei zum besseren Verständnis des Folgenden vo‐ rausgeschickt. Bereits die formale Komposition der Partie ist bemerkenswert: Nach dem überlangen, durch den Kommos zwischen Aias und dem Chor unterteilten ersten Epeisodion ist das zweite mit 47 Versen erstaunlich kurz. 231 Zu einem Dialog kommt es dabei nicht: Die von Aias angeredeten Personen (Tekmessa in Vers 684 ff. und der Chor in Vers 687) antworten nicht. 232 Aias verlässt die Bühne nach seinem Monolog; eine direkte Kommentierung durch Tekmessa unter‐ bleibt auch hier, sie tritt ebenfalls ab. Thematisches Zentrum des Monologs ist dabei der Gedanke der alles wan‐ delnden Zeit, die auch die festgefahrensten Positionen aufzuweichen im Stande ist. So beginnt Aias mit einer allgemeinen Aussage: Die Zeit bringe Dinge deut‐ lich hervor und verberge bereits Erschienenes wieder; nichts Unerwartetes gebe es, selbst der stärkste Eid und die sprödesten Entschlüsse würden von der Zeit gewendet. Auch er selbst sei, einem harten Stahl gleich, durch Tekmessa er‐ weicht worden (ἐθηλύνθην v. 651) 233 und empfinde Mitleid beim Gedanken daran, seine Frau als Witwe unter Feinden, seinen Knaben als Waise zurückzu‐ lassen. Nun aber werde er zum Strand gehen und dort durch sühnende Reini‐ gung seiner Schandtat (λύμαθʼ ἁγνίσας ἐμά) dem Zorn der Göttin entgehen. Er werde sein Schwert, die verhassteste seiner Waffen (ἔχθιστον βελῶν v. 658), dazu an einem unbetretenen Ort vergraben, wo es niemand außer die Nacht und Hades sehen könne (v. 660). Nach weiteren Ausführungen bezüglich der in Rede stehenden Waffe kommt Aias auf sein Verhältnis zu den Atriden zu sprechen, die zu achten er nun lernen werde (v. 667): Sie seien schließlich die Anführer und man habe ihnen zu gehorchen (ὑπεικτέον v. 668). Nach weiteren, zutiefst ambivalenten Äußerungen zur Natur von Freundschaft und Feindschaft, die 2. Aias 207 <?page no="208"?> 234 Auf eine detaillierte Auflistung und Ausleuchtung der ambivalenten Motive und Sprachbilder wird hier mit Verweis auf die bereits zitierte Literatur (vgl. S. 206, Anm. 230) verzichtet. 235 Anders B U R T O N (1980) S. 26 f.: „Although Ajax almost certainly does not intend to de‐ ceive either Tecmessa or his sailors about the decision to kill himself, Sophocles has worded his speech with such ambiguity of language that they are both completely de‐ luded“. ebenfalls der alles verändernden Zeit unterlägen (v. 678-683), ordnet Aias an‐ schließend seine Angelegenheiten und gibt Aufträge an Tekmessa und den Chor: Seine Frau solle ins Haus zurückgehen und die Götter bitten, er, Aias, möge das, was ihm am Herzen liege, zu Ende bringen; die Schiffsmannschaft solle Teukros, wenn er auftauche, bitten, für Aias zu sorgen und die Choreuten selbst mit Wohlwollen behandeln (v. 684 ff.). Mit der Ankündigung, er selbst gehe nun dorthin, wohin man gehen müsse (ὅποι πορευτέον v. 690), und der Beruhigung, seine Angehörigen sollten ihn als Geretteten wissen, verlässt Aias die Bühne, um seine Pläne umzusetzen. Der hier allenfalls rasch und keinesfalls erschöpfend überblickte Monolog des Haupthelden ist dabei ein Musterbeispiel ambivalenter Sprache und andeu‐ tungsvollen Verschleierns der eigentlichen Absicht. 234 Die bewusste Ambiguität der Aussagen macht meines Erachtens deutlich, dass dieses innerdramatische Missverstehen durch Aias intendiert ist, er also eine wirkliche Trugrede hält und die primären Adressaten seiner Worte - Tekmessa und den Chor - hin‐ sichtlich seines eigentlichen Plans absichtlich im Unklaren lässt. 235 Versuchen wir, die Situation vor dem zweiten Stasimon hinsichtlich ihrer dramaturgischen Implikationen zu charakterisieren. Gerade die im ersten Sta‐ simon vorgenommene Fokussierung der Todesthematik, wie sie bereits im Amoibaion zwischen Aias und dem Chor von Bedeutung gewesen war, hat un‐ zweifelhaft deutlich gemacht, dass der Tod des Protagonisten Gegenstand der vorliegenden Tragödie sein wird. Aiasʼ Monolog spielt nun in besonders subtiler Weise mit dieser teils auf mythologischem Vorwissen beruhenden, teils aus den vorherigen Partien gewonnenen Erwartungshaltung der Rezipienten. Die vom Haupthelden an den Tag gelegte Ambivalenz hinsichtlich seines weiteren Vor‐ gehens lässt sich dabei innerdramatisch gut begründen: Aias stellt mit der Ver‐ schleierung seiner wahren Intentionen sicher, dass er den Selbstmord ohne I. Chöre wehrfähiger Männer 208 <?page no="209"?> 236 Möglicherweise beweist Sophokles gerade mit der Zeichnung des im direkten Vorfeld seines eigenen Todes abgeklärt wirkenden, rational die Selbsttötung planenden Helden seine Beobachtungsgabe hinsichtlich psychologischer Beweggründe und Gegeben‐ heiten, wie sie im Besonderen bei Suizidenten anzutreffen sind (vgl. B R O N I S C H (2002). „Diagnostik von Suizidalität“ in: B R O N I S C H (2002). Psychotherapie der Suizidalität. Krankheitsmodelle und Therapiepraxis - störungsspezifisch und schulenübergreifend, Stuttgart, S. 9-15.; S. 14: „Vorsicht ist besonders dann geboten, wenn der Patient nach Suizidandeutungen […] ganz plötzlich, ohne dass sich Wesentliches in seinem Leben geändert hat, eine ‚unheimliche‘ Ruhe ausstrahlt“). Eine besondere psychologische Meisterschaft in Sophoklesʼ Zeichnung des Helden erkennt auch G A R L A N D (2014). „Sui‐ cide in Greek Tragedy.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy III, hrsg. v. R O I S M A N (2014), Malden (MA), S. 1377-1379, S. 1378: „It is Sophocles in the Ajax who not only demonstrates the fullest awareness of complex psychodynamic formulation that results in the decision to take one’s own life, but who also provides the most detailed discussion in surviving Greek tragedy of the consequences for others of an act of self-destruction“. 237 Dass Aias tatsächlich seine Meinung geändert haben könnte, von der Selbsttötung also absehen wolle (so K N O X (1964). The Heroic Temper: Studies in Sophoclean Tragedy, Berkeley and Los Angeles, M A R C H (1991). „Sophoclesʼ Ajax: the death and burial of a hero.“ in: BICS 38 (1991-3), S. 1-36, u. a.), erscheint aus vielerlei Gründen abwegig: Aias, der sich im kommenden Epeisodion das Leben nimmt, würde sich dann erneut ument‐ scheiden; die im Amoibaion zwischen ihm und dem Chor prominente Todesmotivik, ja seine Todessehnsucht, wie sie v. a. das dritte Strophenpaar verbalisierte, erschiene unter diesen Umständen völlig unglaubwürdig; schließlich wäre die Ambivalenz seiner Rede nicht als solche intendiert, was angesichts der geradezu gesuchten Zweideutigkeit mancher Passagen kaum glaubhaft ist. Vgl. K A M E R B E E K (1953) S. 138 zu Vers 660: „It should be imagined how strange this verse would be if Ajax were not speaking in an ambiguous manner“. Eine gewisse Sonderstellung nimmt B O W R A (1952). Sophoclean Tragedy, Oxford ein: Er geht davon aus, dass sich Aias auf Grund erneuten göttlichen Einflusses gegen seine eigene Entscheidung tötet („Ajax acts against the decision which he here announces“ S. 40); G A R L A N D (2014) formuliert S. 1259: „In this case, the speech achieves self-deception“. Wissen seiner Angehörigen und damit ungestört vollziehen kann. 236 Die Täu‐ schung ist so nicht nur innerdramatisch aus der Intention des Akteurs unaus‐ weichlich, 237 sondern auch für den komponierenden Dichter unmittelbar not‐ wendig, um die vorderszenische Inszenierung des Suizids auf ansonsten leerer Bühne (die Orchestra eingeschlossen) zu ermöglichen. Aus Sicht der um den Ausgang wissenden bzw. ihn erahnenden Rezipienten enthält der Monolog damit freilich bewusste Irritationsmomente, die den rein affirmativen Nachvollzug der Partie unmöglich machen. Die Spannung des kommenden Chorliedes liegt für Zuschauer und Leser daher in der Bewertung der Reaktion des Chores. Konkret stellt sich so die Frage: Wie interpretiert die Schiffsmannschaft die Ausführungen ihres Herrn? Dass dabei die Reaktion einzig dem Chor zukommt, Tekmessa also keine eigene Ausdeutung der Situa‐ tion gibt, ist eine bewusste Reduktion der dem Dichter zur Verfügung stehenden 2. Aias 209 <?page no="210"?> 238 Auf die Nomenklatur des Liedes soll hier nicht weiter eingegangen werden. Die Dis‐ kussionen, ob das vorliegende Stasimon als Hyporchema bezeichnet werden kann (vgl. J E B B (1896) S. 109, K A M E R B E E K (1953) S. 146), werden ganz analog im Fall des astrophi‐ schen Liedes im ersten Epeisodion der Trachinierinnen sowie des dritten Stasimons des Oidipus Tyrannos geführt; mit ausdrücklichem Verweis auf die Behandlung dieser Par‐ tien ad locum bleibe ich hier beim Begriff Stasimon. 239 Zum vielschichtigen Begriff ἔρως und dessen spezifischer Konnotation ad locum vgl. K A M E R B E E K (1953) S. 146: „It seems to convey […]: wishful expectancy. He who is seized by this feels winged with joy“. 240 Warum es gerade Pan ist, den die Schiffsleute hier anrufen, erklärt B U R T O N (1980) S. 28, indem er auf die Rolle des Gottes als Tänzer sowie im Besonderen dessen kultische Verbindung zu Athen und Salamis, der Heimatinsel des Aias, eingeht. 241 Auf die genaue Differenzierung der in v. 699 ihrer geographischen Herkunft nach be‐ nannten Tanzarten soll hier verzichtet werden. Der Vers bietet zudem eine textkritische Besonderheit, da sich die von den meisten Herausgebern übernommene Variante Μύσια statt des in den MSS einhellig überlieferten Νύσια einzig auf ein Papyrusfragment stützt. Zur Diskussion vgl. K A M E R B E E K (1953) ad locum S. 147 f. Mittel. Wir werden nach dem Überblick über das Lied auf diesen Punkt zurück‐ kommen. Für die Choreuten indes ist die Sachlage klar: Sie brechen mit ihrem zweiten Standlied 238 in einen Jubelgesang aus. Keine Spur mehr von zweifelnd-ambiva‐ lenter oder hoffnungsloser Stimmung trübt die aufbrausende Freude über die erhoffte und eingetretene Genesung des Herrn. Die ganze erste Strophe des Stasimons ist der emphatische Wunsch um die Erscheinung zweier Gottheiten. Beginnend mit einer Aussage über seine mo‐ mentane Gefühlslage, die das überbordende Hereinbrechen einer glücklichen Erwartungshaltung 239 beschreibt (v. 693), entlädt sich diese Freude in der gera‐ dezu leidenschaftlich-emotionalen Anrede an den herbeigesehnten Gott 240 (v. 694 ff.): ἰὼ ἰὼ Πὰν Πάν, ὦ Πὰν Πὰν ἁλίπλαγκτε, Κυλλανίας χιονοκτύπου πετραίας ἀπὸ δειράδος φάνηθʼ ὦ θεῶν χοροποίʼ ἄναξ… Io, io, Pan, Pan, oh Pan, meerdurchirrender Pan, erscheine vom felsigen, schneeum‐ stöberten Kyllanischen Felsenrücken, oh Herr, Vortänzer der Götter … Dieser „Tanzmeister“ der Götter solle, so die Choreuten, unter ihnen den Reigen selbst erfundener Tänze in Bewegung setzen (ὀρχήματʼ αὐτοδαῆ ἰάψῃς v. 699 f.). 241 Ihnen, den Schiffsleuten, stehe nämlich der Sinn nun nach Tanz I. Chöre wehrfähiger Männer 210 <?page no="211"?> 242 Es verwundert, dass der vorliegende Vers in der modernen Forschung nicht mehr Be‐ achtung gefunden hat, ist er doch geradezu das „Gegenstück“ zu Oidipus Tyrannos v. 896 τί δεῖ με χορεύειν. Während in dieser resignativen und dramenimmanent, d. h. aus der Perspektive der thebanischen Greise völlig zu rechtfertigenden Frage des Chors angesichts der Orakelkritik Iokastes verschiedentlich eine metadramatische und selbst‐ referentielle Äußerung des tragischen Chors an sich gesehen wurde (vgl. im Besonderen C A L A M E (1999) S. 132-140), scheint der vorliegende Vers des Aias selten bzw. gar nicht in diese Richtung interpretiert worden zu sein. Geradezu entgegengesetzt zu den Ver‐ suchen, genuin kultische und womöglich metadramatische Aspekte in diesen selbstre‐ ferentiellen Aussagen zu finden, notiert B U R T O N (1980) S. 28 ad locum: „References to the act of dancing are not common in the lyrics of Greek Tragedy, and when they occur they remind us that the dance was not only an act of worship, as for instance in O. T. 896, but also an essential part of dramatic lyric“. 243 Vgl. B U R T O N (1980), der S. 28 ad locum von „essential elements in ritual songs“ spricht. Vgl. dazu überdies die Behandlung des fünften Stasimons der Antigone. (χορεῦσαι) 242 . Nicht als direkter Anruf, sondern als ein Wunsch (ξυνείη v. 705) ist die folgende Bitte um Erscheinung Apolls formuliert. Auch sie enthält, wie die vorangegangene Anrufung, mit der Nennung des Heimatortes (ὁ Δάλιος v. 704) und des Weges, den der Gott nehmen soll (Ἰκαρίων ὑπὲρ πελαγέων μολών v. 702), klassische Elemente des ὕμνος κλητικός. 243 Darüber hinaus sind die beiden Götterinvokationen auch begrifflich parallelisiert: Beide Gottheiten werden als ἄναξ angesprochen (v. 698, 703), beide werden gebeten, mit den Schiffsleuten „zusammen zu sein“ (ξυνών v. 700, ξυνείη v. 705). Die mit fast kul‐ tischer Intensität vorgetragenen Wortwiederholungen bei der Anrufung Pans, das affektvolle Hysteron-Proteron der Verse 698 ff. - zunächst die Bitte an den Gott, selbst ξυνών, also in Gemeinschaft, zu tanzen, dann die Bekundung der eigenen Absicht - und die wirkungsvolle Anapher der Vorsilbe εὐin den letzten beiden Versen der Strophe (εὔγνωστος sowie εὔφρων) unterstreichen die hohe Emotionalität der chorischen Aussagen. Sophokles stilisiert hier einen Ausbruch von Erleichterung, wie man ihn nach der vorherigen Szene kaum erwartet hat. Die dadurch beim Rezipienten hervorgerufene Irritation wird dadurch verstärkt, dass der konkrete Grund der Ausgelassenheit des Chors noch nicht genannt wurde. Erst mit der Gegenstrophe kommt der Chor darauf zu sprechen und nennt mit einem einfachen und dennoch effektvoll stilisierten Satz die Ursache des Freudentaumels (v. 706): ἔλυσεν αἰνὸν ἄχος ἀπʼ ὀμμάτων Ἄρης. Gelöst hat das grausige Leid von den Augen Ares. 2. Aias 211 <?page no="212"?> 244 Vgl. K A M E R B E E K (1953) S. 149: „The introductory sentence is a casual asyndeton“. 245 Die Apostrophierung des Zeus hat an unserer Stelle allerdings kaum inhaltlichen Bezug zu den vom Chor geschilderten Umständen. Will man sie nicht als konventionelles Moment emphatischer Sprache verstehen, so bietet es sich an, in ihr die Beantwortung der Anrufung aus der Parodos (v. 185 f.) zu sehen. Die Klammerstellung von Prädikat und Subjekt betont wirkungsvoll die er‐ sehnte Heilung und die dafür verantwortliche Gottheit, die Assonanz der a-Klänge macht den Vers eingängig und hebt ihn klanglich von den vorange‐ gangenen und folgenden ab. Dem entspricht, dass diese vorliegende Begrün‐ dung des Jubels syntaktisch nicht an die vorangehende Strophe angeschlossen ist. 244 Von der Emotion überwältigt stellt der Chor die erleichternde Aussage in den Raum, der Dichter überlässt es Lesern und Hörern, die logische Beziehung herzustellen. Auch ein Anschluss an die folgenden Verse unterbleibt: Wieder bricht der Chor in Jubel aus und beschreibt den neuen Zustand nach der ver‐ meintlichen Genesung des Haupthelden. Der Blick auf den Beginn der ersten Strophe erweist eine syntaktische und kompositionelle Parallele: Auch dort bil‐ dete eine syntaktisch an das Kommende nicht angeschlossene Aussage den Be‐ ginn, die in einen jubelnden Ausruf überging. Die Wiederholung der verdop‐ pelten Interjektion ἰώ an der metrisch korrespondierenden Stelle (v. 694 / 704) unterstreicht zudem die Parallelisierung der Strophenanfänge. Inhaltlich unter‐ scheiden sich die beiden in Rede stehenden Verse freilich, indem sie das jeweilige Thema der Strophe angeben: Während Vers 693 die ekstatische Reaktion des Chors verbalisiert und damit den Blick auf die Choreuten und ihr Verhalten lenkt, fokussiert die Gegenstrophe auf Aias, in dessen Schicksal eine allgemeine Wahrheit erkannt wird. Verfolgen wir den Gedankengang der Gegenstrophe: Jetzt, nachdem Aias sein Leiden vergessen habe und mit größter kultischer Gesetzestreue den Göttern die ihnen gebührende Ehre zukommen lasse (εὐνομίᾳ σέβων μεγίστᾳ v. 713.), sei es wieder möglich, dass das helle Licht sich den schnellen Schiffen nähere (v. 708 f.). Das Stasimon nimmt hier Bezug auf den Beginn der Tragödie, an dem der anbrechende Tag Schritt für Schritt dem Chor die Taten der vergangenen Nacht offenbarte. Dabei verfinsterte sich für die Mannschaft des Aias die Zu‐ kunftsaussicht allerdings schrittweise, bis ihr Herr im vergangenen Auftritt (scheinbar) seine leidvollen Absichten aufgegeben hat. Das vorliegende Lied wird an dieser Stelle so zu einem erneuten Morgenlied, das, wenn auch zeitlich verspätet, den Anbruch des wahren Lichtes besingt. War in der Strophe die In‐ vokation von Pan und Apoll das bestimmende Strukturmoment gewesen, so entlädt sich die freudvolle Erleichterung der Choreuten an unserer Stelle in einem Anruf des Göttervaters. 245 I. Chöre wehrfähiger Männer 212 <?page no="213"?> 246 Vgl. die Diskussionen bei K A M E R B E E K (1953) S. 150 f., S T A N F O R D (1963) S. 153 f., B U R T O N (1980) S. 29. L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990). Sophoclea: Studies on the text of Sphocles, Oxford äußern sich zur vorliegenden Stelle nicht. 247 B U R T O N (1980) S. 29: „[N]othing could be added to the emphatic statement, νῦν γὰρ ἐμοὶ μέλει χορεῦσαι, without ruining its effect“. Ganz unter dem Eindruck des dem Lied vorausgegangenen Monologs steht der Chor thematisch, wenn er - erneut asyndetisch angefügt - fortfährt (v. 714): πάνθʼ ὁ μέγας χρόνος μαραίνει Alles löscht die lange Zeit aus. Der Vers bietet textkritisch einige Schwierigkeiten, die auch sein Verständnis beeinflussen. Es ist daher nötig, sich die Sachlage kurz zu vergegenwärtigen. 246 Das in den MSS einhellig im Anschluss an μαραίνει überlieferte τε καὶ φλέγει würde die thematische Parallele zu Aiasʼ allgemeingültigen Aussagen in den Versen 646 ff. um einen ähnlichen Bildgebrauch erweitern: Die als Feuer bzw. Flamme vorgestellte Zeit würde so alle Dinge bald „auslöschen“, bald „an‐ flammen“. Der von Aias selbst aufgerufene Gegensatz von ἄδηλα und φανέντα aus Vers 647 wäre so in einem poetischen Bild gespiegelt. Die nahezu gleiche Apostrophierung der Zeit (μακρός v. 646/ μέγας v. 714) spricht zudem für eine bewusste Wiederaufnahme von Thematik und Begrifflichkeit aus dem Monolog des Protagonisten. Allerdings fehlt in der entsprechenden Stelle der Strophe (v. 701) die metrische Entsprechung. Die Beibehaltung des überlieferten Textbe‐ stands in Vers 715 führt so zur Annahme einer lacuna in Vers 701. Was dort aber im Anschluss an χορεῦσαι gestanden haben soll, ist kaum zu rekonstruieren, zumal der dort vorliegende Satz abgeschlossen und in sich stimmig ist - mehr noch: Er wirkt so, wie er vorliegt, gerade durch seine prägnante Direktheit, die einen Zusatz unmöglich erscheinen lässt. 247 Das Verständnis von μαραίνει ohne den Zusatz τε καὶ φλέγει jedoch stößt ebenfalls auf gewisse Schwierigkeiten: Das konkrete, den Choreuten vorschwebende Objekt der allgemeingütigen Gnome „Alles löscht die große Zeit aus“ wäre in diesem Fall wohl Aiasʼ Wahn, den der Lauf der Zeit eben nun aus Sicht der Schiffsmannschaft beendet habe. Zwar wäre die Aussageabsicht in diesem Fall klar, die Bildebene „Feuer und Auslöschen“ würde allerdings allein durch μαραίνει aufgerufen und sofort wieder verlassen; sie bliebe in ihrer Einseitigkeit angesichts der Parallele zu Aiasʼ Einlassungen unbeantwortet. Auf semantische Schwierigkeiten des Gebrauchs 2. Aias 213 <?page no="214"?> 248 K A M E R B E E K (1953) S. 151: „But μαραίνειν connotes in the first place something beautiful that is made to waste away“. 249 K A M E R B E E K (1953) a. a. O. von μαραίνει ohne korrespondierendes zweites Prädikat macht zudem K AME R‐ B E E K aufmerksam. 248 Eine Klärung der Passage ist hier nicht zu suchen und wird wohl auch ohne weitere Textzeugen nicht zu finden sein. Festzuhalten bleibt trotz aller Schwie‐ rigkeiten im Einzelnen, dass der Chor an unserer Stelle in bewusstem Bezug auf Aiasʼ Monolog eine allgemeine Wahrheit ausspricht, zu deren Einsicht er, wie das Folgende zeigen wird, durch den konkreten Fall der Wiedergenesung ge‐ kommen ist. Man wird sich zudem K AME R B E E K anschließen, wenn er angesichts der textkritischen Alternativen festhält: „In any case, the Chorus utter an am‐ biguity without being conscious of it.“ 249 Auch die direkt folgende Überlegung der Verse 715 ff. stellt eine Spiegelung von Aiasʼ Aussagen in seinem Monolog dar: Nichts, so die Choreuten, könne man als unsagbar (ἀναύδητον) bezeichnen; keine Wendung, sei sie auch noch so radikal, sei unmöglich, wenn selbst Aias unverhoffter Weise zu einer anderen Meinung gekommen sei (μετανεγνώσθη) und vom Hass und Streit gegen die Atriden Abstand genommen habe. Mit dieser zumindest vordergründig ver‐ söhnlichen Überlegung schließt das Chorlied; in Vers 719 beginnt der unter‐ dessen aufgetretene Bote seinen Monolog. Führen wir uns zunächst einige Momente der Komposition des Stasimons vor Augen. Das kurze Strophenpaar entfaltet in geradezu rauschhafter Manier eine situativ-emotionale Ausdeutung des aktuellen Handlungsstandes, wie er sich aus Sicht der (getäuschten) Choreuten darstellt. Während die Strophe dabei die Thematisierung von Tanz und Ekstase in Form der Anrufung zweier Gottheiten verbalisiert, kommt die Gegenstrophe zunächst auf die Ursache des Freuden‐ taumels zu sprechen, entfaltet daraufhin die sich daraus ergebenden Konse‐ quenzen (v. 708) und sieht schließlich im Geschehen um Aias einen Beweis der allgemeinen Wahrheit vom stetigen Wandel aller Dinge unter dem Einfluss der Zeit. Der besondere Tempusbzw. Modusgebrauch des Liedes bildet diese Struktur des Gedankengangs wirkungsvoll ab: Die durch das dreimal innerhalb des Sta‐ simons gesetzte νῦν (v. 701, in rascher Wiederholung v. 707 und 708) besonders fokussierte Gegenwartszentrierung, ja geradezu das Aufgehen der Choreuten I. Chöre wehrfähiger Männer 214 <?page no="215"?> 250 Die beiden einleitenden Aoriste ἔφριξ' und ἀνεπτάμαν widersprechen dabei dieser Ge‐ genwartszentrierung nicht, sondern unterstützen sie vielmehr: Der Aorist bezeichnet hier (wie an anderen, vornehmlich der Tragödiensprache entstammenden Stellen) einen besonders emphatischen, emotionalen Zustand des Sprechenden. Zum sog. aoristus tragicus vgl. KG II, 163 f., § 386, 9 (v. a. Abschnitt b), sowie B U R T O N S (1980) Bezeichnung der Formen als „instantaneous aorist[s]“ (S. 27) im Hier und Jetzt der dramatischen Situation 250 korrespondiert einerseits mit dem durch den Aorist ἔλυσεν v. 706 als Geschehen der Vergangenheit bezeich‐ neten Grund der Freude sowie den zeitlos-allgemeingültigen präsentischen Verbformen μαραίνει (und φλέγει) (v. 714) und dem Potentialis φατίξαιμʼ ἄν (v. 715 f.), denen im angeschlossenen Nebensatz wiederum ein Aorist zur Bezeich‐ nung der an Aias vollzogenen Wendung beigestellt ist. Neben dem potentialen Optativ in Vers 715 f. kommt besonders dem kupitiven Optativ ξυνείη am Ende der ersten Strophe (v. 705) besondere Bedeutung zu. Die zuletzt genannte Form korrespondiert wiederum mit dem Imperativ φάνηθʼ aus Vers 697. Das Stasimon hinterlässt dabei für die um den Fortgang der Handlung und das Ende des Aias informierten Leser und Zuschauer einen äußerst bitteren Beige‐ schmack: Der ins Kultische gesteigerte Jubel, die ausbrechende Erleichterung des Chors bilden den Auftakt zum Höhepunkt des Dramas, dem Selbstmord des Protagonisten. Die sprunghafte Gedankenführung und die blockhafte Gegenüberstellung einzelner Teile sowie die asyndetischen Fügungen verstärken den Eindruck emotionalen und situativen Sprechens, während das Chorlied dennoch, wie wir gerade durch die Analyse der Beziehung zwischen den beiden Strophen hin‐ sichtlich Aufbau und sprachlicher Gestaltung gezeigt haben, in sich fein kom‐ poniert ist. Wir haben des Weiteren festgestellt, wie Sophokles das Stasimon thematisch und begrifflich mit dem unmittelbar vorausgegangenen Monolog des Aias verknüpft. Der Dichter zeigt so, wie überzeugend, ja suggestiv die Rede des Protagonisten auf die Schiffsmannschaft wirkt, wie diese wiederum einzelne Motive herauszulösen und sie im Sinne ihrer Zukunftsdeutung auszulegen ver‐ suchen. Die dramaturgische Funktion des Liedes ist offensichtlich: Gegen die bewusst lancierte Ambivalenz des vorangegangenen Monologs setzt es die entschie‐ dene - wenn auch falsche - Zuversicht, ja die an Drastik kaum zu überbietende Gewissheit, die der weitere Fortgang der Handlung als Produkt der Täuschung entlarven wird. Das Stasimon wird so zur geradezu überzeichnenden Folie, vor der sich das folgende Geschehen umso deutlicher abheben kann. Diese Funkti‐ onalisierung eines Chorliedes bzw. einer Partie mit Chorbeteiligung als über‐ bordend positive Kontrastfolie unmittelbar vor dem Eintritt der katastrophalen 2. Aias 215 <?page no="216"?> 251 Vgl. B U R T O N (1980) S. 30: „Sophocles employs songs of this type in most of his extant plays. They express joy, or confidence in a happy issue, just before the revelation of a terrible truth and are thus a powerful instrument of dramatic irony“. Als weitere Bei‐ spiele seien genannt: drittes Stasimon des Oidipus Tyrannos, astrophisches Lied im ersten Epeisodion der Trachinierinnen sowie, mit einigen Einschränkungen, das fünfte Stasimon der Antigone. Auch die zweite Gegenstrophe des Stasimons im Philoktet mit ihren bewussten Irritationsmomenten hat dramaturgisch eine zumindest vergleichbare Wirkung. 252 Eine formal ganz ähnliche Komposition greifen wir in der Antigone: Dort nimmt das vierte Standlied zunächst als Fortsetzung der Abschiedsszenerie der Protagonistin deren bevorstehenden Tod vorweg, wohingegen das nach der folgenden Unterredung mit Teiresias angeschlossene fünfte Stasimon als Invokationshymnos des Dionysos einen Ausbruch von Zuversicht und Hoffnung darstellt. Das Eintreffen der Todesnach‐ richten im direkten Anschluss an das Lied weist es im Rückblick als positive Folie aus, die das Hereinbrechen der katastrophalen Wendung besonders grell ausleuchtet. Wende im Handlungsverlauf ist ein beliebtes, geradezu standardisiertes Moment chorischer Präsenz und findet besonders in den Tragödien unseres Dichters beinahe regelmäßig Anwendung. 251 Wenden wir hier den Blick allerdings von allgemeinen Gesichtspunkten zum konkreten Chorlied und beleuchten im Be‐ sonderen seine Einbindung in den Kontext der vorliegenden Tragödie. Das zweite Stasimon rekurriert, wie gesehen, nicht nur auf den Monolog des Protagonisten, den es unter Verkennung der Ambiguität volltönend orchestriert, sondern steht auch zum ersten Standlied in einem besonders kontrastiven Ver‐ hältnis: Sophokles lässt auf das resignierende Panorama der Lage vor Troia samt der imaginierten, an einem Leichenlied orientierten Klage der Eltern des Aias den Ausbruch ungemeiner Zuversicht folgen. Innerhalb kürzester Zeit stellt er so zwei emotional besonders unterschiedliche Partien gegenüber und inszeniert mit drastischen sprachlichen und poetischen Mitteln das Auf und Ab innerhalb der Gefühlswelt der Choreuten. 252 Wie schon in der Abfolge von Prolog, Par‐ odos und den zwei Kommoi zu Beginn des Stücks reiht er auch hier Szenen von großer Drastik aneinander. Zuschauer und Leser der Tragödie sind sich mitt‐ lerweile der bevorstehenden Katastrophe endgültig bewusst: So exaltiert wie der Jubel des Chors nach der ambivalenten Rede des Protagonisten war, so sicher muss eine Enttäuschung dieser hoffnungsvollen Aussichten folgen. Der Chor bietet weiterhin mit seinen schnell wechselnden, aber dennoch in‐ tensiven Emotionen eine Folie, auf der sich der standhafte Charakter des Aias abzeichnet. Der Protagonist hat spätestens seit seinem auf den Kommos mit dem Chor folgenden Monolog (v. 430-480) seinen Entschluss gefasst und tritt als bereits zum Selbstmord Entschlossener ab diesem Punkt mit einer Selbstbeherr‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 216 <?page no="217"?> 253 Vgl. dazu die S. 209 in Anm. 236 zitierte „unheimliche Ruhe“. 254 Der vorliegende Doppelvers 735 f. ist erneut ein Musterbeispiel ambivalenter und tra‐ gisch-ironischer Sprache; auf die begriffliche Spiegelung aus Vers 123 macht K A M E R‐ B E E K (1953) S. 155 aufmerksam. schung und Suggestionskraft auf, die es ihm ermöglichen, seine Angehörigen zu beruhigen, ja sogar in Jubel ausbrechen zu lassen. 253 Hinterszenisch ereignet sich während des Stasimons mit konkretem Bezug auf Aias nichts Bedeutendes; einzig die vom Boten im kommenden Auftritt re‐ ferierte Begegnung zwischen Kalchas und Teukros scheint während des Stand‐ liedes ihren Abschluss gefunden zu haben. Die Fortsetzung der Haupthandlung, d. h. der Tod des Aias, wird erst durch einen erneuten Auftritt des Helden ge‐ schehen. Mit Blick auf die dramaturgische Komposition der Tragödie ist dies nur folgerichtig: Die polare Ausrichtung auf den Protagonisten, der als Zent‐ ralpunkt des Geschehens den Fortschritt der Handlung maßgeblich bestimmt, lässt keine Konstruktion zu, in der, wie zum Beispiel in der Antigone, die we‐ sentliche und handlungsauslösende Tat hinter der Bühne geschieht. Drittes Epeisodion und Abtritt des Chors (v. 719 - 814) Mit dem Auftritt eines Boten beginnt mit Vers 719 das dritte Epeisodion. Auch wenn in ihm keine Chorpartie folgt, bedarf die Passage doch einer kurzen Be‐ handlung, da sie mit dem Abtritt des Chors das formal herausragendste Element der vorliegenden Tragödie beinhaltet. Rekapitulieren wir rasch die Handlungs‐ entwicklung bis zum Ende der Szene in Vers 814. Der aufgetretene Bote meldet nicht, wie Zuhörer und Leser vielleicht hätten erwarten können, den Tod des Aias, sondern zunächst die Ankunft des Teukros im griechischen Lager sowie dessen missgünstige Aufnahme. Schließlich verlangt der Bote, Aias selbst zu sprechen. Dialogpartner ist der Chorführer, der die Abwesenheit seines Herrn mit dessen Absicht erklärt, neue Pläne (νέας βουλάς) mit neuen Verhaltens‐ weisen (νέοισιν … τρόποις) zu verbinden. 254 Der Bote reagiert zunächst äußerst emotional (ἰοὺ ἰού v. 737) und entfaltet darauf den eigentlichen Kern seiner Nachricht: Der Seher Kalchas habe Teukros in einer intimen Zusammenkunft über den Grund und die Dauer der Raserei des Aias informiert: Nur noch heute halte ihn der Zorn der Athene, die Aias im Vorfeld mehrmals stolz und eigen‐ sinnig geschmäht hatte, indem er im Vertrauen auf seine eigene Stärke ihre göttliche Hilfe ablehnte. Als Vorsichtsmaßnahme solle man, so der Auftrag des Sehers, Aias den ganzen Tag über bewachen, ihn unter Aufwendung jedweder Fertigkeit in seiner Hütte einschließen (παντοίᾳ τέχνῃ εἶρξαι v. 752 f.) und aus Sorge um sein Leben nicht zulassen, dass er seine Hütte verlässt. Solange er diesen Tag allerdings überlebe, könne man mit Gottes Hilfe noch rettend auf ihn 2. Aias 217 <?page no="218"?> 255 Die bühnenpraktische Realisation dieses Szenenwechsels steht in dieser Arbeit nicht im Vordergrund des Interesses. Wie genau man sich den Wechsel der Szene vorzustellen hat, kann nicht ganz geklärt werden, da bereits die Frage nach dem „Bühnenbild“ im Theater des fünften Jahrhunderts nicht eindeutig beantwortet werden kann. Vgl. dazu P I C K A R D -C A M B R I D G E (1946). The Theatre of Dionysus in Athens, Oxford, S. 49. Einen gewissen Überblick verschafft R O S E N B L O O M (2014) S. 1260; vgl. zudem Z I M M E R M A N N (2011) S. 507. K A M E R B E E K (1953) S. 168 und S T A N F O R D (1963) S. 165 f. sind sich indes einig, dass der Wechsel der Szene ohne größeren Aufwand fertiggestellt werden konnte (Ent‐ fernen bzw. Austauschen gemalter Blenden, womöglich Hereintragen von Büschen oder dergleichen in die Orchestra). Dagegen favorisiert L A T A C Z (2003) S. 198 f. im An‐ schluss an R E I N H A R D T ( 3 1960) S. 37 den Einsatz des Ekkyklemas, auf dem die Selbst‐ mordszene geradezu in die Orchestra „hineingeschoben“ werde. 256 Vgl. zum Folgenden K A M E R B E E K (1953) S. 167 f., S T A N F O R D (1963) S. 165 f. sowie A R‐ N O T T (1962). Greek Scenic Conventions in the fifth century b.C., Oxford, S. 131 ff. 257 S O M M E R S T E I N (1989). Aeschylus Eumenides, Cambridge, S. 122 nennt in seinem Kom‐ mentar zu den Eumeniden des Aischylos noch den mutmaßlich euripideischen Rhesos als Parallelstelle (v. 564-675). Ob dabei beim Szenenwechsel innerhalb der Eumeniden das Ekkyklema zum Einsatz kam oder die Requisiten ausgetauscht wurden, lässt er offen (S. 123). einwirken (v. 778 ff.). Der Chor erkennt die Brisanz der Lage und ruft Tekmessa herbei, die in Grundzügen informiert wird (v. 741 ff.). Auch sie realisiert den Ernst der Lage, erkennt, dass sie der Suggestionskraft und der eigenen Hoffnung erlegen war (v. 807), und gibt dem Chor und anderen Statisten (Dienern, Kriegs‐ knechten u. Ä.) den Auftrag, nach Teukros zu schicken sowie Aias zu suchen. Die Schiffsmannschaft willigt ein, teilt sich in zwei Gruppen und verlässt mit‐ samt Tekmessa, dem Boten und den anderen Komparsen die Szene. Bühne und Orchestra sind daraufhin leer; der Schauplatz der Tragödie wechselt vom Platz vor dem Zelt des Aias zu einem einsamen Ort außerhalb des Lagers. 255 Wie bereits angesprochen, stellt dieser Abtritt des Chors sowie der sich an‐ schließende Szenenwechsel eine Besonderheit innerhalb der uns überlieferten griechischen Tragödien dar. 256 Es finden sich in diesem Rahmen nur drei Paral‐ lelstellen: Aischylos Eumeniden v. 231, Euripides Alkestis v. 747 sowie Helena v. 385. 257 Die erstgenannte Stelle kommt dabei der vorliegenden Konstruktion am nächsten, da auch dort mit dem Abgang des Chors ein Szenenwechsel verbunden ist. Inwieweit Sophokles an unserer Stelle auf mögliche Vorbilder in der dra‐ maturgischen Gestaltung zurückgreift, können wir hier nicht entscheiden; es ist für unsere Darstellung zudem nicht wesentlich. Versuchen wir stattdessen, den mit dem Szenenwechsel verbundenen Abtritt des Chors in seiner speziellen Funktion im Rahmen der vorliegenden Tragödie zu beleuchten. Dass dieser dra‐ maturgische Kunstgriff - zumindest im Rahmen unseres Bildes der attischen Tragödie des fünften Jahrhunderts - einen Bruch mit der Konvention darstellt, I. Chöre wehrfähiger Männer 218 <?page no="219"?> bleibt davon freilich unbenommen. Die Szenerie wird so bereits aus formalen Gründen einen besonderen Effekt auf das Publikum entfaltet haben. Betrachten wir die vorausgegangene Szene unter dramaturgischen Gesichts‐ punkten: Mit dem Bericht des Boten wird die Figur des Teukros, den Aias in Vers 688 erwähnt hatte, endgültig eingeführt. Dabei ist Teukros zunächst zwar nur indirekt, aber dennoch als handlungsauslösendes Moment gegenwärtig. Er hat schließlich, alarmiert durch Kalchasʼ Informationen, den Boten zum vermeint‐ lichen Aufenthaltsort des Aias geschickt und damit mittelbar den Abtritt von Tekmessa und Chor eingeleitet. Die Botenrede erfüllt darüber hinaus eine besonders zentrale dramaturgische Funktion: Mit der Wiedergabe von Kalchasʼ Ansprache an Teukros ist zunächst eine hinterszenische Handlungsebene eröffnet. Während sich bis zu diesem Punkt das Geschehen im Wesentlichen im für die Zuschauer sichtbaren Bereich abgespielt hat, rückt hier nun mit der Gestalt des Teukros eine weitere Dimen‐ sion in den Horizont; die Handlung gewinnt so durch die Erweiterung des Per‐ sonenspektrums an Tiefe. Des Weiteren referiert der Bote mit Kalchasʼ Worten eine bedeutende Episode der Vergangenheit des Haupthelden: Mit der Thema‐ tisierung von Aiasʼ problematischem Verhältnis zu Athene sowie seinem über‐ steigerten Selbstbewusstsein ist sowohl ein indirekter Beitrag zur Charakteri‐ sierung des Helden geleistet, als auch ein entscheidendes Moment der Vorgeschichte der Handlung angedeutet. Geschickt verbindet die Botenrede so zwei dramaturgische Funktionen: Zum einen ermöglicht sie einen Blick in die dem Bühnengeschehen vorausgegangene Vergangenheit und komplettiert die Charakterzeichnung des Haupthelden, zum anderen liefert sie den notwendigen dramatischen Impuls, der aus dem für die Zuschauer nicht sichtbaren Bereich seine Wirkung auf die eigentliche Bühnenhandlung entfaltet. Die vom Boten wiedergegebenen Aspekte der Ansprache des Kalchas - v. a. die Problematisierung der Rolle des Aias in seinem Verhältnis zu Athene, sowie die Ankunft des Teukros und das Insistieren auf zügiges Einschreiten (‚Gefahr im Verzug‘) - hätte dabei Material für eine umfassende chorische Reflexion ge‐ liefert. Gerade der letztgenannte dramatische Impuls allerdings erweist sich als so virulent, dass dem Chor keine reflektierende Partie zukommt. Eingebunden in Tekmessas Plan zur Rettung ihres Mannes übernimmt er stattdessen eine aktive Rolle im dramatischen Geschehen und liefert mit seinem Auszug eine besonders eindrückliche Visualisierung der durch die Botenrede evozierten Spannung. Das im Botenbericht angeklungene und für die Charakterisierung des Haupthelden zentrale Motiv von Aiasʼ Hybris entbehrt so einer ausgrei‐ fenden Behandlung, auf die zu Gunsten einer ungeahnten Dynamisierung des Geschehens verzichtet wird. 2. Aias 219 <?page no="220"?> Das zweite Stasimon hat die Spannung für Leser und Zuschauer der Tragödie erhöht: Es war vorauszusehen, dass nach dem jubelnden Ausbruch des Chors etwas geschehen musste, das die Choreuten wieder ins unmittelbare Geschehen zurückruft und die Handlung dem Tod des Aias zuführt. Die Botenszene erfüllt den dramatischen Fortgang nun mit ungeahnter Dynamik: Statt die Handlung ohne Einfluss bisher nicht präsenter Personen ablaufen zu lassen, erweitert So‐ phokles an dieser Stelle das Personenspektrum und öffnet so das Geschehen sowohl personell wie hinsichtlich des Handlungsraums. Chor und Tekmessa sehen sich nun mit den Realitäten konfrontiert und sind zum ersten Mal inner‐ halb der Tragödie zum selbständigen Handeln gezwungen. Den sinnfälligen Ausdruck dieser - wenn auch im Ergebnis fruchtlosen - Dynamik bildet der Abgang des Chors. Er korrespondiert dabei mit dem vor knapp einhundert Versen verklungenen Jubelgesang: Herrschte bis zu diesem Punkt des Dramas schon ein hohes Maß an drastischer Emotionalität, so übertrifft der Effekt des Abgangs des Chors sowie der im Anschluss für eine gewisse Zeit leeren Bühne (und des Auftritts des einsamen Protagonisten) die bisher erreichte Wirkung noch einmal. Der Abgang sämtlicher Personen in betriebsamer und sorgenvoller Eile wird so zu einem spannungsgeladenen Vorspiel, das die Selbstmordszene endgültig vorbereitet. Nachdem der Kommos zwischen Aias, Tekmessa und dem Chor motivisch den Tod des Haupthelden ins Zentrum gerückt hatte, war es das dramaturgische Ziel des Dichters, den Selbstmord effektvoll vorzubereiten und zu inszenieren: Im Abtritt aller bisher am Drama beteiligten Personen hat diese Bewegung ihre Klimax erfahren. Indem sich die Mitglieder der Schiffsmannschaft aktiv am Rettungsversuch beteiligen und auf die Suche nach ihrem Herrn gehen, ist die Stellung des Chors mitten im Geschehen augenfällig inszeniert. Bereits zu Beginn der Parodos kreisten die Gedanken des Chors primär um ihren Herrn und entfernten sich kaum je von der momentanen Lage. Tun sie es doch, wie in der Erinnerung an die Heimat zu Beginn des ersten Stasimons, dann nur, um eine Folie für die aktuelle Situation zu entwerfen. Ähnlich auch hier: Der Chor wird als dramati‐ sche Person ganz in die Handlung mit einbezogen, er agiert nicht außerhalb der Bühne als ein fremdes, reflektierendes Element, sondern versucht nach Mög‐ lichkeiten, aktiv ins Geschehen einzugreifen. Dabei ist er in seinem Handeln ganz auf den Haupthelden bezogen: In der Notsituation begreifen es die Schiffs‐ leute als ihre Aufgabe, Schaden von ihrem Herrn abzuwenden und ihn Tek‐ messas Auftrag gemäß zu suchen. Die Abtrittsworte der Schiffsleute verbali‐ sieren ihren Entschluss, nun aktiv ins Geschehen einzugreifen, besonders plastisch (v. 813 f.): Sie seien zu gehen bereit (ἑτοῖμος) und würden nicht allein durch ihre Rede (λόγῳ) ihre Entschlossenheit demonstrieren; vielmehr würden I. Chöre wehrfähiger Männer 220 <?page no="221"?> 258 Vgl. B U R T O N (1980) S. 31: „This emptying of the orchestra and change of scene, unique in extant Sophocles, is a bold theatrical stroke, which effectively concentrates attention on the hero’s isolation“. 259 Dazu B U R T O N (1980) a. a. O. ganz zu Recht: „It [der Auszug des Chors und der Effekt der leeren Orchestra] is in no way contrived or artificial but arises naturally from the re‐ quirements of the plot and from the way in which the dramatist has prepared for it in the last dozen lines of the scene“. 260 Im Besonderen Antigone und Oidipus Tyrannos zeigen einen „regelmäßigeren“ Aufbau hinsichtlich der Fügung ihrer Formteile. Es nimmt daher nicht wunder, wenn gerade diese beiden Tragödien als geradezu mustergültige Kompositionen Maßstabscharakter erlangt haben. Vgl. T A P L I N (1977). The stagecraft of Aeschylus: the dramatic use of exits and entrances in Greek tragedy, Oxford, S. 55 in seiner Einschätzung: „S[ophocles] Ant[igone] is almost perfectly regular“. nun Schnelligkeit „der Handlung und der Füße“ (ἔργου καὶ ποδῶν) zugleich den gleichfalls Abtretenden folgen. Zusammengefasst soll Folgendes festgehalten werden. Sophokles strafft in der vorliegenden Szene das dramatische Tempo: Er gestaltet zum einen die Boten‐ rede als dramaturgisch polyvalenten Drehpunkt innerhalb der Handlung, die das Personenspektrum erweitert, das Geschehen um eine hinterszenische Di‐ mension ergänzt, bedeutende Momente der Vorgeschichte referiert, die Cha‐ rakterzeichnung des Haupthelden vervollständigt und zugleich den wesentli‐ chen dramaturgischen Impuls darstellt, der die Handlung nach der spannungsvollen Pause, die das zweite Stasimon füllte, wieder anstößt. Zum anderen setzt er mit dem Abgang des Chors das drastischste ihm zur Verfügung stehende Mittel ein, um einerseits die explosive Dynamik innerhalb des Ge‐ schehens zu visualisieren, andererseits die Fokussierung auf den Protagonisten und seine Sonderstellung besonders zu unterstreichen. 258 Es ist, wie angedeutet wurde, von Seiten des Dichters nicht dramaturgisches Unwissen, missglücktes oder künstlich überspanntes, um mit B U R TON zu spre‐ chen, „artifizielles“ Handwerk, 259 hier durch den Abtritt des Chors und den Sze‐ nenwechsel mit einer Konvention zu brechen und das Drama so (zumindest auf den ersten Blick) in zwei Teile auseinanderfallen zu lassen. Vielmehr greifen wir gerade in dieser überraschenden Konstruktion die bewusste Absicht des Dich‐ ters, die Anordnung der einzelnen Formteile ganz der effektvollen Ausgestal‐ tung zentraler Aussageabsichten unterzuordnen, anstatt im Sinne einer wohl abgewogenen Komposition einzelne Passagen in einer harmonischen Gesamt‐ konstruktion aufgehen zu lassen. 260 Eine kurze Bemerkung zur möglichen Erwartungshaltung des Publikums. Der Tod des Protagonisten durch Selbstmord war für die antiken Zuschauer mit hoher Wahrscheinlichkeit eine bekannte Tatsache. Dass sich auch die vorlie‐ 2. Aias 221 <?page no="222"?> 261 Siehe S. 169, Anm. 167. gende Tragödie des Sophokles damit beschäftigen würde - im Unterschied etwa zu der des Aischylos, der einen anderen Zeitabschnitt der Episode auf die Bühne brachte 261 -, war den Rezipienten spätestens nach der ausgreifenden Todesmo‐ tivik des großen Kommos sowie der Trugrede des Aias, im besten Fall schon nach dem Prolog klar. Die entscheidende Besonderheit des sophokleischen Dramas jedoch, den Selbstmord des Helden auf offener Bühne darzustellen, kann erst jetzt, kurz vor der entscheidenden Szene selbst, richtig erahnt werden. Dabei ist der Abtritt des Chors und aller Komparsen ein dramaturgisch so starkes Mittel, dem einzig der Auftritt des Protagonisten folgen kann, um die erzeugte Spannung aufzulösen. Anders gesagt: Das mit dem Abtritt des Chors entstan‐ dene personelle Vakuum wird in der Folge durch den Auftritt des Protagonisten gefüllt, mit dessen Tat die eigentliche Bühnenhandlung erneut voranschreitet. I. Chöre wehrfähiger Männer 222 <?page no="223"?> 262 Eine überblickende Interpretation der Szene bietet Z E P P E Z A U E R (2011). Bühnenmord und Botenbericht: Zur Darstellung des Schrecklichen in der griechischen Tragödie, Berlin, S. 207-213. 263 Auch hier interessieren die bühnenpraktischen Gegebenheiten im Rahmen der vorlie‐ genden Untersuchung kaum. Wie der für das Publikum visuell erfahrbare Selbstmord realisiert wurde, ist zudem nicht mit Bestimmtheit zu sagen (vgl. R O S E N B L O O M (2014) S. 1260). Da sowohl der Schauspieler des Aias als Verkörperung des Teukros im Fol‐ genden noch benötigt wird, als auch die von Tekmessa in Vers 915 mit einem Tuch verdeckte Leiche des Haupthelden einen Fixpunkt der weiteren Bühnenhandlung bildet, ist der Einsatz einer Puppe am wahrscheinlichsten, durch die der Körper des Schauspielers „ersetzt“ wird. Der eigentliche Akt des Selbstmords, d. h. der Sturz ins Schwert, mag dabei zumindest zum Teil durch Büsche oder ähnliche Kulissen verdeckt worden sein. Vgl. dazu K A M E R B E E K (1953) S. 167 ff., der zum einen auf die angesprochene Funktion der Kulissen eingeht („Although the suicide is somewhat screened by the bushes […]“), andererseits die Existenz besonderer „Theaterschwerter“ erwähnt, die die gefahrlose Darstellung einer Gewalttat ermöglichten, deren Einsatz zur Zeit des So‐ phokles allerdings nicht belegt werden kann; ferner S T A N F O R D (1963) S. 173 f., der zwei Möglichkeiten angibt, wie die Ersetzung des „Leichnams“ durch eine Puppe abgelaufen sein könnte. Eine ausführliche Diskussion der bühnenpraktischen Probleme sowie ver‐ schiedener Lösungsansätze bietet zudem G A R V I E (1998) S. 203 f., der den Einsatz des Ekkyklemas in dieser Szene mit einiger Bestimmtheit ausschließt. Für Z E P P E Z A U E R (2011) findet der Selbstmord „zwar nicht für alle sichtbar auf der Bühne statt, rückt aber so nahe wie möglich an eine szenische Inszenierung heran“ (S. 212); sie hält es für wahrscheinlich, „dass Aias sich hinter einem Requisit, beispielsweise einem Busch nah bei der Tür zum Bühnenhaus in das dort aufgestellte Schwert stürzt“. Nichtsdestowe‐ niger erkennt sie auch im „rein verbal Inszenierte[n] […] eine größtmögliche emotio‐ nale Wirkung“ (S. 231). Zur Diskussion vgl. zudem W E B S T E R (1956). Greek Theatre Pro‐ duction, London, S. 17 f. 264 Die besondere Relation zwischen der „Täuschungsrede“ und dem Todesmonolog ent‐ faltet T A P L I N (1978). S. 127-131 im Rahmen des Konzepts „mirror scenes“. (Monolog des Aias,) Epiparodos und Kommos Chor-Tekmessa (v. 815 - 960) Der in Vers 815 wieder aufgetretene Aias hält seinen emotionalen Todesmo‐ nolog, 262 bevor er sich nach Vers 866 in sein Schwert stürzt. 263 Es ist hier nicht der Ort, die Partie im Einzelnen nachzuvollziehen. Betrachten wir diesen sechzig Verse umfassenden Monolog vielmehr in Beziehung zu seinen dramaturgischen Implikationen: Von besonderer Bedeutung sind dabei die teils wörtlichen Wie‐ deraufnahmen bereits etablierter Motive und Themen, durch die die vorliegende Selbstmordszene zum Kulminationspunkt der gesamten Tragödie wird. Exemp‐ larisch sollen einige dieser Spiegelungen nachvollzogen werden. 264 Die offensichtlichste und geradezu paradigmatische Wiederaufnahme ist freilich die Konkretisierung der teils latenten, teils forcierten Todesmotivik, die im Besonderen der Kommos nach dem Wiederauftritt des Protagonisten sowie das erste Standlied entfaltet hatten: Mit der detaillierten Vorbereitung der Selbsttötung (im Besonderen der Aufstellung des Schwerts sowie dem damit 2. Aias 223 <?page no="224"?> 265 Vgl. die Ausführungen zu Vers 629 / 630 S. 204, Anm. 228. 266 Vgl. Antigone v. 808, 879; Oidipus auf Kolonos 1549 f. verbundenen Räsonieren des Haupthelden v. 815-822), der Nennung bzw. An‐ rufung verschiedener Gottheiten, die einen Bezug zur Unterwelt aufweisen (chthonischer Hermes v. 832, Erinyen v. 837 sowie v. 843), der durch Gemination verstärkten Apostrophierung des Todes selbst (v. 854) und der besonders düs‐ teren Ankündigung, alles Weitere den Toten im Hades zu erzählen (v. 865), ist nicht nur der eigentliche Akt des Selbstmords vorbereitet, sondern die Todes‐ motivik konzentriert und im Handeln des Protagonisten geradezu gebündelt. Das bereits im ersten Stasimon ausgeführte Motiv der Fremde, des unwirtli‐ chen Zustands vor Troia im Kontrast zur vertrauten und ersehnten salamini‐ schen Heimat bildet zudem einen Grundtenor der Ausführungen (v. 819, 846, kulminierend schließlich in den Anrufungen der heimatlichen sowie der tro‐ ischen Gefilde 859 ff., die wiederum die entsprechende Passage des Kommos (v. 412 ff.) spiegeln). Die Projektion der klagenden Mutter des Aias aus dem ersten Stasimon wird hier aus dem Mund des Helden selbst gesprochen zu einer Ge‐ wissheit; besonders eindrücklich sind dabei die parallelen Konstruktionen ὅταν κλύῃ φάτιν v. 850 gegenüber ὅταν ἀκούσῃ v. 625 f. sowie die Spiegelung des ἥσει, das die Äußerung der Klagelaute bezeichnet, aus Vers 630 in Vers 851. 265 Ein letztes Mal beschäftigt den Protagonisten zudem die Feindschaft zu den Atriden: Er wendet dieses seit dem Beginn des Dramas präsente und in der Par‐ odos illustrierte Motiv zum Fluch, indem er den Erinyen die Verfolgung der griechischen Anführer, ja des ganzen Heeres anheimstellt (v. 839 ff.). Die Anru‐ fung des Tageslichts, das Aias nun zum letzten Mal sehe (v. 856 ff.), kombiniert darüber hinaus mehrere motivische Linien: Zum einen ist die Apostrophierung der Dunkelheit aus dem dritten Strophenpaar des Kommos (v. 393 ff.) geradezu ins Gegenteil verkehrt; zum anderen setzt die Äußerung des Protagonisten der hoffnungsvollen Aussicht der Choreuten auf das Erscheinen des hellen Tages‐ lichts aus Vers 708 ff. eine düstere Realität entgegen. Solchermaßen pervertiert und kontrastiert gewinnt die standardisierte Ansprache des Lichts durch Tod‐ geweihte 266 an dramaturgischer Brisanz. Dass der Monolog dabei nicht nur bereits bekannte Motive aufnimmt und verarbeitet, dramaturgisch also zurückblickt, soll nicht verschwiegen werden: In den Versen 826-830 beschäftigt Aias ganz konkret die Sorge um seine Be‐ stattung. Teukros solle sicherstellen, dass sein (Aiasʼ) Leichnam nicht als Beute für Hunde und Vögel diene, sobald er einem der „Feinde“ zugefallen sei (v. 826 ff.). Im Angesicht der bevorstehenden Selbsttötung füllt sich damit die Sorge um das Eintreffen des Teukros, wie sie Aias zuvor bereits an den Tag gelegt I. Chöre wehrfähiger Männer 224 <?page no="225"?> 267 T A P L I N (1977) S. 384 f. 268 K A M E R B E E K (1953) S. 168. hatte, mit einer konkreten Beauftragung. Zugleich ist damit ein Ausblick in den zweiten Teil der Tragödie gegeben, der die Auseinandersetzungen hinsichtlich der Bestattung des Helden in Szene setzen wird. Insofern wird man zusammen‐ fassend T AP LIN zustimmen, der die Partie treffend charakterisiert: „Ajaxʼs speech is both a prologue to the second part of the play and the conclusion of the first.“ 267 Nicht nur die bereits an einigen Stellen präsente und hier schließlich konkreti‐ sierte Todesthematik sowie die effektvolle Klimax der Szenen bis hin zum Ab‐ gang des Chors unterstreichen also die Bedeutung des Auftritts und Monologs; gerade die Zusammenführung einer Vielzahl motivischer Stränge aus den Chor‐ liedern und anderen Partien bildet die thematische Engführung und Dramati‐ sierung der bis zu diesem Zeitpunkt allenfalls im Rahmen reflektierender Partien behandelter Themen. Die Motive werden dabei teils gespiegelt, teils erweitert bzw. intensiviert, teils pervertiert, in jedem Fall aber dramatisiert, d. h. unmit‐ telbar mit dem bevorstehenden Tun des Protagonisten verknüpft. Motivisch bündelt Sophokles das Vorangegangene im vorliegenden Monolog. Die in den Chorliedern vorgebrachten Reaktionen, Reflexionen oder Vorah‐ nungen werden hier aus der Perspektive des Haupthelden gesprochen zu dra‐ matischer Realität bzw. emotionaler Gewissheit des Sprechenden. Aias, der Motor des Geschehens, erweist sich so auch hier in der Kulminationsszene der Tragödie als im Vollsinn Handelnder. Ihm obliegt es, die bisher in reflektie‐ renden Partien verarbeitete Motivik in Aktion umzusetzen und damit neue Fakten zu schaffen, mit denen sich die anderen Akteure im Folgenden konfron‐ tiert sehen werden. Wir erkennen so deutlich, dass die Komposition und An‐ ordnung der Chorlieder im ersten Teil der Tragödie, d. h. bis zum Selbstmord des Protagonisten, dramaturgisch und motivisch auf den vorliegenden Monolog zulaufen und als dramatisches Gestaltungsmittel die Aussage- und Wirkabsicht des Dichters auf die Bühne bringen. K AME R B E E K s Einschätzung des Selbstmord‐ motivs innerhalb der vorliegenden Tragödie ist dabei besonders bemerkenswert: „It may be observed that the suicide is the central motif of this drama, different from the suicide of Haemon or Deianeira.“ 268 Der Kontrast ist deutlich: In der Antigone (Selbstmord von Haimon und Eurydike), den Trachinierinnen (Selbst‐ mord Deianeiras) und dem Oidipus Tyrannos (Selbstmord der Iokaste) fungieren Selbsttötungen als Reaktion von (Neben-)Personen entweder auf Taten der Haupthelden oder das Bewusstwerden der katastrophalen Wende und gehen 2. Aias 225 <?page no="226"?> 269 Zum Begriff „Epiparodos“ (sowie einer vergleichenden Analyse auf Basis der Interpre‐ tation der aischyleischen Eumeniden) vgl. T A P L I N (1977) S. 375 ff. demgemäß als dramatisch untergeordnetes Geschehen hinterszenisch von‐ statten. Nachdem sich der Chor bei seinem Abgang in zwei Hälften geteilt hat, treten auch nun die Choreuten mit Vers 866 von beiden Seiten wieder in die Orchestra und singen dabei ein zweites Auftrittslied, die Epiparodos. 269 Dramaturgisch wiederholt sich eine ähnliche Situation wie zu Beginn des Dramas: Erneut hat der Zuschauer gegenüber dem Chor einen entscheidenden Informationsvor‐ sprung. Als Zeuge der äußerst intimen Szene, die dem Wiederauftritt des Chors vorangeht, hat er einen direkten Einblick in die Gegebenheiten erlangt, die der Chor erst aufdecken muss. Wieder steht dabei die Figur des Protagonisten im Mittelpunkt: Diente schon der Prolog dazu, den Zuschauern den Haupthelden in einer Ausnahmesituation vor Augen zu führen, so greifen wir an der vorlie‐ genden Stelle eine ganz parallele Konstruktion. Auch im Anschluss an die Selbstmordszene wird das Publikum daraufhin Zeuge der Konfrontation der Schiffsmannschaft mit den veränderten Gegebenheiten. Schließlich ist eine wei‐ tere Parallele zur Komposition von Prolog und Parodos augenscheinlich: Statt den Chor direkt die Leiche des Aias finden zu lassen und damit die Handlung sofort weiterzuführen, erfolgt die Aufdeckung des Geschehenen beginnend ab Vers 891 erst durch Tekmessa. Hatte ihr Auftritt in Vers 201 mit der durch sie erfolgten Unterrichtung des Chors eine erste Dynamisierung des Bühnenge‐ schehens zur Folge, so ist ihr Kommen auch an unserer Stelle der wesentliche Handlungsimpuls. Bis zu diesem Punkt, d. h. von Vers 866 bis 890, hält der Dichter den Handlungsablauf an und verzögert so den dramatischen Progress durch die Einschaltung der kurzen Epiparodos. Wie zu Beginn des ersten Epeis‐ odions wird sich daraufhin nach dem Auftritt Tekmessas eine epirrhematische Partie, ein weiterer Kommos, anschließen; der Klageruf des Teukros in Vers 974 unterbricht daraufhin die Gesprächssituation. Zunächst zum formalen Aufbau der Passage: Auf die Wechselpartie der beiden Halbchöre in den Versen 866-878 folgt ein metrisches System, das sich über die Verse 879-914 erstreckt und nach der Einschaltung von zehn iambi‐ schen Versen Tekmessas (915-924) in den Versen 925-960 wiederholt wird. Einer größtenteils in dochmischen Versen komponierten Strophe des Chors (v. 879-890 bzw. 925-936) folgt dabei jeweils ein durch Klageinterjektionen ge‐ gliedertes, teils durch raschen Sprecherwechsel geprägtes Zwiegespräch zwi‐ schen Chor und Tekmessa (v. 891-914 bzw. 937-960), in dessen Mitte und an dessen Ende dem Chor eine etwas ausgreifende Periode zukommt. Zwölf iam‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 226 <?page no="227"?> 270 Zur rekonstruierten Aussprache des φ in der Zeit des Sophokles vgl. A L L E N (1988). Vox Graeca: A guide to the pronunciation of classical Greek, Cambridge, S. 16 ff. bische Verse Tekmessas (v. 961-973) schließen daraufhin die umfangreiche Partie. Die Wiederauftrittsszene des Chors sowie die direkt angeschlossene Auffindung des Leichnams ist so als eine metrisch und formal abwechslungs‐ reiche Partie von einiger Ausdehnung gestaltet, die der besonderen dramatur‐ gischen Situation sowie der aufgeworfenen Brisanz Rechnung trägt. Ein detaillierter Nachvollzug von Inhalt und Gedankenführung ist hier aller‐ dings entbehrlich, da die Partie im Wesentlichen die Suche nach und das Auf‐ finden des Leichnams, die Einsicht in die Täuschung hinsichtlich der wirklichen Absichten des Helden sowie die aus seinem Tod erwachsenden Schwierigkeiten behandelt und dabei zu einem großen Teil als Verbalisierung der eigentlichen Bühnenaktion dient. Im folgenden raschen Überblick sollen vor allem die sprachliche Gestaltung sowie die Spiegelungen und Anklänge aus anderen Par‐ tien der Tragödie benannt werden. Den von beiden Seiten in die Orchestra einziehenden Chor beschäftigt zu‐ nächst die erfolglose Suche nach Aias; der Dichter spielt in der sprachlich ef‐ fektvollen Gestaltung des Eingangs der Parodos mit dem Vorwissen der Zu‐ schauer und Leser, wenn er den ersten Halbchor singen lässt (v. 866 ff.): πόνος πόνῳ πόνον φέρει. πᾷ πᾷ πᾷ γὰρ οὐκ ἔβαν ἐγώ; Leid bringt [sc. neues] Leid dem Leide. Wohin, wohin, wohin ging ich denn nicht [und fand ihn trotzdem nicht]? In emotionaler Aufgewühltheit betritt der Chor den Ort des Geschehens. Die effektvolle Alliteration der p-Laute (π / φ) der ersten Verse 270 zieht sich mit dem Schlagwort πόνος durch den Wechselgesang der beiden Halbchöre (v. 874, 876). Die Wiederholung des Fragepronomens (v. 867) und der Interjektion (v. 870) verstärken den Eindruck situativen, d. h. ganz der dramatischen Situation und den aus ihr entstehenden Emotionen verhafteten Sprechens. Die Teilung des Chors gibt dem Dichter zudem die Möglichkeit, durch erregte Zwischenfragen (v. 873, 875) seitens der jeweils anderen Choreuten der Gespanntheit der Schiffs‐ leute sowie der virulenten Dramatik der Szene Ausdruck zu verleihen. Der Wechsel von Rede und Gegenrede innerhalb des Chors selbst dramatisiert dabei die Passage in bisher unbekanntem Ausmaß. Anders gesagt: Der Wiederauftritt des Chors ist eine genuin dramatische, d. h. Handlung darstellende, dialogische 2. Aias 227 <?page no="228"?> 271 So auch K A M E R B E E K (1953) S. 179 und S T A N F O R D (1963) S. 176. 272 Vgl. S T A N F O R D (1963) a. a. O.: „[…] distantly visible to the east of the Troad“. 273 Der Text des angeschlossenen Konditionalsatzes (εἰ v. 885) wirft in textkritischer Hin‐ sicht manche Probleme auf; auf eine detaillierte Darstellung der Sachlage soll hier ver‐ zichtet werden. Vgl. S T A N F O R D (1963) ad locum. 274 Auf die Problematik des Adjektivs ἀμενηνόν geht K A M E R B E E K (1953) S. 181 ein; S T A N‐ F O R D (1963) S. 177 erwägt mit einiger Vorsicht eine andere Ableitung. Szene. Innerhalb ihres Austauschs versichern sich die beiden Halbchöre, sowohl die westliche als auch die östliche Seite des Lagers bei den Schiffen erfolglos abgesucht zu haben. In Vers 879 vereinen sich die beiden Halbchöre wieder. Wenngleich der Ab‐ schnitt (v. 879-890) metrisch schon als erste Strophe zum folgenden Kommos gehört, so reflektiert er dennoch abschließend die ergebnislose Suche nach Aias. Der Chor richtet dabei zunächst die Frage nach dem Verbleib seines Herrn an drei Gruppen (v. 879-884): die Fischer, die auch in den Morgenstunden ihrer Arbeit nachgehen, die Nymphen des mysischen Olymps, 271 eines Berges in der entfernten Umgegend Troias, 272 sowie die Flüsse, die sich in den Bosporos er‐ gießen. 273 Das dreimalige Interrogativum τίς (v. 879 sowie 881) ist dabei sinn‐ fälliger sprachlicher Ausdruck der virulenten Ungewissheit der Schiffsleute. Schändlich sei es, so der Chor im Folgenden, dass er sich nicht in glückbrin‐ gendem Lauf (οὐρίῳ δρόμῳ) nähere, sondern nicht sehe, wo sich Aias, der „schwache Mann“, 274 aufhalte. Es ist deutlich, wie Sophokles hier die unterschiedlichen Kenntnisstände von Chor und Publikum in besonders expliziter Weise aufeinanderprallen lässt: Er nutzt die Informationshoheit des Zuschauers auf der Folie des suchenden Chors, um im Sinne der tragischen Ironie die Erwartung der bevorstehenden Konfron‐ tation zu steigern. Die Epiparodos an sich, d. h. die rein chorische Partie (v. 866-890) dient dabei ganz und gar der Ausgestaltung des Wiederauftritts des Chors und der Inszenierung seiner angstvollen Ungewissheit. Erst der Auftritt der Tekmessa setzt der Stimmung der Epiparodos ein Ende: Wie am Beginn der Tragödie ist es auch hier ein Amoibaion, in dem die Hinzu‐ getretene den Choreuten die Sachlage aufdeckt und deren suchender Unge‐ wissheit die reale Gegebenheit entgegensetzt. Die oben bereits formal analysierte Partie weist eine differenzierte Binnen‐ struktur auf, die die einzelnen Abschnitte in sich noch einmal gliedert: Schnelle, emotionale Sprecherwechsel in den dialogischen Partien der Strophe stehen ausführlicheren Betrachtungen der beiden Beteiligten gegenüber; diese Ausge‐ wogenheit rahmender Reflexion und pathetischer, emotionaler Klage bildet die innere, formale Spannung des Kommos. I. Chöre wehrfähiger Männer 228 <?page no="229"?> 275 Dieser Rückbezug ist ein gewichtiger Grund, in Vers 867 f. nicht mit Lachmann παπαῖ παπαῖ πᾶ zu lesen, sondern sich an den überlieferten Text zu halten. Es ist das drängende „Wohin? “ der auftretenden Schiffsleute, das an unserer Stelle noch nachklingt. 276 Das in einigen MSS überlieferte ἴδρις in Vers 885 ist im Anschluss an J E B B (1896), K A M E R B E E K (1953), S T A N F O R D (1963) aus metrischen Gründen auch von L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) gestrichen worden. 277 Die mehrdeutige Formulierung wird diskutiert bei K A M E R B E E K (1953) S. 186 f. Wir müssen nicht ausführlich auf den Inhalt des Klagegesangs eingehen, ein kurzer Überblick soll auch hier genügen: Tekmessa hat bei ihrem Auftritt die Leiche des Aias entdeckt und offenbart nun dem Chor, dass dieser tot am Boden liege (v. 898), von eigener Hand gerichtet (v. 906). Auf beide Informationen ant‐ wortet der Chor mit einem Klageausbruch: Er verzweifelt zunächst an seiner eigenen Rückkehr in die Heimat (v. 900 ff.) und macht sich darauf Vorwürfe, unachtsam, unwissend und ohne rechte Sorge gewesen zu sein (v. 908). Den Beginn der Epiparodos durch die effektgeladene Wiederholung des πᾷ wieder aufgreifend fragt er diesmal nach der Leiche des Aias. 275 Von besonderem Inte‐ resse sind dabei die zu Aiasʼ und des Chors eigener Charakterisierung verwen‐ deten Adjektive: Das betont auf sich selbst (ἐγὼ δʼ) bezogene und durch πάντα κωφός durch ein visuell-ästhetisches Moment gesteigerte πάντʼ ἄιδρις (v. 911) 276 kontrastiert die Selbsteinschätzung des Chors im Angesicht der Katastrophe mit der eben noch erbetenen Einsicht von Seiten vermeintlich kundiger Dritter. In den Aias zukommenden Bezeichnungen spiegeln sich im Besonderen Momente anderer Partien: So nimmt ἄφαρκτος φίλων (v. 910) die Apostrophierung des Chors durch Aias als φίλοι (v. 349, 406; ähnlich ἑταῖροι v. 687) wieder auf und konterkariert das durch den Haupthelden sowie durch Tekmessa (vgl. v. 328 ff.) verschiedentlich evozierte Freundschaftsverhältnis. Die dem Eigennamen des Haupthelden direkt beigestellten Adjektive δυστράπελος und δυσώνυμος (v. 914) bilden zudem einen durch die Doppelung verstärkten Anklang an Vers 609, in dem die Anwesenheit des als δυσθεράπευτος bezeichneten Aias als der Gipfel der durch die Choreuten zu ertragenden Mühen genannt wurde. Tekmessa bedeckt daraufhin den Leichnam mit einem Tuch und wehrt den Chor ab, der einen Blick auf Aias werfen möchte. Dennoch beschreibt sie den grausigen Anblick des Toten, verleiht ihrer Hoffnung auf die baldige Ankunft des Teukros Ausdruck und spricht ihren toten Gemahl direkt an: Mittlerweile habe er es verdient, sogar von seinen Feinden beklagt zu werden (v. 923 f.). In der folgenden Gegenstrophe nimmt der Chor Tekmessas Impuls auf und wendet sich direkt an seinen toten Herrn: Er, Aias, habe schon seit geraumer Zeit beabsichtigt, das „üble Schicksal der unendlichen Leiden“ (κακὰν μοῖραν ἀπειρεσίων πόνων v. 926 f.) zu vollenden. 277 Solchermaßen Hasserfülltes habe er 2. Aias 229 <?page no="230"?> bei Nacht und bei Tag gegen die Atriden ausgestoßen; ursächlich dafür sei die Zeit gewesen, als der Streit um die Waffen des Achill entschieden wurde. Mit στερεόφρων (v. 926) und ὠμόφρων (v. 930) sind auch in dieser Wortmel‐ dung des Chors zwei besonders gewichtige Adjektive gebraucht, die den Cha‐ rakter des Haupthelden auszuleuchten suchen. In besonderer Weise ist mit ὠμόφρων das in der Strophe von Aias ausgesagte ὠμόθυμον (v. 885) sowie Tek‐ messas Einschätzung ihres Mannes als ὠμοκρατής (v. 205) wieder aufge‐ nommen. In der sich anschließenden Wechselrede (v. 937-960) verbalisiert zunächst Tekmessa ihre Sorge um die Zukunft und bekundet ihre Gewissheit, dass die Einwirkung Athenes zu Gunsten des Odysseus einen wesentlichen Beitrag zur gegenwärtigen Situation geleistet habe (v. 950 sowie 952 f.). Der Chor stimmt Tekmessa weitestgehend zu und imaginiert in den Versen 955 ff. die seines Erachtens wahrscheinliche Reaktion des Odysseus: Dieser werde sich in Spott (ἐφυβρίζει) und mitsamt den Atriden in Lachen über das vorliegende Leid er‐ gehen. Die Tekmessa im Anschluss zukommenden iambischen Verse (961-974) ge‐ hören formal noch zur kommatischen Partie, ihr genauer inhaltlicher Nach‐ vollzug ist aber hier entbehrlich. Festzuhalten bleibt, dass Tekmessa erneut den großen Verlust betont, den Aiasʼ Tod für sie bedeute, die Bedeutung des göttli‐ chen Einflusses unterstreicht und hinsichtlich einer möglichen Verhöhnung des Toten durch Odysseus oder die Atriden ihr eigenes Leid herausstellt. Folgendes soll festgehalten werden. Der Kommos entspinnt sich aus einer dem Beginn des ersten Epeisodions ähnlichen dramaturgischen Situation: Tekmessas Auftreten setzt der Ungewissheit der Schiffsmannschaft die Kenntnis der wahren Umstände entgegen. Der Wechselgesang nimmt dabei thematisch auf den ersten Kommos Bezug: Wie schon zu Beginn des Stücks stellen die Feind‐ schaft zu den Atriden, die ungewissen Zukunftsaussichten der Angehörigen des Aias sowie die schiere Ohnmacht gegenüber der Tatkraft und Entschlossenheit des Helden Hauptmotive des Austauschs dar. War dabei die Lage, in der sich Tekmessa und der Chor als Aiasʼ Vertraute zu Beginn des ersten Epeisodions befanden, bereits kritisch, so hat sich die Problematik durch den Tod des Helden potenziert. Gerade auf der Folie des in der Parodos verbalisierten Schutz- und Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Aias und den Schiffsleuten (v. 158 ff.) er‐ hält die düstere Zukunftsaussicht, wie sie Tekmessa entwirft (vgl. v. 944), be‐ sondere Brisanz. Der Chor fungiert hierbei als Resonanzboden der Emotionalität Tekmessas und flicht mit den Bemerkungen zu den Atriden (v. 946 ff.) eine bei‐ ßende Note in die Reflexion ein, die die unversöhnliche Haltung gegenüber den Heerführern unterstreicht. Dass darüber hinaus sowohl Tekmessa als auch dem I. Chöre wehrfähiger Männer 230 <?page no="231"?> Chor gerade Odysseus als konkretes Feindbild vorschwebt, stellt eine weitere Parallele zum ersten Kommos dar. Hatte die dortige Charakterzeichnung des Odysseus sein Verhalten in der Prologszene konterkariert, so dient die hier er‐ neut vorliegende negative Zeichnung des Odysseus als Folie für sein Verhalten, wie es das Ende der Tragödie inszenieren wird: Keineswegs wird er sich nach seinem Auftritt in Vers 1316 in Spott über Aias ergehen; vielmehr wird erst das Einschreiten des an unserer Stelle erneut als besonders feindselig geschilderten Helden die entscheidende Wende im Streit um die Bestattung des Aias bringen und so das durch den Chor gezeichnete Charakterbild erneut revidieren. Als mittlerweile dritter Klagegesang innerhalb der Tragödie präsentiert sich die vorliegende Partie so als ein erneutes Moment pathetischer Gefühlsbekun‐ dungen. In seinen reflektierenden Teilen lässt sie die bisherige Entwicklung der Handlung aus der nun gewonnenen Perspektive noch einmal präsent werden und bekundet den Erkenntnisgewinn des Chors angesichts der zuvor falsch eingeschätzten Lage. Das beinhaltet freilich auch die Einsicht, durch Aiasʼ Vor‐ gehen im Vorfeld der Selbsttötung getäuscht worden zu sein (vgl. v. 911 ff. sowie 925 ff.). Rückblickend entlarvt so der Chor selbst seinen Jubelausbruch im zweiten Stasimon als fehlgeleitet; dass dabei allerdings augenscheinliche Paral‐ lelen zwischen den beiden Partien fehlen, keine motivischen oder begrifflichen Anklänge zu finden sind, erklärt sich aus der Situativität und Dramatisierung der kommatischen Partie. Anders gesagt: Die Schiffsleute sind in solchem Maß in das momentane Geschehen eingebunden, dass eine explizite Reflexion über den eigenen Irrtum nur in Ansätzen erfolgt. War also der Todesmonolog des Haupthelden eine bedeutende Gelenkstelle der gesamten Tragödie, die unter Wiederaufnahme und Verarbeitung promi‐ nenter Motive den ersten Teil des Dramas mit dem zweiten verknüpfte, so greifen wir hier den forcierten Wiederbeginn der Handlung, die mit dem Tod des Protagonisten zu einem vorläufigen Ende gekommen war. Der Wiederauf‐ tritt des Chors und das Dazustoßen Tekmessas sind dabei als genuin dramatische Ereignisse inszeniert, die die Bühnenaktion selbst mit einem Höchstmaß an Emotionalität, dialogischer Vehemenz und visueller Drastik aufladen. Dennoch sind es auch hier nicht Tekmessa und der Chor, sondern ein Eingriff von außen, der die Handlung erneut in Gang bringt: der Auftritt des Teukros. Auch darin gleichen sich der Kommos am Beginn des ersten Epeisodions und die vorlie‐ gende Partie: Nach der Information durch Tekmessa stieß erst der Auftritt des Haupthelden die Handlung wieder an. Richten wir unser Augenmerk kurz auf die Figur des Teukros und seine Ein‐ führung in die dramatische Handlung, da wir an diesem Detail die Fügung der beiden Teile des Dramas besonders gut greifen können. Teukros dient als ver‐ 2. Aias 231 <?page no="232"?> 278 Dass der Protagonist dabei sowohl die Rolle des Aias als auch nach der Selbstmordszene die des Teukros zu spielen hat, ist eine sinnfällige Koinzidenz von Handlungsfügung und theatertechnischen Realien. Ganz gleich verhält es sich in den Trachinierinnen: Dort spielt der Protagonist zunächst die Rolle der Deianeira und übernimmt nach deren Ab‐ tritt den Part des Herakles. bindendes Element zwischen den beiden Teilen des Dramas: Er übernimmt nach seinem Auftritt die wesentliche Handlungsführung, indem er die Vorberei‐ tungen zur Beerdigung seines Halbbruders einleitet und sich mit Menelaos und Agamemnon zwei Rededuelle über die anstehende Bestattung liefert. Er betritt dabei die Bühne nicht unangekündigt: Ähnlich wie nach dem Kommos und der Sprechpartie zwischen Tekmessa und dem Chor (v. 333) ist es auch hier (v. 974) zunächst ein hinterszenischer Klageruf, der den Auftritt vorbereitet. Der Chor heißt Tekmessa daraufhin schweigen und identifiziert die gehörte Stimme als die des Teukros, der darauf sofort die Bühne betritt. Auch im ersten Teil des Dramas war die Ankunft des Teukros (v. a. von Aias) mit besonderer Intensität erwartet bzw. herbeigesehnt worden. So galt schon die erste Äußerung des Protagonisten nach den Klagerufen vor seinem eigent‐ lichen Wiederauftritt im ersten Epeisodion dem Halbbruder (Τεῦκρον καλῶ. ποῦ Τεῦκρος; v. 342). Dreimal kam Aias im Folgenden noch explizit auf seinen Halbbruder zu sprechen: Er versprach seinen Angehörigen in Vers 562, er werde ihnen Teukros als Schutz zurücklassen, bat in Vers 688, Teukros, wenn er komme, daran zu erinnern, sich um ihn selbst zu kümmern sowie seine Ange‐ hörigen wohlwollend zu behandeln, und erbat kurz vor seinem Tod von Zeus, ein Bote möge die Todesnachricht zu Teukros bringen, damit dieser ihn begrabe (v. 826 f.). Teukros spielte für Aias, wie wir sehen, bei der Vorbereitung seines Selbstmordes eine entscheidende Rolle und war ein zentraler Bezugspunkt seiner Überlegungen. Die Frage nach Teukros und die damit verbundene Er‐ wartung seiner Ankunft zog sich indes geradezu leitmotivisch durch den ersten Teil des Dramas und wurde von Tekmessa an zwei prominenten Stellen wörtlich wiederholt: So fragte sie, nachdem der Bote sie über die für Aias drohende Ge‐ fahr informiert hatte, ebenso nach Teukros (v. 797) wie im Kommos im An‐ schluss an den Tod ihres Mannes (v. 921). Fassen wir zusammen: Die Figur des Teukros war in den Aussagen von Aias und Tekmessa vom Wiederauftritt des Protagonisten an präsent. Durch die Wünsche und Aufträge seines Halbbruders wird Teukros zum Nachlassver‐ walter des Aias, er übernimmt bis zu einem gewissen Grad dessen Stelle 278 und hält, wie noch zu zeigen sein wird, in besonderem Maße die dramatischen Fäden des zweiten Teils zusammen. Die Erwartung seiner Ankunft stellte ein Leitmotiv I. Chöre wehrfähiger Männer 232 <?page no="233"?> des ersten Teils der Tragödie dar, deren Erfüllung die Überleitung zum zweiten Teil bildet. Drittes Stasimon (v. 1185 - 1222) Mit dem dritten Standlied greifen wir die letzte umfangreichere lyrische Partie des Chores innerhalb der Tragödie. Machen wir uns die dramatische Situation zu Beginn des Liedes klar, indem wir die Handlung nach dem Auftritt des Teukros bis zu diesem Punkt wiedergeben. Die Reaktion des Teukros auf den Tod seines Halbbruders ist von Trauer und Klage geprägt: Nach einer kurzen Information durch den Chor (v. 979-985) be‐ auftragt er zunächst Tekmessa, ihren Sohn zu holen, um sicherzustellen, dass er nicht von „einem der Böswilligen“ (τις δυσμενῶν v. 986 f.) geraubt würde. Tek‐ messa verlässt daraufhin die Bühne; sie wird erst in Vers 1168 mit dem Knaben zurückkehren. Nach einer ermunternden Zwischenbemerkung des Chors (v. 990 f.) beklagt Teukros in einem ausgreifenden Monolog (v. 992-1039) die Schwere des Schicksals, seine eigene schwierige Situation und die Verbindung des gegenwärtigen Leids mit der Vorgeschichte. Von besonderem Interesse hin‐ sichtlich der Motivik ist dabei eine Passage aus der Mitte des Monologs: Nachdem es Teukros ermöglicht wurde, einen Blick auf seinen toten Halbbruder zu werfen (v. 1003 ff.), stellt er sich vor, wie der gemeinsame Vater bei seiner Rückkehr auf die Nachricht von Aiasʼ Tod reagieren werde: Er, Telamon, werde ihm, Teukros, den Vorwurf machen, den Bruder aus Feigheit im Stich gelassen zu haben (v. 1014), womöglich sogar mit List gehandelt zu haben, um nun Herr‐ schaft und Einfluss des Verstorbenen an sich zu nehmen (v. 1015 f.). Mit diesen Ausführungen sowie der Charakterisierung des Vaters ist die Gestalt Telamons zum dritten Mal nach dem ersten Stasimon (v. 641 ff.) sowie Aiasʼ Todesmonolog (v. 848) Bezugspunkt der Reflexion. Im Vordergrund steht hier allerdings nicht die imaginierte Trauer über den Tod des Aias, sondern das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen Teukros und seinem Vater, das durch die neuesten Ereig‐ nisse eine weitere Verschlechterung erfahren dürfte. Der vom Chor in Vers 1040 angekündigte Auftritt des Menelaos unterbricht daraufhin Teukrosʼ Reflexion über das Verhältnis von Hektor und Aias (v. 1028-1039) und leitet das folgende Streitgespräch zwischen dem Heerführer und Teukros ein. Auf ein kurzes Wechselgespräch (v. 1047-1051) folgen Monologe der beiden Konkurrenten (v. 1052-1090 sowie 1093-1116), ein stichomythischer Teil (v. 1120-1141) und noch einmal abschließende monologische Partien (v. 1142-1149 und 1150-1158) sowie die in je einem Verspaar vorgebrachte Ab‐ trittsbekundung des Menelaos und deren Kommentierung durch Teukros (v. 1159 f. und 1161 f.). Inhaltlich stehen sich die beiden Personen unversöhnlich 2. Aias 233 <?page no="234"?> 279 Die Szene ist religions- und kulturwissenschaftlich von einiger Bedeutung: Inszeniert wird die an die Hikesie angelegte kultische Handlung des Totenopfers. Vgl. dazu J O H N S T O N (2002). „Totenkult [IV] Griechenland.“ in: DNP Band 12 / 1, Sp. 710-711. F L E T C H E R (2014). „Burial.“ in: The Encyclopedia of Greek Tragedy I, hrsg. v. R O I S M A N (2014), Malden (MA), S. 190-192. gegenüber: Teukros tritt für die rasche Bestattung seines Halbbruders ein, die Menelaos mit Betonung auf der Gefahr, die vom rasenden Aias für die anderen Griechen ausging, verbietet. Der Streit endet nach dem Austausch einiger Ar‐ gumente, denen persönliche Angriffe und Spitzen nicht fehlen (vgl. v. 1137, 1157 ff.), ergebnislos mit dem wütenden Abgang des Menelaos und der unge‐ brochenen Entschlossenheit des Teukros. Während der Auseinandersetzung hatte sich der Chor zurückgehalten und nur durch moderierende Einwürfe in Form des standardisierten Doppelverses nach der Rhesis eines Akteurs beide Seiten zur Mäßigung aufgerufen (v. 1091 ff., 1118 f.). Ihr Hauptanliegen haben die Choreuten dabei schon nach dem Monolog des Teukros, also direkt vor dem Auftritt des Menelaos, vorgebracht. Sie wiederholen es auch nach dem Abgang des Heerführers in den Versen 1163-1167: Teukros solle sich so schnell wie möglich (ταχύνας σπεῦσον v. 1164 f.) um eine geeignete Grabstätte für Aias kümmern und die Beerdigung vollziehen. Dabei sind sich die Choreuten sicher, dass bezüglich dieser Angelegenheit eine überaus konfliktreiche Auseinander‐ setzung (μεγάλης ἔριδός τις ἀγών v. 1163) noch bevorstehe. Im Anschluss daran betritt Tekmessa mit dem Sohn des Aias die Bühne. Teukros begrüßt die Angehörigen seines Halbbruders (v. 1168-1170) und in‐ szeniert eine vorweggenommene Grabspende, indem er je eine Haarlocke von Tekmessa, Eurysakes und sich selbst abtrennt und sie dem Jungen in die Hand gibt (v. 1174). Dieser solle, während Teukros selbst sich nach einem geeigneten Grab umsehe, beim Leichnam seines Vaters stehen bleiben und so als Schutz‐ flehender (ἱκέτης v. 1172, sowie ἱκτήριον θησαυρόν v. 1175 von den Haarlocken gesagt) garantieren, dass keiner den toten Aias fortschaffen oder die Bestattung in anderer Weise behindern könne. Etwaige Übertreter dieser solchermaßen kultisch geschützten Totenruhe belegt er zudem mit einem Fluch (v. 1175 ff.). 279 Mit der Aufforderung an die Schiffsmannschaft, nicht als Weiber statt als Männer daneben zu stehen, sondern auch gegen Widerstand Dritter aktiv mit‐ zuhelfen (ἀρήγετʼ v. 1183), bis er sich um ein Grab gekümmert habe, verlässt Teukros die Bühne. Unter unseren Gesichtspunkten ist besonders die formale Gestaltung dieser letzten Partie des Epeisodions, genauer: die Abgrenzung der vom Monolog des Teukros geprägten Szene von der vorangegangenen Konfliktszene von Inte‐ resse. Kamen dem Chor in der ersten, umfangreichen, vom Rededuell der beiden I. Chöre wehrfähiger Männer 234 <?page no="235"?> 280 Ob man dabei K A M E R B E E K (1953) S. 224 folgt, der in dieser Form des Szenenschlusses ein archaisches Moment des Stücks („an archaic trait of the Ajax“) erkennt, soll dahin‐ gestellt bleiben. Die von K A M E R B E E K angeführte Parallelstelle in der Antigone (v. 929-943) weist dabei zunächst rein formale Verschiedenheiten auf: So folgt erstens dort auf die anapästische Partie direkt das Stasimon des Chors (so auch K A M E R B E E K (1953)), zweitens kommen nicht nur dem Chor anapästische Verse zu: Zunächst wechseln sich Chor und Kreon zweimal mit je einem Doppelvers ab, bevor Antigone sieben anapäs‐ tische Verse zukommen, die zugleich ihre letzten Worte auf der Bühne darstellen. Der anapästischen Passage geht darüber hinaus kein Abtritt eines Akteurs voraus, vielmehr folgt ihr der endgültige Abgang der Protagonistin im Anschluss an Vers 943. Die Ein‐ schaltung der anapästischen Verse dient so nicht der Abtrennung einer Szene von einer anderen im selben Epeisodion, sondern vielmehr als besonders wirkungsvolles Cre‐ scendo der vorangegangenen Auseinandersetzung zwischen Kreon und Antigone sowie der herausgehobenen Markierung ihres Abtritts. Akteure Teukros und Menelaos geprägten Szene im Wesentlichen die charak‐ teristischen Doppelverse zu, so komponiert der Dichter in deren Anschluss ein kurzes anapästisches System (v. 1163-1167). Damit ist einerseits das Ende der Menelaos-Szene formal besonders deutlich markiert, 280 andererseits die Konti‐ nuität des Epeisodions gewahrt. Statt es nach der ersten Konfliktszene zu be‐ enden, Teukros abtreten und ein Stasimon folgen zu lassen, ereignet sich mit dem Wiederauftritt Tekmessas und ihres Kindes sowie Teukrosʼ Ansprache an sie und den Knaben ein völliger Stimmungswandel. Standen sich mit Teukros und Menelaos eben noch der Sachverwalter des Haupthelden sowie dessen Ant‐ agonist in lebhaftem Austausch gegenüber, so inszeniert die angeschlossene kurze Szene einen besonders intimen Moment der Familienzusammenführung, die zudem ganz entschieden die Führungsrolle des Teukros hervorhebt. Dass sowohl Frau als auch Kind des Toten im Folgenden bei der Leiche verbleiben und so während der nach dem dritten Stasimon folgenden Exodos neben dem Streitgespräch zwischen Teukros und Agamemnon einen zweiten Fokus auf der Bühne darstellen, erhöht freilich die emotionale Spannung der folgenden Kon‐ frontation. Anders gesagt: Wird sich auch die Auseinandersetzung mit Aga‐ memnon im Folgenden zunächst auf die Rolle und den sozialen Stand des Teukros konzentrieren (vgl. im Besonderen Agamemnons Monolog v. 1226-1263, der sich nur am Rand mit der Bestattungsproblematik auseinander‐ setzt), so bleibt die Frage nach der Behandlung, die dem Leichnam des Haupt‐ helden zukommen soll, visuell präsent. Die anapästischen Verse des Chors tragen zwar inhaltlich nichts Wesentliches zur Situation bei, sind allerdings, wie gezeigt wurde, ein wesentliches Moment zur Strukturierung und Phasierung des Epeisodions. Mit äußerster dramaturgi‐ scher Ökonomie erreicht Sophokles hier die Abteilung einer gänzlich anders gearteten Szene, deren Emotionalität und Innerlichkeit einen besonderen Kon‐ 2. Aias 235 <?page no="236"?> 281 So K A M E R B E E K (1953) S. 227. trast sowohl zum vorausgegangenen offenen Konflikt als auch dem folgenden darstellen. Hinsichtlich der dramaturgischen Ausgangssituation des folgenden Stasimons soll Folgendes festgehalten werden. Die Auseinandersetzung zwischen Teukros und Menelaos hat neue Dynamik in die Handlung gebracht: Das Motiv der feindseligen Atriden, wie es der Chor und Aias selbst im ersten Teil der Tragödie entfaltet hatten, findet hier seine dramatische Umsetzung. Menelaos bestätigt dabei die besonders vom Chor geäußerten Vorurteile gegenüber den Atriden; das so verschiedentlich thematisierte Feindbild wird damit personell greifbar. Mit der Frage nach der Bestattung des Aias widmet sich die Tragödie in ihrem zweiten Teil einer konfliktorientierten Thematik, wobei die Person des Aias und seine Taten auch nach dem Tod noch im Zentrum der Auseinandersetzung stehen. Mit Teukros auf der einen und den Atriden auf der anderen Seite sind die Positionen des Streits offenkundig und stehen sich nach diesem Auftritt un‐ versöhnt gegenüber. Erst das vermittelnde Einschreiten des Odysseus wird nach einer weiteren Streitszene mit Agamemnon die Lösung des Konflikts herbei‐ führen. Durch den von Teukrosʼ Ansprache an Tekmessa und den Knaben geprägten familiären Szenenschluss endet das Epeisodion zwar nicht mit dem konfliktrei‐ chen Aufeinanderprallen der beiden Antipoden, sondern setzt der verbalen Dra‐ matik des Redeagons eine eher ruhige Szene entgegen. Die der gesamten Situ‐ ation innewohnende Spannung mitsamt der ihr eigenen Feindseligkeit und potentiellen Gefahr ist dabei aber keineswegs gelöst, sondern geradezu subli‐ miert und in der bis auf Teukrosʼ Anweisungen stummen Hikesie wie in einem Standbild eingefroren. Den Chor, der nach dem Abtritt des Teukros in Vers 1185 das dritte Standlied beginnt, scheint weder der vorangegangene Konflikt zwischen Teukros und Menelaos noch die Hikesieszene zu beschäftigen; Thema des Stasimons ist die Härte des Krieges, der verlorene Schutz durch Aias und die Sehnsucht der sa‐ laminischen Seeleute nach ihrer attischen Heimat. Eine doppelte Frage (τίς bezogen auf νέατος, möglicherweise zu ergänzen ἔσται; 281 sowie ἐς πότε bezogen auf λήξει) leitet das Stasimon ein: Wann werde die Zahl der „umherirrenden Jahre“ (πολυπλάγκτων ἐτέων ἀριθμός) erfüllt sein, die die Schiffsleute mit Mühen und Leiden vor Troia verbringen müssen? Die angeschlossene Partizipialkonstruktion bestimmt die solchermaßen umrissene I. Chöre wehrfähiger Männer 236 <?page no="237"?> 282 Die textkritischen Probleme des Verses 1190 interessieren unter unseren Gesichts‐ punkten nicht. Vgl. K A M E R B E E K (1953) S. 227 f. sowie S T A N F O R D (1963) S. 206 ad locum. 283 Die Alliteration des p in Vers 1198 ist dabei freilich eine Reminiszenz an den Beginn der Epiparodos (v. 866). 284 K A M E R B E E K (1953) S. 228. Zeit genauer: Sie füge den Choreuten (ἐμοί v. 1187) hier vor Troia 282 immerzu das „Unheil speerschleudernder Mühen“ (δορυσσοήτων μόχθων ἄταν) zu und sei - so die an das Ende der Strophe gestellte Apposition - eine unselige Schande der Griechen (δύστανον ὄνειδος Ἑλλάνων v. 1191). Die mit drastischen Worten das Ungemach des Krieges malende Frage zieht sich so durch die gesamte Strophe und weitet an ihrem Ende den Blick über die enge Sphäre der Angehörigen des Aias hinaus. Die Choreuten verstehen dabei ihre Sorge und Not als geradezu exemplarisch für den Zustand des gesamten griechischen Heeres. In diesem allgemeinen Zusammenhang fährt der Chor fort, wenn er in der ersten Gegenstrophe den „Lehrer“ des Kriegs verflucht, indem er einen uner‐ füllbaren Wunsch formuliert (ὄφελε v. 1192): Wäre doch derjenige, der den Griechen den gemeinsamen Krieg (κοινὸν Ἄρη) zeigte, d. h. lehrte, besser im weiten Aither (αἰθέρα μέγαν v. 1192 f.) oder im Hades versunken (δῦναι)! Nach dem besonders emotionalen Ausruf ὦ πόνοι πρόγονοι πόνων (v. 1197) 283 erfolgt die Begründung der Verfluchung: Jener Kriegslehrer nämlich habe Menschen zu Grunde gerichtet. Der ausgedehnten Frage der Strophe antwortet hier also ein ähnlich ausgreifender irrealer Wunschsatz, der erneut das gesamtgriechi‐ sche Schicksal in den Blick nimmt, bevor mit dem Schlussvers der Gegenstrophe eine ganz allgemeine Schilderung des verderblichen Wirkens des troianischen Krieges gegeben wird. K AME R B E E K s Bemerkung, der Chor ergehe sich hier in der Verfluchung des πρῶτος εὑρετής, 284 also des allgemein ersten Lehrers der jeweils in Rede stehenden verdammungswürdigen Kulturerscheinung, läuft dabei Ge‐ fahr, die Aussagen des Chors in höherem Maß zu verallgemeinern, als es der Wortlaut nahelegt: Im Fokus der Schiffsleute steht - ganz aus ihrer eigenen Situation gesprochen - dezidiert der Mann, der die Griechen den „gemeinsamen Krieg“, d. h. den Kampf vor und um Troia lehrte, nicht etwa der erste Erfinder 2. Aias 237 <?page no="238"?> 285 Ich folge dabei J E B B (1896) S. 179 zu v. 1196: „‘public’ warfare, in which all the Greeks make common cause (as against the Trojans)“ und kann mich der bei K A M E R B E E K (1953) S. 229 vorgetragenen Ablehnung dieser Erläuterung zu Gunsten einer allgemeineren (und sprachlich unbefriedigenderen) Lösung nicht anschließen. Der dabei von K A M E R‐ B E E K zitierte locus classicus Tibull 1, 10 ist dahingegen in der Tat die Verfluchung des πρῶτος εὑρετής, was der lateinische Wortlaut besonders deutlich macht: […] horrendos primus qui protulit enses (v. 1); insofern ist der Vergleich der beiden Stellen nur bedingt aussagekräftig. Dass der bei K A M E R B E E K (1953) a. a. O. zitierte Scholiast in seiner Er‐ klärung dezidiert von ὁ πρῶτος εἰσενεγκών spricht, tut der hier vorgelegten Interpre‐ tation des Sophoklestextes keinen Abbruch. des Kriegs an sich. 285 Der Chor bleibt so an unserer Stelle in einem relativ engen thematischen Bereich, wenn er auch den Blick kurzzeitig von seiner ganz ei‐ genen, persönlichen Situation auf das Schicksal des ganzen griechischen Heeres und die nicht weiter genannten Opfer des troianischen Kriegs lenkt. Eine wirk‐ lich generelle, abstrakte Deutung des Phänomens „Krieg“ ist allerdings hier nicht zu finden. Die von Sophokles gewählte Form der Verfluchung des für den Krieg der Griechen Verantwortlichen trägt unter Berücksichtigung der oben erwähnten Einschränkungen einzig gewisse Züge einer Verdammung des πρῶτος εὑρετής und spielt so ganz bewusst mit dem Verhältnis von Allgemein‐ gültigkeit und konkreter Anlassbezogenheit. Das erste Strophenpaar hat so den thematischen Rahmen des gesamten Sta‐ simons im Wesentlichen abgesteckt: Ausgehend von der konkreten Situation der Choreuten, die sich ein Ende der Kriegsmühen vor Troia wünschen, weitet sich der Blick zu einer etwas allgemeineren Perspektive, die dennoch den Rahmen der Situation, d. h. konkret die spezifische Kriegssituation der Griechen, nicht aus dem Blick verliert. Mit dem (troianischen) Krieg ist dabei das Grund‐ übel thematisiert, aus dem sich weitere Übel entwickelt haben (vgl. v. 1197). Die Folgen des Krieges beschreibt die zweite Strophe personalisiert als direktes Eingreifen des Kriegslehrers der Griechen in das Leben des Einzelnen. Mit ἐκεῖνος (v. 1199) ist damit die Bezeichnung κεῖνος aus dem vorhergehenden Vers wieder aufgenommen, was die beiden Strophenpaare besonders eng mitei‐ nander verknüpft. Die Perspektive hat sich allerdings wieder verengt: Als Be‐ troffener der mit dem Krieg einhergehenden Entbehrungen erscheint hier er‐ neut der Chor (ἐμοί v. 1201). Jener Kriegslehrer gewähre es ihnen weder, an Kränzen (στεφάνων v. 1199), d. h. dem symposialen Kopfschmuck, noch an der Freude gefüllter Becher (βαθεῖαν κυλίκων τέρψιν) teilzunehmen, ebenso wenig den angenehmen Klang von Flöten (γλυκὺν αὐλῶν ὄτοβον) zu hören oder nächtliche Freude (ἐννυχίαν τέρψιν) zu genießen. Diese Bemerkung wird mit Vers 1205 f. konkretisiert: Auch vom Liebesgenuss (wiederholtes ἐρώτων) habe I. Chöre wehrfähiger Männer 238 <?page no="239"?> 286 Dass den Ausführungen des Chors dabei ein anachronistisches Moment innewohnt und zum sozialen Status der Schiffsleute in besonderem Kontrast steht, zeigt zu Recht K A‐ M E R B E E K (1953) S. 229 f. mit Rückgriff auf die Scholien. Vgl. zudem S T A N F O R D (1963) S. 207 f. 287 So auch K A M E R B E E K (1953) S. 231 und S T A N F O R D (1963) S. 209. 288 Ich folge der allgemein anerkannten Konjektur von Brunck und lese λυγρᾶς statt λυγράς, was auf κόμας zu beziehen wäre. der Kriegslehrer die Schiffsleute zurückgehalten. Die einzelnen aufgezählten Entbehrungen entwerfen so das Panorama symposialer Festfreude, das in der offenen Thematisierung der Erotik seinen Abschluss findet. 286 Statt diesen angenehmen Zeitvertreib genießen zu können, liege er, so die durch δʼ (v. 1206) angeschlossene Antithese, vernachlässigt (ἀμέριμνος) im of‐ fenen Felde und habe vom Tau (und anderem Niederschlag) feuchte Haare. Der Kontrast zur Schilderung der symposialen Gebräuche ist in diesem Detail be‐ sonders deutlich: Während beim Gastmahl den Haaren mit dem (hier nicht er‐ wähnten) Salben / Einölen sowie dem Bekränzen (v. 1199) ein besonders festli‐ cher Schmuck zukommt, sind sie in der konkreten Situation der Choreuten schutzlos der Witterung ausgeliefert. In Analogie zur ersten Strophe 287 be‐ schließt auch hier eine Satzapposition die Periode: Dies alles seien für den Chor „Erinnerungen an das unheilvolle Troia“ (λυγρᾶς μνήματα Τροίας v. 1209 f.), 288 sie führen dem Chor also deutlich vor Augen, dass er sich in der unwirtlichen Belagerungssituation befindet, und rufen ihn so geradezu aus der Imagination der symposialen Phantasie wieder in die dramatische Realität. Mit der kontrastiven Schilderung der Realität vor Troia hat die erste Strophe hier ihre Konkretisierung erfahren. Dabei steht allerdings nicht das eigentliche Kriegsgeschäft im Vordergrund, sondern damit einhergehende Begleiterschei‐ nungen, die zu Verzicht und dem Verlust an Lebensqualität führen. Die Unbill des Krieges ist so e negativo besonders eindrucksvoll geschildert. Auf Aias und die nach seinem Tod veränderte Lage kommt der Chor mit der zweiten Gegenstrophe zu sprechen, die zunächst ganz von der Gegenüberstel‐ lung zweier Zeitebenen geprägt ist: Früher (πρίν v. 1211) sei dem Chor der kampfeslustige Aias allezeit eine „Schutzwehr gegen nächtliches Entsetzen und Geschosse“ gewesen (νυχίου δείματος ἦν μοι προβολὰ καὶ βελέων v. 1211 f.). Nun allerdings (νῦν δʼ v. 1214) sei Aias einem „verhassten Daimon“ geweiht. Damit scheint für den Chor der letzte Rückhalt genommen; die Enttäuschung der Choreuten entlädt sich in einer emotionalen Frage, die durch die Wieder‐ holung des τίς (v. 1215) den Beginn des Stasimons wieder aufruft und geradezu überbietet: Welche Freude (τέρψις) werde für den Chor (μοι) noch übrigbleiben (v. 1215 f.)? Mit dem in der Mitte der Strophe gesetzten Begriff τέρψις ist dabei 2. Aias 239 <?page no="240"?> 289 Vgl. B U R T O N (1980) S. 37: „The word in fact occurs thrice in the song, each time in the same rhythmic context […], and the effect is to mark this word as essential to the struc‐ ture and thought of the whole stasimon“. 290 Gegen die Zuteilung der codices hat Morstadt den Beginn des Verses 1223 (καὶ μήν) dem Chor in den Mund gelegt; er nimmt daraufhin einen Textausfall von mindestens einem ganzen Vers an, dem auch der Beginn von Teukrosʼ Wortmeldung zum Opfer gefallen sein soll. Einzig D A W E (1996) verzeichnet diese zweifelhafte Zuteilung sowie den an‐ genommenen Textverlust in seiner Ausgabe; man wird sich allerdings mit den Oxford‐ herausgebern P E A R S O N (1924) und L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) dagegen entscheiden und am überlieferten Text sowie der Sprecherverteilung nichts ändern. das Leitmotiv des Strophenpaares erneut aufgerufen (vgl. v. 1201 sowie 1204), was dem zweiten Strophenpaar eine besondere formal-begriffliche Geschlos‐ senheit verleiht. 289 Syntaktisch ohne Verbindung schließt sich ein durch den kupitiven Optativ γενοίμαν (v. 1217) eingeleiteter Wunsch an: Die Schiffsleute sehnen sich danach, am Vorgebirge des Kap Sunion zu sein, um von dort das „heilige Athen“ (ἱερὰς Ἀθάνας v. 1221 f.) begrüßen zu können. Mit dieser Imagination, die den Ziel‐ punkt der Fluchtphantasie an das Ende der Periode stellt, schließt das Chorlied. Teukros, mit dem Ende des Liedes wieder aufgetreten, gibt in den folgenden drei iambischen Versen 1223 ff. die Auftrittsankündigung für Agamemnon, 290 dessen Unheil verkündenden Gesichtsausdruck er bereits bemerkt habe. In Vers 1226 beginnt der Heerführer daraufhin seinen Monolog, der den zweiten Rede‐ agon der Tragödie einleitet. Führen wir uns rasch noch einmal die Gedankenbewegung des Stasimons vor Augen: Ausgehend von der Frage nach dem Ende des für die Choreuten schwer erträglichen Aufenthalts vor Troia nahm der Chor im Besonderen in der ersten Gegenstrophe eine allgemeinere Perspektive ein, wohingegen er mit dem zweiten Strophenpaar wieder die eigene Person in den Vordergrund stellte. Seinen konkreten Anknüpfungspunkt an die Handlungsentwicklung der Tra‐ gödie birgt das Stasimon schließlich in der zweiten Gegenstrophe, in der mit νῦν δʼ (v. 1214) die mit dem Tod des Haupthelden eingetretene Situation verba‐ lisiert wird. Dass der Chor dabei angesichts der mittlerweile bereits fortge‐ schrittenen Handlung, d. h. des eskalierten Konflikts zwischen Teukros und Menelaos hinter dem erreichten Handlungsstand zurückbleibt, ist ein beson‐ deres Moment des Stasimons, das im Folgenden noch zu bewerten sein wird. Mit dem abschließenden Wunsch der Choreuten, angesichts der virulenten Problematik den Ort des Geschehens zu verlassen und in ihre Heimat zurück‐ zukehren, wird das Lied geradezu zum Musterbeispiel der sogenannten escape I. Chöre wehrfähiger Männer 240 <?page no="241"?> 291 Zum Begriff, weiteren Beispielen und Literatur vgl. die Behandlung des zweiten Stasi‐ mons im Oidipus auf Kolonos, S. 599, Anm. 271. 292 Zur Zeit der wahrscheinlichen Aufführung des Aias, d. h. in den fünfziger Jahren des fünften Jahrhunderts, war das von Athen nach den Perserkriegen mit Sparta geschlos‐ sene Bündnis wieder gelöst. Athen engagierte sich weiterhin bei antipersischen Auf‐ standsbewegungen und schloss nach einer konfliktreichen Zeit 451 mit Sparta und 448 mit Persien Frieden. Krieg und militärische Interventionen werden bei den Vollbürgern der Stadt somit präsent gewesen sein. Vgl. dazu B A Y E R (1988). Griechische Geschichte in Grundzügen, Darmstadt, S. 188 ff. 293 Vgl. K A M E R B E E K (1953) S. 229 zu den in der Strophe aufgezählten Bräuchen „the plea‐ sures they yearn for are those of fifth century Athens“ sowie „they are the pleasures of the bonne société of Cimon, Sophocles, or Alcibiades“. lyrics. 291 Der Blick fort vom eigentlichen Handlungsort am Ende des Liedes steht damit in besonderem Kontrast zur bewussten Fokussierung auf das vor Augen liegende Ungemach der Choreuten, die den Beginn des Stasimons geprägt hatte (vgl. im Besonderen v. 1190). Solchermaßen geradezu kontrastiv gerundet ent‐ wickelt das Lied motivisch eine besondere Sogwirkung, die das Ende der Tra‐ gödie in den Blick nimmt. Die dem Lied zu Grunde liegende Struktur ist augenscheinlich: Elementar für die Reflexionen der Schiffsmannschaft ist der Kontrast zwischen entbehrungs‐ reichem und gefährlichem Dasein vor Troia und dem freudvollen Leben in der Heimat. Mit dieser räumlichen Bipolarität - Troia-Athen - geht freilich die Kontrastierung der beiden Zeitebenen Gegenwart und Vergangenheit einher. Letztere erfährt in der zweiten Gegenstrophe eine weitere Differenzierung: Ist schon die allgemeine Kriegssituation mit allerlei Entbehrungen verbunden, so bedeutet der Verlust des Aias für die Choreuten den Wegfall sämtlichen Schutzes und gibt damit Anlass zur Hoffnungslosigkeit. Die Verantwortlichkeit des Krieges kleidet der Dichter in eine Personalisie‐ rung des Kriegslehrers, was der Klage um die Nöte des einfachen Kriegsknechts besondere Intensität verleiht. Diese Mischung von halb allgemeiner, halb spe‐ zieller Kriegskritik und persönlicher Erfahrung zeichnet das Chorlied aus: Die allgemeinen Aussagen entfalten erst durch die Situation der Schiffsleute ihre volle Wirkung, sie sind aus der dramatischen Situation gesprochen und wirken daher authentisch. Bedenken wir weiterhin, dass das Publikum des attischen Theaters (zumindest zum Teil) aus den Männern bestand, die Militär- und Kriegserfahrungen teilten, 292 ist die Wirkung des Liedes abzuschätzen. Demge‐ genüber gestattet die zweite Strophe mit ihrer Aufzählung symposialer Ge‐ bräuche einen Einblick in die Lebenswelt der gehobenen Athener Bürger. 293 Ferner wird der die Stadt Athen selbst beschwörende Schluss bei einem attischen Publikum patriotische Empfindungen geweckt haben. Das Stasimon bietet dem 2. Aias 241 <?page no="242"?> 294 Von einer wirklich funktionalen Einbindung dieser über den unmittelbaren dramati‐ schen Zusammenhang in die Realität der Aufführungssituation hinüberreichenden Momente in den dramaturgischen Kontext kann allerdings gerade im Vergleich mit dem ersten Stasimon des Oidipus auf Kolonos nicht die Rede sein: Dort nutzt Sophokles die Aufnahme des Asyl suchenden Haupthelden in Athen dazu, den Chor der kolonischen Greise ein Preislied auf ihren Demos und ihre Stadt singen zu lassen. Dessen Motivik dient nicht nur dazu, den Akt der Aufnahme selbst zu inszenieren, sondern eröffnet einen weiteren Teil der Tragödie (Auseinandersetzung zwischen Oidipus und Kreon, d. h. Athen und Theben) und wird darüber hinaus im zweiten Stasimon geradezu be‐ antwortet. Publikum so in seiner ganz aus der Situation der Schiffsleute vor Troia gespro‐ chenen Klage über den Krieg wie auch in der Beschreibung des heiligen Athen gewisse Identifikationsmöglichkeiten, die den Nachvollzug des Liedes und damit die Teilhabe an der dramatischen Situation erleichtern. 294 Fragen wir nun nach dem Sitz des Liedes in der Tragödie und ihrem dramatur‐ gischen Geflecht. Wir haben schon festgehalten, dass die dem Lied unmittelbar vorausgehende Auseinandersetzung zwischen Teukros und Menelaos den Chor in seiner Reflexion nicht beschäftigt. Das mag Zuschauer und Leser überra‐ schen, da doch mit der Bestattung des Aias ein wichtiges Anliegen der Schiffs‐ leute im Zentrum des Streits stand und Teukros geradezu als Sachverwalter seines Halbbruders aufgetreten war. Das Stasimon beginnt demgegenüber mit der ausgeführten Kriegsthematik und schlägt so einen inhaltlichen Bogen zu den chorischen Partien des ersten Teils unserer Tragödie (Parodos sowie erstem Standlied). Das Aufzeigen der wichtigsten Motivlinien soll hier genügen. Die Thematik der Heimatferne sowie des unwirtlichen Zustands vor Troia hatte im Besonderen die erste Strophe des ersten Stasimons entfaltet. Hatten dort die Ausführungen des Chores mit einem Anruf an die Heimat begonnen (v. 596), so ist jetzt Athen geradezu der Fluchtpunkt der Gedankenbewegung und kommt dementsprechend ganz am Ende des Liedes zu stehen. War dort die Be‐ wegung ausgehend von der Heimat in die neue Situation hinein vorherrschend, so wendet sich das dritte und letzte Stasimon mit Blick auf die zeitlich und räumlich ferne Heimat geradezu von der gegenwärtigen Situation ab. Die Betonung der langen Dauer des Kriegsdienstes vor Troia ist ebenfalls eine motivische Wiederaufnahme, die durch begriffliche Spiegelungen besonders ins Auge fällt: Hatte der Chor im ersten Stasimon die „unzählbare Zeit von Mo‐ naten“ (χρόνος μηνῶν ἀνήριθμος v. 600 f.) beklagt, so fragt er zu Beginn des vorliegenden Liedes nach einem Ende der „Zahl jammervoller Jahre“ (πολυπλάγκτων ἐτέων ἀριθμός v. 1186). I. Chöre wehrfähiger Männer 242 <?page no="243"?> Schon im ersten Stasimon spielte darüber hinaus die Gestalt des Aias und dessen Einfluss auf die Schiffsleute eine besondere Rolle: War dort allerdings der „schwer zu behandelnde Aias“ (δυσθεράπευτος Αἴας v. 609 f.), d. h. die Prä‐ senz des Helden geradezu der Gipfel der durch den Krieg ohnehin virulenten Nöte, ist es hier sein Tod, der dem Chor die letzte Hoffnung nimmt (v. 1214 f.). Die beiden Standlieder stehen so motivisch in Beziehung zueinander, entwerfen sie doch beide das Bild einer freudlosen Zukunft, die sich auf der Basis einer bereits besonders unangenehmen Gegenwart abzeichnet. Zudem beantwortet das dritte Stasimon mit seiner zweiten Gegenstrophe die im zweiten Strophen‐ paar des ersten Standliedes gegebene Aussicht: Aias ist mittlerweile tot, die Imagination vom Beginn der Tragödie hat sich verwirklicht. Anstatt dabei wie im ersten Lied die Klage naher Anverwandter zu imaginieren, sprechen die Schiffsleute hier ihre ganz eigenen Sorgen und Befürchtungen aus. Sie holen damit geradezu nach, was ihnen im Kommos mit Tekmessa nach der Auffindung der Leiche des Aias noch nicht möglich war: Dort war es im Wesentlichen Tek‐ messa zugefallen, Zukunftsaussichten zu entwerfen (v.a. v. 944), während der Chor den Blick eher auf die Vergangenheit lenkte (v. 925 ff.) und dabei die ver‐ mutliche Reaktion der Atriden (v. 955 ff.) antizipierte. Mit dieser Apostrophierung des Aias als eines Schutzes vor „nächtlichem Entsetzen und Geschossen“ (v. 1211 f.) wird überdies ein motivischer Bogen zur Parodos geschlagen. Dort war in den Versen 158 ff. das Verhältnis der Großen, d. h. der Führer und Helden, zu den Kleinen, ihren Soldaten, Untergebenen und Angehörigen thematisiert worden. War dieses optimale Schutzbündnis eines Patrons und seiner Klienten schon zu Beginn der Bühnenhandlung, d. h. wäh‐ rend der Parodos, durch Aiasʼ Wahnsinnstaten und die daraus resultierende ge‐ sellschaftliche Ächtung des Haupthelden und seiner Angehörigen empfindlich gestört, so ist es mit dem Tod des Helden zu einem für die Schiffsleute verhee‐ renden Ende gekommen. Zusammenfassend kann gesagt werden: Mit der Klage über den Krieg und der Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat hat sich die schon im ersten Teil der Tragödie vom Chor behandelte Thematik der Aussichts- und Hoffnungslosig‐ keit nicht wesentlich verändert; die Intensität der vorgebrachten Reflexionen ist dagegen durch das dramatische Geschehen, d. h. den Tod des Aias, wesentlich gesteigert. Das Chorlied steht so noch ganz unter dem Einfluss der Geschehnisse des ersten Teils der Tragödie, auf deren Basis es die neueren Entwicklungen reflektiert. Diese Themensetzung des Stasimons erstaunt zunächst: Wie bereits erwähnt, wird weder der Streit um die Bestattung des Haupthelden noch das wirkungsvoll inszenierte, an eine Hikesie angelehnte Totenopfer am Ende des Epeisodions 2. Aias 243 <?page no="244"?> thematisiert. Angesichts der immensen Wichtigkeit des Haupthelden als Schutz‐ herr und elementarer Bezugspunkt im Leben der Schiffsleute wirkt diese völlige Ausblendung unpassend, ja scheint geradezu die bisherige Fixierung auf den Protagonisten und sein Wohlergehen zu konterkarieren. Warum sich die Schiffs‐ leute nach Aiasʼ Tod nicht mehr um ihn, d. h. konkret seine Leiche und deren Verbleib kümmern sollten, erschließt sich aus der Charakterzeichnung des Chors nicht. Dahingegen ist die gegenüber einer möglichen Erwartungshaltung verschobene Themensetzung des Stasimons aus dramaturgischen Gründen nachvollziehbar: Eine Beschäftigung mit der Bestattungsthematik im direkten Anschluss an das vorangegangene Epeisodion hätte sicher eine Reflexion des Streits zwischen Teukros und Menelaos mit sich gebracht. Damit wäre zwar aus gegebenem Anlass die v. a. in der Parodos breit ausgeführte Thematik der Feind‐ schaft gegenüber den Atriden gespiegelt worden. Es ist allerdings kaum denkbar, dass der Chor hier diesem Motiv einen wesentlich neuen Aspekt hätte hinzu‐ fügen können: Als reine Bestätigung der im ersten Teil der Tragödie verbali‐ sierten Vorbehalte gegenüber den Heerführern angesichts des tatsächlichen Verhaltens eines der beiden Atriden hätte eine erneute Betonung und Ausdeu‐ tung dieses kritischen Verhältnisses keinen wirklichen dramaturgischen Wert gehabt. Statt so eine Wiederholung und dramaturgisch unnötige Intensivierung des ohnehin präsenten Motivs zu bieten, verlagert das Stasimon das Augenmerk auf eine andere, wesentlich persönlichere Ebene. Es bleibt indes festzuhalten, dass in der Verfluchung des Kriegslehrers, der dezidiert für den troianischen Krieg verantwortlich gemacht wird, ein (wenn auch subtiler) Anklang zur sonst ausgeklammerten Atridenthematik gegeben ist: Zwar ist der in Rede stehende Kriegslehrer durch nichts als eben seine Lehr‐ tätigkeit in der Vergangenheit (Aorist ἔδειξεν) gekennzeichnet und damit weit davon entfernt, als Abbild einer konkreten, dem unmittelbaren Personenumfeld des Chors entstammenden Gestalt zu fungieren; dass allerdings die Verfluchung „jenes Mannes“ (κεῖνος ἀνήρ v. 1195) in seiner Verantwortlichkeit für den troi‐ anischen Krieg nach der Streitszene mit Menelaos (und vor der Auseinander‐ setzung mit Agamemnon) zu stehen kommt, spielt bewusst mit möglichen As‐ soziationen. Damit ist nicht gesagt, dass den Schiffsleuten an unserer Stelle Menelaos (oder sein Bruder) als konkretes Feindbild vorschwebt, sondern einzig, dass die Positionierung des Liedes und seine konkrete motivische Gestaltung einen subtilen Bezug zum unmittelbaren dramatischen Geschehen herstellen kann. Die Motivik der feindseligen und verhassten Atriden wäre so im Lied trotz der bewusst verschobenen Themensetzung präsent und würde in geradezu sub‐ limierter Form einen direkten Anknüpfungspunkt der Reflexion zugleich an das vergangene wie das kommende Bühnengeschehen liefern. I. Chöre wehrfähiger Männer 244 <?page no="245"?> 295 Dass Tekmessa im Folgenden persona muta ist, hat auch ganz bühnenpraktische Gründe: Mit Teukros (Protagonist), Agamemnon und Odysseus (Deutero- und Trita‐ gonist) sind alle drei dem Dichter zur Verfügung stehenden Schauspieler in der Exodos bereits in Aktion; Tekmessa wird demnach bereits bei ihrem Wiederauftritt (v. 1168) von einem Statisten verkörpert. 296 Gerade die drei Kommoi im ersten Teil zeigen, wie sehr der Chor selbst im Dialog mit den Personen präsent ist. Der zweite Teil der Tragödie bringt dagegen keine wechsel‐ seitige Kommunikation mehr zwischen den Personen und dem Chor; beide Sphären stehen sich vielmehr gegenüber, ohne wirklich miteinander in Austausch zu treten. Dass darüber hinaus die eindrucksvolle Hikesiebzw. Opferszene keinen Wi‐ derhall im Stasimon findet, ist ebenfalls ein prägnantes Beispiel dramaturgischer Ökonomie. Machen wir uns dazu bewusst: Die von Teukros an der Leiche des Haupthelden positionierten, im Fortgang des Stücks stummen Personen (Tek‐ messa und der Knabe) 295 stellen in ihrer Dauerpräsenz bis zum Ende des Dramas die virulente Bestattungsproblematik visuell dar. Wie schon ausgeführt, wird diese Personengruppe neben der folgenden Auseinandersetzung zwischen Teukros und Agamemnon einen zweiten, rein visuellen Fokus innerhalb des Bühnengeschehens bilden. Aber auch schon während des Standliedes ist so die Kontinuität der Bestattungsproblematik gewahrt. Statt diese sichtbare Präsenz dabei durch eine chorische Reflexion zum selben Thema zu verdoppeln, blendet der Dichter die Deutung der allgemeinen Umstände sowie des entscheidenden Handlungsfortschritts (Aiasʼ Tod) aus einer anderen Perspektive ein und kon‐ trastiert dabei das emotional und religiös aufgeladene Standbild auf der Bühne mit der ganz aus der Sicht des Chors gesprochenen Reflexion, die motivisch der ersten Hälfte der Tragödie verpflichtet ist. Der Chor steht so zum eigentlichen Geschehen in besonderer Distanz, die mit seiner forcierten Präsenz im Ge‐ schehen, wie sie gerade die Parodos sowie das erste Stasimon inszeniert hatten, kontrastiert. Anders als im ersten Teil steht der Chor an unserer Stelle nicht mehr unmittelbar im Geschehen. Hatte er sonst die dramatischen Geschehnisse sowie die Reden der Personen sofort und mit hoher Emotionalität beant‐ wortet, 296 so scheint er an unserer Stelle weniger vom vorangegangenen Ge‐ schehen als von seiner eigenen Reflexion beeinflusst. Damit ist zugleich geradezu paradigmatisch die Haltung des Chors in der folgenden Exodos angedeutet: Auch an der zweiten Konfliktszene werden sich die Schiffsleute bis auf drei standardisierte Doppelverse nicht beteiligen. Diese auffallende Zurückhaltung des Chors setzt die im Stasimon initiierte Verortung des Chors in betonter Distanz vom eigentlichen Geschehen fort. Sie erklärt sich, wie schon die spezifische Perspektive des Stasimons, nicht primär aus rollen‐ immanenten Motiven, d. h. dem Charakter bzw. der Person des Chors, sondern 2. Aias 245 <?page no="246"?> 297 Die angesprochenen Schlussverse sind demgegenüber konventionell und werden kaum mehr als Aussage der Schiffsmannschaft wahrgenommen. ist sinnfälliger Ausdruck bewusster Entscheidungen des Dichters, mit denen er genuin dramaturgische Ziele verfolgt. Was also erreicht Sophokles mit dieser Konstruktion des für die folgende Exodos geradezu programmatischen Stasimons dramaturgisch? Da dieses einzige Standlied des zweiten Teils seine Thematik und Motivik aus dem ersten Teil des Dramas schöpft, bildet es den Nachklang der wirkmächtigen Ereignisse, die im Tod des Haupthelden ihren Abschluss fanden. Gleichzeitig wagt der Chor mit seinen Äußerungen und dem Wunsch, wieder nach Athen zu gelangen, einen Blick in die Zukunft und weitet so die Perspektive aus dem direkten Zusam‐ menhang des Dramas in die sich anschließende Zeit. Das Chorlied reflektiert unter dem Einfluss der Ereignisse des ersten Teils der Tragödie die Lage der Choreuten und ihre Zukunftsaussicht. Es weist mo‐ tivisch nach hinten und bleibt innerhalb des Dramas unbeantwortet, da das weitere Schicksal der Angehörigen des Aias nach dessen eingeleiteter Bestat‐ tung keine Rolle mehr spielt. Von den abschließenden Chorversen am Ende des Dramas (v. 1418-1420) abgesehen bildet das vorliegende Stasimon als letzte nicht in Sprechversen geformte Aussage geradezu das lyrische Schlusswort des Chors in seiner Rolle als dramatischer Person. 297 In seiner aktiven Reflexion des Geschehens ist der Chor damit beim Tod des Haupthelden stehen geblieben. Sophokles zeichnet damit zum einen sehr wirkungsvoll die feste Bindung der Schiffsmannschaft an ihren Patron, die hier allerdings in einer besonders per‐ sonalisierten, d. h. auf das Schicksal des Chors selbst bezogenen Weise ausge‐ leuchtet wird: Von Beginn an war Aias in den lyrischen Passagen des Chors zumindest präsent, wenn nicht das Thema des ganzen Liedes. Mit dem dritten und letzten Stasimon rundet sich so eine gedankliche Bewegung, die von den Wahnsinnstaten und der scheinbaren Genesung auch den Tod des Haupthelden noch einmal verarbeitet und diesen aus Sicht der Choreuten in einen größeren, persönlich geprägten Zusammenhang einordnet. Das Stasimon trägt so in be‐ sonderer Weise dazu bei, die beiden Großabschnitte des Dramas (vor und nach dem Selbstmord des Haupthelden) miteinander zu verknüpfen. Es bildet gera‐ dezu eine thematisch-motivische Brücke, die vor dem letzten Abschnitt der Tragödie noch einmal entscheidende Motive vom Beginn der Bühnenhandlung aufruft und so zur Rundung des gesamten Stücks beiträgt. Zum anderen fällt das Lied allerdings auch aus der Zeit: In seiner kompletten Ausblendung des virulenten und höchst problematischen Themenfelds „Bestat‐ tung“ verweigert es sich geradezu dem aktuellen, das Bühnengeschehen prä‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 246 <?page no="247"?> 298 B U R T O N (1980) S. 37. 299 „a certain quality of timelessness and universality“ a. a. O. 300 Anders K A M E R B E E K (1953), der S. 227 lapidar festhält: „The Chorus sing a song which does not rise above the ordinary human level“. 301 Das ist zum einen im sozial niedrigen Stand der Rolle des Chors begründet, basiert aber auch auf der bewussten dramaturgischen Entscheidung des Dichters, an unserer Stelle eben keine ausgreifende, den unmittelbaren Handlungszusammenhang übersteigende Reflexion einzufügen. 302 B U R T O N (1980) S. 37: „they [die Schiffsleute] stand back from the tension of the scene they have just witnessed and move out of the immediate orbit of the play’s action“. genden Diskurs sowie seiner Sublimierung in der Formung des Hikesie-Stand‐ bildes, das Teukrosʼ Eingreifen in die Handlung visualisiert. Das Lied trägt bewusst nichts zur Ausdeutung der momentanen Lage bei, sondern bildet zwi‐ schen den beiden entscheidenden Konfrontationsszenen der Tragödie die Ein‐ schaltung einer ganz aus der Sicht des Chors gesprochenen Reflexion. Dass diese dabei völlig unbeantwortet bleibt und motivisch mit der Fluchtphantasie der Choreuten die eigentliche Sphäre der Bühnenhandlung zu verlassen scheint, setzt der ausgreifenden chorischen Beteiligung am Geschehen einen bewussten Schlusspunkt. Anders gesagt: Innerhalb ihrer Reflexion blenden die Choreuten nicht nur das vom Konflikt zwischen Teukros und den Atriden geprägte agonale Geschehen aus, sondern verlassen sogar - zumindest in Form des vorgetragenen Wunsches - das unmittelbare setting der Handlung. Ein weiterer substanzieller Beitrag zur Reflexion des Bühnengeschehens ist vom Chor in der Folge nicht zu erwarten; vielmehr finden im vorliegenden Stasimon einige Motive und Themen, die im Besonderen den ersten Teil der Tragödie prägten, vor der Folie des Selbstmords des Haupthelden ihren Abschluss. Man wird sich B U R TON s Hochschätzung des Liedes in Teilen anschließen, be‐ sonders wenn der die formale Geschlossenheit des Stasimons hervorhebt und auf dieser Basis zu dem Urteil kommt: „This unity of structure helps to make it the most poetically satisfying lyric in the play.“ 298 Den allgemeinen Partien, im Besonderen der Verwünschung des Kriegslehrers, den Anspruch von Zeitlosig‐ keit und Universalität 299 zuzusprechen, mag dagegen weniger berechtigt sein, 300 vor allem da der Chor hier keine wirklich tiefgreifenden Erkenntnisse präsen‐ tiert 301 und selbst in der ersten Gegenstrophe nicht den Krieg an sich sowie dessen Lehrer, sondern dezidiert den Krieg vor Troia in den Blick nimmt. Die dramaturgische Einbindung und Funktionalisierung des Liedes als einer reflek‐ torischen Pause zwischen zwei Konfliktszenen, in der sich der Chor ganz auf sich und seine Sicht der Dinge konzentriert und dabei den unmittelbaren Kon‐ text der Handlung zu übersteigen scheint, 302 ist dabei zu Recht erkannt. 2. Aias 247 <?page no="248"?> 303 So der gelungene Terminus bei P F E I F F E R -P E T E R S E N (1996). Konfliktstichomythien bei Sophokles: Funktion und Gestaltung (Diss.), Wiesbaden, S. 29. 304 Für P F E I F F E R -P E T E R S E N (1996) ist dieser Auftritt des Odysseus in gewisser Hinsicht einem „‚deus ex machina‘ vergleichbar“ (S. 29). Damit ist sowohl dem Umstand Rech‐ nung getragen, dass Odysseus den scheinbar unlösbaren Konflikt zwischen Teukros und Agamemnon einem (dem Mythos gemäßen) Ende entgegenführt, als auch die im Prolog inszenierte Nähe des Odysseus zur Sphäre des Göttlichen angedeutet. Viertes Epeisodion und Exodos (v. 1223 - 1420) Das sich anschließende letzte Epeisodion sowie die anapästische Passage am Schluss der Tragödie können wir unter unseren Gesichtspunkten rasch abhan‐ deln. Von den knapp zweihundert Versen entfallen neun auf den Chor bzw. den Chorführer, davon dreimal je zwei Verse Kommentierung bzw. Auftrittsankün‐ digung (v. 1264 f., 1316 f. und 1374 f.) sowie die schon erwähnten drei abschlie‐ ßenden Verse 1418 ff. Die Handlung dieses Teils soll kurz zusammengefasst werden. Nach dem Wiederauftritt des Teukros entspinnt sich zwischen ihm und dem ebenfalls auf‐ getretenen Agamemnon ein erneutes Streitgespräch, das diesmal weniger kon‐ kret die Bestattung des Aias als vielmehr zunächst die Herkunft und den sozialen Stand des Teukros sowie schließlich Aiasʼ Verhalten im Kampf gegen die Tro‐ ianer und seinen daraus entstandenen Wert für das griechische Heer zum Ge‐ genstand hat. Agamemnon gerät über die ihm berichteten, aus seiner Sicht un‐ zumutbaren Schmähungen des als Sohn einer Unfreien geborenen Teukros gegen ihn und seinen Bruder in Wut, sucht darüber hinaus seine Position als Inhaber der Befehlsmacht zu behaupten und lehnt angesichts des Standesun‐ terschieds zwischen ihm und dem als Nichtgriechen diskreditierten Teukros jede weitere Diskussion ab (v. 1256 ff.). Der so kritisierte Teukros ruft dagegen Aiasʼ kriegsentscheidendes Vorgehen gegen Hektor in Erinnerung und kontert den Angriff hinsichtlich seiner Herkunft, indem er Agamemnon mit seiner Abkunft von Pelops und Atreus sowie deren Untaten konfrontiert (v. 1291 ff.). Nach Teu‐ krosʼ Monolog stehen sich die Kontrahenten unversöhnt gegenüber, ein Aus‐ gleich zwischen beiden Positionen scheint unmöglich. Bis zu diesem Punkt folgt Sophokles der standardisierten Form eines tragischen Redeagons, indem er den beteiligten Akteuren je eine umfangreiche „Standpunktrhesis“ 303 zukommen lässt, zwischen denen der Chor(-führer) in einem Doppelvers zur Mäßigung aufruft (v. 1264 f.). Für die sich anschließende stichomythische Partie jedoch er‐ weitert der Dichter das Personenspektrum durch den vom Chor angekündigten Auftritt des Odysseus in Vers 1316. 304 Letzterer vertritt nun die Sache des Aias und seiner Angehörigen gegenüber Agamemnon, während Teukros selbst ganz in den Hintergrund tritt, um erst in Vers 1381 das Eingreifen des Odysseus zu I. Chöre wehrfähiger Männer 248 <?page no="249"?> 305 Zum Verhältnis des sophokleischen Terminus φύσις zu „Charakter“ als seiner modernen Entsprechung vgl. S P I R A (1960) S. 12 f. loben. Dieser gibt zwar zu, dass Aias auch ihm der verhassteste unter allen Griechen (v. 1336 f.) war, in Anerkennung seiner Verdienste um das griechische Heer, aus genereller Hochachtung göttlicher Gesetze (v. 1342 f.) und der Einsicht in die eigene Vergänglichkeit (v. 1365) plädiert er allerdings dafür, die Leiche des Helden seinen Angehörigen zur Bestattung zu überlassen. In der sich anschlie‐ ßenden Stichomythie bringt Odysseus den Heerführer schließlich dazu, eine Bestattung des Aias nicht mehr zu verbieten, sondern Teukros in dieser Bezie‐ hung freie Hand zu lassen. Mit der geradezu trotzigen Bekundung, auch im To‐ tenreich werde Aias ihm immer noch verhasst sein (v. 1372), sowie einer an Odysseus gerichteten, geradezu gönnerhaften Wendung („Dir steht es frei zu tun, was du wünschst.“ σοὶ δὲ δρᾶν ἔξεσθʼ ἃ χρῇς v. 1373) verlässt Agamemnon daraufhin das Geschehen. Den Schluss der Konfrontationsszene markiert daraufhin ein Doppelvers des Chorführers, in dem er zu Odysseusʼ Auftreten gegenüber Agamemnon aner‐ kennend Stellung bezieht (v. 1374 f.): Wer behaupte, Odysseus sei nicht charak‐ terlich durch mit Einsicht verbundene Weisheit ausgezeichnet (γνώμῃ σοφὸν φῦναι 305 ), der sei ein Tor. Odysseus versichert daraufhin Teukros, er werde ihm in Zukunft nicht mehr ein Feind, sondern ein Freund sein (v. 1376 f.). Seinen Wunsch, an der Bestattung teilnehmen zu dürfen, schlägt Teukros allerdings aus, da er fürchtet, dadurch den toten Aias in Zorn zu versetzen (v. 1395). Odysseus reagiert auch darauf großherzig und verlässt nach einer wortreichen Würdigung seines edlen Ver‐ haltens durch Teukros (v. 1381-1399) nach Vers 1401 die Bühne. Das eigentliche Bühnengespräch hat damit ein Ende gefunden; mit dem Ein‐ satz der anapästischen Verse ab 1402 beginnt bereits die Vorbereitung des Aus‐ zugs der Akteure: Teukros ordnet den Beginn der Beerdigungsriten an, verteilt die ersten Aufgaben und wendet sich noch einmal an den Sohn des Aias, der am Leichnam seines Vaters Wache gehalten hatte (v. 1409 f.). Mit der kurzen allge‐ meinen Äußerung des Chors schließt die Tragödie: Es sei für den Menschen unmöglich, im Voraus zu wissen, was er tun werden, bevor er es gesehen, d. h. erfahren habe. Die dramaturgische Gestaltung dieses Abschnittes ist offenkundig: Das durch die erste Auseinandersetzung zwischen Teukros und Menelaos aufgeworfene Problem der Bestattung wird hier in einem zweiten Agon einer Lösung zuge‐ führt. Gegenüber der ersten Konfrontationsszene erweitert sich die Perspektive dabei in mehrfacher Hinsicht; die Bezugnahmen auf bzw. Kontrastierungen 2. Aias 249 <?page no="250"?> gegen den Prolog tragen darüber hinaus wesentlich zur Rundung des gesamten Stücks bei. So fügt die Thematisierung der Taten und der Herkunft des Aias der bisherigen Zeichnung seiner Figur weitere Aspekte hinzu, die bisher im We‐ sentlichen unerwähnt geblieben oder kaum problematisiert worden waren. Im Besonderen kontrastieren sein lobend herausgestelltes Eingreifen in einer scheinbar ausweglosen Situation während des Kampfes (v. 1273 ff.) sowie die gegen Agamemnons Anschuldigungen vorgebrachte Rehabilitierung der Her‐ kunft des Aias mit der gebrochenen, vom Götterzorn gestraften Erscheinung des Helden im Prolog. Zum anderen rundet Sophokles die gesamte Konstruktion des Dramas, indem er den im Prolog bereits aufgetretenen und in den Aussagen des Chors, Tek‐ messas und des Haupthelden durch das ganze Stück präsenten Odysseus schließlich zu Gunsten seines Gegners eingreifen lässt. Odysseus setzt dabei die ihm im Prolog durch göttliche Einwirkung zuteil gewordene Einsicht praktisch um, was die Handlung mit einem Moment edler Großherzigkeit und Gottes‐ furcht schließen lässt. Neben der Figur des Teukros ist so im Besonderen der Wiederauftritt des Odysseus eine personelle Klammer, die mit dem Prolog und der Exodos die beiden Randpunkte der Tragödie eng miteinander verknüpft. Der Chor ist dabei, wie wir schon festgestellt haben, ganz in den Hintergrund getreten: Nachdem der unmittelbare Bezug zu Aias nicht mehr möglich ist, ver‐ stummt auch die Reflexion des Chors. Selbst die Parteinahme des Odysseus für den eigenen Herrn und die dadurch ermöglichte Aussicht auf die Bestattung kommentiert der Chorführer nur mit dem erwähnten Doppelvers, der das Re‐ deduell zwischen den beiden Kontrahenten beschließt. Dass sich dabei die Bewertung des Odysseus durch die Schiffsleute im Ver‐ gleich zum Beginn des Stücks vollkommen gewendet hat, wird nicht explizit thematisiert; eine Selbstreflexion des Chors über den eingetretenen Sinnes‐ wandel bleibt aus. Das Fehlen einer ausführlichen Stellungnahme des Chors zu seiner geänderten Einstellung gegenüber Odysseus kann dabei in formaler Hin‐ sicht nicht überraschen: Die Einschaltung einer umfangreichen chorischen Pas‐ sage zu diesem Zeitpunkt der Tragödie (innerhalb der Exodos, kurz vor dem Ende des Stücks) widerspricht prinzipiell den Kompositionsprinzipien der Gat‐ tung. Sophokles arrangiert die Schlussphase dagegen mit äußerster dramatur‐ gischer Ökonomie: Der Doppelvers des Chorführers (v. 1374 f.) verbalisiert zu‐ nächst ohne elaborierte Reflexion vorheriger Ansichten die Wertung der Schiffsleute. Daraufhin wird mit Odysseusʼ Freundschaftsbekundung und seinem Wunsch, bei der Bestattung des ehemaligen Feindes mitzuhelfen (v. 1376-1380), die ursprüngliche Reserviertheit zwischen ihm und den Angehö‐ rigen des Aias endgültig aufgehoben. Teukros ist es, der in seinem sich an‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 250 <?page no="251"?> 306 Vgl. K A M E R B E E K (1953) S. 261: „these closing words are less inspired than those of the Antigone (e.g.) and show a certain likeness to those found in Euripides“, sowie S T A N‐ F O R D (1963) S. 235: „The sentiment, as elsewhere, is commonplace“, der in seiner Ein‐ schätzung der Passage deutliche Worte findet: „The banality of this kind of ending…“. schließenden Monolog geradezu stellvertretend für den Chor bekennt, von Odysseusʼ Verhalten in seiner Erwartung getäuscht, d. h. im vorliegenden Fall positiv überrascht worden zu sein (v. 1382). Nicht dem Chor, der sich schon einmal dazu bekannte, falsche Erwartungen gehegt zu haben (v. 911 f., 925 ff.), sondern Teukros als zentralem Akteur des zweiten Teils der Tragödie obliegt also die Thematisierung des Sinneswandels, der zu einer völlig anderen Ein‐ schätzung des Odysseus führt. Als Moment innerhalb des eigentlichen Bühnen‐ gesprächs zwischen Teukros und Odysseus wird die Reflexion so im besten Sinne dramatisiert: Odysseus erhält seine Rehabilitierung von Seiten eines An‐ gehörigen des Haupthelden im direkten Austausch mit ihm selbst; kein Reden über ihn, sondern die direkte Reaktion auf seine Äußerungen, das Gespräch mit ihm trägt dazu bei, seine Gestalt sowie deren Einschätzung durch die anderen Akteure abschließend in Szene zu setzen. Der Chor ist dabei durch die Äußerung des geradezu programmatischen Doppelverses in das Bühnengespräch einge‐ bunden, steht allerdings dem eigentlichen Geschehen mit einigem Abstand ge‐ genüber. Die Schlussverse 1418 ff. verdienen in diesem Zusammenhang eine kurze Be‐ merkung: Wenn der Chor am Ende der Tragödie räsoniert, niemand könne über den Lauf der Dinge im Vorfeld Gewissheit erlangen, allein eigenes Erfahren (ἰδεῖν) sei ausschlaggebend, so mag damit freilich auch der Sinneswandel des Chors hinsichtlich der Einschätzung des Odysseus angedeutet sein. Allerdings fehlt der bewusst allgemein formulierten Einsicht jeder Bezug zur Tragödien‐ handlung oder der Person des Chors selbst; von einer wirklichen Auseinander‐ setzung mit dem eigentlichen Bühnengeschehen kann so keine Rede mehr sein. Die Schlussworte des Chors entbehren daher einer wirklich stringenten Anbin‐ dung an das Geschehen; sie sind, verglichen mit anderen Tragödienschlüssen, höchst konventionell und bis zu einem gewissen Grad austauschbar. 306 Fassen wir also die dramaturgischen Implikationen der Exodos zusammen: Die Mitte des Bühnendiskurses im letzten Epeisodion nimmt nicht, wie noch im ersten Teil der Tragödie, die Person des Haupthelden sowie die Vorbereitung einer wirkmächtigen Szene, sondern mit dem Redeagon das Aufeinandertreffen zweier Personen ein. Diese bipolare Struktur erfordert einen anderen Einsatz dramatischer Mittel: Da die Reflexion über Aias, seine Taten, seine Stellung in‐ nerhalb des Heeres u. dgl. sowie die Angabe der Gründe des eigenen Handelns 2. Aias 251 <?page no="252"?> selbst bereits durch die beiden Streitenden geleistet wird, erübrigt sich eine er‐ neute Betrachtung dieser Umstände durch den Chor. Die Zuschauer und Leser vielleicht verwundernde Zurückhaltung des Chors ist so zu einem guten Teil dramaturgische Ökonomie: Weder die konventionelle und durch den Auftritt des Odysseus erweiterte Form des Agons noch das gelöste Bestattungsproblem am Ende erlaubt die Einschaltung erneuter reflektierender Passagen ohne Wie‐ derholung und Verdoppelung bereits ausgeführter Sachverhalte. Das Fehlen wirkmächtiger Szenen oder suggestiver Beeinflussung des Chors wie im ersten Teil rechtfertigt die geradezu abgekühlte Emotionalität des Chors, die sich zum letzten Mal im dritten Stasimon entladen hat und von da an keinen Ausbruch mehr duldet. Angesichts der prominenten Spiegelung der Thematiken „Heimatferne“, „Kriegselend“ sowie „Schutzverhältnis Große-Kleine“ aus dem ersten Teil der Tragödie im dritten Stasimon fällt das Fehlen einer rückblickenden Bezugnahme und Korrektur der Atriden- und Odysseusthematik gegen Ende des Dramas be‐ sonders ins Auge. Es entspricht dabei der dramaturgischen Stoßrichtung, die Schlusspartie der Tragödie ganz als dialogische Handlung zu inszenieren. Im Wechsel der drei Gesprächssituationen (Agamemnon-Teukros, Odysseus-Aga‐ memnon, Teukros-Odysseus) entfaltet die Schlussszene dabei noch einmal ein besonders reichhaltiges dialogisches Panorama, das dem Chor nur noch die Rolle eines teilweise durch moderierende Einwürfe sich zu Wort meldenden Betrach‐ ters zuweist. Zusammenfassung Die bestimmenden Aspekte der kleinteiligen Analyse des Dramas sollen im Fol‐ genden zusammengefasst werden. Im Besonderen müssen dabei die Rolleniden‐ tität des Chors, seine Einbindung in das Personenspektrum, die Art der chori‐ schen Reflexion sowie deren dramaturgische Funktionalisierung betrachtet werden. 1. Hinsichtlich des in der Einleitung skizzierten Spektrums I (der Chor als kol‐ lektive dramatis persona) lässt sich Folgendes festhalten. Mit dem Chor der an den Kriegshandlungen vor Troia unmittelbar Beteiligten ist zunächst der genuin soldatische Kontext der Tragödie umrissen: Der Chor spiegelt und komplettiert den personellen Rahmen des Geschehens, indem in ihm der Sphäre der heroi‐ schen Heerführer die Perspektive der einfachen Soldaten gegenübergestellt ist. Die Konzeption der Rollenidentität des Chors zielt dabei ganz auf den Haupt‐ helden der Handlung: Die salaminischen Schiffsleute bilden die Mannschaft des I. Chöre wehrfähiger Männer 252 <?page no="253"?> 307 Vgl. v. a. die Parodos der Elektra. 308 Vgl. v. a. Parodos und Schlaflied des Philoktet. Aias, sind ihm in jeder Beziehung subordiniert und von ihm abhängig. Solcher‐ maßen ganz in die Handlung integriert nimmt der Chor im Personenspektrum eine fest umrissene Funktion ein: Gemeinsam mit Tekmessa bilden die Cho‐ reuten die Angehörigen des Aias. Ihrem Herrn stehen die Schiffsleute dabei mit herausgehobener Loyalität gegenüber: Da sein Wohlergehen sowie die ihm ge‐ rade auch von Seiten der anderen griechischen Feldherren entgegengebrachte soziale Achtung unmittelbaren Einfluss auf die Lebenssituation der Choreuten haben, nehmen sie an der Krise des Haupthelden besonderen Anteil. Bereits in der Parodos gilt ihre Sorge so der Wiederherstellung des Zustands vor der Wahntat, von der die Choreuten allerdings keine genaue Kenntnis besitzen. Die scheinbar gute Lösung der problematischen Situation, wie sie Aias in seiner Trugrede vorzubringen scheint, ist daraufhin Anlass des exaltierten Jubelliedes (zweites Stasimon), vor dessen Hintergrund sich die Verzweiflung der Epipar‐ odos besonders deutlich abzeichnet. Der ganz der inneren Logik des Stücks gehorchende Abtritt und Wiederauf‐ tritt der Schiffsleute demonstriert zudem die ausgesprochen enge Verzahnung des Chors als dramatis persona mit dem Handlungsgefüge: Aiasʼ Mannschaft fühlt sich soweit für ihren Herrn verantwortlich, dass sie an der Rettungsaktion aktiv teilnimmt. Das Verhältnis zwischen Chor und Bezugsperson ist dabei in besonderer Weise von Nähe und Distanz geprägt. So kommt es ungeachtet der engen Zugehörig‐ keit zu bzw. Abhängigkeit von Aias einzig im Amoibaion der Verse 348 ff. zu einer direkten kommunikativen Begegnung zwischen den Schiffsleuten und ihrem Herrn, der dem Chor dabei mit großer Sympathie entgegentritt (vgl. die Anrede der Schiffsmannschaft als φίλοι v. 349). Wie gezeigt wurde, bleibt die Position des Chors in dieser Passage allerdings völlig konventionell; von einem wirklichen Austausch zu sprechen, fällt angesichts der ungleichen Gesprächs‐ verteilung sowie der klaren Funktionalisierung der teilweise nichtssagenden chorischen Aussagen schwer. Die vor allem in den beiden Tragödien mit Frau‐ enchören (Elektra und Trachinierinnen) bedeutsame Gesprächssituation Prot‐ agonist-Chor ist darüber hinaus selbst an dieser Stelle nur in Ansätzen wirklich realisiert, da Aias neben dem Chor auch Tekmessa gegenübersteht. Die den reinen Austausch Protagonist-Chor 307 (bzw. Bezugsperson-Chor 308 ) ansonsten prägende Intimität wohnt allerdings auch der vorliegenden Szene zu einem ge‐ wissen Grad inne: Die forcierte Absetzung dieses ‚Wir‘ gegenüber den als feind‐ lich eingestuften ‚Anderen‘ (Atriden und Odysseus) konstituiert auf Basis eines 2. Aias 253 <?page no="254"?> 309 Auch wenn Sophokles Tekmessa geradezu zur Frau des Haupthelden macht, bleibt sie ihrer Herkunft nach Kriegsbeute und Sklavin (vgl. ihre Anrede an Aias v. 585). besonderen Zusammengehörigkeitsgefühls geradezu einen Schutzraum, in dem der Austausch untereinander von äußeren Einflüssen ungestört ablaufen kann. Erst nach dem Tod des Aias wird dieser besondere Kommunikationsraum durch das Auftreten der ‚Gegner‘ geöffnet. Damit geht freilich zugleich die spezielle Intimität der Gesprächssituation(en) des ersten Teils der Tragödie verloren. Tekmessa ist zudem innerhalb des ersten Epeisodions Aiasʼ eigentliche Ge‐ sprächspartnerin, wohingegen die Bemerkungen des Chors (v. 481 ff., 525 f., 583 ff.) zwar teilweise an Aias selbst gerichtet sind, allerdings keine ausgreifende Kommunikation zwischen den beiden initiieren. Eine besondere Form dieser in sich gestörten Kommunikation zwischen dem Protagonisten und dem Chor ist freilich die von Aias bewusst lancierte Trugrede, die bei seiner Mannschaft die gewünschte Wirkung nicht verfehlt. Mit Teukros übernimmt die von Aias selbst dazu bestimmte Person nach dem Selbstmord die Verantwortung für die Schiffsmannschaft; zu einem nennens‐ werten Austausch zwischen ihm und dem Chor kommt es dabei allerdings auf Grund der starken Fixierung des Chors auf den Haupthelden nicht. Weniger distanziert als das Verhältnis des Chors zum Haupthelden ist die Re‐ lation zu Tekmessa, mit der die Schiffsleute die Sorge um Aias sowie ein ver‐ gleichbarer subordinierter Stand 309 verbindet. Sie ist dementsprechend die ei‐ gentliche Gesprächspartnerin des Chors: Mit ihr treten die Schiffsleute nach dem Auftritt in lebendigen Austausch, von ihr erfahren sie Details bezüglich des Geschehens der unmittelbaren Vergangenheit. Die Reinszenierung dieser Ge‐ sprächssituation im Anschluss an die Epiparodos markiert zudem den Beginn des zweiten Teils der Tragödie. Der Dichter nutzt diese Konstellation einer weiblichen Person als kommuni‐ kativem Hauptpartner des männlich-soldatischen Chors zur Einbindung beson‐ ders emotionaler Szenen: Während so der Chor der Schiffsleute das männ‐ lich-soldatische Moment der Handlung repräsentiert, symbolisiert Tekmessa (samt ihrem Sohn) vor allem die familiäre Dimension. Dieses Neben- und Mit‐ einander der unterschiedlichen Sphären innerhalb der engsten Angehörigen des Haupthelden ermöglicht es, ein besonders breites Spektrum verschiedener Re‐ aktionen, Ausdeutungen und Perspektiven abzudecken. Bestimmendes Moment des chorischen Selbstverständnisses im ersten Teil der Tragödie ist zudem, wie bereits angesprochen, die Abgrenzung gegenüber Odysseus und den Atriden, die den Schiffsleuten als regelrechte Feindbilder vor I. Chöre wehrfähiger Männer 254 <?page no="255"?> Augen stehen (vgl. v. 148 ff.). Diese Kontrastierung verliert allerdings nach dem Selbstmord des Haupthelden an Schärfe: In den Agonszenen zwischen Teukros und den Atriden ruft der Chor so beiderseits zur Mäßigung auf (gegenüber Me‐ nelaos v. 1091 f., gegenüber Teukros 1118 f., sowohl gegenüber Agamemnon als auch Teukros v. 1264), er setzt in Odysseusʼ Ankunft am Ort besondere Hoffnung (v. 1316 f.), und lobt schließlich dessen erfolgreiches Eingreifen (v. 1374 f.). 2. Ein Blick auf die Inhalte der chorischen Reflexion soll die Einordnung in das zweite Spektrum (Reflexionsstrategien) ermöglichen. Thematisch kreisen die chorischen Partien um zwei maßgebliche Bezugspunkte: die Gestalt des Haupt‐ helden sowie die mit ihm aufs engste verknüpfte eigene Lage der Choreuten. Bereits die Parodos mitsamt der ihr vorgeschalteten anapästischen Verse de‐ monstriert diese Bipolarität, wenn der Chor gleich zu Beginn sein eigenes Wohl‐ ergehen an das seines Herrn knüpft (v. 136) und im Folgenden das Verhältnis von Großen und Kleinen reflektiert (v. 158 ff.). Die Thematisierung von Aiasʼ (mentaler) Verfassung ist dabei zugleich Flucht‐ punkt und thematisches Zentrum der Lieder, um das herum sich die Imagination der den Chor betreffenden Auswirkungen gruppiert. Den drei Stasima entspre‐ chen dabei die drei Zustände des Haupthelden, die dem Chor jeweils Anlass geben, die eigene Lage und damit die dramatische Situation zu bewerten: Das erste Stasimon stellt die Konsequenzen des Wahns dar (v. 611), das zweite nimmt die vorgebliche Gesundung des Helden in den Blick (v. 706), das dritte verarbeitet Aiasʼ Tod (v. 1214 f.) und die sich daraus ergebenden Folgen. Diese passgenaue, inhaltlich an (vermeintlichen) Wendepunkten der Handlung orientierte Veror‐ tung der Stasima lässt die chorische Reflexion den Handlungsfortschritt aus der Perspektive des Chors als einer im Geschehen verorteten dramatis persona ab‐ bilden. In den drei Stasima des Stücks entwirft der Chor dabei auf Basis des zum entsprechenden Zeitpunkt erreichten Handlungsstands jeweils ein Panorama der Situation. Die drei Lieder unterscheiden sich dementsprechend hinsichtlich ihres grundsätzlichen Reflexionszugangs kaum: Sie bieten umfassende Aus‐ leuchtungen der für die Schiffsleute zentralen Momente des Geschehens unter besonders prominenter Selbstverortung des Chors. In allen drei Partien umfasst dieser chorische Blick auf das Geschehen mehrere Zeitebenen, wobei dem ersten und dritten Stasimon zudem die damit verbundene räumliche Dimension 2. Aias 255 <?page no="256"?> 310 Eine Ausdeutung der ferneren Vergangenheit findet allerdings nicht statt; vgl. G O U L D (2001). S. 408: „The chorus has no vision of a past which extends in time in any way beyond that of the familiy of Ajax or has a wider scope: there is no ‘myth’ within the play to sustain or contextualize present experience“. „Heimat - Fremde“ eingewoben ist, während das zweite Stasimon ganz das dra‐ matische Hier in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt. 310 Wesentliches strukturelles Moment der Lieder ist dabei die visualisierend-ima‐ ginierende Gegenüberstellung der verschiedenen zeitlichen und räumlichen Sphären: So kontrastiert das erste Stasimon sowohl Salamis mit Troia (erste Strophe), als auch Aiasʼ glorreiche Vergangenheit mit seinem momentanen Zu‐ stand (erste Gegenstrophe), das zweite Stasimon die leidvolle Vergangenheit mit der unmittelbar angebrochenen positiven Gegenwart, das dritte Standlied die Freuden der Heimat mit der Unwirtlichkeit des Krieges sowie die vormalige Schutzfunktion des Aias gegenüber seinen Soldaten mit seinem jetzigen Zu‐ stand. Der visualisierend-imaginierende Reflexionszugang wird dabei beson‐ ders konsequent verfolgt: Selbst die Beschäftigung mit dem Phänomen „Krieg“ im dritten Stasimon ist in der Verfluchung des Kriegslehrers sowie der konkret ausgemalten Entbehrungen besonders anschaulich gestaltet. 3. Einen umfassenden, das eigentliche Geschehen übersteigenden Deutungs‐ rahmen, vor dessen Hintergrund die Handlung durch die Choreuten einge‐ ordnet würde, entfalten die chorischen Partien nur in Ansätzen (Spektrum III ). Besonders auffällig ist, dass die Ausdeutung des Geschehens unter theolo‐ gisch-personifizierenden Vorzeichen im Lauf der Tragödie an Bedeutung ver‐ liert. Dass Aiasʼ Wahn göttlichen Ursprungs sein muss, steht für die Schiffsleute dabei außer Frage (v. 184 f.): So stellen die Choreuten in der Parodos noch Spe‐ kulationen an, welche konkrete Gottheit für den außerordentlichen Geisteszu‐ stand des Haupthelden verantwortlich sein könnte (v. 172 ff.); ihre Bitte um die Abwehr böser Nachrede richten sie dementsprechend auch an Zeus und Apoll (v. 185 f.). Auch im ersten Stasimon wird Aiasʼ Manie noch dezidiert als „göttlich“ bezeichnet (v. 611), wobei dem Chor allerdings keine konkrete Gottheit als Ver‐ ursacher mehr vorschwebt. Der enthemmte Gefühlsausbruch des zweiten Sta‐ simons ist dagegen eine Aufforderung an Pan, den „Tanzmeister der Götter“, den freudigen Reigen anlässlich der Genesung des Helden anzuführen (v. 694 ff.), sowie an Apoll, dem Chor beizustehen (v. 703 ff.). Für die spontane Gesundung des Helden machen die Schiffsleute dabei in nicht weiter ausgeführter Weise Ares verantwortlich (v. 706). Weder in der Epiparodos noch im dritten Stasimon sind die Erwähnungen göttlicher Mächte dagegen von besonderer inhaltlicher oder struktureller Be‐ I. Chöre wehrfähiger Männer 256 <?page no="257"?> 311 Vgl. S T A N F O R D (1963) S. li (Introduction): „Ajax is what matters in this play“ . deutung; anders gesagt: In der Beschäftigung mit dem Tod des Aias und der sich daraus ergebenden Situation spielt für den Chor göttliches Handeln keine er‐ wähnenswerte Rolle mehr. Stattdessen stehen die den Chor persönlich betref‐ fenden Konsequenzen der dramatischen Situation im Mittelpunkt der Ausleuch‐ tung. Die am Beginn der Tragödie prominente theologisch-personifizierende Aus‐ deutung eröffnet so keinen Deutungsrahmen, der für die Sicht des Chors auf das Geschehen im Ganzen prägend wäre. Als durchgängiger Maßstab der Ausdeutung und Bewertung des Geschehens dient den Schiffsleuten dagegen vielmehr die eigene, von den jüngsten Vor‐ gängen um Aias in meist negativer Weise affizierte Lage: Wesentliches Merkmal der Ausdeutung ist dementsprechend das In-Beziehung-Setzen der eigenen cho‐ rischen Person zum aktuellen Bühnengeschehen, d. h. die Selbstverortung des Chors in der dramatischen Situation sowie der aus ihr abgeleiteten Folgen. Der chorischen Reflexion liegt so ein dem Drama sowie der Rollenidentität des Chors immanenter Bezugsmaßstab zu Grunde, anhand dessen das Hand‐ lungsgeschehen ausgedeutet wird. Eine Einordnung in einen Kontext, der den durch die Handlung bzw. die Personenkonstellation gegebenen Rahmen über‐ steigt, findet dabei nicht systematisch statt. Den durch seine eigene Einbindung in die dramatische Situation abgesteckten Rahmen verlässt der Chor dabei einzig in der Imagination der Eltern des Helden im zweiten Strophenpaar des ersten Stasimons. Diese Öffnung der Reflexion über den unmittelbaren Bezugsrahmen der Handlung hinweg ist dabei, wie ge‐ zeigt wurde, als tragisch-ironische Andeutung des bevorstehenden Todes des Helden klar funktionalisiert. Dagegen ist der Selbstbezug des Chors am Ende des Stücks von so bestimmendem Einfluss, dass die das Bühnengeschehen prä‐ gende Bestattungsthematik im dritten Stasimon keine Verarbeitung findet. Während die chorische Reflexion so zu Beginn der Tragödie eine etwas weitere Perspektive einnimmt, die sowohl göttliches Handeln als auch die Weitung des eng begrenzten Personenspektrums umfasst, konzentriert sich der Blick des Chors mit dem Fortgang der Handlung mehr und mehr auf sein Kernthema: das Verhältnis zwischen ihm und Aias bzw. die Auswirkungen der Handlung auf die Situation des Chors selbst. 4. Bei der Analyse der Tragödie ist klar geworden, dass die Person des Aias das Zentrum der Tragödie, die Achse der ganzen Komposition und das eigentliche movens der Handlung darstellt. 311 Die Dramaturgie der Tragödie ist geradezu 2. Aias 257 <?page no="258"?> auf den Protagonisten ausgerichtet: Seine Taten bilden den Ausgangspunkt der dramatischen Entwicklung, sein Auftreten bringt die Handlung (wieder) in Gang, seine Person steht auch nach seinem Tod thematisch im Mittelpunkt der Ausführungen des zweiten Teils der Tragödie. Was lässt sich demgemäß zur dramaturgischen Funktionalisierung der Chor‐ partien (Spektrum III ) festhalten? In ihrem durchgängigen Bezug auf den das Geschehen maßgeblich prägenden Haupthelden sowie das Verhältnis zwischen dem Helden und seiner Mannschaft werden die Chorlieder geradezu zum Spiegel der eigentlichen Handlung aus Sicht der Schiffsleute. Aias, der Zentral‐ punkt der Handlung, rückt so nie aus der Perspektive der Rezipienten, sondern bleibt auch in den Chorliedern immer präsent. Neben der durch ihn aktiv be‐ stimmten Bühnenhandlung erlauben es die Chorpartien, die Auswirkungen seines Handelns auf andere zu fassen; die chorische Ausdeutung komplettiert so das Bild des Helden auch über dessen Tod hinaus. Der Chor und seine Re‐ flexion dienen dementsprechend geradezu als Folie, auf der sich die Singularität des Haupthelden besonders wirkungsvoll abzeichnet. Die Reflexion des Chors ist so im Wesentlichen fokussierend funktionalisiert: In ihrer Bezugnahme auf Aias spiegelt sie die entscheidende Person der Hand‐ lung und bündelt die Aufmerksamkeit auf dieses zentrale Moment des Gesche‐ hens. 5. In ihrer Bezugnahme auf die konkreten Änderungen des (mentalen) Zustands des Haupthelden folgen die chorischen Partien dem Geschehen weitestgehend linear. Neben die drei Stasima treten dabei mit der Parodos und der Epiparodos sowie dem Kommos unter Beteiligung des Protagonisten weitere (teilweise) chorische Partien, in denen zentrale Szenen des Handlungsverlaufs ausge‐ leuchtet werden. Mit der Bezugnahme des dritten auf das erste Stasimon, d. h. im Besonderen der Beantwortung der Salamis-/ Athen-Motivik durch den Wunsch, den Ort des dramatischen Geschehens zu verlassen (v. 596 ff. und 1217 ff.), ist dem chorischen Nachvollzug der Handlung allerdings ein das Drama rundender Aspekt einbe‐ schrieben. Die vor dem Hintergrund der kultisch-politischen Einbindung der Tragödienaufführung besonders bedeutsame Athen-Motivik bildet so eine Klammer, die die Einheit der vorliegenden Tragödie auch über die bewusste Zweiteilung gewährleistet. Die Zusammenfassung hat gezeigt, wie sehr die Struktur der Tragödie den Ein‐ satz des Chors bedingt und dieser wiederum als Werkzeug des Dichters fungiert, um ein dramaturgisch konsistentes Ganzes zu formen und mit der Sonderstel‐ lung des Protagonisten ein Hauptmotiv der Handlung deutlich zu machen. Die I. Chöre wehrfähiger Männer 258 <?page no="259"?> 312 Vgl. T A P L I N (1978) S. 148: „Sophocles has constructed this division so carefully and de‐ liberately, and […] the relation between the two halves is so clearly one of his chief artistic concerns“. thematische Fixierung des Chors auf Aias, die enge motivische Anbindung der Chorlieder an die gegenwärtige dramatische Situation sowie der offensichtliche Einsatz emotionaler und bühnenwirksamer Effekte im ersten Teil der Tragödie bündeln die Aufmerksamkeit auf das dramatische Geschehen selbst. Im Vordergrund des dramatischen Interesses steht die monopolare Handlung, die sich im Bereich der Charaktere um die eine Zentralfigur, in der Anordnung der Formteile des Dramas um die zentrale Selbstmordszene in der Mitte der Tragödie gruppiert. Dabei kommt dem Chor nicht die Funktion zu, die Handlung durch Reflexionen zu kontextualisieren. Er fungiert vielmehr als Folie für den Charakter des Protagonisten und dient dazu, die Perspektive auf die Handlung und das eigentliche Geschehen zu fokussieren, sowie dem Bühnenstück auch über den bewussten Bruch hinweg thematisch-motivische Geschlossenheit zu verleihen. So hat gerade die Betrachtung der chorischen Binnengliederung ge‐ zeigt: Der Aias zerfällt nicht in zwei Teile, er ist vielmehr geradezu konzentrisch in zwei vielfältig aufeinander Bezug nehmenden Teilen um eine zentrale Figur und eine zentrale Szene, den Todesmonolog des Protagonisten, komponiert. 312 3. Gesamtschau zu den Chören wehrfähiger Männer: Abhängigkeit, Imagination, Fokussierung Bereits die der Interpretation des Aias vorangestellte Einleitung hat einige Ge‐ meinsamkeiten der in Rede stehenden Tragödien aufgelistet. Darauf aufbauend sollen die folgenden Ausführungen in aller Kürze einige grundlegende Momente der Chorführung der beiden Stücke entfalten und sie im Rahmen der in der Einleitung eröffneten Spektren einordnen. Als Gruppen wehrfähiger Männer setzen beide Chöre den Rahmen des für die Handlung ausschlaggebenden Milieus: Beide Stücke werden im Wesentli‐ chen durch wehrfähige, männliche Akteure geprägt. Während das Personen‐ spektrum des Philoktet ganz auf das im Chor gespiegelte soldatisch-heroische Milieu beschränkt ist, stellen Tekmessa (und Eurysakes) im Aias daneben ein emotional-familiäres Moment dar. Hinsichtlich ihrer Rollenidentitäten (Spektrum I) zeigen die Chöre der beiden Tragödien die größten Gemeinsamkeiten: In beiden Fällen stellen Schiffsleute bzw. subordinierte Soldaten den Chor, die zu einem der Akteure in einem be‐ sonderen Abhängigkeitsverhältnis stehen. Diese enge Relation zur Bezugs‐ 3. Gesamtschau zu den Chören wehrfähiger Männer 259 <?page no="260"?> 313 Vgl. die Ausführungen zu „Großen“ und „Kleinen“ v. 158 ff. sowie die Imagination von Aias als einer „Schutzwehr“ (προβολά) v. 1212. 314 Dass sich Chor und Protagonist im Aias in einem besonders komplexen Verhältnis von Nähe und Fremdheit gegenüberstehen, war ein Hauptergebnis der Interpretation; vgl. die entsprechende Zusammenfassung, S. 252 ff. person ist im Besonderen im Aias für das chorische Selbstverständnis konsti‐ tutiv. 313 Die - durchaus gebrochene - Identifikation 314 des Chors mit Aias lässt so auch die Krise des Haupthelden zu einer existenziellen Bedrohung seiner Mannschaft werden; der Chor des Aias wird dementsprechend zum Resonanz‐ boden der Emotionalität des Protagonisten. Die Selbstverortung im Abhängig‐ keitsverhältnis zur entsprechenden Bezugsperson spielt demgegenüber im Phi‐ loktet eine untergeordnete Rolle, wird allerdings gerade durch das als Unterweisungsszenerie gestaltete Auftrittsamoibaion bereits zu Beginn der Tra‐ gödie bühnenwirksam inszeniert. Der thematischen Konzentration auf Philoktet gemäß spielt das Seelenleben des Neoptolemos für den Chor dabei keine ent‐ scheidende Rolle. In beiden Fällen unterläuft das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Chor und Be‐ zugsperson dabei im Fortgang der Tragödie eine gewisse Veränderung. Auch wenn Neoptolemos als Herr seiner Matrosen den gesamten Verlauf der Tragödie über präsent bleibt, ist dennoch mit der Aufdeckung der Intrige ein wichtiges Moment der Beziehung zwischen ihm und dem Chor weggebrochen; damit ist zwar die Loyalität des Chors gegenüber seinem Herrn nicht in Frage gestellt (vgl. v. 963 f. und 1072 f.), das gemeinsame, durch die intendierte Täuschung des Haupthelden mehr oder minder fest umrissene Ziel sowie die spezifische, bis zu diesem Punkt maßgeblich durch die Intrigensituation geprägte Art des Umgangs mit Philoktet allerdings ist genommen. Dagegen stellt der Tod des Haupthelden für die Mannschaft des Aias freilich einen besonderen Einschnitt dar. Auch wenn Teukros im Sinne seines Halbbruders daraufhin die Verantwortung über dessen Haushalt (subordinierte Personen wie die Schiffsleute, Tekmessa und den Sohn eingeschlossen) übernimmt, bleibt Aias bzw. sein Verlust ein bestimmendes Moment der eigenen Selbsteinordnung des Chors (vgl. v. a. das dritte Stasimon); eine besondere Bindung zu Teukros stellt der Chor dagegen nicht her. In beiden in Rede stehenden Tragödien bildet darüber hinaus der Hauptheld das thematische Zentrum der chorischen Reflexion: Während die Schiffsleute des Neoptolemos Philoktet als einem Fremden gegenübertreten, mit dem sie zwar bis auf elementare Gemeinsamkeiten (Geschlecht, Herkunft, Profession) nicht viel verbindet, dessen Situation allerdings den zentralen Gegenstand der chorischen Äußerungen bildet, handelt es sich beim Titelhelden des Aias um die I. Chöre wehrfähiger Männer 260 <?page no="261"?> 315 Den zweiten Wendepunkt markiert die Erscheinung des vergöttlichten Herakles am Ende der Tragödie (v. 1409 ff.). rollenimmanente Bezugsperson des Chors, mit der die Schiffsleute eine Schick‐ salsgemeinschaft bilden. Die beiden Chöre sind demnach in doppelter Weise besonders fest im Gefüge der Handlung verankert: Sowohl hinsichtlich ihrer Rolle als dramatis persona innerhalb des Personenspektrums der jeweiligen Tragödie, als auch mit Blick auf die thematische Konzentration der Äußerungen auf die das Geschehen maß‐ geblich prägende Gestalt sind beide Chöre eng mit dem Zentrum des eigentli‐ chen Geschehens assoziiert. Mehr noch: Die sich selbst im Rahmen der Hand‐ lung verortenden Chöre sprechen in der Regel bewusst aus der sie betreffenden dramatischen Situation heraus und versuchen nicht (oder nur in Ansätzen), eine der Aktion enthobene Perspektive einzunehmen, um das Geschehen in grö‐ ßerem Maß auszudeuten und einzuordnen. Damit sind bereits wesentliche Punkte der Chorführung angesprochen. Wie schlägt sich diese grundlegende Konzeption der beiden Chöre auf die Einbin‐ dung chorischer Partien in das Stück, die Komposition der chorischen Partien selbst sowie die Wahl der konkreten Reflexionsstrategien nieder? Zunächst zum Aufbau der Stücke, d. h. zur Anordnung der Formteile. Beide in Rede stehenden Tragödien sind strukturell mehr oder minder unkonventionell aufgebaut und unterscheiden sich gerade hinsichtlich der strukturellen Funkti‐ onalisierung der chorischen Präsenz erheblich. Der weitestgehend dramati‐ sierte, d. h. sich als Akteur mit anderen Akteuren austauschende Chor des Phi‐ loktet ist ein entscheidendes Moment des kontinuierlichen Handlungsflusses. Das als dramatische Ausnahmesituation ungefähr in der arithmetischen Mitte des Dramas positionierte reflektierende Stasimon unterbricht dagegen diesen Ablauf für eine gewisse Dauer. Bereits dadurch markiert es den ersten 315 ent‐ scheidenden Wendepunkt der Tragödie; die das Vorwissen des Zuschauers kon‐ terkarierende Ausdeutung der Situation, im Besonderen die Zukunftsaussicht der zweiten Gegenstrophe, verstärken die Sonderstellung dieser einzigen rein reflektierenden Chorpartie. Während also die Dramatisierung des Chors den Fluss der Handlung maßgeblich prägt und damit erheblich zur Kontinuität des Stücks beiträgt, markiert die reflektorische Partie den Einschnitt und Wende‐ punkt innerhalb der Tragödie. Geradezu umgekehrt verhält es sich im Aias. Innerhalb der geradezu kon‐ zentrisch um die Selbstmordszene aufgebauten Struktur kommt dem Chor eine doppelte Funktion zu: Als drastischer Bühneneffekt sowie Reinszenierung des Beginns der Handlung tragen Ab- und Wiederauftritt des Chors zur Trennung 3. Gesamtschau zu den Chören wehrfähiger Männer 261 <?page no="262"?> 316 Andere, die beiden Teile der Tragödie verbindende Elemente sind, wie bereits heraus‐ gearbeitet, im Besonderen die Gestalt des Teukros, Tekmessas Dauerpräsenz sowie die Rahmung der gesamten Tragödie durch die zwei „Odysseus-Szenen“, d. h. seine Unter‐ weisung im Prolog sowie sein entsprechendes Einschreiten am Ende des Stücks. der beiden Hälften bei, wohingegen die Bezugnahme des dritten auf das erste Stasimon dem Stück über den so inszenierten Bruch in seiner Mitte hinweg besondere formale und thematische Geschlossenheit verleiht. Während also der Versuch des Chors, in den Gang der Geschehnisse einzugreifen, d. h. seine büh‐ nenwirksam selbst auf Kosten der Gattungskonvention punktuell auf ein Höchstmaß gesteigerte Dramatisierung die Zweiteilung der Tragödie betont, ist es das reflektorische Moment seiner Präsenz, das (unter anderem 316 ) die Einheit der Tragödie sicherstellt. Trotz dieser grundlegend anderen strukturellen Funktionalisierung der cho‐ rischen Partien lassen sich innerhalb der Reflexion gewisse Gemeinsamkeiten erkennen (Spektrum II ). In beiden Tragödien dominiert geradezu durchgängig der imaginative Reflexionszugang: Beide Chöre bieten in ihren Partien keine argumentativ-logischen Gedankengänge, sondern suchen, gewisse Situationen, Stimmungen oder Gegebenheiten besonders eindringlich darzustellen. Selbst wenn dabei, wie im Aias, abstraktere Momente wie Heimatferne und Mühen des Krieges behandelt werden, steht keine thematische Durchdringung dieser Themen, sondern ihre Ausleuchtung als die Choreuten konkret betreffende Umstände im Vordergrund. Dabei hebt sich der konkrete Ich-Bezug in den cho‐ rischen Äußerungen des Aias von der fast ausschließlichen Konzentration auf die Gestalt des Haupthelden im Philoktet besonders ab: Während sich die Schiffsleute des Aias in den von ihnen gezeichneten Panoramen der dramati‐ schen Situation selbst gezielt verorten und ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander vergleichen, ist die eigene Person kein zentrales Moment in der Situationsausleuchtung der Matrosen des Neoptolemos. Hinsichtlich ihrer dramaturgischen Funktionalisierung bieten die chorischen Partien der beiden Tragödien ein in sich jeweils besonders homogenes und grundsätzlich vergleichbares Bild: Sie dienen im Wesentlichen der Fokussierung auf das Geschehen bzw. auf mit dem Geschehen unmittelbar zusammenhän‐ gende Momente, im Besonderen auf den jeweiligen Protagonisten und dessen Situation. Der vergleichbaren Komposition der Chöre hinsichtlich ihrer Rollenidenti‐ täten sowie der Reflexionsstrategien entspricht eine ganz ähnliche dramatur‐ gische Funktionalisierung (Spektrum III ). In diesem Punkt unterscheiden sich die beiden Tragödien nicht wesentlich, sondern einzig im Grad der Fokussie‐ rung: Während sich die Äußerungen des Chors im Philoktet mit besonderer I. Chöre wehrfähiger Männer 262 <?page no="263"?> 317 Vgl. im Besonderen die Ares-Thematik (v. 614, 706, 1196). 318 Vgl. die Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart der Choreuten selbst (v. 596 ff., 1199 ff.), die Vorblenden auf die Reaktion von Aiasʼ Eltern (v. 624 ff.) sowie die Suche nach Gründen für das Geschehen der dem Beginn der Bühnenhandlung unmit‐ telbar vorausgehenden Nacht (v. 172 ff.). Konsequenz rein auf das eigentliche Geschehen konzentrieren, das sie weniger ausdeuten bzw. interpretieren, als vielmehr intensivieren, eröffnen die reflek‐ torischen Partien des Aias (im Besondern das erste und dritte Stasimon, zum Teil auch die Parodos) noch einen gewissen Deutungsrahmen 317 und weiten durch Vor- und Rückblenden 318 den unmittelbaren Rahmen des Geschehens. Zusammenfassend kann man festhalten: Die beiden Tragödien mit einem Chor wehrfähiger Männer konstituieren innerhalb der uns überlieferten Tragödien hinsichtlich der Chorführung eine eigene Gruppe. Trotz der Unterschiede in der Komposition der beiden Stücke, der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Chor und Bezugsperson im Einzelnen sowie dem Grad der Konzentration auf das Geschehen lassen sich mit den Begriffen „Abhängigkeit“, „Imagination“ und „Fokussierung“ die drei Hauptmerkmale der Nutzbarmachung des Chors inner‐ halb der beiden Dramen umreißen. Damit ist die Verwendung des Chors in beiden Tragödien im Rahmen der drei in der Einleitung eröffneten Spektren verortet. 3. Gesamtschau zu den Chören wehrfähiger Männer 263 <?page no="264"?> 1 Unter den Titeln der nur in Fragmenten oder gar nicht überlieferten Dramen finden sich dagegen einige augenscheinlich nach dem Chor benannte Werke; vgl. dazu die Liste der Dramentitel bei L L O Y D -J O N E S (1996). Sophocles Fragments edited and translated, Cambridge (MA), S. 4-9. II. Frauenchöre 1. Trachinierinnen Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur Als einzige der uns überlieferten Tragödien des Sophokles ist die vorliegende nach dem Chor benannt; 1 dies begründet sich allerdings nicht durch eine be‐ sonders herausgehobene Stellung des Chors, sondern ist vielmehr dem Umstand geschuldet, dass sich kein einzelner Hauptheld der Tragödie angeben lässt: Im Mittelpunkt der Handlung stehen mit Deianeira und Herakles zwei Gestalten, deren Verhältnis zueinander das eigentliche movens des Geschehens darstellt. Die namensgebenden trachinischen Frauen sind dabei Zeuginnen der letzten Lebensstunden von Deianeira, die den ebenfalls bevorstehenden Tod ihres Mannes Herakles zu verantworten hat. Deianeira erwartet seit geraumer Zeit die Rückkehr des Herakles, der sich fern der trachinischen Heimat seinen gefährlichen Aufgaben widmet. Sie ist dabei ganz von Angst und Sorge ergriffen. Erst die Botschaft von der bevorste‐ henden Ankunft ihres Mannes vermag sie von ihrer Beklommenheit zu befreien. Bevor allerdings Herakles selbst den Ort des Geschehens betritt, kommt ein durch seinen Vertrauten Lichas angeführter Zug von Kriegsgefangenen bei Dei‐ aneira an. Auch wenn Lichas zunächst zu verbergen sucht, dass die gefangene Iole, die Tochter des von Herakles besiegten Eurytos, die Geliebte des Heros ist, erhält Deianeira schließlich Kenntnis von diesem Umstand. In ihrer Eifersucht greift sie zu einem besonderen Mittel: Sie schickt Herakles ein Gewand, das sie zuvor im Blut des Kentauren Nessos getränkt hat; dieser hatte ihr kurz vor seinem Tod versprochen, diese Maßnahme werde ihr die Liebe ihres Gatten si‐ chern. In Wahrheit hat sie damit allerdings einen verheerenden Fehler begangen, da das Blut des Nessos auf der Haut des Herakles seine tödliche Wirkung ent‐ wickelt und das Gewand den Helden geradezu auffrisst. Deianeiras Sohn Hyllos überbringt ihr die schreckliche Nachricht; sie verlässt daraufhin die Bühne und begeht Selbstmord. Erst gegen Vers 970 tritt Herakles selbst vor die Augen des <?page no="265"?> 2 Z I M M E R M A N N (2011) S. 576. 3 Beide Rollen (Deianeira und Herakles) werden durch den Protagonisten dargestellt, um die Aufteilung der Akteure auf die zur Verfügung stehenden drei Schauspieler zu ge‐ währleisten. 4 So sind die hohe Anzahl an Botenberichten sowie das Vorhandensein mehrerer „Bo‐ tenrollen“ im Personenspektrum (neben dem eigentlichen „Boten“ ebenso Hyllos und Lichas) nicht verwunderlich. 5 Wir sind in der glücklichen Lage, mit den Arbeiten von E A S T E R L I N G (1982). Sophocles Trachiniae, Cambridge, und D A V I E S (1991). Sophocles Trachiniae with introduction and commentary, Oxford, gleich zwei Kommentare neueren Datums vorliegen zu haben, die die Arbeit am Text sehr erleichtern. Publikums. Der bereits im Sterben liegende Held verfügt im Gespräch mit Hyllos letzte Weisungen hinsichtlich der genauen Umstände seines Todes und seiner Feuerbestattung. Mit dem Auszug in Richtung Berg Oite, auf dem Heraklesʼ Scheiterhaufen errichtet werden soll, endet die Tragödie. Z IMME RMANN wird dem Stück im Ganzen gerecht, wenn er es in seiner kurzen Zusammenfassung „eine Doppeltragödie“ nennt, „in deren erstem Teil Deia‐ neira, Heraklesʼ Gattin, im Zentrum steht“. 2 Diese zweiteilige Struktur - zu‐ nächst die Bühnenpräsenz Deianeiras, nach deren Abtritt die des Herakles - entspringt dabei der Bipolarität der Personenkonstellation. Der - freilich auch durch die realen Gegebenheiten bedingte 3 - dramatische Kunstgriff, die beiden Hauptpersonen nie zur selben Zeit vor dem Publikum agieren zu lassen, bringt eine besondere Verflechtung von vorder- und hinterszenischer Handlung mit sich. Die Doppelung der Handlung in diese beiden Bereiche, die erst mit dem Auftritt des sterbenden Herakles aufgehoben wird, ist dabei ein entscheidendes und je im Einzelfall zu untersuchendes Strukturmoment der Tragödie. 4 Nichtsdestoweniger präsentiert sich die vorliegende Tragödie trotz ihrer deutlichen, in der Personenkonstellation angelegten Zweiteilung als Ganzes, was gerade auch eine Betrachtung der chorischen Partien erweisen wird. Die trachinischen Frauen stehen dabei rollenimmanent zunächst Deianeira zur Seite und sind unmittelbarer Widerpart ihrer Äußerungen sowie Spiegel ihrer Emo‐ tionalität. Interpretation 5 Prolog (v. 1 - 93) Die gesamte Aufmerksamkeit konzentriert sich zunächst auf Deianeira, die in einem umfangreichen Monolog (v. 1-48) ihre Vorgeschichte erzählt und in die momentane Situation einführt. Dabei scheint Deianeira kein konkreter Adressat ihrer Worte vor Augen zu stehen; sie spricht niemanden an. Mit ihren ersten 1. Trachinierinnen 265 <?page no="266"?> 6 Vgl. E A S T E R L I N G (1982) S. 80: „with dramatic economy, Hyllus opportunely arrives“. Worten referiert sie ein bekanntes Diktum (λόγος ἀρχαῖος) und macht ihre he‐ rausgehobene Position deutlich: Auch wenn es heißt, man könne das Leben eines Menschen erst nach dessen Tod vollständig kennen (ἐκμάθοις), d. h. überblicken und bewerten, wisse sie bereits jetzt von ihrem eigenen Schicksal, dass es un‐ glücklich und schwer zu tragen sei (δυστυχῆ τε καὶ βαρύν). Schon als sie noch im Haus ihres Vaters lebte, versetzte sie die Brautwerbung des Flusses Acheloos in Angst und Schrecken; damals wollte sie eher sterben, als mit ihm, dessen schauerliche Gestalten sie beschreibt, das Bett zu teilen (v. 15 ff.). Schließlich aber kam Herakles, der berühmte Sohn von Zeus und Alkmene, und befreite sie von dem aufdringlichen Freier. Die Beziehung zu diesem Helden ist allerdings nicht frei von Belastungen: Zwar ist sie mit ihm verheiratet und hat mit ihm Kinder gezeugt, seine ständige Abwesenheit aber ist für Deianeira Anlass zu Sorge und Angst. Besonders schwer zu ertragen seien dabei die Nächte, die ihr Leid von einer auf die nächste zu übergeben scheinen (v. 29 ff.). Nun, da Herakles seine mühevollen Aufgaben (τῶνδʼ ἄθλων) erfolgreich be‐ endet habe (v. 36), sei sie umso besorgter: Schließlich wohne sie seit der Tötung des Iphitos durch Herakles bei einem Gastfreund in Trachis, wobei Herakles selbst seit mittlerweile fünfzehn Monaten nicht mehr bei ihr gewesen sei. Wo er sich befinde, wisse sie nicht zu sagen, und habe auch bisher keine Nachricht von ihm erhalten; einzig eine Schreibtafel habe er ihr hinterlassen. Deren Inhalt gibt sie an unserer Stelle zwar nicht bekannt, verleiht allerdings ihrer Hoffnung Ausdruck, das Schriftstück ohne (späteres) Leid empfangen zu haben. An dieser Stelle schaltet sich die (wohl schon von Beginn an auf der Bühne präsente) Amme ein: Schon lange sehe sie ihre Herrin sich um Herakles sorgen und seine Abwesenheit beklagen. Um Abhilfe zu schaffen, schlägt sie vor, nach Herakles auszuschicken - und benennt mit dessen Sohn Hyllos gleich einen für diese Aufgabe besonders geeigneten Kandidaten. Deianeira ist von diesem Vor‐ schlag, obwohl er von einer Bediensteten gemacht wurde, überzeugt und legt es ihrem soeben, d. h. im dramatisch passenden Augenblick aufgetretenen Sohn 6 nahe, nach seinem Vater zu suchen. Hyllos kennt aus „Erzählungen“ (μύθοις) dessen Aufenthaltsort: Zunächst habe Herakles ein Jahr einer lydischen Frau gedient und sei nun dabei, die Stadt des Eurytos auf Euboia zu belagern. Deianeira wird durch diese Auskunft in Sorge versetzt, da ihr Herakles einen verlässlichen Orakelspruch (μαντεῖα πιστά) bezüglich dieser Region hinter‐ lassen hat (v. 79 ff.): Entweder werde er dort den Tod finden oder nach über‐ standenem Kampf ein glückliches Leben führen. Ihrem Sohn macht Deianeira daraufhin unmissverständlich klar, dass nicht nur Heraklesʼ Leben, sondern II. Frauenchöre 266 <?page no="267"?> 7 Vgl. dazu die Diskussionen bei E A S T E R L I N G (1982) S. 84 und D A V I E S (1991) S. 76. Nach meiner Ansicht spricht nichts gegen den Verbleib Deianeiras auf der Bühne. Ihr Abgang wäre in Vers 93 vollkommen unmotiviert, ebenso ihr Wiederauftritt nach der Parodos (v. 141); zudem scheint sie die tanzenden und singenden Frauen zumindest teilweise wahrgenommen zu haben (vgl. v. 144 f.), was ihre Anwesenheit während des Einzugs‐ liedes wahrscheinlich macht. 8 Vgl dazu E A S T E R L I N G (1982) S. 71 und D A V I E S (1991) S. 55. 9 Die bestimmende Bühnenpräsenz Deianeiras gibt Anlass, sie im Folgenden (zumindest bis zu ihrem wirkungsvoll inszenierten Abgang nach Vers 815) die Protagonistin des Stückes zu nennen. 10 Vgl. dazu E R B S E (1984). Studien zum Prolog der euripideischen Tragödie, Berlin, S. 292. D A V I E S (1991) führt als engste Parallele den Beginn von Euripidesʼ Andromache an (S. 55). E A S T E R L I N G (1982) benennt weiterhin die Dramen Helena und Phoenissen als vergleichbare Partien (S. 71). ebenso das seiner Familie auf dem Spiel stehe und daher seine tätige Mithilfe von Nöten sei. Hyllos erklärt sich sofort bereit, zu seinem Vater aufzubrechen und die ganze Wahrheit über die Angelegenheit zu erfahren. Von seiner Mutter dazu aufgefordert verlässt er die Bühne, worauf ihm die Amme folgt; der Prolog hat ein Ende gefunden. In Vers 94 stimmen die trachinischen Frauen des Chors ihr Auftrittslied an. Deianeira tritt entweder ebenfalls ab, bleibt für die Dauer der kommenden Parodos auf der Bühne oder kommt gegen Ende des Liedes wieder an den Ort des Geschehens. 7 Was lässt sich speziell in dramaturgischer Hinsicht zum Prolog festhalten? Augenfällig ist die formale Zweiteilung der Prologszene: Auf den ausgreifenden Monolog Deianeiras (v. 1-48) folgt die dialogische Partie der Verse 49-93. War der erste Teil des Prologs relativ statisch, so belebt sich das Geschehen mit der Wortmeldung der Amme und dem Auftritt des Hyllos. Diese formale Abfolge von Statik und Dynamik visualisiert dabei die inhaltliche Entwicklung beson‐ ders eindrücklich: Nachdem Deianeira in ihrem Monolog die Vorgeschichte sowie ihren momentanen Zustand referiert hat, rückt mit dem Gespräch der Akteure die Lösung des dargestellten Problems in den Blick. Auf die ungewöhnliche Konstruktion des auf den ersten Blick euripideisch anmutenden Monologs zu Beginn des Prologs wurde schon vielfältig hinge‐ wiesen. 8 Unter unseren Gesichtspunkten scheint es geboten, sich kurz mit den formalen Auffälligkeiten der Partie zu beschäftigen. In der Tat beginnt von den erhaltenen Dramen des Sophokles nur das vorliegende mit einem ausführlichen Monolog des Protagonisten / der Protagonistin, 9 der umfassend in die Situation einführt - eine Konstruktion, die gerade in den Tragödien des Euripides zum festen Formenrepertoire gehört. 10 Die Kommentatoren E A S T E R LING und D AVI E S sind sich dabei mit E R B S E einig, dass die Rhesis Deianeiras bei aller scheinbaren Verwandtschaft zur euripideischen Formensprache eine andere Funktion wahr‐ 1. Trachinierinnen 267 <?page no="268"?> 11 D A V I E S (1991) S. 55: „But the similarities in technique can be (often have been) exagge‐ rated“ sowie „S[ophocle]’s aim here is not so much to set before us facts of this sort [the scene, the characters and their relationship and antecedents, and the state of affairs as the play begins] but to convey Deianeira’s emotional mood and her particular state of dependence upon her husband“. Vgl. E A S T E R L I N G (1982) S. 84: „The main function of this scene is to introduce D. and engage our sympathy for her, and to convey a sense of extreme urgency“. Des Weiteren E R B S E a. a. O. 12 E R B S E (1984) S. 292. 13 E R B S E (1984) S. 293. 14 „Das gilt auch für die Rhesis Deianeiras“ a. a. O. nehme als der informierende Monolog zu Beginn euripideischer Tragödien. Ge‐ rade D AVI E S hält fest, es sei weniger Sophoklesʼ Anliegen, mit Deianeiras Mo‐ nolog formale Informationen über die beginnende Handlung, ihre Verortung in Raum und Zeit sowie die Personenkonstellation vorzubringen, als vielmehr die emotionale Verfasstheit der Sprecherin sowie ihre Abhängigkeit von Herakles darzustellen. 11 Dass Deianeiras Rhesis dessen ungeachtet freilich die grundle‐ genden Informationen zur Handlung bietet, also einen wesentlichen Teil der Exposition darstellt, steht außer Frage. E R B S E s Argumentation, durch den Gesprächseintritt der Amme sowie Hyllosʼ Auftritt werde der Zuschauer „fast unauffällig in den Gang der Handlung“ 12 eingeführt, ist in diesem Zusammenhang freilich richtig. Damit ist allerdings zugleich angedeutet, dass Deianeiras Monolog für sich genommen der eigent‐ lichen Handlung vorgeschaltet ist. Wenn er daher allgemein zu Sophokles fest‐ hält: „Sein Prolog ist nicht nur zur Handlung hin offen, er ist sogar ein Teil der Handlung selbst“ 13 - und dies gerade am Monolog Deianeiras festzumachen sucht 14 -, so muss zumindest eingestanden werden, dass sich der vorliegende Prolog in besonderem Maß durch die formale Zweiteilung auszeichnet. Die ei‐ gentliche Handlung beginnt, anders als in den übrigen Tragödien des Sophokles, hier nicht mit einer dialogischen, dynamischen und passgenau im Ablauf der Geschehnisse zu verortenden Szene, sondern kommt erst mit gewisser Verzö‐ gerung in Gang. Anders gesagt: Während in den anderen überlieferten Tragö‐ dien unseres Dichters bereits der Beginn des Prologs die erste Szene der Hand‐ lung, des aktiven und dynamischen, von den Akteuren geprägten Geschehens darstellt, eröffnet im vorliegenden Fall Deianeiras Monolog das Stück, der als ein rekapitulierendes Moment die nötigen dramatischen Impulse aus der Ver‐ gangenheit und der gegenwärtigen Lage ableitet. Inwieweit man auf die von Sophokles mit Absicht komponierte Struktur dabei die Bezeichnung „euripide‐ isch“ anwenden kann, ist angesichts der Zielsetzungen unserer Untersuchung nebensächlich. II. Frauenchöre 268 <?page no="269"?> Was leistet der Prolog konkret für das vorliegende Drama? Mit ihrem aus‐ führlichen Auftrittsmonolog ist Deianeira als Zentralfigur der kommenden Handlung eingeführt, mehr noch: Sie führt geradezu selbst in die Handlung ein. Ihre aktuelle Problematik bildet vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte den unmittelbaren Handlungsimpuls. Das Drama beginnt aus der Perspektive Deianeiras, sie ist der (eine) Pol, um den sich der Fortgang der Geschehnisse entwickeln wird. Mit der Ausrichtung ihrer Sorge auf Herakles ist die zweite bestimmende Person der Handlung zwar nicht physisch in das aktuelle Büh‐ nengeschehen involviert, vor dem geistigen Horizont der Akteure und des Pub‐ likums jedoch in höchstem Maß präsent. Der Prolog macht somit deutlich: Die nun folgende Handlung spielt sich im Spannungsverhältnis zwischen Deianeira und Herakles ab; diese beiden Figuren sind Träger und Ausgangspunkt des Ge‐ schehens, ihr Verhältnis zueinander ist der eigentliche dramatische Gegenstand. Dabei tritt uns Herakles vorerst nur im Spiegel der Emotionen seiner Frau ge‐ genüber, was dem Prolog besondere dramaturgische Tiefenwirkung verleiht. Zuschauer und Leser sind sich so bewusst, dass sich neben der aktuellen Büh‐ nenhandlung ein anderes, für das Drama ebenso entscheidendes Geschehen ab‐ spielt. Fassbar wird diese hinterszenische Präsenz des zweiten Haupthelden zu‐ nächst allerdings nur auf der Folie Deianeiras und ihrer Emotionalität. Der in Vers 79 ff. referierte Orakelspruch unterlegt die Szenerie mit bedroh‐ licher Spannung. Die hinterszenische, wenig greifbare Herakles-Handlung rückt so unmittelbar in den Fokus der Betrachtung, die Aussendung des Hyllos als Boten stellt seine Rückkehr und möglicherweise eine Heimkehr des Herakles in Aussicht. Hinterszenische und vorderszenische Aktion werden auf diese Weise direkt miteinander verknüpft; eine Zusammenführung der beiden Stränge ist somit nicht nur wahrscheinlich, sondern geradezu bestimmendes Moment der Aussicht auf das Kommende. 1. Trachinierinnen 269 <?page no="270"?> 15 Dass dabei die vorliegende Eingangsszene in dramaturgisch-formaler Hinsicht einen faden Beigeschmack hinterlässt, soll nicht verschwiegen werden. So sind die Auftritte der Personen innerdramatisch nicht motiviert (anders als in den übrigen Tragödien unseres Dichters, wo das Ankommen der Akteure an einem gewissen Ort (Philoktet, Oidipus Tyrannos, Oidipus auf Kolonos, Elektra), eine geplante Zusammenkunft (Anti‐ gone) oder - wie im Aias - eine aus dem Entschluss eines Charakters motivierte Szenerie den Auftakt bildet. Dementsprechend entbehrt der lange Monolog Deianeiras nicht nur eines Adressaten, sondern auch eines konkret nachvollziehbaren Anlasses. (Warum und wen informiert Deianeira gerade jetzt über ihr Leben und ihre Lage angesichts der Abwesenheit ihres Mannes, zumal die Amme als möglicherweise Angeredete bereits um den Zustand ihrer Herrin weiß? ) Dass zudem Hyllos just im dramatisch notwen‐ digen Moment die Szenerie betritt, ist zwar an sich nicht zu tadeln; allerdings wird auch für sein Erscheinen kein Grund genannt, er stößt einfach dazu und ist ab diesem Mo‐ ment ungeachtet seiner etwaigen vorherigen Absichten und Beweggründe in die Hand‐ lung eingebunden. Vgl. dazu D A V I E S (1991) S. 69. Diese Bedenken fallen nach dem An‐ stoß der Handlung und der Aussendung des Hyllos natürlich weniger ins Gewicht. Es bleibt allerdings festzuhalten, dass dem Beginn des Prologs die sonst zwingende dra‐ maturgische Einbindung fehlt. Im Vergleich mit den Prologen der übrigen Tragödien erscheint die Konstruktion des hier vorliegenden weniger raffiniert, mehr aus drama‐ tischer Notwendigkeit bestimmt als durch souveräne Anordnung der Handlung und geschickte Setzung ihres Anfangs geprägt. 16 Zum Vergleich können wieder andere Tragödien unseres Autors dienen, in denen der Auftritt des Chors einer gewissen dramatischen Notwendigkeit folgt (z. B. der Auftritt der Schiffsbesatzungen im Aias und dem Philoktet) und im besten Fall eine Konsequenz aus der Prologhandlung oder der im Prolog ausgeführten Vorgeschichte darstellt (z. B. die Einberufung von Ratsversammlungen in der Antigone und dem Oidipus Tyrannos). Prolog und Auftrittslied greifen dann funktional ineinander und stehen so in einer der dramatischen Fiktion verpflichteten logischen Beziehung. Der Prolog hat so das zu Grunde liegende Personenverhältnis geklärt und den unmittelbaren Anlass zum Beginn der eigentlichen Bühnenhandlung gelie‐ fert. 15 Parodos (v. 94 - 140) Mit Vers 94 betritt der Chor trachinischer Frauen die Orchestra. Sein Kommen ist zunächst weitestgehend unmotiviert: Weder hatte der Prolog eine innerdra‐ matische Begründung für das Eintreffen der Frauen gegeben, 16 noch äußern sich die Frauen zu Beginn des Liedes selbst über den Grund oder die Absicht ihres Kommens; dass sie ihrer Herrin in deren schwerer Situation Beistand leisten wollen, erhellt aus dem Fortgang der Parodos. Formal entfaltet sich das Lied dabei in zwei Strophenpaaren mit angehängter Epodos, wobei die Strophen‐ enden zugleich auch syntaktische und inhaltliche Einschnitte darstellen. Der Durchgang orientiert sich dementsprechend an der metrischen Gliederung des Liedes. II. Frauenchöre 270 <?page no="271"?> 17 D A V I E S (1991) beschreibt S. 78 die Konstruktion als „elaborate structure“ und sieht darin eine „complex and sophisticated adaption“ konventioneller Geburtsverweise bei der Götteranrufung. E A S T E R L I N G (1982) kommentiert S. 86: „elaboration in the grandest style“. 18 Auf das besonders vieldeutige Wort αἰόλος soll unten weiter eingegangen werden. 19 Ich folge hier der Interpunktion des Textes, wie sie L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) in ihrer Textausgabe vorgenommen haben. 20 L L O Y D -J O N E S (1954). „Sophoclea.“ in: CQ 4 (1954), S. 91-93. Er stützt sich in seiner Deu‐ tung zudem auf die Paraphrase der Scholien, die in den fraglichen Versen ebenfalls die Angabe einer maximalen Ost-West-Ausdehnung sehen. 21 K A M E R B E E K (1959). The Plays of Sophocles, Commentaries Part II The Trachiniae, Leiden, S. 49 f. 22 D A V I E S (1991) S. 80 f. Hatte Deianeiras Eröffnungsmonolog mit einer allgemeinen Sentenz be‐ gonnen, so betritt der Chor die Bühne unter der konkreten Anrufung einer Gottheit, mit einem personalisierten Gebet. Der namentlichen Nennung des in Rede stehenden Gottes samt der Verbalisierung ihrer Anrufung (Ἅλιον αἰτῶ v. 96) schicken die Frauen einen poetisch kunstvoll gebauten Relativsatz 17 voraus: Sie wenden sich an den Gott, den die schillernde Nacht (αἰόλα νύξ), 18 wenn sie schwindet, gebiert, den sie, wenn er leuchtet und glüht (φλογιζόμενον), zum Schlafen bringt (κατευνάζει). Die auf diese Weise personalisierte und durch ihr Wechselverhältnis zur Nacht charakterisierte Sonne solle, so die Bitte der Frauen, das Kind Alkmenes, d. h. Herakles, einem Herold gleich „ausrufen“ (καρῦξαι). 19 Dass die Frauen dabei Kenntnis des genauen Aufenthaltsortes er‐ langen wollen, macht die folgende direkte Frage deutlich: „Wo hält er sich mir, wo hält er sich mir auf ? “ (98 f.). Wie schon bei der Namensnennung unterstreicht auch hier die Gemination πόθι μοι πόθι μοι den wichtigsten Satzbestandteil und verleiht dem Sprechen des Chors eine emotionale, quasi-liturgische Färbung. Eine erneute Anrufung des „mit hellem Glanz Strahlenden“ (v. 99) verleiht der Frage besonderen Nachdruck; zugleich klingt in φλεγέθων das ebenfalls auf Helios bezogene φλογιζόμενον aus Vers 95 und damit die erste Apostrophierung des Gottes innerhalb des Liedes wieder an. Im Anschluss an L LO YD -J ON E S 20 sowie mit K AME R B E E K 21 und D AVI E S 22 wird man die folgende Alternativangabe des Chors als umfassende Rahmung des Spektrums der Orte verstehen können, an denen sich Herakles möglicherweise aufhält: Entweder, so die trachinischen Frauen, bewohne Herakles die „ponti‐ schen Meerengen“ (Ποντίας αὐλῶνας) - halte sich also am Zugang zum Schwarzen Meer und damit im äußersten Osten des Mittelmeerraums auf -, oder er lehne an beiden Kontinenten (δισσαῖσιν ἀπείροις κλιθείς), d. h. am äußersten westlichen Ende des Mittelmeers, an dem sich Europa und Afrika besonders 1. Trachinierinnen 271 <?page no="272"?> 23 Anders E A S T E R L I N G (1982) S. 86, die unter den Πόντιαι αὐλῶνες schlicht „Meeresengen“ versteht und die beiden Kontinente mit Europa und Asien identifiziert. Für sie ist die vorliegende Passage „[a]n elaborate way of saying ‚on sea or on land‘“. 24 D A V I E S (1991) S. 81: „(pre-eminent) in power of sight“. 25 Besonders kunstvoll freilich der proleptische Gebrauch des Adjektivs ἀδάκρυτος v. 106. Vgl. E A S T E R L I N G (1982) S. 87 f. sowie D A V I E S (1991) S. 82 ad locum. 26 E A S T E R L I N G (1982) S. 87: „Soph. likes repeating the same word at close intervals or echoing a word with another derived from the same root“, mit dem Hinweis auf die Verwandtschaft von εὐνάζειν und εὐναῖς, allerdings ohne Hinweis auf die Doppelung ἀνδρός und ἀνανδρώτοισι. 27 Gleichfalls findet auch die p-Alliteration wieder Anwendung: ποθουμένᾳ γὰρ φρενὶ πυνθάνομαι. Vgl. v. 98. nahe sind. 23 Mit dem weit ausgreifenden Panorama, das durch die Nennung der Extrempunkte in Ost und West den gesamten Mittelmeerraum abdeckt, ist zu‐ gleich die motivische Geschlossenheit der Strophe gewährleistet: Der Chor voll‐ zieht den Weg der Sonne nach und führt ihr ausgreifendes „Gesichtsfeld“ vor Augen. Dementsprechend schließt eine erneute Anrufung des „gemäß der Seh‐ kraft Überragenden“ 24 (κρατιστεύων κατʼ ὄμμα) die Strophe: Ihn fordern die Frauen auf, nun Antwort zu geben (εἴπʼ v. 102). Mit der ersten Strophe ist der grundlegende Rahmen des Stasimons abge‐ steckt: Poetischer Impuls ist der Blick zu Helios, der als Allsehender prädesti‐ niert ist, Heraklesʼ momentanen Aufenthaltsort anzuzeigen. Die trachinischen Frauen sind dabei in besonderem Maß in das Geschehen involviert und mar‐ kieren mit Nachdruck ihre emotionale Beteiligung (beachtenswert v. a. das ver‐ doppelte μοι v. 99). Die Gegenstrophe bietet daraufhin eine Begründung für das vorgebrachte Gebet (γάρ v. 103) - und implicite auch für den Auftritt der Frauen: Der Chor, so die Formulierung in der ersten Person Singular, erfahre (πυνθάνομαι), dass die „umworbene“ (ἀμφινεικῆ) Deianeira, gleich einem unglücklichen Vogel, das Sehnen (πόθον) ihrer Augen nie zu Bett schicke und ihr Weinen unterbreche, 25 sondern sich auf ihrem Lager erschöpfe, indem sie die Sorge um den Weg, d. h. den Aufenthaltsort und die Reisen ihres Mannes nähre und dabei eine unglück‐ selige Schickung (δύστανος αἶσα v. 111) befürchte. Halten wir kurz fest: Thematisch und formal ganz im Zentrum der Strophe steht Deianeiras Verlangen nach Herakles; die, wie E A S T E R LING 26 zu Recht fest‐ hält, typisch sophokleische etymologische Wiederholung ποθουμένᾳ und πόθον spiegelt die bereits in der ersten Strophe prominent eingesetzte poetische Figur der Wiederholung πόθι μοι πόθι μοι. 27 Poetisch ausgestaltet wird Deianeiras emotionale Lage durch die Vergegenwärtigung ihres abendlichen Kummers. Indem sich die Frauen des Chors dabei ganz konkret Gram und Sorge der im II. Frauenchöre 272 <?page no="273"?> 28 Vgl. u. a. Elektra 145 ff. und Aias 624 ff. 29 Vgl. E A S T E R L I N G (1982) S. 89: „a grand name for Heracles, meaning little more than ‚Theban‘; he was not one of Cadmusʼ descendants“. Bett Ruhe Suchenden vor Augen rufen, sind die zu Beginn des Liedes evozierte Thematik von Tag und Nacht sowie (freilich den trachinischen Frauen in ihrer Rolle unbewusst) Deianeiras eigene Worte aus Vers 29 f. aufgegriffen und in ein poetisches Bild überführt. Mit dem konventionellen Vergleich (trauernde Frau - klagender Vogel) 28 in Vers 105 ist im Lauf der Schilderung eine Imagination auf‐ geworfen, die allerdings nicht weiter ausgeführt wird. Der Chor ist hier weniger am Vergleich als an der konkreten Verbildlichung einer bestimmten Situation interessiert, die als besonders eindrückliches Beispiel zur Charakterzeichnung Deianeiras und zur lebhaften Ausgestaltung ihrer momentanen Lage beiträgt. Auch der Beginn des zweiten Strophenpaars soll als Begründung des eben Vorgebrachten verstanden werden (γάρ v. 112): Der Chor bietet im Folgenden die Ursachen für Deianeiras Gram und Verlangen, indem er den Blick auf He‐ rakles richtet. Mit einem ausgreifenden Vergleich machen die Frauen zugleich auf die Gefahr, die Wandelbarkeit und die das normale Maß übersteigende Di‐ mension seines Lebens aufmerksam: Gleichwie man viele Wellen (πολλὰ κύματα) des unermüdlichen Süd- oder Nordwinds auf dem weiten Meer hin- und herwogen sehen könne, so drehe es auch den Kadmosgeborenen, 29 d. h. He‐ rakles, hin und her, die Mühe seines Lebens wachse, d. h. nehme bedrohliche Züge an wie das kretische Meer. Das poetische Bild ist zwar nicht der Lebensrealität der trachinischen Frauen entnommen, die wohl kaum selbst Seefahrt auf dem kretischen Meer betrieben haben. Gerade diese Differenz von Rollenerwartung und aufgerufener Bilder‐ welt aber lässt den Vergleich umso wirkungsvoller hervortreten. Die Voranstel‐ lung des tertium comparationis im ὥστε-Satz führt zunächst weg vom unmit‐ telbaren Zusammenhang, die weite Sperrung der zusammengehörenden Wörter πολλά und κύματα erzeugt nachdrücklich Spannung und erhöht die Aufmerk‐ samkeit, das in zwei Partizipien geschilderte Heranwogen der Wellen (βάντʼ ἐπιόντα) malt das poetische Bild in anschaulicher Ausführlichkeit. Das nach der Nennung des Vergleichspunktes nachgeschobene „wie das kretische Meer“ (v. 118 f.) unterfüttert das Bild mit einer konkreten Verortung, führt den Vergleich fort und lässt Herakles als von den tosenden Wellen des Meers eingerahmt in der Mitte der Strophe und der Imagination zu stehen kommen. Der im Bild drohenden Gefahr setzt der Chor zum Abschluss der Strophe eine beruhigende Erkenntnis entgegen: Einer der Götter halte Herakles immer fern von den Häusern des Hades. Die im Bild des brausenden Meeres evozierte Span‐ nung und konkretisierte Sorge um Deianeiras Mann entlädt sich hier in der 1. Trachinierinnen 273 <?page no="274"?> 30 Wahrscheinlich ein Indiz, dass Deianeira nach dem Prolog die Bühne nicht verlassen hat und dem Auftritt der Frauen still folgt. Ihre Anspielung auf das Singen und Tanzen der Jugend im direkten Anschluss an die Parodos (v. 144 ff.) mag als weiterer Beleg für ihre Augenzeugenschaft dienen. 31 Das einhellig überlieferte Wort wurde von Musgrave in αἰδοῖα konjiziert, dem sich P E A R S O N (1924) und E A S T E R L I N G (1982) anschließen; ich folge hier mit L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) und D A V I E S (1991) der Lesart der codices. 32 Vgl. D A V I E S (1991) S. 85. gottvertrauenden Sentenz, die ganz aus der Erfahrung der Frauen gesprochen scheint; schließlich sei Herakles bisher immer unversehrt zu seiner Frau zu‐ rückgekehrt. Mit diesem hoffnungsvollen Blick endet die Fokussierung auf Herakles, die zweite Gegenstrophe wendet ihren Blick wieder auf Deianeira und spricht sie direkt an. 30 Ein zusammenfassendes Relativpronomen (ὧν) bildet den direkten Anschluss an das Vorangegangene: Während Deianeira sich über die ausge‐ führte Situation beklage (ὧν ἐπιμεμφομένας), wolle der Chor ihr zwar einen angenehmen (ἀδεῖα), 31 allerdings von ihrer eigenen Meinung abweichenden Rat geben (ἀντία). Die ausdrückliche Meinung der Frauen (φαμὶ γάρ) sei, Deianeira dürfe die Hoffnung auf einen guten Ausgang nicht müde werden lassen: Der alles beherrschende Kronide, so die Begründung, werfe den Sterblichen nicht ein Leben ganz ohne Schmerzen zu. Vielmehr wälzen sich Leid und Freude auf alle Menschen, gleichwie die wiederkehrende Bewegung des Großen Bären am Himmel. Der Ratschlag an Deianeira bedient sich an unserer Stelle klassischer Motive der Konsolationsliteratur; 32 die aus der Erfahrung gesprochene Sentenz vom Ende der vorangegangenen Strophe, Herakles werde immer durch göttlichen Einfluss vom Tod bewahrt, hat sich in der Gegenstrophe in eine tröstende An‐ sprache gewandelt. Der Chor ist so nach der Imagination der Umstände wieder ganz im dramatischen Augenblick angekommen und versucht, die problemati‐ sche Lage durch die Formulierung einer eigenen Meinung, d. h. durch eine Stel‐ lungnahme innerhalb der Situation einer Lösung zuzuführen. Die Berufung auf göttlichen Einfluss manifestiert dabei erneut nach der Anrufung des Helios zu Beginn des Liedes und der allgemeinen Formulierung τις θεῶν (v. 119) das starke Gottvertrauen der trachinischen Frauen. In der folgenden Epode untermauert der Chor schließlich seine eben vorge‐ tragene Gewissheit noch einmal unter allgemeineren Gesichtspunkten, bevor eine erneute direkte Ansprache an Deianeira und die wiederholte Bekundung des Vertrauens auf den Göttervater die Parodos schließen. Das vorherige ἐπὶ κυκλοῦσιν (v. 129 f.) aufnehmend konstatieren die Frauen: Nichts bleibe für die Sterblichen bestehen, weder die schillernde Nacht noch Unglück oder Reichtum; II. Frauenchöre 274 <?page no="275"?> alles wandele sich sofort, sich freuen und der Freude beraubt werden folgen einander auf dem Fuß. Mit Blick darauf müsse auch Deianeira, die hier mit ἄνασσα zum ersten Mal eine spezifische Bezeichnung durch den Chor erhält, Hoffnung haben; denn wer habe Zeus jemals so unbekümmert im Umgang mit seinen Kindern gesehen? Damit ist nach den allgemeingültigen Aussagen noch einmal der eigentliche Anlass des Liedes in den Blick genommen: Zeus als Vater des Herakles wird um seinen Sohn, so die Gewissheit der trachinischen Frauen, auch weiterhin Sorge tragen. Mit dieser hoffnungsvollen Frage endet das Auf‐ trittslied des Chors. Kurz zusammengefasst: Auch in der Epode scheuen sich die Frauen nicht, dezidiert ihre eigene Meinung vorzutragen (λέγω v. 138). Mit den gnomischen Ausführungen zur Wandelbarkeit des Schicksals und der rhetorischen Frage am Schluss ist die tröstende Ansprache bewusst mit einer allgemeineren, theolo‐ gisch motivierten Sichtweise hinterlegt, die dennoch den aktuellen Anlass nicht aus dem Blick verliert. Die Parodos kann nun im Ganzen überschaut werden. Der direkte Anknüp‐ fungspunkt für die Äußerungen des Chors ist die momentane Lage Deianeiras, von der die trachinischen Frauen erfahren haben. Für die Zuschauer schließt das Auftrittslied direkt an die Ausführungen der Protagonistin vom Beginn des Prologs an und bildet so deren chorisches Echo, das der Chor allerdings mit einer gottesfürchtigen und zumindest vordergründig hoffnungsvollen Zuversicht un‐ terlegt. Deianeira ist dementsprechend ein Zentralpunkt der Reflexion: In ihrem In‐ teresse formulieren die Frauen ein Gebet an Helios, ihre abendliche Sorge erfährt eine umfangreichere Ausgestaltung, ihr gilt der Ratschlag, den Mut nicht sinken zu lassen. Aber auch Herakles widmet der Chor seine direkte Aufmerksamkeit: Sein Aufenthaltsort ist die vom Sonnengott erbetene Information, die Imagina‐ tion seines gefahrenvollen Lebens bildet die Mitte des Liedes, sein regelmäßiges Heimkehren und sein verwandtschaftliches Verhältnis zu Zeus geben Anlass zur Hoffnung. Dabei pendelt das Lied von Strophe zu Strophe zwischen den beiden Polen der Handlung, wie sie im Prolog etabliert wurden: Der in der ersten Strophe aufgeworfenen Frage nach Heraklesʼ Verbleiben folgend widmet sich die erste Gegenstrophe dem Verlangen Deianeiras, worauf das zweite Strophen‐ paar zunächst den ausführlichen Blick auf den abwesenden Helden lenkt und schließlich die Protagonistin explizit anspricht und zu beeinflussen sucht. Die abschließende Epode setzt die konsolatorische Motivik und Absicht fort, wendet sich erneut an Deianeira und schließt mit einem Verweis auf Herakles und seine besondere Beziehung zum Göttervater. Zudem lässt sich eine gewisse themati‐ sche Rahmung der gesamten Partie feststellen: Die Thematik des regelmäßigen 1. Trachinierinnen 275 <?page no="276"?> 33 Vgl. LSJ s.v. „quick-moving“ sowie im Besonderen auf Farben bezogen „changeful of hue“. Wechsels zwischen Tag und Nacht (v. 94 f.) charakterisierte zu Beginn der ersten Strophe rein deskriptiv den angesprochenen Gott und schien zunächst nichts mehr zu sein als eine poetische Ausgestaltung eines simplen, der Alltagswahr‐ nehmung entnommenen, immer wiederkehrenden Phänomens. In der zweiten Gegenstrophe und schließlich der Epode wird dagegen der ständige Wechsel als grundlegende Erfahrung menschlichen Daseins funktionell, d. h. in unserem Fall mit konsolatorischer Absicht umgedeutet; Deianeira solle gerade aus der Ge‐ wissheit, dass sich alles verändert, Hoffnung schöpfen. Wenn daher zu Beginn der Epode die Junktur αἰόλα νύξ (v. 132) wörtlich den Eingangsvers (94) der Par‐ odos wieder aufnimmt, ist nicht nur eine begriffliche Klammer zwischen Anfang und Ende des Liedes geschaffen. Vielmehr deutet die konsolatorische Motivik der Schlussstrophe und im Besonderen das Bild der αἰόλα νύξ geradezu rück‐ wirkend auch den Beginn des Liedes aus und rückt das Phänomen des Wechsels, des ständigen Auf und Ab als ein Grundmoment der Partie ins Bewusstsein. Anders gesagt: Bereits mit dem Beginn der Partie ist der motivische Kern der Parodos angerissen. Im Blick zu Helios und der Charakterisierung seines Ver‐ hältnisses zur Nacht ist also nicht nur das Motiv der Suche nach Herakles, son‐ dern bereits ein wesentliches Moment der Tröstung etabliert. Was als poetisches Detail den Beginn des Auftrittsliedes besonders anschaulich, die Anrufung des Gottes besonders feierlich zu gestalten schien, trägt, vom Ende her betrachtet, in sich bereits motivische Relevanz. Abzulesen ist diese Funktionalisierung an der Umdeutung der Nacht: War νύξ in der ersten Strophe schlicht der Gegenpart zu Helios und Partner im geschilderten Wechselverhältnis der beiden, so ist der Begriff in der Epode schließlich inhaltlich aufgeladen und innerhalb der kon‐ solatorischen Motivik verankert: In einer Reihe mit πῆμα und χαρά (v. 129) sowie κῆρες und πλοῦτος (v. 132 f.) steht die Nacht als menschliche Erfahrung, deren steter Wechsel Anlass zu Hoffnung und Zuversicht geben soll. In diesem Sinne entfaltet auch das Adjektiv αἰόλος seine ganze semantische Bandbreite: 33 Schien es am Beginn der Parodos einzig den raschen Wechsel von Tag und Nacht zu untermalen, so ist mit ihm am Beginn der Epode das Kernthema „Wechsel und Veränderung“ in spezifisch konsolatorischer Hinsicht präsent. Mit der im‐ pliziten Andeutung im poetischen Bild vom Anfang des Liedes korrespondiert die Nutzbarmachung der Motivik innerhalb der Aussageabsicht der trachini‐ schen Frauen. Die gesamte Parodos ist so in subtiler Weise gerahmt: Der kon‐ krete Blick auf Deianeira und Herakles ist geradezu zwischen die bewusst all‐ gemeine Reflexion des Themenbereichs „Wechsel und Veränderung“ II. Frauenchöre 276 <?page no="277"?> 34 Vgl. B U R T O N (1980) S. 49: „Communication is thus established between her [Deianeira] and the maidens of Trachis“. eingespannt. Dass damit ein ambivalenter Blick auf die Geschehnisse geworfen wird, liegt auf der Hand. In anderen Worten: Mit der zugleich prominenten wie nuancierten Thematisierung der Veränderlichkeit des Schicksals ist ein Grund‐ moment der folgenden Handlung angedeutet. Eine weitere dramaturgische Funktion des Auftrittsliedes liegt zudem offen zu Tage: Die Parodos macht die bereits im Prolog etablierte Personenkonstellation Deianeira-Herakles zu ihrem hervorstechendsten Strukturmoment. Der stro‐ phische Wechsel der Fokussierung beleuchtet mit den beiden Figuren der Hand‐ lung zugleich deren Pole und schafft so nach dem dynamisch angestoßenen Bühnengeschehen eine erneute Vergegenwärtigung des eigentlichen Rahmens der Handlung. Die poetische Ausgestaltung innerhalb des Liedes trägt damit nicht nur zur Charakterzeichnung der beiden Hauptpersonen bei, sondern un‐ terlegt die Handlung selbst mit einer Grundierung, auf der sich der Fortschritt und das Spannungsverhältnis der vorder- und hinterszenischen Aktion umso deutlicher abheben können. Machen wir uns zudem klar: Das Lied begann als anrufender Hymnos an Helios mit der drängenden Frage nach Heraklesʼ Aufenthaltsort und endete als eine tröstende Ansprache an Deianeira. Der Chor beginnt mit einem aus dem Prolog stammenden Impuls, führt anschließend seinen Blick mit den poetischen Bildern in der Mitte des Liedes aus der dramatischen Realität fort, um schließlich mit der Fokussierung auf Deianeira und ihren Gefühlszustand den sich an‐ schließenden Wiederauftritt bzw. die erneute Wortmeldung der Protagonistin vorzubereiten. Anders gesagt: Zuschauer und Leser sind nach der konsolatori‐ schen Partie der Parodos wieder im Geschehen angekommen. Mit der Selbst‐ verortung des Chors, dem bewussten Ratschlag der trachinischen Frauen an Deianeira ist die Personenkonstellation der nun folgenden Szene abgesteckt; 34 die Handlung kann, nach der lyrischen Verarbeitung ihrer personalen und strukturellen Grundlagen, nun weitergehen. Mit der ausführlichen Gestaltung des konsolatorischen Abschnitts ist zudem ein allgemeiner Ausblick auf den weiteren Fortgang der Tragödie gegeben. Indem der Chor die Wandelbarkeit des menschlichen Schicksals zur Begründung seiner tröstenden Worte anführt, stellt er bei Lesern und Zuschauern einen un‐ mittelbaren Wechsel der Gefühlslage Deianeiras in Aussicht. Es ist demnach vorauszusehen, dass der Fortgang der Handlung mit einem emotionalen Um‐ schwung verbunden sein wird. 1. Trachinierinnen 277 <?page no="278"?> 35 Vgl. B U R T O N (1980) S. 49S. 49 : „The transition from the song to speech is thus perfectly natural both psychologically and dramatically“. 36 Anders z. B. am Ende des dritten Stasimons der Elektra, das durch den Auftritt der Prot‐ agonistin in einen Wechselgesang übergeht, oder dem ersten Auftritt der Titelheldin selbst, die sich durch einen Aufschrei hinter der Bühne in das Prologgeschehen ein‐ mischt, bevor sie physisch auf der Bühne erscheint. 37 Dementsprechend konnte Deianeira ihren Anfangsmonolog schon relativ abgeklärt mit dem wiedergegebenen Diktum beginnen und so reflektierend auf ihr Leben zurückbli‐ cken. Die Tröstungen am Ende der Parodos suchen zudem die bis zu diesem Punkt gesteigerte Anschaulichkeit und Drastik auf ein gewisses Maß zu reduzieren. Dass dem Chor dabei die eigentliche Prologhandlung, d. h. die Aussendung des Hyllos sowie die Andeutungen über die Deianeira hinterlassene Botschaft, unbekannt sind, entspricht ganz und gar der Konvention: Auch in der vorlie‐ genden Tragödie reflektiert der (noch) nicht vollständig über den gegenwär‐ tigen Stand der Dinge informierte Chor über ein spezifisches Moment der Aus‐ gangssituation. Das Auftrittslied ist demnach eine in gewisser Weise rückblickende, vertiefende Partie, die bewusst nach dem unmittelbaren Anstoß der Handlung eine dramatische Pause darstellt. Dass Sophokles in der Eingangspartie der Tragödie auf eine tiefgreifende und effektvolle Emotionalisierung der Szenerie, d. h. den Einsatz eines lyrischen Wechselgesangs verzichtet hat, fällt gerade beim Vergleich mit der Elektra ins Auge. Die Ausgangssituationen der beiden Dramen weisen gewisse Ähnlich‐ keiten auf: Hier wie dort wartet die weibliche Protagonistin auf das Eintreffen ihres männlichen Gegenparts (Herakles bzw. Orest) und leidet unter der mo‐ mentanen Situation. Während allerdings Elektra erst nach dem Prolog die Bühne betritt und nach einer Monodie in einen ausgreifenden Kommos mit dem Chor eintritt, heben sich im vorliegenden Stück die Formteile stärker voneinander ab: Statt einen lyrischen Großabschnitt zu komponieren, lässt der Dichter hier Prolog, Kommos und anschließenden Monolog der Protagonistin hinterei‐ nander folgen. Die Übergänge sind dabei logisch passgenau, 35 d. h. sie bieten keine Überraschung (der Monolog Deianeiras unterbricht das Chorlied in seiner Reflexion genauso wenig wie die einsetzende Parodos die Prologhandlung, die mit der Aussendung des Hyllos zu ihrem natürlichen Schlusspunkt gelangt war 36 ), sondern erwecken eher den Eindruck einer geordneten Folge von Auf- und Abtritten, geklärter dramaturgischer Wichtigkeit und einer subtileren Emo‐ tionalität, die nicht in drastischen Ausbrüchen hervortritt. 37 Anstatt also eine hochemotionale Eingangspartie zu schaffen und den Auftritt der Protagonistin durch einen entsprechenden Bühneneffekt im Stil der Elektra zu betonen, lässt Sophokles Deianeira von Anfang an in der Handlung präsent sein; ihr Auftritts‐ monolog, die poetische Nutzbarmachung der spezifischen Personenkonstella‐ II. Frauenchöre 278 <?page no="279"?> 38 Zur Problematik der Nomenklatur siehe unten. 39 Die Benennung des Helden durch die Angabe seiner Mutter (τὸν Ἀλκμήνης τόκον) in Vers 181 nimmt unter Umständen begrifflich die Formulierung des Chors aus Vers 97 wieder auf. Dem Zuschauer wird so klar, dass mit der Nachricht des Boten die Frage des Chors beantwortet wurde. Freilich erschließt sich die Bezugnahme dabei einzig dem Rezipienten des Dramas, da der Bote das Chorlied ja nicht gehört hat. tion in der Parodos und der dem Auftrittslied folgende Monolog heben ihre Person in einer anderen, weniger emotionalen als vielmehr dramatur‐ gisch-strukturellen Weise hervor. Ein mit der dramaturgischen Ökonomie des Sophokles vertrauter Zuschauer bzw. Leser ist sich nach der Eingangspassage der Tragödie indessen bewusst, dass der Kulminationspunkt von Drastik und Emotionalität noch folgen wird. Chorlied im ersten Epeisodion 38 (v. 205 - 224) Etwa sechzig Verse nach dem Ende der Parodos beginnt der Chor ein Lied, dessen genaue Nomenklatur noch Gegenstand der Betrachtung sein wird. In‐ nerhalb der kurzen Szene hat sich die Situation für Deianeira und damit die dramatische Realität erheblich gewandelt. Deianeira hatte zunächst in einem ausgreifenden Monolog (knapp 40 Verse) auf das Lied des Chors geantwortet: Auch wenn die Frauen von ihrem Leid erfahren hätten (πεπυσμένη als bewusste Reminiszenz an πυνθάνομαι v. 103), könnten sie es in ihrer Position als unverheiratete und kinderlose παρθένοι kaum nachvollziehen. Sie selbst habe schon viel Leid erfahren, die momentane Situation stelle sie dagegen vor eine bisher unbekannte Bedrohung: Die ihr von Herakles auf der schon im Prolog erwähnten Schreibtafel hinterlassene Weis‐ sagung prophezeie, dass ihr Mann nach einer Abwesenheit von dreizehn Mo‐ naten entweder sterben oder sein restliches Leben glücklich verbringen würde. Aus diesem Grund habe er bei seinem letzten Abschied bereits für den Fall seines Todes Anordnungen getroffen, welchen Teil des Vermögens sie an sich nehmen müsse und wie das heimatliche Land unter den Kindern zu teilen sei. Nun sei der Zeitpunkt gekommen, der die Verwirklichung dieses in Dodona erhaltenen Orakelspruchs bringen müsse. Dieser Umstand setze sie in solche Furcht, dass sie bei dem Gedanken, ohne den besten aller Männer leben zu müssen, aus dem Schlaf aufschrecke. Bevor Deianeira in der Schilderung ihrer Sorge fortfahren kann, unterbricht sie der Chor mit einer Auftrittsankündigung: Ein bekränzter Mann, also ein Überbringer guter Nachrichten, nähere sich dem Schauplatz (v. 178 f.). In direkter Ansprache an die Protagonistin verkündet der solchermaßen Bezeichnete seine Botschaft, um, wie er selbst sagt, Deianeira von ihrer Ver‐ drossenheit zu befreien (ὄκνου σε λύσω): Herakles lebe, 39 habe den Kampf sieg‐ 1. Trachinierinnen 279 <?page no="280"?> 40 E A S T E R L I N G (1982) S. 103: „The women whom D. bids rejoice are (i) the members of her household (αἱ εἴσω στέγης) and (ii) the Chorus of Trachinian visitors (αἱ ἐκτὸς αὐλῆς)“. 41 E A S T E R L I N G (1982) S. 104: „The song is astrophic, i.e. not divided into metrically res‐ ponding units“. 42 E A S T E R L I N G (1982): „Dancing is clearly indicated by 216 ff.“ a. a. O. reich überstanden und bringe den Göttern des Landes Dankopfer dar. Auf die Nachfragen der Protagonistin führt er aus, dass er diese Nachricht vom Herold Lichas gehört habe, der dem Volk die frohe Kunde gerade eben auf einer Weide verkündet; dieser befinde sich inmitten einer Volksmenge, die ihm das Weiter‐ gehen noch unmöglich mache: Zu groß sei das Bedürfnis der Menschen, Infor‐ mationen aus erster Hand zu erhaschen. Trotzdem stellt der Bote Deianeira das baldige Eintreffen des Herolds in Aussicht (v. 199). Deren Reaktion auf die Schilderungen des Boten ist bestimmt von Erleichte‐ rung und Dankbarkeit: Ihre Emotionen brechen zunächst in einem Anruf an Zeus hervor, der ihr nun endlich, wenn auch nach langer Zeit der Entbehrung, Freude geschenkt habe. Ihre Worte gelten weiterhin den Frauen innerhalb und außerhalb des eigenen Haushalts, d. h. den eigenen Bediensteten und den tra‐ chinischen Frauen des Chors, 40 die sie auffordert, das unverhoffte Licht dieser Kunde (ἄελπτον ὄμμα φήμης τῆσδε) gebührend zu besingen (φωνήσατʼ, ὦ γυναῖκες). Dieser Aufforderung kommt der Chor sofort nach und beginnt in Vers 205 sein Lied. Machen wir uns die dramaturgischen Implikationen der vorangegangenen Szene klar. Der mit der konsolatorischen Passage gegen Ende der Parodos in Aussicht gestellte (erste) emotionale Umschlag hat stattgefunden: Heraklesʼ Aufenthaltsort ist bekannt - mehr noch, er ist bereits auf dem Weg zu seiner Frau. Die bis zu diesem Zeitpunkt ungewisse und nur in Vermutungen, Ge‐ rüchten oder bildhaften Ausgestaltungen greifbare hinterszenische Handlung hat an Schärfe gewonnen, Heraklesʼ Präsenz ist deutlich gesteigert, sein physi‐ sches Erscheinen auf der Bühne in greifbare Nähe gerückt. In dieser Situation singt der Chor ein nicht strophisch komponiertes, 41 wahr‐ scheinlich mit ausgreifendem Tanz 42 unterlegtes freudenvolles Lied und setzt damit Deianeiras emotionalen Ausbruch fort. Die Ode präsentiert sich demnach als anlassgebundenes Auftragslied, das ganz in der aktuellen dramatischen Si‐ tuation verankert ist, d. h. mit dem Fokus auf Deianeira und sozusagen aus ihrer Gefühlslage heraus den plötzlichen Wandel der Stimmung ausleuchtet und kommentiert. II. Frauenchöre 280 <?page no="281"?> 43 Mit L L O Y D -J O N E S (1990), E A S T E R L I N G (1982) und D A V I E S (1991) folge ich der Konjektur von Burges und lese δόμος μελλόνυμφος. 44 Vgl. E A S T E R L I N G (1982) S. 105: „The repetition suggests the ritual cry ἰὼ (or ἰὴ) παιάν, ἰὼ (ἰὴ) παιάν“. Mit einer mehrgliedrigen Imperativkette stecken die trachinischen Frauen den Rahmen der Gefühlsäußerung ab: Das kurz vor einer Hochzeit stehende Haus 43 soll in heimatliches Jauchzen ausbrechen, dazu soll der gemeinsame Gesang der Männer Apoll als Beschützer feiern, während die Mädchen sich selbst auffor‐ dern, einen Paian zu singen sowie Artemis, die Schwester des eben benannten Gottes, und die Nymphen anzurufen. Mit dieser ersten Periode ist ein mehrfa‐ ches Panorama eröffnet: Den Angesprochenen (der ganze Haushalt, geteilt in Männer- und Frauengruppe) stehen die konkreten Gefühlsäußerungen (ἐφεστίοις ἀλαλαγαῖς, κοινὸς κλαγγά und παιᾶν) sowie die angerufenen Gott‐ heiten (Apoll, Artemis, Nymphen) entgegen. Dabei verbindet sich mit der all‐ gemeinen ersten Apostrophierung des gesamten δόμος die am wenigsten kon‐ krete Aufforderung, während die Spezifizierung der Adressaten mit einer Konkretisierung der preisenden Tätigkeit einhergeht. Der Chor spannt so einen umfassenden Bogen, der das unmittelbare Bühnengeschehen und die anwe‐ senden Personen zu übersteigen sucht: Die an Deianeira ergangene Botschaft von Herakles soll allen mit der Handlung in Berührung Stehenden Grund zur Freude sein, die imaginierte Jubelfeier das gesamte Personal der dramatischen Fiktion umfassen. Die Anrufung der Gottheiten überschreitet zudem das reine Bühnengeschehen. Indem der Einfluss göttlichen Handelns anerkannt und wertgeschätzt wird, interpretiert der Chor die Situation unter theologischen Gesichtspunkten und sieht sich in seiner gottesfürchtigen Haltung, wie sie in der Parodos ausgestaltet wurde, bestätigt. Sprachlich lässt dabei Sophokles die Emotionalität und Situativität des Liedes auf der einen sowie den ihm innewohnenden Selbstbezug des Chors auf der anderen Seite durch klangliche und syntaktische Stilisierung besonders hervor‐ treten. Der Beginn der Ode erregt durch die onomatopoetische Silbenhäufung ἀνολολυξάτω … ἀλαλαγαῖς Aufmerksamkeit, die durch die Wiederholung 44 παιᾶνα παιᾶνʼ (v. 210 f.) herausgehobene Selbstaufforderung des Chors nimmt als letztes Glied der Kette zugleich die Mitte der Periode ein, die reichhaltige Ausstaffierung der Götternamen mit mehreren Appositionen und Adjektiven (v. a. Artemis als Bezugspunkt des Chors selbst: εὐφαρέταν Ἀπόλλω προστάταν, ὁμόσπορον Ἄρτεμιν Ὀτρυγίαν, ἐλαφαβόλον, ἀμφίπυρον, γείτονάς τε Νύμφας) wirkt überschäumend und ist ganz aus dem freudigen Überschwang der Situation gesprochen. 1. Trachinierinnen 281 <?page no="282"?> 45 Vgl. D A V I E S (1991) S. 104 zu Vers 216. 46 Vgl. E A S T E R L I N G (1982) S. 107 ad locum. 47 Vgl. B U R T O N s (1980) Analyse der Passage mit Blick auf die Tanzschritte S. 52. Mit der folgenden Periode (v. 216-220) thematisiert der Chor seine eigene Absicht (und damit sein momentanes Tun 45 ): Er fühlt sich in die Höhe gehoben (αἴρομαι) und wird den αὐλός nicht von sich stoßen. Der angeschlossene Vo‐ kativ an den Herrscher über das Bewusstsein (ὦ τύραννε τᾶς ἐμᾶς φρενός v. 217) - gemeint ist entweder der Klang des Instruments oder, im Vorgriff auf das Kommende, Dionysos 46 - macht deutlich: Die Frauen befinden sich im Zustand ekstatischer Verzückung. Ganz konkret benennen sie die dem Dionysos heilige Pflanze als Ursache ihres Taumelns: Der Efeu (ὁ κισσός v. 219) wühle sie auf, indem er „bakchischen Wetteifer“ (Βακχίαν ἅμιλλαν) aufwirbele (ὑποστρέφων). Das Lied verbalisiert so die Tanzbewegungen des Chors selbst 47 und benennt die göttliche Begeisterung, die von den Frauen Besitz ergriffen hat, als Ursache des Tanzens. In der konkreten Ausgestaltung der Freude erweitert sich still‐ schweigend das Panorama des göttlichen Einflusses und nimmt über Apoll, Ar‐ temis und die Nymphen hinausgehend auch Dionysos als den Gott rasender Ausschweifung in den Blick. Die Fokussierung auf die dramatische Situation hat zudem an dieser Stelle ihren Höhepunkt erreicht: Nachdem die umfassende Aufforderung zu Beginn des Liedes die gesamte Sphäre des Personals in den jubelnden Ausbruch einzubinden suchte, bekunden die Frauen nun ganz explizit mit der eigenen Tätigkeit ihre Verortung sowie ihr Aufgehen in der dramati‐ schen Situation. Dagegen stellt der folgende, das Lied beschließende Abschnitt (v. 221-224) den Übergang zur weiteren Handlung dar. Die Frauen des Chors haben wahr‐ genommen, dass sich Lichas mit einer Gruppe von Kriegsgefangenen nähert. Nach einem erneuten begeisterten Ausruf (ἰὼ ἰὼ Παιάν) wenden sie sich direkt an Deianeira (ὦ φίλα γύναι) und fordern sie zum genauen Hinschauen auf; schließlich sei es ihr jetzt möglich, die Geschehnisse vor ihren Augen genau zu verfolgen. Was ist mit dieser wortreichen Ansprache der Protagonistin geleistet? Indem der Chor Deianeiras Blick auf die herankommenden Akteure richtet, lenkt der Dichter Zuschauer und Leser auf den Fortgang der Handlung. Damit allerdings nicht genug. Wenn an diesem Punkt, wie der Chor betont, die Handlung vor Augen zu betrachten ist, macht er damit deutlich: Jetzt tritt das bis zu diesem Punkt hinterszenische Geschehen um Herakles direkt auf die Bühne, die Aus‐ wirkungen von Heraklesʼ Tun sind nun vor aller Augen greifbar, mehr noch: Deianeira, die bisher zur Passivität gezwungen war, kann ab jetzt aktiv am Ge‐ II. Frauenchöre 282 <?page no="283"?> 48 Ganz zu Recht betont E A S T E R L I N G (1982) S. 107 den durch die Kontrastierung erreichten Bühneneffekt: Mit dem Ende des exaltiert freudigen Chorliedes treten die Kriegsgefan‐ genen in hoffnungsloser Stimmung auf die Bühne. schehen teilnehmen. Die Verknüpfung der beiden Handlungsstränge ist damit in entscheidendem Maß fortgeschritten. Machen wir uns an diesem Punkt die Struktur des vorliegenden Liedes sowie die dramaturgischen Implikationen noch einmal bewusst. Nachdem zu Beginn der gesamte Haushalt Deianeiras, d. h. alle zur Verfügung stehenden Personen zum Jubel aufgerufen wurden, thematisieren die Frauen anschließend ihr ei‐ genes Tun und inszenieren damit die dramatische Situation als solche, bevor sie schließlich mit einer auf die Grundstruktur der Handlung hinweisenden Blick‐ wendung den kommenden Auftritt vorbereiten. 48 Das Lied deutet in diesem Sinn die nach der Botenmeldung eingetretene Situation emotional aus, entwirft ein gedoppeltes Panorama der Nutznießer (Menschen) und Urheber (Götter) der freudigen Nachricht und leitet in die sich unmittelbar anschließende Handlung über. Auffallend ist dabei, dass das Lied keine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Anlass der Freude bietet: Weder wird Herakles namentlich genannt, noch wird seine baldige Heimkunft thematisiert. Einzig in der Bezeichnung des Hauses als μελλόνυμφος (v. 207) ist eine thematische Andeutung gegeben, die freilich vor dem Hintergrund der folgenden Entwicklung besonders ambivalent bleibt. So wissen die Frauen des Chors, die mit der Heimkunft des Herakles ein Wiederaufleben der Ehe zwischen ihm und Deianeira erwarten, noch nicht, dass sich der Held in eine neue Frau verliebt hat, deren Ankunft am Ort des Gesche‐ hens unmittelbar bevorsteht. Es bleibt allerdings bei dieser kurzen und nur aus dem Fortgang der Handlung zu verstehenden Andeutung. Anstatt also den erreichten Handlungsfortschritt auszudeuten, fungiert der Chor an unserer Stelle als Sprachrohr und wirkungsvoller Lautsprecher der Emotionen Deianeiras. Ihre Sicht der Dinge ist wieder Auslöser für die lyrische Wortmeldung der Frauen, die an dieser Stelle sogar von der Protagonistin selbst angestoßen und in Auftrag gegeben wird. Dabei erlauben die Fixierung auf Dei‐ aneira und die ekstatische Weiterführung ihres Gefühls der Freude und Dank‐ barkeit die wirkungsvollste, weil direkte Teilnahme am Geschehen: Das Lied inszeniert Deianeiras Erleichterung samt der des Chors für eine kurze Zeit‐ spanne als bestimmendes Moment der Szenerie. Hatte die Parodos in ihrem Wechsel der Blickrichtung auf Herakles und seine Frau die Grundstruktur der Handlung verdeutlicht und die unmittelbare Situation damit im Gefüge der Dramaturgie und Personenkonstellation verankert, so ist der Chor an unserer Stelle direkt am Puls des Geschehens, d. h. an Deianeira und ihrer Ausdeutung der Nachricht - und auf Grund der Identifikation mit dem Geschehen ganz bei 1. Trachinierinnen 283 <?page no="284"?> 49 D A V I E S (1991) S. 101: „Instead of the expected first stasimon, S[ophocles] presents us with an astrophic chorus positioned between iambic scenes“. 50 Vgl. dazu die direkt vor dem Einbruch katastrophaler Wendungen bzw. Ereignisse ge‐ setzten Chorpartien in anderen Tragödien unseres Dichters (Oidipus Tyrannos drittes Stasimon, Antigone fünftes Stasimon, Aias zweites Stasimon). sich selbst, d. h. bei seinem Tanzen als Reaktion auf die unverhoffte Nachricht. Dabei scheint das Lied in seiner rauschhaften, ekstatischen Betonung des Hier und Jetzt den Zusammenhang sowie die eigentliche thematische Einordnung der Szenerie kurz aus dem Blick zu verlieren. Indem es ganz in der Situation aufgeht und in seiner Verbalisierung des aktuellen Bühnengeschehens (Tanzen und Freude) dieses verdoppelt, inszeniert es eine emotional aufgeladene Pause im Fortgang der Handlung. Das Geschehen wird dabei nicht wirklich ausge‐ leuchtet oder reflektiert; vielmehr erfahren der aktuelle Moment sowie die Emotion der Hauptheldin eine besonders effektvolle chorische Ausgestaltung, die den Fortgang der Handlung für eine kurze Zeit anhält. Diese dramaturgische Einordnung spiegelt sich auch in der Positionierung des Liedes wider: Anstatt auf die kurze Botenszene ein strophisches Stasimon anzuschließen und damit die Bühnenhandlung auch formal für einen Moment der chorischen Reflexion zu einem vorläufigen Ende zu führen, 49 schiebt So‐ phokles ein emotionales, ex tempore entstehendes Lied ein, das die Identifikation der Frauen des Chors mit Deianeira in einem bisher unbekannten Ausmaß ze‐ lebriert und die dramatische Gegenwart im Sinne eines kurzen und intensiven Schlaglichts effektvoll ausleuchtet. Als Vorbereitung der kommenden Lichas-Szene übernimmt es gerade durch seine letzte Periode (v. 221-224) eine überleitende Funktion. Das Lied ist dementsprechend unmittelbar in den dra‐ matischen Ablauf eingesetzt. Anders gesagt: Sowohl der Übergang von der Bo‐ tenszene zum Chorlied als auch vom Chorlied zur Lichas-Szene ist logisch, emotional und dramaturgisch passgenau. In der Fügung der einzelnen Formteile arbeitet Sophokles dabei mit sehr starken Kontrasten: Scheint sich die Hoffnung des Chors, Heraklesʼ Aufenthaltsort zu erfahren und Zeuge seiner wohlbehal‐ tenen Rückkehr zu werden, zunächst erfüllt zu haben, so wird auch die ins Eks‐ tatische gesteigerte Freude des vorliegenden Liedes nur kurze Episode bleiben. Die grelle Ausleuchtung der Emotionalität, ja ihre Überzeichnung durch das vorliegende Lied erweist sich bereits kurze Zeit später als verfrüht: Die im Lied zelebrierte Jubelstimmung wird spätestens ab der Mitte des kommenden Epeis‐ odions zur Folie, vor der sich das unheilvolle, durch den Auftritt der Kriegsge‐ fangenen eingeleitete Geschehen umso deutlicher abzeichnen kann. Das Lied kommt dabei zwar nicht vor der eigentlichen Katastrophe zu stehen, 50 fungiert II. Frauenchöre 284 <?page no="285"?> 51 B U R T O N (1980) S. 50. Zum Begriff des Hyporchema vgl. die ausführliche Darstellung von D I E H L (1914). „Hyporchema.“ in: RE Band 17, Sp. 338-343, der zwar festhält, die frühe Nähe des Hyporchema zum Dithyrambos bzw. zum Satyrspiel „prädestinierte diese Art des Chorliedes zur Verwendung in der Tragödie“, allerdings zu bedenken gibt: „Das Wesen des H. läßt sich aus den dürftigen Resten alter H. der Lyriker nicht er‐ gründen“ (a. a. O.). 52 J E B B (1962). Sophocles The Plays and Fragments with critical notes, commentary and translation in English prose: Part V The Trachiniae, Cambridge (repr. of 1908), S. 34. 53 K A M E R B E E K (1959) S. 70 f. 54 A. a. O. 55 A. a. O. 56 „We may even consider the possibility that αἱ εἴσω στέγης γυναῖκες enter the orchestra and dance while the choreutai are singing“ a. a. O. 57 in: J E N S (1971) S. 94. allerdings als kontrastreiches und effektvolles Präludium der sich in Kürze ent‐ faltenden Geschehnisse. Die Nomenklatur des vorliegenden Liedes wirft einige Probleme auf. Mit Ver‐ weis auf die Scholien hält B U R TON fest, dass das vorliegende Lied kein Stasimon im eigentlichen Sinne sei, sondern vielmehr mit dem - allerdings problemati‐ schen - Gattungsnamen „Hyporchema“ bezeichnet werden könne. 51 Schon J E B B 52 nahm diese Zuordnung vor - „this lively ‘dance-song’ (ὑπόρχημα)“ - und geht in seiner Interpretation so weit, die einzelnen Abschnitte des Liedes unter den beiden Halbchören und dem gesamten Chor aufzuteilen; die letzten drei Verse kämen demnach der Chorführerin zu. K AME R B E E K 53 formuliert die These der Aufteilung des Textes auf verschiedene Sprecher etwas vorsichtiger und verwirft die Zuteilung der letzten Verse an die Chorführerin: Supposing that the whole song is not sung by all the choreutai together, 205-215 may have been sung by one semi-chorus, the other dancing, 216-220 vice versa, and 221-224 by the whole chorus. 54 Des Weiteren macht er auf die Problematik des verwendeten Gattungsbegriffs aufmerksam, wenn er sagt: If we apply the name ὑπόρχημα to this and similar odes in Sophocles […] we must be aware of the losseness and arbitrariness of our terminology. 55 Auf Grund der Überlegung, dass Singen und Tanzen gleichzeitig für die Cho‐ reuten unmöglich sei, erwägt er zudem, dass weitere Frauen (αἱ εἴσω στέγης γυναῖκες) die Orchestra betreten und während des Liedes tanzen. 56 R OD E 57 schließlich äußert sich in seiner kurzen Behandlung astrophischer Lieder in der Tragödie zu unserer Stelle: 1. Trachinierinnen 285 <?page no="286"?> 58 A. a. O. 59 E A S T E R L I N G (1982) S. 104. 60 A. a. O. 61 P I C K A R D -C A M B R I D G E ( 2 1968) S. 256. 62 A. a. O. 63 A. a. O. Die drei Partien Sophokles Trachinierinnen 205-224, Euripides Elektra 585-595 und Bakchen 1153-1164 schließlich sind stark bewegte Freude- und Jubellieder, die wohl nach dem Vorbild der außerdramatischen Gattung des Hyporchema gebildet sind und gibt in einer Anmerkung zu bedenken: Die Hyporchemata waren nach antiker Theorie […] stark mimetisch und wohl auch astrophisch. Die - allerdings geringen - Reste, die von dieser Gattung erhalten sind, widersprechen dieser Theorie nicht. 58 Die Diskussion bei E A S T E R LING 59 problematisiert die sich aus dem Text des Liedes selbst ergebenden Implikationen hinsichtlich einer formellen Einordnung: So enthalte das Lied Bestandteile, die es sowohl als ὀλολυγμός, als Paian oder als Dithyrambos ausweisen könnten; die Schlussfolgerung lautet daher: „Soph. seems to have made an amalgam of different lyric elements.“ 60 Man wird P ICKAR D -C AMB R IDG E zustimmen müssen, wenn er zum Begriff Hyporchema festhält: „[…] there was considerable confusion over the applica‐ tion of the word hyporcheme even in antiquity.“ 61 Die Zuweisung dieses Gat‐ tungsbegriffs auf einzelne Partien innerhalb der überlieferten Dramen durch moderne Wissenschaftler sei weniger an inhaltlichen oder dramaturgischen Gesichtspunkten orientiert gewesen, but on a desire to distinguish these songs from normal stasima, which they took (in‐ correctly) to be sung by a static chorus: these songs demanded energetic dance. 62 Sein Fazit lässt die Gattungsfrage bewusst offen: […] but the categories of ancient lyric cannot any longer be determined with any precision: indeed it is doubtful whether even Alexandria was altogether clear what they stood for. 63 Machen wir uns angesichts dieser Lage klar: Die formelle Gattungseinteilung des vorliegenden Liedes ist schwierig, wenn nicht unlösbar. Mit dem Begriff ὑπόρχημα ist nichts Wesentliches gewonnen, auch der Versuch, inhaltlich bzw. mit Blick auf die angerufenen Gottheiten die Passage einer etablierten chorly‐ rischen Gattung zuzuordnen, kommt über E A S T E R LING s „Amalgamierung“ ein‐ zelner Elemente nicht hinaus. Genau da aber liegt die eigentliche Wirkabsicht II. Frauenchöre 286 <?page no="287"?> 64 Vgl. S. 284, Anm. 49. 65 Es ist ohnehin fraglich, ob sich die Chorpassagen der Dramen überhaupt einer jewei‐ ligen Gattung zuordnen lassen - und ob eine solche Zuteilung, so richtig sie unter formalen Gesichtspunkten auch sein mag, sinnvoll ist. Die vorliegende Untersuchung zeigt an vielen Punkten, wie geschickt und souverän Sophokles formale Momente etab‐ lierter dramatischer und außerdramatischer Formen verarbeitet, um mit der jeweiligen Komposition eine bestimmte Wirkung auf sein Publikum auszuüben, d. h. genuin dra‐ maturgische Ziele zu erreichen. der Komposition: Das Lied stellt innerdramatisch den unmittelbaren emotio‐ nalen Reflex des Chors auf Deianeiras Aufforderung dar. Seine dramaturgische Einbindung und Relevanz wurde oben ausgeführt; angesichts der dort heraus‐ gearbeiteten Brisanz und Situativität der chorischen Äußerung müssen formelle Gattungsfragen zunächst zurückstehen. Sophokles komponiert an unserer Stelle bewusst ein Lied, das nur schwer in Kategorien einzuordnen ist, und lenkt damit den Blick ganz explizit auf die dramatische Situation und deren überbordende Emotionalität. D AVI E S , der sich zu keiner weiteren These hinsichtlich einer for‐ mellen Einordnung hinreißen lässt, formuliert mit seiner bereits zitierten Aus‐ sage 64 den Kern der Problematik: Sophokles unterwandert die formelle Erwar‐ tung seines Publikums in radikaler Form, indem er nach der kurzen Botenszene die Handlung weder für ein erwartbares Stasimon noch einen Wechselgesang zwischen Chor und Protagonistin unterbricht, sondern ein kurzes, rauschhaftes und astrophisch komponiertes Chorlied einschiebt, das als wirkungsvoller Kon‐ trast zum folgenden Auftritt der Kriegsgefangenen die unmittelbare Stimmung in Szene setzt. Die Beschäftigung mit Gattungsfragen bleibt an diesem Punkt nach der Klärung der dramaturgischen Relevanz müßig. 65 Erstes Stasimon (v. 497 - 530) Auf die relativ kurze Botenszene folgt nach dem eben behandelten Lied der umso ausführlichere Teil des Epeisodions: In der über 270 Verse langen Partie bis zum ersten Stasimon wird ein erneuter Umschlag der Stimmung Deianeira zur ak‐ tiven Teilnahme am Geschehen motivieren. Der aufgetretene Lichas gibt - zunächst Schritt für Schritt auf die Fragen Deianeiras antwortend, schließlich im Monolog (v. 248-290) - die wesentlichen Informationen bekannt: Herakles lebe, sei bei guter Gesundheit und erfülle durch Opfer seine Gelübde gegenüber den Göttern (v. 233-241). Die mit auf die Bühne gebrachten Frauen seien Kriegsgefangene aus der Stadt des Eurytos, die Herakles mit seinem Heer eingenommen habe (v. 244 f.). Der Vorgeschichte dieses Konflikts widmet Lichas eine komplizierte und weitgreifende Ausfüh‐ rung: Herakles sei von Eurytos beim Gastmahl geschmäht worden und habe daher hinterrücks dessen Sohn Iphitos getötet. Das allerdings stieß beim Göt‐ 1. Trachinierinnen 287 <?page no="288"?> tervater Zeus auf Missfallen, der einen offenen Kampf der beiden Konkurrenten zu schätzen gewusst hätte, wohingegen er die mit List ausgeführte Tat, wie alle Unsterblichen, als Hybris verabscheue (262-280). Daher habe er veranlasst, dass Herakles zur Strafe an Omphale verkauft wurde und ihr ein Jahr lang dienen musste. In dieser Zeit habe der Held geschworen, den für seine üble Situation Verantwortlichen mitsamt Frauen und Kindern selbst zu versklaven, was er mit der Eroberung der Stadt des Eurytos in die Tat umgesetzt habe. Noch bevor Deianeira den Bericht des Lichas kommentieren kann, wirft die Chorführerin ein, nun sei für ihre Herrin sowohl auf Grund der augenscheinli‐ chen Situation als auch der berichteten Begebenheiten die Freude offensichtlich (v. 291 f.). Deianeira selbst wendet ihren Blick auf die Gefangenen: Sie erfüllt die Anwesenheit der Frauen trotz aller Freude mit Jammer. In einem spontanen Gebet wendet sie sich an Zeus: Er solle ihrem eigenen Haus nie in dieser Weise entgegenrücken, und wenn doch, dann nur nach ihrem eigenen Tod (v. 303-306). Besonders ergreift die Protagonistin eine Frau aus der Menge, die sie direkt anspricht, nach ihrem Stand und ihrer Herkunft fragt. Doch weder von der Ge‐ fangenen selbst noch von Lichas erhält sie eine Antwort; letzterer betont, über die Identität der Frauen und speziell dieser einen nichts zu wissen. Schließlich gibt sich Deianeira zufrieden und lässt Lichas samt den Kriegs‐ gefangenen ins Haus treten, nicht ohne ihnen eine gute Behandlung von ihrer Seite zu versprechen; schließlich sei das gegenwärtige Leid der Frauen bereits groß genug, sie selbst wolle dem nichts hinzusetzen. Den Abtritt Deianeiras, die sich anschickt, im Haus alles in rechter Ordnung bereitzustellen, verhindert al‐ lerdings der während der Szene still auf der Bühne verbliebene Bote (v. 334 ff.). Er kann Deianeira trotz anfänglichem Zweifel zum Bleiben überreden und ent‐ faltet in einer ausführlichen Rhesis (v. 351-374) schließlich die wirkliche Vor‐ geschichte der Situation, wie er sie selbst von Herakles gehört habe: Nicht die Entehrung bei Omphale oder der Tod des Iphitos und dessen Konsequenzen waren das Motiv für die Einnahme der Stadt, sondern schlicht das Verlangen nach Eurytosʼ Tochter Iole (v. 354 f.) - eben jener Kriegsgefangenen, die von Deianeira gerade befragt und ins Haus aufgenommen worden war. Da nämlich ihr Vater einer Verbindung mit Herakles nicht zustimmte, habe dieser einen kleinen Vorwand gesucht, kurzerhand die Stadt des Eurytos überfallen, und so‐ eben seine neue Geliebte nach Hause geschickt. Deianeira ist fassungslos (v. 375 ff.), lässt sich durch den Boten erneut versi‐ chern, dass sie gerade Iole, die Tochter des Eurytos, in ihr Haus aufgenommen hat, und fragt nach einem entrüsteten Zwischenruf der Chorführerin die Frauen um Rat. Auf deren Empfehlung konfrontiert sie den wieder aus dem Haus ge‐ tretenen Lichas mit den Vorwürfen. Es entwickelt sich eine umfangreiche Dia‐ II. Frauenchöre 288 <?page no="289"?> logszene zwischen den drei Akteuren (Deianeira, Lichas, Bote), die schließlich in einem ausführlichen Monolog der Protagonistin mündet (v. 436-469): Ein‐ dringlich bittet sie Lichas, die Wahrheit zu sagen. Immerhin habe sie Verständnis für alles Menschliche; sich Eros, der sogar über die Götter nach Gutdünken herrsche, in den Weg zu stellen, sei sowieso aussichtslos. Mit der eben ins Haus geführten Iole habe sie Mitleid, zudem sei noch keine Frau, mit der sich Herakles verband, von ihr geschmäht worden. Nach einer kurzen Beteuerung des Chors äußert sich schließlich auch Lichas: Was der Bote über Herakles, die Motivation seines Tuns und sein neues Ver‐ hältnis gesagt habe, entspreche der Wahrheit. Der Heros selbst habe kundgetan, dass ihn ein überaus großes Verlangen nach Iole ergriffen hatte. Nun aber solle Deianeira um Heraklesʼ willen auch dessen neue Geliebte freundlich aufnehmen und die einfühlenden Worte von eben nicht wirkungslos gesprochen haben. Deianeira stimmt Lichas zu: Sie wolle die nun einmal eingeschleppte Krankheit (νόσον ἐπακτόν v. 491) nicht noch vergrößern, sondern sich nach drinnen be‐ geben, um dem Herold eine Botschaft sowie Geschenke für Herakles zu über‐ geben. Nach Vers 496 verlassen die Akteure die Bühne und überlassen dem Chor die ungeteilte Aufmerksamkeit der Zuschauer. Die referierte Szene entwickelte dramatisch höchst wirksam durch die Prä‐ sentation einer Trugrede, die anschließende Richtigstellung, die Konfrontation der beiden Kontrahenten und Deianeiras überraschende Stellungnahme einen zentralen Wendepunkt der Tragödie. Die Umdeutung des Geschehens erstreckt sich nicht nur auf die eben erfolgte Aufnahme der Iole ins Haus, sondern be‐ einflusst ebenso die Wahrnehmung der hinterszenischen Handlung sowie mit der Gestalt des Herakles deren zentralen Akteur. Seine baldige Ankunft steht nun unter anderen Vorzeichen. Deianeiras Reaktion ist dabei überraschend: Hatten wir die Protagonistin bis jetzt als eine emotionale, ja im besten Sinne theatralische Figur kennengelernt, überwiegt nach der spontanen ersten Erwi‐ derung (v. 375 ff.) gegen Ende des Epeisodions eine abgeklärtere, milde, beinahe reflektierte Zurückhaltung, die thematisch und stimmungstechnisch das fol‐ gende Chorlied prägen wird. Gegen eine mögliche Erwartungshaltung folgt auf die radikale Wendung hinsichtlich der Stimmung und der Charakterzeichung des Herakles kein Lied, das - wie die vorangegangene Ode - ganz in der Emotionalität der Szene auf‐ geht. Mit dem Abgang Deianeiras hat die unmittelbar vom Geschehen Beein‐ flusste die Bühne verlassen und rückt auch im Stasimon erst gegen Ende wieder 1. Trachinierinnen 289 <?page no="290"?> 66 Die erste, im weiteren Verlauf noch thematisierte Nennung durch das Demonstrativum in Vers 503 bildet geradezu den Auftakt und wird durch die breitere Schilderung von Deianeiras Verhalten während des Kampfes ab Vers 523 wieder aufgenommen. 67 Vgl. B U R T O N (1980) S. 58: „As to the form into which Sophocles has cast this ode, the general similarity of the rhythm all through into the first half of the epode (522) suggests that we should regard the whole as a single triad rather than as two strophes and an epode“. 68 Zum Aorist vgl. E A S T E R L I N G (1982) S. 135 und D A V I E S (1991) S. 139, der ihn mit Kannicht als „emphatischen“ Aorist bezeichnet. ausführlich in den Horizont der Reflexion; 66 zugleich scheint sich der Chor von der direkten dramatischen Realität zu lösen und unter allgemeinerer Perspektive eine Einordnung der Situation vorzunehmen. Formal gesehen handelt es sich beim vorliegenden Chorlied um ein Stro‐ phenpaar mit anschließender ausgreifender Epode bzw., um mit B U R TON zu sprechen, einer als Triade komponierten Ode. 67 Es entfaltet in seinem Hauptteil eine farbige Szene aus der Vorgeschichte der Handlung. Mit einer apodiktischen Aussage beginnen die Frauen ihre Äußerung: Kypris, die personifizierte Liebe, lege eine große Macht an den Tag (ἐκφέρεται) und bleibe in Auseinanderset‐ zungen immerzu Sieger (νίκας ἀεί). Mit diesem Anfang ist klargestellt: Unmit‐ telbarer Anknüpfungspunkt an die dramatische Situation ist das Phänomen der Liebe, wie es Deianeira in ihrem Monolog (v. 441 ff.) selbst dargestellt hat. Dass im weiteren Anschluss an Deianeira auch die von ihr angerissene Wettkampf‐ thematik für die Reflexion des Chors von zentraler Bedeutung ist, wird durch νίκας ἀεί bereits deutlich. Der Chor fährt mit einer Einschränkung fort: Göttergeschehen wollen die Frauen übergehen (παρέβαν 68 ), auch die Täuschungen von Zeus, Hades und dem erderschütternden Poseidon durch die Liebe sollen nicht Gegenstand der Re‐ flexion sein. Stattdessen eröffnet eine doppelte Frage den direkten Blick auf den zu behandelnden Sachverhalt: Was für Kämpfer sind zum Streit um diese Braut (τάνδʼ ἄκοιτιν v. 503) zusammengekommen? Wer hat diese Wettstreite, reich an gegenseitigen Schlägen, ganz in den aufgewirbelten Staub gehüllt, auf sich ge‐ nommen? Dass den trachinischen Frauen dabei konkret der Kampf um Deia‐ neira vor Augen steht, wird spätestens aus dem Folgenden ersichtlich; mit ei‐ niger Sicherheit können wir annehmen, dass mit dem der abgetretenen Protagonistin hinterherblickenden Demonstrativpronomen τάνδʼ eine Geste verbunden war, die die Zuordnung zu Deianeira verdeutlichte. Das Stasimon hat auf diese Weise rasch nach dem abstrakten Beginn seine Verortung innerhalb des Handlungsgefüges gefunden. Die prominente Liebesthematik des vorange‐ gangenen Epeisodions gibt dem Chor Anlass, auf die Situation der umworbenen II. Frauenchöre 290 <?page no="291"?> 69 Auf die Konstruktion weist auch E A S T E R L I N G (1982) S. 136 hin: „the chiastic arrange‐ ment emphasizes the symmetry of the contestants“. 70 Auf den bemerkenswerten Gebrauch von ἀολλεῖς weisen E A S T E R L I N G (1982) S. 137 und D A V I E S (1991) hin, der S. 143 bemerkt: „only here of two people“. 71 Vgl. J E B B (1962) S. 80: „ … refers to the umpire as an impartial judge between two com‐ petitors“. Deianeira und konkret das Kampfgeschehen zurückzublicken. Damit ist der Rahmen der nun folgenden Imagination abgesteckt. Die Frage nach den Kombattanten findet mit der Gegenstrophe ihre Beant‐ wortung: Der eine (ὁ μέν) war der mächtige Fluss Acheloos von Oiniadai - einem Ort nahe der Mündung des Stroms - in Gestalt eines hochgehörnten und vier‐ füßigen Stiers (ὑψίκερω τετραόρου), als zweiter (ὁ δέ) kam aus dem bakchischen Theben der Sohn des Zeus (παῖς Διός). Waren es bei Acheloos seine Stärke und die tierische Gestalt, die zur poetischen Schilderung seines Auftritts erwähnt wurden, so ist es hier die Bewaffnung des Helden, deren Aufzählung sich der Chor widmet: Herakles trägt Pfeil und Bogen (τόξα), Speere (λόγχας) und eine Keule (ῥόπαλον) bei sich. Die beiden Kämpfer sind durch die lebendige Ausge‐ staltung ihres Auftritts vor dem geistigen Auge der Choreuten und der Zu‐ schauer präsent; formell gesehen gruppieren sich die einzelnen Attribute um die Herkunftsbezeichnungen, 69 die auf engstem Raum in Vers 510 aneinander stoßen - eine kunstvolle Verbalisierung des Zusammenkommens der beiden Akteure an einem Ort, die mit ἐς μέσον (v. 514) fortgesetzt wird. Ab Vers 513 nimmt der Chor nach den Einzelbeschreibungen der beiden Streitenden deren konkrete Aufstellung zum Kampf, sozusagen die Topographie des Geschehens in den Blick: „Diese gingen damals dicht gedrängt 70 in die Mitte [sc. des Kampfplatzes], da sie nach der Eheschließung [mit Deianeira] ver‐ langten“. In der Mitte des Platzes, d. h. zwischen den Kämpfern, 71 war Kypris selbst als Kampfrichterin zugegen. Diese Funktionalisierung der Gottheit als Schiedsrichterin mag zunächst verwundern: Zu Beginn des Stasimons war von Kyprisʼ eigener Stärke die Rede gewesen sowie ihr Handeln als letztlich überle‐ gener Widerpart verschiedener Gottheiten erwähnt worden. Statt aber, wie nach dem Eingang zu erwarten, die Liebe auch im eigentlichen Hauptgegenstand der Reflexion als unmittelbar Beteiligte in einer Auseinandersetzung zu insze‐ nieren - und freilich als Siegerin hervorgehen zu lassen -, kommt ihr in der Imagination des Chors eine andere Rolle zu. Die konkrete Szenerie des Wett‐ kampfs zwischen den Freiern Deianeiras steht so in Kontrast zum Beginn des Stasimons und den dort geweckten Assoziationen bzw. Erwartungen. 1. Trachinierinnen 291 <?page no="292"?> 72 LSJ s.v. 73 B U R T O N (1980) S. 56: „In the epode (516-22) the scene comes to life“. 74 Vgl. E A S T E R L I N G s (1982) Einschätzung S. 137: „The use of anaphora […] contributes to the elevated effect. The atmosphere is heroic, but there is something sinister in the impressionistic description of the fight, in which man and beast are made to merge“. Zum vorliegenden sogenannten schema Pindaricum, d. h. der Folge: Prädikat im Sin‐ gular - Subjekt im Plural, vgl. D A V I E S (1991) S. 145. Das der Gottheit zukommende Adjektiv εὔλεκτρος - „bringing wedded hap‐ piness“ 72 - ruft erneut die das Lied umspannende Heiratsthematik auf und ver‐ knüpft diese expressis verbis mit der personifizierten Göttin, deren erste Nen‐ nung den Beginn des Stasimons markierte. Das Lied hat bis zu diesem Punkt in einer gerundeten Komposition alle beteiligten Personen benannt und unter diesen den drei Akteuren innerhalb des Rückblicks einen Platz zugewiesen: Kypris bildete als personifizierter Handlungsimpuls den Beginn, Deianeira die konkrete Motivation, sozusagen den Kampfpreis, wohingegen Acheloos und Herakles als Kämpfer sowie wiederum Kypris als Schiedsrichterin den perso‐ nellen Rahmen der imaginierten Szene darstellen. Dass dabei Deianeira selbst (noch) nicht innerhalb der Kampfesanordnung verortet ist, das gesamte Pano‐ rama also noch nicht komplett vor Augen steht, lässt zunächst aufhorchen. Zwar ist sie als in Aussicht gestelltes Ziel des Kampfes der Situation subtil einbe‐ schrieben (v. a. in der Formulierung ἱέμενοι λεχέων, zudem im auf Kypris bezo‐ genen Adjektiv εὔλεκτρος), ihre durch sie selbst im Prolog allerdings ausge‐ führte Augenzeugenschaft des Geschehens (v. 20 ff.) hat noch keinen konkreten Niederschlag in der Gestaltung der Szenerie gefunden. Das Augenmerkt liegt zunächst auf dem Kampfgeschehen als solchem und wird sich aus dramaturgi‐ schen Gründen erst am Ende des Stasimons konkret auf Deianeira fokussieren. Die Frage nach den zum Streit Angetretenen hat einen umfassenden Blick auf die Situation eröffnet, in die - wie B U R TON formuliert - mit Beginn der Epode / der dritten Strophe Leben kommt: 73 War bisher nur die Aufstellung der Kämpfer, ihr Weg zum Ort des Streits geschildert worden, so nimmt der Chor im Folgenden den eigentlichen Kampf in den Blick. Den Beginn der vorange‐ gangenen Strophe syntaktisch durch die anaphorische Wiederholung des ἦν aufgreifend (ἦν (v. 507) - τότʼ ἦν (v. 517) - ἦν δέ …) 74 legt die folgende Schilderung zunächst besonderen Wert auf die akustischen Phänomene des Kampfes: Es gab das Getöse (πάταγος) der Hände, der Pfeile und der Stierhörner zu hören. Wei‐ terhin werden die engen Umklammerungen der Kämpfer (ἀμφίπλεκτοι κλίμακες), die gegenseitigen Treffer auf die Stirn des Gegners (μετώπων πλήγματα) und mit dem Stöhnen beider Kombattanten (στόνος ἀμφοῖν) wieder II. Frauenchöre 292 <?page no="293"?> 75 Vgl. E A S T E R L I N G (1982) S. 138: „The MS reading μάτηρ makes no acceptable sense in the context and may well have been influenced by ματρός at 529“. K A M E R B E E K (1959) S. 124 nennt die Stelle einen „locus conclamatus“, listet einige Konjekturen auf und urteilt: „But of the many conjectures none is convincing“. 76 E A S T E R L I N G (1982) a. a. O. 77 D A V I E S (1991) S. 147. 78 M C D E V I T T (1982) „Sophocles Trachiniae 526-530“ in: Hermes 110 (1982) S. 245-247. 79 D A V I E S (1991) a. a. O.: „The latest attempt at defence […] does not convince any more than earlier ones“. 80 L L O Y D -J O N E S / W I L S O N S O P H O C L E A (1990) S. 161. Diese radikale Athetierung enthöbe uns zudem der Schwierigkeit, die Schlussverse des Stasimons deuten zu müssen. Siehe die Ausführungen ad locum. eine akustische Begleiterscheinung des Geschehens vom Chor ins Gedächtnis gerufen. Der Blick der Frauen schweift nach dieser kurzen, aber intensiven Fokussie‐ rung auf die eigentliche Auseinandersetzung hin zu Deianeira, der nun ein Platz innerhalb der Szenerie zugewiesen wird. Der Kontrast zur Schilderung des ge‐ walttätigen, lauten und dynamischen Spektakels ist bewusst ausgestaltet: Die Protagonistin der aktuellen Bühnenhandlung, als „reizend“ und „schön“ apo‐ strophiert (εὐῶπις ἁβρά), sitzt mit einigem Abstand zum Kampfgeschehen auf einem Hügel (τηλαυγεῖ παρʼ ὄχθῳ), wobei sie ihren zukünftigen Ehemann er‐ wartet. Der von den Frauen des Chors in der Beschreibung Deianeiras geäußerte Vers 526 stellt die Herausgeber und Kommentatoren vor Schwierigkeiten: „Ich aller‐ dings rede wie eine Mutter.“ Das als drittes Wort einhellig überlieferte μάτηρ fällt nach der communis opinio in solchem Maß aus dem inhaltlichen Zusam‐ menhang, dass es kaum mit der vorliegenden Selbstverortung des Chors in Ver‐ bindung gebracht werden kann. 75 E A S T E R LING 76 und D AVI E S 77 folgen beide der Konjektur von Zieliński und lesen θατήρ, „Zuschauer“. Einen Versuch, die über‐ lieferte Lesart beizubehalten, stellt M C D EVITT s Miszelle dar, 78 deren Überzeu‐ gungskraft allerdings von D AVI E S gering geschätzt wird. 79 L LO YD -J ON E S / W IL S ON sehen sich in ihrer Textausgabe gezwungen, den ganzen Vers in cruces zu setzen und erwägen im Anschluss an die Streichung der gesamten Schluss‐ partie (v. 526-530) durch Wunder und Bergk: „it is possible that the passage really comes from another play.“ 80 Fest steht: Der problematische Vers beinhaltet eine Einschätzung der eigenen Worte des Chors. Betrachten wir ihn als syntaktischen Einschub in die Schilde‐ rung von Deianeiras Warten auf den Ausgang des Gefechts, dann spricht, nüch‐ tern betrachtet, zunächst nicht viel gegen die von den Handschriften überlieferte Lesart des dritten Worts: Der Chor würde sich während seiner Fokussierung auf 1. Trachinierinnen 293 <?page no="294"?> 81 Vgl. C A M P B E L L (1881; Nachdruck 1969) zweiter Band, S. 293: „It is another question whether the conjecture founded upon this [i.e. die Interpretation eines Scholiasten zur Stelle] […] gives a better sense than the reading in the text. […] The Chorus had not been present at that distant scene, but in imagining it they feel a mother’s tenderness for her.“ Der gleiche Autor äußert sich später anerkennend zu J E B B s (1962) Konjektur („extremly plausible and ingenious“), will aber dennoch die Parallele zu Elektra 233 nicht missachtet wissen (C A M P B E L L (1907). Paralipomena Sophoclea Supplementary Notes on the Text an Interpretation of Sophocles, London (Nachdruck Hildesheim 1969). S. 170). 82 K A M E R B E E K (1959) a. a. O. formuliert - als ausdrücklichen Widerspruch zu C A M P B E L L (1881) - den Einwand: „The obvious objection to it is of course that the Chorus consists of young maidens (cp. 143 sqq.)“. 83 C A M P B E L L , A. Y. (1958). „Sophoclesʼ Trachiniae: Discussions of some Textual Prob‐ lems.“ in: CQ 52 (1958), S. 18-24, S. 21 urteilt u. a. wegen der Abfolge ἐγὼ δὲ μάτηρ μέν … τὸ δʼ: „526 is an inorganic series of Greek words.“ So auch L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) im Apparat zur Stelle: „suspicionem movent et sensus et collocatio verborum“; ihre darauf folgende Einschätzung: „exspectares ut de pugna adhuc ancipiti diceretur“ teile ich allerdings nicht: Der Blick des Chors hat mit Vers 523 das Kampfgeschehen verlassen und widmet sich bis zum Ende des Stasimons ganz Deianeira. 84 Die abschließenden Verse des Liedes bleiben in einigen Punkten rätselhaft: Worauf zielt der Vergleich Deianeiras mit der Färse genau? Dass Deianeiras Einsamkeit herausge‐ hoben werden soll, ist unstrittig (wirkungsvoll die Positionierung des ἐρήμα am Ende des Liedes). Warum aber ist sie „rasch“ (ἄφαρ v. 529) von ihrer Mutter fortgelaufen? Möglicherweise sind im poetischen Bild die typischen Eigenschaften der Färse auf sie übertragen. Die bereits zitierte Andeutung von L L O Y D -J O N E S / W I L S O N S O P H O C L E A (1990) S. 161, die Verse 526-530 könnten möglicherweise aus einem anderen Stück stammen, gewinnt angesichts dieser Schwierigkeiten an Plausibilität. Deianeira seiner eigenen Verbundenheit mit ihr bewusst; 81 dass dabei das Alter der Frauen 82 der Selbstapostrophierung als Mutter widerspricht, kann nicht wirklich überzeugen. Verstehen wir die Aussage des Chors als vom eigenen Mitfühlen mit Deianeiras Schicksal überraschten und spontanen Einwurf, so bildet gerade die Tatsache, sich als junge Frau wie die Mutter der Betroffenen zu äußern, den Grund der Überraschung angesichts des eigenen Gefühls und somit die Motivation für die vorliegende Bemerkung. Angesichts der damit an‐ gedeuteten persönlichen Involvierung der Frauen des Chors wirkt die Konjektur θατήρ - „Ich spreche wie ein Zuschauer / Augenzeuge“ - etwas blass. Auch wenn ich damit vorsichtig andeuten möchte, dass die einhellig überlieferte Textvariante weit besser in den Kontext der Stelle eingeordnet werden könnte, als es die Anzahl der Konjekturen vermuten lässt, bleibt die Stelle dennoch nicht zuletzt auf Grund der Abfolge der Partikel verdächtig. 83 Der Fokus bleibt auch in den abschließenden Versen auf Deianeira gerichtet: Ihr umworbener und zu bemitleidender Blick (ἀμφινείκητον ὄμμα ἐλεινόν) wartet auf den Ausgang des Kampfes; von ihrer Mutter hat sie sich rasch gleich einem einsamen Kalb (πόρτις ἐρήμα) entfernt. 84 Mit dieser Beschreibung der II. Frauenchöre 294 <?page no="295"?> 85 D A V I E S (1991) S. 136 f. 86 D A V I E S (1991) a. a. O. abseits sitzenden Frau endet das Stasimon, ohne noch einmal zum Kampfge‐ schehen zurückzukehren oder dessen Ausgang mitzuteilen. Der Auftritt Deia‐ neiras in Vers 531 mündet daraufhin in einen umfassenden Monolog; mit der Schilderung der einsamen Protagonistin am Rand der imaginierten Szenerie hat der Chor damit für mehr als fünfzig Verse seine letzte Äußerung vorgebracht. Die inhaltliche Struktur des Liedes ist offensichtlich: Hatten die ersten beiden Strophen die grundlegende Motivation und den topographisch-personellen Rahmen der vor dem inneren Auge wachgerufenen Szene eröffnet, so kam es der Epode zu, die eigentliche Kampfeshandlung zu beleuchten und mit dem Blick auf Deianeira die Szenerie zu vervollständigen. Inwieweit dabei die Schilderung der trachinischen Frauen mit Deianeiras Aussagen im Prolog korrespondiert, das Chorlied sozusagen einen lyrischen Reflex dieser Andeutungen darstellt, hat D AVI E S ausgeführt, der die teilweise wörtlichen Bezug- und Wiederauf‐ nahmen in einer Gegenüberstellung verdeutlicht. 85 Sein Fazit It often happens in Greek tragedy that a choral passage is succeeded by a scene in iambic trimeters which treats the same material in different manner […]. Here, ho‐ wever, the sequence is reversed […] and the two treatments are separated by a large number of lines.“ 86 ist zwar richtig, bleibt allerdings rein deskriptiv. Wir wollen hier einen Schritt weiter gehen und nach der dramaturgischen Relevanz und Brisanz dieser Kon‐ struktion und des ganzen Liedes fragen. Die thematische Ausrichtung der chorischen Partie mit ihrem fokussierten Blick auf die Liebe und ihre Macht ist zunächst verwunderlich: Anstatt konkret auf die neuesten Entwicklungen einzugehen, reflektiert der Chor die den Ge‐ schehnissen zu Grunde liegende Wirkmacht und versetzt sich im Anschluss an das wechselvolle Epeisodion in die Vergangenheit. Anders gesagt: Die Trugrede des Lichas, ihre Richtigstellung sowie Deianeiras Reaktion auf Heraklesʼ Taten spielen für die trachinischen Frauen in ihrer Reflexion keine konkrete Rolle; ihr Blick gilt zunächst allgemein dem Phänomen der Liebe, schließlich konkret der imaginierten Szenerie aus der dramatischen Vorgeschichte. Impuls der imagi‐ nierenden Reflexion ist nicht das eigentliche Handlungsgeschehen, sondern im Anschluss an Deianeiras Räsonieren (v. 441 ff.) ein geradezu sezierender Blick 1. Trachinierinnen 295 <?page no="296"?> 87 Einen ganz ähnlichen reflektorischen Zugang beschreitet das dritte Standlied der An‐ tigone, das - auch thematisch mit dem vorliegenden Lied verwandt - den Liebeswahn Haimons als grundlegendes movens der vom Chor miterlebten Streitszene ausmacht. in die tieferen Schichten des Geschehens. 87 Der Chor setzt den Berichten über Heraklesʼ Handeln, dem wechselvollen Geschehen auf der Bühne sowie den all‐ gemeingültigen Aussagen Deianeiras über die Macht der Liebe seine lebhafte und farbreiche Imagination entgegen. Zugleich kommt er damit - freilich un‐ bewusst - Deianeiras im Prolog geäußerten Aufforderung nach, ein anderer möge die Geschehnisse rund um den Kampf ihrer beiden Freier erzählen (v. 22 f.). Nachdem das Epeisodion mit der Aufnahme der Iole und der Richtigstellung der Verhältnisse zu einem spannungsvollen Ruhepunkt gekommen ist, füllt das erste Stasimon dramaturgisch diesen Moment der Pause. Es lenkt den Blick zu‐ nächst aus der eigentlichen Situation fort - um sie, wie sich zeigen wird, gerade dadurch umso wirkungsvoller auszuleuchten. Dabei gilt: Mit der Thematisierung des Kampfes um Deianeira als umworbene Braut verbalisiert der Chor ein Geschehen der dramatisch fernen Vergangenheit. Dennoch stiftet die grundlegende Liebesthematik eine Verbindung zu Heraklesʼ Taten rund um die Stadt des Eurytos und seiner Leidenschaft für Iole. In beiden Fällen ist jeweils erotisches Verlangen die Motivation des Handelns, also Aph‐ rodites Macht wirksam. Diesen Zusammenhang sprechen die trachinischen Frauen allerdings nicht explizit aus, die Übertragung bleibt vielmehr ganz dem Rezipienten überlassen. Auch eine Wertung von Seiten der Frauen, gar eine Einordnung von Heraklesʼ Tun in moralischen Maßstäben findet sich dabei nicht. Aber nicht nur hinsichtlich der grundlegenden Thematik „Liebe und Ver‐ langen“ steht das Stasimon in engem Bezug zur Handlung. Dass sich die im Stasimon imaginierte Szene und die mittlerweile im Handlungsverlauf erreichte Personenkonstellation spiegelbildlich entsprechen, erhellt aus Deianeiras Mo‐ nolog, mit dem sie nach dem Stasimon ihr Vorhaben erläutern wird: Rivalisierten beim durch den Chor geschilderten Kampf zwei Männer um eine Frau, so sieht sich Deianeira nun vor die Aufgabe gestellt, die Zuneigung ihres Mannes zu‐ rückgewinnen zu müssen (vgl. besonders v. 550 f.); mit Iole und ihr stehen nun zwei Frauen im Streit um einen Mann. Ohne also konkret, d. h. expressis verbis auf die Geschehnisse des vergangenen Epeisodions einzugehen, leistet das Sta‐ simon dennoch einen wesentlichen Beitrag zur Ausleuchtung der Situation. Durch die Einblendung einer dem unmittelbaren Zusammenhang zunächst ent‐ hobenen Szenerie spiegelt es die aktuelle und - wie der Fortgang der Handlung zeigen wird - zutiefst konfliktreiche Ausgangslage kurz vor dem Einschreiten Deianeiras unter veränderten Vorzeichen. Nicht nur die allgemeine Liebesthe‐ II. Frauenchöre 296 <?page no="297"?> 88 Zu Recht sind sich E A S T E R L I N G (1982) und D A V I E S (1991) einig, im Stasimon den Cha‐ rakter eines Epinikions, geradezu pindarische Elemente wiederzufinden: E A S T E R L I N G (1982) S. 133: „There is a strong flavour of the epinician ode in this lyric“; D A V I E S (1991) S. 137: „There are numerous features which remind us of Pindar“. Dass dabei, wie E A S‐ T E R L I N G (1982) festhält, nicht Herakles, sondern letztlich Aphrodite Gegenstand der preisenden Verehrung ist („His [i.e. Sophoclesʼ] victorious athlete is not a magnificent mortal but the goddess Aphrodite“ S. 134.), ist ganz und gar richtig. 89 Vgl. B U R T O N (1980) in seiner Interpretation der Epode S. 56: „[…] Deianeira’s patient and lonely waiting in the play, as she described herself in the prologue and as the chorus depicted her in the second stanza of the parodos“. matik, sondern auch die brisante Personenkonstellation verankern so das Lied im dramatischen Kontext. Natürlich sind dabei die Parallelen nicht deckungs‐ gleich; die grundlegende Situation eines durch Liebesleidenschaft entbrannten Konflikts zweier Personen um eine weitere bildet allerdings eine feste motivi‐ sche Klammer und trägt wesentlich zur dramaturgischen Brisanz des Stasimons bei. Dabei zielt das Lied im Besonderen auf den unmittelbaren Fortgang der Handlung und rückt als kontrastierendes Präludium des kommenden Epeis‐ odions vor allem Deianeira in den Fokus der Aufmerksamkeit. Rufen wir uns, um diese Aussage zu untermauern, zunächst noch einmal die Komposition des Stasimons, die Abfolge der Bilder in Erinnerung. Ihren Anfang nehmen die Ausführungen bei der personifizierten Liebe, blenden dann die Szene aus der Vergangenheit ein und bleiben bei Deianeira sozusagen mitten im Bild hängen. Mit dem allgemeinen, theologisch-gnomischen Beginn des Liedes kontrastiert der beinahe intime Blick auf die den Ausgang des Kampfes erwartende junge Frau. Anders gesagt: Fluchtpunkt des Liedes ist Deianeira und ihr Verhalten angesichts des Kampfes. Von seinem Ende her liest sich das Stasimon also we‐ niger als eine möglichst farbige Imagination der Vergangenheit oder ein Sie‐ geslied auf Herakles bzw. die Liebe, 88 sondern als Zeichnung der Heldin; es wird damit zur zielführenden Hinleitung auf den Wiederauftritt Deianeiras. Die Schilderung ihres anmutigen Abwartens zeigt sie dabei, wie sie bisher in der Tragödie aufgetreten ist: Wirklich in den Gang der Geschehnisse eingegriffen hat sie nicht; einzig in der - allerdings durch die Amme evozierten - Aussendung ihres Sohnes trat sie als wirklich Handelnde in Erscheinung, wohingegen sie sonst dem eigentlichen Geschehen, das maßgeblich durch Herakles geprägt war, gegenüberstand. Das Bild, das der Chor am Ende des Stasimons von Deianeira zeichnet, spiegelt die in Erwartung ihres Ehemanns (vgl. v. 525) ausharrende Heroine. 89 Zum kommenden Auftritt steht es damit in scharfem Kontrast: Dei‐ aneira wird mit Beginn des neuen Epeisodions aktiv in die Handlung eintreten und bewusst die Initiative ergreifen. Pikant ist dabei die zeitliche Relation: Ge‐ 1. Trachinierinnen 297 <?page no="298"?> 90 B U R T O N (1980) S. 54: „[…] the lyric narrative […] has been expected ever since the pro‐ logue“. rade während sich der Chor auf der Bühne eine Szene der Vorgeschichte vor Augen führt und Deianeiras passiv-abwartende Haltung in ein poetisches Bild gießt, leitet sie hinterszenisch den entscheidenden - und letztlich katastro‐ phalen - Handlungsfortschritt ein. Eine entscheidende Szene des Dramas ist durch das ihr vorangehende Chorlied vorbereitet. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Gerade durch den Rekurs auf die Ver‐ gangenheit ist der Chor in der neuen dramatischen Lage präsent und hinterlegt sie mit einer Folie, die eine veränderte Einordnung des Geschehens möglich macht. Anders gesagt: Die lyrische Nacherzählung des Kampfes erhält durch die subtilen Bezugnahmen auf die dramatische Situation einen doppelten Boden. Sie erschöpft sich nicht in einem von Fabulierlust angetriebenen, pausenfül‐ lenden Blick in die Vergangenheit, sondern liefert eine kontrastreiche Imagina‐ tion, vor der sich das Folgegeschehen umso deutlicher abzeichnen kann. Genau diese Möglichkeit, das zentrale Ereignis der Vorgeschichte in diesem Maß mit dramatischer Brisanz aufzuladen, hat den Dichter dazu bewogen, den Kampf Herakles-Acheloos nicht schon zum Thema der Parodos zu machen, sondern ihn erst nach der Umdeutung der Geschehnisse, d. h. im ersten Stasimon zu behandeln. Dass dabei die lyrische Nacherzählung des Kampfes zwischen Acheloos und Herakles seit dem Prolog bereits erwartet werden konnte, be‐ merkt B U R TON zu Recht. 90 Die Parodos hatte diese Erwartungshaltung unter‐ laufen, indem sie ihr Augenmerk ganz auf die dramatische Gegenwart der Prot‐ agonistin gelenkt hatte. Das erste Stasimon liefert dahingegen nicht nur den durch Deianeira selbst in Aussicht gestellten Blick in die Vergangenheit, sondern funktionalisiert ihn darüber hinaus in der herausgearbeiteten Weise. Das erste Stasimon ist hinsichtlich seiner poetischen Komposition und seiner Einbindung in den Ablauf der Tragödie beleuchtet worden. Es hat sich erwiesen: Die Thematisierung des Kampfes zwischen Herakles und Acheloos sowie die Verwebung dieser Szenerie der dramatischen Vorgeschichte mit der virulenten Liebesthematik und der aktuellen Personenkonstellation lädt die dramatische Situation an unserer Stelle mit dramaturgischer Brisanz auf und bereitet den kommenden Auftritt Deianeiras vor. Indem das Lied dabei verschiedene Zeit‐ ebenen (fernste Vorgeschichte, unmittelbare Vergangenheit und aktuelle Ge‐ genwart) miteinander verknüpft und eine Relation zwischen ihnen etabliert, spielt es zudem mit der räumlichen Differenzierung der Handlung in hinter- und II. Frauenchöre 298 <?page no="299"?> vorderszenische Aktion und erreicht dadurch eine beachtliche dramaturgische Tiefenwirkung. Zweites Stasimon (v. 633 - 662) Der auf das erste Standlied folgende Monolog Deianeiras ist schon erwähnt worden; wir können die Behandlung des folgenden Epeisodions dementspre‐ chend abkürzen. Die aufgetretene Protagonistin skizziert kurz die Situation: Im Haus bereitet sich Lichas darauf vor, wieder zu Herakles zurückzukehren, wäh‐ rend sie selbst zu den Frauen des Chors gekommen ist, um ihnen ihren Plan darzulegen und ihr Schicksal zu bedauern. Im Anschluss verbalisiert sie ihre Gefühlslage angesichts der momentanen Situation: Zwar zürne sie Herakles und seiner Krankheit, d. h. seiner leidenschaftlichen Liebe zu Iole, nicht (v. 543), mit der neuen Geliebten ihres Mannes aber in einem Haus zusammenzuleben, sei unerträglich (pointiert als rhetorische Frage formuliert v. 545 f.). Dieser Um‐ stand, zu zweit auf einen Mann zu warten, während Ioles jugendliche Schönheit in voller Blüte stehe, hingegen die eigene Anziehungskraft schwinde, habe sie zum Einschreiten veranlasst. Zunächst die Vorgeschichte: Das Blut des Ken‐ tauren Nessos hatte sie bei dessen durch Herakles verursachten Tod im Fluss Euenos nach der Weisung des Sterbenden aufgefangen: Es könne, so die Pro‐ phezeiung, als ein Zaubermittel (κηλητήριον) dienen, das Heraklesʼ Liebe einzig auf Deianeira fixiere; er werde nach Anwendung des Mittels keine andere Frau mehr lieben als Deianeira. Daher habe sie nun ein Gewand in das bis dahin im Haus verwahrte Blut des Kentauren getränkt und sei im Begriff, es Lichas als Geschenk für Herakles mitzugeben. Geradezu selbstversichernd wirken die ab‐ schließenden Worte ihres Monologs (v. 582 ff.): Auf schlechte Winkelzüge ver‐ stehe sie sich nicht und verabscheue diejenigen, die dergleichen wagen. Wenn sich aber die Aussicht biete, Iole durch Zauber zu übertreffen, dann solle der Plan in Angriff genommen werden, solange sie nichts Vergebliches zu tun scheint. Die Chorführerin gibt sich in ihrer Reaktion vorsichtig optimistisch: Wenn man den Geschehnissen Glauben (πίστις) schenken könne, dann scheine Deia‐ neira aus Sicht des Chors nicht schlecht beraten zu sein. Auch ihrem Zweifel, bisher noch keine empirische Erfahrung mit dem Liebeszauber gesammelt zu haben (πείρᾳ δʼ οὐ προσωμίλησα), entgegnet die Chorführerin in der an ent‐ scheidenden Stellen typischen Ambivalenz chorischer Aussagen: „Wissen musst 1. Trachinierinnen 299 <?page no="300"?> 91 Bei der Interpretation dieser Zeilen verweise ich neben den Kommentaren zudem auf S O L M S E N (1985). „ἀλλ’ εἰδέναι χρὴ δρῶσαν: The Meaning of Sophocles Trachiniai 588-93.“ in: AJP 106 (1985), S. 490-511. du, wenn du handelst; du hast wohl keine Kenntnis, wenn du sie [nur] zu haben glaubst und es noch nicht versucht hast“ (v. 592 f.). 91 Eine weitere Unterredung unterbricht der Auftritt des Lichas. Deianeira ver‐ pflichtet den Chor eilig zur Verschwiegenheit und wendet sich schließlich an den Herold, dem sie das vorbereitete Geschenk für ihren Mann übergibt. Sie mahnt dabei eindringlich, niemand außer Herakles dürfe das sorgsam verpackte Gewand anlegen; zudem sei es vor Licht und Wärme strengstens zu schützen. Auch hinsichtlich dessen, was Lichas bei Herakles vermelden soll, gibt sie ge‐ naue Anweisungen: Neben dem allgemein guten Zustand, in dem sich der Haus‐ halt befinde, solle in Lichasʼ Bericht besonders die freundliche Aufnahme Ioles Erwähnung finden; von ihrem eigenen Verlangen aber gebietet sie zu schweigen, bis klargestellt sei, ob auch Herakles sich nach seiner Frau sehne. Die Akteure verlassen nach Vers 633 die Bühne: Deianeira tritt zurück ins Haus, Lichas macht sich auf den Weg zu Herakles. Das Epeisodion begann als intime Unterrichtung des Chors durch die Prot‐ agonistin. Mit ihrem Auftritt hatte Deianeira das hinterszenische Geschehen verlassen, um den Frauen die Gründe für ihre Initiative darzulegen. Zum zweiten Mal im Lauf des Stückes ist sie so im Begriff, aktiv in die Handlung einzugreifen, zum ersten Mal allerdings in wirklich herausgehobener, eigenverantwortlicher Stellung; die Aussendung ihres Sohnes im Prolog wird an unserer Stelle mit Blick auf die an den Tag gelegte Aktivität der Protagonistin gleich mehrfach über‐ boten: War der Entschluss, Hyllos nach Herakles bzw. sicherer Kunde von ihm suchen zu lassen, am Beginn des Stücks der Rat der Amme, so handelt Deianeira hier aus eigenem Antrieb. Auch wenn sie dabei nicht mit letzter Entschlossen‐ heit voranschreitet, sondern zunächst die Unterstützung durch die trachini‐ schen Frauen sucht, kontrastiert ihr Handeln in der schon beschriebenen Weise mit dem Bild, das der Chor am Ende des Stasimons gezeichnet hatte, und über‐ bietet an Aktivität so auch ihre lethargische Zurückhaltung aus dem Prolog. Zudem fällt ins Gewicht: Die Mission des Hyllos war bald aus Angst, bald aus Unwissenheit motiviert, ihr Ziel dabei recht vage und kaum abzusehen. Dagegen hat die Aussendung des Lichas an diesem Punkt nicht nur einen konkreten Zweck sowie eine detailliert ausgeführte emotionale Motivation, sondern ist zudem mit dem Kleid, das Lichas überbringen soll, an ein festes Requisit ge‐ knüpft, das die gesamte dramaturgische Brisanz der Szene geradezu dinglich II. Frauenchöre 300 <?page no="301"?> 92 Eine ähnliche Fokussierung auf ein bedeutendes Requisit, das als „Verdinglichung“ ent‐ scheidender Motive fungiert, greifen wir im Philoktet (Bogen des Haupthelden) sowie in etwas abgeschwächter Form im Aias (Schwert des Haupthelden). 93 „Einzig von euch [d. h. den Frauen des Chors] wollen wir [d. h. unser Plan] gut ver‐ schwiegen werden; denn in Dunkelheit [d. h. unerkannt] fällt man, selbst wenn man schlechtes tut, nicht in Schande“ v. 596 f. 94 E A S T E R L I N G (1982) S. 151: „an ornate apostrophe to the local inhabitants“. bündelt. 92 Das Geschenk Deianeiras an ihren Mann komprimiert die drei Zeit‐ ebenen der Handlung: Das präparierte Kleid stellt nicht nur den Dreh- und An‐ gelpunkt der Aussendungsszene dar; es vergegenwärtigt darüber hinaus einer‐ seits die Nessos-Episode und damit einen zentralen Punkt der Vorgeschichte und ist andererseits Instrument von Deianeiras konkretem Einschreiten. Sol‐ chermaßen mit ihren Erwartungen und Hoffnungen aufgeladen weist es in die unmittelbare Zukunft der Handlung. Der Auftritt des Lichas bringt die Handlung endgültig ins Rollen: Deianeiras Zweifel kulminieren in den Versen 596 f., 93 die in dramatischer Ironie die Folgen ihrer Handlung vorwegzunehmen scheinen, bevor sie mit der Übergabe des Ge‐ schenks den entscheidenden Impuls gibt. Der Abgang des durch die Protago‐ nistin instruierten Lichas inszeniert einmal mehr das Auseinanderfallen der Handlung zwischen Deianeira und Herakles. Diesmal aber ist die Richtung des Handlungsimpulses umgekehrt: Nicht Heraklesʼ Tun steht im Mittelpunkt, wird erfragt oder ausgedeutet, sondern Deianeiras auf der Bühne inszeniertes Han‐ deln macht sich in Gestalt des getränkten Gewands auf den Weg, seine Wirkung bei Herakles, d. h. hinterszenisch, zu entfalten. Die Handlung ist damit zu einem spannungsvollen Ruhepunkt gelangt, in den der Chor sein zweites Stasimon singt, das in zwei Strophenpaaren mitsamt einer präzisen geographischen Ver‐ ortung die Ausdeutung der momentanen Situation im Licht der erbetenen Heimkehr des Herakles entwickelt. Seinen Anfang bildet eine die gesamte erste Strophe ausfüllende Anrede der Bewohner 94 (παραναιετάοντες) der Region, in der sich das Geschehen abspielt: In einer ausgreifenden Bewegung nimmt es die Anwohner der Thermopylen, des Berges Oita sowie die des Malischen Meerbusens in den Blick und entwickelt ein topographisches Panorama, das die Kulisse der sich entfaltenden Imagina‐ tion bildet. Dabei erfahren die geographischen Landmarken eine besonders reiche Ausgestaltung durch Adjektive bzw. Umschreibungen, die in ihrer An‐ schaulichkeit das Bild einer mit allen Sinnen greifbaren Lokalität zeichnen. Mit der Apostrophierung der Anrainer ist zudem die bemerkenswerte, vom Chor intendierte Gesprächssituation des Stasimons abgesteckt: Es versteht sich als 1. Trachinierinnen 301 <?page no="302"?> 95 Man wird sich am besten der Konjektur von Erfurdt, wie sie bei L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) gegeben wurde (ἐπιπόνων ἁμερᾶν), anschließen, sieht doch D A V I E S (1991) S. 175 in der handschriftlichen Überlieferung (ἐπιπόνων ἁμέραν) schwerwiegende metrische Probleme, während E A S T E R L I N G (1982) S. 154 bemerkt: „this [der Text der MSS] gives less normal Greek“. 96 Wer dabei als konkretes Objekt von ἐξέλυσ' vorschwebt, ist umstritten. Während D A‐ V I E S (1991) S. 175 f. urteilt: „Heracles is more naturally the understood object […], though the stanza did open by picturing the chorusʼs own anxiety“, bietet E A S T E R L I N G (1982) S. 154 eine gangbare Lösung: „The text should not be pressed too hard: if Heracles es‐ capes from his πόνοι so do D[eianeira] and the Chorus from their anxiety“. Anrede an Dritte, die mit der Handlung in keinem besonderen Kontakt stehen und daher einer umfangreicheren Information bedürfen. Dementsprechend entfaltet die Gegenstrophe Zweck und Ursache der wort‐ reichen Anrufung: In kurzer Zeit (τάχʼ) werde den angerufenen Adressaten des Liedes (ὑμίν) der wohltönende Aulos nicht mehr unangenehme Klage, sondern den Klang einer „göttlichen Muse“ (θείας μούσας) zu Gehör bringen. Denn (γάρ) der Sohn von Zeus und Alkmene stürme (σοῦται) mitsamt dem Lohn seiner tugendhaften Taten wieder nach Hause. Der volltönenden und detailreichen Ausgestaltung der ersten Strophe ent‐ spricht an unserer Stelle die poetische Konzentration auf das Bild des Aulos, dessen Harmoniewechsel den Umschwung der dramatischen Emotionalität fasst. Anders gesagt: Bevor mit der sehnsüchtig erwarteten und nach Abschluss des Epeisodions anscheinend unmittelbar bevorstehenden Heimkehr des Helden die handlungsimmanente Ursache der intendierten Freudenfeier ge‐ nannt wird, gipfelt die Motivik im konkreten, sinnlich erfahrbaren Bild. Wie in Vers 217 ist es auch hier der Aulos, der als poetisches Requisit die Stimmung der Szenerie verdeutlicht und als Konkretisierung des chorischen Handelns die imaginierte Situation mit dem aktuellen Tun der Choreuten in Verbindung setzt. Kompositorisch und motivisch in der Mitte des Stasimons angekommen ver‐ weilt der Blick der Frauen zunächst noch auf Herakles. In einem Relativsatz (ὅν) rufen sie sich seine lange Abwesenheit ins Gedächtnis, während der sie über seinen Aufenthaltsort in Unkenntnis waren (ἴδριες οὐδέν). Eine Steigerung dieser Ungewissheit bietet die sich anschließende Fokussierung auf Deianeira: Die unglückliche Gattin des Helden (ἁ δέ οἱ φίλα δάμαρ δυστάλαινα) verzehrte sich in ständigem Weinen (πάγκλαυτος). Wirkungsvoll unterstreicht das Wort‐ spiel τάλαιναν δυστάλαινα (sc. καρδίαν) die Verzagtheit Deianeiras und fasst damit die ausführlichen Klagen der Protagonistin vom Beginn des Stücks zu‐ sammen. Nun aber, so die entschiedene Wendung (νῦν δʼ), habe der angestachelte Ares Erlösung von den mühevollen Tagen 95 gewährt. 96 In kürzester Form sind hier II. Frauenchöre 302 <?page no="303"?> 97 Vgl. E A S T E R L I N G (1982) S. 155 zu 661 f. „a notorious crux“ sowie die Auflistung der Pro‐ bleme bei D A V I E S (1991) S. 177. L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) setzen die Verse 660 b- 662 daher in cruces; dem entspricht ihre geradezu verzweifelte Anmerkung zu v. 662 „alii alia temptaverunt“. 98 Was genau an dieser Stelle (v. 662) zu lesen ist, bleibt umstritten: Während L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) mit den codices προφάσει lesen, plädiert E A S T E R L I N G (1982) für die Kon‐ jektur παρφάσει, die P E A R S O N in seinen Text gesetzt hat. 99 E A S T E R L I N G (1982) S. 156 erkennt zu Recht, dass beide Textvarianten sowohl in den erotisch gefärbten Kontext passen als auch das weitere Schicksal des Helden andeuten. der Umschwung der Handlung wiedergegeben und die kriegerischen Hand‐ lungen, d. h. konkret die Belagerung und Plünderung der Stadt des Eurytos, als ein freudvolles Ereignis ausgeleuchtet worden. Schlagartig brechen die Frauen des Chors im Anschluss in einen Wunsch aus und richten so ihren Blick auf die unmittelbare Zukunft: Herakles möge endlich ankommen, beteuern sie eindringlich durch das gedoppelte ἀφίκοιτο; sein Schiff solle auf dem Weg hierher nicht stehenbleiben, bis er diese Stadt erreicht und er den auf Euboia befindlichen Altar, an dem er Opfer darbringt, gegen den Standort der Frauen „eingetauscht“ habe (ἀμείψας). Die abschließenden Verse des Stasimons (660 ff.) werfen sowohl textkritische als auch semantisch-inhalt‐ liche Schwierigkeiten auf. 97 Ohne eine endgültige Lösung anbieten zu wollen, können wir mit Blick auf unser Interesse Folgendes festhalten. Die Frauen des Chors untermauern ihre Bitte mit dem Verweis auf die treibenden Kräfte hinter der erbetenen Rückkehr des Herakles. Angespielt wird dabei - soviel ist trotz des verderbten Texts sicher - auf die Macht der Überzeugung (Πειθοῦς) und den Einfluss 98 des „Tiers“ (θηρός), d. h. wohl Nessosʼ im vorangegangenen Epeis‐ odion referierte Prophezeiung sowie sein Blut. Zudem wird mit dem auf He‐ rakles bezogenen Partizip - συγκραθείς (L LO YD -J ON E S / W IL S ON ) bzw. συντακείς (P EAR S ON ) 99 - ein tragisch-ironischer Blick auf die Auswirkungen des in Gift getränkten Gewands gegeben, das seinerseits in παγχρίστῳ seinen poetischen Reflex findet. Lassen wir die im Einzelnen letztlich kaum zu klärende Passage nach diesem Versuch, die grundlegenden Motive aufzuzeigen, für den Moment auf sich be‐ ruhen. Von entscheidender Wichtigkeit ist es dagegen zunächst, die Gesamt‐ struktur des Stasimons in einem Überblick zu verdeutlichen. Daran soll sich die Einordnung des Liedes in den unmittelbaren Handlungskontext sowie in die Abfolge der chorischen Partien anschließen. Den Eingang bildete der Anruf einer weiten Personengruppe, der den Rahmen der Reflexion über das unmittelbare, lokal auf die Bühne und den Auf‐ enthaltsort des Herakles sowie personal auf die beteiligten Akteure begrenzte 1. Trachinierinnen 303 <?page no="304"?> Geschehen auszuweiten suchte. Die vorliegende Verschiebung der Perspektive, besser: die Ausweitung des Blickfeldes über den aktuellen Bezugsrahmen der Handlung hinaus entschleunigt dabei den Fortgang der Handlung und schiebt sich zwischen die Rezipienten des Liedes auf der einen und die spannungsgela‐ dene Handlung auf der anderen Seite. Anders gesagt: Die Komposition des Sta‐ simon kontrastiert mit der handlungsreichen Szenerie, in der zum ersten Mal während der Tragödie Deianeira die Initiative ergriffen und damit den Fortgang der Handlung wesentlich beeinflusst hat. Dass das Lied seinen Anfang nicht aus diesem unmittelbaren Impuls bezieht, sondern zunächst mit einer grenzüber‐ schreitenden Erweiterung der Perspektive beginnt, ist die sinnfällige Inszenie‐ rung der innerhalb des Handlungsgefüges eingetretenen Pause. Die Zeit, in der Deianeiras Impuls seine volle Wirkung entfaltet und die Handlung hintersze‐ nisch in die entscheidende Phase eintritt, wird mit einem Chorlied gefüllt, dessen Beginn den Blick zunächst vom unmittelbaren Geschehen ablenkt und eine aus Sicht der Choreuten positive Zukunftsaussicht bietet. Im Lauf der Reflexion kommt der Chor schließlich, wie gesehen, auf den Kern seiner zuversichtlichen Stimmung zu sprechen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei die chorisch-poetische Verarbeitung der zwei Handlungsorte (Bühne, d. h. der Aktionsort von Deianeira und dem Chor, sowie Heraklesʼ Aufent‐ haltsort), die mit einer ausgearbeiteten Zeitdramaturgie verwoben sind. Ein Blick auf die Tempora (bzw. Modi) der im Stasimon verwendeten finiten Verb‐ formen soll dies verdeutlichen: Prägend für das Standlied sind im Besonderen die Optative der letzten Gegenstrophe (ἀφίκοιτο, σταίη, ἀνύσειε, μόλοι), die sich allesamt (zumindest inhaltlich) auf Herakles beziehen und den Wunsch bzw. die Erwartung der Choreuten verbalisieren. Die beiden anderen, direkt auf Herakles als Subjekt bezogenen Verbalformen sind - neben dem in die Anrufung der ersten Strophe einbezogenem κλέονται (v. 639) - die einzigen Indikativ-Prä‐ sens-Formen des gesamten Stasimons: σοῦται (v. 645) und κλῄζεται (v. 659). Herakles erscheint so in zweifacher Hinsicht als Akteur: Zum einen ist er die Projektionsfigur für die Wünsche des Chors, der seine Ankunft bildreich in Aussicht stellt, zum anderen ist die momentane, d. h. im Augenblick des Stasi‐ mons ablaufende hinterszenische Aktion dezidiert die Tätigkeit des Herakles: Er stürmt bereits von dem Ort, an dem er, wie man hört, Opfer darbringt, nach Hause. Während also Herakles Subjekt sowohl der im Wunsch ausgemalten erbe‐ tenen Zukunft sowie der aktuellen hinterszenischen Handlung ist, treten Dei‐ aneira und der Chor selbst nur als Handelnde in der Vergangenheit auf: εἴχομεν (v. 647) beschreibt die Haltung des Chors, ὤλλυτο (v. 652) die Deianeiras wäh‐ rend der Abwesenheit des Helden. Diesen beiden Imperfekten steht der Aorist II. Frauenchöre 304 <?page no="305"?> 100 B U R T O N (1980) S. 63 mit Blick auf das Ende des Liedes, das die von Deianeira präparierte Robe, deren Auswirkungen und die furchtbaren Qualen des Herakles andeutet: „This is the last und most powerful stroke of irony in a song which is remarkable throughout for its exploitation of this peculiarly Sophoclean feature“. ἐξέλυσʼ (v. 654) gegenüber, der das Ende der lethargischen und schmerzhaften Wartezeit als ein Ereignis der unmittelbaren Vergangenheit (beachtenswert die vorliegende Junktur νῦν + Aorist) beschreibt und als Urheber dieser plötzlichen Veränderung Ares, d. h. eine göttliche Person nennt. Damit ist, wie bereits an‐ gedeutet wurde, das Geschehen der näheren Vergangenheit (Heraklesʼ Kriegs‐ handeln und dessen Auswirkungen) poetisch verdichtet und personalisiert worden; als Subjekt innerhalb des Stasimons erscheint allerdings an dieser Stelle nicht der Held selbst, sondern mit Ares eine göttliche Figur, die die aufgewor‐ fenen Ereignisse im Ganzen bündelt und mit einer emotionalen Grundierung hinterlegt. Eine ähnliche Bündelung von Motiven, Aussichten und Emotionen war, wie bereits angesprochen, in der ersten Gegenstrophe das entscheidende poetische Bild: Der Aulos (v. 641) repräsentierte die imaginierte Feststimmung und diente als auf den Punkt konzentrierte Vergegenwärtigung des emotionalen Um‐ schwungs. Das ihm zugeordnete Prädikat ἐπάνεισιν (v. 642) zeichnet als einzige Form im Indikativ Futur die Zukunft, wie sie sich auf Grund der Ereignisse ergeben wird, dezidiert nicht als Wunsch, sondern als geradezu sichere Tatsache. Ist der Blick so für die Ähnlichkeit der beiden motivischen Bündelungen - Aulos und Ares - freigemacht, erkennen wir eine weitere Parallele: Beiden Prä‐ dikaten, die jeweils im Rahmen des Stasimons in ihrem Tempus singulär sind, ist ein Adverb beigestellt, das die zeitliche Verortung präzisiert: τάχʼ in Vers 640 sowie νῦν in Vers 653. Mit Blick auf ihre Positionierung rahmen die beiden in Frage stehenden Aussagen die erzählenden, rekapitulierenden und imaginie‐ renden Partien des Stasimons durch ihre motivische und syntaktische Bezug‐ nahme aufeinander. Dieser Mittelteil des Liedes (v. 640-654) ist von der Anru‐ fung in der ersten Strophe (v. 633-639) und der dezidiert als Wunsch gestalteten zweiten Gegenstrophe (v. 655-662) abgegrenzt. Die thematisch-funktionale Dreiteilung des Stasimons ist offensichtlich. Werfen wir abschließend einen Blick auf das Ende des Liedes. Trotz der text‐ kritischen Schwierigkeiten ist sicher, dass in den Versen 660-663 auf den wei‐ teren Fortgang der Handlung, konkret: auf die Auswirkungen der Entsendung des Lichas und der Übermittlung des giftgetränkten Gewandes angespielt ist. 100 Aus der Perspektive der trachinischen Frauen untermauert dieser Hinweis auf die Macht der Überzeugung sowie den Einfluss des Nessos (θηρός v. 663) dabei die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr des Helden; der Chor geht mit Deianeira 1. Trachinierinnen 305 <?page no="306"?> 101 Die Behandlung der ersten Gegenstrophe des dritten Stasimons (v. 831 ff.) wird die be‐ grifflichen Spiegelungen zur vorliegenden Partie in den Blick nehmen und damit zeigen, wie subtil die verheerende Wirkung des getränkten Gewands bereits hier angedeutet ist. implicite davon aus, dass das Zaubermittel seinen gewünschten Effekt entfalten wird und einer glücklichen Zusammenführung der beiden nichts mehr im Weg steht. Dabei spielen die vorsichtigen Bedenken, wie sie die Chorführerin in der Unterredung mit Deianeira geäußert hatte (v. 587 f. sowie 592), keine Rolle mehr. Dass mit den Schlussversen des Liedes dabei die katastrophale Wendung an‐ gedeutet, ja bereits in entscheidenden Details greifbar ist, 101 stellt einen beson‐ ders subtilen Fall tragischer Ironie dar und unterlegt das gesamte Stasimon mit einer zutiefst ambivalenten Spannung. Anders gesagt: Gerade der emotionale und sehnsüchtige Wunsch, Herakles möge bald zurückkehren, wird aus der Perspektive der mit dem Mythos vertrauten Rezipienten zur Vordeutung der Katastrophe. Dabei stellt die deutlichste Bezugnahme auf das bevorstehende Leiden des Herakles den Schluss des Stasimons und damit dessen Fluchtpunk dar. An seinem Ende ist das Lied also subtile Vordeutung des Kommenden - und damit die Umdeutung des vorherigen Epeisodions: Deianeiras Handeln sowie ihr Vertrauen auf die Zusage des Nessos münden in das qualvolle Leiden des Herakles, das hier bereits angedeutet wird. Das Lied bietet dabei neben seiner Schlusspartie in der Apostrophierung des Berges Oita (v. 635) einen weiteren subtilen Hinweis auf das kommende Ge‐ schehen: Der mit dem Mythos vertraute Rezipient hört darin bereits zu Beginn der Partie eine Reminiszenz an den Ort, an dem Herakles den selbstgewählten Flammentod erleiden wird. Wenn der Chor hier die Anwohner des Oita-Ge‐ birges versichert, in Kürze werde der Aulos keine Klage mehr anstimmen, so konterkariert er den Fortgang des Geschehens in besonders zugespitzter Form. Anfang und Ende des Liedes greifen in besonderer Weise motivisch inei‐ nander: Während die kurze Nennung des Todesortes zu Beginn des Stasimons bereits aufhorchen lässt, entwickelt die Schlusspartie eine begrifflich-motivi‐ sche Vorahnung des Kommenden. Indem die Anrufung der Bewohner der Um‐ gegend so bereits mit inhaltlicher Brisanz aufgeladen ist, wird die Rahmung des Stasimons deutlich: Die hoffnungsvolle Imagination der glücklichen Rückkehr entfaltet sich zwischen zwei mehr oder minder subtilen Andeutungen der be‐ vorstehenden Katastrophe sowie des Ausgangs der Handlung. Das ganze Sta‐ simon ist mit einer besonders dunklen Folie hinterlegt, die einen affirmativen Nachvollzug der durch den Chor evozierten positiven Stimmung unmöglich macht. II. Frauenchöre 306 <?page no="307"?> 102 Vgl. die bei E A S T E R L I N G (1982) S. 152 abgedruckte Karte. 103 Vgl. B U R T O N (1980) S. 59: „[…] the confidence expressed in the second stasimon echoes less ecstatically and more formally the mood of the hyporchema, to which it constitutes a parallel“. Versuchen wir kurz, die Beziehungen des Standliedes zu den bisherigen Chor‐ partien zu beleuchten. Mit seinem imaginierten Jubel und der prominenten An‐ rede Dritter, d. h. nicht unmittelbar am Geschehen Beteiligter, bezieht sich das zweite Stasimon augenscheinlich direkt auf das Chorlied innerhalb des ersten Epeisodions zurück. Bestimmen wir das Verhältnis dieser beiden Lieder etwas genauer. Die Apostrophe der Bewohner des Landstriches - die Ost-West-Aus‐ dehnung der erwähnten Landmarken beträgt immerhin ungefähr 30 km 102 - im vorliegenden Standlied überbietet den Aufruf an die Mitglieder des Haushalts aus Vers 205 ff. in entscheidender Hinsicht: Nicht mehr nur die Mitglieder des Haushalts, sondern alle Anwohner der Umgegend sind hier als Adressaten des Liedes sowie als Nutznießer der bevorstehenden Ankunft des Herakles in den Blick genommen. Dabei ist die emotionale Aufgewühltheit und unmittelbare Situativität an unserer Stelle einer in die bevorstehende Zukunft projizierten, durch die kurze Einblendung der Vergangenheit reflektierter wirkenden Imagination der Freude gewichen. 103 Mit Blick auf die souveräne und sinntragende Nutzung der Ver‐ balformen können wir darüber hinaus formulieren: Statt ganz in der momen‐ tanen Situation aufzugehen, entwickelt das Stasimon auf der Folie des voran‐ gegangenen rauschhaften Ausbruchs eine Gesamtschau der dramatischen Zeitebenen und Lokalitäten, die im Wunsch nach der baldigen Heimkehr des Herakles gipfelt. Es hat sich gezeigt, wie sehr die durch den bewussten Einsatz der verschie‐ denen Tempora und Modi strukturierte Komposition das Stasimon in sich glie‐ dert und zudem mit der Handlung verbindet. Das Stasimon referiert vor der entscheidenden Wendung der Handlung noch einmal die Ausgangsposition: Es ruft die bis zu diesem Zeitpunkt entwickelten Status der Handlung erneut in Erinnerung, spielt reizvoll mit den verschiedenen Lokalen des Geschehens, die es mit einer ausgeklügelten Zeitregie verknüpft, und birgt eine gerade durch ihre Subtilität umso wirkungsvollere Andeutung der Katastrophe. Das Standlied liefert also vor dem Wendepunkt der Handlung eine erneute Bestandsaufnahme der dramatischen Realität in allen ihren zeitlichen und räumlichen Ebenen. Zielpunkt dieser Konstruktion ist der Wunsch nach dem Eintreffen des He‐ rakles, der in ironischer Brechung die tatsächliche Ankunft des Helden in Vers 971 und damit die Visualisierung der hereingebrochenen Katastrophe vorweg‐ nimmt. 1. Trachinierinnen 307 <?page no="308"?> 104 In diesem Sinn urteilt B U R T O N (1980) S. 64: „[…] the general effect of the song is deeply sinister in the irony of its contrast with what swiftly follows“. Dass darüber hinaus in der Rekapitulation des langen, ungewissen Wartens auf Herakles, wie es die zweite Strophe ausführt, entscheidende Motive aus der Parodos wieder aufgegriffen sind, liegt auf der Hand: Auch an unserer Stelle erinnert der Chor an Deianeiras tränenreiches Leid und zeichnet sie als die Gattin, die sich in Sehnsucht und Angst nach ihrem Mann verzehrt. Die trachi‐ nischen Frauen bekunden zudem erneut ihre besondere innere Beteiligung. For‐ mulierten sie in ihrem Auftrittslied die virulente Frage nach dem Aufenthaltsort des Haupthelden, so verbalisieren sie an unserer Stelle aus dem Wissen um He‐ raklesʼ momentane Tätigkeit den Wunsch nach seiner baldigen Ankunft. Machen wir uns abschließend bewusst: Das Stasimon entschleunigt zunächst die unmittelbare Spannung und füllt bewusst eine Pause im Handlungsfortgang; in einem Gesamtpanorama reflektiert es die bis zu diesem Zeitpunkt entwi‐ ckelten Geschehnisse, lenkt den Blick bewusst auf Herakles als den primär Handelnden, den Aktiven und Ersehnten. Damit konterkariert es die Erfahrung des vorangegangenen Epeisodions: Obwohl gerade Deianeira eben noch den entscheidenden Handlungsimpuls gegeben hatte, schildern die Frauen des Chors Heraklesʼ momentane Tätigkeit, bitten um seine Rückkehr und lassen Deianeiras aktives Eingreifen - bis auf die Andeutung am Ende - gänzlich un‐ erwähnt. Damit ist nicht nur die Bitte um Verschwiegenheit aus Vers 596 f. um‐ gesetzt, sondern das ganze Lied mit einer spannungsvollen Brisanz unterlegt worden, die eine vom erwünschten Ablauf der Handlung gänzlich verschiedene Entwicklung erwarten lässt. Ferner ist das ganze Lied geprägt durch die tragische Ironie, die den in die unmittelbare Zukunft blickenden Wunsch der zweiten Gegenstrophe zu einer Vordeutung der kommenden katastrophalen Geschehnisse werden lässt. Die typisch zu nennende Kontrastierung zwischen einem positiv in die Zukunft blickenden Chorlied und der daraufhin einbrechenden katastrophalen Wen‐ dung - vgl. die jeweiligen Passagen in Antigone (fünftes Stasimon), Oidipus Ty‐ rannos (drittes Stasimon) und Aias (zweites Stasimon) - fällt hier in den Tra‐ chinierinnen allerdings weniger drastisch aus. Das Chorlied wirkt gerade vor dem Hintergrund des lyrischen Gefühlsausbruchs innerhalb des ersten Stasi‐ mons trotz seiner imaginierten freudvollen Szenerie (erste Gegenstrophe) zu‐ rückhaltender und etwas abwägender; die ironische Brechung ist nicht in grellen Farben überzeichnet, sondern weit subtiler, als man es vielleicht erwarten könnte. 104 II. Frauenchöre 308 <?page no="309"?> Die dramaturgische Funktion des Liedes lässt sich damit kurz zusammen‐ fassen: Rekapitulation des Geschehenen und subtile Vordeutung der Kata‐ strophe auf Folie des Wunsches. Sophokles versteht es an unserer Stelle, dem Lied durch eine ausgefeilte Struktur und Komposition besonderes Gewicht zu verleihen: Die außergewöhnliche Gesprächssituation (Anrede Dritter, an der Handlung Unbeteiligter), die geschickte Vernetzung der unterschiedlichen Zeit‐ ebenen und Lokale der Handlung sowie die subtilen Vorausdeutungen machen das Lied zu einer wirkungsvollen Gelenkstelle innerhalb der dramatischen Handlung. Seiner Positionierung in der Mitte der Tragödie gemäß blickt es so‐ wohl in die Vergangenheit, die es zusammenfassend dem aktuellen Stand der Handlung gegenüberstellt, als auch in die Zukunft, die es in Form eines Wun‐ sches zu imaginieren sucht. Drittes Stasimon (v. 821 - 862) Das anschließende Epeisodion inszeniert, wie schon angesprochen, die ent‐ scheidende Wende im Verlauf der Handlung. Deianeiras Einschreiten, ihr in Gestalt des getränkten Kleides konkret fassbarer Impuls stellt sich als unheil‐ voller Einfluss heraus, der die schlimmsten Befürchtungen der Protagonistin Wirklichkeit werden lässt. Die Struktur der Szene soll grob überblickt werden. Nach dem Chorlied tritt Deianeira, sichtlich aufgewühlt, auf die Bühne und eröffnet dem Chor ihre Sorge: Sie habe beobachtet, wie die Wolle, mit der sie das Gewand für Herakles mit der Tinktur des Kentauren Nessos bestrichen hatte, unter dem Einfluss von Sonnenlicht im wahrsten Sinne aufgefressen wurde, zerbröselte und schließlich unter erheblicher Schaumbildung völlig ver‐ schwand. Diese Erfahrung habe ihr die Augen für eine Bewertung ihres eigenen Tuns geöffnet: Sie sei sich nunmehr bewusst, ein grausiges Werk (ἔργον δεινόν) in Gang gesetzt zu haben (v. 705 ff.). Rückblickend kann sie nun das Verhalten des Kentauren Nessos bei seinem Tod einordnen: Nicht fürsorgliche Zuwendung gegenüber Deianeira, sondern Rachegedanken mit Blick auf He‐ rakles waren das Motiv für die Anordnungen und das Geschenk, das er ihr hin‐ terließ. Der Chor versucht nach Deianeiras ausführlichem Monolog einen eher hoff‐ nungsvollen Blick auf die Situation zu werfen (v. 723 f.), wird allerdings von der Protagonistin scharf abgewiesen: Bei üblen Entscheidungen - wie der vorlie‐ genden - gebe es keine Hoffnung mehr, schon gar keine, die dem Betreffenden Mut verschaffen könnte. Auch die zweite Äußerung des Chors, unfreiwillig schuldig Gewordene träfe nur ein sanfterer Zorn (v. 727 f.), gibt Deianeira keinen Anlass, die Lage anders zu bewerten; so könne nur jemand sprechen, der keinen Bezug zum Übel habe. 1. Trachinierinnen 309 <?page no="310"?> 105 E A S T E R L I N G (1982) S. 163: „a bridge passage between two high points in the action“. Die Chorführerin unterbricht diesen kurzen Dialog 105 schließlich in Vers 731 mit dem Verweis auf den herannahenden Hyllos, der zuvor mit dem Auftrag, seinen Vater aufzuspüren, die Szenerie verlassen hatte und nun wieder im Ge‐ schehen präsent ist. Es folgt ein kurzes Zwiegespräch zwischen Mutter und Sohn, in dem Hyllos Deianeira mit dem Vorwurf konfrontiert, heute zur Mör‐ derin ihres Mannes geworden zu sein. Die so Beschuldigte reagiert äußerst emotional (vgl. die kurzen, pointierten Fragen und v. a. die Interjektion οἴμοι v. 741) und erbittet sich genauere Informationen. Dies mündet in den ausgrei‐ fenden Monolog des Hyllos. In mehr als sechzig Versen (749-812) schildert er im Folgenden schließlich den Hergang der Opferfeierlichkeiten, die Übergabe des Gewands an Herakles sowie mit besonderer Ausführlichkeit dessen qual‐ volle Leiden nach dem Anlegen der Robe. Sein Vater selbst habe ihm schließlich den Auftrag gegeben, ihn hierher zu bringen; Deianeira und der Chor würden Herakles daher bald selbst zu Gesicht bekommen, entweder noch am Leben, oder bereits gestorben. Mit einer drastischen Verwünschung seiner eigenen Mutter schließt Hyllos seinen Bericht: Dike und Erinys sollten sie für diese Tat zur Verantwortung ziehen. Ihm, dem Sohn, stehe es zu, dergleichen zu wünschen, da Deianeira schließlich den besten Mann von allen getötet habe; einen ver‐ gleichbaren Helden werde es nie wieder geben. Die Reaktion des Chors lässt erahnen, wie Sophokles die Reaktion Deianeiras auf den Bericht ihres Sohnes inszeniert wissen wollte: Sie scheint sich vom Ge‐ schehen abgewendet zu haben und schleicht sich nun fort (bezeichnend die Wortwahl ἀφέρπεις v. 813) ohne ein Wort zu verlieren. Der Chor wertet dies als Eingeständnis ihrer Schuld: Durch Schweigen stimme sie ja dem Ankläger zu, ruft er der abtretenden Protagonistin hinterher. Die solchermaßen Angespro‐ chene reagiert nicht und verlässt die Bühne. Hyllosʼ abschließende Worte the‐ matisieren kurz Deianeiras Mutterrolle und unterstreichen den Vergeltungsge‐ danken, wie er bereits angeklungen war. Nach Vers 821 ist schließlich auch Hyllos abgetreten. Das Epeisodion begann erneut als eine intime Unterredung zwischen Prot‐ agonistin und Chor. Dabei kam es Deianeira zu, direkt vor der Ankunft der katastrophalen Nachricht das hereinbrechende Unheil dramaturgisch anzukün‐ digen. Ihre Sorge und Angst verdichtet nach den allenfalls subtilen Andeu‐ tungen des Chors am Ende des zweiten Stasimons die Stimmung soweit, bis sie sich in der ausführlichen Schilderung des hinterszenischen Geschehens entlädt. Der Auftritt des Hyllos erfüllt dabei eine klare Funktion, die über den reinen Bericht hinausgeht. Mit seiner Aussendung im Prolog war eine erste Verbindung II. Frauenchöre 310 <?page no="311"?> zwischen vorder- und hinterszenischer Handlung geschaffen worden. Indem nun gerade er die schreckliche Nachricht überbringt, ist der dramatische Kon‐ flikt nicht nur im spannungsreichen Beziehungsgeflecht der Familie inszeniert. Deianeiras Handlungsimpuls - das Übersenden des in Gift getränkten Ge‐ wands - als ihre für den Fortgang der Handlung wichtigste Aktion erfährt nun seine Beantwortung in der Rückkehr desjenigen, den sie selbst ausgeschickt hatte: Ihre Handlungen und ihr Tun kehren nun in Gestalt ihres Sohnes zu ihr zurück. Sie sieht sich mit den Folgen ihrer Aktion konfrontiert und verlässt die Bühne unter Aufbietung eines der stärksten dramaturgischen Mittel, das dem Dichter zur Verfügung steht: Schweigen. Wirkungsvoller kann der Kontrast zwischen Deianeiras wortreicher Bühnenpräsenz gerade zu Beginn des Stücks - erinnert sei an ihren knapp fünfzig Verse langen Auftrittsmonolog - und ihren Ausführungen in diesem und dem vorangegangenen Epeisodion nicht inszeniert werden. In Hyllosʼ Bericht selbst ist Herakles in einem bisher unbekannten Ausmaß präsent. Der schrittweise Nachvollzug der Situation, die ausführliche Schilde‐ rung seiner Qualen sowie besonders die Wiedergabe seiner direkten Rede (v. 797-802) lassen den Helden für Zuschauer und Leser greifbar erscheinen. An keinem anderen Punkt der Tragödie hat ein Bericht bisher eine so detailreiche Schilderung der hinterszenischen Handlung geboten; wie schon der dramatur‐ gische „Trommelwirbel“ durch Deianeiras Monolog am Beginn der Szene, so ist es auch hier ein Schauspieler - und nicht etwa der Chor -, der diese dramatur‐ gisch herausragende Funktion erfüllt. Die Beschreibung der Leiden des Herakles im anschließenden Stasimon ist zwar von bildhafter Drastik, nimmt aber nur einen kleinen Teil des Liedes in Anspruch und wirkt nach Hyllosʼ breiter Schil‐ derung wie ein lyrischer Reflex auf bereits dargelegte Tatsachen. Während so die Intensität des geschilderten Faktums erneut betont wird, bleibt es dem Ak‐ teur Hyllos überlassen, die präzise und alle Details umfassende Einblendung der Geschehnisse um Herakles auf der Bühne zu leisten. Unversehens haben wir die Behandlung des Chorliedes bereits gestreift. Ver‐ schaffen wir uns einen ersten Überblick: Das dritte Stasimon entfaltet seine Si‐ tuationsdeutung in zwei Strophenpaaren und geht - nach einem hinterszeni‐ schen Schrei Deianeiras - ab Vers 863 in eine zunächst iambisch, im Folgenden (ab v. 880) lyrisch komponierte Unterredung zwischen dem Chor und der hin‐ zugetretenen Amme über. Mit Vers 896 beginnt erneut eine in Sprechversen komponierte Partie, die mit dem ausführlichen Bericht der Amme (899-946) das Epeisodion abschließt. 1. Trachinierinnen 311 <?page no="312"?> 106 Wieder ein Chorlied, das vielfältige Probleme aufwirft. Vgl. B U R T O N (1980) S. 65: „The ode is the most difficult linguistically of all the lyrics in the play“, was D A V I E S (1991) S. 195 fortsetzt: „[…] this is also the most metrically complex“. Auch der Text selbst ist an einigen Stellen problematisch, vgl. v. a. die erste Gegenstrophe sowie den Textverlust innerhalb der zweiten Gegenstrophe. Im Hinblick auf Einzelerklärungen verweise ich daher ausdrücklich auf die Kommentare. 107 E A S T E R L I N G (1982) S. 175: „‘girlsʼ, not ‘children’“ mit Verweis auf einen ähnlichen Ge‐ brauch des Wortes bei Aischylos Sieben gegen Theben v. 854. 108 Die Inkonsistenz gegenüber den anderen Zeitangaben hinsichtlich des Orakels hat zu Verständnisschwierigkeiten geführt. Dass dabei die Aussage des Chors keineswegs dramatisch inkonsistent ist, zeigt E A S T E R L I N G (1982) S. 175 f. 109 Vgl. dazu E A S T E R L I N G (1982) S. 176 und D A V I E S (1991) S. 197, die auf die Unklarheiten hinsichtlich Transitivität oder Intransitivität hinweisen. Beide lassen die Beantwortung der Frage bewusst offen. 110 LSJ s.v. Seinen Anfang nimmt das Lied 106 mit einer Selbstaufforderung des Chors, die das zentrale Motiv der Betrachtung wortwörtlich in den Blick nimmt. Anzu‐ sehen sei, wie sich das „gottverkündete Wort der Vorsehung“ (τοὔπος τὸ θεοπρόπον τᾶς παλαιφάτου προνοίας) unversehens in die eigene Lebenswirk‐ lichkeit gemischt habe (προσέμειξεν). Ausdrücklich positioniert der Chor sich selbst (ἡμῖν) als Betroffenen des Orakelspruchs und seiner Folgen; die Selbst‐ anrede ὦ παῖδες 107 ist damit besonders unterstrichen. Dieser Selbstbezug der Choreuten bietet die innerdramatische Rechtfertigung des Chorliedes: Die Frauen verstehen sich an diesem Punkt nicht als der Handlung rein gegenüber‐ stehend, sondern fühlen sich involviert und nehmen - aus ihrer Perspektive - bewusst eine bestimmte Haltung zu den Geschehnissen ein. Den Inhalt des Orakels geben die Frauen im Folgenden an: Nach dem Ablauf des zwölften Jahres 108 werde das Ertragen von Mühen für den Sohn des Zeus ein Ende haben. Wirkungsvoll ist dabei die Nennung des Helden an den Schluss der Periode gestellt, wobei die Formulierung (τῷ Διὸς αὐτόπαιδι) besonderes Ge‐ wicht auf die Abstammung vom Göttervater legt. Die eingetretene Erfüllung des Spruchs bekundet die sich anschließende Feststellung: „Und dies ist tatsächlich [und] unerschütterlich eingetroffen“ (v. 826 f.). Das dabei verwendete Wort κατουρίζει wirft grammatikalisch einige Schwierigkeiten auf 109 und ist gerade semantisch von besonderem Interesse. Die mit ihm evozierte Seefahrts- und Hafenthematik - LSJ gibt als Bedeutung „bring into port with a fair wind, me‐ taph. bring safe to port, bring to fulfilment“ 110 - setzt die Formulierung in mo‐ tivische Beziehung zu anderen Aussagen des Chors, die sich dezidiert auf He‐ rakles bezogen. So war sein unstetes und von allerlei Gefahren bedrohtes Leben bereits in der Parodos (v. 112 ff.) mit einem Seesturm verglichen worden, wäh‐ rend ihm im zweiten Stasimon ausdrücklich das Attribut πελάγιον zukam II. Frauenchöre 312 <?page no="313"?> 111 Der von E A S T E R L I N G (1982) S. 176 vermutete Anklang von κατουρίζει an οὖρος καλός aus Vers 815 f. ist nicht von der Hand zu weisen; die hier vorgenommene Einordnung in den motivischen Strang der Chorlieder lässt allerdings die vermutete ironische Bre‐ chung der Aussage des Hyllos zu Gunsten einer Bündelung des nachgezeichneten cho‐ rischen Motivs in den Hintergrund treten. (v. 649), was seine nicht exakt zu lokalisierende, heimatferne und gefährliche Abwesenheit bildhaft verbalisierte. Wenn an unserer Stelle im dritten Stasimon also die Erfüllung des Orakelspruchs mit einem der nautischen Sphäre ent‐ lehnten Begriff bezeichnet wird, so ist einerseits innerhalb des unmittelbaren Zusammenhangs die konstatierende Aussage auf subtile Weise mit dem Inhalt des Orakelspruchs selbst bzw. der chorischen Imagination desselben verbunden. Zum anderen findet die Seefahrtsmotivik hier ihren Endpunkt, was mit einer impliziten Deutung der dramatischen Geschehnisse verbunden ist: Die virulente Bitte um die Heimkehr des Herakles in den vorherigen chorischen Partien kon‐ kretisiert sich im Bild des Hafens, der die Erfüllung der Weissagung darstellt. 111 Anders gesagt: Mit der Verwirklichung des Orakelspruchs hat Heraklesʼ Le‐ bensreise, die vom Chor explizit mit Seefahrts- und Meeresbildern beschrieben wurde, ihr Ende, ihren Hafen gefunden. Die sich anschließende rhetorische Frage des Chors macht die Deutung des Orakels vollends klar: Das vorausgesagte Ende der Leiden ist Heraklesʼ Tod; denn wie könnte derjenige, der nicht mehr sieht (ὁ μὴ λεύσσων), als Gestorbener (θανών) noch einen mühevollen Dienst versehen (v. 826-830)? Diese allgemeine Aussage wird vor dem Hintergrund des überdeutlichen Bezugs auf den Heros zu einer konkreten, wenn auch impliziten Einschätzung: Herakles ist schon so gut wie tot. Damit hat die erste Strophe ein Ende gefunden. Herakles ist als zentraler Bezugspunkt der Reflexion etabliert; ihm und seinem Schicksal gilt zu Beginn dieses Stasimons die Aufmerksamkeit des Chors, sein im vorangegan‐ genen Epeisodion angekündigter Tod bzw. sein momentanes Sterben liegt den Ausführungen zu Grunde und wird vor dem Hintergrund des Orakelspruchs als dessen Verwirklichung ausgeleuchtet. Die Gegenstrophe konkretisiert den Blick auf die Leiden des Helden. In einem ausgreifenden, als Begründung (γάρ v. 831) angeschlossenen Konditionalsatz vergegenwärtigt der Chor die durch Hyllosʼ Bericht bereits ausgemalte Szenerie und nimmt dabei nach der abstrakteren Formulierung vom Ende der Strophe konkret die Gestalt des Herakles und seinen Zustand in den Blick. Statt aller‐ dings - wie im Botenbericht - ein reines Referat der Geschehnisse zu liefern, geben die Frauen die Urheber der auf den Helden einwirkenden Qualen perso‐ 1. Trachinierinnen 313 <?page no="314"?> 112 E A S T E R L I N G (1982) S. 177: „The Chorus trace the disaster to its sources, Nessus and Hydra, metaphorically representing Heraclesʼ struggle in the robe as a physical en‐ counter with these two monsters“. 113 L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) haben sich im Gegensatz zu P E A R S O N (1924) gegen die Konjektur von Lobeck ἔτρεφε entscheiden und das einhellig überlieferte ἔτεκε wieder in den Text gesetzt. 114 So S C H A D E W A L D T (2002). Tragödien Sophokles. Herausgegeben und mit Erläuterungen und einer Einleitung versehen von Bernhard Zimmermann, Düsseldorf, S. 110. 115 Ich schließe mich der (vorsichtigen) Vermutung E A S T E R L I N G S (1982) S. 177 an, verstehe unter νεφέλᾳ „Wolke“ und betrachte es als „dative of circumstance“. 116 So die Rekonstruktion des umstrittenen Textes bei L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990). nifiziert an und intensivieren damit die Schilderung beträchtlich. 112 Als in den Kampf mit dem Leidenden verwickelte Gegner erscheinen konkret Nessos und Hydra - vermittelst letzterer sogar der personifizierte Tod -, die alle zu den momentanen Qualen beigetragen haben: Während die List des Kentauren He‐ raklesʼ Seite geradezu „einschmiert“ (χρίει), waren der Tod und Hydra dieje‐ nigen, die das letale Gift (ἰός) „geboren haben“ (ἔτεκε). 113 Die anschaulichen Junkturen προστακέντος ἰοῦ - „während das Gift [an Heraklesʼ Seite] an‐ schmilzt“ - und φονίᾳ νεφέλᾳ - „in einer blutigen Wolke“ bzw. „mit tödlicher Wolke“ 114 - erhöhen die Drastik, wobei erstere mitsamt dem Ausdruck χρίει die Andeutungen vom Ende des zweiten Stasimons (v. 661 f.) wieder aufgreift, letz‐ tere die Todesthematik in ein eindrucksvolles und bezugreiches Bild umsetzt. 115 Für die Frauen des Chors liegt der Ausgang dieses Ringens offen zu Tage: Wenn sich Herakles in dem geschilderten Kampf befinde, werde er ohne Zweifel keine andere Sonne als die momentan scheinende mehr sehen, d. h. keinen wei‐ teren Tag erleben. Wie in der ersten Strophe bedient sich der Chor auch hier der durch πῶς eingeleiteten rhetorischen Frage, deren potential formulierter Inhalt (in beiden Fällen Optativ mit ἄν) als unmöglich begriffen werden soll. Eine Be‐ gründung für diese negative Zukunftsaussicht bietet die Partizipialkonstruk‐ tion: Herakles klebe geradezu an der grausigen Erscheinung der Hydra fest (προστετακώς). Syntaktisch eher frei angeschlossen (τʼ v. 837) folgt eine erneute bildhaft-per‐ sonifizierte Ausleuchtung der Situation: Den Heros quälen „schwarzhaarige, unvermischte, tödliche, tückische, überkochende, stechende Schmerzen“ (μελαγχαίτα ἄμμιγα ὑπόφονα δολόμυθα ἐπιζέσαντα 116 ). Dieses Auftürmen ein‐ drucksvoller Beschreibungen bildet das rauschhafte Crescendo der Gegen‐ strophe: War nach dem Konditionalsatz durch die rhetorische Frage die Aus‐ weglosigkeit der Lage deutlich gemacht worden, so ergeht sich der Chor hier in der detaillierten Schilderung des Leidens und fasst damit Heraklesʼ momentanen Zustand bildmächtig zusammen. II. Frauenchöre 314 <?page no="315"?> 117 Auf die chiastische Anordnung der Gegenstrophe („Nessus, Hydra, Hydra, Nessus“) weist E A S T E R L I N G (1982) S. 177 zu Recht hin. 118 Soviel lässt sich trotz der textkritischen Probleme mit Sicherheit behaupten. Vgl. zu den Rekonstruktionsversuchen E A S T E R L I N G (1982) S. 178 f. sowie D A V I E S (1991) S. 201 f. 119 Dass damit Deianeiras eigene Wortwahl aus Vers 580 f. aufgegriffen ist, bemerkt E A S‐ T E R L I N G (1982) S. 180. Die motivische Komposition des Strophenpaars 117 unterstreicht dabei die Zentralbegriffe der Situationsdeutung. Nachdem der Orakelspruch als Vordeu‐ tung von Heraklesʼ Tod etabliert ist und so das abstrakte τελεῖν (v. 825) an Trennschärfe gewonnen hat, bestimmt diese Todesmotivik die weitere Schilde‐ rung: Die Gegenstrophe wird dabei gerahmt durch die beiden vom Stamm φονabgeleiteten Wörter φονίᾳ (v. 831 zu νεφέλᾳ) sowie ὑπόφονα 118 (v. 839), der personifizierte Tod erscheint in Vers 834 als Hintermann der Geschehnisse um Herakles. Mit Blick auf die Verursacher des Todeskampfes nimmt das Motiv der List einen ähnlichen Platz ein: Entfaltete in Vers 831 der „listige Zwang“ (δολοποιὸς ἀνάγκα) des Kentauren seine schädliche Wirkung, so werden am Ende der Ge‐ genstrophe (v. 839) die stechenden Schmerzen bewusst mit dem Attribut δολόμυθα bezeichnet. Bis zu diesem Punkt hat Deianeira in der Reflexion des Chors keine Rolle gespielt. Im Folgenden wendet sich der Blick des Chors vom leidenden Herakles zur Protagonistin der bisherigen Bühnenhandlung, wobei eine konkrete Na‐ mensnennung nicht nötig ist. War Herakles dezidiert als der Sohn des Zeus apostrophiert worden (v. 826), reicht an unserer Stelle das feminine Demonst‐ rativpronomen, um den Bezug deutlich zu machen. Wie schon in der Parodos (v. 122) bedient sich der Chor eines Relativprono‐ mens (ὧν), das die Ausführungen allgemein zusammenfasst und die präzise lo‐ gische Beziehung des Vorangegangenen mit dem Kommenden bewusst in der Schwebe lässt. Die Bezeichnung Deianeiras durch den Chor ἅδʼ ἁ τλάμων blickt der eben Abgetretenen hinterher, bekundet eine gewisse mitfühlende Sympathie und kontrastiert dennoch mit dem folgenden Attribut ἄοκνος: Die standhafte Deianeira habe den durch die neue Verbindung des Herakles mit Iole heran‐ nahenden Schaden für ihr Haus vorausgesehen (προσορῶσα) und daher ohne Verzug (ἄοκνος) den einen Teil (τὰ μέν) der Situation selbst in Gang gebracht (προσέβαλεν). 119 Spannungsvoll ist mit dieser Aussage das unbestimmte Rela‐ tivpronomen vom Beginn der Strophe aufgenommen, konkretisiert und diffe‐ renziert. Der durch fremde Überlegung ins Werk gesetzte (ἀπʼ ἀλλόθρου γνώμας μολόντʼ) zweite Teil des unheilvollen Wirkens (τὰ δʼ) gibt Deianeira Anlass zu Klage (στένει) und Weinen (τέγγει δακρύων ἄχναν). 1. Trachinierinnen 315 <?page no="316"?> Betrachten wir kurz die sprachliche Gestaltung dieser Partie etwas näher. Im Bereich der τὰ μέν erscheint Deianeira als entschieden Handelnde, die auf he‐ rannahendes Übel aus eigenem Antrieb und Vorausschau (προσορῶσα) zu re‐ agieren versucht; das verwendete Prädikat προσέβαλεν markiert deutlich ein Geschehen der Vergangenheit, unterstreicht dazu semantisch die Intensität des Geschehens und blendet dabei Deianeiras leise Zweifel, die sie dem Chor bei der Darlegung ihres Plans (v. 590 ff.) bekundet hatte, vollständig aus. Es ist dabei sicher kein Zufall, dass beide Verbalformen, die Deianeiras Handeln be‐ schreiben, Komposita mit der Präposition πρός sind. Nicht nur die klangliche Ähnlichkeit parallelisiert die beiden Worte; ihre semantische Stoßrichtung auf ein Ziel hin, d. h. die ausgedrückte Intentionalität unterstreicht Deianeiras selbstbestimmtes Eingreifen. Der zweite Abschnitt dagegen widmet sich der Gegenwart (στένει, τέγγει) und verbalisiert Deianeiras Reaktionen auf den Teil der misslichen Lage, den sie nicht selbst zu verantworten hat. Wieder nimmt ein Partizip eine entscheidende Stelle in der Periode ein, bezeichnet diesmal jedoch nicht die Protagonistin, sondern spricht den in Rede stehenden Tatsachen eine Eigendynamik zu (μολόντʼ). Die Verse 846 f. legen durch ihre sprachlich-poetische Gestaltung (die Voranstellung der wiederholten bekräftigenden Partikeln, die parallele Anord‐ nung der Satzglieder um das Prädikat in Vers 847 ἀδινῶν χλωρὰν τέγγει δακρύων ἄχναν) großen Nachdruck auf die Emotionalität der gegenwärtigen Lage Deianeiras, die dem Geschehen rein passiv, d. h. hilflos gegenübersteht. Mit den abschließenden Versen der zweiten Strophe (v. 849 f.) ist eine zusam‐ menfassende Deutung verbunden: Die hinzutretende Moira, so der Chor, bringe eine listenreiche und große Verblendung zum Vorschein. Syntaktisch hebt sich diese unheilvolle Aussage vom Vorangegangenen etwas ab (ἁ δʼ), ist aber be‐ grifflich aufs Engste mit dem restlichen Stasimon verbunden. So war der Begriff der List, hier im auf ἄταν bezogenen Adjektiv δολίαν präsent, ein Zentralmotiv der ersten Gegenstrophe, während das zweite Adjektiv μεγάλαν zudem for‐ mengleich die Formulierung aus Vers 842 anklingen lässt, wo vom großen Schaden (μεγάλαν βλάβαν) die Rede war. Die vorliegende Periode fasst so die unheilvollen Einwirkungen, wie sie bereits ausgeführt wurden, zusammen und subsumiert sie unter den moralisierenden Begriffen von μοῖρα „Schicksal, Ver‐ hängnis“ und ἄτη „Verblendung, Unglück, Strafe“, stellt damit also der bild‐ mächtigen Schilderung eine eher abstraktere Gesamtausleuchtung entgegen. Einen ähnlichen Versuch der umfassenderen Situationsdeutung leistet die folgende Gegenstrophe: Eine Quelle von Tränen sei erstarkt (ἔρρωγεν), d. h. mit einiger Intensität aufgebrochen, krankhaftes Unheil habe sich ergossen, wie es II. Frauenchöre 316 <?page no="317"?> 120 Ich folge in diesem durch Textverlust entstellten Abschnitt der Textergänzung von J E B B (1962) (τοῦδε σῶμʼ), die L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) in ihrer Ausgabe übernommen haben und D A V I E S (1991) S. 204 vorsichtig verteidigt: „Jebb’s supplements, placed in the text by the editors of the OCT, are not totally secure, but they provide suitable sense and metre […] and […] a plausible corruptelae ratio“. 121 So auch E A S T E R L I N G (1982) ad locum S. 181. zuvor noch von keinem Feind über Herakles gekommen war. 120 Die Prädikate sind dabei den Perioden wirkungsvoll vorangestellt; die eingeschobene Inter‐ jektion ὦ πόποι macht die innere Beteiligung der Frauen an den Geschehnissen deutlich. Die Wiederholung des Wortes δακρύων (bereits in Vers 848) ruft die Schilderung von Deianeiras Reaktion erneut vor Augen, mit νόσος ist das in Heraklesʼ Körper eingedrungene Gift bezeichnet und zugleich eine Reminiszenz an die Liebesthematik des ersten Epeisodions gegeben (vgl. v. 445 ff.). 121 Unter Bekundung der eigenen emotionalen Bindung zu den Geschehnissen fassen die Frauen hier die zwei grundlegenden Ereignisse bzw. Zustände schlaglichtartig zusammen: Deianeiras leidvolle Ohnmacht sowie den Einfluss des todbrin‐ genden Giftes auf Herakles. Ein Anruf an die Lanze des kämpfenden Heros steigert die Intensität der Pas‐ sage erneut: Diese „dunkle“ (κελαινά) Waffe habe die Braut (νύμφαν), d. h. Iole, aus Oichalia hierher gebracht. Heraklesʼ Kriegshandeln erscheint hier konzent‐ riert auf die Überführung seiner neuen Geliebten, was in der personifizierenden Fixierung auf den Speer des Helden seine poetische Ausgestaltung findet; die sprachliche Gestaltung dieser Passage lässt an der Einordnung des Faktums aus Sicht der Choreuten keinen Zweifel: Sowohl die Interjektion ἰώ also auch das Adjektiv κελαινά betonen die unheilvolle und jammervolle Dimension des Ge‐ schehens. Das Ende der zweiten Strophe syntaktisch wieder aufgreifend (an beiden Stellen beginnt die Konstruktion mit ἁ δʼ) gibt der Chor daraufhin den eigent‐ lichen Verantwortlichen an: Die Liebesgöttin Aphrodite habe sich deutlich als gleichsam im Hintergrund agierende (ἄναυδος) „Täterin“ (πράκτωρ) der in Rede stehenden Ereignisse erwiesen. Dabei bezieht sich das Demonstrativum τῶνδε (v. 862) im engeren Kontext wohl zunächst nur auf den Kampf um Oichalia sowie die Heimführung der Iole. Indem damit allerdings der eigentliche Ausgangs‐ punkt der dramatischen Geschehnisse bezeichnet ist, fasst es zugleich die ge‐ samte, im Stasimon wortreich entfaltete Situation zusammen. Der Chor schließt seine Reflexion also mit einem umfassenden Blick auf die Geschehnisse. Dass mit dem Begriff πράκτωρ erneut ein besonders gewichtiges Wort das Ende des Liedes bildet und zugleich ein Bezug zur Apostrophierung des Zeus in 1. Trachinierinnen 317 <?page no="318"?> 122 D A V I E S (1991) S. 205: „again a weighty word kept back to the end: the title was used of Zeus in 251, of Aphrodite here“. 123 Vgl. E A S T E R L I N G (1982) S. 182 zur Stelle: „The picture of Cypris as real agent of all these events recalls the First Stasimon, where she is portrayed as umpire in the fight (515-16)“. 124 Vgl. B U R T O N (1980) S. 73: „The parallelism of verbal and grammatical shape in the closing sentences of the last two stanzas is noteworthy. […] These lines proclaim in an impres‐ sive and formal manner a dominant theme of the tragedy“. 125 Vgl. v. 161 ff. 126 So v. a. im Oidipus Tyrannos, wo das Themenfeld Apoll und Mantik („Theben-Delphi-Thematik“) ein Leitmotiv der chorischen Partien (und damit der ganzen Tragödie) bildet. Vers 251 gegeben ist, hat D AVI E S 122 richtig beobachtet; was bei ihm und E A S T E R‐ LING 123 allerdings fehlt, ist eine inhaltliche Beschäftigung mit dem durchaus mehrdeutigen Begriff. Wir werden darauf zu gegebener Zeit zurückkommen. Die sprachlich-begriffliche Komposition des vorliegenden Schlusssatzes des Stasimons spielt darüber hinaus augenscheinlich mit dem Gegensatz von Of‐ fensichtlichkeit und Heimlichkeit: So prallen die beiden Adjektive ἄναυδος und φανερά direkt aneinander, während letzteres in ἐφάνη gedoppelt wird. Neben der gleichen Satzeinleitung ist zudem gerade dieses Prädikat eine deutliche Re‐ miniszenz an das Ende der vorangegangenen Strophe. 124 Das eigentliche Standlied ist damit zu seinem Ende gekommen. Ein hinter‐ szenischer Ruf (L LO YD -J ON E S / W IL S ON ergänzen ἰώ μοι nach Vers 861) unter‐ bricht die Reflexion des Chors und leitet in eine neue Szene über. Betrachten wir an diesem Punkt noch einmal das Chorlied im Ganzen und versuchen, seine besondere Komposition nachzuvollziehen. Am Beginn des Stasimons stand mit der Erfüllung des Orakelspruchs der Rückgriff auf ein Motiv, das gerade am Beginn der Tragödie durch Deianeira selbst entfaltet worden war. 125 Innerhalb der lyrischen Partien wurde es dagegen nicht ausgestaltet und spielte in der Reflexion des Chors bisher keine Rolle. Erst an unserer Stelle wird der motivische Strang wieder aufgenommen und dient in seiner das Standlied eröffnenden Position als Fokus auf die eingetretene Situa‐ tion, den aktuellen dramatischen Moment: Im Todeskampf des Herakles hat sich das Orakel erfüllt, der Chor kann nun die Vorhersagen ausdeuten und zugleich die dramatische Realität in neuem Licht betrachten. Mit dieser (Wieder-)Auf‐ nahme des Orakelmotivs kommt die gerade durch Deianeiras Monolog im ersten Epeisodion (v. 164 ff.) erzeugte Spannung zu ihrem Schlusspunkt; der motivische Kreis ist damit geschlossen. Statt dabei Mantik und Vordeutungen als ein Haupt‐ motiv der chorischen Äußerungen zu etablieren und damit die gesamte Hand‐ lung mit einer dementsprechenden Grundierung zu versehen, 126 weist Sophokles dem Motiv an unserer Stelle eine klar umrissene Funktion zu: Es dient hier als II. Frauenchöre 318 <?page no="319"?> punktuelle Ausleuchtung der eingetretenen Situation und damit geradezu als Aufhänger der folgenden Reflexion. Das Stasimon hebt die in ihm thematisierte Situation in besonderer Weise heraus, verankert sie durch einen Rückgriff im dramatischen Ablauf und findet mit der emotionalen Verbalisierung der Ora‐ kelmotivik einen effektvollen Beginn. Im Folgenden richtete der Chor daraufhin seinen Blick auf die beiden Be‐ reiche der Handlung, indem er konkret die beiden Hauptpersonen und ihre mo‐ mentane Lage kommentierte. Zunächst galt dabei die Aufmerksamkeit des Chors der Person des Herakles: Hatte die erste Strophe bereits herausgestellt, dass die Erfüllung des Orakels in dessen baldigem Tod bestehe, so suchte die Gegenstrophe diese Behauptung durch den ausführlichen Blick auf die Schmerzen und Qualen des Helden zu belegen. Mit der zweiten Strophe wendete sich der Blick auf Deianeira. Die Themati‐ sierung ihrer Rolle innerhalb der Geschehnisse sowie ihrer Reaktion auf die durch sie mitverschuldete katastrophale Wendung vervollständigte dabei das Panorama der im Handlungsverlauf erreichten Situation. Die zweite Gegen‐ strophe fokussierte daraufhin wieder stärker auf Herakles. Gerade in seinem Kriegshandeln sowie der Heimführung der Iole erkannte der Chor den Einfluss der Kypris, die damit als eigentliche movens der Handlung (πράκτωρ) deutlich vor Augen getreten ist. Halten wir fest: Der Mittelteil des Stasimons (erste Gegenstrophe und zweite Strophe) entfaltete den Blick auf die beiden Hauptpersonen der Handlung. In dieser thematischen Fokussierung auf das Protagonistenpaar ist die Bipolarität des chorischen Blicks, die bereits der Parodos ihre Struktur verlieh, erneut deut‐ lich geworden. Anders gesagt: Aus dem Hinschauen, dem Imaginieren der Si‐ tuation beider Handlungsträger sowie der Beziehung, in die es diese beiden Sphären zueinander stellt, entwickelt das Lied eine Gesamtschau der Situation, die es durch die Orakelmotivik zu Beginn sowie den prominenten Verweis auf Kypris am Ende der Partie rahmt und in besonderer Weise ausdeutet. Damit steht das vorliegende Stasimon formal in einer Reihe mit der Parodos und dem zweiten Standlied. Auch diese Passagen hatten, ausgehend vom jeweils aktuellen Stand der Handlung, versucht, in der Verknüpfung mehrerer Ebenen des Geschehens (personal, zeitlich, lokal) ein umfassendes Panorama der Situ‐ ation zu bieten. Dass der Chor mittlerweile um die katastrophale Wendung weiß, verändert freilich den Blick auf das Geschehen grundlegend. Die gottesfürchtige Ermutigung der Parodos (vgl. v. a. die zweite Gegenstrophe v. 122 ff.) sowie der hoffnungsvolle Blick des zweiten Stasimons (v. 640 ff.) sind an unserer Stelle einer detaillierten Schilderung der leidvollen Gegenwart sowie ihrer Einord‐ nung in einen umfassenderen Kontext gewichen. Während dabei die Parodos 1. Trachinierinnen 319 <?page no="320"?> 127 Auffällig ist in diesem Zusammenhang das Fehlen von Verbalformen im Futur oder andere Bezeichnungen der Zukunft. 128 Vgl. v. 171 f. 129 Vgl. E A S T E R L I N G (1982) S. 174: „[…] the main emphasis is on knowledge, expressed through the themes of seeing and revelation“. und das zweite Stasimon maßgeblich durch einen mehr oder minder konkreten Zukunftsbezug geprägt wurden, verzichtet das dritte Stasimon ganz darauf, expressis verbis einen Blick nach vorne zu werfen. 127 Sein motivisches Material bezieht das vorliegende Panorama des dritten Sta‐ simons trotz dieser fundamentalen Umwertung der Ereignisse aus den vorhe‐ rigen Chorpartien. Ein rascher Nachvollzug der wichtigsten Bezüge und Wie‐ deraufnahmen soll dies demonstrieren. Die deutlich betonte Abstammung des Herakles vom Göttervater (αὐτόπαιδι v. 826) stellt einen Widerhall der Zeus-Thematik am Ende der Parodos dar: War dort zunächst (v. 127 f.) das Handeln des Gottes an den Menschen im Allge‐ meinen thematisiert worden, so brachte die das Lied abschließende Bemerkung die Hoffnung zum Ausdruck, Zeus werde sich seinem eigenen Kind gegenüber nicht sorglos verhalten (v. 139 f.). Bedenken wir weiterhin, dass das Orakel be‐ züglich Herakles in Dodona, einer dem Zeus geweihten Stätte, ergangen war, 128 so erhält die forcierte Apostrophierung an unserer Stelle eine besonders dras‐ tische Relevanz: An Herakles vollzieht sich in grausamer Weise ein Orakel des Zeus; die vom Chor erhoffte Sonderbehandlung des Helden durch seinen gött‐ lichen Vater realisiert sich in einer Art und Weise, die von der Erwartung grund‐ legend abweicht und sie ins Gegenteil verkehrt. Schon angesprochen wurde die im Wort κατουρίζει angedeutete motivische Bezugnahme zur Parodos und ihrer Seefahrtsmotivik. Auch hier hat ein Motiv seine von der ursprünglichen Intention völlig abweichende Konkretisierung gefunden: Der Hafen, den Herakles nun erreicht hat, ist sein eigener Tod. In besonderem Maß prägen das dritte Stasimon die Begriffsfelder „Sehen“ und „Aufdecken, ans Licht kommen“. 129 Dabei dienen Begriffe dieses semantisch-mo‐ tivischen Feldes verschiedenen Funktionen, da sie sowohl die Reaktion des Chors auf das eingetretene Unheil (ἴδʼ v. 821) verbalisieren, als auch zur Aus‐ deutung des Todes dienen (ὁ μὴ λεύσσων v. 828, ἀέλιον ἕτερον ἴδοι v. 835), Deianeiras Motivationen charakterisieren (προσορῶσα v. 842) und schließlich als Bezeichnung der eigentlichen Urheber dienen (προφαίνει v. 849 f., φανερὰ ἐφάνη v. 862). Gerade der Beginn des Standliedes mit seinem betonten Imperativ ἴδʼ schlägt dabei eine Brücke zum (Tanz-)Lied im ersten Epeisodion: Hatte der Chor dort in einem gedoppelten Imperativ ἴδε ἴδʼ (v. 222) Deianeira aufgefordert, die sich scheinbar zu ihren Gunsten entwickelnde Handlung zu betrachten, so II. Frauenchöre 320 <?page no="321"?> sehen sich die Frauen hier mit der Katastrophe konfrontiert, die sie im Wortsinn in den Blick nehmen. Die Schilderung von Deianeiras momentaner Reaktion in den Versen 846 ff. gesellt sich dabei zur Ausgestaltung, wie sie die Emotionen der Protagonistin in der ersten Gegenstrophe der Parodos erfahren haben: In beiden Fällen findet gerade das Weinen Deianeiras besondere Erwähnung (ἀδάκρυτον βλεφάρων v. 106 f. sowie δακρύων ἄχναν v. 848 f. und παγὰ δακρύων v. 851). War damit zu Beginn der Tragödie die wartende Ungewissheit und tatenlose Sorge Deianeiras ins Bild gesetzt worden, so steht an unserer Stelle die Heroine in ihrer Reaktion auf die Katastrophe im Fokus des Chors. Wieder rückt Deianeira so als Trau‐ ernde in den Blick, der angesichts der verheerenden Situation nichts bleibt als zu klagen und zu weinen. Anders gesagt: Der Chor suggeriert durch die Wie‐ deraufnahme der Motivik des Klagens und Weinens, Deianeira würde dem Teil des Geschehens, den sie nicht unmittelbar selbst zu verantworten hat, mehr oder minder untätig gegenüberstehen, nachdem gerade ihr resolutes Handeln (vgl. ἄοκνος v. 841) einen wesentlichen Beitrag zur Katastrophe geleistet hatte. Dass dabei der Chor in seiner Imagination von den tatsächlichen hinterszenischen Ereignissen, d. h. vom Selbstmord Deianeiras, nichts weiß und so ein Bild ent‐ wirft, das nicht der Wirklichkeit entspricht, steigert die Brisanz der Partie. Erst der Bericht der Amme wird erweisen, dass Deianeira während des Liedes kei‐ neswegs untätig ihr Schicksal beklagt, sondern mit ihrem Selbstmord den Fort‐ gang der Handlung entschieden beeinflusst hat. Schließlich hat in der expressiven Schilderung der Qualen des Herakles die Andeutung vom Ende des zweiten Stasimons ihre konkrete Beantwortung ge‐ funden. In χρίει (v. 832) ist das in seinem Kontext zunächst etwas befremdliche παγχρίστῳ (v. 661) wieder aufgenommen und als subtile Vorausdeutung der Todesumstände etabliert. Halten wir hier kurz inne und vergegenwärtigen wir uns das Folgende: Strukturell und motivisch spiegelt das vorliegende dritte Stasimon eine Reihe bereits etablierter Themen und Bilder. Im Besonderen beantwortet es die Par‐ odos sowie das zweite Stasimon, indem es deren Motive im Licht der katastro‐ phalen Wendung neu interpretiert. Kommen wir abschließend mit der betonten Apostrophierung der Kypris in der zweiten Gegenstrophe zur prominentesten motivischen Spiegelung und Wiederaufnahme des dritten Standliedes. Im ersten Standlied hatte der Chor der Schilderung des Kampfes zwischen Herakles und Acheloos das Lob der unbezwingbaren und immerzu siegreichen Macht der Kypris vorangestellt. Damit war ein entscheidendes Geschehen der dramatischen Vorgeschichte beleuchtet und ausgedeutet worden. Die jüngsten 1. Trachinierinnen 321 <?page no="322"?> 130 LSJ s.v.: „one who does or executes, accomplisher“. 131 Vgl. A M E L I N G (2001). „Praktor.“ in: DNP Band 10, Sp. 272. 132 LSJ s.v. Dass auch unserem Dichter dieser Sprachgebrauch nicht fremd ist, belegt Vers 953 der Elektra: Die Titelheldin gibt an, sie habe die Hoffnung gehabt, ihr Bruder werde als πράκτωρ πατρός zu ihr zurückkehren. Ereignisse des Handlungsverlaufs sowie die eigentliche dramatische Realität erfuhren dabei allerdings keine dezidierte Kommentierung; die Übertragung des aufgeworfenen Bildes auf das eigentliche Bühnengeschehen, d. h. die eigentliche Deutung der imaginierten Szenerie war dem Rezipienten des Liedes überlassen worden. An unserer Stelle nun bringt der Chor expressis verbis die Heimführung der Iole mit der Kypris-Motivik in Verbindung und erkennt im Walten der Lie‐ besgöttin den entscheidenden Faktor des gesamten Geschehens, das in Heraklesʼ Bemühen um die junge Frau seinen verhängnisvollen Anfang nahm. War so die Kypris-Motivik der Filter, durch den der Chor im ersten Standlied die Gescheh‐ nisse der fernen Vergangenheit betrachtete und ausdeutete, so wird an unserer Stelle im Vorgriff auf die visuelle Konfrontation mit der Katastrophe die Kypris-Thematik zum aktuellen Geschehen in Beziehung gesetzt und dieses aus Sicht des Chors ausgedeutet. Wie schon im ersten Stasimon interpretiert der Chor an unserer Stelle dabei vordergründig ein Geschehen der Vergangenheit (die Eroberung der Iole), um damit dezidiert eine Aussage über die dramatische Gegenwart zu fällen. In der Übertragung der Kypris-Motivik auf die Oichalia-Episode sowie der Verflu‐ chung des Speers als Symbol dieser amourösen Eskapade, deren katastrophale Konsequenz der Chor bereits vor Augen hat, sind die verschiedenen zeitlichen, lokalen und personalen Dimensionen und Ebenen der Handlung besonders eng miteinander verflochten. Dass dabei der Chor das von ihm als den Ereignissen zu Grunde liegend er‐ kannte Handeln der Liebesgöttin nicht nur wertfrei konstatiert, sondern mit einer besonderen, dramatisch relevanten Konnotation versieht, erweist ein er‐ neuter Blick auf den Schlussabschnitt des Stasimons. Dazu muss etwas weiter ausgeholt werden. Der an unserer Stelle prominent positionierte Begriff πράκτωρ bezeichnet nicht nur schlicht den Täter oder Vollender einer Handlung, 130 sondern steht darüber hinaus besonders in der attischen Rechtssprache als terminus technicus für einen Beamten, dem die Eintreibung von Staatsschulden anvertraut war. 131 Es liegt nahe, dass der Begriff auf diesem Wege Eingang in die Dichtersprache fand: Gerade die attischen Tragiker bezeichnen mit πράκτωρ jemanden, der eine Strafe ausführt oder etwas rächt ( LSJ : „one who exacts punishment, avenger“ 132 ). Die Aussage des Chors an unserer Stelle ist demgemäß eine doppelte: Es ist nicht II. Frauenchöre 322 <?page no="323"?> 133 Das vierte und letzte Stasimon wird in seinem ersten Strophenpaar (v. 947-952) nur noch den Reflex dieses Strukturmoments darbieten. Weiteres siehe ad locum. nur Kypris, die hier nach Einschätzung der trachinischen Frauen am Werk war - das war bereits aus dem ersten Stasimon implizit zu erschließen gewesen -, ihr Handeln ist ferner das eines πράκτωρ, d. h. von rächender Unbarmherzigkeit geprägt. Dieses Resümee des Chors fügt der Zeichnung der Liebesgöttin, wie sie das erste Standlied entfaltet hatte, eine besonders pikante Note hinzu: War dort im Preis der Gottheit durch den Verweis auf ihre Fähigkeit zur Täuschung (ἀπάτασεν v. 499) bereits eine leicht sinistre Note eingeflochten worden, so legt die Wortwahl an unserer Stelle nahe, in ihr eine Rächerin zu sehen, die mit dem Eintritt der Katastrophe eine ihr gegenüber bestehende Schuld einfordert. Aus der allezeit triumphierenden Göttin der Liebe, deren Eingreifen im Kampf der beiden Freier noch zu Deianeiras Nutzen geschah, ist an unserer Stelle so eine finstere Gestalt geworden, deren Wirken im Hintergrund letztlich zur Kata‐ strophe und damit zu Leid auf Seiten aller Beteiligten führt. Mit der Bezugnahme auf Kypris am Ende des dritten Stasimons ist dement‐ sprechend nicht nur der motivische Kreis geschlossen, den das erste Standlied in Fortführung der durch Deianeira angestoßenen Liebesthematik eröffnet hatte. Vielmehr ist, basierend auf dem Wissen um die katastrophale Wendung der Ereignisse, die Charakterisierung der Kypris umgedeutet und damit das Ge‐ schehen mit einer besonderen Konnotation versehen worden. Es lässt sich also festhalten: Wie schon in der Parodos und dem zweiten Standlied prägt das Stasimon der wechselnde Blick auf die zwei Zentralfiguren der Hand‐ lung. Seinen dramatischen Bezug und seine Relevanz zieht es in diesem Sinn aus der Fokussierung auf die in das Geschehen verwickelten und es zugleich maß‐ geblich prägenden Gestalten. Der Chor versteht sich in besonderem Maß als Hinschauender, die Motivik des Sehens und Aufdeckens spiegelt sich so im zentralen Strukturmoment. Die aus diesem Blick erwachsende detailfreudige, schlaglichtartige Ausleuchtung einzelner Situationen - im vorliegenden Fall des Todeskampfes des Herakles sowie Deianeiras emotionaler Reaktion - ist dabei nicht nur rein deskriptiv, sondern nimmt durch Personifizierungen, Rückblicke, logische Einordnungen und moralisierende Bewertungen eine dezidierte Aus‐ deutung der Situation vor. Als letztes durch diesen ausführlichen doppelten Blick auf beide Handlungs‐ sphären geprägtes Panorama 133 stellt das dritte Standlied in seinen Wiederauf‐ nahmen und Umdeutungen die Klimax der bisherigen Chorpartien dar. Im Rückgriff auf die bereits entfaltete Motivik deutet es nun nicht mehr eine be‐ stimmte Episode der Handlung aus, sondern sucht im Wissen um die katastro‐ 1. Trachinierinnen 323 <?page no="324"?> 134 Vgl. B U R T O N (1980) S. 73: „It [the ode] creates a sense of physical horror“. phale Wendung des Geschehens eine umfassendere Interpretation zu geben. Der chorische Blick auf das Geschehen stiftet durch die Vernetzung der unterschied‐ lichen Ebenen des Geschehens einen umfassenden Sinnzusammenhang, den das Lied unter Einsatz poetischer Mittel (Personifikation, Imagination, Konkretisie‐ rung) ausgestaltet. Erneut stehen dabei beide Zentralfiguren der Handlung im Mittelpunkt der chorischen Betrachtung; nachdem Deianeiras Einschreiten den Umschwung der Handlung herbeigeführt hatte, leuchtet das vorliegende Stasimon die Folgen dieser Tat mit Blick auf beide Beteiligten aus und thematisiert damit erneut das Verhältnis der beiden Partner zueinander. Der betont an den Schluss des Liedes gesetzte Verweis auf die Liebe als tätige Macht bringt dieses eigentliche Zent‐ ralmotiv konzentriert zum Ausdruck. Die herausragende Wirkung des stillen Abtritts der Protagonistin in Vers 813 wurde bereits erwähnt. Sophokles untergräbt hier einmal mehr mögliche for‐ melle Erwartungen des Publikums: Eigentlich wäre nach dem Eintreffen der vernichtenden Nachricht der passendste Augenblick für einen emotionalen Ausbruch Deianeiras, d. h. formal gesehen für einen Kommos gewesen. In einem drastischen Wechselgesang wäre das Lied aus dem ersten Epeisodion als bisher emotionalste und formal überraschendste Partie der Tragödie beantwortet worden; zudem hätte auch die durch das zweite Stasimon mit seiner Heimkehr‐ motivik aufgeworfene Spannung in einer effektvollen Inszenierung ihre Wen‐ dung erfahren. Sophokles hat allerdings bis zur Hyllos-Szene auf dieses drastische Mittel chorischer Interaktion mit den Handelnden verzichtet und tut es auch hier: Die umfassende Ausleuchtung der Situation kommt erneut dem Chor alleine zu, der nach Deianeiras Abgang und Hyllosʼ abschließenden Worten die gesamte Auf‐ merksamkeit auf sich bündelt. Der Situation ist so zunächst die unmittelbare Dynamik genommen: Statt effektvoller Bühnenszene unter Aufbietung emoti‐ onaler Formensprache erfolgt das leise Verschwinden Deianeiras aus der Hand‐ lung, gefolgt von einem Chorlied, das zwar die Drastik der Situation visuell evoziert, 134 allerdings dezidiert den Blick des Chors auf das Geschehen bietet und sich nicht darin erschöpft, das bevorstehende Leiden des Protagonisten mög‐ lichst effektvoll zu schildern. Den unmittelbar Betroffenen (v. a. Deianeira) bietet sich dementsprechend keine Möglichkeit, aus ihrer eigenen Perspektive zu sprechen und die Ereignisse zu reflektieren. Das Stasimon wird zum alleinigen Ort der Reaktion auf das Geschehen; die erneute poetische Ausgestaltung des wechselnden Blicks auf beide Zentralfiguren unterstreicht dabei die Grund‐ II. Frauenchöre 324 <?page no="325"?> 135 P E A R S O N (1924) und D A W E ( 3 1996). Sophoclis Trachiniae, Stuttgart und Leipzig deuten in ihren Textausgaben eine Verteilung der Verse 863-870 auf drei verschiedene Sprecher des Chors an. Ersterer geht so weit, auch im Folgenden (v. 873-898) die Beiträge des Chors auf einzelne Choreuten zu verteilen. Wie die Partie genau realisiert wurde, muss offen bleiben; die Andeutung eines Gesprächs unter den Choreuten im direkten An‐ schluss an das Stasimon erscheint mir persönlich allerdings der Situation durchaus an‐ gemessen. Vgl. dazu D A V I E S (1991) S. 205. 136 Die Konjektur ἀγηθὴς gegen den überlieferten Textbestand erschließt sich mir nicht. 137 Dass auch die Amme selbst emotional zutiefst in das Geschehen involviert ist, stellt B U R T O N (1980) S. 74 zu Recht heraus: „She […] is used here as an ἐξάγγελος deeply involved in the horror, so that she has none of the conventional messenger’s detachment and objectivity“. struktur der Handlung am vorliegenden Punkt. Bevor im weiteren Fortgang die endgültigen Folgen der Handlung (Deianeiras Tod) berichtet bzw. (Heraklesʼ Todeskampf) visuell vorgeführt werden, steckt das Chorlied noch einmal den Bezugsrahmen der Handlung ab, indem es die wechselseitigen und vielschich‐ tigen Verflechtungen der beiden Handlungssphären miteinander herauszu‐ stellen sucht. Lyrische Wechselpartie Chor-Amme mit anschließender Szene (v. 863 - 895 bzw. 946) Die sich an das Chorlied anschließende Szene ist formal wie personell gesehen teils überraschend, teils erwartbar. In Vers 863 hört der Chor einen hintersze‐ nischen Schrei, der schnell als Klageruf identifiziert wird. 135 Schon sieht der Chor die alte Amme (γραῖα) herannahen, nimmt ihre Verstimmung wahr (ἀήθης 136 καὶ συνωφρυωμένη) und macht sich auf eine neue Botschaft gefasst (σημανοῦσά τι). Der Chor bedient sich dabei iambischer Trimeter, hat also das Stasimon als lyrische Partie abgeschlossen, die Handlung geht weiter. Was folgt, ist mit Blick auf Emotionalisierung und Drastik ein Höhepunkt der Tragödie. Die Angekündigte betritt in Vers 871 die Bühne und entfaltet in einem Wech‐ selgespräch mit dem Chor die furchtbare Nachricht: Deianeira habe sich mit einem Dolch getötet; als Augenzeugin habe sie es selbst mitangesehen. Der Chor steht diesem Ereignis schockiert gegenüber: 137 Seine Beiträge sind bis auf das Fazit v. 893 ff. affektvolle Fragen. Dabei versichern sich die Frauen der genauen Lage (z. B. οὐ δή ποθʼ ὡς θανοῦσα; v. 876 verdoppelt durch das anschließende τέθνηκεν ἡ τάλαινα; v. 877), erkundigen sich nach bestimmten Umständen des Geschehens (z. B. τίνι τρόπῳ θανεῖν σφε φής; v. 878 f. sowie πῶς ἐμήσατο; usw. v. 884 oder auch das an die Amme gerichtete ἐπεῖδες τάνδε ὕβριν;), erfragen die Motive Deianeiras (τίς θυμός, ἢ τίνες νόσοι usw. v. 882) oder unterbrechen die Amme am entscheidenden Punkt bei der Thematisierung des Selbstmords (τί 1. Trachinierinnen 325 <?page no="326"?> 138 Vgl. A L E X I O U (1974). The ritual lament in Greek tradition, Cambridge und London, S. 137: „[…] the news of Deianeira’s death is not told as a simple statement of fact, but revealed gradually, point by point, in a prolonged series of statement and counter-state‐ ment, question and answer“ sowie die Bezeichnung dieser Form als „technique of ca‐ techistic questions“. 139 Anders D A W E (1996) und E A S T E R L I N G (1982). 140 Vgl. dazu die metrischen Analysen bei E A S T E R L I N G (1982) S. 238 bzw. D A V I E S (1991) S. 205. φωνεῖς; v. 892). Der an zwei Stellen eingestreute Imperativ εἰπέ (v. 879 und 890) sowie der Vokativ γύναι (v. 880) unterstreichen zudem die gesteigerte Emotio‐ nalität der chorischen Aussagen. Dabei spielt sich die Aufdeckung der eigentli‐ chen Katastrophe schrittweise in der Form von Frage und Antwort ab. 138 Was mit dieser Konstruktion dramaturgisch gewonnen ist, wird noch zur Sprache kommen; hier reicht zunächst der Verweis auf den Einsatz der referierten kon‐ ventionellen Figuren und Stilmittel zur effektvollen Ausgestaltung eines lyri‐ schen Wechselgesangs. Mit den Versen 893-895 fasst der Chor die Situation zusammen: Die neue Braut hat für dieses Haus, d. h. für Herakles, Deianeira und ihr persönliches Umfeld, ein großes Verderben (Ἐρινύς) hervorgebracht. Wirkungsvoll ist dabei das Prädikat ἔτεκʼ ἔτεκε verdoppelt an den Beginn, Ἐρινύν an das Ende der Pe‐ riode gestellt; das Bild des Gebärens steht dabei in besonderer Relation zur Brautthematik, wobei das überlieferte und durch L LO YD -J ON E S / W IL S ON im Text belassene Adjektiv ἀνέορτος „ohne (Hochzeits-) Zeremonien“ eine besonders brisante Note darstellt: 139 Ohne durch die entsprechenden Riten als Ehefrau be‐ stätigt zu sein, hat die in Rede stehende Braut bereits geboren, der Fa‐ milie / Hausgemeinschaft (δόμοισι) Zuwachs beschert - allerdings nicht in Form von Kindern. Der lyrische Abschnitt hat damit ein Ende gefunden; das weitere Gespräch zwischen Chor und Amme, d. h. konkret die Bestätigung durch die Amme, die letzte Nachfrage des Chors und der dann folgende ausführliche Bericht von Deianeiras Tod (v. 899-946) vollziehen sich in iambischen Trimetern, damit einhergehend in gedrosselter Emotionalität und in abgeschwächter situativer Drastik. Unser Augenmerk soll sich im Folgenden auf den Wechselgesang als solchen sowie seine Beziehung zum Rest der Ammenszene konzentrieren. Bevor wir versuchen, die lyrische Passage in den Kontext einzuordnen, müssen kurz die Diskussionen angesprochen werden, die der Abschnitt in der Forschung verursacht hat. Machen wir uns dazu bewusst: Das Zwiegespräch vollzieht sich zunächst (871-879) rein in iambischen Trimetern, bevor in Vers 880 lyrische Versmaße hinzutreten. 140 Das durch M AA S formulierte Diktum „Personen niederen Standes (ausgenommen den Phryger im Orestes) erhalten II. Frauenchöre 326 <?page no="327"?> 141 M A A S (1929). Griechische Metrik, unveränderter durch Nachträge vermehrter Neu‐ druck (erste Ausgabe 1923), Leipzig und Berlin, Paragraph 76. 142 Vgl. dazu v. a. H E N D E R S O N (1976). „Sophocles Trachiniae 879-92 and a principle of Paul Maas.“ in: Maia 28 (1976) S. 19-24, der S. 22 klarstellt: „I will argue that the passage requires emendation, and that the simplest course is to emend it in accordance with his [Maasʼ] rule“. 143 Im Gegensatz etwa zu noch gewichtigeren Eingriffen in den Text, wie sie z. B. Z I E L‐ I N S K I (1896). „Excurse zu den Trachinierinnen.“ in: Philologus 25 / 9 (1896), S. 577-633, S. 593 vornimmt, der die Verse 871-879+891+898 f. als iambische Umdichtung eines ei‐ gentlich nach 870 einsetzenden, allerdings verderbten Kommos streicht. Zur Begrün‐ dung führt er an, es sei in späterer Zeit schlicht als „unbequem“ empfunden worden, den Tritagonisten singen zu lassen. Zur weiteren Diskussion siehe D A V I E S (1991) S. 207. 144 Vgl. W E S T (1987). Introduction to Greek Metre, Oxford, S. 52. keine Singverse, wohl aber Anapäste, wie die Amme im Hippolytos, oder He‐ xameter, wie der Alte in den Trachinierinnen“ 141 führte zu einem Eingriff in die durch die codices gegebene Sprecherverteilung 142 der Verse 883 und 886-7, dem die neuesten Ausgaben von L LO YD -J ON E S / W IL S ON und D AWE (1996) sowie die Kommentare von E A S TE R LING und D AVI E S zumindest in Grundzügen folgen. Akzeptiert man die dort gegebene Aufteilung als Lösung, 143 - wenn auch die Herausgeber den Text im Einzelnen verschieden rekonstruieren - so ergibt sich folgendes Bild: Auf die emotionalen, in lyrischen Maßen komponierten Fragen des Chors antwortet die Amme in iambischen Trimetern (einzige Ausnahme ist der zweite Teil des Verses 892, der immerhin als Baccheus ein synkopiertes iam‐ bisches Metrum darstellt 144 ). Die auf Basis dieser Zuteilung allerdings auftre‐ tenden logischen Schwierigkeiten mit Blick auf den Gesprächsverlauf und den Informationsstand des Chors (konkret: „Woher wissen die Frauen in Vers 883 bzw. 887, dass Deianeira eine Stoßwaffe benutzt hat und sich nicht etwa er‐ hängte? “), versuchen Konjekturen in Vers 881 zu beheben, die der Amme eine Erwähnung der Waffe in den Mund legen. Ob an M AA S ʼ Diktum unter allen Umständen festgehalten werden muss, bleibt an unserer Stelle äußerst fraglich; so hatte noch P EAR S ON (1961) in seiner Ausgabe keine Bedenken, der Amme auch lyrische Verse zuzuteilen - und damit der einhelligen Zuteilung der codd. zu folgen. Es spricht an sich nichts dagegen, dass die von M AA S selbst angeführte Ausnahme im Werk des Euripides nicht die einzige sein könnte; in Anbetracht 1. Trachinierinnen 327 <?page no="328"?> 145 Besonderes Interesse hat M A A S ʼ Diktum in der modernen angelsächsischen Forschung gefunden, die insbesondere die soziokulturellen Dimensionen der attischen Tragödie und ihrer Formteile beleuchtet. Einen Überblick zur Zuteilung lyrischer, d. h. „gesun‐ gener“ Partien an Schauspieler im Allgemeinen gibt dabei H A L L (1999) S. 96-122; zu M A A S ʼ Regel im Besonderen S. 108 ff., zu möglichen Ausnahmen davon S. 118 ff., wobei sie zu unserer Stelle S. 118 festhält: „[…] Deianeira’s nurse almost certainly does not sing: the slightest of emendations restores her to spoken iambic trimeters“. Angesichts der von H A L L betonten Ausnahmestellung des sophokleischen Aias als eines wehrfä‐ higen Mannes, dem gesungene Passagen zukommen (vgl. S. 196, Anm. 213), spricht nichts gegen die Annahme, auch in der Amme eine Ausnahmeerscheinung zu sehen - oder vielmehr, das postulierte Diktum nicht als Regel im strengen Sinne, sondern als Tendenz zu verstehen. 146 E A S T E R L I N G (1982) S. 183: „The language is full of echoes of the stasimon, confirming the truth of the Chorusʼ forebodings“. der immensen Textverluste im Bereich der attischen Tragödien scheint M AA S ʼ apodiktische Regel ohnehin etwas fragwürdig. 145 Wie die Passage im Einzelnen auch immer rekonstruiert werden mag, fest steht: Sophokles erweitert an unserer Stelle den bis zu diesem Punkt der Tra‐ gödie angewendeten Formenschatz zum ersten (und einzigen Mal) um einen lyrischen Austausch zwischen Chor und Akteur. Dass den trachinischen Frauen dabei gerade die aus dem Prolog bereits bekannte Amme gegenübertritt, ist so überraschend wie bedeutsam. Statt einen mehr oder minder unbeteiligten Boten die Nachricht überbringen zu lassen, komponiert der Dichter eine Szene von emotional Involvierten. War schon die erste Wortmeldung der Amme im Prolog (v. 49 ff.) von fürsorglicher, alle Standesgrenzen überschreitender Verbundenheit mit Deianeira geprägt, so hatte der Chor noch zu Beginn des dritten Stasimons explizit seine eigene Verknüpfung mit dem Geschehen bekundet (ἡμῖν v. 822). In diesem Sinne betont auch die Amme durch ihr ἡμίν (v. 871) gleich in den Auftrittsworten die Schicksalsgemeinschaft zwischen ihr und den vertraut als παῖδες angeredeten Frauen. Das Verhältnis zwischen dem dritten Stasimon und der Wechselpartie soll etwas genauer beleuchtet werden. Wie schon E A S T E R LING festhält, 146 beant‐ wortet die Unterredung das Standlied in mancher Hinsicht. So ist die im ersten Strophenpaar des Liedes prominente Todesthematik maßgeblicher Zentral‐ punkt der Ausführungen und begrifflich zur höchsten Drastik gesteigert. Dienten im Stasimon noch verschiedene Wortfelder zur Bezeichnung und An‐ deutung des Todes (τελεῖν, θανών und θάνατος sowie φόνιος), so häufen sich in den zehn Versen 876-885 fünf Ableitungen desselben Wortstamms: θανοῦσα, τέθνηκεν, θανεῖν sowie die eindrucksvolle Junktur πρὸς θανάτῳ θάνατον. Die Übertragung des Todesmotivs von der Beschreibung des Herakles und seines II. Frauenchöre 328 <?page no="329"?> 147 Natürlich bereitet Deianeira das Gewand für ihren Mann hinter der Bühne vor und entdeckt dort auch die zerstörerische Kraft des aufgebrachten Giftes; allerdings trägt sie diese Ereignisse und Erkenntnisse selbst auf die Bühne, ist also in jeder Hinsicht handelnde Person und thematisiert sich, ihre Handlungen und Emotionen selbst, wäh‐ rend Herakles bisher nur im Bericht präsent gewesen ist. Zustands auf die hinterszenischen Gegebenheiten um Deianeira ist damit wir‐ kungsvoll geleistet. Die Spiegelung von μεγάλαν βλάβαν (v. 842) sowie μεγάλαν ἄταν (v. 850) in μεγάλαν Ἐρινύν (v. 893 ff.) ist ebenso offensichtlich; machen wir uns darüber hinaus klar: Die Motivik des Ans-Licht-Kommens und Gesehen-Werdens aus dem Stasimon findet ihren Widerhall im Bild vom Gebären der Erinys im Fazit des Chors. In der Bezeichnung der Urheberin dieses Vorfalls als ἀνέορτος νύμφα klingt die Hochzeitsthematik des zweiten Strophenpaars wieder an (v. 842 f.). Die lyrische Unterredung zwischen Amme und Chor ist so motivisch und sprachlich eng mit dem Stasimon verzahnt: Die Wechselpartie lässt das Lied im Nachhinein als Vorboten der umfassenden Katastrophe erscheinen. Mitsamt den eingeschobenen Sprechversen 863-879 inszeniert Sophokles demnach eine den hinterszenischen Handlungsfortschritt abbildende, d. h. unmittelbar dramati‐ sche Szene, die sich dennoch in den Reflexionshorizont des Chors einfügt und als handlungstragende Fortsetzung des Standliedes fungiert. Anders gesagt: Mit dem Stasimon und der Wechselpartie greifen zwei formal unterschiedliche Pas‐ sagen eng ineinander, indem durch die Wiederaufnahme der zentralen Motivik die in der vorangehenden Partie imaginierten Sachverhalte nun in besonderer Fokussierung ausgeleuchtet werden. Mit dem ersten Einsatz des Formteils „Wechselgesang Chor-Akteur“ hebt der Dichter gerade diese Stelle in besonderer Weise hervor, was ihre eminente Wichtigkeit innerhalb der Personen- und Handlungsstruktur widerspiegelt. Die beherrschende Gestalt der Bühnenhandlung war bis zu ihrem Abtritt Deianeira: Sie war der Zentralpunkt der für die Zuschauer direkt wahrnehmbaren Ge‐ schehnisse, ihre Reaktion auf die Berichte von Herakles und seinem Tun sowie ihr aktives Einschreiten waren die unmittelbaren emotionalen und dramati‐ schen Inhalte der Tragödie. Mit der Aussendung des Geschenks an Herakles hatte sich dabei die bis dahin etablierte Reihenfolge der Abläufe umgekehrt: Zum ersten Mal war es ein Ereignis der Bühnenhandlung, das einen Einfluss auf den hinterszenischen Bereich ausübte. Einen ähnlichen Wendepunkt mar‐ kiert nun unsere Stelle nach dem dritten Stasimon: Deianeira ist ganz von der Bühne verschwunden und hat dort mit ihrem Selbstmord den entscheidenden Handlungsschritt vollzogen, der nun von einem Dritten berichtet werden muss - wie sonst nur die Vorfälle um Herakles. 147 Anders gesagt: Das Fehlen der prä‐ 1. Trachinierinnen 329 <?page no="330"?> 148 Auch dort entwickelt sich die eigentliche Szene, indem auf das vierte Stasimon ein anapästischer Austausch zwischen drei Akteuren (Hyllos, dem Greis und Herakles) folgt. genden Figur Deianeira auf der Bühne sowie die Abwesenheit des Herakles, dessen Auftritt bisher nur in Aussicht gestellt wurde, füllen die vorliegende Passage durch die Aneinanderreihung von Stasimon, lyrischer Dialogszene und Botenbericht der Amme (daran anschließend wieder Stasimon, bis mit Herakles die andere Zentralfigur die Bühne betritt). Der Chor ist dabei in besonderer Weise präsent: Seine Reflexionen im Sta‐ simon versuchten die momentane Situation im Gesamtkontext der Handlung einzuordnen, bereiten damit allerdings zugleich den effektvoll inszenierten Handlungsfortschritt motivisch vor und dienen in dieser Hinsicht als Gelenk zwischen dem Bericht des Hyllos und dem der Amme. Mit der auf das Stasimon folgenden und aus ihm hervorgehenden Wechselpartie v. 870-898 setzt So‐ phokles damit einen belebenden Akzent zwischen die beiden ausführlichen Be‐ richte. Er steigert so die Emotionalität und hebt die Erzählung von Deianeiras Selbstmord in besonderer Weise heraus. Mit Blick auf den Fortgang des Stücks lässt sich sagen: Bereits mit dem dritten Stasimon und seinen motivischen Vor‐ verweisen hat eine dramaturgisch-emotionale Klimax begonnen, die im Auftritt des Herakles in Vers 968 148 gipfeln wird. Innerhalb dieser Entwicklung werden Deianeiras Abgang und Tod durch zwei unterschiedliche, aber ebenso wir‐ kungsvolle Bühneneffekte in Szene gesetzt: zunächst ihr stilles Verschwinden von der Bühne und daraufhin die drastische Form des Wechselgesangs, in dem die Todesnachricht überbracht wird. Mit dem Verschwinden Deianeiras ist so der Auftritt des Herakles vorbereitet; dass beide sich im Lauf des Stücks nie begegnen werden, ist dabei die alles beherrschende Ironie der Handlung, die ja - gerade auch durch die chorische Ausleuchtung - auf die Vereinigung der beiden Handlungsebenen hinzielte. Wir haben in der Untersuchung des Stasimons und des Wechselgesangs ge‐ sehen, mit welchen Mitteln Sophokles diese bedeutende Gelenkstelle des Dramas ausgestaltet hat. Der mit dem Auftritt der Amme gegebene Rückbezug auf den Prolog reichert die Passage zudem mit dramaturgischer Signalwirkung an. Mit dem erneuten Auftritt des Personals aus dem Prolog (Amme und Hyllos, hier in umgekehrter Reihenfolge) hat die Deianeira-Handlung ihr Ende ge‐ funden. War der Auftritt der Protagonistin am Beginn des Dramas schon in formaler Hinsicht bemerkenswert (vgl. die Ausführungen zum Prolog), so schließt sich mit der effektvollen (und diesmal explizit chorischen) Ausgestal‐ tung ihres stillen Abtritts ein Kreis. II. Frauenchöre 330 <?page no="331"?> 149 Vgl. D A V I E S (1991), der mit W E B S T E R (21 969) von „anxious stammer“ spricht. S. 221. Viertes Stasimon (v. 947 - 970) Den schon mehrfach angesprochenen Botenbericht der Amme (v. 899-946) können wir unter unseren Gesichtspunkten kurz abhandeln. Sie schildert die Ereignisse nach dem Abgang der Protagonistin, wobei ihr Bericht in der Wie‐ dergabe von Deianeiras letzten Worten (v. 920 ff.) den inhaltlichen und drasti‐ schen Höhepunkt erreicht und mit einer allgemeinen Bemerkung zum unvor‐ hersehbaren Schicksal des Menschen schließt: Es lasse noch nicht einmal zu, den morgigen Tag mit Gewissheit zu planen (v. 944 ff.). Eine besondere Rolle bei den Geschehnissen rund um Deianeiras Lebensende spielte, so der Bericht der Amme, Deianeiras Sohn Hyllos, der mit der Herrichtung einer Bahre für seinen Vater konkrete Vorkehrungen für den Auftritt des Herakles trifft (v. 901 f.) und schließlich beim Anblick seiner toten Mutter in Wehklagen ausbricht (v. 932 f.). Die Amme hat damit nicht nur die letzten Augenblicke aus Deianeiras Leben sowie die Art ihres Todes referiert, sondern zugleich - in der Schilderung der Nebenumstände - die Spannung auf das Erscheinen des Helden erhöht. Zu‐ schauer und Leser sind sich daraufhin erneut der doppelten Handlungsebene bewusst: Die im hinterszenischen Bereich betriebenen Vorkehrungen lassen Heraklesʼ Auftreten in greifbare Nähe rücken. Dennoch gibt Sophokles nach dem Abtritt der Amme in Vers 946 dem Chor in Form des vierten Stasimons zumindest kurz die Gelegenheit, das Geschehene noch einmal zu reflektieren, bevor die Handlung in Vers 965 ff. mit dem Auftritt des Herakles ihren Kulminationspunkt erreicht. Die beiden Strophenpaare des Stasimons heben sich deutlich voneinander ab: Während zunächst das erste in je drei iambischen bzw. choriambischen Dime‐ tern komponierte Paar die Wirkung der verdoppelten Katastrophe auf die Frauen des Chors verbalisiert, entfalten die sich anschließenden zwei Strophen zunächst einen innigen Wunsch, bevor der auftretende Zug mit dem schlafenden Herakles die Trachinierinnen wieder in die dramatische Realität zurückholt. Das Lied beginnt mit einer gedoppelten Frage des Chors: Was soll er zuerst (πρότερον) beklagen, was darüber hinaus (περαιτέρω)? Die eingetretenen Ge‐ schehnisse seien schwer auseinander zu halten, geradezu verworren (δύσκριτʼ). Schon diese erste Strophe ist ein Paradebeispiel elaborierter Sprachformung: Die auffällige p-Alliteration, 149 die Anapher des πότερα v. 947 f., die reimähnliche Fügung von ἐπιστένω und περαιτέρω jeweils am Versende sowie die gramma‐ tische Formengleichheit der die Verse einleitenden Wörter πότερα und δύσκριτʼ weisen die Verse als eine in ihrer Kürze präzise formulierte sowie auf emotionale Wirkung zielende Komposition aus. 1. Trachinierinnen 331 <?page no="332"?> Die Gegenstrophe beantwortet das aufgeworfene Problem in thematischer wie formaler Hinsicht und verortet die δύσκριτα zeitlich und räumlich: Der eine Teil der Katastrophe liegt im Palastgebäude vor Augen, der andere entfaltet sich in der Aussicht auf das Kommende vor dem geistigen Auge der Frauen, sodass Präsenz (ἔχειν) und zukünftiges Hereinbrechen (μέλλειν) der furchtbaren Ereig‐ nisse zusammenfallen. Die sprachliche Gestaltung nimmt die prominenten As‐ pekte der Strophe wieder auf: Nach zwei parallel gebauten Perioden, die sich den Teilphänomenen der Katastrophe widmen, schließt sich ein Gesamtblick an. Wieder entsprechen sich dabei grammatikalisch der Beginn der drei Verse (τάδε und κοινά) sowie das Ende der ersten beiden Verse (δόμοις und ἐλπίσιν). Das Strophenpaar ist dadurch in hohem Maß aufeinander bezogen und wirkt in sich abgerundet. Die Erwartung der baldigen Ankunft des Herakles ist in der Auseinanderset‐ zung mit der Situation ein der bereits eingetretenen Katastrophe um Deianeira gleichgeordnetes Element. Anders gesagt: Statt mit einer Totenklage um Deia‐ neira den Botenbericht der Amme eindimensional und rein zurückblickend zu beantworten, unterstreichen die Fragehaltung des Chors und seine Reflexion der gedoppelten Problematik zugleich die virulente Spannung mit Blick auf das Erscheinen des Helden. Die Andeutungen der Amme über die Vorbereitungen des Hyllos sind so reflektierend verarbeitet und in einen stimmungsvollen Aus‐ blick auf die unmittelbare Zukunft umgesetzt. Der Chor leistet mit diesem Eingang in das Stasimon erneut den typischen gedoppelten Blick auf die zwei Pole der Handlung. Allerdings stehen hier nicht konkret die Personen Deianeira und Herakles im Fokus, sondern vielmehr das an ihnen eingetretene Leid als ein den Chor unmittelbar berührendes Phä‐ nomen. Zudem bietet der Chor an unserer Stelle kein ausgreifendes Panorama, wie es im Besonderen die Parodos und das dritte Standlied entfaltet hatten, son‐ dern belässt es bei der konstatierenden Aufzählung der beiden Sphären, in denen sich die Katastrophe realisiert hat. Wie schon im dritten Stasimon bekunden die Frauen dabei auch hier ihre eigene emotionale Involvierung in das Geschehen (ἔμοιγε δυστάνῳ) und schaffen damit erneut ein Klima der bewusst inszenierten Vertrautheit, der Anteilnahme und des mitleidenden Betrachtens von Seiten des Chors. Dem entspricht, dass im Infinitiv ὁρᾶν (v. 950) die Motivik des Sehens aus dem letzten Standlied einen Widerhall findet. Erneut ist der Chor dezidiert ein Hinschauender, wobei sich in diesem Fall allerdings das sichtbare - und im Bericht der Amme direkt visuell ausgestaltete - Unheil mit der Erwartung des kommenden Schreckens zu einer umfassenden Katastrophe verbindet, in der die beiden Handlungsstränge logisch, zeitlich und räumlich ineinander fallen. II. Frauenchöre 332 <?page no="333"?> 150 L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) folgen damit der Konjektur von Schenkl, obwohl an un‐ serer Stelle θαῦμα einhellig überliefert ist. 151 Wieder folgen L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) einer Konjektur (Meineke), die das einhellig überlieferte βάσις durch στάσις ersetzt. Konnte ich mich dem Eingriff in die Überlie‐ ferung in Vers 961 noch anschließen, so erschließt sich mir die vorliegende Änderung nicht. 152 Vgl. E A S T E R L I N G (1982) S. 195: „The Chorus end with a question which recalls the opening of the ode“. Die folgende Strophe beginnt mit einem Wunsch der Choreuten: Ein günstig wehender Luftzug (ἔπουρος αὔρα) solle sie forttragen und an einem anderen Ort ansiedeln (ἀποικίσειεν), damit sie nicht beim Anblick des Herakles vor Angst sterben (ταρβαλέα θάνοιμι). Es sei nämlich bereits verlautbart worden (λέγουσιν), dass sich der Heros unter schwer abzuwendenden Schmerzen der Szenerie nähere. Die eigentliche Bezeichnung des Helden ist dabei an den Schluss der Periode gestellt und fokussiert den Blick ganz auf die visuelle Drastik der erwarteten Ankunft: Herakles als ἄσπετον θέαμα, 150 als unsäglicher Anblick. Der eskapistischen Stimmung vom Beginn der Strophe ist damit die Fokussie‐ rung auf etwas real vor Augen Stehendes entgegengestellt. Darüber hinaus ist mit der Ankunft des Haupthelden und seiner wahrnehmbaren Präsenz auf der Bühne der Kulminationspunkt der Reflexionen und das alles beherrschende Motiv des Stasimons erreicht. Mit der Gegenstrophe belebt sich die Szenerie zusehends: Die Reaktionen des Chors auf hinterszenische Geräusche sowie der Blick in die für das Publikum nicht einzusehenden Bereiche spiegeln die schrittweise Annäherung des Zuges, der Herakles auf die Bühne bringt. So stellen die Frauen zunächst fest, dass das vernehmbare Wehklagen nicht von ferne (οὐ μακράν) ertöne, sondern schon nahe (ἀγχοῦ) herangekommen sei. Die Schrittweise (βάσις 151 ) der Herannah‐ enden wird als fremd erkannt und als sorgend, ernst und still (προκηδομένα, βαρεῖαν, ἄψοφον) identifiziert. Schließlich ist es der Anblick des Herakles selbst, der den Frauen des Chors einen Aufschrei abringt: „Wehe, er wird in Schweigen hergetragen! “ (v. 968). Der Anblick des stummen Helden setzt die Frauen in Ungewissheit über dessen Zustand, und so fragen sie, ob er bereits gestorben sei oder nur schlafe (v. 969 f.). Mit diesem Rückbezug auf die Fragen vom Beginn des Liedes 152 schließt das eigentliche Stasimon; es folgt ein anapästisches Wech‐ selgespräch zwischen Hyllos, dem den Zug begleitenden Alten sowie dem er‐ wachenden Herakles, das in Vers 1004 in lyrische Maße übergeht. Die erst in Vers 976 durch den Alten beantwortete Frage des Chors, ob Herakles noch lebe oder bereits gestorben sei, bildet dabei den spannungsreichen Übergang in die Auftrittsszene des Herakles und übergibt die Gesprächsführung den aufgetre‐ tenen Akteuren. 1. Trachinierinnen 333 <?page no="334"?> Die Komposition des Stasimons liegt nach diesem Durchgang nun klar vor Augen: Beginnend mit dem gedoppelten Blick auf die zwei Seiten des Unglücks verbindet der Chor das schon eingetretene Unheil mit der virulenten Aussicht auf die Ankunft des Herakles. Thematisiert ist so die umfassende Katastrophe, die zugleich das Auseinanderbrechen des chorischen Bezugsrahmens darstellt: War die wechselseitige Beleuchtung der beiden Pole der Handlung - Deianeira und Herakles - ein konstituierendes Moment der chorischen Reflexionen, so ist nach Deianeiras Tod ein Bezugspunkt dieser Konstruktion fortgefallen. Die Konzentration auf den verbliebenen Anhaltspunkt, d. h. auf Herakles, seine An‐ kunft und den Anblick, den er bietet, ist in dieser Hinsicht konsequent und dramaturgisch von hoher Funktionalität. War der gedoppelte Blick auf die beiden Handlungsträger grundlegendes Strukturmoment verschiedener chori‐ scher Partien, die in Form eines Panoramas eine umfassende Deutung der je‐ weiligen Situation geben wollten, so wird dieses Moment zwar zu Beginn des vorliegenden Stasimons zitiert, dann allerdings durch die eskapistische Phan‐ tasie der zweiten Strophe konterkariert. Der Chor versteht sich zwar erneut als Hinschauender; statt aber ein imaginäres Panorama der Situation zu entwerfen, sucht er den Blick, mehr noch: seine eigene Präsenz abzuwenden - nur um in der zweiten Gegenstrophe von der Realität eingeholt zu werden. Es ergibt sich so die Abfolge: gedoppelter Blick - Eskapismus - schlagartige Rückführung in die dramatische Realität. In seiner Wendung weg von der mittlerweile in ihrem ganzen Ausmaß vor Augen liegenden Katastrophe unterwandert so das Lied eine mögliche formale Erwartung. Zugleich macht es deutlich, wie der Chor am Wissen um die Katastrophe, ja, am Blick auf das Geschehen scheitert. Sympto‐ matisch für die Pervertierung, die das Blickmotiv in unserem Standlied erfährt, ist dabei die in der zweiten Strophe bekundete Furcht der trachinischen Frauen, sie könnten beim Anblick des Helden (εἰσιδοῦσʼ v. 957) vor Angst sterben: Das bisher zentrale Strukturmoment chorischer Partien ist an unserer Stelle völlig umgedeutet worden und dient nunmehr der indirekten Ausleuchtung der Ka‐ tastrophe. Nachdem die beiden Handlungsebenen in einer zeitlich und räumlich veror‐ teten Katastrophe zusammengefallen sind, ist also die unmittelbar bevorste‐ hende Bühnenhandlung das beherrschende Moment des Liedes. Dabei ver‐ drängt, wie schon gesagt, die Ahnung des ἄσπετον θέαμα die eskapistische Phantasie des Wunsches zu Beginn der zweiten Strophe. Damit ist zugleich eine ausgreifende, von der dramatischen Realität wegführende Reflexion oder Ima‐ gination wie im bildreichen Rückblick des ersten Stasimons unterbunden; das Lied konzentriert sich von diesem Punkt an ganz auf die bevorstehenden Ereig‐ nisse. Die an einigen Stellen der chorischen Partien mehr oder minder drän‐ II. Frauenchöre 334 <?page no="335"?> 153 Schon das Hoffnungsmotiv in der Parodos (v. 125, 136) deutete die Wunsch- und Zu‐ kunftsorientiertheit an; ausgeprägt begegnet sie im zweiten Stasimon, das ganz konkret die Ankunft des Helden ersehnte und eine mögliche Rückkehrszenerie entwarf. genden Blicke in eine ersehnte oder unmittelbar vorausliegende dramatische Zukunft, 153 konkret: das Erscheinen des Helden, haben an unserer Stelle ihre brisanteste Ausgestaltung und Erfüllung gefunden. Mit dem im Lied umge‐ setzten schrittweisen Herannahen des Zuges um Herakles und dessen Auftritt ist die vom Beginn der Tragödie an virulente Spannung zu ihrem Ende ge‐ kommen. Indem dabei die gesamte zweite Gegenstrophe dem bevorstehenden Auftritt und seinen Begleitphänomenen gewidmet ist, gibt das Lied einen kurzen, aber umso präziseren Blick auf das hinterszenische, liminale Geschehen, das die Schwelle zur Bühne zu überschreiten im Begriff ist. Formal konstruiert Sophokles das visuelle Hereinbrechen dieses zweiten Teils der umfassenden Katastrophe ähnlich wie das Eintreffen der Todesnachricht in Vers 863 ff., allerdings mit entscheidenden Unterschieden. In beiden Fällen geht dem Fortgang der Bühnenhandlung durch den Auftritt eines Akteurs ein Sta‐ simon voraus, das geradezu in die folgende Szene übergeht. War allerdings im Anschluss an das dritte Stasimon ein unvorhergesehener hinterszenischer Ruf, der den Chor selbst überraschte, unmittelbarer Impuls des Handlungsfort‐ schritts, so inszeniert hier das Standlied selbst den Auftritt der Akteure und wird zum wirkungsvollen und offensichtlichen Präludium einer entscheidenden Szene. Der zweite gravierende Unterschied ist die Beteiligung des Chors in der sich anschließenden Szene: Hatte die Amme gerade im Wechselgespräch den trachinischen Frauen Deianeiras Tod verkündet, so verstummt der Chor an un‐ serer Stelle nach dem vierten Standlied zunächst völlig. Sowohl der anapästi‐ schen Auftrittspartie (v. 971-1003) als auch dem lyrischen Austausch (v. 1004-1044) folgt der Chor ohne eigene Wortmeldung, bis eine Bemerkung über den persönlichen Eindruck, den die Worte des Herakles hinterlassen haben, das Wechselgespräch abschließt (v. 1044 f.). Aber nicht nur der Beginn der Ammenszene ist an der vorliegenden Stelle gespiegelt. Eine gewisse Ähnlichkeit in der Bühnenwirkung lässt ebenso den Auftritt der Kriegsgefangenen aus dem ersten Epeisodion anklingen. Auch dort war mit einem Lied des Chors die Ankunft des Zuges mitsamt Lichas und Iole angekündigt worden. Dabei hatte sich die überschäumend hoffnungsvolle Er‐ wartung in einer Aufforderung zum Jubel und dem völligen Aufgehen in Tanz und Ekstase ausgeprägt; das Herannahen des Zuges in Vers 229 war dabei durch eine Aufforderung an Deianeira (v. 222) und deren Antwort (v. 225) verbalisiert worden. 1. Trachinierinnen 335 <?page no="336"?> 154 Vgl. E A S T E R L I N G s (1982) Einschätzung S. 193: „The main function of this brief ode is to maintain tension at a high pitch“. Machen wir uns abschließend bewusst: Das Stasimon füllt einen in höchstem Maße mit dramatischer Spannung aufgeladenen Moment, rekapituliert und spiegelt in seiner Motivik und formalen Komposition andere wichtige Szenen der Tragödie und bildet die letzte ausführliche Stellungnahme des Chors zum Bühnengeschehen. Seine Stoßrichtung ist dabei ganz auf den Fortgang der Handlung gerichtet, es fügt sich als Übergangslied im besten Sinn völlig in den Ablauf der Geschehnisse ein. Das Eingeholt-Werden durch die unmittelbar be‐ vorstehende Zukunft lässt dabei innerhalb der Situation keine reflektierende Pause aufkommen. 154 Mit dem Auftritt des Herakles hat am Ende des Stasimons die Präsenz des Chors an dramaturgischer Bedeutung verloren. Rufen wir uns ins Gedächtnis, dass der Chor mit dem Abtritt der Personen in Vers 821 zum maßgeblichen Träger der Bühnenhandlung wurde: In den sich anschließenden Partien (Ammen- und Hyllosszene) kam ihm die prominente Rolle zu, die Nachrichten vom Fortgang der Handlung entgegenzunehmen und emotional auszuleuchten. Das personelle Vakuum zwischen Deianeiras Abtritt / Tod und dem Auftritt des Herakles füllte der Chor als fester Bezugspunkt. Mit der konkreten Visualisie‐ rung der Herakles-Handlung vor den Augen der Zuschauer tritt der Held darauf selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit; die Überleitung zu diesem grundle‐ genden Wechsel in der Struktur von Personen, Präsenz und dramatischer Auf‐ merksamkeit leistet das vorliegende Stasimon in herausragender Weise. Greifbar wurde dieser Wechsel der Perspektive im Besonderen in der Umdeu‐ tung des zentralen Strukturmoments durch den Einschub der eskapistischen zweiten Strophe, der das weitestgehende Verstummen des Chors im abschlie‐ ßenden Abschnitt der Tragödie einleitete. Wechselgesang und Exodos (v. 971 - 1278) Wir können die ausführliche Schlusspartie der Tragödie unter unseren Ge‐ sichtspunkten kurz behandeln, da der Chor - wie schon angesprochen - bereits mit dem vierten Standlied seine letzte ausführliche (lyrische) Äußerung getätigt hat. Nur an zwei Stellen (und u. U. am Ende des Stückes - zur Diskussion über die Sprecherzuteilung der Verse 1275 ff. siehe unten) werden sich die trachini‐ schen Frauen bzw. die Chorführerin kurz in den Gang der Gespräche ein‐ schalten. In beiden Fällen (v. 1044 f. sowie 1112) fungieren die Äußerungen al‐ lerdings nicht als wirklicher Gesprächsbeitrag. Während an der ersten Stelle die Chorführerin ihr Erschauern (ἔφριξα) angesichts der Worte des Herakles be‐ II. Frauenchöre 336 <?page no="337"?> 155 Vgl. die Schlusspartien der anderen Tragödien unseres Dichters, im Besonderen die des Aias. 156 Vgl. B U R T O N (1980) S. 79: „With Deianeira dead, the chorusʼs task is done. They take no part in the anapaests or the lyrics which open the final scene. It would be inappropriate for these young girls to do so, overwhelmed as they are by her death and the sight of Heracles“. kundet und sich dabei dezidiert an die anderen Frauen des Chors wendet (vgl. den Vokativ φίλαι), ist die zweite Äußerung ein Anruf an das unglückliche Griechenland (ὦ τλῆμον Ἑλλάς), das mit dem Tod des Herakles einen schweren Verlust erleiden wird. Die Akteure Herakles und Hyllos scheinen von diesen Einwürfen keine Notiz zu nehmen und setzen ihr Gespräch bzw. ihren Monolog fort, ohne auf die Äußerungen des Chors zu reagieren. Die eminente dramatische Einbindung des Chors in den vorangegangenen Szenen ist also auf ein Mindestmaß zurückgefahren: War die Bühnenpräsenz der trachinischen Frauen von Vers 821 bis 970 das konstituierende Moment der Handlung, so sind die Äußerungen des Chors während der Schlussszene nicht mehr als ein Randphänomen. Dass diese Zurückhaltung nicht nur einem dra‐ matischen Usus der Tragödie im Allgemeinen 155 und dem Rollentypus des Chors in unserem Stück entspricht, 156 sondern auch eine dramaturgische Ursache und Funktion besitzt, ergibt sich aus dem zuvor Gesagten: Der Chor hat nach dem Tod Deianeiras nicht nur die Möglichkeit zum typischen gedoppelten Blick auf beide Pole der Handlung sowie seine wichtigste Bezugsperson verloren, sondern mit dem Auftritt des Herakles zugleich seine dramatische Relevanz eingebüßt. Die ausstehende Partie der Tragödie inszeniert unter Anwesenheit der zentralen Person mit dem Gespräch zwischen Hyllos und Herakles eine familiäre, gera‐ dezu intime Unterredung; Fokussierung und Ausleuchtung durch den Chor wie in den vorangegangenen Stasima sind dabei nicht nötig, da Herakles selbst auf der Bühne steht und sowohl im Wechselgesang (v. 983-1042) wie auch dem sich anschließenden Monolog (v. 1046-1112) umfangreich zu seiner Lage Stellung nimmt. Die je im Anschluss an eine dieser Äußerungen positionierten kurzen Kommentare der trachinischen Frauen machen dabei deutlich: Der Chor ist durch die Bühnenpräsenz des Helden an den Rand gedrängt, als ein relevanter Akteur im Geschehen diente er nur bis zum endgültigen Übergang der Deia‐ neira-Handlung in die Herakles-Handlung. Dass sich der anapästische und schließlich lyrische Austausch der Personen in den Versen 971-1042 ganz ohne die Beteiligung des Chors vollzieht, ist sicher ein Spiel mit formellen Erwartungen. Gerade diese Komposition hebt den Kommos allerdings bewusst hervor und grenzt ihn von der lyrischen Partie der Verse 863-895 ab: Die Information über einen Sachverhalt durch einen Augen‐ 1. Trachinierinnen 337 <?page no="338"?> 157 Vgl die Problematik S. 440 f. 158 Vgl. dazu das Scholion zu v. 1275-8 χορός. τινες Ὕλλος. (zitiert nach: X E N I S (2010). Scholia vetera in Sophoclis Trachinias, Berlin und New York, S. 257). 159 In ihrem Kommentar nennt E A S T E R L I N G (1982) S. 231 die Stelle: „a notorious crux“. 160 Vgl. dazu K R A U S (1986). „Bemerkungen zum Text und Sinn in den ‚Trachinierinnen‘“ in: Wiener Studien 99 / 20 (1986), S. 87-108, S. 103: „Die meisten Neueren [sc. Heraus‐ geber] geben die Verse der Chorsprecherin, zweifellos mit Recht, allein schon deshalb, weil Hyllos unmöglich, nachdem er eben über die ἀγνωμοσύνη der Götter räsoniert hat (1266), emphatisch und mit unbegründeter Ausschließlichkeit […] erklären kann: οὐδὲν τούτων ὅ τι μὴ Ζεύς“. 161 Trotz ihrer Kritik an der Zuteilung der Verse an Hyllos („[…] the final line adds com‐ paratively little to what he has already said“) räumt E A S T E R L I N G (1982) S. 232 ein: „[…] it has point and effectiveness in that at last it actually names Zeus“. zeugen wie in der Ammenszene ist damit der visuellen Darstellung des Faktums durch die unmittelbar Beteiligten selbst gewichen. Der Chor spielt dabei keine Rolle und überlässt die Ausdeutung der Situation ganz den Akteuren. Überblickend lässt sich Folgendes festhalten. Dramaturgisch unterstreicht dieser Verzicht auf eine intensive chorische Präsenz innerhalb des letzten Ab‐ schnitts der Tragödie die intendierte Wirkung. Die Botschaft ist klar: Herakles steht nun ganz und gar im Mittelpunkt der Bühnenhandlung; das personelle Vakuum nach dem Tod Deianeiras ist ausgefüllt. Nach der raschen Folge lyri‐ scher Partien - zwischen dem Wechselgesang im Anschluss an das dritte Stand‐ lied und dem vierten Stasimon liegen gerade einmal 50 (Sprech-)Verse - insze‐ niert die Schlusspartie diesen Sachverhalt ausführlich und rückt mit dem Helden den bis zu diesem Zeitpunkt nicht konkret greifbaren zweiten Pol der Handlung in das Zentrum der Bühnenhandlung. Wie auch im Oidipus Tyrannos 157 ist die Sprecherzuteilung der letzten Verse auch in unserer Tragödie problematisch. Schon in der Antike scheinen die Schluss‐ verse 1275-1278 teils Hyllos, teils dem Chor zugeordnet worden zu sein. 158 Auch die neuesten Ausgaben und Kommentare bieten beide Möglichkeiten: Während P EAR S ON und L LO YD -J ON E S / W IL S ON sowie D AVI E S in seinem Kommentar die in Frage stehenden Verse Hyllos in den Mund legen, lassen E A S T E R LING und D AWE den Chor das Stück beschließen. Die Problematik ist dabei durchaus vielfältig. 159 Es stellen sich (u. a.) folgende Fragen: Kann die Aussage des letzten Verses (1278) mit den vorherigen Äuße‐ rungen des Hyllos in Einklang gebracht werden? 160 Würde Hyllos mit diesen Worten etwas Wesentliches aussagen oder sich nur wiederholen bzw. sogar wi‐ dersprechen? 161 Andererseits: Wenn die Verse der Chorführerin zugeteilt wer‐ den, wer ist dann angesprochen? Könnte der gesamte Chor mit der nachdrück‐ lich im Singular formulierten Junktur σύ, παρθένʼ (v. 1275) angeredet werden? II. Frauenchöre 338 <?page no="339"?> 162 Vgl. B U R T O N (1980) S. 79 ff. 163 Vgl. B U R T O N (1980) zu dieser Annahme („This suggestion has been described as a fantasy not to be taken seriously. On the contrary, it has much to commend it“) sowie seine weiteren Ausführungen S. 81 f. Oder ist es möglich, dass Iole als Adressatin vorschwebt - ist sie vielleicht sogar bei der Formierung des Zuges um Herakles aufgetreten und damit tatsächlich präsent? Wie wäre mit einer solchen Wendung an Iole allerdings der Auszug des Chors selbst motiviert, der mit dem Ende der Tragödie einhergeht? An eine umfangreiche Diskussion und Klärung dieser Schwierigkeiten ist hier nicht zu denken. Mit einigem Recht wird man sich jedoch den durchaus über‐ zeugenden Argumenten von K RANZ und B U R TON 162 anschließen und zum Er‐ gebnis kommen, dass die das Drama abschließenden Verse mit gewisser Wahr‐ scheinlichkeit von der Chorführerin gesprochen wurden. Die prominente Nennung des Göttervaters am Ende des Stücks fügt sich zudem in den gedank‐ lichen Horizont der chorischen Reflexion ein: So hatte die Parodos nicht nur mit einem Verweis auf die Macht des Zeus und seine Gewalt über das menschliche Schicksal geschlossen, sondern zudem die besondere Fürsorge des Gottes ge‐ genüber seinen Kindern, d. h. Herakles, in Aussicht gestellt (v. 126-140). Mit dem Verweis auf diese Passage klärt sich der zunächst vielleicht rätselhafte oder kontextlose letzte Vers der Tragödie endgültig: Gerade das Auf und Ab des hier vor Augen getretenen (Doppel-)Schicksals von Deianeira und ihrem Mann ist für den Chor ein Ausweis göttlichen Wirkens; die gnomische Feststellung aus Vers 129 f. hat sich damit in ihrer Funktion als dramatische Vorankündigung erfüllt und wird an unserer Stelle letztgültig beantwortet. Mit dem vorliegenden Vers 1278 wäre damit ein Rückbezug geleistet, der die chorischen Äußerungen der Tragödie in besonderer Weise abschließt. Rufen wir uns dabei in Erinnerung, dass der Chor in regelmäßigen Wiederholungen gerade die göttliche Abstam‐ mung des Haupthelden unter der Nennung seines Vaters betonte (v. 513, 644, 826), so kann man mit einiger Vorsicht formulieren: Der vorliegende Schlussvers konstatiert im Sinne der Parodos das Wirken und die Präsenz des Zeus in der entfalteten Handlung und führt damit - zumindest subtil - einen motivischen Faden zu seinem Ende. Dass bei diesen letzten Worten Iole (ob mittlerweile aufgetreten oder hinter der Bühne verblieben, spielt dabei keine Rolle) angesprochen wird, 163 ist eine zwar letztlich nicht zu verifizierende, aber durchaus denkbare - und gerade im Fall ihrer Präsenz - bühnenwirksame Option. Mit der letzten Äußerung (des Chors), konkret: mit dem letzten Vers, ist das Drama unter dem Blick auf die konkrete Situation (ἰδοῦσα μεγάλους νέους θανάτους) und dem Verweis auf Macht und Präsenz des Göttervaters zu einem 1. Trachinierinnen 339 <?page no="340"?> Abschluss gekommen, dessen dramatisch-motivische Einbindung in das Hand‐ lungsgeschehen signifikant ist. Das Stück endet mit der Formierung des Zuges zum Berg Oita, wobei die letzten Worte einen finalen Blick auf die zurückblei‐ bende Szenerie werfen und das Geschehen schlaglichtartig einzuordnen versu‐ chen. Zusammenfassung 1. Zunächst soll Folgendes zur Einbindung der chorischen dramatis persona in das Stück festgehalten werden (Spektrum I). Bezugsperson des Chors ist von Beginn des Stücks an Deianeira. Das Verhältnis zwischen den trachinischen Frauen und der Hauptheldin ist dabei durch eine besondere emotionale Bindung geprägt: Zwar sind die Frauen nicht direkt mit Deianeira verwandt, von ihr abhängig oder hinsichtlich Herkunft oder Stand mit ihr verbunden; dennoch bringen sie ihr (in der ersten Hälfte des Stücks) besondere Sympathie entgegen, nehmen Anteil an ihrem Seelenleben und bilden vor allem in den ersten beiden chorischen Partien (Parodos und Lied im ersten Stasimon) den Resonanzboden ihrer Emotionalität. Mit dem Wendepunkt der Tragödie und Deianeiras Verstrickung in das Schicksal ihres Mannes wird dieses Verhältnis der besonderen emotionalen Bin‐ dung gestört: Zu einem direkten Austausch kommt es in Folge von Deianeiras stillem Abgang (v. 812) nicht mehr; der Blick auf sie im folgenden Stasimon (v. 841 ff.) ist dabei von gewissem Mitleid geprägt, verschweigt allerdings Deia‐ neiras Verantwortung für das eingetretene Unheil nicht. Zudem bildet die Ima‐ gination der vermeintlichen hinterszenischen Aktion Deianeiras durch den Chor dabei nicht die Realität ab, sondern konterkariert das tatsächliche Ge‐ schehen. Zu Herakles haben die trachinischen Frauen darüber hinaus kein direktes Verhältnis: Zwar ist er ein thematischer Zentralpunkt der chorischen Reflexion (siehe Punkt 2), ein direkter Austausch zwischen ihm und dem Chor findet al‐ lerdings während des gesamten Stücks nicht statt. Kennzeichnend hierfür ist das Schweigen des Chors nach dem vierten Stasimon, wodurch auch die enge emotionale Bindung zu Deianeira aus der Retrospektive eine nachträgliche Be‐ tonung erfährt. 2. Konstituierend für die chorischen Partien, im Besonderen für die Parodos und die Stasima, ist der Blick des Chors auf die beiden zentralen Figuren der Hand‐ lung, die zugleich deren maßgebliche Pole darstellen. Dabei sind der grundle‐ gende Habitus, die Emotionen und Handlungen der beiden Akteure bzw. die durch sie ins Werk gesetzten Tatsachen und ihre Folgen Hauptgegenstand der II. Frauenchöre 340 <?page no="341"?> Reflexion und Ausleuchtung. Wie gezeigt wurde, versteht sich der Chor an ent‐ scheidenden Stellen dezidiert als Betrachter der Situation (vgl. v. a. die Motivik des Sehens und Erscheinens), der allerdings in besonderer Weise in das Ge‐ schehen involviert ist. Die Bezugnahme auf eine oder beide Zentralfiguren bildet dementsprechend in der Regel die thematische Mitte der chorischen Partien, auf die die Konstruk‐ tion der einzelnen Lieder hinausläuft. Gerade der wechselseitige Blick auf Dei‐ aneira und Herakles stellt dabei das generelle Panorama der Reflexion dar und wird so zum der Handlung selbst entspringenden Bezugsrahmen der chorischen Äußerungen. Die Parodos mit ihrem alternierenden Wechsel der Blickrichtung entfaltet in dieser Hinsicht gleich mit dem Auftritt des Chors dessen umfassende Programmatik, während das letzte (vierte) Stasimon mit seinem ersten Stro‐ phenpaar das Ineinanderfallen der beiden Handlungsstränge und damit das Ende dieses etablierten Reflexionssystems inszeniert. Zwischen diesen beiden Eckpunkten entfalten die Lieder ein räumlich wie zeitlich ausgefächertes Pan‐ optikum, in dem die beiden Zentralfiguren und deren Beziehung zueinander unter verschiedenen Vorzeichen auf der Basis der jeweils bis zu diesem Punkt entwickelten Handlung thematisiert werden. Was ist mit dieser speziellen Konstruktion des chorischen Bezugsrahmens dramaturgisch erreicht? Die Lieder des Chors fokussieren den Blick immer wieder auf das der Handlung zu Grunde liegende Personenverhältnis; sie rei‐ chern so das Bühnengeschehen nicht nur mit Charakterzeichnungen, Rück- und Vorausblicken an, sondern deuten zugleich die Handlung selbst und konzent‐ rieren die Aufmerksamkeit auf die konkrete Szenerie oder einen eng mit dieser verbundenen Handlungsraum. Selbst das als Rückblick gestaltete erste Stasimon sowie die Zukunftsaussicht des zweiten Standliedes erschöpfen sich nicht in ihrer (zum Teil komplexen) Verwebung von Vergangenheit und Zukunft, son‐ dern haben immer einen besonders starken Bezug zur dramatischen Gegenwart, die sie damit ausdeuten. Der Chor ist dementsprechend nicht nur auf Grund seiner Rolle und der persönlichen Verbindung zu Deianeira (vgl. die gerade in der Parodos ausgedrückte Fürsorge) im Geschehen präsent, sondern reflektiert unentwegt über den Kern des Stücks, d. h. Deianeira, Herakles und ihr Verhältnis zueinander, ist also auch motivisch und thematisch am Pulsschlag der Handlung. 3. Die personelle Bipolarität der Handlung bringt in der Struktur des Dramas eine Zweiteilung der dramatischen Lokalität mit sich: So spielt sich das Ge‐ schehen bis zum Auftritt des Herakles sowohl vorderszenisch bzw. im Nahbe‐ reich um den unmittelbaren Bühnenort, d. h. im Bereich Deianeiras, als auch hinterszenisch in der Sphäre um Herakles ab. Die Verwebung dieser beiden Lo‐ kale leisten im Besonderen die Berichte von Lichas, dem Boten und Hyllos, sowie 1. Trachinierinnen 341 <?page no="342"?> die unter besonderer Ausgestaltung komponierten Ankunfts- und Abgangs‐ szenen (die Aussendung des Hyllos im Prolog sowie des Lichas mit dem Ge‐ schenk Deianeiras an ihren Mann, der Zug der Kriegsgefangenen im ersten Epeisodion, Heraklesʼ Auftreten im Anschluss an das vierte Stasimon sowie schließlich unter geänderten Vorzeichen die eigentliche Exodos als Formierung des Zuges zum Berg Oita). Diese dynamischen, vom Kommen und Gehen der Akteure bestimmten Partien des Dramas rufen die zweite Ebene der Handlung in Erinnerung, erlauben die Einblendung der hinterszenischen Aktivitäten und markieren jeweils einen - zumindest durch die Akteure selbst intendierten - Handlungsfortschritt bzw. eine Wende im Ablauf der Geschehnisse. Der wir‐ kungsvoll, d. h. unter Einsatz effektvoller Mittel wie dem Aufgebot größerer Gruppen an Statisten oder der emotional-detailreichen Schilderung in Boten‐ berichten inszenierte Austausch zwischen den beiden Lokalen der Handlung ist für unsere Tragödie konstituierend. In der dramatischen Liminalität dieser Szenen wird so die grundlegende Struktur des Stücks in bühnenwirksame Bilder und Aktionen umgesetzt. Der Chor ist in besonderer Weise an der Ausgestaltung dieses Strukturmo‐ ments beteiligt. Drei Szenen fallen dabei durch ihre spezielle Gestaltung und den bewussten Einsatz chorlyrischer Partien ins Auge: das Eintreffen des Lichas mitsamt den Kriegsgefangenen im ersten Epeisodion, der Auftritt der Amme nach dem dritten Standlied sowie die Einleitung der finalen Szene im Anschluss an das vierte Stasimon. Sophokles macht diese für den Verlauf des Dramas ent‐ scheidenden Stellen zu besonderen Höhepunkten innerhalb des dramatischen Ablaufs, indem er in spezifischer Weise dem Chor eine bedeutende Rolle zuweist. So inszeniert das Lied innerhalb des ersten Epeisodions (v. 205-224) die aus‐ ufernde Freude auf Grund der eingetroffenen Nachricht und lenkt den Blick buchstäblich auf die eintreffenden Personen. Das astrophische, spontane Tanz‐ lied kanalisiert dabei die virulente Spannung und ekstatische Emotionalität der Szene in eine ungewohnte und daher umso effektvollere Form chorischer Prä‐ senz. Während allerdings an dieser Stelle Deianeira noch eine entscheidende Rolle zukommt und sie die Fäden des Geschehens gewissermaßen in der Hand hält - schließlich singt der Chor sein Lied auf ihre Weisung hin, und sie tritt nach Beendigung des Liedes in ein Gespräch mit Lichas ein -, ist in den beiden an‐ deren Passagen der Chor selbst von bestimmender Bühnenpräsenz und füllt dabei, wie schon gesehen, das personelle Vakuum zwischen Deianeiras Abtritt und Heraklesʼ Ankunft. Der Information durch die Amme und der Reaktion der trachinischen Frauen auf den Tod der Protagonistin kommt in diesem Abschnitt entscheidende Bedeutung zu, was sich in der herausgehobenen Komposition der II. Frauenchöre 342 <?page no="343"?> 164 Eine formal ähnliche Konstruktion bietet die Kulminationsszene der Elektra (v. 1384-1441), in der sich aus dem dritten Standlied durch den Auftritt der Protagonistin ein Wechselgesang entwickelt, der die hinterszenische Aktion in Echtzeit abbildet. Auch im Aias entwickelt sich aus der zweiten Parodos (v. 866-890) ein Kommos mit Tekmessa, der die Auffindung der Leiche des Protagonisten als entscheidenden Zentralpunkt der Tragödie inszeniert. 165 Diese Aufgabe, über hinterszenisches (teilweise vergangenes) Geschehen (vorgeblich) objektiv zu informieren, erfüllen die bereits in der Vorbemerkung erwähnten zahlrei‐ chen Berichte, die sowohl Lichas als auch dem Boten zukommen. Partie widerspiegelt: Die liminale Szene - eingeleitet durch den hinterszeni‐ schen Schrei Vers 863 - stellt den einzigen Austausch zwischen einem Akteur und dem Chor in lyrischer Form dar. Dass dabei der Wechselgesang aus dem Stasimon hervorgeht, ist ein besonderer Ausweis der massiven chorischen Prä‐ senz: Der eben noch reflektierende Chor wird plötzlich und zu seiner eigenen Überraschung mitten in die Handlung hineingenommen und mit dem Ge‐ schehen in einer Weise konfrontiert, die eine äußerst emotionale Reaktion er‐ fordert. Diese Komposition des aus einem Lied hervorgehenden Wechselgesangs hebt - wie auch in anderen Tragödien 164 - eine wichtige Gelenkszene der Hand‐ lung in besonders drastischer und dynamischer Weise hervor. Indem schließlich das vierte Stasimon (v. 947-970) den Auftakt zum nachfol‐ genden Wechselgesang mitsamt der ersten Äußerung des Herakles (v. 983) dar‐ stellt, ist die Struktur der übergreifenden Formteile erneut evoziert, allerdings durch das anschließende Schweigen des Chors wesentlich verändert. Darüber hinaus fällt es im Besonderen den Chorpartien zu, die Gestalt des He‐ rakles und sein (vermeintliches bzw. unmittelbar bevorstehendes) hinterszeni‐ sches Handeln teilweise bildgewaltig zu visualisieren (Spektrum II ). Bereits die Parodos thematisiert sein gefährliches und unstetes Leben im Bild des vom Wind gepeitschten Meers (v. 112 ff.), das zweite Stasimon visualisiert den momentanen Aufenthaltsort des Helden (v. 657 ff.) sowie seinen stürmischen Aufbruch (v. 644 ff.), das dritte Stasimon entfaltet ein besonders eindrückliches Bild der den Helden quälenden Schmerzen (v. 831 ff.), das vierte Stasimon schließlich nimmt die Konfrontation mit dem herannahenden, mit dem Tod kämpfenden Helden vorweg; ihre Visualisierung bezieht sich dabei zunächst auf Hinterszenisches, bevor sie mit der Ankunft des Zuges um Herakles schrittweise in eine Ausdeu‐ tung des auch den Zuschauern sichtbaren Bühnengeschehens übergeht (v. 965 ff.). Dabei erhebt die chorische Ausleuchtung der Geschehnisse um Herakles sowie seiner Person freilich nicht den Anspruch, objektive Abbildung der in Rede stehenden Gegebenheiten zu sein. 165 Der Blick des Chors auf Herakles ist 1. Trachinierinnen 343 <?page no="344"?> vielmehr vom besonderen Interesse der trachinischen Frauen geleitet. Ausge‐ hend von Deianeiras Sorgen steht für sie von Beginn der Tragödie an die glück‐ liche Zusammenführung von Deianeira und Herakles im Mittelpunkt. Anders gesagt: Herakles ist dem Chor (zumindest im ersten Teil der Tragödie bis zum Wendepunkt) nicht um seiner selbst willen, sondern immer in Beziehung zu Deianeira und deren vom Chor in gewissem Umfang geteilten Gefühlswelt Ge‐ genstand der Reflexion. Die Visualisierung und Einblendung von Person und Handlungen des Herakles als der zweiten Handlungsebene sind so im Wesent‐ lichen emotional geleitet; mehr noch: Herakles ist innerhalb der chorischen Re‐ flexion des ersten Teils der Tragödie eine besondere Projektionsfläche, auf der der Wunsch nach Vereinigung der beiden Ehepartner und die Hoffnung auf göttliche Fürsorge besonders plastisch ausgestaltet werden können. Dieser so gearteten Thematisierung der hinterszenischen Geschehnisse in den Chorpar‐ tien kommt angesichts der Bipolarität der Tragödie eine besonders wichtige Funktion zu: Erst die durch den Chor geleistete Visualisierung der zweiten Handlungsebene verleiht der Gestalt des Herakles volle Plastizität und stellt sie Deianeira an die Seite. Bereits vor dem Auftritt des Haupthelden ist seine Gestalt so in vielfältiger Weise ausgeleuchtet. Als Projektionsfläche der chorischen Re‐ flexion dient sie im ersten Teil der Tragödie als imaginierter / visualisierter Ge‐ genpol zur anwesenden, d. h. greifbaren Deianeira und fungiert als personifi‐ zierter Träger der chorischen Erwartungshaltung. Mit Deianeiras endgültigem Abtritt, d. h. ihrem Verschwinden aus der vorderszenischen Handlungssphäre und schließlich aus dem Geschehen selbst, rückt daraufhin die reale, d. h. von Erwartungshaltungen befreite Gestalt des mittlerweile leidenden Herakles in den Vordergrund der Reflexion. War dabei im ersten Teil der Tragödie die An‐ kunft des Haupthelden für den Chor ein wünschenswertes, von ihm herbeige‐ sehntes Ereignis, so visualisiert das dritte Stasimon in der Beschreibung von Heraklesʼ Qualen zunächst eine besonders schauderhafte hinterszenische Rea‐ lität, bevor das vierte Stasimon vor Augen führt, dass Heraklesʼ tatsächliche Präsenz für den Chor unerträglich geworden ist. Zusammengefasst lässt sich sagen: Die emotionale Visualisierung der zweiten (hinterszenischen) Sphäre der Handlung sowie der Gestalt des Herakles ist we‐ sentliches Merkmal der chorischen Reflexion; durch sie wird der Hauptheld im ersten Teil des Stücks als Gegenpol zu Deianeira in spezifischer Weise ausge‐ leuchtet, wohingegen seine zunächst erwünschte Präsenz ab dem dritten Sta‐ simon eine Umdeutung erfährt. Die für die chorischen Partien wesentliche Vi‐ sualisierung mündet in direkte Konfrontation mit der als unerträglich empfundenen drastischen Bühnenrealität. II. Frauenchöre 344 <?page no="345"?> 166 Eine explizite Auflistung der thematisch-motivischen Bezüge soll hier nicht erfolgen, da sie bereits ad locum, d. h. in der Interpretation der entsprechenden Chorpartien ge‐ geben wurde. 4. Untereinander stehen die Chorpartien in einem besonders komplexen Ver‐ hältnis von Bezugnahmen, Spiegelungen und motivisch-thematischen Beant‐ wortungen, dem eine diffizile Verortung der reflektierten Momente in den ver‐ schiedenen Zeitebenen einbeschrieben ist. Dabei lassen sich, grob gesagt, zwei Stoßrichtungen unterscheiden, denen je drei rein chorische Partien zugeordnet werden können. 166 Zunächst kommt dem astrophischen Lied im ersten Epeis‐ odion sowie dem zweiten Stasimon zu, die (vordergründig) zuversichtliche Grundhaltung der Parodos zu konkretisieren und die dramatische Gegenwart (astrophisches Lied) bzw. die unmittelbar bevorstehende Zukunft (zweites Sta‐ simon) als besonders günstig auszuleuchten. Das erste Stasimon mit seinem Blick in die Vorgeschichte der Handlung findet seine Beantwortung dagegen im dritten Standlied, das durch die Wiederauf‐ nahme der Kypris-Thematik die imaginierte bzw. visualisierte, weil hintersze‐ nische Situation der Haupthelden in Beziehung zur Vergangenheit setzt. Rück‐ blickend deutet das Wissen um den katastrophalen Ausgang die im ersten Stasimon referierte Episode der Vorgeschichte als programmatisches Ereignis. Das vierte Stasimon schließlich präludiert die Konfrontation mit den visuellen Folgen der Katastrophe und orchestriert (im Besonderen in der zweiten Gegen‐ strophe) die aktuelle Gegenwart des Geschehens. 5. Neben der gezielten Blicklenkung auf beide Protagonisten und damit der Fo‐ kussierung auf die der Handlung zu Grunde liegende Personenkonstellation kommt es der chorischen Reflexion auch zu, das Geschehen in einem größeren Deutungsrahmen zu verorten (Spektrum III ). Drei Partien erfüllen im Beson‐ deren kontextualisierende Funktionen: So etabliert bereits die Parodos das Motiv des ständigen Wechsels als einer Grundkonstante des menschlichen Le‐ bens (v. 129 ff.) und versucht dabei, die momentane Lage Deianeiras aus einem weiteren Blickwinkel zu betrachten. Von besonderem Gewicht ist darüber hinaus das Paar von erstem und drittem Stasimon, die zusammengenommen eine Verortung des aktuellen Bühnenge‐ schehens auf Basis der Vergangenheit sowie eine grundlegende Einsicht in die das Geschehen prägenden Motive geben. Mit dem Einfluss der Liebesgöttin (v. 497 ff. und 860 f.) sowie der Verwirklichung des Orakels (v. 821 ff.) ist dabei der unmittelbare Deutungsrahmen der Handlung umrissen. Diese kontextualisierende Ausdeutung des Chors ist dabei allerdings beson‐ ders zurückhaltend und punktuell: Die drei zur Kontextualisierung genutzten, 1. Trachinierinnen 345 <?page no="346"?> 167 Anders z. B. die Theben-Delphi-Thematik bzw. die Apoll-Thematik des Oidipus Ty‐ rannos, der leitmotivischer Charakter zukommt. den Deutungsrahmen aufspannenden Themenfelder (Wandelbarkeit des Schicksals, Kypris, Orakel) sind jeweils in visualisierenden bzw. imaginativen Partien verankert und erhalten kein wirkliches Eigengewicht, d. h. sie prägen den Blick des Chors nicht in der Weise, dass von ihnen als die chorische Per‐ spektive wesentlich bestimmenden Leitmotiven gesprochen werden könnte. 167 Anders gesagt: Die in Rede stehenden Chorpartien entfalten ihre kontextuali‐ sierende Funktion auf der Basis einer visualisierenden bzw. imaginierenden Ausleuchtung konkreter Situationen der Vorgeschichte bzw. der dramatischen Gegenwart. Neben dem äußerst allgemeinen Topos der Wandelbarkeit des menschlichen Schicksals sind die beiden anderen, das Geschehen ausdeutenden Thematiken dabei aus der Handlung selbst geschöpft und nicht aus abstrakter Spekulation gewonnen. Die Thematisierung des Phänomens „Liebe“ im ersten und dritten Standlied versteht sich darüber hinaus als Verarbeitung eines in der vorangegangenen Szene prominenten Motivs und als chorische Antwort auf das dramatische Geschehen. Die deutenden und kontextualisierenden Reflexionen treten so nicht von außen an den Lauf der Handlung heran, sondern sind ganz aus dem Fortgang der Aktion selbst motiviert. Kurz gefasst lässt sich festhalten: Die weitestgehend auf den Kern der Handlung, d. h. die beiden Protagonisten fokussierenden Chorpartien entwickeln in Teilen ihrer thematischen Arbeit einen Deutungsrahmen, der zentrale Momente der Handlung zueinander in ein Verhältnis setzt und das Geschehen aus sich heraus ausdeutet. Eingewoben in die größtenteils fokussierenden Partien ist eine kon‐ textualisierende Dimension der chorischen Partien, die den Rahmen der eigent‐ lichen Handlung nur geringfügig überschreitet. 2. Elektra Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur Neben Antigone ist vor allem die Hauptheldin der Elektra eine der prägenden Frauengestalten im Werk des Sophokles: Wie Antigone steht auch sie einer für sie untragbaren Situation gegenüber, die auf Grund familiärer Beziehungen be‐ sondere Brisanz beinhaltet. Auch wenn sich einzelne Motive und dramatische Gestaltungskonzepte der beiden Tragödien ähneln, unterscheiden sich beide Stücke gerade hinsichtlich der Chorführung maßgeblich. Dass die Elektra dabei II. Frauenchöre 346 <?page no="347"?> 168 So beschränkt sich P A U L S E N (1989) schon dem Titel gemäß auf die „späten So‐ phokles-Tragödien“, unter denen er neben der Elektra auch den Philoktet und den Oi‐ dipus auf Kolonos versteht. Er rechtfertigt diese Beschränkung auf die seines Erachtens „geschlossene Gruppe“ innerhalb des uns erhaltenen Werks des Dichters in seiner Ein‐ leitung S. 21 f. 169 Vgl. D U G D A L E (2014) S. 1280. Von besonderem Interesse war und ist immer noch die relative Datierung der beiden Elektra-Dramen von Sophokles und Euripides; vgl. dazu im Besonderen V Ö G L E R (1967). das spätere Stück darstellt und generell zum Spätwerk des Dichters zu zählen ist, 168 ist weitestgehend communis opinio; man wird sich trotz der vielfältigen Schwierigkeiten der gängigen, zum größten Teil auf stilistischen Beobach‐ tungen beruhenden Datierung in das vorletzte Jahrzehnt des fünften Jahrhun‐ derts (die 410er Jahre) anschließen. 169 Ihre Aufnahme in die byzantinische Trias (neben Aias und Oidipus Tyrannos) mag als Beweis der Wertschätzung gelten, die man der vorliegenden Tragödie in späterer Zeit entgegenbrachte. Der dem Drama zu Grunde liegende Mythos ist im Wesentlichen bekannt: Agamemnon, König von Mykene, Elektras Vater, war neben seinem Bruder Me‐ nelaos der wichtigste und mächtigste Feldherr der Griechen vor Troia. Um die Abfahrt der Flotte zu ermöglichen, hatte er - einem göttlichen Befehl folgend - zugestimmt, seine eigene Tochter Iphigenie zu opfern. Als er schließlich nach zehn Jahren Belagerung siegreich aus Troia zurückkehrt, hat sich einiges ver‐ ändert: Seine Frau Klytaimnestra hat mit Aigisth ein Verhältnis begonnen, der zugleich auch die Herrschaft über Mykene an sich genommen hat. Den heim‐ kehrenden Ehemann ermordet Klytaimnestra mit Hilfe Aigisths im Bade, nicht zuletzt, weil sie jenem die Tötung der gemeinsamen Tochter vorwirft. Nun kommt Elektra ins Spiel: In weiser Voraussicht lässt sie ihren jüngeren Bruder Orest, den einzigen Sohn von Agamemnon und Klytaimnestra, in Sicherheit bringen. Er, so ihre Hoffnung, solle dereinst den Vater rächen und die gemein‐ same Mutter töten. Unter der Herrschaft Aigisths leidet sie in den kommenden Jahren außerordentlich; ihre ganze Zuversicht liegt dabei auf ihrem Bruder Orest, dessen Ankunft in Theben sie mit einigem Eifer erwartet. Sophokles lässt seine Tragödie mit der Rückkehr Orests beginnen; anstatt allerdings gleich von Beginn an die Rache an der eigenen Mutter in Angriff zu nehmen, bedient Elektras Bruder sich - auch darin einem göttlichen Auftrag folgend - zunächst einer List: Er wird anfangs seinen eigenen Tod melden lassen, um sich inkognito so Zugang zum innersten Personenkreis um Klytaimnestra 2. Elektra 347 <?page no="348"?> 170 Dass darin ein entscheidender Unterschied der sophokleischen Komposition zu den Behandlungen des Mythos durch Aischylos und Euripides besteht, bemerkt Z I M M E R‐ M A N N (2011) S. 578. 171 Wie sehr die Konzeption der Schwester Chrysothemis an die Rolle Ismenes aus der Antigone erinnert, wird die Interpretation am Rande zeigen. 172 Die verschiedene Konzeption der Hauptheldinnen Elektra und Antigone hat so direkten Einfluss auf die Komposition der Tragödie als Ganzer: Während Antigone bereits von Beginn an energisch das von ihr als richtig Erkannte auch gegen Widerstände durch‐ setzt und erst im Angesicht der für sie fatalen Konsequenzen zu klagen beginnt, stellt das Klagen Elektras das wesentliche Moment der ersten Hälfte der Tragödie dar. Auch wenn sich Elektra gedanklich daraufhin zum eigenen Handeln durchringt, erreicht sie dennoch nicht Antigones Entschlossenheit und Selbstständigkeit. Darüber hinaus ist Elektra mit Orest ein zweiter Held an die Seite gegeben, wohingegen Antigone im We‐ sentlichen auf sich gestellt bleibt. verschaffen zu können. Zuschauer und Leser sind so Mitwisser einer besonders perfiden Intrige, deren Wirkung im Besonderen Elektra zu spüren bekommt. 170 Sie sieht sich bereits zu Beginn der Tragödie mit wachsenden Widerständen konfrontiert: Nicht nur der Chor der mykenischen Frauen steht ihrem anhal‐ tenden Klagen zunehmend kritisch gegenüber; auch ihre Schwester Chryso‐ themis mahnt eindringlich zur Mäßigung. 171 Das Verhältnis zwischen Elektra und Klytaimnestra ist zudem von besonderer Feindseligkeit geprägt. Auf die fingierte Todesnachricht reagiert Elektra zunächst mit Erschütterung, ringt sich dann allerdings dazu durch, nötigenfalls selbst aktiv zu werden und die Initiative zu ergreifen. 172 Chrysothemisʼ Ablehnung dieses Vorhabens lässt die beiden Schwestern im Streit auseinander gehen. Als schließlich Orest selbst eintrifft und seiner Schwester die angebliche Urne mit den Überresten ihres Bruders übergibt, scheint Elektras Zuversicht völlig geschwunden zu sein. Der Moment äußerster Klage und Hoffnungslosigkeit wird allerdings durch die - vom Chor angestoßene - Wiedererkennung der beiden Geschwister unterei‐ nander zum Wendepunkt des Geschehens: Orest vollzieht im Anschluss die Rache an seiner Mutter. Wenn Elektra dabei auch keinen aktiven Part spielt, begreift sie dennoch das Geschehen als Genugtuung und eigenen Triumph. Die Tragödie schließt mit der Verhaftung Aigisths, der als Komplize Klytaimnestras ebenfalls getötet werden wird. Die Konzeption der Tragödie als eines Intrigenstücks bringt es mit sich, dass die ohnehin verschiedenen Kenntnisstände zwischen den mit dem Mythos ver‐ trauten Zuschauern und der Protagonistin sowie dem Chor besonders eklatant auseinanderfallen. Damit geht zudem die Zweiteilung der Bühnenhandlung einher: Während Orests Ankunft zwar den Gegenstand des Prologs bildet, er dann allerdings die Vorbereitungen der Rache hinterszenisch ins Werk setzt, dominiert Elektra das vorderszenische Geschehen. Dieser die Dramaturgie des II. Frauenchöre 348 <?page no="349"?> 173 Ein weiterer gravierender Unterschied zur Konzeption der Antigone, in der sich die Hauptheldin mit einem Chor thebanischer Greise konfroniert sieht. Eine ähnlich intime Gesprächssituation Protagonistin-Chor wie in der vorliegenden Tragödie kann es daher bereits auf Grund der Rollenidentität des Chors nicht geben. 174 Neben den Kommentaren von J E B B (1924). Sophocles The Plays and Fragments with critical notes, commentary and translation in English prose: Part VI The Electra, Cam‐ bridge (repr. of 1894), K E L L S (1973). Sophocles: Electra, London und K A M E R B E E K (1974). The Plays of Sophocles, Commentaries Part V The Electra, Leiden liegt zur Elektra mit F I N G L A S S (2007) ein weiterer Kommentar neueren Datums vor. Auf detaillierte Ein‐ zelerklärung kann so mit Verweis auf die Kommentare hier im Wesentlichen verzichtet werden. Stücks über weite Strecken prägende Dualismus hat prägenden Einfluss auf die Gestaltung bzw. das Verständnis der Chorpartien, die teils besondere dramati‐ sche Ironie transportieren, teils zur Ausgestaltung liminaler Szenen dienen. Das Personal der Tragödie bleibt auf den engsten (Familien-)Kreis beschränkt: Trotz eines gewissen Anteils an hinterszenischer Handlung führt Sophokles keinen unbeteiligten Boten ein; hinterszenische oder gänzlich erdichtete Vor‐ gänge zu referieren, obliegt immer einem der Akteure. Das Personal ist dabei der Handlung gemäß in zwei Parteien gespalten: Auf der einen Seite stehen Elektra, Orest und dessen alter Pädagoge, auf der anderen Klytaimnestra und Aigisth, der einzig am Ende des Stücks einen kurzen Auftritt hat. Chrysothemis steht dabei geradezu zwischen den Fronten. Der Chor besteht aus mykenischen Frauen, 173 für die Elektra einen beson‐ deren Bezugspunkt und den nahezu einzigen Gesprächspartner darstellt. Der Gesprächssituation Protagonistin-Chor kommt daher besondere Bedeutung zu: Dreimal werden sich die mykenischen Frauen mit der Hauptheldin in lyrischen Partien austauschen; dass der Chor dagegen an entscheidenden Punkten der Handlung weitestgehend schweigt (v. a. in der Wiedererkennungsszene), wird sich als bestimmendes Moment der chorischen Dramaturgie erweisen. Interpretation 174 Prolog (v. 1 - 85) Mit dem Auftritt des Pädagogen und seines ehemaligen Schützlings Orest be‐ ginnt die dramatische Handlung am entscheidenden Punkt: Agamemnons Sohn, mittlerweile ein junger Mann (vgl. τοσόνδʼ ἐς ἥβης v. 14), ist (mitsamt seinem 2. Elektra 349 <?page no="350"?> 175 Als stumme Figur ist Pylades für unsere Zwecke zu vernachlässigen. Der Vergleich seiner Rolle und deren Funktionalisierung im vorliegenden Stück mit den Pylades-Ge‐ stalten in den Choephoren des Aischylos sowie den drei euripideischen Tragödien Elektra, Iphigenie bei den Taurern und Orest ist dagegen von einigem Interesse, hier allerdings nicht zu leisten. 176 Vgl. K A M E R B E E K (1974) S. 27 ad locum: „The question in 59, 60 implies a scruple about being called dead contrary to truth“, sowie F I N G L A S S (2007) S. 110 zu v. 61: „Some scho‐ lars take this line as a sophism which indicates the immorality of Orestesʼ plan“. 177 Zur Deutung vgl. K E L L S (1973) S. 85: „I think there is some contemporary allusion in these lines which is now lost“. F I N G L A S S (2007) S. 111 erwähnt als möglicherweise ge‐ meinte Personen zum einen eine Art „Wiedergänger“ („disappearing and reappearing shamans“), die im griechischen (Volks-)Glauben eine Rolle gespielt zu haben scheinen, zum anderen Herakles, Theseus und Odysseus, deren Mythen jeweils ähnliche Mo‐ mente des Verschwindens und Wiedererscheinens beinhalten. Freund Pylades 175 ) in seine Heimat zurückgekehrt und nimmt die Rache seines Vaters in Angriff. In einer ersten Rede (v.1-22) führt der Pädagoge Orest und die Zuschauer in die Szenerie ein: Ausführlich beschreibt er die Personenkonstellation (Orest als Sohn des ehemaligen Heerführers Agamemnon v. 1-2), die Lokalität (Mykene v. 4-10), seine Beziehung zu Orest (v. 11-13) sowie den Grund seiner Fürsorge und zugleich den Zweck des gesamten Unternehmens, die Rache an Klytaim‐ nestra (v. 14). Die eigentliche Planung überlässt er dabei Orest, den er auffordert, den günstigen Augenblick des frühen Morgens zu nutzen, um sich jetzt unbe‐ obachtet abzusprechen (v. 16-22). Orest antwortet seinerseits mit einem aus‐ gedehnten Monolog (v. 23-76): Zunächst lobt er die Treue und Verlässlichkeit seines Bediensteten und legt ihm im Folgenden das weitere Vorgehen dar: Dem an ihn ergangenen Orakelspruch folgend, er solle unbewaffnet und ohne Heer, d. h. durch List die gerechte Rache vollziehen (v. 36 f.), weist er den Pädagogen an, seinen eigenen Tod unter Eid den Bewohnern des Palastes zu beteuern. Zum Beweis soll ein beim Grab des Vaters im Gebüsch verstecktes Gefäß als Urne mit der Asche Orests vorgezeigt werden und ihm auf diese Weise das unbehelligte Eindringen in das Herrscherhaus ermöglichen (v. 47-58). Mögliche moralische Zweifel an der intendierten Intrige weist Orest weit von sich: Ihm selbst mache es nichts aus, offiziell als tot zu gelten, da er ja in Wahrheit - beim Gelingen seines Plans - die Aussicht hat, sein Leben zu retten und Ruhm zu ernten (v. 59 f.). Schließlich, so die beinahe sophistisch anmutende Bewertung, 176 sei keine Rede, wenn sie Erfolg hat, κακόν, d. h. moralisch zu verwerfen (v. 61). Ebenfalls zur Rechtfertigung der eigenen Absichten dient die Bemerkung, es seien schon oft „weise Männer“ (σοφούς) dem Anschein nach gestorben, nur um danach umso wirkungsvoller wieder nach Hause zurückzukehren. 177 Eine solche Heim‐ kehr, bei der ihn seine Gegner wie einen Stern leuchten sehen werden (ἄστρον II. Frauenchöre 350 <?page no="351"?> 178 Vgl. F I N G L A S S (2007) S. 89. Eine gewisse Parallelität besteht darüber hinaus zur Anti‐ gone, die ebenfalls mit einer intimen Unterweisungsszene beginnt. Grundlegende Dif‐ ferenz der beiden Partien ist der Umstand, dass in der Antigone keine Intrige in Angriff genommen wird; zudem endet bereits die Prologszene im Konflikt der beiden am Ge‐ spräch beteiligten Akteure, die nicht, wie im vorliegenden Fall, gemeinsam an der Um‐ setzung des entwickelten Plans arbeiten. 179 Im Philoktet ist freilich das Altersverhältnis gedreht: Odysseus, der Ältere, unterweist den jüngeren Neoptolemos, während in der Elektra Orest seinen weitaus älteren Lehrer in seine Pläne einweiht. ὣς λάμψειν v. 66), strebt Orest für sich selbst an. Die sich anschließende Anru‐ fung der heimatlichen Erde und ihrer Götter sowie des väterlichen Hauses mit der Bitte um wirkungsvolle Annahme und ein glückliches Ende der Unterneh‐ mung mündet in die Aufforderung an den greisen Erzieher, nun die ihm über‐ tragene Aufgabe zu übernehmen und den Ort zu verlassen (v. 67-76). An diesem Punkt ist der Zuschauer über die Rahmenbedingungen der fol‐ genden Handlung in Kenntnis gesetzt: Er erhält nicht nur die nötigen Informa‐ tionen zu Ort und Zeit der Handlung sowie zur Personenkonstellation, sondern ist von Anfang an Mitwisser der Intrige Orests. Dessen Ankunft, seine Motiva‐ tion und sein Plan bilden den Hintergrund, auf dem sich die folgende dramati‐ sche Handlung abspielen wird. Dass dagegen Elektra als Hauptperson des Dramas von der Ankunft ihres Bruders noch nichts weiß, ist bereits zu erahnen und ermöglicht eine Antizipation des Kommenden. Der Prolog könnte an diesem Punkt mit dem Auseinandergehen der beiden Akteure enden. Formal wäre er damit am ehesten mit dem Prolog des Philoktet vergleichbar: 178 Auch dort beginnt die Tragödie mit der Ankunft entscheidender Akteure am Ort der Handlung (Odysseus und Neoptolemos) sowie der intimen Unterweisung des einen in der vom anderen geplanten Intrige, mit der die Täu‐ schung des Haupthelden (Philoktet) beabsichtigt ist. 179 Wie auch in der Elektra ist damit eine Handlung angestoßen, die sich sowohl vorderals auch hinter‐ szenisch entwickeln wird. Während sich im Philoktet mit der dialogischen Par‐ odos darauf eine weitere Unterweisungsszene anschließt (Neoptolemos infor‐ miert den Chor seiner Schiffsleute über entscheidende Zusammenhänge), könnte man hier den Einzug des Chors erwarten, der in der Parodos seinen Sorgen um Elektra Ausdruck verleihen würde. Sophokles gestaltet den Prolog - und damit die gesamte Eingangsszenerie der vorliegenden Tragödie - allerdings anders. Mit Vers 77 wird die intime und geheime Zusammenkunft Orests mit seinem Erzieher gestört: Elektra gibt hinter der Bühne in einem Ausruf (ἰώ μοί μοι δύστηνος) ihrer Verzweiflung Aus‐ 2. Elektra 351 <?page no="352"?> 180 Vgl. K E L L S (1973) S. 86: „a muffled but passionate cry“. F I N G L A S S (2007) betont S. 114: „it is spoken, not sung“. 181 Dieser Abgang der beiden Prologsprecher steht in bewusstem Kontrast zur Gestaltung der aischyleischen Choephoren, deren thematische und dramatische Ähnlichkeit und Verschiedenheit zur Tragödie des Sophokles im Folgenden Beachtung finden wird. Zur unterschiedlichen Gestaltung des Prologendes vgl. F I N G L A S S (2007) S. 114. 182 So im Aias die göttliche Motivierung des Wahnsinns, Antigones Plan sowie Odysseusʼ Intrige im Philoktet. 183 Chrysothemis wird in den Versen 892 ff. ihre Schwester zu überzeugen versuchen, sie habe am Grab des Vaters Orests Weihegaben gesehen. druck 180 und bereitet dramaturgisch gesehen ihren eigenen Auftritt in Vers 86 vor. Der kurze Dialog zwischen Orest und dem Pädagogen (v. 78-85) führt schließlich zum raschen Abgang der beiden; es sei besser, so der Erzieher, nun erst den Weisungen des Apoll zu folgen und am Grab Agamemnons ein Opfer darzubringen, anstatt den Klagen der Elektra zu lauschen. Die Bühne ist nach Vers 86 freigegeben für den Auftritt der Hauptperson. 181 Fassen wir einige Punkte zusammen: Der Prolog besteht augenscheinlich aus zwei dramaturgisch ganz verschieden gearteten Teilen, die durch Elektras Ruf voneinander abgetrennt sind: den beiden Monologen der Prologsprecher (v. 1-76) sowie dem kurzen Wechselgespräch der beiden (v. 78-85), auf das ihr Abtritt folgt. Mit dem ersten Teil des Prologs, der neben der eigentlichen Exposition zudem eine Charakterisierung Orests bietet und mithin eine gänzlich informierende Szene darstellt, schafft Sophokles die aus anderen Tragödien bekannte Situation, dass dem Publikum grundlegende Sachverhalte bekannt sind, deren Aufdeckung ein wesentliches Moment der dramatischen Handlung sein wird. 182 Mit der Ein‐ weihung in den Plan des Orest und seinem zielgerichteten Abgang (v. 84) wird dem Publikum der hinterszenische Fortgang der Handlung angedeutet; zu einem späteren Zeitpunkt im Stück werden schließlich die vorder- und hinterszeni‐ schen Stränge wieder aufeinander treffen. 183 Das Publikum ist damit gegenüber der Protagonistin und den anderen Charakteren (Chor, Chrysothemis, Klytaim‐ nestra) im Besitz eines entscheidenden Wissensvorsprungs, der es ermöglicht, das vorderszenische Geschehen richtig einzuordnen und aus der Antizipation des Kommenden zu deuten. Dieser erste Teil des Prologs ist dabei im Wesentli‐ chen statisch: Die Monologe der beiden Akteure stehen sich geradezu blockhaft gegenüber; zu einem wirklichen Austausch kommt es nicht. Des Weiteren ist auffällig, dass Elektra im ersten Teil des Prologs keine Rolle spielt: Weder Orest selbst noch der Pädagoge erwähnen sie. Dies lässt sich ei‐ nerseits mit der spezifischen Situation der beiden Handlungsträger erklären: II. Frauenchöre 352 <?page no="353"?> 184 Vgl. V Ö G L E R (1967) S. 144, der im Sinne einer „ethopoetischen“ Interpretation in Orest den „aktive(n) Beweger der Handlung“, den „Erreger des Pathos“, in Elektra dagegen geradezu die Personifizierung des „Bios des Leidens“ sieht: „Für einen Gedanken an die leidende Schwester bleibt da kein Raum“. 185 Einzig der Pädagoge erwähnt sie (ohne Namensnennung) in einem kurzen Rückblick, wenn er angibt, er habe Orest von seiner Schwester (πρὸς σῆς ὁμαίμου καὶ κασιγνήτης v. 12) erhalten. Auf ihre momentane Situation geht er hingegen nicht ein. 186 Das Ausblenden gewisser Umstände oder Personen ist ein besonders subtiles drama‐ turgisches Mittel, durch das der Dichter auch andernorts Spannung aufbaut und eine Kontrastfolie des Kommenden bietet, vgl. die völlige Ausblendung der Gestalt des Oi‐ dipus in der Parodos des Oidipus Tyrannos oder der Machtübernahme Kreons in der entsprechenden Partie der Antigone. 187 Vgl. B U R T O N (1980) S. 189: „This is the only extant play of Sophocles which introduces the principal actor with a monody before the entry of the chorus“. Vergleichbare hin‐ terszenische Rufe, die den Auftritt des Protagonisten ankündigen, finden sich im Aias, v. 333 ff. (dort allerdings nicht am Ende des Prologs). Der Prolog der euripideischen Medea ist in einigen formalen Punkten vergleichbar: Auch dort ist ein Pädagoge Pro‐ logsprecher, während sich der Auftritt der Protagonistin, der auch dort dem des Chors vorangeht, durch mehrere hinterszenische Rufe ankündigt (v. 96 ff.). Vgl. M A S T R O‐ N A R D E (2002). Euripides Medea, Cambridge, S. 180 f. Folgt man der gängigen Spätdatie‐ rung der Elektra (in die 410er Jahre), so wird man die Priorität der euripideischen Medea (Ende der 430er Jahre) annehmen müssen. Beide sind ganz auf Orests Mission konzentriert, 184 was gerade Orest als beson‐ ders zielgerichtet, auf die Durchführung seines Plans und damit die unmittelbare Zukunft fixiert erscheinen lässt. Daneben bietet die weitgehende Ausblendung Elektras 185 freilich auch die Folie, vor der sich ihr emotionaler Auftritt umso deutlicher abheben kann: Bereits hier ist das zentrale Geschwisterpaar der Tra‐ gödie in seiner Kontrastivität gezeichnet. 186 Das Ende des Prologgesprächs durch den hinterszenischen Ruf der Protago‐ nistin ist eine im Rahmen der uns überlieferten Tragödien des Sophokles ein‐ malige Komposition. 187 Mit einem besonders überraschenden Impuls dynami‐ siert sich das Geschehen schlagartig. Der Einwurf Elektras in Vers 77 ruft nach den Plänen für die unmittelbare Zukunft geradezu die Gegenwart wieder ins Gedächtnis und bildet - zusammen mit der sich im Weiteren anschließenden Klage v. 86-120 - den Auftakt für die explizite Darstellung der dramatischen Ausgangssituation aus Sicht der Hauptperson. Den Prolog auf diese Weise enden 2. Elektra 353 <?page no="354"?> 188 Ich kann K A M E R B E E K (1974) S. 31 („It is decidedly better to regard Electra’s θρῆνος ἀπὸ σκηνῆς as belonging to the Prologue and thus forming its second part than as a part of the Parodos“) nicht folgen. Freilich wäre die übergreifende Bezeichnung „Parodos“ für den sich an das (Prolog-)Gespräch zwischen dem Pädagogen und Orest anschließenden Abschnitt der Verse 86-250 irreführend; Elektras Klage allerdings zum zweiten Teil des Prologs zu machen, halte ich für verfehlt: Der Abtritt der an der Unterweisungsszene Beteiligten nach Vers 86 ist ein so eminenter Einschnitt, dass das Folgende einen neuen Formteil der Tragödie darstellt. Der dramaturgisch-formelle Kunstgriff des Dichters besteht im vorliegenden Fall ja gerade darin, die erwartbare „Parodos“ durch eine zweiteilige Partie zu „ersetzen“, bei der eine anapästische Soloklage dem lyrischen Aus‐ tausch mit dem Chor vorangeht. (Sophokles kennt eben keinen starren Formalismus hinsichtlich der Abfolge einzelner Formteile der Tragödie, sondern komponiert ein der jeweils durch ihn geformten Handlung und ihrer Aussageabsicht angemessenes Drama in souveräner Verfügung über die ihm zu Gebote stehenden dramaturgischen und for‐ malen Mittel.) Dass Elektras Solopartie dabei durch den hinterszenischen Ruf geradezu in das eigentliche Prologgespräch „hineinragt“, darf über den klaren Schnitt zwischen Vers 85 und 86 nicht hinwegtäuschen. Sowohl K E L L S (1974) als auch F I N G L A S S (2007) tragen dem Rechnung: Sie lassen die eigentliche Parodos erst mit Vers 121 beginnen und nennen den Abschnitt v. 86-120 θρῆνος ἀπὸ σκηνῆς. 189 Vgl. B U R T O N (1980) S. 189: „Thus in Sophoclesʼ play, Electra dominates the tragedy from the end of the prologue“. zu lassen, 188 macht die Sonderstellung der vorangegangenen Unterweisungs‐ szene besonders deutlich: Mit Elektras Herannahen verschiebt sich der unmit‐ telbare Tätigkeitsbereich Orests hinter die Szene, während bis zum Eintreffen des Pädagogen als eines falschen Boten in Vers 660 das gesamte vorderszenische Geschehen Elektra und ihrer Auseinandersetzung mit dem Chor, der Schwester und der Mutter gelten wird. Die Absprache von Orest und dem Pädagogen bleibt im besten Sinne eine Vor-Szene zur Handlung rund um Elektra, die direkt mit ihrem Auftritt das Zentrum des Bühnengeschehens bildet und durch ihre dau‐ ernde Präsenz den konkret fassbaren Mittelpunkt der Handlung darstellen wird. 189 Der Zuschauer ist sich dabei nach dem Prolog bereits bewusst, dass das er‐ neute Erscheinen Orests auf der Bühne eine hinterszenische Aktion voraussetzt und eine Wendung im Fortgang der Handlung bedeuten wird. Das Zusammen‐ treffen der beiden Geschwister ist dabei als zentrale Wiedererkennungsszene und Wendepunkt der Handlung zu antizipieren. θρῆνος/ Monodie Elektras und Kommos / Parodos (v. 86 - 250) Die mit dem Abgang der beiden Prologsprecher leer gewordene Bühne betritt Elektra in Vers 86. In einem langen, anapästisch gestalteten θρῆνος ἀπὸ II. Frauenchöre 354 <?page no="355"?> 190 Zu metrischen Belangen verweise ich explizit auf die Diskussion bei F I N G L A S S (2007) S. 117 ff. Besonders herauszuheben ist die dort S. 119 herausgestellte „Übergangsfunk‐ tion“ der Anapäste in Hinblick auf den vollends lyrisch strukturierten Auftritt des Chors („The use of recitative anapests […] allowed the change from the less emotional world of the prologue to be marked in metrical terms, while also leaving room for a further change in the mood of delivery at the entrance of the chorus“). 191 K A M E R B E E K (1974) vermerkt eine mögliche Parallele zur euripideischen Elektra S. 31: „[…] the trimeter section of the Prologue is followed by Electra’s monody before the entrance song of the Chorus“. Die dramaturgischen Implikationen sind allerdings bei Euripides völlig anders geartet, da Elektra dort bereits Prologsprecherin war und die Bühne in Vers 76 verlassen hatte. Wenn sie darauf in Vers 112 erneut erscheint und ihre Monodie anstimmt, ist ihrem Auftritt die Wucht und das Überraschungspotential ge‐ nommen, die dem ersten Auftritt der sophokleischen Elektra eigen sind. 192 Vgl. F I N G L A S S (2007) S. 118, der zugleich bewusst Euripides als „Hauptvertreter“ der Solomonodie erwähnt: „Although mainly recitative, the piece as a whole shares many structural similarities with some of the monodies delivered by actors in Euripides“. 193 K A M E R B E E K (1974) S. 31. 194 Vergleiche dazu die Stellenangaben bei F I N G L A S S (2007) S . 119. σκηνῆς (v. 86-120) 190 verleiht sie ihrer verzweifelten Stimmung Ausdruck. Es ist hier nicht der Ort, Elektras Klagegesang im Einzelnen zu analysieren. Für die vorliegende Untersuchung ist die dramaturgische Formung dieser Passage al‐ lerdings von entscheidender Bedeutung. Dass nach dem Prolog nicht der Chor die Orchestra betritt und entweder allein sein Auftrittslied anstimmt oder mit einer Person in einen (lyrischen) Dialog eintritt, sondern die Hauptperson al‐ leine einen θρῆνος ἀπὸ σκηνῆς erheblicher Länge vorträgt, ist in den erhaltenen Tragödien des Sophokles einzigartig. 191 Dass dieser θρῆνος formale Parallelen zur (lyrischen) Solomonodie aufweist, 192 hat K AME R B E E K dazu veranlasst, von „Electraʼs monody“ 193 zu sprechen. Bereits die Form der Solomonodie, wie sie vor allem aus den Tragödien des Euripides bekannt ist, nimmt dabei im sopho‐ kleischen Gesamtwerk eine untergeordnete Stellung ein. 194 Indem Sophokles den Chor erst nach der umfangreichen Monodie in Vers 121 einziehen und zu Wort kommen lässt, weist er der Protagonistin eine entscheidende Stellung in‐ nerhalb des dramatischen Gefüges zu. Der durch den hinterszenischen Ruf (v. 77) vorbereitete Auftritt nimmt so eine prominente Stelle im Handlungsablauf ein, verdrängt den nach formalen Gesichtspunkten erwartbaren Choreinzug und macht für Zuschauer und Leser die Gewichtung der sich entspinnenden Handlung klar: Im Zentrum der Bühne stehen ab diesem Moment Elektra, ihre Situation und ihr Schicksal. Es ist dabei bezeichnend, dass die Protagonistin von ihrem ersten Auftritt an den größten Teil des Stücks, konkret: bis v. 1383 auf der Bühne präsent bleiben wird; sie bildet damit auch rein visuell den Fokus der Handlung. Mit der Gestaltung der Solomonodie lässt Sophokles der Haupt‐ 2. Elektra 355 <?page no="356"?> 195 Der Auftritt des aus dem Wahnsinn erwachten Aias trägt ähnliche Züge. Allerdings wird sein Auftrittslied durch Äußerungen des Chors sowie Tekmessas Kommentare gegliedert und geschieht nicht an einer dramaturgisch so prominenten Stelle wie im Fall Elektras. Die dramaturgische Wirkung, d. h. die Konzentration auf den Haupthelden und seinen wirkungsvollen Auftritt, ist allerdings hier wie dort dieselbe. 196 Auf die beißende Ironie des sonst nächtliche (Freuden-)Feste bezeichnenden παννυχίς (vgl. Antigone, v. 153, 1151) weist K E L L S (1973) S. 87 f. hin. 197 Zur Zweiteilung vgl. F I N G L A S S (2007) S. 120. person des Dramas den wirkungsvollen und ihrer Stellung angemessenen Auf‐ tritt zukommen. 195 Kurz sollen die inhaltlich relevanten Punkte der Monodie referiert werden, um im Folgenden den Zusammenhang zum sich anschließenden Kommos zu verdeutlichen. Elektras Klage beginnt mit dem Anruf des Lichtes (φάος ἁγνόν) und der Luft (ἀήρ), die in der Nacht schon viele ihrer Trauergesänge und ihr rituelles Schlagen gegen die Brust wahrgenommen hätten. Auch die Lager‐ stätten des elenden Palastes kennten, so Elektra, diese nächtlichen Klagen, 196 in denen sie den schändlichen Tod ihres Vaters beweine: Diesen habe nicht „der mörderische Ares“ einem barbarischen Schicksal gemäß getötet, sondern ihre Mutter mitsamt dem neuen Bettgenossen Aigisth „gleich Holzfäller eine Eiche“ (ὅπως δρῦν ὑλοτόμοι v. 98) mit einer Axt das Haupt gespalten. Einzig von ihr, Elektra, komme dem Vater dabei die gebührende und dem schändlichen Ende Agamemnons entsprechende Klage zu (v. 100 ff.). Damit hat der erste, weitest‐ gehend in die Vergangenheit blickende Teil des θρῆνος sein Ende gefunden; 197 Elektra richtet ihren Blick im Folgenden auf die unmittelbare und fernere Zu‐ kunft. Niemals, so die entschieden programmatische Aussage, werde sie zu klagen aufhören, solange sie noch das Licht des Tages und die Strahlen der Gestirne sehe; gleich der ihrer Kinder beraubten Nachtigall (v. 107) - ein Selbstvergleich mit Prokne, dem geradezu typischen mythischen Exempel einer klagenden Frau - werde ihr Schall (ἠχώ) hier vor den Türen des Palasts allen ertönen. In einer wirkungsvollen und umfangreichen Anrufung der Unterweltsgötter Hades und Persephone (v. 110), der mit dem Totenreich in Verbindung stehenden Gottheiten Hermes und Ara - des personifizierten Fluchs - sowie der Erinyen (v. 111 f.) gipfelt die Monodie. Die emotionalen Äußerungen kulminieren in den Imperativen der Verse 115-117: Elektra bittet die angerufenen Unterweltsgötter zu kommen (ἔλθετʼ), ihr zu helfen (ἀρήξατε), den Mord an ihrem Vater zu rächen (τείσασθε) und ihr ihren Bruder zu schicken (πέμψατʼ). Alleine nämlich sei sie nicht mehr im Stande, ihr Leid zu ertragen. Als einzige Rettung stehen Elektra das Einschreiten göttlicher Mächte sowie der eigene Bruder vor Augen, dessen baldige Ankunft sie erfleht. In mehrfacher II. Frauenchöre 356 <?page no="357"?> 198 Wann genau der Einzug des Chors in die Orchestra erfolgt, lässt sich auf Grund des uns überlieferten Textes nicht genau bestimmen. Da allerdings in Elektras Solopartie kein Bezug zu den Frauen gegeben ist, sie sich vielmehr zu Beginn und am Ende ganz in ihrer Reflexion versunken an unpersönliche bzw. göttliche Entitäten wendet, wird man sich mit einiger Wahrscheinlichkeit den Kommentaren anschließen, die den eigentli‐ chen Einzug erst nach dem Ende des θρῆνος, also ab v. 120 ansetzen. Das Hinzukommen der Frauen wäre so auch mit der Sorge um Elektra, deren erneutes Klagen sie von ferne vernommen hätten, nachdrücklich motiviert. Vgl. F I N G L A S S (2007) S. 121, der sich gegen den „stummen Einzug“ des Chors während Elektras Anapästen wendet: „But even if there were a parallel for such a silent entrance by the chorus, we would not want to lose the dramatic effect of Electra’s initial solitude“. 199 Das vorliegende Amoibaion ist mit 130 Versen nach der Parodos / dem Auftrittsamoi‐ baion des Oidipus auf Kolonos (137) die zweitumfangreichste lyrische Partie im über‐ lieferten Werk unseres Dichters (vgl. F I N G L A S S (2007) S. 139). Zwei entscheidende Un‐ terschiede beeinflussen die dramaturgischen Implikationen der beiden Partien maßgeblich: Neben dem Protagonisten und dem Chor beteiligt sich im Oidipus auf Ko‐ lonos mit Antigone eine weitere Person am Amoibaion. Des Weiteren dient die Passage des Oidipus-Dramas zu gewissen Teilen der Orchestrierung eines Handlungsvorgangs (der Platzierung des Haupthelden) und nur in zweiter Linie der emotionalen Ausleuch‐ tung eines bestimmten Zustands der Hauptperson wie der vorliegende Kommos der Elektra. Hinsicht bildet dieser Abschluss eine wohlkomponierte motivische Rundung der Passage: Zum einen stehen die Anrufungen der Unterweltsgötter mit den Vokativen zu Beginn der Monodie in Beziehung, erweitern diese stimmungsvoll und bilden eine Brücke von der unmittelbaren dramatischen Gegenwart zum weiteren Verlauf der Handlung. Zum anderen nehmen sie Bezug auf die Bitten, mit denen Orest seine Rede im Prolog (v. 67-72) geschlossen hatte. Damit wird die inhaltliche Struktur der Partie, die mit dem Vorwissen der Zuschauer um die Ankunft des Orest spielt und daraus ihre spezifische Spannung erhält, verdeut‐ licht und geradezu motivisch verklammert. Vor dem Eintreffen des Chors in der Orchestra, d. h. im dramatischen Geschehen, ist der Zuschauer nicht nur über die Pläne und Absichten Orests informiert, sondern hat einen unmittelbaren Eindruck der Gefühlswelt Elektras erhalten. Um sie herum als umfassend ein‐ geführte Hauptgestalt wird sich die Handlung im Weiteren entfalten. Kommen wir nun zum Einzug des Chors 198 und dem damit verbundenen Kommos. Statt auf den θρῆνος ἀπὸ σκηνῆς eine rein chorische Parodos folgen zu lassen, komponiert Sophokles ein Amoibaion zwischen Chor und Protago‐ nistin. Dieser umfangreiche Wechselgesang 199 (v. 121-250) entfaltet ein weites Panoptikum der Gefühlslage der Hauptperson und verdeutlicht die Beziehung des Chors zu Elektra. Zentrales Thema der Partie ist das anhaltende, maßlose Klagen der Protagonistin, auf das die Frauen mit einer Mischung aus Überdruss, ernster Sorge und tief empfundener Sympathie reagieren. Kurz sollen die im 2. Elektra 357 <?page no="358"?> 200 Man darf vermuten, dass die Rolle der Elektra bereits auf Grund ihres enormen Umfangs hohe Ansprüche an den entsprechenden Schauspieler stellte; die Bandbreite der (allein mit der Stimme darzustellenden) Emotionen ist zudem enorm. 201 Die griechische Konstruktion der Frage (τίνʼ ἀεὶ λάσκεις ὧδʼ ἀκόρεστον οἰμωγὰν τὸν πάλαι ἐκ δολερᾶς ἀθεώτατα ματρὸς ἁλόντʼ ἀπάταις Ἀγαμέμνονα κακᾷ τε χειρὶ πρόδοτον; ) lässt für unser Sprachgefühl die genaue Differenzierung zwischen „warum? “ und „welche Art von Klage? was für eine Klage? “ nicht genau zu. Vgl. K E L L S (1973) S. 90 sowie F I N G L A S S (2007) S. 140 ad locum. 202 Wer mit ὁ τάδε πορών gemeint ist, bleibt umstritten: Während K E L L S (1973) S. 90 fest‐ hält: „no doubt Aegisthus“, kommentiert F I N G L A S S (2007) S. 142: „a generalising mas‐ culine“; ähnlich J E B B (1924) S. 25: „might refer to Clytaemnestra […], but is rather ge‐ neral“. Eine Mittelposition nimmt K A M E R B E E K (1974) S. 36 ein: „The Chorus may be ostensibly speaking of Aegisthus alone but the masculine singular may be taken to refer to Clytaemnestra as well“. Kommos angesprochenen Gedanken und Themen in einem teils dem Text in engem Anschluss folgenden, teils überblicksartig raffenden Durchgang aufge‐ arbeitet werden. Es bietet sich dabei an, jeweils ganze Strophenpaare zu be‐ trachten, da in der vorliegenden Partie gedanklicher und metrisch-formaler Ab‐ lauf Hand in Hand gehen. In den drei Strophenpaaren mit einer den Wechselgesang abschließenden Epodos spricht jeweils zunächst der Chor, wo‐ rauf Elektra antwortet (nach Versen gezählt ergibt sich durch die einzelnen Strophenpaare folgende Verteilung: erstes Strophenpaar 7 Verse Chor - 8 Verse Elektra, zweites Strophenpaar 11-8, drittes Strophenpaar 8-12, Epodos 3-14). Die Redeanteile sind demnach bis zur Epodos nahezu ausgeglichen, im Ganzen überwiegt allerdings Elektras Anteil. 200 Mit der sorgenvollen Frage, warum sie den schändlich gestorbenen Agamemnon immer noch beweine, 201 und der sich anschließenden Bekundung der Abscheu gegenüber den Tätern (v. 126 f.) wenden sich die Frauen direkt an Elektra, die sie unter Verdoppelung des Vokativs παῖ als „Kind einer unseligsten Mutter“ anreden. Elektras eben verklungener Klagegesang scheint also von den Cho‐ reuten zumindest in Teilen als solcher wahrgenommen worden zu sein; die Be‐ merkung ἀεί (v. 122) lässt weiterhin darauf schließen, dass Klagen und Jammern in der Vergangenheit Elektras Auftreten bestimmt haben. Die erste Wortmel‐ dung des Chors ist zudem eine besonders konzise Zusammenfassung der Aus‐ gangslage, die alle unmittelbar Beteiligten teils namentlich nennt bzw. auf sie anspielt: Klytaimnestra (v. 121 f. sowie 124 f.), Elektra (v. 122), Agamemnon (v. 125) und Aigisth 202 (v. 126). Die der Strophe einbeschriebene Wertung ist dabei deutlich: Die „Gegner“ Elektras, d. h. Klytaimnestra sowie ὁ τάδε πορών (mög‐ licherweise Aigisth), werden moralisch deklassiert (δολερά, ἀθεώτατα, ἀπάταις, κακᾷ χειρί v. 124 ff.). Dahingegen bezeichnet der Chor Elektras Klagen II. Frauenchöre 358 <?page no="359"?> 203 Vgl. F I N G L A S S (2007) S. 143: „Electra acknowledges the good intentions which have mo‐ tivated the entry of the chorus“. 204 Zu Konstruktion und Bedeutung von ἄραρεν (v. 147) vgl. die Diskussion bei F I N G L A S S (2007) S. 147 f. sowie seine Übersetzung „the example of Procne ‘is fixed’ in Electra’s mind“, anders K A M E R B E E K (1974) S. 38: „meaning ‘is congenial to’“. als „unersättlich“ (ἀκόρεστον v. 123), erkennt also auch darin eine gewisse Maßlosigkeit. Elektra selbst nimmt die Sorgensbekundungen der Frauen, deren ehrenhaften Stand sie in ihrer Anrede (γενέθλα γενναίων v. 129) besonders hervorhebt, wohlwollend entgegen, erkennt deren Bemühungen, sie trösten zu wollen, an, 203 setzt sich aber inhaltlich von einer möglichen Beschwichtigung ab: Sie wolle nicht aufhören, ihren Vater zu beweinen. Geradezu flehentlich bittet sie den Chor, sie dies weiterhin tun zu lassen (v. 134). Mit dem zweiten Strophenpaar tritt der Chor in eine inhaltliche Auseinan‐ dersetzung mit Elektra ein: Das Klagen um den gestorbenen Vater sei zwecklos, da er weder durch Jammern noch durch Bitten (οὔτε γόοισιν, οὐ λιταῖς v. 139) wieder aus dem Hafen des Hades geholt werden könne. Außerdem bewege sich Elektra vom Maßvollen (ἀπὸ τῶν μετρίων v. 140) in ihrer Trauer zu einem Leid, das ἀμήχανον sei (v. 140), d. h. bedeutungslos, ohne Wirkung und fruchtlos. Den Abschluss der Wortmeldung bildet die direkte Frage, was Elektra anstrebe (ἐφίῃ v. 144). Abwehrend kontert die Angesprochene: Töricht sei, wer schändlich dahin‐ geschiedener Eltern vergesse. In ihrem, Elektras, Gemüt habe sich allerdings das Beispiel des Vogels festgesetzt, 204 der immerzu Itys beweine (v. 147 ff.). Den Schluss der Gegenstrophe bildet der direkte Anruf Niobes: Sie, die immerzu in einem Felsengrab (ἐν τάφῳ πετραίῳ) weint, zählt Elektra unter die Götter. Elektra untermauert also ihre virulente Absage an die Versuche des Chors, sie vom Klagen abzubringen, mit zwei mythologischen Beispielen. Der bereits in der anapästischen Partie verbalisierte Vergleich ihrer selbst mit Prokne (v. 107 ff.) wird hier wiederholt, intensiviert und durch die Apostrophierung Niobes als einer Göttin noch überboten. Als tertium comparationis dient dabei einzig das Moment der fortgesetzten Klage, wohingegen sich andere zentrale Aspekte der mythischen Situation eklatant von der Elektras unterscheiden: So beklagen Prokne und Niobe ihre Kinder, während es bei Elektra um den Vater geht; ferner tragen die beiden von Elektra angeführten mythischen Figuren an dem von ihnen beklagten Leid entscheidende Verantwortung, während Elektra auf das (bereits längere Zeit zurückliegende) Geschehen keinen Einfluss hatte und völlig 2. Elektra 359 <?page no="360"?> 205 Es scheint nicht geraten zu sein, weitere subtile Andeutungen und Parallelen finden zu wollen. (Vgl. F I N G L A S S (2007) S. 130, der trotz der auch von ihm aufgezeigten Unter‐ schiede der verglichenen Situationen zur Gegenüberstellung Prokne-Elektra festhält: „But the comparison also suggests Electra’s potential for violent action against her kin“). Vgl. dazu den Selbstvergleich Antigones mit Niobe (! ) (v. 823 ff.) sowie die drei Ver‐ gleiche des vierten Stasimons (v. 944 ff.), die jenseits des tertium comparationis nur we‐ nige bzw. gar keine Parallelen zwischen den Ebenen intendieren. 206 ἀχέων mit J E B B (1924) als Partizip zu verstehen, hat sich nicht durchgesetzt; stellver‐ tretend dazu F I N G L A S S (2007) S. 152: „ἀχέων is a genitive dependent on the adjective κρυπτᾷ“. 207 Vgl. K A M E R B E E K (1974) S. 39: „as the noble prince and rightful successor of his father“. unschuldig leidet. 205 Das Ende der Gegenstrophe (v. 153) nimmt in seiner sprach‐ lichen Gestaltung (αἰαῖ, δακρύεις) das Ende der ersten Strophe wieder auf (αἰαῖ, ἱκνοῦμαι v. 136) und macht die Parallelisierung zwischen Elektra und den von ihr erwähnten Heroinen, ihre Selbststilisierung am Exempel zweier Urtypen des Klagens besonders augenfällig. Mit einem zweiten Argument sucht der Chor zu Beginn der zweiten Strophe erneut, Elektra auf einer inhaltlichen Ebene zu erreichen: Sie sei schließlich nicht die Einzige, der Leid widerfahre, durch das sie sich von den anderen Mitgliedern ihrer Familie (τῶν ἔνδον), im Besonderen von ihren Schwestern Chrysothemis und Iphianassa (v. 157 f.), unterscheide. Mit dem syntaktisch nur durch τʼ angereihten Vers 159 kommt der Chor schließlich auf Orest zu sprechen. In der ausgreifenden Periode geht der ellip‐ tische Hauptsatz ὄλβιος sc. ἐστίν bzw. καλεῖται dem umfangreichen Relativsatz (ὅν) voran: Orest, in seinem von Leiden verborgenen (Mannes-)Alter (κρυπτᾷ ἀχέων ἐν ἥβᾳ 206 ), sei glücklich (ὄλβιος) zu nennen; ihn werde, so der Relativsatz, die mykenische Erde als „Adeligen“ - und damit rechtmäßigen Nachfolger seines Vaters 207 - aufnehmen (δέξεται), wenn er sich ihr mit dem „wohlgesinnten Schritt des Zeus“ nähere. Was als ein tröstender Hinweis auf Elektras Schwes‐ tern und Leidensgenossen begann, hat sich hier in eine hoffnungsvolle Zu‐ kunftsvision gewandelt: Dass Orest heimkehren wird, steht für die Frauen außer Frage; sein von Zeus begünstigtes Kommen sowie die implizit angesprochene Machtübernahme bilden den wirkungsvollen Kontrast zum Leid der Schwes‐ tern. Die in Orests Apostrophierung als ὄλβιος angeschlagene positive Grund‐ stimmung setzt sich in den beiden rasch aufeinanderfolgenden Komposita εὐπατρίδαν sowie εὔφρονι fort. Das Panorama der mit der Handlung bzw. der Situation in Verbindung stehenden Personen ist damit komplettiert: Hatte der Chor in der ersten Strophe sein Hauptaugenmerk auf Klytaimnestra (und Ai‐ gisth) gelegt (v. 121 ff.) und damit Elektras Gegner vorgestellt, geraten hier Elektras Verbündete, d. h. zunächst ihre Leidensgenossen, dann der potentielle II. Frauenchöre 360 <?page no="361"?> 208 Vgl. F I N G L A S S (2007) S. 153: „the name is delayed for emphasis“. Retter in den Blick. Die beiden Strophen stehen demnach in einem besonders engen Verhältnis zueinander und leisten einen wesentlichen Beitrag zur indi‐ rekten Charakterisierung der handelnden Personen. Dass an unserer Stelle dabei der Name des Hoffnungsträgers an das Ende der Periode gestellt ist (v. 163), ist nicht nur wirkungsvolle Emphase, 208 sondern macht zugleich den direkten syntaktischen Anschluss möglich. Elektra setzt die in Vers 160 begonnene Konstruktion fort, indem sie einen weiteren Relativsatz folgen lässt: Ihn (ὅν), Orest, erwarte sie, die Kinderlose und Unverheiratete, sehnlichst und trage dabei unter Tränen das endlose Geschick der Übel. Orest aber, so fährt sie ohne explizite Namensnennung (ὁ δέ v. 167) fort, habe ver‐ gessen, was er erfahren und gelernt habe. In Form einer Frage gibt sie zu be‐ denken, dass die Botschaften, die sie von ihm erhalte, gefälscht seien (ἀπατώμενον): Einerseits - so der Inhalt der Nachrichten - begehre er nämlich, am Ort des Geschehens zu erscheinen, andererseits - so die für Elektra leidvolle Realität - halte er es nicht für angemessen (ἀξιοῖ v. 172), wirklich zu erscheinen. Der vom Chor entworfenen hoffnungsvollen Zukunftsaussicht stellt Elektra mit Entschiedenheit ihre Sicht der Dinge gegenüber: Sie kann gerade der Ab‐ wesenheit Orests nichts Gutes abgewinnen, mehr noch: Das Warten auf ihren Bruder und die damit verbundene Enttäuschung ist selbst Bestandteil ihrer misslichen Lage und gibt Anlass zu Tränen. Die sprachlich-poetische Gestaltung dieses zweiten Teils der Strophe bildet einen besonderen Kontrast zum Beitrag des Chors: Die Reihung einer Vielzahl durch das alpha privativum verneinter Adjektive (bzw. Adverbien) auf engstem Raum (ἀκάματα, ἄτεκνος, ἀνύμφευτος, ἀνήνυτον) zeichnet Elektras aussichtslose Lage und konterkariert die mit dem Präfix εὐgebildeten Komposita aus Vers 162. Während so die Syntax im Über‐ gang der chorischen Äußerung zu Elektras Antwort beibehalten bzw. fortge‐ führt wird, erfährt die Situation selbst eine geradezu konträre Ausleuchtung. Eröffnet wird die Gegenstrophe (v. 173 ff.) durch einen Imperativ, den der Chor Elektras Resignation entgegenwirft. Abrupt und schlagwortartig steht θάρσει am Beginn der Periode (v. 173): Elektra solle Mut fassen, denn Zeus überblicke und beherrsche alles (ἐφορᾷ πάντα καὶ κρατύνει); ihm solle Elektra ihren Groll überantworten (νέμουσα) und weder in ihrem Zorn über die Stränge schlagen noch ihren Vater vergessen. Die Zeit nämlich (χρόνος) sei eine hilfreiche Gott‐ heit (εὐμαρὴς θεός v. 179); weder Orest selbst noch der Herr der Unterwelt stünden dem Geschehenen gleichgültig gegenüber. Aber auch das anempfohlene Gottvertrauen weist Elektra von sich. Mit einem entschiedenen ἀλλά lenkt sie den Blick auf die aktuellen Gegebenheiten: Der 2. Elektra 361 <?page no="362"?> 209 Diese Bemerkung erhellt im Folgenden der Kontrast zur Behandlung der Chrysothemis, wie ihn Elektra in Vers 361 vorbringen wird. 210 Vgl. F I N G L A S S (2007) S. 154: „The chorusʼs consolation takes on a cosmic aspect“. 211 Dass damit wahrscheinlich Kassandras Klagen gemeint ist, bemerkt zu Recht F I N G L A S S (2007) S. 160. Großteil ihres Lebens habe sie bereits verlassen; ohne Kinder schmelze sie, die sie der Hilfe durch einen Mann entbehre, dahin (κατατάκομαι v. 187); wie eine Fremde wohne sie nun im Haus ihres Vaters, sei schimpflich gekleidet und müsse an „leeren Tischen“ stehen. 209 Mit der Aufforderung an Elektra, auf göttliche Hilfe zu vertrauen, hat der Chor den Rahmen der Reflexion erweitert: Standen bisher konkrete Personen (Klytaimnestra, Agamemnon, Elektras Geschwister, v. a. Orest) im Mittelpunkt der Betrachtung, ermöglicht die angerissene theologisch-religiöse Dimension einen neuen Kontext. 210 Elektras Entgegnung allerdings fokussiert zunächst ganz auf die miserablen Umstände, unter denen sie zur Zeit zu leiden hat, und blendet in dieser Konzentration auf das Hier und Jetzt ihrer Situation die theo‐ logische Dimension völlig aus. Erst mit ihrer Wendung zu Zeus in der folgenden dritten Strophe wird Elektra die vom Chor eröffnete religiöse Deutungsebene in ihre Reflexion einbeziehen. Für den Moment scheinen die beiden Gesprächs‐ partner allerdings aneinander vorbeizureden, zu einer argumentativ ineinan‐ dergreifenden Kommunikation kommt es nicht. Der Chor nimmt daraufhin Abstand von inhaltlichen Erwiderungen und ruft sich in expressiven Bildern den Todestag Agamemnons in Erinnerung: Weh‐ klagen gab es am Tag der Rückkehr des Feldherrn, 211 Wehklagen, als ihm die Axt eine tödliche Wunde zufügte. Arglistige Täuschung (δόλος v. 197) habe diese Tat geplant, Eros sie ausgeführt, sei nun ein Mensch oder ein Gott der eigentliche Täter (ὁ ταῦτα πράσσων) gewesen. Elektra stimmt in die lebhafte Vergegenwärtigung der vergangenen Szenerie ein und bricht in die Verwünschung jenes bedeutsamen Tages bzw. jener Nacht aus: Ihr Vater habe den Tod von zwei Händen empfangen, die auch ihr, Elektras, Leben nahmen, sie selbst zu Grunde richteten; Zeus, der mächtige Olympier, solle, so Elektras Wunsch, denen, die dieses Werk vollendeten, im Gegenzug rächendes Leid bereiten und nicht zulassen, dass sie sich an festlichem, höfi‐ schen Prunk erfreuen. Sprachlich erfährt diese Strophe die der Emotionalität angepasste Stilisie‐ rung: Das doppelte οἰκτρά zu Beginn lässt aufhorchen und verknüpft geschickt die dramatische Realität mit der ins Gedächtnis gerufenen Szenerie; der zwei‐ gliedrige, parallel aufgebaute Vers 197 ist so schlicht wie wirkungsvoll. Elektra II. Frauenchöre 362 <?page no="363"?> bedient sich, wie in ihrer Monodie, volltönender Vokative als Mittel der Verge‐ genwärtigung, die in einem Dreischritt auf das eigentliche Geschehen und seine Wirkung fokussieren (ὦ ἁμέρα, ὦ νύξ, ὦ ἄχθη). Gezielte Wiederholungen und Konkretisierungen (αἵ … εἷλον … αἵ … ἀπώλεσαν in Vers 207 f.) verstärken den Eindruck des situativen und aufgewühlten Sprechens. Inhaltlich steht die dritte Strophe zu den vorangegangenen Partien des Kommos in einem besonders spannungsreichen Verhältnis: Zum einen spiegelt der Chor in seiner weniger narrativen als vielmehr schlaglichtartigen Rekapi‐ tulation des Mordgeschehens die moralische Wertung der Täter wider, die er bereits zu Beginn vorgetragen hatte (δόλος v. 197 - δολερά v. 124). Die Thema‐ tisierung des Eros als treibender Kraft fügt der in der ersten Strophe gegebenen Exposition der Gegner Elektras einen weiteren Aspekt hinzu, der bisher von Seiten des Chors unerwähnt geblieben war; die Erinnerung an das eigentliche Mordgeschehen vervollständigt die bereits in der ersten Strophe vorgenommene Wertung und begründet sie rückblickend. In ihrer Reaktion beteiligt sich Elektra daraufhin zunächst an der bildgewal‐ tigen Vergegenwärtigung des längere Zeit zurückliegenden Geschehens (v. 201-208). Mit der Verfluchung der Mörder und ihrer indirekten Bitte an Zeus (v. 209 f.) kommt sie daraufhin der Aufforderung des Chors aus der vorange‐ gangenen Gegenstrophe nach und stellt ihren Groll dem Göttervater anheim. In der Verurteilung der Mörder Agamemnons zeigen sich Chor und Elektra dabei zwar grundsätzlich vereint, unterscheiden sich allerdings im Grad der Konkre‐ tisierung bei der jeweils an das Ende der Beiträge gesetzten Erwähnung der Täter: Während der Chor in gewisser Zurückhaltung hinter ὁ ταῦτα πράσσων (v. 200) entweder einen Gott oder einen Menschen vermutet, stehen Elektra bei τοιάδʼ ἀνύσαντες ἔργα (v. 212) konkret ihre Mutter und deren neuer Liebhaber vor Augen. Die Frauen des Chores scheinen Elektra nach dieser lebhaften und emotionalen Partie ins Wort zu fallen, wenn sie sie in Vers 212 auffordern, lieber nicht weiter zu sprechen (v. 213). Ob sie denn nicht wisse, so die Frage des Chors, auf Grund welcher Umstände (ἐξ οἵων v. 214 f.) sich die momentane Situation ereignet habe? Sie, Elektra, falle in selbstverschuldete Verblendung; sie habe sich einiges an Übeln über das bisherige Maß erworben (ὑπερεκτήσω), da sie fortfahre, in dieser Art ihrer mutlosen Seele immerzu neue „Kriege“ zu „gebären“ (τίκτουσα 2. Elektra 363 <?page no="364"?> 212 Der überlieferte Text ist an dieser Stelle umstritten. Während J E B B (1924) S. 38, P E A R S O N (1924), K A M E R B E E K (1974) und D A W E (1996) für die Beibehaltung der Überlieferung vo‐ tieren und πλάθειν als epexegetischen Infinitiv deuten, zeigt K E L L S (1973) bereits vor‐ sichtige Sympathien für die von L L O Y D -J O N E S / W I L S O N (1990) in den Text gesetzte und von F I N G L A S S (2007) S. 166 f. verteidigte Konjektur (τλᾶθι statt πλάθειν) und die damit einhergehende Änderung der Interpunktion. 213 Wie so oft ist das Genus nicht eindeutig zu bestimmen und gibt so dem Ausdruck eine schillernde Doppeldeutigkeit. 214 In der Form von ἀνίημι sieht J E B B (1924) S. 39 eine inhaltliche Steigerung zu ἐᾶτε aus Vers 135. 215 Diese Selbsteinschätzung der mykenischen Frauen beinhaltet freilich vor dem Hinter‐ grund der realen Mutter Elektras, ihrer Rolle im Geschehen und ihrer indirekten Cha‐ rakterisierung durch ihre Tochter eine besondere Brisanz. Vgl. F I N G L A S S (2007) S. 169. Eine ganz vergleichbare Selbsteinschätzung bietet der Chor der Trachinierinnen im textkritisch umstrittenen Vers 526; vgl. die Diskussion ad locum S. 293f. πολέμους). Sie solle, so die Mahnung des Chors, dergleichen (τάδε) ertragen (τλᾶθι), da man mit den Mächtigen nicht streiten dürfe. 212 Elektra ist sich dieser Tatsache durchaus bewusst: Zu Gewaltigem (δείνʼ), d. h. zu Dingen, die das Maß übersteigen, sei sie ἐν δεινοῖς - unter Einfluss gewaltiger Dinge und maßloser Menschen 213 - gezwungen; dass mit Zorn und Wut eine maßlose Emotion in ihr aufsteige, bleibe ihr nicht verborgen. Allerdings werde sie mit dieser Verblendung, d. h. den übermäßigen und möglicherweise sogar schädlichen Gefühlen, nicht aufhören, solange sie lebe. Von wem nämlich, so ihre Frage, könnte sie ein zuträgliches Wort (πρόσφορον ἔπος v. 227) hören - von wem, der die der Situation angemessene Geisteshaltung besäße (φρονοῦντι καίρια)? Mit Vers 229 bricht sie in einen gedoppelten Imperativ aus: Die zur Tröstung gekommenen Frauen sollen sie „loslassen“ (ἄνετε 214 ), denn ihre Situation sei unlösbar; in diesen unzählbaren Leiden werde sie, sich solchermaßen in end‐ losen Klagen ergehend (ἀνάριθμος θρήνων), nie ein Ende ihrer Mühsal finden. Die beinahe schroffe Mahnung des Chors, nicht weiter zu sprechen, hat Elektra also nicht befolgt. Statt mit Rücksicht auf einen möglichen Konflikt mit den Machthabern, d. h. ihrer Mutter Klytaimnestra und Aigisth, auf weiteres Klagen zu verzichten, deutet sie ihre emotionale (Über-)Reaktion als geradezu notwendige Antwort auf die Situation, der sie sich ausgesetzt fühlt. Mit dem Beginn der Epode bringt der Chor erneut seine tief empfundene Sorge um Elektra zum Ausdruck: Wie eine „treue Mutter“ (μάτηρ ὡσεί τις πιστά v. 234) 215 wende er sich an Elektra, sie solle nicht auf Verblendung neue Verblen‐ dung hervorbringen (μὴ τίκτειν ἄταν ἄταις). Die Angesprochene reagiert ge‐ radezu empört: Welches Maß solle sie einhalten, während sie mit einem so II. Frauenchöre 364 <?page no="365"?> 216 Vgl. B U R T O N (1980) S. 191: „[…] the chorus argue strongly with conventional common‐ places found throughout Greek literature from earliest times“ sowie seine Einschätzung als „platitudes“. maßlosen Elend konfrontiert sei? Sie werde nie ohne Sorgen bei den Mördern ihres Vaters leben können, sollte sie die Klage einstellen müssen. Denn wenn der Tote, mittlerweile nur noch „Erde und nichts“ (γᾶ τε καὶ οὐδὲν ὤν v. 245), elend da läge, während die Schuldigen nicht mit ihrem eigenen Tod die ent‐ sprechende Strafe zahlten (ἀντιφόνους δίκας), dann ginge das Schamgefühl aller sowie die Frömmigkeit der Menschen zu Grunde (αἰδὼς ἁπάντων τʼ εὐσέβεια θνατῶν). Elektras Äußerungen scheinen sich dabei zunächst fast zu überschlagen, bevor sie in Verbitterung ausklingen: Drei entrüstete Fragen (v. 236-238) - be‐ merkenswert das empörte φέρε (v. 236), das im Vergleich mit den sonstigen Anreden an die Frauen des Chors wegen seiner Drastik aus dem Rahmen fällt, - sowie die effektvoll durch das doppelte μήτʼ herausgehobene Feststellung (v. 239-243) münden in eine lange Periode mit zwei konditionalen Vordersätzen (v. 245-250), deren Doppelung sich in den zwei Subjekten (αἰδώς und εὐσέβεια) des Hauptsatzes widerspiegelt. Elektras Aussagen sind dabei erneut von beson‐ derer dramatischer Ironie gekennzeichnet: Indem sie implizit die Tötung der Mörder Agamemnons fordert (v. 248), nimmt sie den Ausgang der vorliegenden Tragödie vorweg. Mit der vordergründig resignativen, für die um den Ausgang der Handlung Wissenden allerdings tragisch-ironischen Konditionalperiode endet das Amoi‐ baion. In Vers 251 ff. wird sich der Chorführer direkt an Elektra wenden, die in einem ausführlichen Monolog (v. 254-309) erneut ihre Situation darlegen wird. Der personelle Rahmen des Kommos bleibt auch zu Beginn des ersten Epeis‐ odions bestehen; erst Chrysothemisʼ Auftritt in Vers 328 wird die Szenerie öffnen. Der Durchgang durch die Passage hat die Gesprächssituation des Wechselge‐ sangs besonders deutlich gemacht: Gegenüber stehen sich die entschlossene Protagonistin sowie ein bald einfühlender und mitleidender, bald mahnender und zurechtweisender Chor. Die grundlegende thematische Basis des Amoibaions lässt sich kurz zusam‐ menfassen: Mit weitestgehend konventionellen Argumenten 216 (der Mahnung zur Mäßigung, verschiedenen Einwänden bezüglich der Aussichtslosigkeit oder gar Gefährlichkeit des Klagens sowie dem Verweis auf die Götter) versuchen die Frauen, beruhigend auf Elektra einzuwirken. Die allerdings hält an ihrem Vor‐ satz, nicht mit Klagen und Jammern aufzuhören, in besonderer Entschiedenheit 2. Elektra 365 <?page no="366"?> fest. Die konkrete Struktur der Partie allerdings, d. h. die Abfolge der thematisch in sich geschlossenen Strophen(paare), unterliegt einer eigenen Kompositions‐ absicht. Mit einiger Vorsicht lassen sich die Hauptaspekte der einzelnen Stro‐ phen überschriftsartig festhalten: Während die erste Strophe mit der Frage des Chors nach Elektras erneutem Klagen das Thema des Kommos umreißt und bereits Elektras Entschlossenheit vor Augen führt, verbalisiert die Gegenstrophe mit der Zwecklosigkeit des Jammerns einen ersten Einwand von Seiten des Chors. Das zweite Strophenpaar entfaltet daraufhin den expliziten Zuspruch des Chors an Elektra, der zunächst menschliche, dann göttliche Leidensgenossen bzw. Helfer in den Blick nimmt. Der sich vom Vorangegangenen bewusst ab‐ hebenden Rekapitulation des Geschehens in der dritten Strophe folgt in der Ge‐ genstrophe die erste Mahnung zur Vorsicht, der mit dem Beginn der Epode eine zweite, durch die Wiederaufnahme des Mutter-Motivs in ihrer Wirkung gestei‐ gerte Warnung vor weiterer ἄτη folgt. Als hochemotionale Partie folgt das Amoibaion dabei allerdings keiner durch‐ gehenden Argumentationslinie, die die einzelnen Aspekte in thematisch-logi‐ scher Reihung präsentieren würde. Gerade der Einsatz des dritten Strophen‐ paars mit seinem in die Vergangenheit gerichteten Blick ist nach dem bisherigen Gang der Reflexion nicht unmittelbar zu erwarten, sondern stellt einen beson‐ deren Einschnitt dar. Die solchermaßen abschnittsweise und teils sprunghafte Einzelthematisierung ermöglicht es dabei zum einen, die jeweiligen Emotionen besonders deutlich zu verbalisieren und miteinander zu kontrastieren. Zum an‐ deren ergeben sich thematische und motivische Beziehungen zwischen Pas‐ sagen, die nicht direkt aufeinander folgen (vgl. etwa die schrittweise Vorstellung des Personals in der ersten und zweiten Strophe oder der Verweis auf die Götter in der zweiten Gegenstrophe sowie Elektras Antwort erst in der folgenden dritten Strophe). Der Kommos zeichnet sich so durch eine besonders enge Ver‐ zahnung der einzelnen Abschnitte aus, die als thematische Mikrostruktur der gesamten Partie innere Geschlossenheit verleihen. Das Verhältnis zwischen Chor und Hauptperson ist im vorliegenden Amoi‐ baion dabei ambivalent: Geprägt von sorgender Zuneigung, getragen von ge‐ genseitigem Respekt (vgl. die gegenseitigen Anreden im ersten Strophenpaar) und ähnlich bewegt von den Eindrücken der Mordnacht wie Elektra selbst (vgl. die emotionale Schilderung zu Beginn des dritten Strophenpaars) begegnet der Chor der Protagonistin mit entsprechender Hochachtung, weist sie aber den‐ noch auf die möglichen Folgen ihres maßlosen Trauerns hin und steigert sich bis hin zur konkreten Aufforderung, nicht weiterzusprechen, und der Frage, ob denn Elektra die vorliegende Situation nicht verstehe (v. 213 f.). Elektra steht den älteren Frauen dabei mit ausgesuchtem Respekt gegenüber (vgl. v. 129, II. Frauenchöre 366 <?page no="367"?> 217 Fasst man die Monodie Elektras (v. 86-120) mit dem Kommos als einen Großabschnitt zusammen, bildet die Erwähnung des Orest auch arithmetisch in etwa die Mitte der Partie. 226), steigert sich allerdings ebenfalls zu besonders emotionalen Anrufen (vgl. v. 236), die in ihrer Direktheit die gegenseitige Achtung kurzzeitig zu konter‐ karieren scheinen. Dramaturgische Hauptfunktion der vorliegenden Partie ist die Exposition der Protagonistin und ihres Charakters. Sophokles verzichtet bewusst darauf, dem Chor zu Beginn der Tragödie eine eigene, d. h. unabhängige Ausdeutung der Situation zukommen zu lassen, sondern macht ihn vom ersten Moment seiner Bühnenpräsenz an zum Resonanzboden der ausgreifenden Emotionalität Elektras. Wenn auch in den einzelnen Strophen die Aussage des Chors der Re‐ aktion Elektras vorangeht und es somit die mykenischen Frauen sind, die be‐ wusst Themen setzen und einzelne Aspekte ansprechen, so wird durch die dem Kommos vorgeschaltete anapästische Partie deutlich, dass sich auch die vorlie‐ gende Wendung des Chors an die Protagonistin als Reaktion auf deren unmä‐ ßiges Klagen versteht. Die eigentliche Initiative liegt bei Elektra, deren Seelen‐ leben das movens der vorliegenden Partie darstellt. Die Gestaltung des Kommos spiegelt diesen Umstand: Elektra tritt hier als willensstarke Person auf, die ihr Leid in immer neuen Zusammenhängen denkt und auf keine der im Wesentlichen konventionellen Besänftigungsversuche des Chors einzugehen bereit ist. Ihre ungebeugte, dennoch bisher passive Haltung gegenüber Klytaimnestra und Aigisth scheint unabänderlich. Bereits mit dem Kommos ist zudem eine grundlegende Gesprächssituation des Dramas vorgebildet; den durch keine andere Person gestörten Austausch zwi‐ schen der Protagonistin und dem Chor wird der zweite Kommos (v. 823-870) effektvoll reinszenieren. Innerhalb der lyrischen Partien bleibt Elektra dabei einzige Gesprächspartnerin des Chors; bis auf den kurzen, einzig dem Informa‐ tionsaustausch dienenden Wechselgespräch mit Orest in den Versen 1098-1105 wird der Chor zudem auch in den Sprechpartien in keinen direkten Austausch mit einem anderen Akteur treten. Die dramaturgische Mitte der vorliegenden Partie bildet freilich die Erwäh‐ nung Orests ab Vers 159. 217 Das Spiel mit dem Vorwissen der Zuschauer erreicht hier einen ersten Höhepunkt: Das Wissen darum, dass geradezu zwei Hand‐ lungen - diejenige Elektras auf der Bühne, also vor dem Palastgebäude, und diejenige Orests hinter der Bühne am Grab des Vaters bzw. auf dem Weg dorthin - gleichzeitig ablaufen, verleiht der gesamten Partie räumliche Tiefe. Dass darüber hinaus in der Epode der Ausgang des Dramas bereits angedeutet 2. Elektra 367 <?page no="368"?> 218 Vgl. B U R T O N (1980) S. 189: „There is thus a highly effective contrast between the practical tones of the prologue and the emotional intensity of the parodos“. wurde, blendet in die Verzweiflung Elektras den Triumph über die Widersacher, den Elektra selbst theologisch-allgemeingültig als Triumph von αἰδώς und εὐσέβεια ausdeutet. Sophokles lässt mit dem Prolog und der Einzugsszenerie zwei in mehrfacher Hinsicht völlig unterschiedliche Partien aufeinander folgen. Die Kontraste sind dabei so polar wie vielfältig: ausschließlich männliches Personal im Prolog - weibliches Personal in der Einzugsszenerie, kühl berechnende Überlegung - hemmungslose Emotionalität und Leid, 218 Planung eines konkreten Vorgehens für die unmittelbare Zukunft - ausgreifende Deutung der momentanen Lage mit Blick in die fernere Vergangenheit, optimistisch-entschlossene Zuversicht - verbittert-entschlossene Hoffnungslosigkeit. Dabei dient der Chor, wie oben bereits erwähnt, innerhalb der Einzugssze‐ nerie ganz und gar der möglichst umfassenden Darstellung der Hauptperson. Sophokles erreicht eine äußerst dichte Reihung unterschiedlicher Szenen und die trennscharfe Charakterisierung der Protag