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Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania

Romanistisches Kolloquium XXX

1023
2017
978-3-8233-9104-3
978-3-8233-8104-4
Gunter Narr Verlag 
Wolfgang Dahmen
Günter Holtus
Johannes Kramer
Michael Metzeltin
Claudia Polzin-Haumann
Wolfgang Schweickard
Otto Winkelmann

Die Beiträge des Bandes beleuchten die Beschreibung und Bewertung sprachlicher Entwicklungstendenzen und Diskussionen um "guten" und "schlechten" oder "richtigen" und "falschen" Sprachgebrauch im Spannungsverhältnis von öffentlicher und fachwissenschaftlicher Wahrnehmung. Es werden vielfältige Aspekte von Sprachkritik und Sprachberatung in verschiedensten romanischen Ländern untersucht.

<?page no="0"?> www.narr.de TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Die Beiträge des Bandes beleuchten die Beschreibung und Bewertung sprachlicher Entwicklungstendenzen und Diskussionen um „guten“ und „schlechten“ oder „richtigen“ und „falschen“ Sprachgebrauch im Spannungsverhältnis von öffentlicher und fachwissenschaftlicher Wahrnehmung. Es werden vielfältige Aspekte von Sprachkritik und Sprachberatung in verschiedenen romanischen Ländern untersucht. 561 Dahmen et al. (Hrsg.) Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania Romanistisches Kolloquium XXX Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Claudia Polzin-Haumann, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) <?page no="1"?> Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania <?page no="2"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 561 <?page no="3"?> Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Claudia Polzin-Haumann, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania Romanistisches Kolloquium XXX Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 561 <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb. de abrufbar. © 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISBN 978-3-8233-9104-3 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Claudia Polzin-Haumann (Saarbrücken)/ Wolfgang Schweickard (Saarbrücken) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Frankophoner Raum Philipp Burdy (Bamberg) Sprachstil - Sprachvariation - Sprachwandel? Jacques Olivier Grandjouan, Les linguicides (1971) . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Vera Neusius (Saarbrücken) Sprachpflegerische Welten im Internet: Sprachnormierungskriterien in Deutschland und Frankreich aus argumentationsanalytischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Elmar Eggert (Kiel) Gibt es eine Norm des Québécois ? Zum Wandel in der Bewertung regionaler Merkmale in Québec . . . . 55 Edith Szlezák (Regensburg) Eine frankokanadische Norm - Chancen und Grenzen . . . . . . . . . . . . 81 2. Iberoromania Franz Lebsanft (Bonn) Lingüística popular y codificación del español . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Felix Tacke (Bonn) Die katalanische Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts Abgrenzungsdiskurs und moderne Sprachkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Alf Monjour (Duisburg-Essen) „Su acento le hace más apta para Dos Hermanas o Vélez-Málaga“. Polémica lingüística acerca de variedades e identidades . . . . . . . . . . 155 Sandra Herling (Siegen) «Sa nostra llengo» - Die balearischen Artikelformen im Fokus laienlinguistischer Sprachkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 <?page no="6"?> 6 Inhaltsverzeichnis Johannes Kramer (Trier) Wie man versucht, den Dialekt von Alghero in die katalanische Normsprache einzupassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 3. Lateinamerika Hanna Merk (Trier) Die Sprachratgeber der Academia Argentina de Letras - eine diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Carolin Patzelt (Bremen) Die Emergenz neuer sprachlicher Standards im peruanischen Spanisch: laienlinguistische vs. fachwissenschaftliche Perspektiven . . . . . . . . . 247 Katrin Pfadenhauer (Bayreuth) No digas chido porque se escucha gacho - Sprachkritik in Mexiko . 279 4. Italienisch Luca Melchior (Graz) Zwischen Norm und Gebrauch: die Online-Sprachberatungsdienste der Accademia della Crusca und von Treccani . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Falk Seiler (Gießen) Sprachkritik und Sprachberatung im Kontext der italienischen Lokalisierung freier und offener Software . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Gerald Bernhard (Bochum) Normvorstellungen und Normtoleranz bei Italienischsprechern im Ruhrgebiet und in Catania . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Judith Kittler (Bochum) Gesprochenes Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania aus laienlinguistischer und fachwissenschaftlicher Perspektive: Ergebnisse eines Perzeptionsexperiments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 5. Rumänisch Victoria Popovici (Jena) Mă-ta are cratimă . Die rumänische Orthographie als Objekt von Sprachkritik und Sprachberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 <?page no="7"?> Einleitung 7 Einleitung Claudia Polzin-Haumann (Saarbrücken)/ Wolfgang Schweickard (Saarbrücken) Das 30. Romanistische Kolloquium zum Thema „Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania“ hat vom 24. bis 26. September 2015 in Saarbrücken stattgefunden. Zentrale Schwerpunkte waren die Beschreibung und Bewertung sprachlicher Entwicklungstendenzen und die Diskussion um „guten“ und „schlechten“ oder „richtigen“ und „falschen“ Sprachgebrauch im Spannungsverhältnis von öffentlicher und fachwissenschaftlicher Wahrnehmung. Damit wurde ein Themenbereich gewählt, dem gerade in Zeiten rapider und weltweiter Veränderungen in den medialen Rahmenbedingungen der Kommunikation besondere Bedeutung und Aktualität zukommt. Im Rahmen der Vorträge wurden unterschiedliche Facetten der Thematik präsentiert und gemeinsam diskutiert. Besondere Aufmerksamkeit galt der Geschichte und den Erscheinungsformen von Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania, den Inhalten und Besonderheiten der Diskussion in den verschiedenen romanischen Ländern, den Foren von Sprachkritik und Sprachberatung, dem Verhältnis von Laienlinguistik und wissenschaftlicher Sprachbetrachtung sowie den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen romanischen und nicht-romanischen Sprachen. Der vorliegende Band versammelt die in Saarbrücken gehaltenen Vorträge sowie einen ergänzenden Beitrag von Johannes Kramer. Der einleitende Beitrag von Philipp Burdy (Bamberg) „Sprachstil - Sprachvariation - Sprachwandel? Jacques Olivier Grandjouan, Les linguicides (1971)“ stellt ein Werk vor, das zwischen wissenschaftlicher Prosa und Laienlinguistik angesiedelt ist. Der sprachkritische Essay widmet sich vornehmlich dem geschriebenen Französischen der Publizistik, Verwaltung, Schule, Politik, Justiz und Übersetzung, grenzt sich von Puristen und Antipuristen ab, befürwortet Neologismen und Lehnwörter und fordert u. a. ein Umdenken in der schulischen Ausbildung und einen verantwortungsvollen Sprachgebrauch der Publizistik. Burdy geht zunächst auf die Rezeption des Werks ein und bietet anschließend eine kritische Analyse von Inhalt und Stil des Essais. Grandjouans vor vierzig Jahren aufgestellte These, dass der Sprachgebrauch der Presse den allgemeinen Sprachgebrauch negativ beeinflusse, wird anhand von lexikographischen Referenzwerken und Google -Suchanfragen überprüft, ohne dass letztlich eine systematische Korrelation nachgewiesen werden kann. <?page no="8"?> 8 Claudia Polzin-Haumann (Saarbrücken)/ Wolfgang Schweickard (Saarbrücken) Vera Neusius (Saarbrücken) widmet sich unter dem Titel „Sprachpflegerische Welten im Internet: Sprachnormierungskriterien in Deutschland und Frankreich aus argumentationsanalytischer Perspektive“ laienlinguistischen Äußerungen über Sprache aus kontrastiver Perspektive. Als Korpus dienen das Forum Promotion linguistique sowie weitere Foren der Website abc de la langue française einerseits und die deutsche Facebook -Seite des Vereins deutsche Sprache andererseits. Der Beitrag liefert wichtige Begriffsbestimmungen (bspw. zu Öffentlichkeit, Spracheinstellungen, Online-Diskursen) und weist anhand zahlreicher Beispiele die Verwendung klassischer Argumentationstopoi und -schemata des professionellen Sprachpflegediskurses in den laienlinguistischen Internetbeiträgen nach. In seinem Beitrag „Gibt es eine Norm des Québécois ? Zum Wandel in der Bewertung regionaler Merkmale in Québec“ diskutiert Elmar Eggert (Kiel) in einem diachronen Abriss historische und aktuelle Ansätze sowie Tendenzen bezüglich der Normfrage in Québec. Nach einer definitorischen Klärung des Terminus Norm im Sinne der Sprachkritik und -beratung wird dieser auf das komplexe Varietätensystem des frankokanadischen Sprachraums übertragen. Analysegegenstand im Folgenden sind historische Diskussionen zum sprachlichen Leitbild der Québecer, insbesondere Thomas Maguires sprachkritische Diskurse, in denen die Dominanz des hexagonalen Französischen als Norm und die zwingende Anpassung an den anglophonen Sprachraum scharf kritisiert werden. Ausgehend davon führt Eggert heutige sprachberatende und -kritische Vermittlungsinstanzen wie beispielsweise den Office Québécois de la langue française ( OQLF ) an und verdeutlicht, dass ein signifikanter Wandel innerhalb der Sprachbewertung des Québecer Französischen als Norm stattgefunden hat. Edith Szlezák (Regensburg) befasst sich in ihrem Beitrag „Eine frankokanadische Norm - Chancen und Grenzen“ kritisch mit den Etablierungs- und Kodifizierungsversuchen einer Sprachnorm für das frankophone Kanada. Nach einem einführenden historischen Überblick über die Entwicklung der Sprachensituation und Daten zum aktuellen Stand der kanadischen Frankophonie erläutert Szlezák die vielfältigen und komplexen Hintergründe der Normproblematik. Als besonders schwerwiegend erweist sich das Fehlen eines kodifizierten Nachschlagewerks. Franz Lebsanft (Bonn) setzt sich in seiner Studie „Lingüística popular y codificación del español“ mit den libros de estilo als einer für den hispanophonen Sprachraum charakteristischen Form von (binärer) Sprachberatung auseinander, deren normativen Standpunkt er „[…] a medio camino entre las codificaciones profesionales de académicos y lingüístas, por una parte, y las ideas lingüísticas de la masa de los hablantes, por otra“ (S. 107 im vorliegenden Band) ansiedelt. Diesen Charakter zwischen Fachwissenschaft und Laienlinguistik <?page no="9"?> Einleitung 9 belegt Lebsanft am Beispiel des neuen Libro de estilo von El País (2014), das er exemplarisch unter orthographischen, morphosyntaktischen und lexikalischen Gesichtspunkten hinsichtlich der norma ejemplar analysiert und bewertet. Felix Tacke (Bonn) analysiert unter dem Titel „Die katalanische Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts - Abgrenzungsdiskurs und moderne Sprachkritik“ sprachpolitische sowie sprachkritische Tendenzen im heutigen Katalonien, bei denen der Umgang mit und die Bewertung von kastilischem Lehngut ( castillanismes ) einen zentralen Stellenwert einnehmen. An einem breit gefächerten Korpus werden Formen der traditionellen puristischen Abgrenzung, wie sie sich z. B. im Sprachratgeber des Institut d’Estudis Catalans (IEC) und in der Tradition der Diccionaris de dubtes manifestieren, anderen Formen der Sprachberatung vor allem in den modernen Kommunikationsmedien gegenübergestellt (Onlineplattform ésAdir ). Tacke resümiert, dass im Unterschied zur spanischen in der katalanischen Sprachpflege diese neuen Akteure eine deutlicher kommunikativ orientierte Norm vertreten und sich damit von den etablierten akademischen Strukturen absetzen. Alf Monjour (Duisburg-Essen), „‚Su acento le hace más apta para Dos Hermanas o Velez-Málaga.ʻ Polémica lingüística acerca de variedades e identidades“, nimmt laienlinguistische Äußerungen in öffentlichen Medien in den Blick, in denen der Gebrauch bestimmter sprachlicher Varietäten im heutigen Spanien mit stereotypen Identitätszuschreibungen gleichgesetzt wird. Er stellt insbesondere den politisch motivierten argumentativen Einsatz von Topoi des Typs „El hablante andaluz habla mal“ oder „El hablante andaluz tiene un nivel educativo bajo“ heraus und erläutert die dabei wirksamen framing -Prozesse. Daneben werden Versuche einer positiven Umwertung dieser Topoi illustriert. Sandra Herling (Siegen) betrachtet unter dem Titel „«Sa nostra llengo» - Die balearischen Artikelformen im Fokus laienlinguistischer Sprachkritik“ den komplexen variations- und kontaktlinguistischen Sprachraum der Balearen aus soziolinguistischer Perspektive. Im Fokus der Analyse steht, ausgehend von einer systemlinguistischen Darstellung, die laienlinguistische sprachkritische Diskussion zum Gebrauch der dialektalen Artikelformen in den audiovisuellen Medien. Im Korpus zeigt sich zum einen der noch bestehende Konflikt zwischen den insularen Dialekten und dem Standardkatalanischen, zum anderen das identitätsstiftende Potenzial der balearischen Artikelmorphologie. Johannes Kramer (Trier) gibt in seinem Beitrag, „Wie man versucht, den Dialekt von Alghero in die katalanische Normsprache einzupassen“ zunächst einen Überblick über die Geschichte des Katalanischen in Alghero. Hierbei stehen die territorial-politische und sprachliche Zugehörigkeit der Stadt seit ihrer Gründung und insbesondere externe Faktoren der Sprachgeschichte im Vordergrund. Es folgt eine Kurzcharakteristik des Algherese, dessen Besonderheit <?page no="10"?> 10 Claudia Polzin-Haumann (Saarbrücken)/ Wolfgang Schweickard (Saarbrücken) darin liegt, „dass hier eine Sprachvariante ohne starken Einfluss des Spanischen (oder Französischen) existiert […] [, die] spätestens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts […] eine rein mündlich weiter vermittelte Sprache wurde“ (S. 209 im vorliegenden Band). Die folgenden Kapitel umreißen erste Bemühungen um eine Kodifizierung des Algherese an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und gehen auf das 1988 entstandene erste Wörterbuch von Josep Sanna ein. Abschließend benennt der Vf. „Probleme bei der Applikation der katalanischen Normsprache auf den Dialekt von Alghero“ (S. 214 im vorliegenden Band): Hierzu zählt er u. a. die Tendenz zum Gebrauch einer nicht-normierten, ‘personalisierten’, italienisierenden Orthographie und zum Gebrauch des Italienischen in der alltäglichen Jugendsprache. Hanna Merk (Trier) widmet sich in „Die Sprachratgeber der Academia Argentina de Letras - eine diachrone Analyse“ Fragen der Sprachpflege und -beratung in Argentinien unter dem Vorzeichen einer zunehmenden plurizentrischen Normorientierung im hispanophonen Varietätenraum. Die Vf. betrachtet vier unterschiedliche Werke bzw. Erscheinungsformen der akademischen Sprachberatung im Hinblick auf ihren Umgang mit Besonderheiten des argentinischen Sprachgebrauchs und ihre Normorientierung ( Dudas idiomáticas frecuentes , Diccionario argentino de dudas idiomáticas , Panorama de nuestra lengua und in neuerer Zeit die akademische Sprachberatung auf Twitter) und formuliert Überlegungen zur nationalen Sprachberatung im Kontext einer panhispanischen Norm. Ausgangspunkt des Beitrags von Carolin Patzelt (Bremen), „Die Emergenz neuer sprachlicher Standards im peruanischen Spanisch: laienlinguistische vs. fachwissenschaftliche Perspektiven“ ist ein durch zunehmende Migration entstehender Varietätenkontakt zwischen der norma peruana andina und dem limeño costeño , das traditionell als die norma culta peruana gilt. In der linguistischen Fachliteratur ist diese Herausbildung eines neo-limeño gut erfasst; Patzelts Fokus liegt auf der Sprechersicht. Anhand laienlinguistischer Beiträge aus Internetforen wird die Wahrnehmung und Bewertung der Normfrage seitens der Sprecher analysiert. Der Beitrag arbeitet die Konvergenzen und Divergenzen zwischen der fachwissenschaftlichen und der laienlinguistischen Perspektive auf den Sprachwandel heraus. Kathrin Pfadenhauer (Bayreuth) beleuchtet in ihrem Beitrag „No digas chido porque se escucha gacho - Sprachkritik in Mexiko“ Formen der öffentlichen Sprachkritik im multilingualen Sprachraum Mexiko und deren Einfluss auf die Sprechereinstellungen. Nach einer Auseinandersetzung mit verschiedenen Definitionen von Sprachkritik zeigt Pfadenhauer anhand von Beispielen aus drei Ebenen die Heterogenität und Komplexität von Sprachkritik im mexikanischen Kontext. Es wird deutlich, dass sprachkritische Aktivitäten in der Öffentlichkeit <?page no="11"?> Einleitung 11 in einem Staat wie Mexiko ein zusätzliches Konfliktpotenzial entfalten können, das auf Sprachbewertungen rekurriert, die in der Kolonialzeit verwurzelt sind. Luca Melchior (Graz) setzt sich in seiner Studie „Zwischen Norm und Gebrauch: die Online-Sprachberatungsdienste der Accademia della Crusca und von Treccani “ ebenfalls mit den Erscheinungsformen laienlinguistischer und fachwissenschaftlicher Sprachberatungsanfragen auseinander. Nach einem einführenden Überblick über Struktur, Erreichbarkeit und Themenbereiche der beiden Sprachberatungsdienste konzentriert sich sein Vergleich auf die Fragen- und Antworttypologien. Melchior liefert hierbei sowohl empirische Dokumentation („ il o lo jihadista ? “) als auch synthetische Analysen. Der Wirkung des Spannungsfelds Norm-Gebrauch und der Charakterisierung von Sprachberatungsnutzern und -experten sowie deren Sprachbewusstsein wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Tendenziell sind eine Öffnung hin zur Gebrauchsnorm auf der Seite der Experten und eine ausgeprägte language awareness , großes Sprachinteresse und der Wunsch nach verbindlichen Regeln für einen korrekten Sprachgebrauch auf der Seite der Sprachberatungssuchenden festzustellen. Falk Seiler (Gießen) untersucht in seinem Beitrag „Sprachkritik und Sprachberatung im Kontext der italienischen Lokalisierung freier und offener Software“ [= FOSS ] die nicht-professionalisierte und nicht-institutionalisierte und somit unbezahlte und freiwillige „Übersetzung graphischer Benutzungsoberflächen von Computerprogrammen aus dem Englischen ins Italienische“ (S. 330 im vorliegenden Band). Nach einem Überblick über Charakteristika von FOSS , deren italienische Lokalisierung und bereits bestehende sprachnormative Vorgaben, konzentriert sich der Vf. auf sprachkritische und sprachberaterische Beiträge der Verteilerliste zur Übersetzung des Desktop-Systems KDE . Diese Form der kollaborativen Übersetzung prägt den Bereich der computervermittelten Sprache nachhaltig, ohne sich als präskriptive Instanz zu verstehen oder zu äußern: Es dominiert eine offene, nicht von Ideologie geprägte pragmatische Haltung. Angemessene Übersetzungen werden diskursiv ausgehandelt, wobei Kriterien wie Gebrauchsfrequenz, Verständlichkeit und sprachliche Korrektheit ins Feld geführt werden. Seltene präskriptive Beiträge zeichnen sich durch eine ausgeprägte Netikette aus. Sprachnormierende Tendenzen lassen sich vornehmlich im Befürworten einmal gewählter Übersetzungsäquivalente im Sinne der Nutzerfreundlichkeit nachweisen. Gerald Bernhard (Bochum) vergleicht in seiner Untersuchung zum Thema „Normvorstellungen und Normtoleranz bei Italienischsprechern im Ruhrgebiet und in Catania“ metasprachliche Äußerungen von Catanesen, die in erster oder zweiter Generation im Ruhrgebiet leben, mit denjenigen von Catanesen ohne Migrationshintergrund. Im Fokus stehen dabei ästhetische Wahrnehmungen bezogen auf das Themenfeld „regionales Standarditalienisch und Dialekte Ita- <?page no="12"?> 12 Claudia Polzin-Haumann (Saarbrücken)/ Wolfgang Schweickard (Saarbrücken) liens“. Als Ergebnis hält der Vf. fest, dass beide Sprechergruppen ihren sizilianischen Heimatdialekt als positiv bewerten. Die Haltung der in Deutschland lebenden Catanesen zeigt allerdings markante Unterschiede im Vergleich zu denen in Italien: sie stehen Dialekten grundsätzlich ablehnender gegenüber, sie weisen im Hinblick auf die Plurizentrik des Standarditalienischen eine leicht höhere Normtoleranz auf, sie bewerten die „historisch-literarische[…] toskanisch-römische Norm“ (S. 361 im vorliegenden Band) etwas positiver, und sie fällen keine Negativurteile über norditalienische Varietäten. Judith Kittler (Bochum), „Gesprochenes Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania aus laienlinguistischer und fachwissenschaftlicher Perspektive: Ergebnisse eines Perzeptionsexperiments“, vergleicht die tatsächlichen phonetischprosodischen Merkmale des RuhrCat-Korpus mit den Wahrnehmungen von „Laienlinguisten“ (insgesamt 17 italophone Studierende eines Proseminars zur Perzeptiven Varietätenlinguistik , wobei die Wahrnehmungen von acht aus Süditalien stammenden Studierenden in die Auswertung aufgenommen wurden). Den Studierenden wurden Sprachproben von ebenfalls acht nach den Kriterien Alter, Geschlecht, Migrationsgeneration (I / II ) und Wohnort (Catania / Ruhrgebiet) gewählten Sprechern aus Catania vorgespielt. Im Fokus der linguistischen Beschreibung stehen die Realisierung von / E/ und / O/ sowie der Okklusive, darüber hinaus prosodische Aspekte wie Sprechgeschwindigkeit und Sprechflüssigkeit. Im Perzeptionsexperiment werden ästhetische Bewertungen, Sprachkorrektheit, Variation auf den Ebenen Phonie, Lexie, Syntax und Prosodie sowie die Herkunft der Sprecher abgefragt. Victoria Popovici ( Jena) geht in ihrem Beitrag „ Mă-ta are cratimă . Die rumänische Orthographie als Objekt von Sprachkritik und Sprachberatung“ zunächst auf die Herausbildung der rumänischen Sprachnorm im 19. und 20. Jahrhundert sowie auf Erscheinungsformen von Sprachpflege und Sprachkritik nach 1945 ein. Im Weiteren steht insbesondere das Thema der Sprachberatung im Internet im Zentrum des Interesses. Die Vf. untersucht klassische Problemfälle der Orthographie: i , ii oder iii im Auslaut, die Verwendung des Bindestrichs (rum. cratimă ), den Einsatz der graphischen Varianten î / â für [ɨ], bzw. sunt/ suntem/ sunteţi für sînt/ sîntem/ sînteţi , und Worttrennungen des Typs nici un ‘nicht ein’ vs. niciun ‘kein’. Für diese Problemfälle beschreibt die Vf. das einschlägige Regelwerk und geht auf die Frage der Akzeptanz in Fachkreisen und öffentlichen Medien und auf laienlinguistische Hilfestellungen in Onlineforen ein. Mit Hilfe von Google -Suchanfragen werden quantitative Daten zu korrekten bzw. fehlerhaften Schreibweisen ermittelt. Abschließend moniert die Vf. das weitgehende Fehlen von Online-Sprachberatungsangeboten aus linguistischen Kreisen. <?page no="13"?> Einleitung 13 Die Herausgeber danken Lisa Rosprim, Kerstin Sterkel und Dr. Lisa Šumski (Saarbrücken) für ihr außergewöhnliches Engagement bei der Druckvorbereitung der Beiträge und bei der Herstellung der Druckvorlage. Saarbrücken, im Juli 2017 Die Herausgeber <?page no="15"?> Einleitung 15 1. Frankophoner Raum <?page no="17"?> Sprachstil-- Sprachvariation-- Sprachwandel? 17 Sprachstil-- Sprachvariation-- Sprachwandel? Jacques Olivier Grandjouan, Les linguicides (1971) Philipp Burdy (Bamberg) 1 Einleitung In den letzten Jahren hat der Germanist Jan Georg Schneider wiederholt die Forderung erhoben, die professionelle Linguistik dürfe den Diskurs über Sprachrichtigkeit nicht trivialisieren (vgl. Schneider 2005 und Schneider 2007). Aufgrund des Selbstverständnisses, eine rein deskriptive Wissenschaft zu sein, beschreibt man allenfalls laienlinguistische Sprachkritik aus der Außenperspektive, ohne jedoch zu den dort diskutierten Phänomenen Stellung zu nehmen (vgl. Schneider 2007, 18 ff.). Häufig wird in der Publizistik genau das pauschal als ‘Sprachverfall’ angeprangert, was die Linguistik - übrigens oft ebenso pauschal - als ‘Sprachwandel’ ansieht. Im Sinne einer von Schneider befürworteten differenzierteren Auseinandersetzung mit den Monita der Sprachkritiker soll in den folgenden Ausführungen ein sprachkritischer Essai betrachtet werden, der bereits vor mehr als vierzig Jahren in Frankreich erschien: Jacques Olivier Grandjouan (1971): Les linguicides , Paris, Didier. Der Text erfuhr eine geringe fachwissenschaftliche Rezeption zur Zeit seines Erscheinens, was typisch für die Gattung Sprachkritik ist. Bekannt sind mir lediglich zwei Kurzanzeigen, die eine von dem aus der französischen Lexikologie bekannten Louis Guilbert (1972), die andere von André Haudricourt (1973). Andererseits erlebte das Werk eine zweite Auflage (Grandjouan 1989) und wird auch in jüngerer Zeit vor allem in Arbeiten zur Diskursanalyse und zur Übersetzungswissenschaft gelegentlich zitiert. Die Originalität des Buches von Jacques Olivier Grandjouan besteht darin, dass es ihm nicht um das gesprochene, sondern um das geschriebene Französisch geht und dass hier - im Gegensatz zu anderen sprachkritischen Pamphleten - kein Feldzug gegen Neologismen und Lehnwörter geführt wird. Der Ausdruck crise du français kommt an keiner Stelle im Buch vor. Der Vf. ist vielmehr ausgesprochener Befürworter von Wortneubildungen, was schon der Titel des Buches Les linguicides ‘die Sprachtöter’, gebildet nach dem Muster von tyrannicide , légicide usw., zeigt. Er ist erklärter Gegner sowohl des Puris- <?page no="18"?> 18 Philipp Burdy (Bamberg) mus als auch des willenlosen Antipurismus und rechnet in seinem Buch mit beiden Gruppen rigoros ab. Thema des Ganzen ist eine Analyse des Stils vor allem der französischen Publizistik und die Identifizierung der sogenannten ‘Sprachtöter’, die das geschriebene Französisch von innen heraus zersetzen. 1 Der Vf. spricht von contagion grammaticale und tripatouillage de notre langue (Grandjouan 1971, 19 und 25). Der Text ist in einem essai-artigen Stil mit vereinzelten Literaturverweisen gehalten; der Vf. selbst ist ausgebildeter Philologe und promovierter Psychologe und beherrscht zahlreiche Fremdsprachen. Er hat viele Jahre als Lehrer für Französisch als Fremdsprache in aller Welt und als Übersetzer bei den Vereinten Nationen gearbeitet. Ferner war er Verfechter innovativer pädagogischer Ansätze. 2 Les linguicides: Inhaltsüberblick Sein Buch über die ‘Sprachtöter’ gliedert der Vf. in fünf Teile und bedient sich hierbei der Metapher der Sprache als erkranktem Organismus. Der einleitende Teil, der circa zehn Jahre vor dem übrigen Text entstanden ist, liefert allgemeine Bemerkungen zu Sprachwandel und Sprachgebrauch ( Considérations préliminaires sur les mots d’emprunt, l’usage, l’impudence des auteurs et le désarroi du public ). Der zweite Teil diagnostiziert die ‘Krankheit’ des Französischen ( Le malade et la maladie ), während sich der dritte Teil ausführlich mit den ‘Infektionsherden’ befasst ( Foyers d’infection ). Der vierte Teil identifiziert diejenigen Kreise, die der Vf. für die Krankheit verantwortlich macht ( Les linguicides ); ein kurzer Schlussteil zeigt ‘Heilungsansätze’ auf ( Les remèdes ). Im Folgenden soll ein Überblick über den Inhalt der einzelnen Teile geliefert werden. Der einleitende erste Teil bietet zutreffende Beobachtungen zu Sprachwandel im Allgemeinen, zu lexikalischem Wandel und zum Begriff des usage . Der Vf. gibt sich hier als versierter und gut unterrichteter Linguist zu erkennen. Er bekennt sich zu notwendigen Neologismen, die er als oxygène du vocabulaire bezeichnet (4), 2 und erteilt dem Purismus eine Absage: „Pour garder une langue pure, il n’y a qu’un moyen: la tuer et l’empailler“ (5). Andererseits lehnt er die willenlose Akzeptanz aller Neuerungen durch die Antipuristen gleichermaßen ab (vgl. 7). Der usage ist für den Vf. der Sprachgebrauch der Mehrheit, ganz gleich welchen Bildungsgrades, der bon usage sei dagegen nur theoretisch zu definieren: „Encore une fois, le système est théoriquement simple. Le bon usage 1 Auch Schneider (2007, 20) identifiziert die Journalisten als eine für sprachliche Mängel anfällige Gruppe. 2 Ab hier beziehen sich alle Seitenangaben auf Grandjouan (1971), soweit nichts anderes genannt ist. <?page no="19"?> Sprachstil-- Sprachvariation-- Sprachwandel? Grandjouan, Les linguicides 19 est celui qui est commun à la langue littéraire et à la langue vulgaire, commun aux poètes et aux crocheteurs“ (13). Die sprachlichen Autoritäten haben sich verschoben: Nicht mehr Autoren und Chansonniers bringen neue Wendungen und Neologismen in Umlauf, sondern die Medien (vgl. 15). Der Vf. fragt sich daher, weshalb die französische Öffentlichkeit derart unkritisch den ebenso unbeholfenen wie prätentiösen Sprachgebrauch der Publizistik akzeptiere (vgl. 19). Überflüssige Entlehnungen seien hierbei nicht das Problem, sondern nur ein Symptom für den besorgniserregenden Zustand des Französischen. Hätte es sich nicht selbst verwundbar gemacht, würden diese nämlich gar nicht eindringen (vgl. 19). Schon hier wird klar, dass der Vf. es vor allem auf den Journalistenjargon abgesehen hat. Er formuliert zwei Leitfragen, die die folgenden Teile des Buches charakterisieren (vgl. 26): Woher rührt die sprachliche Sorglosigkeit der Publizistik? Und woher die Passivität und sprachliche Manipulierbarkeit der französischen Öffentlichkeit? Der Vf. skizziert zunächst die qualités propres du français , die in ihrer Summe den génie de la langue française ausmachen, nämlich clarté , précision , sobriété , tenue und élégance (32) . Dies sind Stereotype, die spätestens seit Rivarol im sprachkritischen Diskurs verankert sind. Gleichzeitig bilden diese für den Vf. die critères de santé des Französischen (32). Abweichungen hiervon seien folglich Symptome einer Krankheit. Gegenstand der Betrachtung ist dabei nur das geschriebene français commun de tout le monde , nicht aber die gesprochene Sprache, die vom Vf. nicht als krank angesehen wird. Auch das rein literarische oder rein technische Französisch seien weitaus weniger betroffen (vgl. 33). Im sich anschließenden Teil des Buches will nun der Vf. anhand einer Fülle von Beispielen, die aus publizistischen und administrativen Texten stammen, den Nachweis erbringen, dass sämtliche genannten Qualitäten des Französischen am pourrissement de la langue leiden. Die clarté sei in erster Linie durch die équivoque , also die Doppeldeutigkeit, bedroht: Une crise de conscience douloureuse (39) ([Weshalb nicht: ] Une douloureuse crise de conscience ? ) (43) Les états indépendants de l’Afrique (40) Les usines privées de métallurgie (40) „Stage destiné aux professeurs de français libanais“ - Pourquoi n’ont-ils pas écrit: les Libanais professeurs de français ? (44) „Jeux interdits sur la plage“ ou „Stationnement dans le village interdit“ peuvent être de simples notices municipales ou le titre de récits scabreux et romanesques (45) <?page no="20"?> 20 Philipp Burdy (Bamberg) „Les territoires voisins de la Zambie et de la Tanzanie“ - Quant à la Zambie et à la Tanzanie, il est sûr qu’ils ont d’intéressants voisins, mais est-ce d’eux que le journal veut nous parler ? (46) L’encouragement de l’industrie : L’encouragement que représente l’industrie ? L’encouragement donné à l’industrie ? L’encouragement donné par l’industrie ? (47) „Retour à la Tchécoslovaquie de Beneš et de Masaryk“ - retour des cendres? On les lui rend ? (48) „Le premier ministre tchécoslovaque des affaires étrangères d’après-guerre“ - on a probablement confié à un historien celles d’avant la guerre. (49) Jean nous lira une lettre de Marie qu’il a reçue en Normandie la semaine dernière. (52) Celui qu’elle veut épouser, c’est un ingénieur vivant en Californie et gagnant beaucoup d’argent. - Et comment s’appelle-t-il? - Ça je te le dirai quand elle l’aura trouvé. (59) Die Art der Kommentierung der Beispiele erinnert an den Stil der Remarqueurs vergangener Jahrhunderte. Als Schöpfer solcher Unklarheiten identifiziert der Vf. u. a. Journalisten und Verwaltungsbeamte; der klassischen Sprache und dem gesprochenen Französisch seien derartige Lapsus dagegen fremd (vgl. 55 und 59). Den sich anschließenden Abschnitt über Verstöße gegen die précision leitet der Vf. mit folgenden Worten ein: „Au musée des horreurs de la sémantique, ces mots employés de travers occupent des rayons entiers, à côté de la salle des emprunts mal compris“ (66). Er gibt u. a. die folgenden Beispiele: „La réussite de la mission dépend de la tenue de cette conférence.“ - Du style de la conférence? (76) „Atterrissage sur le ventre d’un Tupolev 124.“ - Drôle d’endroit pour atterrir. (78) Besonders interessant ist die Beobachtung, dass in der Sprache der Publizistik das complément circonstanciel mehr und mehr zum complément du nom wird: „Leur réunion sur les rapports avec Bonn“ (79) „La situation en Indonésie a empiré“ (80) „Le film évoque un drame sous la terreur“ (80) Das Französische scheint also ein neues Verfahren zur näheren Bestimmung von Nominalphrasen zu entwickeln (vgl. 97). Dazu kommt eine Tendenz, (Verbal-)Abstrakta mit Infinitiven zu verbinden, was der Vf. als rections inédites bezeichnet: <?page no="21"?> [Korrekt ist: ] Une menace de contagion, un effort de clarté, une tentative d’assassinat [Nicht aber: ] Sa menace de dénoncer, son défi d’agir, son effort de nuire, son accusation de mentir, sa tentative de perdre (82) L’expression la demande de répondre peut vouloir dire que A demande à B l’autorisation de répondre, que A voudrait que B réponde, que A demande à B de faire répondre C. Bel exemple de confusion. (82) Méthode , procédé , technique , procédure ne sont-ils pas les synonymes modernes de moyen , façon , manière ? Allons vite, et disons : „la méthode d’aborder le problème“, „les procédés de raffiner l’huile brute“, „les techniques d’alimenter les masses“, „la procédure de révoquer les ordonnances“. (83) Die sobriété des Französischen werde beeinträchtigt durch weitere Phänomene journalistischer und administrativer „Logorrhö“ (87): „Les températures relevées au cours de la journée marquent une nette augmentation par rapport à la moyenne de celles de la journée précédente“ = Il a fait plus chaud aujourd’hui qu’hier. (87) „Dans l’état actuel de mes informations et étant donné les circonstances, il m’est naturellement impossible de vous donner une réponse formelle dans un sens ou dans un autre“ = je n’en sais rien, expression qui appartient désormais à une langue oubliée. (87) Der Vf. fragt sich ferner, weshalb man in Zeitungen und Magazinen häufig folgendes liest: [ établir une distinction statt distinguer ; manifester un souhait statt souhaiter ; selon lequel statt einfachem que ; en considération du fait que statt parce que ; parallèlement au fait que statt pendant que : ] Une fois sur cent, peut-être, la tournure est utile. Le reste du temps, elle est à mettre au panier. (101) Alles, was den Redebzw. Lesefluss verlangsamt und aufbläht, scheine Journalisten, Funktionären und Politikern willkommen zu sein (vgl. 103). Im Abschnitt zur tenue geht es vor allem um die Zersetzung typisch französischer idiomatischer Strukturen, der sogenannten Gallizismen. Der Vf. zitiert etwa folgende Fälle: „Ses parents adoptifs la considèrent être leur fille“ [→ juger être oder considérer comme , aber nicht considérer être ] (129) Sprachstil-- Sprachvariation-- Sprachwandel? Grandjouan, Les linguicides 21 <?page no="22"?> 22 Philipp Burdy (Bamberg) „Les réfugiés estiment qu’on a fait trop bon cas de leurs intérêts.“ [→ trop peu de cas oder trop bon marché ] (127) „une solution acceptable pour toutes les parties“; „Ce style est hermétique à la plupart des lecteurs“ Tous ces adjectifs se suffisent à eux-mêmes, sans qu’un régime les accompagne (131 f.) [Korrekt ist: ] Les prisonniers ont utilisé leurs draps pour glisser jusqu’à terre. [Aber nicht: ] utiliser l’escalier roulant [ utiliser ‘rendre utile’! ] (113) Ebenso oft lese man in Pressetexten etwa l’empereur iranien , le président chilien , was korrekt l’empereur d’Iran , le président du Chili heißen müsste, da es um deren Funktion und nicht um deren Herkunft gehe (135). In Fällen wie le sénateur Kennedy , le ministre Guichard sieht der Vf. schließlich einen Einfluss des Englischen ( Senator Kennedy usw.); französisch wäre die Nachstellung: M. Labiche, député , M. Tartempion, sénateur (139). Die abschließend behandelte gefährdete Qualität des Französischen ist die élégance , die quasi die Summe der zuvor genannten Vorzüge des Französischen darstelle. Der Vf. lehnt hier grundsätzlich archaisierende Wendungen ab, ferner kritisiert er den übermäßigen Gebrauch von soi : „L’augmentation constante de la production n’est pas en soi un avantage“ [richtig wäre en elle-même ] (148), und kommentiert dies mit folgenden Worten: „Les auteurs montrent qu’ils ont été à l’école - et qu’ils y ont perdu leur temps“ (148). Ein weiteres behandeltes Phänomen ist die zunehmende Polysemie alteinheimischer französischer Wörter in journalistischen Texten, worin der Vf. eine Gefahr sieht, da genuin französische Strukturen allmählich zersetzt würden: „Quant à présenter, il devient verbe à tout faire: on ne dépose plus un projet de loi, on le présente, l’ambassadeur n’adresse plus ses rapports, il les présente“ (151). Schließlich zieht der Vf. am Ende der ersten Hälfte seines Buches folgendes Fazit: „La langue est en pleine crue ; boueuse, encombrée d’énormes débris et de charognes gonflées, c’est un fleuve qui a perdu ses rives“ (153). In den nun folgenden Teilen seines Buches nimmt sich der Vf. die von ihm identifizierten Milieus, die er für die beschriebenen Defizite des geschriebenen Französisch verantwortlich macht, einzeln vor, nämlich die Schule, die Verwaltung, die Übersetzer, die Presse, die Reklame und die Puristen. Zunächst fasst er nochmals die Gründe dafür zusammen, dass diese linguicides einen derart starken Einfluss ausüben: <?page no="23"?> Les Français ignorent les ressources de leur langue ou n’osent pas les employer. Les Français essaient de se créer de nouvelles ressources linguistiques pour remédier à cette pauvreté volontaire. Les Français ont peur de parler et d’écrire comme leur penchant les y mènerait, et ils se forcent à parler bien pour être considérés. Les Français ont de l’école et des puristes une peur paralysante, et ils sont sans défense devant les marchands de mots (159) Es ist mithin offensichtlich, dass das Übel laut dem Vf. nicht von außen kommt. Die Schule gebe keine Hilfestellung bei der Vermeidung der von ihm angeprangerten sprachlichen Defizite, sondern korrigiere grundsätzlich das Französisch der Schüler und lehre aberwitzige Grundsätze wie die Vermeidung von Parataxen und Wiederholungen (vgl. 180 ff.): „L’école fait la guerre au français vivant au nom d’un français qui n’a jamais existé“ (172). Eines dieser von der Schule propagierten ‘Sprachmonster’ sei das Partizip Präsens an der Stelle eines Relativsatzes, das nur die Schule, nicht aber die alte Sprache oder die Sprache der weniger Gebildeten kenne (vgl. 173 ff.). Der Schulunterricht gehöre daher zu den „linguicides malgré eux“ (182). Als nächste linguicides werden Justiz und Verwaltung identifiziert, die geradezu aus Angst vor der alltäglichen Sprache den style adjutant produzieren, den juristisch-administrativen Jargon. Dieser sei letzten Endes eine Konsequenz der Ordonnance de Villers-Cotterêts : „La justice, la basoche, les notaires, les bureaux, et peu à peu les services de l’Etat ont façonné, conservé et embelli une langue aussi obscure que le latin défunt“ (185). Früher, so schreibt der Vf., amüsierte man sich über die unnatürliche Sprache des Dorfpolizisten, den sogenannten style garde champêtre , heute lache niemand mehr. Man habe genug damit zu tun zu verstehen, was das Amt schreibt (vgl. 196). - Bei seiner Kritik an den Übersetzern hat der Vf. nicht die literarischen Übersetzer im Auge, sondern alles, was unter traductions utilitaires fällt. Viele Texte des täglichen Gebrauchs sind nämlich Übersetzungen und die meisten von diesen seien durch hastige Arbeit, impropriétés , gaucheries und faux-amis geprägt (vgl. 200): L’étrange langue des traducteurs ne leur appartient plus exclusivement. Les gaucheries, les longueurs et les faux-sens qu’on tolère chez eux passent sans filtrage dans la langue commune. (225) Dass der Vf. die Sprache der Presse als eine der Hauptschuldigen für die fortschreitende innere Zersetzung des Französischen ansieht, wird dem Leser schon Sprachstil-- Sprachvariation-- Sprachwandel? Grandjouan, Les linguicides 23 <?page no="24"?> 24 Philipp Burdy (Bamberg) in der ersten Hälfte des Buches mehr als deutlich. 3 Dies wiege umso schwerer, als der Publizistik eine hohe Verantwortung in der gegenwärtigen Gesellschaft zukomme: Zeitungen und Magazine, so der Vf., seien schließlich die „forme principale de la culture écrite“ (237). Der sich daraus ergebenden Verpflichtung werde die Presse allerdings alles andere als gerecht: Le style journaliste n’est ni soutenu, ni familier, il est négligé. (238) Chaque page de journal, et souvent chaque colonne, ont des travers propres dont la somme fait de la lecture des périodiques un empoisonnement lent, mais général. (236) Am Rande geht der Vf. auch auf die gesprochene Sprache der Medien ein und kritisiert deren eigenartige Phonetik, etwa die Tendenz zur Sonorisierung von [s] und [k] vor Konsonant, also législatif [leʒizlatif], optimisme [ɔptimizm], technique [tɛgnik], oder aber die Aussprache fremder Eigennamen, die bei jedem Rundfunksprecher anders, aber bei praktisch keinem korrekt sei. H. J. Wolf beobachtete etwa zur gleichen Zeit die Aussprache von Bruxelles mit [ks], die man selbst in belgischen Medien hört (vgl. Wolf 2 1991, 170). Auch in der Sprache der Reklame diagnostiziert der Vf. Einflüsse des Angloamerikanischen, etwa in Wendungen wie buvez français , voyagez français , die wohl Ausdrücke wie Buy British kopieren (vgl. 256). Außerdem werde in der Werbebranche jedes Wort, jede Wendung, die sprachlich betrachtet ein schlechtes Gewissen hervorrufen, in Anführungszeichen gesetzt: Les guillemets sont l’antichambre et le purgatoire des sottises et des plates horreurs dont fourmillera demain le français de tous les jours. (126) Den Abschluss der Identifizierung der linguicides bildet eine Abrechnung mit dem Purismus. Der Vf. plädiert für die Aktivierung ungenutzter Ressourcen des Französischen, nicht dagegen für eine Wiederbelebung von Archaismen. Daher wirft er den Puristen Folgendes vor: Inventer enfin, c’est créer, et les puristes ne redoutent rien tant que la procréation. Ce sont les grands avorteurs. (267) Die Reihe sprachlicher Abtreibungen und Sterilisierungen seit dem 17. Jahrhundert führe dazu, dass das Französische heute wie Schneewittchen im Glassarg liege, das man von außen betrachten, aber nicht aufwecken wolle (vgl. 272). Amüsant zu lesen ist die nun folgende persönliche Abrechnung des Vf. mit prominenten französischen Sprachkritikern (vgl. 273 f.), nämlich „Robert-la- Pudeur“, also Robert Le Bidois, „René-la-Haine“, also René Étiemble, und „Mar- 3 Die Diagnose der ‘Sprachverwässerung’ kehrt übrigens in jüngerer Zeit in der deutschen sprachkritischen Publizistik wieder (vgl. Schneider 2005, 16 f.) <?page no="25"?> cel-sans-Gêne“, also Marcel Cohen. Étiemble wirft der Vf. sprachgeschichtliche Ignoranz vor, Cohen vergleicht er mit einem inspecteur Michelin . Für ihn leiden Puristen wie Antipuristen an Hypertrophie der Urteilsfähigkeit. Alle praktizieren ein jugement moral , das heißt, irgendein Sprachgebrauch ist entweder gut oder schlecht, doch sie weigern sich anzuerkennen, dass das Französische an einer maladie sociale leide (vgl. 282). Im Anhang liefert der Vf. schließlich eine synoptische Darstellung der von ihm analysierten Sprachphänomene. Nach dieser fast 300 Seiten starken Anklage ist der Leser neugierig zu erfahren, wie der Vf. die Heilungschancen beurteilt. Seine These ist die folgende: Mehr Freiheit dort, wo Einschüchterung herrscht, gemeint sind die Schule und die Puristen, und mehr Feingefühl dort, wo Missbrauch herrscht, gemeint ist die Publizistik: Ma thèse est donc qu’en mettant la liberté là où il y avait la contrainte et en essayant de mettre de la décence là où il n’y avait que des abus, on rendra à la langue commune la vigueur qu’il lui faut pour résister aux attaques futures des linguicides, même assagis. (295) Der Vf. zieht eine gewisse sprachliche Anarchie der aktuellen Situation vor, denn die Bevormundung durch Schule und Puristen mache die Sprecher anfällig für die Nachahmung vermeintlicher Autoritäten wie Presse und Verwaltung (vgl. 296). Karikaturesk erscheint hingegen, was dem Vf. zur Eindämmung sprachlichen Missbrauchs konkret vorschwebt. So müssten innerhalb der Zeitungsredaktionen Geldbußen für sprachliche Nachlässigkeit eingeführt werden und in der Werbebranche der Gebrauch von alles entschuldigenden Anführungszeichen verboten werden (vgl. 300 f.). Ernster zu nehmen ist dagegen die Forderung nach einem Umdenken im Schulwesen (vgl. 303 ff.). Bereits der Grundschüler solle dazu ermuntert werden, sich spontan und frei auszudrücken, und zwar mündlich wie schriftlich, anstatt dass man ihn durch orthographische und schulgrammatische Unterweisung kommunikativ verunsichere und lähme. Es geht dem Vf. letztlich um eine Wiederbelebung des natürlichen, klaren Sprechens. Daraus ergebe sich das klare Schreiben von selbst (vgl. 314). 3 Kritik Was ist nun von diesem Pamphlet im Ganzen zu halten? Jacques Olivier Grandjouan ist durchaus ein Linguist und verfügt über exzellente sprachhistorische Kenntnisse. Er zitiert Du Bellay, dessen Vorliebe für Wortneubildungen er teilt. Seine Glossen erinnern an den Stil Malherbes, ein fingierter Dialog mit einem Puristen gemahnt ebenfalls an prominente Vorbilder in der Sprachgeschichte. Sprachstil-- Sprachvariation-- Sprachwandel? Grandjouan, Les linguicides 25 <?page no="26"?> 26 Philipp Burdy (Bamberg) Die linguistischen Analysen des Vf. sind in der Sache stets nachvollziehbar. Dennoch wählt er für sein Buch den Essai-Stil und rechnet sich selbst nicht der Gruppe der Sprachwissenschaftler zu, wodurch der Text in der Mitte zwischen Laienlinguistik und wissenschaftlicher Prosa anzusiedeln ist. Der Vf. argumentiert aus seinem untrüglichen Sprachgefühl heraus - was er übrigens den Puristen vorwirft - und verzichtet auf sprachhistorische Nachweise seiner Monita. Mal verwendet er phonetische Transkriptionen, mal nicht. Mal verwendet er konventionelle linguistische Termini, dann bezeichnet er Verbalabstrakta als maçdar (78 u. ö.), also mit einem Terminus aus der arabischen Grammatik. Der Vf. beherrscht zahlreiche Fremdsprachen, darunter Arabisch und exotische Sprachen, und scheint eine enorme Übersetzungspraxis zu besitzen. Zweifellos kennt er alle Finessen des genuin französischen Wortschatzes. Auffällig ist, dass der Vf. an mehreren Stellen die Beeinträchtigung der Normaussprache durch phonetische Merkmale des Midi kritisiert. Sein Familienname Grandjouan deutet hingegen darauf hin, dass er selbst aus Südfrankreich stammt. Es handelt sich hierbei um eine Art linguistischer Selbstgeißelung, die man ansonsten vor allem aus Belgien kennt. Was kann man dem Vf. vorwerfen? Er ist zweifellos ein besserer Beobachter des Sprachgebrauchs als ein Entwickler konstruktiver Ideen zur Verbesserung des Ist-Zustandes des Französischen, die ihm vorschwebt. Die ihm eigene Metaphorik macht die Lektüre oft amüsant, doch die zentrale, das ganze Buch durchziehende Metapher der Sprache als kranker Organismus ist weder neu noch originell, 4 ebensowenig der Rückgriff auf das Konzept des génie de la langue française . Die dem Vf. vorschwebende Instanz eines nationalen Sprachschiedsrichters erinnert stark an ihn selbst: „… un philologue compétant auquel la langue du temps sera aussi familière que la langue d’autrefois. J’aimerais penser qu’il saura aussi une ou deux langues étrangères et qu’il sera un peu linguiste“ (298). Was bleibt, ist die brillante Analyse der Sprache der französischen Presse und Publizistik. Der Linguist André Haudricourt lobte das Buch in seiner Kurzanzeige als eine der besten Einführungen in die Sozio- und Ethnolinguistik, was der Vf. gar nicht angestrebt hatte. Vielmehr handelt es sich um eine auch heute noch über weite Strecken äußerst lesenswerte Abhandlung über französische Stilistik: Dem Leser wird zum einen der Ist-Zustand der französischen Mediensprache bewusst gemacht, zum anderen erhält er Fingerzeige auf nachzuahmenden und zu vermeidenden Sprachgebrauch. Dass etwa Doppeldeutigkeiten ( équivoques ), falsch gebrauchte Phraseologismen, unnötige locutions verbales 4 Vgl. die Kritik an der Organismus-Metaphorik bei Schneider (2007, 12 ff.). <?page no="27"?> und vermeintliche Synonyme 5 auch die französische Mediensprache von heute kennzeichnen, wird niemand in Abrede stellen. 4 Variation oder Wandel? Die Hypothese des Vf., dass der Sprachgebrauch der Publizistik schleichend das français commun beeinflusst, scheint vierzig Jahre später im world wide web in einigen Fällen ihre Bestätigung zu finden, jedoch nicht grundsätzlich. Ich gebe nur einige wenige Beispiele: Das vom Vf. kritisierte capacité d’achat (22) liefert rund 325 000 Google-Treffer, das als korrekt erachtete pouvoir d’achat hingegen 7 340 000 Treffer. TLF i und GR verzeichnen capacité d’achat nicht. Ein ähnliches Bild liefert coût de la vie , nach englisch cost of living gebildet und vom Vf. abgelehnt (225), gegenüber prix de la vie : 12 800 000 Google-Treffern für die kritisierte Form stehen 39 900 000 Treffer für die korrekte Form gegenüber. Der GR (s.v. vie ) und der TLFi (ss.vv. vie , coût ) verzeichnen beide Varianten. Anders liegen die Dinge im Fall von niveau de vie vs. train de vie : Das vom Vf. getadelte niveau de vie (310) hat im Internet die andere Variante bereits überrundet (55 100 000 gegenüber 25 000 000 Treffern). Der GR und der TLF i liefern beide Varianten (ss.vv. niveau , train ). Die vom Vf. kritisierte Verwendung von escalade in der Bedeutung ‘Eskalation’ ist im GR und im TLF i verbucht, die Zitate stammen jedoch tatsächlich zum größten Teil aus Presse und Publizistik ( Le Monde , Le Figaro u. a.). Ein weiterer kritisierter mauvais usage scheint tatsächlich auf dem Vormarsch zu sein: Der Vf. spricht mit Blick auf les Caraïbes von einer „entité mystérieuse“, denn: „Passez vos vacances aux Caraïbes c’est comme si on nous disait : Passez vos vacances aux Avernes“ (136). Auch GR npr (1, 545) und Lexis (2009, 271) teilen mit, dass mit Caraïbes ein Volk benannt werde, das einst die Kleinen Antillen besiedelte bzw. mit caraïbe die Sprache dieses Volkes. Ein anderes Bild liefert der entsprechende Wikipedia-Artikel Caraïbes : „Les Caraïbes […] sont une région du globe correspondant au bassin versant de la mer des Caraïbes“. 6 Auch entsprechende Google-Suchen belegen, dass der vom Vf. bemängelte Usus, mit Caraïbes eine geographische Region zu benennen, inzwischen gang und gäbe ist: vacances aux Caraïbes liefert 12 900 Google-Treffer, voyage aux Caraïbes 13 400 Treffer und croisière aux Caraïbes 15 200 Treffer. Die 5 Vgl. folgendes Beispiel aus der deutschen Pressesprache: In der Süddeutschen Zeitung wurde in den letzten Monaten wiederholt (einen Konflikt o. ä.) befeuern an der Stelle von anheizen , schüren verwendet ( SZ vom 09. 11. 15 / 19. 02. 16). Befeuern kann zwar auch übertragen gebraucht werden, allein es bedeutet dann ‘anspornen’ und bezieht sich folglich nur auf Personen, z. B. jdn durch Lob befeuern . 6 https: / / fr.wikipedia.org/ wiki/ Caraïbes (17. 02. 2016). Sprachstil-- Sprachvariation-- Sprachwandel? Grandjouan, Les linguicides 27 <?page no="28"?> 28 Philipp Burdy (Bamberg) entsprechenden Varianten vacances , voyage aux Antilles liegen mit 44 600 bzw. 24 700 Treffern noch vorn, nicht jedoch croisière aux Antilles (13 700 Treffer). Auf der Grundlage der hier erörterten Sprachdaten lässt sich exemplifizieren, was K. Hunnius unlängst anhand von Beispielen aus dem Bereich der französischen Morphosyntax gezeigt hat: Variation ohne Wandel stellt ein reales Szenarium in der Sprachgeschichte dar (vgl. Hunnius 2015, 602 f.). Zumindest für den hier betrachteten, zugegebenermaßen kleinen Ausschnitt aus der französischen Sprachgeschichte (des 20. Jahrhunderts) zeigen die Beispiele, dass in den fünfziger und sechziger Jahren genauso wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts Variation zu beobachten ist; in einigen Fällen mag diese Variation auf künftigen Wandel hindeuten, vollzogen ist dieser in keinem Fall: Hierfür müsste sich erst ein Statuswechsel abzeichnen, der eine in der Vergangenheit als korrekt erachtete Variante stigmatisiert (vgl. Hunnius 2015, 603). Diese Feststellung gilt nicht nur für die soeben erörterten Beispiele, sondern lässt sich auf sämtliche in dem Buch thematisierten Belege für nachlässigen Sprachgebrauch, denen der Vf. den seines Erachtens korrekten gegenüberstellt, ausdehnen: In keinem einzigen Fall kann davon die Rede sein, dass J. O. Grandjouan in seinem Werk Les linguicides einen usage propagiere, der heutzutage nachweislich in irgendeiner Form proskribiert wäre. Also kein Wandel, sondern Fortbestehen der Variation. Literaturverzeichnis GR = Robert, Paul / Rey, Alain (eds.) (2011): Le Grand Robert de la langue française, version numérique , http: / / gr.bvdep.com. Grandjouan, Jacques Olivier (1971): Les linguicides , Paris, Didier. Grandjouan, Jacques Olivier (1989): Les linguicides , Aix-en-Provence, Martorana. GR npr = Robert, Paul et al. (eds.) (1986): Le Grand Robert des noms propres. Dictionnaire universel alphabétique et analogique des noms propres , Paris, Le Robert. Guilbert, Louis (1972): [Rez. zu „J. O. Grandjouan, Les linguicides , Paris: Didier 1971“], in: Bulletin de la Société de Linguistique de Paris , vol. 67, Nr. 2, 169-171. Haudricourt, André G. (1973): [Rez. zu „J. O. Grandjouan, Les linguicides , Paris: Didier 1971“], in: L’Homme , vol. 13, Nr. 1, 260-261. Hunnius, Klaus (2015): „Sprachgeschichte und Sprachvariation. Zur Imperfektverwendung in der Protasis des französischen Bedingungssatzes“, in: Zeitschrift für romanische Philologie , vol. 131, Nr. 3, 587-604. Lexis = Haboury, Frédéric (ed.) (2009): Le Lexis. Le dictionnaire érudit de la langue française , Paris, Larousse. Schneider, Jan Georg (2005): „Was ist ein sprachlicher Fehler? Anmerkungen zu populärer Sprachkritik am Beispiel der Kolumnensammlung von Bastian Sick“, in: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur , vol. 2, 154-177. <?page no="29"?> Schneider, Jan Georg (2007): „Sprache als kranker Organismus. Linguistische Anmerkungen zum Spiegel-Titel ‚Rettet dem Deutsch! ‘“, in: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur , vol. 1, 1-23. TLF i = Trésor de la langue française informatisé , Paris / Nancy, CNRS / ATILF , http: / / atilf. atilf.fr/ tlf.htm. Wolf, Heinz Jürgen (1979/ 2 1991): Französische Sprachgeschichte , Heidelberg, Quelle & Meyer. Sprachstil-- Sprachvariation-- Sprachwandel? Grandjouan, Les linguicides 29 <?page no="31"?> Sprachpflegerische Welten im Internet: 31 Sprachpflegerische Welten im Internet: Sprachnormierungskriterien in Deutschland und Frankreich aus argumentationsanalytischer Perspektive Vera Neusius (Saarbrücken) 1 Einleitung und Zielsetzung Die in der heutigen Zeit immer weiter fortschreitende und sich diversifizierende mediale Praxis, darunter insbesondere internetbasierte Kommunikationsformen, fordert gerade im Rahmen einer Angewandten Linguistik die Erweiterung verschiedener sprachwissenschaftlicher Forschungsbereiche. Die Sprachpflege und Sprachkritik als einer dieser Bereiche steht sowohl in Deutschland als auch in Frankreich in einer langen Forschungstradition und sieht sich im gegenwärtigen Zeitalter globaler kommunikativer Prozesse mit neuen Entwicklungen konfrontiert: Der Wirkungsbereich metasprachlicher Diskurse hat sich auf neue Bereiche wie das Internet ausgeweitet und die Diskussion über Sprache und Sprachbewusstsein deckt nunmehr neben Wissenschaft und Politik einen immer größer werdenden Teil der Öffentlichkeit ab. Dass dabei „[j]e nach Akteur und Aktionsebene […] unterschiedliche Aspekte im Vordergrund [stehen]“ und „die Grenzen zwischen ihnen […] mitunter verschwommen [erscheinen]“ (Polzin- Haumann / Osthus 2011, 13) erschweren eine aus wissenschaftlicher Perspektive vollständige Erfassung sprachpflegerischer Diskurse, weshalb eine ihrer Komplexität angemessene, terminologisch und methodisch interdisziplinär angelegte Herangehensweise anzuwenden ist. Vor diesem Hintergrund strebt der Beitrag eine kontrastive Untersuchung aus diskurslinguistischer Perspektive an, die laienlinguistische Online-Kommunikation als sprachnormativen Teildiskurs in Deutschland und Frankreich fokussiert. Dabei soll zunächst exemplarisch geprüft werden, ob in Foren und sozialen Netzwerken verbalisierte Einstellungen zu Sprache und ihren Sprechern bereits historisch gewachsenen Normierungskriterien zugeordnet werden können. Im Anschluss sollen im Rahmen argumentationsanalytischer Überlegungen zentrale argumentative Strukturen der Diskursteilnehmer herausgearbeitet werden, um die innere Struktur laienlinguistischer Sprachthematisierungen genauer zu durchleuchten. <?page no="32"?> 32 Vera Neusius (Saarbrücken) 2 Sprachpflege und Laienlinguistik in öffentlichen Diskursräumen Hoberg (1997, 55) definiert den Kommunikationsbereich Öffentlichkeit als „[…] alles, was nicht Linguistik ist und was >Publizität< beanspruchen kann“. Diese auf der einen Seite zunächst sehr offen anmutende Begriffsbestimmung impliziert auf der anderen Seite ein Verständnis von Öffentlichkeit als klar abgestecktem, geschlossenen Raum, in dem die äußeren Akteurspositionen „>Experte< und >Laie< […] zwei Pole auf einem Kontinuum sind“ (Spitzmüller 2005, 71). Wie aber der Übergang zwischen Experten und Laien nicht als absolut, sondern graduell zu verstehen ist (vgl. Stegu 2008, 84), so ist auch deren Wirkungsbereich Öffentlichkeit als offener und vernetzter Bereich zu verstehen, der gerade durch die Verwendung massenmedialer Formen wie des Internets seine Heterogenität und fließende Grenzen erhält. Dennoch erlauben die sich in metasprachlichen Kontexten manifestierenden Unterschiede zwischen Laien- und Expertentum - letzteres oftmals vertreten durch wissenschaftliche Sektoren, hier konkret die Sprachwissenschaft - eine Einordnung der sogenannten Laien-Linguistik in Form eines gesonderten diskursiven Feldes, das einen festen Platz in der Öffentlichkeit für sich beansprucht. Antos (1996, 34) sieht diese Unterschiede darin begründet, dass „Wissenschaften einen methodischen, d. h. systematischen Wissensgewinn anstreben.“ Laienlinguistische Theorien im Sinne subjektiver und intersubjektiver Alltagstheorien hingegen weichen, wenn auch mit Sicherheit nicht alle, von diesem Prinzip ab. Dies sei nicht nur einer geringeren Präsenz von Parametern wie Explizitheit, Falsifikation und Kohärenz bei der Beschreibung sprachlicher Handlungen geschuldet (vgl. ibid.), sondern vor allem dem ihr eigenen, relativ hohen Grad an sprachnormativer Präskription (vgl. id., 19). Jedoch soll es in diesem Beitrag nicht darum gehen, eine allgemein gültige definitorische Abgrenzung zwischen Linguistik und Laienlinguistik zu ziehen oder den Zuständigkeitsbereich der Laienlinguistik zu diskutieren (vgl. dazu weiterführend Brekle 1989; Niedzielski / Preston 2000; Paveau 2008; Preston 2008). Vielmehr soll im Kontext der Online-Kommunikation die folgende Definition nach Paveau / Achard-Bayle (2008, 5) angeführt werden: Le terme linguistique populaire est un calque d’une série de dénominations anglosaxonnes basées sur folk , dans lesquelles folk est traduit en français par populaire , spontané , naïf , profane ou ordinaire […]. On parle aussi de linguistique de sens commun et l’on rencontre également l’expression linguistique des profanes , dont L. Rosier [(Rosier 2004, 70)] signale la présence désormais massive sur l’internet : „On peut […] ajouter ce qu’on nomme “la linguistique des profanes”, particulièrement visible sur l’internet, notamment dans le cadre des forums de discussion […]“. <?page no="33"?> Sprachpflegerische Welten im Internet: 33 Im Rahmen dieser begrifflichen Grundlage soll es im Folgenden in erster Linie darum gehen, die Beschaffenheit metasprachlicher, (un)bewusster Wissensbestände und Wahrnehmungsprozesse auf der Grundlage expliziter Äußerungen zu rekonstruieren. Dabei steht weniger die Frage im Vordergrund, ob metasprachlich konstruierte Normen im sprachpflegerischen Diskurs deskriptiv oder präskriptiv veranlagt sind, sondern ob in einer sprachpflegerischen Tradition verankerte, „historisch gewachsene Orientierungs- und Handlungsrahmen“ (Spitzmüller 2005, 56) das Entstehen solcher Normen „à part des ‚professionnels de la normeʻ“ (Osthus 2003, 139) bedingen. Allerdings leiden, wie der Begriff Diskurs selbst, auch im Diskurs verankerte und durch ihn konstruierte Dachkonzepte wie Mentalität , Identität und Spracheinstellung unter terminologischer Unschärfe (vgl. Spitzmüller, 57), weshalb diese für die vorliegende Fragestellung kurz eingeordnet werden sollen: Für diskurslinguistische Fragestellungen ist nach Wengeler (vgl. 2003, 61) 1 - entgegen der alltagssprachlichen Auffassung von Mentalität im Deutschen - seine historiographische Verwendung zu bevorzugen, die auf dem Begriffsverständnis der französischen mentalité beruht: [Es] fällt auf, daß es bei dem französischen Begriff entschieden auf die Gruppe ankommt (auf die collectivité ), statt wie im Deutschen, gleichermaßen auf das Individuum; das Individuum hat eine mentalité bloß insofern, als es teilhat an der kollektiven mentalité (Hermanns 2012, 11). Darüber hinaus ist neben der Bedeutung des Kollektivs weiterhin vor allem die historische und handlungsrelevante Komponente von Mentalitäten hervorzuheben, denn „[h]istorische Mentalität ist das Ensemble der Weisen und Inhalte des Denkens und Empfindens, das für ein bestimmtes Kollektiv in einer bestimmten Zeit prägend ist. Mentalitäten manifestieren sich in Handlungen“ (Dinzelbacher 1995, XXI ) und zeichnen sich weiterhin dadurch aus, dass sie vor allem „assoziativ“ sind, d. h. nicht „kausallogisch“ reflektiert werden. Auch wenn man sich ihrer Existenz nicht bewusst sein muss, stellen sie ein kollektives Dispositiv für menschliches Denken und Handeln dar, wobei natürlich stets zwischen „Mentalität als kognitiver Dimension und Handlung“ zu unterscheiden ist (vgl. Spitzmüller 2005, 58). Zwar ist es Ziel jeder diskurslinguistischen Untersuchung, aus Handlungen kollektive Mentalitäten abzuleiten, dennoch „[handeln] Individuen […] innerhalb einer Mentalität selbstverständlich auch unterschiedlich“ und nicht jede Handlung ist einer bestimmten Mentalität zugeordnet, sondern der Kontext der einzelnen Handlung ist stets in die Inter- 1 Zum Mentalitäts-Begriff sowie zu mentalitätsgeschichtlichen Forschungen vgl. auch Tellenbach 1974; Sellin 1985; Dinzelbacher 1993a und b. <?page no="34"?> 34 Vera Neusius (Saarbrücken) pretation mit einzubeziehen (ibid.). Aus der Historizität der Mentalität resultiert ferner ihr synchroner „Schnittmengen“-Charakter (id., 60), der sich aus verschiedenen zeitlichen Ebenen zusammensetzen kann und in die Erscheinungsformen der epochalen „Totalmentalitäten“, die von mehr oder weniger allen Diskursteilnehmern geteilt werden, der „Makromentalitäten“ eines diskursspezifischen Kollektivs oder der „Mikromentalitäten“, die sich innerhalb eines Kollektivs manifestieren, differenziert werden kann (vgl. ibid.). Mit dem Konzept der kollektiven Mentalität verwachsen ist der in der Forschung ebenfalls diskutierte Begriff der kollektiven Identität , der jedoch gerade für metasprachlich und sprachnormativ handelnde Akteure von nicht minderer Bedeutung ist. Für den sprachpflegerischen Diskurs scheint vor allem die von Assmann ( 6 2007, 134) beschriebene kollektive Identität im Sinne einer „reflexiv gewordene[n] gesellschaftliche[n] Zugehörigkeit“ zutreffend, da sie eine bewusste Abgrenzung einer Gruppe von anderen Gruppen und deren Einstellungen impliziert: Unter einer kollektiven oder Wir-Identität verstehen wir das Bild, das eine Gruppe von sich aus aufbaut und mit dem sich die Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht an sich, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen (id., 132, Hervorhebungen i. O.). Für die laienlinguistische Sprachpflege - sofern man davon ausgehen kann, dass das Attribut ,laienlinguistisch‘ für dieses Akteurskollektiv überhaupt zutreffend ist - sowie auch und gerade für den Bereich der institutionalisierten Sprachpflege, auf den hier nicht intensiver Bezug genommen werden soll, ist festzuhalten, dass sich die ihr bewusst durch sich selbst zugeschriebene kollektive Identität maßgeblich von anderen Mentalitäten unterscheidet, da sie sich nicht im Sinne eines 'natürlichen' sozio-historischen Automatismus aus den jeweils geltenden gesellschaftlich-kulturellen Orientierungsschemata auf die Akteure im Diskurs überträgt, sondern die Akteure ihre Identität - wenn auch im Rahmen mentalitätsgeschichtlicher Impulse und Traditionen - im Diskurs bewusst konstruieren. Dieses entworfene Selbstbild wird mit dem primären Ziel der kollektiven Abgrenzung vom Anderen beharrlich propagiert und diktiert dadurch gleichzeitig einen bestimmten modus operandi . Es handelt sich um die Verzahnung einer aktiven, bewussten Identitätskonstruktion mit einer passiven, unbewussten Beeinflussung durch mentale Muster und Repräsentationen in einem „Wechselspiel von […] Identitäten und Alteritäten “ (Spitzmüller 2005, 65, Hervorhebungen i. O.). Wie unter anderem zu zeigen sein wird, nimmt dabei im sprachpflegerischen Diskurs oftmals die diskursive Verknüpfung von nationaler <?page no="35"?> Sprachpflegerische Welten im Internet: 35 Identität und der jeweiligen (Mutter-) bzw. (Landes-) Sprache einen zentralen Platz ein. 2 An letzter Stelle steht die kurze Einordnung des Konzepts Spracheinstellungen , 3 die sich im Hinblick auf metasprachliche und normative Diskurse natürlich vor allem auf die Sprache selbst, ihre Verwendung, ihre Entwicklung und ihre Sprecher beziehen, wobei sich diese Bereiche im Diskurs überschneiden können (vgl. Spitzmüller 2005, 69). Bei metasprachlichem Handeln werden in sprachpflegerischen oder gar puristischen Kontexten Einstellungen häufig in ihrer affektiven Komponente sichtbar, die Giles präzisiert als „definite attitudes […] towards speakers representing different speech styles“ (1987, 585) und Stickel (1999, 17) wie folgt ergänzt: [Spracheinstellungen sind] wertende Dispositionen, die einzelne Menschen oder soziale Gruppen gegenüber sprachlichen Erscheinungen haben. Spracheinstellungen sind besonders Haltungen gegenüber Sprachen, Sprachvarietäten oder Sprachverhalten anderer Individuen und Gruppen, oft mit wertender Berücksichtigung der jeweils eigenen Sprache. Wie andere Einstellungen gelten Spracheinstellungen als erlernt, relativ beständig, wenn auch veränderbar. Spitzmüller betont die enge Verknüpfung zwischen Mentalität , Identität und Einstellungen in metasprachlichen Diskursen (vgl. 2005, 70) und verweist in diesem Zusammenhang auf eine Definition nach Hermanns, der zufolge „[e]ine Mentalität […] die Gesamtheit aller usuellen Einstellungen in einer sozialen Gruppe [ist].“ Kollektive Identität wiederum „basiert zu großen Teilen auf der Überzeugung, Einstellungen anderer Individuen zu teilen“ (2002, 80 f.). 3 Online-Diskurse als Sonderform öffentlicher Diskurse Um ein möglichst vollständiges Bild über die Struktur und Funktionsmechanismen von Wissensordnungen und Sinnsystemen im sprachnormativen Diskurs zu erhalten, muss nicht nur bedacht werden, dass unterschiedliche teildiskursbildende Akteursgruppen im Diskurs wirken, sondern dass sich diese auch 2 Zur Definition von Sprechergemeinschaften auf der Grundlage ihrer Sprache als Bestandteil wissenschaftlicher und laienhafter Diskurse vgl. z. B. Koselleck (1992); Wodak et al. (1998); Gardt (2000); Gardt (2008). 3 Spitzmüller weist darauf hin, dass der aus der Sozialpsychologie entnommene Begriff Spracheinstellung mit anderen in der Linguistik verwendeten Termini wie Sprachreflexion , Sprachbewusstsein oder language ideologies konkurriert. Die Wahl des Terminus Spracheinstellung rechtfertigt er dadurch, dass dieser sich auf sprachliches Handeln bezieht, dass sowohl auf unbewussten als auch bewussten Einstellungen beruht (vgl. 2005, 68). <?page no="36"?> 36 Vera Neusius (Saarbrücken) verschiedener medialer Aktionsformen bedienen. Wie bereits Osthus (2003, 139) hervorgehoben hat, spielt dabei das Internet eine immer größere Rolle als Kommunikationsplattform für Laienlinguisten: Aujourd’hui, une valorisation du discours normatif - surtout s’il s’agit de celui-ci des non-spécialistes - ne peut se faire sans prendre en compte les nouveaux médias qui sont en train de bouleverser nos habitudes de communication. Ce ne sont pas que publicitaires et marchands qui se lancent dans l’Internet, comme en témoignent […] les amateurs de la langue déjà nombreux avant l’arrivée du réseau mondial. En fait, il ne faut être ni linguiste ni Académicien pour juger sur le bon usage et les normes. Il suffit de se brancher sur Internet. Online-Diskurse werden in der Diskursforschung nicht als „Verkürzung der angebotsförmigen, inhaltlichen und insbesondere handlungspraktischen, also produktiven und rezeptiven, Verflechtungen von medialen Angeboten“ angesehen, sondern sie bezeichnen einen Forschungsgegenstand, der sich aus der Gesamtheit „transmediale[n], multimodale[n] Kommunizierens“ ergibt (Fraas / Meier / Pentzold 2013, 8). Durch den Einsatz von digitalen und sich vernetzenden Medien erhalten diskursive Praktiken eine so große Reichweite und Vernetzung, dass „eine Verkürzung auf nur internetbasierte oder computervermittelte Inhalte und Diskussion“ (id., 10) dem diskurslinguistischen Forschungsanspruch nach einer Untersuchung transtextueller und transmedialer Diskursmuster nicht gerecht werden kann. In diesem Sinne ist die vorliegende Untersuchung natürlich als exemplarischer Beitrag zu verstehen, der kommunikative Strukturen und dahinter stehende mentale Konzepte im Rahmen eines Teildiskurs-Ausschnitts anhand von Textkommentaren untersucht und somit auch nicht den Anspruch erhebt, generalisierbare Aussagen über „relativ dauerhafte und regelhafte, also zeitlich und sozial formierte, Wissensordnungen […] in Diskussionen, Texten, Bildern, audiovisuellem Material und anderen multimodalen Äußerungen“ zu treffen (vgl. 4). Dennoch soll an dieser Stelle die Reflexion methodischer Implikationen für die Untersuchung zentraler Sprachgebrauchsmuster in internetbasierten Kommunikationsbereichen nicht unerwähnt bleiben. Öffentlichkeit (vgl. 2) spielt sich aus mediensoziologischer Sicht auf unterschiedlichen Ebenen ab, die sich nach Reichweite und Grad an Stabilität unterscheiden lassen und die an „unterschiedliche Kommunikationstechnologien und -modi geknüpft sind“ (Schmidt 2013, 36). „Massenmedial hergestellte Öffentlichkeit ist […] per definitionem technisch vermittelt, wobei die Produktion von Kommunikationsinhalten unter Umständen zeitlich deutlich von der Rezeption abgekoppelt ist“ (ibid.). Schmidt (2015, 40 ff.) definiert auf der Grundlage der Hybridität onlinebasierter Kommunikation vier verschiedene Typen von „Kommunikationsarenen“, die in der Regel auch miteinander vernetzt sind: die <?page no="37"?> Sprachpflegerische Welten im Internet: 37 „Arena der massenmedialen Öffentlichkeit“, „der Expertenöffentlichkeit“, „der kollaborativen Öffentlichkeit“ und „der persönlichen Öffentlichkeit“. Zur letzten Arena zählen Netzwerkplattformen des sogenannten „personal publishing“ wie Facebook, Twitter, Foren oder Webblogs, „in denen Menschen Informationen insbesondere nach Kriterien der persönlichen Relevanz auswählen und zur Verfügung stellen“ (id., 43). In diesem Sinne ist das dort vertretene Publikum keineswegs eine „disperse unbekannte >Masse<, sondern üblicherweise das eigene erweiterte soziale Netzwerk, also das Geflecht von Personen, zu denen bereits Beziehungen existieren, seien es freundschaftliche Bindungen, ein geteiltes thematisches Interesse o. ä.“ (ibid.). Auf dieser Grundlage ist weiter davon auszugehen, dass „Medien als ‚gesellschaftliche Einrichtungen und Technologien […] etwas materiell oder symbolisch vermitteln und dabei eine Problemlösefunktion übernehmen‘. Im Gebrauch ermöglichen und formen Medien Wahrnehmungen, Handlungen und Kommunikationsprozesse“, d. h. sie agieren als Sozialisationsinstanz und wirken dabei nicht selten als Vektor stereotyper Darstellungen (Meißner 2015, 33 f.; vgl. Thiele 2015). Diese Komplexität internetbasierter Daten und damit verbundener sozialer Konstruktionen, die stets „als Produkt eines bestimmten Settings“ (Schirmer / Sander / Wenninger 2015, 10) zu verstehen sind, erfordert bei der Sammlung des Datenmaterials sowie bei der linguistischen Analyse spezifische methodische Überlegungen, worunter die Art der erfassten Daten, die Problematik der „Erfassbarkeit der Dynamik und der Flüchtigkeit von Internetdaten“ (id., 11) sowie letztlich auch Fragen des Urheberrechts und der Verwendbarkeit von online-publizierten Daten 4 fallen. Bei sozialen Netzwerken stellt vor allem die Multimodalität eine Herausforderung dar, „weil sie sich naturgemäß mit den oft sprach- und schriftbasierten Verfahren nicht adäquat fassen lassen [kann]“ (id., 13). In Foren liegt eine maßgebliche Schwierigkeit in der Asynchronität der Diskussionsbeiträge. Alle diese Interaktionszusammenhänge möglichst detailliert zu erfassen und in interdiziplinärer Perspektive zu untersuchen hat sich als Postulat sowohl seitens der Qualitativen Sozialforschung (vgl. Schirmer / Sander / Wendiger 2015) als auch der Linguistischen Diskursanalyse (vgl. z. B. Busse / Teubert 2013; Fraas 2008; Fraas / Pentzold 2008) etabliert. Eine solch umfassende Analyse kann natürlich im vorliegenden Beitrag nicht vorgenommen werden, weshalb er sich aus diskurslinguistischer Perspektive auf eine ausgewählte Ebene der Sprachstruktur beschränkt (vgl. 4). 4 Zur Nutzung von Online-Daten und Erstellung von Korpora aus internetbasierten Daten sowie damit verbundenen Fragen des Urheberrechts und der Zitierfähigkeit vgl. z. B. Marx / Weidacher (2015). <?page no="38"?> 38 Vera Neusius (Saarbrücken) So interessiert sich die vorliegende Fragestellung neben den theoretisch erörterten Spezifika der Online-Kommunikation in erster Linie für das kommunikative Verhalten und die kommunikativen Strategien in metasprachlichen Äußerungen laienlinguistischer Akteure, bei denen anzunehmen ist, dass sie in ihrer Gesamtheit eine weitaus heterogenere Gruppe repräsentieren als die traditionell am sprachnormativen Diskurs beteiligten Parteien. 4 Linguistische Diskursanalyse als methodischer Zugang zu laienlinguistischer Sprachreflexion Das Interesse der Linguistischen Diskursanalyse in ihrer je nach spezifischem Forschungsschwerpunkt mehr oder weniger starken Anlehnung an die Diskurstheorie Michel Foucaults (vgl. 1969; 1971) gilt der Erforschung von sprachlichen Regelsystemen. Foucault ging es dabei weniger um das systematische Erfassen „sprachlich-grammatikalische[r] Muster des Sprachgebrauchs“ als vielmehr um das Aufdecken eines strukturalistischen „Formationssystem[s]“ (Spitzmüller / Warnke 2011, 69), in dessen Mittelpunkt „die semantische Ebene der Bedeutungen bzw. die Regeln der Bedeutungserzeugung und […] die institutionell eingebetteten, stabilisierten Praktiken der Diskursproduktion“ stehen (Keller 2011, 46). Knotenpunkt bei Foucault sind damit nicht Texte in ihrem sprachsystematischen Aufbau, sondern die darin enthaltenen Aussagen ( énoncés ) (vgl. Foucault 1969, 106; vgl. Spitzmüller 2005, 34), die in der Gesamtheit ihrer regelhaften Anordnungen und der in sie eingebundenen kulturellen und historischen Rahmenbedingungen den Diskurs abbilden: „On appellera discours un ensemble d’énoncés en tant qu’ils relèvent de la même formation discursive“ (Foucault 1969, 153). Eine linguistische Auseinandersetzung mit sprachlichen Aussagen ist hingegen per se an die sprachliche Form selbst gebunden, auch wenn es Ziel der jeweiligen Untersuchung ist, Diskurse im Sinne einer „Erweiterung der systematischen Interessen an Sprache und an verschiedenen Sprachen“ von der intratextuellen Ebene bis zur transtextuellen Ebene zu durchleuchten, wie es z. B. seitens der germanistischen Linguistik gefordert wird: Wenn wir hier von >transtextueller Ebene< sprechen […] dann verstehen wir darunter eine komplexe Struktur der Sprache und ihrer Funktionen jenseits der Textgrenze, wie immer diese definiert wird. Eine transtextuelle Analyse ist dann transtextuell, wenn sie nicht nur einzelne oder vereinzelte Texte untersucht, […] sondern wenn sie eine Mehrzahl, besser: Vielzahl von Texten bzw. Aussagen in verschiedenen Texten, verschiedenen Medien, von verschiedenen Akteuren usw. analysiert, und zwar eine <?page no="39"?> Sprachpflegerische Welten im Internet: 39 Vielzahl, die strukturelle Übereinstimmungen und Handlungsbezüge aufweist (Spitzmüller / Warnke 2011, 187). Das DIMEAN-Modell nach Spitzmüller / Warnke (2011, 201) liefert einen methodischen Vorschlag, der den Zugang zu kollektiven Wissensbeständen über drei ineinander integrierte Ebenen (intratextuelle und transtextuelle Ebene sowie Ebene der Akteure) ermöglichen soll. Die Untersuchung der Argumentationsstruktur und Topoi (vgl. 4.1) wird im Modell als möglicher Teil der transtextuellen Analyseeinheit dargestellt. 4.1 Strukturierende Diskurseinheiten auf transtextueller Ebene: Topoi und Argumente Wie oben bereits dargestellt wurde, dienen diskurslinguistische Untersuchungen der Aufdeckung kollektiver Wissensbestände in einem bestimmten thematischen Gebiet. Wenn dieses Wissen verbalisiert wird, dann, so sagt Hermanns (2012, 56), […] [werden] Schemata des Denkens greifbar […]. Sie erscheinen dann in Form von »Topoi«. Topoi - früher nannte man sie (noch nicht abschätzig) »Gemeinplätze« (»loci communes«) - sind die allgemein bekannten, sozusagen allgemein gebräuchlichen Gedanken. Sie sind daher auch »gewohnheitsmäßige Gedanken«, wie ich sie hier nennen möchte, also eingeübte, automatisierte und routinemäßige Gedanken, die man, weil sie eingeschliffen sind, im Denken (und im Sprechen) immer wieder wiederholt. Insgesamt ergeben die auf einen Gegenstand bezogenen Topoi den Stereotyp des Gegenstandes. Dieser auf Aristoteles zurückgehende Topos-Begriff im Sinne sprachlich explizierter, kollektiv verankerter, normativer oder faktischer Schemata (vgl. Wengeler 2003, 177 ff.), kann im vorliegenden Kontext auf den Bereich verbalisierter Spracheinstellungen angewandt werden. Aus diskurslinguistischer Sicht können Topoi dabei als inhaltliche „Oberprämisse[n] einer Argumentation“ verstanden werden, d. h. durch die Verwendung bestimmter Topoi werden „eigene Diskurswelten“ durch die Akteure thematisch konstituiert (id., 256). 5 Die Argumente selbst gehen dann in einem weiteren Schritt aus den Topoi hervor und haben den Zweck „[…] Strittiges mit Hilfe von sprachlichen Äußerungen, die außer Frage stehende Fakten und Normen / Werte des gemeinsamen Sprachspiels repräsentieren, wieder in Geltendes zu überführen“ (Kienpointner 1983, 5 Für eine ausführliche Beschreibung des Topos-Begriffs sowie seiner Auslegung in verschiedenen Disziplinen vgl. Toulmin (1958); Kienpointner (1983); Kopperschmidt (1989); Kienpointner (1996); Wengeler (2003); Perelman / Olbrechts-Tyteca (2004); Spitzmüller (2005) und Ottmers (2007). <?page no="40"?> 40 Vera Neusius (Saarbrücken) 70). Dem ist ergänzend hinzuzufügen, dass der Alltagssprache entstammende argumentative Muster in der Regel nicht formallogisch aufgebaut sind, sondern vielmehr auf Schemata beruhen, die vor allem dazu dienen, Plausibilität zu vermitteln (vgl. id., 74; Spitzmüller 2005, 271). In der Argumentationstheorie wurden bis heute verschiedene Typologien beschrieben, die es erlauben, Argumente nach formalen und / oder inhaltlichen Aspekten zu kategorisieren (vgl. z. B. Kienpointner 1983; Kopperschmidt 1989; Perelman / Olbrechts-Tyteca 2004; Ottmers 2007). Da diese hier nicht im Detail erläutert werden können, werden für die im Anschluss stehende Analyse (vgl. 5) nur die wichtigsten Differenzierungskriterien erläutert. Grundlegend kann bei Argumenten zwischen kontextabstrakten und kontextspezifischen Argumenten unterschieden werden, die dann wiederum deskriptiv oder normativ ausgerichtet sein können (vgl. Kienpointner 1983, 87 f.; Wengeler 2003, 271; Ottmers 2007, 92). Ferner können unterschiedliche Schritte der Argumentation nach ihren Funktionen unterschieden werden, die der Stützung oder Widerlegung einer Aussage dienen, also pro- oder kontra-argumentativ eingesetzt werden können (vgl. Ottmers 2007, 74). Das bekannteste Argumentationsschema, basierend auf dem prototypischem Dreischritt aus Argument (= D / Daten), Schlussregel (= SR ) und Konklusion (K) geht auf Toulmin (vgl. 1958, 99) zurück. Nach diesem Muster wird eine strittige Aussage (K) durch Argumente (D) begründet und durch eine Schlussregel ( SR ) gerechtfertigt. Eine Erweiterung des Schemas kann durch zusätzliche Stützungen (S) der Schlussregel oder einschränkende Ausnahmebedingungen (AB) erfolgen, jedoch wird eine Argumentation, wenn sie explizit geäußert wird, in der Regel als unvollständiger Schluss (Enthymem) hervorgebracht, sodass meistens nur das Argument selbst und die Konklusion sichtbar sind. Um auf die Kategorisierung der den Argumenten übergeordneten Topoi zurückzukommen, so orientiert sich die folgende Analyse an der Typologie alltagssprachlicher Argumentationsmuster nach Kienpointner (vgl. 1996, 246), die u. a. von Ottmers resümiert (vgl. 2007, 93) und von Wengeler (2003, 273 ff.) diskurslinguistisch adaptiert wurde. Die Typologie unterscheidet zwei Großklassen argumentativer Verfahren: Eine erste Klasse, die alle alltagslogischen Schlussregeln umfasst, wobei unterschieden wird, ob diese deduktiv abzuleiten oder induktiv zu erschließen sind. Die deduktiven Muster lassen sich weiter in Einordnungs-, Vergleichs-, Gegensatz- und Kausalschemata unterteilen. Das induktiv argumentierende Verfahren arbeitet mit Beispielargumentationen. Der zweiten Großklasse sind konventionalisierte Schlussverfahren zuzuordnen, zu denen die Kategorien des Autoritäts- und Analogiearguments sowie illustrative Beispielargumente gehören. Darüber hinaus sind weitere Techniken der Argumentation relevant - bei Textkorpora in Form verbaler Strategien - wie z. B. das <?page no="41"?> Sprachpflegerische Welten im Internet: 41 Verwenden einer indirekten Ausdrucksweise, die Herstellung von Gemeinsamkeit oder das argumentum ad personam (Kienpointner 1982, 146 ff.). Typologie alltagssprachlicher Argumentationsschemata (AS) AS, die SR benutzen AS, die SR etablieren AS, die weder SR benutzen noch etablieren Einordnungsschemata Vergleichsschemata Gegensatzschemata Kausalschemata induktive Beispielargumentation illustrative Beispielargumentation Analogieargument Autoritätsargument Abb. 1: Typologie alltagssprachlicher Argumentationsmuster (gekürzt adaptiert nach Wengeler 2003, 273). 4.2 Sprachnormierungskriterien als Fundament sprachpflegerischer Topoi Für eine sprachkontrastiv angelegte Untersuchung von metasprachlichen Daten stellt sich mithin die Frage, ob im sprachnormativen Diskurs der ausgewählten Sprachgemeinschaften unterschiedliche Sprachnormen und verschiedene Repräsentationen von Sprachnormenbewusstsein auftreten (vgl. Settekorn 1990, 1) oder ob es umgekehrt topische Muster gibt, die auf äquivalenten Normierungskriterien beruhen. Um die transtextuell-thematischen Diskursstrukturen dahingehend zu prüfen, muss eine qualitative textbasierte Untersuchung erfolgen, die ein Verständnis des normativen Diskurses als Sammlung „kohärente[r] Textgebilde“ voraussetzt, „in denen ein Autor oder eine Gruppe von Autoren [im vorliegenden Fall Akteure der laienlinguistischen Sprachpflege, Erg. VN ] sprachliche Aussagen macht, deren Intention es ist, auf die Änderung einer sprachlichen Gegebenheit zu zielen“, d. h. dass es „[…] sich dabei also stets um persuasive Texte handelt“ (Schmitt 1990, 28). Was weiter die im normativen Diskurs ausgehandelten Sprachnormen anbelangt, so bezeichnet Gloy (2008, 396) diese als „Objekte und die Ergebnisse bestimmter Entscheidungs- und Durchsetzungsprozesse“, die „[i]ntensional sind […] über das Merkmal einer (heteronomen) Verpflichtung […], die als Vorschrift oder als Regel oder als Gebot der Vernunft gegeben sein kann“. Sprachnormen zielen damit auf eine rechtmäßige, richtige und zweckmäßige Verwendung von Sprache ab, wobei ihre Anwendung dabei auf sprachliche Objekte unterschiedlichen Komplexitätsgrades erfolgt (vgl. ibid.). Der Geltungsanspruch sprachlicher Normen orientiert sich jedoch nicht nur an objektiven <?page no="42"?> 42 Vera Neusius (Saarbrücken) innersprachlichen Kriterien, sondern auch an pragmatischen oder soziologischen Kriterien, was dazu führt, dass die Verbindlichkeit von Sprachnormen von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen verschieden definiert wird (vgl. ibid.). Der Gegenstandsbereich der Sprachnormen umfasst somit also „alle ‚(versuchten) normativen Handlungen‘ […] zu denen man jede, auch die von Einzelpersonen vorgetragene Normformulierung, metasprachliche Urteile […] und die gesamte Sprachkritik […] zählen kann“ (id., 397). Die diskursive Aushandlung von Sprachnormen liegt in Deutschland und Frankreich in einem spätestens seit Ausbildung der europäischen Nationalstaaten traditionellen Streben nach dem Erhalt „der idealen Gestalt der Standardsprache“ (Schweickard 2005, 177) begründet und orientiert sich dabei an motivationalen Gesichtspunkten, die von ästhetischen Beweggründen, über bestimmte ideologische Auffassungen bis hin zu politischen Überlegungen reichen. Die Sprachpflege und der Ausbau von Sprachnormen haben sich jedoch in beiden Ländern durch individuelle historische Prozesse entwickelt und weisen heute dementsprechend divergierende Ausprägungsformen und gesellschaftliche Wirkungsbereiche auf. Eine länderübergreifende Gemeinsamkeit repräsentiert dabei jedoch - wie die Korpusanalyse zeigen wird (vgl. 5) - das beiderseitige Wirken gegen den Einfluss der englischen Sprache und der anglophonen Kulturen. Wo in Deutschland diese Effekte globaler Entwicklungen bislang lediglich von einzelnen Akteursgruppen kritisch diskutiert wurden, setzt sich Frankreich bekanntermaßen der englischen Einflussnahme mittels einer gut ausgebauten institutionalisierten Sprachpflege und einer aggressiven Sprachpolitik zur Wehr. Auf der Grundlage seiner Perspektivierung von Sprachnormierung als Bereich „gesellschaftlicher Verflechtung“ liefert Gloy einen Katalog sprachlicher Normierungskriterien für die erstrebte Standardform der deutschen Sprache, deren Geltungsanspruch und soziale Akzeptanz sich historisch etabliert hat (2008, 397 ff.): (a) Konstitution und Erhalt einer Einheit der Nation (b) allgemeine Verständlichkeit (c) etablierter Sprachgebrauch („jedermanns“) (d) Sprachgebrauch von (kulturellen) Autoritäten (e) Erhaltung des sozialen Distinktionswertes (f) das aus sprachwissenschaftlicher Sicht Richtige und Systemgemäße (g) das in einer Kulturbzw. Gesellschaftskritik Angeratene (h) das historisch Gewachsene (i) das politisch Machbare (j) das Finanzierbare (k) der wahrhafte Ausdruck (l) die kognitiven Folgen <?page no="43"?> Sprachpflegerische Welten im Internet: 43 Auch wenn ein solcher Normenkatalog mit Sicherheit nicht ohne Weiteres zu verallgemeinern ist und je nach Sprachraum, diskursiver Funktionalisierung und Interessen der Akteure („ Normenverfasser , Normensetzer , Normenvermittler , Normenbefürworter u. a.“ id., 399, Hervorhebungen i. O.) andere Ausprägungen annehmen oder Erweiterungen erfahren kann, so liefert er dennoch ein analytisches Raster, das einen ersten Ausgangspunkt für die hier angestrebte sprach- und kulturkontrastive Schwerpunktsetzung liefert. So wird im Folgenden erstens zu prüfen sein, ob sich die oben aufgeführten, diachron erfassten Normierungskriterien auch in heutigen sprachpflegerischen Diskursen manifestieren. Zweitens stellt sich anhand der konkreten Gegenüberstellung der Diskurse in Deutschland und Frankreich die Frage, ob die in metasprachlichen Äußerungen ermittelten Normvorstellungen gleichen inhaltlichen Mustern und argumentativ vermittelten Geltungsansprüchen unterliegen oder voneinander abweichen. Ein dritter zu beachtender Aspekt bezieht sich auf die für die Internetkommunikation angenommene Heterogenität der Akteure und die damit verbundene Hypothese, diesen sprachpflegerischen Teildiskurs anhand bestimmter Merkmale im Bereich der Laienlinguistik zu verorten. 5 Exemplarische Analyse Die im Folgenden diskutierten Beispiele entstammen unterschiedlich strukturierten, virtuellen Plätzen der Internet-Kommunikation. Die französischen Beiträge sind dem Forum Promotion linguistique ( FPL ) entnommen, das seine thematische Orientierung durch den Untertitel Francisation präzisiert und seine Diskutanten bereits in der Überschrift mit konkreten inhaltlichen Vorgaben zum sprachlichen Handeln auffordert: „Exprimez-vous sur la défense de la langue française, les institutions officielles, la politique linguistique, la francophonie, la francisation des termes étrangers “ (vgl. FPL ) . Neben diesem Forum, das seit 2004 über 300 Fragen generiert hat, gibt es weitere Austauschräume zu diversen Themen wie z. B. Pratiques linguistiques, Réflexions sur les règles, Écriture et langue française, Histoire de la langue française, Pratiques argotiques et familières , in denen sich insgesamt 3658 Nutzer bewegen. Alle Foren sind in die übergeordnete Website abc de la langue française eingebettet, wo den Nutzern auch Informationen zur französischen Sprachgeschichte und zum Argot (mit Wörterbuch) sowie Aktuelles zur französischen Sprache bereitgestellt werden (vgl. ABC ). Die zum Vergleich ausgewählten deutschen Beispiele sind Diskussionsbeiträge aus der Facebook -Präsenz des Vereins deutsche Sprache (VdS). Der 1997 gegründete VdS beruft sich in seinen Leitlinien auf die UNESCO -Erklärung <?page no="44"?> 44 Vera Neusius (Saarbrücken) vom 2. November 2001 und einen Bericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ vom 11. 12. 2007: „Europas Sprachen und Kulturen stehen unter starkem Globalisierungsdruck. Sie verlieren weltweit an Geltung und werden in zunehmendem Maße von der angloamerikanischen Sprache und Kultur beeinflusst. Dies führt zu einem Identitätsverlust der betroffenen Völker und Volksgruppen“ (VdS a). Darauf aufbauend werden folgende Grundsätze und Ziele formuliert (VdS b): Wir schätzen unsere deutsche Muttersprache, die „Orgel unter den Sprachen“, wie Jean Paul sie nannte. Um sie als eigenständige Kultur- und Wissenschaftssprache zu erhalten, weiterzuentwickeln und vor dem Verdrängen durch das Englische zu bewahren, gründeten wir im Jahr 1997 den Verein Deutsche Sprache e. V. Er ist eine bunte, große und wachsende Bürgerbewegung mit derzeit 36.000 Menschen aus nahezu allen Ländern, Kulturen, Parteien, Altersgruppen und Berufen. Allein ein Drittel davon sind Freunde der deutschen Sprache aus Asien oder Afrika. […] Dabei verfolgen wir keine engstirnigen nationalistischen Ziele. Wir sind auch keine sprachpflegerischen Saubermänner. Fremdwörter - auch englische - sind Bestandteile der deutschen Sprache. Gegen fair , Interview , Trainer , Doping , Slang haben wir nichts einzuwenden. Prahlwörter wie event , highlight , shooting star , outfit , mit denen gewöhnliche Dinge zur großartigen Sache hochgejubelt werden, lehnen wir ab. Seit März 2011 hat der VdS seinen Kommunikationsradius durch ein Facebook - Profil erweitert, das zum Zeitpunkt der Analyse 8258 aktive und passive Anhänger hat. Ein grundlegender Unterschied zum Forum Promotion linguistique besteht in der zentralen Steuerung der Kommunikation durch den Verein als Administrator der Seite: Die Themen werden vom VdS selbst platziert und dann gegebenenfalls von der Leserschaft kommentiert, bewertet oder auf anderen oder eigenen Seiten geteilt. Eine gewisse Grundkonstruktion des Diskurses wird somit im Voraus determiniert und entspricht größtenteils der inhaltlich-thematischen Struktur, die der VdS auch in der Vereinszeitschrift Sprachnachrichten angelegt hat. Im französischen Forum ist zwar Sprachpflege als Rahmenthema vorgegeben, jedoch können die User die Richtung der Diskussion durch das Einstellen eigener Fragen und Kommentare steuern, die dann vom Administrator entfernt werden können, wenn Regeln des Respekts und der Höflichkeit missachtet werden oder Inhalte ʻzu polemisch’ diskutiert werden. Eine Vergleichbarkeit ist dennoch durch den Funktionsmechanismus des personal publishing (vgl. 3) gewährleistet sowie aus kommunikationstheoretischer Perspektive durch die Asynchronität der Beiträge, die zeitversetzt auf den Kopfkommentar erfolgen und die Möglichkeit implizieren, mit mehreren Teilnehmern zu diskutieren, bei denen eine generelle Affinität zur Sprache selbst und zu metasprachlichen Fragestellungen angenommen werden kann. <?page no="45"?> Sprachpflegerische Welten im Internet: 45 Der Diskussion der einzelnen Belege muss die Bemerkung vorangestellt werden, dass die folgende Einordnung der Topoi keinen Anspruch darauf erhebt, dass es sich um eindeutige Zuordnungen handelt. Die topische Etikettierung kann thematisch mehrfach kodiert werden und die Aufschlüsselung der argumentativen Struktur kann mitunter auf verschiedene Lesarten erfolgen. Darüber hinaus werden aus Gründen des Umfangs nur einzelne, besonders häufig im Korpus auftretende Sprachgebrauchsmuster in Anlehnung an den Gloy'schen Kriterienkatalog (vgl. 4.2) vorgestellt. In beiden Teilkorpora kann der Topos der Konstitution und des Erhalts der nationalen Einheit als rekurrentes Sprachgebrauchsmuster identifiziert werden, bei dem die deutsche und französische Sprache jeweils als zentrale Determinante der Nation stilisiert werden. Im deutschen Beleg erfolgt die Betonung der Notwendigkeit des Sprachschutzes durch die Qualifizierung der deutschen Sprache als „ summum bonum der Nation“ (Stukenbrock 2005, 432) neben der Geschichte des Landes und durch ein normatives Kausalschema aus Grund und Folge ( Wenn das Bewusstsein für Sprache und Geschichte der Nation verloren geht, dann büßt das Land sein nationales Bewusstsein ein ): 1. Richtig, B. Die zwei Säulen einer Nation sind Sprache & Geschichte. Geht auch nur das Bewusstsein für EINS davon verloren, wird das Land sein nationales Bewusstsein einbüßen (VdS FB , 21. 03. 2013). Aus der Majuskelschreibung von EINS geht nicht nur die Betonung des Werts der deutschen Sprache hervor, sondern auch die Bedrohlichkeit der Situation, die der Verfasser dem Zustand des nationalen Bewusstseins attribuiert und wodurch er einen indirekten Appell an die Sprechergemeinschaft formuliert, dass das Sprachbewusstsein dem Nationalbewusstsein gleichgestellt werden muss. Ein ausgewähltes französisches Beispiel zeigt eine äquivalente topische Thematisierung, bei dem zunächst ein Nutzer ( patrickk ) den Geltungsanspruch des Schutzes der französischen Sprache durch ein Einordnungsschema rechtfertigt, das durch die Schlussregel einer Teil-Ganzes-Beziehung gestützt wird ( Wenn die französische Sprache Teil der französischen Nationalsymbole wäre, dann könnte ihre Beleidigung unter Strafe gestellt werden, da dieses Vorgehen für alle nationalen Symbole Gültigkeit besitzt ). Im Vordergrund steht hierbei weniger der soziale und kommunikative Wert der Sprache als Voraussetzung eines geteilten nationalen Bewusstseins, sondern ihr symbolischer und somit auch gewissermaßen non-verbaler Charakter, der bereits per se streitbar ist: 2. [patrickk a écrit: D'où une idée qui me vient : ajouter la langue française à la liste des symboles de la France (Hymne national, drapeau) que l'on ne peut insulter sous peine de sanctions pénales.] La langue française n'appar- <?page no="46"?> 46 Vera Neusius (Saarbrücken) tient pas à la France et c'est justement ce qui en fait une langue universelle et donc plus intéressante […] ( FPL , 15. 10. 2008). Mit dieser Replik wird die Argumentation patrickks durch einen anderen Nutzer angefochten, der betont, dass die französische Sprache kein Besitz des französischen Staates ist und dass gerade dieser Umstand ihren Charakter als langue universelle ausmacht. Ein weiterer auf beiden Seiten häufig angeführter Topos ist die Gewährleistung einer allgemeinen Verständlichkeit der Sprache für die Sprecher, die von den Beiträgern in der Regel in negative Korrelation mit den Einflüssen des Englischen gesetzt wird ( Wenn immer mehr denglische und englische Wörter in den Wortschatz übernommen werden, werden ältere Menschen aufgrund von Verständnisproblemen aus der Gesellschaft ausgegrenzt ). Im folgenden Beleg wird dies durch ein Kausalschema aus Ursache und Wirkung verbalisiert, das die soziale Funktion der deutschen Sprache fokussiert. Die Entrüstung des Beiträgers ist dabei sowohl deutlich an der Interpunktion erkennbar als auch an der Verwendung der Verben nerven und ausgrenzen sowie des im sprachpflegerischen Diskurs häufig auftretenden Portemanteau-Stigmaworts denglish . 3. Ja, mittlerweile nervt das wirklich immer mehr! Und besonders ältere Menschen verstehen die denglischen bzw. englischen Wörter gar nicht und werden so in unserer Gesellschaft sprachlich ausgegrenzt (VdS FB , 22. 02. 2012). In Beleg (4) wird illustrativ mit einem konkreten Beispiel aus dem Alltag der Sprecher argumentiert, in dem sich der Verfasser auf die erfreuliche Präsenz des Französischen beim alljährlichen Sportereignis Tour de France bezieht, was er als Indiz für den Erhalt des französischen Sprachprestiges auf internationaler Ebene ansieht. Wie auch in (3) wird anhand der Lexik deutlich, wie emotional aufgeladen der Diskurs ist ( je suis épaté ) und dass metasprachliche Äußerungen zum Zustand der Sprache durch verschiedene einstellungsgelagerte Affekte getragen werden (Angst vor der hégémonie de l’anglais , Freude angesichts eines français très compréhensible , Stolz und Ehrgefühl angesichts der Tatsache, dass […] tous ou presque tous [ font ] l’effort ): 4. Il est un domaine où le français tire encore son épingle du jeu, et ou l'anglais n'est pas hégémonique, c'est le vélo. Je suis de près le Tour de France cette année, et en effet, je suis épaté d'entendre pratiquement tous les coureurs et tous les directeurs sportifs de partout s'exprimer dans un français très compréhensible : ils font tous ou presque tous l'effort, et ils nous font l'honneur, de se mettre un peu au français ( FPL , 13. 07. 2012). <?page no="47"?> Sprachpflegerische Welten im Internet: 47 Beim sprachnormativen Diskurs im Sinne ansatzweise status- und korpusplanerischer Reflexionen der laienlinguistischen Sprachpfleger findet der Topos des etablierten Sprachgebrauchs Anwendung innerhalb einer großen thematischen Marge, die von der Diskussion des orthographischen und phonetischen Standards wie z. B. in Beleg (6) bis hin zu legislativen Vorgaben in fachsprachlichen Domänen in Beispiel (5) reicht: 5. Die SPD Hamburg, zusammen mit Niedersachsen und NRW , legte einen Gesetzesentwurf vor, der die englische Sprache neben Deutsch als Verhandlungssprache in Gerichten zulässt. Nach aktuellem Stand sei von einer Zustimmung des Bundestages auszugehen. Laut den Politikern sei es von Nachteil, dass Deutsch als alleinige Gerichtssprache etabliert ist (VdS FB , 05. 08. 2014). 6. Je ne nie pas l'existence d'une norme de prononciation: j'en perçois deux ! Et si la prononciation "standard" du français était imposée depuis des siècles, cela voudrait également dire que cette volonté échoue depuis des siècles ( FPL , 06. 09. 2013). Beispiel (5), das rein formal einer eher sachlichen Zustandsbeschreibung gleichkommt, impliziert eine subtile Argumentation gegen die Zulassung des Englischen als Gerichtssprache. Als induktives Beispielargument ermöglicht der Verweis auf die Gesetzesentwürfe der SPD in Hamburg, Niedersachsen und NRW die Ableitung der Konklusion, dass der Status des Deutschen als Verhandlungssprache an deutschen Gerichten in Gefahr ist . Um dieser Vermutung der offiziellen Statusgefährdung des Deutschen durch das Englische Nachdruck zu verleihen dient ein ergänzender berichterstattungsähnlicher Satz ( Nach aktuellem Stand sei von einer Zustimmung des Bundestags auszugehen ), der den Geltungsanspruch der Aussage durch einen Verweis auf eine anonyme Autorität steigert, die in der Verwendung des Konjunktivs I der indirekten Rede sichtbar wird und gleichzeitig als argumentum necessarium Wirkung erzeugt ( Wenn der Bundestag jetzt schon mehrheitlich zustimmt, dann ist der Einsatz des Englischen als Gerichtssprache in Deutschland beschlossene Sache ). Eine zusätzlich affektive Konnotation erhält die Argumentation durch den Verweis auf traditionelle legislative Zustände ( Damit würde das seit 1877 bestehende Grundgesetz zur Gerichtssprache gefällt werden ), die im Zuge globalisierender Tendenzen nicht mehr respektiert und zu Gunsten der englischen Sprache arglos ausgehebelt werden. Die Aussage in Beleg (6) verdeutlicht den Einsatz des Beiträgers zugunsten einer Relativierung der Exklusivität der französischen Standardaussprache je nach individueller Einstellung des jeweiligen Sprechers ( j'en perçois deux ! ). Den dahinter stehenden Einsatz für eine Anerkennung von normabweichenden Aussprachevarietäten und die Nichtdurchsetzung der traditionellen Norm ([…] cette <?page no="48"?> 48 Vera Neusius (Saarbrücken) volonté échoue depuis des siècles ), versucht der Nutzer argumentativ durch die gewählte ironische Ausdrucksweise zu rechtfertigen. Neben der oftmals motivisch gebrauchten Wechselbeziehung zwischen Sprache und Nation wird vor allem die Kultur beider Sprachen in ihren diversen Ausprägungsformen als Spiegel des Sprachwandels oder als Voraussetzung für ein bestimmtes sprachliches Niveau präsentiert. Dabei betonen laienlinguistische Sprachpfleger - nach dem Vorbild der institutionalisierten Sprachpflege - die Bedeutung der Literaturgeschichte des jeweiligen Landes als Kulturgut oder verweisen konkret auf den Sprachgebrauch von kulturellen Autoritäten , wie es die beiden folgenden Beispiele belegen: 7. Ich war gestern in Düsseldorf "auf der Kö" zum Bücherbummel. Auf der einen Seite deutsche Literatur von den Anfängen bis in die Neuzeit. Auf der anderen Seite die Geschäfte, von denen kaum eines noch deutschsprachige Werbung zeigt. Ich dachte, ich wäre in England und nicht in der angesagtesten Einkaufsstraße der Hauptstadt Nordrhein-Westfalens. Es ist gruselig (VdS FB , 18. 06. 2012). 8. Pendant quelques années j'ai été un très fidèle lecteur du Canard, qui était - l'est-il toujours ? - réputé pour son bon niveau en français, je n'y cherchais pas du tout cela, mais il m'a beaucoup apporté pour mon expression en français. À plus forte raison s'attacher à des auteurs littéraires que l'on aime, qui vous apportent en prime mille autres choses, est évidemment excellent ( FPL , 27. 01. 2012). Aus (7) geht erneut hervor, dass der Anglizismendiskurs in metasprachlichen Äußerungen ein dominanter thematischer Marker ist und sich, in andere topische Muster eingeflochten, als salientes Merkmal durch laienlinguistische Argumentationen zieht. Mit der berühmten Düsseldorfer Einkaufsstraße als illustratives Beispiel wird die Konklusion belegt, dass durch die Dominanz englischer Werbung in den Geschäften ( Anglizismen-Topos ) nicht nur die Verbraucher abgeschreckt werden ( Es ist gruselig ), sondern auch die öffentliche Präsenz deutschsprachiger Literatur zurückdrängt wird ( Kultur-Topos ). In Beispiel (8) wird durch die Darstellung der bekannten französischen Satirezeitschrift Canard Enchaîné als sprachlich-kulturelle Autorität ( réputé pour son bon niveau en français ) ein deskriptives Kausalschema eingeleitet, das die Lektüre französischer Literatur als entscheidendes Kriterium bei der Schulung des Sprach- und Ausdrucksvermögens definiert ( Pendant quelques années j'ai été un très fidèle lecteur du Canard […] il m'a beaucoup apporté pour mon expression en français ). An letzter Stelle soll neben der in den vorherigen Beispielen aufgezeigten Reflexion der kommunikativen und sozialen Funktion von Sprache die ihrer kognitiven Beschaffenheit und Relevanz (Topos der kognitiven Folgen ) aufgezeigt <?page no="49"?> Sprachpflegerische Welten im Internet: 49 werden, die auch in den laienlinguistischen Foren nicht selten als diskursive Grundfigur erscheint: 9. Schrecklich. Die Intelligenz eines Menschen drückt sich auch darin aus, wie er mit seiner Sprache umgeht. Der vielgeschumpfene Herr aus Berlin hat halt leider doch Recht: Deutschland schafft sich selbst ab (VdS FB , 30. 06. 2014). 10. Un langage parlé et écrit est un protocole de communication. A ce titre, il devrait être régi, comme le code de la route, par des règles intelligentes, logiques et rigoureuses ( FPL , 24. 02. 2012). Wie an anderer Stelle bereits herausgearbeitet wurde, belegt die Aussage des Verfassers in (9) erneut die deutlich hervortretende affektive Komponente metasprachlich explizierter Einstellungen. Das in Kopfstellung elliptisch positionierte Adjektiv schrecklich resümiert die entsetzte Haltung des Beiträgers angesichts des nicht weiter konkretisierten schlechten Umgangs bestimmter Menschen mit der eigenen Sprache, die er durch ein Vergleichsschema normativ begründet, indem er eine bestimmte menschliche Eigenschaft ( Die Intelligenz eines Menschen drückt sich darin aus […]) aus einem ähnlich gearteten Verhalten in einer bestimmten Situation erschließt ([…] wie er mit seiner Sprache umgeht ). Der intertextuelle Verweis auf das 2010 erschienene Buch des Volkswirts und ehemaligen SPD -Politikers Thilo Sarrazins mit dem Titel Deutschland schafft sich ab zeigt darüber hinaus, dass die gesellschaftlich kontrovers geführten Diskussionen um sozio-politische Probleme sich in der laienlinguistischen Auseinandersetzung mit Sprache widerspiegeln oder ihren Akteuren zumindest einen geeigneten Aufhänger liefern. Beispiel (10) hingegen bezieht sich nicht auf die kognitive Fähigkeit der Sprecher, sondern auf den kognitiven Gehalt der Sprache selbst. Der Verfasser legt auf aphoristische Weise für jede Sprache die Gesetzmäßigkeit fest, dass ihre Funktionsfähigkeit in einem intelligenten, logischen und strengen Regelsystem begründet liegt und rechtfertigt diesen Zusammenhang durch ein Analogieargument ( comme le code de la route ), das die regelhafte Struktur der Sprache einer Verkehrsordnung gleichsetzt. 6 Zusammenfassende Bemerkungen und Ausblick Die exemplarische Analyse hat gezeigt, dass sich die öffentliche Diskussion um Sprache und ihre Sprecher in Deutschland und Frankreich gleichen Themen in Form äquivalenter topischer Muster widmet. Diese musterhaft strukturierte Architektur des sprachpflegerischen Diskurses belegt dabei nicht nur die Fortsetzung einer diskursiven Tradition, der eine bewusst konstruierte Identität <?page no="50"?> 50 Vera Neusius (Saarbrücken) und traditionell normativ ausgerichtete Mentalität zugrunde liegt, sondern anhand der untersuchten metasprachlichen Äußerungen wird deutlich, dass die dargestellten Leitmotive der institutionalisierten Sprachpflege in mittlerweile weit ausgedehnten Teilen der Gesellschaft durch das Potenzial internetbasierter Kommunikationsformen eine große Verbreitung erfahren. In den Kommentaren der Internet-Nutzer wurden dabei auch Tendenzen einer relativierten und ‚gemäßigten‘ Sprachpflege erkennbar, die von der Idee einer puristischen Standardnorm Abstand nehmen und gleichzeitig individuelle sprachbezogene Reflexionen in den Diskurs einbringen. Ein zentrales definitorisches Problem wirft in diesem Kontext nach wie vor die Frage auf, wer in den betrachteten öffentlichen Räumen überhaupt als Laienlinguist klassifiziert werden kann und ob dieser Terminus im Kontext des dargestellten metasprachlichen Kommunikationsformats auf die Mehrzahl der beteiligten Akteure zutrifft, sodass eine Titulierung dieser Gruppe als laienlinguistische Sprachpfleger und ihre gesonderte Einordnung als gesellschaftlich wirkendes Ensemble neben offiziellen und offiziösen Bereichen der Sprachpflege zu rechtfertigen wäre. Die weiten Dimensionen und die Komplexität dieses Diskurses, v. a. durch die Integration von Online-Daten, können durch die bestätigte Hypothese länderübergreifender Diskursstrukturen konturiert werden und liefern somit einen ersten Anhaltspunkt, der für Forschungsinteressen der romanistischen Linguistik durch eine Orientierung der Untersuchungsmethode an diskurslinguistischen Verfahren sowie interdisziplinäre Ansätze gewinnbringend ergänzt werden kann. Eine fokussierte Triangulation im Sinne einer Verbindung der soziolinguistisch klassischen, qualitativen Kategorisierung der Sprachdaten mit einer partiellen Adaption korpuslinguistischer Verfahren könnte hierbei eine geeignete methodische Ergänzung repräsentieren, die eine kombinierte Untersuchung auf textinterner und transtextueller Ebene bei sprachkontrastiv angelegten Korpora realisierbar macht. Literaturverzeichnis Korpus ABC = ABC de la langue française , http: / / www.languefrancaise.net/ (01. 04. 2016). 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Zum Wandel in der Bewertung regionaler Merkmale in Québec Elmar Eggert (Kiel) 1 Einleitung Die Frage, ob es eine Norm des kanadischen Französischen in Québec gibt oder geben soll, ist eng mit der Sprachkritik in Bezug auf diese sprachliche Varietät verbunden, denn diese Varietät steht in einem Zusammenhang mit weiteren frankophonen Varietäten, denen jeweils ein anderer Stellenwert zugewiesen wird. Die Kritik am Sprachgebrauch und damit die Beurteilung von Sprechweisen bzw. Sprachen in einem bestimmten Gebiet erfolgt einerseits durch die Sprecher selbst, die entweder aufgrund von eigenen Erfahrungen oder nach Vorgaben von angesehenen Instanzen eine Einschätzung vornehmen und danach auch ihr sprachliches Handeln ausrichten. Andererseits sind es eben Institutionen oder Fachleute, welche die sprachliche Varietät als solche und auch deren einzelne sprachliche Varianten bewerten. Durch letzteres machen sie aus berufenem Munde eine Vorgabe zum konkreten Sprachgebrauch und tragen damit zur Stärkung einer Varietät bei, so dass Sprachkritiker als Norminstanz fungieren. Auch das Französische in Québec ist einer konstanten, aber wechselnden Sprachkritik von unterschiedlichen Seiten unterworfen. Dabei stellt bereits die Erfassung der Varietät des français québécois (in Kurzform Québécois genannt) eine große Schwierigkeit dar, mit der nicht nur Studierende in Abschlussprüfungen konfrontiert werden. Zwar können leicht einige Merkmale im Bereich der Phonetik / Phonologie, der Morphosyntax und im Wortschatz genannt werden, welche das Québecer Französisch charakterisieren, doch reicht dies zur Abgrenzung nicht aus. Um den Status der verschiedenen Varietäten des Französischen, die in Québec Verwendung finden, erfassen zu können, sind diese anhand ihres Gebrauchs zu bestimmen und davon ausgehend von anderen Varietäten abzugrenzen. Im Folgenden soll untersucht werden, wie die Besonderheiten der sprachlichen Realisierungen des Französischen in Québec zu verschiedenen Zeitpunkten gesehen worden sind und wie diese Bewertung sich im Laufe der Zeit <?page no="56"?> 56 Elmar Eggert (Kiel) gewandelt hat. 1 Von den ersten Zeugnissen abweichender Sprechweisen von den in Europa bekannten frankophonen Varietäten bis hin zu einer ko-offiziellen Etablierung des Französischen in Kanada und in der heutigen Welt sind erhebliche Veränderungen in den Sprachbewertungen zu beobachten, doch das Gefühl einer zweifachen Bedrohung ist relativ konstant geblieben. Denn die politischen Führungen in Québec sahen und sehen das Französische in zweierlei Beziehung als gefährdet an: Die Bedrohung des Französischen sei einerseits durch den nationalen Kontext einer vom Englischen dominierten Gesellschaft und auch der internationalen (= größtenteils anglophon verhandelten) Welt gegeben, andererseits durch das europäische Französisch, da innerhalb der institutionalisierten Frankophonie der OIF die Pariser Varietät des Französischen ein unbestritten hohes Prestige habe, so dass es die anderen Varietäten nur in regionalen Kontexten zur Geltung kommen lasse. Diese doppelte Front wird seit der Mitte des 19. Jh. in der Sprachkritik thematisiert. Bevor historische Sprachdebatten nachgezeichnet und erläutert werden, um diese mit Ansätzen der Sprachbewertung des 21. Jahrhunderts zu kontrastieren, soll jedoch anhand von einzelnen Kriterien ausgeführt werden, was allgemein eine Norm ausmacht, um auf dieser Grundlage bestimmen zu können, was eine Norm des kanadischen Französischen bedeuten könnte (Kap. 2). Um eine Zuordnung der Normfrage auf eine konkrete Varietät zu ermöglichen, muss das komplexe Varietätensystem des französischen Sprachraums in Kanada betrachtet werden (Kap. 3). Den Hauptteil bilden die Erläuterungen zu den historischen Diskussionen zum sprachlichen Leitbild in Québec (Kap. 4). So wird nach einer Kontextualisierung die historische Sprachkritik der Querelle de Thomas Maguire analysiert, die das Québecer Französisch aus den wechselnden Perspektiven einer europäischen Norm und der notwendigen Anpassung an die kanadische Gesellschaft kritisiert (Kap. 4.2). Eine Weiterentwicklung der Sprachkritik und -beratung kann in institutionalisierter Form in der Société du parler français au Canada gesehen werden, die immer stärker eine eigenständige Sprache zu legitimieren versucht, wie aus den Zielen und Aktivitäten herauszulesen ist (Kap. 4.3). Vor dieser historischen Folie wird versucht, die aktuellen Einordnungen des Québecer Französisch herauszuarbeiten (Kap. 5). Dazu wird die Sprachkritik und Sprachberatung des Office québécois de la langue française ( OQLF ) zur Varietät des Québécois analysiert, des wichtigsten Akteurs der Québecer Sprachpolitik, welche den Sprachgebrauch in der Region untersucht, die Sprachverwendung fördert und dazu eine Sprachberatung anbietet (Kap. 5.1). Aus dem Vergleich aktueller mit früheren Veröffentlichungen des OQLF ist ein 1 Einen Überblick über die sprachpolitische Situierung und Entwicklung zum Französischen in Québec geben Corbett (1990) und Martel/ Pâquet (2010). <?page no="57"?> Gibt es eine Norm des Québécois ? 57 Wandel in der Beurteilung des Québécois als Normvarietät abzulesen, welche nun stärker die einzelnen regionalen und kulturellen Ausprägungen zu fördern sucht (Kap. 5.2). Ein Vorschlag zur Erklärung dieser divergenten Sprachbewertung (und auch Sprachpraxis) schließt die Ausführungen ab (Kap. 6). 2 Die Rolle der Norm für die Sprachkritik Eine Norm ist eine Vorgabe für einen bestimmten Bereich. Ausgehend vom lat. norma mit der Bedeutung ‚Winkel, Winkelmaß‘ hat sich metonymisch die Bedeutung ‚Richtschnur, Regel‘ (Stowasser 1980 s.v. norma ) herausgebildet, von der sich das Adjektiv normalis mit der Bedeutung ‚das Normale als das der Regel entsprechende‘ ableiten lässt (Rey-Debove 2003, 1-2). Eine Norm ist stets ein soziales Phänomen, das eine Orientierung der Ausprägung eines Gegenstands an einem Maß ermöglicht, um so die Bewertung von Gegenständen oder Sachverhalten auf eine vergleichende Grundlage zu stellen. Das Ziel ist also eine einheitliche Ausrichtung aller Elemente eines Bereichs auf einen Wert, um so eine Vereinheitlichung bzw. eine Stabilisierung der Ausprägungen um einen Wert herum zu erreichen. Damit gilt eine Norm in logischer Umkehr als Bewertungsmaßstab für Abweichungen in diesem Bereich. 2 Da eine Norm bereichsabhängig ist und sozial verankert werden muss, gibt es üblicherweise nicht nur eine einzige Norm, sondern oft mehrere erklärte Normen, so dass meist von Normen im Plural gesprochen wird (Bartsch 1987, 155). Gegenstand der Normausrichtung ist meist etwas Geschaffenes, aber es können auch natürliche Dinge oder soziale Muster einer Norm unterworfen werden. Die Gültigkeit muss erklärt und der Gültigkeitsbereich festgelegt werden, meist von der Gesellschaft oder einer sie ausgebenden Institution, die sich mit dem Bereich befasst. 3 Der Prozess der Normgebung umfasst mehrere Phasen, vom Bewusstwerden für die Notwendigkeit von Normen über die Wege der Ermittlung von Normen, ihrer Formulierung und Verkündung bis hin zur Durchsetzung, Rezeption und auch Wirkung (bzw. Nicht-Wirkung). Es gibt verschiedene Arten von Normen, die z. B. durch den Grad der Verbindlichkeit klassifiziert werden (grobe Zielvorgaben gegenüber obligatorisch gesetzten Werten). Die soziale Vorgabe kann stark sein (Pflicht, Verbot, Erlaubnis) oder schwach wirken (Empfehlung, Rat, Freigabe). Auch die Art der Konstituierung einer Norm oder eines Normwerts 2 Vgl. Dostie / Hadermann (2015, 10): „la langue dite standard qui constitue le repère pour mesurer l’écart“. 3 Mit mehreren Normvorgaben kann zudem eine Kodifizierung der historisch-kulturellen Gestaltung der Welt vorgenommen werden. <?page no="58"?> 58 Elmar Eggert (Kiel) wirkt differenzierend, so werden präskriptive und deskriptive Normen unterschieden. Eine präskriptive Norm liefert Vorgaben für einen sozial akzeptierten Sprachgebrauch, in deskriptiver Perspektive wird ein Normalwert durch das häufige Vorkommen und somit als statistischer Durchschnitt ermittelt, wodurch eine „Normalität“ dieses üblichen Werts angenommen wird, auf welche die Ausrichtung erfolgen kann, aber meist nicht muss (Bartsch 1987, 157-163). In Bezug auf Sprache ist demzufolge zu unterscheiden, auf welchen Bereich sich eine Norm bezieht und wie diese sozial zur Norm erklärt wird, v. a. wer diese Vorgabe trifft und wie diese durchgesetzt und verankert wird. Nach Koch (1988, 331) sind Normen für die verschiedenen Varietäten einer Sprache zu unterscheiden, also Normen der Schriftsprache oder Sprechsprache bzw. sind es diastratische, diaphasische oder diatopische Normen, die wirken können. Bei sprachlichen Normen ist weiterhin zu unterscheiden zwischen der Ebene der Varietät und der Ebene der Varianten. Zielpunkt einer sprachlichen Norm ist eine sprachliche Varietät, der ein sozialer Wert z. B. als offiziell anerkannte Sprache ( langue ) zugeschrieben wird. Da diese sich nur in konkreter Realisierung ( parole ) manifestiert, wird sie durch innersprachliche Merkmale bestimmt, auf die der soziale Wert der Varietät übertragen ist. Diese innersprachlichen Varianten konstituieren in ihrer Gesamtheit dann die sprachliche Norm-Varietät. Die präskriptiven Normen werden von Institutionen der Gesellschaft ausgegeben, die sich intensiv bzw. professionell mit Sprache befassen oder annehmen, ein Mandat dafür zu haben, so z. B. die Schule mit kodifizierenden Werken wie Grammatiken oder Wörterbüchern, Sprachinstitutionen, Akademien, Ministerien etc. Die Normgebung ist im Falle Québecs durch politische Bestimmung der Institution des Office québécois de la langue française ( OQLF ) übertragen worden, die somit eine bestimmte sprachliche Varietät als Normsprache zu verbreiten sucht, aber nicht immer Erfolg in der Durchsetzung hat. Deskriptive Normen in der Sprache werden nach Sinner (2014, 107) durch den „sozial dominierenden Gebrauch“ bestimmt. Diese Gebrauchsnormen sind also die üblichen Realisierungen des Systems, neben anderen möglichen und weniger frequenten Realisierungen. Die Variation der Sprache und solche deskriptiven Normen können von den Sprechern wahrgenommen und als Richtschnur angesehen werden, auf die sie sich ausrichten, z. B. bei Innovationen, die sich ausbreiten, hochfrequent und schließlich sozial anerkannt werden, so dass sie durch einen Wörterbucheintrag sanktioniert werden. Die tatsächliche Wirkung von Normen auf die Sprecher ist dabei zu unterscheiden von den Intentionen der Norm. Für die Sprecher wirken präskriptive Normen, z. B. durch die Schule, und deskriptive Normen durch die Kommunikationserfahrung zusammen. Nach Ansicht von Sprachplanern sollte es für die Sprecher wichtig sein zu wissen, in <?page no="59"?> welchem Bereich eine sprachliche Vorgabe einer Norm vorhanden ist und welche konkreten Vorgaben auf der Ebene der Varianten dabei zu berücksichtigen sind. In der Praxis hingegen ist eine sprachliche Norm das, was Sprecher für angebracht halten oder wovon sie glauben, dass es von ihnen erwartet würde. Sie gehen also von einer Idealnorm der Standardsprache aus, d. h. sie haben in ihrer Gesellschaft einen Regelkomplex verinnerlicht, der üblicherweise nicht mit den existierenden Varietäten der Sprache übereinstimmt. Sie fragen sich, welcher Sprachgebrauch gut und richtig ist. ‚Falsch‘ und ‚richtig‘ sind dabei Kategorien, die sich sowohl auf die Grammatikalität des Systems beziehen können, also angeben, ob ein grammatikalischer Fehler vorliegt, als auch auf die Bewertung der sprachlichen Äußerung in Bezug auf eine Norm, also ob der Gebrauch dieses sprachlichen Elements sozial adäquat ist. Dabei wird die Abweichung von einer Norm beurteilt: z. B. kann ein Wort als nicht korrekt gewertet werden, das zwar als diatopische Variante linguistisch beschrieben und in einer bestimmten Region hochfrequent ist, aber im sozialen Kontext einer offiziellen Sprachäußerung einer anderen Region eine konträre Bewertung erfährt. Eine solche Normdiskussion über eine idealisierte, „reine“ Sprachform zeigt schnell Bestrebungen zum Purismus in der Sprache auf. Auch in Québec wurden und werden Debatten von Sprachberatern, Gelehrten und interessierten Laien um eine gute Sprachverwendung, die der angenommenen Idealnorm entspricht, geführt. Die Frage nach der Norm bezieht sich dabei auf die Eingrenzung der zugrunde zu legenden Varietät. Diese Diskussion wird im heutigen Québec von interessierten Laien und Sprachinstitutionen geführt, wobei sich die Ansichten grob in zwei Lager teilen, welche sich entweder an einer auszubauenden, internen Varietät des Französischen in Québec oder an prestigeträchtigen, außerhalb Québecs zu verortenden Varietäten orientieren: die endogénistes (auch aménagistes genannt) und die exogénistes (oder internationalisants , vgl. Pöll 2009; Meney 2010; Sénécal 2010; Reutner 2009, 90). Vielen Beiträgen der Anhänger einer endogenen Norm ist nicht klar zu entnehmen, welche Varietät des Französischen in Québec zur Norm erklärt werden soll, denn es gibt mehrere diatopisch mehr oder weniger stark markierte Québecer Varietäten des Französischen, zu denen ein français québécois als Normvarietät in Québec abzugrenzen ist. Auf diese Varietät sind die allgemeinen Kriterien einer Norm zu beziehen. 3 Das Québecer Französisch und die Normfrage Wenn die alloglotte und anglophone Minderheitsbevölkerung für die aktuelle Betrachtung ausgeklammert wird, liegt in Québec (früher wie heute) ein französischsprachiger Varietätenraum vor, der durch die Einwanderung von Siedlern Gibt es eine Norm des Québécois ? 59 <?page no="60"?> 60 Elmar Eggert (Kiel) aus Frankreich mit ihren verschiedenen regionalen Varietäten gekennzeichnet ist. Ohne die historische Entwicklung nachzeichnen zu wollen, kann festgehalten werden, dass die Sprecher in Québec immer stärker dazu übergingen, das Standardfranzösische zu sprechen, wenngleich mit unterschiedlicher Kompetenz und in seiner ganzen Variationsbreite. Auch im heutigen Québec ist das Französische als Muttersprache von 80 % der Bevölkerung in den jeweiligen diastratischen und diaphasischen Varietäten vorhanden, natürlich auch jeweils in diatopischen Ausprägungen. Die Kommunikationssituationen reichen von extremer Mündlichkeit im intimen, privaten Bereich bis hin zur extremen Distanzsprache in hochformellen oder fachlich-wissenschaftlichen bzw. administrativen Situationen. Alle sind zur historischen Sprache des Französischen zu rechnen, unterscheiden sich aber in einzelnen oder mehreren Merkmalen von entsprechenden Varietäten in Frankreich oder anderen frankophonen Regionen. 4 In formellen Situationen ist das Französische in Québec im Verhältnis zur europäischen, Paris-zentrierten Varietät weniger stark markiert, in informellen viel stärker, aber in fast allen Äußerungen sind einzelne Merkmale festzustellen, welche die meisten Frankokanadier teilen. Dies ist v. a. in der Aussprache gegeben. Zudem sind einige Kanadismen in allen frankophonen Varietäten sehr verbreitet, welche jedoch in bestimmten Diskursbereichen vermieden und ersetzt werden, in denen ein regionaler Bezug keine Relevanz haben soll. Die Varietät der Québecer Umgangssprache weicht also stark von Äußerungen in offiziellen Bereichen ab und ist für Außenstehende teils schwer verständlich. Der umgangssprachliche Bereich ist am stärksten von diaphasischen Merkmalen geprägt, die auch regional oder sogar lokal diatopisch einzugrenzen sind. Daher unterscheiden sich diese auch innerhalb des Sprachgebiets von anderen Umgangssprachen. Solche Merkmale könnten dann als Varianten der Québecer Norm gewertet werden. Aber die im Bereich der mündlichen Nähesprache angesiedelten Sprachformen kommen gerade nicht für eine Normierung in Frage, denn eine Normierung widerspräche dem spontanen Charakter der mündlichen Sprechsprache eines Gebiets. Auch das joual , das häufig als besonders charakteristische Varietät des Québécois angesehen wird, ist von einer Normierung auszuschließen, denn es ist der „im Gefolge der Landflucht und Industrialisierung entstandene, von Anglizismen affizierte populäre Sprachgebrauch der unteren Schichten“ (Pöll 1998, 68). 4 Neue Studien zur Variation in frankophonen Varietäten zeigen, dass „de différents mots ou expressions dans plusieurs variétés de français [peuvent] dégager les microsystèmes sémantiques qui sous-tendent leurs emplois“ (Dostie / Hadermann 2015, 13). <?page no="61"?> Das zeigt das Dilemma der Normierung einer eigenen Québecer Varietät: Je stärker der Unterschied der spezifischen Merkmale des Québécois zum europäischen Französisch ist, desto mehr Gewicht hätten diese als Argumente für eine Eigenständigkeit dieser sprachlichen Varietät, aber desto stärker sind sie auch auf den gesprochenen und informellen Nähebereich beschränkt, der sich am wenigsten als Träger prestigeträchtiger Varianten für eine Norm eignet. Denn von einem idealen Standpunkt aus wäre die Normierung sinnvoll für eine Varietät, die diatopisch auf Québec eingegrenzt werden kann, die aber diastratisch z. B. auf die Gruppe der Staatsdiener, Beamten oder Lehrer zu beziehen ist und die diaphasisch auf die Situationen der öffentlichen Kommunikation in staatlichen oder gesellschaftlich-relevanten Institutionen oder daran angelehnte und vergleichbare kommunikative Zwecke (öffentliche Kommunikation in Unternehmen) beschränkt wird. Welches sind nun die Orientierungspunkte für eine Norm des Französischen in Québec gewesen? Die Diskussion über eine Leitvarietät des „guten Französisch“ in Québec ist im Zusammenhang mit der Frage nach dem sprachlichen Leitbild in Frankreich zu betrachten. 4 Die historischen Diskussionen zum sprachlichen Leitbild in Québec 4.1 Wandel des sprachlichen Leitbilds im 18./ 19. Jh. Das sprachliche Leitbild der Frankophonen in Québec war bis über die Französische Revolution hinaus der bon usage des Ancien Régime . Dieses sprachliche Vorbild war jedoch durch die Französische Revolution unter den Franzosen abgewertet und durch das neue Modell der Sprache der Pariser Bürgerschaft abgelöst worden. Diese Veränderung im Prestige der Leitvarietät ging einher mit der neuen Schulpolitik der Französischen Revolution, welche zur Folge hatte, dass sich die Schriftkenntnisse ausweiteten und die Varietät des geschriebenen Französisch Vorrang vor mündlichen Varietäten bekam. Gleichzeitig herrschte eine sehr rigide Normvorstellung, wie an mehreren Grammatiken der Zeit zu erkennen ist (Noël / Chapsal 1823; Rotgès 1896). Dadurch wurden auch Aussprachegewohnheiten, die mit der Sprache im Ancien Régime verbunden wurden, als veraltet abgewertet und durch diejenigen der nun herrschenden Schicht der Bourgeoisie abgelöst, die im Ansehen gestiegen waren. Diese Bürgerschicht konnte sich nicht, wie die Adligen, auf Traditionen der Sprache ihrer Gesellschaftsschicht, die lange an der Macht war, stützen, sondern sie vertraute auf die Tradition der Schrift, um zu bestimmen, was korrekt sein sollte. Daher wurden Gibt es eine Norm des Québécois ? 61 <?page no="62"?> 62 Elmar Eggert (Kiel) viele Konsonanten der Schrift auch in die Aussprache wieder neu eingeführt. Auch wurden Varianten, die nicht der schriftlichen Form entsprachen, aus dem korrekten Sprachgebrauch ausgeschlossen (vgl. Rey 2008, 74). Doch ist diese Neuorientierung des sprachlichen Vorbilds in Frankreich aufgrund der Trennung Québecs vom Mutterland im Jahr 1763 in Kanada nicht bekannt geworden. In Québec war mit der Zugehörigkeit zum Kolonialreich Englands die Schulbildung zusammengebrochen, so dass die Alphabetisierung auf niedrigem Niveau verblieb; nur 27 % der Frankokanadier sind bis 1849 alphabetisiert (Galarneau 2000, 103). 5 Daher erfolgte die Sprachweitergabe größtenteils auf mündlichem Wege. Die kleine gebildete Schicht hingegen war durch die offizielle englische Sprachpolitik einem starken Einfluss des Englischen ausgesetzt. Daher ergab sich ein sehr volkstümliches Französisch mit altertümlichen Formen und einer steigenden Anglisierung der Sprache. Auch waren einzig und allein missionarische Prediger der katholischen Lehre zur sprachlichen Unterrichtung der Québecer Bevölkerung nach Kanada gekommen, die zweifelsohne Anhänger des Ancien Régime und somit gegen die neuen republikanischen Werte waren. Daher hielten diese Sprachlehrer am alten Sprachgebrauch fest und trugen so zu einer Festigung der traditionellen Sprachvarietät bei. Im 19. Jahrhundert entwickelt sich das gesprochene Französisch in Kanada sehr deutlich, so dass die neuen Sprechweisen die Aufmerksamkeit einzelner Gebildeter erregen. Neben Anglizismen und Neologismen werden Provinzialismen, Archaismen und Amerindianismen erkannt und zunächst scharf kritisiert, da die gebildete Schicht bestrebt ist, sich an das normative Französisch anzupassen. 6 Zugleich nimmt das Bewusstsein über einen starken Einfluss des Englischen zu, der zunehmend als Bedrohung gesehen wird. Eine erste Reaktion auf die Anglizismen und auf Lehnphänomene aus dem Englischen äußert Michel Bibaud 1817 in seiner Kritik in der Zeitschrift L’Aurore : Rien ne dépare tant un idiome que les mots et tours barbares qu’on y introduit mal à-propos; et les personnes qui ont à cœur la pureté de leur langue, devraient réprouver de tout leur pouvoir et tourner en ridicule, cette manie d’anglifier le français qui paraît devenir plus générale de jour en jour (zitiert nach Bouchard 2012, 87). Derartig wertende Bemerkungen zur Sprache fachen die Sprachkritik an, die sich schließlich an einzelnen Schriften entzündet. 5 Die Zahl der Frankophonen war von 50.000 (1760) auf 700.000 (1842) angewachsen (Rey 2008, 92). 6 Erst mit der Gründung der Société du parler français au Canada 1902 werden Provinzialismen und Archaismen wieder rehabilitiert, da sie französischen Ursprungs sind und eben nicht englischer Herkunft. Anglizismen hingegen werden allgemein zurückgewiesen und als Bedrohung für die Qualität des Französischen in Kanada gesehen, s. Kap. 4.3. <?page no="63"?> 4.2 Normdiskussion zum Québécois: die Querelle de Thomas Maguire Im Jahr 1841 beginnt eine intensive Sprachdiskussion, die durch das Erscheinen des Handbuchs für korrekten Sprachgebrauch des Abbé Thomas Maguire entflammt, dem Manuel des difficultés les plus communes de la langue française, adapté au jeune âge, et suivi d’un recueil de locutions vicieuses , Québec: Fréchette et Compagnie. Bereits der Titel deutet auf eine klare Kritik des Sprachgebrauchs der Québecer Schüler hin. Darin beklagt Maguire vor der Folie der Pariser Norm des Französischen mehrere Kanadismen, v. a. in seinem Anhang: Aussprachevarianten, morphosyntaktische Abweichungen, Neologismen, Anglizismen, Archaismen, Provinzialismen, Fachsprachenübernahmen, populäre Ausdrücke etc. Maguire beabsichtigt, „signaler les erreurs de langage particulières au Canada“ (Maguire im Avertissement , nach Bouchard 2012, 96). Doch wird das Handbuch nicht als Ratgeber aufgefasst, sondern vehement kritisiert. Als erste Reaktion weist Abbé Jérôme Demers als anonymer Autor das Manuel und die angeblichen Fehler in La Gazette de Québec am 23. 04. 1842 zurück (Bouchard 2012, 90). Auf die Antwort von Maguire vom 28. 04. 1842 erhält er im August 1842 7 eine erneute Replik von Demers. Auch der Chefredakteur von Le Canadien , Etienne Parent, 8 veröffentlicht einen kritischen Kommentar zum Manuel . Später werden die im Handbuch thematisierten Fragen mehrfach in der Zeitschrift L’Encyclopédie canadienne (im Mai, Juni, August und September 1842) kommentiert und verrissen. Die angeführten Sprachkritiker gehören alle zur Gruppe der gebildeten Kleriker, die mit französischer Muttersprache in Québec aufwachsen und im Priesterseminar in Québec-Stadt bzw. Montréal ausgebildet werden und dort lehren. Ihr gemeinsames Bestreben ist es, das kulturelle Niveau der Québecer zu erhöhen, was auch Thomas Maguire antreibt. Doch ist er englischer Muttersprachler, der erst mit 13 Jahren eine frankophone Jesuitenschule besucht und nach mehreren Missionsreisen durch Frankreich als Priester Philosophieunterricht im Priesterseminar in Québec gibt. Er hat daher einen größeren emotionalen Abstand zum traditionell gesprochenen Französisch in Québec und vertritt mit Verve die in Frankreich erlernte, angesehene Norm des Pariser Französischen. 7 So die Korrektur in der Rezension von Remysen 2013. 8 Parent war Priester und Journalist, der vehement für die frankokanadische Nation eintrat, wie das Motto „Nos institutions, notre langue et nos lois“ der Zeitschrift Le Canadien verdeutlicht. Gibt es eine Norm des Québécois ? 63 <?page no="64"?> 64 Elmar Eggert (Kiel) 4.2.1 Soziohistorischer Hintergrund der Normdiskussion Um zu verstehen, warum das Lehrbuch Maguires so empfindlich aufgenommen und kritisiert worden ist, muss der politische Hintergrund vor Augen geführt werden: Québec war bereits 80 Jahre (1760-1840) ohne direkten Kontakt zu Frankreich, seit der Kapitulation von Montréal bzw. dem Vertrag von Paris 1763, der die Verluste der französischen Überseekolonien bestätigte. 1837-38 wurde in Québec die Forderung nach repräsentativer Demokratie laut, der Parti patriote rief sogar zur Rebellion auf, welche durch die englische Armee niedergeschlagen wurde. In diesem Zuge war Lord Durham aus England geschickt worden, um die zwei Kolonien Haut-Canada und Bas-Canada zu vereinen und dadurch aus der französischen Bevölkerung eine Minderheit zu machen. Ziel sollte die Assimilierung der frankophonen Bewohner sein, denn sie seien - so die Sicht der englischen Machthaber - ein Volk ohne Geschichte und ohne Literatur („sans histoire et sans littérature“, Bouchard 2012, 95). Diese klare Einschätzung war ein Schock für die Gebildeten der Zeit (besonders für Etienne Parent). Gesteigert wurde das Gefühl der Unterdrückung durch den Acte d’Union (1840), in dem das Englische in § 41 zur alleinigen offiziellen Sprache der Union deklariert wurde. 9 Diese Zurückdrängung wurde als kollektive Niederlage empfunden, was zu einer gesellschaftlich depressiven Stimmung führte. Aufgrund der Kritik an der Sprache der Québecer Bevölkerung 10 wurde das Manuel als Angriff auf das wichtigste Identitätsmerkmal der Frankokanadier aufgefasst und wie eine Ohrfeige empfunden, denn es wirkte wie eine Bestätigung der Aussage von Lord Durham, dass die Frankokanadier keine Sprachkultur hätten. Somit war es ein Angriff auf die Eigenständigkeit und Schaffenskraft der Kultur in Québec. Doch ist es nötig, sich die Kritik zu einzelnen Fragen detaillierter anzuschauen, um die Zielrichtung der Sprachkritiker zu verstehen. 9 § 41: „XLI. And be it enacted, That from and after the said Reunion of the said Two Provinces all Writs, Proclamations, Instruments for summoning and calling together the Legislative Council and Legislative Assembly of the Province of Canada, and for proroguing and dissolving the same, and all Writs of Summons and Election, and all Writs and public Instruments whatsoever relating to the said Legislative Council and Legislative Assembly, or either of them, and all Returns to such Writs and Instruments, and all Journals, Entries, and written or printed Proceedings, of what Nature soever, of the said Legislative Council and Legislative Assembly, and of each of them respectively, and all written or printed Proceedings and Reports of Committees of the said Legislative Council and Legislative Assembly respectively, shall be in the English Language only: […].“ (Hervorhebung EE; Site for Language Management in Canada (SLMC), University of Ottawa, https: / / slmc.uottawa.ca/ ? q=leg_union_act). Erst im Acte impérial von 1848 wurde dieser Artikel für ungültig erklärt. 10 Vgl. auch die Auflistung von Solözismen in Québec von Boucher-Belleville (1855). <?page no="65"?> 4.2.2 Diskussion über die Variante / wɛ/ oder / wa/ <oi> Als Beispiel für die Normdiskussion kann die Auseinandersetzung um ein (bis heute) zentrales Merkmal des Québécois erläutert werden. Maguire schreibt: Suivant eux [grammairiens français], voir, boire, croire, moi, toi, droit etc. se prononcent voar, boar, croar, toa, moa, droa. Il faut donc se garder de donner le son de l’È ouvert à la diphtongue oi, et se garder de prononcer, vo-ère, bo-ère, cro-ère, mo-è, to-è, dro-è etc. Le dictionnaire de l’Académie, et la plupart des grammairiens modernes donnent, à quelques exceptions près, la même règle pour la prononciation de la diphtongue oi. Demers hält ihm entgegen, dass es mehrere Varianten gebe und oa nur in einigen Wörtern die richtige Aussprache sei, in anderen hingegen oè : Im Wörterbuch von Catineau 1817 11 würden pois und mois mit oa gesprochen, aber ansonsten sei es moè, toè, soè, croère . Die Aussprachevariante oa sei in Frankreichs Süden verbreitet und habe sich ausgebreitet, aber gelte nur für einige Wörter. Seine Argumentation geht dahin, dass auch in Paris vielfach oè gesprochen werde und daher der kanadische Gebrauch sehr gut sei. Insofern argumentiert er nicht aus dem Sprachgebrauch in Québec heraus, sondern beschreibt nur, dass die Aussprache oè vorherrsche. Demers ist somit keineswegs ein Verteidiger der Québecer Aussprache, denn er verurteilt sogar einige kanadische Ausspracheformen, die Maguire nur kurz angesprochen hatte, wie z. B. Le son de la voyelle a , comme le son de quelques autres voyelles, peut être aigu ou grave: il est aigu dans patte, natte et grave dans hâte, pâte . On conçoit facilement que le son grave doit être plus fort, plus rempli que le son aigu; mais on doit éviter de prononcer l’ a comme les anglais le prononcent dans LAW (loi); et les allemands dans JA (oui), avec une effrayante ouverture de la bouche. Dementsprechend verurteilt Demers diese Aussprache und das Fehlen einer Stellungnahme von Maguire: Je puis ajouter ici, sans crainte de me tromper, que les Canadiens sincèrement attachés à la langue de leur pays, doivent vivement regretter que l’auteur du Manuel , au lieu de faire de vains efforts pour changer notre prononciation sur quelques points qui ne sont nullement répréhensibles, ne se soit pas élevé avec plus de force contre notre articulation lourde et traînante de la voyelle a , et qu’il ne se soit pas étendu plus au long sur cet article important. 11 Catineau-la Roche, Pierre Marie Sébastien (1817): Nouveau dictionnaire de poche de la langue française, avec la prononciation, composé sur le système orthographique de Voltaire , 6 e éd., Paris: Lefevre. Gibt es eine Norm des Québécois ? 65 <?page no="66"?> 66 Elmar Eggert (Kiel) Bis heute hat sich diese velare Aussprache gehalten, die im Pariser Französisch aufgegeben worden ist, da schon im Dictionnaire der Académie française von 1832 kein qualitativer Unterschied in der Aussprache der ehemals palatalen und velaren Variante mehr angenommen wurde, sondern nur noch ein quantitativer (Bouchard 2012, 112). 4.2.3 Bewertung In dieser Debatte über ein gutes Französisch in Québec wird die normative Ausrichtung von Maguire als Stigmatisierung des Québecer Sprachgebrauchs v. a. in der Aussprache 12 aufgefasst. Dabei betreiben Demers und Maguire eine Gelehrtendebatte über die Varianten, die jeweils als normgebend zu betrachten sein sollen. Der Streitpunkt ist, welche Varianten die Richtschnur des Pariser Französisch ausmachen, das in jedem Fall aber die Leitvarietät sein solle, an die sich die Sprecher auch in Québec zu halten hätten. In ihrem Streit beachten sie aber kaum die Fragen zur nationalen Identität Québecs und den Wert der Québecer Varietät. Es sind Diskussionen von Sprachinteressierten, welche das Québecer Französisch als defizitär und zu korrigieren 13 ansehen und dem daher kein großer Wert zugesprochen wird. Nur vereinzelt wird auf die Eigenständigkeit der Québecer Varietät Bezug genommen, wenn z. B. Maguire eine Position der Abgrenzung zum dominierenden Englisch in Québec vertritt, wenn er die formellen, semantischen und syntaktischen Anglizismen scharf verurteilt, welche er als Snobismus brandmarkt: Quant à l’emploi de mots purement anglais, là où il y a des termes en français qui leur correspondent, c’est une manie insupportable, c’est le comble du ridicule; et cependant combien de personnes, même d’éducation, qui tombent dans ce défaut! Telle Dame ne peut manger de soupe qu’au barley ! Tel Monsieur vous prie de lui passer un tumbler pour boire du brandy et de l’eau! Celui-ci vous demande, sans perdre son sérieux, si ces patates (pommes de terre) sont cuites au steam ; celui-là si vous avez payé une visite à Monsieur un tel, etc. (Bouchard 2012, 131). Auch Etienne Parent nimmt eigenständige Entwicklungen des Québecer Französischen wahr, wenn er bei Maguire kritisiert, eine enge Norm bezüglich einzelner Wörter und Gebrauchsweisen vorzugeben, die an der Realität vorbeigehen: 12 Bouchard (2012, 115): „traits de prononciation stigmatisés par les lettrés canadiens“. 13 Bemerkenswert ist, dass in dieser Auseinandersetzung markante Merkmale des heutigen Québecer Französischen nicht erwähnt werden, wie z. B. die Affrizierung der Konsonanten vor palatalen Vokalen wie in tu dis [t s yd z i]. <?page no="67"?> Manchonnier - Ce mot ne se trouve pas dans les dictionnaires, dit l’auteur. La raison en est sans doute que les faiseurs de dictionnaires en France n’ont jamais besoin de manchons; sans cela, ils auraient senti que les faiseurs de ce précieux article de toilette en Canada, méritait bien un nom particulier. Nous demandons droit de bourgeoisie pour le mot manchonnier…, um schließlich zu fordern: „chaque pays doit avoir droit de création“. Aber davon, eine Norm des Québecer Französischen zu postulieren, sind die sprachbewussten Gelehrten der Zeit noch weit entfernt. Das Gefühl einer sprachlichen Fremdbestimmung, wie es durch den historisch-politischen Kontext und die Sprachdiskussion aus der Mitte des 19. Jh. deutlich wird, sollte sich in den folgenden Jahren zu einer sprachlichen Unsicherheit ausweiten und dann zu der Gegenreaktion eines bewussten Gebrauchs diatopischer Merkmale des Französischen in Québec führen (Bouchard 2012, 155 ff.). 4.3 Die Société du parler français au Canada Die Sichtweise auf das Französische hatte sich durch die Gründung der Société du parler français au Canada (SPFC) im Jahr 1902 deutlich verändert. Diese Institution zur Spracherforschung und -beratung (s. Mercier 2002) erkannte bereits eine eigene Sprachform des Französischen in Kanada an, welche die Grundlage der Gemeinschaft der Frankokanadier bildete, aber dennoch zu perfektionieren wäre. Daher war es ihr Ziel, diese sprachliche Varietät zu erforschen, zu erhalten und auszubauen: La Société a pour objet l’étude, la conservation et le perfectionnement du parler français au Canada. 14 Die Société gab dazu seit ihrer Gründung die Zeitschrift Bulletin du parler français au Canada heraus, welche sich ganz gezielt der Reinigung des Französischen von Fehlern in der Sprachverwendung widmete, also eine veränderte Sprachnorm ansetzen sollte, an der sich ein „gutes“ Französisch in Kanada auszurichten hatte. Ganz praktisch galt es, Archaismen, Neologismen, Lehnwörter oder falsch gebildete Wörter, die sog. „mots déformés“, festzustellen, um eine Norm der frankokanadischen Sprache angeben zu können, wenngleich als Ziel nur die Durchführung einer Studie angegeben wird: Le premier objet de cette publication est l’épuration de notre langage et nous aurons soin d’y insérer surtout des travaux assortis à ce dessein, des études pratiques et à la 14 Marcotte (1903-04, 9-10: Bulletin du parler français au Canada II), eingesehen unter: archive.org/ stream/ leparlerfranai02sociuoft#page/ 10/ mode/ 2up. Gibt es eine Norm des Québécois ? 67 <?page no="68"?> 68 Elmar Eggert (Kiel) portée de tous. […] À côté des articles dont l’objet sera proprement le relèvement de nos fautes de langage, le Bulletin accueillera aussi des communications d’un caractère moins sévère, qui pourront en faire la lecture plus attrayante. […] (Hervorhebung EE ). Sans s’engager dans la voie des considérations philologiques, on pourra encore contribuer à l’étude de la langue populaire; de simples relevés de mots anciens, nouveaux, étrangers, ou déformés, présenteront souvent un réel intérêt et permettront à la Société de faire une étude plus complète du parler de France au Canada. 15 In einer dominant englischsprachigen Umgebung wurde das Französische in großer Gefahr gesehen, v. a. durch eine starke Beeinflussung und Assimilierung im Arbeitsleben, Handel und in der Industrie, aber auch in der Literatur, vor der es die Sprache zu schützen galt, wie es das Programm der Société angab: 1° L’étude de la philologie française, et particulièrement l’étude de la langue française au Canada dans son histoire, son caractère et ses conditions d’existence; 2° L’examen des dangers qui menacent le parler français au Canada: influence du milieu, contact habituel et nécessaire avec des idiomes étrangers, déformation graduelle du langage populaire laissé à lui-même, tendances décadentes de la langue dans la littérature, le commerce et l’industrie modernes, et goût trop prononcé pour quelques formes vieillies; 3° La recherche des meilleurs moyens de défendre la langue de ces dangers divers, de lui restituer ce qu’elle a perdu, et de restaurer ses expressions déjà déformées, tout en lui conservant son caractère particulier; 4° Les œuvres propres à faire du parler français au Canada un langage qui réponde à la fois au progrès naturel de l’idiome et au respect de la tradition, aux exigences de conditions sociales nouvelles et au génie de la langue française; 5° La publication et la propagande d’ouvrages, d’études et de bulletins assortis à ce dessein (Marcotte 1902-03, 3). Trotz der angestrebten Reinigung der Sprache sollte der ihr eigene Charakter erhalten werden („tout en lui conservant son caractère particulier“). Diese zwei Ziele sind jedoch kaum miteinander vereinbar. Gerade auch durch die Absicht, das Französische für die Benennung neuer Gegebenheiten auszubauen und die Sprache gemäß der ihr eigenen Sprachregeln („génie“) weiterzuentwickeln, würde der spezifische Charakter des Québecer Französischen verändert und könnte daher nicht erhalten bleiben. 15 Marcotte (1902-03, 1-2: Bulletin du parler français au Canada I), eingesehen unter: archive.org/ details/ LeParlerFranaisvolume1. <?page no="69"?> Im folgenden Jahr 1903 wurde die Zielsetzung abgemildert, indem in Form einer Präambel in dreierlei Hinsicht der Charakter der SPFC bestimmt wurde: 1) als friedfertiges Unterfangen, welches den Staat und die geltenden Sprachgesetze respektiert, 2) als Beitrag zu einer Stärkung der nationalen und kulturellen Identität und 3) als Aufruf an die Mitbürger zur Stärkung des Sprachbewusstseins und der Sprachpflege: 1° Œuvre pacifique, la Société évite toute discussion acrimonieuse et se borne à revendiquer les droits que notre loi reconnaît à la langue française. Sans tenter de proscrire l’usage d’aucun autre idiome, elle veut entretenir chez les Canadiens-Français le culte de la langue maternelle, les engager à conserver pur de tout alliage, à défendre de toute corruption, le parler de leurs ancêtres. 2° Œuvre nationale, elle en appelle à tous ceux qui ont à cœur le maintien de la nationalité canadienne-française avec sa foi, sa langue et ses traditions. 3° Œuvre populaire, elle s’adresse à tous les Canadiens-Français, quel que soit leur état, et en quelque partie du pays qu’ils demeurent, qui croient que la langue, gardienne de la foi et des mœurs, remplit mieux son rôle quand elle est saine et en tout conforme à son génie. Es sollten nun diejenigen Dialektalismen bewahrt werden, die der Tradition und der „Sprachnatur“ entsprachen, wie auch immer diese zu erkennen war: le relèvement et l’examen des formes archaïques et dialectales du parler populaire canadien-français, et la conservation de celles qui répondent à la fois au développement naturel de l’idiome et au respect de la tradition (Marcotte 1903-04, 10) (Hervorhebung EE ). Die Provinzialismen und Archaismen wurden nun auch von Mitgliedern der Société als legitim angesehen, da sie zur frankokanadischen Tradition und eben nicht zur anglokanadischen zählten. Durch die Arbeit der Société änderte sich die Bewertung des Französischen in Kanada, da es nun als legitimer Ausdruck des frankokanadischen Volks und seiner Geschichte angesehen wurde. Die französischsprachige Gesellschaft wurde immer stärker als nationale Einheit empfunden, deren Identität sich durch die ihr eigene Sprache ausdrückte und nicht durch das akademische Französisch aus Paris, wie es vorher der Fall war. Mit dieser Haltung arbeitete die SPFC an einer Kodifizierung des Französischen in Kanada, publizierte 1930 nach Jahrzehnten intensiver Studien das Glossaire du parler français au Canada und organisierte drei Sprachkongresse ( Congrès de la langue française au Canada , 1912, 1937 und 1952). Anthologien zu volkstümlichen Traditionen wurden verfasst, um dieser Sprachvarietät eine Legitimität zu verleihen, so dass der Wunsch nach einer anerkannten eigenständigen Sprachvarietät bzw. Sprache in Kanada wuchs. Gibt es eine Norm des Québécois ? 69 <?page no="70"?> 70 Elmar Eggert (Kiel) Die Société hat mit ihren Veröffentlichungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Sprachberatung in Québec beigetragen und mit ihrer Sprachkritik auch die Normdiskussion bereichert. Durch die sprachpflegerischen Aktivitäten der Société hat sich bei den Intellektuellen der Zeit so ein gewisses Bewusstsein für eine Norm des Québecer Französischen herauskristallisiert, das von der Pariser Norm emanzipiert und Grundlage für eine eigenständige, freie Entwicklung sein kann. Diese Sichtweise kontrastiert allerdings mit dem Gefühl sprachlicher Unsicherheit und Fremdbestimmung, wie es seit Mitte des 19. Jh. in Québec herrscht und nach Ansicht von Bouchard bis heute die Debatte um den Status des Québecer Französischen bestimmt. 5 Sprachberatung und Sprachkritik in Québec heute Für die aktuelle Sprachbewertung kann eine Unsicherheit nur noch teilweise erkannt werden (vgl. Heyder 2012, 161). Eine Schwierigkeit bleibt dabei, dass die starre Norm des Französischen in Frankreich und das große Normbewusstsein der Franzosen zu einer generellen Ablehnung der sprachlichen Variation und der Varietäten, die von der Pariser Norm abweichen, führen. Aber auch in Frankreich führen Vertreter sprachlicher Varietäten eine Bewegung hin zur Anerkennung an, die zu neuen Bewertungen führt, wenngleich die sprachliche Realität nur wenig verändert werden kann (vgl. die Bemühungen zur Anerkennung des Bretonischen oder des Pikardischen / Ch’ti, s. Eggert 2015, Eggert 2017). Auch in Québec gibt es auf verschiedenen Ebenen Bemühungen, eine eigene Norm des Français québécois zu etablieren. 16 Da nicht alle aktuellen Diskussionen zur Steigerung des Stellenwerts der frankokanadischen Varietäten dargestellt werden können, soll exemplarisch die Tendenz der Sprachkritik anhand der Verlautbarungen der staatlichen Institution des OQLF aufgezeigt werden. 5.1 Der Office québécois de la langue française (OQLF) Der Office québécois de la langue française ist die bedeutendste sprachpolitische Institution in Québec, der nach der Charte de la langue française (1977) im Art. 159 das übergeordnete Ziel einer Französierung der Verwaltung und der Geschäftswelt übertragen worden ist, s. auch Art. 161: 16 Basierend auf zahlreichen Studien zu Charakteristika des Französischen in Québec, z. B. Paquot (1988); Martel / Cajolet-Laganière (1996); Walter (2004); Martineau (2009); Kavanagh / Marcoux / Paré / Roy (2015). <?page no="71"?> l’Office veille à ce que le français soit la langue normale et habituelle du travail, des communications, du commerce et des affaires dans l’Administration et les entreprises. Il peut prendre toute mesure appropriée pour assurer la promotion du français (Publications du Québec (2016): Charte de la langue française , legisquebec.gouv.qc.ca/ fr/ ShowDoc/ cs/ C-11#se: 161, 08. 07. 2016). Der OQLF vollzieht somit die Sprachberatung in Québec und veröffentlicht diesbezüglich Dokumente, welche grundlegende Orientierungslinien für die von ihm ausgesprochene Referenznorm ausgeben und den Status der von ihm verwendeten Quebecismen angeben. Das politische Manifest Politique de l'officialisation linguistique von 2004 beschreibt das strategische Ziel, auf dem die Terminologiearbeit des OQLF beruht. Der Office québécois de la langue française definiert die Offizialisierung (der Terminus wird Normierung vorgezogen) im Rahmen einer Sprachpflege ( aménagement de la langue ) folgendermaßen: L’officialisation linguistique est une stratégie d’intervention par laquelle un organisme mandaté par l’État se prononce officiellement sur des usages linguistiques qu’il veut promouvoir ( OQLF 2004, 4). Diese Offizialisierung erfolgt dabei sowohl durch Empfehlungen ( recommandations ), die einen Sprachgebrauch gutheißen, aber nicht für öffentliche Stellen verpflichtend machen, als auch durch Normalisierung ( normalisation ), welche den öffentlichen Behörden, staatlichen Institutionen und Bildungseinrichtungen in bestimmten Kommunikationssituationen einen Sprachgebrauch vorschreibt und so sanktioniert. Daneben kann der OQLF auch einen Vorschlag ( proposition ) unmittelbar an die Bürger richten: Les procédures de recommandation et de normalisation prévues par la Charte de la langue française, tout comme la proposition, concernent l’élaboration d’une norme de référence sur laquelle les locuteurs d’une langue se fondent, particulièrement dans les situations officielles de communication ( OQLF 2004, 4, jeweils Hervorhebung EE ). Ziel ihrer sprachberatenden Aktivitäten ist die offizielle Sprachverwendung, für die zur Orientierung eine Norm erklärt wird, aber nicht der private, persönliche oder mediale Sprachgebrauch. Daher wird auch klar abgelehnt, dass eine Norm die Variation und die Varietätenvielfalt in der Sprache beeinträchtigen oder die Sprachentwicklung behindern soll. Das Französische in Québec sei ein Teil der allgemeinen Standardsprache ( OQLF 2004, 7). Das OQLF beschreibt die Standardsprache als mehrere Varietäten umgreifenden Komplex, der ausdrücklich auch regionale Varianten (daher auch Varietäten) umfasst und daher sehr diversifiziert ist. Greifbar werde sie in lexikographischen, terminologischen oder Gibt es eine Norm des Québécois ? 71 <?page no="72"?> 72 Elmar Eggert (Kiel) grammatischen Werken, nur sozial niedrig markierte Varianten seien von der Standardsprache ausgeschlossen. Die Diversität ist Kennzeichen aller Varietäten, doch soll die Standardisierung die Sprecher leiten, indem für die Vorgaben einer modernen Kommunikation eine Referenznorm für den öffentlichen und offiziellen Sprachgebrauch angeboten wird: à répondre aux impératifs de la communication moderne en proposant une norme de référence pour les usages publics et officiels du langage ( OQLF 2004, 8). Der Einfluss auf die tatsächliche Sprachverwendung ( l’implantation ) bleibt dabei für den OQLF eine Herausforderung, gerade bei bestehenden, konkurrierend gebrauchten Termini, denn oft werden empfohlene Wörter nicht verwendet. Dass diese konkurrierenden Benennungen in der Gesellschaft diskutiert werden, um eine höhere Annahme der Wortempfehlungen zu erzielen, scheint nicht anvisiert zu werden, denn das Mandat für die Vorschläge der offiziellen Termini habe das 2002 gegründete Comité d’officialisation linguistique , bestehend aus fünf Mitgliedern, die vom OQLF ernannt werden. Diese arbeiten auf Anfragen der Verwaltung oder von Berufsverbänden, nicht aber auf Anfragen aus der Bevölkerung. Fragen der Aussprache, die v. a. relevant für die Wahrnehmung des français québécois sind, werden ebenfalls nicht angesprochen und auch nicht diskutiert. Mit dem Comité d’officialisation linguistique hat der OQLF eine neue Institution zur Sprachberatung des Québecer Französischen auf der Grundlage einer internen Norm und Sprachkritik geschaffen. Übergeordnetes Ziel bleibt für den OQLF jedoch die sprachliche Korrektheit im offiziellen Gebrauch, die maîtrise de la langue officielle . Allerdings ist neuerdings ein Wandel im Selbstverständnis des OQLF zu erkennen, der im neuesten Plan stratégique 2013-2016 anhand der sich wandelnden Ziele abgelesen werden kann, im Vergleich zur Angabe der Mission in der Charte de la langue française , die zuletzt 2002 modifiziert worden ist. Das Ziel der Sprachberatung und Sprachpflege ist von dem einer üblichen ( habituelle ) zu dem einer lebendigen Sprache ( vitalité ) übergegangen: 2002: veiller à ce que le français soit la langue normale et habituelle du travail (www.oqlf.gouv.qc.ca/ office/ mission.html, 08. 07. 2016, Hervorhebung EE ). 2014: Ancré dans une société en constante évolution, l’Office est une organisation performante qui contribue à assurer la vitalité et la qualité du français dans les milieux de travail et l’espace public québécois ( OQLF 2014, 9, Hervorhebung EE ). Der Generaldirektor des OQLF Robert Vézina betont in dem Plan stratégique die Rolle der Sprache als Mittel zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts: <?page no="73"?> La langue étant un vecteur important de cohésion sociale, les engagements contenus dans ce plan contribueront assurément au développement du plein potentiel du Québec ( OQLF 2014, 5, Hervorhebung EE ). Auch in Bezug auf das Ziel der Toponymiekommission kann ein verändertes Sprachkonzept ausgemacht werden, von der Präsenz des Französischen und einer korrekten Benennung in der Mission der Commsission de terminologie der Charte von 1977 hin zu einem symbolisch aufgeladenen Einsatz französischer Namen zum Anzeigen des historischen Kulturguts: 1977: s’assurer que le territoire du Québec est nommé avec justesse et qu’il met en valeur le visage français du Québec (www.toponymie.gouv.qc.ca/ ct/ a-propos-commission/ mission-mandat/ , 08. 07. 2016, Hervorhebung EE ). 2014: un territoire bien nommé, pour permettre le déplacement efficace des biens et des personnes, et des noms de lieux évocateurs, pour témoigner des différents patrimoines culturels de la société québécoise ( OQLF 2014, 9, Hervorhebung EE ). So hat sich das Ziel der Sprachberatung des OQLF im Jahr 2014 deutlich modernisiert und sich einer stärker politischen und sprachpflegerischen Haltung im Kontext einer sozialen Ausrichtung verschrieben, welche die einzelnen regionalen Ausprägungen des Québecer Französisch zu fördern sucht. 5.2 Die symbolische Verwendung des Québécois als regionaler Marker Dieser Wandel reflektiert die veränderte Einstellung zur Sprache und zu regionalen Merkmalen einer Sprache, wie sie auch in anderen metasprachlichen Manifestationen zu erkennen ist, die das Québécois als Ausdruck der regionalen Identität aufgreifen. Die Sprache wird zunehmend als Identitätsmerkmal für die Sprecher gesehen, das unabhängig von der Sprachkompetenz anzeigen soll, dass eine regionale Verbundenheit besteht. Dieser Stolz auf die eigenen Charakteristika wird auch Fremden und Besuchern dadurch mitgeteilt, dass diese die spezifischen sprachlichen Merkmale (Aussprache, Wörter, Wendungen) zum besseren Verständnis lernen und verwenden können, gerade auch wenn sie nicht aus der Region stammen. So soll zu einem Verständnis mit alloglotten Personen nicht auf eine überregionale Sprache wie Englisch, aber auch nicht auf eine anerkannte überregionale Normvarietät wie das europäische Französisch zurückgegriffen werden. Publikationen wie die folgenden zeigen den Anstieg des symbolischen Werts dieser Varietät und ihres Gebrauchs: Gazaille / Guévin (2009): Le parler québécois pour les nuls ; Guévin / Gazaille (2011): Les 1000 mots indispensables en québécois ; Scheunemann (2015): Québécois Slang. Das Französische Kanadas . In diesen Werken wird das Französische in Québec eher Gibt es eine Norm des Québécois ? 73 <?page no="74"?> 74 Elmar Eggert (Kiel) als Widerhall der Identität, der Geschichte und damit auch als emotionale Verbindung dargestellt denn als globales Kommunikationsmittel: un français qui est avant tout l’âme d’un peuple épris de paroles et de causeries (Yannick Resch in: Gazaille / Guévin 2009, XIII ). Die Autoren Gazaille und Guévin weisen darauf hin, dass es um sprachliche Varianten des Französischen geht, also nicht um eine eigene Sprache und auch nicht um eine eigene Norm. Diese Varianten gehören zur gesprochenen Sprache und sind damit eben von einer schriftlichen Norm ausgenommen: Il ne s’agit donc pas d’apprendre une nouvelle langue, mais bien de mettre l’accent sur les différences dans l’usage de la langue au quotidien, principalement dans sa forme orale (Gazaille / Guévin 2009, 1). Der Titel von Scheunemann (2015) ordnet das Québecer Französisch als Slang, also als diastratisch-diaphasisch stark markierte Gruppensprache ein. Auch sie betont die Besonderheit als gesprochene Varietät ohne Norm: Da das Québécois und das kanadische Alltags-Französisch eher gesprochen als geschrieben werden und es für deren Schreibung keine festen Standards gibt, wird man sehr wahrscheinlich immer wieder auf unterschiedliche Schreibweisen stoßen (Scheunemann 2015, 10). Ein weiteres Mittel zur Sprachkritik und auch zur Sprachberatung der Québecer Bevölkerung (oder auch für Reisende) sind die Wörterbücher des Französischen. Speziell für die frankokanadische Varietät ist das elektronische Wörterbuch Usito entwickelt worden, in dem die Besonderheit des Französischen in Kanada vor der Folie des Französischen in Europa gesehen wird. Aber der Ausgangspunkt ist nicht eine Pariser Norm, zu der einzelne Kanadismen als Abweichung dargestellt werden, sondern es geht von dem Sprachgebrauch in Québec unter Berücksichtigung aller spezifisch nordamerikanischen kulturellen Konzepte aus, zu dem es divergierende Gebrauchsweisen in Europa und der weiteren Frankophonie gebe: Pour combler les lacunes des dictionnaires français La langue française dispose déjà de dictionnaires généraux, notamment grâce à de grandes maisons d’édition françaises. Ces ouvrages sont cependant conçus pour un public francophone européen, notamment le public français. Leur description de la langue est donc principalement basée sur l’usage européen du français. Quant à la description complémentaire qu’ils donnent du monde auquel cette langue fait référence et des valeurs culturelles qui lui sont associées, là encore, elle est très largement centrée sur la France et sur le contexte européen. <?page no="75"?> Usito est né du désir de combler les lacunes de ces dictionnaires européens, notamment en ce qui a trait : 1. à la description du français en usage au Québec et en Amérique du Nord, et plus particulièrement de son registre standard; 2. à la description du contexte québécois et de l’environnement nord-américain; 3. et à la mise en valeur de la culture francophone québécoise et nord-américaine. 17 Das Wörterbuch Usito ist damit ein Manifest für eine kulturelle Eigenständigkeit des Französischen in Québec und Kanada, wenngleich es noch keine Québecer Norm aufzeigen kann. 18 Ähnliche Projekte verdeutlichen die Bestrebungen, für den Kulturraum Québec eine angemessene sprachliche Repräsentation zu erreichen, welche alle Bezeichnungen für Erscheinungen der Natur und der gesellschaftlichen Kultur erfassen soll. Das Projekt Wikébec eines Wörterbuchs zum aktuellen Französischen in Québec zeigt z. B. dieses gestiegene Interesse an sprachlichen Regionalismen auf: Wikébec est un dictionnaire participatif du Français Québécois, ne contenant que les termes spécifiques au Québec, toujours utilisés aujourd'hui. Wikébec est un nouveau dictionnaire du Français Québécois. Il est conçu en considérant les deux principes suivants: - Wikébec ne contient que des termes vivants, qui sont encore utilisés aujourd'hui. - La langue appartient à la population : à elle de définir ce que doit contenir Wikébec 19 (Hervorhebung EE ). Die partizipative Form des kollaborativen Verfassens im Internet ist sicherlich geeignet, eine Menge an spezifischen Gebrauchsweisen und Lokalismen zusammenzutragen, doch auch dieses Projekt legt nicht den Fokus auf eine Normvarietät des Québécois und ist damit weniger für den offiziellen Sprachgebrauch gedacht als für den öffentlichen Nähebereich der Sprache. 17 Dictionnaire Usito , www.usito.com (08. 07. 2016). 18 Zur Kritik an der Behauptung eines exklusiven Gebrauchs von Wörtern mit spezifischer Bedeutung in Québec, s. Meney (2016) am Beispiel des Wortgebrauchs von raquetteur . 19 www.wikebec.org/ #sthash.emvh1wVW.dpuf (08. 02. 2017). Gibt es eine Norm des Québécois ? 75 <?page no="76"?> 76 Elmar Eggert (Kiel) 6 Konklusion Die Sprachkritik in Québec hat von der Durchsetzung des Französischen im 19. Jh. bis heute eine weite Entwicklung durchlaufen, die nur in Ansätzen erfasst werden konnte. Nachdem im 19. Jh. ein Bewusstsein für die Besonderheit des Québecer Französisch entstanden war, das allerdings in Kontrast zum europäischen Französisch stand und sich daher noch nicht dagegen behaupten konnte, musste in den folgenden Jahrzehnten diskutiert werden, welche Merkmale repräsentativ waren und welchen Stellenwert diese Merkmale erhalten sollten. Einen wichtigen Beitrag dazu lieferte die Société du parler français au Canada . Überlagert wurde die anhaltende Normdiskussion vom allgemeinen Prozess der Französierung im Kampf gegen den Gebrauch des Englischen. Heute steht das Französische zwar noch in einzelnen Bereichen in einer starken Konkurrenzsituation mit dem Englischen, sein Gebrauch wird aber seit der Offizialisierungspolitik nicht mehr als Kommunikationsmittel in Québec in Frage gestellt. Für das Prestige des Französischen, um das es bei der Sprachkritik geht, müssen zwei Ebenen differenziert betrachtet werden. Die eine betrifft den offiziellen Sprachgebrauch, der sich gegenüber dem Englischen als Amts- und Wirtschaftssprache behauptet und für den ein hoher Qualitätsanspruch gilt. Dieser wird auch heute noch stark von der Norm des Schriftstandards, wie er in Frankreich hochgehalten wird, geprägt, nur werden zunehmend auch diatopische Merkmale aus Québec für diesen Bereich akzeptiert. Die andere Ebene betrifft den vornehmlich mündlichen Sprachgebrauch im Alltag, für den eine engere emotionale Beziehung zum Französischen besteht und nicht die Korrektheit ein Qualitätskriterium ist, sondern das, was der Sprecher in der Gesellschaft gleichzeitig mit seiner Aussage sprachlich ausdrücken möchte, d. h. wie er gesellschaftlich angesehen werden möchte. Für diesen Bereich gilt die Devise, eine größere Emanzipation des Französischen in seiner Québecer Varietät zu erreichen und sich somit innerhalb der Frankophonie mit dem Québécois gegenüber einem europäisch geprägten Französisch zu behaupten, da jene Varietät keinen symbolischen Wert für die Sprecher in Québec beinhaltet. Die an vielen Stellen beobachtbare starke Behauptung der regionalen Identität innerhalb einer globalen Wahrnehmung führt auch in Québec dazu, dass „le Québécois“ als markantestes Kennzeichen einer Québecer Identität bewusst in die Öffentlichkeit getragen wird, um dessen Stellenwert (z. B. als Norm) mit seinen spezifischen Merkmalen zu diskutieren. Die bislang vielfach angeführte insécurité linguistique scheint nicht mehr entscheidend, denn es geht den Québecern im alltäglichen Sprachgebrauch nicht um eine hohe Sprachkompetenz oder eine sprachliche Korrektheit im Hinblick auf eine (endogene oder exogene) Norm, sondern um die Behauptung ihrer regionalen bzw. nationalen Zugehörigkeit. <?page no="77"?> Wichtig ist den Sprechern in Québec ihre eigene Identität als identité québécoise , die sie mit ihrem Akzent, also v. a. ihrer Aussprache assoziieren (Heyder 2012, 158). Dazu gehört auch die Annahme von Anglizismen, die typisch für das Québecer Französisch sind, obwohl sie dem Normempfinden des OQLF widersprechen. So ist eine immer stärkere symbolische Aufladung des Québécois zu beobachten: Es geht in vielen Situationen bei dieser Sprachverwendung nicht um die sprachliche Übermittlung eines Inhalts, sondern um eine Manifestation der Regionalität. Dabei ist die sprachliche Realisierung in sehr formellen Situationen eine andere, nämlich die Pariser Norm des Französischen, so auch die Ergebnisse von Heyder (2012, 153). Also müsste auch das OQLF zwei Arten der Norm unterscheiden: eine formell-offizielle und eine (heterogenere) informelle Norm. 20 Für erstere gilt größtenteils die Pariser Norm, die jedoch durch hochfrequente und akzeptierte Quebecismen erweitert wird, und für die zweite sind verstärkt die spezifischeren Ausprägungen der regionalen Varietäten des Québécois („les formes spécifiques qui s’écartent d’une certaine norme de référence“, Dostie / Hadermann 2015, 9) relevant. In diese Richtung scheint auch die Modernisierung des Ziels der Sprachberatung von 2014 zu gehen. Neuere Forschungen zur Varietät greifen diese unterschiedlichen Ebenen bereits auf, wenn sie die „régularités observées dans la distribution des variantes à travers les variétés considérées“ (Dostie / Hadermann 2015, 11) untersuchen. Insofern wird anhand der Sprachkritik und für die Sprachberatung in Zukunft aufzuzeigen sein, für welche Bereiche spezifische Normvorstellungen aufgegriffen und durchgesetzt werden. Bibliographie Bartsch, Renate (1987): Norms of language, Theoretical and Practical Aspects , London / NY , Longman. Bouchard, Chantal (2012): Méchante langue. La légitimité linguistique du français parlé au Québec , Montréal, Presses de l’Université de Montréal. Boucher-Belleville, Jean-Philippe (1855): Dictionnaire des barbarismes et des solécismes les plus ordinaires en ce pays, avec le mot propre ou leur signification , Montréal, Imprimerie de Pierre Cerat. 20 Beide Normen stehen asymmetrisch zueinander, denn die exogenen frankophonen Varietäten sind in Québec anerkannt, während dies für das Québécois außerhalb nur eingeschränkt gilt (vgl. Dostie / Hadermann 2015, 14: „les normes exogènes sont largement reconnues au Québec“). Gibt es eine Norm des Québécois ? 77 <?page no="78"?> 78 Elmar Eggert (Kiel) Catineau-la Roche, Pierre Marie Sébastien (1817): Nouveau dictionnaire de poche de la langue française, avec la prononciation, composé sur le système orthographique de Voltaire , 6e éd., Paris, Lefevre. Corbett, Noël L. (ed.) (1990): Langue et identité. Le français et les francophones d'Amérique du Nord , Québec, Presses de l’Université Laval. Dictionnaire Usito , Sherbrooke, Les Éditions Delisme, www.usito.com, 08. 07. 2016. Dostie, Gaétane / Hadermann, Pascale (eds.) (2015): Cahiers de lexicologie , vol. 106, Nr. 1: Diasystème et variation en français actuel: aspects sémantiques, Paris, Garnier. Dostie, Gaétane / Hadermann, Pascale (2015): „Introduction“, in: Cahiers de lexicologie , vol. 106, Nr. 1, 9-20. 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Doch nicht nur die Dominanz des Englischen in Kanada und den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch die Diversität der nordamerikanischen Frankophonie sowie die in erster Linie auf dem colonial lag basierende mangelnde Akzeptanz durch das Mutterland Frankreich stellen den Status des Französischen in Nordamerika vor ständige Herausforderungen. Ohne eine eigene Norm scheinen die Frankophonen, deren Zahl in einigen Provinzen und Territorien Kanadas in den letzten Jahren merklich zurückgegangen ist, diesen auf Dauer kaum gewachsen. Welchen Hürden sich die Versuche der Etablierung einer solchen Norm gegenüber sehen, soll im Folgenden dargestellt werden. 1 Historischer Abriss der sprachlichen Situation im frankophonen Kanada Nachdem sich die Frankophonie fast 200 Jahre lang in Nordamerika etablieren konnte - Jacques Cartier nahm die Nouvelle France 1534 für François I in Besitz -, kommt es im 18. Jahrhundert zur politischen und auch sprachlichen Abspaltung vom Mutterland. Zunächst verliert Frankreich mit dem Frieden von Utrecht 1713 nach dem Spanischen Erbfolgekrieg die Akadie an die Briten, 1763 auch den Rest der Nouvelle France . Vor die Wahl gestellt, entscheidet sich Frankreich nach der Niederlage im Siebenjährigen Krieg wegen des Zuckerrohranbaus für die Kolonie Guadeloupe und gegen die Nouvelle France , und so wird denn auch der Vertrag von Paris „von den Quebeckern als ‚Verrat von Paris‘“ (Wolf 1992, 522) bezeichnet: „[La France] nous a cédé sans remords à l’Angleterre“ (Tardivel in Wolf 2009, 25). Das markiert den Beginn einer problembehafteten Beziehung zwischen ehemaliger Kolonie und Mutterland. Schon 1753 hatte Voltaire Kanada als „pays couvert de neiges et glaces huit mois de l’année, habitée par des barbares, des ours et des castors“ ( Essai sur les moeurs et l’esprit des nations , chapitre CLI ) beschrieben. Während des Siebenjährigen Krieges beklagt er mehrfach den Einsatz Frankreichs: „On plaint ce pauvre genre humain qui s’égorge dans <?page no="82"?> 82 Edith Szlezák (Regensburg) notre continent à propos de quelques arpents de glace en Canada“ (1757, Lettre à M. de Moncrif ); „[…] j’aime mieux la paix que le Canada, et je crois que la France peut être heureuse sans Québec“ (1762, Lettre à Gabriel de Choiseul ). Die Zuwanderung aus Frankreich reißt 1763 denn auch schlagartig ab, und die kanadische Frankophonie bleibt sich selbst überlassen. Nach dem Act of Union 1840, mit dem Englisch zur einigen offiziellen Sprache wurde, versuchen es die Quebecker zunächst mit der „revanche des berceaux“ - um die 10 Kinder pro Familie -, doch die (vorübergehende) zahlenmäßige Überlegenheit der Frankophonen kann gegen die wirtschaftliche und politische Dominanz der Anglophonen nur wenig ausrichten. Mit der Gründung des modernen Kanada 1867 wird die Zweisprachigkeit zwar offiziell anerkannt, die kanadische Frankophonie bleibt jedoch geprägt vom Kampf gegen die Anglophonen und vom Bruch mit dem Mutterland. Im kollektiven Gedächtnis ist man von Frankreich im Stich gelassen worden, allein gegen eine anglophone Übermacht, was explizit in „Je me souviens“ ausgedrückt ist, 1883 geprägt und seit 1939 offizielle Devise Quebecs. Sprachlich gesehen ist Quebec wie auch andere Regionen der Frankophonie von einem sprachlichen Minderwertigkeitskomplex geprägt, der im „Spannungsverhältnis zwischen dem als perfekt angesehenen Französisch Frankreichs und der eigenen, als mangelhaft empfundenen Sprachqualität“ (Wolf 1992, 523) begründet liegt. Die Wende bringt erst die Révolution tranquille der 60er und 70er Jahre, im Zuge derer sich Quebec auf seine eigene Geschichte, Kultur und Identität besinnt - „ein Emanzipationsprozess, der für das Selbstverständnis vieler Québécois einschneidend war“ (Neumann-Holzschuh 1995, 202), nicht zuletzt deshalb, weil er auch und gerade den sprachlichen Bereich betrifft: Related to the linguistic nationalism that accompanied the Quiet Revolution of the 60s, Standard Québécois Français (a prestige variety) began to entrench itself. This movement was related to the parallel emergence of a young Québécois middle class which emerged from its traditional domination by the Catholic Church, became a confident, outward-looking society and began to compete with its Anglophone peers for control of the province’s commercial and industrial sectors. It was felt that a standard French would aid in this enterprise […] (Conrick / Regan 2007, 144). Die Bewegung in Quebec erfasst auch andere frankophone Regionen Kanadas, insbesondere die Akadie. 1963 wird die französische Université de Moncton in Nouveau-Brunswick gegründet, 1968 in Neuschottland die FANE, die Fédération acadienne de la Nouvelle-Écosse , „dans le but de relier entre elles les régions acadiennes dispersées de la Nouvelle-Écosse et de leur donner une organisation au niveau provincial“ (Hennemann 2014,105). 1969 erfolgt mit der Loi sur les langues officielles die Anerkennung des Französischen durch die kanadische Regierung, New Brunswick setzt die Zweisprachigkeit im selben Jahr auch auf <?page no="83"?> Eine frankokanadische Norm-- Chancen und Grenzen 83 Provinzebene durch (wobei die vollständige Umsetzung des Gesetzes erst innerhalb der folgenden acht Jahre erfolgt; vgl. Boudreau / Dubois 2001, 42), und 1977 erreicht die Parti québécois unter René Levesque mit der Loi 101 , der Charte de la langue francaise , die französische Einsprachigkeit für Quebec, allerdings mit bisweilen etwas seltsam anmutenden Auswüchsen. Nicht nur müssen innerhalb von 10 Jahren alle Verkehrsschilder einsprachig französisch sein - das berühmteste Beispiel ist wohl der Ersatz von „Stop“ durch „Arrêt“ ungeachtet der Tatsache, dass es das Wort „stop“ im Französischen gibt und es von Linguisten als „französischer“ als „arrêt“ eingestuft wird -, auch in der Arbeitswelt kommt es zu massiven Konflikten. So klagt beispielsweise die Familie einer verstorbenen Patientin 1983 gegen ein Krankenhaus, weil die Patientin dort nicht zu 100 % auf Französisch betreut worden sei. Sie habe nicht „auf französisch sterben“ können. Künftig werden Arbeitnehmer im öffentlichen und halböffentlichen Bereich einem Französischtest unterzogen, was nicht zuletzt zu einem Exodus der Anglophonen führt: in nur fünf Jahren verlassen 113.000 von ihnen Quebec. 1 1984 modifiziert der Oberste Gerichtshof das Gesetz zwar, die Fronten scheinen jedoch verhärtet, denn es ist abgesehen von der wirtschaftlichen Dominanz des anglophonen Teils Kanadas eben in erster Linie der englische Einfluss auf die französische Sprache und Kultur, der als Bedrohung empfunden wird (vgl. Maurais 1993, 84 ff.). Und so werden die Unabhängigkeitsbestrebungen immer konkreter: 1980 kommt es zum ersten, 1995 dann zum zweiten Unabhängigkeitsreferendum. Beide scheitern zwar (knapp), es wächst sich aber ungeachtet dessen in Quebec zunehmend ein solides Selbstbewusstsein im Hinblick auf die Sonderstellung der frankophonen Minderheit in Nordamerika aus, die auch vom anglophonen Kanada als solche wahrgenommen und 2006 durch die konservative Harper-Regierung offiziell bestätigt wird: „This House recognizes that the Québécois form a nation within a united Canada“. 2 Darauf basierend werden die Bestrebungen, eine genuin frankokanadische Norm zu fixieren, die dem Monozentrismus Frankreichs etwas entgegenzusetzen hat, verstärkt vorangetrieben. Die Quebecker wollen endlich wie von Levesque propagiert „maîtres chez eux“ sein, wenn schon politisch als Provinz nur eingeschränkt, dann wenigstens in sprachlicher und kultureller Hinsicht. 1 Vgl. http: / / www.spiegel.de/ spiegel/ print/ d-14 021782.html (05. 02. 2017). 2 http: / / www.cbc.ca/ news/ canada/ quebecers-form-a-nation-within-canada-pm-1.624141 (05. 02. 2017). <?page no="84"?> 84 Edith Szlezák (Regensburg) 2 Die heutige sprachliche Situation Die kanadische Frankophonie stellt sich laut Conférence ministerielle sur la francophonie canadienne , einem „organisme intergouvernemental fondé en 1994, [qui] regroupe les ministres fédéral, provinciaux et territoriaux responsables de la francophonie canadienne“ 3 auf der Jahrestagung 2015 basierend auf den Daten des Zensus von 2006 (! ) folgendermaßen dar: 87 Province or Territory Total population French as a first language % of total population % of persons in Canada with French as a first language Total persons who speak French % of total population % of persons who speak French in Canada Canada 31,241,030 7,536,315 24.12 9,590,700 30.70 Quebec 7,435,900 6,482,505 87.18 86.02 7,028,740 94.52 73.29 New Brunswick 719,650 236,100 32.81 3.13 313,835 43.61 3.27 Nova Scotia 903,090 32,940 3.65 0.44 96,010 10.63 1.0 PEI 134,205 5,170 3.85 0.07 17,160 12.79 0.18 Newf&Lab 500,610 2,030 0.41 0.03 23,765 4.75 0.25 Ontario 12,028,895 578,040 4.81 7.67 1,426,535 11.86 14.87 Manitoba 1,133,515 44,110 3.89 0.59 105,450 9.30 1.10 Saskatchewan 953,845 15,225 1.60 0.20 47,935 5.03 0.50 Alberta 3,256,360 66,995 2.06 0.89 225,085 6.91 2.35 B.C. 4,074,385 70,410 1.73 0.93 297,715 7.31 3.10 Yukon 30,195 1,245 4.12 0.02 3,555 11.77 0.04 NWT 41,055 1,060 2.58 0.01 3,715 9.05 0.04 Nunavut 29,325 465 1.59 0.001 1,190 4 0.04 Tab. 1: cf. Statistics Canada: http: / / www.cmfc-mccf.ca/ statistical-profiles, 2006 Census. Dabei sind vor allem die Angaben zu „French as a first language“ interessant, da die Daten im Zensus auf Eigenauskunft basieren und Sprechfertigkeit als solche sowohl überschätzt werden kann als auch keine Auskunft über die Sprechfrequenz gibt. Ist eine Sprache Muttersprache, sind das Niveau der Sprachbeherrschung sowie die Gebrauchshäufigkeit zumindest höher einzuschätzen. Die wichtigsten Provinzen in Bezug auf die Frankophonie sind Quebec, wo 87% der Bevölkerung Französisch als Muttersprache angeben, was 86% der kanadischen Frankophonen ausmacht, Nouveau-Brunswick, wo fast 33% der Bevölkerung französische Muttersprachler sind, was dann allerdings im gesamtkanadischen Kontext nur etwas mehr als 3% ausmacht, und Ontario mit fast 5% französischen Muttersprachlern, immerhin 7,7% der muttersprachlichen Frankophonen Kanadas. Aus den obigen Zahlen geht also eine Tab. 1: cf. Statistics Canada : http: / / www.cmfc-mccf.ca/ statistical-profiles, 2006 Census. Dabei sind vor allem die Angaben zu „French as a first language“ interessant, da die Daten im Zensus auf Eigenauskunft basieren und Sprechfertigkeit als solche sowohl überschätzt werden kann als auch keine Auskunft über die Sprechfrequenz gibt. Ist eine Sprache Muttersprache, sind das Niveau der Sprachbeherrschung sowie die Gebrauchshäufigkeit zumindest höher einzuschätzen. Die wichtigsten Provinzen in Bezug auf die Frankophonie sind Quebec, wo 87 % der 3 http: / / www.cmfc-mccf.ca (05. 02. 2017). <?page no="85"?> Eine frankokanadische Norm-- Chancen und Grenzen 85 Bevölkerung Französisch als Muttersprache angeben, was 86 % der kanadischen Frankophonen ausmacht, Nouveau-Brunswick, wo fast 33 % der Bevölkerung französische Muttersprachler sind, was dann allerdings im gesamtkanadischen Kontext nur etwas mehr als 3 % ausmacht, und Ontario mit fast 5 % französischen Muttersprachlern, immerhin 7,7 % der muttersprachlichen Frankophonen Kanadas. Aus den obigen Zahlen geht also eine klare Konzentration der kanadischen Frankophonie auf die Provinz Quebec hervor, gefolgt von Ontario und Nouveau-Brunswick. Gruppiert man diese Daten nach Varietätengebieten, so ergibt sich für die Varietäten des français acadien unter Zusammenzählung aller provinces maritimes (le Nouveau-Brunswick, la Nouvelle-Écosse, l’Île-du-Prince- Édouard) und Terre-Neuve-et-Labrador ein Prozentsatz von knapp 4, für das français québécois dagegen einer von ca. 96 (wobei in diesem Kontext aufgrund der niedrigen Sprecherzahlen vernachlässigt werden soll, dass es auch in Quebec Sprecher des français acadien gibt und ebenso, dass die sprachliche Situation im (Nord-)Westen Spezifika aufweist und nicht unbedingt generalisiert unter français québécois verbucht werden kann; vgl. hierzu Papen / Marchand 2006). Auch in Bezug auf die Anzahl der Muttersprachler in den Provinzen selbst dominiert Quebec klar mit mehr als 87 %, gefolgt von Nouveau-Brunswick mit nur knapp 33 %, während es in Ontario nicht einmal 5 % sind. Aus dieser Dominanzposition ergibt sich auch der Anspruch Quebecs, eine frankokanadische Norm zu definieren, was ungeachtet der Sprecherzahlenverteilung für die Frankophonie Nordamerikas nicht unproblematisch sein dürfte: „Le Québec et ses voisins francophones auront besoin les uns des autres pour promouvoir l’avenir du français sur le continent américain“ (Sanders in Schafroth 2009a, 232). 3 Aspekte der Normproblematik im frankophonen Kanada Nicht nur haben sich die kanadischen Varietäten des Französischen nach der „Conquête anglaise“ unabhängig von denen im Mutterland entwickelt, auch blieb die kanadische Frankophonie unberührt von jeglichen dort erfolgten sprachpolitischen und sprachnormierenden Maßnahmen. Obwohl diese frühe Loslösung von Frankreich und seiner normativen Instanz, der 1635 gegründeten Académie française , sowie die geographische Distanz die Ausbildung einer eigenen Norm begünstigen hätten können, sehen sich die Normierungsbemühungen seit Langem mannigfaltigen Problemen gegenüber. Zunächst einmal besteht einerseits nach wie vor die Dominanz Frankreichs auf sprachlicher und kultureller Ebene, andererseits die des Englischen aufgrund seiner internationalen Bedeutung sowie seiner medialen Omnipräsenz: „[…] the relationships of Quebec to France, Québécois français (pejoratively <?page no="86"?> 86 Edith Szlezák (Regensburg) called joual , choual ) to French français, and francophone Canadians to their anglophone neighbors (from Canada and the United States) have been historically vexed“ (Braziel 2001, 367). Insbesondere die Akadie hat ein schwieriges Verhältnis zu den Anglophonen, was sich immer wieder in der Einschätzung der Acadiens in Bezug auf ihre Rechte und ihre Position gegenüber den Anglophonen zeigt, wie in folgendem Beispiel: […] la misère avec les Anglais […] disons, la misère qu’ils nous donnent, surtout puis c’…puis. depuis que les Acadiens existent, je pense, qu'ils ont toujours eu des problèmes avec les Anglais, puis ils en ont encore aujourd’hui, puis c’est pas sur la veille de finir malheureusement, j’ai pas l’impression du moins en vivant dans une province, comme le Nouveau-Brunswick, puis les autres Acadiens qui viennent de la Nouvelle-Écosse, de l’Île-du-Prince-Édouard, ils ont encore moins de droits que nous-autres je pense. Ca fait que…c’est ça qui est le plus dur (Acadienne, 26; Maury / Tessier 1991, 160). Entsprechend belastet zeigt sich auch das Verhältnis zum Englischen, „langue de prestige et de pouvoir et, en même temps, langue qui symbolise la domination“ (Boudreau / Dubois 2001, 44). Im Fall Frankreichs bleibt einerseits das historische „Im Stich gelassen werden“ des „Verrats von Paris“ (1763) unvergessen, und andererseits die Ressentiments gegen Frankreichs historisch begründete sprachliche wie auch kulturelle Überlegenheit, der Académie française als Normierungsinstitution und dem bon usage -Begriff des Pariser Französisch, dessen internationale Bedeutung außer Frage steht: La variété […] qui, dans l’état actuel des choses, sert de référence à toute la francophonie et que l’on appelle pour cette raison français de référence […] est parlée par les Parisiens instruits et est considérée comme l’exemple à suivre. Elle est le résultat d’une codification des usages selon l’appréciation de locuteurs appartenant à la bourgeoisie parisienne, appuyée en cela par les élites des autres pays francophones. Cette variété construite a rayonné partout et c’est à son aune qu’on a traditionnellement mesuré la compétence des locuteurs du français, en France et dans le monde (Poirier 2003, 115 f.; Hervorhebung durch Autorin). Die bisher immer noch unangefochtene Stellung des Standardfranzösischen manifestiert sich auch in Kanada selbst: „It is normal that a Francophone Canadian who has learnt English will speak Canadian English, both in terms of accent and vocabulary. But because both the Americans and the British tend to learn what is often called ‘Parisian’ French, there is a certain amount of pressure on the English Canadian to learn ‘Parisian’ French in like fashion” (Hewson 2000, 5). Trotz - oder gerade wegen - dieser Dominanz lehnen viele Quebecker eine Unterordnung unter die aufoktroyierte Norm des als verachtungsvoll empfundenen Mutterlandes ab, und das schon im auslaufenden 19. Jahrhundert: „Si <?page no="87"?> Eine frankokanadische Norm-- Chancen und Grenzen 87 nous sommes restés français, c’est malgré la France encore plus que malgré l’Angleterre“ (Tardivel in Wolf 2009, 25). In den 1930er Jahren unternimmt Frankreich Refranzösisierungskampagnen in Quebec, die aber scheitern und aus denen das insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren sehr häufig gebrauchte Schimpfwort des „maudit Français“ übrig bleibt (cf. Wolf 1992, 523), das immer noch präsent ist, auch in der frankophonen kanadischen Presse (vgl. Meney 2010, 212). Es basiert maßgeblich auf dem sprachlichen Aspekt: Si les ‚maudits Français’ nous ont toujours fait ‚chier‘, […] c’est que face à notre sentiment d’infériorité par rapport à la langue française, ils avaient beau jeu de nous écraser de grands mots […] qui nous sont complètement étrangers, mais que nous nous sentons obligés de faire nôtres par atavisme […] (Meney 2010, 215). Quebec und Frankreich scheinen „divisés par une même langue“ (Simard in Wolf 2009, 33), nicht zuletzt basierend auf Mentalitätsdiskrepanzen und unterschiedlichen soziokulturellen Realitäten. Mit der Révolution tranquille und De Gaulles unterstützendem „Vive le Québec libre! “ 1967 schien sich die Situation entspannter darzustellen, wie tief aber der ideologische Graben ist, zeigt Sarkozys unsensibler Auftritt in Quebec 2008, der in der Presse mehrheitlich als Schlag ins Gesicht Quebecs reflektiert wird. Die Libération fasst es unter dem Titel „Sarkozy, du ‚Québec libre‘ au ‚Canada uni‘“ zusammen: « Le problème pour les souverainistes (indépendantistes)… c’est qu’en un discours on est passé du célèbre "Vive le Québec libre" à "Vive le Canada uni" », notait pour sa part un chroniqueur du quotidien La Presse. Jamais, ajoute le journal, un président français n’aura été aussi clair quant à la place de l’Hexagone dans le « délicat triangle France- Canada-Québec », depuis le « Vive le Québec libre » lancé en 1967 par le général de Gaulle, qui avait donné une impulsion au mouvement indépendantiste québécois et ulcéré le Canada anglais. 4 So erstaunt es auch nicht, dass sich im kulturellen und universitären Bereich die Stimmen zugunsten der Bemühungen um eine genuin frankokanadische Norm immer stärker gegen die Befürworter der hexagonalen behaupten können. Interessanterweise bestätigen Ergebnisse von Umfragen zu Sprache und Norm diese Tendenz nicht unbedingt: 2005 sahen fast 80 % der befragten Quebecker eklatante Unterschiede zwischen gesprochenem québécois und dem français de France , eine Mehrheit war aber überzeugt, dass „depuis vingt ans, le français parlé par les Québécois s’est rapproché de celui parlé par les Français“ (Meney 2010, 190). Die Divergenzen im Schriftgebrauch wurden als „minimal“ ein- 4 http: / / www.liberation.fr/ planete/ 2008/ 10/ 18/ sarkozy-du-quebec-libre-au-canadauni_154044 (05. 02. 2017); vgl. hierzu auch Wolf (2009, 39 f.). <?page no="88"?> 88 Edith Szlezák (Regensburg) gestuft. Entspräche das der Realität, so würde einer Unterordnung unter die hexagonale Norm eigentlich wenig entgegenstehen. Andererseits antworteten über 80 % auf die Frage, ob sie „québécois“ oder „français“ (! ) sprächen, mit „québécois“ (vgl. Meney 2010, 189), was im Übrigen für die Mehrheit auch die Präferenzvarietät für eine vereinheitlichte Unterrichtssprache im Schulsystem Quebecs wäre (vgl. Meney 2010, 193). Diese teils paradoxen Umfrageergebnisse scheinen die allgemeine Desorientierung in der Sprachenfrage widerzuspiegeln. Nun gibt es im Rahmen der Akzeptanz der hexagonalen Norm noch die Option von regionalisierten Normen unter dem Schirm der hexagonalen, Schafroth spricht hierbei von sektoriellen Normen (vgl. 2009b, 56): […] la norme du français international (ou plutôt la norme du français de France) serait la norme exogène, ou la supranorme, que les Québécois francophones tentent d‘utiliser dans leurs communications avec les autres communautés francophones. Les locuteurs québécois lui attribueraient consciemment ou inconsciemment un certain prestige et, en conséquence, chercheraient à s’en approcher, sans pourtant réussir complètement. Pour ce qui est du français québécois standard […], il correspond à la norme endogène, ou l’infranorme, entendue comme l’usage réel du standard sur un territoire limité, […], dans une situation bien définie, qui se distingue du non-standard, et qui se montre plus tolérant et plus riche en variantes que le standard exogène, et qui s’observe davantage dans la langue parlée (Reinke / Ostiguy 2005, 198). Ein solcher Ansatz scheint aus mehreren Gründen fragwürdig. Zunächst einmal würde eine solche Doppelkonzeption nichts an der Dominanz der hexagonalen Norm ändern, es würde nur bedeuten, dass die Frankophonen in Kanada zwei Normen erlernen müssten oder zumindest konsultieren können sollten: „Du fait même d’une double norme à respecter, ce modèle est hautement générateur d’insécurité linguistique“ (Pöll 2001, 147). Zudem wird eine Norm, die „toleranter“ ist und v. a. in der Mündlichkeit Anwendung finden soll, schwerlich der Supranorm des hexagonalen Französisch standhalten können, ein solcher Ansatz hätte also wohl zweifelhafte Erfolgsaussichten und wäre den Bedürfnissen Quebecs auch nicht angemessen wie Maurais schon 1993 formulierte: „Il est grand temps que l’on cesse de considérer le français québécois uniquement comme une variété orale typique d’un milieu sociale donné“ (Maurais 1993, 93). Eine andere Möglichkeit ist ein plurizentrisches Modell nach anglophonem (oder auch hispanophonem) Vorbild, wobei das Französische Frankreichs zunächst zwar als français de référence fungiert, sich aber auf lange Sicht den multiplen fixierten Normen verschiedenster Gebiete der Frankophonie gegenüber sähe. Im Hinblick auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts scheint es für das langfristige Überleben der kanadischen Frankophonie unabdingbar, sich eine genuine Norm zu geben: <?page no="89"?> Eine frankokanadische Norm-- Chancen und Grenzen 89 La fonction identitaire du français devra dorénavant s‘allier à une fonction utilitaire, la première que retient le locuteur d'une autre langue, et plus particulièrement dans une société comme le Québec qui doit compter sur l‘immigration pour assurer son développement. C‘est là aussi l‘un des thèmes des XVII e Assises de la Conférence des peuples de langue française […] : « […] pour mieux résister face à l‘anglais, le français doit être plus fort donc mieux soutenu de l‘intérieur. En fait, le français doit être regardé comme une langue d'avenir à condition d‘être considéré comme une langue internationalement utile. Il doit dès lors inscrire son combat dans la réalité sociale, économique et culturelle. Il ne suffit plus d‘apprendre le français pour le simple plaisir de le parler, non, la motivation doit être plus concrète. » (Ouellon 2008). Mit einem plurizentrischen Ansatz würde ‚Französisch‘ vergleichbar mit ‚Englisch‘ zu einem „type de langue“ (vgl. Pöll 2001, 147). Diesbezüglich unterscheiden aber einige Aspekte die anglophone von der frankophonen Situation. Anders als die Quebecker leiden z. B. die US -Amerikaner „unter keinem sprachlichen Minderwertigkeitskomplex und sind nicht durch sprachliche Unsicherheit geprägt“ (Schafroth 2009b, 58). Im Gegensatz zur Anglophonie und auch zur Hispanophonie entspricht innerhalb der Frankophonie immer noch die Norm des Mutterlandes der internationalen Norm, denn auch wenn die Office de la langue française diese als eine definiert, die mit der übereinstimmen sollte, welche „prévaut à Paris, Genève, Bruxelles, Dakar et dans toutes les grandes villes d’expression française“ steht es (immer noch) außer Frage, dass es sich dabei um die hexagonale Norm des français parisien handelt (vgl. Bigot 2010, 10 ff.). Das Problem liegt abgesehen von der bereits erwähnten historischen Komponente maßgeblich darin begründet, dass sich im Gegensatz zum anglophonen und hispanophonen Raum die Mehrheit oder zumindest ein erheblicher Anteil der Französischsprecher (je nach Auslegung des Begriffs „frankophon“) in Frankreich konzentriert. 5 Auch wenn beispielsweise Afrika ein Kontinent ist, auf dem Französisch im Hinblick auf Verbreitung und Sprecherzahlen eine bedeutende Rolle spielt, so findet man dort (der geographischen entsprechende) linguistische Diversität vor - situativ also nicht vergleichbar mit den „Blöcken“ des anglophonen Raums, wo eine amerikanische Norm klar einer britischen und einer australischen etc. gegenübersteht. Mit einer Abwendung von der hexagonalen Norm würde man sich somit also klar „regionalisieren“ - die Frage, die sich dabei stellt, ist: wie vereint man die kanadische Frankophonie unter einem normativen Dach der dominierenden Varietät des français québécois oder schafft man - im Sinne eines „echten“ Plurizentrismus - mehrere Normen ent- 5 Vgl. http: / / www.ambafrance-de.org/ Frankophonie (05. 02. 2017); Klare ( 2 2009, 64). <?page no="90"?> 90 Edith Szlezák (Regensburg) sprechend der sprachlichen Varietätensituation, also zumindest eine Norm des français québécois und eine des français acadien ? In Quebec spricht man sich aus mehreren Gründen klar für eine, und zwar die Quebecker Norm aus. Zunächst einmal ist es sicher die nordamerikanische Varietät des Französischen, die am besten untersucht und dokumentiert ist, womit eine gute Grundlage zur normierenden Fixierung gegeben ist. Beschreibungen der akadischen Varietäten betonen dagegen häufig die sprachliche Diversität der provinces maritimes und gehen - ausgehend von der Minderheitensituation der akadischen Frankophonen - überwiegend soziolinguistisch vor, was weder zu einem positiveren Image der Sprache beiträgt noch eine brauchbare Grundlage für Normierungsbestrebungen darstellt: „Pour la situation acadienne, il existe une déconnexion qu’il n’est pas exagéré de qualifier de profonde entre pratiques et représentations. Cette déconnexion est patente dans les discours de bien des Acadiens […]. Le français en usage dans la communauté est en général jugé mauvais, anglicisé, morcelé… “ (Arrighi 2014, 5; vgl. hierzu auch Boudreau / Dubois 2001). Darüber hinaus birgt eine einzige (Quebecker) Norm die Chance, die Frankophonie Nordamerikas endlich zu einen und somit gegenüber der Anglophonie zu stärken, denn „les francophones sont majoritaires [au Québec] […] et beaucoup plus assurés de pouvoir vivre pleinement en français que [les Acadiens]“ (Boudreau / Le BL anc 2000, 231). Die Akadie steht einem solchen Vorhaben dagegen ebenfalls aus mehreren Gründen kritisch wenn auch nicht notwendigerweise ablehnend gegenüber. Zum einen sind die Beziehungen zwischen Quebec und der Akadie historisch belastet. Vergleichbar mit dem Verhältnis Quebec - Frankreich fühlen sich viele Acadiens von den Quebeckern nicht als gleichwertig akzeptiert, sprachlich wie kulturell: Si certains Québécois vitupèrent les ‚maudits Français‘, d’autres communautés emploient l’expression ‚maudits Québécois‘, et même ‚maudits Français‘, pour désigner les…Québécois. Les Acadiens […] l’emploient dans un sens similaire à celui que les Québécois réservent aux Français. […] Les Acadiens considèrent souvent que les ‚maudits Québécois‘ se conduisent vis-à-vis d’eux comme les ‚maudits Français‘ visà-vis des Québécois. Ils ne tiennent pas compte d’eux, se moquent de leur accent, ont une attitude impérialiste vis-à-vis de leur langue. […] [Ils ont tendance] à „folkloriser“ les Acadiens (Meney 2010, 220 f.). Diese „Folklorisierung“ zeigt sich sogar an offizieller Stelle: die Conférence ministerielle sur la francophonie canadienne spricht auf ihrem Kongress im Juni 2015 von „la vitalité des communautés francophones et acadiennes“. 6 Mit dif- 6 http: / / www.cmfc-mccf.ca/ (05. 02. 2017). <?page no="91"?> Eine frankokanadische Norm-- Chancen und Grenzen 91 ferenzierter Wahrnehmung der Akadie als eigenständige Region hat das nicht mehr viel zu tun (denn dann hätte man zwischen „québécoises“ und „acadiennes“ unterscheiden können); vielmehr bedeuten Formulierungen dieser Art den Entzug jedes Mitspracherechts der Acadiens in Fragen der Sprachnormierung und Sprachgestaltung der kanadischen Frankophonie. Und ein Beitrag zur Beseitigung der (gegenseitigen) Vorurteile sind sie auch nicht. Animositäten lassen sich denn im Übrigen sogar in der Diaspora der frankophonen Einwanderergemeinden in Neuengland registrieren: „C’est beaucoup différent, puis eux-aut‘ c’est pareil, le [sic! ] nourriture est différente que la not‘, puis la vie qu’i vivent c’est différent eux-aut‘“ sagt eine Akadierin über die Quebecker; eine Quebeckerin wiederum über die Akadier: „Il y a une grosse différence, la mentalité est pas pareille non plus, le Nouveau-Brunswick […] n’ont rien [! ] qui nous appartient“ (Szlezák 2010, 174). Außerdem ist die Akadie durch die geographische Isolation einiger Teile der provinces maritimes schon sehr früh - und eben früher als Quebec - vom Kontakt mit dem français de référence isoliert, was häufig zu einer diglossischen Situation geführt hat: Englisch als high variety und die Varietäten des akadischen Französisch als low varieties (cf. Hennemann 2014, 72 ff.). In Neuschottland beispielsweise stellt sich die Situation folgendermaßen dar: En Nouvelle-Écosse, l’emploi du français est souvent ressenti comme une entrave à la réussite professionnelle, alors qu’au Nouveau-Brunswick, le bilinguisme est largement valorisé et présente un avantage sur le marché du travail. Le statut minoritaire et le peu de prestige accordé au français en Nouvelle-Écosse s’expriment souvent par l’autodépréciation de la compétence de cette langue par ses locuteurs („C’est broken French; c’est du français brisé“) (Wiesmath 2006, 47). Es ist sicher richtig, dass der Status des Französischen in Nouveau-Brunswick aufgrund des höheren frankophonen Anteils der Bevölkerung ein anderer ist als in Neuschottland, dennoch sind die sprachlichen Situationen insofern vergleichbar als in beiden Fällen dem Standardfranzösischen Frankreichs, und nicht etwa den Varietäten des akadischen Französisch hohe Bedeutung beigemessen wird. Schon 1991 stellt Flikeid für Neuschottland fest: „Certaines régions acadiennes deviennent de plus en plus anglicisées, d’autres se rapprochent de la norme prescriptive française“. In Nouveau-Brunswick gilt weitgehend immer noch, was schon in den 1970ern postuliert wurde: „Nous ne croyons pas qu’il serait avantageux pour nous de cultiver un parler qui nous couperait de la francophonie universelle et nous isolerait à nos dépens. Il est évident qu’il faut s’appliquer à parler le bon français moderne à nos enfants et inciter ceux-ci à le parler correctement” (Boudreau / Dubois 2001, 47). Vergleichbar mit Quebecs joual steht das chiac der Akadie für die Rückbesinnung auf die französische Sprache, auf die kulturelle Identität. Nur hat sich die Situation nicht vergleich- <?page no="92"?> 92 Edith Szlezák (Regensburg) bar entwickelt. Das joual ist als Normbasis weitgehend aus der Diskussion in Quebec verschwunden (vgl. Boudreau / LeBlanc 2000, 218), entspricht innerhalb der soziolinguistischen Hierarchie des français québécois einem Register des „niveau populaire“. Es wird mit der „notion d’identification collective québécoise“ (Cajolet-Laganière / Martel 2 2004, 68) assoziiert. Das chiac dagegen stellt in manchen Gebieten die einzige gebrauchte französische Varietät dar, was die Frage aufwirft, ob es sich dabei wie in Quebec um eine Übergangssituation hin zu stabiler(er) Frankophonie handelt, oder ob der Gebrauch des chiac ein „glissement progressif […] vers l’anglais“ (Chiasson zitiert in Boudreau / LeBlanc 2000, 233) bedeutet. Wie dem auch sei: „Si, comme symbole, le chiac réussit à donner une identité francophone aux Acadiens, qui, auparavant, en raison du stigmate qui frappait leur langue, préféraient parler anglais, il ne réussit pas toujours à servir d’instrument véhiculaire francophone pour nommer les choses” (Boudreau / LeBlanc 2000, 233). Die akadischen Varietäten des Französischen fassen zunehmend Fuß in den Bereichen Musik, Literatur und Regionalkultur, was ihnen den Status von Identitätsmarkern im Sinne einer „covert prestige language“ (vgl. Trudgill 1972) gibt; ob sie als Basis für eine Norm dienen können, ist aber nach wie vor fraglich. Dennoch können sich nach einer Umfrage von Schafroth fast 60 % einen akadischen Standard vorstellen - etwas mehr als 40 % allerdings auch einen Quebecker Standard für die gesamte kanadische Frankophonie (vgl. 2009a, 222). Wenn man unter den gegebenen Umständen nun also davon ausgeht, dass eine solche Quebecker Norm die Lösung für das langfristige Überleben und die vollständige Autonomie der kanadischen Frankophonie wäre, so bleibt noch zu klären, worauf diese Norm basieren soll bzw. wie sie beschrieben werden soll. Um eine Varietät als Norm etablieren zu können, müssen generell bestimmte Voraussetzungen gegeben sein. Schafroth fasst zusammen: a) eine staatliche normative wirkende Institution, b) Sprachexperten, c) Normvorbilder, d) Sprachnormautoritäten, und e) normative Nachschlagewerke (vgl. 2009b, 52). Im Gegensatz zur Akadie verfügt Quebec seit 1961 über eine zentralisierte, autoritative Institution der Sprachnormierung, nämlich der Office québécois de la langue française - das völlige Fehlen einer solchen in der Akadie lässt die von Quebec unabhängige Etablierung einer akadischen Norm utopisch scheinen. Sprachexperten dürften in Quebec wie in der Akadie per se kein Problem darstellen, im universitären Bereich finden sie sich zuhauf - allerdings sind sie sich in Normfragen bisher selten einig. Bei den Normvorbildern und den Sprachnormautoritäten gestaltet sich die Situation schwieriger. Normvorbilder waren und sind in Quebec v. a. die Nachrichtensprecher von Radio-Canada (vgl. Reinke / Ostiguy 2005, 200 ff.). Ihnen fehlt allerdings ebenso wie den Sprachnormautoritäten (Lehrende an Schulen und Universitäten beispielsweise) ein <?page no="93"?> Eine frankokanadische Norm-- Chancen und Grenzen 93 allgemein akzeptiertes Regel-und Nachschlagewerk, auf das man sich berufen und das man im Zweifelsfall konsultieren könnte. Besonders im Bereich der Lexik stellt ein solches Nachschlagewerk in mehrerlei Hinsicht ein dringendes Desiderat dar: Bien des Québécois attendent depuis longtemps que leur variété de français soit enfin décrite dans un dictionnaire, car ils savent qu’une telle entreprise est nécessaire pour que, à travers la variété de français qui les exprime, tous les autres francophones puissent enfin accéder à leur vision du monde et à leur univers socioculturel, encore trop souvent méconnu ou réduit à sa dimension la plus folklorique (Verreault 2008). Auch wenn eine Vielzahl an Publikationen zu verzeichnen ist, hat es bisher keine geschafft, sich als Absolutum durchzusetzen. Womit ich zurück zur oben angeklungenen Frage der Basis komme, die entscheidend für die Akzeptanz eines Konsultationswerks ist. Es stellt sich das Problem: „[…] ce point nous amène à la question du choix des locuteurs (ou des documents) pris comme témoins du parler à décrire. Sont-ils sélectionnés uniquement sur la base de leur origine ou faut-il répondre à d’autres critères pour voir son parler décrit? Plus largement, à partir de quelles données décrit-on? “ (Arrighi 2014, 12). Für das français québécois hatte sich die Association québécoise des professeurs de français 1977 an einer Definition von Norm bzw. deren Basis versucht: „Que la norme du français dans les écoles du Québec soit le français standard d’ici. Le français standard d’ici est la variété de français socialement valorisée que la majorité des Québécois francophones tendent à utiliser dans les situations de communication formelle“. 7 Das half nicht unbedingt weiter, da man im Bereich der „communication formelle“, v. a. dem Schriftlichen, wieder bei der hexagonalen Norm landet(e). Die meisten bisher publizierten Lexika verfügten nicht über eine ausreichend große und v. a. Varietäten umfassende Korpusbasis, manche gingen auch stark selektiv und nicht deskriptiv vor. Zu einer Übersicht der wichtigsten Wörterbücher sei auf West (2003) verwiesen. Diese Lücke einer solch unumstrittenen, umfassend akzeptierten lexikalischen Nachschlageinstanz versucht das staatlich unterstützte Projekt FRANQUS ( français québécois usage standard ) der Université de Sherbrooke mit dem 2013 online gegangenen Wörterbuch USITO zu schließen. Es ist mit „plus de 80 000 mots traités, plus de 100 000 emplois, plus de 40 000 citations, plus de 2000 anglicismes et autres emplois critiqués, plus de 5600 tableaux de conjugaison, plus de 2000 remarques normatives, plus de 10 000 québécismes, toutes les rectifications orthographiques, l’analyse des verbes selon les principes de la grammaire nouvelle, la féminisation des titres 7 http: / / www.cslf.gouv.qc.ca (05. 02. 2017). <?page no="94"?> 94 Edith Szlezák (Regensburg) de fonction […]“ 8 das bisher umfangreichste Wörterbuchprojekt - im Vergleich: Bergerons Dictionnaire de la langue québécoise von 1980 behandelt ca. 20 000, Poiriers Dictionnaire de français plus von 1988 ca. 62 000 und Boulangers Dictionnaire québécois d’aujourd’hui von 1993 um die 40 000. Es ist auch das erste Online-Wörterbuch, weil es sich als ein für alle zugängliches Nachschlagewerk sieht. Problematisch für einen solchen Anspruch ist allerdings die Kostenpflichtigkeit (auch wenn sicher aus Gründen der Finanzierung begründet): der Zugang zu USITO kostet (abgesehen von 10 Tagen kostenlosem Probeabonnement), Can$ 22,99 im Jahresabonnement und Can$ 19,99 für eine Verlängerung. Es spielt dabei keine Rolle, dass knapp 23 kanadische Dollar kein hoher Preis für den freien Zugang zu einem derart umfangreichen Lexikon sind, sondern dass es diese Hürde überhaupt gibt. Vielen Quebeckern, die - sei es aufgrund ihrer Bildungsvoraussetzungen oder auch ihres mangelndem regelmäßigen Konsultationsbedarfs - niemals ein solches Abonnement in Erwägung ziehen würden, die aber ab und zu nach dem „richtigen“ Wort oder der korrekten Orthographie suchen, bleibt also der Zugang verwehrt. Damit spricht es trotz Internetpräsenz nur bestimmte Schichten an. Es ist fraglich, ob das genügen wird, um das ehrgeizige Ziel zu erreichen, das sich USITO gesetzt hat: „décrire le français contemporain d’usage public, représentatif de l’activité sociale, culturelle, économique, politique et scientifique au Québec […], [dans] un dictionnaire général et normatif du français québécois contemporain“. 9 Das scheint ein Widerspruch in sich - der Anspruch, das Französische in all seinen Facetten beschreiben zu wollen, das aber in einem normativen Wörterbuch. Dieser normative Anspruch basiert auf Martels Auffassung von einem Standard in Quebec: „Les Québécois utilisent ce français standard dans des situations de communication pouvant être publiques, institutionnelles, formelles, et même privées; ils reconnaissent collectivement que ce standard correspond au bon usage, c’est-àdire à celui qui ne suscite aucun jugement de valeur“ (Martel 2006, 849). Abgesehen davon, dass der bon usage -Begriff im Hinblick auf seine historische Konnotation in diesem Kontext nicht neutral und daher nicht glücklich gewählt scheint, steht er auch im Widerspruch zu „aucun jugement de valeur“, denn das beträfe sicher nur gebildete Schichten mit entsprechenden Sprachkompetenzen (vgl. hierzu auch Schafroth 2009b, 62). Cajolet-Laganière / Martel meinen, dass sich nur durch ein normatives Wörterbuch ein Standard etablieren könne. Doch scheint es grundsätzlich sehr problematisch, ein Nachschlagewerk einer solchen Konzeption in einer sprachlich derart von Unsicherheit geprägten Situation vorzulegen, weil es beispielsweise im Bereich der Register, die noch nicht unbe- 8 https: / / www.usito.com/ (05. 02. 2017). 9 https: / / www.usito.com/ (05. 02. 2017). <?page no="95"?> Eine frankokanadische Norm-- Chancen und Grenzen 95 dingt klar voneinander abgegrenzt und entsprechend im Diasystem verankert sind, zunächst einer vollständigen Erfassung der diaphasischen Varietäten bedarf, weil sonst kein adäquates Differenzieren und „Erlernen“ derselben ermöglicht wird, was wiederum die sprachliche Unsicherheit weiter fördert. Unsicherheit zeigen offenbar auch die Projektleiter des FRANQUS selbst, denn sie müssen sich gerade in puncto Registerzuordnungen den Vorwurf des „arbitraire du jugement“ (Poirier 2014, 19) gefallen lassen, den Poirier an konkreten Beispielen überzeugend vorbringt (vgl. hierzu auch Schafroth 2009b, 62 ff.). Außerdem wird bei der selektiven Vorgehensweise von Seiten des USITO ein Spezifikum Quebecs außer Acht gelassen: „Les locuteurs québécois donnent une large place aux mots familiers, et même poulaires, dans les contextes où le propos est plus soutenu“ (Poirier 2014, 19). Um solchen soziolinguistischen Kontexten gerecht zu werden, müsste man enzyklopädisch vorgehen, also alle Wörter ausnahmslos zu erfassen und sie dann adäquat zu beschreiben versuchen. Das würde Fehleinschätzungen im Registerbereich nicht verhindern, aber eine Korrektur ermöglichen. Und es wäre per se auch kein Widerspruch zum Ziel, einen Standard zu etablieren, denn entsprechende Standardausdrücke wären ja als zu eben jener Registerebene gehörig gekennzeichnet. Was man im Hinblick auf die sprachliche Realität Quebecs ebenfalls nur unzureichend aufgenommen hat, und das dann in sehr restriktiver Vorgehensweise, sind Anglizismen. Auch wenn Anglizismen offiziell u. a. von Seiten der Office nichts im français québécois zu suchen haben, so sind sie wie in fast jeder engen Sprachkontaktsituation ein Adstrateinfluss, der sich im Sprachgebrauch etabliert hat und der von den Sprechern nicht unbedingt als störend oder unpassend wahrgenommen wird, insbesondere in Quebec, weil dort viele Anglizismen morphologisch wie phonologisch adaptiert sind (vgl. Poirier 1980, 71). Die Art und Weise wie dann die Anglizismen, die Eingang in USITO gefunden haben, beschrieben werden, ist insofern unbrauchbar, als es außer dem Eintrag, einem Kommentar zur Unangemessenheit des Ausdrucks und einem französischen Synonym keinerlei Spezifizierungen gibt, nur selten werden Kontexte des Gebrauchs, Kollokationen, etc. angegeben. Dabei werden alle Anglizismen (d. h. des Sprech- und des Schriftgebrauchs) gleich und unterschiedslos korrektiv behandelt (vgl. Poirier 2014, 25). Somit findet man eben nicht wie bei einem enzyklopädischen Ansatz Empfehlungen zum Sprachgebrauch, sondern ein eingeschränkt benutzbares Wörterbuch, das im Hinblick auf die selektive Herangehensweise sowie die Art der Kennzeichnung von mauvais usage -Wörtern an die Fehler der lexikographischen Unternehmungen der Académie française erinnert. Es gäbe noch viele weitere Kritikpunkte in Bezug auf Berücksichtigung der akadischen Varietäten oder auch des Einbeziehens von Literatur als Korpus zu nennen - ich verweise in diesem Rahmen hierzu auf Schafroth (2009b) und Poirier (2014). Die Bilanz, <?page no="96"?> 96 Edith Szlezák (Regensburg) die sich bisher ziehen lässt, fällt nicht befriedigend aus: „Il reste à parler de l’apport de ce dictionnaire à la description de la norme, qui représentait l’objectif central de l’entreprise. Sur ce plan, les résultats sont décevants“ (Poirier 2014, 27). USITO wird in der Form wie es sich momentan präsentiert den Ansprüchen der komplexen Situation des frankophonen Kanada nicht gerecht. Es bleibt viel zu oberflächlich, als dass soziolinguistische Aspekte angemessen berücksichtigt würden, und das ist vermutlich der wichtigste Kritikpunkt. Denn wie oben erwähnt fußen die Diskrepanzen zwischen dem frankophonen Kanada und Frankreich nicht zuletzt auf unterschiedlichen soziokulturellen Gegebenheiten und soziolinguistischen Konventionen, deren Dokumentation USITO nicht gelungen ist: La recherche a démontré que, pour la description des mots communs avec le français de France, qui forment la partie la plus considérable du lexique , on a repris pour l’essentiel les analyses des lexicographes de France. Pour cette raison, on n’a pas été en mesure de mettre en évidence le maniement original que font les Québécois de ces mots dont le fonctionnement était présumé le même qu’en France (Poirier 2014, 26 f.; Hervorhebung durch Autorin). Ich schließe mich Alain Rey an, der sogar noch einen Schritt weiter geht in dem, was von einer umfassenden Sprachbeschreibung zu erwarten ist, auch, damit sie als genuine Norm etabliert werden kann: […] pour décrire les différences entre usages d’une même langue, par exemple ceux du français en France et au Canada, il ne suffit pas de traiter des faibles différences de la grammaire, des variantes importantes de la prononciation, et même des différences éclatantes entre les vocabulaires. Il faut inclure les divergences entre ce qu’on peut nommer les „stratégies de discours“, qui font qu’on ne parle pas français dans la même manière en entrant chez des amis ou dans un restaurant à Montréal et à Paris. Syntaxe et rhétorique sont concernés, même si la perception des différences de vocabulaire est la plus forte (Rey 2007, 313). Davon ist USITO noch sehr weit entfernt - und da es im Moment das einzige Projekt mit einem Normierungsanspruch ist - wie realistisch oder unrealistisch dieser auch sein mag - bedeutet das, dass auch das Projekt Normfindung im frankophonen Kanada noch sehr weit von seiner Umsetzung entfernt ist. Ob eine solche jemals möglich sein wird, ist nach der enttäuschenden Bilanz des bisher größten Wörterbuchprojekts jedenfalls eine Frage, die wieder ihre Berechtigung hat. <?page no="97"?> Eine frankokanadische Norm-- Chancen und Grenzen 97 Bibliographie Fachliteratur Arrighi, Laurence (2014): „Le français parlé en Acadie: description et construction d’une ‚variété‘“, in: Minorités linguistiques et société / Linguistic Minorities and Society , Nr. 4, 100-125, https: / / www.erudit.org/ revue/ minling/ 2014/ v/ n4/ 1 024 694ar.pdf (05. 02. 2017). Auger, Julie (2005): „Un bastion francophone en Amérique du Nord: le Québec“, in: Valdman, Albert (ed.): Le francais en Amérique du Nord. 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Iberoromania <?page no="103"?> Lingüística popular y codificación del español 103 Lingüística popular y codificación del español Franz Lebsanft (Bonn) a Julio Borrego Nieto 1 Introducción Lo que voy a desarrollar sobre “lingüística popular y codificación del español” se inscribe en una reflexión sobre la norma cuyo origen está, al menos en una parte importante, en las enseñanzas que recibí en las aulas salmantinas hace poco más de un cuarto de siglo. En julio de 1989 asistí a un curso monográfico sobre “Hablar bien”, “hablar mal”: el español frente a la norma , cuyos conferenciantes eran los académicos Manuel Alvar (1923-2001) y Gregorio Salvador, los catedráticos Eugenio de Bustos (1926-1996) y Antonio Llorente (1922-1998), y un joven profesor, Julio Borrego. En aquel momento estaba yo preparando, en Madrid, mi tesis de habilitación sobre “cultura idiomática española” (Lebsanft 1997) y fui a Salamanca para profundizar las bases teóricas de mis investigaciones. De esa estancia salmantina he retenido sobre todo dos cosas: por una parte, mi entrevista con Manuel Alvar, entonces director de la Academia, sobre el papel normativo de ésta (Lebsanft 1997, 289) y, por otra parte, la conferencia de Julio Borrego sobre Actitudes y prejuicios lingüísticos , conferencia que se publicó más tarde con el subtítulo explicativo la norma interna del hablante en Estudios filológicos en homenaje a Eugenio de Bustos (Borrego Nieto 1992). Mi enfoque se basaba, entre otras cosas, en el concepto de la Volkslinguistik , es decir, de la lingüística popular , término calcado del inglés folk linguistics y que el indoeuropeísta Henry M. Hoenigswald había acuñado en los años 60 del pasado siglo con referencia a la conocida folk etymology , traducción a su vez del alemán Volksetymologie o etimología popular . La Proposal for the Study of Folk- Linguistics (Hoenigswald 1966) se publicó en las actas de lo que tal vez fuese el primer congreso importante de la sociolingüística naciente (Bright, ed., 1966). La idea de que los conceptos lingüísticos de los no especialistas, de los “legos en lingüística” 1 , merecen atención y análisis por ser un hecho social que influye 1 Utilizo el concepto lego (vs. lingüista profesional ) desde Lebsanft (1990, 17, 19 s.; cf. también Lebsanft 1997, 46) sin la pretensión de crear un término nuevo, dado que mi <?page no="104"?> 104 Franz Lebsanft (Bonn) de una manera u otra en la conducta lingüística de los hablantes se oponía diametralmente a la teoría del estructuralismo entonces aún reinante. Su representante más destacado, Leonard Bloomfield (1944), había descalificado esas ideas en el más puro estilo behaviorista de “secondary and tertiary responses to language”, sin interés alguno para el análisis científico de la lengua. 2 Debemos a Actitudes y prejuicios lingüísticos una exposición diáfana de los conceptos y métodos sociolingüísticos que permiten hacer operante el estudio de la lingüística popular. Se trata, ante todo, del concepto de “creencias evaluativas” cuyos ajustes o desajustes con los hechos lingüísticos conforman, según había propuesto José Pedro Rona (1966, 296; 1970, 206; cf. Lebsanft 1997, 51), la “actitud” lingüística del hablante. Particularmente interesantes resultan, por supuesto, los desajustes entre creencias y hechos. Estos permiten detectar las diferencias que hay entre las creencias profesadas y las creencias reales, auténticas que constituyen “la norma interna del hablante” (Borrego Nieto 1992). Esa norma interna es la que realmente determina su conducta lingüística. Por lo general, el análisis sociolingüístico está efectivamente dirigido hacia esa conducta y hacia las “creencias o evaluaciones auténticas , que no siempre llegan a aflorar de forma consciente”, según comenta Borrego Nieto (1992, 125). Ahora bien, cuando hablamos de “lingüística popular y codificación del español” apuntamos en otra dirección, ligeramente diferente o, mejor dicho, complementaria. Entre los dos tipos de variables lingüísticas que dejan al hablante un margen de elección en el momento de elaborar su discurso, William Labov destaca los stereotypes , es decir, los elementos lingüísticos que “son explícitamente evaluados dentro de la comunidad como un tópico que, infundado o no, corre de boca en boca” (Borrego Nieto 1992, 122). Si a esto añadimos que los estereotipos, en cuanto creencias explícitas, no solo corren de boca en boca sino también de pluma en pluma o, para ser más conforme con la realidad actual, de teclado en teclado, con esto establecemos la conexión necesaria entre los dos conceptos de mi contribución, ya que por “codificación” entendemos la formulación explícita de una norma de conducta lingüística. maestro Hans Helmut Christmann (1929-1995) lo había empleado en sus cursos universitarios desde los años 1970. Desde que Antos (1996) empleara el término Laienlinguistik (“lingüística de los legos”), la romanística alemana ha descubierto un nuevo campo de investigación, cf. los artículos 130-133 de la RSG (2006) que emplean el término alemán Laienlinguistik y lo traducen en francés por linguistique populaire [N. B.]. Para lingüística popular , cf. también Lebsanft (1999). 2 Cf. Christmann (1974, 120; 1985, 122) sobre el contexto de una polémica que opuso Bloomfield a Leo Spitzer. <?page no="105"?> Lingüística popular y codificación del español 105 2 Un ejemplo: Un supuesto caso de dequeísmo Para dar un ejemplo de la extensión limitada de los conocimientos típicamente “populares” sobre la norma, Borrego trae a colación una carta al director que el diario El País publicó el día 6 de julio de 1989, es decir, una carta muy actual en el momento del curso monográfico antes mencionado. La carta, firmada por cuatro lectores, reprocha a la redacción del periódico el “error manifiesto” del “dequeísmo” al admitir el titular “ EE UU informa sin protestar de que China ha expulsado a otros 14 norteamericanos”, un titular en el que Borrego Nieto (1992, 130) no encuentra “nada lingüísticamente anómalo de acuerdo con la norma académica”, cuando “el verbo informar es con de como se construye”. Por pura casualidad, el día mismo de la publicación de la carta yo había entrevistado en Madrid a Álex Grijelmo, el entonces redactor responsable del Departamento de Edición y Formación de El País , y había tematizado en esa ocasión el supuesto caso de “dequeísmo”. A Álex Grijelmo le vino muy bien el que yo le facilitara la información bibliográfica con la que supo argumentar ante el defensor del lector José Miguel Larraya el régimen preposicional del verbo informar. Esa defensa se publicó tres días más tarde en la tribuna dominical “El Ombudsman”: Para más información [explica el redactor Grijelmo] los interesados pueden consultar la página 232 del Diccionario de dudas del lingüista Manuel Seco [= Seco 9 1986]; la página 130 del Manual del español urgente , editado por Efe [= MEU 5 1989]; o el artículo [= “De idioma, pueblo y pedantes”] firmado en este periódico por Agustín García Calvo, catedrático de Latín, el 30 de marzo de 1986 (Larraya 09. 07. 1989; Lebsanft 1997, 283). Un año más tarde, la tercera edición del Libro de estilo de El País (1990, 271), la primera que se puso a la venta, acoge en la nomenclatura de su diccionario la entrada “informar” y explica: “La construcción correcta es ‘informar de que’, ‘Le informó de que vendría’.” Todo esto puede parecer una verdad de Pero Grullo; pero no es una perogrullada. Muy al contrario, es el caso prototípico de una cierta forma de “cultura idiomática” digna, repito, de interés y de análisis. En un artículo muy famoso en nuestras latitudes germanas, el lingüista e hispanista Hans-Martin Gauger (1981, 233) había decretado que el español era una lengua “fácil”, entre otras cosas porque la comunidad lingüística española era, según él, una comunidad lingüística poco exigente, es decir, una comunidad que no reparaba en niñerías gramaticales como la de saber si se habría de decir informar que o informar de que . En contraste con esa afirmación, la discusión entre hablantes, periodistas y lingüistas, discusión que en un primer momento puede parecer puramente anecdótica, demuestra que la codificación de lo que Eugenio Coseriu (1964) <?page no="106"?> 106 Franz Lebsanft (Bonn) llama la “lengua ejemplar” es el resultado de un diálogo intenso entre varios tipos de actores, especialistas y aficionados a la lengua. La entrada “informar” del Libro de estilo puede servirnos de ejemplo para explicar cómo funciona la construcción discursiva de estereotipos normativos. 3 Esta construcción utiliza el viejo esquema de la correctio retórica “non x , sed y ”, es decir “donde dice… debiera decir”, esquema elaborado en los diccionarios antibárbaros cuyo primer ejemplo es, para los romanistas, el famoso Apéndice Probi (Lebsanft 1997, 212 s.). Obviamente, no pretendo decir que la tradición discursiva del Libro de estilo arranque ininterrumpidamente de tan remoto modelo, pero sí se inscribe en ese tipo “latino” de actuación normativa. Para Álex Grijelmo, autor principal del Libro de estilo del 1990, los modelos inmediatos fueron, evidentemente, los style books estadounidenses y españoles -de ahí la denominación española libro de estilo , calco del inglés- y los diccionarios “de dudas y dificultades”, es decir principalmente “el Seco” cuya primera edición del 1961 sí remite al Apéndice Probi de la Antigüedad. La correctio proyecta sobre el eje sintagmático lo que constituye una alternativa en el eje paradigmático. Contiene normalmente dos términos opuestos que se relacionan mediante un elemento evaluador que indica el grado de obligación con el que se recomienda, en el eje paradigmático, la sustitución del término x por el término y . Es típico de la lingüística popular proponer correcciones fuertes, inequívocas, tajantes, un poco a la manera de los antónimos complementarios donde los términos son incompatibles entre sí. En este sentido, informar de que es “correcto” e informar que no lo es, tertium non datur . En el caso de informar , el nuevo y muy reciente Libro de estilo (cuyo máximo responsable sigue siendo Álex Grijelmo) no debilita, sino refuerza esa estrategia normativa simplificadora al afirmar: En El País se usará la construcción culta española ‘informar de que’ (no ‘informar que’). Por tanto, se informa de algo (no se informa algo). ‘Le informó de que vendría’ (y no ‘le informó que vendría’) (El País 2014, s.v.). Llama la atención la mención de la norma “culta española” cuya procedencia no se explica y cuyo estatus no se define. A mi modo de ver se trata de una referencia opaca a la Nueva gramática de la lengua española donde se afirma ( NGRALE 2009, 3250, § 43.6j) que el complemento preposicional es mayoritario en España pero el complemento directo en América. El periódico que quiere ser “el periódico global”, publicado en varias lenguas diferentes, oculta los usos americanos y sigue siendo fiel a las tradiciones idiomáticas del español norteño. 3 Para el concepto de construcción discursiva ; cf., p.ej., Spitzmüller / Warnke (2011). <?page no="107"?> Lingüística popular y codificación del español 107 3 Los “libros de estilo”, codificación “popular” de la norma, y la asesoría lingüística académica Los libros de estilo españoles, que -con la excepción del inglés americano- no tienen parangón en las demás comunidades lingüísticas de origen europeo, constituyen una forma de codificación que podemos localizar a medio camino entre las codificaciones profesionales de académicos y lingüistas, por una parte, y las ideas lingüísticas de la masa de los hablantes, por otra. En materia de codificación lingüística, el autor del Libro de estilo no reivindica la condición de experto, de lingüista, pero sí de aficionado al idioma. Álex Grijelmo así lo dice utilizando conocidísimos estereotipos “cognitivos” en la entrevista que le hice en julio de 1989 (Lebsanft 1997, 289). Dice: Yo soy de Burgos que es una ciudad y una zona donde se habla muy bien el castellano, y bueno, es Castilla, es la cuna de Castilla, ¿no? , y entonces pues quizá por un poco de sentimiento regional o de la tierra siempre me dolía que no se utilizase bien mi lengua, mi lengua que además es la lengua de todos los españoles y la de 300 millones de personas, ¿no? , y entonces quizá por eso, ¿no? , pero yo de todas formas no me he sentido nunca lingüista ni experto en lengua, me he sentido siempre periodista (Grijelmo 06. 07. 1989). He dicho que el fenómeno de los libros de estilo españoles (de los cuales el de El País es solo el más llamativo) 4 no tiene parangón en otras comunidades lingüísticas europeas. Por supuesto hay que preguntarse por qué es esto así. La hipótesis que avanzo en mi Cultura idiomática española (Lebsanft 1997) aventura la doble explicación de que, por una parte, la época de la “Transición” en la segunda mitad de los años setenta y de los años ochenta exigía una fundamental renovación democrática del estilo periodístico; y que, por otra parte, a falta de una modernización y adaptación de la codificación académica en aquella época, se sentía la necesidad de llenar el hueco entre un “uso vivo” rápidamente cambiante y una codificación vetusta. El desfase enorme entre las necesidades lingüísticas de una sociedad moderna y las respuestas de una institución por aquel entonces poco innovadora era evidente. Ahora bien, desde entonces y hasta hoy la modernización de la codificación lingüística académica ha sido verdaderamente espectacular y produce un dispositivo normativo extraordinario que pone en mano de cuantas clases de usuarios se puedan imaginar la obra de referencia apropiada. Pero hay más. Hasta finales de los años ochenta, solo una minoría de 4 En lo que sigue renuncio a comparar el Libro de estilo con la asesoría lingüística de la Fundación del Español Urgente ( Fundéu ; http: / / www.fundeu.es/ ) cuyos orígenes se remontan al Departamento de Español Urgente de la Agencia Efe y su Manual de Español Urgente ( MEU ), cf. Lebsanft (1997, 185 ss.); cf. también la edición más reciente del MEU (2015). <?page no="108"?> 108 Franz Lebsanft (Bonn) los académicos podía imaginarse una institución que se encargase de asesorar a los usuarios para resolver “dudas y dificultades” lingüísticas concretas. Fernando Lázaro Carreter, que en 1989 no quiso entrevistarse conmigo pero sí contestar a preguntas escritas, me envió una carta “oficial” (02. 07. 1989) diciendo que el usuario de la lengua solo podía esperar de la Academia la orientación de sus Diccionarios y de la (entonces inexistente) Gramática ; aunque, según él, debería exigir más, pero -añadió-: “soy miembro de la Academia, y, mientras conserve esta condición, es en ella donde debo formular mis críticas y plantear mis expectativas”. Todos sabemos cuánto ha cambiado la situación de una institución que hoy en día está metida en el negocio de la asesoría lingüística con obras impresas, pero que también cuenta con un servicio de consultorio lingüístico, el Departamento de Español al día , para decir la verdad no sé cuan eficaz. 5 La media vuelta en política normativa que ha dado la Academia, que hasta hace muy poco solo quería tener una misión “notarial, fedataria” (Lázaro Carreter 31. 12. 1976), cambia también la situación de la lingüística popular. Hoy en día la codificación lingüística del Libro de estilo y de otros manuales de este tipo entra en competencia real con obras académicas como el Diccionario panhispánico de dudas ( DPD 2005) o El buen uso del español ( BUE 2013) . Para ser más exacto debería decir, por cierto, que son estas obras las que entran en competencia con aquellos, ya que han llegado más tarde al mercado de la asesoría lingüística. Por eso la codificación popular tiene que posicionarse frente a una codificación académica actual, amplia y de un fuerte impacto público. En muchos casos, los libros de estilo ya no tienen que labrar terrenos lingüísticos incultos que la Academia no haya pisado; en muchos casos se trata de confirmar o de criticar la codificación de la más prestigiosa institución lingüística española. No obstante, es cierto que el Libro de estilo se presenta en la nueva “Introducción”, firmada por Álex Grijelmo, con la modestia que es de buen tono en este tipo de tradición discursiva. Dice el autor: Conviene recordar que estamos ante un libro de estilo, y que de estilo se habla; no de una norma general para todos los hablantes, sino del criterio que un periódico decide darse a sí mismo de entre varios posibles (El País 2014, 22). No dudo de la buena fe del amigo Álex Grijelmo, pero él y todos los demás sabemos que los lectores del Libro de estilo no compran la obra solo para prestarse al juego de controlar si los periodistas respetan sus propias reglas, sino también para aclarar las dudas que surjan en la conducta lingüística de todo el mundo. 5 http: / / www.rae.es/ consultas-linguisticas/ departamento-de-espanol-al-dia (01. 03. 2016). <?page no="109"?> Lingüística popular y codificación del español 109 4 La norma ejemplar en el nuevo Libro de estilo (El País 2014): El “Diccionario” Todo eso nos lleva a un problema nada fácil de resolver, y este es aclarar en qué nivel de la estructura del lenguaje se sitúa la norma ejemplar. En un trabajo reciente, Carla Amorós y Emilio Prieto (2013, 387) han concebido la lengua ejemplar -ellos prefieren hablar de “estándar”- “no como un código, sino como un modo de usar un sistema lingüístico complejo”. En este mismo sentido, pero sin ninguna reflexión teórica al respecto, el periodista lego en lingüística dice que procura “utilizar bien” su lengua. De acuerdo con esta posición el manual del Libro de estilo (El País 2014, 39 s.) afirma que “está dirigido a que los periodistas hagan un buen uso del castellano”. En este contexto tampoco es fortuito que la guía normativa de las Academias ( BUE 2013) se titule El buen uso del español . Desde el punto de vista teórico todo eso me parece muy bien, pero solo a condición de que, basándonos en el modelo de la “estructura general del lenguaje” coseriano (Coseriu 1981, 272), no se olvide que la lengua ejemplar no se puede reducir completamente al saber expresivo “ejemplar” que corresponde al nivel del discurso. Muy al contrario, la norma ejemplar sí supone también una elección de determinados elementos lingüísticos en el nivel de una lengua histórica. Es evidente que el Libro de estilo formula -y así lo dice explícitamente- “normas de escritura” cuando define como ideal periodístico un “estilo” que sea “claro, conciso, preciso, fluido y fácilmente comprensible” (El País 2014, 39), pero no es más claro el uso de informar con régimen preposicional que el uso de este verbo sin él; es solo una construcción que goza, en España, de mayor prestigio social. Por eso se trata, sin lugar a dudas, de una elección en el plano de la lengua, no del discurso. Todo esto hay que tenerlo presente a la hora de analizar la manera en que se construyen los elementos de una norma ejemplar en el Libro de estilo . En lo que sigue, me voy a limitar a un análisis -muy superficial, por cierto- de la parte más importante -eso sí- del Libro de estilo , es decir su “Diccionario”. Según los conceptos de la metalexicografía son dos los aspectos que hay que estudiar: la macroestructura o nomenclatura y la microestructura. Limitándonos solo a la letra “A” que contiene 245 entradas, podemos distinguir, primero, dos tipos de artículos fundamentales, a saber, (1) artículos de remisión a otras partes del libro tal como el “Manual” y la “Gramática” o, también, a otros artículos del Diccionario mismo y (2) artículos completos. Al primer tipo pertenecen artículos como “ a, preposición”, “acentuación”, “acrónimo” o “adjetivos”, por una parte, y “ América del Sur , véase Sudamérica ”, por otra. Los artículos completos son también de dos tipos, artículos que se refieren a nombres propios y expresiones denominativas, y otros -la mayoría- cuyas entradas son nombres apelativos. <?page no="110"?> 110 Franz Lebsanft (Bonn) Los nombres propios y las expresiones denominativas tienen una importancia evidente en el lenguaje periodístico. El tratamiento normativo sigue las pautas propuestas hace más de 50 años por Salvador de Madariaga en su artículo polémico famosísimo de la Revista de Occidente , “¿Vamos a Kahlahtahyood? ” (= Calatayud ) en el que disfrazaba el nombre de la ciudad de los bilbilitanos con una ortografía inglesa (Madariaga 1966). Se trata sobre todo de transliterar con la ortografía española nombres escritos en alfabetos no latinos, pero también de respetar las adaptaciones españolas tradicionales de topónimos europeos, es decir, los exónimos españoles. El ejemplo de transliteración clásico es el nombre de la capital de Sudán, Jartum , donde la transliteración española de la letra jāʾ ﺧ, documentada en CORDE (01. 03. 2016) desde 1899: 6 Como la antigua y famosa Universidad del Cairo, muy rica en manos muertas é instituciones piadosas de toda clase y, por consiguiente, muy independiente, no puede ser instrumento de los ingleses, quieren estos oponerle en Jartum una gran Universidad rival, musulmana en apariencia, pero diestra y firmemente encaminada á favorecer las miras de Inglaterra (Ricardo Beltrán y Rózpide: La geografía en 1898 , Madrid, Fortanet, 1899, 249), permite representar el fonema velar fricativo sordo árabe mucho más fielmente que la sustitución inglesa y francesa por la grafía <kh> que se realiza normalmente -almenos en inglés- como una velar oclusiva sorda aspirada [k h ]. 7 Sin embargo, la adaptación española tiene también sus límites en el caso de la incongruencia entre la fonética y fonología extranjera y española. En el caso de Jartum se expresa la mīm ـﻢ (final) con la grafía <m>, pero como la consonante bilabial nasal sonora se encuentra en posición final, se pronuncia por supuesto como una [n]. En este caso, la fidelidad gráfica es solo una fidelidad ficticia y se 6 Por supuesto hay documentación más antigua de Jartum ; p.ej., in: Boletín de la Sociedad Geográfica de Madrid , vol. 1, 1876, 410 (http: / / prensahistorica.mcu.es/ es/ , 01. 03. 2016). 7 La transliteración “francesa” es mucho más antigua que la documentación en CORDE hace pensar (01. 03. 2016: “el Nilo azul y el blanco, cuyo vértice está en Karthoum ”, in: Leoncio Urabayen: La tierra humanizada , Madrid, Espasa-Calpe, 1949): “pero un día se escapó á Khartoum é ingresó en una escuela que dirigía un fakí célebre”, in: Revista contemporánea , vol. 48, 2, 1883, 253 (http: / / prensahistorica.mcu.es/ es/ , 01. 03. 2016). Para la transliteración “inglesa”, cf. “Esto ocurre con el Nilo, en Gondokoro, con régimen casi normal durante todo el año, siendo por el contrario extraordinariamente variable en Rosaires e igualmente en Khartum y Ouadihalfa”, in: Francisco Hernández-Pacheco: Geología fisiográfica , Barcelona, Instituto Gallach, 1927, 323 ( CORDE , 01. 03. 2016); “la espedicion se habia visto obligada á volver á Khartum ”, in: El Museo Universal , vol. 8, 45, 1864, 358 (http: / / prensahistorica.mcu.es/ es/ , 01. 03. 2016). <?page no="111"?> Lingüística popular y codificación del español 111 podría defender también -tal como se ha hecho- la transcripción con la grafía <n> ( Jartún ). 8 En contradicción con su propia norma El País escribe: Muere apuñalado el jefe de visados español en su casa de Jartún Madrid / Jartum 29 SEP 2014-18: 20 CEST - Emiliano García Arocas, jefe de visados de la sección consular en la Embajada de España en Jartún (Sudán), ha sido encontrado muerto esta mañana en su casa, según han confirmado por teléfono fuentes diplomáticas desde la capital sudanesa. […] No es el primer suceso de este tipo en Sudán. El cónsul ruso en Jartún y su esposa resultaron heridos en enero de este año, al ser apuñalados por un hombre procedente de República Centroafricana ( El País 29. 09. 2014). En todo este aspecto no veo ninguna diferencia fundamental entre el Libro de estilo de El País y las reglas que establecen las Academias sobre la ortografía de los topónimos extranjeros. A mi modo de ver y desde un punto de vista sociolingüístico, la “recomendación” académica de que la grafía de estos topónimos “se adapte enteramente a la ortografía del español, alterando en la menor medida posible el reflejo de la pronunciación original”“ ( OLE 2010, 648) 9 sigue un principio lingüístico coherente, pero más importante es el hecho de que sea al mismo tiempo la expresión de una actitud lingüística que recupera -como diría Madariaga (1970, II , 5)- “el valor … para acuñar con el sello de su espíritu vocablos extranjeros”. Es un caso de language pride , de orgullo lingüístico, que comparten expertos y legos en lingüística. Si fuera necesario aducir argumentos adicionales, entonces los aportaría el tratamiento de las expresiones denominativas. A este respecto, la lingüística popular del Libro de estilo va mucho más allá de la lingüística académica (que no se pronuncia sobre el tema) cuando establece, por ejemplo, normas para la adaptación de denominaciones de festividades -con la excepción significativa de las lenguas de España. Por eso hay que escribir en el periódico Día de Acción de Gracias en vez de Thanksgiving Day , pero Aberri Eguna añadiendo la explicación “Día de la Patria”. Según el mismo principio la fiesta del Once de Septiembre es la Diada del Onze de Setembre y la del 23 de abril (por no mencionar el día de la entrega del premio Cervantes ) es la Diada de Sant Jordi . 10 Estos ejemplos de expresiones denominativas de festividades permiten 8 La grafía Jartún no está documentada en CORDE (01. 03. 2016). La documentación más antigua que encuentro es: Boletín de la Sociedad Geográfica de Madrid , vol. 1, 1876, 145 (http: / / prensahistorica.mcu.es/ es/ , 01. 03. 2016). 9 Cf. OLE (2010, 724), BUE (2013, 503): “Jartum. Capital de Sudán”. 10 Para una tipología del tratamiento de nombres de festividades extranjeros, cf. Moya (2000, 70 s.). Moya distingue entre traducción ( Día de Acción de Gracias ) y transferencia ( Thanksgiving Day ) , con explicaciones y equivalentes culturales o sin ellos. <?page no="112"?> 112 Franz Lebsanft (Bonn) descubrir, dicho sea de paso, que para los periodistas defensores del español hay lenguas y lenguas de España. Mientras que la festividad vasca se escribe en cursiva -marca que destaca la distancia lingüística entre el español y el vasco- las festividades de la lengua románica hermana se escriben en redonda. 4.1 Ortografía De las 245 entradas de la letra “A” del Libro de estilo 61 son nombres propios o expresiones denominativas, y 184 palabras apelativas. Si comparamos la edición actual con la de 1990, observamos que de estos 184 artículos 69 son completamente nuevos y otros 20 retocados en algún aspecto, lo que significa que en el léxico apelativo solo poco más de la mitad de las “dudas y dificultades” normativas se ha quedado sin cambio a lo largo de 25 años. Si restringimos nuestra atención a los artículos nuevos y emendados, observamos en la ortografía de los préstamos -es el único problema ortográfico que se plantea- que los periodistas se distancian del diccionario de la Academia. En casos como abertzale ~ aberzale ‘nacionalista radical vasco’ o aizcolari ~ aizkolari ‘deportista cortador de troncos’, la Academia prefiere la variante castellana sustituyendo en el primer caso el dígrafo <tz> por <z> y en el segundo caso la letra <k> por la <c> ( DLE = DRAE 23 2014, s.v.) mientras que el Libro de estilo mantiene las grafías vascas (El País 2014, s.v.). En los dos casos, los periodistas se distancian explícitamente con respecto al discurso académico porque tratan de “respetar” las peculiaridades gráficas de una lengua de España. Si se añade que, en el caso de abertzale , el Libro de estilo procura explicar (no sé si con éxito) la pronunciación de la africada laminodental vasca / ts/ -“la pronunciación del grupo ts se parece más a la che que a la zeta”- parece ser un discurso normativo que pretende ser más distinguido, más fino que el de la Academia. Esta impresión la confirma la solución de otro problema ortográfico, el de la palabra albatross . Para la Academia solo existe la palabra castellanizada albatros (con una sola <s>), palabra polisémica que se refiere al ave marina y a una jugada de golf: albatros (Del ingl. albatross , y este del esp. alcatraz 2 .) - 1. m. Ave marina de gran tamaño, muy buena voladora, de plumaje blanco y alas muy largas y estrechas, que vive principalmente en los océanos Índico y Pacífico. - 2. m. Dep. En el golf, jugada consistente en embocar la pelota en un hoyo con tres golpes menos de los establecidos en su par. ( DRAE 23 2014, s.v.), para el Libro de estilo hay dos palabras homonímicas y al mismo tiempo heterográficas puesto que la palabra que designa al ave marina se escribe en redonda y con una sola <s> mientras que la otra, que se refiere al deporte, se escribe en cursiva y con dos <s> (El País 2014, s.v. albatross ). Es una manera de decir “en <?page no="113"?> Lingüística popular y codificación del español 113 este caso somos más precisos que la Academia, manejamos la herramienta de la lengua con más cuidado que las señoras y los señores de la docta casa”. 4.2 Morfología Pasemos a la morfología flexiva de las palabras autóctonas, donde el tratamiento de varios problemas clásicos, ampliamente discutidos en las cartas al director durante muchos años, confirma el análisis que acabamos de hacer. Por supuesto, hay casos en los que el Libro de estilo acepta la autoridad de la codificación acádemica que se sigue como si se tratase no de la descripción de usos sociales que evolucionan paulatinamente, sino de un código administrativo o jurídico donde las reglas cambian de un día para otro. Así se dice, por ejemplo, que abolir “ya no es considerado verbo defectivo, desde 2005, por lo que pueden emplearse todas sus formas, como verbo regular: abolo, aboles, abole, etcétera” (El País 2014, s.v.). Como si fuera una noticia, se afirma de manera análoga que el verbo agredir “ya no es defectivo, según la Real Academia Española. Por tanto, se pueden emplear todas sus formas” (El País 2014, s.v.). 11 Pero en otros casos el Libro de estilo se distancia de la codificación académica. Para los sustantivos y en el terreno cambiante, y por eso inseguro, de la moción genérica los periodistas mantienen generalmente el género común en casos donde el nuevo Diccionario y la Nueva Gramática registran cambios debidos a pautas analógicas. El Libro de estilo prescribe la aprendiz (El País 2014, s.v.), mientras que la nueva codificación académica no solo documenta empleos cultos de la aprendiza , sino que emplea en su propio discurso explicativo esta forma cuando dice: se documenta también el femenino oficiala , que en el español europeo se utiliza sobre todo aplicado a ciertas aprendizas [N. B.] de categoría media, muy a menudo peluqueras ( NGRALE 2009, 104, 2.5r). Hay también un apartado en el capítulo sobre las normas gramaticales donde el Libro de estilo marca de manera general su oposición a la postura más abierta de la Academia (El País 2014, 175). 4.3 Régimen preposicional En cuanto a la gramática del verbo, el Libro de estilo se refiere sobre todo a la estructura argumental y al régimen preposicional. Ya lo hemos visto con el verbo informar de que y podríamos aducir muchos ejemplos más. En el caso 11 Cf. la polémica en las cartas al director: Lebsanft (1990, n os 504, 506, 516, 519, 521, 523, 524). <?page no="114"?> 114 Franz Lebsanft (Bonn) de advertir , el ejemplo más desarrollado del Libro de estilo , la alternancia entre los regímenes con preposición y sin ella permite distinguir varias acepciones diferentes, desde ‘percibir’ ( Amalia advirtió que la noticia no era buena ) y ‘avisar’ ( Amalia advirtió de que la noticia no era buena ) hasta ‘conminar’ ( Le advirtió que no le gritase ) y ‘aconsejar’ ( Le advirtió que no fuera ese día ). Es el caso más llamativo en el que los periodistas defienden una norma más rígida que la académica en aras no de una norma idiomática, sino discursiva, estilística: El estilo del periódico tiende a eliminar las posibles dudas del lector, pues no se considera igual ‘advirtió de que llegaba una tormenta’ (avisó) que ‘advirtió que llegaba una tormenta’ (percibió) (El País 2014, s.v.). No es que la Academia permita suprimir la preposición en ciertos casos (como afirma el Libro de estilo ), sino que describe el hecho de que el sentido ‘avisar’ se construya en América sin preposición, un uso tampoco “desconocido” en España ( NGRALE 2009, 3251, 43.6k). Otro ejemplo que permite detectar diferencias sutiles entre el periódico y las Academias es el verbo abogar . Se dice en el Libro de estilo que el verbo “se construye siempre con un complemento precedido por la preposición por ” (El País 2014, s.v.). Así lo dice también el DEA (1999) de Manuel Seco cuando precisa que el “contorno” de abogar ‘hablar en favor [de algo o de alguién]’ se construye con por o en favor de . Si la Nueva Gramática de las Academias no dice otra cosa -“aboga por el mismo análisis”-, el discurso académico conoce también otros usos cuando emplea el verbo de esta manera: “Aboga en esa dirección la alternancia entre de nosotros y nuestro ( una foto de nosotros ~ una foto nuestra )” ( NGRALE 2009, 1168, § 16.1p). 4.4 Léxico: Contacto lingüístico Después de la morfología hablemos del contacto lingüístico. Para los periodistas el fenómeno del préstamo integral o parcial es sentido como un mero problema de traducción. El Libro de estilo da la impresión de que el préstamo no existiría, si los periodistas fuesen expertos en traducción. Enfocado de esta manera, acoso laboral es, como escribe el Libro de estilo , una “traducción adecuada para el anglicismo mobbing ” (El País 2014, s.v.). Se rechaza airbag , palabra que aparece en el DRAE ( 23 2014, s.v.) como españolismo, y se quiere limitar su uso a citas textuales. Como soluciones de recambio se discuten las traducciones bolsa de aire (es la solución alternativa que ofrece la Academia), peto de seguridad y globo de seguridad , “expresión esta última que se considera más apropiada para El País ”. Cuanto menos conforme con la fonología y morfología españolas, tanto más fuerte es el rechazo de la palabra prestada de otro idioma. Por otra parte, si existe o se puede crear una palabra española que tenga una morfología análoga <?page no="115"?> Lingüística popular y codificación del español 115 a la palabra de origen -es, como sabemos, el caso de muchos de los latinismos ingleses- se acepta como “traducción”. Es el caso de auditar y auditoría ; pero también del término informático aplicación , que curiosamente no se discute como un caso de calco semántico, aunque haya existido en español antes de que se enriqueciera su polisemia con la nueva significación tecnológica (El País 2014, s.v.). Por lo general y en contra de este ejemplo, la lingüística popular rechaza el enriquecimiento polisémico cuando es el resultado de un calco semántico. Este fenómeno se presenta también en términos traductológicos y a este respecto se puede encontrar en el Libro de estilo la nueva entrada “falso amigo” como concepto explicativo y analítico (El País 2014, s.v.). De acuerdo con esta línea de pensamiento lingüístico se rechazan el significado “inglés” ‘repentino, precipitado’ del adjetivo abrupto ‘áspero, rudo, de difícil acceso’ o los sentidos ‘prevenir, predecir, prever’ del verbo anticipar (El País 2014, s.v.). El Libro de estilo no se da cuenta de que una traducción recomendada como acoso laboral termina también por ser un calco semántico, cuando se acepte -y es lo que propone el Libro - la elipsis acoso “si queda claro por el contexto” (El País 2014, s.v.). Lo mismo acontece con globo de seguridad , cuando se propone usar solamente globo siempre que el contexto lo permita. Todo eso demuestra que la lingüística popular tiene una idea algo simplista del contacto lingüístico y de los efectos que produce. Desde una perspectiva sociolingüística el tratamiento de los préstamos es otro ejemplo de lo que llamamos “orgullo lingüístico”. 4.5 Léxico: Polisemia Desde el punto de vista de la semántica, el calco semántico es solo un caso particular de la polisemia de las unidades léxicas. El Libro de estilo tiene grandes dificultades para integrar nuevas acepciones, inclusive en el caso de la semántica autóctona. Las admite -pero no siempre- cuando tienen el marchamo académico, por ejemplo abordar ‘subir a un medio de transporte’ o abortar ‘hacer fracasar, interrumpir, frustrar algo’ (El País 2014, s.v.). Por otra parte, la entrada abatir advierte de que significa ‘derribar, derrocar o echar por tierra’, pero no es sinónimo de matar o asesinar (El País 2014, s.v.). Aun cuando esto es cierto, eso no impide que abatir desarrolle por vía metonímica la acepción correspondiente y así lo describe, por ejemplo, el DEA (1999, s.v.), cuando define la relación semántica entre ‘derribar’ y ‘matar’ en términos de “acepción” (‘derribar o caer’) y de “subacepción” (‘matar, especialmente con arma de fuego’). En este, como en muchos otros casos, a la lingüística popular le falta imaginación para describir evoluciones semánticas. La palabra abrumador , dice el Libro de estilo , “no implica cantidad, sino presión. ‘Pruebas abrumadoras’ no son pruebas masivas o abundantes, sino agobiantes o preocupantes” (El País 2014, s.v.). La explicación <?page no="116"?> 116 Franz Lebsanft (Bonn) refleja la posición del Diccionario de la Academia y en este caso también del Diccionario del español actual . El diccionario REDES (2004, s.v.) podría enseñarles a los periodistas codificadores de qué manera se pasa de la combinación de abrumador con “sustantivos que denotan poder, preponderancia, control” a otros que “designan cantidades, así como otras nociones mensurables o inherentemente cuantitativas”. Es otro caso de metonimia en el que una abrumadora cantidad de información pasa del significado ‘agobiante’ a ‘masivo’, de una noción de peso a otra de cantidad. Con este ejemplo entramos en el campo de las colocaciones, en el que las interacciones semánticas de las palabras implicadas son mucho más sutiles de lo que el Libro de estilo quiere o puede admitir. Baste un último ejemplo para terminar. Dice el código lingüístico de El País que el verbo acarrear “sólo se emplea con complementos negativos: desgracias, problemas [etcétera]”. Esta descripción se corresponde, una vez más, con la definición del diccionario académico. Sin embargo, la realidad del uso vivo tal como lo describe REDES demuestra que el verbo admite complementos positivos ( beneficio, ventaja …) que hacen pensar en un cambio semántico del verbo, cambio que anula las restricciones de la selección léxica del complemento. 5 Conclusión Resumamos. En el Libro de estilo de El País que se ha tomado aquí como muestra de la lingüística popular, como muestra típica de asesoría lingüística en materia normativa, hay un contraste evidente entre un esfuerzo para inventariar el mundo actual -así se explica, como ejemplo más ilustrativo, la lista impresionante de neologismos informáticos- y una concepción muy conservadora para enfocar el problema de la norma ejemplar. “Cuanto más cambia el mundo tanto menos toquemos a la lengua”, podría ser el lema de los periodistas legos en lingüística. A falta de una comprensión seria de lo que es la creatividad como mecanismo fundamental del lenguaje, la norma ejemplar se reduce de esa manera a un mosaico impresionante -eso sí- de estereotipos que constituyen el capital lingüístico que se invierte en la construcción del prestigio social. Se trata de un hecho social y desde el punto de vista sociolingüístico hay que describirlo como tal. Otra cosa es, por supuesto, la valoración de ese hecho social. No quiero poner en entredicho la utilidad del Libro de estilo en muchos aspectos, pero sí abogar por una mayor educación lingüística que explique la construcción del discurso lingüístico no como la aplicación y observación rígidas de unas reglas fijas, sino como una actividad creadora. Para eso están los lingüistas y también <?page no="117"?> Lingüística popular y codificación del español 117 los lingüistas de la Academia, al menos los de la Nueva Gramática que en este aspecto se critica más de lo que merece. Bibliografía Amorós, Carla / Prieto, Emilio (2013): “Variedades no dominantes del español: de la sintaxis al discurso”, in: Muhr, Rudolf (ed.): Exploring Linguistic Standards in Non- Dominant Varieties of Pluricentric Languages , Frankfurt / Main, Lang, 377-390. Antos, Gerd (1996): Laien-Linguistik. Studien zu Sprach- und Kommunikationsproblemen im Alltag , Tübingen, Niemeyer. 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Scrabble kann folglich als gespielte laienlinguistische Sprachkritik bezeichnen werden. 1 Die Möglichkeiten hinsichtlich der Verwendung von Wörtern sind - abgesehen vom Zufall der Verteilung der Steine - jedoch deutlich eingeschränkter als die allgemeine kommunikative Praxis, denn der erlaubte Wortschatz ist durch die beigelegten Spielregeln an den kodifizierten Wortschatz geknüpft: Die von den Mitspielern kritisch beäugten Wörter müssen nachweislich zur jeweiligen Sprache gehören. Die Spielanleitung empfiehlt daher - um Streit zu vermeiden -, ein allgemeines Wörterbuch zum Richter zu bestellen. Im Manual d’instruccions der katalanischen Ausgabe 2 heißt es unter „Paraules permeses“: 1 Der Wittgenstein’sche Begriff des ‚Sprachspiels‘, der sich hier aufdrängt, wäre dabei allerdings nur insoweit anwendbar, als es sich um Sprachgebrauch auf einer Metaebene handelt, der sich im Kontext des Brettspiels ausschließlich auf die Formseite beschränkt. Die Bedeutung ist im Regelsystem des Spiels hingegen nicht maßgeblich. Vielmehr liegt in diesem Sinne das Gegenteil eines Sprachspiels vor, denn Sprache wird ohne sinnstiftenden Kontext isoliert verwendet. Die Bedeutung der gelegten Wörter kann freilich sekundär zum Vergnügungsaspekt des Spiels beitragen. 2 Scrabble wurde nach Jahren der behelfsmäßigen manuellen Modifizierung der spanischen Buchstabensteine (u. a. <c> zu <ç>, <ll> zu <l·l> und <ñ> zu <ny>) im Privaten erstmals 1990 in einer offiziellen Version auf den katalanischen Markt gebracht (vgl. Serra 1990). Die Tatsache, dass daran auch das katalanische Bildungsministerium beteiligt war, spricht dafür, dass das Spiel hier zum Vehikel einer Sprachkultur gemacht wurde, die nicht nur auf den gesellschaftlichen Gebrauch des Katalanischen ( normalització ) abzielt, sondern auch versucht, die Bevölkerung sprachkritisch zu schulen. <?page no="120"?> 120 Felix Tacke (Bonn) Abans de començar el joc, recomanem que els jugadors escullin un diccionari general de la llengua catalana com a àrbitre. El diccionari oficial del Campionat Nacional de SCRABBLE en català és el Diccionari de la Llengua Catalana de l’Institut d’Estudis Catalans. Es permetrà formar qualsevol paraula que aparegui en el diccionari escollit pels jugadors […] (Mattel 2006). Wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, ergeben sich hieraus gewisse Einschränkungen, insofern die Kriterien der Aufnahme eines Wortes in ein normatives Wörterbuch sehr stark differieren können (z. B. in Bezug auf Dialektalismen, Regionalismen, Kolloquialismen) und ‚Sprache‘ implizit mit ‚präskriptiver Norm‘ gleichgesetzt wird. Die Zulässigkeit eines Wortes wird so mittelbar an die sprachnormativen Entscheidungen einer Autorität, hier des Institut d’Estudis Catalans ( IEC ), geknüpft. Dennoch bleibt das Spiel weitgehend in der Domäne der Laienlinguistik verhaftet, denn nur der sprachkritische Akt, nicht aber die konkreten Bewertungskriterien werden unter „Recusació de paraules“ genau definiert: Quan un jugador forma una paraula sobre el tauler i un dels altres jugadors creu que és incorrecta, pot recusar-la. […] En aquest cas, es consulta el diccionari i si la paraula recusada és incorrecta o inacceptable, el jugador que l’ha col·locat recollirà les fitxes, perdrà el torn i no puntuarà (Mattel 2006). Was genau mit incorrecte , abgesehen von nicht korrekter Orthographie, gemeint ist, bleibt in der katalanischen Fassung ebenso nebulös wie das Attribut inacceptable . Als ‚inkorrekt‘ dürfte demnach alles beurteilt werden, was nicht im Wörterbuch steht und somit ohnehin von den Regeln ausgeschlossen wird. Als ‚inakzeptabel‘ kann schließlich alles gelten, was irgendwie als informell oder dialektal markiert wird. 3 Der spielerische Umgang mit Sprache und Sprachkritik ist - wie in den meisten Kulturen - in der katalanischen 4 Gesellschaft sehr beliebt. Er spielt nicht nur eine Rolle in der Vorschulpädagogik und der allgemeinen Sprachvermittlung, 3 Hier liegt ein wichtiger Unterschied zur deutschen Spielversion vor, in der es (im Einklang mit der Originalversion) heißt: „Alle Wörter, die in einem anerkannten, nicht veralteten Wörterbuch der deutschen Sprache zu finden sind, sind erlaubt. Dazu gehören auch die dort aufgeführten mundartlichen Wörter, Fremdwörter und Wörter aus Fachsprachen. Man geht davon aus, dass die in einem Standardlexikon aufgeführten Wörter - auch die, die aus fremden Sprachen übernommen wurden - mittlerweile in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommen worden sind und daher erlaubt werden müssen“ (Mattel 2007, 5). 4 Hier und im Folgenden beschränke ich mich auf die Darstellung der Sprachkultur in der Autonomen Gemeinschaft Katalonien, wie sie sich vornehmlich ausgehend von Barcelona entfaltet. <?page no="121"?> Die katalanische Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts 121 sondern kann auch als wichtiger Aspekt von Sprachkultur im Allgemeinen verstanden werden. So kommt spielerischen Elementen offenkundig eine wichtige Rolle bei der Verbreitung und Pflege sprachlicher Normen, insbesondere im Dialog zwischen Experten und Laien, zu. Dies zeigt sich schon im alltäglichen Kreuzworträtsel ( mots encreuats ) oder in der zur Spielshow umfunktionierten Schulpraxis im Format El gran dictat ( TV 3), das neben den Kandidaten die Zuschauer lockt, die es auch oder besser wissen. 5 Eine intellektuellere, sämtliche Bereiche der Sprache und der Sprachverwendung betreffende Form der spielerischen Sprachkritik sind zweifellos die auch in der katalanisch(sprachig)en Presse sehr beliebten Sprachchroniken, wie etwa Brou de llengua ( El País ). 6 Auch viele sprachkritisch orientierte Blogs übernehmen diese Art des humoristischen Umgangs mit den Themen der Sprachverwendung. 7 Dabei erfüllt Sprachkritik, unabhängig von der Art ihrer Vermittlung, bestimmte gesellschaftliche Funktionen. 8 So kommt der Bewertung von Sprachformen unter dem Gesichtspunkt der Herkunft, bedingt durch die Sprachkontaktsituation mit dem Kastilischen, in der katalanischen Sprachkultur traditionell ein besonderer Stellenwert zu. Der geringe Abstand der Sprachen im Kloss’schen Sinn des Begriffs hat dabei zur Folge, dass beide Sprachen prinzipiell für eine gegenseitige Beeinflussung besonders prädisponiert sind. 9 Doch ist das Katalanische vor dem Hintergrund der ‚externen‘ Sprachgeschichte (vgl. Kailuweit 1997; Veny 2003; Wittlin 2006) und der gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen der Sprachverwendung in deutlich höherem Maße von Interferenzen ‚betroffen‘ als umgekehrt. 10 Vor dem Hintergrund der politischen Ge- 5 Solche Formate sind auch in anderen romanischen Sprachkulturen verbreitet, man denke etwa an die sprachkritischen Sendungen Bernard Pivots im französischen (z. B. Championnats de France d’orthographe , FR3, 1985-2005) oder die spanische, an der italienischen Show Parola mia (Rai 1, 1985-1987; Rai 2, 2002-2003) orientierte Sendung Hablando claro (TVE, 1987-1992; s. hierzu Lebsanft 1997, 102 f.). 6 Der unterhaltsame Gebrauch von Sprache und vor allem Wortspiele scheinen dabei sprachübergreifend konstitutive Elemente der Textbzw. Diskurstradition ‚Sprachchronik‘ zu sein. 7 Dies gilt etwa für den Blog Fartografia , über den sein Autor angibt: „Aquest bloc només té l’objectiu de deixar ben paleses les, com dic jo, ‚heretgies lingüístiques‘ que sovint es cometen contra el català escrit i que dia rere dia ens trobem pel carrer, botigues, a les nostres bústies, etc. en forma de cartells, anuncis, propaganda i altres mitjans. Això sí, que no falti una certa dosi de bon humor.“ 8 Zu den verschiedenen Ausprägungen von Sprachkritik s. u. a. Gauger (1995) sowie das Überblickswerk von Kilian / Nier / Schiewe (2010). 9 Zum Begriff der Abstandsprache s. Kloss (1952 / 1978); vgl. auch Haarmann (2004) sowie Muljačić / Haarmann (2004). Zum Abstand zwischen dem Katalanischen und dem Kastilischen s. Quintana i Font (1998). 10 Zum Begriff der Interferenz als Resultat eines negative transfer s. z. B. Gass / Arbor (1996). Zu Interferenzen zwischen den beiden Sprachen und insbesondere der ‚Kastilisierung‘ <?page no="122"?> 122 Felix Tacke (Bonn) schichte, die in den (gescheiterten) Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens ihren vorläufigen Höhepunkt erfahren hat, ist das Motiv der Abgrenzung auch auf sprachlicher Ebene zentral und spiegelt sich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, im Umgang mit kastilischen Einflüssen wider, die als castellanismes oder barbarismes traditionell stigmatisiert werden, da sie potenziell den Abstand zum Kastilischen verringern und Ängste vor dem Verlust der (sprachlich-kulturellen) Eigenständigkeit hervorrufen. Hinsichtlich der Modellierung einer katalanischen Standardsprache ist das Verhältnis zur gesprochenen Sprache im weiteren und damit zu castellanismes im engeren Sinne wiederum ein seit dem 19. Jahrhundert immer wieder verhandeltes Problem, das in der berühmten Polemik zwischen dem restriktiven català heavy Fabras und dem flexiblen català light der Medien am Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre besonders virulent diskutiert wurde (vgl. Kailuweit 2002; Kailuweit / Jaeckel 2006, 1550) und sich in der heutigen Konkurrenz zwischen der präskriptiven Norm des Institut d’Estudis Catalans ( IEC ) und dem Sprachideal der Kommunikationsmedien fortsetzt (für einen Überblick s. Lebsanft 2002; Brumme 2006, 1488-1492). 11 Die am Gesellschaftsspiel Scrabble veranschaulichte sprachkritische Praxis ist mit ihrer Knüpfung an das ‚offizielle‘ Wörterbuch des IEC nur ein Beispiel für die Problematik der katalanischen Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts, die sich im Besonderen im Umgang mit Entlehnungen aus dem Kastilischen manifestiert. Ziel dieses Aufsatzes ist es, die Entwicklung der Bewertung von castellanismes beginnend mit der von Pompeu Fabra initiierten Kodifizierung der Literatursprache zu skizzieren. Dazu soll der traditionell puristische, gegen das Kastilische gerichtete Charakter der katalanischen Sprachkultur zunächst als Teil eines allgemeineren Abgrenzungsdiskurses dargestellt werden (Abschnitt 2), um daraufhin die von Unsicherheit und Zweifeln geprägte Sprachverwendung als Konsequenz der Stigmatisierung zu beleuchten (Abschnitt 3). Schließlich wird demonstriert, wie die vom Institut d’Estudis Catalans im Bereich der normativen Orientierung gelassene Lücke zunehmend von den Kommunikationsmedien gefüllt wird (Abschnitt 4), deren normativer Diskurs in Bezug auf die Bewertung von castellanismes eine tiefgreifende Modernisierung der Sprachkultur in Aussicht stellt (Abschnitt 5). des Katalanischen s. Boix / Payrató / Vila (1996), Eberenz (1998, 88-91), Ferrero Campos (1998, 95-97). 11 Bei der Kodifizierung der präskriptiven Norm spielen freilich mehrere Kriterien eine Rolle, „vor allem das Verhältnis der Norm (I) zur älteren Sprachtradition, (II) zur diatopischen bzw. (III) zur diastratisch-diaphasischen Variation sowie (IV) zum Kastilischen“ (Lebsanft 2002, 123). Das Verhältnis zum Kastilischen scheint mir zumindest im Diskurs über das ‚gute‘ Katalanisch zu überwiegen, weshalb ich die übrigen Kriterien im Folgenden weitgehend ausblende. <?page no="123"?> Die katalanische Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts 123 Da es neben den ‚offiziellen‘ Instrumenten der Kodifizierung - mit einem Schwerpunkt auf den Wörterbüchern - und den normativen Werken der Kommunikationsmedien (Stilbücher) auch um den Stellenwert gehen soll, den diese in der heutigen katalanischen Sprachkultur einnehmen, werden im Folgenden auch metanormative Äußerungen, wie sie in der Berichterstattung der Zeitungen, Sprachchroniken und Internetblogs zu finden sind, aufgegriffen. 2 Die Abgrenzung vom Kastilischen in der katalanischen Sprachkultur Der sich letztlich auch im genannten Gesellschaftsspiel widerspiegelnde Konservatismus der an Fabra anknüpfenden Kodifizierung des IEC ist paradigmatisch für eine Sprachkultur, die sich markant durch die Abgrenzung vom Kastilischen definiert. Aus der Sicht der katalanischen Soziolinguistik gilt das Katalanische als ‚dominierte‘ Sprache, die unter Interferenzen ‚leidet‘ (vgl. Argemí / Ramon 1996). Die Abgrenzung der ‚eigenen‘ Sprache ( llengua pròpia ) von dem als Bedrohung empfundenen Kastilischen steht daher sowohl im Zentrum der Sprachpolitik als auch der Sprachkritik. In Haugens (1987) Terminologie betrifft sie also Status- und Korpusplanung gleichermaßen. Während im sprachpolitischen Diskurs die Verknüpfung von Identität und Sprache vorangetrieben, der Gebrauch des Katalanischen mit allen Mitteln gefördert und Katalonien sprachlich markiert wird, spielen Sprachkritik und Sprachpflege, wie im Folgenden gezeigt wird, eine komplementäre Rolle. 2.1 Die unsichtbare Invasion? Der Schriftsteller und Übersetzer Pau Vidal, verantwortlich für das Kreuzworträtsel in der katalanischen Ausgabe von El País und zwischenzeitlich einer der Moderatoren der Fernsehshow Joc de paraules ( Barcelona Televisió ), ist gegenwärtig wohl einer der populärsten Sprachkritiker Kataloniens. Er vertritt die bisweilen polemisch diskutierte Auffassung, dass die Koexistenz des Katalanischen mit dem Kastilischen zwangsläufig zur Substitution des Katalanischen führt, wie der Titel seines letzten Buches El bilingüisme mata (Vidal 2015) unterstreicht. 12 Vidal hat sich dem Kampf gegen castellanismes verschrieben und dazu auch ein Schwierigkeitenwörterbuch ( diccionari de dubtes ) publiziert (Vidal 12 Vidal propagiert damit die Konzeption von gesellschaftlicher Zweisprachigkeit bzw. Diglossie als Sprachkonflikt, wie sie die katalanische Soziolinguistik in der Folge Aracils (1965) prägt. Demnach mündet diese zwangsläufig in die Ersetzung ( substitució ) der dominierten Sprache. Die Unabhängigkeit Kataloniens wird bzw. wurde in dieser Per- <?page no="124"?> 124 Felix Tacke (Bonn) 2012), das ‚eigensprachliche‘ Lösungen für Interferenzen aufzeigt, zu denen es aufgrund des „contacte massa íntim amb el castellà“ (Klappentext) komme. Damit stellt sich Vidal in eine lange Tradition (s. u.), die im Kern noch immer nach demselben, aus der Appendix Probi bekannten Muster (hier invertiert: ‚ Y; us correcte: X ‘), funktioniert. 13 Die durch Interferenzen charakterisierte Sprache bezeichnet er mit dem mot-valise catanyol . Dieser Sprachgebrauch gefährde das Katalanische gerade auch deswegen, weil er verdeckt sei: „Allò que fa més mortífer el catanyol és la invisibilitat de la invasió“, wie Vidal - wiederum die Todesmetaphorik bemühend - in einem Interview meint (Mora 24. 01. 2013). Es überrascht nicht, dass es nach wie vor die Kommunikationsmedien sind (von der Presse über den Rundfunk bis hin zu Twitter), denen vorgeworfen wird, ein korrumpiertes ‚kastilisiertes‘ Katalanisch zu verbreiten. Tatsächlich bedingt der geringe sprachliche Abstand zum Kastilischen, dass Interferenzen in vielen Fällen kaum ‚sichtbar‘ sind, Übernahmen gewissermaßen ad hoc möglich und phonetisch wie morphologisch anpassbar sind. Ein Resultat sind - um nur ein Beispiel zu nennen - Substantive, die von den Sprechern zwar morphologisch ‚katalanisiert‘ wurden, gleichwohl aber eben nicht ‚genuine‘ katalanische Wörter darstellen. Diesen letztlich kognitiv begründbaren Vorgang der unbewussten Übernahme beschrieb bereits Pompeu Fabra in seinen berühmten Converses filològiques : El català parlat, prenent per model els nombrosos casos en què els dos mots corresponents castellà i català no es diferencien sinó en la presència o en l’absència de la o final (per exemple, oro i or , plomo i plom ), ha practicat espontàniament l’omissió de la terminació o en molts dels manlleus fets al castellà. Aquesta catalanització ha donat naixença a una multitud de mots híbrids, que solament tenen de català la terminació, tals com hermós , ditxós , deshauci , acorassat (Fabra 2011, 138 [19. 11. 1919]). Das Vorgehen gegen diese ‚spontane‘ Übernahme von sprachlichem Material, aber auch gegen seit langem etablierte castellanismes , ist eines der Leitmotive der an Fabra anknüpfenden Sprachpflege (vgl. Brumme 2006, 1492). Denn in der Interferenz wird eine Gefahr für den geni de la llengua gesehen, weshalb castellanisme mit barbarisme gleichgesetzt wird. 14 Als Barbarismen gelten dabei sämtliche ‚Fremdeinflüsse‘: von der Phonetik und Prosodie über die Morphologie spektive auch als ‚Rettung‘ des Katalanischen betrachtet (vgl. z. B. Ortega 01. 02. 2015 und 05. 02. 2015). 13 S. dazu auch das französische Schwierigkeitenwörterbuch Ne dites pas … Mais dites von Le Gal (1948). 14 Der Begriff des geni bezieht sich auf den besonderen Charakter des Katalanischen und ist der in Frankreich seit dem 17. Jahrhundert bekannten Tradition ( génie du français < lat. genius ) entlehnt (vgl. die Begriffsgeschichte in Haßler 2009). <?page no="125"?> Die katalanische Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts 125 und Lexik (einschließlich ‚fremder‘ Bedeutungen) bis zur Syntax und Pragmatik (z. B. ‚Gesprächswörter‘). Während Barbarismen grundsätzlich im Einklang mit dem antiken, von Quintilian erstmals systematisch entfalteten Begriff nach wie vor als vitium , d. h. als Verstöße gegen die Sprachrichtigkeit ( latinitas ) und die Idiomatizität ( puritas ), definiert werden, hat sich der Anwendungsbereich des Begriffs speziell in der Praxis der katalanischen Sprachpflege auf castellanismes eingeengt. In der Opposition ‚eigen‘ vs. ‚fremd‘ wird Sprachrichtigkeit vor allem als eine puritas verstanden, deren Ideal ein von Fremdeinflüssen ‚reines‘ und ‚genuines‘ Katalanisch ( catalanità ) darstellt. 15 Ludwig / Schwarze (2006) unterscheiden diesbezüglich sinnvoll zwischen einem Stilpurismus und einem erst in den romanischen Sprachen sich herausbildenden Fremdpurismus, der „kulturidentifikatorisch motiviert [ist]“ (ebd., 28). Letzterer prägt, wie ich nachstehend zeigen möchte, den katalanischen ‚Reinheitsdiskurs‘ in besonderem Maße. 2.2 Die llengua genuïna als Motiv der Sprachkritik Während die Geschichte der depuració des Lexikons in Form von Barbarismentraktaten bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht, wird sie erst seit der Renaixença im 19. Jahrhundert mit einigem Fanatismus und eingebettet in einen nationalistischen Kontext betrieben. Der Fanatismus spiegelt sich dabei in der Tatsache wider, dass in vielen Werken zunächst noch ohne jede philologische Fundierung selbst gegen Phänomene gewettert wurde, die - wie Joan Solà (1977/ 2 1985) in einer detaillierten Studie nachzeichnet - „ben sovint eren fantasmes“. In der Rückschau bezeichnete Fabra diese als catalanitzadors a ultrança , gingen sie doch so weit, Teile des Erbwie des Buchwortschatzes als castellanismes zu stigmatisieren und durch (pseudo-)katalanische Äquivalente zu ersetzen. 16 Iro- 15 Zum Begriff des Barbarismus bzw. der Barbarolexis im Rahmen der latinitas s. Lausberg ( 3 1990, § 475-478) und, für eine Begriffsgeschichte, Erlebach (1992). 16 Zum Erbwortschatz vgl. z. B. Fabra (2011, 581 [24. 04. 1924]): „Diferents vegades havem tingut ocasió de parlar del fenomen curiós que consisteix en la producció, sota la influència espanyola, de formes més dissemblants de les espanyoles que les formes genuïnament catalanes. Paral·lelament a dent en front de diente , pierde en front de perd , etc., ha estat possible de crear un ambent en front de ambiente (la forma correcta és ambient ). […] Una cosa anàloga ocorre amb la supressió de la n final: el fet de correspondre’s pan i pa , camino i camí , etcètera, ens empeny a suprimir la n final en tots els mots savis corresponents a mots espanyols acabats en n o no .“ S. auch Fabra (2011, 783 [24. 01. 1928]): „La voluntat que ha posat la gent, a vegades, a substituir expressions perfectament catalanes (per exemple, gràcies ) per d’altres que els han semblat més catalanes ( mercès ), seria indubtablement més ben esmerçada combatent expressions que realment són castellanismes […].“ <?page no="126"?> 126 Felix Tacke (Bonn) nischerweise betraf diese ‚Hyperkatalanisierung‘ sogar das Wort barbarisme , das durch * barbrisme ersetzt werden sollte. 17 Nun ist bestens bekannt, welche Rolle das Katalanische als nationales Symbol in den politischen Bestrebungen der Generalitat einnimmt (vgl. Lebsanft 2000; Süselbeck 2006). Die llengua pròpia wird dabei diskursiv als autochthone Sprache in den Vordergrund gerückt, als „testimoni de la fidelitat del poble català envers la seva terra i la seva cultura específica“, 18 wie es im Normalisierungsgesetz von 1983 heißt. In Abgrenzung zu Spanien dient das Katalanische somit dem Ausdruck der Territorialität der Katalanen, die mit ihm ihren privilegierten Anspruch auf das Gebiet begründen und diesen zu verteidigen versuchen, wie man nicht zuletzt an der aggressiven Sprachgesetzgebung seit der Transición und den zahlreichen Konflikten vor den obersten Gerichten nachvollziehen kann (dazu ausführlich Tacke 2015, 285-303). Der Begriff der Autochthonie stammt aus der griechischen Antike, wo er bereits instrumentalisiert wurde, um das Volk der Athener, deren mythischer König Erechtheus der Legende nach ‚dem Boden entsprungen‘ war, als ‚erdgeborenes‘ Volk gegen einwandernde Völker einzuschwören (vgl. Rosivach 1987). Damals wie heute konstituiert sich der Begriff durch die Opposition einer mit dem Gebiet verknüpften Identität gegenüber zuwandernden Alteritäten (vgl. Tacke 2015, 97-100). Autochthonie wird damit zum wichtigsten Motiv und zur Legitimationsquelle von Territorialität, d. h. von Revierverhalten, das sich bezogen auf Sprache in dem Ziel erkennen lässt, diese als gruppenspezifische Norm zu etablieren (vgl. ebd., 106-120). So strebt die Generalitat seit Jahrzehnten an, das Kastilische aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen, wovon nicht zuletzt die exklusive Verwendung einsprachiger Beschilderung ( linguistic landscape ) zeugt. 19 17 S. dazu Fabra (2011, 820 [04. 04. 1907] und 862 [21. 12. 1907]). In morphologischer Hinsicht wurde so auch die Nominalendung -o und mit ihr alle Wörter, die sie kennzeichnete, als verdächtig betrachtet, bis Joan Coromines (1971) in einer ausführlichen Studie nachwies, dass sie auch im Katalanischen ‚genuin‘ sein kann, wenngleich sie seltener vorkommt als im Kastilischen. 18 Llei 7 / 1983, de 18 d’abril, de normalització lingüística , Diario Oficial de la Generalitat de Catalunya (DOGC) 322, 22. 04. 1983. 19 Zu einer Analyse der Strategien während der Olympischen Spiele von 1992 s. DiGiacomo (1999). Dabei manifestiert sich das sprachbezogene Territorialverhalten (vgl. Tacke 2015, Kap. 5) nicht nur auf der Ebene der öffentlichen Politik und Gesetzgebung, sondern äußert sich auch individuell, wie die folgende „denúncia“ des Schriftstellers Jaume Cabré verdeutlicht: „Vull […] fer una queixa pública d’un fet preocupant, referit a TV3. […] Per què TV3 i de vegades el Canal 33 es passen un quart o vint minuts parlant en castellà? […]. Per què la Direcció de TV3 no reacciona? És que ja li està bé? És que forma part de la recerca de l’audiència al preu que sigui? Mantenir aquest criteri és situar-se en una actitud lingüísticament suïcida“ (Cabré 2000, 237). <?page no="127"?> Die katalanische Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts 127 Zwar existiert umgekehrt auch die Tendenz, katalanische Einflüsse auf das Spanische abzulehnen, 20 wie Lebsanft (1995a) zeigt, doch schreibt sich diese in das Streben nach einer Sprachverwendung ein, die frei von ‚Sprachmischung‘ und Regionalismen sein soll, 21 weit weniger in einen nationalistisch eingebetteten Abgrenzungsdiskurs. Allerdings kommt es gelegentlich zu ‚Gegenbewegungen‘, die als Reaktion auf die offensive Politik Kataloniens zu verstehen sind. In diesem Sinne ist etwa das Manifiesto por una lengua común von 2008 zu verstehen (vgl. Tacke 2015, 300-303). Auf der Ebene der Sprachkritik spiegelt sich ein ähnliches Verhalten etwa in der Polemik gegen die als politisiert empfundene Verwendung der katalanischen Varianten der Ortsnamen (z. B. Catalunya statt Cataluña ) in spanischen Texten wider, wie dies die Leserbriefe der Anfangsjahre von El País dokumentieren (s. Lebsanft 1990). In Katalonien manifestiert sich das Autochthonie / Allochthonie-Raster dagegen in aller Deutlichkeit vom politischen Diskurs bis in die linguistische Betrachtung, der es um die Ermittlung des Status eines Wortes als ‚genuin‘, d. h. ursprünglich katalanisch, oder kastilisch geht. In diesem größeren soziopolitischen Zusammenhang ist insofern auch die tief verwurzelte Tradition zu betrachten, kastilische Einflüsse per se als Barbarismen zu bewerten, die es zu vermeiden und sprachkritisch zu stigmatisieren gilt. 22 Hier nimmt sich auch das Wirken Pompeu Fabras nicht aus, sondern stellt vielmehr den Beginn eines philologisch fundierten Vorgehens in Überwindung der catalanitzadors a ultrança dar. So betont dieser gleich in seinem ersten, später als Nr. 1 zu den Converses filològiques gezählten Artikel unter dem Titel „Per la puresa de la llengua. Els castellanismes“ mit Blick auf die neu zu konstituierende Literatursprache: L’obra de redreçament del català literari és sobretot una obra de descastellanització 23 i en la majoria dels casos és la llengua antiga que ens dóna el mot o el gir amb què cal reemplaçar el mot o el gir castellà (Fabra 2011, 137 [18. 11. 1919]). 20 Zu der in Katalonien gesprochenen Varietät des Kastilischen s. Sinner (2004). 21 In diesem Sinne ist das Libro de redacción der Tageszeitung La Vanguardia bemüht, insbesondere bei ‚unsichtbaren‘ Lehnbedeutungen, „den ‚Reichtum‘ autochthoner [= kastilischer] Sprachmittel vorzuführen“ (Lebsanft 1995a, 261). Insgesamt gilt der Purismus in der heutigen spanischen Sprachkultur jedoch als verpönt, wie Lebsanft (1997, 29) festhält. 22 Der Sprachkritiker Pau Vidal (17. 08. 2002) räumt in einer Kolumne für El País unter dem Titel „Muerte por mestizaje“ ein, dass „la contaminación que ha ahogado el idioma no proviene sólo del español, aunque sí mayoritariamente“. 23 Den politischen Umständen der Franco-Diktatur scheinen die systematischen Veränderungen im Text geschuldet zu sein, welche die Edition von Santiago Pey (Fabra 1954-1956) kennzeichnet. Darin werden (llengua) espanyola und andere Verweise auf das Spanische systematisch zu (llengua) castellana , Verbalformen wie espanyolitzat zu castellanitzat und, wenn es um Reinigung (Ersetzung, Eliminierung) von mots espanyols <?page no="128"?> 128 Felix Tacke (Bonn) Die gesamte Methode Fabras ist darauf ausgelegt, den Status der Ursprünglichkeit zu ermitteln. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Wort schon seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten im Katalanischen üblich ist, denn die ‚Katalanizität‘ eines Wortes sei nur dann gegeben, wenn es un mittelbar aus dem Latein ererbt wurde, wie die folgende Aussage über die lautlichen Unterschiede kastilischer und katalanischer Formen im Rahmen der Betrachtung des Wortschatzes gleichen Ursprungs belegt: Però n’hi ha moltes que solament pot revelar la comparació detinguda de tots els mots catalans i castellans d’origen comú; i aquestes han d’ésser tingudes en compte com aquelles per concloure si una forma és genuïnament catalana o ens ha pervingut del llatí a través del castellà (Fabra 2011, 156 [08. 12. 1919]). In Bezug auf Phraseologismen spricht Fabra sogar ganz explizit von der Bedrohung kastilischen Einflusses, den es zu bekämpfen gilt: Com s’ha fet i continua fent-se amb els mots, convé que es faci una revisió de les frases fetes i de les expressions formulàries. Una expressió pot estar constituïda per mots, tots ells ben catalans, una fórmula pot recórrer a una paraula ben catalana, i no ésser pas genuïnament catalana , i llavors és evident que, per lògica que sigui, cal combatre-la si ve a posar-se en concurrència amb una expressió o fórmula catalana amenaçant de fer-la desaparèixer (Fabra 2011, 783 [24. 01. 1924]; meine Hervorhebungen). 24 Das von Fabra begonnene Programm der descastellanització gilt mit Einschränkungen bis heute. Weiterhin erscheinen diccionaris de dubtes , die vornehmlich vor kastilischem Einfluss warnen, wie das von Vidal (2012), der in seinem Kampf gegen das català que ara es parla allerdings vorgibt, dieser sei nicht ideologisch geprägt: 25 Que ningún escandalizable se escandalice por lo de la genuinicidad [ sic ] . En filología, que no es un arma de combate sino una ciencia, el término genuino no tiene la menor connotación ideológica: sirve para distinguir lo que es propio de lo que no lo es (Vidal 17. 08. 2002). geht, zu mots forasters verändert. Entsprechend liest man an dieser Stelle, es gehe um eine „obra d’eliminació d’elements no catalans“. 24 Hier ziehen auch die als flexibel geltenden Kommunikationsmedien die Grenze der Zulässigkeit, wie unten am Beispiel von *donar-se compte diskutiert wird (Abschnitt 5.3). 25 Zur Ideologie der Sprachreinigung in der Sprachpflege s. auch Schmitt (1996). Ähnlich explizit verteidigt Grijelmo (2004, 98) die ‚Reinheit‘ des Spanischen: „Por eso le [= el genio del idioma] molestan los extranjerismos a los que corresponde un equivalente al español: por que pisan las palabras autóctonas hasta secarlas“. <?page no="129"?> Die katalanische Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts 129 In diesem Sinne wird auch die Kodifizierung der katalanischen Literatursprache vom IEC fortgesetzt und auffällig zurückhaltend erneuert, wie beispielsweise daran deutlich wird, dass typische Schibbolethwörter wie àdhuc , die das archaisierende Modell Fabras kennzeichnen, nach wie vor als léxic comú im Wörterbuch stehen ( DIEC , s.v.). Fabra selbst hatte als Leiter der Oficines Lexicogràfiques im Jahr 1932 das erste normative Wörterbuch, den Diccionari general de la llengua catalana ( DGLC ), publiziert, das in der Präambel der Statuten des IEC noch heute als Aushängeschild der Kodifizierungstätigkeit genannt wird. 26 Dessen zweite Ausgabe von 1954 wurde erst nach der Transición vom Gran diccionari de la llengua catalana der Enciclopèdia Catalana ( GDLC ) abgelöst, der eine Aktualisierung und große Erweiterung von Fabras Werk darstellte. Schließlich publizierte das IEC , 1991 per Gesetz zur ‚sprachlichen Autorität‘ erklärt, 27 im Jahr 1995 seinen Diccionari de la llengua catalana ( DIEC ), der ebenfalls explizit auf Fabras DGLC basiert, jedoch - ohne Nennung - auch große Teile des GDLC übernahm (für eine detaillierte Kritik s. Esteve et al. 2003). Die zweite, auch online verfügbare Ausgabe des DIEC ( 2 2007) gilt als das aktuelle normative Wörterbuch (vgl. Bernal [im Druck]). 28 2.3 Die llengua literària als normatives Korrektiv? Während das IEC heute daran arbeitet, die llengua estàndard zu modernisieren, verwendete Fabra selbst beinahe ausschließlich den Ausdruck llengua literària . 29 Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Prager Linguistik, die auch den Begriff der Sprachkultur prägte, ist die Gleichsetzung von sprachlicher Norm und Literatursprache sowie deren Fokussierung als Ausweis (auch) politischer Autonomie wenig überraschend. 30 So schreibt sich die „obra de redreçament del català literari“ als Projekt einer ‚Nationalphilologie‘ schon damals in einen nationalistischen Kontext ein, was nicht zuletzt die zeitlichen Zusammenhänge - der DGLC erschien im selben Jahr (1932), in dem das Katalanische kooffiziellen Status in Katalonien erhielt - deutlich machen. Wie Argenter (2011, 32-35) 26 Estatuts de l’Institut d’Estudis Catalans , Diari Oficial de la Generalitat de Catalunya (DOGC), Nr. 3393, 22. 05. 2001, 7479-7480. 27 Llei 8 / 1991, de 3 de maig, sobre l’autoritat lingüística de l’Institut d’Estudis Catalans , Diari Oficial de la Generalitat de Catalunya (DOGC), Nr. 1440, 08. 05. 1991, 2412. 28 Änderungen wurden seither in einem Neudruck (2009) sowie in der Onlineausgabe in den Jahren 2011, 2013 und 2015 vorgenommen (http: / / dlc.iec.cat/ esmenes.html, 26. 02. 2016). 29 Der Ausdruck llengua estàndard findet in seinen Converses filològiques nur einmal Verwendung (s. Fabra 2011, 895 [23. 06. 1923]). 30 Zum Begriff der Literatursprache und der Sprachkultur in der Prager Linguistik vgl. die Beiträge in Scharnhorst / Ising (eds.) (1976-1982). Zur Kontextualisierung von Fabras Kodifizierungsarbeit in diesem Zusammenhang s. Argenter (2011, 16-24). <?page no="130"?> 130 Felix Tacke (Bonn) herausarbeitet, ging es Fabra zwar um die Kodifizierung einer modernen Literatursprache, doch lag der Schwerpunkt weniger auf dem Aspekt der Erneuerung (v. a. der Lexik), als auf der Konsolidierung einer eigenständigen Nationalsprache: Si haguéssim de creure les manifestacions explícites de Fabra, si realment el ‚redreçament‘ equivalia a ‚descastellanització‘, cal situar el seu concepte d’estandardització - en la fase codificadora - en línia amb aquesta segona perspectiva [de la ‚purificació‘ de la llengua; F. T.]. La ‚depuració‘ - el terme que Fabra emprava de preferència - era part substancial de l’elaboració d’una llengua apta per a les necessitats de la vida moderna (Argenter 2011, 33). Standardisierung als Streben nach der llengua genuïna , das vom IEC bis heute in seinen Grundzügen fortgesetzt wird, erfüllt dabei ganz im Sinne der Funktion des antiken Autochthoniebegriffs una funció interna, cohesionadora o unificadora , en relació amb el grup i una funció externa, separadora , en relació amb altres grups veïns. La necessitat d’individuació lingüística exigeix aquest procés de diferenciació - no és, doncs, cap arbitrarietat en relació amb l’objectiu perseguit (Argenter 2011, 35). Dass gerade die Literatursprache im Zentrum des Bemühens stand, ist nur unter den Bedingungen der Sprachverwendung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nachvollziehbar. Ohne eine mit der heutigen Situation vergleichbaren Konkurrenz massenmedialer Normen und im Kontext des katalanischen Nationalismus konnte die Literatursprache als normatives Korrektiv auch auf die gesprochene Sprache wirken. Brumme (2006, 1491) bezeichnet die Umstände entsprechend als „clima favorable a la unificación, modernización y depuración del catalán“ und auch Fabra selbst attestierte dem Bemühen um depuració in einem Rückblick auf die Vorkriegszeit spürbaren (d. h. hörbaren) Einfluss auf die Umgangssprache: […] la llengua parlada havia millorat considerablement sota la influència de la llengua escrita, gairebé neta de castellanismes: a Barcelona sentíem ja a molts parlar un català molt més pur que el de vint anys endarrera, i hom podia gloriejar-se amb raó de l’aptitud sorprenent que tenia el català parlat per assimilar-se les innovacions operades en la llengua escrita (Fabra 2011, 944 [13. 11. 1946]). Angesichts dieser Beobachtungen konnte Fabra sich also noch durchaus bestärkt fühlen, an seiner Konzeption von Kodifizierung als Reinigung festzuhalten. Die Tendenz der Alltagssprache, sich an der Literatursprache zu orientieren, wurde damals, so freute sich Fabra, sogar von ausländischen Sprachwissenschaftlern anerkennend konstatiert („se’n meravellaven“) und lud somit dazu ein, „a pros- <?page no="131"?> Die katalanische Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts 131 seguir l’obra de depuració de la llengua escrita sense témer que això ens pogués dur a un allunyament massa fort entre aquesta i la llengua parlada“ (ebd.). Die Sorge vor einer zu großen Distanz zwischen geschriebener und gesprochener Sprache konnte daher vernachlässigt werden und legitimierte für Fabra die rückwärtsgewandte Orientierung der descastellanització , wenn er von der „necessitat de recórrer abundosament a l’arcaisme“ (2011, 138 [18. 11. 1919]) sprach. Hieraus ergibt sich im Resultat der archaisierende Charakter der Kodifizierung Fabras und im Kern auch die Kritik an dessen Fortsetzung durch das IEC . Der Bürgerkrieg, mit Fabras Worten „un malastre que ens privaria del goig de veure consolidar-se i difondre’s els guanys obtinguts“ (2011, 944 [13. 11. 1946]), verdrängte allerdings das Katalanische für lange Zeit in den Bereich der Mündlichkeit. Nach Francos Tod bedurfte die Sprachkultur in einer Situation, in der sich die Kluft zwischen der Literatursprache und dem català que ara es parla deutlich vergrößert hatte, einer Neukonfiguration. Symptomatisch ist dafür bereits die an der Tageszeitung Avui Anfang der 1980er Jahre für ihr archaisch wirkendes Sprachmodell geübte Kritik, bevor 1986 die Dichotomie català heavy vs. català light geprägt wurde, um die (scheinbar) unvereinbare Distanz zwischen der Literatursprache und dem realen Sprachgebrauch zu bezeichnen (s. dazu Kailuweit 2002). 3 Sprachkultur der dubtes Während die katalanische Normalisierungspolitik in den letzten Jahrzehnten beachtliche Erfolge erzielt hat, gilt die Frage der Sprachnorm weiterhin als ungelöstes Problem. 31 Die Kritik derjenigen, die für eine deutliche Abgrenzung vom Kastilischen eintreten - nicht selten übrigens aus dem politischen Lager der independentistes , wie der eingangs zitierte Pau Vidal 32 -, richtet sich in erster Linie gegen die omnipräsenten Kommunikationsmedien, deren Sprachgebrauch die Integration von (nicht nur lexikalischen) castellanismes beschleunige. Die konkurrierenden Sprachmodelle und grundsätzlich unterschiedlichen Bewer- 31 Die Daten zur Schreibkompetenz demonstrieren, dass die seit den 1980er Jahren Heranwachsenden zur Wiederbelebung des Katalanischen als Kultursprache deutlich beitragen, so sind 81 % der 15-29 Jährigen in der Lage, Katalanisch zu schreiben, wohingegen ältere Generationen das Katalanische als Schriftsprache größtenteils nicht kennen. Gleichzeitig muss allerdings berücksichtigt werden, dass über 95 % mit dem Kastilischen in Wort und Schrift vertraut sind oder es gar besser beherrschen (vgl. Idescat 2011). 32 So wird es etwa in einem Interview deutlich, das Rudolf Ortega (05. 02. 2015) mit ihm geführt hat. Vgl. auch die Darstellung der Positionen in der Chronik vom 1. Februar 2014 (Ortega 01. 02. 2015). <?page no="132"?> 132 Felix Tacke (Bonn) tungen dürften insofern eher zur Verunsicherung der nach einer Richtschnur suchenden Sprachbenutzer und damit zu einer generellen Situation der insécurité linguistique beigetragen haben. 33 Im sprachnormativen Werk des IEC ist eine solche Orientierung kaum gegeben, zu groß ist die Diskrepanz zwischen kodifizierter Norm und sprachlicher Realität. So stellt der valencianische Lexikograph Josep Lacreu (2000, 250) fest: […] la bretxa que separa el parlar habitual del codi normatiu encara té uns efectes molt més perniciosos, en la mesura que molta gent se sent dissuadida d’usar el català perquè creu que no el domina, i per a utilitzar-lo ‚incorrectament‘ prefereix fer servir el castellà - sobretot en determinats àmbits públics i a l’hora d’escriure. Die Klage über die mangelnde Beherrschung des Katalanischen stellt ein durchgehendes Motiv im sprachkulturellen Alltag dar. Symptomatisch ist dafür beispielsweise die Fernsehshow El gran dictat auf TV 3, in der sich eine eigene Sektion dem ‚sprachlichen Fehler‘ widmet: In „El català incorrecte“ müssen die Kandidaten Barbarismen und andere Fehler aufdecken. Die Zuschauer sind dazu aufgerufen, inkorrekte Beschilderungen, Werbung etc. zu entdecken und per Foto einzusenden („Envia’ns fotos amb errades lingüístiques“). 34 In einem Interview mit El País gibt sich ein 2014 als „millor concursant“ gefeierter Gewinner der Spielshow bezeichnenderweise besonders besorgt um das Katalanische („M’alarma que alguns polítics s’expressin tan malament en català“), nachdem die Interviewerin selbst kundgegeben hatte, Ohrenschmerzen („em fan mal les orelles“) zu bekommen, wenn bestimmte Politiker oder Unternehmer sich im Fernsehen auf Katalanisch äußerten (Rocabert Maltas 23. 11. 2014). Kritisiert werden auch Schriftsteller. So meint Joan F. Mira (2000, 239), selbst Schriftsteller und Mitglied des IEC , „que la major part dels escriptors, o sigui, d’aquells que habitualment es dediquen a escriure, i dels que es dediquen a comunicar el que sigui, no en saben [de llengua]”. Darüber hinaus stellt Rudolf Ortega, Autor der wöchentlich in der katalanischsprachigen Ausgabe von El País erscheinenden Sprachchronik Brou de llengua 35 , fest, dass das Gefühl sprachlicher Unsicherheit selbst ‚Experten‘ betrifft: La feina de lingüista, d’assessor lingüístic, de corrector de textos, se n’ha dit de moltes maneres segons el moment i els fums de cadascú. I coincidíem en una sensació que, 33 Das Konzept der insécurité linguistique geht auf die Arbeiten William Labovs zurück und wird in der Frankophonie verstärkt seit den 1970er Jahren theoretisiert (vgl. die Beiträge in Francard / Géron / Wilmet [eds.] 1993-1994; für einen Überblick s. Francard 1997). 34 Einzusehen auf den Seiten von TV3 (http: / / www.ccma.cat/ tv3/ el-gran-dictat, 28. 02. 2016). 35 Zum Katalanischen und zur Sprachchronik von Rudolf Ortega in El País vgl. Tacke (im Druck). <?page no="133"?> Die katalanische Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts 133 com més va, cada cop és més intensa i que, temo molt, serà difícil de corregir: de llengua, cada cop en sabem menys (Ortega 04. 10. 2014). Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass Mira (2000, 239) in der ‚Wir- Form‘ einräumt, „els catalanoparlants en general […] anem per la vida una miqueta acomplexats”. Die dubtes , „pràcticament il·limitats i fins i tot imprevisibles“, wie Joan Solà (1995, 7) in der Einleitung eines Stilbuchs schrieb, sind folglich tief verwurzelt in der katalanischen Sprachkultur und stellen gerade bezogen auf die Verwendung von Ausdrucksformen, die vermeintlich oder tatsächlich auf kastilische Interferenzen zurückgehen, eine besondere Herausforderung für die Sprachberatung dar. Dabei dürfte sich gezeigt haben, dass weder eine simple Einteilung in ‚richtig‘ und ‚falsch‘, noch die allgemeine Tolerierung jedes castellanismes für die Sprecher akzeptabel ist. 36 Ortega (s. o.) zufolge hat das IEC es mit seiner rigiden Sprachnorm versäumt, „a encapsular el català en uns paràmetres definits, confortables“. Es bleibt die Frage, wie viel Toleranz in einem modernen Sprachmodell sinnvoll ist. Kailuweit (2002, 177) stellt diesbezüglich mit Recht fest, dass selbst eine tolerante Normkonzeption Orientierung bieten muss, damit sie funktionieren kann: […] és evident que la tolerància ha de tenir els seus límits i una proposta normativa deixa d’ésser tal proposta si no explica clarament les diferències estilístiques entre dues paraules i les situacions comunicatives a les quals corresponen. 4 Wörterbücher, diccionaris de dubtes und llibres d’estil: „Ve’t ací el llibre imprescindible“? Wie aus einer Ankündigung des DGLC Fabras der einst berühmten Barceloneser Buchhandlung Llibreria Catalònia aus dem Jahr 1932 hervorgeht, ging es schon damals darum, dem zweifelnden Sprachverwender Orientierung zu bieten. In dem selbstbewussten Text des von der Buchhandlung selbst verlegten Wörterbuchs heißt es: Ve’t ací el llibre imprescindible en les circumstàncies actuals: redactat pel nostre màxim prestigi en la matèria, i amb la col·laboració del [ sic ] membres més eminents de 36 So räumt auch der Leiter der Sprachberatung von ésAdir (vgl. unten) rückblickend ein, dass „s’havia de fer una flexibilització, però avui dia molta audiència preocupada per la llengua, quan sent vivenda , pensa que és una incorrecció“ (zitiert bei Ortega, 10. 02. 2016). <?page no="134"?> 134 Felix Tacke (Bonn) l’Institut d’Estudis Catalans, és l’únic que té categoria oficial i que pot resoldre tots els dubtes. 37 Die Logik dahinter war freilich dieselbe wie die dem Wörterbuchverweis bei Scrabble zugrunde liegende: Besteht ein Zweifel, ob ein verwendetes Wort korrekt bzw. katalanisch oder womöglich ein unzulässiger castellanisme ist, hilft das Wörterbuch, denn was nicht enthalten ist, gehört nicht zum ‚guten‘ Katalanisch. Entsprechend schließt Fabra in seinem Vorwort zur ersten Ausgabe explizit „els castellanismes i tots altres mots jutjats avui inacceptables“ aus seiner Makrostruktur aus, handele es sich doch um ein normatives Wörterbuch, in dem die Aufnahme solcher Wörter podria semblar un encoratjament a usar-los, cosa ben perillosa en els moments actuals en què molts, desitjosos de millorar llur català, van a la recerca del mot estrany amb què reemplaçar l’habitual, sia aquest bo o dolent ( DGLC 1 1932/ 6 1974, X). 38 Im vorangehenden Abschnitt ist bereits deutlich geworden, dass die in der Ankündigung und in Fabras Wörterbuch evozierte schwierige Lage der katalanischen Sprachkultur („circumstàncies“ bzw. „moments actuals“) mindestens im selben Maße auch heute gilt, glaubt man deren Vertretern. Bemerkenswert ist auch, dass Fabra bei der Definition seiner Zielgruppe klar zwischen Laien und Experten unterschied. Es sei eben nicht für Linguisten geschrieben („no és escrit tenint en vista llurs investigacions“, 6 1974, X), vielmehr hatte Fabra explizit den ‚gewöhnlichen‘ Sprachbenutzer und dessen Psychologie im Blick; das Wörterbuch habe nämlich, so heißt es weiter, „el millorament de la llengua escrita i la seva difusió entre la massa parlant catalana“ (ebd., X f.) zum Ziel, wobei den ‚sprechenden Massen‘ offenbar eine differenzierte Betrachtung von Wörterbucheinträgen nicht zugetraut wurde. So erschöpfen sich die Möglichkeiten der Orientierung im klassischen Konzept des normativen Wörterbuchs im Prinzip der Exklusion, wenn es um die Bewertung von durchaus gängigen kolloquialen Wendungen und, vor allem, von castellanismes geht. Daraus erklärt sich der stetige Bedarf und die Popularität von Schwierigkeitenwörterbüchern, den sog. diccionaris de dubtes , die an der Schnittstelle zwischen Grammatik und Wörterbuch klare Richtlinien ausgeben. So attestiert Lebsanft (2002, 122) der katalanischen Sprachkultur „ein reiches dianormatives und diaintegratives 37 Die Ankündigung kann neben anderen als Abbildung in dem Blog Gazophylacium. Bloc amateur sobre lexicografia catalana i altres lletraferidures (http: / / lexicografia.blogspot. de/ 2007/ 12/ , 29. 02. 2016) eingesehen werden. 38 S. dazu auch die Erläuterung von Carles Riba im Vorwort zur 2. Auflage des DGLC ( 2 1954), der auf die Gefahr hinweist, die ein auch castellanismes listendes deskriptives Wörterbuch wie der DCVB auf den nicht-geschulten Verwender ausübt. <?page no="135"?> Die katalanische Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts 135 Schrifttum“. Ebenso wie in der neueren Texttradition der llibres d’estil (< engl. stylebooks 39 ) wird hier die Lücke der positivistisch vorgehenden normativen Lexikographie und der für den Laien weniger zugänglichen Grammatiken geschlossen. Dass die katalanische Sprachkultur in diesem Bereich eine besonders umfangreiche Produktion von Werken aufweist, die zeigen, was aus dem ‚guten‘ Sprachgebrauch auszugrenzen ist, unterstrich 2009 der Philologe Joan Solà im Rahmen seiner vielbeachteten Rede vor dem Parlament über den (schlechten) Zustand des Katalanischen: „devem ser el poble de la terra que té més tractats de barbarismes i més llibres d’estil“. Dabei fügte er an, was ihm zufolge die Texttradition der stylebooks katalanischen Zuschnitts darstelle: „entre nosaltres llibre d’estil és un eufemisme de tractat de barbarismes i solecismes “ (2009, 105). 4.1 Die ‚offizielle‘ Kodifizierung: „complexa, adreçada als especialistes“ Ähnlich wie dies in der spanischen und in anderen Sprachkulturen der Fall ist, kann es eine einzelne Institution, unabhängig davon, wie anerkannt ihre Autorität in sprachlichen Fragen ist, kaum leisten, den Bedarf an normativer Orientierung allein zu decken. 40 Dies gilt heute in besonderem Maße für das IEC . Teresa Cabré, Präsidentin der Secció Filològica , ist sich dieser Situation freilich bewusst, wie sie anlässlich des Erscheinens eines Buches mit Vorschlägen zur Erneuerung der Norm (Gomà i Ribes [ed.] 2015) zu erkennen gibt. In der Hoffnung, dass die Unzufriedenheit mit der veralteten Kodifizierung nicht eine ähnliche Polemik auslöst wie das 1992 erschienene El barco fantasma (s. dazu Kailuweit 2002), verwies Cabré in einem Interview (Andreu 04. 03. 2015) auf die kurz vor der Fertigstellung stehende normative Grammatik, welche die Grammatik Fabras von 1933 ersetzen soll, bloß um sogleich die Erwartungen wieder einzuschränken, denn diese „serà complexa, adreçada als especialistes“. 41 Eine Grammatik, die dem gewöhnlichen Sprecher als Orientierung dienen könne, 39 Zur Übernahme der angloamerikanischen Tradition der stylebooks in Spanien sowie den ersten libros de estilo der Agencia Efe und El País s. Lebsanft (1995a, 259 f.; 1997, 190, Kap. 6 und 7). Zur neuen Ausgabe des Stilbuchs von El País s. Lebsanft in diesem Band. 40 Die Rolle als sprachliche Autorität der Real Academia Española (RAE) ist zwar mit der des IEC prinzipiell vergleichbar, doch verfügt die sehr viel ältere spanische Akademie über deutlich größere personelle und finanzielle Ressourcen (s. Lebsanft 1997, Kap. 4). Neben der langen Tradition der für den Schulunterricht bestimmten Ausgaben der Akademiegrammatik (den Epítomes und den Compendios , vgl. dazu Fries 1989, 86; Garrido Vílchez 2012), kümmert sich die RAE in den letzten Jahren im Rahmen ihrer „línea divulgativa“ verstärkt um die Bedürfnisse der Laien, der „inmensa mayoría, a todos los hablantes que experimentan dudas e incertidumbres“, wie es im Ankündigungstext des eigenen Schwierigkeitenwörterbuchs El buen uso del español (2013) heißt. 41 Nachtrag: Die neue Grammatik des IEC ist schließlich am 23. 11. 2016, nach Einreichen dieses Aufsatzes, erschienen. Für eine erste Bewertung s. Brumme [im Druck]. <?page no="136"?> 136 Felix Tacke (Bonn) ließe noch etwas länger auf sich warten. Während die Internetpräsenz unter dem Punkt „Diccionaris i vocabularis“ die eigenen Wörterbücher ( DIEC ) sowie den mittlerweile digital inkorporierten deskriptiven DCVB aufführt, heißt es unter „Gramàtica“ bezeichnenderweise: A causa de la finalització de la redacció de la Gramàtica de la llengua catalana i de la preparació de l’Ortografia, els textos de la Gramàtica de la llengua catalana que es podien consultar al web de l’IEC han quedat obsolets i han deixat d’estar disponibles. 42 Der Verlust an normativem Einfluss, den man dem IEC attestieren kann, wird mittlerweile als Problem betrachtet. „L’Institut necessita que entri aire del carrer, que en la planificació dels treballs es tingui en compte allò que prové de la realitat quotidiana de la llengua“, diagnostiziert nun auch Cabré in einem anderen Interview (Ortega 04. 11. 2015) und verweist bemerkenswerterweise auf die neuen ‚diplomatischen‘ Beziehungen zu den Kommunikationsmedien. 4.2 Das Sprachideal der Kommunikationsmedien: „Una eina viva per una llengua viva“ Unter den zahlreichen Stilbüchern und Schwierigkeitenwörterbüchern, welche sich anschicken, die vom IEC gelassene Lücke mit Blick auf die verschiedene Zielgruppen zu schließen, ist die unter dem Namen ésAdir firmierende, im Jahr 2006 gegründete Onlineplattform, welche die früheren Orientierungswerke von TV 3 und Catalunya Ràdio fortführt und erweitert, der gegenwärtig wohl wichtigste und - aus linguistischer Perspektive - auch interessanteste Exponent der massenmedialen Sprachkultur. 43 Dies mag einerseits überraschen, denn das stark an die Seite der spanischen Fundación del Español Urgente ( Fundéu ) erinnernde Portal lingüístic , wie es im Untertitel heißt, stellt den sprachnormativen Ausweis der von der Regierung per Gesetz geschaffenen Corporació Catalana de Mitjans Audiovisuals ( CCMA ) dar. Durch diese Zugehörigkeit, die mit dem Logo der Generalitat noch unterstrichen wird, kommt ésAdir prinzipiell derselbe Grad der Amtlichkeit zu, wie dem 1992 per Gesetz zur sprachlichen Autorität Kataloniens erklärten IEC (s. Anm. 27). Allerdings stellt das Portal ein an den wechselnden kommunikativen Notwendigkeiten orientiertes Stilbuch dar, das zeitnahe Lö- 42 Institut d’Estudis Catalans, http: / / www.iec.cat, unter „Llengua“ (19. 02. 2016). 43 Die Onlineplattform (http: / / esadir.cat) stellt das Llibre d’estil de la CCMA dar, das sich in die drei Teile „Guia editorial“, „Manual d’us“ und „Llengua“ gliedert. Letzterer führt die allgemeinen sprachlichen Richtlinien der ersten beiden Teile sowie das Portal ésAdir , das per Suchfunktion der konkreten Sprachberatung dient und zur Zeit etwa 22 000 sprachbezogene Einträge ( fitxes ) zählt, zusammen. <?page no="137"?> Die katalanische Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts 137 sungen für konkrete Benennungsbedürfnisse bietet. In diesem Sinne ergänzen Sprachberatungen im Stile der spanischen Fundéu traditionell das Normgerüst der Sprachakademien, wie auch der Leiter der Sprachberatungsabteilung der CCMA hervorzuheben versucht, wenn er die Frage, „si el portal de la CCMA està assumint una tasca normativa que no li pertoca“ verneint und Kooperation betont („al contrari, mirem d’anar alhora“) (Ortega 10. 02. 2016). Der Status der Opposition zur normativen Orthodoxie wird implizit jedoch selbst von der Generalitat gesehen, die ésAdir anlässlich des zehnjährigen Jubiläums, das am 25. Januar 2016 zur Bekräftigung der neuen Beziehungen zwischen den Institutionen unter dem Dach des IEC begangen wurde, als „eina viva per una llengua viva“ bezeichnete, welche auch über die eigentliche Zielgruppe der „professionals dels mitjans“ hinaus eine „eina de referència per a qualsevol persona interessada en l’ús de la llengua a la ràdio i a la televisió“ geworden sei. 44 Dabei geht es längst um mehr als den Sprachgebrauch in den audiovisuellen Medien, zumal diese durch die Vielzahl an Sendeformaten und repräsentierten Kommunikationssituationen jenseits der Nachrichtensendungen - varietätenlinguistisch betrachtet - kaum homogen gestaltet sein können. Die Plattform ist zu einer Instanz allgemeiner Orientierung geworden, wenn es darum geht, die Angemessenheit und den sprachnormativen Status einer Form zu überprüfen. So stellt Rudolf Ortega, der selbst mit mehreren an Laien gerichteten Schwierigkeitenwörterbüchern hervorgetreten ist, in seiner Chronik vom 4. Oktober 2014 fest, dass ésAdir mittlerweile zum notwendigen Repertoire des Experten gehört: Al diccionari de l’IEC [= DIEC] hem d’afegir el clàssic d’Enciclopèdia [= GDLC], l’Alcover-Moll (feliçment recuperat per a la xarxa) [= DCVB ], el web del Termcat i, l’última incorporació, l’Ésadir, el portal de llengua de la Corporació de Mitjans Audiovisuals. 45 5 Der normative Diskurs in der katalanischen Sprachkultur: Exklusion-- correctio-- orientació d’ús Betrachtet man den Umgang mit castellanismes in der normativen Lexikographie einerseits und den Stilbüchern der Kommunikationsmedien andererseits, so liegt ein prinzipiell entgegengesetzter ‚normativer Diskurs‘ im Sinne von 44 Generalitat de Catalunya, Llengua catalana , unter „Actualitat“ (http: / / llengua.gencat.cat/ ca/ actualitat), Meldung vom 25. 01. 2016 (29. 02. 2016). 45 Vgl. auch die Bewertung des Journalisten Marc Andreu (04. 03. 2015), ésAdir habe sich „convertit en obra de referència no normativa i de consulta obligada per a tots els qui treballen amb la llengua“. <?page no="138"?> 138 Felix Tacke (Bonn) Berrendonners (1982, 21) „rhétorique de la prescription“ vor. 46 Wie schon angesprochen finden sich, anders als im deskriptiven DCVB , im DIEC in Einklang mit den von Fabra im Prolog seines DGLC explizierten Gründen (s. o., Abschnitt 4) keine castellanismes , da sie als solche von der Kodifizierung des Standardwortschatzes ausgeschlossen werden. 47 In einem Paradigma der Markierungsmöglichkeiten könnte man diese Exklusion als rhetorisch nur implizite Form der Stigmatisierung, als prescription zéro , bezeichnen. Diese wird wiederum von den Stilbüchern sowie von ésAdir in dem Sinne aufgegriffen, dass deren Einträge darüber informieren, ob ein Wort im DIEC verzeichnet wird (s. u.). Damit wird deutlich, dass das Mittel der Exklusion indirekt auch Eingang in den normativen Diskurs der Kommunikationsmedien erhält, insofern für den Benutzer unmittelbar nachvollziehbar wird, wenn unterschiedliche sprachnormative Bewertungen vorliegen. Der Ausdruck la normativa ist im Diskurs der Kommunikationsmedien in der Regel für die präskriptive Norm des IEC reserviert, was die Frage offen lässt, wie die eigene massenmediale Normativität gekennzeichnet wird. Stilbücher greifen dagegen meist auf ein ganzes Repertoire von Markierungsmechanismen zurück. Als Fortsetzer der seit der Frühen Neuzeit bekannten, aber vor allem ab dem 19. Jahrhundert verbreiteten Barbarismentraktate bestehen diese in ihrer Grundform aus einfachen Glossaren, die Sprachformen listen, welche nicht verwendet werden sollen, und bieten meist die als ‚korrekt‘ bzw. ‚genuin‘ betrachtete Entsprechung. Insofern enthalten sie Varianten der antithetischen Formel ‚ non x, sed y ‘, die sich auf die Gegenüberstellung zweier Ausdrücke bezieht, die beide für dieselbe res stehen, jedoch nicht gleichermaßen angemessen sind ( aptum ). In der Rhetorik wird die Formel ‚ non x, sed y ‘ als correctio , als ‚Selbstkorrektur‘, bezeichnet, d. h. sie drückt im Rahmen der Lehre vom Ausdruck ( elocutio ) „die Verbesserung einer eigenen Äußerung, die als unpassend vom Redner selbst erkannt wird oder vom Publikum vielleicht als unpassend angesehen werden könnte“ 48 , aus. Gerade hier hat sich die ‚normative Rhetorik‘ der Medien auch intern in den letzten 20 Jahren weiterentwickelt, wie eine knappe Betrachtung der traditionellen Stilbücher der Tageszeitung Avui 46 Vgl. auch das von Süselbeck (2011, 71-107) mit Blick auf das Sprachideal der spanischen Sprachakademien konzipierte diskursanalytische Modell. 47 Entsprechend heißt es auch in der „Presentació“ des neuen, online zugänglichen Diccionari descriptiu de la llengua catalana (DDLC), „que té per objecte la caracterització de les unitats lèxiques d’una llengua, des del punt de vista del seu contingut i de la seva utilització real“, während ein normatives Wörterbuch „inclou només aquelles unitats lèxiques (mots o expressions complexes) i aquells valors (significats i usos) que són considerats admesos per la normativa lingüística establerta o convinguda“. 48 Lausberg ( 3 1990, § 784, 791). Für eine Begriffsgeschichte von correctio vgl. außerdem Wöhrle (1994). <?page no="139"?> Die katalanische Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts 139 und des Senders TV 3 aus den 1990er Jahren zeigen soll, bevor ich schließlich detailliert auf den aktuellen normativen Diskurs von ésAdir eingehe. 5.1 Avui (1997) Im Llibre d’estil del diari Avui von 1997, für das der lightist Ricard Fité verantwortlich zeichnete, nachdem Avui zu Beginn der 1980er Jahre unter anderem noch von Fité selbst für seinen archaisierenden literarischen Stil kritisiert worden war (Fité 1990, 157; Kailuweit 2002, 171), kommen gleich mehrere Techniken der Sprachberatung zur Anwendung. Die formal simpelsten Formen finden sich hier als Anhänge: Unter „Termes i expressions acceptables“ (249-294) werden zu den fett markierten Lemmata je eine knappe Definition (meist nur synonyme Ausdrücke) und die Information, ob das Wort vom DIEC (1995) lemmatisiert wurde, gegeben. Das Glossar geht insofern über den DIEC hinaus, als nach dem sprachlichen Modell der Zeitung („Model de llengua“, 11-40) mehr Ausdrücke als ‚akzeptabel‘ gekennzeichnet werden, als dies die Norm des IEC vorsah. Unter „Termes i expressions inacceptables“ (241-248) werden dagegen nach herkömmlicher Art solche Ausdrücke als inakzeptabel stigmatisiert, die zwar „d’ús quotidià“ seien, jedoch nicht verwendet werden sollten, „perquè se situen clarament al marge de la normativa i no hi ha raons filològiques que en justifiquin l’admissió al diari“ (241). In Umkehrung der aus der Appendix Probi bekannten Reihung entspricht das im Stilbuch verwendete correctio -Muster ‚ [non] x [sed] y ‘ dabei dem Stil eines Barbarismentraktats: aplaçar ajornar Doch geht das Stilbuch darüber hinaus, denn die Ausdrücke beider Listen werden dem Benutzer in alphabetischer Reihung unter „Vocabulari de dubtes“ (63-229) im Hauptteil des Stilbuchs in ausführlicherer Weise präsentiert. Typographisch werden die Lemmata wiederum fett, Definitionen recte und Beispiele kursiv markiert. Die Sanktionierung eines Ausdrucks als inakzeptabel wird mit dem in der modernen Grammatikographie (dort: ‚ungrammatisch‘) üblichen Asterisken markiert, der gewissermaßen das ‚non‘ symbolisiert. Die normative ‚Rhetorik‘ im Kommentarteil weist teilweise bloß auf ein ‚korrektes‘ Äquivalent hin, gibt in vielen Fällen aber auch Gründe für die Ablehnung (meist die kastilische Herkunft): aplaçar* La forma correcta és ajornar. El concert s’ha ajornat a causa de la pluja . apretar* Barbarisme provinent del castellà. Són formes correctes equivalents: estrènyer (el cinturó), prémer (l’accelerador), picar (una tecla, un timbre; el sol), […] . <?page no="140"?> 140 Felix Tacke (Bonn) avui per avui* Calc del castellà. Expressió equivalent: ara per ara . immediat, d’* Expressió incorrecta en català. La forma genuïna és immediatament . Der in diesem Glossar gelistete Wortschatz enthält freilich nicht nur stigmatisierte castellanismes , sondern auch andere unangemessene Ausdrucksweisen, wie etwa das - trotz seiner „catalanitat inqüestionable“, wie es in Ortegas Sprachchronik (19. 10. 2014) scherzhaft heißt - als kolloquial abgelehnte àrbit („La forma correcta és àrbitre “, 75). Dennoch geht ein Großteil der als ‚inakzeptabel‘ markierten Ausdrücke auf kastilischen Einfluss zurück. Am deutlichsten geschieht dies durch die Angabe castellanisme oder (provinent) del castellà , wobei auffällig ist, dass das Etikett barbarisme nur mit Verweis auf die kastilische Herkunft vorkommt: Barbarismus und Kastilianismus werden also synonym verwendet. Der eigentlich informierende oder beschreibende Terminus castellanisme wird - und dies gilt für den katalanischen Abgrenzungsdiskurs insgesamt (s. Abschnitt 2) - wertend verwendet und stellt damit einen dianormativen Begriff dar. Wie Süselbeck diskursanalytisch am Beispiel der Verwendung von regionalismo in der spanischen Sprachkultur herausarbeitet, ist der Übergang zwischen Beschreibung und Bewertung fließend, denn die Begriffe sind in einen Diskurs eingebettet, der ihre Bedeutung durch die Verwendung in bestimmten Umgebungen beeinflussen kann. Durch den häufigen Gebrauch von ‚regionalismo‘ in negativen Kontexten, z. B. in Zusammenhang mit Forderungen nach der Eindämmung des Gebrauchs der so bezeichneten Sprachformen, kann der Begriff eine Wertung übertragen bekommen (Süselbeck 2011, 83). Im Fall des Etiketts castellanisme ist eine solche Wertung wohl unstrittig. Schließlich sind zahlreiche Ausdrücke nicht explizit in Bezug auf ihre Herkunft markiert, obwohl sie aus dem Kastilischen stammen: So weist der DCVB das nicht gekennzeichnete Verb aplaçar als kastilisches Lehnwort (sp. aplazar ) aus, das erstmals 1893 belegt ist. 49 Der Ausdruck d’immediat wiederum wird nur kontextuell als nicht-autochthon markiert. 5.2 TV3 (1995) Den Stilbüchern der öffentlichen Rundfunkanstalten liegen im Kern die Empfehlungen der sprachberaterischen Tätigkeit der Televisió de Catalunya zugrunde, die durch die 1985 gegründete Commissió de Normalització Lingüística 49 Hinter den Markierungen steckt also möglicherweise ein Muster, nach dem kastilische Lehnwörter nur dann als solche markiert werden, wenn sie in jüngerer Zeit Eingang gefunden haben. Ob hier eine Systematik vorliegt, müsste jedoch eigens untersucht werden. <?page no="141"?> Die katalanische Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts 141 ( CNL ) unter anderem in Form eines Bulletins seit 1988 unter dem Namen „És a dir…“ erschienen und damit bereits den Namen der heute von der CCMA zur Verfügung gestellten Plattform trugen. Um die Entwicklung des normativen Diskurses von ésAdir darzustellen, will ich nachstehend exemplarisch auf das Stilbuch von TV 3 (1995) eingehen, da hier bereits die Grundlinien der heute online verfügbaren Sprachberatung vorgezeichnet sind. Das Stilbuch von TV 3 kommt ohne eine genauere Beschreibung des zugrundeliegenden Sprachmodells aus, nur die „Presentació“ von Francesc Vallverdú, damaliger Leiter der CNL , verweist darauf, dass das Ziel lediglich darin liege, „de satisfer les necessitats específiques i habituals de la llengua en l’àmbit de la informació, cosa que comporta dedicar molta més atenció al català estàndard i els seus nivells que no pas al català col·loquial i els seus registres“ (1995, 6). Dabei hatte sich Vallverdú jedoch schon früher als ‚Liberaler‘ hinsichtlich der Modellierung der Standardsprache bezeichnet, die - ihm zufolge - nur „cultismes i arcaismes minoritaris“ sowie „vulgarismes, castellanismes i col·loquialismes innecessaris“ (ebd.) ausschließen solle. Hier offenbart sich eine für die Kommunikationsbedürfnisse der Medien wichtige, jedoch vornehmlich implizite skalare Sichtweise auf kastilische Einflüsse, denn zwischen dem Konzept des castellanisme innecessari , den es zu stigmatisieren gilt, und einem castellanisme necessari dürfte es Abstufungen geben, die von der situationsabhängigen Angemessenheit bedingt werden. 50 In diesem Sinne sind die dem Abschnitt „Orientacions sobre l’ús d’algunes paraules“ (155-200) vorangestellten Prinzipien auch nur als Tendenzen formuliert, derer zwei in diesem Kontext relevant erscheinen: die „Tendència a la concisió i a la claredat“, unter der die „exclusió d’arcaismes“ empfohlen wird, und die „Tendència a l’ús de formes genuïnes davant de les traduccions literals de certes paraules que en català no volen dir la mateixa cosa que en altres idiomes“ (1995, 155). Was den normativen Diskurs betrifft, so ist dieser weniger präzise als das Stilbuch von Avui , wenn es um die Angabe der Herkunft geht: Die Lemmata werden nicht mit negativ bewertenden Etiketten wie barbarisme / castellanisme gekennzeichnet. Doch werden die Ausdrücke gewissermaßen deskriptiv nach ihrer Verwendung gekennzeichnet, woraus sich implizit zugleich ihr diaphasischer Status und damit eine normative Bewertung ableiten lässt. Wörter, die generell in allen Kontexten verwendet werden können, sind mit dem Etikett „Ús general“ gekennzeichnet; solche, „que en principi no és aconsellable utilitzar en nivell formal de manera sistemàtica“ (ebd.), erhalten das Etikett „Ús restringit“ 50 Während seit dem 19. Jahrhundert ganz im Sinne einer Sprachkritik, der es um die Exklusion von nicht-genuinen Formen geht, gelegentlich der Ausdruck castellanismes innecessaris vorkommt, findet sich castellanisme necessari nur selten und vornehmlich in jüngerer Zeit. <?page no="142"?> 142 Felix Tacke (Bonn) und verweisen auf diaphasisch ‚höher‘ markierte Synonyme. Unter diese zweite Kategorie fallen auch castellanismes wie etwa nòvio, nòvia. Ús restringit. Que festeja o té relacions, xicot, xicota, promès, promesa. No en el sentit de nuvi, núvia. (168) Häufig verwendete „barbarismes“, die „en alguna ocasió han aparegut en emissions de TVC “ (155), jedoch in jedem Kontext zu vermeiden seien, werden dagegen explizit als „No admissible“, zudem mit einem vorangestellten Asterisken und typographisch kursiv gekennzeichnet, sodass der Fettdruck hier stets für Verwendbarkeit reserviert bleibt: * apretar . No admissible. Segons els casos: prémer, pitjar, empènyer, […]. (157) Dieses dreigliedrige Bewertungsraster, das gewissermaßen abstuft von ‚formell‘ über ‚informell‘ bis zu ‚unzulässig‘, entspricht dabei einer moderneren Normkonzeption, die nicht mehr nur nach der Dichotomie ‚richtig‘ und ‚falsch‘ unterscheidet, sondern der ein deskriptiver Normbegriff zugrunde liegt. Damit schreibt sich das Stilbuch bereits ansatzweise in einen sprachnormativen Diskurs ein, der nicht mehr autoritär, sondern vielmehr soziolinguistisch argumentiert und der sich beispielsweise in den normativen Werken der spanischen Sprachakademien, insbesondere dem Diccionario panhispánico de dudas (2005) und der Nueva gramática de la lengua española (2009-2011) durchgesetzt hat (dazu Tacke 2011). 5.3 ésAdir (2006-) Die Plattform ésAdir , welche die Empfehlungen, vor allem in Form von fitxes 51 , verschiedener Rundfunkanstalten zusammengeführt und seit 2006 online verfügbar gemacht hat, 52 übernimmt diese Art des normativen Diskurses, entwickelt ihn jedoch durch präzisere Abstufungen, die jeweils auch erläutert werden, weiter. Die Etiketten werden gleichzeitig benutzerfreundlich mit entsprechender Symbolik kombiniert, wobei zwischen den Extremen „Ús general“ 51 Die Einträge bieten unterschiedlich viele Informationen. Neben den im Folgenden diskutierten Etiketten, finden sich teilweise weitere Angaben, etwa zur Lemmatisierung in anderen Wörterbüchern und, zur Vereinheitlichung der Aussprache von Neologismen und integrierten Fremdwörtern, eine „Pronunciació orientativa“, die zwischen „[català] or[iental]“ und „[català] occ[idental]“ differenziert (s. z. B. die fitxa zu nòvio, -a ). 52 In der „Presentació“ heißt es, die Plattform führe nach der „revisió, unificació i actualització de textos fins llavors dispersos“ die folgenden Stilbücher zusammen: El català a TV3. Llibre d’estil (TV3, 2 1998), Criteris lingüístics sobre traducció i doblatge (TV3, 1997), Orientacions lingüístiques (Catalunya Ràdio, 2001), Llibre d’estil de CCRTV Interactiva (CCRTV Interactiva, 2005). <?page no="143"?> Die katalanische Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts 143 und „No admissible“ nun vier Ausdrucksklassen angesetzt werden, die mit einem gelben Warndreieck gekennzeichnet sind: Ús general : paraules que podem fer servir en les nostres emissions, tant en espais de to formal (informatius, documentals, debats, etc.) com informal. Ús restringit : paraules específiques del llenguatge col·loquial, admissibles en espais informals, habituals sobretot en els diàlegs. Ús inadequat : paraules i construccions arcaïtzants o excessivament literàries; desaconsellables […]. Ús abusiu : paraules usades de manera gairebé exclusiva i expressions estereotipades, que en general evitarem a favor d’altres formes més específiques o més genuïnes. Ús correcte / ús incorrecte : paraules que no sempre s’usen en el seu significat precís. No admissible : paraules que no apareixen al diccionari normatiu i que considerem incorrectes en qualsevol context. Les marquem amb un asterisc (*). 53 Die Erläuterung gibt vor, dass diese etiquetes dabei keine Vorschriften, sondern explizit „orientacions d’ús“ repräsentieren, wohinter eine moderne normative Rhetorik steht, die auf Persuasion statt Präskription ausgerichtet ist. Die Kombination mit den Symbolen legt hier freilich eine Bewertung durch den Benutzer nahe: Während der grüne Haken und das rote Kreuz (hinzu kommt hier der Asterisk) ein eindeutiges Urteil über das aptum erlauben, fordern die gelben Warndreiecke gewissermaßen dazu auf, die zulässigen Verwendungsbedingungen genauer zu berücksichtigen. Das zugehörige „Manual d’ús“, in dem auch das Sprachmodell erläutert wird, wirbt entsprechend für eine am sprachlichen Alltag und an den Bewertungen der Sprecher orientierte Ausdrucksweise: Apliquem un model de llengua que sigui comuna a la majoria dels parlants, que pugui ser compresa i acceptada pel conjunt de la societat. Aquesta llengua comuna, l’estàndard, no admet barbarismes gratuïts, dialectalismes d’àmbit massa reduït, tecnicismes poc coneguts, expressions exclusivament literàries ni arcaismes. (§ 2.4.1.4) Was hier generisch als barbarismes gratuïts bezeichnet wird, referiert dabei implizit auf die bereits oben genannte Kategorie der castellanismes innecessaris . Auf diese Weise entfaltet die Plattform einen modernen, deskriptiv wirkenden Normbegriff, dessen Umgang mit castellanismes differenzierter ausfällt, wie ich nachstehend nur an je einem Beispiel veranschaulichen will: 53 Der Kursivdruck repräsentiert hier die rotfarbige Markierung, da es sich zugleich um einen Link zu den Erläuterungen handelt. <?page no="144"?> 144 Felix Tacke (Bonn) - In der Kategorie „ús restringit“ finden sich vornehmlich Kolloquialismen (insgesamt 236), darunter naturgemäß zahlreiche castellanismes , wie etwa das Adjektiv tonto, -a , die zur Verwendung in informellen Kontexten freigegeben werden. Im Kommentarteil der fitxa wird dazu auf äquivalente Adjektive verwiesen: „Al costat de ximple , beneit , ruc , etc. També com a sinònim de poca-solta , absurd , sense sentit .“ Eine eigentliche Stigmatisierung wird nicht vorgenommen, obwohl der laut dem DCVB (s.v.) erstmals vor 1627 dokumentierte castellanisme in zahlreichen Barbarismentraktaten gelistet (s. Solà 2 1985, 224) und vom DIEC ausgeschlossen wird. 54 - Die Kategorie „ús inadequat“ richtet sich vornehmlich gegen Archaismen und listet gerade einmal zwanzig fitxes auf, darunter keine castellanismes , jedoch zahlreiche Wörter, die heute mit der Sprache Fabras assoziiert werden (z. B. àdhuc , hom , llur ). - Die aktuell 181 Elemente führende Kategorie „ús abusiu“ verweist auf solche Ausdrücke, die im Sprachgebrauch der Medien zwar gängig sind, jedoch vom verfolgten Sprachideal (s. o.) abweichen. So beispielsweise die Formel ho sento , welche das kastilische lo siento lehnübersetzt. Der castellanisme wird dabei nicht verboten, sondern es wird empfohlen, ihn mit ‚genuinen‘ Ausdrücken abzuwechseln: „Sovint apareix als nostres mitjans com a únic recurs per expressar una disculpa, una justificació o un condol. Aquesta expressió es pot alternar amb les fórmules Em sap greu / Disculpa’m / Perdona / Llàstima / Ho lamento , etc.“ Zudem wird auf den eigensprachlichen Kondolenzausdruck L’acompanyo en el sentiment hingewiesen. - In die Kategorie „ús correcte / ús incorrecte“ werden vor allem Ausdrücke (insgesamt 213) eingeordnet, deren Verwendung je nach Bedeutung differenziert zu bewerten ist. Dies betrifft etwa das Verb aplaçar , das im Stilbuch von Avui schlicht als „inacceptable“ gekennzeichnet wurde (s. o.). Darin stimmt ésAdir zwar überein („ Ús incorrecte en el sentit d’ ajornar ”), erläutert aber die zweite, zulässige Bedeutung („ Aplaçar té, segons els diccionaris, un significat molt restringit, poc usat: vol dir ‚contractar, donar treball (a un operari)‘ i ‚prendre possessió del lloc corresponent en el treball‘“), die als einzige auch vom DIEC geführt wird. 55 54 Vgl. auch die Polemik um die Verwendung des Lehnwortes tonto im Werbeslogan eines deutschen Elektronikkonzerns („Ich bin doch nicht blöd“), der parallel zur spanischen Version („Yo no soy tonto“) in Katalonien mit „Jo no sóc tonto“ warb (z. B. im Blog Fartografia am 12. 01. 2014 unter dem Eintrag „Media Markt és ‚tonta‘? “). 55 Der DCVB führt aplaçar in dieser Bedeutung als eigenes Lemma, das als gal·licisme ausgewiesen wird. Traditionell ist der Einfluss des Französischen - dies gilt freilich nicht für die sog. Catalunya Nord - unproblematischer und spielt im Abgrenzungsdiskurs der Katalanen eine zu vernachlässigende Rolle. <?page no="145"?> Die katalanische Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts 145 - Schließlich finden sich - wiederum ohne explizite Stigmatisierung als castellanisme - zahlreiche Entlehnungen unter den insgesamt 725 mit „ús inadmissible“ etikettierten Ausdrücken. Am Beispiel der Periphrase *donar-se compte wird ersichtlich, dass es dabei oft um Lehnübersetzungen jüngerer Zeit geht, die in Konkurrenz zu ebenso gebräuchlichen und semantisch völlig gleichwertigen katalanischen Ausdrücken stehen. Wenn ésAdir hierzu schlicht anmerkt, „Equivalent: adonar-se “, so wird deutlich, dass hier die Grenzlinie zu barbarismes gratuïts bzw. castellanismes innecessaris gezogen wird. Neben diesen unmittelbar wertenden Kategorien, die einen Eindruck vom Normideal der Kommunikationsmedien vermitteln, verdient ein weiteres Etikett Beachtung: „(no) recollit al DIEC “. Mit diesem wird zusätzlich zu der Empfehlung im Rahmen der massenmedialen Normkonzeption über den Status innerhalb der präskriptiven Kodifizierung des IEC informiert, wie auch der Leiter von ésAdir , Jordi Solé, angibt: Fem l’esforç de marcar sempre si una paraula no surt al diccionari. No es pot dir que l’ésAdir sigui una obra que pugui portar a confusions; si una cosa no és normativa ho diem, i l’usuari ha de tenir clar que si no vol moure’s de la normativa, a aquella fitxa que no li faci cas (zitiert bei Ortega, 10. 02. 2016). Die Plattform traut dem heutigen Sprachbenutzer damit freilich mehr zu, als Fabra dies tat. Zumindest diskursiv wird getrennt zwischen präskriptiver Norm und orientacions d’ús . Dabei betont die Etikettierung gleichzeitig den dynamischen Charakter der massenmedialen Kodifizierung. So kennzeichnet die Kategorie „Ús recollit al DIEC ( DIEC 2)“ von ésAdir zum Gebrauch empfohlene Wörter und Redebedeutungen, die später - unter Angabe des konkreten Jahres -, d. h. ab der zweiten Auflage des DIEC ( 2 2007), aufgenommen wurden. Diesen aktuell (Stand: März 2016) 216 Ausdrücken stehen jedoch 1 929 Ausdrücke, darunter zahlreiche castellanismes , gegenüber, die bis heute nicht in dem ungefähr alle zwei Jahre aktualisierten DIEC verzeichnet sind und die damit die Diskrepanz zwischen den normativen Modellen betonen. Der Paratext zum Etikett erläutert die zugrundeliegende dynamische Sprachauffassung, der zufolge Sprache und Sprachnormen sich ständig veränderten, was sich auch im Sprachgebrauch der Kommunikationsmedien abzubilden habe („reflecteixen els usos lingüístics habituals de la societat actual“). So erklärt sich, dass der Sprachbenutzer ein über die normative Lexikographie hinausgehendes Ausdrucksrepertoire vorfindet. Entsprechend findet sich in dieser Kategorie beispielsweise die dem Kastilischen entlehnte Periphrase anar de compres , die das Etikett „ús general“ trägt und deren Bedeutung („Anar per les botigues per mirar i adquirir productes que no es compren cada dia“) offenbar kein ‚genuines‘ Äquivalent besitzt. Die Dynamik der Normkonzeption manifestiert sich auch darin, dass das <?page no="146"?> 146 Felix Tacke (Bonn) im deskriptiven DCVB (s.v.) als castellanisme ausgewiesene Wort nòvio, -a , das im Stilbuch von TV3 noch in der Kategorie „Ús restringit“ verzeichnet war (s. o.), hier mittlerweile als uneingeschränkt angemessen („ús general“) bewertet wird. 6 Schlussbetrachtung Das Wörterbuch des IEC ist in der heutigen katalanischen Sprachkultur sicher nicht das llibre imprescindible , das dessen großes Vorbild, der Diccionari general Fabras sein sollte und zweifellos lange Zeit war. Angesichts der Realität des Sprachgebrauchs kann die im Rahmen des Abgrenzungsdiskurses erstrebte catalanità als radikale Anwendung des puritas -Ideals bei gleichzeitigem Festhalten an archaischen Sprachmitteln - nicht nur beim Scrabble -Spiel - nur zu einer Entfremdung zwischen den Sprachbenutzern und der präskriptiven Norm führen. Trotz der nicht abreißenden Tradition der Perhorreszierung von Barbarismen in den vor allem an Laien gerichteten diccionaris de dubtes zeigt der Erfolg und die Anerkennung, welche ésAdir mittlerweile erhält, dass die Kommunikationsmedien effizientere Wege der Kodifizierung gefunden haben. Sie setzen auf einen modernen normativen Diskurs, der Sprachformen nach der Situationsangemessenheit differenziert. Während sich die Akademiearbeit und die Orientierungswerke der Kommunikationsmedien auch in der spanischen Sprachkultur ergänzen, scheint der Schwerpunkt der katalanischen Sprachpflege vorerst deutlich im Bereich der letzteren zu liegen, auch wenn das IEC eine gemeinschaftlichere Spracharbeit anzustreben in Aussicht stellt. Auf der Ebene der medialen Vermittlung der Norm ist bereits mehr als nur eine Tendenz zu erkennen. Denn wie mittlerweile der weitgehende Verzicht auf gedruckte Stilbücher nahelegt, findet Sprachberatung heute zunehmend über das Internet statt, da hier auf die kommunikativen Bedürfnisse kurzfristig mit Empfehlungen reagiert werden kann, die den Interessenten zudem auch unmittelbar per RSS - oder Twitter-Abonnement erreichen. 56 Das Wörterbuch des IEC kann man zwar online konsultieren, doch erhält man dort allzu oft, auch bei seit Jahren fest im Sprachgebrauch etablierten Wörtern, die Antwort „No s’ha trobat cap entrada […]“. Der zugrundeliegende Sprachbegriff erscheint damit weit entfernt von dem was Wittgenstein als ‚Sprach- 56 In einer Geschichte der Sprachberatung setzt diese Form des Internetabonnements frühere Formen der Zusendung ‚portionierter‘ normativer Aufklärung fort, wie ihn in Spanien etwa die Gesellschaft ABRA Comunicación in den 1990er Jahren betrieb, als sie per Post vierzehntägig Karteikarten an Interessenten verschickte (dazu Lebsanft 1995b und 1997, 107 f.). Internetabonnements besitzen heute freilich eine unvergleichbar größere Reichweite: Die Fundéu hat heute rund 220 000 Abonnenten ( follower ) über Twitter, ésAdir kommt immerhin auf knapp 13 000. <?page no="147"?> Die katalanische Sprachkultur am Beginn des 21. Jahrhunderts 147 spiel‘, als mit der menschlichen Praxis ‚verwobene‘ Tätigkeit, bezeichnete. Während also die Secció Filològica des IEC momentan darüber nachdenkt, ob man das Wort dron (< engl. drone ) als Gewinner des concurs per a escollir el neologisme de l’any 2015 in den DIEC aufnehmen soll, werden an der Ronda de Sant Pere 3, wo die Llibreria Catalònia einst Fabras Wörterbuch verlegte, seit 2013 keine Bücher mehr verkauft, sondern Burger und kostenloses wifi angeboten. Dabei ist das Substantiv wifi im Katalanischen laut ésAdir allgemein üblich („ús general“): Im Einklang mit der spanischen Adaptation (vgl. DRAE und Fundéu , s.v.) empfiehlt es die Schreibung wifi und, angesichts der häufigen Genusalternanz, die maskuline Form. Der DIEC verzeichnet das Wort nicht. Bibliographie Blogs Fartografia , https: / / fartografia.wordpress.com/ (12. 01. 2016). Gazophylacium. Bloc amateur sobre lexicografia catalana i altres lletraferidures , http: / / lexicografia.blogspot.de/ (29. 02. 2016). Literatur Aracil, Lluís V. 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El día 13 del mismo mes, el portavoz adjunto del Partido Popular en la Asamblea de Madrid, Juan Soler, escribe en su blog que Jiménez es una „candidata floja para Madrid“ y que „su acento le hace más apta para Dos Hermanas o Vélez-Málaga“. 1 La polémica está servida, estalla el escándalo y los intentos del político popular destinados a atenuar la tensión - „Trini me parece encantadora, lista y guapa […], solo digo que su acento malagueño la distancia del elector medio de Madrid“ (ibid.) - casi empeoran, con su nota de machismo repugnante, el agravio. 2 Resulta patente que la crítica de determinadas características del lenguaje de un hablante, máxime cuando se trata de un hablante que usa una variedad lingüística relacionada con ciertos tópicos sociales, puede funcionar como estrategia, acertada o fallida, dentro de cualquier tipo de comunicación polémica, sea a nivel individual, sea en el discurso político. Este uso o abuso de la polémica lingüística acerca de variedades e identidades en el discurso político de la España de hoy merece algunas reflexiones. De todos es sabido que el paisaje político-lingüístico de la España actual está caracterizado en especial por la tensión palpable en las comunidades con lenguas cooficiales y ante todo en Cataluña - una tensión que se refleja en un sinfín de 1 Cf. Pérez, Fernando J.: „Repulsa al diputado del PP que se mofó del acento de Trinidad Jiménez. El PP de Vélez-Málaga pide que se expediente al parlamentario madrileño Soler“, in: El País , 20. 08. 10, http: / / elpais.com/ diario/ 2010/ 08/ 20/ andalucia/ 1282256527_850215. html; el episodio es objeto de un análisis más pormenorizado en Ureña Rodríguez (2014a, 43 / 44, y 2014b, 191-197). 2 El adversario socialista de Trinidad Jiménez, Tomás Gómez, califica las palabras de Soler como „apreciaciones que rozan el machismo“; „Tomás Gómez sale en defensa de Trinidad Jiménez. El líder del PSM tacha de ‘xenófobo’ a un diputado regional del PP que se metió con Jiménez por su acento andaluz“; in: Público , 19. 08. 10, http: / / www.publico.es/ espana/ tomas-gomez-sale-defensa-trinidad.html; cf. también Ureña Rodríguez (2014b, 195). <?page no="156"?> 156 Alf Monjour (Duisburg-Essen) contenciosos jurídicos. Su objeto suele ser el frágil equilibrio de la cooficialidad de las lenguas que los unos quieren defender contra la interpretación interesada de los otros. 3 Sabemos igualmente que en una comunidad como Navarra, la política lingüística en este momento desempeña un papel importante a la hora de construir una (seudo-)identidad diferente, funcionalizada y funcionalizable cuando se trata de justificar reivindicaciones políticas nacionalistas. 4 Por otro lado, la situación de las lenguas cooficiales fuera de las comunidades en las que gozan de los privilegios de la cooficialidad y la situación de las lenguas regionales, no protegidas por este estatus privilegiado, parecen preocupantes, tal y como lo expresa el Consejo de Europa en un informe reciente. 5 Este tipo de debate acerca de las lenguas cooficiales y variedades lingüísticas no se sitúa únicamente en un nivel abstracto o académico, sino puede generar consecuencias palpables en la vida cotidiana de las personas. En cualquier periódico se mencionan cada semana casos de discriminación que muestran los efectos inhumanos de polémicas estériles y de una legislación lingüística ajena a las necesidades reales de las personas, independientemente si va en favor o en contra de los (supuestos) derechos de la lengua oficial o cooficial. Como ilustración del hecho de que el disenso sobre problemas de política lingüística degenera en conflicto humano, bastan algunos ejemplos, escogidos al azar en la prensa a lo largo del año 2015: fue noticia el acoso que sufrió la familia catalana a la que el Tribunal Superior de Justicia de Cataluña le otorgó un 25 % de clases en castellano para sus dos hijos: „,Se han filtrado nuestros nombres en las redes sociales, incluso la ubicación de mi negocio… Ha empezado una pesadilla en la que siento que todo el pueblo me señala por reclamar algo a lo que yo creía 3 Cf., por ejemplo, para una sentencia reciente, Piñol, Àngels: „La justicia anula que el personal de la Generalitat hable solo en catalán. El Tribunal Superior de Justicia da la razón a un pediatra del hospital Juan XXIII“; in: El País , 26. 02. 16, http: / / ccaa.elpais.com/ ccaa/ 2016/ 02/ 25/ catalunya/ 1456426465_986421.html. 4 Cf. para la evolución actual en Navarra, Aizpeolea, Luis R.: „Las banderas de Navarra. La tensión entre defensores y detractores de una unión con el País Vasco amaina y el debate se escora hacia la gestión de la comunidad foral“, in: El País , 23. 02. 16, http: / / politica.elpais. com/ politica/ 2016/ 02/ 22/ actualidad/ 145668090_722705.html; o Doria, Javier: „El Mapa Sociolingüístico Navarro. El euskera, una lengua en expansión en Navarra. Uno de cada tres jóvenes menores de 24 años domina la lengua vasca en la comunidad foral“, in: El País , 06. 02. 16, http: / / politica.elpais.com/ politica/ 2016/ 02/ 06/ actualidad/ 1454786607_954564. html. 5 Cf. Domínguez Cebrián, Belén: „El Consejo de Europa aconseja usar más las lenguas cooficiales españolas. El órgano pide a España que se apliquen los idiomas minoritarios en el espacio sanitario y educativo“, in: El País , 21. 01. 16, http: / / politica.elpais.com/ politica/ 2016/ 01/ 21/ actualidad/ 1453376905_625236.html. <?page no="157"?> Polémica lingüística acerca de variedades e identidades 157 que tenía derecho’, cuenta la mujer, que prefiere mantener el anonimato“. 6 Fue noticia también la discriminación que sufrió una niña gallega por hablar en gallego; en un centro hípico, „supuestamente le respondieron con expresiones como ‚te explicas tan mal que no te entiendo’, ‚es que a ti no te entiendo como hablas, te explicas tan mal así’ o ,aquí todos hablamos castellano y tu tienes que hablar el castellano’“, 7 es decir, que el empleo de una lengua otra que la del Estado se ve identificado polémicamente con un dominio deficiente del lenguaje en general. Y fue noticia también, para citar un último ejemplo, la utilización del argumento de la lengua en ciertas sentencias de custodia a favor del padre o de la madre de un hijo común: „‚Siendo probadamente idóneos ambos progenitores, lo más conveniente al interés del niño es no sacarle de su entorno, máxime cuando se introducen modificaciones en sus hábitos, escolarización, costumbres, incluso con un idioma diferente’. El Tribunal Superior de Aragón incluyó el catalán como argumento para retirar recientemente a una madre que se había trasladado a Barcelona ‚por situación económica insostenible’ la custodia del hijo que había tenido con su exmarido, residente en Teruel“, 8 es decir, que el entorno lingüístico-identitario se considera como un factor tan importante para la vida de un niño que justifica medidas drásticas respecto a la organización jurídica de su vida. Sin embargo, en lo que sigue no se trata de establecer un balance de todos estos conflictos y de todas las polémicas en el largo campo de la(s) política(s) lingüística(s) en la España democrática, sino de ver que como argumento dentro de estas polémicas pueden servir las (supuestas) carencias o incompetencias del locutor estereotípico, de un colectivo, de un famoso, de un político o de un determinado adversario al que se quiere criticar. Se les reprochan a este político, a este famoso, etc., su incompetencia lingüística en general o, en particular, sus peculiaridades articulatorias, es decir, su „acento“, o simplemente el hecho de utilizar o de no utilizar tal lengua o tal variedad. En una palabra, se trata de analizar algunos ejemplos de la polémica lingüística acerca de variedades e identidades. Por cierto, cuando hablamos de „polémica lingüística“, lo hacemos en 6 Congostrina, Alfonso L./ Baquero, Camilo S.: „Una familia renuncia al 25 % de clases en castellano por el acoso vecinal. La madre de los dos menores de Balaguer asegura que no quiere imponer a nadie una lengua vehicular a la que creía que tenía derecho“, in: El País , 11. 09. 15, http: / / ccaa.elpais.com/ ccaa/ 2015/ 09/ 10/ catalunya/ 1441916160_614882.html. 7 „Protesta por la supuesta humillación de una gallegohablante en Casas Novas. Un centenar de personas movilizadas por A Mesa se concentran ante el centro hípico coruñés contra la presunta discriminación de una niña de 10 años“, in: El País , 29. 07. 15, http: / / ccaa.elpais.com/ ccaa/ 2015/ 07/ 29/ galicia/ 1438188853_367981.html. 8 Junquera, Natalia: „Perder la custodia por irse a Galicia o Cataluña. Algunos jueces incluyen la lengua como factor para ver quién se queda con los hijos“, in: El País , 24. 08. 15, http: / / politica.elpais.com/ politica/ 2015/ 08/ 22/ actualidad/ 1440258457_295879.html. <?page no="158"?> 158 Alf Monjour (Duisburg-Essen) el sentido de que se trata de polémicas cuyo objeto son fenómenos lingüísticos, no en el sentido de que se trate de polémicas promovidas por profesionales de la lengua, ya que los autores o actores de los discursos a analizar pertenecen más bien a la lingüística folk , es decir, a lo que se suele designar en las lenguas germánicas como „folk linguistics“/ „Laienlinguistik“. Esta polémica evidentemente no se limita a una crítica privada, objetiva y neutral, sino que forma parte del discurso público-mediático y de „los ardides con que se debe ofender y defender cualquier plaza“, como reza el Diccionario académico en su definición del significado etimológico de polémica ( DLE , s.v.). Respecto a la metodología, cabe tener presente el hecho de que los enunciados polémicos desempeñan una función precisa dentro de una red de relaciones semántico-cognitivas que se pueden interpretar como „frames“; se trata de marcos que permiten a los que participan en la comunicación detectar el mensaje socialmente agresivo relacionado, por ejemplo, con un estereotipo aparentemente lingüístico. Este tipo de „frames“, es decir, de formatos que representan estructuras cognitivas, 9 son el resultado de un proceso de „framing“ mediante el que el significado de una unidad lingüística puede adquirir una connotación contextual particular, muchas veces - como se puede ver en el caso de los estereotipos - después de una simplificación o de la focalización de un rasgo saliente. 10 La identificación del „framing“ - un método que remonta a la metodología sociológica de Goffman 11 - forma parte de las técnicas del análisis discursivo y contribuye a visualizar las intenciones políticas, ideológicas, sociales, etc., subyacentes a la producción de un discurso y muchas veces escondidas, implícitas o subconscientes. 12 Por esta razón ha sido aprovechada en numerosos estudios, dedicados, por ejemplo, a descifrar la función de determinadas metáforas en el discurso político. 13 La identificación del „framing“ sirve particularmente en el contexto del 9 „Frames als Repräsentationsformate für kognitive Strukturen“ (Fraas 2013, 261); para toda la historia del concepto de „frame“ y de la metodología semántica correspondiente desde la época de Fillmore, cf. la monumental monografía de Busse (2012). 10 „Framing als Prozess der mehr oder weniger bewussten Kontextualisierung, Bedeutungskonstitution und Interpretation ist mit Komplexitätsreduktion, Kategorisierung, Perspektivierung, Selektion und Salienz verbunden“ (Fraas 2013, 261). 11 Cf. para la historia y los conceptos básicos de este enfoque Fraas (2013, 260-263), Fraas / Pentzold (2016, 230 / 231). 12 „Frame-Semantik bietet […] für solche Ziele ein erhebliches Erschließungs- und Präzisierungs-Potential, indem sie ein Modell und auch eine Methodik anbietet, mit denen insbesondere auch das ‚versteckteʼ, ,impliziteʼ, ‚unbewussteʼ Wissen erschlossen, beschrieben und dargestellt werden kann“ (Busse 2012, 815 / 816). 13 „MPA [= metaphorical pattern analysis] has provided the basis to establish cross-cultural differences between financial texts in English and in Spanish, providing quantitative data which support the hypothesis that financial metaphors in Spanish texts have served to frame political interests“ (Rojo López / Orts Llopis 2010, 3311; la cursiva es nuestra). Cf. <?page no="159"?> Polémica lingüística acerca de variedades e identidades 159 análisis del lenguaje de los medios de comunicación; 14 el análisis de la frecuencia de ciertos „frames“, por ejemplo, en un determinado medio de comunicación en una determinada época permite extraer conclusiones respecto a cambios sociales. 15 Incluso a la hora de analizar el debate metalingüístico acerca de lenguas regionales y variedades lingüísticas en el espacio público virtual de la web, resulta útil identificar los „frames“ que estructuran la polémica alrededor de la lengua. 16 En lo que sigue intentaremos, de manera prudente y muy provisional, aplicar este método del análisis de „framing“ al empleo polémico de determinados argumentos en el debate acerca de lenguas, variedades lingüísticas y las identidades relacionadas con ellas. Nos basaremos en el reflejo de este debate en los medios de comunicación, más precisamente en artículos periodísticos de los últimos años, localizados directamente a través de los buscadores de los periódicos (en particular el del diario líder de la prensa española, El País ) o bien gracias a la hemeroteca del Proyecto „Lengua y Prensa“ 17 de la Universidad de Málaga. Este proyecto, promovido desde el año 2008 por el grupo de investigación de Francisco Manuel Carriscondo Esquivel y „dedicado a las noticias sobre divulgación lingüística, las lenguas de España y sus variedades“, 18 ofrece al usuario, a través de su portal, el acceso gratuito y facilitado por un etiquetado muy eficiente a un archivo de mas de 11.000 noticias periodísticas. 19 Comprobaremos si en estas noticias se pueden identificar determinados „frames“ característicos respecto a la función de la polémica lingüística-identitaria en el discurso mediático de la España de hoy. 2 El análisis El episodio relatado al principio de estas reflexiones - el de la polémica acerca de la ministra malagueña Trinidad Jiménez que se quiere presentar en Madrid, pero cuyo „acento le hace más apta para Dos Hermanas o Vélez-Málaga“ - encaja como ejemplo reciente el „análisis de marcos interpretativos del proces de independencia de Cataluña“ propuesto por Lejarza Vázquez et al. (2015). 14 „La diversidad de dimensiones y procedimientos incluidos en el Framing contribuyen a que se constituya en un enfoque general que ofrece herramientas que permiten dar cuenta de la complejidad de un objeto de estudio como la comunicación mediática“ (Sorribas / Brussino 2012, sin paginar). 15 Cf. Scharloth / Eugster / Bubenhofer (2013). 16 „ frames , die den Streit um Sprache übergreifend strukturieren“ (Döring / Osthus / Polzin- Haumann 2012, 93). 17 http: / / www.lenguayprensa.uma.es/ . 18 http: / / www.lenguayprensa.uma.es/ presentacion.php. 19 A día de hoy, 01. 03. 16; cf. http: / / www.lenguayprensa.uma.es/ archivo/ INDEX.PHP/ ; en 2014 fueron más de 8.000 (cf. Carriscondo Esquivel 2014, 17). <?page no="160"?> 160 Alf Monjour (Duisburg-Essen) perfectamente en el panorama que ofrecen los tópicos lingüísticos sobre las hablas andaluzas. Estos tópicos se derivan de la constatación - objetiva - y valoración - subjetiva, frecuentemente negativa - del perfil lingüístico del andaluz tal y como atraviesan la historia de esta variedad, una variedad que desde la diatriba antinebrisense de Juan de Valdés se ve enfrentada a conceptos antagónicos respecto a la norma del español. 20 Las razones que motivan entre los locutores no expertos el desarrollo de este tipo de tópicos lingüísticos son difíciles de captar - ¿envidia o admiración de una región más próspera en ciertos momentos? ¿desprecio o exaltación romántica de una región más necesitada en muchos momentos? ¿personificaciones estereotipadas como „el pobre“, „el gitano“ o „el migrante“? Solo sabemos que los „Laienlinguisten“ que manejan los tópicos, „la gente“ (si nos permitimos proyectar un concepto político moderno a otro dominio…), poseen las competencias necesarias para identificar rasgos salientes de las variedades lingüísticas 21 y los conectan con los estereotipos sociales. 22 Por lo que se refiere a los tópicos lingüísticos desarrollados entre los no lingüistas, resulta que un lugar privilegiado para detectarlos son los medios de comunicación, y por este motivo, respecto a Andalucía, se revelan de sumo interés los ya mencionados trabajos de la colaboradora del proyecto malagueño „Lengua y Prensa“ (Leticia Ureña Rodríguez 2014a, 2014b), acerca de los tópicos lingüísticos sobre el andaluz tal y como se manifiestan sobre todo en textos periodísticos. La autora utiliza implícitamente diferentes esquemas de subdivisión de estos tópicos lingüísticos entre los que se pueden destacar, incluso mediante una representación gráfica (Ureña Rodríguez 2014b, 181), tres campos predominantes: „El hablante andaluz habla mal“, „El hablante andaluz tiene un nivel educativo bajo“ y „El hablante andaluz es gracioso“; otros tópicos - que formulamos de manera ligeramente diferente que Ureña Rodríguez - se derivan 20 Cf. para la historia de estos tópicos y del enfrentamiento entre las hablas andaluzas y la norma Cano Aguilar (2009), Narbona Jiménez / Cano Aguilar / Morillo Velarde-Pérez (2011, 62-71, 143-152, 276-281). 21 Cf. Monjour (2017). 22 Utilizamos aquí el término estereotipo con un significado restringido respecto al sentido tradicional según Walter Lippmann, es decir ya no como esquematización cognitiva que solo reduce la complejidad del mundo, sino que generaliza indebidamente uno de los elementos de éste (cf. Konerding 2001). El término tópico , independientemente del significado retórico original, parece utilizarse frecuentemente como casi-sinónimo de estereotipo : „La diferencia entre el término tópico y el estereotipo no es otra que el grado“ (Cordero Olivero 2009 / 2010, 66 n. 10); sin embargo, aquí lo utilizamos con un significado más concreto que remite a fenómenos más precisos, como por ejemplo en el análisis de los tópicos utilizados en la ficción emitida a través de Internet: „La imagen de los andaluces dentro del ámbito audiovisual se ha caracterizado, desde las primeras manifestaciones del cinematógrafo, por la recurrencia a un estereotipo basado en una serie de tópicos superficiales“ (Gordillo 2012, 56). <?page no="161"?> Polémica lingüística acerca de variedades e identidades 161 de estos: „El hablante andaluz habla tan mal que no se le puede entender“ o „El hablante andaluz habla tan mal que parece una lengua diferente, independientemente de la región andaluza de donde venga“. Sin embargo, la pregunta que queríamos plantear en el contexto que nos interesa aquí no es únicamente la de los tópicos empleados, sino de la función de su empleo, en otras palabras, la del resultado de su framing . Y parece evidente que, para volver al ejemplo de polémica entre Juan Soler y Trinidad Jiménez, reprocharle a la ministra malagueña tener un „acento“ que „le hace más apta para Dos Hermanas o Vélez-Málaga“ conlleva un mensaje subliminal; remite al tópico „El hablante andaluz habla mal“ y genera, a través de un proceso semántico de framing , el significado siguiente: „La persona caracterizada por los fenómenos lingüísticos en cuestión, proviene de una cultura rural y no cumple con las necesidades de la cultura urbana moderna“. 23 Este mensaje se sitúa en el mismo nivel discursivo que otros ataques de políticos conservadores, más directos en el sentido de que no recurren al tópico lingüístico, sino que utilizan una polémica inmediata dirigida contra el supuesto atraso socio-económico de la comunidad autónoma gobernada por el Partido Socialista y el aprovechamiento supuestamente indebido de los subsidios agrarios. Solo dos ejemplos: la entonces presidenta de la Comunidad de Madrid utiliza en 2010 metafóricamente el término tradicional para llamar las gallinas: „Se han ido a Sevilla, han hecho un congreso y han hecho lo único que creen que debe hacer un Gobierno: utilizar el dinero de los contribuyentes para dar pitas, pitas, pitas“, y el empresario Luis del Rivero emplea, en el mismo año, otra metáfora para denunciar la mentalidad que supuestamente reina en el campo andaluz: „Se está fomentando la vagancia. […] Si lo extremamos, vamos a las reservas indias, donde solo habrá apaches con tabaco y alcohol“. 24 Resulta interesante el intento de la entonces ministra de Igualdad, Bibiana Aído, socialista y andaluza ella también, de anular el efecto polémico del ataque contra su compañera y compatriota por una simple inversión del tópico: „¿Por qué le tienen tanta rabia los conservadores españoles al acento de Andalucía? ¿Será porque es el del progreso, el de la solidaridad, el de treinta años de cambio permanente que ahora representa políticamente José Antonio Griñán? Resulta absurdo defender a estas alturas de la historia y de la filología la calidad del habla andaluza, y ya no hablo sólo de literatura, de machados y juanramones, de 23 La connotación más bien rural de los topónimos Dos Hermanas y Vélez-Málaga evidentemente carece de fundamento razonable ya que se trata de ciudades con 130.000 y 80.000 habitantes respectivamente. 24 „Años de agravios. Dirigentes del PP, CiU y empresarios han recurrido durante años al insulto a los andaluces“; in: El País , 15. 11. 10, http: / / elpais.com/ elpais/ 2010/ 11/ 15/ actualidad/ 1289812633_850215.html. <?page no="162"?> 162 Alf Monjour (Duisburg-Essen) lorcas, albertis y aleixandres, sino también de política: ¿qué sería de la historia democrática de este país sin el viejo acento de Alcalá Galiano, de Mariana Pineda, de Antonio Cánovas del Castillo, de Emilio Castelar o de Fermín Salvochea, por remitirnos tan sólo al siglo XIX ? “. 25 Mediante la referencia a los iconos de la poesía andaluza y a representantes andaluces de diferentes corrientes democráticos decimonónicos, 26 la autora procura convertir el tópico negativo „El hablante andaluz habla mal“ en un tópico positivo „El hablante andaluz habla bien“, posibilitando así un framing correspondiente en el contexto de una posible evaluación de un político o una política andaluza: „La persona caracterizada por los fenómenos lingüísticos en cuestión, proviene de una cultura literaria y democrática arraigada y cumple con las necesidades de la vida política moderna“. Es evidente que se trata más bien de un juego retórico y que resulta difícil invertir la polaridad de un tópico mediante una mera argumentación racional; además, y sobre todo, quedan limitados los efectos de la argumentación a los hablantes andaluces mismos quienes serán los únicos destinatarios receptivos para las estructuras argumentativas de este tipo de orgullo regional(ista). En este sentido, la reflexión de Bibiana Aído puede clasificarse entre las estrategias de lucha contra un eventual auto-odio de los hablantes de variedades con bajo prestigio y en favor de una actitud más positiva, contraria a la estigmatización tradicional de la variedad en cuestión. 27 El segundo episodio llamativo que se suele citar en el contexto de la polémica lingüística acerca de las hablas andaluzas y que ha sido analizado también pormenorizadamente por Ureña Rodríguez (cf. 2014a, 34-36, 39-41, y 2014b, 182-190), es el que enfrenta, en el año 2009, a la entonces diputada en el Par- 25 Aído, Bibiana: „A vueltas con el acento“, in: Amanece en Cádiz. Blog de Bibiana Aido Almagro , 19. 08. 10, http: / / bibianaaido.wordpress.com/ . 26 La mención, en el mismo contexto, del entonces presidente de la Junta de Andalucía, José Antonio Griñán, parece más bien anecdótica (o debida a un „gesto de buena voluntad“). 27 No se pueden resumir en este lugar todos los resultados correspondientes de la sociolingüística andaluza, pero las encuestas suelen reflejar actitudes contrarias e incoherentes, es decir que al lado del tradicional complejo de inferioridad se muestran tambien muchas huellas de una autoestima positiva, lo que supondría que el tópico del hablante andaluz que „habla mal“ funciona mejor al norte de Despeñaperros que al sur (cf. Narbona Jiménez 2003; Narbona Jiménez / Cano Aguilar / Morillo Velarde-Pérez 2011, 27-32); en una encuesta del año 2011, entre 57 granadinos, el „33% de los preguntados han dicho que les gusta el habla de Andalucía, afirmando que ‚es la mía’, ‚es mi forma de hablar’, ‚porque es con el que me identifico’, ‚porque nuestro acento es distinto’, ‚por el acento’, ‚una pronunciación musical y suave’, ‚no es más correcto sino me gusta’, ‚sonoridad’, ‚es lo que oigo habitualmente’ y ‚hablan como yo’“; solo el „9% de los informantes han dicho que no les gusta el habla de la región por varias razones cuáles son, ‚por el acento‘, ‚por el ceceo‘, ‚demasiado acento‘, ‚porque no nos perfeccionamos‘ y ‚porque hablan muy mal‘“ y a la pregunta „¿En qué región del país considera usted que hablan peor? “, el 36 % de los encuestados contesta indicando „Andalucía“ (Hofseth 2012, 48, 50, 52). <?page no="163"?> Polémica lingüística acerca de variedades e identidades 163 lamento de Cataluña por el Partido Popular, Montserrat Nebrera, y a la entonces ministra de Fomento socialista, Magdalena Álvarez, una política andaluza involucrada en muchas polémicas, hasta el día de hoy. 28 En el año 2009, la diputada catalana, en una tertulia radiofónica en la que critica a Magdalena Álvarez por diversos motivos, le reprocha también tener „un acento que parece un chiste“. 29 En unas declaraciones posteriores en su blog, frente al escándalo causado entre todos los partidos en Andalucía, Nebrera puntualiza que „‚ni ahora ni nunca’ ha querido burlarse del acento andaluz y que sus críticas iban sólo dirigidas al ‚tono’ de la ministra que es ‚chulesco, insultante y barriobajero y además no sabe hablar’“. 30 A pesar de la supuesta rectificación, parece evidente que la política catalana remite en ambas declaraciones a dos de los tópicos lingüísticos supra mencionados y los entrelaza: „El hablante andaluz habla mal“ y „El hablante andaluz es gracioso“. El contexto polémico deja claro que el concepto gracia , o más precisamente chiste , para la autora de la polémica no conlleva una connotación positiva, sino al contrario marcadamente negativa, y para el framing al final resulta irrelevante la causa del „problema lingüístico“ que tiene la ministra; el mensaje simplemente es el siguiente: „La persona caracterizada por los fenómenos lingüísticos en cuestión, no cumple con las necesidades de su función política“, da igual si es por ser andaluza o por ser como es como individuo. En la tertulia que desencadena el escándalo, Montserrat Nebrera además sorprende con una explicación que - suponiendo evidentemente que en la prensa se la cita correctamente - causa estupor: „Yo que algunas veces cuando llamo a Córdoba y oigo desde algún hotel que me contestan y no acabo de entender, porque si no estás avezado en hablar en andaluz normalmente pues te cuesta“. 31 Es fácil reconocer la referencia implícita a los tópicos lingüísticos derivados, estudiados precedentemente: „El hablante andaluz habla tan mal que no se le puede entender“ y „El hablante andaluz habla tan mal que se parece a una 28 Cf. la pregunta y respuesta correspondiente en una entrevista reciente: „-De lo mucho que se ha dicho y escrito sobre usted, ¿qué es lo que peor lleva? -Lo de mujer ignorante, el que digan eso de ‚estará en política por algo’ y, además, que me critiquen por andaluza. Es lo que peor llevo de todo“; Astorga, José Vicente: „Magdalena Álvarez: ‚Lo que peor llevo es que me tomen por una ignorante’. La ministra de las inversiones récord en Málaga no teme por el ‚caso ERE’ y no se ve una política amortizada tras 26 años, frenados por su salida del BEI“, in: Diario Sur , 25. 10. 15, http: / / www.diariosur.es/ malaga/ 201510/ 25/ magdalena-alvarez-peor-llevo-20151025124725.html. 29 „El PP pide a Nebrera que abandone el partido por su burla al acento andaluz“, in: El País , 13. 01. 09, http: / / elpais.com/ diario/ 2009/ 01/ 13/ andalucia/ 1231802526_850215.html. 30 „El PP abre expediente a Nebrera por burlarse del acento andaluz“, in: El País , 13. 01. 09, http: / / elpais.com/ elpais/ 2009/ 01/ 13/ actualidad/ 1231838224_850215.html. 31 „El PP pide a Nebrera que abandone el partido por su burla al acento andaluz“, in: El País , 13. 01. 09, http: / / elpais.com/ diario/ 2009/ 01/ 13/ andalucia/ 1231802526_850215.html. <?page no="164"?> 164 Alf Monjour (Duisburg-Essen) lengua diferente, independientemente de la región andaluza de donde venga“. La topicidad de las declaraciones de Nebrera es evidente - cualquier hablante con cierto nivel de cultura lingüística 32 sabrá comunicarse con el personal hostelero andaluz, y sabrá igualmente que el paisaje lingüístico andaluz es ligeramente más complejo de lo que sugiere la identificación de Córdoba con Málaga -, pero todo se explica por la estrategia polémica. El framing genera una interpretación semántica en el sentido de un juicio de valor del tipo: „La persona que proviene de una región cuya variedad lingüística plantea los problemas en cuestión, no cumple con las necesidades de su función política.“ Finalmente, la autora corona la polémica lingüística con un ataque personal que se puede clasificar como insulto grosero: „¿Por qué el señor Chaves se quitó de encima a esta cosa [sic] y la colocó en el Gobierno? “. 33 Ante este carácter muy personal del ataque, resulta llamativo el intento de la víctima de despersonalizar la agresión y de autointerpretarse sobre todo como representante del pueblo andaluz: „La ministra de Fomento ha aludido a los comentarios de la diputada del PP Montserrat Nebrera […] y ha dicho que le ‚dolió muchísimo’ porque a través de ella se trata de ‚ofender a una tierra’ de la que se siente ‚orgullosa’ y se ‚menoscaba el valor de los andaluces’“. 34 De esta forma, la política andaluza consigue aprovechar la polémica lingüística utilizada por su contrincante y desviar la crítica, dirigida al origen contra ella individualmente; el objetivo consiste en autoidentificarse con el conjunto de los andaluces y ampararse en la solidaridad de todos los hablantes del andaluz. El éxito de esta estrategia se refleja no solamente en el apoyo - lógico - de representantes relevantes de su propio partido, como María del Mar Moreno, quien comparte la estrategia de la inversión del tópico (cuyo resultado sería „Aunque el hablante andaluz hable de forma diferente, no es un obstáculo para el progreso social“). 35 32 Montserrat Nebrera, según Wikipedia , es licenciada en Filosofía Política y en Filología Clásica y doctora en Derecho por la Universidad de Barcelona, cf. http: / / es.wikipedia.org/ wiki/ Montserrat_Nebrera (05. 03. 16). 33 „El PP pide a Nebrera que abandone el partido por su burla al acento andaluz“, in: El País , 13. 01. 09, http: / / elpais.com/ diario/ 2009/ 01/ 13/ andalucia/ 1231802526_850215.html. 34 „Magdalena Álvarez insiste en achacar al error de predicción el caos de la nevada“, in: El País , 13. 01. 09, http: / / elpais.com/ elpais/ 2009/ 01/ 13/ actualidad/ 1231838231_850215.html. 35 „Andalucía, con frecuencia, se ha visto encorsetada en estereotipos que han pretendido ridiculizarla o minimizar su enorme capacidad cultural, de modernización y desarrollo. Si hoy somos vanguardia en investigación con células madre, en políticas sociales, en tecnología aeronáutica o en diseño lo somos con acento andaluz, al que ni podemos ni queremos renunciar, y aunque votamos mayoritariamente con acento socialista, pedimos a la derecha española respeto hacia nuestra manera de hablar y de ser, aunque sólo sea porque también hay miles de votantes del PP con acento andaluz“ (Moreno, María del Mar: „Con acento andaluz“, in: El País , 13. 01. 09, http: / / elpais.com/ diario/ 2009/ 01/ 13/ andalucia/ 1231802527_850215.html. <?page no="165"?> Polémica lingüística acerca de variedades e identidades 165 Es más, el verdadero éxito de la defensa de Mágdalena Álvarez se manifiesta en el sostén - algo forzado - por parte del partido adversario 36 lo que finalmente demuestra la poca eficacia en el debate político de la agresividad basada en hechos lingüísticos. A lo mejor, el poco éxito de la polémica lingüística en los casos de Nebrera vs. Álvarez y Soler vs. Jiménez en los años 2009 y 2010, explica la baja frecuencia de episodios comparables en el debate político español. Desde entonces, este tipo de polémica parece surgir solo de forma espontánea y mucho menos orquestada que en los casos que acabamos de estudiar. Un ejemplo de lo que se podría clasificar a lo mejor no de polémica, sino que de ambigua broma lingüística, es el episodio que protagonizan en el año 2010 los dos futbolistas Gerard Piqué y Sergio Ramos, el uno, como todos sabemos, catalán, el otro andaluz. 37 En una rueda de prensa, Gerard Piqué le contesta a un periodista - que se lo había pedido - en catalán, luego le pregunta si quiere la respuesta también en castellano, cuando interviene Ramos, puntualizando „‚En andaluz, díselo en andaluz que está muy bien’, ya que, […] refiriéndose al periodista, ‚le cuesta entender el castellano’“. 38 Los periodistas reaccionan con una carcajada, y Ramos, para evitar una interpretación polémica, precisa en su cuenta de Twitter: „No tengo ningún problema con los catalanes ni con el catalán, lo de hoy era en plan broma… quizás estaba un poco serio, que no inventen nada“. 39 La cara seria de Ramos a la hora de formular su observación no permite interpretarla con total seguridad, pero se podría haber comprendido la actuación del futbolista andaluz por un lado en el sentido de una „defensa indirecta de la modalidad andaluza“ (Ureña Rodríguez 2014a, 34), por otro lado - y confesamos que nos parece más plausible - como crítica frente a un empleo totalmente superfluo de las lenguas cooficiales, ya que todos los asistentes dominan perfectamente el español. En este caso, el framing permitiría una paráfrasis del tipo: „Si empezamos a utilizar inútilmente las lenguas cooficiales, podemos hablar igualmente en otras variedades, incluso en andaluz“, es decir, que se trata de una estrategia casi satírica para visualizar 36 „El portavoz del PP en el Senado, Pío García-Escudero, ha lamentado que Nebrera no haya pedido perdón a los andaluces tras su comentario ‚profundamente desafortunado’. […] Javier Arenas, el presidente del PP andaluz, ha afirmado que todo el Grupo Parlamentario Popular ‚hace suya’ las declaraciones de ayer del secretario general de la formación en Andalucía, Antonio Sanz, en las que reclamaba que [Montserrat Nebrera] abandonara las filas del partido“; „El PP abre expediente a Nebrera por burlarse del acento andaluz“, in: El País , 13. 01. 09, http: / / elpais.com/ elpais/ 2009/ 01/ 13/ actualidad/ 1231838224_850215.html. 37 Cf. para el análisis del episodio Ureña Rodríguez (2014a, 34). 38 „Sergio Ramos se molesta por una pregunta en catalán a Piqué“, in: El País , 07. 10. 10, http: / / deportes.elpais.com/ deportes/ 2010/ 10/ 07/ actualidad/ 1286436115_850215.html; cf. también el vídeo: http: / / www.youtube.com/ watch? v=0tebR4-Ngh4 (06. 03. 16). 39 „Sergio Ramos se molesta por una pregunta en catalán a Piqué“, art.cit. <?page no="166"?> 166 Alf Monjour (Duisburg-Essen) una situación, interpretada por el futbolista mismo como absurda. La risa de los periodistas que parecen haber comprendido esta intención, no nos parece relacionada, por cierto, con „el tópico de la asociación de gracia y modalidad andaluza“ (Ureña Rodríguez 2014a, 34). El mismo Sergio Ramos se convierte en objeto de burla cuando, en Navidades del año 2012, publica un vídeo con sus felicidades en inglés. El escritor y traductor Ramón Buenaventura le dedica a él y a todos los españoles que luchan desesperadamente con acentos locales, a la hora de hablar español o cualquier idoma extranjero, una crónica satírica que concluye con un resumen (auto-) crítico respecto a las competencias en lenguas extranjeras de sus compatriotas: „[…] es evidente que Sergio Ramos no se crió en ningún barrio de Londres y que pronuncia el inglés, en su vídeo de felicitación al mundo, más o menos como lo habría pronunciado Lola Flores, si alguna vez se hubiese puesto a ello […]. En todo caso, lo bueno sería que ahora se animase el señor Rajoy y apareciese en la tele felicitando a la señora Merkel en alemán. Eso sí que daría risa“. 40 Un episodio más agrio es el que tiene como protagonista al entonces President de la Generalitat, Artur Mas, quien, en el año 2011, defiende delante del Parlament de Catalunya el sistema educativo catalán y la política de inmersión contra el reproche de generar lagunas en las competencias de los alumnos en lengua castellana. Con este motivo cita, de forma deliberadamente exagerada, supuestas carencias de los alumnos en otras comunidades autónomas: „Esos niños y niñas [catalanes] sacrificados bajo la durísima hacha de la inmersión en catalán sacan las mismas notas en castellano que los niños de Valladolid, de Burgos o Salamanca, por no hablar de Sevilla, Málaga o La Coruña, porque allí hablan el castellano, efectivamente, pero a veces a algunos no se les entiende. A veces no se les acaba de entender del todo [traducción al español]“. 41 Las palabras de Artur Mas provocan un escándalo y reacciones comparables a las que hemos visto en los casos Soler y Nebrera, por ejemplo la solidarización de los políticos gallegos y andaluces, e incluso del Sevilla Fútbol Club que en el siguiente partido en el Camp Nou lleva camisetas con el lema „Orgullosos de 40 Buenaventura, Ramón: „Ja, ja, ja. La normalización oficial no ha tenido el menor impacto en los acentos locales, es decir, en el modo en que pronuncian su castellano los nacidos o residentes de larga estancia en una determinada zona“, in: El País , 25. 12. 12, http: / / sociedad.elpais.com/ sociedad/ 2012/ 12/ 25/ actualidad/ 1356447667_439851.html. 41 Cañizares, María Jesús: „Mas se mofa del acento gallego y andaluz para justificar su gasto en la inmersión“, in: ABC , 30. 09. 11, http: / / www.abc.es/ 20110930/ comunidad-catalunya/ abcp-mofa-acento-gallego-andaluz-20110930.html; cf. también Ureña Rodríguez (2014a, 32-34); cf. el vídeo con la versión original en catalán de la intervención del President: http: / / www.youtube.com/ watch? v=nrVSRhpedjg (06. 03. 16). <?page no="167"?> Polémica lingüística acerca de variedades e identidades 167 Andalucía“, solo aparentemente de carácter turístico. 42 Estas reacciones, entre otras, obligan al President de formular, a través de un comunicado, algo que se parece a una petición de disculpas: „Artur Mas ha lamentado el revuelo que ha provocado su ‚afirmación desenfadada sin ánimo de ofender a nadie’. El líder del Ejecutivo catalán ha aclarado que el comentario hacía referencia a las competencias lingüísticas de los alumnos en diferentes comunidades autónomas. En todo caso, Mas ha añadido que no ‚tiene inconveniente en pedir disculpas a las personas que se hayan podido sentir ofendidas’“. 43 Sin embargo, es evidente que no se trata de „un comentario inocuo e inocente“, como pretende Mas, 44 sino de una polémica lingüística análoga a la del caso Nebrera vs. Álvarez, ya que remite al tópico subyacente „El hablante andaluz (y el hablante gallego) habla tan mal que no se le puede entender“, solo que el frame dentro del que se sitúa es diferente. El político no se enfrenta a una contrincante individual, sino con los argumentos dentro del debate entre el nacionalismo catalán y las fuerzas no nacionalistas; las palabras de Mas se sitúan en el mismo contexto en el que fueron hechas las declaraciones polémicas del entonces presidente de Unió Democràtica de Catalunya, Josep Duran i Lleida, acerca de jornaleros andaluces y extremeños que recibirían subsidios, según él, „para pasar toda la jornada en el bar de su pueblo“. 45 El framing genera un resultado idéntico: La supuesta ignorancia lingüística de los niños andaluces (y gallegos) como la supuesta pereza de los jornaleros andaluces (y extremeños) confirma la ideología implícita de una superioridad económica y cultural catalana que justifica - en la visión de un nacionalismo no exento de tintes xenófobos - la construcción de un Estado independiente y libre de las ataduras a las comunidades subdesarrolladas. Respecto a la problemática lingüística, cabe añadir, de forma anecdótica, que los buenos resultados de los alumnos catalanes en castellano han despertado dudas respecto a la fiabilidad del sistema de evaluación, 46 y, de 42 Cf. Pineda, Rafael: „El polémico ‚orgullo’ del Sevilla. El club andaluz se desmarca de cualquier significado político sobre el lema que llevarán en sus camisetas en el Camp Nou: ‚Orgullosos de Andalucía’”, in: El País , 19. 10. 11, http: / / deportes.elpais.com/ deportes/ 2011/ 10/ 19/ actualidad/ 1319008919_850215.html; PS: el partido del 22-10-2011 termina con un empate 0-0. 43 „Mas pide disculpas por sus palabras sobre andaluces y gallegos“, in: El País , 30. 09. 11, http: / / politica.elpais.com/ politica/ 2011/ 09/ 30/ actualidad/ 1317382304_676579.html. 44 Cañizares, María Jesús / Caro, L. L.: „Mas se disculpa tras las críticas a su burla del andaluz y el gallego“, in: ABC , 01. 10. 11, http: / / www.abc.es/ 20111001/ comunidad-catalunya/ abcp-disculpa-tras-criticas-burla-20111001.html. 45 Noguer, M./ Pedrote, I.: „El Gobierno de CiU defiende los ataques de Duran a los jornaleros“, in: El País , 12. 10. 11, http: / / elpais.com/ elpais/ 2011/ 10/ 12/ actualidad/ 1318407417_850215. html. 46 Cf. Convivencia Cívica Catalana: „El doble rasero de las evaluaciones lingüísticas en Cataluña. Castellano fácil, catalán difícil“, [sin lugar, sin fecha]; http: / / drive.google.com/ <?page no="168"?> 168 Alf Monjour (Duisburg-Essen) forma anecdótica también, que recientemente se ha criticado a Artur Mas por sus propias competencias lingüísticas: después de la publicación por El País de una carta abierta suya de carácter político extremamente polémico, el filólogo, especialista de lexicografía y lexicología y miembro de la Real Academia , Pedro Álvarez de Miranda, destaca algunas incorrecciones lingüísticas en el texto publicado: „Acaso a los firmantes no les importe mucho mostrar desconocimiento de la lengua castellana o española, la misma, justamente, a cuyo cultivo esmerado y brillante tantos escritores catalanes han contribuido y contribuyen“. 47 El framing genera un mensaje claro para el lector del periódico que se acuerda del contexto político: „El hablante del catalán que comete errores en castellano demuestra la ineficacia del sistema de educación catalán y al mismo tiempo la voluntad de ejercer una hegemonía cultural frente a los castellanoparlantes discriminados“. Los niños andaluces son los que constituyen otra vez el objeto de la polémica, cuando, en el año 2011 también, la entonces vicesecretaria general del Partido Popular y posterior ministra de Sanidad, Servicios Sociales e Igualdad, Ana Mato, arremete contra la política educativa de la Junta de Andalucía, diciendo que „en Andalucía se han visto en los periódicos a niños que ‚están en el suelo en las escuelasʻ“ (refiriéndose probablemente a un incidente en un pueblo donde, por falta de mobiliario durante unas reformas, los niños recibieron clases sentados en el suelo). 48 Aunque no se trate de una polémica lingüística propiamente dicha, la autora que ya había afirmado algunos años antes que „los niños andaluces son prácticamente analfabetos“, 49 alude a uno de los tópicos con los que ya nos habíamos encontrado en el contexto de los tópicos anti-andaluces en general: „El hablante andaluz tiene un nivel educativo bajo“. A través del mecanismo de framing , el lector de „este tipo de declaraciones ‚que abundan en tópicos muy dañinos para Andalucíaʻ“ 50 debe llegar a la conclusión de que se trata de file/ d/ 0B9K3QsORGY1ZVHlmMTAyNVR2eHM/ edit (06. 03. 16). 47 Álvarez de Miranda, Pedro: „Sobre la carta de Mas“, in: El País , 08. 09. 15, http: / / elpais. com/ elpais/ 2015/ 09/ 07/ opinion/ 1441643802_089789.html. 48 Cf. Planelles, Manuel: „Ana Mato dice que los niños andaluces ‚están en el suelo en las escuelasʻ“, in: El País , 25. 10. 11, http: / / politica.elpais.com/ politica/ 2011/ 10/ 25/ actualidad/ 1319545545_392444.html; el artículo en El País remite a otro en el Diario Sur : „La falta de muebles en varios colegios desata los primeros conflictos del curso“, in: Diario Sur , 16. 09. 11, http: / / www.diariosur.es/ v/ 20 110916/ malaga/ falta-muebles-varioscolegios-20 110916.html. 49 „Ana Mato llama analfabetos a los niños andaluces“, in: El País , 01. 03. 08, http: / / elpais. com/ diario/ 2008/ 03/ 01/ andalucia/ 1204327327_850215.html; en Ureña Rodríguez (2014a, 37), se confunden los dos incidentes del 2008 y 2011. 50 Según la entonces consejera de la Presidencia de la Junta, Mar Moreno; Planelles, Manuel: „Ana Mato dice que los niños andaluces ‚están en el suelo en las escuelasʻ“, in: El País , 25. 10. 11, http: / / politica.elpais.com/ politica/ 2011/ 10/ 25/ actualidad/ 1319545545_392444.html. <?page no="169"?> Polémica lingüística acerca de variedades e identidades 169 una comunidad culturalmente subdesarrollada, una tierra que finalmente no ha evolucionado mucho desde los tiempos de la „España de charanga y pandereta“, diecimonónica como nacionalflamenquista, cuando el uso del andaluz formaba parte de las prácticas de una (auto-)exclusión del mundo moderno. 51 Después de tanta polémica seria y política, no es de sorprender que la sensibilidad del público se manifieste también en casos en los que los tópicos lingüísticos a lo mejor no se citan con una intención malévola. Esto es lo que parece pasar cuando, en el año 2014, un presentador (disfrazado de niño), en el programa televisivo Todo va bien de La Cuatro , plantea preguntas a la cantante sevillana Melody (= Melodía Ruiz Gutiérrez), nacida en Dos Hermanas: „Durante el transcurso del programa la [sic! ] dijeron que cómo era posible ‚hablar tan fino siendo de Dos Hermanasʻ y si era porque ‚había estudiadoʻ. Melody demostró su madurez respondiendo educadamente sin perder la compostura afirmando que en sus giras una maestra la acompañaba para poder continuar con sus estudios. Tras este momento televisivo, las redes sociales se inundaron de críticas hacia el programa. Muchos telespectadores andaluces se han sentido ofendidos al respecto emitiendo incluso una queja al Defensor del espectador, en la que se afirma que el acento de alguien no determina su nivel cultural“. 52 La reacción política, en este caso, se limita al Partido Andalucista, 53 pero los reproches dirigidos hacia el programa televisivo siguen siendo graves: „El tópico que aquí se refleja es el de acusación de bajo nivel educacional de los hablantes de Dos Hermanas, a su vez, esto centraliza y homogeneiza por extensión las hablas andaluzas al habla de Sevilla y el tópico del ‚mal hablarʼ que acusan como ,no hablar finoʼ, lo que supone el establecimiento de una relación entre el hablar bien con la producción 51 Cf., entre un sinfín de indicaciones bibliográficas posibles, solo Salaün (1998) y Monjour (2007). 52 „ʻMelody, ¿cómo siendo de Dos Hermanas hablas tan fino? ¿Has estudiado? ʼ“, in: Diario de Ibiza , 28. 08. 14, http: / / ocio.diariodeibiza.es/ tv/ noticias/ nws-337128-melody-comosiendo-dos-hermanas-hablas-tan-fino-has-estudiado.html [¡el laísmo está en el artículo original! ]. 53 Cf. Montes, L.: „ʻCómo es que siendo de Dos Hermanas hablas tan fina? ¿Has estudiado? ʼ“, in: ABC , 27. 08. 14, http: / / sevilla.abc.es/ provincia-dos-hermanas/ 20140827/ sevi-comosiendo-hermanas-hablas-201408271515.html; Merino, Raquel: „¿Se puede ser de Sevilla y hablar fino? “, in: Diario Sur , 29. 08. 14, http: / / www.diariosur.es/ culturas/ tv/ 201408/ 29/ puede-sevilla-hablar-fino-20140829090950.html. „El asunto, sin embargo, no ha sentado nada bien al secretario general del Partido Andalucista en Dos Hermanas Alejandro Santos, que en un comunicado anunciaba este miércoles haber remitido una queja al Defensor del Espectador por una entrevista que él considera ,denigranteʼ para la comunidad andaluza por perpetuar el estereotipo de que Andalucía es territorio de incultos y paletos“; „La ʻdenigranteʼ entrevista de Melody en ‘Todo va bien’, al Defensor del Espectador“, in: Jenesaispop , 28. 08. 14, http: / / jenesaispop.com/ 2014/ 08/ 28/ 200424/ la-entrevis ta-de-melody-en-todo-va-bien-al-defensor-del-espectador-por-denigrante/ ; cf. también Ureña Rodríguez (2014a, 37-39). <?page no="170"?> 170 Alf Monjour (Duisburg-Essen) más estándar del español. A su vez también está relacionado el suceso con el tópico […] ‚el andaluz es graciosoʼ, pues el programa es de corte humorístico y tratan la modalidad como un elemento que produce reacciones irrisorias“ (Ureña Rodríguez 2014a, 39). Después de la visión del vídeo, 54 al espectador imparcial y cauteloso no le parece que el pasaje incriminado tenga un carácter denigrante y justifique las sospechas respecto a un recurso polemizante a los tópicos lingüísticos; parece más bien que el framing induce una interpretación chistosa, tal y como prevalece en el caso más reciente del „Cachondeo con el ‘paranormal’ acento andaluz de Anne Igartiburu“. 55 Sin embargo, en el caso de Melody, no carece de interés el debate público alrededor de la interpretación del incidente y de su carácter serio. En la red se levanta la pregunta acerca del sentido de la queja al „Defensor del espectador“: „Y a ti, ¿qué te parece esta queja? ¿Una medida normal o algo desmesurada teniendo en cuenta que se emitió en un programa de humor? “, 56 y el humorista Manu Sánchez, nacido también en Dos Hermanas, escribe en su cuenta de Twitter, satirizando implícitamente la corrección política en materia de lenguas y variedades: „Estoy seguro de que hoy mismo @TodoVaBien TV pedirá disculpas por no ser de Dos Hermanas, por ser tan poco finos y por no haber estudiado“. 57 54 Cf. http: / / www.dailymotion.com/ video/ x24jwlc_angy-y-melody-en-el-programa-todova-bien-presentado-por-edurne_shortfilms (07. 03. 16); la pregunta del presentador, a partir del minuto 37: 50, es exactamente la siguiente: „¿Cómo es que siendo de Dos Hermanas hablas tan fina? ¿Has estudiado? “. 55 Así reza un artículo en El Huffington Post , 11. 03. 16, http: / / www.huffingtonpost. es/ 2016/ 03/ 11/ acento-anne-igartiburu_n_9 435768.html. El objeto de las bromas en la prensa y en un programa de La Sexta es una entrevista con la presentadora y actriz vasca, Anne Igartiburu, en un programa de Canal Sur , donde, charlando con el famoso presentador andaluz, Juan y Medio, y con algunos niños utiliza - por unas razones desconocidas - un acento andaluz, tan marcado como falso; cf. el vídeo, bajo el título „Así es el acento andaluz de Anne Igartiburu“ en el sitio web de La Sexta : http: / / www.lasexta.com/ programas/ zapeando/ mejores-momentos/ asi-acento-andaluz-anneigartiburu_2016031000291.html (13. 03. 16); cf. también artículos en la prensa „seria“: „Anne Igartiburu más andaluza que nunca“, in: La Vanguardia , 11. 03. 16, http: / / www. lavanguardia.com/ television/ 20160311/ 40361176177/ anne-igartiburu-acento-andaluzfenomeno.html; „El extraño acento andaluz de Anne Igartiburu“, in: La Voz de Galicia , 11. 03. 16, http: / / www.lavozdegalicia.es/ noticia/ television/ 2016/ 03/ 11/ extrano-acentoandaluz-anne-igartiburu/ 00031457722137093459993.htm. Consta, por cierto, que Anne Igartiburu no es solo vasca, sino que se expresa fluidamente en euskera; cf. el vídeo de una charla con otra actriz: http: / / www.youtube.com/ watch? v=r1HcHOeK0u4 (13. 03. 16). 56 „¡La que se ha liado! La Polémica Entrevista a Melody en Todo va Bien“, in: El Mundo , 28. 08. 14, http: / / www.elmundo.es/ happy-fm/ 2014/ 08/ 28/ 53feec46ca4741582f8b4571.html. 57 @_ManuSanchez_, 27-8-2014, 10: 57h (07. 03. 16); cf. también Montes, L.: „De ,la Juani’ de ‚Médico de familia’ a la entrevista de Melody: el polémico tópico andaluz. Políticos, presentadores y series suscitaron críticas por relacionar el acento del sur con el nivel <?page no="171"?> Polémica lingüística acerca de variedades e identidades 171 La lista de polémicas acerca de las lenguas y variedades lingüísticas no termina aquí, sino que está abierta y siguen produciéndose nuevos episodios cada semana. Una manera, por ejemplo, de ridiculizar a políticos (y famosos) consiste en comprobar sus (in-)competencias en lenguas extranjeras, sobre todo en inglés. En Alemania, se conviertieron en diana de los comentarios bromistas algunos políticos como el entonces ministro de Asuntos Exteriores, Guido Westerwelle, el ex-presidente autonómico y actual miembro de la Comisión Europea, Günther Oettinger, o el actual ministro de Cooperación Económica y Desarrollo, Gerd Müller. 58 En España, este tipo de deslices llama menos la atención del público, ya que este está acostumbrado a la poca competencia de su clase política en este dominio. 59 Lo que sí constituye un tema de debate público es el nivel de competencia en la lengua cooficial de la comunidad autónoma en la que el político o la política en cuestión ejerce sus responsabilidades, porque lagunas sorprendentes (o una maestría inesperada) en este dominio permiten sacar conclusiones respecto al posicionamiento identitario y eventuales orientaciones políticas e ideológicas de las personas. De esta manera, antes de las elecciones al Parlamento de Galicia de 2005, algunos lingüistas examinan, de forma muy crítica, el nivel de gallego de los principales candidatos: „Esta noite comezou a campaña electoral para os comicios que se celebrarán o vindeiro 19 de xuño. E La Voz de Galicia publica hoxe un estudo que analiza o idioma dos nosos políticos. Segundo os profesores consultados (Xosé Henrique Costas, Carme Hermida, Xosé Luís Regueira, Manuel Ferreiro e Henrique Monteagudo) tanto Manuel Fraga ( PP ) como Anxo Quintana ( BNG ) aproban raspado mentres que o candidato socialista, Emilio Pérez Touriño suspende. Os filólogos, que se basearon na súa fonética, sintaxe e vocabulario, aprobaron tamén a Núñez Feijoo ( PP ) polo seu esforzo en aprender o idioma, a Francisco Vázquez ( PSOE ) polo seu acento e a Iago Tabarés ( BNG ) pola corrección do seu idioma“. 60 Y el cultural“; in: ABC , 29. 08. 14; http: / / sevilla.abc.es/ provincia/ 20140829/ sevi-juani-medicofamilia-entrevista-201408282029.html. 58 Solo para este último, cf. el vídeo viral y el artículo correspondiente: „,Wat ai Patyʼ: Allgäuer Minister wird mit Englisch-Rede zum YouTube-Star“, in: Augsburger Allgemeine , 28. 04. 15, http: / / www.augsburger-allgemeine.de/ bayern/ Wat-ai-Paty-Allgaeuer-Minister -wird-mit-Englisch-Rede-zum-YouTube-Star-id33877992.html. 59 Cf. „Así habla inglés Pablo Iglesias… y así lo hablan Rajoy y otros políticos españoles“, in: Yahoo! Noticias , 16. 01. 15; http: / / es.noticias.yahoo.com/ as%C3%AD-habla-ingl%C3%A9spablo-iglesias%E2%80 %A6-y-as%C3%AD-lo-hablan-rajoy-y-otros-pol%C3%ADticosespa%C3%B1oles-105756441.html (09. 03. 16); cf. también „Los políticos con idiomas, una rara avis “, in: Libertad Digital , 23. 05. 09; http: / / www.libertaddigital.com/ nacional/ lospoliticos-con-idiomas-una-rara-avis-1276360096/ (09. 03. 16). 60 „O galego de Fraga e de Quintana aproba raspado nun estudo de La Voz entre os líderes políticos“, in: culturagalega , 03. 06. 05; http: / / culturagalega.gal/ nova/ noticia.php? id=6354 (09. 03. 16). <?page no="172"?> 172 Alf Monjour (Duisburg-Essen) nivel de catalán del ex-president de la Generalitat de Catalunya, José Montilla, de origen andaluz, siempre ha sido muy debatido, dando lugar a ataques en los que se mezclan argumentos de índole lingüística, política, identitaria y (casi) xenófoba o racista. 61 El caso reciente de la entonces alcaldesa de Valencia, Rita Barberá, es ligeramente diferente en la medida en la que la política, ya suficientemente criticada por ser involucrada en diferentes escándalos financiero-políticos, 62 revela, durante el acto oficial de la „Crida“ de las Fallas del año 2015, no solamente deslices momentáneos o un acento no auténtico, sino profundas lacunas en el dominio de la lengua cooficial: „El episodio protagonizado por la alcaldesa de Valencia, Rita Barberá, en el acto de la Crida, en el que balbuceó frases en valenciano (y en castellano) tan inconexas como plagadas de errores, apunta a algo más que la consecuencia de un lapsus o una turbación, como ha justificado la regidora después de haber sido vapuleada en las redes sociales y de haberse convertido en presa del pimpampum cibernético“. 63 La polémica suscitada por el incidente demuestra que el dominio deficiente de la lengua cooficial, sobre todo por parte de un / a político / a de origen autóctono, se interpreta como falta de respeto frente a los ciudadanos, y esta interpretación es la que prevalece incluso en círculos políticos no nacionalistas. 64 A esta interpretación contribuyen - y volvemos a utilizar la metodología del framing - por un lado las observaciones análogas 61 „Por otro lado, algunos acontecimientos recientes han comenzado a poner en grave crisis las concepciones más esencialistas de la identidad etnolingüística. Así, el nombramiento de un político socialista de origen andaluz, José Montilla, como presidente de la Generalitat catalana en 2007 ha traído al primer plano de la opinión pública el conflicto entre identidades colectivas y privadas, y el modo de configurarlas en la realidad. […] Frente a los recelos de una clase dirigente reacia a aceptar un estatus de catalanidad que no suponga un control nativo de la lengua catalana (que el político socialista está, ciertamente, lejos de poseer), Montilla ha defendido con énfasis su identidad híbrida, su reivindicación de ser ‚un catalán de Iznajarʼ, en referencia a la localidad cordobesa en la que nació“ (Blas Arroyo 2008, 8). 62 El neologismo ritaleaks está documentado más de 50.000 veces en Google (09. 03. 16). Después del repentino fallecimiento de la política el 23 de noviembre de 2016, el número de documentaciones en Google ha bajado a la mitad (02. 02. 2017). 63 Alberola, Miquel: „Barberá arde en la Crida. La alcaldesa de Valencia dio una imagen de anacronismo político y social“, in: El País , 24. 02. 15, http: / / ccaa.elpais.com/ ccaa/ 2015/ 02/ 24/ valencia/ 1424775031_406830.html; para más ejemplos concretos y la visión del vídeo, cf. igualmente „El ʻcaloretʼ de Rita Barberá“, in: El Mundo , 23. 02. 15, http: / / www.elmundo.es/ comunidad-valenciana/ 2015/ 02/ 23/ 54eae7f7268e3e24488b4580.html; y Vázquez, Cristina: „Rita Barberá se hace un lío con el valenciano. La alcaldesa se disculpa por su polémico discurso en el acto de inicio de las Fallas 2015“, in: El País , 24. 02. 15, http: / / ccaa.elpais.com/ ccaa/ 2015/ 02/ 23/ valencia/ 1424685399_886956.html. 64 Cf. „Respeto a los ciudadanos. Rita Barberá ha despertado una mezcla de ira e hilaridad entre sus convecinos“, in: El País , 25. 02. 15, http: / / elpais.com/ elpais/ 2015/ 02/ 24/ opinion/ 1424802615_367293.html. <?page no="173"?> Polémica lingüística acerca de variedades e identidades 173 en cuanto a otros políticos conservadores en la Comunidad Valenciana, 65 por otro lado el ejemplo contrario del propio Rey: „Llamó gratamente la atención el viernes que el Rey Felipe VI utilizara correctamente la lengua del Tirant lo Blanc en buena parte del discurso pronunciado en Valencia con ocasión de la entrega de la Distinción de la Generalitat que el Consell le concedió por la festividad del 9 de Octubre. Don Felipe hizo un esfuerzo, a pesar de que el valenciano no es su lengua, pero se notaron sus conocimientos de la variante dialectal occidental, el catalán“. 66 Ojalá que su nivel bastante satisfacente en catalán 67 pueda ser un elemento valorado positivamente en el debate político acerca de identidades y variedades lingüísticas y quitarle algo de hierro a la polémica que envenena este debate. 3 Perspectivas Al final de haber transcurrido tantos episodios de polémica lingüística 68 acerca de variedades e identidades, a veces anecdóticos, a veces agrios, se plantea la pregunta de si los tópicos subyacentes a la valoración implícita de las variedades 65 Cf. Játiva, Juan Manuel: „Rita Barberá, ejemplo del abandono del valenciano por el PP. El uso de la lengua cooficial registra una fuerte caída en dos décadas en la comunidad“, in: El País , 28. 02. 15, http: / / politica.elpais.com/ politica/ 2015/ 02/ 28/ actualidad/ 1425145779_831037.html. 66 Játiva, Juan Manuel: „Rita Barberá, ejemplo del abandono del valenciano por el PP. El uso de la lengua cooficial registra una fuerte caída en dos décadas en la comunidad“, art.cit. 67 „Para conocer en mayor profundidad cuál es el grado de conocimiento del príncipe de Asturias en la lengua catalana, Monarquía Confidencial se ha puesto en contacto con un experto. Fernando Béjar, profesor de Filología Catalana de la Universidad Complutense de Madrid, ha facilitado a este confidencial algunas claves para saber la destreza con la que don Felipe se desenvuelve en la variedad estándar de este idioma. Pronunciación ,correctaʼ pero con descuidos fonéticos. Según Béjar, ‚la pronunciación del príncipe en catalán es bastante correctaʼ. No obstante, el experto añade que valorar el nivel de don Felipe en este idioma supone cierta dificultad debido al breve período de tiempo que le dedica en sus intervenciones, y que alterna con otras lenguas. En el caso del príncipe, sólo es posible apreciar sus conocimientos en catalán en lo que respecta a su capacidad de lectura, aunque don Felipe también es capaz de entablar una conversación en este idioma. Respecto a la pronunciación de los textos, Fernando Béjar asegura que el príncipe tiene un buen nivel, y que únicamente comete ,algún descuido fonéticoʼ provocado teóricamente por ‚interferencias entre el castellano y el inglésʼ, las otras lenguas que don Felipe emplea en sus discursos y que alterna con el catalán“; „Cómo es el nivel de catalán que habla el príncipe. Lo ha utilizado en los últimos discursos pronunciados en Cataluña“, in: Monarquía Confidencial , 31. 03. 14; http: / / www.monarquiaconfidencial.com/ espana/ nivel-catalan-habla-principe_0_2242575736.html. 68 Un último caso de polémica lingüística (fracasada), surgido después de la redacción de este artículo, es el de la broma malograda y subsiguiente destitución del cónsul español en Washington, Enrique Sardà Valls, el 1 de agosto de 2017; Sardà (nacido en Barcelona) <?page no="174"?> 174 Alf Monjour (Duisburg-Essen) lingüísticas, en el futuro, se van a superar o no. En otras palabras: ¿Cuál va a ser la importancia de la variación lingüística en la sociedad española de mañana? Respecto a las variedades del castellano, se puede pronosticar - y los primeros indicios se manifiestan ya - cierta nivelación de los valores de prestigio correspondientes. Existe un debate, por ejemplo, sobre la supervivencia o paulatina desaparición de los tópicos anti-andaluces en el paisaje mediático actual. Unos creen que los esquemas lingüístico-culturales centralizadores siguen en vigor: „,Los actores de cine, teatro y doblaje. Los locutores de radio, los presentadores de televisión… todos estos profesionales dejan a un lado su manera de hablar que le [sic! ] es propia e imitan la inherente a los madrileños o burgaleses. Eso da cuenta de cómo, en el campo simbólico mediático, se manifiesta explícitamente esa ideología imperial de inferiorización de los otros a partir de un punto cero. Sus capitales lingüísticos están desvalorizados’, apunta el investigador de Sociolingüística Crítica en la Universidad de Huelva, Igor Rodríguez-Iglesias“. 69 Otros profesionales, sin embargo, confirman la existencia de cambios en la valoración de las variedades andaluzas: „Durante décadas, los actores andaluces han necesitado aprender a pronunciar con el llamado acento neutro para poder ser contratados en el sector audiovisual. ‚Esto era así. Si no sabías ocultar tu acento andaluz tus papeles se limitaban a hacer de camarero o Guardia Civil, quedabas relegado a papeluchos, nunca protagonistas. Pero a partir de Padre Coraje (2002) esta concepción ha ido cambiando. Ahora puedes aparecer en cualquier serie perfectamente siendo andaluz sin que conlleve nada más’, considera el actor de San Fernando Álex O'Dogherty, que tras más de 20 años de carrera nacional e internacional ha vivido el proceso que estigmatiza la interpretación de los andaluces por sus acentos“. 70 había publicado en Facebook un comentario dirigido contra Susana Díaz, la presidenta de la Junta de Andalucía: „ʻVerano tórrido. Hay que ver qué ozadía y mar gusto de la Susi. Mira que ponerse iguá que Letizia. Como se ve ke no sabe na de protocolo ella tan der pueblo y de izquielda. Nos ha esho quedar fatá a los andaluse. Dimisión yaʼ. El comentario de Sardà intenta parodiar un supuesto acento andaluz plagado de faltas de ortografía y censura que la presidenta andaluza acudiera a un acto público en Málaga con un vestido similar al de la reina Letizia“; González, Miguel: „Cesado el cónsul en Washington por burlarse de la presidenta de Andalucía. El diplomático considera ʻdesproporcionadaʼ la decisión y alega que su comentario era una ʻbromaʼ“, in: El País, 02.08.17, http: / / politica. elpais.com/ politica/ 2017/ 08/ 01/ actualidad/ 1501601752_767582.html. 69 Lucas, Ángeles: „La cuestión del acento neutro. El andaluz se despoja paulatinamente de los estigmas impuestos en el habla en el sector audiovisual“; in: El País , 26. 02. 16, http: / / ccaa.elpais.com/ ccaa/ 2016/ 02/ 22/ andalucia/ 1456142411_363031.html. 70 Lucas, Ángeles: „La cuestión del acento neutro. El andaluz se despoja paulatinamente de los estigmas impuestos en el habla en el sector audiovisual“, art.cit. Cf. también la entrevista con otra actriz andaluza en Lucas, Ángeles: „‚Por soñar, me gustaría que se rodara más en Andalucía’. La actriz jiennense Natalia de Molina ha conseguido su <?page no="175"?> Polémica lingüística acerca de variedades e identidades 175 Resulta llamativo también que en este debate mediático sobre la presencia mediática de las variedades, es decir, en un meta-debate organizado por no expertos en el sentido de la lingüística folk o „Laienlinguistik“ alemana, se recurre también a la opinión de expertos, como por ejemplo en un artículo redactado por ocasión de uno de los episodios analizados anteriormente acerca de la historia y del presente de los tópicos sobre el andaluz. Rafael Cano Aguilar compara una mejor valorazión del andaluz con el cambio político-normativo frente al español de América y „recuerda que ,la noción de ‘lo correcto’ cambia con el tiempo’ y que ‚todas las variedades de una lengua tienen una valoración’. ,No hace tanto tiempo, se pensaba que el habla en Hispanoamérica tenía errores y confusiones, y hoy la Academia tiene un punto de vista totalmente distinto, panhispánico y pluricéntrico’”. Francisco Torres Montes, por su lado, se refiere a la heterogeneidad interna de las hablas andaluzas que, ellas tampoco, no gozan todas del mismo prestigio; „recuerda que en 1988 asistió a un congreso en el que lingüistas, periodistas de la RTVA y autoridades apostaban por imponer un único andaluz normativo, que no era otro que el sevillano, pese a las diferencias abismales que existen en el habla entre diferentes comarcas. A muchos andaluces occidentales, advierte, les espantan las ‚aperturas vocálicas’ de los orientales; y a estos les horroriza el típico soniquete hispalense”. 71 Frente a estas posibles tendencias hacia una mejor valoración de las variedades del castellano, sigue viva - como ya lo hemos visto al inicio de estas reflexiones - la polémica en el dominio de las lenguas cooficiales y dentro del debate identitario entre las comunidades con lenguas cooficiales, ante todo Cataluña y Euskadi, y el resto del país. Para concluir, nos gustaría poder encontrar indicios de que, en este campo también, la polémica lingüística dé signos de amainar, por lo menos de vez en cuando… ¿Será un indicio de decrispación el hecho de que en el debate de investidura (fallida) del 2 de marzo de 2016, en el Congreso de los Diputados, se podía escuchar a algunos de los parlamentarios expresarse, segundo Goya como mejor actriz con 26 años”; in: El País , 26. 02. 16, http: / / ccaa.elpais. com/ ccaa/ 2016/ 02/ 22/ andalucia/ 1456136878_001839.html; en esta entrevista, la actriz confirma una mejora de la situación: „P. Como andaluza, ¿cree que el acento ha sido un problema para encontrar trabajo? R. Al principio sí. Antes de que David Trueba me seleccionara para Vivir es fácil con los ojos cerrados siempre me echaban para atrás por mi acento. Preparaba los castings disimulándolos, pero precisamente, para esa película lo que querían era a una andaluza. De todas formas, ahora se respetan más las distintas formas de hablar que representan a la diversidad de España. El acento neutro en realidad no existe“. 71 Gallastegui, Inés: „Debate abierto por Nebrera. La polémica ‚ehtá servía’. La valoración de los diferentes acentos de una lengua está asociada a estereotipos culturales, sociales y económicos, y varía con el tiempo“, in: Ideal , 15. 01. 09, http: / / www.ideal.es/ granada/ 20090115/ cultura/ polemica-ehta-servia-20090115.html; el artículo se cita también por Ureña Rodríguez (2014b, 188). <?page no="176"?> 176 Alf Monjour (Duisburg-Essen) de manera testimonial, en su lengua cooficial correspondiente, contraviniendo por lo tanto al reglamento del Congreso? 72 El empleo del catalán en el Congreso constituye una estrategia particularmente compleja cuando recurre a ella justamente Albert Rivera, el Presidente de aquel partido - Ciudadanos - cuyo cometido principal, desde su creación a base de la plataforma Ciutadans de Catalunya, es el combate contra la imposición lingüístico-cultural del nacionalismo (catalán): „[…] Albert Rivera […] usó el catalán durante su discurso para defender una reforma constitucional para ‚modernizar y mejorar Españaʼ como la mejor fórmula para frenar el independentismo, además de recordar que su acuerdo con el PSOE cierra la puerta a la celebración de una ,consulta de autodeterminaciónʼ. ,Visca Catalunya Lliureʼ, le gritaron entonces desde la bancada. ‚Visca Catalunya… libre de corrupciónʼ, respondió Rivera medio en catalán, medio en castellano“. 73 En coherencia con el concepto de la igualdad de oportunidades entre lenguas frente al predominio de una (lengua cooficial) sobre otra (lengua del Estado) se puede interpretar también la propuesta, hecha por este mismo partido, Ciudadanos, de implantar como asignatura optativa el estudio de las lenguas cooficiales en la enseñanza secundaria fuera de sus comunidades de origen, es decir, por ejemplo, en Andalucía. 74 Una mejor intercomprensión, no lingüística así como lingüística, es la pieza clave dentro de la visión de una futura convivencia harmónica de todos los españoles, tal y como la expresa también el escritor portugués (y „semiespañol“) Gabriel Magalh-es: „Magalh-es sugiere que las escuelas españolas añadan a su cuerpo académico la enseñanza de catalán, euskera o gallego (¿se imaginan? ). ,Es importante que todo español sepa que ‚pau’ significa ,paz’. Lingüística e intención“. 75 Lingüística e intención - uno de los representantes del análisis del español coloquial, Luis Cortés Rodríguez, concluye un comentario suyo en El País sobre todas las polémicas mediáticas acerca de las „variantes más apartadas de la norma estándar del español […] y […] emitidas por hablantes gallegos, aragoneses, vascos, catalanes, pasiegos, etcétera, y tam- 72 Cf. Ruiz Marull, David: „El catalán ya no está prohibido en el Congreso“, in: La Vanguardia , 02. 03. 16, http: / / www.lavanguardia.com/ politica/ 20160302/ 40145943494/ catalancongreso-albert-rivera-patxi-lopez-xavier-domenech.html. 73 Ruiz Marull, David: „El catalán ya no está prohibido en el Congreso“, art.cit. 74 Cf. Mora, A. J./ Mateo, J. J.: „Ciudadanos plantea en Andalucía el estudio de catalán, euskera y gallego“, in: El País , 15. 01. 16, http: / / politica.elpais.com/ politica/ 2016/ 01/ 15/ actualidad/ 1452872300_492838.html. 75 Orovio, Ignacio: „Una visión de España desde su periferia. ‚La solución de España está en las lenguasʼ. El pensador portugués Gabriel Magalh-es disecciona en ,Los españoles’ el ovillo actual y sugiere vías de concordia“, in: La Vanguardia , 02. 02. 16, http: / / www. lavanguardia.com/ cultura/ 20160202/ 301831741841/ gabriel-magalhaes-entrevista-lavanguardia.html. <?page no="177"?> Polémica lingüística acerca de variedades e identidades 177 bién, más de lo deseable, por andaluces”, expresando una esperanza relacionada también con una mejora de la enseñanza (universitaria): „Confiemos en que en la próxima polémica que surja acerca de lo mal que hablamos unos u otros, quiera la ventura ‚dejar una puerta abierta en la desdichaʼ para que en vez de incentivarla den ,remedio a ellaʼ. So pena que queramos seguir como estamos“. 76 Nos permitimos compartir esta esperanza, la del lingüista andaluz como la del autor complutense cuyo efeméride conmemoramos en este año que corre… 77 Bibliografía Blas Arroyo, José Luis (2008): „Variación lingüística e identidad en la España plurilingüe: una aproximación multidisciplinar“, in: Westmoreland, Maurice / Thomas, Juan Antonio (eds.): Selected Proceedings of the 4th Workshop on Spanish Sociolinguistics , Somerville, MA , Cascadilla Proceedings Project, 1-16, http: / / www.lingref.com/ cpp/ wss/ 4/ paper1751.pdf ? iframe=true&width=80 %&height=80 %. Busse, Dietrich (2012): Frame-Semantik. Ein Kompendium , Berlin / Boston, De Gruyter. Cano Aguilar, Rafael (2009): „Lengua e identidad en Andalucía: visión desde la historia“, in: Narbona Jiménez, Antonio (ed.): La identidad lingüística de Andalucía , Sevilla, Fundación Centro de Estudios Andaluces / Consejería de la Presidencia, 67-131. Carriscondo Esquivel, Francisco M. 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Vor diesem Hintergrund ist zu beobachten, dass die dialektalen Formen des bestimmten Artikels eine bedeutende Rolle im metasprachlichen Konfliktdiskurs sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart spielten bzw. spielen. Sie sind folglich nicht nur ein morphologisches Merkmal, sondern ein soziolinguistisches Symbol, in dem sich der Sprachkonflikt zwischen der katalanischen Standardsprache und ihren insularen Varietäten manifestiert. Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Ziel, die gegenwärtige laienlinguistische sprachkritische Diskussion zum Gebrauch der Artikelformen in den audiovisuellen Medien näher zu betrachten und die Bedeutung dieses morphologischen Merkmals für die sprachliche Identitätskonstruktion herauszuarbeiten. Zunächst soll jedoch eine systemlinguistische Beschreibung der Artikelformen erfolgen. 2 Die Artikelformen aus systemlinguistischer Perspektive Das katalanische Sprachgebiet ist dialektologisch betrachtet von keiner starken Aufsplitterung gekennzeichnet. Allgemein wird seit Milà i Fontanals (1861) zwischen zwei Hauptdialekten, dem Ost- und Westkatalanischen, unterschieden, 1 Der Dialekt Formenteras wird generell in der Dialektologie unter der Bezeichnung eivissenc subsumiert, obwohl es Unterschiede zwischen den diatopischen Varietäten Ibizas / Eivissas und Formenteras gibt (vgl. Veny i Clar 12 1998, 72; Moll 1990, 90). <?page no="182"?> 182 Sandra Herling (Siegen) die sich wiederum in mehrere Subdialekte untergliedern lassen. Eine Zuordnung der auf Mallorca, Menorca und den Pityusen gesprochenen Varietäten des Katalanischen zum Ostkatalanischen hat innerhalb der katalanischen Dialektologie keine größeren Diskussionen aufkommen lassen (vgl. Radatz 2010, 135). Zu berücksichtigen ist jedoch, dass bereits Milà i Fontanals (1875) eine trinäre Aufteilung in Ost-, Westkatalanisch und Balearisch 2 vorgeschlagen hat (zur aktuellen Diskussion siehe Radatz 2010). Dieser Vorschlag resultiert aus der Tatsache, dass den balearischen Dialekten eine gewisse Eigenständigkeit zugesprochen werden kann. So konstatierte Veny i Clar ( 12 1998, 54): „El balear és probablement el dialecte més diferenciat dins el mosaic lingüístic català […]“. Der Sonderstatus wird in erster Linie dadurch erklärt, dass die balearischen Dialekte sowohl auf phonetischer, morphologischer als auch lexikalischer Ebene Archaismen aufweisen (vgl. Alegre 1991, 69), die im Allgemeinen den Sprachstand des 15. Jahrhunderts wiedergeben: Aquestes illes, formant un món apart amb vida pròpia, varen conservar llur parla, lliure de les moltes influències que el català hi podia exercir, no marxant la seva evolució, sinó estacionant-se a l’etapa del català del segle XV , amb les evulucions fonètiques, formes morfològiques i lèxic del català medieval (Griera 1917, 2). Ein konkretes Beispiel aus der Verbalmorphologie soll dies verdeutlichen: Die 1. und 2. Person Plural wird durch die Morpheme {am} und {au} markiert wie z. B. cantam und cantau (Indikativ Präsens) oder cantaram , cantarau (Futur). Bereits im Altkatalanischen können diese finiten Verbformen cantam und cantau belegt werden (vgl. Badia i Margarit 1981, 127). Auch wenn in der katalanischen Dialektologie dieser archaische Charakter häufig im Fokus steht, sollte an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die insularen Dialekte ebenfalls Innovationen aufweisen: „So sind beispielsweise die ø-Endungen der 1. Person Singular nach Konsonantengruppe ( jo compr-ø , jo entr-ø , jo cant-ø ) keine Fortführung des Altkatalanischen, sondern eine balearische Innovation […]“ (Radatz 2010, 136). Zu den auffälligen Merkmalen der balearischen Dialekte zählen neben den Archaismen weitere Phänomene phonetischer Natur: In der ostkatalanischen Dialektgruppe werden in unbetonter Stellung die Vokale a und e zentralisiert 2 Besonders in der katalanischsprachigen Dialektologie ist die Bezeichnung balear (Balearisch) kritisiert worden. Beispielsweise ist für Gabriel Bibiloni (2002) die hyperonymische Bezeichnung balear problematisch, da sie keine linguistische Realität widerspiegele und mit der sich die Sprecher nicht identifizieren können „ balear - paraula que no sol despertar gaire entusiasme entre els illencs sensibles, ni aplicada a fets lingüístics ni aplicada a cap altra realitat […].“ Veny i Clar ( 12 1998, 55) rechtfertigt die Verwendung der Bezeichnung balear durch pragmatische Gründe: „La terminologia dialectològica necessita un mot genèric per designar el conjunt de parlars de l’arxipèlag; si balear ja compta amb un suport històric, podem acceptar-lo sense cap escrúpol.“ <?page no="183"?> „Sa nostra llengo“-- Die balearischen Artikelformen 183 [ǝ]. Die Besonderheit des Balearischen liegt nun darin, dass auch in betonter Stellung die erwähnten Vokale zentralisiert werden. Diese werden jedoch phonetisch wesentlich gespannter und labialisierter realisiert als in unbetonter Position (vgl. Radatz 2010, 146). Treffenderweise spricht Radatz (ebd.) diesbezüglich vom „ Schwah balearicum “. Ein weiteres Charakteristikum der balearischen Dialekte stellen die zahlreichen Assimilationen und Dissimilationen dar. Beispielsweise sind im Mallorquinischen und Menorquinischen systematisch alle Plosive von Assimilationsprozessen betroffen: cap flor [kaf flɔ], puc passar [pup pǝsa], cap ca [kak ka] (vgl. Palmada 2002, 268). Dissimilationen treten hingegen beim Aufeinandertreffen von zwei Sibilanten auf: „Während in allen anderen katalanischen Dialekten zwei identische Sibilanten zumeist zu einem verschmelzen, verschiedene dagegen deutlich hörbar erhalten bleiben, reagiert das Balearische hier mit einer Dissimilation“ (Radatz 2010, 160). Der erste Sibilant wird - wie die folgenden Beispiele zeigen - zu einem Plosiv: piscina [pitsinǝ] (Beispiel aus Radatz 2010, 160) oder ses sabates [sǝt] (Beispiel aus: Dols Salas 2002, 341). Es stellt sich nun die Frage, warum im Balearischen diese Dissimilationen auftreten, die weder in anderen katalanischen Dialekten noch in anderen europäischen Sprachen - abgesehen vom Baskischen - vorkommen. Ein möglicher Grund hierfür könnten die dialektalen Formen des bestimmten Artikels sein, die sowohl im Singular und Plural auf einem Sibilanten enden. Die Frequenz der Artikelformen im gesprochenen Katalanisch der Inseln könnte für die Tatsache, dass zwei aufeinandertreffende identische Sibilanten phonetisch unterschieden werden müssen, verantwortlich sein (vgl. Radatz 2010, 160 f.). Festgehalten werden kann, dass unter anderem sowohl Erscheinungen im Vokalismus ( Schwah balearicum ), im Konsonantismus (Assimilationen und Dissimilationen) als auch Archaismen in der Phonetik, Morphologie und Lexik die besondere Stellung bzw. Eigenständigkeit der balearischen Dialekte innerhalb der ostkatalanischen Dialektgruppe hervorheben. An dieser Stelle sei angemerkt, dass im Bewusstsein der Sprecher diese Charakteristika als Abgrenzungskriterien zu anderen katalanischen Dialekten eine untergeordnete Rolle spielen. Von großer Relevanz sind hingegen die Formen des bestimmten Artikels, die - wie noch weiter unten näher ausgeführt wird - für die Sprecher das wichtigste Charakteristikum der eigenen insularen Dialekte und vor allem ein Abgrenzungsmerkmal zu festlandkatalanischen Varietäten darstellt. Morphologisch weichen die balearischen Artikelformen von den standardkatalanischen ab: Die Formen im Maskulin Singular und Plural vor konsonantischem Anlaut sind identisch - wie die folgenden Beispiele demonstrieren: es camí ‚der Weg‘, es camins ‚die Wege‘. Vor einem vokalisch anlautenden Substantiv im Plural erscheint die Artikelform ets (z. B. ets amics ‚die Freunde‘). Nur im ibizenkisch-formenteresischen Dialekt taucht auch vor Vokal das Plural- <?page no="184"?> 184 Sandra Herling (Siegen) morphem es auf (vgl. Veny 1999, 65). Wie im Standardkatalanischen wird vor vokalischen Anlaut im Singular elidiert: s’amic ‚der Freund‘. Im Femininum wird zwischen Singular und Plural unterschieden: Die Singular-Form lautet sa (z. B. sa maduixa ‚die Erdbeere‘) und die Plural-Form ses (z. B. ses maduixes ‚die Erdbeeren‘). Vor Vokal erfolgt ebenfalls eine Elision: s’amiga ‚die Freundin‘. Schließlich sei noch eine Sonderform erwähnt. In den Subdialekten Mallorquinisch (bis auf Palma), Ibizenkisch und Formenteresisch erscheint nach den Präpostionen amb (‚mit‘) und en (‚in, auf ‘ etc.) die Allomorphe so (im Singular) und sos (im Plural): amb so carro ‚mit dem Wagen‘, amb sos carros ‚mit den Wagen‘ (vgl. Veny / Massanell 2015, 194). Etymologisch führt Badia i Margarit (1981, 316) diese Artikelformen auf ipso , den Ablativ des lateinischen Demonstrativpronomens zurück. Teilweise, jedoch nicht systematisch erscheinen auch nach der Präposition en die Allomorphe so und sos . Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass die beiden Präpositionen homophon sind und en ein Analogieprozess, „ein Ausstrahlen des Phänomens“ darstellt (vgl. Radatz 1989, 66). Zu ergänzen ist, dass eine Reihe von Wörtern nicht mit den dialektalen Artikeln verwendet wird, sondern mit den standardkatalanischen Artikeln ein Nominalsyntagma bilden. So steht der standardkatalanische (oder auch article literari ‚literarische Artikel‘ genannt) unter anderem vor adverbialen Bestimmungen der Zeit wie z. B. bei der Angabe der Uhrzeit ( la una ) oder allgemein bei Ausdrücken, die zeitliche Angaben enthalten wie z. B. l’any passat , l’any que ve , tot l’any ; bei adverbialen Bestimmungen des Ortes wie z. B. a la dreta , a l’aire , bei adverbialen Bestimmungen der Art und Weise wie z. B. a la francesa , a les fosques , bei Mengenangaben wie z. B. la mitat , la majoria ; vor Abkürzungen wie z. B. el PSOE , el PP ; in verschiedenen idiomatischen Wendungen wie z. B. blanc com el neu , prendre la fresca ; vor Lexemen, die einmalige Entitäten bezeichnen wie z. B. el món ; der article literari steht außerdem vor Lexemen aus dem Bereich der Kirche und Religion wie z. B. el Rosari , la Mare de Déu ; vor Titeln und respektvollen Anreden wie z. B. el rei , el senyor , la senyora ; bei der Angabe von Himmelsrichtungen ( el nord etc.) und schließlich in nautischen Wendungen wie z.B . anar a l’orsa ‚luvwärts‘, pescar a la fluixa ‚mit der Schleppangel fischen‘ (vgl. Moll 1990, 88; Veny i Clar 12 1998, 74 f.; Colomina i Castanyer 2002, 547; Radatz 2010, 185 ff.) In Anspielung auf die feminine Form im Singular, die sa lautet, werden die dialektalen Artikelformen - vor allem umgangssprachlich - auch article salat genannt (vgl. Radatz 1989, 64). Analog dazu erhalten die standardkatalanischen Formen die Bezeichnung article lalat . Die Wendung parlar salat oder das Verb salar beziehen sich schließlich auf den Gebrauch der besagten Artikelformen in einer Äußerung. „Entsprechend hat sich auch ein Ausdruck für das Sprechen ohne balearischen Artikel eingebürgert, so sagt man von Katalanen und Valen- <?page no="185"?> „Sa nostra llengo“-- Die balearischen Artikelformen 185 cianern, dass sie lalat sprechen“ (Radatz 2010, 176; Hervorhebung im Original). Ergänzend sei angemerkt, dass sich ein erster Beleg für den Gebrauch des Verbs salar in einem Aufsatz von Antoni Alcover aus dem Jahre 1905 findet (vgl. Busquet Isart 2011, 8). Neben der Bezeichnung article salat wird teilweise sowohl in deutschsprachigen als auch katalanischsprachigen Grammatiken die Bezeichnung article baleàric verwendet (z. B. Brumme 1997, 51 oder Solà et al. 2002, 1471). Jedoch ist dieser Terminus insofern nicht geeignet, als die Artikelformen nicht nur im Balearischen, sondern auch in anderen katalanischen Dialekten sowie in weiteren romanischen Varietäten vorkommen (vgl. Herling 2008, 86). Auf dem katalanischsprachigen Festland wird der article salat in einzelnen Orten an der Costa Brava verwendet: Cadaqués, Begur, Palafrugell, Llofriu, Montras, Els Masos de Pals, Palamós, Castell d’Aro, Vall-Llobrega, Sant Feliu de Guíxols, Tossa de Mar, Lloret de Mar. Darüber hinaus in den valencianischen Ortschaften Vall de Gallinera und Tàrbena (vgl. Badia i Margarit 1981, 315 f. und Veny i Clar 12 1998, 37). Außerhalb des katalanischen Sprachgebiets findet sich ein morphologisch ähnliches Artikelsystem in den sardischen Dialekten Logudoresisch (im Zentrum der Insel) und Campidanesisch (im Süden) sowie in Dialekten Südsiziliens, der Liparischen Inseln und der südfranzösischen Orten Grasse und Castellane (vgl. Aebischer 1948, 147). Bezüglich der geographischen Verbreitung auf den Balearen ist zu ergänzen, dass die im Norden Mallorcas gelegene Gemeinde Pollença eine Ausnahme darstellt, denn hier werden nicht die Formen des article salat verwendet (vgl. Veny i Clar 12 1998, 62). Etymologisch betrachtet gehen die gegenwärtigen Formen des article salat auf die lateinischen Pronomen ipse , ipsa etc. zurück - im Gegensatz zu anderen romanischen Artikelsystemen, denen historisch die lateinischen Demonstrativpronomina ille , illa etc. zugrundeliegen. Die These, dass das ipse -Gebiet im Mittelalter (10.-11. Jahrhundert) größer als heute gewesen sein muss, kann unter Berücksichtigung der Onomastik gestützt werden (vgl. Rabella 2006, 215). Toponyme wie z. B. Puigsacalm , Collsacabra , Collsacreu (vgl. Badia i Margarit 1981, 315) oder Familiennamen wie z. B. Sapène , Satorre , Despuig in Katalonien und auch in Südfrankreich (Gascogne und Region Alpes Maritimes) geben Aufschluss über den Gebrauch in seiner geographischen Ausdehnung (vgl. Aebischer 1948, 183 und Colomina i Castanyer 2002, 545). Dass sich in den meisten romanischen Varietäten ein auf ille zurückgehendes Artikelsystem durchgesetzt hat, könnte möglicherweise mit der Tatsache erklärt werden, dass die ipse -Artikel tendenziell an den umgangssprachlichen bzw. mündlichen Gebrauch gebunden waren (vgl. Radatz 2010, 177). Busquet Isart (2011, 21) hält eher die pragmatische Markierung für ausschlaggebend: <?page no="186"?> 186 Sandra Herling (Siegen) En época preliterària, l’article salat era general a tot el català, però va experimentar una recessió a causa de la connotació pejorativa que adquirí. El tret va passar a ser un element sense prestigi i, per tant, l’altre article habilitat en català (el derivat del demostratiu llatí ille) el va acabar substituent; primer; en la llengua escrita; el registre formal, i, finalment, en tots els contextos. Die Studie von Selig (1989) zu spätlateinischen Texten zeigt, dass ab dem 9. Jahrhundert das Nebeneinander von ille und ipse allmählich zugunsten von ille aufgegeben wurde. Diese Tendenz kann durch die eingeschränkte Verwendungsmöglichkeit von ipse motiviert worden sein, denn im Gegensatz zu ille erfüllte ipse nur eine anaphorische Funktion in Texten (vgl. Selig 1989, 107 ff.). Es können folglich sowohl externe als auch interne Faktoren in Betracht gezogen werden, um die Konkurrenz bzw. die Durchsetzung der ille -Artikel in großen Teilen der Romania zu erklären. Ein Blick auf die gegenwärtige Situation zeigt, dass die auf ipse zurückgehenden Artikelformen vor allem auf den Balearen und auf Sardinien gebraucht werden (vgl. Radatz 2010, 177), wohingegen die Verwendung auf dem katalanischsprachigen Festland sehr stark zurückgegangen ist und sich nur bei älteren Sprechern (insbesondere Bauern oder Fischer) konstatieren lässt (vgl. Busquet Isart 2011, 8). In Bezug auf die Balearen lässt sich zudem beobachten, dass besonders jüngere Dialektsprecher zu einer Generalisierung tendieren und den article salat auch in Kontexten verwenden (wie z. B. sa Mare de Deu anstatt la Mare de Deu ), die dem article literari (wie weiter oben dargestellt) vorbehalten sind (vgl. Sánchez et al. 2013, 416). Historisch betrachtet ist der Gebrauch des article salat auf den Balearen bis ins 19. Jahrhundert ausschließlich auf die mündliche, nähesprachliche Kommunikation beschränkt (vgl. Radatz 2010, 179). Dies ist zunächst nicht verwunderlich, denn die Textproduktion auf Katalanisch wurde seit dem 15./ 16. Jahrhundert aufgrund des zunehmenden Hispanisierunsprozesses - ähnlich wie in València - stark eingedämmt. Im 18. Jahrhundert wurde dies durch die zentralistisch orientierte Sprachpolitik der bourbonischen Dynastie forciert (vgl. Herling 2008, 39-42). Trotz dieser repressiven Maßnahmen tauchten sporadisch katalanischsprachige Schriftstücke auf, die eine Verwendung des article salat belegen. Von Bedeutung ist ein Text aus dem Jahre 1813, in dem es wie folgt heißt: Avis el poble Amats paisans: Es Governador de la mitra, en resposta à sas súplicas humils y respectuosa que varios gremis li han festas à favor de sa protecció, defensa y conservació de la Santa Fé : vos diu y vos asegura, que está tan resolt à consolarvos en un punt tan important que primer perdrá la vida […] <?page no="187"?> „Sa nostra llengo“-- Die balearischen Artikelformen 187 Palma 24 de abril de 1813, Juan Muntaner y Garcia, Governador de la mitra […] (zitiert nach Martínez i Taberner 2000, 117). Die Besonderheit des Textes liegt nun - laut Martínez i Taberner - darin, dass es sich um den ersten schriftlichen Beleg des article salat auf den Balearen handelt: Aquest paper imprès és força important, no tan sols per la persona que signa el pamflet, sinó per la llengua que utilitza - cosa que comentarem més àmpliament a l’apartat de conclusions -, però no puc deixar d’esmentar que per primer cop hem trobat un escrit en català que utilitza l’article derivat de ILLE i de IPSE (Martínez i Taberner 2000, 117). Ein weiterer schriftlicher Beleg lässt sich in der Presse finden. Doch diesbezüglich ist der politische Kontext nicht unerheblich: Das erste Drittel des 19. Jahrhunderts war u. a. von den politischen Auseinandersetzungen zwischen Absolutisten und Liberalen geprägt. Es gab allerdings nicht nur ideologisch, sondern auch sprachlich zwei Lager: Während die Liberalen das Spanische favorisierten, verfasste die gegnerische Seite ihre Publikation in einem dialektalen Katalanisch. Die Intention war, die gesamte Bevölkerung zu erreichen, die größtenteils des Spanischen nicht mächtig war. Vor allem diente die Tagespresse als Sprachrohr. Als Beispiel für die schriftliche Verwendung des article salat sei die Zeitung Diari de Buja genannt, die zwischen 1812-1813 publiziert wurde (vgl. Alomar i Canyelles 2000, 12). Im Gegensatz zu dem weiter oben erwähnten Schriftstück handelt es sich hier um eine ideologisch motivierte Verwendung der balearischen Artikel. Angemerkt sei auch, dass die Zeitung bereits 1812 erschien und somit einen früheren Beleg darstellt als die von Martínez Taberner angeführtes Schriftstück. Die Tatsache, dass sich im Gebrauch des article salat ideologische Auffassungen manifestieren und dass die Artikelformen letztlich eine relevante Rolle als Identitätsmarker für einen großen Teil der balearischen Bevölkerung spielen, soll im Folgenden in den Mittelpunkt der Betrachtungen stehen. 3 Die Artikelformen aus soziolinguistischer Perspektive Gegenwärtig sind die balearischen Inseln - wie bereits eingangs erwähnt wurde - von einer komplexen Sprach- und Varietätenkontaktsituation gekennzeichnet. Aus historischer Perspektive lässt sich festhalten, dass sich bis Mitte des 20. Jahrhunderts eine klar definierte Funktionsverteilung des Spanischen und Katalanischen etabliert hatte: In offiziellen und öffentlichen Domänen wurde Spanisch verwendet, während die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in der informellen, mündlichen Kommunikation ausschließlich den jeweiligen <?page no="188"?> 188 Sandra Herling (Siegen) insularen Dialekt (Mallorquinisch, Menorquinisch, Ibizenkisch oder Formenteresisch) verwendete. Erst der Beginn des Tourismus Anfang der 1950er Jahre und die damit verbundene massive Immigrationswelle von Arbeitssuchenden des spanischen Festlandes stellte eine Zäsur für die bisherige Sprachsituation dar: Die ersten Migranten stammten vorwiegend aus Gebieten mit relativ hoher Arbeitslosenquote wie z. B. Andalusien. Die Festlandspanier kamen zwar aus sozial schwächeren Gebieten, sprachen aber die Sprache mit dem weitaus höheren Prestige. Dies prägte wiederum das soziolinguistische Verhalten der einheimischen Bevölkerung. In dem an Bedeutung zunehmenden Wirtschaftsbereich, dem Tourismus, fungierte mehr und mehr das Spanische als Kommunikationsmittel. Man kann festhalten, dass ab Mitte des 20. Jahrhunderts der Gebrauch des Spanischen in der mündlichen Kommunikation stark zugenommen hat, einer Domäne, die vorher ausschließlich den balearischen Dialekten vorbehalten war (vgl. Moll 1990, 172 f. und Herling 2008, 74). In den 1980er Jahren erweiterte sich das Sprachkontakt-Szenarium um eine entscheidende Komponente. Mit der Anerkennung des Autonomiestatuts im Jahre 1983 und die damit verbundene Verabschiedung des sprachlichen Normalisierungsgesetzes im Jahre 1986 wird dem Katalanischen der kooffizielle Status zugesprochen. Diese sprachenpolitischen Regelungen sowie die daraus resultierende Sprachplanung stellen für die Mehrheit der Bevölkerung eine erstmalige Konfrontation mit der normierten katalanischen Sprache dar (vgl. Herling 2008, 73 f.). Für die balearische Bevölkerung, die daran gewöhnt war, in der schriftlichen Kommunikation das Spanische zu verwenden, war das Standardkatalanische nun eine neue, ungewohnte Form der Schriftsprache, mit der man sich nicht identifizieren wollte. An dieser Stelle sei ergänzend angemerkt, dass es sich um eine regionale Standardsprache handelte, denn seitens des Institut d’Estudis Catalans sind einige dialektale Charakteristika wie die Formen der Possessivpronomina 3 sowie Teilaspekte der Verbalmorphologie 4 anerkannt worden (vgl. Herling 2008, 74). Dennoch sahen viele Insulaner ihre eigene sprachlich-kulturelle Identität aus zwei Richtungen bedroht: einerseits durch die das Spanische und andererseits durch das Standardkatalanische (vgl. 3 Die Possessiva auf den Balearen lauten meua, teua und seua (zum Vergleich: Standardkatalanisch in Katalonien: meva , teva , seva ). 4 Konjugationsformen der 1. Pers. Sg. des Indikativ Präsens (die balearischen Dialekte weisen - aus strukturalistischer Perspektive - eine Nullstelle auf: pens , cant im Gegensatz zum Standardkatalanischen in Katalonien: penso , canto etc.); die Konjugationsformen der 1. und 2. Pers. Pl. (betroffen sind die Verben der 1. Konjugationsklasse wie z. B. parlam , parlau (anstatt parlem , parleu im Standardkatalanischen in Katalonien) sowie die 1. Pers. Sg. des Indikativ Präsens der Verben esser, tenir, venir (Balarisch: som, tenc, venc ; Katalonien: sóc, tinc, vinc ). <?page no="189"?> „Sa nostra llengo“-- Die balearischen Artikelformen 189 Radatz 1989, 64). Das Standardkatalanische wurde in erster Linie mit dem katalanischsprachigen Festland assoziiert und als einen sprachlich-„kulturellen Imperialismus“ (Radatz 1989, 64) Kataloniens empfunden. Diese Konfliktsituation veranlasste schließlich die Linguistin Aina Moll eine Fernsehsendung mit dem Titel La nostra llengua zu konzipieren. Die im Jahre 1989 ausgestrahlte Sendung präsentierte Themen wie die Zugehörigkeit der balearischen Dialekte zum Katalanischen, systemlinguistische Unterschiede wie auch die unterschiedliche Funktion, die Dialekte und Standardsprachen übernehmen können. Das primäre Ziel war es, Missverständnisse über sprachliche Begebenheiten wie auch Feindseligkeiten abzubauen. Aina Moll versuchte ihren Zuschauern zu zeigen, dass die Verwendung des Standardkatalanischen eine Bereicherung um ein weiteres Register und keine Bedrohung der eigenen sprachlichen Identität darstelle (vgl. Herling 2008, 177). Allgemein betrachtet kann festgehalten werden, dass sich ab dem Zeitpunkt der Kooffizialisierung des Katalanischen eine ablehnende Haltung bei einem Großteil der Bevölkerung herauskristallisiert hat. Damit einhergehend bildete sich ein noch stärkerer Bezug zur eigenen regionalen Identität und Sprache (bzw. Dialekten) heraus, der teilweise in den Zusammenschluss von Gruppierungen mit anti-festlandkatalanischer Gesinnung seinen Höhepunkt fand. Ihnen allen gemeinsam war bzw. ist die Auffassung, dass es eine eigenständige balearische (oder mallorquinische) Sprache gibt, die in keiner Beziehung zum Katalanischen steht - außer dem Faktum, dass beide Sprachen aus dem Latein entstanden sind (vgl. Herling 2008, 175). Auch wenn für den großen Teil der Bevölkerung die Zugehörigkeit der balearischen Dialekte zum Katalanischen nicht in Frage gestellt wurde, lässt sich eine gewisse „catalanofòbia“ (Moll 2 1994, 38) spüren. Ein Grund für diese Einstellung lag in der empfundenen typologischen Unterschiedlichkeit zwischen den eigenen insularen Dialekten und dem Standardkatalanischen. Für viele Insulaner manifestierte sich die Abgrenzung zum Standardkatalanischen in dem bloßen Faktum, dass die Formen des bestimmten Artikels von denen des Standardkatalanischen abweichen. Sie sind dementsprechend zu einem identitätsstiftenden Symbol geworden (vgl. Herling 2008, 175). Radatz (1989, 64) beschreibt dieses Phänomen in Bezug auf Mallorca: Für den durchschnittlichen, linguistisch nicht vorbelasteten Mallorquiner sind diese Artikel intuitiv das vielleicht wichtigste Merkmal, durch das sich sein Dialekt von den anderen katalanischen Dialekten unterscheidet. Sie werden als regional markiert empfunden und angesichts der Bedrohung ihrer kulturellen Besonderheit gleichsam zum sprachlichen Symbol eines mallorquinischen Wir-Gefühls. Jeder Mallorquiner ist sich dieser dialektalen Besonderheit bewusst, […]. (Hervorhebung im Original). <?page no="190"?> 190 Sandra Herling (Siegen) Die Ziele der balearischen Sprachpolitik seit den 1980er Jahren gestalteten sich dementsprechend: Die Schwerpunkte lagen u. a. auf der Prestigeaufwertung des Standardkatalanischen und auf der Stärkung des Sprachbewusstseins bzw. auf dem Bewusstsein, eine gemeinsame katalanische Sprache zu sprechen (vgl. Herling 2008). Um die konfliktgeladene Kontaktsituation zu entschärfen, konzipierte im Jahre 1988 die balearische Regionalregierung in Kooperation mit der balearischen Universität eine Fernsehsendung zum Thema der Artikelformen. Intention war es, den Zuschauern zu vermitteln, dass der article salat ausschließlich dem gesprochenen, informellen Register angehören solle und das Standardkatalanische schließlich eine Bereicherung für das formelle Register darstelle. 5 Ohne Zweifel konnte die balearische Sprachpolitik bis in die Gegenwart große Erfolge verbuchen. Die Normalisierung des Katalanischen in öffentlichen und offiziellen Kommunikationsbereichen ist weit fortgeschritten und die Akzeptanz des Standardkatalanischen als formales Register seitens der Bevölkerung ist heute eher gegeben als in den 1980er Jahren. Die gegenwärtige Sprachensituation auf den Balearen lässt sich wie folgt skizzieren: In der informellen mündlichen Kommunikation werden hauptsächlich die jeweiligen insularen Dialekte oder - vor allem in touristisch geprägten Küstengebieten - das Spanische verwendet. Das formelle (mündliche wie schriftliche) Register ist dem Standardkatalanischen und dem Spanischen vorbehalten. Die linguistic landscape der Balearen ist in einem besonderen Maße von einem dialektalen Merkmal geprägt: Zahlreiche gastronomische Betriebe und auch touristische Unterkünfte wie Hotels, Pensionen etc. weisen in ihren Unternehmensnamen den article salat auf (vgl. Herling 2012, 416). Beispiele hierfür sind die Hotelnamen S’Antigor , Es Picot (Mallorca ), Sa Xalada (Menorca) oder Restaurantnamen wie Sa Punta (Ibiza) oder Es Caló (Formentera) etc. Die Quantität der Ergonyme mit article salat als Namenbestandteil spiegelt den hohen Stellenwert der insularen Dialekte einerseits und des Artikels als identitätsstiftende Komponente andererseits wider. Bossong (2008, 116 f.) bemerkt - hauptsächlich in Bezug auf Mallorca - an: Auf den Balearen ist ipse in der gesprochenen Sprache alleinherrschend […]. Im Schriftlichen dominiert natürlich die Norm von Barcelona, aber der article salat erscheint als Symbol der mallorquinischen Identität in der Werbung, in der Beschilderung von Ortsnamen und in der Bezeichnung lokaler Produkte; er wird im öffentlichen Leben heute ostentativ zur Schau gestellt. So sieht man in Palma an jeder Straßenecke Filialen der lokalen Sparkasse Sa Nostra »die Unsere«. (Hervorhebung im Original). 5 Video siehe unter: http: / / canal.uib.es/ cataleg/ Lletra-menuda-num.-17.-Larticle-literari-i. cid237884 (08. 03. 2016). <?page no="191"?> „Sa nostra llengo“-- Die balearischen Artikelformen 191 Dass die Artikelformen eine relevante Rolle in der insularen Identitätskonstruktion spielen, verdeutlicht besonders eine in jüngster Vergangenheit entfachte Diskussion, die im Folgenden näher betrachtet werden soll. 4 Die Formen des article salat in der gegenwärtigen laienlinguistischen Diskussion Sprachpolitische Maßnahmen und insbesondere die Folgen des Sprach- und Varietätenkontaktes sind auf den Balearen Themen von öffentlichem Interesse. Ein viel diskutiertes und immer wiederkehrendes Thema ist der Kontakt zwischen Standardkatalanisch und den insularen Dialekten. Hierzu finden sowohl in den klassischen Medien wie den Printmedien oder in den audiovisuellen Medien, als auch - und dies im besonderen Maße - im Internet laienlinguistische Diskussionen statt. Von großer Relevanz sind in diesem Kontext die sozialen Medien wie z. B. Facebook oder Twitter. Unter dem Begriff Laienlinguistik sollen im Folgenden jegliche von Laien ausgehenden metasprachlichen Reflexionen gefasst werden. Eine Definition von Laienlinguistik wird mit der Problematik konfrontiert, dass die Trennlinie zwischen den Begriffen Laie und Experte bisweilen nicht leicht zu ziehen ist. Insbesondere das Massenmedium Internet erlaubt es, anonym an Diskussionen teilzunehmen, sodass die Zuweisung von Laien- und Expertenstatus (und auch weiteren Zwischenstadien) häufig nur spekulativ sein kann (vgl. Herling 2015, 157 f.). Es ist mitunter geeigneter, keine akteursbezogene Definition zugrundezulegen, sondern einem weiteren Kriterium, dem Kommunikationsziel, mehr Gewichtung zu geben: „Ein laienlinguistischer Diskurs ist am ehesten nach den Kommunikationszielen und damit der Art der Fokussierung des Themas von einem Diskurs unter Experten abzugrenzen“ (Kailuweit / Jaeckel 2006, 1547). Demzufolge können laienlinguistische Diskurse als Texte aufgefasst werden, die ein nicht-wissenschaftliches Kommunikationsziel intendieren (vgl. Hardy / Herling / Patzelt 2015, 8). Besonders für Sprachkonfliktregionen wie beispielsweise die Balearen bietet die Analyse des laienlinguistischen Diskurses Einblicke in soziolinguistische Fragestellungen wie die der Sprechereinstellungen. Was die Methodik anbelangt, so wurde in der Spracheinstellungsforschung häufig die Methode der direkten Befragung kritisiert, da Fragestellungen suggestiv wirken und letztlich die Resultate beeinflussen können. Um dieser Problematik auszuweichen erlaubt eine indirekte Methode die Möglichkeit, unaufgeforderte metasprachliche Reflexionen analysieren zu können (vgl. Spitzmüller 2005, 99). Es ist offensichtlich, dass sich das Medium Internet als Untersuchungsbasis für die angesprochene <?page no="192"?> 192 Sandra Herling (Siegen) indirekte Methode eignet: Onlinekommentare, Blogeinträge, Kommentare, Diskussionen in den sozialen Medien etc. bieten eine Fülle von Daten, die Einblicke in die Sprechereinstellung ermöglichen. In Bezug auf die Balearen ist es nun interessant zu untersuchen, inwiefern die weiter oben dargestellte soziolinguistische Relevanz der dialektalen Artikelformen Gegenstand laienlinguistischer Reflexionen sind. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden eine exemplarische Auswertung von Internetdiskussionen zu dieser Thematik erfolgen. Angemerkt sei, dass die Analyse eher einen illustrativen als quantitativ orientierten Charakter zu den bisherigen theoretischen Darstellungen besitzen soll. 6 Eine rege Diskussionsaktivität zum Gebrauch der Artikelformen lässt sich ab April 2014 feststellen. Diese Tatsache ist einer politischen Entscheidung geschuldet, auf die später intensiver Bezug genommen wird. Jedoch stellt der article salat ein Thema dar, das nicht nur im Zuge dieser aktuellen politischen Entscheidung diskutiert wurde. Auch in den Jahren stand der article salat immer wieder im Mittelpunkt laienlinguistischer Diskussionen. Besonders auffällig ist die immer wiederkehrende Argumentation, dass die Artikelformen eine identitätsstiftende Komponente einnehmen - wie die folgenden Beispielkommentare verdeutlichen: (1) Es un des principals exponents de sa nostra identitat (Balear) (josomsalat, 14. 12. 2011) (2) […] s‘articul salad sempre sa empleyad a sas Baléàs, ademés es una señal d'identidat nostra que ningú mos pod llévà. (facebook, 23. 10. 2012) (3) Forma part de sa nostra cultura i història (josomsalat, 14. 12. 2011) Interessant in diesem Kontext ist, dass die Artikelformen nicht nur als lokal-patriotisches Symbol bzw. als einzel-insulares Identitätssymbol fungieren, sondern eine gesamt-balearische Identitätsfunktion zugesprochen bekommen: (4) és un element de cohesion de ses quatre illes balears (josomsalat, 14. 12. 2011) Dies verwundert zunächst, denn eine Identifikation mit den Balearen als politische oder sprachlich-kulturelle Einheit bereitet mitunter Schwierigkeiten: balear -paraula que no sol despertar gaire entusiasme entre els illencs sensibles, ni aplicada a fets lingüístics ni aplicada a cap altra realitat- és un conjunt divers i multiforme, dins el qual es poden diferenciar unitats de tipus geogràfic més o menys caracteritzades (Bibiloni 2004). 6 Es wurden 11 verschiedene Blogs, Diskussionsforen mit 321 Diskussionseinträgen analysiert. <?page no="193"?> „Sa nostra llengo“-- Die balearischen Artikelformen 193 Die Artikelformen scheinen aber eine kohäsive Kraft zu besitzen, denn die regionale Identität wird über den Gebrauch des Artikels definiert und schafft somit ein symbolisches Wir-Gefühl: (5) No som balears si rebutjam s‘ús d'aquest article (josomsalat, 16. 01. 2012) Des Weiteren erfahren die Artikelformen häufig eine Valorisierung, die durch Metaphern (wie z. B. Reichtum, Schatz) oder auch sprachästhetischen Bewertungen ausgedrückt werden wie die folgenden Beispiele illustrieren: (6) Sa riquesa de sa nostra llengua catalana és aquesta! (Diaridebalears, 19. 10. 2010) (7) s’article baleàric, un autèntic tresor filològic. (jaumetercer, 03. 12. 2013) (8) Es un article guapo i digne. (jomsalat, 14. 12. 2011) Auf der morphologischen Ebene gilt der article salat - wie bereits Radatz (1989, 64) hervorgehoben hat - als das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zu anderen katalanischen Varietäten: (9) Sa característica principal de sa llengua baleàrica respecte de ses seves germanes de continent es s’article definit. A totes ses Balears llevat de sa localitat mallorquina de Pollença s’empra s’article salat a diferència des lalat o alveolar des continent (sapatriamallorquina, 25. 10. 2010) Darüber hinaus ist auch zu beobachten, dass ein Bedrohungsszenarium wahrgenommen wird. Beispielsweise kommt im folgenden Kommentar zum Ausdruck, dass die Formen des article salat sich in Gefahr befinden, auszusterben: (10) Està en perill d’extinció . (josomsalat, 16. 01. 2012) Daraus resultiert wiederum die Forderung, die Artikelformen zu schützen: (11) “¿Quin futur li espera a s’article baleàric si no el protegim oficialment? ” (jaumetercer, 03.12. 2013) Interessant in diesem Zusammenhang sind auch die Gründe, die angeführt werden, warum die Artikelformen gefährdet sind: Zielscheibe der Kritik sind öffentliche Bereiche, in denen Standardkatalanisch verwendet wird, wie z. B. das Bildungswesen, die Medien oder auch die Institutionen der regionalen Regierung: (12) Està discriminat dins s’àmbit educatiu (DiarideBalears, 23. 04. 2013) (13) Es mitjans de comunicación com institucions Balears s’expressen en català (DiarideBalears, 23. 04. 2013) <?page no="194"?> 194 Sandra Herling (Siegen) Was den Gebrauch des article salat in den Medien anbelangt, so hat das Thema - wie bereits weiter oben erwähnt wurde - seit April 2014 eine neue Brisanz widerfahren. Bevor auf die Diskussion näher eingegangen wird, soll im Folgenden kurz die Situation der Medien, die der regionalen Regierung unterstehen, umrissen werden. Katalonien oder das Baskenland verfügten bereits Anfang der 1980er Jahre über eigene regionale Rundfunk- und Fernsehanstalten. Die Balearen als Autonome Gemeinschaft steckte bereits 1985 den gesetzlichen Rahmen für dieses mediale Vorhaben, aber zur endgültigen Gründung einer autonomen Rundfunk- und Fernsehanstalt kam es wesentlich später. Erst im Jahre 2005 konnten auf den balearischen Inseln die Programme des Senders IB3 empfangen werden. Von Beginn an wurde allerdings die Sprachpolitik des Senders kontrovers diskutiert bzw. stark kritisiert. Während in Katalonien audiovisuelle Medien, die der Regionalregierung unterstehen, ausschließlich auf Katalanisch senden, zeichnet sich IB 3 durch einen zweisprachigen Charakter aus, eine Tatsache, die zu einer heftigen Diskussionswelle führte (vgl. Herling 2008, 287). Neben der Sprachenwahl wurde in den ersten Jahren nach Einführung des Senders IB 3 auch die Qualität der katalanischen Sprache beanstandet. Einerseits zeichnete sich das Katalanisch der Journalisten durch Interferenzen mit dem Spanischen aus, andererseits tendierten viele Moderatoren dazu, ein stark dialektal eingefärbtes Katalanisch zu sprechen. Hinsichtlich der Morphologie ist die Verwendung des article salat besonders auffällig (vgl. Bibiloni 2006, 6). Um dieser Situation entgegenzuwirken, richtete die Sprachpolitikabteilung der balearischen Regierung sowohl eine Sprachberatung als auch Sprachkurse für die Beschäftigten von IB 3 ein. Im Jahre 2004 erarbeitete schließlich die balearische Universität ein Stilbuch für den Sprachgebrauch in den Medien ( Llibre estil per als mitjans de comunicació orals i escrits ) (vgl. Herling 2008, 291). Seit 2007 scheint sich die Situation bei IB 3 in jeglicher Hinsicht normalisiert zu haben. Das Programm wird hauptsächlich auf Katalanisch ausgestrahlt und die mündlichen Beiträge sind in der Regel ohne dialektale Interferenzen. Der mallorquinische Linguist Gabriel Bibiloni fasst diesbezüglich zusammen: „IB3, la ràdio i la televisió autonòmiques de les Illes Balears, comença a canviar. Es nota en tot: primer en el fet que ara són mitjans lingüísticament normals, és a dir en la llengua del país“ (http: / / bibiloni.cat/ blog/ ? p=325, 24. 03. 2106). Allerdings erlebte im April 2014 die Diskussion über die Sprachverwendung bei IB 3 einen erneuten Höhepunkt. Hintergrund dieser Debatte war die Verabschiedung einer modifizierten Version der Rahmenrichtlinien für die öffentlichen Medien ( Mandat Marc del Parlament de les Illes Balears a l'Ens Públic de Radiotelevisió de les Illes Balears) . Ein Artikel thematisiert - wenn auch nur kurz - die Sprachverwendung bei IB 3. In Artikel 9 heißt es wie folgt: <?page no="195"?> „Sa nostra llengo“-- Die balearischen Artikelformen 195 La llengua catalana a l’Ens Públic de Radiotelevisió de les Illes Balears El model de llengua de l’Ens Públic de Radiotelevisió de les Illes Balears ( EPRTVIB ), tant a la televisió (IB3 Televisió) com a la ràdio (IB3Ràdio), ha de reflectir les modalitats lingüístiques pròpies del català de les Illes Balears. S‘ha de seguir un model amb el qual se sentin identificats tots els parlants de les Illes i que alhora serveixi d’element cohesionador de tot el territori balear ( BOIB Núm. 60). Die Formulierung, dass insulare Modalitäten als identitätsstiftende Komponente Berücksichtigung finden sollen, birgt vor dem Hintergrund des Normalisierungsprozesses eine gewisse Brisanz. Allerdings muss jegliche sprachpolitische Entscheidung im gesamtpolitischen Kontext gesehen werden. Tendenziell neigen sozialdemokratisch oder eher linksorientierte Parteien auf den Balearen zu einer Sprachpolitik, die auf die Normalisierung des Standardkatalanischen fokussiert ist und das Bewusstsein fördern möchte, eine gemeinsame katalanische Sprache zu sprechen; während konservativere Parteien eher die insularen Varietäten und das Spanische in den Vordergrund stellen. Die weiter oben erwähnte Richtlinie ist in der Legislaturperiode der konservativen Volkspartei Partido Popular ( PP ) verfasst worden. Demzufolge erklärt sich auch die Forderung, die insularen Dialekte seien in den Medien zu berücksichtigen. Interessant ist nun, dass die damalige amtierende Partei primär ein einziges dialektales Merkmal in den Mittelpunkt der Diskussion stellte. So erklärte die Parteisprecherin Mabel Cabrer: „la modalidad insular del catalán es el artículo salado». […] «Es lo nostro».“ ( Ultima Hora , 24. 04. 2014). Aussagekräftig ist hier die Verwendung des Possessivpronomens lo nostro , womit die Zugehörigkeit des article salat zur regionalen Identität unterstrichen wird. Die Abstimmung, ob in den audiovisuellen Medien die Formen des article salat verwendet werden sollen, fiel positiv aus. Ab Mai 2014 mussten schließlich die Journalisten bzw. Moderatoren von IB 3 die dialektalen Artikelformen im formellen mündlichen Register, d. h. in Nachrichtensendungen, Berichterstattungen und Dokumentationen verwenden. Jedoch lösten der Vorschlag und die anschließende Abstimmung im Parlament eine Diskussionswelle aus. Nicht nur in den Printmedien, sondern vor allem im Internet fand eine rege Auseinandersetzung mit diesem Thema statt. Allgemein betrachtet können zwei Meinungslager unterschieden werden: Auf der einen Seite stehen die Befürworter des oben erwähnten Vorschlags. Ihre Begründung, warum dialektale Artikelformen auch im formellen mündlichen Register verwendet werden sollen, wird mit Argumenten, die eine sprachidentitätsspezifische Komponente beinhalten, untermauert. Besonders deutlich wird dies in der Verwendung der Formel sa nostra llengo . Nicht nur die hier verwendete dialektal-orientierte Orthographie, sondern auch das Possessivpronomen <?page no="196"?> 196 Sandra Herling (Siegen) sa nostra drückt die affektive Bindung an die insularen Dialekte als eigene, identitätsstiftende Sprachform aus: (14) Sa nostra televisió, sa nostra llengo! Es balear ès tan formal, culte i digne de ser emprat i fomentat igual que qualsevol altra llengo […] (Youtube, 24. 08. 2014) (15) Com a ciutadans d’aquestas isles, crec que tenim dret a escolta sa nostra radio y tv pubblica emb sa nostra llengo vernácula […] (ibtv3, 20. 07. 2014) Auf der anderen Seite wurden auch kritische Stimmen gegen die parlamentarische Abstimmung laut. Ein Großteil der Diskussionsteilnehmer hebt in erster Linie die Unterscheidung des formellen und informellen Registers in ihrer Argumentation hervor und kritisiert folglich die Verwendung des article salat in den Medien - wie der nachstehende Kommentar exemplarisch aufzeigt: (16) Si l’article salat s’ha d’utilitzar “a casa” i enlloc més (perqué, pel que diuen els entessos de la Universitat, és mostra d’un parlar “informal” (mesvilaweb, 24. 04. 2014) Eine aktive Beteiligung an diesem sprachkritischen Diskurs lässt sich auch seitens der Vertreter der balearischen Universität beobachten. So äußerte sich der damalige amtierende Dekan der Philosophischen Fakultät wie folgt: (17) demostra un desconeixement profund dels registres i les modalitats (ara, 22. 04. 2014) Auf Twitter resümiert der mallorquinische Linguist Gabriel Bibiloni seine Ablehnung gegenüber der Verwendung des article salat in den Programmen des Senders IB 3 folgendermaßen: (18) Presentar els informatius d'# IB 3 amb article salat seria greu […] (Twitter Bibiloni, 18. 05. 2014) Auf ihrer Homepage zieht schließlich die Universitat de les Illes Balears ( UIB ) offiziell Stellung zum neuen Sprachmodell von IB 3: a. La tradició literària secular i modernament l’ús dels mitjans de comunicació audiovisuals han bastit a les Illes Balears uns models de llengua culta i formal, prou unificada amb el conjunt de la comunitat lingüística i alhora integradora d’elements lingüístics valuosos de les varietats insulars. Aquests models són d'un alt valor i estrictament necessaris per a la preservació de la llengua catalana en condicions de normalitat i d’igualtat amb les altres llengües de cultura. Servar-los i perfeccionar-los és un deure de la nostra societat, amb les institucions públiques al capdavant. <?page no="197"?> „Sa nostra llengo“-- Die balearischen Artikelformen 197 b. La introducció de l’article salat i altres elements propis del parlar col·loquial en els registres formals de la llengua pública significaria un trencament amb la tradició illenca, general d’ençà del segle XIII, un desbaratament del sistema de registres i un trencament amb la resta de la comunitat lingüística, que no faria més que dificultar el procés de normalització de la llengua catalana, ja de per si subjecte a tota mena de precarietats. c. Amb aquesta iniciativa es malmet la llengua catalana estàndard, que a les nostres Illes es fa servir amb consens de la societat i sense cap mena de conflicte (http: / / diari.uib.cat/ arxiu/ La- UIB -reitera-el-seu-oferiment-per-assessorar.cid340658, 19. 07. 2015) Die Stellungnahme spricht einen wesentlichen Aspekt des metasprachlichen Diskurses an, der auf den Balearen verstärkt seit der Einführung des Katalanischen als kooffizielle Sprache geführt wird: Zum einen würde durch die Verwendung dialektaler Formen im formellen Register die Einheit der katalanischen Sprache in Frage gestellt, zum anderen würde die Akzeptanz der katalanischen Norm weiterhin gefährdet werden. Auch in den Diskussionsforen werden diese Punkte häufig aufgegriffen - wie im nachstehenden Kommentar deutlich wird: (19) Visca el PP i els seus acòlits. Serien creïbles si a totes les televisions que dominen fessin el mateix, però amb les varietats del castellà. Només volen trossejar la llengua catalana. Molt subtil, però molt eficaç. D'aquí a un temps, diran que les varietats illenques no són catalanes, si no, al temps! (ara, 22. 04. 2014) In diesem Kontext wird - wie nicht anders zu erwarten war - auch der Fall Valencias angesprochen: (20) volen fer el mateix que amb el valenciá, dir que són dues llengüues diferents i que no és català (Ultima Hora, 08. 09. 2014) (21) Exactament igual que ací, al País Valencià. Estan fent exactament el mateix, utilitzant la mateixa estratègia, apliquen el mateix guió. (mesvilaweb, 27. 04. 2014) Um nochmal auf die Reaktion der balearischen Universität zurückzukommen: Die Kritik am Sprachmodell fand ihren Höhepunkt in der Ankündigung, dass die Universität keine Praktikanten mehr an den Sender IB 3 verweisen möchte. Auslösendes Moment war auch die Tatsache, dass in den Nachrichtensendungen von IB 3 eine zunehmende “balearización” stattfand, die sich darin äußerte, dass standardkatalanische Lexem durch dialektale Formen weichen mussten (z. B. servici anstatt servei ) (vgl. El Mundo , 13. 05. 2014). <?page no="198"?> 198 Sandra Herling (Siegen) Die Diskussion um den Sprachgebrauch bei IB3 nahm schließlich eine erneute Wende: Ab September 2015 sollte wieder das Standardkatalanische als formelles Register verwendet werden. Diese sprachpolitische Wende lässt sich aus der Tatsache erklären, dass aus den Präsidentschaftswahlen im Mai 2015 erfolgreich eine Kandidatin der sozialistischen Partei PSOE - PSIB hervorging und somit von nun an eine pro-katalanische Partei an der Spitze der Balearen steht. Die Entscheidung, wieder Standardkatalanisch als formelles Register geltend zu machen, wurde seitens der (sprach-)wissenschaftlichen Seite begrüßt und fand selbstverständlich auch Zuspruch bei einem Teil der Bevölkerung. Jedoch löste diese sprachpolitische Wende auch eine vehemente Gegenreaktion aus. In der Gesamtbetrachtung lässt sich diesbezüglich feststellen, dass im laienlinguistischen Diskurs ab September 2015 ebenfalls das Argument der Sprachidentifikation im Vordergrund stand. Exemplarisch sei der folgende Kommentar angeführt: (22) Buenas Me parece un insulto y una falta de identidad dejar de usar el articulo "salat" ya que es algo que identifica a los baleares y si no mal no recuerdo ib3 es la cadena de televisión autonómica de baleares y se financia con dinero público,[…] (Ultima Hora, 13. 09. 2015) Die affektive Bindung an den article salat als identitätsstiftende Komponente, als Ausdruck eines „Wir-Gefühls“ zieht allerdings auch die Konsequenz einer bewussten Abgrenzung nach sich. Deutlich spürbar ist in der Debatte um die Artikelformen das sprachlich-kulturelle wie auch politische Spannungsverhältnis zwischen den Balearen und dem katalanischsprachigen Festland bzw. mit Katalonien: (23) IB 3 está politizada por los pancatalanistas y solo para que la puedan ver ellos. Los que nos sentimos verdaderos Balearicos NO queremos imposiciones de otra cultura como es la catalana, tenemos la nuestra propia. Yo y mi familia no vamos a ver nunca mas IB 3 (Ultima Hora, 13. 09. 2015) (24) pos ja no la miraré… això són ses balears i no catalunya… quan ho entendran (Ultima Hora, 13. 09. 2015) Die Standardsprache wird - wie weiter oben bereits erwähnt - mit dem katalanischen Festland assoziiert. Eine Identifizierung mit dem Normkatalanischen scheint auch dreißig Jahre nach der Verabschiedung des Normalisierungsgesetzes für einige Insulaner problematisch zu sein - wie der folgende Beispielkommentar verdeutlicht: (25) El fons del problema és voler imposar a tothom un llenguatge “estandard”. I, a més, que aquest llenguatge imposat sigui el català central (“barceloní”) <?page no="199"?> „Sa nostra llengo“-- Die balearischen Artikelformen 199 que en Pompeu Fabra escollí com a idioma “formal”. Això, més tard o més dora, portarà a l’empobriment de l’idioma, a la desaparició dels diferents parlars “no normalitzats”. Als llibres de text, al Principat, s’utilitza el “català estandard”, el qual no té cap diferència amb el parlar “barceloní”. L’alumnat de les altres comarques si que les noten les diferències (encara que el professorat crec que ha suavitzat una mica el fabrisme militant dels primers anys de l’anomenada “transcisió democràtica”). (mesvilaweb, 25. 04. 2014) Der Konflikt zwischen den Inseln und dem Festland kommt in den unterschiedlichen Glottonymen bzw. Ethnonymen, die in den laienlinguistischen Diskussionen verwendeten werden, zum Ausdruck: Die Bezeichnung català wird ausschließlich mit den Festlandkatalanen und der katalanischen Standardsprache assoziiert. Im Gegensatz dazu referieren die Bezeichnungen mallorquí , balear etc. auf die eigene sprachlich-kulturelle Identität - wie die nachfolgenden Kommentare demonstrieren: (26) jo no vull que sa televisió de ses illes Balears parli el català, jo vull que xerrin es mallorquí! ! ! No som catalans, son mallorquins orgullosos d es nostre dialecte ! ! ! Gabriel Perelló (Ultima Hora, 13. 09. 2015) (27) Soy MALLORQUIN Y ESPAÑOL , no xarrare es catala, nomes es mallorqui, el que quiera catalan se vaya a catalonia. No vere jamas IB 3 tv nacionalista y habitada por catalanistas, se vayan todos alla…. donde os imajinais, a ver… (Ultima Hora, 13. 09. 2015) (28) Ridìcul i patètic, això si que es destruir una cultura, son ses nostres arrels, jo no vull ques a televisió de des illes Balears parli el català, jo vull que xerrin es mallorquí! ! ! No som catalans, son malloquins orgullosos d es nostre dialecte! ! ! (Ultima Hora, 13. 09. 2015) (29) SOM BALEARS NO CATALANS ! (Ultima Hora, 13. 09. 2015) (30) SOM MALLORQUINS Y NOOOOOOO catalans! ! ! ! ! ! ! ! ! (Ultima Hora, 13. 09. 2015) Eine Abgrenzung zu Katalonien bzw. eine damit einhergehende Ablehnung der Standardsprache wird besonders deutlich in den Kommentaren (27) und (28). Ein Vergleich mit den sezessionistischen Tendenzen in València (siehe hierzu Doppelbauer 2006) ist offensichtlich, kann aber in Bezug auf die Balearen tendenziell als schwächer ausgeprägt bewertet werden. Interessant in diesem Zusammenhang sind jedoch verschiedene Organisationen und Gruppierungen, die sich durch eine sprachliche Sezessionismus-Ideologie auszeichnen (und die sich nun aktiv an dem Diskurs um die Sprachverwendung in den Medien beteiligen). Besonders seit den 1990er Jahren lässt sich auf den Balearen - vor allem <?page no="200"?> 200 Sandra Herling (Siegen) Mallorca - beobachten, dass immer mehr Gruppierungen gegründet wurden (wie z. B. Acadèmi de la Lléngo Baléà (1992), Sa Nostra Terra (1995), Fundación Círculo Balear (1999), Nou Baléanisme (2004)), die (wie bereits dargestellt wurde) die Auffassung vertreten, dass das Mallorquinische oder Balearische eine eigenständige romanische Sprache sei. Sehr präsent im aktuellen Diskurs um die dialektalen Artikelformen ist die Ende 2013 gegründete Organisation namens Fundació Jaume III . Bereits der Name ist sehr programmatisch, denn in der Regierungszeit von Jaume III (1324-1349) stellte Mallorca ein unabhängiges Königreich dar. Betrachtet man die Argumentation von Jaume III in Bezug auf die Verwendung der article salat -Formen in den Medien, so stehen - wie zu erwarten war - sprachidentifizierende Aspekte im Vordergrund: (31) s’article baleàric, com indica es seu nom, és un element de cohesió de ses quatre illes balears. No entenem que una característica tan genuïna que forma part de s’identitat balear se despreciï d’aquesta manera. Una televisió balear i un Govern balear dignes d’aquest gentilici mil·lenari s’haurien d’esforçar per dignificar aquest element, no empegueir-se d’utilisar-lo. ( Jaumertercer.com, 02. 04. 2016) Die Verwendung des Standardkatalanischen wird hingegen als Bedrohung der eigenen sprachlichen Identität - oder wie es bereits Radatz (1989, 64) formulierte - als „sprachlich-kulturelle[r] Imperialismus Kataloniens“ empfunden: (32) Esta catalanización a ultranza propugnada por el departamento de Filología Catalana de la UIB no tiene en cuenta las consecuencias devastadoras" que tiene un estándar "demasiado centralista basado en el catalán de Barcelona, muy poco respetuoso con nuestras peculiaridades. (teinteresa, 12. 04. 2014) (33) el actual modelo estándar de base continental, mimético al de Cataluña, que ahora mismo se usa en las administraciones, escuelas y medios de comunicación públicos, es un modelo impuesto por políticos del brazo de filólogos pancatalanistas con los que no se sienten reconocidos ni identificados muchos mallorquines. (20minutos, 30. 08. 2015) Die Organisation Fundació Jaume III ist insofern sehr publikumswirksam, da sie sowohl in der Öffentlichkeit (z. B. in Palma) durch Informationsstände als auch in den sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter und auch in den audiovisuellen Medien Präsenz zeigt. Darüber hinaus werden Publikationen zu sprachlichen Themen verfasst. Bereits drei Publikationen kann die Fundació Jaume III seit ihrer Gründung im Jahre 2013 vorweisen: En defensa des mallorquí (2014), Un model lingüístic per ses Illes Balears. Llibre estil. (2015) und Sa norma sagrada. Un viatge a ses fonts amagades des catalanisme de ses Balears (2016). Im Mittel- <?page no="201"?> „Sa nostra llengo“-- Die balearischen Artikelformen 201 punkt des „linguistischen“ Interesses stehen - wie die Titel erahnen lassen - die Verteidigung der insularen Dialekte als wichtigste Komponente der eigenen kulturellen Identität, aber auch die Ausarbeitung eines Sprachnormmodells, das seit 2015 mit der Publikation Un model lingüístic per ses Illes Balears. Llibre estil vorliegt. Die „neue“ Sprachnorm auf den Balearen basiert - gemäß der ideologischen Gesinnung - auf dialektalen Charakteristika morphologischer, phonologischer und lexikalischer Natur. Dementsprechend berücksichtigt das vorgeschlagene Sprachmodell auch die Formen des article salat , die als „privatiu“ und als „sa principal, de sa manera baleàrica de xerrar“ deklariert werden (Fundació Jaume III 2015, 15). Nicht nur die Lancierung dieses Sprachmodells war eine publikumswirksame Aktion innerhalb der Debatte um die Verwendung des article salat im formellen Register, sondern auch die im September unter dem Titel „Volem IB 3 en mallorquí, menorquí i eivissenc“ ins Leben gerufene Unterschriftenaktion. Bereits in den ersten Tagen waren über 5000 Personen diesem Aufruf gefolgt und hatten die Kampagne durch eine virtuelle Unterzeichnung unterstützt (vgl. sa campanya ). Eine Veränderung des Sprachmodells bei IB 3 konnten diese Aktionen bisher nicht hervorrufen. Es bleibt abzuwarten, welche sprachpolitischen Entscheidungen die nächste Präsidentschaftswahlen auf den Balearen mit sich bringen. 5 Abschließende Bemerkung Die aktuelle metasprachliche Auseinandersetzung zum Sprachmodell in den audiovisuellen Medien verdeutlicht den noch bestehenden Konflikt zwischen den insularen Dialekten und dem Standardkatalanischen - auch wenn ein Teil der Diskussionsteilnehmer eine affirmative Haltung gegenüber der Standardsprache und der Einheit der katalanischen Sprache artikuliert. Den balearischen Dialekten wird ohne Zweifel eine identitätsstiftende Funktion zugesprochen. Eine besondere Rolle in dieser Identitätskonstruktion spielen die Formen des article salat , die als genuin balearisch und somit als wichtigstes morphologisches Merkmal der Dialekte, aber auch als bedeutendes Abgrenzungskriterium gegenüber anderen katalanischen Varietäten empfunden werden. Die Artikelformen werden somit soziolinguistisch aufgeladen, d. h. in ihnen manifestiert sich der Sprach-bzw. Varietätenkonflikt. Festzuhalten ist, dass die aktuelle Debatte die Sprachidentität auf den Balearen widerspiegelt, aber auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Norm und Varietät. Daraus resultiert die Brisanz des Konzepts der Plurizentrik in Bezug auf das Katalanische; eine Thematik, die im Sprecherbewusstsein eine nicht unerhebliche Rolle zu spielen scheint. <?page no="202"?> 202 Sandra Herling (Siegen) Bibliographie Fachliteratur Aebischer, Paul (1948): „Contribution à la protohistoire des articles ‘ille’ et ‘ipse’ dans les langues romanes”, in: Cultura Neolatina , vol. 8, 181-203. Alegre, Montserrat (1991): Dialectología catalana , Barcelona, Teide. Alomar i Canyelles, Antoni Ignasi (2000): La llengua catalana a les Balears en el segle XIX , Palma, Edicions Documenta Balear. Badia i Margarit, Antoni (1981): Gramàtica històrica catalana , València, Tres i Quatre. 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Jahrhunderts begannen die Katalanen, die ihr maritimes Territorium im westlichen Mittelmeer absichern wollten, sich in die Machtkämpfe auf Sardinien einzumischen. Am 31. Mai 1323 begann der Infant Alfons seinen Eroberungszug (vgl. Nadal / Prats 1993, 369), und 1327 wurde die Insel dem Machtbereich der Corona d’Aragó einverleibt. Man versuchte, Sassari zum Zentrum der katalanischen Machtentfaltung auszubauen, aber mehrere Aufstände der selbstbewussten Bürgerschaft verhinderten die Konsolidierung dieses Planes. Era palès que Sàsser, centre urbà amb un cert dinamisme mercantil, en una Sardenya dividida entre favorables i contraris a la presència aragonesa, es trobava circumdada per forces hostils als catalans. A sobre, el port més proper (Port Torres) era insegur i es trobava a una trentina de quilòmetres, cosa que feia difícil la connexió amb els altres regnes de la Corona d’Aragó i, de fet, en dificultava la defensa en cas d’atac (Farinelli 2014, 34). Vor diesem Hintergrund gab man Sassari als Machtzentrum auf und konzentrierte sich auf das kleinere, aber zugänglichere und besser befestigte Alghero. 1353 versuchte Pere III el Ceremoniós die Bürgerschaft auf friedliche Weise für seine Pläne zu gewinnen, aber ein Aufstand der Bürgerschaft brachte ihn am 9. November 1354 dazu, die Stadt zu erobern und anschließend einen Bevölkerungsaustausch vorzunehmen. Das beschreibt er in seiner Chronik folgendermaßen: E, tantost que la dita gent ne fos eixida, nós, ab lo nostre victoriós estendard, faents gràcies a Nostre Senyor Déus de la gràcia que ens havia feta de cobrar lo dit lloc, entram en aquell lo novè dia del mes de noembre de l’any de Nostre Senyor mil e tres- <?page no="206"?> 206 Johannes Kramer (Trier) cents cinquante-quatre, ab tots los nobles e cavallers e altres qui eren ab nós romases, car molts se n’eren ja tornats dels nobles e cavallers, per malalties que havien haüdes en lo dit setge, e molts que n’hi havia de morts. […] E, com fom entrats en lo dit lloc, estigue aquí alguns dies e donam e partim a pobladors de nostra nació, ço és, catalans e aragoneses, totes les possessions, ço és, cases e terres e vinyes del dit lloc e de son terme. E ordenam aqui nostres oficials e nostres regidors, e donam-los certa forma privilegis per los quals se regissen en lo temps esdevenidor (Pere III el Cerimoniós 1995, 229-230 = cap. 5, 68-69). Dass man sich Städte durch Neuansiedlung zuverlässiger Bürger sicherte, war nicht ungewöhnlich, und man hatte Anläufe in diese Richtung schon in Cagliari und in Sassari unternommen (Boira Maiques 2001, 46), aber dass man aus einer ganzen Stadt die ursprünglichen Bürger entfernte und durch Neusiedler ersetzte, das hatte es bis dahin nicht gegeben. Die Besitztümer der vertriebenen früheren Bürger wies man den ansiedlungswilligen Katalanen - Aragoneser scheint es nicht gegeben zu haben - zu, und wenn sie sie veräußern wollten, dann nur an andere Katalanen oder Aragoneser, nicht aber an Sarden oder andere Fremde. Der Aufenthalt in der Stadt war in der Nacht nur den Neusiedlern erlaubt. Die Ausübung von Gewerben, besonders im einträglichen Sektor der Korallenbearbeitung, war nur den Stadtbürgern erlaubt. Sobald im Laufe der Stadtgeschichte Bevölkerungsverluste eintraten, etwa in Folge der zahlreichen Pestepidemien (etwa 1583, 1652, 1681), wurden neue Siedler aus Katalonien angeworben, denen Geldgeschenke und andere Privilegien den Aufenthalt angenehm machen sollten (vgl. Nadal / Prats 1982, 442). Wenn man so will, war Alghero ein frühes Beispiel für eine politische Maßnahme, die dann im 20. Jahrhundert zur vollen Entfaltung kam: Vertreibung der ansässigen Bevölkerung und Neubesiedlung durch eine zuverlässige Ethnie. Die populatores des 14. Jahrhunderts stammten wohl in erster Linie aus Barcelona und seiner Umgebung, was vielleicht auch die Bezeichnung Barceloneta für Alghero erklärt (Kuen 1934, 4: „hoy balśaṙunéta, nombre conocido todavía, pero nunca usado“). Heinrich Kuen folgte in dieser Zuschreibung der verbreiteten Ansicht von P. E. Guarnerio (1886). Per a d’altres estudiosos, el nom aŀludiria a l’equiparació de l’Alguer, en drets i obligacions, a Cap i Casal de Catalunya. Finalment, Pere Català i Roca apunta cap al Camp de Torragona com a probable lloc de procedencia dels pobladors, fixant-se en la concomitància de mots com legu, de seguida ginqueta , còdol, i algun altre; és arriscat, però, de pervenir a semblants conclusions prenent per base un tan minso cabal lèxic (Veny 1993, 104). <?page no="207"?> Der Dialekt von Alghero 207 Freilich kann man bei einer zeitlichen Distanz von mehr als fünfhundert Jahren und bei nur sporadischen Berührungen in der Zwischenzeit eine genaue Bestimmung des Ursprungsortes einer Sprachminderheit sowieso nicht wirklich vornehmen. Immerhin stammt das Katalanische von Alghero aus einem südlicheren Ursprungsgebiet als die balearischen Varietäten, die aus der nördlich von Barcelona gelegenen salat -Zone kommen (vgl. Karte: Badia i Margarit 1994, 59), wo der Artikel auf ipse und nicht, wie im Dialekt von Alghero, auf ille zurückgeht. Die weitere Sprachgeschichte Algheros lässt sich kurz zusammenfassen: Die offizielle Amtssprache war von 1326 bis 1714 das Katalanische, in dem Gesetze und Dekrete abgefasst waren, und im kirchlichen Bereich herrschte - neben dem omnipräsenten Latein - ebenfalls das Katalanische (vgl. Wagner 1993, 183-185). Das Spanische setzte sich nur langsam durch: Erst seit der Mitte des 17. Jahrhunderts ist die Mehrheit der Edikte spanisch abgefasst. Con todo, aun bajo les virreyes españoles, el uso del catalán en los documentos públicos se conservó exclusivo hasta el año 1600 y simultaneó con el español desde la primera mitad del siglo XVII ; desde 1643 se hace general en la isla el uso del español como lengua oficial (Kuen 1934, 5). Am Ende des spanischen Erbfolgekrieges wurde Spanien im Frieden von Utrecht 1714 gezwungen, die Insel an die österreichischen Habsburger abzutreten, aber schon 1720 wurde Sardinien gegen das savoische Sizilien ausgetauscht. Von da an war Sardinien ein Teil des Königreiches Savoyen, das ja im 19. Jahrhundert zum Nukleus des 1860 begründeten Königreichs Italien wurde (vgl. Wagner 1993, 29). Sprachlich heißt das, dass die Dekrete von Nueva Planta (1707-1716), die ja ein formelles Verbot der Benutzung des Katalanischen in der Öffentlichkeit implizierten, in Sardinien nicht mehr zur Anwendung kommen konnten. Man bediente sich also in Gemeindedokumenten weiterhin des Katalanischen, wenn auch das Spanische vordrang. Das Katalanische wurde freilich allmählich zu einem archaisierenden Fossil, da ja keine Kontakte zum iberischen Mutterland mehr bestanden. Das Italienische, das heute die vorherrschende Sprache in Alghero ist, erschien im Laufe des 18. Jahrhunderts auf der Bildfläche, obwohl die Piemontesen keineswegs eine aktive Sprachpolitik betrieben. Cuando tras la breve dominación austriaca (de 1713 / 4 hasta 1720) fué Cerdeña unida a Saboya (1720), quedó aún en uso por algun tiempo el español como lengua oficial, hasta que en la segunda mitad del siglo XVIII entró el italiano definitivamente en posesión de sus derechos (Kuen 1934, 6). <?page no="208"?> 208 Johannes Kramer (Trier) Während der napoleonischen Zeit war Sardinien, das von der britischen Flotte beschützt wurde, der letzte Rückzugsort der Savoyer, deren Stammland Piemont seit 1802 zu Frankreich gehörte. Während dieser Zeit stieg der Anteil der Italienischsprachigen an der Inselbevölkerung durch die flüchtige Beamtenschaft, und das Italienische war jetzt definitiv die einzige Schriftsprache, die es bis heute blieb. 2 Kurze Charakteristik des katalanischen Dialekts von Alghero Der Wechsel der offiziellen Staatssprachen hat natürlich mit der gesprochenen Umgangssprache nur wenig zu tun. Seit 1354 spricht man in der Stadt Katalanisch, genauer gesagt das Algherese (kat. alguerès ), eine spezielle Abart der zentralkatalanischen Dialekte, zu denen auch Barcelona und Tarragona gehören. Eine sprachliche Kurzcharakteristik liefert Joan Veny (1991, 253-254), die hier zitiert sei, um eine Vorstellung des Dialektes zu vermitteln: El inventario del vocalismo tónico es como el del catalán central, pero su distribución se acerca más a la del catalán occidental, puesto que mantiene la / e/ < Ẹ del lat. vulg.: pre = ple (< plenu ), fred ( frigidu ). […] El sistema átono es: i, u, a, donde se da la confusión de / o/ en / u/ […] y de / e/ en / a/ : curó = color, nabot = nebot ; / e/ y / o/ perviven en voces cultas o préstamos. El consonantismo contiene las mismas undades que el catalán general, con inclusión de / v/ : caval = cavall. Las oclusivas sonoras intervocálicas, especialmente la / b/ , tienden a realizarse oclusivas y no fricativas: fra [ b ] é = febrer. Cambia en -rla -dintervocálica y la -lintervocálica o precedida de consonante: munera = moneda, vira = vila, taurara = teulada, ungra = ungla, en el último caso por influjo sardo; la r + consonante pasa a l : malç = març, talda = tarda. El grupo dr (< tr ) se reduce a rr : perra = pedra. En posición final destaca el arcaismo de la -t y -k , precedidas de sonante, que se mantienen: vent, sank = sang . La -renmudece en general, salvo en monosílabos, préstamos y algunos infinitivos, en cuyo caso aumenta sus vibraciones: durr = dur, altarr = altar. La / ɲ/ y la / λ/ finales se despalatalizan (a partir de la fonosintaxis): an = any, gal = gall. Abundan las asimilaciones consonánticas: sats =sacs, polts = porcs. Las oclusivas y africadas finales seguidas de consonante no suenan ( un po de vi = un poc de vi ) o se articulan con apoyo vocalico anterior ( un poki de vi ). En morfologia notemos […] los posesivos meu, tou, sou, mia, tua, sua etc., mezcla de arcaísmo y sardismo ( lo caval tou = el teu cavall ); las formas plenas de los pronombres personales ma, ta, sa … ( ma celca = em cerca ) y el artículo lo(s). La flexión verbal conoce la desinencia cero de la pers. 1 en el PI ( cant = canto ) y -au de la 5 de los verbos de la 1 a conjugación ( cantau, pero cantem, disimetría que contrasta con el catalán antiguo y el <?page no="209"?> balear y que debe de estar en relación con el imperativo) y los verbos de la 2 a conjug. hacen el ImI en -eva, -iva ( feva = feia, cosiva = cosía ) como en ribagorzano y pallarés. Genauere Übersichten über das Funktionieren der Grammatik liefern die Analysen von Guarnerio (1886, 333-354), von Heinrich Kuen (1934, 17-130), von Eduard Blasco Ferrer (1984), von Andreu Bosch i Rodoreda (2002, 139-170). Es mangelt also keineswegs an sprachwissenschaftlichen Analysen zum Katalanischen von Alghero, die vor allem dadurch angeregt wurden, dass hier eine Sprachvariante ohne starken Einfluss des Spanischen (oder Französischen) existierte; zudem war der Anschluss an Sprachentwicklungen spätestens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts nicht mehr gegeben. Die Anlehnung an die Schriftsprache gab es von dem Moment an nicht mehr, in dem das Katalanische als Öffentlichkeitssprache verschwand, sodass das Algheresische eine rein mündlich weiter vermittelte Sprache wurde. Natürlich kann man heute, wo die Bezeichnung català bzw. catalano für die Sprache und Kultur von Alghero in aller Munde ist, nicht mehr feststellen, was die ursprüngliche Bedeutung des Wortes bei Sprechern ohne Vorbildung war. Im Nordlugodoresischen heißt kađalána ‘Mistkäfer, Schabe’, und dem entspricht im Sassaresischen kaddar’ána (vgl. Wagner 1960, 256); eine parallele Form aus Alghero mit der Bedeutung ‘cucaracha’, kataṙá , zitiert Kuen (1934, 6); diese Form gehört also zu den abwertenden Nationalbezeichnungen, mit denen unangenehme Insekten etc. benannt werden, ein Phänomen, das in vielen Sprachen Europas auftritt (vgl. Schuchard 1884, 27). Was die Sprachbezeichnung betrifft, war und ist die normale Bezeichnung algarés (vgl. Sanna 1988, 47). Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts meinte man allerdings allgemein, dass es sich dabei um eine Variante des Spanischen handele. El alguerés no instruído cree que su dialecto, el algarés, es español; si bien con tal denominación designa la lengua que hablan los «españoles» en Barcelona y Baleares, con quienes él puede entenderse, si el azar lleva alguna vez un buque de Barcelona a Alguer o una barca del Alguer a Mallorca. Aun los mismos sardos consideran al dialecto alguerés como español (Kuen 1934, 6). 3 Bemühungen um eine Sprachkodifizierung für Alghero an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Der Prozess der katalanischen Renaixença im Mutterland des 19. Jahrhunderts mit symbolischen Manifestationen wie den jocs florals (1859), der Hinwendung zu einer mittelalterlichen Tradition mit Einbeziehung dialektaler Phänomene Der Dialekt von Alghero 209 <?page no="210"?> 210 Johannes Kramer (Trier) der Gegenwart und den Absetzungen von der spanisch geprägten offiziellen Kultur war natürlich nicht nach Alghero zu übertragen. Eine örtliche Renaixença war nicht denkbar, man musste vielmehr Anleihen bei der Diskussion um die normalització lingüística in Katalonien unternehmen. Dabei spielte die interne, oft widersprüchliche, polemische und chaotische Auseinandersetzung um die Sprachkodifizierung vor dem Primer Congrés internacional de la llengua catalana, der vom 13. bis 18. Oktober 1906 in Barcelona stattfand, keine Rolle. In Alghero war man zufrieden damit, dass der spanische Diplomat und Reiseschriftsteller Eduard Toda (1852-1942) während seines Dienstes in Sardinien zwischen 1887 und 1890 die Katalanität des Ortes entdeckt und in der spanischsprachigen Welt bekannt gemacht hatte (vgl. 1888a; 1888b), und dass der heimische Gymnasiallehrer Josep Frank (1830-1900) diese Erkenntnis in Sardinien verbreitet hatte (vgl. Farinelli 2014, 85-87; 90-97). Auf dem Congrés de la llengua catalana, auf dem bekanntlich die ersten Schritte zur Kodifizierung der katalanischen Schriftsprache im Sinne von Pompeu Fabra (1868-1948) unternommen wurden, war Alghero vertreten durch Antonio Ciuffo (1878-1911), der unter dem Pseudonym Ramon Clavellet kleine Dichtungen veröffentlichte und der für „una versió depurada de l’alguerès a imitació, ortogràfica i gramatical, del català continental, encara que aquests no fos del tot normativitzat“ (Farinelli 2014, 116) eintrat, und durch Joan Palomba (1876-1953), der Anhänger einer italianisierenden Graphie war und „més lligat a la pròpia ,italianitatʻ“ (Farinelli 2014, 125) auftrat, zumal er nur in Italienisch publizierte (später war er ein wichtiger Unterstützer des Faschismus in Sardinien). Der interne Streit mit seinem Cousin Joan Pais (1875-1964), der sich um die Urheberrechte an der ersten Grammatik des Algherese (1906) drehte, hat durchaus dazu beigetragen, das Prestige der Delegation aus Alghero zu mindern. Der Abgesandte Italiens, der Professor für Sprachwissenschaft Pier Enea Guarnerio (1854-1919), der ja 1886 die Katalanität des Algherese für die Wissenschaft eröffnet hatte, erwähnte Alghero in seiner Grußadresse jedoch nicht, sondern zog nur eine enge Parallele zwischen dem italienischen Risorgimento und der katalanischen Renaixença; sein eigener kleiner Vortrag bot immerhin „Brevi aggiunte al lessico algherese“. Die folgenden Jahrzehnte waren keineswegs günstig für den Ausbau des Katalanischen in Alghero: Im ersten Weltkrieg hatte man in Sardinien wie im restlichen Italien andere Schwerpunkte als die Beschäftigung mit einer kleinen Sprachminderheit. Im Faschismus gehörte das Katalanische in Alghero nicht zu den heißen Punkten des Kampfes gegen Minderheitensprachen, weil es einfach zu unbedeutend war, und die Beschäftigung damit blieb auf spezialisierte sprachwissenschaftliche und folkloristische Studien beschränkt. In Katalonien gehörte das Algheresische zu den Außenposten der Sprache, die immer in allen Studien erwähnt wurden, aber auch dort mangelte es an gründlichen Studien. <?page no="211"?> Der spanische Bürgerkrieg mit dem Sieg von Francesco Franco beendete für vierzig Jahre fast alle Arbeiten zum Katalanischen, natürlich auch zum Algheresischen. 4 Josep Sanna publiziert ein Wörterbuch nach den Kriterien der katalanischen Normsprache Was es bis zum Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts nicht gab, war ein Wörterbuch des Sprachschatzes von Alghero, was vor dem Hintergrund, dass es inzwischen kaum eine Gemeinde Italiens gibt, deren Wortschatz nicht in einem Dizionario erfasst würde, erstaunlich ist. Die älteren Arbeiten weisen meistens Wortlisten in phonetischer Umschrift auf, aber dabei handelt es sich natürlich nicht wirklich um wörterbuchähnliche Unternehmungen. Wie so oft, war es auch hier ein Mitglied des Klerus, der ein Wörterbuch des Algheresischen vollendete: Josep Sanna (1920-2010). Zusammen mit weiteren Freunden des Katalanischen hatte er 1982 die Escola d’alguerès gegründet, die jungen Leuten aus Alghero die Möglichkeit bieten sollte, die moderne katalanische Orthographie zu lernen und die heimische Mundart in die Normsprache einzubetten. Das Wörterbuch erschien im August 1988 mit Unterstützung der Fundació del II Congrés de la Llengua Catalana in Barcelona unter dem Titel Diccionari català de l’Alguer , und es genoss die Unterstützung zahlreicher Kulturinstitutionen in Katalonien. Mit voller Absicht will das Diccionari català nicht eines der vielen Lokalwörterbücher mit italianisierender Orthographie sein, sondern eine Möglichkeit der Einbeziehung des Algheresischen in das Spektrum der schriftlichen Manifestationen der katalanischen Varietäten bieten. In seiner Presentació bringt Joan Veny das klar zum Ausdruck (p. 11): Estic convençut que, amb aquest Diccionari , els algueresos disposaran per primera vegada d’un repertori lèxic ampli, de fons patrimonial i modern, que els permetrà escriure i expressar-se amb correcció i proprietat dins els motllos de la lengua catalana, sense renunciar a pecularitats e propi codi. Aquells, però, que vulguin acostar-se més a la norma general, al model central - o vulguin adherir-s’hi totalment - ho podran fer a través de les equivalences indicades al Diccionari . Sprachen, die eine jahrhundertelange Tradition hinter sich haben, tun sich mit Dialektwörterbüchern erfahrungsgemäß viel leichter als Sprachen, die am Anfang ihrer Normgeschichte stehen: Für das Deutsche oder für das Italienische stellen Dialektwörterbücher keine Bedrohung der normierten Form der Sprache dar, und niemand sieht eine Gefahr für das Hochdeutsche oder die lingua nazionale in der Existenz von Hunderten von Mundartwörterbüchern. Sprachen hin- Der Dialekt von Alghero 211 <?page no="212"?> 212 Johannes Kramer (Trier) gegen, die erst vor kurzem, womöglich in Abgrenzung zu einer anderen Sprache ältererer Tradition, normiert wurden, sind erfahrungsgemäß eher darauf aus, ihre Norm zu stabilisieren und Abweichungen zu vermeiden. So ist es auch beim Katalanischen, dessen normativització ja gerade mal ein Jahrhundert alt ist und in der Franco-Zeit eine starke Bedrohung erlebt hat. Für den Dialekt von Alghero bedeutet das, dass der deskriptive Teil der Beschreibung der Spracheigenschaften, der bei einem italienischen Dialekt im Vordergrund stehen würde, zurücktritt vor dem präskriptiven Anteil, der das Verhältnis zwischen Algheresisch und Normkatalanisch in Formeln zu fassen versucht. Josep Sanna hat in seinem Diccionari català de l’Alguer 16 „Criteris pràctics” eingeführt (p. 21-25), die die Wiedergabe algheresischer Formen mit der üblichen katalanischen Orthographie ermöglichen. Sie seien hier in kurzer Form in deutscher Formulierung wiederholt. Es handelt sich meistens um Fälle, in denen die gesprochenen Formen von Alghero nicht den Gesetzen der Phonetik entsprechend schriftlich wiedergegeben werden, sondern in denen Entsprechungen der katalanischen Normgraphie eintreten. 1. Der Apostroph. Der Gebrauch ist an das katalanische System angepasst worden, obwohl Fälle wie la igrésia durchaus vorkommen. 2. Die Ethnika werden mit -ès geschrieben, obwohl die Aussprache in Alghero regelmäßig -és ist. 3. Auch in anderen Fällen werden / e/ und / ε/ nach der katalanischen, nicht nach der algheresischen Aussprache geschrieben, also z. B. perquè und nicht wie in Alghero üblich perqué. 4. Die Diphthonge werden wie im Katalanischen geschrieben, obwohl es sich in Alghero um die Kombination von zwei Vokalen handelt, also reina und nicht reína oder cuina und nicht cuína. 5. Die Präposition amb ‘mit’ wird nicht wie in der üblichen Aussprache am oder ama geschrieben. 6. jo wird yo ausgesprochen. 7. Der Unterschied zwischen / b/ und / v/ ist in Alghero erhalten geblieben, und die schriftliche Wiedergabe folgt dem tatsächlichen Gebrauch, nicht den künstlichen Verhältnissen in der katalanischen Normsprache. 8. Bei Genusabweichungen folgt die Geschlechtsangabe dem Algheresischen. 9. Bei einigen Italianismen ist die Ursprungsform beibehalten worden. 10. Der Einfluss des Italienischen hat dafür gesorgt, dass das palatale ll und die Geminate ŀl bei einigen Wortfamilien durcheinandergehen. Hier ist man meistens - nicht immer - der katalanischen Norm gefolgt, dem Kriterium folgend: „Els algueresos, en aquest cas i en d’altres semblants, hauran de <?page no="213"?> tenir ben present la validesa de llur pronùncia (com s’esdevé en la resta dels dialectes catalans), però la necessitat de tendir a una unitat en l’escriptura“ (p. 23). 11. Das Schlusso wird immer -u ausgesprochen, aber nicht geschrieben, wenn das Wort in der katalanischen Normsprache auf Konsonant ausgeht. 12. Vor -ment schiebt das Algheresische - wie das Italienische - ein -eein, das aber nicht geschrieben wird. 13. Die reflexiven Verben lassen im Katalanischen das se dem Infinitiv folgen ( aventurar-se ), während dieses im Algheresischen wie im Italienischen dem Verb vorangeht ( s’aventurar ). Die Wörterbucheintragungen folgen der katalanischen Norm. 14. Die sardischen und italienischen Lehnwörter werden nach der algheresischen Norm geschrieben. 15. Die typischen Alternanzen zwischen l und r und zwischen a, o und e werden nicht in den Lemma-Angaben, sondern nur in den Aussprache-Angaben angeführt. 16. Einige Doppelformen sind als Lemma angeführt ( savi / sàviu, aigua / algua, cridar / aquidrar ), aber meistens gilt: „Hom ha entrat solament en el Diccionari les formes normatives, o més pròximes a la normativa“ (p. 25 ). Zusammenfassend kann man sagen, dass die Sonderform von Alghero nur in den Punkten 7, 8, 9 und 14, partiell auch im Punkt 10, den Lemma-Eintrag bestimmt. Für den wissenschaftlich ausgerichteten Benutzer des Wörterbuchs ist das nicht besonders schlimm, weil hinter jedem Lemma die Angabe pr (= pronunciació ) steht, die in normaler Orthographie und in phonetischer Transkription die wirkliche Aussprache in Alghero angibt, also z. B. „elegantment adv (elegantment); pr: «elegantemént» (εlεgantεmént)“. Freilich wird durch die Vorgehensweise des Diccionari der Begriff des Dialektwörterbuchs ad absurdum geführt: Es handelt sich bestenfalls um ein Wörterbuch der katalanischen Normsprache in der üblichen Orthographie mit Berücksichtigung der Sonderformen von Alghero. Und der Benutzer des Wörterbuchs ohne philologische Vorbildung muss eben wissen, dass er sein fabré ‘Februar’ unter febrer , sein munéra ‘Münze’ unter moneda und sein tauràra ‘Dach’ unter teulada suchen muss - interne Querverweise sind im Wörterbuch kaum zu finden. Der Dialekt von Alghero 213 <?page no="214"?> 214 Johannes Kramer (Trier) 5 Probleme bei der Applikation der katalanischen Normsprache auf den Dialekt von Alghero Die von Barcelona ausgehende katalanische „Außensteuerung“ bemüht sich intensiv um die Einpassung des Algheresischen in die Norm, aber trotz aller Bemühungen kann man sich dem Eindruck nicht verschließen, dass die Sprecher selbst, wenn sie überhaupt ihre Mundart verschriften wollen, eine italianisierende Orthographie vorziehen, für die es freilich keine akzeptierte Norm gibt; „vor allem besteht das Risiko, dass eine Art ‘personalisierte’ Orthographie entstünde“ (Simon 2011, 124), d. h., im Grunde legt sich jeder eine eigene Schreibung zurecht. In der Praxis ist also offenbar die weitgehend deskriptive Praxis der in Italien üblichen Dialektschriftstellerei, die nur die Faktizität der sprachlichen Daten registrieren will, der präskriptiven Haltung der katalanischen Instanzen, die alles in das enge Korsett der Sprachnorm zwängen wollen, überlegen. In welche Richtung sich das Algherese entwickeln wird, ist schwer zu sagen. Nach der Volkszählung von 2009 hat Alghero 43.831 Bewohner, und davon haben etwa 20.000 eine mehr oder weniger gute Kompetenz im Algheresischen (vgl. Veny 1993, 105). Die Alltagssprache der Jugend ist aber eindeutig das Italienische, und durch Zufall wird man in keiner Bar oder keiner Diskothek auf spontanen Gebrauch des Katalanischen treffen. Andererseits gibt es Einrichtungen der Sprachpflege ( Òmnium Cultural unter katalanischem Einfluss, Obra Cultural eher italienisch orientiert), die von Schülerinnen und Schülern gern besucht werden, und auch in den Schulen gibt es neuerdings Tendenzen, Katalanischkurse (in überschaubarem Umfang) verpflichtend zu machen. Die sardische Legge Regionale del 15 ottobre 1997, No. 26, und die Legge Statale del 15 dicembre 1999, No. 428, erkennen das Algheresische als Minderheitensprache an, sodass eine juristische Verankerung besteht. Die äußeren Bedingungen sind also nicht schlecht, aber vielleicht ist eine übertriebene Sprachberatung und Sprachkritik, die die kleine Sprachinsel von Alghero mit dem ganzen ideologischen Gewicht der katalanischen Normfindung belastet, ein zu großer Schuh, denn de facto ist mit einer guten Kenntnis des Normkatalanischen der Erwerb einer weiteren romanischen Sprachmodalität verbunden. Aber wer weiß, vielleicht bieten die modernen Verkehrsverbindungen einen neuen Weg für den Spracherhalt mit Verbindung zu Barcelona: Seit 2004 bietet die irische Luftfahrtgesellschaft Ryanair für weniger als 10 Euro tägliche Verbindungen mit Girona, ein Studium an den Universitäten Kataloniens ist erschwinglich und angesichts der Universitätssituation in Italien auch attraktiv, und der Tourismus mit Katalonien kommt in Gang. All das schafft „un enllaç estable entre l’antic assentament i el Principat“ (Farinelli 2014, 244), und in diesem Kontext gewinnt das Normkatalanische eine neue Bedeutung. <?page no="215"?> Literaturverzeichnis Badia i Margarit, Antoni M. (1994): Gramàtica històrica catalana , València, Tres i quatre. Blasco Ferrer, Eduardo (1984): Grammatica storica del catalano e dei suoi dialetti con speciale riguardo all’algherese , Tübingen, Niemeyer. 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Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, erhoben sie das Spanische zur offiziellen Amtssprache der neu gegründeten Staaten. Als Reaktion auf diese Entwicklung rief die Real Academia Española 1870 die spanischsprachigen Gebiete dazu auf, Sprachakademien zu gründen, um das Spanische allerorts institutionell zu normieren und somit dessen Einheit zu wahren (vgl. Valle 2010, 228). Bereits ein Jahr später ging Kolumbien dieser Aufforderung nach und errichtete die Academia Colombiana de la Lengua. Bis 1955 wurden auch in den übrigen 18 spanischsprachigen Ländern Amerikas nationale Sprachakademien gegründet. 1 Zudem wurde 1973 die in den USA ansässige Academia Norteamericana de la Lengua Española ins Leben gerufen (vgl. Born 2012, 422). Auch wenn 1925 bereits erstes hispanoamerikanisches Wortgut im Diccionario de la lengua española der Real Academia Española aufgenommen 2 und 1951 die Asociación de Academias de la Lengua Española gegründet wurde, lenkte die Real Academia Española maßgeblich die Normierung des Spanischen nach europäischem Vorbild (vgl. unter anderem Polzin-Haumann 2006, 280 und 2012, 51; Bollée / Neumann-Holzschuh 2013, 141-142; Brumme 1992, 389; Hernández 1992, 363-366; Klare 2006, 66). Dies führte dazu, dass den hispanoamerikanischen Varietäten in sprachkodifizierenden Werken kaum Rechnung getragen wurde. Erst die im Jahre 1999 von der Real Academia Española veröffentlichte 1 Einen Überblick über die Gründungsjahre der einzelnen Sprachakademien geben u. a. Born (2010, 423) und Morales (2005, 118-120). 2 Schon in der 12. und 13. Ausgabe des Diccionario de la lengua castellana wurden die damals neu gegründeten Sprachakademien in Mexiko, Kolumbien und Venezuela in die Ausarbeitung miteinbezogen (vgl. RAE 1884, VII; Seco 1988, 91-92). Allerdings kündigt erst die 15. Ausgabe des Diccionario (1925) ernstzunehmende Öffnungstendenzen Richtung Amerika und hispanoamerikanisches Vokabular an, was sich unter anderem in der Umbenennung in Diccionario de la lengua española ausdrückt (vgl. Ezquerra 1992, 22). Eine merklich stärkere Öffnung hin zum Spanischen Amerikas zeigt sich jedoch erst in den Wörterbüchern der Real Academia Española ab 1992 (vgl. Lebsanft 1998, 269-271; Polzin-Haumann 2006, 278). <?page no="220"?> 220 Hanna Merk (Trier) Ortografía de la lengua española markiert die Verlagerung der bis dato eurozentrisch geprägten Sprachnorm hin zu einer plurizentrischen Ausrichtung der Normierung und Beschreibung der Standardsprache. 3 Diese Publikation gilt somit als das erste Produkt der Zusammenarbeit der Akademien, verdeutlicht durch den Zusatz „Edición revisada por las Academias de la Lengua Española“ (vgl. RAE 2016). In den darauf folgenden Jahren veröffentlichte die Real Academia Española gemeinsam mit der Asociación de Academias de la Lengua Española zahlreiche weitere Sprachratgeber und sprachkodifizierende Werke, die dem Prinzip der Plurizentrik und der panhispanischen Norm Rechnung tragen sollen. Zu diesen Publikationen zählen der Diccionario panhispánico de dudas (2005), die Nueva gramática de la lengua española (2009), der Diccionario de americanismos (2010) sowie die Neuauflage der Ortografía de la lengua española (2010) (vgl. RAE 2016). Trotz der panhispanischen Ausrichtung all dieser Werke 4 nimmt die Real Academia Española auch heutzutage immer noch eine führende Rolle in Bezug auf die Sprachnormierung ein und gilt als Vorbild für die anderen Akademien. Dies zeigt sich auch und vor allem im Sprachberatungsdienst Español al día der Real Academia Española. Im Jahre 1998 wurde mit der Veröffentlichung der Internetseite der Real Academia Española zugleich der Sprachberatungsdienst Español al día eingerichtet. Damit hatten Nutzer erstmals die Gelegenheit, sich auf elektronischem Wege mit Sprachfragen an die Real Academia Española zu wenden. Diese neue Art der Sprachberatung „permitiera a la institución ofrecer de manera directa, con el concurso de las nuevas tecnologías de la información y la comunicación, orientación normativa sobre el uso correcto del español“ (Hernández 2014) und gilt als Ergänzung zu dem bisher per Telefon oder Briefverkehr angebotenen Sprachberatungsdienst. Ziel des Beratungsdienstes ist es, sprachliche Unsicherheiten zu klären und eine normative Orientierung zur korrekten Verwendung des Spanischen vorzugeben. Dabei richtet er sich nicht nur an die Spanischsprecher der iberischen Halbinsel, sondern auch an Muttersprachler des Spanischen aus aller Welt. Eine Auswertung der Sprachenfragen der Abteilung Español al día ergab, dass ca. 50 % der Fragen aus Spanien kommen, 40 % aus Hispanoamerika und rund 10 % aus anderen Ländern (vgl. Departamento 2012). 3 So zumindest präsentiert die Real Academia Española ihren Weg hin zur „política panhispánica“ (RAE 2016). Die in diesem Zusammenhang entstandene Problematik der Plurizentrik wurde und wird vielerorts diskutiert (vgl. hierzu unter anderem Bierbach 2000; Guitarte / Quintero 1974; Lebsanft 1998, 2013; Lebsanft / Mihatsch / Polzin-Haumann (eds.) 2012; Morales 2010; Oesterreicher 2000; Polzin-Haumann 2006; Tacke 2011; Seco 1988; Senz / Alberte (eds.) 2011; Zimmermann 2010). 4 Zur Normkonzeption der Real Academia Española vgl. vorherige Fußnote 3. <?page no="221"?> Die Sprachratgeber der Academia Argentina de Letras-- eine diachrone Analyse 221 Motiviert durch das hohe Interesse an diesem Sprachberatungsdienst von Seiten der hispanoamerikanischen Sprecher haben zahlreiche andere amerikanische Sprachakademien des Spanischen in den letzten Jahren ebenfalls elektronische Sprachberatungsdienste eingerichtet. Darunter fallen zum Beispiel die Academia Argentina de Letras, die Academia Colombiana de la Lengua, die Academia Mexicana de la Lengua sowie die Academia Dominicana de la Lengua. In Anbetracht dessen und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass viele der Akademien in den letzten Jahren verschiedene Referenzwerke und Sprachratgeber zur ihrer jeweiligen eigenen nationalen Varietät publiziert haben, stellt sich die Frage, an welcher sprachlichen Norm sich die Sprachberatung orientiert. Die Beschreibung und Untersuchung der verschiedenen Sprachratgeber der Academia Argentina de Letras stehen im Fokus des vorliegenden Artikels. Dabei soll die Frage nach der sprachlichen Norm, die die argentinische Sprachakademie vertritt, geklärt werden. Zudem wird ein Überblick über die Verfahren der Sprachberatung gegeben und dargelegt, wie sie sich im Laufe der Zeit gewandelt haben. 2 Die Sprachberatung der Academia Argentina de Letras Die am 11. September 1931 gegründete Academia Argentina de Letras 5 zählt zu den jüngsten Sprachakademien in der spanischsprachigen Welt. Sie eignet sich in besonderem Maße zur Analyse der Sprachberatung und -normierung in Hispanoamerika, da sie sich durch ihr innovatives Schaffen und ihre Produktivität in diesen Bereichen auszeichnet. Als Vorbild für die Organisation und die Zielsetzung der Academia Argentina de Letras diente die Real Academia Española. Zu den Aufgaben und Zielen der argentinischen Sprachakademie zählen laut Gründungsstatut unter anderem „dar unidad y expresión al estudio de la lengua“ ( AAL 1931) sowie „velar por la correción y pureza del idioma, interviniendo por sí o asesorando a todas las reparticiones nacionales, provinciales o particulares que lo soliciten“ ( AAL 1931). Seit 1931 hat die argentinische Sprachakademie zahlreiche Sprachratgeber ver- 5 An dieser Stelle sei kurz auf den Namen der Akademie - Academia Argentina de Letras und nicht etwa Academia Argentina de la Lengua - verwiesen. Neben der Academia Nacional de Letras del Uruguay ist sie die einzige spanischsprachige Akademie, die den Ausdruck letras statt lengua in ihrem Namen führt. Der Terminus letras wird laut der argentinischen Akademie als ein Konzept aufgefasst, das sowohl die Untersuchung der Sprache Argentiniens als auch der argentinischen Literatur beschreibt. Damit verdeutlicht sie bereits durch ihre Namensgebung, dass sich ihre Beschäftigungsbereiche nicht nur auf die Beschreibung der Sprache reduzieren, sondern auch der Literatur widmen (vgl. Barcia 2002). <?page no="222"?> 222 Hanna Merk (Trier) öffentlicht, die diese Forderungen erfüllen sollen. Neben der Herausgabe von Wörterbüchern und Grammatiken ( Diccionario del habla de los argentinos, La academia y la lengua del pueblo, Diccionario gramatical de la lengua española - La norma argentina ), monatlich erscheinenden Boletines sowie Publikationen, die das argentinische Spanisch beschreiben ( Panorama de nuestra lengua, Refranero de uso argentino ), betreibt die Sprachakademie einen Sprachberatungsdienst, genannt consultas idiomáticas . Bereits in den 60er Jahren richtete die argentinische Akademie nach dem Vorbild der Real Academia Española einen telefonischen Sprachberatungsdienst ein, mit dem bis heute gültigen Ziel, Fragen und Unsicherheiten der Sprecher in Bezug auf das Spanische bzw. das argentinische Spanisch zu klären. Zu diesem Zwecke wurde bereits kurze Zeit nach Einrichtung des Beratungsdienstes das Departamento de Investigaciones Lingüísticas y Filológicas im Jahre 1966 gegründet. Die Mitglieder dieser Abteilung sind Philologen von nationalen Universitäten sowie von der Escuela de Lexicografía Hispánica de la Real Academia Española ausgebildete Lexikografen. Zu den Aufgaben des Departamento de Investigaciones Lingüísticas y Filológicas zählen neben der Sprachberatung auch die synchrone sowie diachrone Beschreibung des argentinischen Spanisch. Die vom Departamento de Investigaciones Lingüísticas y Filológicas herausgearbeiteten Ergebnisse werden in so genannten informes veröffentlicht, mit Hilfe derer alle Abteilungen der Akademie Beschlüsse zur Normierung der Nationalsprache treffen (vgl. AAL 2016a). Auf internationaler Ebene tragen das Departamento de Investigaciones Lingüísticas y Filológicas und somit die Academia Argentina de Letras stetig dazu bei, dass die in Kooperation mit den weiteren Akademien entstandenen Werke in Bezug auf die Beschreibung der argentinischen Norm stets auf dem neusten Stand sind. Wesentliche Instrumente der Analyse und Beschreibung der argentinischen Sprache sind neben Zeitungsarchiven, literarischen Werken sowie dem Registro del habla de los argentinos auch die beim Sprachberatungsdienst eingegangenen Fragen (vgl. AAL 2016a). Diese Sprachenfragen bieten Einblick in die sprachlichen Unsicherheiten der Sprecher und geben Hinweis darauf, welche Aspekte den Sprechern Probleme bereiten und in die Sprachratgeber aufgenommen werden sollten. Der Beratungsdienst der Academia Argentina de Letras hat es sich zur Aufgabe gemacht, „[…] formular respuestas claras, actualizadas y de acuerdo con nuestro estándar nacional, teniendo en cuenta las particularidades idiomáticas de cada región del español de la Argentina” ( AAL 2014, 28). In dieser Zielsetzung zeigen sich die wesentlichen Funktionen des Sprachendienstes: Die Antworten auf die Sprachenfragen sollen adressatengerecht und deswegen klar verständlich sein. Zudem sollen die den aktuellen Sprachstand nach argentinischer Norm beschreiben und dabei regionale Besonderheiten nicht außer Acht lassen. <?page no="223"?> Die Sprachratgeber der Academia Argentina de Letras-- eine diachrone Analyse 223 In den Anfangszeiten der Sprachberatung konnte der Sprachendienst nur telefonisch oder auf postalischem Wege in Anspruch genommen werden. Gegenwärtig bietet die Academia Argentina de Letras ihren Sprachberatungsdienst auf verschiedenen Kanälen an: per Telefon, Brief oder Fax, via E-Mail, mittels eines Onlineformulars auf der Internetseite oder über das soziale Netzwerk Twitter. Mit ca. 20 Anrufen pro Sprechstunde und insgesamt ungefähr 4000 telefonischen Anfragen pro Jahr ist die Beratung per Telefon die von den Sprechern am häufigsten frequentierte Art der Sprachberatung. Die Anzahl der Online- und E-Mail-Anfragen beläuft sich laut eigenen Angaben auf mehr als 500 jährlich. Zu der erst seit Mai 2014 angebotenen Sprachberatung über Twitter existieren von Seiten der Akademie noch keine erhobenen Daten in Bezug auf die Nutzungszahlen. Alle Anfragen und Antworten des Sprachberatungsdienstes werden gesammelt und archiviert, sind jedoch nicht öffentlich einsehbar. Lediglich eine Auswahl der eingegangen Anfragen ist in verschiedenen Werken der Academia Argentina de Letras publiziert. Zu diesen Sprachratgebern zählen unter anderem: • das Nachschlagewerk Dudas idiomáticas frecuentes aus dem Jahr 1992, welches 2000 neu aufgelegt wurde und 2001 in einer digitalen Version als CD - ROM erschien, • der Diccionario argentino de dudas idiomáticas (2011), der von der argentinischen Akademie selbst als „adaptación nacional“ des Diccionario panhispánico de Dudas (2005) beschrieben wird • sowie die seit Mai 2014 hinzu gekommenen Beiträge auf der Internetplattform Twitter. Neben diesen genannten Werken hat die Academia Argentina de Letras zahlreiche weitere Sprachratgeber zum argentinischen Spanisch veröffentlicht, wie beispielsweise 2003 den Diccionario del habla de los argentinos oder den Diccionario gramatical de la lengua española - La norma argentina (2014). Da diese letztgenannten Werke überwiegend andere Korpora als die consultas auswerten, werden sie im Folgenden nicht Gegenstand der Untersuchung sein. Eingang in die Analyse soll jedoch ein weiteres Werk finden, das kein Sprachratgeber im Sinne der bereits genannten ist: das Panorama de nuestra lengua: historia, dialectos y estándar del español de la Argentina . Bei diesem 2014 veröffentlichten Werk handelt es sich um eine vielseitige Beschreibung der gegenwärtigen Sprachsituation in Argentinien, in der auch eine Darstellung des Sprachberatungsdienstes und einige Antworten der Akademie auf Fragen der Ratsuchenden abgedruckt sind. <?page no="224"?> 224 Hanna Merk (Trier) 3 Dudas idiomáticas frecuentes (1992 - 2001) In den 80er Jahren erfuhr der Sprachberatungsdienst einen starken Anstieg an Anfragen, nachdem dieser in den Printmedien beworben worden war. Als weitere Folge dieser öffentlichen Berichterstattung wurde von nun an ein breiteres Publikum auf die Aktivitäten der argentinischen Akademie aufmerksam, was zu einer zunehmenden Diversifizierung der Ratsuchenden führte. Es nahmen ab diesem Zeitpunkt nicht nur einige Wissenschaftler, sondern nun auch Journalisten, Werbeagenturen, öffentliche Institutionen, Lehrer und Schüler den Dienst in Anspruch (vgl. AAL 2011, IX ). Aufgrund dieser großen Nachfrage begann die Academia Argentina de Letras Hefte mit den häufigsten Fragen und Antworten zu drucken und veröffentlichen. Der große Erfolg, den diese ersten gedruckten Sprachratgeber verzeichneten, führte dazu, dass die Akademie die Veröffentlichung der Sprachenfragen professionalisierte und 1992 ihre erste Ausgabe der Dudas idiomáticas frecuentes herausbrachte. 1994 erschienen die Dudas idiomáticas frecuentes mit dem Zusatz Verbos , 1995 die Dudas idiomáticas frecuentes - Versión ampliada und 2000 wurden die Dudas idiomáticas frecuentes mit dem Zusatz „Versión que incorpora normas de la Ortografía de la Real Academia Española, ed. 1999“ neu aufgelegt und 2001 in digitaler Form als CD - ROM veröffentlicht. Die hier analysierte Ausgabe aus dem Jahre 2000 beinhaltet 94 thematische Einträge und weitere 33 Querverweise. Inhaltlich beziehen sich die Einträge auf den morphosyntaktischen, phonographischen sowie lexikosemantischen Bereich. Dabei zählen ca. 41 % der Beiträge zur Lexikosemantik, ein Drittel der Einträge beleuchtet Unklarheiten der Morphosyntax und ungefähr ein Viertel des Inhalts beschäftigt sich mit phonographischen Unsicherheiten. Auf die thematischen Artikel folgt ein umfangreicher Anhang: eine Auflistung der gängigsten Abkürzungen, zwei Listen, die sich Tierbezeichnungen widmen, und zwei Listen zu Völkerbezeichnungen, Städte- und Ländernamen. Das insgesamt 52-seitige Werk aus dem Jahr 2000 wird untertitelt mit dem Zusatz „Versión que incorpora normas de la Ortografía de la Real Academia Española, ed. 1999”, was schon einen ersten Hinweis auf die Referenzwerke enthält. Neben der genannten Ortografía wird auf den Diccionario de la Real Academia Española von 1992 sowie den Diccionario de uso del español (1966) von Maria Moliner verwiesen. Als Beispiel dient der folgende Eintrag zum Terminus abecedario 6 , der auf die bereits im Titel genannte Ortografía der Real Academia Española Bezug nimmt: 6 Die Auswahl dieses Eintrages erfolgte in Hinblick auf die Debatte um die Orthographiereform (vgl. Lebsanft 2013, 60-61), wobei besonders betrachtet werden soll, wie die Aca- <?page no="225"?> Die Sprachratgeber der Academia Argentina de Letras-- eine diachrone Analyse 225 ABECEDARIO En la última redacción de la Ortografía (Real Academia Española, Espasa, 1999) se afirma que el „abecedario español quedó fijado, en 1803, en veintinueve letras, cada una de las cuales puede adoptar la figura y tamaño de mayúscula o minúscula. He aquí sus formas y nombres: „[…] B b (be, be alta o be larga), C c (ce), Ch ch (che), […] L l (ele), Ll ll (elle) […] V v (uve, ve, ve baja o ve corta), W w (uve doble, ve doble o doble ve) […]. „En realidad, ch y ll son dígrafos, signos ortográficos compuestos de dos letras. […] A petición de diversos organismos internacionales la Asociación de Academias de la Lengua Española acordó en su X Congreso (Madrid, 1994) reordenar esos dígrafos en el lugar que el alfabeto latino universal les asigna. Así pues en el Diccionario las palabras que comienzan por ch se registrarán en la letra C entre las que empiezan por ce y ci; las que comienzan por ll, en la letra L entre las que empiezan por li y lo“ ( AAL 2000, 13). Hierbei handelt es sich um ein Zitat aus der Ortografía (1999) und nicht um einen selbst verfassten Beitrag der Academia Argentina de Letras. Die Digraphe <ch> und <ll> werden noch als eigenständige Lettern des spanischen Alphabets aufgelistet, was sich in den neueren Orthographierichtlinien geändert hat. Auf diese Entwicklung wird im zweiten Absatz hingewiesen, der die Anordnung der mit <ch> oder <ll> beginnenden Lexeme in Wörterbüchern beschreibt. Es fällt zudem auf, dass zur Benennung der Buchstaben <b>, <v> und <w> mehrere Möglichkeiten in Klammern aufgeführt werden, nämlich „be, be alta o be larga“ für <b>, „uve, ve, ve baja o ve corta“ für <v> und „uve doble, ve doble o doble ve“ für den Buchstaben <w>. Allerdings wird auf die unterschiedliche Verwendung der einzelnen Bezeichnungen weder in dem hier aufgeführten Artikel noch an anderer Stelle in dem Werk Dudas idiomáticas frecuentes näher eingegangen, sodass für den Ratsuchenden nicht direkt ersichtlich ist, in welcher Region oder in welchen Kontext die jeweiligen Begriffe verwendet werden. Zahlreiche weitere Artikel beschreiben jedoch regionale Unterschiede, in denen die von der Real Academia Española gültige Norm bisweilen einem in Argentinien oder in Lateinamerika üblichen Gebrauch gegenübergestellt wird. Der Eintrag zu den Verben haber / hacer zum Beispiel bezieht sich neben der Beschreibung der grammatikalisch korrekten Anwendung dieser beiden Verben auch auf eine in Hispanoamerika gebräuchliche Verwendung: Die in weiten Teilen Lateinamerikas verbreitete Angleichung der unpersönlichen Verbform demia Argentina de Letras mit der anstehenden Ausgliederung der Digraphe <ch> und <ll> sowie der Benennung der Buchstaben <b>, <v> und <w> umgeht. <?page no="226"?> 226 Hanna Merk (Trier) an ein Pluralobjekt wird als „desaconsejable“ bezeichnet. Somit wird von Seiten der Akademie eine klare Empfehlung ausgesprochen, an welcher Norm sich der Sprecher orientieren solle. HABER , HACER . Si bien HABER , como verbo auxiliar, se conjuga en todos los tiempos ( HUBO SALIDO , HUBIERON SALIDO ), al emplearlo como verbo pleno (en el sentido de 'existencia', 'presencia', 'suceso') es impersonal y por lo tanto corresponde mantenerlo invariable en la tercera persona del singular, de cualquier tiempo y modo. […] Lo mismo puede decirse del uso impersonal de HACER : " HACE diez días que está"; " HACÍA calor y frío al mismo tiempo". A pesar de ser bastante frecuente en el habla hispanoamericana, la concordancia de estos verbos con el objeto plural (* HUBIERON fiestas) es desaconsejable. […] ( AAL 2000, 26 f.). Ein weiteres Beispiel für eine Unterscheidung zwischen der allgemeinen Norm und einer regionalen Besonderheit ist der Eintrag zu video : VIDEO La Real Academia Española distingue VIDEO -, elemento compositivo, de VÍDEO ‚aparato que registra o reproduce imágenes electrónicamente‘. En la Argentina se ha impuesto la acentuación grave para ambas expresiones ( AAL 2000, 39). Zunächst wird hier die von der Real Academia Española festgelegte Unterscheidung zwischen den zwei Schreibweisen des Wortes video erläutert. Anschließend wird verdeutlicht, dass sich in Argentinien eine einzige Schreibweise, nämlich die ohne Akzent, etabliert hat. Damit kommt die Academia Argentina de Letras dem Motto der panhispanischen Sprachpolitik „unidad en la diversidad“ insofern nach, als sie die von der Real Academia Española elaborierte Norm und die in Argentinien übliche und anerkannte Schreibweise ohne Wertung gegenüberstellt. Es fällt zudem auf, dass auf die Tatsache, dass es sich bei video um einen Anglizismus handelt, nicht näher eingegangen wird. In einem weiteren Eintrag wird auf die unterschiedliche Verwendung der zweiten und dritten Person Plural in Spanien im Gegensatz zu der in Amerika gebräuchlichen Form eingegangen: USTEDES / VOSOTROS La existencia de los pares correlativos TÚ / USTED - VOSOTROS / USTEDES le ha permitido al habla peninsular distinguir la mayor o menor confianza que existe en el trato. Esto no ocurre en América, donde la segunda persona del singular ( TÚ o VOS , según las áreas) tiene un único plural: USTEDES. La distancia en el tratamiento, marcada solo <?page no="227"?> Die Sprachratgeber der Academia Argentina de Letras-- eine diachrone Analyse 227 en el singular, se expresa en el plural a través de otros elementos del contexto de frase: „Sí, a USTEDES les hablo, no jueguen en la calle que es peligroso“. […] ( AAL 2000, 38). Die Akademie beschreibt hier zunächst die Verfahren, durch die im peninsularen Spanisch Nähe oder Distanz zu einer Person ausgedrückt werden, und zwar durch die Personalpronomen tú , vosotros , usted und ustedes . Im amerikanischen Raum hingegen wird an Stelle von tú das Pronomen vos verwendet und im Plural existiert lediglich das Pronomen ustedes . Der Aspekt der Nähe bzw. Distanz zu den Gesprächspartnern äußert sich auf der Ebene der Syntax oder wird durch den Kontext verdeutlicht. Eine Vielzahl der Einträge behandelt Begriffe, die im argentinischen Spanisch eine Besonderheit entweder im Bereich der Semantik, der Morphologie oder Graphie aufweisen und sich so vom europäischem Spanisch und den übrigen hispanoamerikanischen Varietäten unterscheiden. Der Eintrag, der das Genus des Wortes maratón beschreibt, verfolgt die bereits beschriebene Struktur: Zunächst wird die allgemein geläufige Norm erläutert und dann auf den speziellen Gebrauch in Argentinien eingegangen. Im Gegensatz zu der in zahlreichen Wörterbüchern auftretenden maskulinen Form el maratón hat sich in Argentinien die feminine Form la maratón durchgesetzt. Ebenso hat sich in Argentinien das dazugehörige Adjektiv maratónico gegenüber dem Adjektiv maratoniano etabliert. Dieser Artikel sowie die bisher analysierten Einträge zeugen vom deskriptiven Charakter der argentinischen Sprachberatung: MARATÓN Si bien el nombre de este tipo de competencia deportiva figura en los diccionarios como de género masculino, el uso tradicional de nuestro país ha impuesto el femenino: LA MARATÓN . También aquí se ha difundido el adjetivo MARATÓNICO en lugar del hispánico MARATONIANO ( AAL 2000, 29). Hinsichtlich des Umgangs mit Fremdwörtern, besonders mit Anglizismen und Gallizismen, ist festzustellen, dass die Academia Argentina de Letras den Großteil der Entlehnungen in ihren Wortschatz aufnimmt. So wird beispielsweise enervar als „galicismo frecuente“ ( AAL 2000, 24) bezeichnet, munir gilt als „galicismo usual en nuestro país“ ( AAL 2000, 31) und die Lehnwörter estándar und estrés werden jeweils als „castellanización de la voz inglesa standard / stress“ ( AAL 2000, 25) beschrieben. <?page no="228"?> 228 Hanna Merk (Trier) Eine ebenfalls neutrale Einstellung einem Anglizismus gegenüber zeigt der Eintrag zu fin de semana / week-end : FIN DE SEMANA , WEEK - END La forma inglesa WEEK - END , de difícil adecuación al sistema gráfico de nuestra lengua, tiene como equivalente la expresión FIN DE SEMANA , esto es, „Período de descanso semanal, disfrutado por muchas personas, que normalmente comprende el sábado y el domingo“ (Real Academia Española, „Diccionario de la lengua“, ed. 1992) ( AAL 2000, 26). Obgleich sich der Begriff week-end nur schwer in einer spanischen Graphie umsetzen lässt und es für ihn das spanische Äquivalent fin de semana gibt, wird weder dem Sprecher eine Empfehlung zur Anwendung der beiden Bezeichnungen gegeben noch eine Bewertung vorgenommen. Demgegenüber steht der Artikel zur Entlehnung von carpeta : CARPETA Evítese el empleo de carpeta con el sentido de „alfombra“ que es un calco innecesario del inglés carpet. ( AAL 2000, 18). 7 In diesem Falle wird eine klare Wertung abgegeben und eine Empfehlung zum korrekten Sprachgebrauch ausgesprochen. Die Verwendung des Begriffs carpeta wird als eine unnötige Lehnübersetzung bezeichnet, da es für diesen Anglizismus das entsprechende spanische Wort alfombra gibt. Diese Aussage impliziert die Aufforderung an den Sprecher, sich des spanischen Begriffs zu bedienen und den Anglizismus zu vermeiden. In der 2001 erschienenen digitalen Version der Dudas idiomáticas frecuentes ist die Rede von „su empleo abusivo“ ( DIF 2001) und davon, dass durch diesen übermäßigen Gebrauch das spanische alfombra Gefahr läuft, durch besagten Anglizismus ersetzt zu werden. Die im Jahre 2001 erschienene digitale Version der Dudas idiomáticas frecuentes unterscheidet sich minimal von der Printausgabe. In zwölf Beiträgen werden zum Teil andere Beispiele aufgeführt und in manchen Fällen sind einzelne Sätze umformuliert, aber inhaltsgleich. Zudem fehlt in dem digitalen Programm der Eintrag zu hiato . Ein weiteres unterscheidendes Merkmal der CD - ROM ist, dass ihr zahlreiche Verbtabellen beigefügt sind. Die Datenbank erfasst mehrere tausend Verben, deren Konjugation Zweifel bei den Sprechern hervorrufen können. In tabellarischer Form werden die entsprechend problematischen Tempora und 7 Dieser Eintrag unterscheidet sich zu dem der CD-ROM: „La existencia en nuestra lengua del sustantivo CARPETA, próximo en forma, y menos en sentido, al inglés CARPET, contribuye a que esta voz tienda a desplazar, por su empleo abusivo en el lenguaje publicitario, a la voz ALFOMBRA“ (DIF 2001). <?page no="229"?> Die Sprachratgeber der Academia Argentina de Letras-- eine diachrone Analyse 229 Modi konjugiert, jedoch keine weiteren Informationen bzw. Erklärungen zu den Unregelmäßigkeiten des Verbes gegeben. In den Konjugationstabellen werden die Formen von tú und vos in derselben Spalte aufgelistet, wobei allerdings auffällt, dass zunächst die tú -Konjugation genannt wird und sich daran die Form des voseo in Klammern anschließt (vgl. AAL 2001). 4 Diccionario argentino de dudas idiomáticas (2011) Der in Form eines Wörterbuchs aufgebaute Ratgeber Diccionario argentino de dudas idiomáticas der Academia Argentina de Letras gilt als argentinische „adaptación nacional” des Diccionario panhispánico de dudas , welchen die Real Academia Española 2005 in Kooperation mit der Asociación de Academias de la Lengua Española veröffentlichte. Zahlreiche Einträge des Diccionario panhispánico de dudas wurden von der Academia Argentina de Letras revisiert und den in Argentinien üblichen sprachlichen Gegebenheiten angepasst. Als Folge wurden zahlreiche Artikel modifiziert, gekürzt oder komplett entfernt, so dass der Diccionario argentino de dudas idiomáticas mit ca. 4000 Einträgen ungefähr nur noch die Hälfte des Diccionario panhispánico de dudas ausmacht. Die Mikro- und Makrostruktur sowie das gesamte Layout des Diccionario argentino de dudas idiomáticas ähneln sehr stark denjenigen des Diccionario panhispánico de dudas . Die Beiträge sind alphabetisch angeordnet und lassen sich in zwei Arten von Einträgen unterscheiden: Zum einen beinhaltet der Diccionario argentino de dudas idiomáticas umfassende thematische Artikel, zum anderen besteht er aus Einträgen zu einzelnen Begriffen, die in phonographischer, lexikosemantischer oder morphosyntaktischer Form Unsicherheiten bei den Sprechern hervorrufen. Ziel des Diccionario argentino de dudas idiomáticas ist es, „[…] guiar al lector deseoso de hallar la más adecuada y correcta forma de expresión en nuestra lengua para lo que quiere decir en su habla oral o escrita. Por ello, es de utilidad acesíble para todo tipo de público (docentes, alumnos, redactores, correctores, etc.)“ ( AAL 2011, XII ). Der Diccionario argentino de dudas idiomáticas ist demnach eine Beschreibung der argentinischen Standardnorm (vgl. AAL 2011, XII ). Aus diesem Grund wird in einigen Artikeln davon abgesehen, Beispiele aus spanischen Zeitungen oder von spanischen Autoren anzuführen. Im Diccionario argentino de dudas idiomáticas sind die Verwendungsbeispiele überwiegend argentinischen Zeitungen, Zeitschriften oder Werken nationaler Autoren entnommen und reflektieren demnach die sprachlichen Gegebenheiten Argentiniens. Zudem wurden zur besseren Verständlichkeit für die Leser einige <?page no="230"?> 230 Hanna Merk (Trier) peninsular-klingende Termini durch Ausdrücke ersetzt, die in Argentinien geläufiger und somit verständlicher sind ( llanas substituiert beispielsweise graves oder acabadas en löst die Wendung terminadas en ab). Die Academia Argentina de Letras erkennt im Vorwort an, dass obgleich die Debatte über die Überlegenheit einer nationalen Norm über eine andere durch die Kooperation der Akademien überwunden wurde, die dominierende Rolle der peninsularen Norm dennoch nicht zu verkennen ist. Sie hat sich dennoch zum Ziel gesetzt, die argentinische Norm in den Fokus zu stellen, aufgrund dessen bisweilen klare Unterscheidungen zur iberischen Norm vorgenommen werden. Dennoch wird in den meisten Fällen nach einer allgemeingültigen Erklärung gesucht, um so die Verbundenheit zum Diccionario panhispánico de dudas als Ergebnis der Zusammenarbeit der Akademien auszudrücken (vgl. AAL 2011, XV ). An die alphabetisch geordneten Einträge schließt sich ein fünfteiliger Anhang bestehend aus Verbtabellen, einer Liste mit geläufigen Abkürzungen, Auflistungen von Zeichen und Symbolen und deren Bedeutung sowie Länder, Städte- und Nationalitätsbezeichnungen an. Im Diccionario panhispánico de dudas liegt zudem ein Kapitel zur Klärung grammatikalischer und linguistischer Begrifflichkeiten vor, auf welches im Diccionario argentino de dudas idiomáticas verzichtet wird. Der Diccionario argentino de dudas idiomáticas weist ca. 250 Einträge auf, die im Diccionario panhispánico de dudas nicht vorhanden sind. Diese Unterscheidungen beziehen sich besonders auf die Onomastik und Lexik, aber auch auf die Phonographie. Als Beispiele hierfür seien folgende Artikel genannt: alargue, la Argentina, conurbano, espumante / espumoso, faina / fainá, fugaza, fusili, marrón glasé, Machu Pichu, patagónico,-ca, pastafrola, remís / remis, saga, Ushuaia etc. (vgl. AAL 2011, XIV ). Im Unterschied zu den Dudas idiomáticas frecuentes ist der Eintrag zu abecedario im Diccionario argentino de dudas idiomáticas wesentlich umfangreicher, enthält aber grosso modo dieselben Informationen. abecedario. 1. El abecedario. El abecedario o alfabeto español está formado por veintisiete letras: a, b, c, d, e, f, g, h, i, j, k, l, m, n, ñ, o, p, q, r, s, t, u, v, w, x, y, z. Además de las veintisiete letras mencionadas, existen cinco dígrafos o combinaciones de dos letras que representan un fonema único: ch, ll, gu, qu y rr. Desde la segunda edición de la ortografía academica en 1754, se consideraban letras del abecedario español los dígrafos ch y ll […]. [D]e acuerdo con la Ortografía de la lengua española de 2010, „[…] los dígrafos ch y ll dejan de ser considerados letras del abecedario español […]“ (p. 64) […]. ( AAL 2011, 4). Es wird im Detail auf die Digraphen eingegangen und deren Stellung im Alphabet geschildert. Dazu wird als Referenzwerk die Ortografía angegeben und <?page no="231"?> Die Sprachratgeber der Academia Argentina de Letras-- eine diachrone Analyse 231 zitiert. Ein Unterschied zu den Dudas idiomáticas frecuentes ist, dass die Bezeichnungen der einzelnen Buchstaben nicht angegeben ist. Dies liegt daran, dass zu diesem allgemeinen Eintrag zu Beginn jedes neuen Buchstabens ein einzelner Beitrag, in dem der entsprechende Buchstabe genauer beschrieben wird, hinzukommt. Daraus ergibt sich für die Benennung der Buchstaben <b>, <v> und <w> folgendes: b. […] Su nombre es feminino: la be. También, para diferenciar, be larga, be grande, be alta. Su plural es bes. ( AAL 2011, 35) v. 1. […] Su nombre en el español de España es uve, mientras que en el americano se la denomina ve, ve corta, ve chica o chiquita, ve pequeña y ve baja. En la Argentina predomina la forma ve corta […] ( AAL 2011, 395). w. 1. […] Su nombre es femenino: doble ve (uve doble en España) […] ( AAL 2011, 403). Die Bezeichnungen für den Buchstaben <b> werden nicht genauer erklärt, d. h. dem Leser werden keine genaueren differenzierenden Informationen zur Anwendung der jeweiligen Benennung gegeben. Anders verhält es sich bei den Einträgen zu <v> und <w>, die zwischen einem spanischen und einem argentinischen Gebrauch unterscheiden. Demgegenüber gibt der Diccionario panhispánico de dudas in seiner Beschreibung zur Bezeichnung des Buchstaben <v> und <w> eine klare Präferenz, nämlich: b. […] En América recibe también los nombres de be alta y be larga. Su plural es bes ( RAE 2005, 80). v. […] La denominación más recomendable es uve, pues permite distinguir claramente el nombre de esta letra del de la letra b ( RAE 2005, 661). w. […] Puesto que el nombre recomendado para la letra v es uve, la denominación más recomendable para la letra w es uve doble ( RAE 2005, 679). Auch hier wird zwar keine Wertung vorgenommen, dennoch stellt die Wendung „la denominación más recomendable“ eine klare Lenkung des Sprechers dar. Der Eintrag zu pastafrola , auf den auch durch die Schreibweisen pastaflora sowie pastafrolla verwiesen wird, präsentiert diverse Besonderheiten. Zum einen wird hier ein weiteres Referenzwerk aufgeführt, an dem sich die Definition des Begriffs orientiert, nämlich der Diccionario de la lengua española der Real Academia Española. Auch in der Schreibweise pastaflora ist im Diccionario der Real Academia Española ein eigener Eintrag aufgeführt, wobei pastafrola im Gegensatz zu pastaflora als Argentinismus markiert wird. Im Diccionario panhispánico de dudas hingegen, ist keiner der beiden Begriffe angegeben. Zum anderen erhält der Leser die Information, dass es sich bei pastafrola sowie pas- <?page no="232"?> 232 Hanna Merk (Trier) taflora um Entlehnungen aus dem Italienischen handelt. In diesem Zusammenhang wird von der Verwendung des Begriffs pastaflora , als wenig gebräuchliche und etymologisch inkorrekte Form mit dem Hinweis „se desaconseja su empleo“ abgeraten: Pastafrola. Tarta de masa quebradiza, hecha con harina, manteca, azúcar y huevos; la voz procede del italiano pastafrolla […]. Tiene el mismo origen la forma pastaflora, que el Diccionario académico registra solo con el sentido de ‚masa‘ […]. Por ser esta de uso minoritario y menos acorde con la etimología, se desaconseja su empleo ( AAL 2011, 294). Bei alargue handelt es sich ebenfalls um ein Lexem, welches im Diccionario panhispánico de dudas nicht aufgeführt wird, während es im Diccionario der Real Academia Española als ein in Argentinien gebräuchlicher Ausdruck markiert auftaucht. Interessant ist hier besonders die letzte Bemerkung, die sich auf die Verwendung von alargue als Synonym für alargarmiento bezieht und besagt, dass, obwohl in der gehobenen Sprache unüblich, dieser synonyme Gebrauch beider Ausdrücke zulässig ist. Gleichwohl wird hiermit suggeriert, dass das Gleichsetzen der beiden Wörter einem weniger gepflegten Sprachgebrauch zuzuordnen ist, wobei jedoch keine Empfehlung oder Wertung diesbezüglich ausgesprochen wird. alargue. 1. ‚Tiempo suplementario de un partido de fútbol u otro deporte’ […], 2. ‚alargador’ (‚pieza o dispositivo que, acoplado a otro, sirve para extender su alcance’) […], y 3. ‚acción y efecto de alargar o de alargarse’; con este último sentido se emplea ocasionalmente como sinónimo de alargarmiento. Aunque inusual en el habla esmerada, no se considera incorrecto […] ( AAL 2011, 14). Der Diccionario argentino de dudas idiomáticas führt keine Einträge zu weekend / fin de semana oder carpete auf. Bei Betrachtung anderer Entlehnungen zeigt sich jedoch ein dem der Dudas idiomáticas frecuentes ähnlicher Umgang mit Anglizismen, Gallizismen und sonstigen Fremdwörtern oder Entlehnungen . Exemplarisch sollen hier die Begriffe head-hunter , video und pin untersucht werden. Sucht man im Diccionario argentino de dudas idiomáticas nach dem Wort head-hunter , wird man auf den Eintrag zu cazatalentos verwiesen. cazatalentos. Calco del inglés head-hunter o talent-scout, ‚persona dedicada a buscar individuos para ser contratados por empresas necesitadas de ellos’. Es común en cuanto al género (un / una cazatalentos). La existencia de este calco hace innecesario el empleo de las expresiones inglesas ( AAL 2011, 60). <?page no="233"?> Die Sprachratgeber der Academia Argentina de Letras-- eine diachrone Analyse 233 Von der Verwendung der Anglizismen head-hunter und talent-scout wird abgeraten, da für diese Bedeutung die Lehnübersetzung cazatalentos existiert, weshalb der Gebrauch der englischen Ausdrücke als „innecesario” angesehen wird. Der Eintrag zu video ähnelt sehr dem der Dudas idiomáticas frecuentes und zeichnet sich auch hier durch die normative Akzeptanz beider Akzentuierungen aus. Nebst der Erklärung, dass es sich bei video um einen Ausdruck aus dem Englischen handelt, unterscheidet sich der Artikel hinsichtlich der Anordnung der Information von dem der Dudas idiomáticas frecuentes : video. ‚Sistema de grabación y reproducción de imágenes’. Procedente del inglés video, se ha adaptado el español con dos acentuaciones, ambas válidas: la forma esdrújula vídeo y la forma grave video [bidéo], mayoritaria en la Argentina y el resto de América. Cuando esta voz se emplea como elemento prefijo en la formación de compuestos, es átona y, por tanto, debe escribirse sin tilde […] ( AAL 2011, 398). Bei der Betrachtung des Eintrags zu pin ist wieder eine recht liberale Einstellung hinsichtlich Anglizismen festzustellen. Obgleich es die spanischen Begriffe escudito und prendedor gibt, wird der Gebrauch des Anglizismus pin akzeptiert und weder ein bestimmter Ausdruck besonders empfohlen noch von dessen Verwendung abgeraten. pin. Voz tomada del inglés pin, que significa ‚insignia o adorno pequeño que se lleva prendido en la ropa’ […]. Aunque se admite el uso de este anglicismo, en ocasiones se pueden emplear los equivalentes escudito o prendedor ( AAL 2011, 300 f.). Die bisher analysierten Sprachratgeber der Academia Argentina de Letras lassen bereits ein kurzes Zwischenfazit zu, bevor sich zwei andersartigen Beschreibungen der Sprachberatung zugewandt wird. Die Dudas idiomáticas frecuentes und der Diccionario argentino de dudas idiomáticas weisen gewisse Ähnlichkeiten auf. Zum einen sind beide Ratgeber in Wörterbuchform gestaltet: Unter Schlagwörtern findet der Ratsuchende Erklärungen und Informationen zu den geläufigsten sprachlichen Unsicherheiten. Zum anderen sind die Beiträge sehr neutral verfasst und richten sich an ein heterogenes Publikum. Es werden dieselben Referenzwerke zu Rate gezogen und die Ausrichtung an einer plurizentrischen Norm ist in beiden Ratgebern präsent. Zwar postuliert die Academia Argentina de Letras vielerorts eine Nähe zur peninsularen Norm der Real Academia Española, zeigt jedoch durch die Art und Weise der Beratung und durch die Publikation der hier genannten nationalen Sprachratgeber ein Interesse an der Kodifizierung und Verbreitung der argentinischen Norm. Besonders der Diccionario argentino de dudas idiomáticas zeichnet sich durch seine Nachvollziehbarkeit aus, die durch den Umfang und Ausführlichkeit der <?page no="234"?> 234 Hanna Merk (Trier) Einträge, das Anführen verschiedener anerkannter Referenzwerke sowie das Belegen des Gesagten durch authentische Beispiele bestärkt wird. 5 Exkurs: Panorama de nuestra lengua (2014) Einen allgemeinen Überblick über die Geschichte und den gegenwärtigen Sprachstand des Spanischen in Argentinien sowie über die Arbeit der Academia Argentina de Letras gibt das erst 2014 erschienene Werk Panorama de nuestra lengua. Dabei betrachtet Panorama de nuestra lengua sprachhistorische Aspekte, Charakteristika des argentinischen Spanisch ebenso wie Unterschiede zwischen Dialekten und der Standardsprache in Argentinien. Hinzu kommen Beschreibungen der Arbeit der Sprachakademie im Bereich der Lexikografie und der Sprachberatung. Anlass der Publikation dieses Überblickswerkes war 2014 das 40. Jubiläum der Feria del Libro in Argentinien. Auch wenn es sich bei Panorama de nuestra lengua nicht um einen klassischen Sprachratgeber handelt, soll die Betrachtung der 20 abgedruckten Sprachenfragen dennoch Teil der vorliegenden Analyse sein. Zum einen werden nämlich aktuelle Zweifelsfälle präsentiert, zum anderen zeigen sich iterative Aspekte, die Gegenstand der Beratung sind. Des Weiteren scheint es lohnenswert, die Art und Weise der Sprachberatung in einem differenzierten Kontext zu untersuchen. Das Kapitel, welches sich mit dem Sprachendienst befasst, gibt allgemeine Auskunft zur Arbeit des Departamento de Investigaciones Lingüísticas y Filológicas in diesem Bereich. Die im Anschluss an diese generelle Übersicht angefügten exemplarischen Sprachenfragen behandeln unterschiedliche Themen zu den bereits genannten Bereichen der Morpholgie, Syntax, Lexik sowie Orthographie. Dabei überwiegen die Beiträge zu morphosyntaktischen sowie phonographischen Sprachenfragen. Zu Beginn steht die Frage „¿Cómo está compuesto nuestro abecedario en la actualidad? ” ( AAL 2014, 29), die von folgender Antwort begleitet wird: El abecedario o alfabeto español está formado en la actualidad por veintisiete letras: a, b, c, d, e, f, g, h, i, j, k, l, m, n, ñ, o, p, q, r, s, t, u, v, w, x, y, z. No forman parte del abecedario los dígrafos, combinaciones de dos letras: ch, ll, gu, qu y rr. Hasta fines de 2010, ch y ll también integraban el abecedario, y por eso las encontrábamos como letras independientes en un orden alfabético o en los diccionarios. […] ¡Ojo! En el español de la Argentina, como en otros países hispanoamericanos, la denominación para las letras v y w es ve y doble ve, así como be larga designa la b. Las <?page no="235"?> Die Sprachratgeber der Academia Argentina de Letras-- eine diachrone Analyse 235 denominaciones uve y uve doble son propias del español de España y de otros países de América ( AAL 2014, 29). Bereits auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass sich diese Antwort von den bisher betrachteten Beschreibungen des Alphabets unterscheidet. Einerseits wird darauf verzichtet, auf Referenzwerke zu verweisen, wie zum Beispiel auf die Ortografía . Andererseits wird der letzte Absatz optisch abgehoben und mit dem Ausruf „¡Ojo! ” begonnen, um auf eine Besonderheit des argentinischen Spanisch aufmerksam zu machen, nämlich die Bezeichnungen der Buchstaben <b>, <v> und <w>. Inhaltlich unterscheidet sich dieser letzte Absatz nicht von den anderen Beiträgen zum Alphabet, allerdings wirkt hier die Gestaltung mit dem ins Auge fallende „¡Ojo! ” leichter verständlich und einprägsamer. Folgender Beitrag zu alargue ähnelt dem des Diccionario argentino de dudas idiomáticas : ¿Vamos al alargue? En nuestro país, alargue designa el ‚tiempo de un partido de fútbol u otro deporte‘ […]. Además, en la Argentina designa el alargador, ‚pieza o dispositivo que, acoplado a otro, sirve para extender su alcance‘ […] Por útil, se emplea como sinónimo de alagarmiento, para nombrar la acción y efecto de alargar o de alargarse ( AAL 2014, 33). Es wird die Bedeutung des besonders in Argentinien vorkommenden Begriffs geklärt und ebenfalls die synonyme Verwendung von alargue und alargarmiento erläutert. Hier fehlen jedoch die Informationen, die im Diccionario argentino de dudas idiomáticas gegeben werden, nämlich dass alargue eher selten im Sinne von alargarmiento verwendet wird und dieser Gebrauch auf ein eher niedriges Sprachregister schließen lässt. Die folgende Anfrage beschäftigt sich mit den femininen Berufsbezeichnungen, ein Thema, das besonders im amerikanischen Raum sehr häufig zu sprachlichen Unsicherheiten führt. ¿Presidenta o gerenta de una empresa? Algunos sustantivos terminados en -ante, -ente o -iente, en su primitivo carácter de participios activos, no admiten en principio variedad de género. Así, el estudiante significa ‚el que estudia‘ y la estudiante ‚la que estudia‘. En el mismo caso están delincuente, adolescente, aspirante, amante, etc. Sín embargo, muchos de estos sustantivos designan profesiones, oficios o cargos: gerente, presidente, intendente, sirviente. En estos casos, si el cargo está desempeñado por una mujer, el uso mayoritario en nuestro país tiende a optar por la forma femenina: presidenta, gerenta, intendenta, sirvienta. <?page no="236"?> 236 Hanna Merk (Trier) Para el caso particular de presidente, en el sentido de ‚persona que preside algo‘ y, en una república, ‚jefe de Estado‘, aún conviven ambas formas: la presidente y la presidenta ( AAL 2014, 38). Es wird zunächst eine allgemeine Regel für die Geschlechtermarkierung der Substantive beschrieben, die mit den Endungen - ante , - ente oder - iente gebildet werden. Darauf folgend wird Bezug auf die Berufsbezeichnungen mit den genannten Endungen genommen und erklärt, dass sich in Argentinien die Tendenz zur Bildung bestimmter Berufs-, Ämter- und Funktionsbezeichnungen mit der femininen Endung -a entwickelt. Im letzten Abschnitt wird Bezug auf den konkreten Fall von presidenta genommen und erläutert, dass sowohl die Form presidenta als auch die Form presidente für die Beschreibung einer weiblichen Person gültig sind. Vergleicht man die 20 Sprachenfragen des Panorama de nuestra lengua mit den Einträgen in den Dudas idiomáticas frecuentes und dem Diccionario argentino de dudas idiomáticas , stellt sich heraus, dass viele Themen in allen drei Werken wiederkehren. Auf der anderen Seite finden sich immer wieder Einträge, die in neuen Publikationen nicht aufgenommen werden oder in vorherigen nicht vorkamen. Ein Beispiel hierfür stellt der Eintrag zu Brazuca dar, der Schreibung und Bedeutung des Begriffs klärt. In Anbetracht der Tatsache, dass im Jahr 2014 die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien stattfand und Brazuca der Name des offiziellen Spielballs dieser Weltmeisterschaft ist, liegt es nahe, dass durch zahlreiche Berichterstattungen der Name zu dieser Zeit stets präsent war. Demzufolge richteten sich zahlreiche Sprecher an den Sprachendienst um die Akzeptanz, Bedeutung und Schreibung des Begriffs zu erfragen. Diese Tatsache zeigt, dass einige Fragen einen hohen Aktualitätsbezug aufweisen können, den Sprachratgeber wie die Dudas idiomáticas frecuentes oder der Diccionario argentino de dudas idiomáticas nicht zu bewältigen vermögen. Die Form der öffentlichen Sprachberatung, wie sie die Academia Argentina de Letras zur Zeit mit Hilfe der gedruckten Sprachratgeber betreibt, ist gekennzeichnet durch Verzögerung, sodass der Aktualität von Sprachenfragen und der Dynamik der Sprachwandels nur schwerlich Rechnung getragen werden kann. 6 Twitter-- Eine neue Form der Sprachberatung Eine Möglichkeit, die oben genannten Aspekte der Aktualität und der Dynamik zu berücksichtigen und Sprachenfragen gleichzeitig der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, bietet die Sprachberatung via Internet. Wegen ihrer enormen Popularität eignen sich dazu besonders soziale Netzwerke. Seit 2011 ist beispielsweise die Real Academia Española auf der Internetplattform Twitter an- <?page no="237"?> Die Sprachratgeber der Academia Argentina de Letras-- eine diachrone Analyse 237 gemeldet und nutzt diese seit 2012 als erste Akademie auch zum Zwecke der Sprachberatung (vgl. RAE 2016). Das Prinzip von Twitter besteht darin, mit 140 Zeichen kurze Statusmeldungen, genannt Tweets, abzugeben, die für jedes angemeldete Mitglied öffentlich sichtbar sind. Dadurch kann ein schneller und dynamischer Informationsaustausch realisiert werden. Bereits seit November 2010 ist die Academia Argentina de Letras unter dem Namen AAL in dem sozialen Netzwerk Twitter angemeldet und kann mit dem Kürzel @canalaal verlinkt und direkt angeschrieben werden. Die argentinische Akademie nutzt Twitter als Plattform für Werbezwecke und zur Informationsverbreitung, dazu veröffentlicht sie kurze Beiträge mit Verlinkung zu ihrer eigenen Homepage oder sonstigen Internetseiten von Interesse. Seit Mai 2014 setzt die Academia Argentina de Letras ihre Präsenz auf Twitter auch zur Sprachberatung ein. Im Zeitraum von Mai 2014 bis März 2016 wurden von der Akademie insgesamt 96 Beiträge veröffentlicht, die sprachliche Zweifelsfälle beschreiben und erklären. Die Tweets beziehen sich vor allem auf Unsicherheiten zur Orthographie und Semantik, aber auch auf morphosyntaktische Aspekte. Die Nutzung von Twitter ist mittlerweile fester Bestandteil der Arbeit und Informationsverbreitung der Academia Argentina de Letras. So hat die Sprachberatung der argentinischen Akademie auf Twitter inzwischen einen festen Platz im monatlich erscheinenden Boletín informativo digital eingenommen. In der Rubrik „Nuestra lengua y nuestra cultura en 140 carácteres” werden die neusten Empfehlungen der Akademie zusammengefasst. Bei näherer Betrachtung drängt sich die Frage auf, ob es überhaupt möglich ist, in 140 Zeichen eine hinlänglich zufriedenstellende und ausführliche Sprachberatung anbieten zu können. Um dieser neuen und den eingangs gestellten Fragen nachzugehen, wurden einige Beispiele aus dem Zeitraum von April bis November 2015 ausgewählt und analysiert. Die folgenden Beiträge zeigen eine Möglichkeit, wie es der Akademie gelingt die Zeichenbegrenzung zu umgehen. Anstatt sich auf einen Tweet zu beschränken, nutzt die Akademie zwei Meldungen, um einen Sachverhalt zu klären: 20. Juli 2015: Acerca del uso del artículo frente a los topónimos (en casos como „el Brasil” o „la China”), la tendencia es a que se prescinda el artículo. 20. Juli 2015: Sin embargo, para nuestro país recomendamos usar el artículo (la Argentina), puesto que su uso responde a razones históricas y gramaticales ( AAL 2016b). In dem ersten der beiden Tweets gibt die Akademie eine allgemeine Information zur Verwendung der Artikel bei Toponymen. Daran schließt sich im zweiten Tweet eine Präzisierung zum Gebrauch des Artikels zur Bezeichnung Argen- <?page no="238"?> 238 Hanna Merk (Trier) tiniens an. Es wird die Empfehlung ausgesprochen, Argentina immer in Verbindung mit dem Artikel la zu nennen. Auffällig ist hierbei jedoch, dass auf eine ausführliche Erklärung verzichtet wird und lediglich „por razones históricos y gramaticales” als Erklärung für den Leser genügen muss. Am 20. November veröffentlichte die Academia Argentina de Letras zwei aufeinanderfolgende Beiträge, die die Schreibung und Verwendung des Substantivs emprendedurismo / emprendedorismo erläutern: 20. Nov. 2015: Aunque „emprendedurismo” y „emprendedorismo” (der. de „emprendedor”) no figuran en el Diccionario académico, su uso es frecuente en América. 20. Nov. 2015: „Emprendedorismo”/ „emprendedurismo” son variantes der. de „emprendedor”, como „conservadurismo” y „conservadorismo” lo son de „conservador” ( AAL 2016b). Obwohl das Wörterbuch der Real Academia Española emprendedurismo / emprendedorismo nicht aufnimmt, wird der häufige Gebrauch des Begriffs in Amerika von der argentinischen Akademie akzeptiert. Diese Information zeugt einmal mehr von dem überwiegend deskriptiven Charakter der Sprachberatung der Academia Argentina de Letras, der den tatsächlichen Sprachgebrauch in Argentinien wiedergibt. Darüber hinaus wird die Erklärung zur regionalen Verbreitung durch eine morphologische Information ergänzt, nämlich von welchem Substantiv sich die Form emprendedurismo / emprendedorismo ableitet. Zu beachten ist dabei allerdings die Verwendung der Abkürzung „der.”, die nicht weiter beschrieben wird und so nicht zwangsläufig gewährleistet werden kann, dass jeder Ratsuchende diese Abkürzung versteht. Zudem führen weder der Diccionario argentino de dudas idiomáticas noch der Diccionario panhispánico de dudas oder der Diccionario de la lengua española die Abkürzung „der.” in ihren Abkürzungsverzeichnissen auf. Der Tweet zum Thema balotaje bezieht sich auf den Diccionario der Real Academia Española als Referenzwerk, verzichtet dabei jedoch auf eine Definition der Bedeutung. Allerdings wird hier ebenfalls die regionale Verbreitung des Begriffs beschrieben. Ferner wird in Klammern auf die etymologische Herkunft von balotaje verwiesen. 2. Juli 2015: La adaptación #balotaje (del francés „ballotage”) figura en el Diccionario académico y es de uso sobre todo en los países del Cono Sur ( AAL 2016b). Die Verlinkung von balotaje mit Hilfe des Rautenzeichens (#) ermöglicht es der Akademie, den Begriff als Schlagwort zu kennzeichnen. Dadurch erhalten Nutzer auf einen Blick alle Einträge auf Twitter zu dem Stichwort balotaje . Mit Hilfe dieser Funktion kann die argentinische Akademie ihre Ratschläge <?page no="239"?> Die Sprachratgeber der Academia Argentina de Letras-- eine diachrone Analyse 239 kategorisieren und sich auf aktuelle Diskussionen, Ereignisse und Diskurse beziehen. Beispiele hierfür sind Beiträge mit den Markierungen #DíadelaTierra , #Elecciones2015 , #Oscars2015 oder #Neologismos (vgl. AAL 2016b). Zum Schluss seien hier noch zwei Tweets abgedruckt, die sich auf bereits besprochene Themen wie den Anglizismus video und die femininen Berufsbezeichnungen beziehen: 27. Mai 2015: @VickySheeran99 „Vídeo” se usa en España. En América, en cambio, se usa la forma grave, video. 21. April 2015: Si el cargo está desempenado por una mujer, en nuestro país el uso mayoritario prefiere la forma femenina: presidenta, gerenta, intendenta ( AAL 2016b). Es fällt auf, dass beide Beiträge im Gegensatz zu den entsprechenden Einträgen in anderen Sprachratgebern wegen der Zeichenbegrenzung nur die nötigsten Informationen liefern können. Die Erklärung zu video beschränkt sich auf die Unterscheidung der Schreibung ohne Akzent in Amerika und mit Akzent in Spanien. Dabei wird die Information ausgelassen, dass in Spanien die Schreibweise ohne Akzent durchaus auch akzeptiert ist, insofern video als Kompositionselement fungiert. Der Tweet zu video ist auch dahingehend interessant, dass er die Möglichkeit der Verlinkung von Personen nutzt. Dadurch kann die ratsuchende Person direkt angeschrieben werden und erhält so direkt eine Antwort auf ihre Frage. Es zeigt sich allerdings, dass die Academia Argentina de Letras diese Funktion nur sehr selten benutzt. Auch der Beitrag zum komplexen Thema der Anpassung von Berufsbezeichnungen an die feminine Form gestaltet sich zu knapp, um langfristig Zweifel zu zerstreuen und nachhaltig die Frage zu klären, welche Berufsbezeichnungen feminisiert werden. 7 Analyseergebnis Die Untersuchung der gedruckten Sprachratgeber Dudas idiomáticas frecuentes und Diccionario argentino de dudas idiomáticas hat ergeben, dass die Mechanismen der Sprachberatung in beiden Werken ähnlich funktionieren. Diese Tatsache ergibt sich daraus, dass der Diccionario argentino de dudas idiomáticas auf den Dudas idiomáticas frecuentes aufbaut. Mit der Veröffentlichung der häufigsten Anfragen in Form der Dudas idiomáticas frecuentes verfügte die Academia Argentina de Letras bereits seit den 1990ern über ein umfassendes Repertoire an Sprachenfragen der argentinischen Sprecher. Als die Asociación de Academias de la Lengua Española die Sprachakademien zur Mitarbeit am Diccionario panhispánico de dudas aufrief, konnte die Academia Argentina de Letras auf ihre <?page no="240"?> 240 Hanna Merk (Trier) bisher gesammelten Sprachenfragen zurückgreifen und diese zum Teil in den Diccionario panhispánico de dudas einpflegen. Auf den Erfolg des Diccionario panhispánico de dudas folgte sodann der Beschluss der argentinischen Akademie, einen nationalen Ratgeber zu veröffentlichen, der sich an den Diccionario panhispánico de dudas anlehnt. In dem daraus entstandenen Diccionario argentino de dudas idiomáticas wurden derartige sprachliche Problemstellungen aufgenommen, die sich besonders auf die argentinische Varietät beziehen, und dafür Aspekte ausgelassen, die für die Sprecher Argentiniens irrelevant sind. Demzufolge speisen sich die Inhalte beider Sprachratgeber aus den durch den Sprachberatungsdienst gesammelten Sprachenfragen und Antworten. Sowohl die Dudas idiomáticas frecuentes als auch der Diccionario argentino de dudas idiomáticas bieten Vor- und Nachteile. Die Dudas idiomáticas frecuentes sind durch ihren geringen Umfang sehr übersichtlich und handlich. Zudem zeichnen sie sich durch eine überschaubare Anzahl an kurzen Einträgen aus. Da sie allerdings 2000 letztmalig in der Printversion revidiert und neu aufgelegt wurden, mangelt es ihnen aus heutiger Sicht an Aktualität. Die im Jahre 2001 erschienene, minimal überarbeitete digitale Version der Dudas idiomáticas frecuentes auf CD - ROM gestaltet die Recherche durch einfache Suchmasken sehr benutzerfreundlich. Zwar stellen die Dudas idiomáticas frecuentes nach wie vor ein nützliches Hilfsmittel bei sprachlichen Unsicherheiten dar, wurden aber mittlerweile vom Diccionario argentino de dudas idiomáticas abgelöst. Auf den ersten Blick kann der Diccionario argentino de dudas idiomáticas wegen seines großen Umfangs eher abschreckend auf den Nutzer wirken, bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es sich hier um ein gut ausgearbeitetes und informatives Nachschlagewerk handelt. Das Werk ist übersichtlich strukturiert und die einzelnen Einträge sind verständlich verfasst. Das mehr als 500 Seiten umfassende Werk enthält zahlreiche Informationen und auch der umfangreiche Anhang ist dem Nutzer bei Sprachenfragen dienlich. Den beiden genannten Werken fehlt es allerdings an einem persönlichen Bezug zu den Ratsuchenden und die Ausführungen in den Dudas idiomáticas frecuentes sowie dem Diccionario argentino de dudas idiomáticas müssen für eine heterogene Nutzergruppe formuliert sein. Dementsprechend können bei diesen allgemeinen Sprachratgebern persönliche Aspekte wie Herkunftsland oder Bildungsgrad der Ratsuchenden nicht berücksichtigt werden. Dadurch kann nicht zwangsläufig gewährleistet werden, dass die Werke adressatengerecht ausgelegt sind. Weitaus persönlicher und dynamischer erweist sich die Sprachberatung mittels Internet. Durch die Veröffentlichung von Ratschlägen zu sprachlichen Unklarheiten mit Hilfe von sozialen Netzwerken wie Twitter kann die Aka- <?page no="241"?> Die Sprachratgeber der Academia Argentina de Letras-- eine diachrone Analyse 241 demie zeitnah auf aktuelle Themen und Entwicklungen in der Sprache eingehen. Zudem bietet Twitter die Möglichkeit, Beiträge mit Schlagwörtern zu versehen und so in einen Kontext einzuordnen. Darüber hinaus können in den öffentlichen Tweets Personen direkt mit Hilfe des At-Symbols angesprochen werden. So können Sprachenfragen personalisiert beantwortet werden, wobei die Nachricht dennoch jederzeit öffentlich sichtbar bleibt und weder die Frage noch die Antwort anderen Nutzern vorenthalten bleiben. Es zeigt sich allerdings, dass die Academia Argentina de Letras diese Funktion nur sehr selten nutzt. Generell schöpft sie nicht alle Möglichkeiten optimal aus, die Twitter bietet. Die Kommentarfunktion, die einen weiteren Austausch zwischen Akademie und Internetnutzern herbeirufen würde, wurde von Seiten der Akademie deaktiviert. Gleiches wurde mit der Option gemacht, die es ermöglicht, die Gesprächsverläufe aufzurufen. Besonders letztgenannter Aspekt verkompliziert zum Teil die Nachvollziehbarkeit der Beiträge, da die Fragestellung nicht direkt mit der Antwort verknüpft und so nur schwerlich bis gar nicht einsehbar ist. Zudem könnte die Akademie dem Problem der Zeichenbegrenzung einfach aus dem Weg gehen, indem sie Verlinkungen zu Seiten mit weiterführenden Informationen zu einem bestimmten Aspekt in ihre Tweets einpflegte. Damit müssten sich die Ratschläge nicht auf 140 Zeichen und einen sprachlichen Aspekt begrenzen und dadurch inhaltliche Einbußen hinnehmen wie beispielsweise den Verzicht auf etymologische Informationen, ausführliche Erklärung von Regeln, Anführen von Definitionen etc. Nichtsdestoweniger ist die Tendenz der Akademie, sich in den sozialen Netzwerken zu präsentieren, ein enormer Fortschritt. Das Internet nimmt einerseits eine immer wichtigere Rolle im alltäglichen Leben ein und soziale Netzwerke erfreuen sich einer großen Beliebtheit - durch Twitter kann die Akademie ihren Bekanntheitsgrad immens steigern und ein breiteres Publikum erreichen. Andererseits haben die Nutzer einen erleichterten Zugriff auf den Sprachendienst. 8 Nationale Sprachberatung und die panhispanische Norm Die vorliegende Analyse sollte zum einen einen Überblick über die Landschaft der sprachberatenden Tätigkeit der Academia Argentina de Letras geben und zum anderen der Frage nach der Einstellung des Sprachideals und der Norm der Akademie nachgehen. Hinsichtlich der Normierung der nationalen Varietät hat die argentinische Akademie bereits eine vorbildliche Arbeit geleistet. In zahlreichen Werken wie beispielsweise dem Diccionario del habla de los argentinos , dem Diccionario gramatical de la lengua española - La norma argentina , dem Refranero de uso argentino sowie der 24-bändigen Reihe La academia y la len- <?page no="242"?> 242 Hanna Merk (Trier) gua del pueblo wird die nationale Norm im Bereich der Grammatik und Lexik beschrieben und kodifiziert. In den Erklärungen zu den Sprachenfragen zeigt sich ebenfalls, dass sich die argentinische Akademie an einer klaren Sprachnorm orientiert: In zahlreichen Beispielen wird eine in Argentinien übliche Verwendung einem in Spanien und durch die Real Academia Española normierten Gebrauch gegenübergestellt. Dabei nimmt die Academia Argentina de Letras keine Wertung vor, welche Norm korrekt sei, sondern vertritt das Ideal der Plurizentrik. In ihren Beiträgen vermeidet die argentinische Akademie Urteile im Sinne von „esto es correcto“ oder „este uso es incorrecto“, sondern bevorzugt eine deskriptive Beschreibung des Sprachgebrauchs. Trotz der zahlreichen Publikationen, die das argentinische Spanisch beschreiben, arbeitet die Academia Argentina de Letras sehr eng mit der Real Academia Española zusammen. Dies manifestiert sich in besonderem Maße daran, dass an zahlreichen Stellen Passagen aus Werken der Real Academia Española zitiert werden. Hinzu kommt die Tatsache, dass Nutzer auf der Internetseite der Academia Argentina de Letras über die Schaltflächen „Consultar Diccionario“ und „Consultar Dudas“ auf den Diccionario de la lengua española bzw. den Diccionario panhispánico de dudas weitergeleitet werden. Nach wie vor ist nicht zu verkennen, dass die Real Academia Española in vielen Bereichen der Sprachberatung und -normierung eine Vorreiterrolle für die anderen Akademien übernimmt. Dennoch zeigt sich die Tendenz, dass immer mehr Akademien eigene nationale Sprachratgeber veröffentlichen, Sprachberatungsdienste einrichten, aktualisierte Internetseiten betreiben und in sozialen Netzwerken wie Twitter oder Facebook vertreten sind. So veröffentlichen neben der Real Academia Española auch die Academia Mexicana de la Lengua oder die Academia Dominicana de la Lengua bereits seit mehreren Jahren die häufigsten Sprachenfragen auf ihren Internetseiten. Die Sprachakademie in Kolumbien ermöglicht den Zugriff auf die gesammelten Sprachenfragen durch die Digitalisierung ihrer in regelmäßigen Abständen erscheinenden Boletines und die Academia Puertorriqueña de la Lengua Española bietet Sprachberatung über die sozialen Netzwerke Twitter und Facebook an. Diese allgemeine Entwicklung lässt die Frage aufkommen, ob die Sprachberatung auf sozialen Netzwerken die Zukunft der Sprachpflege in der spanischsprachigen Welt ist. Um einer breiten Masse die Ratschläge und Empfehlungen zum Sprachgebrauch kostengünstig und medienwirksam zukommen zu lassen, bietet sich eine Verlagerung der Sprachberatung ins Internet und besonders in die sozialen Netzwerke an. Dennoch kann und sollte sie in der Form, wie sie von der Academia Argentina de Letras betrieben wird, nur als Ergänzung zu den bereits existierenden Sprachratgebern fungieren. <?page no="243"?> Die Sprachratgeber der Academia Argentina de Letras-- eine diachrone Analyse 243 Quellennachweis Academia Argentina de Letras ( AAL ) (1931): „Decreto y acta de constitución“, in: Academia Argentina de Letras , http: / / www.aal.edu.ar/ ? q=node/ 131 (17. 02. 2016). Academia Argentina de Letras ( AAL ) (2000): Dudas idiomáticas frecuentes (Version que incorpora normas de la Ortografía de la Real Academia Española, ed. 1999) , Buenos Aires. 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Jh. grundlegende demographische Veränderungen durchlaufen: Seit den 1940er Jahren wuchs die Bevölkerungszahl innerhalb von rund 50 Jahren von ca. 645.000 Einwohnern auf über 6 Millionen zu Beginn der 1990er Jahre an (vgl. Klee / Caravedo 2005, 12). Eine Landflucht von immensem Ausmaß führte dazu, dass, während Peru noch 1940 eine Landbevölkerung von 65 % hatte, nach dem Zensus von 2007 bereits 75 % der Bürger in städtischen Regionen lebten - ein Drittel von ihnen in Lima. Insbesondere eine hohe Arbeitslosigkeit, u. a. befördert durch die 1970 gescheiterte Agrarreform, trieb andine Migranten zunehmend in die größeren Städte der Küstenregion, wo viele von ihnen Arbeit in der Industrie (González de Olarte 1992), im Handel und als Haushaltshilfe (Golte / Adams 1987) fanden. Eine neuere Studie von Arellano / Burgos (2010) weist auf Basis des Zensus von 2007 sogar nach, dass 87 % der Limeños inzwischen Migrationshintergrund haben bzw. als ‚neo-limeños‘ zu bezeichnen sind. 1 Immerhin 57 %, also mehr als die Hälfte der Einwohner Limas, stammt dabei aus den Andenregionen, wohingegen nur noch 13 % als ‚limeños clásicos‘ bezeichnet werden können, d. h. als Einwohner, deren Eltern und Großeltern aus Lima stammen. Der skizzierte demographische Wandel führte in sprachlicher Hinsicht zu einer nachhaltigen Dynamisierung der Varietätenlandschaft innerhalb Perus. Bei den nach Lima kommenden andinen Migranten nämlich handelte es sich vorwiegend um „hablantes que tienen una de las lenguas indígenas (quechua / aimara) más difundidas en el país como idioma materno, y poseen, en su mayoría, una competencia desigual del español como segunda lengua (…)“ (Caravedo / Klee 2012, 6). Das von ihnen gesprochene andine Spanisch 2 brachte 1 Diese Bezeichnung referiert auf Kinder und / oder Kindeskinder von Migranten. 2 Obwohl aus varietätenlinguistischer Sicht kein allgemeiner Konsens bezüglich einer dialektalen Gliederung des peruanischen Spanisch herrscht, wird das Spanische Perus gemeinhin in zumindest drei grobe Zonen untergliedert (vgl. Calvo Pérez 2008, 189 ff.): a) das español andino der Andenregionen, das stark durch die dort dominanten indigenen <?page no="248"?> 248 Carolin Patzelt (Bremen) somit eine deutlich vom Quechua beeinflusste Varietät in die Hauptstadt. In jüngeren Beiträgen zur hispanistischen Sozio- und Varietätenlinguistik (vgl. u. a. Klee / Caravedo 2006; De los Heros 2001; Escobar 2007a, 2014; Fernández 2008) wird infolgedessen verstärkt die Emergenz eines ‚neo-limeño‘ proklamiert. Hierbei handelt es sich um eine neue, sich in Lima und anderen größeren peruanischen Städten verstärkt durchsetzende norma peruana andina, die sich seit den 1960er Jahren als Folge der zunehmenden internen Migration aus den Andengebieten in die größeren Städte der Küstengebiete herausbildet und zur Ausbreitung andiner Merkmale auch im limeño führt. 3 Zavala (1999, 68) spricht in diesem Zusammenhang explizit von der Entstehung einer variedad andina de la zona urbana. Der hier skizzierte Sprachwandelprozess hat nun tiefgreifende Auswirkungen auf die traditionell als norma culta peruana betrachtete Varietät des limeño costeño ; Rivarola (1990, 171) beispielsweise propagiert, dass „[…] la variedad costeña estándar de tipo tradicional ha dejado de tener […] fuerza normativa irradiadora y absorbente.“ Cerrón-Palomino (1995, 176) formuliert sogar eine noch etwas drastischere Prognose: „El castellano andino […] ante el desborde popular y la recomposición de las urbes, va arrinconando al castellano académico-normativo peruano, en franco proceso de retirada.“ Und auch Escobar (2014, 268) ist der Ansicht, dass mittlerweile „El acrolecto limeño, o norma nacional peruana, es una norma andina…“. In der linguistischen Fachliteratur liegen mittlerweile zahlreiche Studien zu dem hier skizzierten Varietätenkontakt vor, in denen vorwiegend auf Basis realer Sprachproduktionen untersucht wird, welche sprachlichen Charakteristika des andinen Spanisch tatsächlich Eingang ins limeño finden und inwiefern bestimmte Merkmale in Lima indexikalisch sind für eine bestimmte ethnische oder soziale Herkunft. In den letzten Jahren erschienen darüber hinaus auch erste Studien, die den Varietätenkontakt in Peru aus kognitiver Perspektive untersuchen und sprecherseitige Perzeptionen und Repräsentationen sprachlicher Merkmale herausarbeiten, die in jüngerer Zeit aus dem andinen Spanisch Eingang ins Küstenspanische gefunden haben (vgl. u. a. Caravedo 2014). Bislang Sprachen Quechua und Aymará beeinflusst ist, b) das español costeño (auch: ribereño ) , das Küstenspanische, dem vor allem das Spanische Limas zugerechnet wird, und c) das español amazónico, das im vorliegenden Beitrag keine zentrale Rolle spielt. Somit treten im Zuge der oben skizzierten Landflucht und internen Migrationsbewegungen im heutigen Lima mit dem español andino und dem español (limeño) costeño zwei der drei großen Varietäten des peruanischen Spanisch in intensiven Kontakt miteinander. 3 Escobar (2014) spricht in diesem Zusammenhang von „difusiones contrajerárquicas“, im Zuge derer nicht nur in Peru, sondern auch in anderen lateinamerikanischen Großstädten „la difusión de variantes minoritarias a normas regionales“ zu beobachten ist (Escobar 2014, 259). <?page no="249"?> Die Emergenz neuer sprachlicher Standards im peruanischen Spanisch 249 allerdings noch nicht systematisch untersucht worden ist die sprecherseitige Wahrnehmung einer Herausbildung neuer regionaler Normen innerhalb des peruanischen Spanisch. Gerade dieser Aspekt erscheint jedoch sehr relevant, nicht nur weil ein entscheidender Punkt bei der Diffusion neuer sprachlicher Normen deren Akzeptanz durch eine bestimmte Gruppe von Sprechern ist, sondern auch weil u. a. Escobar (2014) feststellt, dass es sich beim Phänomen der difusiones contrajerárquicas offenbar um eine generelle Tendenz im hispanoamerikanischen Raum zu handeln scheint. 4 Der vorliegende Beitrag untersucht daher auf Basis von Diskussionen in verschiedenen Internetforen die sprecherseitige Wahrnehmung des Varietätenkontakts in Lima, wobei die Frage im Zentrum steht: Wird die in der Fachliteratur proklamierte Emergenz eines neo-limeño auch von den Limeños selbst wahrgenommen und wenn ja, wie wird sie bewertet? 2 Die Emergenz neuer sprachlicher Standards aus fachwissenschaftlicher Perspektive 2.1 Español limeño vs. español andino Um die sprachlichen Auswirkungen des migrationsbedingten Kontakts zwischen dem español limeño und dem español andino diskutieren zu können, sollen hier zunächst die wichtigsten Charakteristika beider Varietäten resümiert werden. 5 Ein wesentliches phonetisches Merkmal des limeño (vgl. Mick / Palacios 2013, 354) besteht in der artikulatorischen Schwächung verschiedener Konsonanten, allen voran des implosiven / s/ sowie von / b d g/ in intervokalischer Position ( compañeros [kompa'ɲerɔ]; bailado [bai'lao]). Das Phonem / s/ weist in Lima außerdem eine prädorsale Realisierung auf - im Gegensatz zum andinen Spanisch, das eine apikale Realisierung hat. Die Vibranten / r/ und / rr/ tendieren in Lima zur frikativen Realisierung oder Elision ( mar [maø]); es existiert Yeísmo ( ha llamado [aja'mao]). Betonte Vokale tendieren im Küstenspanischen außerdem häufig zur Längung ( cansado [kaŋ'sa: o]). 4 So verweisen jüngere soziolinguistische Studien - nicht nur zu Peru, sondern auch zu anderen Großstädten Lateinamerikas -, vermehrt auf das Phänomen einer „difusión de variantes vernaculares en diversas regiones latinoamericanas […] que han dado emergencia a normas regionales con variantes, antes consideradas minoritarias, ahora con algún prestigio o sin carga social negativa“ (Escobar 2014, 264). 5 Dabei richtet sich die Auswahl der als jeweils charakteristisch für das español limeño bzw. andino angeführten sprachlichen Merkmale nach den in der einschlägigen Fachliteratur (u. a. in den Arbeiten von Caravedo, Cerrón-Palomino, Escobar, Garatea und Godenzzi) regelmäßig und übereinstimmend benannten Merkmalen. <?page no="250"?> 250 Carolin Patzelt (Bremen) Auf morphosyntaktischer Ebene gelten als wichtige Charakteristika des Küstenspanischen u. a. Genusfluktuation ( el calor / la calor ), Numerus-Kongruenz des impersonalen Verbs haber mit dem Objekt ( habían fiestas ), Infinitivkonstruktionen mit Subjekt ( después de yo ir ), der Gebrauch von que als generalisierte Einleitung von Nebensätzen und verschiedene Auffälligkeiten im Tempusgebrauch (vgl. Gugenberger 2013, 721 f.). Das Spanische der Anden dagegen umfasst ein Bündel an Varietäten, die sich im Kontakt mit dem Quechua und dem Aymara herausgebildet haben (Gugenberger 2013, 723). Als sehr charakteristisch für das español andino gilt auf phonetischer Ebene vor allem ein instabiler Vokalismus. Meist ist das Vokalsystem durch den Kontakt mit dem Quechua auf drei Phoneme reduziert (/ a/ , / i/ und / u/ ; daher beispielsweise cosecha > cusicha ) oder es unterliegt zumindest starken Schwankungen (vgl. Calvo Pérez 2008). Auch eine Reduktion der Diphthonge zu Monophthongen gilt als typisch für das Andenspanische ( suerte [surti]); die Realisierung der Vibranten / r/ und / rr/ zeichnet sich in den Anden durch Assibilierung aus ( corta ['kořta]). Im Gegensatz zum Küstenspanischen, das durch Yeísmo geprägt ist, zeichnen sich die Anden zudem durch einen (weitgehenden) Erhalt von / ʝ/ und / ʎ/ aus. Auch eine apikale Artikulation des / s/ , das im Küstenspanisch zur Aspiration oder Elision tendiert, sowie die Tendenz zur Entsonorisierung der stimmhaften Konsonanten / b d g/ ( subido [su'pito]) sind charakteristisch für die Andenregionen. Unter den morphosyntaktischen Charakteristika des Andenspanischen ragen vor allem heraus: fehlende Genus- und Numeruskonkordanzen ( mi abuela materno, los libros es de él , etc.), eine Vereinfachung des Pronominalsystems (vgl. hierzu ausführlicher u. a. Palacios Alcaine 2005), häufige Klitikadoppelung, doppelte Possessivmarkierungen ( su hija de la señora ), die Elision des bestimmten Artikels ( en la noche vino compadre de mi abuela ), 6 die (allerdings regional wie individuell variierende) Existenz von Loísmo und Leísmo , ein häufiger Gebrauch des Diminutivs auf -ito/ -ita oder auch auf -cha ( mamita, mamacita, Pedrucha ; vgl. Gugenberger 2013, 724), sowie die im andinen Spanisch gängige Wortstellung ( SOV ). 2.2 Die Emergenz eines ‚neo-limeño‘ Die Behauptung Escobars (2014, 268), die ‚norma nacional peruana‘ sei inzwischen eine stark andin geprägte, ist nun insofern bemerkenswert, als das andine Spanische - oder zumindest bestimmte Charakteristika desselben - in 6 Im Quechua existiert kein bestimmter Artikel, d. h. es dürfte sich hier um ein unmittelbar kontaktinduziertes Phänomen handeln (vgl. auch Gugenberger 2013, 726). <?page no="251"?> Die Emergenz neuer sprachlicher Standards im peruanischen Spanisch 251 Peru als deutlich stigmatisiert zu betrachten sind (vgl. de los Heros 2012, 107). 7 Vor diesem Hintergrund ist interessant, dass fachwissenschaftliche Studien nicht einfach eine - möglicherweise erwartbare - unidirektionale Assimilation andiner Migranten ans limeño , sondern vielmehr die Aufnahme ausgewählter (weniger stigmatisierter) sprachlicher Elemente aus dem andinen Spanisch ins limeño nachweisen. Cerrón-Palomino (2003, 118) etwa stellt fest: En efecto a raíz de los procesos migratorios del campo a la ciudad y de la sierra a la costa (…) la sociedad peruana atraviesa por una profunda transformación social. Particularmente notoria en la andinización de la costa y especialmente de la capital (…) dentro de tal atmósfera, en la que la población local se ve asediada por la de procedencia serrana, se advierte cómo los rasgos más persistentes del castellano andino van contaminando la norma capitalina, alguna vez tenida por uno de los exponentes más castizos del castellano de América. Tales rasgos (…), si bien estigmatizados aún por quienes alcanzan a tener conciencia de su sabor andino, se filtran subrepticiamente en el habla de los limeños para instalarse en los registros de comunicación no sólo oral sino también escrita… Dieses Zitat wirft explizit die Frage auf, inwieweit die Bevölkerung Limas den Einfluss andiner Varietäten überhaupt erkennt, bzw. welche sprachlichen Charakteristika überhaupt als „andino“ identifiziert werden. Verschiedene Studien haben in diesem Zusammenhang bereits aufgezeigt, dass offenbar nicht alle Merkmale des andinen Spanisch gleichermaßen stigmatisiert und negativ bewertet werden, was wiederum unmittelbare Auswirkungen auf die Emergenz eines kontaktbedingten ‚neo-limeño‘ hat. Nach Caravedo (1992, 1996) und Godenzzi (2007) etwa werden in den neu auftauchenden Varietäten des limeño saliente, negativ konnotierte Merkmale des andinen Spanisch vermieden, wie etwa die Instabilität der Vokale e / i und o / u oder die Auflösung der Diphthonge. Auch die Assibilierung der Vibranten / r/ und / rr/ geht nach de los Heros (2001) nicht von den andinen Varietäten ins limeño über, da es sich um ein stark stigmatisiertes Merkmal handelt, das mit ländlichen Gebieten und unteren sozialen Schichten assoziiert wird. Klee / Caravedo (2006) weisen ebenfalls nach, dass dieses Merkmal nicht an die zweite Generation der andinen Migranten weitergegeben wird. Andere, weniger oder sogar überhaupt nicht als andin eingestufte Merkmale dagegen, wie etwa die doppelte Possessivmarkierung oder der Loísmo, finden verschiedenen Studien zufolge sehr wohl Eingang ins 7 Nach Caravedo (2007, 1125) weist die peruanische Gesellschaft eine deutliche Tendenz zur Stigmatisierung von Bewohnern der Andenregionen auf, die sogar zu einer „[…] discriminación social muy marcada hacia el espacio andino y hacia todo lo que connota [concierne] no solo las características lingüísticas, sino las costumbres, los rasgos externos, incluso la vestimenta regional y el comportamiento social y comunicativo“ führt. <?page no="252"?> 252 Carolin Patzelt (Bremen) español ribereño. Wiederum andere Merkmale werden begrenzt ins Spanische Limas aufgenommen, wie etwa der aus dem andinen Spanisch nach Lima kommende palatale Lateral, der nach de los Heros (2001) bislang nur von männlichen Sprechern in Lima übernommen wurde und nach Klee / Caravedo (2006) in begrenztem Maße auch an die zweite Generation andiner Migranten weitergegeben wird, also offenbar weniger stigmatisiert ist als andere Merkmale. Insgesamt darf aus fachwissenschaftlicher Perspektive inzwischen als gesichert gelten, dass der massive Zuzug andiner Migranten nach Lima das limeño nachhaltig beeinflusst und hinsichtlich verschiedener sprachlicher Charakteristika verändert hat bzw. schrittweise verändert. Interessant für die Diskussion sprecherseitiger Wahrnehmungen sind dabei insbesondere Forschungen zur Chronologie der Ausbreitung andiner Merkmale im limeño . Caravedo (1996) etwa kommt auf Basis ihrer Analysen zu der Hypothese, dass nicht-stigmatisierte Charakteristika des andinen Spanisch ins Spanische Limas übergehen, indem sie zunächst durch symmetrische Beziehungen zwischen Sprechern andiner Varietäten und des Küstenspanischen in den unteren sozialen Schichten verbreitet werden und sich von dort aus nach und nach auch in höhere soziale Schichten ausbreiten. Stark stigmatisierte Charakteristika dagegen, wie etwa die Assibilierung des Vibranten / r/ , tendieren nach Caravedo dazu, im Spanischen andiner Migranten ersetzt bzw. nicht mehr an die zweite Generation weitergegeben zu werden (vgl. auch Paredes 1992). Es wird zu überprüfen bleiben, inwieweit die hier skizzierten Prozesse der Emergenz eines ‚neo-limeño‘ auch von der peruanischen Bevölkerung selbst wahrgenommen werden und welche sprachlichen Charakteristika die Sprecher diesbezüglich auf welche Weise diskutieren. Den fachwissenschaftlichen Studien zufolge beeinflussen die andinen Migrationsströme das limeño insbesondere auf semantischer sowie syntaktisch-pragmatischer Ebene nachhaltig (vgl. Escobar 2007b, 104). Paredes (1996) beispielsweise argumentiert in Bezug auf den Leísmo 8 , dass dieser zwar nachweislich nicht Bestandteil des „traditionellen“ limeño sei, dass die Aussage‚ das limeño kenne keinen Leísmo jedoch im Zuge des migrationsbedingten Varietätenkontakts heute nicht mehr haltbar sei. Auch Klee / Caravedo (2005, 2006) weisen nach, dass der Leísmo des andinen Spanisch bei in Lima geborenen Kindern andiner Migranten sehr wohl vorkommt, wenn seine Verwendung dort auch bislang besonderen Restriktionen zu unterliegen scheint. 9 Nach Godenzzi (2006) finden sich u. a. die folgenden, traditionell dem andinen Spanisch zugeschriebenen sprachlichen Charakteristika mittlerweile 8 Der Leísmo gilt ursprünglich nicht als Bestandteil des monolingualen, nicht-kontaktinduzierten amerikanischen Spanisch (vgl. hierzu u. a. DeMello 2002). 9 Zur Entwicklung des Leísmo im peruanischen Spanisch vgl. ausführlicher u. a. auch Valdez Salas (2002). <?page no="253"?> Die Emergenz neuer sprachlicher Standards im peruanischen Spanisch 253 sowohl im andinen Spanisch als auch im limeño : fehlende Genuskonkordanz ( camisa blanco, manzana maduro ), fehlende Numeruskonkordanz ( los cuadernos es de él ), doppelte Possessivmarker mit der Abfolge poseído-posesor ( su pata del pollo ), veränderte semantische Funktionen von Adverbialen wie ya (als Selektionsmarker: me dormiré ya = me dormiré en vez de hacer otra cosa ) oder todavía (als Prioritätsindikator: yo todavía comeré = comeré primeramente ). 3 Die Emergenz neuer sprachlicher Standards aus Sprechersicht Wenn im Folgenden die Resultate fachwissenschaftlicher Studien mit der Wahrnehmung des oben skizzierten Varietätenkontakts in Lima aus Sprechersicht kontrastiert werden sollen, wird eine Diskussion aus laienlinguistischer Perspektive fokussiert. Den Terminus „Laien-Linguistik“ prägte Antos (1996) für das Nachdenken über Sprache und Sprechen außerhalb des fachwissenschaftlichen Rahmens. Jegliche metasprachlichen Reflexionen, Darstellungen und Erörterungen, die sich (auch) außerhalb des akademischen Kontextes situieren lassen, fallen demnach in den Bereich der Laienlinguistik. Auf die u. a. in Stegu (2007) diskutierte Problematik einer eindeutigen Abgrenzbarkeit von Experten und Laien soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden; 10 als charakteristische Kennzeichen eines laienlinguistischen Diskurses 11 gelten jedoch vor allem die Kriterien der Akteursbezogenheit (> auf Laien, d. h. nicht auf Fachleute ausgerichtet) und der Themenbezogenheit: Im Gegensatz zu (objektiven) fachwissenschaftlichen Analysen zeichnen sich nämlich laienlinguistische Diskurse durch eine in der Regel evaluative Thematik aus. Entsprechende Evaluationen scheinen sich vorwiegend im Rahmen von Dichotomien zu bewegen, so wird beispielsweise eine Polarisierung von Sprachen / Varietäten in Kategorien wie „schön vs. häßlich“ vorgenommen (vgl. Herling 2015, 159). Im Folgenden sollen also die Wahrnehmung und Bewertung des Varietätenkontaktes in Lima aus Sicht der Sprecher als linguistischer Laien 12 betrachtet werden. 10 Stegu plädiert in besagtem Beitrag für eine akteursbezogene Definition von Laienlinguistik, innerhalb derer die Unterscheidung zwischen Laie und Experte eher graduell und somit als Kontinuum aufzufassen ist: „[…] keine ExpertIn beherrscht auch nur ein Teilgebiet total, und wenn Übereinstimmung dahingehend besteht, dass das Feld ‚ExpertIn- Laie‘ ein Kontinuum darstellt, so ist nicht nur die allerletzte Stufe ExpertInnenbereich, sondern diese beginnt entsprechend früher, mit sehr fließendem Übergang zu den ‚gut informierten Laien‘“ (Stegu 2007, 22). 11 Vgl. hierzu auch Kailuweit / Jaeckel (2006, 1547). 12 Es ist davon auszugehen, dass diese Bezeichnung auf die breite Mehrheit der im Folgenden zu Wort kommenden Sprecher zutrifft, wenngleich natürlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass einzelne Informanten über gewisse Linguistikkenntnisse verfügen. <?page no="254"?> 254 Carolin Patzelt (Bremen) 3.1 Das Korpus Interessant ist nun, ob und wie die oben skizzierten, durch migrationsbedingten Kontakt entstandenen Sprachwandelprozesse von den Limeños selbst wahrgenommen werden und welche Auswirkungen sie auf das Sprachbewusstsein der Bevölkerung haben. Dies ist insbesondere deshalb eine wichtige Frage, weil, wie Cerrón-Palomino (2003, 118) feststellt, es sich beim limeño um diejenige Varietät handelt, die „alguna vez [fue] tenida por uno de los exponentes más castizos del castellano de América.“ 13 Vor allem den folgenden Fragen soll daher nachgegangen werden: • Inwiefern wird die Präsenz andiner Varietäten überhaupt wahrgenommen, wie wird sie bewertet? • Hat die zunehmende Präsenz andiner Varietäten eine Neubewertung der ‚norma peruana‘ zur Folge? • Wird die in der Linguistik diskutierte Emergenz eines ‚neo-limeño‘ (andinoribereño) auch von den Limeños selbst wahrgenommen? • Wenn ja, welche sprachlichen Merkmale werden dieser neuen Varietät zugeschrieben? Stimmen sie mit den fachwissenschaftlich benannten Merkmalen überein? Diese Fragen sollen im Folgenden auf Basis von Beiträgen aus insgesamt fünf Internetforen untersucht werden, die der Diskussion des español limeño und der peruanischen norma culta gewidmet sind. Auf ein auf Forenbeiträgen aus dem Internet basierendes Korpus wird hier bewusst zurückgegriffen, da in der Spracheinstellungsforschung häufig kritisiert wird, dass bei der Methodik der direkten Befragung von Sprechern die Gefahr besteht, dass Fragestellungen suggestiv wirken können und somit die Ergebnisse der Studie verzerrt werden (vgl. hierzu Spitzmüller 2005, 99). Um diese Problematik zu umgehen, diskutiert Spitzmüller eine indirekte Methode als Alternative, nämlich die Analyse von unaufgeforderten metasprachlichen Äußerungen. Internetforen liefern in diesem Sinne hervorragende Daten, nicht zuletzt durch ihre grundsätzliche Offenheit und den hier fließenden Diskussionsstil - jeder Teilnehmer kann sofort zu allen abgesetzten Kommentaren Stellung beziehen. Dadurch ergibt sich ein zumeist spontanes Kommunikationsverhalten, das einen guten Zugang zu Einstellungen und Meinungen durchschnittlicher Sprecher erlaubt (Polzin-Haumann 2015, 137). 13 Irvine (2001) weist in ihrer Studie explizit darauf hin, dass sprachliche Varietäten als estilos ein System sozialer Differenzierungen kreieren können - eine Hypothese, der in Bezug auf den komplexen Varietätenkontakt in Lima eine hohe Bedeutung zukommen dürfte (vgl. hierzu auch Mick / Palacios 2013). <?page no="255"?> Die Emergenz neuer sprachlicher Standards im peruanischen Spanisch 255 Das im Folgenden ausgewertete Korpus besteht aus insgesamt 500 Forenbeiträgen. Exemplarisch analysiert wurden dabei zunächst die beiden langen Threads „Forma de hablar de los limeños metropolitanos“ (= im Folgenden ForosPerú I ), sowie „¿Qué opinas del acento peruano? “ (= ForosPerú II ) aus „Foros- Perú“ 14 . Aus ersterem wurden insgesamt 228 zwischen 2010 und 2016 verfasste Kommentare ausgewertet, aus letzterem 130. Zusätzlich wurden 91 Beiträge aus „¿Dónde se habla el mejor español? “ 15 , 21 Beiträge aus „¿Qué te parece el acento peruano (limeño)? “ 16 , und jeweils 15 Beiträge aus „Discriminación lingüística“ 17 sowie „El acento más claro y entendible en español, es el limeño-peruano“ 18 ausgewertet. Kritisch anzumerken ist an dieser Stelle, dass im Falle von Internetforen natürlich die Identität der jeweiligen User verborgen und somit letztlich offen bleibt, welcher Herkunft die Verfasser eines Kommentars sind. Die große Mehrheit der ausgewerteten Beiträge allerdings enthält recht deutliche Hinweise darauf, dass die User offenbar Limeños sind, die über ihr eigenes Spanisch debattieren. Deutliche Indikatoren sind Referenzen wie „ich lebe seit… in…“, „in meinem Stadtteil XY “ etc., weshalb die auf Basis des untersuchten Korpus gewonnenen Ergebnisse - trotz der genannten Problematik - durchaus aussagekräftige Tendenzen darstellen dürften. 3.2 Die Positionierung des limeño im peruanischen Varietätenraum 3.2.1 Das limeño als ‚norma culta peruana‘ Im Vergleich zu anderen nationalen Varietäten wird das peruanische Spanisch aus Sicht der Sprecher selbst im Allgemeinen sehr positiv eingeschätzt und - was sicherlich noch sehr viel interessanter ist - speziell die Varietät der Hauptstadt, das limeño , wird von fast allen Usern, die sich zu der Frage nach dem „besten“ Spanisch der Welt äußern, als exemplarisch benannt: (1) Bueno, los limeños, en realidad los peruanos, 19 para mí somos aquellos que hablamos de manera más hermosa y armónica el español, no como los 14 www.forosperu.net. 15 https: / / milton ramirez.org/ 2007/ 04/ 02/ en-donde-se-habla-el-mejor-espanol. 16 https: / / es.answers.yahoo.com/ question/ index? qid=20061228085200AAgpa3. 17 http: / / gustavofaveron.blogspot.de/ 2012/ 02/ discriminacion-linguistica.html. 18 https: / / www.youtub e.com/ watch? lc=YS_RZc2EmuE JM-NM2Taytq9GXakoOug BE5r5bhvnuPM&v=79Kx2MW-_hQ. 19 Hervorhebung durch Fettdruck hier und im Folgenden C. P. <?page no="256"?> 256 Carolin Patzelt (Bremen) chilenos, los españoles o los argentinos que a mí parecer tienen una manera muy diferenciada de hablar el epsañol [sic]. 20 [ Jessmagu; ForosPerú I] (2) (…) La lista esta [sic] en orden meritorio: 1. - Perú. - limeño costeño culto 2. - ecuador. - quiteño 3. - colombiano. - bogotano rolo (…) [armando; miltonramirez] (3) El mejor español esta [sic] en Lima (Perú), todo el mundo lo dice, suena más correcto y elegante! ! No comemos palabras ni le agregamos silabas como en otros paises! ! [Y. S.; youtube] Im Bewusstsein der Sprecher, so geht aus diesen Forenbeiträgen deutlich hervor, genießt die explizit mit der Hauptstadt Lima assoziierte norma culta peruana einen nach wie vor sehr guten Ruf; das limeño wird in den Forenbeiträgen häufig als repräsentativ für das (gute) peruanische Spanisch per se angeführt: (4) (…) el mas neutral y bonito es el acento limeño obvio sin jergasss ni algunos chibolos dizq pitucos, y este acento se puede mostrar en cualquier limeño no achorado y que sepa hablar [TheSummerwine20; ForosPerú II ] (5) Hay diferentes acentos en el Peru: el acento costeño, el acento serrano y el acento selvático. Los de la costa son los que tienen un acento normal. [la minina; Yahoo] (6) EN EL PERU HAY PRINCIPALMENTE 3 REGIONES, DENTRO DE LAS CUA- LES EXISTEN MUCHOS ACENTOS , EN LAS CIUDADES DE LA SELVA SE HABLA CON UN ACENTO CARACTERISTICO , EN LA SIERRA EL ESPA- ÑOL AL HABLARSE RECUERDA LA FONETICA DEL IDIOMA QUECHUA Y AYMARA , EN LA COSTA ES DONDE EL ESPAÑOL TIENDE A SER MAS Y MAS NEUTRO . [ LINKNS ; miltonramirez] 3.2.2 Limeño criollo vs. andino costeño in Lima Was aus den Forenbeiträgen jedoch ebenfalls deutlich hervorgeht, ist eine klare Differenzierung regionaler Varietäten innerhalb Perus, die auch sehr unterschiedlich evaluiert werden. Das peruanische Spanisch wird von den Usern nur solange als exemplarisch eingestuft, wie die Varietät des limeño costeño culto gemeint ist. Darüber hinaus jedoch wird es keineswegs per se als „gutes“ 20 Sprachliche Fehler in den zitierten Forenbeiträgen werden hier und im Folgenden unkorrigiert übernommen. Fehlende Akzente werden aus Gründen der Leserfreundlichkeit nicht mit [sic] markiert. <?page no="257"?> Die Emergenz neuer sprachlicher Standards im peruanischen Spanisch 257 Spanisch wahrgenommen, sondern es wird vor allem eine scharfe Abgrenzung des Küstenspanischen vom español de la sierra vorgenommen - in Einklang mit diversen Sprecherbefragungen aus der Fachliteratur (vgl. Caravedo 2007; Godenzzi 2008; Garatea 2009 u. a.) und der für laienlinguistische Diskurse charakteristischen Dichotomiebildung. Beim andinen Spanisch wird der Einfluss der beiden dominanten indigenen Sprachen, Quechua und Aymara, explizit als ausschlaggebendes Element benannt, aufgrund dessen die andinen Varietäten nicht als neutral gelten können: (7) (…) los de la sierra parecen que estuvieran cantando y su idioma para algunos pueblos de la sierra no es el castellano es el quechua. [la minina; Yahoo] Viele Forenbeiträger scheinen die andine Bevölkerung quasi automatisch als Quechuasprecher zu identifizieren, deren Spanisch - so sie es denn überhaupt sprechen - stark vom Quechua beeinflusst ist. Die in den Foren intensiv diskutierte Rolle des Sprachkontakts in der Emergenz des Andenspanischen wird auch von der Linguistik explizit thematisiert; Cerrón-Palomino (2003, 26 f.) beispielsweise sieht bestimmte peruanische Varietäten, die ihren Ursprung im Sprachkontakt haben, weniger als spanische, sondern vielmehr als Varietäten, die kreolische oder halbkreolische Merkmale vereinen und als L1 einer Sprechergruppe fungieren. Insofern entspricht die Einschätzung der Forenbeiträger zur kontaktbedingten Entwicklung und Konstitution des andinen Spanisch im Kern durchaus linguistischen Analysen, wird hier allerdings durchgehend zur Stigmatisierung des andinen Spanisch als Lernervarietät verwendet. Interessant ist nun, dass das español andino nicht nur auf nationaler Ebene als feste Größe im von den Sprechern wahrgenommenen Varietätenraum präsent ist, sondern dass auch in Bezug auf die Hauptstadt regelmäßig das Spanische der in Lima präsenten serranos als eigene Varietät benannt wird. So wird z. B. in den folgenden Beiträgen die Ansicht, in Peru bzw. konkret in Lima werde das beste Spanisch Lateinamerikas gesprochen, kommentiert mit: (8) Totalmente de acuerdo, siempre y cuando no sea acento serrano… que es horrible! [doncoro; youtube] (9) (…) los nakos 21 hablan horrible, encambio [sic] los limeños con cultura hablamos bien. [soy_natural; ForosPerú I] Was in diesen und zahlreichen anderen Forenbeiträgen zum Ausdruck kommt, ist letztlich das, was Van Bezooijen (2002, 14) im Rahmen sprachästhetischer 21 „Nako“ ist in Peru eine pejorative Bezeichnung für eine aus ländlichen Regionen stammende Person. Dies kann sowohl provincianos als auch ganz gezielt indígenas beinhalten. <?page no="258"?> 258 Carolin Patzelt (Bremen) Evaluationen als norm-driven bezeichnet: Varietäten, deren Sprecher ein höheres soziales Prestige besitzen, werden prinzipiell auch positiver bewertet. Im Falle des andinen Spanisch sind die Bewertungen dagegen nicht nur aufgrund kontaktbedingter sprachlicher Interferenzen negativ: (10) amigOs les digO porque la gente de provincia nO puede prOnunciar bien el español? ? … wenO en las provincias donde hablan quechua a la gente se le hace dificil hablar el español porque el quechua tiene 3 vocales y el castellanO tiene 5… [ …: ; ForosPerú I], sondern viele User führen das „schlechte“ Spanisch der andinen Bevölkerung in erster Linie auf unzureichende Bildungschancen zurück und stilisieren somit sprachliche Varietäten zu estilos , die im Sinne von Irvine (2001) soziale Differenzierungen und Wertungen transportieren: (11) […] si escuchan a una persona de la Sierra, lo cholean, resaltan el “se le salio el mote” y muchas expresiones negativas con respecto a este. Es inadecuado estar corrigiendo o burlandose de una persona que por x motivos no tuvo una educación adecuada. [Anónimo; gustavofaveron] Dass in den untersuchten Foren das andine Spanisch mehrheitlich mit einer bildungsferneren Bevölkerungsgruppe assoziiert wird, steht in Einklang mit den Ergebnissen verschiedener direkter Sprecherbefragungen, die nachweisen, dass in Lima „la mayoría de […] hablantes afirma que la variedad lingüística sirve como criterio inequívoco de diferenciación social“ (Mick / Palacios 2013, 347). Infolgedessen wird bei der Diskussion um das ‚beste‘ Spanisch Perus zwar in aller Regel das español limeño angeführt, es werden hier aber auffallend häufig weitere Spezifizierungen vorgenommen, wie etwa: (12) El mejor español es el limeño costeño culto. [armando; ForosPerú I] (13) El peruano es el más neutral de todos… pero no el jerguero, si no el de Lima puro; el LIMEÑO originalmente LIMEÑO . [tetrahidrocanabinol2; ForosPerú I] Wie gerade letzterer Kommentar offenbart, scheint ein Bewusstsein dafür zu existieren, dass neben dem „traditionellen“ español limeño , das als ‚norma culta peruana‘ gilt, auch andere, weniger prestigeträchtige Varietäten in Lima gesprochen werden. Dabei handelt es sich im Bewusstsein der User um jergueros, um ‚unreine‘ Varietäten, die nicht das traditionelle limeño spiegeln bzw. ihm im Sinne einer Dichotomie entgegenstehen. Einige Forenbeiträger benennen sogar explizit die Sprecher der ‚unreinen‘, als prestigeärmer gehandelten Varietäten: <?page no="259"?> Die Emergenz neuer sprachlicher Standards im peruanischen Spanisch 259 (14) ojo el acento mas neutro es el limeño, peeeeeroooo el acento del limeño verdadero criollo no de migrantes andinos….. [Alexandre Pastor Delgado; youtube] (15) (…) en lima también hay muchos inmigrantes de la sierra q hablan muy mal… castellano… [Arnold Solo Sur; youtube] Gerade aus letzterem Zitat spricht dabei die Stigmatisierung andiner Migranten in Lima als L2-Sprecher des Spanischen. Es erfolgt, wie aus diesen (und weiteren) Beiträgen ersichtlich, eine klare Zuordnung der verschieden valorisierten sprachlichen Varietäten zu ethnischen Gruppen: Die ‚norma culta‘ wird auf die „verdaderos criollos“ begrenzt, während die zuvor benannten ‚unreinen‘ Varietäten nicht etwa pauschal dem Andenraum zugewiesen werden, sondern ganz konkret den in Lima ansässigen andinen Migranten. Dies ist insofern bemerkenswert, als derartige Äußerungen eindeutig belegen, dass die Präsenz andiner Varietäten in Lima auch von der Bevölkerung sehr genau wahrgenommen wird. Hierbei sind Stereotype in den untersuchten Forenbeiträgen durchaus häufig: (16) […] los verdaderos limeños, todos estos dignos representantes del Perù [sic] hablan correctamente, se puede decir con acento neutro. No confundir con los indios que vienen a Lima y que hablan una especie de dialecto mezcla de quechua con español y que dicen: claru pe causa! y que son justamente los que van a Chile y a Argentina a dejar la imagen del pais por los suelos. [Gustavo Rodriguez Nuñez; ForosPerú I] Was aus den Zitaten der User immer wieder hervorsticht, ist die Bezeichnung „verdaderos limeños“, d. h. die andinen Migranten sind zwar in hoher Zahl in der Hauptstadt präsent, werden aber nicht zu deren „wahren“ Bewohnern gezählt. 22 Ein wichtiges Kriterium im Sprecherbewusstsein scheint dabei die Frage nach den jeweiligen Vorfahren zu sein. Nur diejenigen, deren Eltern und Großeltern bereits in Lima aufwuchsen, werden als „verdaderos limeños“ betrachtet; sie wiederum gelten als diejenigen, die auch sprachlich die norma culta verkörpern. Die folgenden Beiträge können hierfür als repräsentativ betrachtet werden: (17) Criollos limeños que nacieron y aprendieron el buen Castellano, su correcto uso, porque para sus padres y ancestros era su idioma natal, lo hablan mejor. En Lima, existen Limeños cuyos padres tiene [sic] como origen la lengua Quechua y el español lo hablan entremezclado y 22 Auch die in den obigen Zitaten angeführten stigmatisierten sprachlichen Charakteristika sind keine Seltenheit in den Foren und zeigen auf jeden Fall deutlich, dass sich auch sprachlich mit den Folgen der internen Migration auseinandergesetzt wird. <?page no="260"?> 260 Carolin Patzelt (Bremen) con algunas fallas gramaticales, fonéticas, etc. que sus hijos van heredando. [Lucy Martínez; youtube] (18) Los Limenos nacidos de hijos de Limenos natos no tenemos acento especial; como los Limenos nacidos de hijos de inmigrantes de provincianos. [hulya shave; youtube] (19) lima tiene ahora 9 millones de habitantes y todos sus pobladores de los conos…(el 40 %) son de ascendencia andina…provinciana.. ellos no tienen acento limeño original… cuando se habla de acento limeño, se entiende del limeño cuyos tatarabuelos tambien fueron limeños (…). [ JR ; youtube] (20) El limeño verdadero es el que vive en la Lima urbanizada (Centro, Jesus Maria, Lince, Surco, San Isidro, Miraflores, Barranco, Magdalena) de padres y abuelos limeños tambien, estas personas realmente hablan el español neutral que tambien lo hablan los guayacos urbanos de Ecuador. [Patty La Unica; ForosPerú I] Vor diesem Hintergrund lassen sich als Zwischenfazit zwei Fakten feststellen: 1.) die Forenbeiträge zeugen von einem sehr konkreten Bewusstsein, dass die Bevölkerung Limas sich zu einem hohen Prozentsatz aus andinen Migranten und ihren Nachkommen zusammensetzt, und 2.) führt dieses Bewusstsein aus sprachlicher Sicht dazu, dass in den Köpfen der meisten Forenbeiträger offenbar eine klare Dichotomie verankert ist: limeño criollo (original) = norma culta vs. andino costeño (limeño andino) = jerga („Quechuañol“) Dabei gilt das in den Foren zumeist als „Quechuañol“ wahrgenommene andine Spanisch weniger aus Gründen eines sprachlichen Purismus als ‚schlecht‘, als vielmehr deshalb, weil den ‚provincianos‘, d. h. den nicht seit mehreren Generationen in Lima Ansässigen, eine mangelnde Bildung attestiert wird. Insgesamt lässt sich also feststellen, dass die Existenz eines español andino in der Hauptstadt Lima bei den Peruanern selbst sehr präsent ist, dass die Sprecher dieser Varietät dort allerdings deutlich stigmatisiert sind. Dieses Ergebnis deckt sich mit bereits vorliegenden, auf direkten Sprecherbefragungen basierenden Studien (vgl. u. a. Mick / Palacios 2013); es gilt im Folgenden nun aber zwei Fragen zu ergründen: 1.) Wird das andine Spanisch als tatsächlich auch ins limeño vordringende Varietät wahrgenommen, aus der möglicherweise derzeit ein von der Fachwissenschaft proklamiertes neo-limeño entsteht? 2.) Welche Auswirkungen haben die zunehmende Präsenz des andinen Spanisch und eine möglicherweise wahrgenommene Emergenz neuer sprachlicher Standards auf das Sprachbewusstsein der Limeños? <?page no="261"?> Die Emergenz neuer sprachlicher Standards im peruanischen Spanisch 261 4 Der sprachliche Wandel in Lima aus Sprechersicht 4.1 Sprecherseitige Repräsentationen des Varietätenkontakts Das andine Spanisch, so wurde aufgezeigt, wird in hohem Maße in die Diskussion des Varietätenraums Limas einbezogen. Dies muss jedoch nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Peruaner auch die in der Fachwissenschaft beschriebene kontaktbedingte Beeinflussung zwischen andinem Spanisch und Küstenspanisch oder gar die Emergenz neuer sprachlicher Standards in Lima wahrnehmen. Und in der Tat legen die untersuchten Foren nahe, dass zwar die Existenz des andinen Spanisch in Lima wahrgenommen und als bedeutend erachtet wird, dass aber nicht nur ethnisch eine strikte Trennung zwischen ‚limeño serrano‘ und ‚limeño original‘ vorgenommen wird: (21) En mi opinion confundes a los "limeños Nuevos", es decir migrantes o hijos de migrantes, con los limeños "originales" los cuales somos minoria ya q la mayoria de "limeños" hoy en dia son Migrantes [OzKuroZer; ForosPerú I], sondern dass auch die Varietäten des andinen Spanisch als eher additiv neben den Varietäten des limeño positioniert gesehen werden. Die Diskussion beider Pole erfolgt jedenfalls vor allem in kontrastiver Hinsicht, und Beiträge wie der folgende sprechen dem Spanisch andiner Migranten auch einen nachhaltigen Einfluss auf das „gute“ limeño ab: (22) por tu post parece que vives 2 años en lima, limeño serrano? de donde sacas eso, lima esta en al [sic] costa jamas habra un limeño serrano, los hijos de los migrantes serranos hablan como todos los limeños de los conos. los limeños de distritos antiguos limeños rimac, barrios altos, la victoria, el callao hablan mas achorado como dicen, y el tercer acento es del limeños pituco de miraflores, san borja, san isidro. yo distingo esos 3 acentos en lima metropolitana [alaniss; ForosPerú I] Die andinen Migranten, so zeigen diese beiden Zitate, werden nicht nur klar von der „echten“ Bevölkerung Limas getrennt betrachtet, sondern es wird gemeinhin auch verneint, dass sich eine andin geprägte Varietät des Spanischen in Lima durchsetzen werde. Interessant im Zuge dieser Argumentation - und in Bezug auf die Diskussionen um eine vermeintliche Emergenz neuer sprachlicher Standards sehr erhellend - ist, dass für die Bevölkerung das Andenspanische offenbar keineswegs eine einheitliche Varietät des peruanischen Spanisch darstellt, sondern dass im Zuge interner Migration viele User offenbar eine Unterschei- <?page no="262"?> 262 Carolin Patzelt (Bremen) dung machen zwischen dem andinen Spanisch der Andenregionen und dem Spanisch andiner Migranten in Lima bzw. in den Küstenregionen: (23) los que hablan feo son los que vienen de los andes a la costa y quieren aprender el español, porque ne [sic] peru hay distintos acentos, el arequipeño, el de la selva, el de la sierra, el del norte, el de lima y el de los andinos que viven en la costa criolla. [Alexandre Pastor Delgado; youtube] Mit Differenzierungen wie der in (23) vorgenommenen bestätigen die Forenbeiträger zunächst einmal die auch in der linguistischen Fachliteratur gängige Differenzierung zwischen dem español bilingüe (Escobar 1990) derjenigen peruanischen Bevölkerung, die das Spanische als L2 spricht, und dem español andino (Escobar 1977), das konkret in der sierra peruana gesprochen wird. 23 Wie (23) zeigt, wird dabei von den Forenbeiträgern eine klare geographische Zuordnung vorgenommen - das ‚español bilingüe‘ wird als die Sprache andiner Migranten in Lima pauschalisiert und in den sprecherseitigen Repräsentationen ganz unten in der sozialen Hierarchie der Hauptstadt verankert. „Los que hablan feo“ sind demnach nicht etwa die Sprecher andiner Varietäten im Allgemeinen, sondern ganz konkret die andinen Migranten in Lima, die „quieren aprender el español“ (23). Die sprecherseitigen Repräsentationen des español serrano in Lima sind also nicht die einer durch regionale Charakteristika geprägten Varietät, sondern die einer Lernervarietät des Spanischen ( limeño ). Vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich ist daher, dass in den Foren sehr häufig von einem estilo serrano die Rede ist, der Mitglieder einer in Lima sozial stark stigmatisierten ethnischen Gruppe entlarvt: (24) La forma de hablar en general en Lima y en la mayoria de ciudades peruanas. 1. El achorado criollo, el "pendejo"… 2. La forma "pituca" de hablar. 3. Estilo serrano (por lo general hijos de quechua hablantes o gente que tiene como primera lengua al quechua). 4. Los que hablamos neutralmente. [Deru; ForosPerú I] Auch wenn der ‚estilo serrano‘ also grundsätzlich als sehr präsent in Lima wahrgenommen wird, scheint er in der sprecherseitigen Repräsentation eher abseits derjenigen Sprechweisen zu bleiben, die mit einem „wahren“ poblador limeño 23 Auch Caravedo (1996-97, 546) weist darauf hin, dass das español andino eine soziolektal stabile Varietät des Spanischen sei, die u. a. von monolingualen Sprechern verwendet werde, die keine indigene Sprache beherrschen. <?page no="263"?> Die Emergenz neuer sprachlicher Standards im peruanischen Spanisch 263 assoziiert werden - dieser spricht, wie u. a. (24) verdeutlicht, de forma achorada, pituca oder (idealerweise) neutralmente, nicht jedoch im estilo serrano. Allerdings scheint es auch bezüglich des español serrano wiederum einen Varietätenraum im Sprecherbewusstsein der Limeños zu geben. Die andinen Migranten nämlich werden von den Forenbeiträgern mitnichten alle auf eine Stufe gestellt. Stattdessen nehmen viele User hier eine diagenerationelle Differenzierung vor, wobei das hochgradig stigmatisierte „español feo“ vor allem der ersten und zweiten Generation andiner Migranten zugeschrieben wird: (25) (…) existen Limeños cuyos padres tiene [sic] como origen la lengua Quechua y el español lo hablan entremezclado y con algunas fallas gramaticales, fonéticas, etc. que sus hijos van heredando. [Lucy Martinez; youtube] Die dritte Generation andiner Migranten dagegen ‚erbt‘ zwar das ‚Quechuañol‘ der Eltern, allerdings wird ihr gemeinhin eine (weitgehend erfolgreiche) Assimilation ans español limeño attestiert, wie etwa die folgenden beiden Beiträge deutlich machen: (26) En Lima hay acentos por ser inmigrantes, hijos de inmigrantes (segunda generación) ya la tercera se asemeja al acento llimeño [sic]. [Angelotube5000; youtube] (27) EN LA SIERRA EL ESPAÑOL AL HABLARSE RECUERDA LA FONETICA DEL IDIOMA QUECHUA Y AYMARA (…). EL HOMBRE ANDINO KE FUE A LA COSTA DEL PERU PARECE KE SE ESFORZO POR DIS- IMULAR SU ACENTO DE LAS SERRANIAS , Y VAYA KE DESPUES DE TRES GENERACIONES A LOGRADO UN ACENTO CASI NEUTRAL . [ LINKNS ; ForosPerú I] Statt einer nachhaltigen Beeinflussung des Küstenspanischen durch die Varietät(en) andiner Migranten wird der kontaktbedingte Sprachwandel in Lima also von den Forenbeiträgern primär als ein unidirektionaler Wandel angesehen. Die in Lima geborenen Kinder andiner Migranten versuchen sich demnach ans limeño zu assimilieren, das in den Repräsentationen der Sprecher offenbar weiterhin die ‚norma culta‘ repräsentiert. Die von andinen Migranten bei Ankunft gesprochenen Varietäten werden dabei vom español andino abgegrenzt, wie es in den Andenregionen gesprochen wird. Somit wird dem in Lima präsenten andino costeño der Status einer Lernerbzw. Übergangsvarietät zugesprochen, die keinem der in Peru gültigen regionalen Standards entspricht. Dies mag auf den ersten Blick mit den Analysen der Fachwissenschaft konform gehen, die die Emergenz eines neo-limeño proklamieren , einer neuen, hybriden Varietät, die sich aus beiden Standards, dem andinen Spanisch und dem Küstenspa- <?page no="264"?> 264 Carolin Patzelt (Bremen) nischen, speist. Die Sprecher allerdings betrachten die von ihnen diskutierte kontaktbedingte Mischvarietät offensichtlich nicht als Emergenz eines neuen regionalen Standards, sondern als eine Übergangsvarietät derjenigen, die noch nicht lange in Lima ansässig sind und daher das limeño als Zielsprache noch nicht erlernt haben. 4.2 Der Varietätenraum des limeño in den sprecherseitigen Repräsentationen Vor dem in 4.1 skizzierten Hintergrund wenig überraschend ist, dass bei Diskussionen um den Varietätenraum des limeño die Varietäten des español serrano - zumindest vordergründig - kaum eine Rolle spielen. Betrachtet man stattdessen Aussagen zu Sprechweisen des „poblador limeño“, so wird hier in den Foren sehr stark mit diatopischen und diastratischen Varietäten des „(verdadero) limeño“ argumentiert, die stereotypisiert werden: (28) El acento del poblador limeño, depende de la zona donde vives, en las zonas urbano marginales, los jovenes hablan imitando a los caribeños, portoriqueños, por la influencia de estos bailes actuales. En las zonas denominadas pitucas, hablan con un tonito, caracteristico (oe falca" pucha"weon, computas, bravazo)) que realmente se escucha bastante comico y ridiculo, lo que no se "es el origen de esta forma de hablar, pues deben haberla copiado de algun sitio. En las zonas donde predomina el pandillaje y la delincuencia comun, se usa una jerga bastante complicada, y un tanto dificil de entender. En suma que no tenemos un dejo especifico, somos un revuelto de vainas. [juanfrancisco; ForosPerú II ] (29) Creo que los q vivimos en los distritos medios tienen el acento mas neutro y limpio 'es decir con menos jerga, eso incluye Jesus Maria, Magdalena, Pueblo Libre, San Miguel, Miraflores, San Borja, bueno ese circulo medio de la ciudad. Tambien esta el acento pituco tipico de San Isidro, La Molina, partes de Santiago de Surco. Finalmente esta el acento semiachorado de San Juan de Miraflores, partes del Callao, Breña, Cercado, La Victoria, Rimac, que intercala jerga y de un hablar muy rapido. Y desgraciadamente el acento achorado de la mayor parte de San Juan de Lurigancho, Santa Anita, parte del Callao, Barrios Altos, gran parte de La Victoria, que usan un lenguaje sacado de Cantogrande o Piedras Gordas… Veran que las diferencias en los acentos de Lima tiene alguna relacion con los niveles de pobreza que existen entre las zonas. [eklektiko; ForosPerú I] <?page no="265"?> Die Emergenz neuer sprachlicher Standards im peruanischen Spanisch 265 Aus Zitaten wie (28) und (29) wird einmal mehr deutlich, wie indexikalisch in den sprachlichen Repräsentationen der Sprecher bestimmte ‚acentos‘ für die Zugehörigkeit des Sprechers zu einer bestimmten sozialen Schicht sind. In vielen Forenbeiträgen werden mit einer ganz bestimmten sozialen und / oder ethnischen Gruppe assoziierte sprachliche Merkmale imitiert und vor allem kritisiert: (30) En Lima existen 3 tipos de acentos, el acento del criollo que vive en el centro de Lima que es rapido casi incomprensible y tiende a comerse vocales , por ejemplo, la gente de barrios altos o esas zonas dicen " oe trae ahua pe" en vez de Oye trae agua pues. La gente de clase media, hablan como alargando las vocales, como ," oyeee trae agua puesss" Los negros en Lima hablan con un acento muy raro y se comen las palabras " oi trae aguuua pue" y los unicos que dominan dos lenguas son los serranos que hablan quechua y espaniol [sic]. por eso su distinto acento. el resto de limenios [sic] no tiene excusa para hablar tan horriblemente. [DiegoF; ForosPerú II ] Dabei fällt auf, dass gerade der ‚estilo serrano‘, die Sprechweise der so stark stigmatisierten andinen Migranten, in der Regel nicht als „schlechtes limeño“ benannt wird - offensichtlich deshalb, weil es sich in den sprecherseitigen Repräsentationen um eine Lernervarietät handelt. Dies legitimiert nach Äußerungen wie (30) die serranos dazu, „hablar tan horriblemente“; im Gegensatz zu den „verdaderos limeños“, von denen ein guter Sprachgebrauch eingefordert wird, weil sie anders als die andinen Migranten dazu in der Lage gesehen werden. Kritisiert und für einen vermeintlichen Sprachverfall verantwortlich gemacht werden dagegen zunächst v. a. die Sprechweisen der unteren sozialen Schichten sowie fremdsprachliche Einflüsse: (31) cuando alguien dice de una chica „qué tal jerma“ en Arequipa lo harían de forma plana, en cambio en Lima le cambian la entonación a dicha palabra e incluso algunas letras quedando „que tal jelma“ pienso de que es toda la basura reaggetonera traía de Centro América que ha tomado raíces en Lima, sobre todo en los conos, el acento de los limeños es bonito de por sí, pero ya esos que quieren hablar como pueltoliqueños es otra cosa [Headbanger_678; ForosPerú I] (32) Lo peor que he escuchado es (…) en los barrios marginales (…) los patas ya comienzan a hablar como Centroamericanos, además de vestirse estilo reggaetonero, no hacen más que causar vergüenza ajena (…). [xxx; ForosPerú I] <?page no="266"?> 266 Carolin Patzelt (Bremen) Dass die hier kritisierten Einflüsse im limeño aktuell zuzunehmen scheinen - also ein Verfall der als ‚norma culta‘ geltenden Varietät droht - wird in vielen Forenbeiträgen den jugendsprachlichen Varietäten in Lima zugeschrieben, und hier wiederum speziell den Jugendlichen aus unteren sozialen Schichten: (33) esto se debe a la idiosincrasia del peruano, en su mayoria los jovenes por su inexperiencia se vuelven alienados, y tratan de pertenecer a algun tipo de grupo, si se sienten inseguros de su nivel socioeconomico copiaran el acento que ellos consideran el de pituco, y mientras mas acomplejados esten, mas acentuada sera su manera de expersarse [sic], en el caso de aquellos que hablan como caribeños o reguetoneros, se debe a que por lo general son personas que viven en zonas marginales, donde impera la ley del mas fuerte y ellos al imitar los acentos de sus heroes delincuenciales, lo que quieren transmitir es una suerte de temor a sus semejantes con la finalidad de no ser agredidos o humillados, estas caracteristicas tienden a menguar con el paso de los años y si no sucede, es porque estamos frente a una patologia mas severa. [roger_v1976; ForosPerú I] Da bezüglich andiner Migranten davon ausgegangen wird, dass sie zunächst übergangsweise eine Lernervarietät des Spanischen sprechen und sich spätestens ab der dritten Generation ans limeño assimilieren, spielt der mit der ersten und zweiten Generation von Migranten assoziierte ‚estilo serrano‘ offenbar keine Rolle in der sprecherseitigen Diskussion um den Varietätenraum des limeño. Der ‚estilo serrano‘ wird stattdessen einer fest abgegrenzten ethnischen Gruppe zugeschrieben und in sprecherseitigen Repräsentationen offenbar als vom limeño weitgehend getrennt existierender Varietätenraum behandelt. Gerade als solcher jedoch spielt er ab der dritten Generation dann doch eine tragende Rolle in der Diskussion um einen zunehmenden Sprachverfall des limeño , wie 4.3 deutlich macht. 4.3 Diagenerationeller Sprachwandel bei den serranos In den Foren dominiert, so wurde deutlich, die Vorstellung einer unidirektionalen Anpassung andiner Migranten ans limeño . Ebenso wurde bereits aufgezeigt, dass die in der Fachliteratur beschriebene reziproke Beeinflussung des español costeño und des español andino im Bewusstsein der Bevölkerung kaum eine Rolle zu spielen scheint. Allerdings wird die ‚Assimilation‘ andiner Migranten ab der dritten Generation von vielen Usern gerade als eine Assimilation an das „schlechte“ Spanisch der unteren sozialen Schichten betrachtet: <?page no="267"?> Die Emergenz neuer sprachlicher Standards im peruanischen Spanisch 267 (34) Me he dado cuenta que los limeños de la clase media tradicional (esto excluye a la clase media emergente que viene de las areas serranas, expresion en el mejor sentido, obv.) tienen el acento neutro por el cual los limeños nos hemos hecho famosos entre nuestros paises vecinos. Desafortunadamente el acento neutro esta extinguiendose, pues la clase emergente (familias con ingresos medios y altos con origen serrano) tienen un acento fuerte e incluso los hijos de estas familias adoptan en parte la jerga del grupo achorado, una verdadera ensalada rusa. En fin, mientras podamos intentemos preservar el acento limeño, a mi me gusta y es parte de mi identidad. [eklektiko; ForosPerú I] Die Sprache andiner Migranten wird also zunächst einmal insofern für einen Verfall des limeño costeño culto verantwortlich gemacht, als durch die Assimilation der dritten Generation an die ‚jergas del grupo achorado‘ die insbesondere von jüngeren Sprechern unterer sozialer Schichten ausgehende Verbreitung stigmatisierter sprachlicher Merkmale im limeño beschleunigt wird. Hinzu kommt allerdings noch ein weiterer Aspekt, der u. a. in (35) deutlich wird: (35) De otro lado, en algunos jóvenes perteneciente [sic] a los estratos socioeconómicos altos de la Ciudad de Lima se ha desarrollado, sobre todo en el aspecto tonal cierta forma peculiar y amanerada de hablar dentro de un lenguaje especial lleno de anglicismos. Se desarrolló en los últimos veinte a treinta años y surgió como reacción a la influencia andina en el español, considerada poco prestigiosa por este grupo. Más recientemente este acento se ha extendido a jóvenes de las demás capas sociales, incluyendo a descendientes andinos. [Magrelo; ForosPerú I] Die andinen Migranten werden also nicht nur aufgrund ihres aktiven Sprachgebrauchs für einen zunehmenden Verfall des ‚buen limeño‘ verantwortlich gemacht, sondern darüber hinaus werden die kritisierten jergas der Jugendlichen Limas auch als Reaktion auf die Präsenz andiner Varietäten interpretiert, von denen junge Limeños sich bewusst abgrenzen wollen. Es entsteht somit ein Zyklus, der die verschiedenen Generationen andiner Migranten einbezieht und auf unterschiedliche Weise für einen Verfall des in Lima gesprochenen Spanisch verantwortlich macht: Das „schlechte“ Quechuañol der ersten und zweiten Generation von Migranten hat zur Folge, dass junge Limeños sich durch bewusst integrierte ausländische Einflüsse in ihrem Spanisch vom español serrano abzugrenzen versuchen. Die sich ans limeño assimilierende dritte Generation andiner Migranten wiederum übernimmt die jergas der Jugendlichen unterer sozialer Schichten und verbreitet diese somit weiter. Eben dieser Zyklus des zunehmenden Sprachverfalls wird in den Foren intensiv diskutiert; dagegen spielt <?page no="268"?> 268 Carolin Patzelt (Bremen) die Kommentierung konkreter sprachlicher Elemente, die aus dem Andenspanischen Eingang ins Küstenspanische finden - der Schwerpunkt der fachwissenschaftlichen Analysen -, hier interessanterweise eine eher untergeordnete Rolle. 5 Das limeño als ‚norma culta peruana‘? 5.1 Sprachliche Charakteristika des limeño in der Sprecherkritik Die Diskussion konkreter sprachlicher Merkmale des limeño ist in den Foren in der Regel an eine zunehmende Unsicherheit darüber geknüpft, was denn nun eigentlich das ‚gute‘ limeño sei bzw. zu beinhalten habe: (36) es que pasa que en Lima ya hay mucha gente de provincia entonces crea confusiones de lo que es realmente, el acento Limeño de la costa el verdadero [lokostone100; youtube] Es scheint also Unsicherheit darüber zu existieren, welche sprachlichen Charakteristika dem limeño traditionell inhärent sind und welche womöglich aus dem verpönten español serrano übernommen worden sein könnten. Viele Beiträge beklagen jedenfalls einen Verfall des limeño durch die Integration (angeblich) andiner Charakteristika: (37) La influencia de la sierra en la costa peruana impacta la lengua por ejemplo, en vez de decir "aguanta" se dice auanta a secas, también en vez [sic] decir mantequilla decimos mantequía; algunos limeños en vez de decir asco, dicen ashco; otros dicen "época" como é PO ca. Los diminutivos también vienen de la sierra: hermanito, causita, también palabras como jato, causa. La sierra tiene pronunciacion cerrada en el habla: hula hermanitu; o pronuncian vocales abiertas donde no debe ser: jugo =jogo. [The Notilet; youtube] Hier werden bezeichnenderweise Charakteristika des Küstenspanischen wie die Schwächung oder Elision der stimmhaften Konsonanten / b d g/ in intervokalischer Position ( aguanta > auanta ) oder der Yeísmo ( mantequilla > mantequía ) in einem Atemzug genannt mit Charakteristika, die tatsächlich typisch für das andine Spanisch sind, wie Vokalschwankungen zwischen / e/ und / i/ sowie zwischen / o/ und / u/ , oder die steigende Intonation in „é PO ca“, die ebenfalls als klassisches Merkmal des español andino gewertet wird (vgl. Mick / Palacios 2013, 352 ff.). Dies deutet zum einen auf eine offenbar hohe Sensibilität für die auch in der Fachliteratur regelmäßig als charakteristisch angeführten Elemente des español limeño und des español andino hin, zum anderen aber auch auf eine all- <?page no="269"?> Die Emergenz neuer sprachlicher Standards im peruanischen Spanisch 269 gemeine Unsicherheit, welche Charakteristika denn nun tatsächlich welcher Varietät zuzuordnen bzw. im limeño akzeptabel sind. Darüber hinaus lässt sich auch vermuten, dass gerade der Kontrast mit den immer stärker in Lima präsenten andinen Varietäten - die beispielsweise traditionell gerade nicht über den Yeísmo verfügen - ein höheres Bewusstsein für die Besonderheiten des limeño bewirkt. In diesem Zusammenhang ist interessant zu beobachten, dass, obwohl die geäußerte Kritik an einem vermeintlich zunehmenden ‚Verfall‘ des limeño immer wieder auf die Sprache der Jugendlichen, den Einfluss des Englischen, sowie untere soziale Gesellschaftsschichten zurückgeführt wird, es bei näherer Betrachtung in der Regel gerade die im Andenspanischen nicht vorhandenen Charakteristika des limeño sind, die kritisiert werden. Dies betrifft z. B. den Ausfall des / s/ , das im Andenspanisch apikal realisiert wird, eben keine Tendenz zur Aspiration oder Elision aufweist und in den Forenbeiträgen immer wieder als ‚schlechtes‘ limeño kritisiert wird: (38) Los limeños muchas veces tambien omiten la ''s'' o la pronuncian como una ''j'' y eso se puede notar con mucha facilidad con solo escucharlos hablar una vez (ejpañol, zonaj, ej que…). [PinkFloyd1717; youtube] (39) En la costa el acento ribereño-limeño que es el normativo, el estándar, muy homogéneo en toda su extensión, salvo en las "s" intermedias que los limeños la [sic] suelen obviar o reemplazar por una "j", cosa que no pasa en Trujillo o Chiclayo por ejemplo, donde todas las letras se pronuncian claramente. [Lupecema; youtube] (40) Los limeñitos hablan hasta las huevas! Se comen la S, por ejemplo…aggco, en vez de aSco… [Carlix 20; youtube] Der alltägliche Kontakt mit andinen Varietäten, so zeigen Beispiele wie dieses, erhöht unter den Sprechern offenbar (indirekt) die Sensibilität für typische Charakteristika des limeño und sorgt dafür, dass diese im Zuge einer wachsenden sprachlichen Unsicherheit in Lima kritisch hinterfragt werden. Angesichts des konstanten, direkten Kontakts zwischen español andino und español limeño in der Hauptstadt scheint es somit gewissermaßen (wenn auch weitgehend unbewusst) zu einer Neuaushandlung der als ‚norma culta‘ legitimierten Charakteristika des limeño zu kommen. Es drängt sich daher die Frage auf, inwiefern das limeño aus Sprechersicht tatsächlich noch als ‚norma culta‘ gilt bzw. gelten kann. <?page no="270"?> 270 Carolin Patzelt (Bremen) 5.2 Auswirkungen sprachlicher Unsicherheit in Lima Da bereits aufgezeigt wurde, dass sprachliche Varietäten in Lima in hohem Maße indexikalisch für eine bestimmte soziale Gesellschaftsschicht sind, erstaunt es nicht, dass der Aushandlung und Bewahrung einer ‚norma culta‘ in den Foren eine ganz wesentliche Bedeutung beigemessen wird. Erschwert wird die Kultivierung einer einheitlichen ‚norma culta‘ dabei nach Ansicht der Forenbeiträger durch die zunehmende ethnische Diversität in der peruanischen Hauptstadt: (41) Una identidad limeña única original quedó en la historia, Lima es sinónimo de diversidad como lo es el Perú; darse una vuelta por Lima es ver diversidad de acentos, dialectos; una mixtura sin fin. [ Jmangeo; ForosPerú I] Speziell die verstärkte Präsenz andiner Sprecher in Lima wird hier einmal mehr als Bedrohung des Vorbildcharakters des limeño als ‚norma culta‘ Perus wahrgenommen, wie eine Vielzahl von Forenbeiträgen deutlich macht: (42) Lamentablemente, Lima cuenta con pocos limeños ya que un alto porcentaje de las personas que hoy viven en Lima son de otros lugares, la gran mayoria de la sierra y ellos hablan muy mal el español. [Lucy Martinez; youtube] (43) lo que pasa es que en [sic] Lima se lleno de provincianos incultos… ya es difícil encontrar un limeno neto en la capital. [Luis selby; youtube] Es wird allerdings von vielen Usern betont, dass die unterschiedlichen Varietäten des limeño auf den spontanen, informellen Sprachgebrauch beschränkt seien und im distanzsprachlichen Bereich nach wie vor eine weitgehend einheitliche Norm existiere: (44) El acento del limeño serrano es comprensible, hay algunos que tratan de hablar neutralmente, hasta que se molestan y se les sale el mote. ¿Pero el acento pituco? ¿El acento achorado? … ¡¡Esas no son más que modalidades al hablar que adquieren los adolescentes tontos! ! ¡¡Eso no es más que informalidad! ! ¿Acaso la gente seria y madura hablaria de esa forma? Imagina a alguien hablando así en un trabajo serio! (…) sólo por las diferentes tonalidades y palabras que usan los grupos adolescentes, no es [sic] puede decir que no hay una identidad limeña… realmente la identidad limeña es algo difusa, pero no es por esa razón. [Fix; ForosPerú I] (45) Hola SVJ, tienes mucha razon, la forma de hablar del promedio de peruanos (educados obviamente) es neutro [sic] no existe variacion […] tambien en Lima tenemos DEJOS , estan aparte de los apitucados, el DEJO de CANA .. <?page no="271"?> Die Emergenz neuer sprachlicher Standards im peruanischen Spanisch 271 los chorizos del lenguaje.. el barrunto… habla! ! ! […] Pero como repito… la gente con una buena educacion (no instruccion) hablara con propiedad, de manera neutral y correcta… tal vez como tu … o tal vez como yo… [Pseudomark; ForosPerú I] Die ‚habla culta‘ - wiederum in stereotyper Art und Weise mit ‚gente con buena educación‘ assoziiert - wird also trotz aller Diskussionen bzgl. der nähesprachlichen Varietäten von den Usern als die unterschiedlichen Sprechergruppen einende Instanz betrachtet. Und trotz aller Kritik am Sprachwandel des español limeño ist dieses offenbar nach wie vor im Bewusstsein der Sprecher fest als peruanischer Standard verankert, denn Kritik am limeño zu üben, wird als „mutig“ angesehen, wie etwa folgender Beitrag verdeutlicht: (46) Ahora me acuerdo que en gran parte de Bolivia y en algunas regiones andinas del Perú-quizá se me escape otro lugarhacen la diferencia entre "ll" e "y" al hablar. O sea que "llama" no es lo mismo que "yama". A ver, cómo caería si les corrigieran eso a los limeños, que pronuncian solamente "y"? …quizá lo tomen como un atrevimiento, pese que, desde el punto lingüístico, no sería completamente un disparate corregirlo. [Anónimo; Yahoo] Dieser Beitrag wird im Forum auch prompt von einer anderen Userin - offenbar einer Limeña - aufgegriffen: (47) (…) tienes razón aquí. A pesar de que no es un disparate, los limeños solemos pensar que „nuestro“ castellano es el „correcto“, y seguramente tomaríamos tal corrección como „estás desfasado, ya no se habla así“. [Victoria; gustavofaveron] Das hier hervortretende Hierarchiedenken steht in Einklang mit der fachwissenschaftlichen Feststellung, dass gerade auch die andinen Migranten selbst „perciben lo costeño y, en especial, lo limeño como modelo, como única alternativa de ascenso y desarrollo personal (…)“ (Garatea 2009, 162). Die grundsätzliche Akzeptanz des limeño costeño culto als anzustrebender Standard scheint unter den Sprechern also ungebrochen - eine Feststellung, die in Einklang mit fachwissenschaftlichen Analysen wie Mick (2009) 24 steht. Die in der Fachliteratur diskutierte Emergenz eines neo-limeño als Folge einer zunehmenden 24 Mick (2009) stellt in ihrer Analyse fest, dass die peruanischen Informanten einer sozialen Gruppe von Limeños eine soziale Gruppe von Provincianos gegenüberstellen. Diese beiden, strikt voneinander unterschiedenen, Gruppen werden in der Sprecherbefragung von Mick einer klaren sozialen Hierarchie unterworfen, an deren oberem Ende die Gruppe der Limeños steht. <?page no="272"?> 272 Carolin Patzelt (Bremen) Vermischung des Küstenspanischen mit andinen Varietäten dagegen scheint in der Wahrnehmung der Forenbeiträger keine Rolle zu spielen - das limeño als ‚norma culta peruana‘ bleibt als solche somit unangetastet, es scheint allerdings, wie aufgezeigt wurde, im Sprecherbewusstsein aktuell eine Neuaushandlung der die ‚norma culta‘ konstituierenden sprachlichen Merkmale stattzufinden. Dabei wiederum scheint die (unbewusste) Perzeption des Kontrasts zwischen typischen Merkmalen des español limeño und solchen, die als charakteristisch für das español andino gelten, als Auslöser zu fungieren. 5.3 Eine virtuelle Norm als Vorbild? Wie aber sieht nach den sprecherseitigen Repräsentationen die Einheit stiftende ‚norma culta peruana‘ konkret aus? Welche Auswirkungen werden dabei der zunehmenden Diversität im nähesprachlichen Bereich zugesprochen? - Die Existenz einer „identidad limeña“, die sich aus dem aktuellen Sprachgebrauch speist, wird in der Tat von vielen Usern in Frage gestellt: (48) Los limeños tenemos distintos acentos al hablar; está el limeño serrano que habla así porque es hijo de migrantes, el limeño achorado hablado en las zonas marginales de Lima, el limeño pituco hablado por la clase alta de Lima e incluso varias personas pobres relacionadas con ellos y el limeño promedio que creo es como hablan mayormente en la tele, entre otros, creo que esa es una de las razones por la cual aun el limeño no se siente identificado con su ciudad es decir no hay una identidad limeña. [Magrelo; ForosPerú I] Gerade dieses - immer wieder erwähnte und kritisierte - Fehlen einer „identidad limeña“ wird aber von vielen Usern explizit eingefordert: (49) Particularmente yo he escuchado ejecutivos jovenes "formales" mayores hablando como pitucos y no necesariamente de barrios "pitucos" claro que adultos nunca salvo algunas señoronas Con respecto a la identidad limeña es necesaria encontrarla ya que he visto por ejemplo como muchos bogotanos quieren a su ciudad a comparación de los limeños que muchos de ellos la ensucian por falta de esta identidad, seria bueno ver un polo que diga Yo Lima. [Magrelo; ForosPerú I] Orientiert wird sich infolgedessen stark an einer ‚virtuellen‘ Norm, die u. a. durch die Medien, von Schriftstellern, aber auch vergangene Zeiten bestimmt wird: <?page no="273"?> Die Emergenz neuer sprachlicher Standards im peruanischen Spanisch 273 (50) el verdadero accento limeño es como lo habla Mario Vargas Llosa o los políticos limeños nacidos en lima y educados en buenos colegios de lima… [alex r.a; Yahoo] (51) Segun Vargas Llosa, el mejor castellano se habla en Arequipa […]. [anónimo; miltonramirez] (52) EL MEJOR ESPAÑOL LO PRONUNCIAN LOS PERIODISTAS LIMEÑOS DE PERU , SIN DEJOS NI MULETILLAS [miguel gonzales; miltonramirez] Lipski (1994, 156) erklärt diese, in den Forenbeiträgen deutlich hervorstechende, Zuwendung zu einer virtuellen norma culta wie folgt: „el habla de las élites de Lima, que pronto sólo existirá en la memoria colectiva, está aún implícito en los medios de comunicación y en la educación, y ninguna otra variedad regional puede competir con Lima en cuanto estándar de prestigio.“ Das limeño gilt also nach wie vor als peruanische ‚norma culta‘; sein Prestige allerdings sieht sich durch den vermehrten Zuzug andiner Migranten und das von ihnen mit in die Hauptstadt gebrachte „schlechte“ Spanisch akut bedroht. Als Folge dieser sprecherseitigen Wahrnehmung scheint sich eine Art sprachliche Purismusbewegung zu entwickeln, im Zuge derer die traditionell typischen sprachlichen Charakteristika des limeño neu (und kritisch) bewertet werden. Dies schließt interessanterweise auch eine Orientierung an anderen regionalen Standards innerhalb Perus nicht aus: (53) Acá en Perú, a mí juicio, la zona donde mejor se habla el español es en la zona urbana del Cuzco [allí se reunían los intelectuales españoles durante la Colonía] [Luis Arias; miltonramirez] Insgesamt betrachtet zeichnet sich in den Forendiskussionen die Tendenz ab, dass die Sprecher selbst zwar am limeño als ‚norma culta‘ festhalten - angesichts der zunehmenden ethnischen und sprachlichen Diversität in Lima wird eine Einheit stiftende Referenznorm sogar für unverzichtbar gehalten -, dass allerdings gleichzeitig auch eine zunehmende Unsicherheit darüber besteht, welche sprachlichen Charakteristika dem limeño costeño culto denn konkret inhärent sein sollen. Dies wiederum führt, wie aufgezeigt wurde, zu einer Neuaushandlung exemplarischer sprachlicher Charakteristika, die eine verstärkte Orientierung an historischen Sprachständen und einer virtuellen Norm impliziert. 6 Fazit Der aktuell ablaufende, migrationsbedingte Sprachwandel in Lima wird, so haben die vorausgehenden Ausführungen gezeigt, prinzipiell auch von den Sprechern selbst wahrgenommen. Allerdings divergieren die in den untersuchten <?page no="274"?> 274 Carolin Patzelt (Bremen) Diskussionsforen geäußerten sprecherseitigen Wahrnehmungen in grundlegenden Aspekten von den fachwissenschaftlichen Analysen und ihren Ergebnissen: Die zunehmende Präsenz andiner Migranten und ihrer sprachlichen Varietäten in Lima wird, so wurde deutlich, auch von den Limeños selbst konstatiert und intensiv evaluiert. Allerdings werden dabei der Varietätenraum des limeño und der des español serrano eher als additiv nebeneinander existierend gewertet; eine gegenseitige sprachliche Beeinflussung beider Varietäten und die daraus resultierende Emergenz eines ‚neo-limeño‘ dagegen - ein Schwerpunkt aktueller fachwissenschaftlicher Analysen - werden in den Forenbeiträgen kaum diskutiert. Dies wiederum liegt wohl maßgeblich daran, dass von einer unidirektionalen Assimilation andiner Migranten der dritten Generation ans limeño ausgegangen wird. Das español serrano wird dabei in den Foren deutlich vom in den Andenregionen gesprochenen español andino unterschieden, denn während Letzteres eine soziolektal stabile Varietät darstellt, wird das in Lima präsente español serrano als eine Lernervarietät des Spanischen (bzw. des limeño ) betrachtet, die vor allem der sozial stark stigmatisierten Gruppe andiner Migranten der ersten und zweiten Generation zugeschrieben wird. Diese Sprechergruppe wiederum wird allerdings insofern als Auslöser eines beobachtbaren Sprachwandels in Lima betrachtet, als sich junge Limeños - insbesondere Angehörige unterer sozialer Schichten - sprachlich vom stigmatisierten español serrano abzugrenzen suchen, indem sie mit fremdsprachlichen Einflüssen gespickte jergas kultivieren. Diese jergas werden in der Wahrnehmung der Forenbeiträger ihrerseits von den Nachkommen andiner Migranten aufgegriffen und ihre Präsenz im Spanischen der Hauptstadt somit verstärkt. An diesem Punkt deckt sich die sprecherseitige Wahrnehmung also prinzipiell mit entsprechenden Analysen aus der Linguistik (vgl. u. a. Caravedo 1996), nach denen nicht-stigmatisierte Charakteristika des andinen Spanisch durch zunächst nur in den unteren sozialen Schichten vorhandenen Varietätenkontakt Eingang ins limeño finden. Allerdings interpretieren die Forenbeiträger diesen kontaktbedingten Sprachwandel nicht als Aufnahme andiner Merkmale ins limeño, sondern kritisieren die Verbreitung von jergas , „schlechten“ Varietäten des limeño durch junge Sprecher unterer sozialer Schichten - den andinen Migranten wird vor allem die Übernahme dieser „schlechten“ Varietäten, weniger deren aktive Prägung zugeschrieben. Auch dieser Fakt zeugt davon, dass die Forenbeiträger die von der Fachwissenschaft proklamierte Emergenz einer neuen, andin geprägten norma peruana weitgehend verleugnen - gleichwohl, so wurde deutlich, herrscht eine zunehmende Unsicherheit darüber vor, welche sprachlichen Merkmale das limeño als norma culta peruana denn konkret beinhalten darf. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die als ‚schlechtes‘ limeño kritisierten sprach- <?page no="275"?> Die Emergenz neuer sprachlicher Standards im peruanischen Spanisch 275 lichen Charakteristika sehr häufig gerade solche sind, die traditionell typisch für das limeño sind, allerdings im andinen Spanisch nicht vorkommen. Bibliographie Fachliteratur Antos, Gerd (1996): Laien-Linguistik. Studien zu Sprach- und Kommunikationsproblemen im Alltag. Am Beispiel von Sprachratgebern und Kommunikationstrainings , Tübingen, Niemeyer. Arellano, Rolando / Burgos, David (2010): Ciudad de los Reyes, de los Chávez, de los Quispe , Lima, Planeta. Bezooijen, Renée van (2002): „Aesthetic evaluation of Dutch language varieties“, in: Language and Communication , vol. 14 / 3, 253-263. Calvo Pérez, Julio (2008): „Perú“, in: Palacios Alcaine, Azucena (ed.): El español en América. Contactos lingüísticos en Hispanoamérica , Barcelona, Arial, 189-212. 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Mit diesem und ähnlich provokativen Slogans, die seit einigen Jahren auf riesigen neongelben Werbeplakaten in verschiedenen Großstädten Mexikos zu lesen sind, erregt eine große nationale Buchhandelskette immer wieder die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und dies sogar über die eigenen Landesgrenzen hinaus. Unter dem Vorwand, dass die Ursache für den im Land vermeintlich weit verbreiteten Sprachverfall in der Leseträgheit der mexikanischen Bevölkerung zu suchen ist, greifen die Werbetexter des Unternehmens mit Vorliebe Phänomene der mexikanischen habla popular auf, um bei ihrer potentiellen Kundschaft das Interesse an Büchern und Lektüre zu wecken. Auch wenn natürlich die Steigerung des eigenen Absatzes im Mittelpunkt der Kampagne steht, wird so indirekt eine Art populärer Sprachkritik für die Durchsetzung kommerzieller Ziele genutzt. Die Auseinandersetzung mit derartigen Phänomenen und die Diskussion um das komplizierte Verhältnis zwischen Sprachkritik und Sprachwissenschaft stehen seit Jahrzehnten im Fokus wissenschaftlicher Forschung. Angesichts der großen Beliebtheit von Kolumnen in deutschen Tages- und Wochenzeitungen und Nachrichtenmagazinen, die sich auf mehr oder weniger wissenschaftliche Art und Weise mit Sprachfragen und dem guten bzw. schlechten Sprachgebrauch beschäftigen - man denke nur an die Zwiebelfischkolumne von Bastian Sick auf SPIEGEL Online, den Wörterbericht in der ZEIT oder das Sprachlabor der Süddeutschen Zeitung - hat sich in Deutschland auch die Sprachwissenschaft diverser Philologien erneut verstärkt dem Untersuchungsgegenstand Sprachkritik zugewandt. Der vorliegende Beitrag möchte ausgehend von einer weiteren Definition von Sprachkritik schlaglichtartig einige ausgewählte Formen kritischer Sprachbetrachtung im lateinamerikanischen Kontext am Beispiel Mexiko beleuchten. In einer Art Bestandsaufnahme soll im Folgenden erörtert werden, auf welchen Ebenen öffentliche Sprachkritik in Mexiko stattfindet, wie diese von den Sprechern innerhalb der Gesellschaft aufgenommen wird und welche Konsequenzen sich aus ihr für den konkreten Sprachgebrauch in der mexika- <?page no="280"?> 280 Katrin Pfadenhauer (Bayreuth) nischen Gesellschaft ergeben. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf den Implikationen für die autochthonen Bevölkerungsgruppen liegen, die aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihres Bilingualismus in der Gesellschaft einer doppelten Stigmatisierung ausgesetzt sind. 2 Was ist Sprachkritik? Der Frage nach dem Wesen und Sinn von Sprachkritik geht Hans-Martin Gauger (1995, 29-61) bereits vor mehr als 20 Jahren in einem Kapitel seines Buches Über Sprache und Stil nach, das den Titel Was ist und was soll Sprachkritik? trägt. Bevor er fünf verschiedene Richtungen von Sprachkritik unterscheidet und detailliert beschreibt, verweist er auf eine grundlegende Schwierigkeit, die Sprachkritik immer impliziert, nämlich die, dass mit der Sprache Sprache kritisiert wird, wodurch „das Instrument der Kritik […] auch das Kritisierte“ ist (ebd., 30). Aus dieser Reflexivität ergeben sich nach Gauger zwei weitere nicht unproblematische Fragen: die nach der (historischen) Herkunft der Bewertungskriterien, welche der Kritik zugrunde liegen und die nach ihrer „sachlich systematischen Berechtigung“ (ebd.). Zum Verhältnis zwischen Sprachwissenschaft und Sprachkritik nimmt Gauger (1995, 35) klar Stellung und plädiert für eine strikte Trennung der jeweiligen Aufgaben: Die Sprachwissenschaft sollte […] nicht Subjekt von Sprachkritik sein. Vielmehr: für die Sprachwissenschaft ist Sprachkritik, in ihren verschiedenen Ausprägungen, gerade Objekt. Selbst nicht wertend, sondern nur beobachtend und erklärend, verzeichnet sie Wertungen, die sie vorfindet, und macht sie gegebenenfalls zum Gegenstand ihrer Beschreibung. Sie interessiert sich für Sprachkritik, partizipiert aber nicht an ihr. Diese Meinung spiegelt einen zentralen Streitpunkt unter Sprachwissenschaftlern wider. So vertreten z. B. Kilian, Niehr und Schiewe (2010, 6) aus germanistischer Sicht den Standpunkt, dass Sprachkritik wesentlicher Teil einer wissenschaftlich fundierten Didaktik sein muss. Gauger (1995, 35) hingegen gesteht der Sprachwissenschaft lediglich eine beratende Funktion für die Sprachkritik zu: Kritik, wertende Stellungnahme, hat zutreffende Beschreibung zur Voraussetzung. Nur wer weiß, was ist, kann kritisieren. Dies also wäre das Ideal : Getrenntheit einerseits von Sprachwissenschaft und Sprachkritik - außerhalb der Sprachwissenschaft; andererseits aber von dieser toleriert - auf der Grundlage sprachwissenschaftlich gesicherter Beschreibung. <?page no="281"?> No digas chido porque se escucha gacho-- Sprachkritik in Mexiko 281 Grundlegend unterscheidet Gauger (ebd., 41-54) - wie bereits oben erwähnt - fünf verschiedene Ausprägungen von Sprachkritik, die sehr unterschiedliche Ziele verfolgen: die philosophisch, moralisch, literarisch, philologisch und religiös orientierte Sprachkritik. 1 Im Kontext der hier fokussierten Form von Sprachkritik, die zu großen Teilen in den Bereich der Laienlinguistik fällt, ist besonders die philologisch orientierte Sprachkritik von Bedeutung, die Gauger (ebd., 52) selbst als „eher unerfreulich“ bezeichnet. Sie richtet sich auf konkrete Phänomene im Sprachgebrauch des Einzelnen oder einer Sprachgemeinschaft und zielt in erster Linie auf die „grammatische Richtigkeit“ (ebd.) und die „sprachliche Reinheit“ (ebd.). Problematisch an dieser Form von Sprachkritik ist die häufig sehr undifferenzierte Art und Weise der Beurteilung, die weder Sprachwandelprozesse noch die Folgen von Sprachkontaktsituationen berücksichtigt. Gerade letztere spielen jedoch häufig eine entscheidende Rolle, wie im Anschluss am Beispiel Mexikos gezeigt werden soll. Sprachkritik findet sich nach Gauger (ebd., 54) in drei großen Bereichen, nämlich „in der Lebenswelt, in der Wissenschaft, in der Kunst“. Die philologisch orientierte, ebenso wie die moralisch ausgerichtete Sprachkritik finden sich nach dieser Klassifizierung vorrangig in der Lebenswelt und somit in der Sprache des Alltags (vgl. Kilian / Niehr / Schiewe 2010, 5). Auch Dieckmann (2012, 3-9) thematisiert die Vielfalt sprachkritischer Aktivitäten und unterscheidet Sprachkritik in einem weiteren und einem engeren Sinn. Der erweiterte Gebrauch des Wortes Sprachkritik tendiert nach dieser Definition zu einer Gleichsetzung mit Sprachbewertung (ebd., 3), wodurch jede „alltagsweltliche Metakommunikation, in der wir alle in den alltäglichen Kommunikationssituationen sprachliche[n] Aspekte der jeweils ablaufenden Kommunikation […] thematisieren und bewerten“ (ebd., 4) in den Bereich der Sprachkritik fällt. Auch Korrekturen im Rahmen von Prozessen des Erst- und Zweitspracherwerbs sowie Sprach- und Kommunikationsschulungen und Ratgeberliteratur wie Wörterbücher oder Grammatiken sind mit dieser weiteren Definition zu fassen. Positiv bewertet Dieckmann (ebd., 4) an dieser weiteren Definition die Möglichkeit, sämtliche Bewertungshandlungen unter einem Konzept, dem der Sprachkritik, zu analysieren, wodurch gleichzeitig die gesellschaftliche Bedeutung von Sprachkritik wachse. Hiermit gehe jedoch auch eine „zunehmende Heterogenität des erfassten Gegenstandsbereichs“ (ebd.) einher, die für eine klare Erfassung des Konzepts eher hinderlich sein kann. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen Neulands (1996, 114-115), 1 Für eine knappe Zusammenfassung der einzelnen Richtungen siehe auch Kilian / Niehr / Schiewe (2010, 2-6). <?page no="282"?> 282 Katrin Pfadenhauer (Bayreuth) die gerade die laienlinguistischen Sprachthematisierungen als „Indikatoren von Sprachbewusstsein“ (ebd., 114) entlarvt. Ihrer Ansicht nach lassen sich [d]ie öffentlichen Sprachdiskussionen […] eher lesen als Zeichen eines vortheoretischen alltagsweltlichen Sprachbewußtseins […], als Teil einer „Volkslinguistik“ […]. Gegenüber einer „linguistisch begründeten“ Sprachkritik beruhen solche Meinungen auf einer Reihe von Vorurteilen und Fehlschlüssen […] (ebd., 115). Diese Vorurteile rühren nach Neuland (ebd.) größtenteils aus einem stark normativ geprägten Verständnis von Sprache her. Die sprachliche Kompetenz eines Sprechers wird vorrangig an der Beherrschung von Grammatik und Orthographie in der Schriftsprache gemessen. Abweichungen von der geschriebenen Norm werden nicht als diatopisch, diastratisch und diaphasisch markierte Varietäten oder Merkmale von Mündlichkeit wahrgenommen, sondern lediglich als Fehler analysiert, die auf einen Mangel an Bildung und Intelligenz zurückzuführen sind. Neuland (ebd.) präzisiert diese Art von Sprachbewusstsein und führt hierfür den Terminus „Sprachnorm- und Sprachmängelbewusstsein“ ein, das „[…] an eine normative und restriktive Vorstellung von Sprache gebunden [ist]: nicht die Vielfalt möglicher Sprachgebräuche, sondern das Bewahren einer „richtigen“ Sprache […] wird angestrebt; nicht der eigene, sondern je ein fremder Sprachgebrauch wird kritisiert […]“. Neben diesem weiter gefassten Begriff von Sprachkritik existiert auch ein engerer, den Dieckmann (2012, 5-6) anhand von sieben Charakteristika definiert. Unter anderem sind demnach „sprachkritische Äußerungen im engeren Sinne […] schriftliche oder mündliche Zeugnisse einer ‚rein metasprachlichen Tätigkeit’ […], die […] sprachbeschreibende und sprachbewertende Anteile hat“ (ebd., 5) und „[d]er zu beschreibende und bewertende sprachliche Sachverhalt ist das eigentliche Thema des sprachkritischen Ereignisses“ (ebd.). Weiter werden Sprachkritiker eigenständig und nicht auf Anfrage tätig; ihre Sprachkritik richtet sich in der Regel an eine breite Massenöffentlichkeit. Als Sprachkritiker gilt jeder, der die Möglichkeit hat, sprachkritische Äußerungen publik zu machen, was hauptsächlich auf Journalisten oder Wissenschaftler zutrifft, die ihre sprachkritischen Äußerungen z. B. in Form von Sprachglossen veröffentlichen. Auch wenn dieser enger gefasste Begriff von Sprachkritik weitaus konkreter ist, besteht auch hier noch interner Differenzierungsbedarf (vgl. ebd., 9). So kann sich Sprachkritik z. B. orientieren an den verschiedenen Erscheinungsformen von Sprache (Sprachverwendungskritik vs. Sprachsystemkritik), an den Sprachebenen (grammatische vs. semantische vs. pragmatische Kritik), an den entsprechenden Varietäten einer Sprache ( Jugendsprache vs. Mediensprache) oder an konkreten sprachlichen Phänomenen (Kritik an Fremdwörtern vs. Kritik an politisch inkorrekter Sprache). <?page no="283"?> No digas chido porque se escucha gacho-- Sprachkritik in Mexiko 283 An diesen sehr unterschiedlichen Definitionen von Sprachkritik zeichnet sich die Heterogenität des Untersuchungsgegenstandes auf theoretischer Ebene ab. Wie vielfältig die Ausprägungen von Sprachkritik in der Praxis sein können, soll im Folgenden an einem konkreten lateinamerikanischen Beispiel aufgezeigt werden. 3 Sprachkritik im Spannungsfeld zwischen norma culta und sprachlicher Realität im mexikanischen Kontext Das von Neuland (1996, 115) angesprochene „Sprachnorm- und Sprachmängelbewusstsein“ spielt auch im lateinamerikanischen Kontext eine zentrale Rolle. Die Beschäftigung mit Sprachkritik in Mexiko macht es deshalb zunächst erforderlich, sich das Spannungsfeld vor Augen zu führen, das zwischen Norm, der sog. norma culta, und der tatsächlichen sprachlichen Realität besteht, für dessen umfassende Beschreibung die Berücksichtigung diatopischer, diastratischer und diaphasischer Variation nicht ausreicht. So kommt im Falle von Mexiko eine Vielzahl von Sprachkontaktsituationen mit unterschiedlichen autochthonen Sprachen hinzu, aus denen sich neue ethnische Varietäten des mexikanischen Spanisch ergeben, deren Sprecher sich nicht selten der Stigmatisierung von Seiten der mexikanischen Gesellschaft ausgesetzt sehen. Dieses komplexe Spannungsfeld soll im Folgenden knapp umrissen werden, um vor diesem Hintergrund das gefährliche Potential sprachkritischer Tendenzen und Aktivitäten in Mexiko zu verdeutlichen und verständlicher zu machen. Der Terminus habla culta steht im fachwissenschaftlichen Diskurs in der Regel dem der habla popular gegenüber. Culto ist hier nicht zwangsläufig auf die Ausdrucksweise einer intellektuellen Elite zu reduzieren, wie Moreno de Alba (1992, 9) im Vorwort zu seinen Minucias del lenguaje 2 betont. So definiert er culto und norma culta folgendermaßen: En un contexto sociolingüístico un hablante culto no es sólo el erudito o el intelectual sino cualquiera que recibió educación, que tiene el hábito de la lectura, que suele trabajar más con el cerebro que con las manos, etc. La suma de las hablas de estas personas “cultas” da como resultado la norma culta. Si se suman las hablas cultas de la ciudad de México, se obtendría la norma culta de esa ciudad, que en algunos aspectos (léxicos, sobre todo) no es idéntica a la norma culta de otra ciudad (Buenos Aires o Madrid, sea por caso). 2 Bei diesem Band handelt es sich um eine Sammlung von Sprachglossen, die in verschiedenen mexikanischen Tageszeitungen, v. a. unomásuno erschienen und somit eher an ein interessiertes Laienpublikum gerichtet sind (vgl. Moreno de Alba 1992, 12). <?page no="284"?> 284 Katrin Pfadenhauer (Bayreuth) Dass eine derartige Definition in mehrfacher Hinsicht problematisch ist, ist unübersehbar. So ist eine grundlegende Trennung von manueller und intellektueller Arbeit zweifelsohne zu oberflächlich und unscharf. Die norma culta ist - laut Definition - eher in den Städten zu verorten als in ländlichen Gegenden und den Bevölkerungsschichten direkt zugänglich, die in den Genuss von Schulbildung kommen bzw. gekommen sind - in Mexiko ein Luxus, der nicht allen Mexikanern zusteht. Besonders schwierig stellt sich die Situation in den ländlichen Regionen dar, wobei die Gebiete, die einen hohen Anteil indigener Bevölkerungsgruppen aufweisen, separat zu betrachten sind. Insgesamt stellen diese bis heute 10 bis 15 % der Gesamtbevölkerung dar (vgl. Flores Farfán 2008, 34). Marginalisierte Bundesstaaten wie Oaxaca und Chiapas im Süden bzw. Südosten des Landes, in denen die größte Vielfalt an noch vitalen autochthonen Sprachen besteht, sind gleichzeitig die Gebiete, die von Analphabetismus am stärksten betroffen sind. Sind Schulen - zumindest im Bereich der Primarstufe - vorhanden, befinden sich diese nicht selten in erbärmlichem Zustand. Auf der einen Seite sind die Ausbildung der Landschullehrer sowie deren Arbeitsbedingungen oft mangelhaft und haben in der Vergangenheit immer wieder zu gewalttätigen und lange andauernden Protestbewegungen Anlass gegeben, so dass Unterrichtsausfälle, auch über längere Zeiträume, auf der Tagesordnung stehen. Auf der anderen Seite macht die prekäre wirtschaftliche Situation, die einen Großteil der Landbevölkerung betrifft, den Schulbesuch der Kinder von vorne herein häufig unmöglich. Besonders gravierend erweist sich diese Situation für die indigene Bevölkerung, deren Zugang zur spanischsprachigen Gesellschaft nicht zuletzt aufgrund eines defizitären Schul- und Bildungssystems stark eingeschränkt ist. Die spanische Sprache wird in vielen Fällen im ungesteuerten Zweitspracherwerb und sehr reduzierten, meist informellen Kontexten erworben, was zur Entstehung von bereits oben genannten ethnischen Varietäten führt, welche in der Vergangenheit in der Forschung unter dem Terminus español indígena beschrieben wurden (vgl. u. a. Zimmermann 1986, 2004; Flores Farfán 1999, 2000; Pfadenhauer 2012). Hierbei handelt es sich nicht um eine feste Sprachvarietät, sondern um sprachliche Übergangssysteme, sog. Interimsprachen (im Sinne der interlanguage Selinkers 1972), die sich als Produkte des Zweitspracherwerbs einerseits durch kontaktbedingte Interferenzen erklären lassen, andererseits systematische und möglicherweise universelle Merkmale aufweisen, die weder aus der Erstsprache, noch aus der Zweitsprache hergeleitet werden können. Wie im Anschluss exemplarisch dargestellt werden wird, bieten diese Varietäten und ihre Sprecher eine breite Angriffsfläche für unreflektierte Sprachkritik, in der sich die grundlegend ablehnende und diskriminierende Haltung der mexikanischen Gesellschaft gegenüber den eigenen indigenen Bevölkerungsgruppen entlädt. In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass abgesehen von einigen <?page no="285"?> No digas chido porque se escucha gacho-- Sprachkritik in Mexiko 285 wenigen Arbeiten (u. a. den oben genannten), auch das wissenschaftliche Interesse v. a. in Mexiko selbst an diesen als diastratisch niedrig markiert eingestuften Varietäten relativ gering ist und der Beschreibung der habla culta weit mehr Beachtung geschenkt wird, was z. B. von Zimmermann (1995, 19) in der Vergangenheit heftig kritisiert wurde: Con demasiada frecuencia se escuchan comentarios de hispanistas de determinada proveniencia ideológica en el sentido de que tal o cual fenómeno no resulta interesante porque únicamente se encuentra a nivel local o solamente en un estrato social inferior o porque era vigente nada más por corto plazo. […] Pero hay que hacer hincapié en que las influencias sobre todas las variedades, y no sólo sobre el “habla superior o culta” son de interés. La constatación de una influencia en una variedad considerada socialmente baja ha sido siempre motivo para un grado de influencia menor y, en consecuencia, irrelevante. Esta argumentación es completamente inaceptable. Auch wenn sich in den Spanischlehrplänen des mexikanischen Bildungsministeriums in den letzten Jahrzehnten zahlreiche positive Änderungen verzeichnen lassen (vgl. Moreno de Alba 1992, 7), entsprechen sie in keiner Weise den Herausforderungen eines multilingualen Staates. Zwar existiert didaktisches Unterrichtsmaterial, das eine Alphabetisierung in der jeweiligen autochthonen Sprache einer konkreten Region ermöglichen würde. Zum Einsatz kommt dieses in der Regel allerdings nicht, da die Lehrer entweder häufig selbst nur Spanisch sprechen oder in den autochthonen Sprachen eher ein Hindernis als einen kulturellen Wert sehen, den es zu schützen und fördern gilt. Zusammenfassend kann an dieser Stelle also festgehalten werden, dass der Hintergrund, vor dem Sprachkritik in Mexiko stattfindet, als ein äußerst heterogenes und komplexes Gebilde beschrieben werden muss. Die habla culta fungiert in diesem als die erstrebenswerte Norm, ist paradoxerweise aber aufgrund eines defizitären Bildungssystems und inadäquater Lehrpläne, die die multilinguale Realität des Landes nicht berücksichtigen, nur einer sehr reduzierten Schicht der mexikanischen Bevölkerung zugänglich. 4 Ebenen von Sprachkritik in Mexiko Wie eingangs erwähnt wurde, kann sich Sprachkritik in ihrer weiteren Definition auf verschiedenen Ebenen manifestieren und unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Die Öffentlichkeit wird dabei mehr oder weniger intensiv mit einbezogen. Schlaglichtartig sollen nun drei sehr unterschiedliche Ebenen beleuchtet werden, auf denen Sprachkritik in Mexiko bewusst oder unbewusst geübt wird. <?page no="286"?> 286 Katrin Pfadenhauer (Bayreuth) 4.1 Publizistische Sprachkritik: das Beispiel Werbung Die erste Ebene ist im Bereich der Werbung zu verorten. Dieser muss aus zwei Gründen als unsicheres Terrain eingestuft werden. Zum einen verfolgt Werbung in erster Linie keine sprachpflegerischen Absichten, sondern zielt auf eine Steigerung des Absatzes. Zu diesem Zweck steht ihr die Sprache u. a. auch in Form von Sprachkritik zur Verfügung. Zum anderen kann ein Werbeplakat Sprachkritik nur auf stark reduzierte und punktuelle Art und Weise üben, die nicht mit den Möglichkeiten einer (laienlinguistischen) Sprachglosse oder Zeitungskolumne zu vergleichen ist. Dennoch können auch derart reduzierte Formen von populärer Sprachkritik, wie sie in der Werbung auftreten, die Reflexion über Sprache innerhalb einer Gesellschaft in Gang bringen. Die positiven wie negativen Effekte, die geschulte Werbetexter mit provokanten Sprüchen auf den tatsächlichen Sprachgebrauch innerhalb einer Gesellschaft erzielen können, sind bei der Beschäftigung mit Sprachkritik also nicht zu vernachlässigen. Dieckmann (2012, 174-175) zitiert im Rahmen der Analyse einiger ausgewählter Glossen der Online-Kolumne „Matthies ringt um Worte“, erschienen bei tagesspiegel.de, des Redakteurs Bernd Matthies dessen Position zum Einfluss bestimmter Gruppen auf Sprachveränderungen in der Gesellschaft: Sprachveränderung wird, so meint Matthies […] grundsätzlich von den Sprechern selbst tagtäglich hergestellt, jedoch sind die Chancen, die Sprache zu verändern, auf verschiedene Sprechergruppen innerhalb der Gesellschaft ungleich verteilt. Matthies nennt als Verursacher neben Journalisten eine „Unzahl von Werbetextern, Schriftstellern, TV -Prominenten, die Anstöße und Vorbilder liefern für diese Wandlung“ […]. „Die wirklich Mächtigen sitzen woanders.“ Zu ihnen gehören nach Matthies Werbetexter (z. B. mit dem Slogan „Geiz ist geil! “) und TV -Prominente […]. Das Gewicht von Werbetexten und die Möglichkeit der Einflussnahme auf den Sprachgebrauch einer Gesellschaft bzw. deren Reflexion von Sprachfragen sind demnach nicht zu unterschätzen. Gerade in Großstädten wie Mexiko-Stadt, wo riesige Werbeplakate das Stadtbild dominieren und omnipräsent sind, erscheint eine separate Analyse unter dem Aspekt der Sprachkritik sehr lohnend. Als eines der populärsten Beispiele sprachkritischer Aktivität in Form von Werbung soll an dieser Stelle das Konzept der Werbekampagne der bereits erwähnten mexikanischen Buchhandelskette beleuchtet und die möglichen Implikationen auf die Einstellungen der Sprecher selbst diskutiert werden. In Form von grellgelben Plakaten kritisiert besagtes Unternehmen zunächst ganz allgemein die generelle Faulheit der Mexikaner zum Buch zu greifen. So ist z. B. zu lesen: <?page no="287"?> No digas chido porque se escucha gacho-- Sprachkritik in Mexiko 287 (1) Cuatro horas diarias de televisión y medio libro al año. ¡Adelante México! (2) Mañana leo. Libros para mexicanos. (3) Leer, güey 3 , incrementa, güey, tu vocabulario, güey. Auch eine Reihe weit verbreiteter orthographischer Fehler sind laut Werbekampagne auf die eingeschränkte Lesetätigkeit der Mexikaner zurückzuführen: (4) Antez | Después (5) Si los publisistas binieran a [ Name der Buchhandelskette ], las karteleras no tendrian faltas de ortografia. Darüber hinaus werden zahlreiche Phänomene der habla popular aufgegriffen und an ihnen ein schlechter und zu vermeidender Sprachgebrauch illustriert. So entstammt auch der im Titel des vorliegenden Beitrags zitierte Werbespruch einem dieser Plakate, auf dem es heißt: (6) No digas chido porque se escucha gacho. Der Widerspruch in (6) besteht darin, dass sowohl chido als auch gacho dem gleichen diaphasisch bzw. diastratisch niedrig markierten Register angehören. So ordnet auch Lara (1996) beide Ausdrücke dem caló bzw. der habla popular zu. Allerdings ist zu bemerken, dass besonders chido heute in den Sprachgebrauch nahezu aller sozialen Klassen eingegangen ist und weitaus weniger stark markiert ist als noch vor zwanzig Jahren. Aufgegriffen wird außerdem eine Reihe morphosyntaktischer Besonderheiten, die zumindest aus Sicht der Werbetexter auf ein niedriges Bildungsniveau der Sprecher schließen lassen und durch regelmäßige Lektüre verhindert oder ausgemerzt werden könnten, so z. B. (7) Si dices cercas es porque todavía estás muy lejos. (8) Vinistes. Qué horror. Mejor lee. (9) Fuistes. (10) Hayga. Qué horror. Mejor lee. (11) Mounstruo. Qué horror. Mejor lee. Die Ursachen für diese von der erstrebenswerten Norm abweichenden Formen werden insgesamt auf einen sehr simplen Nenner gebracht, nämlich folgenden: 3 Güey ist in Mexiko als Anredeform besonders unter Jugendlichen weit verbreitet und entspricht in etwa dem in Spanien üblichen tío bzw. tía oder auch dem argentinischen boludo bzw. boluda , das im gleichen Kontext Anwendung finden kann. Vgl. auch den entsprechenden Eintrag im Diccionario del español usual en México (Lara 1996, 472): “Entre los jóvenes, manera de conservar la atención de su interlocutor y de asegurar su solidaridad ‘¡No, güey , te aseguro que no lo supe! ’”. <?page no="288"?> 288 Katrin Pfadenhauer (Bayreuth) (12) Nadien lee. Wie bereits erwähnt liegt das Hauptinteresse der Kampagne zweifelsohne in einer Steigerung der Verkaufszahlen. Sprachpflegerische Absichten und Interessen dürften - wenn überhaupt - höchstens eine äußerst untergeordnete Rolle spielen. Nichtsdestotrotz sind die Folgen der Werbemaßnahme weitreichender, denn diese lanciert auf publizistischer Ebene bewusst Sprachkritik an der diastratisch niedrig markierten mexikanischen habla popular . Weit verbreitete Formen wie vinistes (statt viniste ) oder hayga (statt haya ) werden den Adressaten als Formen präsentiert, die aus normativer Sicht lediglich zu einem abwertenden Kommentar Anlass geben können: ¡Qué horror! In der Kritik der in den Beispielen (7) bis (12) aufgegriffenen Phänomene spiegelt sich somit sehr deutlich das von Neuland angesprochene, volkslinguistische Verständnis von Sprache wider, das sich stark an einer präskriptiven Norm orientiert und im Gegensatz zu jeder sprachwissenschaftlichen Sichtweise steht. Anhand einer detaillierten Analyse des redundanten -s im Auslaut, wie in vinistes oder fuistes , können exemplarisch jedoch auch die multiplen Faktoren aufgezeigt werden, die an der Entstehung dieses Phänomens beteiligt sind. So spielt hier einerseits, zumindest im Falle der Verben, die Übertragung von Konjugationsmustern eine entscheidende Rolle. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die auffällige Artikulation von -s im Auslaut zu den typischen Merkmalen des mexikanischen Spanisch zählt und bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts belegt ist (vgl. Moreno de Alba 1994, 101). In Anknüpfung an diese älteren Arbeiten wird sie in den frühen 1950er Jahren erneut Gegenstand umfassender Untersuchungen. So schreibt Matluck (1952, 117) über die besondere Aussprache von -s im Valle de México sowie in Mexiko-Stadt: En el Valle, como en la ciudad de México, la s es un sonido predorso-álveodental convexo fricativo sordo, de tensión media, de timbre muy agudo y de larga duración. […] La s se conserva en cualquier posición, pero como final absoluta es generalmente aún más alargada ( res: , jueves: ). Perissinotto (1975, 70) verweist in seiner detaillierten soziolinguistischen Studie zur Phonologie des gesprochenen Spanisch in Mexiko-Stadt ebenfalls auf diese Auffälligkeit: La articulación de / s/ es tensa y estridente en posición final de sílaba. No se producen aspiraciones. […] Esto contrasta notablemente con lo que sucede en grandes áreas de España y América en las cuales el fonema / s/ se aspira o se pierde. Diese Feststellungen werden auch in jüngeren Untersuchungen und über den Radius der Hauptstadt und der Metropolregion hinaus bestätigt, so z. B. in Mo- <?page no="289"?> No digas chido porque se escucha gacho-- Sprachkritik in Mexiko 289 reno de Alba (1994, 102), der den Erhalt von -s an einigen weiteren Punkten des Landes verortet, wie z. B. auf der Halbinsel Yucatán und in den Bundesstaaten Oaxaca, Jalisco und Coahuila. Die auffällige Artikulation von -s im Auslaut als typisches Merkmal des mexikanischen Spanisch, v. a. wie es in der Hauptstadt gesprochen wird, kann somit auch als ein markantes Merkmal der prestigeträchtigen Norm angesehen werden, die es nachzuahmen gilt. Die Ergebnisse von Fallstudien zum mixtekisch-spanischen Sprachkontakt, in denen das Spanisch mixtekischer Migranten in Mexiko-Stadt und deren Vororten und im Süden des Landes im Bundesstaat Oaxaca untersucht wurde (vgl. Pfadenhauer 2012, 90-91), deuten darauf hin, dass Hyperkorrektur als häufiger Mechanismus zur Erklärung eines redundanten, normabweichenden -s im Auslaut in Erwägung gezogen werden muss. Dieses Phänomen reflektiert als indirekte Auswirkung des Sprachkontakts den Druck, dem die Sprecher indigener Volksgruppen innerhalb der mexikanischen Gesellschaft ausgesetzt sind. So tritt das redundante -s bemerkenswerterweise gehäuft dann auf, wenn die Sprecher sichtlich um eine korrekte Aussprache bemüht sind oder das Gesprächsthema als besonders bedeutsam einschätzen. Letzteres ist z. B. dann der Fall, wenn in der Konversation Fragen zum persönlichen Sprachgebrauch im Mittelpunkt stehen und es speziell um die spanische Sprache geht, die in diesem konkreten Kontext dann häufig in den Plural gesetzt wird ( castellanos statt castellano , españoles statt español ) (vgl. Pfadenhauer 2012, 143 und 152). Sichtbar gemacht werden sollte anhand dieses Beispiels die tiefe Kluft, die sich zwischen Sprachkompetenz und Analysekompetenz auftut. Auf der Grundlage des muttersprachlichen Sprachgefühls, einer „Urteilsfähigkeit, die sich in sprachlich gewonnener Erfahrung ausgebildet hat“ (Dieckmann 2012, 62), werden Formen wie vinistes lediglich als fehlerhaftes, nicht korrektes Spanisch wahrgenommen und nicht nur bewertet, sondern abgewertet und in Zusammenhang mit persönlichen intellektuellen Fähigkeiten gebracht. Sprachliches Wissen über Sprache, Sprachvariation und Sprachwandel, also Analysekompetenz, die eine distanzierte Reflexion über Sprache ermöglichen würde, ist hier nicht vorhanden. So gibt Moreno de Alba ( 2 2005, 58) in seinem kleinen Aufsatz Lo correcto y lo ejemplar unter Auflistung einer Vielzahl von Beispielen aus der mexikanischen habla popular (völlig zurecht) folgendes zu bedenken: Como se ve, lo correcto o, si se quiere emplear un término más preciso, lo ejemplar en la lengua, sobre todo en el léxico, pero también en la gramática, es siempre relativo: lo que tachaban de incorrecto los puristas de 1850 lo tolera o aun lo considera ejemplar la mayoría de los puristas de este feneciente siglo XX . Nada nos impide pensar, por tanto, que lo que hoy censuran esos mismos jueces severos ( habían muchos por había muchos […], venistes por viniste […]) se tolerará o incluso se recomendará como ejemplar en un futuro no tan remoto. <?page no="290"?> 290 Katrin Pfadenhauer (Bayreuth) Die konkreten Auswirkungen der dargestellten Form von Sprachkritik sind im Rahmen dieses kurzen Beitrags schwer abzuschätzen. Dennoch zeigt bereits ein stichprobenartiger Blick in einschlägige Internetforen, in denen die Werbekampagne - wenn auch zum Teil auf sehr oberflächliche Art und Weise - aufgegriffen wird, dass sich eine gewisse Schicht der Öffentlichkeit durchaus angesprochen fühlt und den eigenen Sprachgebrauch in den Werbesprüchen wiedererkennt. In einem Blog mit dem Titel El Mono y su Amo 4 , in dem das Thema aufgegriffen wird, sind folgende Kommentare 5 zu lesen: (13) hola jamees…! la mayoria de estas fracesitas ya las había visto en la calle son buenisimass amo como lees sin darte cuentaa esto es lo qe hacen etsas fraces como qe llaman tu atención xra qe no te des cuenta qe es lo qe en realidad haces, creo qe estas fracesitas le van a todo tipo de personas xeso nos gustan […] Oder: (14) Que onda prof. Estos anuncios cumplen su función, animar uno a leer. De cierto modo dicen que no tiene que ser abburido. Yo he visto otros igual de [Name der Buchhandelskette ] y son muy buenos todos. Me gustan porque se burlan de uno mismo y habra gente que se ofenda pero aun asi tienen los huevos de ponerlos […] Neben dem nicht zu unterschätzenden Unterhaltungsfaktor der Plakate, der in den meisten Kommentaren eindeutig im Vordergrund steht, belegen sie dennoch eine gewisse Sprachreflexion der Individuen. Inwieweit sie sich ihres eigenen Sprachgebrauchs bewusst sind und was die Kampagne tatsächlich bewirkt, muss an dieser Stelle offen bleiben, wäre jedoch ein interessanter Aspekt weiterer umfassender Studien. 4.2 Sprachkritik als Selbstkritik: die Bedeutung der Sprechereinstellungen Dass undifferenzierte Sprachthematisierungen, wie sie in der Öffentlichkeit häufig in Form von negativen Urteilen oder Bewertungen des Sprachgebrauchs anderer vorkommen, entscheidende Konsequenzen für die kritisierten Sprecher haben können, soll auf einer zweiten Ebene dargestellt werden, die unmittelbar an die ethnische Zusammensetzung Mexikos und das damit verbundene Konfliktpotential gekoppelt ist. In soziolinguistischen Studien zu den Sprecher- 4 Vgl. http: / / elmonoysuamo.blogspot.de/ 2011/ 03/ leansi-se-atreven.html (02. 05. 2016). 5 Die Originalorthographie wurde beibehalten. <?page no="291"?> No digas chido porque se escucha gacho-- Sprachkritik in Mexiko 291 einstellungen bilingualer Individuen (u. a. Hill / Hill 1999; Flores Farfán 1999; Pfadenhauer 2012) konnte mehrfach belegt werden, dass die eigenen sprachlichen Kompetenzen - sowohl in der jeweiligen Muttersprache als auch im Spanischen - von den Sprechern selbst stets negativ eingeschätzt werden. In ihren Äußerungen reflektiert sich die in der mexikanischen Gesellschaft bis heute fest verankerte und weit verbreitete Ansicht, bei den noch existierenden autochthonen Sprachen handle es sich lediglich um Dialekte einiger ungebildeter und rückständiger Bevölkerungsgruppen, nicht aber um ein sprachliches und kulturelles Erbe, das es dringend zu bewahren gilt. Die Kritik an der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit der autochthonen Bevölkerung basiert somit auf einem latenten, historischen Rassismus und stigmatisiert die bilingualen Sprecher in zweifacher Hinsicht: einerseits aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit mit einer eigenen Sprache, welcher grundsätzlich jegliches Prestige abgesprochen wird, andererseits wegen ihrer von der mexikanischen Gesellschaft als mangelhaft empfundenen Spanischkenntnisse, die als Ausdruck von fehlender Bildung und Zeichen eingeschränkter intellektueller Fähigkeiten interpretiert werden. Zugrunde liegen zwei Formen von Sprachkritik, die beide hoch problematisch sind. Im ersten Fall handelt es sich um Sprachsystemkritik, die sich v. a. durch den „wertende[n] Vergleich von Sprachen insgesamt, der fester Bestandteil alltagsweltlicher bzw. volkslinguistischer Reflexion ist“ (Dieckmann 2012,11), kennzeichnet. Kritik wird unmittelbar am System einer Einzelsprache geübt. Der konkrete Vergleich kann dabei auf verschiedene Art und Weise erfolgen, u. a. den mit früheren Sprachständen der gleichen Sprache, mit einer anderen Sprache oder in Hinblick auf die individuelle Vorstellung von einer idealen Sprache (vgl. ebd.). Dass eine derartige Argumentation aus sprachwissenschaftlicher Sicht nicht haltbar ist, versteht sich von selbst. Aus volkslinguistischer Perspektive wird sie jedoch durchaus als legitim angenommen. Im zweiten Fall verbirgt sich hinter der Kritik erneut das von Neuland (1996, 115) erwähnte „Sprachnorm- und Sprachmängelbewusstsein“. Im Fokus steht hier „das Bewahren einer ‚richtigen’ Sprache“ (ebd.), wobei die Gefahr besteht, dass „sich […] solche ‚subjektiven’ Meinungen über Sprache durch eine bestimmte öffentliche Berichterstattung zu ‚objektiven’ Fakten über Sprache wandeln können […]“ (ebd., 115-116). Der Einfluss dieser undifferenzierten, rassistisch motivierten Sprachkritik soll im Folgenden anhand der Sprechereinstellungen bilingualer Individuen illustriert werden. In seiner Studie mit dem Titel Cuatreros somos y toindioma hablamos untersucht Flores Farfán (1999) die Folgen des Sprachkontaktes bilingualer Nahuatl- Sprecher in der Region Balsas im Bundesstaat Guerrero. Dabei beschreibt er eine klare Tendenz der Sprecher, ihre Zweisprachigkeit und Sprachkompetenz in Nahuatl nicht als Gewinn, sondern als Stigma aufzufassen. Im Titel greift Flores <?page no="292"?> 292 Katrin Pfadenhauer (Bayreuth) Farfán ein Sprecherzitat auf, dem das spanische Sprichwort Arrieros somos y en el camino andamos zugrunde zu liegen scheint und das diese negative Selbsteinschätzung deutlich widerspiegelt: Es interesante notar que la palabra cuatrero remite, por un lado, al abigeo, con lo que metafóricamente se hace referencia a lo que “moralmente” resulta no sólo incontrolable, sino deplorable - la presencia de las interferencias -. Por el otro un “cuatro” también se utiliza con el significado de “reto”, “problema de difícil solución” (lo que un lingüista llamaría “interferencia”). Así los nahuas se definen como “cuatreros”, su español está “cuatrapeado”. Esto se vincula a un náhuatl estigmatizado, concibiendo negativo el hablar la lengua indígena, al punto de favorecer el monolingüismo español […] (Flores Farfán 1999, 65). Bei dem Terminus cuatrero handelt es sich also um eine lokale Metapher, mit der die zweisprachigen Sprecher auf die Schwierigkeiten beim Erlernen der spanischen Sprache anspielen, die von Interferenzen aus dem Nahuatl durchzogen ist (vgl. Flores Farfán 1999, 15). Wie ein cuatrero , also ein ‚Viehdieb’, bedienen sich die zweisprachigen Sprecher aus den beiden ihnen zur Verfügung stehenden Sprachen und lassen so eine neue, ganz eigene, aber als minderwertig empfundene Varietät entstehen. Der Terminus cuatrero wird zudem im Sinne eines Wortspiels mit dem Adjektiv cuatrapeado verwendet, mit dem der Charakter einer gemischten, unreinen Sprache zum Ausdruck gebracht werden soll. Bei toindioma handelt es sich um ein weiteres Wortspiel, in dem das pejorative indio und idioma miteinander verschmelzen. Das Morphem to stammt aus dem Nahuatl und markiert in der Funktion eines Possessivadjektivs die 1. Person Plural ( nuestro , nuestra ). Der Terminus indio ist in Mexiko stark negativ konnotiert und findet bis heute in verschiedenen idiomatischen Wendungen Verwendung als Schimpfwort (vgl. hierzu Punkt 4.3). Die indianischen Wurzeln werden in dem von den bilingualen Sprechern selbst geschaffenen Neologismus toindioma gleichgesetzt mit dem Sprechen einer indigenen Sprache (vgl. Flores Farfán 1999, 15). Sprachkritik findet in diesem Fall in reflektierter Form als Kritik an den eigenen sprachlichen Fähigkeiten statt. Das Spanische wird als fehlerhaft empfunden, aber auch das Nahuatl hat in der Sprachkontaktsituation an Reinheit verloren und ist von Interferenzen aus dem Spanischen durchzogen. Die ablehnende Grundhaltung der mexikanischen Gesellschaft gegenüber den autochthonen Bevölkerungsschichten findet ihren Niederschlag konkret in der Kritik an deren sprachlichen Kompetenzen, was auch von den Sprechern selbst wahrgenommen wird. Diese Tendenz bleibt nicht auf den Einzelfall beschränkt, sondern lässt sich auch für andere indigene Gruppen belegen, wie einige der Antworten zweisprachiger Mixteken auf die Frage nach der Diskriminierung aufgrund der eigenen Zweisprachigkeit auszugsartig zeigen sollen: <?page no="293"?> No digas chido porque se escucha gacho-- Sprachkritik in Mexiko 293 (15) Nos sentimos seres inferiores. Por lo mismo que nos limitaron en nuestra lengua. Por decir aquí todavía en la época de los ochenta […] la gente nos veía con mucho, este, no sé, como con desprecio porque dicen, ay, esa india, esa india pata rajada no sabe hablar. […] Ni siquiera puede hablar bien el español y ya quiere usar tacones (Pfadenhauer 2012, 61). Anlass der Kritik ist in erster Linie ein als fehlerhaft empfundenes Spanisch: (16) Y luego la gente está acostumbrada a discriminar. Por ejemplo el hecho de que no te sepas expresar bien. ¡Ay tú! ¡No seas india! (ebd., 64). Das fehlende Bewusstsein gegenüber der eigenen Sprache und die Kritik, die offen innerhalb der Gesellschaft ausgesprochen wird, können unter Umständen dazu führen, die Muttersprache - in diesem Fall das Mixtekische - nicht nur selbst abzuwerten, sondern langfristig völlig aufzugeben. Bemerkenswert ist in diesem Kontext, dass sprachkritische, stark wertende und sich an einem vermeintlich „richtigen“ Sprachgebrauch orientierende Urteile bereits Teil des Diskurses sind, der innerhalb der eigenen Gruppe, also unter den zweisprachigen Mixteken selbst geführt wird, wie in der Aussage (17) einer jungen Mixtekin herauszulesen ist: (17) […] muchos no hablan el mixteco. Aunque ni puedan hablar bien el español, déjame y te digo. Porque no todos pueden manejar el español correctamente. Algunos le falla. Le ponen eses o le ponen/ en vez de el , le ponen la o los , en vez de hablar… hablan en plural en vez… cuando es singular, así (ebd., 65). Im Rahmen der Beschäftigung mit sprachkritischen Tendenzen innerhalb einer Gesellschaft und deren Folgen für die betroffenen Sprecher und ihren Sprachgebrauch kann die Analyse von Sprechereinstellungen interessante Einblicke eröffnen, denn diese spiegeln subjektive, sozial vermittelte und kollektiv verfestigte Ansichten über Sprache wider. Zu lesen sind sie als subjektive Reflexionen einer von den Sprechern wahrgenommenen Kritik, die sich auf ein fehlerhaftes Spanisch konzentriert, das nicht der mexikanischen Norm entspricht. Der tiefere Ursprung dieser Kritik ist jedoch vielmehr in einer historisch belegten und jahrhundertelangen Stigmatisierung der autochthonen Bevölkerungsgruppen begründet, die heute ein Dasein am Rande der modernen mexikanischen Gesellschaft fristen. Der Versuch, sich sprachlich Zugang zu dieser zu verschaffen, endet nicht selten auf Kosten der Muttersprache. Sprachthematisierungen sind somit nicht nur Indikatoren von Sprachbewusstsein (vgl. Neuland 1996, 114), sondern fungieren auch als Seismograph für das Verhältnis der mexikanischen Gesellschaft zu ihren eigenen autochthonen Sprachgruppen und Ethnien. <?page no="294"?> 294 Katrin Pfadenhauer (Bayreuth) 4.3 Sprachkritik durch Sprache: das Beispiel indio Die dritte Ebene, die im Rahmen dieses Beitrags abschließend nur kurz angesprochen werden soll, bezieht sich auf den Fall, in dem Sprache selbst als kritische Instanz aufzutreten scheint. Dies geschieht z. B. dann, wenn ethnische Bezeichnungen zu Schimpfwörtern werden, d. h. wenn sie auf Personen angewandt werden, die der entsprechenden Gruppe nicht angehören. Zu den nicht sehr häufigen Verwendungen dieser Art zählt Gauger (1995, 32) im Deutschen die Wörter Zigeuner und Jude : Wir haben hier, dies wird man sagen müssen, in unserer Sprache selbst, als ein Element von ihr, eine Bewertung. Hier kritisiert, hier urteilt quasi die Sprache selbst, und dies trübselige Beispiel zeigt, daß die Kritik der Sprache an den Dingen ihrerseits zum Gegenstand der Kritik gemacht werden muß. […] Die Sprachkritik hätte also gerade solche Fälle einzubeziehen, in denen die Sprache selbst, als wäre sie ein Subjekt, als kritische Instanz aufzutreten scheint. Im mexikanischen Kontext ist der Terminus indio für diese Art der Sprachkritik ein Beispiel par excellence . Dieser wird nicht nur direkt als abwertende Bezeichnung für die autochthonen Bevölkerungsgruppen verwendet (wie in (15) und (16)), sondern ist in zahlreichen Redewendungen fest verankert, so z. B. in (18) ¡No seas indio! ‘¡No seas tonto! ’ ‘¡No seas naco! ’ (19) caminar como indito ‘caminar con pequeños saltos’ (20) ser un indio pata rajada ‘ser una persona de clase baja, inculta’ (21) hablar como indio ‘no saber expresarse’ (22) indio calzonudo ‘persona terca’ (23) indio y pobre ‘inculto y pobre’ (24) ser un indio bajado del cerro a tamborazos ‘ser una persona necia’ Die Beispiele (18) - (24) lassen erkennen, dass das Konzept des indio in der mexikanischen Gesellschaft fast ausschließlich mit negativen Merkmalen besetzt ist und als Synonym zu tonto , pobre , terco , necio und inculto im alltäglichen Sprachgebrauch durchaus präsent ist und Verwendung findet. Ein kurzer Blick in das Diccionario de la Lengua Española der RAE belegt zudem, dass indio in Phraseologismen vorkommt, die bis heute auch in anderen Ländern der spanischsprachigen Welt geläufig sind, so z. B.: <?page no="295"?> No digas chido porque se escucha gacho-- Sprachkritik in Mexiko 295 (25) caer de indio caer en un engaño por ingenuo (26) hacer el indio 1. divertirse o divertir a los demás con travesuras o bromas 2. hacer algo desacertado y perjudicial para quien lo hace Darüber hinaus existiert in Mexiko eine Reihe von Ausdrücken, die eng mit der Lebenswelt der autochthonen Bevölkerung oder ihrer konkreten Herkunft in Zusammenhang stehen und ähnlich wie indio zur Degradierung und Beleidigung von Personen ohne indigenen Hintergrund gebräuchlich sind, so z. B. (27) oaxaco ‘naco’, ‘tonto’ (28) tener cara de nopal ‘ser tonto’ (29) ser medio nopal ‘ser tonto’ Der Terminus oaxaco (< oaxaqueño ‚Person aus Oaxaca, einem der mexikanischen Bundesstaaten mit dem höchsten Anteil an indigener Bevölkerung’) aus Beispiel (27) kann einerseits synonym zu indio bzw. indígena verwendet werden, um sich abwertend auf Personen indigener Herkunft zu beziehen. Andererseits hat er sich als Teil der habla popular fest etabliert als Synonym zu naco oder tonto . 5 Fazit und Ausblick Ziel des Beitrags war es, verschiedene sprachkritische Tendenzen am Beispiel Mexikos und somit unter Berücksichtigung der besonderen Problematik eines multilingualen Staates aufzuzeigen. Ausgehend von einem weiteren Begriff von Sprachkritik, der Ausprägungen einer populären und öffentlichen Sprachkritik mit einschließt, wurden drei unterschiedliche Ebenen von Sprachkritik anhand ausgewählter Beispiele beleuchtet. Es sollte zunächst gezeigt werden, dass der Analyse sprachkritischer Tendenzen in Mexiko eine Analyse der sprachlichen Realität vorausgeschaltet sein muss, denn diese steht in starkem Kontrast zu dem, was als norma culta in Mexiko von Institutionen wie der Academia Mexicana de la Lengua gepflegt wird. Zusätzliches Konfliktpotential ergibt sich durch die noch (es fragt sich für wie lange …) bestehende Vielfalt an autochthonen Sprachen, an deren Sprechern sich bis heute eine undifferenzierte und diskriminierende Sprachbewertung ent- <?page no="296"?> 296 Katrin Pfadenhauer (Bayreuth) lädt, deren Ursachen historisch in der Kolonialzeit verwurzelt sind. Die Analyse von Sprechereinstellungen kann für die Auseinandersetzung mit Sprachkritik in diesem Kontext sehr aufschlussreich sein. Aufgezeigt werden sollte außerdem, dass Sprachkritik nicht nur direkt über fest etablierte Kommentare erfolgt, die stets ähnlichen Schemata zu folgen scheinen. Sie findet auch durch Sprache selbst statt, wie anhand des Beispiels indio dargestellt werden sollte. Hier stellt sich konkret die Frage, ob aus Gründen der politischen Korrektheit nicht eine weitere Kennzeichnung, die über den Vermerk coloquial hinausginge im Wörterbuch der RAE angemessen und sogar dringend erforderlich wäre. Dies wäre also tatsächlich ein Fall von fachwissenschaftlicher Sprachkritik! Die Frage nach den endgültigen Implikationen von Sprachkritik, wie sie in der Werbung praktiziert wird, muss an dieser Stelle offen bleiben. Auch wenn sie, v. a. angesichts der hohen Analphabetenrate in Mexiko, nur einen geringen Anteil der mexikanischen Bevölkerung erreichen dürfte, sind die negativen Auswirkungen einer undifferenzierten Sprachkritik nicht zu unterschätzen. Die abwertende Art der Kritik, wie sie an der habla popular in genannter Werbekampagne exerziert wird, ist bei allem Unterhaltungswert aus sprachwissenschaftlicher und -ethischer Sicht äußerst problematisch, kann sie doch dazu beitragen, bestehende Denkschemata über einen guten und schlechten Sprachgebrauch weiter zu verfestigen und somit die Praxis einer populären, wissenschaftlich unbegründeten Sprachkritik weiter zu fördern. Derartigen Entwicklungen ist unter Berücksichtigung der stark heterogenen ethnischen Zusammensetzung Mexikos und der bestehenden sozialen Kluften dringend entgegenzuwirken, da die Folgen für bestimmte Bevölkerungsgruppen fatal ausfallen und in der Aufgabe der eigenen Muttersprache enden können. Von weit größerer Bedeutung wäre es im Fall von Mexiko, sprachpflegerische Aktivitäten nicht nur auf die norma culta des Spanischen zu beschränken, sondern verstärkt für den Erhalt und die Normierung der bis heute etwa 60 mehr oder weniger vitalen Sprachen einzutreten … und dies nicht nur einmal jährlich am 21. Februar, dem Día Internacional de la Lengua Materna . Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive könnte die detaillierte Analyse sprachkritischer Tendenzen in einem Land wie Mexiko, das sich den Herausforderungen eines multilingualen Staates stellen muss, sicher äußerst ergiebig für eine effizientere Sprachplanung sein. <?page no="297"?> No digas chido porque se escucha gacho-- Sprachkritik in Mexiko 297 Bibliographie Dieckmann, Walther (2012): Wege und Abwege der Sprachkritik , Bremen, Hempen. Flores Farfán, José Antonio (1999): Cuatreros somos y toindioma hablamos: contactos y conflictos entre el náhuatl y el español en el sur de México , México, Centro de Investigaciones y Estudios Superiores en Antropología Social. Flores Farfán, José Antonio (2000): “Por un programa de investigación del español indígena”, in: Calvo Pérez, Julio (ed.): Teoría y práctica del contacto: El español de América en el candelero , Frankfurt a. M./ Madrid, Vervuert / Iberoamericana, 145-158. 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So unterstreicht Rossi (2015, 176), dass „di problemi legati alla grammatica, alla questione della lingua […] e soprattutto ai dubbi e alle proteste degli italiani che la parlano e la scrivono si continua a dibattere, moltissimo, in sedi più o meno specialistiche“, sowohl in traditioneller Printform, als auch in den audiovisuellen Medien und im Internet. 3 Daran beteiligen sich „Laien“, aber auch Linguisten im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichem Diskurs und einer gewissen Orientierung zum „schönen“, „guten“ und „korrekten“ Gebrauch. Im Fokus der vorliegenden Darstellung stehen die Sprachberatungsangebote, welche auf den Homepages zweier wichtiger Institutionen, 4 an denen namhafte italienische Sprachwissenschaftler beteiligt sind, zu finden sind: die 1 Vgl. z. B. die Übersicht über neuere mehr oder minder präskriptiv orientierte Sprachkritiken bzw. Sprachratgeber in Sgroi (2013). 2 Vgl. dazu u. a. Demel (2006, 2007), Ernst (1998, 200-205), Fesenmeier (1995), Schmitt (2001, 465-468). Sprachchroniken sind selbstverständlich nicht der einzige Platz, in dem in der Presse explizite metasprachliche (und nicht selten sprachideologische) Reflexion stattfindet: Sprachfragen waren und sind ein durchaus präsentes Thema in den italienischen Tageszeitungen und anderen Periodika (vgl. die Dokumentation schon für die Jahre 1962 / 63 und 1972 / 73 in Carrafiello (1977), was in letzter Zeit auch vermehrt Gegenstand sprachwissenschaftlicher Untersuchungen ist (vgl. z. B. Aresti 2014, Rossi 2015, Santulli 2015). 3 Vgl. die Auflistung verlags- oder tageszeitungsgebundener Online-Seiten, in denen Sprachfragen diskutiert werden, in Rossi (2015, 176-177), aber auch die Analyse von facebook -Gruppen, die der metasprachlichen Diskussion gewidmet sind in Vizmuller- Zocco (2011), sowie die Überlegungen und Darstellungen in Ernst (2002, 110-112), Setti (2013, 10) und Renzi (2012, 170). 4 Anders als die Academia Argentina de Letras (vgl. den Beitrag von Hanna Merk in diesem Band) bieten weder die Accademia della Crusca (im Folgenden auch nur Crusca ) noch Treccani Sprachberatung auf digitalen Diensten wie Twitter - die Komplexität der Antworten der Crusca (s. u.) lässt es nicht zu, solche Dienste mit eingeschränkter Zeichenzahl zu verwenden. Beide Institute sind zwar auf Twitter präsent, nutzen diesen Dienst aber nur, um Ankündigungen unterschiedlicher Art bekannt zu machen; bei der Crusca wer- <?page no="302"?> 302 Luca Melchior (Graz) geschichtsträchtige Accademia della Crusca 5 sowie der vermutlich wichtigste italienische lexikographisch-enzyklopädische Verlag Treccani . Nach einer kurzen Darstellung der Struktur und Erreichbarkeit der genannten Sprachberatungsdienste wird versucht, die Themenbereiche zu umreißen, in denen Sprachberatung angefragt wird. Danach wird das Spannungsfeld zwischen Norm und Gebrauch bei den beratenden Experten und bei den Fragenden analysiert, indem einige Fragen und Antworten exemplarisch untersucht werden, und schließlich werden ein Profil der Benutzer solcher Sprachberatungsangebote sowie Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Diensten skizziert. 1 Die Sprachberatungsdienste von Treccani und von der Accademia della Crusca Das Angebot auf der Webseite des italienischen Verlags Treccani 6 ist gut erreichbar unter dem Punkt Lingua italiana , 7 Rubrik Domande e risposte . Diese ist untergliedert in Ultime domande - zu denen man im Normalfall hingelangt -, Grammatica , Lessico und Varie . Die hohe Anzahl an Fragen zu lexikalischen den auch die neu veröffentlichten Sprachberatungsbeiträge angekündigt. Diese Dienste werden demzufolge nicht Gegenstand der vorliegenden Analyse sein. 5 Bei der Accademia della Crusca ist einer der ältesten Sprachberatungsdienste Italiens angesiedelt. Diese beriet schon Ende des 19. Jhs. das - zahlenmäßig noch äußerst kleine italo- und nicht (nur) dialektophone - Publikum in lexikalischen Fragen. Seit dem Jahr 1990 bietet die Crusca mit der halbjährlich erscheinenden Zeitschrift La Crusca per voi und vor allem mit der darin enthaltenen Rubrik La Crusca risponde eine öffentliche Sprachberatung an, die offen für breitere Teile der Gesellschaft ist, und aus der bereits zwei Sammlungen der interessantesten Fragen und Antworten in Buchform hervorgingen. Diese Rubrik verstand sich zunächst als „conversante consulenza col sempre più vasto e vario pubblico che s’interessa della lingua nazionale e rivela il formarsi di una diffusa coscienza linguistica che nei secoli passati è stato appannaggio dei ceti colti e letterati“ (Nencioni 1995b, 5), während sie achtzehn Jahre später als eine „occasione straordinaria, da una parte, di mettere a disposizione di chi ne sente l’esigenza le proprie competenze, dall’altra, di trarre dai quesiti posti importanti stimoli di riflessione e approfondimento intorno a questioni di grande attualità“ (Maraschio 2013, 5) dargestellt wurde. Exemplarische Analysen der Fragen (und teils Antworten) aus dieser Rubrik finden sich in Fesenmeier (1995), Ernst (1998, 2002, 110-111), Schmitt (2001, 468-482), Serianni ( 7 2009, 47-54), Tassone (2015). 6 http: / / www.treccani.it (wenn nicht anders angegeben, wurden die Links Ende Januar 2016 zuletzt überprüft). 7 Unter diesem Punkt werden auch die Rubriken Neologismi , Sinonimi Regionali , Speciali , Notiziario , Da Leggere und Articoli angezeigt. Bei einem Restyling der Seite im Sommer 2017 wurde die Rubrik Sinonimi Regionali durch die Rubrik Speciali ersetzt. <?page no="303"?> Themen (471 8 ) beim Sprachberatungsdienst des großen lexikographischen und enzyklopädischen Verlags überrascht nicht. Allerdings stellt die Kategorie Grammatica , in der aber nicht nur Probleme der Grammatik im engeren Sinne (Morphologie, Morphosyntax und Syntax), sondern durchaus auch textuellpragmatische, stilistische und soziolinguistische Themen behandelt werden, überraschenderweise insgesamt den Großteil der Fragen (948). Die kleine Restkategorie Varie umfasst dagegen nur 33 Fragen zu unterschiedlichen Sprachthemen (von Transliterationssystemen für nicht lateinische Alphabete bis hin zu onomastischen Fragen). Die genannte Untergliederung erfolgt nachträglich, denn über die Anfragemaske unter dem Punkt Fai una domanda ist es dem Fragesteller nicht möglich, eine Unterkategorie auszuwählen. Die Anfragemaske besteht aus den drei Pflichtfeldern Nome , Cognome und Email sowie aus dem Textfeld für die Frage, welche jedoch auch als Anhang weitergeleitet werden kann, worauf explizit hingewiesen wird. Auf der Webseite finden sich keine Erläuterungen zum Sprachberatungsdienst; auf der Anfragemaske findet man lediglich folgenden Hinweis: „Invia una domanda sulla Lingua Italiana alla redazione di Treccani. Ti risponderemo il prima possibile, compatibilmente con le attività del portale“. 9 Auch der Sprachberatungsdienst der Accademia della Crusca ist hierarchisch dem Punkt Lingua italiana 10 untergeordnet, ist aber auf der Homepage der Akademie auch über eine prominent auf der linken Seite platzierte Verlinkung Consulenza linguistica: Le risposte ai dubbi sull’italiano erreichbar. Zahlreiche Informationen über den Dienst werden angeboten, welche eine bessere Einordnung desselben ermöglichen: L’Accademia della Crusca mette a disposizione del largo pubblico un servizio di consulenza rivolto a tutti coloro che cercano informazioni e chiarimenti grammaticali e lessicali, spiegazioni di fenomeni linguistici, origine e storia delle parole. Una redazione composta da linguisti esamina i quesiti, che arrivano con una media di circa venti al giorno, e sceglie a quali rispondere, in base alla ricorrenza e all’interesse diffuso; le risposte pubblicate sulle pagine del sito sono solitamente strutturate in modo da ricostruire la storia dei fenomeni e da motivarne e documentarne l’evoluzione. Sono affrontate anche questioni di rilevanza generale, indipendentemente dalla quantità delle richieste pervenute, con l’intento di sollecitare la riflessione su alcuni tratti salienti 8 Diese und die folgenden Frageanzahlen wurden am 26. 01. 2016 erhoben. 9 http: / / www.treccani.it/ lingua_italiana/ domande_e_risposte/ fai_una_domanda/ . Im August 2017, als die Links erneut überprüft werden sollten, war diese Seite leider nicht erreichbar. 10 Unter welchem auch die Rubriken Parole nuove , Stazione bibliografica , L’Articolo und Il Tema zu finden sind. Online-Sprachberatungsdienste der Accademia della Crusca und von Treccani 303 <?page no="304"?> 304 Luca Melchior (Graz) dell’italiano attuale. In questa prospettiva, i contributi intendono fornire, oltre alla possibile soluzione del quesito, strumenti per orientarsi in modo critico nell’affrontare problemi e fenomeni che coinvolgono allo stesso tempo l’evoluzione linguistica e culturale. Questo lavoro, ormai più che decennale, ha prodotto un archivio di risposte (si contano ormai a centinaia) che aumentano progressivamente con la cadenza di una alla settimana. 11 Es werden auch Hinweise gegeben, wie die Seite durchsuchbar ist und damit die Artikel zu den behandelten Themen erreichbar sind. Bei der Crusca ist - anders als bei Treccani - eine Volltextsuche möglich 12 und es wird auf die Tradition der Sprachberatung bei der Akademie hingewiesen, die auf einer verlinkten, untergeordneten Seite kurz dargestellt wird. Die Betätigung des Buttons Risposte ai quesiti führt zum Unterpunkt Domande ricorrenti e risposte ai quesiti , unter dem die Anzahl der nachzuschlagenden Antworten angegeben wird und diese dann einfach untereinander ohne thematische Untergliederung aufgelistet werden. Die Anfragemaske, die über den Button Poni un quesito erreichbar ist, ist komplexer als beim Dienst von Treccani : Verpflichtend ist die Angabe von Vornamen und Namen, Wohnort, 13 die Frage und ein Titel für diese. 14 Optional sind weitere persönliche Angaben wie genaue Anschrift und Telefonnummer sowie das Textfeld Ulteriori informazioni . 15 Schließlich wird über einen Unterpunkt eine 11 Vgl. auch Biffi (2013, 198). Die veröffentlichten Antworten stellen daher nur einen sehr kleinen Prozentsatz der insgesamt gestellten Fragen - in den meisten Fällen werden die Fragesteller direkt kontaktiert oder, wie explizit angegeben, ähnliche Fragen gesammelt. 12 Ein Wordle mit den am häufigsten gesuchten Begriffen am rechten Rand der Seite dient der groben Orientierung - möglicherweise aber auch der Konditionierung - bei der Suche. 13 „Nel modello elettronico di richiesta è previsto che l’utente indichi la sua città di origine, perché questo consente al linguista di avere indicazioni sull’eventuale origine locale di un dato fenomeno“ (Biffi 2013, 199). In Wirklichkeit wird bei der Angabe “Località” vermutlich der Wohnort angegeben, der nicht zwingendermaßen der regionalen (sprachlichen) Herkunft der Fragesteller entspricht. 14 Wenn Titel das „principale elemento di accompagnamento“ (Weinrich 2001, 49) nicht nur literarischer, wissenschaftlicher oder journalistischer, sondern allgemein schriftlicher Texte darstellen, also das wichtigste paratextuelle Element, und wenn sie - mit Ausnahme vielleicht der wissenschaftlichen Texte - als „alla stregua di un exordium , strumento per la cattura dell’attenzione e della ‚benevolenza‘ dell’uditorio, con una funzione dunque tipicamente fatica, ma anche con un obiettivo concreto e immediato: spingere a proseguire la lettura“ (Santulli 2015, 61) betrachtet werden, kann man sich - wie zu Recht in der Diskussion des mündlichen Vortrags vom Publikum angemerkt - fragen, ob die Tatsache, dass ein Titel erforderlich ist, einige potenzielle Fragesteller abschrecken kann. Vor allem bei komplexen Fragen bzw. Themen könnten sich einige Fragesteller davon überfordert fühlen, einen konzisen und doch treffenden Titel zu formulieren. 15 Unklar ist jedoch, was in dieses Feld eingetragen werden kann. Die Informationen, die auf der Anfragemaske eingegeben werden, werden nicht veröffentlicht. Nur Name und <?page no="305"?> Referenzbibliographie zur Verfügung gestellt, in der allgemeine Nachschlagewerke sowie Publikationen zu spezifischen Themen aufgelistet sind. 16 Abbildung 1: Die Eingabemasken der Beratungsdienste der Accademia della Crusca und des Verlags Treccani . Unterschiede zeigen sich auch in der Auflistung der Fragen und Antworten auf den Webseiten: Bei der Crusca werden nur kurze, zusammenfassende, Aufmerksamkeit weckende Titel visualisiert, welche den Leser dazu ermuntern, den Text weiter zu lesen. Beim Sprachberatungsdienst von Treccani hingegen wird der gesamte Text der Frage, dessen Länge und Ausführlichkeit stark variieren kann, in der Preview gezeigt, so dass nicht immer auf den ersten Blick klar und ohne eingehende Lektüre ersichtlich ist, welche Sujets behandelt werden. Dies hängt damit zusammen, dass die Texte, die beim Sprachberatungsdienst der Crusca veröffentlicht werden, in der Regel Themen betreffen, die ein breites Publikum interessieren und zu denen mehrere Anfragen geschickt wurden. Daher handelt es sich bei den Titeln nicht um die, die die Fragesteller ihren Fragen vorangestellt Wohnort der Fragesteller werden hin und wieder genannt, wenn bei der Beantwortung auf sie persönlich Bezug genommen wird. 16 Es handelt sich dabei nicht um die Texte, die bei den Antworten zitiert werden, denn diese sind in der Regel als Bibliographie im einzelnen Artikel angeführt. Online-Sprachberatungsdienste der Accademia della Crusca und von Treccani 305 <?page no="306"?> 306 Luca Melchior (Graz) haben (die nicht rekonstruierbar sind), sondern um resümierende Titel, die von den mit der Beantwortung beauftragten Crusca -Mitarbeitern gegeben werden. 17 Bei Treccani wird offensichtlich auf die einzelnen Fragen eingegangen, wie auch unten noch erläutert wird. Bei der Crusca werden die Artikel von den bearbeitenden Expertinnen und Experten signiert und sie beinhalten eine Bibliographie der in der Abhandlung genannten Werke. Beide Angaben fehlen dagegen bei Treccani . 2 Fragen und Antworten: Die Sprachberatungsdienste der Crusca und von Treccani im Vergleich 2.1 Die Consulenza linguistica der Accademia della Crusca 2.1.1 Allgemeines Das Spektrum von Themen, die auf der Homepage des Sprachberatungsdienstes der Crusca behandelt werden, ist äußerst breit gefächert. Wie oben bereits erwähnt, erfolgt bei diesem Sprachberatungsdienst keine Unterteilung nach linguistischen Bereichen, jedoch genügt ein Blick auf die Domande ricorrenti e risposte ai quesiti , die online veröffentlicht wurden (520 insgesamt am 26. 01. 2016), um die Vielseitigkeit der individuellen Interessen und „Zweifelsfälle“, die darin behandelt werden, zu erkennen. 18 Sämtliche sprachliche Beschreibungsebenen, von der Phonologie und Orthoepie bis hin zum Lexikon, 19 von der Morphologie 20 17 Biffi (2013, 199-200) erklärt, dass einfache Fragen persönlich via E-Mail beantwortet werden, während „[q]uando invece l’argomento sia di particolare interesse, o perché tocca alcuni settori ‚in movimento‘ o ‚difficili‘ della nostra lingua, o perché è evidenziato da molte persone, la redazione prepara una risposta più articolata da pubblicare sul sito (nella sezione delle ‚Domande ricorrenti‘ o in quella delle ‚Risposte ai quesiti‘, con una cadenza settimanale), o anche su‚ La Crusca per voi‘“. Im Falle, dass Nutzer Fragen stellen, deren Beantwortung auf der Webseite schon veröffentlicht wurde, wird diesen per E-Mail der Link zum entsprechenden Antworttext mitgeteilt. 18 Denn es handelt sich - anders als es in Sprachchroniken bzw. in Leserbriefen oder Sprachforen teilweise der Fall ist - nicht um Klagen über den vermeintlichen Verfall der Sprache - selbst wenn teilweise auch Werturteile dieser Art angedeutet werden -, sondern um Fragen, die aus der Reflexion über Sprache und vor allem über Sprachgebrauch entstehen. 19 Auch hier sind die behandelten Themen sehr heterogen: Von einfachen Fragen zum Bedeutungsspektrum von Lexemen und Resemantisierungen über etymologische und wortgeschichtliche Probleme bis hin zu Fragen über diatopische, diastratische und diaphasische Variation (und eventueller entsprechender Markierungen), Neologismen, Dialektismen, Xenismen und Synonymie. 20 Das Themenspektrum reicht u. a. vom Genus von Substantiven (z. B. bei Xenismen) bis hin zu Fragen zu Flexion und Wortbildung. <?page no="307"?> bis hin zur Syntax 21 und zu soziolinguistischen, textuellen und pragmatischen Themen, werden besprochen. 22 Aus den Fragen, in denen in der Regel feine Nuancen der Sprache und des Sprachgebrauchs behandelt werden, geht hervor, dass die Fragesteller ein hohes Sprachbewusstsein und ausgeprägte language awareness aufweisen: Sie setzen sich kritisch, aber nicht puristisch mit der Sprache und ihrer Entwicklung auseinander; 23 sie hinterfragen teils komplexe Themen im Spannungsfeld zwischen Richtnorm und Gebrauch. In der folgenden - notwendigerweise exemplarischen und nicht repräsentativen - Analyse werden einige Beispiele aus dem (breit gefassten) Bereich des Lexikons dargestellt, der für die Sprecher besonders relevant zu sein scheint. 24 2.1.2 Exemplarische Analyse Die erste Frage, die hier vorgestellt wird, trägt den Titel „Un piccolo dilemma: il o lo jihadista? “ 25 und ist, auch wenn der Artikel zum Lexikon gerechnet wird, eigentlich morphosyntaktischer Natur. Es geht um die Wahl des richtigen Allo- 21 Der Bogen der veröffentlichten Fragen und Antworten spannt sich von der Rektion und Valenz von Verben bis hin zum Gebrauch von Präpositionen, Konjunktionen, Präpositionalfügungen usw. 22 Bei der Crusca finden sich (auch im Vergleich zur Sprachberatung bei Treccani ) selten Fragen, die die Orthographie betreffen - also einen Bereich, in dem „starke Regeln“ (vgl. u. a. Takahashi 2 2006, 175) gelten. Dies hängt vermutlich weniger mit den unterschiedlichen Interessen des Publikums der beiden Sprachberatungsdienste, sondern mit der Auswahl der zu veröffentlichenden Beiträge auf der Homepage der Crusca durch die Redaktion zusammen. 23 Klein (2003, 8) stellt fest, dass „Zweifelsfälle […] immer mit einem, wenn auch nur rudimentären, metasprachlichen Bewusstsein verbunden [sind]“. Die Fragesteller beim Sprachberatungsdienst der Accademia della Crusca zeigen in der Regel ein hohes metasprachliches Bewusstsein. Fesenmeier (1995, 40) schrieb dazu: „Die dritte und umfangreichste Gruppe schließlich bilden die Anfragen von Sprechern, die man schlicht als ‚feinsinnige Praktiker der Lebenswelt‘ (Gauger 1994, 3) bezeichnen kann. Sie sind im Rahmen ihres täglichen, aber nicht notwendig alltäglichen Umgangs mit Sprache auf Unklarheiten und Unsicherheiten gestoßen, die sie geklärt sehen möchten“, zu den von ihnen erwarteten Antworten präzisiert er weiter: „Bei Interessenten der dritten Gruppe verhält es sich recht unterschiedlich, d. h. hier sind sowohl Fragen ohne als auch mit Orientierung auf eine ‚Regel‘ anzutreffen […]. Interessant ist insgesamt, daß für viele Sprecher das Sichan-den-Fachmann-Wenden eine Art ultima ratio darstellt, auf die man erst nach der Konsultation von Grammatiken und Wörterbüchern zurückgreift […]“ (Fesenmeier 1995, 41-42). 24 Vgl. die Analysen in Tassone (2015), welche für die Zeitschrift La Crusca risponde feststellt: „ciò che di nuovo emerge è un incremento dei quesiti che riguardano il lessico“ (Tassone 2015, 149). 25 http: / / www.accademiadellacrusca.it/ it/ lingua-italiana/ consulenza-linguistica/ domanderisposte/ piccolo-dilemma-jihadista (26. 01. 2016). Vgl. auch die Anfragen bezüglich des definiten Artikels bei walkman und bei Lexemen mit Halbvokalen bzw. mit stimmlosen Online-Sprachberatungsdienste der Accademia della Crusca und von Treccani 307 <?page no="308"?> 308 Luca Melchior (Graz) morphs des bestimmten Artikels bei der betreffenden Entlehnung. Die mit der Bearbeitung betraute Linguistin (Vera Gheno) führt zur Beantwortung lexikologische Argumente an - insbesondere bezüglich der phonetischen Realisierung von Fremdwörtern, was unter Umständen zur Einordnung in die Kategorie Lexikon geführt hat. Quesito: Una domanda che molti nostri utenti hanno inviato al servizio di Consulenza linguistica riguarda l’articolo da impiegare con il termine jihadista : il o lo ? I o gli ? Quale principio ci deve guidare nella scelta? Das Spannungsverhältnis zwischen normativen Regeln und Gebrauch wird in der Antwort evident und auf interessante Weise gelöst. In der komplexen Argumentation wird zunächst einmal die Aussprache des Wortes, nach der sich die Artikelwahl richten soll, diskutiert. Dabei nimmt die Autorin zwar Bezug auf normative Werke, verweist aber schlussendlich auf den Sprachgebrauch: Per quanto riguarda la pronuncia di jihad , in arabo si trovano attestazioni sia di quella con la j iniziale fricativa alveolare sonora , [ʒ] (il suono della seconda g di garage e della j di abat-jour ), la h udibile e la a molto vicina a una e aperta: all’incirca [ʒihèd], sia quella con l’iniziale affricata postalveolare sonora , indicata in alfabeto fonetico internazionale con [d͡ʒ], ovvero la g di gioco o gioia (per alcuni esempi di pronuncia, sia in arabo sia in altre lingue, cfr. http: / / it.forvo.com/ word/ jihad/ #ar) . Questa parola, che è, per ovvie ragioni, molto diffusa nel mondo, viene pronunciata in modi lievemente differenti a seconda della lingua in cui si è acclimatata: in inglese, per esempio, è in linea di massima pronunciata con la j affricata postalveolare sonora (come jolly ) . Il DOP , Dizionario di Ortografia e Pronunzia , cita per l’italiano una pronuncia semplificata, più vicina alla grafia e alle norme fonetiche dell’italiano: [giàd], dato che il suono ʒ in italiano non esiste a inizio parola, la h di norma non è udibile e la pronuncia solitamente ricalca la grafia. La documentata esistenza di pronunce diverse, soprattutto per quello che riguarda la lettera iniziale ([ʒ] o [d͡ʒ]), si trasmette anche al derivato italiano jihadista , con conseguenti incertezze nella scelta dell’articolo: pronunciando [ʒ], viene da accostare il suono al corrispondente sordo esistente in italiano, [ʃ], scegliendo, di conseguenglottalen Frikativ im Anlaut in einer der ersten Ausgaben der Zeitschrift La Crusca per voi (abgedruckt in Nencioni 1995a, 203-204, angesprochen auch in Tassone 2015, 139). <?page no="309"?> za, lo / gli (come faremmo per lo sciocco / gli sciamani ); se si pronuncia [d͡ʒ], invece, si tenderà a scegliere il / lo (come per il gioco / i gelosi ). Detto questo, in italiano esiste già una pronuncia (e di conseguenza una scelta dell’articolo) più diffusa. Un controllo su Google permette di verificare che il jihadista si impone di quasi dieci volte su lo jihadista : 38.700 risultati contro 4.370 in contesti italiani, mentre i jihadisti compare 367.000 volte contro le 78.700 volte di gli jihadisti . Consultando gli archivi dei quotidiani, su „Repubblica“ troviamo 59 risultati per il jihadista e 9 per lo jihadista , 959 risultati per i jihadisti e 201 per gli jihadisti ; sul „Corriere della Sera“ il vince su lo 17 a 0 e i su gli 268 a 17; l’uso più comune, dunque, è chiaro. In der komplexen Argumentationsführung ist zwar der Versuch zu finden, die von den Fragestellern erwünschten „Prinzipien“ darzustellen, die Autorin spricht jedoch weder der einen noch der anderen Form die Legitimität ab: Weder die präskriptive Norm noch die Frequenz müssen als Anhaltspunkte für eine Regel betrachtet werden: La forma prevalente, insomma, è ben riconoscibile, e per chiarezza comunicativa potrebbe essere opportuno adeguarvisi: il jihadista / i jihadisti. Ciononostante, considerata la possibile pronuncia del termine nella sua lingua di provenienza e in altre lingue del mondo in cui la parola di [sic] è diffusa, come in francese, è senz’altro ammissibile anche l’altra soluzione ( lo jihadista / gli jihadisti ). È un uso, quindi, nei confronti del quale possiamo dimostrarci particolarmente tolleranti: l’importante, ancora una volta, è operare una scelta chiara ed evitare l’alternanza di forme diverse all’interno dello stesso testo. Die aus der gerade vorgestellten Antwort hervorgehende Offenheit zeigt sich auch in anderen Fällen. So z. B. bezüglich des Neologismus microondabile in einer Antwort derselben Expertin. 26 Dieses scheint bei den Sprechern Perplexität bis Ablehnung hervorzurufen: La sua introduzione non è passata sotto silenzio e ha sollevato da più parti commenti perplessi. Generalmente, tra coloro che hanno rilevato il neologismo, la domanda più comune riguarda la necessità o meno di usare tale termine. Altri si lamentano della sua „bruttezza“; Beppe Severgnini lo ha definito „talmente brutto da diventare interessante“. Die Expertin geht weiter auf die Werturteile der Sprecher ein, betont aber, dass diese „ai fini dell’affermazione di una nuova parola“ irrelevant sind. Danach zeichnet sie die Bildung des Wortes aus morphologischer Perspektive nach, 26 http: / / www.accademiadellacrusca.it/ it/ lingua-italiana/ consulenza-linguistica/ domanderisposte/ aggettivo-molte-perplessit-microondabile (26. 01. 16). Online-Sprachberatungsdienste der Accademia della Crusca und von Treccani 309 <?page no="310"?> 310 Luca Melchior (Graz) indem sie die Produktivität und Normkonformität von deverbalen Adjektiven mit dem Suffix - abile , jedoch auch das Fehlen eine Verbs * microondare im Italienischen betont. 27 Aus pragmatischer Sicht streicht sie die Expressivität und Prägnanz des Neologismus heraus, welcher funktional zum Stil der Werbesprache zu gehören scheint, in der er am häufigsten belegt ist. Schließlich versucht sie, die Wege auf denen das Adjektiv Eingang ins Italienische gefunden hat, worthistorisch nachzuzeichnen, indem sie die These einer Entlehnung aus dem Französischen, in dem eine ähnliche Form länger belegt ist, aufstellt, da die ersten Verwendungsbeispiele im Italienischen in der Werbekampagne einer französischen Lebensmittelfirma zu finden sind. Bei der ausführlichen Erläuterung der genannten Aspekte behält die Linguistin stets eine neutrale Haltung, und schließt wie folgt: Per concludere: al di là della percepita bellezza o bruttezza del termine, la parola attende l’avallo degli italofoni, come tutti i neologismi; il suo destino verrà deciso non da un ente, non da un’istituzione ma dagli utenti della nostra lingua, e il suo ingresso nei dizionari non potrà che essere conseguenza di questa eventuale accettazione. Zwei Kriterien werden in der Regel zu Rate gezogen, um über die Adäquatheit eines Lexems zu urteilen: Die Wohlgeformtheit und die Tatsache, dass es in irgendeiner Form belegt ist. Darüber hinaus spielt die Tatsache eine Rolle, ob durch das besprochene Element eine lexikalische Lücke gefüllt wird bzw. ob es sich mit einer anderen semantisch-pragmatischen Nuance in eine Wortfamilie eingliedern lässt - und ihm damit Funktionalität zukommt. Dies zeigt sich z. B. im Falle vom Substantiv soddisfo ‘Erfüllung, (Schulden-)Tilgung’: 28 Das Wort - das laut den Bearbeiterinnen des Antwortartikels Angela Frati und Stefania Iannizzotto „risulta però attestato dalla metà dell’Ottocento in alcune raccolte di leggi“, selbst wenn nicht lexikographisch erfasst und schon im 19. Jahrhundert kritisiert - sei eine regelkonforme Konversion. In Rechts- und Wirtschaftstexten werde das Wort „usato dunque come sinonimo di ‘adempimento, estinzione di un debito’, e quindi ‘pagamento’, significato settoriale che condivide con soddisfacimento e soddisfazione “; in Anbetracht der Tatsache aber, dass nell’italiano contemporaneo il suffisso -mento tende a regredire in favore di -zione , che la parola soddisfazione è sempre più impiegata nel significato di ‘compiacimento’ 27 Vermutlich stößt das Adjektiv aufgrund dieser Abweichung im Derivationsprozess auf den Widerstand der Sprecher. 28 In diesem Fall werden der Name der Fragestellerin sowie der Originaltext dieser direkt zitiert: „Sabine Demattia da Fiumicino ci chiede: ‚È possibile dire: ritenute Irpef necessarie al soddisfo dei rimborsi ? Io avrei usato soddisfacimento dei rimborsi ‘“ (http: / / www. accademiadellacrusca.it/ it/ lingua-italiana/ consulenza-linguistica/ domande-risposte/ deverbale-suffisso-zero-soddisfo-0). <?page no="311"?> e che soddisfo risponde forse a quelle esigenze di brevità e velocità tipiche della lingua burocratica, bescheinigen die Autorinnen dem Wort durchaus Legitimität. Ähnlich wird im vergleichbaren Fall von sconsiglio 29 - von einer der Fragestellerinnen als „obbrobrio lessicale“ gebrandmarkt - argumentiert: Il termine si è probabilmente diffuso per almeno due motivi: per la sua efficacia e sinteticità - caratteristiche necessarie e per questo ricercate e apprezzate nel linguaggio giornalistico - e per l’esigenza „grammaticale“ di colmare un vuoto lessicale […]. Dunque, per rispondere alla nostra lettrice, bisognerà aggiornarsi. 30 Es lässt sich eine gemeinhin offene Haltung der bearbeitenden Sprachwissenschaftler gegenüber Neologismen feststellen, so z. B. auch im Fall vom Verb impiattare , ein Neologismus, der in den letzten Jahren durch seine Verwendung hauptsächlich in Fernsehkochsendungen eine gewisse Verbreitung gefunden hat, jedoch auf Ablehnung durch die Sprecher zu stoßen scheint. 31 Das Lexem, erläutern die Linguistinnen Irene Pompeo und Benedetta Salvi, sei zwar erst in jüngerer Zeit lexikographisch erfasst worden (und habe dabei rasch die anfängliche Markierung als „non comune“ verloren), da vereinzelte Belege jedoch schon in den 1970er Jahren zu finden seien, sei seine Entstehung „indipendente dalla diffusione dei programmi televisivi, i quali tuttavia hanno senza dubbio contribuito in maniera decisiva a rendere comune un termine settoriale, funzio- 29 http: / / www.accademiadellacrusca.it/ it/ lingua-italiana/ consulenza-linguistica/ domanderisposte/ sconsiglio-si-pu-consigliare. 30 Anders verhält es sich beim oberflächlich betrachtet ähnlich erscheinenden Fall des Substantivs continuo in der Bedeutung ‘continuazione’. Hier raten die zwei Linguistinnen davon ab, das in den letzten Jahren immer häufiger belegte, aber als „superfluo“ empfundene Wort zu verwenden: „Occorre chiedersi se continuo sia davvero necessario: il fatto che si tratti di una parola più corta sarà sufficiente per la sua affermazione? Continuo rappresenta un doppione di continuazione, che ha già una ricca serie di sinonimi concorrenti (proseguimento, prosieguo, prosecuzione, seguito ecc.), e questo rende il termine forse superfluo; inoltre potrebbe creare ambiguità il fatto che il nuovo deverbale continuo ‘seguito, proseguimento’ abbia la stessa forma del sostantivo continuo ‘ciò che ha continuità’. Non è semplice fare una previsione sul destino di un termine simile, occorrerà continuare a monitorarlo e a seguire le vicende del suo acclimatamento nel tessuto linguistico italiano contemporaneo. Per il momento, è meglio… continuare a usare al suo posto continuazione“ (http: / / www.accademiadellacrusca.it/ en/ italian-language/ language-consulting/ questions-answers/ continuo-questione). Der Unterschied liegt in der Tat u. a. darin, dass während in diesem Fall durchaus lexikalische Alternativen zum Neologismus existieren, in den beiden anderen der Neologismus eine lexikalische Lücke schließt bzw. eine leicht andere Semantik als die konkurrierenden Alternativen hat. 31 http: / / www.accademiadellacrusca.it/ it/ lingua-italiana/ consulenza-linguistica/ domanderisposte/ risposta-impiattata. Online-Sprachberatungsdienste der Accademia della Crusca und von Treccani 311 <?page no="312"?> 312 Luca Melchior (Graz) nando da amplificatori“. Seine Bildung sei regelkonform und „[l]a prevalenza dell’uso di un’unica forma verbale per sostituire le forme perifrastiche ( disporre , mettere , adagiare , posizionare nel / sul piatto ) è […] congeniale alle necessità di immediatezza e di efficacia comunicativa proprie del mezzo televisivo“. Daher empfehlen die zwei Linguistinnen: Concludendo, per rispondere a chi si chiede se sia giusto accettare questa parola nella nostra lingua, evitando di entrare nel merito del gusto personale ci limitiamo a constatare che si tratta di una formazione corretta e analoga, come abbiamo detto, a molte altre dell’italiano; la diffusione piuttosto ampia e l’accoglimento nei dizionari più recenti confermano inoltre la sua crescente vitalità. Bemerkenswert für die Argumentationsführung und bezeichnend für die Offenheit gegenüber den Änderungen und Neuerungen in der Sprache ist die Tatsache, dass die Aufnahme ins Wörterbuch lediglich als Zeichen für die wachsende Vitalität des Neologismus angeführt wird, während Kriterien wie Korrektheit erst gar nicht ins Spiel gebracht werden. 32 Die Expertinnen und Experten der Crusca lassen hier eine rein deskriptive, von normativen oder sogar puristischen Vorstellungen weit entfernte Einstellung zur Sprache durchscheinen. 33 32 Zu Recht warnte Sgroi (2010, 80) davor, dass für den Sprecher „[s]e il Vocabolario non conferma un certo uso o perché tale uso è esplicitamente sanzionato (cioè condannato) o perché è omesso (cioè è implicitamente censurato), la ‚logica conseguenza‘ da trarre è che tale uso è ‚errato‘“. Der Verweis, dass die Eintragung ins Wörterbuch nur ein Beleg der Vitalität des Gebrauchs ist, ist ein impliziter Hinweis für den Fragesteller, das Wörterbuch eben nicht als Instanz der Korrektheit zu betrachten. 33 Dies zeigt sich in zahlreichen anderen Fällen auch. Man betrachte z. B. den Fall von svapare ‘vapen, eine E-Zigarette rauchen’ (http: / / www.accademiadellacrusca.it/ it/ lingua-italiana/ consulenza-linguistica/ domande-risposte/ alcune-considerazioni-svapare), bei dem der Erfolg des Wortes von der Linguistin Vera Gheno nur mit der Verbreitung der damit beschriebenen außersprachlichen Realität in Verbindung gesetzt wird: „Possiamo ipotizzare che la necessità di distinguere il fumare dal ‚fumare una sigaretta elettronica‘, la scomodità di usare un’espressione descrittiva come ‚sto fumando una sigaretta elettronica‘, l’influsso dell’agile verbo inglese to vape e l’esistenza di termini similari precedenti, usati a livello gergale per l’atto di fumare una sigaretta e della sigaretta in sé, abbiano insieme concorso alla diffusione di svapare accanto al più ‚scontato‘ e meno specializzato svaporare […]. Adesso rimane da vedere se il verbo attecchirà, considerato anche che il fenomeno delle ‚svapo‘ sembra già in contrazione: nell’estate del 2013 si è iniziato a regolamentare il settore con nuove leggi, e, in particolare, le svapo sarebbero state equiparate alle sigarette tradizionali, gravate, quindi, dalla stessa tassazione. Questo ha portato all’immediata chiusura di molti negozi di articoli per svapatori, e sussiste il concreto rischio che tutto il settore… svàpori (o svapóri ) senza lasciare traccia […]”, oder den Fall von whatsappare (http: / / www.accademiadellacrusca.it/ it/ lingua-italiana/ consulenza-linguistica/ domanderisposte/ whatsappiamo), bei dem vom Crusca -Mitarbeiter Stefano Olmastroni ähnlich argumentiert wird. In der Diskussion nach dem mündlichen Vortrag wurde ich jedoch auf den Fall von scansionare / scannerizzare aufmerksam gemacht mit dem Hinweis, dass <?page no="313"?> Nicht nur die Verwendung von Xenismen und Neologismen wird von den Nutzern des Sprachberatungsangebots kritisch hinterfragt, sondern auch der Gebrauch von sprachlichen Elementen, die als regional bzw. dialektal markiert empfunden werden. Exemplarisch für die Behandlung solcher Anfragen sei hier der Fall von parrucchieria ‘Friseurtätigkeit’ und ‘Friseurladen’ vorgestellt: Sono molte le persone che, da varie parti d’Italia, ci chiedono se si possa usare il termine parrucchieria per indicare l’attività e il negozio del parrucchiere. Qualcuno ci segnala la diffusione del termine nel sud della penisola, in particolare in Sicilia (da cui proviene oltre la metà delle richieste) e ci chiede se possa trattarsi di una forma regionale. 34 sich bei der Behandlung der entsprechenden Frage deutlich weniger Toleranz zeige. Zum besagten Neologismus finden sich auf der Webseite des Sprachdienstes der Crusca zwei Artikel, einer aus dem Jahr 2002 (nicht signiert) und einer vom Mai 2015. Beide zeigen in Wirklichkeit eine sehr hohe Offenheit gegenüber Neologismen und Xenismen sowie der lexikalischen Variation. So wird im ersten Artikel (http: / / www.accademiadellacrusca. it/ it/ lingua-italiana/ consulenza-linguistica/ domande-risposte/ scannare-scannerizzarescansionare) zwar auf die Behandlung der Frage nach Xenismen im technischen Bereich durch Nencioni in der Ausgabe 9 (1994) der Zeitschrift La Crusca per voi (auch in Nencioni 1995a, 212-213) hingewiesen und daraus zitiert: „‚… Ovviamente in ambienti tecnici, e dove non ci sia perfetta coincidenza semantica, il forestierismo è, oltre che lecito, necessario. Ma fuori dall’uso strettamente tecnico e della comunicazione informatica, che per la sua fulmineità ed universalità esige una lingua unica, senza l’impaccio e il possibile equivoco della traduzione, assumere, oltre tutto, una parvenza di tecnici ostentando termini inglesi non mi pare neppure cosa di buon gusto; quando invece i veri tecnici tendono, in ambiente italiano, a italianizzare alla meglio gli stessi anglismi, formando ibridi come softuerista , softuerizzare , scannerizzare , formattare , che sono tuttavia segno di una buona coscienza linguistica, queste formazioni possono essere accolte‘“; die Argumentation wird aber wie folgt fortgesetzt: „La riflessione di Nencioni appare ormai acquisita dai più recenti dizionari che registrano queste forme, come il Grande Dizionario Italiano dell’uso curato da Tullio De Mauro in cui si trovano, con la stessa accezione di ‘acquisire le immagini attraverso lo scanner’, scandire , scannare , scannerare , scannerizzare , e anche eseguire una scansione (e scansionare , termine non contenuto nel De Mauro ma molto usato) e il forestierismo puro scanning. Quindi massima libertà di scelta“. Im zweiten Artikel (http: / / www.accademiadellacrusca.it/ it/ lingua-italiana/ consulenza-linguistica/ domande-risposte/ cosa-si-fa-oggi-scanner), geht die Bearbeiterin Matilde Paoli erneut auf die Frage ein und stellt einfach fest - aufgrund von lexikographischen Analysen und einer Recherche mittels der Suchmaschine google , dass von den im Jahr 2002 genannten Alternativen „[ s ] cansionare dunque, almeno per la rete, si mostra come il concorrente più accreditato di scannerizzare che resta comunque, anche per la lessicografia, il favorito“. Auch hier zeigt die Bearbeiterin eine neutrale und offene Haltung. 34 http: / / www.accademiadellacrusca.it/ it/ lingua-italiana/ consulenza-linguistica/ domanderisposte/ farsi-belli-parrucchieria. Online-Sprachberatungsdienste der Accademia della Crusca und von Treccani 313 <?page no="314"?> 314 Luca Melchior (Graz) Für die Beantwortung der Frage werden von der Bearbeiterin Matilde Paoli unterschiedliche Quellen zu Rate gezogen: lexikographische Nachweise, welche die Erfassung des Wortes mit diesem Bedeutungsspektrum oder mit anderen Bedeutungen belegen, Beispiele der Verwendung sowohl in literarischen Texten von Autoren unterschiedlicher regionaler Herkunft als auch in lokalen Zeitungen und im Bereich der bürokratisch-administrativen Sprache sowie die Analyse der Treffer in den Gelben Seiten. All diese Quellen zeigen zwar eine überregionale Verbreitung des Wortes, jedoch auch ein höheres Aufkommen in den mittelitalienischen Regionen Umbrien und Marken und auf Sizilien. Aufgrund dieser Daten schlussfolgert die Autorin: Proprio in considerazione della vitalità del procedimento di derivazione e della (quasi) perfetta coerenza con il sistema morfologico dell’italiano resta difficile fare affermazioni a proposito dell’origine regionale del termine; possiamo solo costatarne la maggior diffusione in alcune aree della penisola. Die diatopische Variation und die Formenvielfalt des Italienischen in seinen regionalen Ausprägungen geben teilweise auch Anlass zu geolinguistischen und nahezu sachwortgeschichtlichen Erläuterungen, in denen das rein deskriptive Interesse der beim Sprachberatungsdienst tätigen Linguistinnen und Linguisten deutlich zum Vorschein kommt. Ein aufschlussreiches Beispiel dafür ist der Artikel „Il chewing gum : un nome che cambia da bocca a bocca“ über die unterschiedlichen Bezeichnungen des Kaugummis, mit dem „a coloro che ci chiedono quale sia il genere di chewing gum e quale ne sia il corrispondente in lingua italiana“ eine Antwort gegeben werden soll. 35 In ihrer Erläuterung stellt die Autorin Raffaella Setti zunächst einige lexikographische und literarische Belege vor und diskutiert diese kurz, um dann auf der Basis von Daten aus neueren sprachgeographischen und variationslinguistischen Untersuchungen, auf die explizit verwiesen bzw. verlinkt wird, auf die zahlreichen unterschiedlichen Bezeichnungen für den Kaugummi einzugehen. Die breite phonologische und lexikalische Variation sei dabei auf die Verbreitung des Produktes in einer Zeit - nach Ende des zweiten Weltkrieges - zurückzuführen, als das Italienische nur von einer kleinen Minderheit gesprochen wurde, so die Autorin. Es setzten sich daher regionale bzw. lokale Lösungen - unterschiedlich angepasste Entlehnungen, Kalkierungen, Erweiterungen des Bedeutungsspektrums bei schon existierenden Lexemen, Übernahmen von Markennamen als Appellativa usw. - durch. Angesichts der diatopischen lexikalischen Vielfalt zeigt die Linguistin eine neutrale Haltung, eine Empfehlung spricht sie nur bei der Schreibung aus: 35 http: / / www.accademiadellacrusca.it/ it/ lingua-italiana/ consulenza-linguistica/ domanderisposte/ chewing-gum-nome-cambia-bocca-bocca. <?page no="315"?> Un’ultima piccola notazione relativa alla scrittura di questa parola: in questo caso abbiamo essenzialmente due possibilità, o manteniamo la forma inglese integrale chewing gum oppure disponiamo ormai del calco perfettamente italianizzato e comprensibile gomma da masticare . Rigidere Positionen zeigen sich nur in wenigen Fällen, insbesondere wenn es um Probleme der politischen Korrektheit von Sprachgebrauch geht. Emblematisch dafür scheint die Antwort von Patrizia Bellucci zur Feminisierung von Berufsbezeichnungen in „Il femminile di questore e di prefetto “. 36 Angeregt von einem Sprecher, der behauptet hatte: „Mi sembra veramente una forzatura obbedire alla prassi che […] ci spinge a rivolgerci o a scrivere al Signor Questore o al Signor Prefetto, pur essendo [nel caso specifico] entrambe le figure di sesso femminile“, argumentiert die Linguistin vehement für den Gebrauch gendergerechter Formen. Dabei stellt sie sich stark gegen den Gebrauch, in dem „l’uso sessuato della lingua tarda a imporsi“, so ihre eigenen Worte. Sie begründet ihre Position mit dem (vermeintlichen) „favore concorde dei linguisti“ 37 und mit „le iniziative e le raccomandazioni istituzionali e pubbliche“ und steht dem Sprachgebrauch durch die Sprechergemeinschaft nicht als neutrale Beobachterin gegenüber, sondern bezieht klar - und wertend - Stellung: Se nelle abitudini e propensioni diffuse l’uso sessuato della lingua tarda a imporsi - non di rado anche ad opera delle stesse donne - proprio nelle funzioni più „alte“ della società, ciò è dovuto a una errata intenzione di sottolineare ancora per omologazione il prestigio di ruoli un tempo raggiunti solo dagli uomini. […] Quando si afferma - come spesso succede - che il femminile di un titolo professionale prestigioso „suona male“, lo si fa non su base linguistica ma per un soggiacente stereotipo - e pregiudizio - culturale. La domanda sorgiva del dottor Catalano, dunque, non può che confortarci. Der zweite Fall, in dem sich eine mit einer Frage beauftragte Linguistin - hier Matilde Paoli - gegen die Verwendung eines Anglizismus bzw. dafür, dass dieser von einer italienischen Übersetzung oder Erklärung begleitet sei, ausspricht, 36 http: / / www.accademiadellacrusca.it/ it/ lingua-italiana/ consulenza-linguistica/ domanderisposte/ femminile-questore-prefetto. 37 Wie relativ dieses „Einvernehmen der Linguisten“ ist zeigen z. B. die gemäßigten Überlegungen zum Thema in Renzi (2012, 172-177), aber auch die Diskussion innerhalb der Accademia della Crusca , die in der Crusca per voi zum Ausdruck kam (vgl. die Darstellung in Schmitt 2001, 483-484). Online-Sprachberatungsdienste der Accademia della Crusca und von Treccani 315 <?page no="316"?> 316 Luca Melchior (Graz) betrifft den Rechtsterminus grooming . 38 Anlass für die Behandlung des Falles ist die Behauptung einer Sprecherin, che, nella sua attività, trova difficoltà a rendere in italiano alcuni termini inglesi: in particolare si riferisce a stalking […] e ( child ) grooming ; Giovanna aggiunge un’affermazione che ci ha spinto ad affrontare la questione di grooming : „purtroppo il pubblico italiano non conosce questo termine […] come sempre l’Italia manca di consapevolezza“. Die Linguistin teilt die Sorge der Fragestellerin mit: Sie erläutert zunächst die Etymologie von grooming und zeichnet kurz die semantische Entwicklung im Englischen von ‘Tierpflege’ zum Fachterminus der Ethologie mit der Bedeutung ‘Fellpflege’ bis hin zur Bezeichnung für die Straftat ‘Heranmachen an Kinder im Internet mit dem Ziel des sexuellen Missbrauchs’ nach. Sie belegt dann den Gebrauch des Wortes im Italienischen in allen drei Bedeutungen. Sie spricht sich jedoch dezidiert dafür aus, dass es im Italienischen mit manipolazione a fini sessuali , seduzione bzw. adescamento wiedergegeben oder zumindest glossiert werde. Diese Empfehlung bedeute nicht „adottare un atteggiamento puristico in difesa della lingua contro il suo progressivo ‚imbarbarimento‘, ma costituisce piuttosto una scelta responsabile“, damit den italienischen Lesern, die dem Terminus begegnen, die Schwere der damit bezeichnete (Straf-)Tat bewusst wird: Siamo del parere che sia opportuno usare anche in italiano corrente forme come manipolazione a fini sessuali , seduzione o anche, e meglio, adescamento , eventualmente specificando la vittima e il mezzo. Se può apparire oggi voce dell’uso burocratico, possiamo fare appello alla sua presenza nella tradizione storica della nostra lingua […]. Se nonostante ciò se ne dovesse avvertire la pesantezza, non lo consideriamo un limite: non abbiamo bisogno di un termine più „lieve“ che ci consenta di ricondurre tutto alla normalità; non c’è normalità nel child grooming online : lasciamo che gli animali continuino amorevolmente a prendersi vicendevolmente cura di sé e chiamiamo un crimine col suo nome. In beiden Fällen zeigt sich, dass rigidere Positionen nicht mit Bezug auf eine präskriptiv-normative Norm begründet werden, sondern sie außersprachlichen Faktoren und pragmatisch-kommunikativen Überlegungen entspringen. 38 http: / / www.accademiadellacrusca.it/ it/ lingua-italiana/ consulenza-linguistica/ domanderisposte/ grooming-chiamiamolo-adescamento-minori-rete. <?page no="317"?> 2.2 Domande e risposte: die Sprachberatung von Treccani 2.2.1 Allgemeines Auch beim Sprachberatungsdienst von Treccani ist das Fragespektrum äußerst breit gefächert, die Themen reichen von der Etymologie über Aussprache- und Orthographiefragen sowie Anmerkungen zu Neologismen, Xenismen und Regionalismen bis hin zu morphologischen, morphosyntaktischen und syntaktischen Problemen. Die (nachträglich erfolgende) Zuteilung der Fragen zu einer der drei thematischen Rubriken ist nicht immer nachvollziehbar: In der Rubrik Grammatica sind verschiedentlich lexikalische Fragen zu finden, während in der Rubrik Lessico auch syntaktische bzw. morphologische Fragen aufgelistet werden. Die Rubrik Varie enthält Fragen und Anmerkungen zu unterschiedlichen Themen, die teilweise auch gut in die anderen zwei Sparten gepasst hätten. Auch in der für die vorliegende Analyse relevanten Rubrik Lessico ist die Bandbreite der Themen, die angesprochen werden, sehr groß. Dabei zeigt sich, dass viele Meldungen den Wortbestand oder die Struktur des dazu gehörigen Online-Wörterbuchs betreffen: Es handelt sich um Ergänzungswünsche, Meldungen von Lücken, Kritik an den angebotenen Definitionen oder Synonymen und Antonymen, teils auch um Vorschläge zur Berichtigung von Etymologien usw. Es handelt sich daher nicht um Sprachberatungswünsche, sondern um das konkrete Wörterbuchangebot von Treccani betreffende Aspekte. Häufig zu finden sind aber auch Fragen mit Bezug auf die Herkunft, Etymologie oder Bedeutung von Wörtern, Phraseologismen, Redewendungen oder Dialektismen, sowie Fragen zur Bedeutung von Fachvokabular, das im Wörterbuch nicht verzeichnet ist, oder zur semantischen Abgrenzung synonymischer Ausdrücke. Nicht selten sind Anfragen nach den passenden Termini ausgehend von der Definition 39 und andere schwer klassifizierbare und teils kurios anmutende Anfragen und Kommentare zu unterschiedlichen sprachbezogenen Themen. 40 39 Es scheint, dass viele dieser Anfragen von Nicht-Muttersprachlern des Italienischen geschickt werden. 40 So z. B. die Frage, ob zuzzurellone „non è più l’ultima parola del vocabolario italiano“ (wobei nicht klar ist, ob dabei Bezug auf das Wörterbuch oder auf den Wortschatz genommen wird), und welches denn das letzte Wort wohl sei (vgl. http: / / www.treccani. it/ lingua_italiana/ domande_e_risposte/ lessico/ lessico_181.html), oder recht gewagte Hypothesen, wie die vermeintliche Abstammung des Spanischen aus dem Venezischen, die durch (oberflächliche) Ähnlichkeiten begründet wird (vgl. http: / / www.treccani.it/ lingua_italiana/ domande_e_risposte/ lessico/ lessico_367.html). Die Zusendung solcher äußerst naiver Fragestellungen zeugt vom großen Vertrauen, das die Laien in die Experten setzen, welche sich wiederum nicht scheuen, die Laien in ihren Antworten in die eigene Gedanken- und Hypothesenwelt einzuweihen. Online-Sprachberatungsdienste der Accademia della Crusca und von Treccani 317 <?page no="318"?> 318 Luca Melchior (Graz) Die anonymen Antworten sind in der Regel vergleichsweise kurz und nehmen nie die Form eines Aufsatzes zum Thema an; sie sind nicht mit Bibliographien versehen, auch wenn darin durchaus Verlinkungen (meist mit dem online-Wörterbuch von Treccani ) zu finden sind. Wie schon erwähnt, erscheint bei diesem Sprachberatungsangebot der Gesamttext der Fragen auf der Preview-Seite und jede Frage wird einzeln beantwortet. Es kommt daher vor, dass ähnliche Themen mehrfach behandelt werden, ohne dass notwendigerweise auf die schon erfolgte Erläuterung verwiesen wird. 41 2.2.2 Exemplarische Analyse Es gibt aber auch - ähnlich wie bei der Crusca - Fälle, in denen die Sprecher die Experten wirklich um Sprachberatung bitten. Um eine gewisse Konsistenz der Analyse zu erhalten und die Vergleichbarkeit mit der Analyse des Sprachberatungsdienstes von der Crusca zu gewährleisten, werden hier ausschließlich Beispiele aus der Rubrik Lessico vorgestellt, die konzeptionelle Ähnlichkeit mit den schon erläuterten Fällen aufweisen. Auch bei Treccani finden sich zahlreiche Fragen zu Neologismen. Unter anderem wird die Korrektheit des Worts squallideria diskutiert: Molti (nella fattispecie, sorprendentemente, un noto e apprezzato giornalista, tralasciando tutti gli altri che abitualmente usano questo termine) usano il termine „Squallideria“! È corretto, si tratta di un neologismo? ignorandolo, l’ho cercato sul Vostro e consimili dizionari, ma vanamente. 42 In der knappen Antwort werden zunächst indirekt Werturteile angesprochen: „In sé e per sé, nel vocabolo non vi è nulla di male“. Danach geht der Sprachberater auf die regelkonforme Bildung ein, stützt sich auf den Gebrauch als wichtigen Faktor für die lexikographische Erfassung des Elements, spricht sich jedoch nicht entschieden für das Wort aus: „Più che dire che squallideria è scorretto, diremmo che è opportuno non usarlo in situazioni, testi e contesti 41 Ein eklatantes Beispiel dafür ist die Behandlung zweier sehr ähnlicher Anfragen bezüglich des Neologismus femminicidio (http: / / www.treccani.it/ lingua_italiana/ domande_e_ risposte/ lessico/ lessico_382.html). In beiden Fällen schlagen die Sprecher vor, den Neologismus durch das ihrer Meinung nach semantisch korrektere donnicidio zu ersetzen (ein ähnlicher Vorschlag wird auch von der Consulenza linguistica der Crusca ausführlich behandelt). In beiden Artikeln wird die Legitimität des relativ gut etablierten Neologismus femminicidio aus semantischer, morphologischer und wortgeschichtlicher Perspektive betont, die Erklärungen und Argumentationen (sowie die Länge der Beiträge) unterscheiden sich jedoch erheblich und es wird nicht aufeinander verwiesen. 42 http: / / www.treccani.it/ lingua_italiana/ domande_e_risposte/ lessico/ lessico_313.html. <?page no="319"?> formali“. Vorsicht sei also geboten, obwohl das Element auch in Texten (sprach-) prestigereicher Sprecher belegt ist. Begründet wird jedoch dieses Urteil nicht: Es stützt sich auf kein offen genanntes Kriterium, sodass man vermuten muss, dass das Sprachwissen des Experten hier als ratio gilt . Das Wort impiattare weckt auch bei den Nutzern des Sprachberatungsangebots von Treccani Aufmerksamkeit - und stößt auf eine gewisse Ablehnung: 43 Non sono un linguista ma un semplice tecnico TV ; i verbi impiattare e rimpiattare per le mie riminiscenze scolastiche significano „rendere piatto, nascondere“. Mi ricordano il gioco fanciullesco del „rimpiattino“. L’uso smodato di questo verbo nelle abusate trasmissioni TV per indicare la preparazione del servizio cioè l’operazione di accomodare il preparato nei diversi tipi di stoviglie per servirlo al cliente risulta „indigesto“ per le mie orecchie. Il bello è che anche in questo riquadro di testo della Treccani risulta segnalato in rosso. Perché? Cosa dice la „Crusca“? 44 Auch bei Treccani wird ähnlich wie bei der Crusca argumentiert: Es wird auf die regelmäßige Bildungsweise des Verbs und auf seinen Gebrauch in der Fachsprache der Gastronomie verwiesen, während persönliche Abneigungen dem Wort gegenüber als nicht relevant gewertet werden: „Peraltro, al di là della noia cui può muovere l’ascolto reiterato di declamazioni cucinarie in tv, impiattare ‘disporre ad arte una pietanza in un piatto’ è un legittimo neologismo, recente, la cui base, stavolta, è il sostantivo piatto “. Nicht bei jedem Neologismus zeigt sich jedoch die gleiche Offenheit. So lässt sich im Falle von indipendizzarsi 45 eine klare Ablehnung feststellen, die jedoch nicht weiter - beziehungsweise explizit nur in einer Randbemerkung - moti- 43 Zwei Anfragen zum Thema werden bearbeitet (vgl. auch http: / / www.treccani.it/ lingua_ italiana/ domande_e_risposte/ lessico/ lessico_128.html); auch in diesem Fall wird nicht aufeinander verwiesen, die Argumentationsführung ist jedoch relativ ähnlich. 44 http: / / www.treccani.it/ lingua_italiana/ domande_e_risposte/ lessico/ lessico_407.html. Es scheint durchaus bemerkenswert, dass bei Treccani nach dem „Urteil“ der Crusca - vermutlich vom Fragesteller als „präskriptive Instanz“ wahrgenommen - gefragt wird. In der Antwort wird auf diese Teilfrage sofort, aber auch nur kurz eingegangen: „Che cosa dica la Crusca, inteso come Vocabolario degli Accademici della Crusca , nelle sue varie impressioni dal Seicento al Novecento, non è difficile scoprirlo, andando a curiosare nel sito. Dice quel che dicono anche i maggiori dizionari dell’Ottocento, compreso il Tommaseo-Bellini: si conosce soltanto il significato di ‘ascondere’, cioè ‘nascondere’ (anche nelle varianti appiattare , rimpiattare e nel riflessivo rimpiattarsi ‘nascondersi’), che è reso chiaro dall’etimo di ‘rendere, rendersi piatti; appiattire, appiattirsi’, in cui la base lessicale d’origine è l’aggettivo piatto .“ 45 http: / / www.treccani.it/ lingua_italiana/ domande_e_risposte/ lessico/ lessico_229.html. Die Frage lautet: „Dopo un’accesa disputa per determinare la correttezza o meno di un termine mi rivolgo voi. Il termine in questione è ‚indipendizzarsi‘. Si può usare in italiano? “ Online-Sprachberatungsdienste der Accademia della Crusca und von Treccani 319 <?page no="320"?> 320 Luca Melchior (Graz) viert wird. Das Wort sei noch nicht lexikographisch erfasst, behauptet der mit der Beantwortung beauftragte Experte, und seine Verbreitung scheine noch eingeschränkt - es wird jedoch auf keine empirische Grundlage für diese Behauptung verweisen: Indipendizzarsi non è registrato né nei dizionari della lingua italiana dell’uso, né nei dizionari specializzati nella raccolta di parole nuove. È attestato qui e là nella scrittura in rete - e si sente usare, talvolta, nella lingua parlata: due cose che non costituiscono di per sé garanzia di correttezza. Nonostante sia trasparente nel significato (‘rendersi indipendente (da qualcosa o qualcuno)’, ‘emanciparsi’), non si può però accogliere, a tutt’oggi, come una parola del nostro comune vocabolario di parlanti e scriventi italiani. In margine, si noti che la formazione della parola (col suffisso - izzarsi ) è comunque bislacca: sarebbe stato più lineare indipendentizzarsi . Auch bei diesem Sprachberatungsdienst sind Fragen zu finden, welche die (wahrgenommene) Dialektalität von Lexemen betreffen: Due miei colleghi mi hanno preso in giro per la mia affermazione „avantieri ho visto…“! Per loro è una forma dialettale del sud! È vero? Potete aiutarmi per fargli capire che sono solo modi diversi di dire? È meglio „l’altro ieri“, „ieri l’altro“? 46 Bei der Beantwortung der Frage zieht der Experte unterschiedliche Quellen zu Rate: Belege aus der Literatur, aber auch sprachwissenschaftliche Forschungen, 47 die eine gewisse diatopische Variation bezüglich des sprachlichen Ausdrucks für ‘vorgestern’ bezeugen, sowie lexikographische Empfehlungen. Der Vergleich mit der Antwort im ähnlich gelagerten Fall von parruchieria bei der Crusca lässt deutliche Unterschiede bei den Beantwortungsstrategien zu Tage treten. Die Belegführung bei Treccani ist insuffizient und allgemein: Sowohl auf lexikographische als auch auf sprachwissenschaftliche Belege wird nur indirekt 46 http: / / www.treccani.it/ lingua_italiana/ domande_e_risposte/ lessico/ lessico_143.html. 47 Erwähnenswert ist, dass, anders als bei der Crusca , die wissenschaftliche Quelle äußerst unpräzise angegeben wird, denn es wird nur der Name des Linguisten, auf dessen Forschungen man sich beruft, genannt, ohne diese genauer zu präzisieren (ein Zeichen dafür, dass sein Werk als allgemein bekannt gelten sollte? ): „La locuzione avverbiale l’altro ieri è documentata nella lingua scritta a partire dagli inizi del Trecento e, secondo il Rohlfs, più che della Toscana è tipica del Lazio e dell’Umbria. Ovviamente è diffusa e comune da tempo in tutt’Italia, sia nella lingua parlata, sia nella lingua scritta. La locuzione avverbiale ieri l’altro è documentata nella lingua scritta a partire dagli inizi del Trecento, e secondo il Rohlfs, nella variante con apocope ier l’altro è ancor oggi forma popolare toscana“. <?page no="321"?> verwiesen und es gibt keinerlei Korpusanalysen, die belegen könnten, dass das Wort im heutigen Gebrauch nicht doch eine regionale Markierung erhalten hat: Avantieri , a differenza delle locuzioni suddette [ scilicet die verbreiteteren l’altro ieri und ieri l’altro mit Varianten], non proviene direttamente dal fondo latino della nostra lingua. Ci giunge invece dal francese avant-hiér agli inizi del Cinquecento ( avant ‘prima’, hiér ‘ieri’). Poi scompare per riapparire nell’Ottocento, il secolo in cui è maggiore l’afflusso di francesismi in italiano. Sentito come vocabolo ‚forestiero‘ dai puristi nostrani, viene appena tollerato. Il lessicografo Alfredo Panzini, nel 1905, consiglia di sostituire avantieri con i nostrani l’altrieri e ier l’altro , ma aggiunge che avantieri non è già più molto usato. Al giorno d’oggi, forme dialettali corrispondenti ad avantieri (o avantieri stesso, nell’italiano parlato colloquiale) sono presenti qua e là per l’Italia (Sicilia, Calabria meridionale, Liguria). In sostanza, avantieri è oggi di uso raro nell’italiano comune e può suonare un po’ antiquato rispetto alle locuzioni prima descritte. Die Öffnung zur diatopischen Variation scheint bei den Experten von Treccani nicht ohne Einschränkungen zu gelten: Die Verwendung regional markierter Ausdrücke wird vielmehr nur dann geduldet, wenn sie als „stilistische Würze“ in literarischen Texten gilt, wie sich bei der Erläuterung zur „Korrektheit“ des Ausdrucks golata ‘Schluck’ zeigt: „I termini regionali, specialmente nella scrittura narrativa e in mano alle persone dotate di sensibilità linguistica raffinata, possono costituire un importante pimento espressivo“. 48 Nur drei Anfragen beschäftigen sich mit politisch korrekter Sprache, und zwar bezüglich der Bezeichnung portabagagli statt facchino , 49 der Verwendung von signorina als Anredeformel für eine junge Frau (und der eventuellen ironischen Antwort mit der Anrede signorino ) 50 und der Bezeichnung für ausländische Mitbürger. 51 Insbesondere diese letzte Anfrage scheint interessant, denn sie zeigt von Seiten des Experten eine entschieden andere Einstellung zur political correctness als in den vorgestellten Fällen bei der Crusca . Ein Leser würde sich wünschen, dass ausländische Personen „che a causa della povertà emigrano dalle loro terre d’origine“ mit einem konnotativ neutralen Wort bezeichnet werden, und nicht mit den (aktuell oder einst) üblichen Wörtern vu cumprà , immigrati und extracomunitari , die er als negativ konnotiert empfindet. Er schlägt vor: „E se le chiamassimo semplicemente ‚stranieri‘? “ In seiner Antwort hegt der Experte Zweifel daran, dass der Sprachgebrauch von oben lenkbar sei: „Da sempre è complicato proporre e complicatissimo, poi, eventualmente, 48 http: / / www.treccani.it/ lingua_italiana/ domande_e_risposte/ lessico/ lessico_333.html. 49 http: / / www.treccani.it/ lingua_italiana/ domande_e_risposte/ lessico/ lessico_188.html; der Fall wurde im mündlichen Vortrag vorgestellt. 50 http: / / www.treccani.it/ lingua_italiana/ domande_e_risposte/ lessico/ lessico_219.html. 51 http: / / www.treccani.it/ lingua_italiana/ domande_e_risposte/ lessico/ lessico_012.html. Online-Sprachberatungsdienste der Accademia della Crusca und von Treccani 321 <?page no="322"?> 322 Luca Melchior (Graz) cercare di imporre ex lege l’adozione di questo o quel termine nella lingua d’uso comune“ und weiter: Nel campo della correttezza politica, di là da ogni giudizio di merito sugli intenti virtuosi da essa promossi, si sa come ogni ipotesi interventistica sia problematica per via di due tipi di considerazione, l’una d’ordine generale, l’altra più specifica: secondo la prima, si sa che il, per dir così, dirigismo in fatto di lingua ha dimostrato storicamente, almeno in Italia, di avere esiti, quando importanti, comunque limitati […]; più specificamente, l’uso di certi termini connotati in senso negativo, riguardanti il campo concettuale dell’alterità, della diversità è espressione di etnocentrismo, cioè di una delle più radicate e irriflesse pulsioni indirizzate alla protezione del sé comunitario, teso a impermeabilizzarsi escludendo o marginalizzando gli elementi allogeni o percepiti come tali. Specialmente quando questi elementi tendono a presentarsi non come saltuarie occorrenze ma come flusso, come insieme: demonizzabili subito come minaccia fisica al proprio territorio, alla propria salute e ai propri beni e poi, a un successivo livello di più capziosa elaborazione, alla propria identità sociale e culturale. Ferner zeichnet der Experte die Geschichte der vom Leser angesprochenen Wörter, die Kontexte ihrer Einführung ins Italienische und die (allmähliche) Entwicklung negativer Konnotationen nach. Politisch korrekte Formulierungen wie das offizielle „‚cittadino non appartenente all’Unione europea‘“ seien zu sperrig für den alltäglichen Gebrauch, man brauche „un termine più maneggevole e univoco nella lingua di tutti i giorni: quale, però? Straniero , come suggerisce il signor Satta? Sembra troppo vago e in ogni caso marca per esclusione l’identità altrui“. Auch immigrato sei negativ konnotiert und darüber hinaus semantisch nicht treffend für Menschen, die sich im Gastland sesshaft gemacht haben. „Il problema, insomma, resta aperto“; nur für die Medienvertreter spricht er eine Empfehlung aus: „Intanto si potrebbero richiamare gli operatori dell’informazione a un uso più sorvegliato degli etnonimi nel dare certe informazioni di cronaca“. 3 „Laien“, „Experten“ und die (Gebrauchs-)Norm 3.1 Die Fragesteller Die kursorische Analyse einiger Fragen und Antworten bei den Online-Sprachberatungsdiensten der Accademia della Crusca sowie des enzyklopädischen und lexikographischen Verlags Treccani ermöglicht einige Überlegungen sowohl zum Publikum dieser Dienste als auch zu den Experten, die dort tätig sind. Vor allem stellt sich die Frage, wie das Publikum zu charakterisieren sei und <?page no="323"?> welche Gründe es für dieses gibt, Gebrauch von diesem Angebot zu machen. Biffi (2013, 198) beschreibt die Nutzer des Online-Sprachberatungsdienstes der Crusca als „pubblico vasto ed eterogeneo“; dies betrifft in erster Linie die soziale und berufliche Verortung sowie die Alterszusammensetzung des Publikums. 52 Allen Nutzern scheinen jedoch ausgeprägte Aufmerksamkeit und hohes Interesse für die Sprache 53 sowie, trotz mancher naiver Beiträge, eine recht hohe language awareness gemeinsam zu sein. Selbst wenn im Falle von Treccani eine gewisse Bestrebung vorhanden ist, die Webseite zwecks kommerzieller Vermarktung eigener Produkte bekannt zu machen, stößt man auf die genannten Sprachberatungsdienste nicht einfach zufällig, sondern sie müssen bewusst und willentlich gesucht werden - aus Neugier und Interesse für die Entwicklungen der Sprache. Setti (2013, 11) beschrieb die Gründe, welche dazu führen, der Crusca eine Frage zu senden, wie folgt: restano comunque ben individuabili almeno tre tipi di occasioni che spingono i lettori a scrivere alla Crusca: la necessità di una consulenza per motivi professionali, le divergenze di opinioni tra amici o colleghi in merito a una forma o a un particolare uso linguistico e l’incertezza di fronte alla diffusione di nuovi usi linguistici sotto la pressione dell’attualità. Zweifel dieser Art beweisen nicht nur ein ausgeprägtes Sprachgefühl und -interesse sowie Sprachwissen, 54 sondern auch „die Bewusstwerdung oder das Bewusstsein“ (Antos 2003, 43) der objektiven Begrenztheit desselben, sodass nach dem Rat einer „sanktionierenden“ Autorität, „nach Instanzen von Sicherheiten“ (Antos 2003, 37) 55 gesucht wird, nach Bestätigungen von eigenen Urteilen und Meinungen, die als Referenzgrößen für „Korrektheit“ nicht ausreichend erschei- 52 Vgl. auch die weitere Charakterisierung des Publikums in Biffi (2013, 198). 53 Vgl. Cameron (1995, ix): „a great man people care deeply about linguistic matters; they do not merely speak their language, they also speak copiously and passionately about it“ (Kursivierung im Original). 54 Vgl. auch Klein (2003, 20): „Sehr zugespitzt könnte man vielleicht sogar davon ausgehen, dass viele Sprachzweifel - zumindest zum Teil - auf eine hohe Sprachkompetenz, besser vielleicht: Sprachsensibilität verweisen, insofern die Zweifelnden Lücken, Dissonanzen und Unstimmigkeiten einer komplex strukturierten Sprache wahrnehmen“. 55 Vgl. auch Klein (2003, 9): „Die Existenz von Zweifelsfällen hat zur Folge, dass in einer Sprachgemeinschaft Institutionen und Personen tätig werden (müssen? ), die in Zweifelsfällen orientierend und normierend wirken oder die Existenz von Zweifelsfällen in anderer Art und Weise aufgreifen und thematisieren“ und weiter (2003, 20): „Im mehr oder weniger reflektierten Bewusstsein der Zweifelsfälle drückt sich so nicht zuletzt die Tatsache aus, dass Legitimation in sprachlichen Dingen nicht in der individuellen Überzeugung, sondern in der komplex strukturierten Gemeinschaftlichkeit einer Sprache liegt, die paradoxerweise nur in individuellen sprachlichen Akten greifbar ist“. Online-Sprachberatungsdienste der Accademia della Crusca und von Treccani 323 <?page no="324"?> 324 Luca Melchior (Graz) nen. 56 Dies wird in den Fragetexten beim Sprachberatungsdienst von Treccani - die, anders als bei der Crusca - nicht von den Experten paraphrasiert, sondern in den von den Sprechern selbst gewählten Formulierungen wiedergegeben werden, besonders deutlich. 57 Insofern zeigen die Fragesteller ja sicherlich gewisse normative Tendenzen bzw. ein relativ starres Normverständnis, jedoch kann man Setti (2013, 12) beipflichten, wenn sie (über die Nutzer des Sprachberatungsangebots La Crusca per Voi ) festhält: se in alcuni casi vale ancora l’impressione che chi si rivolge all’Accademia della Crusca sia alla ricerca di risposte certe e univoche, non mancano tuttavia richieste di spiegazioni, di ricostruzioni storiche, di riflessioni su fenomeni generali le quali rivelano un interesse più profondo per l’italiano e per il suo „movimento“ attuale. Talvolta si coglie chiaramente la disponibilità ad accettare che la lingua, realtà multiforme, viva di molte varietà, si adatti a diversi registri e che i fenomeni „anomali“ non siano sempre risolvibili semplicemente etichettandoli come giusti o sbagliati. In questa prospettiva non è più così netta l’individuazione dell’errore e diventa presupposto ineliminabile il fatto che anche la norma cambia nel tempo, così come cambiano abitudini e usi sociali. 58 56 Antos (2003, 36) unterscheidet zwischen Zweifelsfällen, die aus „eine[r] von Laien betriebene[n] ‚kommunikationspragmatische[n]‘ Reflexion über Sprache (SZ 1)“ entstehen und Zweifelsfällen, welche in „einer in der Linguistik üblichen ‚extrakommunikativen‘ […] Reflexion (SZ 2)“ thematisiert und untersucht werden. Die hier vorgestellten entsprechen dem ersten Typ und basieren sicherlich „auf Werturteilen “ (Antos 2003, 43). Wie Milroy (2001, 537) unterstreicht, haben Werturteile nicht nur eine soziale, sondern auch eine moralische Dimension. Vgl. auch Cameron (1995, x): „The linguistic questions laypeople care most about are questions of right and wrong, good and bad, ‚the use and abuse of language‘. In fact, it would not be overstating the case to say that most everyday discourse on language is above all evaluative discourse […]“. Bei den hier analysierten Fällen handelt es sich meist um Korrektheits- und teils um ästhetische Urteile (eine neuere Übersicht über die Diskussion zu ästhetischen Werturteilen findet sich in Cuonz 2014, 93-101), dagegen finden sich keine affektiven Werturteile (vgl. Cuonz 2014, 101-102). 57 Zur Neuformulierung der Fragen in der Zeitschrift La Crusca per voi vgl. Serianni ( 7 2009, 47) und Setti (2013, 11). 58 Für die Anfragen in der Zeitschrift La Crusca per voi merkte Fesenmeier (1995, 111) an: „Einen weit größeren Anteil stellen Schwierigkeiten dar, die aus der Komplexität einiger grammatischer Form- und Funktionsbereiche des Italienischen resultieren (Stammallomorphien, polyfunktionale Klitika, Accord). Vielen Sprechern ist diese Komplexität nicht bewußt oder für sie in qualitativer Hinsicht (Archaismus? , diasystematische Markierung? ) nicht recht durchschaubar, so daß oft die Frage nach ‚Regeln‘, also präskriptiven Normen auftaucht. Diese Fragen nach ‚Regeln‘ können auf deren Existenz (prototypisch ‚Esiste una norma in proposito? ‘) oder Gültigkeit (‚Vale ancora la regola X? ‘) bezogen sein. In einigen Fällen gehen die Sprecher sowohl von der Existenz als auch der Gültigkeit einer Regel aus, ohne aber im geringsten ihren (genauen) Inhalt zu kennen“. Serianni ( 7 2009, 47-54) wollte wiederum in den Anfragen der Leser puristischer, überrationalistischer und allgemein sprachpessimistischer Einstellungen gewahr werden. In neuerer Zeit konstatiert Tassone (2015, 149) zwar, dass „[i]l foglio continua ad ospitare richieste <?page no="325"?> Es handelt sich nicht um „‚language mavens‘“ (Cameron 1995, vii), die „[s]tereotipically […] write letters to newspapers deploring various solecisms and warning of linguistic decline“ (Cameron 1955, viii), sondern um interessierte Laien, die aufgrund ihrer Kompetenzen Entwicklungsphänomene der Sprache beobachten und sich damit beschäftigen, sich aber, der Grenzen des eigenen Wissens bewusst, auch an Experten wenden. 3.2 Die Experten Man kann die hier vorgestellten Sprachberatungsangebote sicherlich nicht als laienlinguistisch im Sinne von einer für Laien (häufig) von Laien betriebenen, zwar in Ansätzen deskriptiven, aber im Kern normativen Beschäftigung mit und Thematisierung von Sprache (vgl. Antos 1996, 25) charakterisieren, sondern dezidiert als (mehr oder weniger anspruchsvolle) Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse unter Beibehaltung der „Transfer-Invarianz“ (Antos 1996, 15) konzeptualisieren. Die Linguistinnen und Linguisten, die an der Beratung beteiligt sind, zeigen dabei zwar eine gewisse Orientierung an der Kohärenz und Regelhaftigkeit des Systems sowie an der Funktionalität von dessen Elementen, als ausschlaggebendes Kriterium für die Argumentation in ihren Antworten ist aber unverkennbar der Gebrauch durch die Sprechergemeinschaft erkennbar. Nur dieser konstituiert die dynamische, da veränderbare „‚norma normal‘“ (Coseriu 1952, 54). Offenheit und Toleranz zeigen sich auch für die Variation auf allen sprachlichen Ebenen. 59 Fernerhin zeigt sich, dass die Experten - vor che si collocano ai poli dicotomici del giusto / sbagliato“, sie fragt sich jedoch, ob eine gewisse normativ-puristische Einstellung, die in den Fragen feststellbar ist, nicht auf ein verzerrtes Bild der Accademia della Crusca bei den Sprechern zurückzuführen ist, die mit ihren Formulierungen eine Art captatio benevolentiae versuchen würden: „Riguardo la tipologia dei quesiti posti, c’è da chiedersi se, rivolgendosi agli ‚espertissimi‘, non sia più o meno inconscio il tentativo di raffinare le richieste, di alzare la soglia di sorveglianza rispetto all’errore, alla difformità, alla deviazione dalla norma; potrebbe essere legittimo pensare che, dietro certo purismo imperante, dietro la difesa strenua della lingua nazionale rispetto alla penetrazione dei forestierismi, (che per gli utenti della Crusca per voi sembra poggiare sull’assunto: ‚Se esiste una voce italiana, perché usare quella straniera? ‘), ci sia una sorta di tentativo di assecondare delle ideologie, proprie di un’istituzione autorevole come quella dell’Accademia della Crusca, che si immaginano, erroneamente, essere conservative e prescrittive” (Tassone 2015, 149-150). Auch Setti (2013, 13) stellte bei manchen Anfragen „toni indignati“ fest, und Serianni ( 7 2009, 47) staunte über den „coinvolgimento emotivo dei lettori“. Zur Wahrnehmung der Crusca als präskriptive Instanz vgl. auch oben Fn. 44. 59 Setti (2013, 13) hebt diese Offenheit bei der Beantwortung der Anfragen an La Crusca per voi hervor: „Le risposte pubblicate su ‚La Crusca per voi‘ sono in buona parte il riflesso di questo quadro ed è per questo che possono essere talora ‚possibiliste‘, talora nette e precise ( qual è si scrive senza apostrofo; soqquadro si continua a scrivere con due qq ), sen- Online-Sprachberatungsdienste der Accademia della Crusca und von Treccani 325 <?page no="326"?> 326 Luca Melchior (Graz) allem beim Sprachberatungsdienst der Crusca - in den Fragestellern nicht zu belehrende Laien sehen, sondern kompetente und gleichberechtigte Diskussionspartner, welche den komplexen fachlichen Ausführungen folgen und die Empfehlungen für weiterführende Fachlektüre wahrnehmen können. Bei den zwei Sprachberatungsdiensten lassen sich jedoch etliche Unterschiede feststellen, die bei der Beratung von Treccani auf eine etwas vorsichtigere bzw. normativ rigidere Einstellung als bei der Crusca hindeuten. Dies könnte - trotz der oben angesprochenen möglichen Wahrnehmung der Crusca als präskriptiv orientierte Institution durch die Nutzer - auf eine unterschiedliche Selbst- und möglicherweise auch Fremdwahrnehmung der zwei Angebote rückschließen lassen. Bei Treccani als Verleger eines der wichtigsten italienischen Wörterbücher ist die Rolle als sanktionierende Autorität, die über „Legitimierung“ oder „Nicht-Legitimierung“ sprachlicher Elemente entscheidet - in der lexikographischen Praxis durch ihre (Nicht-)Aufnahme ins Wörterbuch - als Einfluss nehmender Faktor zu berücksichtigen. Die Crusca 60 als „Institution moderner (synchronischer und diachronischer) Sprachwissenschaft und Philologie“ (Ernst 2002, 110) zeigt eine deutlich höhere Offenheit für den Dialog mit den Sprechern und gegenüber dem Sprachgebrauch, welcher allein - noch mehr als die „inneren Regeln“ - den Erfolg (und nicht die Korrektheit ) sprachlicher Elemente und Phänomene bestimmt. Dahingegen sind die Experten von za che sia mai trascurata l’importanza della spiegazione e della storia dei fenomeni“. Sie stellt aber auch fest, dass der Grad dieser Offenheit nicht bei allen mit der Beantwortung der Anfragen betrauten Linguistinnen und Linguisten gleich ist: „ogni autore esprime la sua personale visione su singoli fenomeni, così che sia sempre favorito il confronto tra atteggiamenti diversi, più o meno prescrittivi, più o meno rigidi, a seconda delle scuole di pensiero e degli argomenti di volta in volta affrontati“. Vgl. auch Ernst (1998, 199) zu den Antworten in den ersten Ausgaben der Zeitschrift La Crusca per voi : „Im allgemeinen betonen die accademici in ihren Antworten die Rolle des usus gegenüber Bedenken von Lesern zum Sprachwandel und zu angeblich fehlender Logik […]“. Derselbe Autor merkt aber später an: „Als übergeordnete Gesichtspunkte in den Antworten der Akademiemitglieder haben wir also: den usus; den Verweis auf den Text und die Textsorte als höhere Einheiten, in der etwas sprachlich angemessen sein kann, was auf Satzebene als falsch angesehen wurde; die Beibehaltung sozial motivierter gemeinschaftsstiftender Normen; die Vermeidung von Dunkelheit und Ambiguität als Todsünde sprachlicher Kommunikation […]“ (Ernst 1998, 200). Auch Schmitt (2001, 468-482) hebt in seiner Darstellung der Sprachberatung in der Crusca per voi als Kriterien der Experten den Sprachgebrauch sowie die Funktionalität der Elemente hervor. Zu den Kriterien zur Lösung von Zweifelsfällen vgl. Klein (2003, 17-19), der als grundsätzliche Maßstäbe die Frequenz und den Sprachgebrauch angibt. 60 Die lexikographische Tradition der Accademia della Crusca muss hier nicht weiter hervorgehoben werden. <?page no="327"?> Treccani - möglicherweise in Anlehnung an die Erfahrung in der lexikographischen Praxis - vorsichtiger und neigen auch bei belegtem Gebrauch dazu, neue Elemente (teilweise) auf einzelne Sprachregister einzuschränken. Eine nachvollziehbare Begründung - außer, implizit, diejenige der eigenen Autorität - bleiben sie in verschiedenen Fällen jedoch schuldig. Literaturverzeichnis Antos, Gerd (1996): Laien-Linguistik. Studien zu Sprach- und Kommunikationsproblemen im Alltag. Am Beispiel von Sprachratgebern und Kommunikationstrainings , Niemeyer, Tübingen. Antos, Gerd (2003): „‚Imperfektibles‘ sprachliches Wissen. Theoretische Vorüberlegungen zu ‚sprachlichen Zweifelsfällen‘“, in: Linguistik online , vol. 16, 35-46. 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Die übersetzungswissenschaftliche Lokalisierungsforschung konzentriert sich weitgehend auf die Lokalisierung im sprachenindustriellen Kontext als ein mögliches Berufsfeld für die Absolvierenden. Der sprachliche Eigenwert von Software, ihr soziolinguistisches Gewicht und ihr Anteil an der Reproduktion sprachlicher Ideologien wird in diesem Umfeld in der Regel ebensowenig thematisiert wie in den Medienwissenschaften. Es entwickelt sich zwar derzeit eine neue Disziplin der Software Studies , in deren Rahmen ist eine Aufmerksamkeit für Sprache jedoch nur gering ausgeprägt. 2 Das hängt mit den erheblichen theoretischen und praktischen Schwierigkeiten zusammen, das Phänomen der Software angemessen zu verstehen und unter dem Aspekt ihrer semiotischen, textuellen und soziolinguistischen Eigenschaften als sprachlich-kulturelles Artefakt zu beschreiben. Dabei dürfte die Notwendigkeit einer solchen Beschäftigung allein schon insofern einleuchten, als die Mehrsprachigkeit im Bereich der Benutzungsoberflächen von Software eine wichtige Bedingung für die Reproduktion von Mehrsprachigkeit im digitalen Raum schlechthin ist. Das Vorliegen von Benutzungsoberflächen in den Sprachen der (potentiellen) Nutzer von Computertechnologien kann dabei entscheidend für die Möglichkeit des Zugangs zu digitalen Ressourcen sein. 3 1 Siehe dazu die folgenden einschlägigen Texte: Beste (2006); Gerhardt (2006); Reineke / Schmitz (2005); Schmitz / Wahle (2000). Für eine kritische Annäherung vgl. z. B. Pym (2004) und Cronin (2003). 2 Vgl. z. B. Fuller (2008), darin besonders Cramer (2008) und Mackenzie (2008), weiterhin Galloway (2006) und Chun (2011). 3 Zu einer linguistischen Annäherung an Software vgl. Seiler (2013a, 2013b und 2015). <?page no="330"?> 330 Falk Seiler (Gießen) Der vorliegende Beitrag ist Formen der Sprachkritik und Sprachberatung bei der gemeinschaftlichen Übersetzung graphischer Benutzungsoberflächen von Computerprogrammen aus dem Englischen ins Italienische gewidmet, wobei der Fokus auf freier und offener Software liegen soll. 4 Die in unserem Zusammenhang relevante Besonderheit dieser Übersetzungen liegt darin, dass sie durch Laien auf dem Gebiet der Übersetzung angefertigt werden. Das bedingt die Notwendigkeit von Wissenstransfer auf verschiedenen sprachlichen und fachlichen Ebenen und impliziert Sprachberatung und Sprachkritik. Mit diesem Ansatz bewegt sich der Beitrag auf den Forschungsfeldern der Laienlinguistik (vgl. z. B. Achard-Bayle / Paveau 2008 und Demel 2006) und der internetbasierten Community Translation, 5 zwischen denen es in der Regel keine Vermittlung gibt. In einem ersten Schritt wird in der gebotenen Kürze umrissen, was man unter freier und offener Software versteht. Daraufhin wird ein kleines Panorama der italienischen Lokalisierung freier und offener Software gezeichnet, bevor etwas zu projektübergreifenden sprachnormativen Richtlinien und Glossaren in unserem Kontext gesagt werden wird. Im Anschluss wird anhand der Kommunikation über eine Verteilerliste gezeigt, wie sich sprachkritische und sprachberaterische Tätigkeit im Kontext der italienischen Lokalisierung des Desktop-Systems KDE 6 gestaltet. Dabei sei auch vorausgeschickt, worum es an dieser Stelle nicht gehen soll: Gegenstand der folgenden Ausführungen sind nicht die technischen Einzelheiten der Lokalisierung von FOSS , die sich grundlegend von der sprachenindustriellen unterscheidet. Ich verzichte hier auf eine detaillierte Kritik des Lokalisierungsbegriffs, auch wenn sie eigentlich dringend geboten scheint. Der Begriff stammt ursprünglich aus dem sprachenindustriellen Kontext und hat sich inzwischen auch in der Übersetzungswissenschaft eingebürgert. Problematisch ist dabei eine nicht selten zu beobachtende mangelnde Unterscheidung zwischen industriellen und wissenschaftlichen Diskursen über Lokalisierung. Ein unkritischer Umgang mit dem Lokalisierungsbegriff kann schnell in den Sog einer konzeptionell industriebasierten Linguistik führen, die sich zwar angewandte Linguistik nennen mag, ihr Erkenntnisinteresse aber so gut wie aus- 4 Im Englischen Free and Open Source software , abgekürzt FOSS , was auch im Deutschen transparent ist. Mitunter wird auch die etwas präzisere Bezeichnung Free / Libre Open Source software ( FLOSS ) verwendet. 5 Dieser Bezeichnung stehen je nach Fokussierung des Interesses andere zur Seite: collaborative translation, volunteer translation, crowdsourced translation , user-generated translation. Zu einer Diskussion der Konzepte vgl. O'Hagan (2011). 6 https: / / www.kde.org/ . <?page no="331"?> Sprachkritik und Sprachberatung im Kontext der italienischen Lokalisierung 331 schließlich an den Bedürfnissen der (Sprachen-)Industrie ausrichtet. 7 Gerade im Kontext von FOSS ist dieser Begriff hoch problematisch, findet aber gleichwohl auch dort regelmäßig und unreflektiert Anwendung. Lokalisierung in einem verbreiteten Sinn bezieht sich auf folgende übersetzerische Bereiche: • Die Übersetzung von Benutzerinterfaces. Hierzu gehört u. a. die Suche nach Übersetzungslösungen für Interfaceelemente, die es bisher noch nicht gab (z. B. Widget, Applet, Window). In den entsprechenden Terminologien sind häufig Angleichungen zwischen verschiedenen Projekten zu beobachten, nicht selten auch Angleichungen an die sprachlichen Lösungen von Microsoft, das über die Modellwirkung seiner Übersetzungslösungen ein wichtiger sprachpolitischer Akteur im Softwarebereich ist. • Die Übersetzung von Programmdokumentationen: Hierbei sind große Unterschiede zu beobachten, insofern einige Projekte die Dokumentation ernster nehmen als andere. Bekannt ist die überaus hohe Qualität der sogenannten Manpages von Open BSD und Debian. In beiden Projekten gelten sprachliche Fehler und Inkohärenzen in der Dokumentation als Bugs, die die gleiche Relevanz haben wie Softwarefehler. • Die Übersetzung von Webapplikationen. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf Diskurse der Sprachberatung und Sprachkritik in softwarebezogenen Übersetzungen als Kanäle sprachlicher Normierungen. Dabei ist hier keine systematische Analyse beabsichtigt, sondern zunächst einmal die Vorstellung eines kommunikativen Kontextes, in dem Formen von Sprachkritik und Sprachberatung konstitutiv sind. Insofern dieser Bereich bislang eher abseits der linguistischen Forschungsaufmerksamkeit steht, scheint seine Betrachtung besonders reizvoll. 2 Freie und offene Software FOSS zeichnet sich durch verschiedene Aspekte von Freiheit aus, zu denen insbesondere die freie Einsehbarkeit des Quelltextes, die freie Modifizierbarkeit und die freie Weitergabe gehören. Sie bezieht sich damit nicht allein auf den Aspekt der Kostenlosigkeit - es gibt auch unfreie kostenlose Software wie z. B. Skype -, sondern auf Freiheit wie in „freier Rede“, nicht wie in „Freibier“. Die Freiheit von Software kann durch verschiedene Lizenzen gesichert werden, 7 Vgl. dazu Cañuelo Sarrión / Seiler (2008) und Seiler (2015). <?page no="332"?> 332 Falk Seiler (Gießen) wobei die GPL und BSD -Lizenzen besonders prominent sind. 8 FOSS steht damit unter den Aspekten ihrer Produktion, ihrer internen Verfassung und ihrer Zirkulation im Gegensatz zu proprietärer Software, die nach kommerziellen Gesichtspunkten produziert, vertrieben und geschützt wird. FOSS , um die herum sich auch eine ausdifferenzierte soziale Bewegung mit eigenem Ethos und eigener Ideologie konstituiert, lebt hingegen vom ehrenamtlichen Engagement der Beteiligten. O'Hagen (2011, 14) beobachtet, dass “instances of community translation that are embedded in strict commercial contexts applied by for-profit organisations are generally devoid of such political agenda, which cannot be said of cases of fan translation and its variants”. Die kollaborative Übersetzung von Software in FOSS-Projekten kann in diese Einschätzung durchaus einbezogen werden. Während Lokalisierungsentscheidungen im Falle proprietärer Software an Marktkriterien ausgerichtet werden, richtet sich der Umgang mit digitalen sprachlichen Ressourcen im Bereich der FOSS nicht nach Kriterien der ökonomischen Rentabilität. Für die Gestaltung mehrsprachiger Kommunikation im digitalen Raum bedeutet das vor allen Dingen, dass in FOSS auch kleinere Sprachen berücksichtigt werden können, für welche die großen Softwarefirmen den Übersetzungsaufwand nicht betreiben möchten. Es reicht ein Blick auf die Unterschiede in den zur Verfügung stehenden Sprachoptionen bei Windows, Mac OS und gängigen Linuxdistributionen, um das Potential von FOSS besonders für kleinere Sprachen zu ermessen. 3 Kanäle von Sprachberatung und Sprachkritik im Kontext der italienischen Lokalisierung von Freier und offener Software Der Bereich der Lokalisierung freier und offener Software ins Italienische ist ein sehr unübersichtliches Terrain. Hier sind zunächst Großprojekte wie die Desktop-Systeme (vor allem KDE und GNOME ) zu nennen, aber auch eine Vielfalt kleinerer Vorhaben. Voranschicken lässt sich schließlich die Feststellung, dass Sprachberatung und Sprachkritik im Falle der Lokalisierung ins Italienische vor dem Hintergrund einer soziolinguistisch gefestigten Position der Sprache erfolgen. Ein Symbolwert des Vorliegens von Software im Italienischen muss nicht extra behauptet werden, wie das bei Idiomen in einer Minderheitenposition der Fall ist, bei denen Software übrigens auch ein wichtiger Faktor der 8 Vgl. dazu die Seiten der Free Software Foundation (https: / / fsfe.org/ ). Zu den bekanntesten Projekten in diesem Kontext gehören Mozilla Firefox, LibreOffice oder der VLC Player. <?page no="333"?> Sprachkritik und Sprachberatung im Kontext der italienischen Lokalisierung 333 Alphabetisierung in der Muttersprache und, im weiteren Sinne, überhaupt der Teilhabe an der digitalen Komunikation ist (vgl. z.B Djité 2008). Zur Untersuchung von Formen der Sprachberatung und Sprachkritik im Kontext der Lokalisierung von FOSS bietet sich folgendes Material an: • Handreichungen in Form von Styleguides oder von Glossaren, also normative Texte, in die an manchen Stellen auch Sprachkritik explizit eingeschrieben ist. • Verteilerlisten, auf denen Fragen gestellt werden können und auf denen Diskussionen stattfinden. In der Literatur ist darauf hingewiesen worden, dass besonders in der Forenkommunikation im Internet laienlinguistische Vorstellungen gut sichtbar werden (vgl. Achard-Bayle / Paveau 2008, 5). Diese Einschätzung trifft auch auf die Kommunikation über solche Verteilerlisten zu, die überaus interessante Einblicke in die normativen Vorstellungen der beteiligten Akteure und in Prozesse der Entscheidungen zu bestimmten Formen zu geben vermag. Hier werden Prozesse der Aushandlung von Normen sehr direkt beobachtbar. Dabei geht es in unserem Falle nicht nur um die Kommentierung bestimmter sprachlicher Formen, sondern auch um die Entscheidungsfindung darüber, welche Formen letztlich in die jeweilige Benutzungsoberfläche Eingang finden. 3.1 Translation Project Eine Übersicht über die Lokalisierung von FOSS ins Italienische findet sich auf der Seite des Translation Projects (http: / / tp.linux.it/ progetti_traduzione. html#rassegna). Diese Übersicht ist nicht vollständig und wird auch nicht gut gepflegt, enthält aber Verweise auf prominente Projekte, die in der Regel die italienischen Sektionen übergeordneter Projekte darstellen: • ILDP - Italian Linux Documentation Project, • Free Translation Project - Italia, • GNOME Project - Italia, die Lokalisierung des GNOME -Desktops, der in der Linux-Welt sehr weit verbreitet ist, • GIMP Italia, die Lokalisierung des populären Bildbearbeitungsprogramms, • Traduttori italiani dei testi del progetto GNU , wobei es sich um die offiziellen Webseiten des GNU -Projekts handelt, • Sezione Italiana der Free Software Foundation Europe: Hier wird auch eine ideologische Kontextualisierung des eigenen Handelns vorgenommen, wie sie im Umfeld der FOSS -Lokalisierungsaktivitäten nicht unüblich ist: L’esperienza mostra che le migliori traduzioni sono quelle che una persona esegue da una lingua straniera verso la propria lingua madre. Prima di iniziare a tradurre, <?page no="334"?> 334 Falk Seiler (Gießen) consigliamo di informarsi su cosa è la FSFE e sui concetti e valori alla base del nostro lavoro. Per aiutarti con le parole e le espressioni difficili, curiamo un glossario in più di 15 lingue su cui puoi fare affidamento quando incontri una terminologia tecnica o semplicemente dei modi tipici di esprimersi quando si parla per conto di FSFE (https: / / fsfe.org/ contribute/ translators/ translators.it.html). Das erwähnte Glossar ist unter https: / / fsfe.org/ contribute/ translators/ wordlist. it.html aufrufbar; • die italienische Übersetzung der Linuxdistributionen Debian und Mandriva (letztere gibt es inzwischen nicht mehr); • dazu einige spezifische Projekte: die Desktopumgebung KDE , die Textverarbeitung OpenOffice, die Dokumentation von Samba, eines wichtigen Netzwerkprogramms, das Schnittstellen zwischen Linux- und Windowsrechnern bereitstellt. Über dieses Panorama hinaus sind die Ressourcen des Translation Projects als eine Handreichung für die an Lokalisierungsprojekten Beteiligten, insbesondere für Anfänger, zu verstehen: Ci sono molti modi di contribuire alla diffusione del software libero, senza necessariamente dover essere programmatori: uno di questi è la partecipazione a uno dei tanti progetti di traduzione in italiano del software libero, o della documentazione ad esso collegata. Questo documento vuole essere un punto di partenza per gli aspiranti traduttori: dopo una serie di informazioni generali, utili per farsi un’idea dell’attività di traduzione del software e della documentazione libera, viene presentata una rassegna dei principali progetti attivi al momento, con riferimenti per ulteriori approfondimenti (http: / / tp.linux.it/ progetti_traduzione.html). Es ist offensichtlich, dass sich dieses Dokument an Laien im Bereich der Übersetzung richtet. Mit der Möglichkeit, dass sich auch professionelle Übersetzer daran beteiligen und entsprechende Kompetenzen einbringen könnten, wird an keiner Stelle explizit gerechnet, auch wenn sie nicht ausgeschlossen wird. Die Übersetzungsproblematik wird in diesem Kontext auf Wegen entfaltet, die fernab von jeder übersetzungswissenschaftlichen Arbeit verlaufen und auf denen vor allem auch die Lokalisierungsforschung komplett ignoriert wird. Einer der Verfasser dieser Seite ist ein Informatiker, Emanuele Aina (http: / / nerd.ocracy.org/ em/ ), der auch die Regole per la buona traduzione des Free Translation Projects (http: / / tp.linux.it/ buona_traduzione.html) verfasst und ein Glossario dei traduttori di programmi liberi (http: / / tp.linux.it/ glossario.html) redigiert hat. In beiden Dokumenten werden Hinweise auf Quellen gegeben, <?page no="335"?> Sprachkritik und Sprachberatung im Kontext der italienischen Lokalisierung 335 wobei auffällt, dass sich Aina ausschließlich auf das informationstechnische Umfeld bezieht, nicht aber auf gängige sprachnormative Werke zum Italienischen. Das Dokument gibt Hinweise auf einen ganz eigenen sprachnormativen Referenzrahmen. So standen bei der Erstellung der Regole per la buona traduzione entsprechende Seiten der KDE -Übersetzer und ein Glossar der Übersetzer freier Software Pate, das aber über den angegebenen Link nicht mehr aufgerufen werden kann. 9 Weiterhin verweist Aina auf ein Manuale di stile per la traduzione der Übersetzer von Sun Microsystems, womit auch ein Bezug außerhalb des Kontextes freier Software hergestellt wird. 10 Die Regole per la buona traduzione und das Glossar geben recht präzise Aufschlüsse über das sprachnormative Universum, in dem wir uns hier befinden. Gleich zu Beginn wird eine gewisse normative Flexibilität signalisiert: È da tenere presente che queste regole non sono una verità rivelata, ma sono il frutto di discussioni avvenute negli anni e, pertanto, non pretendono di essere considerate assolute. Piuttosto, la validità di una traduzione non deve essere una condizione binaria, bensì un continuo di sfumature che attraversano l’intero spettro di verità. Auch zur Frage der Wörtlichkeit von Übersetzungen äußert sich der Text: Più la traduzione è vicina all’originale, tanto questa è migliore, ma tale vicinanza non deve verificarsi a scapito della forma o della correttezza: a causa del diverso modo di costruire le frasi nelle varie lingue, spesso è da considerare migliore una traduzione che si distacca dall’originale ma è più scorrevole o più elegante. Der Hinweis auf die Eleganz führt ein ästhetisches Argument ein, während die Regole insgesamt stark an den Belangen von Technikern ausgerichtet bleiben, deren Sprachempfinden nicht durch Übersetzungen gestört werden dürfe: Quando si trova davanti alla traduzione di un termine, un utente esperto deve trovarla naturale e deve poter risalire subito al termine originale (http: / / tp.linux.it/ buona_traduzione.html). 9 Die Seite ist seit 2005 nicht mehr aktualisiert worden, bleibt aber ein stabiler Bezugspunkt der Übersetzer von FOSS ins Italienische; vgl. z. B. diesen Beitrag vom April 2016, in dem die Verfasserin einen Diskussionsteilnehmer korrigiert, der behauptet hatte, es gebe keine Regeln für die Übersetzung: „Beh, ne esistono qui. O almeno per avere un’uniformità di traduzioni all’interno delle traduzioni dei programmi liberi si cerca di darsi delle regole, altrimenti nel mondo decentralizzato del software libero ogni programma/ interfaccia/ ecc. avrebbe traduzioni proprie“ (http: / / lists.linux.it/ pipermail/ tp/ 2016-April/ 027164.html). 10 Vgl. https: / / wiki.openoffice.org/ wiki/ IT/ StyleGuides, allerdings mit vielen verwaisten Links. <?page no="336"?> 336 Falk Seiler (Gießen) In diesem Sinne werden im Glossar z. B. die Lemmata account , applet , bridge (im Sinne der Netzwerktechnik), client als invariato markiert, ebenso wie database , obwohl base di dati oder banca-dati / banca dati im italienischen Sprachgebrauch gut eingeführt sind. Aufschlussreich ist, dass dort als Übersetzung für locale localizzazione angegeben wird, was sehr ungenau bis falsch ist. Im Jargon der Lokalisierungsindustrie bezeichnet locale die Grundeinheit der Lokalisierung, einen Komplex aus der Verbindung von Sprache und Land / Region. 11 3.2 Lokalisierung von KDE Im Vergleich zum Translation Project folgt das KDE -Team einer anderen Lokalisierungsstrategie. Die KDE -Übersetzer orientieren sich tendenziell stärker an der Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer, ohne aber eine einheitliche Perspektive zu entwickeln. Bei diesem Team lassen sich somit Schwankungen in der Ausrichtung an den sprachlichen Erwartungen der Nutzer und der Experten beobachten. Dabei prallen in den Diskussionen auf der Verteilerliste verschiedene Sichtweisen immer wieder aufeinander und müssen diskursiv bewältigt werden. Da KDE in viele Sprachen lokalisiert wird, sind hier sowohl Dokumente des übergeordneten Teams von Bedeutung, bei denen es um allgemeine Fragen geht, die für alle Sprachen relevant sind, als auch die Texte der einzelnen Sprachteams. Die Organisation wird in diesem Dokument beschrieben: As we get leaders appointed, they will take charge of a page of guidelines for their specific language, where they will be named. They will have final say on any question relating to their language. The guidelines will be linked from Language-specific guideline pages (https: / / techbase.kde.org/ Translation_Workflow). In einem weiteren zentralen Dokument zur Vorgehensweise findet sich folgende Einstimmung, die auch die soziologische Diversität der Übersetzerbasis anspricht: As stated in the abstract, this HOWTO is meant for everybody interested in KDE translation. It is not taken for granted that such people are at the same time developers, „geeks“, or that they know the ins and outs of all this stuff anyway and just want to check if others are as smart as they are. ; -) On the contrary, translation can be one of the fields for non-programmers and non-techs to contribute to the KDE project if they would like to (http: / / l10n.kde.org/ docs/ translation-_howto/ ). 11 Dieser Begriff fordert, wie oben bereits angedeutet, eine Kritik heraus, weil er eine wichtige Funktion bei der Reproduktion einer nationalsprachlich-territorialisierenden Sprachideologie im Kontext der sprachlichen Globalisierung ausübt. <?page no="337"?> Sprachkritik und Sprachberatung im Kontext der italienischen Lokalisierung 337 Für die Italienischübersetzer von KDE gibt es zwei Anlaufstellen, die untereinander verlinkt sind: Tradurre per KDE (http: / / kdeit.softwarelibero.it/ ) und KDE Localization / it (https: / / community.kde.org/ KDE _Localization/ it). 12 Auf Tradurre per KDE heißt es zur Motivation: Tradurre per KDE non è solo un lavoro volontario: è un’occasione per dare una ripassata alla propria ortografia (ehm…), imparare a usare nuovi strumenti come CVS o Subversion, che possono poi finire per diventare utili anche sul tuo posto di lavoro, imparare a lavorare in un gruppo sparso per l’Italia (e per il mondo), e farsi degli amici (http: / / kdeit.softwarelibero.it/ ). Man möchte also neue Mitstreiter auch mit dem Argument gewinnen, dass sie einerseits ihr Italienisch (Orthographie) verbessern, andererseits Arbeitsmittel kennenlernen, die auch außerhalb der Arbeit für KDE nützlich sein können. Insbesondere aber wird das Übersetzen als eine Praxis Gleichgesinnter verstanden, die ihre Fähigkeiten in diesem Prozess weiterentwickeln. Unter http: / / kdeit.softwarelibero.it/ traduttori.php#id-_263 stehen die Namen derjenigen, die sich für das gemeinsame Projekt registriert haben. Derzeit (03. 06. 2016) haben dort 32 Personen ein Profil veröffentlicht, wobei das Aufkommen an übersetzten Dateien zwischen ihnen sehr ungleich verteilt ist. Interessierte finden auf diesen Seiten zunächst Hinweise zur Organisation des Arbeitsprozesses (z. B. zum Vorgehen bei der Zuweisung von Dateien und zur Arbeit mit den Lokalisierungswerkzeugen) (http: / / kdeit.softwarelibero.it/ nuovonuovo.php), die dann erst in weiteren Verzweigungen auch zu Dokumenten zu sprachlichen Fragen führen. Per tradurre KDE in italiano devi essere di madrelingua italiana (o aver imparato l’italiano veramente, veramente bene), avere una buona conoscenza (almeno passiva) dell’inglese, e avere a disposizione un computer con il programma di traduzione di KDE , Lokalize (https: / / community.kde.org/ KDE _Localization/ it). Hinsichtlich des Vorgehens bei der Übersetzung verfügt KDE sowohl über sprachenübergeifende (https: / / techbase.kde.org/ Translation_Workflow) als auch sprachspezifische Guidelines (https: / / techbase.kde.org/ Translation_Workflow/ Italian). Letztere geben auf vier Unterseiten einen guten ersten Überblick über die Arten des Umgangs mit dem Italienischen, die der Orthographie, der Lexik und häufigen Fehlern gewidmet sind sowie ein Glossar beinhalten (https: / / community.kde.org/ KDE _Localization/ it/ Glossario). 12 An dieser Stelle sei auf ein entsprechendes Dokument des anderen großen Open-Source- Desktops GNOME verwiesen, für den es die Linee guida per la traduzione di GNOME gibt (http: / / digilander.libero.it/ elleuca/ linee-guida/ linee-guida.xhtml). <?page no="338"?> 338 Falk Seiler (Gießen) In der Einleitung zum Glossar wird das Vorgehen für seine Erweiterung vorgestellt: A volte si incontra un termine da tradurre del quale non si conosce esattamente un corrispettivo nella lingua italiana, oppure sulla cui traduzione ufficiale si hanno dei dubbi. Generalmente situazioni di questo genere vengono affrontate inviando un messaggio alla mailing list, nel quale si espongono i dubbi e si fanno proposte di traduzione. La proposta viene poi discussa da i traduttori e se si raggiunge un buon livello di consenso viene accettata come valida. La procedura di sottomissione di proposte di traduzione segue questo iter: 1. Il traduttore, che chiameremo Alessandro Manzoni, ha un dubbio o una proposta per un termine. 2. Il Manzoni aggiunge una riga nella tabella delle proposte qui sotto, indicando: termine, proposta, eventuali note, data e proponente. 3. Il Manzoni segnala in lista l’aggiunta di una nuova proposta, e aggiunge un collegamento al primo messaggio della discussione nella colonna apposita. 4. La proposta viene discussa in ML . 5. Nel caso in cui la proposta venga approvata, il termine (e traduzione) passa nell’olimpo del glossario ufficiale! ; ) (https: / / community.kde.org/ KDE _Localization/ it/ Glossario). Über das Kokettieren mit der literarischen Tradition des Italienischen hinaus wird hier deutlich, dass Modifikationen des Glossars nur nach vorheriger Diskussion über die Liste vorgenommen werden. Die erwähnten Dokumente, deren Lektüre allen Beteiligten immer wieder ans Herz gelegt wird, haben eher eine orientierende und beratende Funktion, indem sie in die Aufgabe der Lokalisierung einführen. In den Diskussionen über die Verteilerliste hingegen verbinden sich Sprachberatung und Sprachkritik. Diese Diskussionen zeugen auch davon, dass die Teilnehmenden durchaus immer wieder auch Dinge fragen oder falsch machen, die in den zentralen Dokumenten behandelt werden. Im Folgenden werden einige Beiträge, die exemplarisch für die Gepflogenheiten auf dieser Liste stehen mögen, zusammengestellt und kommentiert. Diese Beiträge stehen 1. für die Art und Weise, in der Sprachkritik geübt wird; 2. für den Umgang mit Anglizismen; 3. für die Strategien angesichts fehlender Normierungen im Bereich der Softwareterminologie. Sprachkritik wird hier zumeist sehr freundlich und manchmal fast verschämt geübt, so wie in dem folgenden Beitrag, in dem - wenn auch mit einem Smiley <?page no="339"?> Sprachkritik und Sprachberatung im Kontext der italienischen Lokalisierung 339 abgetönt - nach einigen Fehlern eines Teilnehmers eine korrekte Orthographie angemahnt wird: Benvenuto. Puoi usare il programma di posta che preferisci. Però, quando traduci, ricordati di scrivere “perché” e “se dà noie” con gli accenti giusti : -) Andrea C. (aspirante maestro noioso) (http: / / lists.kde.org/ ? l=kde-_i18n-_it&m=119305471421008&w=2). Zum Umgang mit Anglizismen heißt es an anderer Stelle: Benvenuto! Mi permetto anch’io una piccola critica costruttiva: meglio non usare “linkato” nelle traduzioni (meglio “collegamento” o al massimo “link”) e immagino che tu intendessi dire “coerente” quando hai scritto “consistente” (occhio ai falsi amici ; -). Ciao, Salvo sisisi.. certamente! ; -) intendevo il termine “consistente” nel senso che fosse consistente con l’insieme delle frasi già tradotte (frasi che potevo trovare nei link che mi sono stati passati). ho usato il termine linkare perchè lo uso spesso come slang. ovviamente non intendo usare slang all’interno delle traduzioni. poi, ti spiego: nelle mail scrivo spesso in modo alquanto informale e non sto molto a controllare i termini che scrivo. noto che tradurre non è così facile come pensavo all’inizio! spesso mi imbatto in forme inglesi che sono entrate nel mio vocabolario giornaliero ma che in realtà non sono italiane! ! quindi passo un sacco di tempo a pensare a come poterle tradurre correttamente. cmq quando ho dei dubbi consulto i link che mi avete passato, sono utili! : -) Paolo (http: / / lists.kde.org/ ? l=kde-_i18n-_it&m=119438529208586&w=2). Diese Äußerung vermittelt in ihrer Unbefangenheit einen Aufschluss darüber, wie sehr die Herausforderungen des Übersetzens durch den Mitarbeiter zunächst unterschätzt worden waren. Die Hürde zur Beteiligung an einem solchen gemeinschaftlichen Übersetzungsprojekt scheint angesichts weitverbreiteter Englischkenntnisse zunächst nicht sehr hoch zu liegen. Eine Sensibilisierung für die sprachliche Komplexität des Unterfangens stellt sich bei den Beteiligten zumeist erst später ein, wenn sie sich mit der Notwendigkeit der Herstellung von Konsistenz zwischen den Übersetzungslösungen ebenso auseinandersetzen müssen, wie sie mit sprachlichen Unsicherheiten und der Kritik durch die Mitbeteiligten umzugehen haben. Sie zeigen aber auch, wie die Übersetzungstätigkeit einen Kanal der sprachlichen Bewusstwerdung darstellen kann. Die Frage nach den Anglizismen kehrt immer wieder, so auch in der Diskussion um die Frage, ob man das englische Mailing List mit lista di discussione übersetzen sollte. Hierzu äußert sich jemand, der selbst gar nicht aktiv an der Übersetzungsarbeit teilnimmt: <?page no="340"?> 340 Falk Seiler (Gießen) Anche se non attualmente partecipe del vostro lavoro, voto per lista di distribuzione, il termine discussione implica un fine che non è forzatamente lo scopo di una lista di distribuzione. Inoltre usare terminologia in italiano quando ciò non introduce forzature eccessive è a mio avviso un cosa “buona e giusta” : -) La conservazione della cultura e della conoscenza passa anche attraverso la conoscenza della propria lingua, e nel linguaggio informatico si concede troppo facilmente spazio a terminologia “importata” (http: / / lists.kde.org/ ? l=kde-_i18n-_ it&m=117295225623946&w=2). Hier manifestiert sich ein kulturkonservierender Ansatz, der auf der Liste immer wieder ins Feld geführt wird. Ein Teilnehmer reflektiert auf folgende Weise über den Gebrauch von Anglizismen in den Übersetzungen: Non è raro (soprattutto per il software commerciale) fare traduzioni improvvisate dove alcuni termini non vengono tradotti per ignoranza o semplice pigrizia. Secondo me non è una buona scusa: delle traduzioni accettabili di solito si trovano nei documenti universitari (per KP lato, per esempio, ho trovato milestone → picchetto). Vale sempre la vecchia regola: la traduzione serve a far capire il termine. Se c’è un termine usato in italiano si usa quello, se non c’è si cerca una nuova traduzione in grado di far capire il termine all’utente, se non ce n’è si lascia in inglese (http: / / lists. kde.org/ ? l=kde-_i18n-_it&m=120445472612138&w=2). An dieser Stelle artikuliert sich ein Bewusstsein für die eigene Entscheidungsfreiheit, aber auch für die kommunikationsethische Relevanz des eigenen Tuns. Das Bewusstsein für die sprachliche Entscheidungsfreiheit wird immer dann gefordert, wenn sich die Übersetzerinnen und Übersetzer mit der Notwendigkeit konfrontiert sehen, Lösungen angesichts fehlender Normierungen zu finden und diese Lösungen kohärent zu verwenden: Usare traduzioni diverse per lo stesso termine genera confusione nell’utente. Quindi è sempre un po’ delicato Introdurre una nuova traduzione. Ci possono essere due modi per farlo: • si trova un accordo tra più gruppi di traduzione (nostro, TP , Gnome, Mozilla, Open- Office, Mandriva, Suse, …) affinché questa diventi rapidamente la traduzione prevalente, almeno in ambito Linux. • la si usa sfacciatamente. Se è buona si afferma : -) (http: / / lists.kde.org/ ? l=kde-_i18n-_ it&m=119459812713005&w=2). <?page no="341"?> Sprachkritik und Sprachberatung im Kontext der italienischen Lokalisierung 341 Die folgenden Bemerkungen geben einen Einblick in die normativen Referenzen, die auf den Übersetzungsvorgang einwirken können. Ein Teilnehmer fragt nach Regeln für das euphonische d : Abbiamo qualche regola sull’uso? Che io sappia (studi di linguistica di mia moglie di qualche anno fa), la “regola” più moderna è inserirla solo se segue la stessa vocale, ma non davanti a diversa vocale come si tendeva a usare tempo fa, o in alcuni testi ampollosi attuali. Direi proprio di sì, a parte casi ormai consolidati nella lingua tipo “ad esempio” […] Per un chiarimento, direi risolutivo, ecco qui: http: / / www.accademiadellacrusca.it/ faq/ faq_risp.php? id=3936&ctg_id=44 Troppo tradizionalista? : -P (http: / / lists.kde.org/ ? l=kde-_i18n-_ it&m=123823773131122&w=2). Während sich der Fragende auf die linguistische Ausbildung seiner Frau beruft, bezieht sich der Antwortende auf das Wörterbuch der Accademia della Crusca, das übrigens nicht zu den in den allgemeinen Handreichungen angegebenen Werken gehört. Aufschlussreich ist hier die Qualifikation eines solchen Verweises auf das Akademiewörterbuch als “risolutivo” und die im gleichen Atemzug formulierte - nur rhetorische ? - Frage an die Beteiligten, ob das vielleicht zu traditionalistisch sei. Hier scheinen sich Wissensfragmente zur normativen Tradition des Italienischen ebenso zu artikulieren wie Zweifel über die Beständigkeit der Wirkungskraft traditioneller Normen im vorliegenden kommunikativen Kontext. Auch in einem anderen Thread wird auf die Accademia verwiesen. Anlass ist die Notwendigkeit, den Gebrauch von disinstallare und deinstallare in den Übersetzungen zu vereinheitlichen. Eheh… aspettavo questa domanda! Le modifiche erano tue, infatti. Preferisci disinstallare o deinstallare? Per chiarirmi, io sono per il secondo, meno cacofonico e più „italiano“. (E un poco più breve che non guasta) Già , ma il primo è decisamente più usato (di ordini di grandezza, mi sa), praticamente ovunque. Credo non ci sia molto da fare… Uhm… già! vedo. Strano, in inglese la proporzione è inversa. Per quanto trovi cacofonico l’accostamento tra il prefisso dise l’inizio della parola installare, non posso che accettare la realtà della maggior diffusione. Però mi avevate capito tutti, vero? <?page no="342"?> 342 Falk Seiler (Gießen) Che si fa, te ne occupi tu? Come curiosità , ho trovato un interessante articolo sul prefisso dis- (e de-, ina-, per giunta) sul sito dell’Accademia della Crusca: http: / / www.accademiadellacrusca.it/ faq/ faq_risp.php? id=6717&ctg_id=44 (http: / / lists. kde.org/ ? l=kde-_i18n-_it&m=122850872022602&w=2). Zu den immer wieder angeführten lexikalischen Referenzwerken gehört die Online-Version des Dizionario dei sinonimi e contrari von Tullio de Mauro. 13 So äußert sich einer der Übersetzer folgendermaßen über seine Referenzen und schließt mit einem direkten Appell zur guten Nutzung von Wörterbüchern: A proposito, io di solito utilizzo alcuni siti per le traduzioni, specie per qualche termine che non conosco o per rendere il significato come si deve: Wikipedia (http: / / it.wikipedia.org oppure http: / / en.wikipedia.org), il mitico De Mauro come dizionario italiano (www.demauroparavia.it), mentre come vocabolario inglese (non perfetto ma di solito rende abbastanza l’idea) http: / / dizionari.corriere.it oppure, previa registrazione, www. garzantilinguistica.it. Fanne buon uso, specie del vocabolario! : ) (http: / / lists.kde.org/ ? l=kde-_i18n-_ it&m=119011912517386&w=2) Ein Beispiel für eine direkte Bezugnahme auf De Mauro findet sich hier: Mi sono trovata in difficoltà con „Function Optimizer“, dal momento che „ottimizzatore“ in italiano non esisterebbe, Se esiste, come esiste, „ottimizzare“, non vedo perché non debba esistere „ottimizzatore“. Tra l’altro, per i fan del De Mauro, lì c’è (http: / / lists.kde.org/ ? l=kde-_i18n-_ it&m=120058490024783&w=2). Ich habe weiterhin Verweise auf das Wörterbuch von Devoto-Oli und auf den Zingarelli sowie auf das Vocabolario Treccani Online gefunden. Insgesamt überwiegen die Erwähnungen von Online-Werken. Bei der Suche nach angemessenen Lösungen werden auch Suchmaschinen konsultiert, und sei es, um etwas über die Frequenzen konkurrierender Übersetzungslösungen zu erfahren. 14 Ein weiterer Weg, der mitunter bei terminologischen Zweifeln eingeschlagen wird, besteht in Bezugnahmen auf andere romanische Sprachen. So beschreibt ein Teilnehmer sein Vorgehen folgendermaßen: 13 http: / / www.demauroparavia.it/ index. 14 Siehe z. B. zu „visore vs. visualizzatore“: http: / / lists.kde.org/ ? l=kde-i18n-it&m= 122641415531534&w=2. <?page no="343"?> Sprachkritik und Sprachberatung im Kontext der italienischen Lokalisierung 343 Uso Kbabel e imposto come PO ausiliario la traduzione francese o un msgcat delle traduzioni “latine”. Quella catalana è favolosa. Molte parole si scrivono esattamente come in italiano ; -) (http: / / lists.kde.org/ ? l=kde-_i18n-_it&m=117864665213204&w=2). Eine solche Form des laienlinguistisch vermittelten innerromanischen Ausgleichs ließ sich auch auf der Liste der spanischen Lokalisierung von KDE beobachten (vgl. Seiler 2013b, 378). Es wurde bereits erwähnt, dass in unserem Kontext die sprachberaterische Tätigkeit oft Hand in Hand mit technischer Beratung und mit Beratung über die Organisation des Arbeitsprozesses einhergeht. Man kann das nicht nur in den einführenden Texten der einzelnen Projekte beobachten, sondern auch in den Diskussionen auf der Verteilerliste. Die Listenmitglieder sind häufig damit beschäftigt, denjenigen Auskunft zu geben, die sich im Gebrauch der Übersetzungssoftware und in der Logik und Bedienung des Versionsverwaltungssystems noch nicht so gut auskennen. Dass bei der Übersetzung auch technische Faktoren zu berücksichtigen sind, wird z. B. in diesem Thread angesprochen, in dem es um die Länge der übersetzten Ausdrücke geht. Diese spielt immer dann eine besondere Rolle, wenn Konflikte mit den Fenstergrößen möglich sind: Ciao, Ragazzi incominciando a tradurre i miei primi files, ho trovato l’espressione „e.g.“. abbreviazione dell’espressione latina „exempli gratia“ Ora word reference mi dice che sta per „es.“ abbreviatamente e per „per esempio“ in maniera estesa. Quale devo usare? Quello che ti sembra più opportuno. Il problema principale è la lunghezza della frase. Di solito è meglio non dilatare troppo la lunghezza della traduzione italiana, che è già naturalmente più lunga dell’originale inglese (https: / / marc.info/ ? l=kde-_i18n-_ it&m=116893617522362&w=2). Darüber hinaus passiert es mitunter auch, dass technisch-organisatorischen Fragen mit Sprachkritik begegnet wird: come posso essere sicuro di quelli che sto traducendo? dove è che posso trovare la location corretta e quindi confrontare là se i files sono già stati tradotti o meno? Ciao Paolo, scusa la pignoleria, ma visto che traduci: i termini inglesi entrati nell’uso comune, come “file”, in italiano non devono prendere la ’s’. del plurale. Salvo - (http: / / lists.kde.org/ ? l=kde-_i18n-_it&m=122388078516777&w=2). <?page no="344"?> 344 Falk Seiler (Gießen) Solche Formen von Sprachkritik sind in unserem Kontext der freiwilligen, unbezahlten Übersetzung immer eine heikle Sache und können zur Gratwanderung werden, weil man damit einerseits keine Interessenten verschrecken möchte, es auf der anderen Seite auch nicht tolerieren möchte, wenn Listenmitglieder nachlässig oder ignorant mit der eigenen Sprache umgehen. Es kommt durchaus vor, dass Interessenten Begeisterung für eine Tätigkeit als Softwareübersetzer mitbringen, aber der Aufgabe aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse nicht gewachsen sind. Bei den Auseinandersetzungen fällt auf, dass immer wieder Argumente des Wohlklangs ins Feld geführt werden, wie z. B. in der Diskussion zu facoltativo statt opzionale : “Opzione” è una parola un po’ bruttina eufonicamente, per via del “pz” che non ricorre in molte parole in italiano. Mica lo leggi ad alta voce : -D (http: / / lists.kde.org/ ? l=kde-_i18n-_it&m= 124615170102293&w=2) Ästhetisch wird auch in einem Thread argumentiert, in dem es um die Übersetzung von password geht: salve a tutti assolutamente d’accordo con Marco, infatti da quando esiste il web e l’esigenza di gestiore account personali, che si usa il binomio: Nome utente / Password.. quindi è ormai di uso così comune e generalizzato che… sarebbe davvero un errore (dal mio punto di vista), volerla tradurre a tutti i costi e con significati, perlomeno…fuorvianti! Questo non è il caso di „parola segreta“ o „parola d’ordine“. La seconda è la traduzione „ufficiale“, forse troppo „ufficiale“. La prima esprime molto charamente il concetto. Come dice Marco, spesso per spiegare ad un non-informatico cosa significa password gli si dice che è una parola (che deve tenere) segreta che serve per essere riconosciuti dal sistema. Se il tizio ha fatto il militare, basta dirgli che è una „parola d’ordine“. La mia riluttanza a passare da “password” a “parola segreta” o altre traduzioni è prevalentemente “estetica”. Considero brutto che in un ambiente Linux ci siano concetti tradotti in modi diversi. Un utente deve trovarsi davanti sempre password o parola d’ordine o parola segreta ; -) (http: / / lists.kde.org/ ? l=kde-_i18n-_it&m=119471190809919&w=2). Beratung von außen hat zu dieser Frage einer der Teilnehmer bei seiner Freundin in Anspruch genommen, die Italienischlehrerin ist: <?page no="345"?> Sprachkritik und Sprachberatung im Kontext der italienischen Lokalisierung 345 Ne ho parlato con la mia compagna che (essendo piuttosto a digiuno di informatica ma insegnante di italiano) ho pensato può dare degli spunti interessanti. 1 - “parola / frase d’ordine” non le spiace affatto. I bambini la usano molto nei giochi e quando si va in aula di informatica la comprensione è immediata. 2 - ha suggerito “parola / frase chiave” dove con chiave intendeva esprimere la funzione di aprire l’accesso a qualcosa …se poi, ragionando sul precedente e sul significato del termine inglese “pass”, è sbottata con 3 - “parola / frase d’accesso” che sembra essere maggiormente rispondente ad una traduzione letterale. 4 - ho suggerito il termine “parola / chiave segreta” ma non ne era convinta dato il significato leggermente diverso. pensiamoci su… (http: / / lists.kde.org/ ? l=kde-_i18n-_it&m=119480162722977&w=2). Im weiteren Verlauf äußert sich noch ein Teilnehmer, der sich strikt gegen eine Übersetzung und für die Beibehaltung des Anglizismus password ausspricht: Continuo a essere in profondo disaccordo. A mio avviso qualunque traduzione è assolutamente arbitraria e azzardata. Password ha una tradizione decennale, ormai (almeno in ambito informatico). C’è sul De Mauro, c’è su WordReference, c’è su Garzanti Linguistica, c’è su Wikipedia, per non parlare dei principali siti / portali italiani, quali libero, tiscali, alice, ma anche google.it, hotmail.it, yahoo.it…Windows…Francamente sono sorpreso che se ne stia addirittura parlando! (http: / / lists.kde.org/ ? l=kde-_i18n-_ it&m=119490256818614&w=2). Er begründet seine Auffassung mit einem Verweis auf die Tradition des Gebrauchs und auf Online-Lexika. Dieser Thread zeigt auch noch einmal, wie Meinungsverschiedenheiten auf dieser Liste in der Regel ausgetragen werden. Es passiert nicht zuletzt auch, dass Supportanfragen zur Bedienung der übersetzten Programme von Nutzern irrtümlicherweise an die Übersetzungslisten gestellt werden. In der Regel bemüht man sich dann trotzdem um Hilfe; harsche Zurückweisungen solcher falsch adressierter Anfragen habe ich auf Übersetzerlisten - anders als in anderen informationstechnischen Supportforen - nicht gefunden. Hierzu ein Beispiel von der Liste der Debian-Übersetzer, auf der ein <?page no="346"?> 346 Falk Seiler (Gießen) Nutzer einen Thread mit dem Titel “debian non funziona” eröffnet hatte und auf den einer der Übersetzer antwortet: Ciao Massimo, hai sbagliato lista, hai scritto sulla lista delle traduzioni in italiano e non sulla lista degli utenti italiani. Rispondo direttamente anche al tuo indirizzo di posta perché presuppongo che non sei iscritto alla lista degli utenti italiani (https: / / lists.debian.org/ debian-_l10n-_ italian/ 2015/ 09/ msg00004.html). 4 Zusammenfassung Gegenstand dieser Ausführungen waren Formen von Sprachberatung und Sprachkritik in einem spezifischen Kontext der Laienübersetzung. Zu beobachten war zum einen Kritik an Nachlässigkeiten im Umgang mit der italienischen Sprache, vor allem aber Sprachkritik in einem Prozess der Suche nach guten Lösungen in einem normativ nicht durchgehend geregelten Bereich. Unterstützt werden diese Diskurse durch orientierendes Material, in dem sprachliche und technische Normen integriert behandelt werden. Allerdings wird dieses Material offenbar nur selten von den Teilnehmenden gelesen. Angesichts dieser Umstände ist die Grenze zwischen tatsächlich fehlender Normierung des Italienischen und individuellen Unklarheiten nicht immer deutlich zu ziehen. Ganz ähnlich, wie es in Forenkommunikation üblich ist, präsentieren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer als soziale Gemeinschaft mit bestimmten Werten, Regeln und Normen (vgl. Thörle 2008, 175). Im Rahmen dieser Gemeinschaft findet die beobachtete Sprachberatung statt, und dort sind auch die sprachkritischen Diskurse situiert. Bei der Betrachtung der hier vorgestellten Texte fällt auf, dass es keinerlei Bezug auf professionelle Erkenntnisse zum Übersetzen gibt. Die Softwarelokalisierer bewegen sich fernab der universitären und weitgehend auch sprachenindustriellen Beschäftigung mit Lokalisierung. Anders als bei der Lokalisierung von KDE ins Spanische beteiligen sich auch keine Studierenden der Übersetzungswissenschaft (vgl. Seiler 2013b, 374 f.). Damit lässt sich die Aussage O'Hagans differenzieren, die verallgemeinernd konstatiert: “In general, participants in community translation settings are not all untrained volunteers; professional translators also respond to a particular call which they consider worthwile, despite the lack of remuneration” (O'Hagan 2001, 13) bzw. mit Blick auf die Übersetzung von freier und offener Software: “This group collaborated with some professional translators who were happy to be involved in these translation projects mainly whithout monetary compensation” (a. a. O., 15). <?page no="347"?> Sprachkritik und Sprachberatung im Kontext der italienischen Lokalisierung 347 Wir treffen hier auf sprachliche Reflexionen, die, selbst wo sie von einem linguistischen Standpunkt aus naiv scheinen mögen, in einen gleichwohl recht robusten Diskussionsrahmen eingebettet sind (vgl. Seiler 2013b). Dieser Diskussionsrahmen dient der kollektiven Wissensproduktion und Qualitätskontrolle ebenso wie der kollektiven Sprachbewusstseinsbildung und dem Abbau sprachlicher Unsicherheiten. Als Katalysator für die Sprachbewusstseinsbildung wirkt dabei das Bewusstsein, freiwillig und ehrenamtlich an einem gemeinschaftlichen Projekt mitzuarbeiten, nämlich freie und offene Software im Italienischen zugänglich zu machen. Die Teilnehmenden - jedenfalls einige - scheinen um das sprachnormative Gewicht ihres eigenen Tuns zu wissen, lassen dieses Wissen aber nicht in eine sprachlich elitäre Haltung umschlagen. Die Ideologie der Bewegung der FOSS , die das freie Teilen von Wissen impliziert, stützt in unserem Falle die sprachliche Beratungstätigkeit in einem weiteren Sinne und begünstigt außerdem sprachlichen Abgleich mit den Lösungen anderer Übersetzungsprojekte im Bereich von FOSS . In unserem Kontext entsteht der Eindruck einer sprachnormativen Lebendigkeit mit einem eigenen Referenzrahmen, der über weite Strecken selbstbezüglich bleibt, aber verhandelbar und erweiterbar ist - wobei sich die Akteure nicht von externen Einflüssen isolieren. Dies wird z. B. immer dann spürbar, wenn ein leises Echo der ästhetischen Tradition in den Sprachdiskussionen zum Italienischen vernehmbar ist oder wenn sich einzelne Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf Werke beziehen, die in den allgemeinen Handreichungen nicht erfasst sind. Wir erfahren weiterhin etwas über die Quellen, aus denen sich der linguistische Alltagsverstand der Teilnehmenden speist. Die Einbettung der Lokalisierungsdiskurse in eine soziale und technische Praxis lässt dabei keinen Raum für Essentialisierungen und die Verdinglichung von Sprache, wie sie zu einem weitverbreiteten Inventar laienlinguistischer Vorstellungen zu gehören scheint. In den Lokalisierungsdiskursen wurden keine Stimmen laut, die in irgendeiner Weise die Auffassung vertraten, die Form der (reinen) Standardsprache sei die einzig legitime Existenzform einer Sprache. Es mag sein, dass die Ferne zu mehr oder weniger professionalisierten und / oder institutionalisierten Formen der Sprachreflexion eine relative Ideologiefreiheit in gerade dieser Hinsicht begünstigt, insofern solchen Formen nach wie vor nationalphilologische Einsprachigkeitsphantasien eingeschrieben sein können. Auf unserer Liste setzt sich jedenfalls im Allgemeinen ein pragmatisches Vorgehen durch, bei dem sprachideologische Aspekte eher marginal scheinen. So wird das im Softwarebereich allgegenwärtige Englische mal als unerlässlich und mal als kommunikativ unangemessen angesehen, nie jedoch als Bedrohung für “das Italienische” schlechthin. Die Teilnehmenden setzen Fragen der formalen Korrektheit und <?page no="348"?> 348 Falk Seiler (Gießen) solche der kommunikativen Angemessenheit in ein durchaus angemessenes Verhältnis und stellen sie über abstrakte Fragen wie z. B. die nach dem Verhältnis zwischen sprachlicher Bewahrung und Innovation. Im Falle der Äußerungen auf der Verteilerliste ging es nicht lediglich um Kommentare, die zwar Einblicke in das Sprachbewusstsein der Akteure liefern, deren Bezug zur sprachlich-kommunikativen Praxis aber letztlich nur sehr locker bleibt. Hier konnten wir hingegen sprachliche Reflexionen beobachten, in deren Rahmen Sprachkritik und Sprachberatung direkt in eine normative Entscheidungspraxis überführt werden. Bei den Beteiligten handelt es sich um linguistische und übersetzungswissenschaftliche Laien, aber die Resultate der sprachlichen Entscheidungen in den großen FOSS -Projekten - und KDE gehört dazu - lassen sich in der Regel nicht als das Werk von Laien identifizieren. Insofern handelt es sich um einen bemerkenswerten Sonderfall für ein “effacement des différences entre professionnels du savoir (…) et détenteures profanes de savoirs ou de savoirs profanes” (Achard-Bayle / Paveau 2008, 4) bei gleichzeitig konsequenter Nichtberücksichtigung der übersetzungswissenschaftlichen Wissensproduktion durch die Akteure. Über die Beobachtung von Sprachkritik und Sprachberatung ließ sich somit ein sehr direkter Einblick in sprachnormative Entscheidungsprozesse „von unten“ gewinnen, welche die einzelsprachliche Strukturierung von Software und damit eines wesentlichen Substrats computervermittelter Kommunikation bestimmen. Die normative Wirkung der in die graphischen Benutzungsoberflächen eingeschriebenen Sprachformen ist möglicherweise umso stärker, als diese weitgehend in einem “digitalen sprachlichen Unbewussten” bleiben bzw. von den Nutzerinnen und Nutzern in der Regel als unhintergehbar hingenommen werden und nur selten Gegenstand von Sprachkritik sind. Literaturverzeichnis Achard-Bayle, Guy / Paveau, Marie-Anne (2008): „Présentation. La linguistique «hors du temple»“, in: Pratiques , 139 / 140, 3-16. Beste, Kai (2006): Softwarelokalisierung und Übersetzung , Trier, WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier. Cañuelo Sarrión, Susana / Seiler, Falk (2008): „Reflexiones teóricas y prácticas sobre la localización de software a partir de una traducción de interfaz gráfica de usuario“, in: Ivanova, Vessela / Krüger, Elke / Tabares, Encarna (eds.): Análisis lingüístico contrastivo de textos especializados en español y alemán, Berlin, Frank und Timme, Verlag für wissenschaftliche Literatur, 45-66. 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Multilinguisme dans les espaces francophones, München, Martin Meidenbauer Verlag, 171-197. <?page no="351"?> Normvorstellungen und Normtoleranz 351 Normvorstellungen und Normtoleranz bei Italienischsprechern im Ruhrgebiet und in Catania Gerald Bernhard (Bochum) 1 Einleitung Der folgende Beitrag widmet sich nicht Erscheinungen von, im weitesten Sinne, etablierter Sprachkritik oder deren Wirkung, 1 sondern dem Vorhandensein und Wirken vielfältiger usueller Normen bei Italienischsprechern in der Diaspora (hier: im Ruhrgebiet), in welcher unterschiedliche Herkunftssprachen und Dialekte miteinander in Kontakt stehen (bspw. Sizilianisch und Kampanisch, Venezianisch und Toskanisch usw.), was indirekt einen Einfluss auf die Wahrnehmung und die daraus resultierenden Vorstellungen von ‚normalem‘ Italienisch hervorbringt. Diese Vorstellungen und Kritiken (im ursprünglichen Sinne von Unterscheidung) sowie daraus resultierende Spracheinstellungen geben Anlass zur Erwartung, dass Kritik von und an Sprechweisen des Italienischen im Ruhrgebiet und damit verbundene, primär ästhetische Kritik andere Wege geht als in regional und national relativ stabilen Sprechergemeinschaften. Um diese Erwartung überprüfen zu können, wurden Äußerungen aus dem Ruhritalienischen solchen aus Catania und dessen Provinz gegenübergestellt, da eine 1 Sprachkritik i. A. bespricht in ihrer heutigen Form, anhand historisch tradierter Normen, sowohl ‚basislinguistische‘ Probleme der grammatischen Struktur der System-Norm- Gefüge als auch solche bestimmter stilistischer oder terminologischer Ausprägung. Dabei spielt die Einbettung solcher Beobachtungen in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext stets eine wichtige Rolle, sodass „Sprachkritik von Sachkritik“ ( Janich 2013, 362) kaum getrennt werden kann. Zudem ergibt sich daraus mit der Frage „Wer darf welches Wort kritisieren? “ (Mell 2015, 439) eine Suche nach der Deutungshoheit sprachlich-gesellschaftlicher Normverstöße (siehe auch Heringer / Wimmer 2015, 19; 75). Gauger (2004) nimmt eine Typisierung von Sprachkritik vor, in welcher sich (moderne und philologische) Linguistik als Beraterin findet. Hierzu sei angemerkt, dass in sogenannten modernen, offenen Gesellschaften die Sprachberatung, sowie sie seitens vieler Sprecher aus unterschiedlichen Anlässen bei ‚Fachleuten‘ gesucht und eingeholt wird, ein möglicherweise auch wissenschaftlich interessantes Bindeglied zwischen Linguistik, ‚Laienlinguistik‘ und ‚intellektueller‘, elaborierter Sprachkritik darstellt. In der Sprachberatung bestehen bereits, z. B. bei der Accademia della Crusca (Florenz), Verbindungen zwischen Philologie, Linguistik und praktischer Anwendung, wenngleich sich offenbar gesamtheitlich noch keine umfangreiche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sprachberatung entwickelt hat (vgl. Riegel 2007, 26). Zur Sprachberatung in Italien vgl. Ernst (1998), insbesondere zu „La Crusca per voi“ (z. B. seit 1990). <?page no="352"?> 352 Gerald Bernhard (Bochum) große Gruppe der „Ruhritaliener“ aus Catania bzw. Ostsizilien stammt. Dementsprechend sind die hier vorgestellten Informanten aus der Ruhrregion ebenfalls vornehmlich ostsizilianischer Abstammung. 2 2 Normen und Normvorstellungen Während in catanesischen Sprechergemeinschaften durch die in Italien erfahrene Schulbildung ein intensiver Kontakt mit der präskriptiven Norm, auch und v. a. der Schreibnorm, besteht, ist der Umgang - ja bereits die Sichtbarkeit des Italienischen in der Öffentlichkeit - mit der „exemplarischen Sprache“ Italienisch (Coseriu 2007 [1988], 26; 143) des Herkunftsbzw. L 2 -Muttersprachraums bei einer Vielzahl von im Ruhrgebiet wohnenden italienischen Migranten oder deren Nachkommen bisweilen in geringerem Umfange oder gar nur rudimentär vorhanden. 3 Hierdurch ergeben sich nicht nur Unterschiede zwischen italienischen und deutsch-italienischen Sprechergemeinschaften hinsichtlich der Rede- und Schreibkompetenz im Standarditalienischen, sondern auch in Bezug auf die Konstitution von Vorstellungen vom Italienischen bzw. von italienischen Dialekten oder Resultaten aus vertikalem Kontakt zwischen beiden Systemen; ebenso hinsichtlich des Bewusstseins von der präskriptiven Norm im sprachlichen Alltag, denn die präskriptive kodifizierte Norm wird nur in „Streitfällen“ anbzw. aufgerufen, weil […] [kodifizierte Normen] […] eben stets nur einen Kernbereich der von ihnen betroffenen Materie explizit festlegen (können), während alles andere von außernormativem Leben festgelegt wird, das sich zum Glück durch Kodifikation gleich welcher Art niemals vollständig einfangen und dominieren lassen wird (Busse 1997, 78). Hinsichtlich der genannten Erwartungen bezüglich unterschiedlicher Einschätzungen des Standards und der Dialekte Italiens ergibt sich hieraus die Frage, ob sich Normtoleranz 4 seitens ruhritalienischer Sprecher anders gestaltet als bei 2 Die zum Vergleich herangezogenen Daten wurden der Untersuchung von Judith Kittler (2015) entnommen und stellen in gewisser Weise eine Erweiterung der dort diskutierten Fragestellungen dar. 3 Ein solcher Sachverhalt kann sich einerseits aus „geringe[r] Rückbindung an den italienischen Herkunftskontext“ (Schmid 2014, 354 f.), andererseits durch eine verstärkte Bindung an die audiovisuellen italienischen Medien ergeben. Beide Faktoren spielen möglicherweise in transnationalen Lebenskontexten, individuell wie sozial-interaktionell, zusammen, sodass, erwartungsgemäß, eine Reduktion der diaphasischen Varietäten des Italienischen eintritt. 4 Hierzu bspw. Götze (2001, 132), der sich mit dem Problem der normbegründeten Sprachkritik (u. a. auf den Diskurstheorien von Jürgen Habermas basierend) auseinandersetzt. <?page no="353"?> Normvorstellungen und Normtoleranz 353 Sprechern, die permanent in Sizilien leben. Anders insofern, als möglicherweise nicht danach gefragt wird, was die Norm (= präskriptive Norm) an Veränderungen, Abweichungen oder Neuerungen toleriert, sondern bezüglich dessen, was im Ruhrgebiet dahingehend gehört, erlebt und empfunden wird, was, um es alltagssprachlich auszudrücken, alles (noch) in die Norm hineinpasst. 5 Damit einhergehend ist im Ruhrgebiet möglicherweise auch die Vorstellung einer (extraterritorialen) ‚Plurizentrik‘ des Standards zu erwarten, da diese dem direkten Erfolg der Sprechakte entgegenkommt. 3 Sprachreflexion von Laien und Linguistik Die folgenden Beobachtungen greifen einige zentrale Bestandteile ‚laienlinguistischen Sprachhandelns‘ heraus, die im Alltag der Sprecher sowohl ‚Meinungsbilder‘ über die Sprachen (Italienisch, Dialekte) anderer als auch ‚Anleitungen‘ zum eigenen Sprechen in der kommunikativen Routine darstellen. Interaktionelle kommunikative Erfahrungen stellen die Basis für ‚laienlinguistische‘ 6 Alltagssprachkritik dar, 7 Sprachkritik im eigenen rational ge- 5 Ein Empfinden kommt wohl in der sprachlichen Interaktion zu Stande, indem Sprechakte gelingen oder missglücken können. Hierzu Busse (1997, 69): „Als erfolgreich gilt dabei jegliche Verwendungsweise eines sprachlichen Elements bzw. Anwendung einer Regel, die keine Sanktionen seitens der Kommunikationspartner hervorgerufen hat, gleich welcher Art solche Sanktionen auch sein mögen.“ 6 Siehe Plewnia / Rothe (2012, 11) für eine kurze aktuelle Begriffsfassung von „Laienlinguistik“ vgl. Antos (1996). Die Tatsache, dass sich sprechende Menschen mit der metasprachlichen Funktion ( Jakobson 1960) ihrer Sprachen auseinandersetzen, darf als gegeben vorausgesetzt werden (vgl. auch Coseriu 2007 [1988], 83). Hinsichtlich verschiedener Probleme, die sich beim Reflektieren über Struktur und Norm (nicht genau abgrenzbar), etymologischer Fragen oder aber epistemologischer Muster (z. B. Dialektgrenzen, -räume) ergeben, wird jeder Laie zunächst versuchen mit den Werkzeugen, die ihm zur Verfügung stehen, eine Lösung zu finden. Die seit Hoenigswald (1966) und Brekle (1985, 1986) vorgenommenen Abgrenzungen gegenüber der Fach-Linguistik sprechen diesen Sachverhalt hin und wieder an (vgl. auch Preston / Niedzielski 2009). 7 Zweifellos wird deutlich, dass bei laienlinguistischer Sicht auf sprachliche / linguistische Fragestellungen deren Einbindung in den Alltag eine wichtige Rolle spielt (Anders 2010, 72 f.; Eichinger 2010, 446); „Selbstkonzepte“ (Tophinke / Ziegler 2006, 3) wirken sowohl im eigenen Sprachhandeln als auch auf Spracheinstellungen. Die Tatsache, dass linguistische Laien ein von der wissenschaftlichen Linguistik scharf abgegrenztes Terrain bearbeiten, verstellt vielleicht den Blick auf die zahlreichen Abstufungen der „cognitio“ im Leibnitzschen Sinne, so wie sie von Coseriu (z. B. 2007 [1988], v. a. 206-211) in die Sprachreflexionstätigkeit eingefügt werden. In der Alltagspragmatik vieler, möglicherweise der meisten Sprecher dominiert als ästhetische, primäre Urteilsbildung die „cognitio clara confusa“, als begründetes handlungsrelevantes Wissen die „cognitio clara distincta inadaequata“, welche als „technisches Wissen“ im persönlichen Sprachhandeln ihren ‚richtigen‘ Platz hat. Die wissenschaftliche Erkenntnis auf der Stufe der „cognitio clara <?page no="354"?> 354 Gerald Bernhard (Bochum) steuerten kritischen Werten und Korrigieren von bestimmten Sprechweisen und Regeln, aber auch kritische Bemerkungen und Argumentationen bei deren Zusammenwirken in metasprachlicher Kommunikation. Hinzu tritt die Wahrnehmung des Sprechens anderer Sprecher und möglicherweise deren Abgleich mit dem eigenen Sprechen, welches sich einerseits direkt in gegenseitiger Anpassung von Sprechweisen manifestieren kann, und andererseits wiederum in Sprachtheorien von Nichtfachleuten, also sogenannten Laien, die ihrerseits ebenfalls auf das Sprachverhalten bzw. das Sprachrealisationsverhalten Einfluss nehmen können, wirksam wird. Welche interaktionellen ‚Mechanismen‘ diesen Einfluss bewirken (können), ist dabei großen Teils unbekannt. Methodisch gesehen ist die Herangehensweise an die Funktion und die Wirkung solcher vielfältigen und sehr häufig auftretenden Wahrnehmungs- und Realisationsvorgänge schwierig, ist doch die Wahrnehmung von Sprachvarietäten einerseits durch direktes Kommunizieren, andererseits durch mediales Mitteilen zu den Sprechern gelangt und die pragmatisch-sozialen Konsequenzen bzw. theoretischen Schlüsse, die daraus gezogen werden, sind möglicherweise unendlich vielfältig, auch im Hinblick auf den Ablauf von Sprachwandelprozessen, und nicht ‚in toto‘ nachvollziehbar. Somit begegnen sich die Unvollständigkeit expliziter Normkenntnisse (usueller wie präskriptiver Normen) seitens der Sprecher und bisweilen auch seitens der Linguisten, und vielfältige Wahrnehmungs- und Anpassungsprozesse bei den kommunizierenden Individuen und Gruppen, die sich ebenfalls nur ausschnittsweise durch Fachleute, also Linguisten, nachvollziehen lassen. In den Interviews selbst fällt auf, dass positive Spracheindrücke in aller Regel weniger präzise beschrieben werden als negative, auch einzelne Elemente negativer Sprachrealisationen, z. B. die sogenannte „erre moscia“, also eine nicht der mittel- und süditalienischen usuellen Norm entsprechende (apiko-alveolare) Realisation des Vibranten, z. B. als Zäpfchenr oder als (inter)dentaler Frikativ. In der hier vorliegenden kleinen Untersuchung wird deswegen auch v. a. auf die Intuition und die intuitive Verarbeitung von sprecherseitigen Eindrücken rekurriert, die sich durchaus teilweise in expliziteren Kommentaren äußern (Spracheinstellungsfragen). Die Vielzahl von im Einzelnen nicht nachvollziehbaren 8 Wahrnehmungs-, Akkommodations- und Realisationsbedingungen, distincta inadaequata“ ist dabei nur mittelbar im permanten Handlungsgefüge wirksam. Zu den Termini vgl. Coseriu (2007 [1988], 208-211). Ein recht anschauliches Kontinuum-Modell zur Wechselwirkung zwischen „Laien“, „Profis“, „Praktikern“ und „Theoretikern“ findet sich in Görke / Jakobs (2015, insbesondere 68 f.). 8 In sprachbiographischen, soziolinguistischen Interviews liegen Indizien für Wahrnehmungseffekte, Wahrnehmungsverarbeitung und darauf gründende ‚Laientheorien‘ vor. <?page no="355"?> Normvorstellungen und Normtoleranz 355 die solchen Kommentaren qua subjektive sprachkritische Einstellungen zugrunde liegen, sind in solchen Interviews nicht nachvollziehbar, sie können jedoch einen kleinen Einblick geben in die Wechselwirkungen, die seitens der Sprecher (also mehrheitlich Laien), Stabilität oder Instabilität eines gegenwärtig beobachtbaren (sehr kleinen) Ausschnitts des italienischen Diasystems widerspiegeln. Eine wichtige Rolle hierbei spielt die Erfahrung der einzelnen Sprecher mit den verschiedenen Ausprägungen ihrer „Muttersprache“ im Erlebnis- und Lebensraum, also dem sprachlichen Diasystem Italienisch in Italien und in Deutschland. Verallgemeinernd könnte man sagen, dass mit wachsender Erfahrung und Sprachbildung auch die Kenntnisse des Diasystems Italienisch sowie die begründete Urteilsfähigkeit des Sprechers zunehmen. Das echte Leben, das Erleben von und in Sprache festigt somit (unbewusst) Erwartungshaltungen seitens der sprechenden und hörenden Individuen, bzw. Gruppen von Individuen, v. a. hinsichtlich 1. des Richtigen und des Falschen bzw. des Möglichen und Unmöglichen (Grammatikalität, Systematizität), 2. des Erlaubten und des Nichterlaubten (bezüglich der usuellen Normen) und 3. des Machbaren und des Nichtmachbaren im Kommunikationsverhalten (Stilkompetenz, Stilauswahl). Mit dem sprachlichen Erleben und Erlebten wächst die Erfahrung bezüglich der drei o. g. Gegensatzpaare und, aus linguistischer Sicht betrachtet, hinsichtlich der drei Dimensionen der Variation, der Architektur des Italienischen, nämlich der diatopischen, der diastratischen und der diaphasischen. Der Umfang der jeweiligen Erfahrungen lässt sich mittelbar, integratorisch, an dem Grad der Bildung der Sprecher und dem Grad der Lebenserfahrung mit den genannten Dimensionen festmachen, also an klassischen soziolinguistischen Parametern, v. a. der sozioökonomischen Mobilität. Indirekt können hierbei wohl auch die Rolle und die Wirkungsmächtigkeit der erlernten präskriptiven Norm für die gemachten Aussagen relevant sein; wie stark diese ausgeprägt sind, lässt sich nur teilweise nachvollziehen. 4 Normen, Sprechen und metasprachliche Äußerungen Dass sich Sprecher und Sprecherinnen verschiedener Sprachen mehr oder weniger permanent im Funktionsgefüge ( Jakobson 1960) der sprachlichen Äußerungen befinden, bewegen, wird meist dann deutlich, wenn man sich der metasprachlichen Funktion widmet und über verschiedene Akzente, Normen etc. Wie das Zusammenspiel zwischen diesen drei kognitiven Vorgängen im Detail vonstattengeht, lässt sich nur durch experimentelle Interviews, in welchen die Rolle der ‚Nicht- Wahrnehmung‘ berücksichtigt werden kann, erhellen (vgl. Bernhard 2013, 2014). <?page no="356"?> 356 Gerald Bernhard (Bochum) expliziter spricht, als man für gewöhnlich im Alltag darüber nachdenkt. Ausgehend von einigen Äußerungen von Italienischsprecherinnen und -sprechern im Ruhrgebiet öffnen sich mehrere Wege der sprachwissenschaftlichen Interpretation von laienlinguistischen Äußerungen auf den verschiedenen sprachwissenschaftlichen Analyseebenen. So sagt bspw. eine 25jährige Sprecherin norditalienischer Herkunft bezüglich ihrer Normkonformität: „pènso a parlarlo bène, anche scriverlo bène“. Die geolinguistische Komponente zeigt sich in der Äußerung „ho un accento romagnolo“ oder „la particolarità è la esse“ [hier ist das koronale [s], wie es sich im Veneto und in der Romagna findet, gemeint]. Das Toskanische wird als „lingua molto allegra“ bezeichnet. Es werden hierfür einzelne phonetische Merkmale zitiert, so „ la ci “ [tʃ], im Toskanischen stets ohne Verschluss als [ʃ] realisiert, und das Beispielwort hasa , ( casa ), als ‚Repräsentant‘ der gorgia toscana . 9 Ein 25jähriger männlicher Sprecher (seit elf Jahren im Ruhrgebiet) äußert sich hinsichtlich seiner Kontakte mit der Standardsprache folgendermaßen: „guardo sempre la tv italiana, non leggo perchè … mi annoia“. Gleichzeitig pflegt er im Ruhrgebiet in erster Linie Kontakte mit anderen Italienern, bei denen meist nähesprachliches, geotypologisch variables Italienisch gebraucht wird. Da der Sprecher aus Sizilien stammt und anzunehmen ist, dass seine Alltagskontaktpersonen ebenfalls oft sizilianischer Herkunft sind, äußert er sich entsprechend positiv über das Italienische seiner Herkunftsregion, die er, nicht wie die zuvor genannte Sprecherin, anhand sprachlicher Merkmale charakterisiert, sondern anhand von Eigenschaften, die er den dort wohnenden Menschen (Provinz Messina) zuschreibt: „tranquillo, non c’è mafìa, belle persone, bei negozi“. Der Schwerpunkt eines dritten Sprechers (männlich, 53, aus dem Molise) 10 liegt implizit auf dem Gegensatz Nähesprache / Distanzsprache vor dem Hintergrund seines eigenen ungesteuerten Spracherwerbs, indem er sagt: „esci dalle banche delle scuole, sparisce l’italiano; l’italiano vero e proprio, l’abbiamo dimenticato“. Seine Tochter (25 Jahre alt, in Deutschland geboren) ist mit zwei 9 Die Einschätzungen der ästhetischen Wirkung von Dialekten und die dazu angeführten Merkmale basieren auch auf medial vermittelten Stereotypen bzw. Karikaturen (Hyperdialektalität). Vgl. hierzu für den deutschen Sprachraum: Hundt (2010, 188), Purschke (2010, 164), Kehrein / Lameli / Purschke (2010, 357). Umfragen zum Beliebtheitsgrad von Dialekten gibt es in Deutschland recht oft und schon seit vielen Jahrzehnten. Neuere Arbeiten zum Thema ‚schöne vs. hässliche Dialekte‘ beziehen laienlinguistische, auch medial verbreitete Standpunkte mit ein (vgl. Hundt 2011, 76-80). In Italien wird das Thema seltener in die öffentliche Diskussion getragen, vgl. z. B.: ‚Hit parade dei dialetti italiani‘, http: / / speakitalianinrome.it/ fr/ quoi-de-neuf-mob/ 44-lingua-e-cultura-italiana/ 106-hit-parade-dei-dialetti-italiani# (21. 09. 2016). 10 Die drei diesem hinführenden Absatz zugrunde liegenden Interviews wurden bereits im Jahre 2004 an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt. <?page no="357"?> Normvorstellungen und Normtoleranz 357 Muttersprachen groß geworden und beurteilt die jeweiligen Äußerungen innerhalb ihrer Familie aus dem Blickwinkel eines mehrsprachigen Individuums. So sagt sie bspw. „mia mamma non dice mai infatti “, wobei sie die Partikel infatti als Element aus der ʻFernsehsprache’ ansieht. Mit dem Italienischen der Eltern - einer Kontaktvarietät aus molisanischem und sizilianischem Regionalitalienisch geht sie entsprechend locker um: „a casa parliamo un italiano così …, non è un italiano grammaticalmente perfetto.“ Sie findet sich also quasi mit einer alltäglichen (usuellen) Nonkonformität ab, und sie ist sich gleichzeitig auch dessen bewusst, da es um nähesprachliches Kommunizieren geht. Der dialektale Hintergrund spielt bei ihr kaum eine Rolle. Anders verhält sich dies bei ihrer Mutter (46 Jahre alt, aus Messina stammend), die sich sehr wohl, ebenso wie der Vater (der Sprecher aus dem Molise), hinsichtlich der klassischen (diglossischen) Verwendung von Dialekt einerseits und Italienisch andererseits folgendermaßen äußert: „Non parliamo l’italiano, bensì il dialetto. Qui non usiamo il congiuntivo, il condizionale, la grammatica“. Zu den Kindern (also der 2. Generation) bemerkt sie: „bambini, son pochissimi che parlano il dialetto“. Für den schönsten italienischen Akzent hält sie das Römische: „Roma sì, più che altro“. Aber auch hier fließen referentenbezogene Konnotationen mit ein, denn: „mi piace come città“. Man kann aus den zuvor geschilderten Äußerungen unterschiedliche Aspekte des Sprechens heraushören, die auch für den ‚Fachmann‘ interessant sind, die aber zweifellos aus laienlinguistischer Sicht im Verhalten des Alltagssprechens eine große Rolle spielen: Verhältnis zur Norm als Ideal vs. eigene (usuelle) Normen im Alltag, ästhetische Ideale vs. eigene „Unvollkommenheit“, Akzeptanz bzw. Idealisierung / Stereotypisierung einzelner regionaler italienischer Varietäten und letztlich auch die Selbstpositionierung innerhalb dieses Variationsgefüges hinsichtlich des eigenen sprachlichen Selbstbewusstseins. Um die hieraus erwachsenen Fragestellungen systematisch untersuchen zu können, wurden weitere 14 Informanten aus dem Ruhrgebiet mit den erwähnten Fragestellungen konfrontiert und im Anschluss hieran mit den Äußerungen von 19 Informanten aus Catania, also Italienischsprechern ohne Migrationserfahrung, verglichen. 5 Umfrage Ruhrgebiet / Catania Nach den zuvor geschilderten Äußerungen einiger Italienischsprecher aus dem Ruhrgebiet und angrenzenden Regionen, die sich individuell sehr unterschiedlich aber tendenziell mit wachsender Bildung und jüngerem Lebensalter flexibler zeigen, soll im Folgenden die bereits genannte kleine Umfrage mit Italienern aus Catania und dem Ruhrgebiet vorgestellt und hinsichtlich der ästhetischen Wahrnehmung von Dialekten und des Standarditalienischen bzw. deren Rolle <?page no="358"?> 358 Gerald Bernhard (Bochum) im sprachlichen Alltag etwas näher beleuchtet werden. Von den 19 (von Judith Kittler) befragten Catanesen verfügen 17 über eine dreizehnjährige Schulausbildung, ein Sprecher über einen Abschluss der scuole medie , eine Sprecherin über eine unvollständige Schulausbildung der scuola elementare . Die im Ruhrgebiet befragten Sprecher haben z.T. ebenfalls Abitur, drei Sprecher verfügen über eine 10jährige und ebenfalls drei Sprecher über eine Schulausbildung von weniger als fünf Jahren. Zum Teil wurden Schulen sowohl in Deutschland als auch in Italien besucht, insgesamt zeigen Sprecher aus dem Ruhrgebiet eine höhere sozioökonomische Mobilität. Da davon ausgegangen wurde, dass sich laienlinguistische Theorien ästhetisch und sozial festigen und in erster Linie nicht zur Bildung sprachwissenschaftlicher Theorien im eigentlichen Sinne, sondern einer allgemeineren Alltagssozialtheorie dienen, hat es sich angeboten, die ästhetischen Kategorien schön und nicht schön sowohl für das Italienische als auch für die Dialekte Italiens als Bewertungsgrundlage für eine Herausbildung usueller Normen zugrunde zu legen. Dementsprechend wurden die Sprecher danach gefragt, welche Dialekte Italiens sie für schön bzw. nicht schön halten und welches regionale Standarditalienisch (abgesehen von einem literarisch-diatopisch neutralen Standarditalienisch) sie für schön bzw. nicht schön halten. Anhand dieser Fragen kann ermittelt werden, wie die Sprecher selbst zu ihrem Heimat-/ Herkunftsdialekt stehen und wie sie die verschiedenen regionalen Ausprägungen der Standardsprache einschätzen und dadurch als Teil des italienischen Varietätengefüges akzeptieren. Hinsichtlich der Antworten ist zu erwarten, dass sich einige Sprecher auf die Nennung einer ästhetischen Kategorie beschränken, andere auf Konnotationen mit Sprechern (evtl. Modellsprechern eines bestimmten Dialekts oder eines regionalvarietätischen Standards) oder aber dass die Antworten persönliche Erfahrungen mit Dialekten bzw. Bindungen zu Dialekten aufweisen. 5.1 Ergebnisse der Umfrage Von den insgesamt 33 befragten Informanten haben sich nicht alle zu den ihnen gestellten Fragen geäußert; vorweg kann jedoch schon festgehalten werden, dass die Bereitschaft positive Urteile zu fällen, weitaus stärker ausgeprägt ist als diejenige, negative Urteile abzugeben. 5.1.1 Italienisch Von den 19 befragten Catanesen haben 13 ästhetische Beurteilungen des Italienischen vorgenommen. Im Einzelnen finden Sprecher aus Catania das Römische und das Toskanische sowie das Catanesische bzw. das Sizilianische im Allgemei- <?page no="359"?> Normvorstellungen und Normtoleranz 359 nen schön. Zwei halten das Italienische des Südens allgemein für schön, zwei das sardische Italienisch; ebenfalls zwei Sprecher empfinden Sympathien für norditalienische Ausprägungen der Nationalsprache (Veneto bzw. „Venezia“). Nur zwei Sprecher haben sich negativ zu regionalen Ausprägungen des Italienischen geäußert und diese negativen Einschätzungen betreffen in beiden Fällen den Norden, wobei einmal die Bewertung („al livello fonico“) auf die lautliche Ebene beschränkt wird. Ein Sprecher erklärt seine Bindung der positiven Ästhetik an das Genuesische durch die Person des Cantautore Fabrizio de André. Von den Italienischsprechern aus dem Ruhrgebiet haben sich insgesamt zehn zur Ästhetik von regionalen Ausprägungen des Italienischen geäußert, fünf hatten keine Meinung. Insgesamt gesehen werden die positiven Urteile häufiger kommentiert als in Catania, so z. B. zu Venedig: „il suono, molti toni alti e bassi“, „quasi cantato“ oder zu Rom: „simpatico dal suono“. Ein Urteil zur Bevorzugung des toskanischen Italienischen ist sprachhistorisch-autoritativ begründet: „la lingua che mi piace, è la madrelingua italiana, toscana“. Kein einziger Sprecher aus dem Ruhrgebiet hat eine negative Meinung zu einer regionalen Ausprägung des Italienischen (s. Tabelle 2; Karte 1). 5.1.2 Dialekte Die positive Beurteilung der Dialekte Italiens durch die Catanesen gravitiert eindeutig nach Süditalien: Catania und Sizilien werden insgesamt achtmal, Neapel und Campanien sechsmal, Rom zweimal genannt. Sardinien, Kalabrien, Mittelitalien oder der Norden spielen kaum eine Rolle. Meist werden die ästhetisch positiv beurteilten Dialekte einfach als schön empfunden, nur im Falle von Rom lässt sich eine Konnotation (die Römer seien „simpatici“), oder, im Falle des Catanesischen („dialetto di qua mi fa ridere“), eine persönliche Erfahrung feststellen. Sechs Sprecher haben sich nicht geäußert. Ein Sprecher findet seinen eigenen Dialekt (Catanesisch) hässlich. Bei den Italienischsprechern aus dem Ruhrgebiet ist ebenfalls eine starke Vorliebe für süditalienische Dialekte (Catania und Sizilien 9, Kalabrien 2, Neapel 1) festzustellen; lediglich ein Sprecher äußert sich positiv zum Piemontesischen, da er in Turin geboren wurde. 5 Sprecher haben keine Meinung zu italienischen Dialekten. Die negativen Einschätzungen betreffen v. a. Neapel, Catania, das Sardische, den Norden und das Apulische („i dialetti son tutte strane [sic! ]“, „dialetti non mi piacciono“ oder „non ho molta confidenza co gli altri dialetti“). Darüber hinaus gibt es drei Meinungen, die sich gegenüber Dialekten neutral äußern. Keine Meinung haben auch hier 5 Sprecher. Im Gegensatz zu den positiven Einschätzungen, die sich teilweise typologisch-linguistisch („siciliano, è simile all’ita- <?page no="360"?> 360 Gerald Bernhard (Bochum) liano“) präsentieren und darüber hinaus einen relativ ausgeprägten Heimatstolz durchblicken lassen, lässt sich bei den negativen Einschätzungen italienischer Varietäten v. a. feststellen, dass man sie nicht verstehe (Neapel, Sardinien, Norditalien) oder sie einfach ganz hässlich findet: „Puglia, il più brutto che esiste sulla terra“. Erstaunlich ist die Tatsache, dass keiner der Ruhrgebietsitaliener Konnotationen oder eigene Erfahrungen mit Dialekten oder mit deren Repräsentanten als Argument anführt. Auch das Eingeständnis, mit anderen Dialekten Italiens, neben dem eigenen, nicht vertraut zu sein oder sie grundsätzlich abzulehnen, fällt gegenüber den Begründungen der catanesischen Sprecher auf. 6 Schlüsse aus dem Datenmaterial Die kleine empirische Untersuchung zu laienlinguistischen Beurteilungen von Varianten des Standarditalienischen und von unterschiedlichen Dialekten wurde einerseits mit 19 Sprechern aus Catania in Catania (von Judith Kittler) durchgeführt, andererseits wurden 14 Sprecher aus dem Ruhrgebiet befragt, deren Herkunftsort ebenfalls in Catania bzw. dessen Umgebung liegen. Dadurch sollte Aufschluss erhalten werden über unterschiedliche Tendenzen in Alltagssprachansichten (laienlinguistische Theorien) im Mutterland und in Emigrationskontexten. Drei Fragen standen dabei im Vordergrund: 1. Stimmen metasprachliche Ideen von Migrations-Italienisch-Sprechern und von in der Heimatregion sesshaften Sprechern überein? 2. Gibt es in beiden „Glossotope[n]“ (Krefeld 2004, 25) ähnliche Ansichten zur Plurizentrik des Standarditalienischen (Normtoleranz)? 3. Welche Rolle nehmen die Ansichten über italienische Dialekte in den individuellen Architekturen des Italienischen in den beiden untersuchten Regionen ein? Übereinstimmungen zwischen Ruhrgebiet und Catania zeigen sich vor allem in der positiven Bewertung des Herkunftdialektes bzw. sizilianischer Dialekte, worin sich sicherlich auch der ‚Stolz auf die Heimat‘ als starker persönlicher Identifikator zeigt. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die Ablehnung von italienischen Dialekten im Allgemeinen im Ruhrgebiet wesentlich präsenter ist als in der Heimatregion; dies mag zum Teil dem normzentrierten Italienischunterricht in Deutschland zuzuschreiben sein, wo als ‚colonial lag‘ die Dialektablehnung früherer Lehrergenerationen fortwirken mag. Möglicherweise wirkt sich auch der Gebrauch des Italienischen, in all seinen regionalindividuellen Spielarten, welches die Italienischsprecher des Ruhrgebiets, mit höherer sozioökonomischer Mobilität, auszeichnet, funktional negativ auf die Dialektverwendung aus. <?page no="361"?> Normvorstellungen und Normtoleranz 361 Hinsichtlich der Akzeptanz einer Plurizentrik des Standarditalienischen zeigt sich im Ruhrgebiet eine etwas höhere Normtoleranz: keiner der 14 Teilnehmer findet ein negatives Urteil zu einer regionalen Ausprägung der lingua nazionale , in Catania hingegen schätzen Sprecher das Italienische des Nordens negativ ein. Gleichzeitig lässt sich bei den Ruhrgebietsitalienern eine etwas positivere Einschätzung der historisch-literarischen toskanisch-römischen Norm feststellen. Fehlende Negativ-Urteile zum Norden mögen im Ruhrgebiet auch in den besonderen panitalienischen Alltagskontakten begründet liegen, da hier Eiscafés, meist von Norditalienern betrieben, eine usuelle Normalität darstellen, die in Catania fehlt - obwohl Sprecher aus Ostsizilien wie solche aus West-Westfalen ihre exemplarischen Varietäten im Centro-Sud der Apenninenhalbinsel finden. Insgesamt gesehen fällt auf, dass alle Informanten zu positiven Urteilen neigen, was, an sich betrachtet, eine wohlwollende Toleranz gegenüber verschiedenen usuellen Normen in einer als gemeinsam empfundenen Italophonie zu werten sein dürfte. Sprachwissenschaftler können Urteile und Begründungen von Laien, auf den verschiedenen Ebenen der ‚cognitio clara‘, als Indizien für auch diachronisch relevante Konstellationen, die, den Funktionen von Sprache entsprechend, alltagswirksames Leben und Erleben bestimmen, nutzen und stets aufs Neue mit den Werkzeugen der ‚Profis‘ untersuchen und der Allgemeinheit nützliche ‚feedbacks‘ geben. Literaturverzeichnis Anders, Christina A./ Hundt, Markus / Lasch, Alexander (eds.) (2010): Perceptual Dialectology: Neue Wege der Dialektologie , Berlin / New York, De Gruyter. Anders, Christina A. (2010): „Die wahrnehmungsdialektologische Rekodierung von laienlinguistischem Alltagswissen“, in: Anders, Christina A./ Hundt, Markus / Lasch, Alexander (eds.): Perceptual Dialectology: Neue Wege der Dialektologie , Berlin / New York, De Gruyter, 67-87. Antos, Gerd (1996): Laien-Linguistik. Studien zu Sprach- und Kommunikationsproblemen im Alltag. 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Schule Jahre Mobilität Italienisch (Region, Stadt) Dialekt (Region, Stadt) schön nicht schön schön nicht schön 1 35 ♂ 13 + - Sicilia, Roma, (Sardegna) Nord Sardegna 2 38 ♀ 13 - + Napoli ( CE , SA ) Calabria meridionale, Campania, Umbria 3 33 ♀ 13 - + Roma Catania („bello“), Roma („simpatici“) 4 48 ♀ 13 - + Catania „il mio“ 5 26 ♀ 13 + - Catania Catania, Palermo 6 47 ♀ 13 - + 7 43 ♀ 13 + - Toscana, Napoli Catania 8 21 ♀ 13 + - Firenze 9 29 ♂ 13 + - Roma 10 20 ♀ 13 + - Veneto, Roma 11 21 ♀ 13 + - Sicilia, Toscana, Marche 12 19 ♂ 13 - + Nord („al livello fonico“) Cavalese, Napoli 13 24 ♂ 13 + - Genova (F. de André) Genova 14 22 ♀ 13 - + Sud, Roma, Venezia, Firenze Roma, Napoli 15 21 ♂ 13 - + Sicilia <?page no="368"?> 368 Gerald Bernhard (Bochum) Inf. Nr. Alter Geschl. Schule Jahre Mobilität Italienisch (Region, Stadt) Dialekt (Region, Stadt) schön nicht schön schön nicht schön 16 58 ♀ 1-3 - - Questa zona „dialetto di qua mi fa ridere“ 17 48 ♂ 10 + - Sardegna (isolano) Catania („brutto“) 18 48 ♂ 13 + - Napoli 19 84 ♂ 13 + - Catania Tab. 1: Beurteilungen von regionalen Varianten des Standarditalienischen und von Dialekten - Catania Inf. Nr. Alter Geschl. Schule Jahre Mobilität Italienisch (Region, Stadt) Dialekt (Region, Stadt) schön nicht schön schön nicht schön BO 1 25 ♂ 13 + Venezia („il suono, molti toni alti e bassi“, „quasi cantato“) E 1 23 ♂ 13 + Roma („simpatico dal suono“) Napoli („non si capisce“) E 2 21 ♀ 13 + Vicinanze di Roma, Firenze Catania GE 1 21 ♂ 13 + Sicilia Sicilia Napoli, Sardegna („una lingua per se“) <?page no="369"?> Normvorstellungen und Normtoleranz 369 Inf. Nr. Alter Geschl. Schule Jahre Mobilität Italienisch (Region, Stadt) Dialekt (Region, Stadt) schön nicht schön schön nicht schön GE 2 25 ♀ 10 + + Sicilia Sicilia „è simile all’italiano“ GE 3 23 ♂ 13 + Sicilia (zio delle Marche) Sicilia „si capiscono“ HA 1 52 ♀ 3+ + Roma Catania, Napoli Nord („non si capisce“) HA 2 25 ♀ 13 +- Italiani („è bellissimo“) „dialetti non mi piacciono“ HA 4 66 ♂ 3+ + Toscana („la lingua che mi piace, è la madrelingua italiana, toscana“) „i dialetti son tutte strane“ [sic! ] HA 5 31 ♂ 10 +- Sicilia, Calabria Puglia („più brutto che esiste sulla terra“) HA 6 32 ♂ 13 + Sicilia, Piemonte (nato a Torino = il perché) HA 7 21 ♀ 13 + Sicilia („perché è il mio“) „altri no“ <?page no="370"?> 370 Gerald Bernhard (Bochum) Inf. Nr. Alter Geschl. Schule Jahre Mobilität Italienisch (Region, Stadt) Dialekt (Region, Stadt) schön nicht schön schön nicht schön HA 8 18 ♀ 10 + Sicilia („perché i miei genitori sono siciliani“) HA 9 48 ♀ 3+ +- Sicilia („perché lo parlo“) „non ho molta confidenza co gli altri dialetti“ Tab. 2: Beurteilungen von regionalen Varianten des Standarditalienischen und von Dialekten - Ruhrgebiet <?page no="371"?> Gesprochenes Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania 371 Gesprochenes Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania aus laienlinguistischer und fachwissenschaftlicher Perspektive: Ergebnisse eines Perzeptionsexperiments Judith Kittler (Bochum) 1 Einleitung Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich vor dem Hintergrund der Gegenüberstellung laienlinguistischer und fachwissenschaftlicher Perspektiven mit ausgewählten Sprachaufnahmen des gesprochenen Italienischen, die im Rahmen meiner Dissertation (cf. Kittler 2015) erhoben und aus sprachwissenschaftlicher Sicht hinsichtlich phonetischer und prosodischer Merkmale ausgewertet worden sind. Ausgehend von den in diesem Band leitenden Fragestellungen, wie der Beschreibung und Bewertung sprachlicher Entwicklungstendenzen, von „gutem“, „schlechtem“, „richtigem“ und „falschem“ Sprachgebrauch im Spannungsverhältnis von laienlinguistischen und fachwissenschaftlichen Meinungen, wird im Folgenden der Versuch unternommen, das gesprochene Italienisch einer Sprechergruppe, das vor allem varietätenlinguistisch ausgewertet wurde, von einer Gruppe von Laienlinguisten beurteilen und bewerten zu lassen, um eine Gegenüberstellung der Ergebnisse der fachwissenschaftlichen Analyse mit denjenigen des laienlinguistischen Perzeptionsexperiments zu ermöglichen. Zunächst werden jedoch einige Informationen bezüglich des Untersuchungskorpus und der Leitfragen, die in der Studie „Nähesprachliches Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania - Vergleichende phonetisch-prosodische Untersuchungen“ im Fokus der migrationslinguistischen Analyse standen, dargestellt. Im Zentrum des Forschungsinteresses steht das gesprochene Italienisch der Migranten meist süditalienischer Herkunft im Ruhrgebiet. Diese Region, die durch die traditionell dort angesiedelten Industriegebiete der Kohle- und Stahlverarbeitung und dem damit verbundenen hohen Bedarf an Arbeitskräften in den Jahren des deutschen Wiederaufbaus gekennzeichnet ist, ist vor allem seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts ein Schwerpunkt süditalienischer Zuwanderer geworden, die auch heute noch trotz großer Rückwanderungswellen im Zuge der Ölkrise von 1973 und des damit verbundenen Anwerbestopps für aus- <?page no="372"?> 372 Judith Kittler (Bochum) ländische Arbeitnehmer die drittgrößte Einwanderungsgruppe im Ruhrgebiet darstellen. 1 Nichtsdestoweniger war diese Region als mögliches Untersuchungsgebiet der italianistischen Varietäten- und Migrationslinguistik bis dato ein eher vernachlässigtes Feld, das aber aufgrund der Präsenz von Italienern erster, zweiter und dritter Migrationsgeneration in den Großstädten und Kreisen des Ruhrgebiets die Untersuchung der Entwicklung des gesprochenen Italienischen in den Situationen der Extraterritorialität besonders begünstigt. 2 Darüber hinaus sind hier vielfältige Bedingungsfaktoren für die nähesprachliche Kommunikation und den Sprachkontakt dieser Bevölkerungsgruppe gegeben, da sie sowohl Kontakte zu den in Italien verbliebenen Verwandten und Freunden, als auch zu Italienern aus anderen Regionen Italiens pflegen. In der Nähesprache der untersuchten Informanten ist also in den meisten Fällen von einem Varietätenkontinuum zwischen Standarditalienisch, Regionalitalienisch, Dialekt und der Kontaktsprache Deutsch auszugehen. Ausgehend von der leitenden Fragestellung, inwiefern sich das gesprochene Italienisch in der Migrationssituation von demjenigen in der Herkunftsregion unterscheidet und welche die sprachlichen Merkmale sind, anhand derer Unterschiede in der Sprechweise beider Sprechergruppen beobachtbar sind, wurde auch dort auf die laienlinguistische Wahrnehmung der verschiedenen Sprechweisen zur Stützung der wissenschaftlichen Hypothesen zurückgegriffen. 2 Wahrnehmung des gesprochenen Italienischen im Ruhrgebiet Im Rahmen eines auto-perzeptiven laienlinguistischen Experiments wurde die Sprechweise italienischer Migranten im Ruhrgebiet als „anders“, „steril“ oder „seltsam“ wahrgenommen. Ähnliche Äußerungen konnten auch bei Informanten in Italien beobachtet werden. Auf die Frage, auf welchen sprachlichen Ebenen sich diese Andersartigkeit der Sprechweise in der Wahrnehmung der Informanten manifestiere, wurden „la cadenza“, „la prosodia“, l’intonazione“, „la tonalità“, „la pronuncia“ oder „l’accento“ genannt (cf. Kittler 2008). Es konnte somit festgestellt werden, dass die Merkmale, die in der Sprechweise italienischer Migranten im Ruhrgebiet als „anders“ als erwartet wahrgenommen werden, sowohl aus laienlinguistischer, als auch aus sprachwissenschaftlicher Perspektive segmentaler wie suprasegmentaler Natur sind. Basierend auf diesen 1 Cf. hierzu auch Matteis (2004). 2 Einige wenige Untersuchungen lassen sich jedoch finden. So vor allem Untersuchungen, die sich mit den soziolinguistischen Auswirkungen der Migration befassen wie etwa Krefeld (2003), Campanale (2006), Kittler (2008), Bernhard (2013), Bernhard / Lebsanft (2013). <?page no="373"?> Gesprochenes Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania 373 Ergebnissen wurde die Fragestellung präzisiert und das Untersuchungsdesign entworfen, das im Folgenden kurz dargestellt werden soll. 2.1 Ansatz und Fragestellung der Studie „Nähesprachliches Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania“ Die leitende Ausgangsfrage für die auf den oben genannten Hypothesen und perzeptiv erhobenen Beschreibungen des gesprochenen Italienischen im Ruhrgebiet basierende Studie war somit: Welche besonderen Merkmale der Lautung, der Prosodie (Rhythmus und Intonation) und der Gesprächsgestaltung (Gliederungsmerkmale, Diskursmarker, Hesitationsphänomene, Pausenlängen) lassen sich im Italienischen der Italiener im Ruhrgebiet feststellen, und inwiefern unterscheiden sich diese Merkmale von der Sprechweise von Italienern ohne Zuwanderungshintergrund? Ausgehend von dieser Forschungsfrage wurden zwischen November 2009 und Mai 2011 insgesamt 34 Sprecher des Italienischen befragt, von denen 19 in Catania ansässig und 15 im Ruhrgebiet beheimatet sind, aber alle aus der Provinz Catania stammen. Die Befragung der Sprecher bestand aus mehreren Modulen. Die Sprecher wurden zunächst gebeten, einen umfangreichen soziolinguistischen Fragebogen auszufüllen, der Aufschluss über die Sprecher- und Sprachbiographie, sowie über den Gebrauch der zur Verfügung stehenden Sprachsysteme (i. d. R. Sizilianischer Dialekt, Italienisch und Deutsch) in den Bereichen der Nähesprache geben sollte. Auf diese Weise konnten soziolinguistische Profile 3 der einzelnen Sprecher erstellt werden, die mit den Beobachtungen aus den Interviews abgeglichen wurden. Des Weiteren erfolgte eine direkte Befragung der Sprecher mit Hilfe eines Interviewleitfadens, der zwei Erzählfragen enthielt, und der zur Elizitierung möglichst frei gesprochener Antworten zu Themen des Alltags der Sprecher diente. Zuletzt wurden die Sprecher gebeten, eine Bildergeschichte (cf. Lassert 1990) nachzuerzählen und dabei möglichst darauf zu achten, die Geschichte kindgerecht wiederzugeben, um so möglichst lange und lexikalisch vergleichbare Erzählpassagen zu erzeugen. Die Tonmitschnitte der Interviews wurden dann zum RuhrCat-Korpus zusammengefasst und ausgewählte Passagen (insgesamt ca. 50.000 Lautsegmente) phonetisch transkribiert 4 und hinsichtlich lautlicher und prosodischer Eigenschaften ausgewertet und verglichen. Die untersuchten Variablen im Bereich der Phonetik sowie die gemessenen Eigenschaften prosodischer Natur der einzelnen Tonmitschnitte seien hier zum besseren Verständnis kurz dargestellt. Als Variablen des Vokalismus wurden 3 Cf. hierzu auch Krefeld (2004). 4 Die Transkription erfolgte mit Hilfe von Canepari (1980, 1985, 1999, 1999a und 2004). <?page no="374"?> 374 Judith Kittler (Bochum) die Öffnung bzw. Schließung von E- und O-Varianten jeweils in offener und in geschlossener Silbe ([e : ɛ], [o : ɔ]) und die Schwaisierung in unbetonten Silben [ə] untersucht. Im Bereich des Konsonantismus war insbesondere die Lenisierung intervokalischer Okklusive (/ p, t, k/ : [b, d, g]) von Interesse, da sich hier deutliche Unterschiede beider Sprechergruppen herauskristallisierten. Während die Sprecher aus Catania meist die stimmlosen Okklusive standardnah oder lenisiert realisierten, konnte bei den Sprechern aus dem Ruhrgebiet vor allem der zweiten und dritten Migrationsgeneration eine aspirierte Realisation der stimmlosen Okklusive festgestellt werden ([t ʰ , p ʰ , k ʰ ]), die aus dem gesprochenen Deutschen zu stammen scheint, wo sie ein weitverbreitetes Phänomen darstellt. Weitere konsonantische Variablen waren die Entaffrizierung von / tʃ/ zu [ʃ], die Assimilation von / st/ zu [ss], [sd], sowie von / nd/ zu [nn] (cf. Rohlfs 1966, Bernhard 1998). Die prosodische Analyse der Sprechproben umfasste im Bereich der Grundfrequenz die F0-Bandbreite und den Tonhöhenumfang, die Variation der Dauer von Lauten und Silben, die Sprechgeschwindigkeit, die Sprechflüssigkeit und die Dauer der Pausen, die Beschaffenheit der Toneinheiten, sowie die intonatorische Phrasierung und auch sprechrhythmische Merkmale. 5 Bevor das hier relevante Wahrnehmungsexperiment beschrieben und ausgewertet wird, sollen zunächst einige fachwissenschaftliche Ergebnisse der Analyse der im Interview evozierten Nacherzählungen der Bildergeschichte zusammengefasst werden. 2.2 Ergebnisse Bildergeschichte Das Teilkorpus StorIt des RuhrCat-Korpus (cf. Kittler 2015), das aus den von insgesamt 33 Sprechern nacherzählten Bildergeschichten zusammengestellt wurde, umfasst insgesamt 31,92 Minuten. Davon fallen 12,71 Minuten dem Ruhrgebiet und 19,21 Minuten den Sprechern aus Catania zu. In der Gesamtsicht lassen sich in besagtem Teilkorpus 3858 graphische Wörter, 741 nichtgefüllte Pausen und 14.378 Lautsegmente zählen. Es konnte innerhalb der Äußerungen eine durchschnittliche eher gemäßigte Sprechgeschwindigkeit von 5,68 Silben pro Sekunde berechnet werden. Die Sprecher aus dem Ruhrgebiet realisieren bei der Nacherzählung der Bildergeschichte 1373 graphische Wörter, 4945 Lautsegmente und weisen eine durchschnittliche Sprechgeschwindigkeit von 5,46 Silben pro Sekunde auf. Der Sprecher HA 03 zeichnet sich hier als der 5 Die relevanten Maßzahlen und Messverfahren wurden in Anlehnung an Heinz (2006), Gabriel / Lleó (2011) und Gabriel / Feldhausen / Peskova (2011) gebildet und auf das Ruhr- Cat-Korpus angewendet. <?page no="375"?> Gesprochenes Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania 375 Sprecher mit der höchsten Sprechgeschwindigkeit von 6,28 Silben pro Sekunde aus. Die Sprecher aus Catania realisieren 2485 graphische Wörter und 9433 Laute. Ihre durchschnittliche Sprechgeschwindigkeit lässt sich mit 5,9 Silben pro Sekunde berechnen. Als globale gültige Ergebnisse im Bereich der gemessenen vokalischen Variablen können die Werte der jeweils als standardfern zu bezeichnenden Varianten von / E/ und / O/ in offener und geschlossener Silbe genannt werden. Als standardfern wurden jeweils diejenigen Realisierungen von [e, o, ɛ, ɔ] gezählt, die auftauchen, wo das Standarditalienische jeweils umgekehrt die offenen Varianten / ɛ/ und / ɔ/ oder die geschlossenen Varianten / e/ und / o/ vorsieht. Die konsonantisch als standardfern zu bezeichnenden Varianten, die in die Berechnungen miteingegangen sind, waren jeweils das lenisierte [d] und das aspirierte [t h ] für standarditalienisches / t/ , das lenisierte [b] und das aspirierte [p h ] für standarditalienisches / p/ , das lenisierte [ɡ] und das aspirierte [k h ] für standarditalienisches / k/ , das entaffrizierte [ʃ] für standarditalienisches / tʃ/ , zudem die assimilierten [sd], [ss] für das standarditalienische / st/ , und [nn] für / nd/ , sowie das affrizierte [nts] für standarditalienisches / ns/ . Für diese im Teilkorpus vorgefundenen standardfernen Merkmalsausprägungen wurden jeweils die Mittelwerte der Vorkommen berechnet. So wurden durchschnittlich 26 % aller Merkmalsausprägungen im lautlichen Bereich standardfern realisiert. Im Bereich des Vokalismus stellten die standardfernen Varianten 33 % und im Bereich des Konsonantismus 19 % der Merkmalsausprägungen dar. Die Sprecher aus dem Ruhrgebiet realisierten insgesamt 26 % aller Merkmalsausprägungen standardfern (33 % im Bereich des Vokalismus und 20 % im Bereich des Konsonantismus), während die Sprecher aus Catania insgesamt 25 % der Merkmalsausprägungen standardfern (33 % im Bereich des Vokalismus und 18 % im Bereich des Konsonantismus) realisierten. Global konnten hier einige Tendenzen erkannt und beschrieben werden. Im Bereich der phonetischen Variation sind es eher die Sprecher aus Catania, die zu einer generellen Öffnung der im standarditalienischen geschlossen zu realisierenden Vokale neigen, während die Sprecher aus dem Ruhrgebiet zur Realisierung von hyperkorrekten Formen tendieren. Im Bereich des Konsonantismus weisen fast ausschließlich die Sprecher aus dem Ruhrgebiet das Merkmal der aspirierten Konsonanten auf, während die Lenisierung der Okklusive meist nur in Catania vorkommt. Zur Entaffrizierung neigen wiederum eher die älteren Catanesen, während die jüngeren Sprecher aus Catania eher die assimilierten Formen realisieren. Die zuletzt genannten Merkmalsausprägungen spielen im Ruhrgebiet eine verschwindend geringe Rolle. Auch in Bezug auf die prosodische Variation der Sprechergruppen wurden Mittelwerte für alle gemessenen und ausgewerteten Maßzahlen und Merkmale <?page no="376"?> 376 Judith Kittler (Bochum) gebildet, die einen Vergleich der beiden Gruppen ermöglichten. Die Sprecher des RuhrCat-Korpus weisen insgesamt einen mittleren Tonhöhenumfang von 18,34 Halbtönen (Semitones = ST ) auf, während die Sprecher aus Catania den Mittelwert mit 19,25 ST deutlich über- und die Sprecher aus dem Ruhrgebiet mit 17,44 ST diesen deutlich unterschreiten. Die weitesten Tonhöhenumfänge finden sich also eher in Catania, ebenso wie die Längungen von Vokalen als Pausenfüller. Die Sprecher aus dem Ruhrgebiet tendieren stärker zu Pausen in der Nacherzählung und realisieren deutlich weniger Wörter in ihren Geschichten. Die von Pausen bereinigten Sprechgeschwindigkeiten betragen im Mittel 3,75 Silben pro Sekunde. Die Sprecher aus dem Ruhrgebiet liegen mit 3,54 S / Sekunde damit leicht unter dem Mittelwert, während die Sprecher aus Catania mit 3,96 S / Sekunde leicht darüber liegen. Hinsichtlich der Maßzahl der Sprechflüssigkeit (cf. Heinz 2006) lässt sich feststellen, dass das Teilkorpus insgesamt eine mittlere Sprechflüssigkeit von 10,72 Silben pro Pausen aufweist. Die Sprecher aus dem Ruhrgebiet zeichnen sich hier durch eine deutlich niedrigere Sprechflüssigkeit von 9,33 Silben / Pausen aus, wohingegen die Catanesen mit 12,11 Silben / Pausen sehr viel flüssiger sprechen und auch deutlich über dem Mittelwert liegen. Dieses Messergebnis wird auch durch die gemessenen Pausenvs. Phonationszeiten bekräftigt. Das Teilkorpus weist insgesamt ein Verhältnis der Phonations- und der Pausenzeiten von 58 % zu 42 % auf. Die Sprecher aus dem Ruhrgebiet liegen mit 54 % Phonations- und 46 % Pausenzeit wiederum unter dem Mittelwert, während die Sprecher aus Catania mit 63 % Phonationszeit und 37 % Pausenzeit deutlich über dem Durchschnitt liegen. Dies wurde auch durch die gemessene Anzahl der Pausen pro Sekunde bestätigt. Insgesamt werden im betrachteten Teilkorpus durchschnittlich 0,37 Pausen / Sekunde realisiert. Auch hier liegen die Ruhrgebietssprecher mit 0,4 Pausen / Sekunde über und die Catanesen mit 0,35 noch leicht unter dem Mittel. Ebenso verhält es sich mit der durchschnittlichen Länge der realisierten Toneinheiten, die insgesamt 1,255s beträgt. Die Sprecher aus dem Ruhrgebiet weisen hier eine durchschnittliche Länge der Toneinheiten von 1,14s auf, während die Sprecher aus Catania hier einen Wert von 1,37s messen lassen. Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass die Sprecher aus Catania eher zu komplexeren Toneinheiten mit höherer Silbenzahl neigen, da sie mit 8,47 Silben pro Toneinheit deutlich über dem Mittel von 7,92 Silben / Toneinheit liegen und die Sprecher aus dem Ruhrgebiet mit 7,38 Silben pro Toneinheit den Mittelwert unterschreiten. Konsonantische Reduktionen finden sich ausschließlich in Catania und auch meist nur in der freien Rede und nicht in der Bildergeschichte. Die Ruhrgebietssprecher zeigen in den Nacherzählungen nur sehr selten Elisionen und Silbenepenthesen, realisieren deutlich weniger <?page no="377"?> Gesprochenes Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania 377 Hesitationsmerkmale als die Catanesen, und auch die Verwendung von Diskursmarkern bleibt den Catanesen vorbehalten. Im Folgenden werden das Wahrnehmungsexperiment beschrieben und dessen Ergebnisse ausgewertet, wodurch ein direkter Abgleich zwischen der laienlinguistischen Wahrnehmung und den hier beschriebenen sprachwissenschaftlich objektiven Messwerten ermöglicht werden soll. 3 Wahrnehmungsexperiment Für einen Vergleich der sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse über die phonetisch-prosodischen Variationen der Sprechweisen der Italiener des Ruhr- Cat-Korpus mit der Wahrnehmung italienischsprachiger Studierender mit Zuwanderungshintergrund im Ruhrgebiet wurde im Rahmen des Proseminars Perzeptive Varietätenlinguistik im Sommersemester 2015 an der Ruhr-Universität Bochum ein Wahrnehmungsexperiment durchgeführt. Das Experiment, an dem alle in der Seminarsitzung anwesenden Studierenden teilgenommen haben, beinhaltete zunächst das Ausfüllen des schon erprobten soziolinguistischen Fragebogens sowie das Anhören und anschließende Beurteilen von acht ausgewählten Hörproben aus dem RuhrCat-Korpus. Insgesamt haben 17 Studierende an dem Experiment teilgenommen, 8 von ihnen stammen selbst aus Süditalien und weisen auch in ihrer persönlichen Sprachbiografie die meisten Kontakte zum gesprochenen Italienischen auf. In der Analyse und Beschreibung der Wahrnehmungsäußerungen wurde der Fokus insbesondere auf die Studierenden mit süditalienischer Herkunft und Erwerb des Italienischen oder eines italienischen Dialekts als L1 gelegt, da deren Wahrnehmungen im Vergleich zu den fachwissenschaftlichen Erkenntnissen interessante Ergebnisse erwarten ließen und so die Untersuchung der Sprechweisen italienischer extraterritorialer Varietäten abgerundet werden konnte. 6 3.1 Anhören ausgewählter Hörproben Als Hörproben wurden die Nacherzählungen der Bildergeschichte von insgesamt 8 Sprechern ausgewählt. Davon stammen jeweils vier aus dem Ruhrgebiet und aus Catania. Es handelt sich jeweils um vier männliche und vier weibliche Sprecher. Im Fokus der Auswahl stand vor allem die jeweilige Migrationsgeneration der Sprecher aus dem Ruhrgebiet. Nachdem jeweils eine weibliche Sprecherin und ein männlicher Sprecher der ersten und der zweiten 6 Den 8 süditalienischen Studierenden wurden zur Wahrung der Anonymität die Sprechercodes Inf 01 bis Inf 08 gegeben. <?page no="378"?> 378 Judith Kittler (Bochum) Migrationsgeneration ausgewählt worden waren, wurden diesen jeweils ein möglichst gleichaltriger und gleichgeschlechtlicher Sprecher aus Catania zugeordnet. Die Reihenfolge beim Abspielen der Hörproben war daher die folgende: 1. E02 (w, 21, MG II ), 2. CT 11 (w, 21), 3. E01 (m, 23, MG II ), 4. CT 12 (m, 19), 5. HA 09 (w, 48, MG I), 6. CT 04 (w, 48), 7. HA 03 (m, 61, MG I), 8. CT 18 (m, 48). 7 Die Herkunftsregion der Sprecher war den Studierenden beim Anhören der Sprechproben jedoch unbekannt. 3.2 Beurteilung der Sprechweisen und Zuordnung Nach dem ersten Anhören der Sprechproben wurden die Studierenden gebeten, eine Beurteilungsmatrix auszufüllen, die aus vier Kriterien bestand. Die ersten drei Kriterien zielten auf die ästhetische und normorientierte Wahrnehmung der Sprechweisen ab. Es sollte jeweils beurteilt werden, ob man die Sprechweise schön oder hässlich , richtig oder falsch , sowie angenehm oder unangenehm fände. Auf einer vorgegebenen Skala standen jeweils die Werte 1 für sehr schön , 2 für schön , 3 für neutral , 4 für hässlich und 5 für sehr hässlich zur Verfügung. 8 Der Wert 3 für neutral durfte jedoch nur einmal pro Sprechweise vergeben werden. Das vierte Kriterium war die wahrnehmungsbasierte Zuordnung zu jeweils einer Herkunftsregion, dem Ruhrgebiet oder Catania. 3.3 Beantwortung qualitativer Fragen In einem weiteren Schritt sollten die Studierenden jeweils vier Fragen hinsichtlich der einzelnen Hörproben beantworten. Die erste Frage zielte zunächst im Allgemeinen auf die Wahrnehmung der Variation ab. Es wurde gefragt, ob man in der Sprechweise Unterschiede zu dem, was man erwartete, wahrnahm. Dann wurde gefragt, an welchen Stellen der Hörprobe der Sprecher oder die Sprecherin so sprach, wie erwartet, und wo nicht. Um die Wahrnehmung der Variation verschiedenen Sprachebenen zuordnen zu können, wurden die Informanten dann gebeten aufzuschreiben, welche Bereiche der Sprechweise (Laute, Wörter, Sätze, Melodie) variierten. Zuletzt sollten jeweils drei Adjektive genannt werden, die die jeweilige Sprechweise nach der Wahrnehmung der Informanten gut beschrieben. 7 Die Abkürzung MG steht hier für Migrationsgeneration. Die Kategorisierung in Migrationsgenerationen erfolgte bei den Sprechern des RuhrCat-Korpus in Anlehnung an Backus (1996) und Gueli Alletti (2011). 8 Gleiches gilt jeweils auch für die Kriterien richtig und angenehm . <?page no="379"?> Gesprochenes Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania 379 3.4 Auswertung und Abgleich der Sprechproben mit der laienlinguistischen Wahrnehmung Im Folgenden werden jeweils zunächst die bewerteten Sprecher des RuhrCat- Korpus hinsichtlich der Ergebnisse aus sprachwissenschaftlicher Perspektive beschrieben, 9 woraufhin dann die aus dem Experiment gewonnenen Wahrnehmungen bezüglich der Sprechweisen dargestellt werden und so ein direkter Abgleich zwischen fachwissenschaftlicher und laienlinguistischer Meinung möglich wird. Die leitenden Fragestellungen sind hier: 1. Sind die fachwissenschaftlichen Erkenntnisse bezüglich der Sprechweise in Bezug auf Lautung und Prosodie mit der Wahrnehmung der Informanten vergleichbar? 2. Wie nehmen die Informanten, die selbst eine Zuwanderungsgeschichte im Ruhrgebiet haben, standardfernere Sprechweisen innerhalb der Sprechproben wahr? Zeigen sich ästhetische Präferenzen und normorientierte Beurteilungen bezüglich des gesprochenen Italienischen in der Extraterritorialität und sind diese mit der sprachwissenschaftlichen Beschreibung der Sprechweisen vereinbar? 3. Sind die Informanten in der Lage, die Sprechweisen präzise der jeweiligen Herkunftsregion zuzuordnen? 4. Gibt es Zusammenhänge zwischen ästhetischer und normorientierter laienlinguistischer Sichtweise der Informanten und der diatopischen Verteilung der Sprechweisen des Italienischen im Ruhrgebiet und in Catania? 3.4.1 Ruhrgebiet: Die Sprecherin E02 (w, 21) Die Sprecherin E02 tendiert im Bereich der E- und O-Varianten insbesondere in offenen Silben in Richtung einer generellen Öffnung der Vokale, auch dort, wo das Standarditalienische die jeweils geschlossene Variante des Vokals vorsieht. Sie realisiert in der offenen Silbe sowohl alle / o/ als auch alle / ɔ/ als [ɔ]. Hinsichtlich der E-Varianten weist sie weniger eindeutige Öffnungstendenzen auf, da sie zwar alle / e/ offen als [ɛ], jedoch 67 % aller / ɛ/ vermutlich als hyperkorrekt geschlossenes [e] realisiert. Ganz analoge Tendenzen lassen sich auch für die geschlossene Silbe beobachten. E02 ist hinsichtlich der Aussprachegewohnheiten im Bereich des Konsonantismus insofern ein typischer Fall unter den Ruhrgebietssprechern, als dass sie die drei untersuchten stimmlosen Okklusive in meist hohen Anteilen standardnah als [t, p, k] realisiert, jedoch zudem recht hohe Anteile der jeweils aspirierten Variante aufweist. So realisiert sie 50 % aller / t/ als [t h ], 20 % aller / p/ als [p h ] und sogar 70 % aller / k/ als [k h ]. Zudem zeigt die Sprecherin auch einige 9 Cf. Kittler (2015, 287 ff.). <?page no="380"?> 380 Judith Kittler (Bochum) lenisiert realisierte Varianten (so z. B. 27 % [b] und 26 % [ɡ]). Bei den anderen konsonantischen Variablen weist die Sprecherin jedoch ausschließlich standardnahe Realisierungen auf. Die Messergebnisse der Sprecherin E02 bezüglich der Suprasegmentalia lassen sich wie folgt zusammenfassen: Innerhalb der Nacherzählung der Bildergeschichte wurden bei einer Phonationszeit von 41,73 Sekunden und einer Pausenzeit von 22,53 Sekunden, was einem Verhältnis von 65 % Phonationszu 35 % Pausenzeit entspricht, insgesamt 29 Pausen gezählt. Die Sprecherin realisiert somit 0,45 Pausen pro Sekunde, die eine durchschnittliche Länge von 1,29 Sekunden aufweisen. Ihre Sprechflüssigkeit beträgt in diesem Stück 7,38 Silben pro Pausen und die Sprechgeschwindigkeit ist im Vergleich zu den anderen Sprechern mit 6,69 Silben pro Sekunde recht hoch. Sie realisiert Toneinheiten von einer durchschnittlichen Länge von 1,30s und es lässt sich ein recht niedriger Tonhöhenumfang von 10,0 Halbtönen messen. Bezüglich des Rhythmus und der Hesitationsmerkmale ist lediglich zu sagen, dass die Sprecherin insgesamt 8-mal einen gelängten freistehenden Nasal als Pausenfüller nutzt und 3-mal einen Nasal am Wortende längt - als Zeichen der Hesitation. Die Analyse des Wahrnehmungsexperiments ergab für die Sprecherin E02 die folgenden Ergebnisse: Die Sprechweise der Sprecherin E02 wurde von sechs der acht Informanten als schön und von jeweils einem Informanten als neutral und als hässlich wahrgenommen, was einem Mittelwert der Bewertungen von rund 2,4 entspricht. In Bezug auf die Wahrnehmung als richtig oder falsch bewerteten fünf Informanten ihre Sprechweise als neutral , während die übrigen drei Informanten das Etikett richtig eintrugen. Dies entspricht einem Mittelwert von 2,6. Fünf Informanten nahmen die Sprechweise als angenehm wahr, während ein Informant sogar das Etikett sehr angenehm und zwei das Etikett neutral eintrugen, was einem Mittelwert von 2,2 entspricht. Bemerkenswert ist hier auch, dass alle Informanten die Herkunft der Sprecherin einhellig dem Ruhrgebiet zuschrieben. Sechs der acht Informanten nahmen Variation wahr. 10 So werden ihr Unsicherheit: „Ja, die Sprecherin hört sich unsicher an“ (Inf 03), aber auch eine wenig flüssige, ja sogar stockende Sprechweise zugeschrieben: „Bei einfachen Worten sehr flüssig, während bei nicht alltäglichen Wörtern eher stockend“ (Inf 04), „Ja, weil sie oft gestoppt hat, sie sich aber wie eine Italienerin anhört“ (Inf 05). Darüber hinaus wird sie als Dialektsprecherin wahrgenommen, die zwar einen südlichen Akzent hat und zwischen Standarditalienisch und dem 10 Die im Folgenden aufgeführten Äußerungen wurden allesamt originalgetreu den eingesammelten studentischen Aufzeichnungen entnommen. Hervorhebungen wurden ausschließlich von mir durchgeführt. <?page no="381"?> Gesprochenes Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania 381 Dialekt hin- und herspringt, die man aber doch gut verstehen kann: „stockt, südlicher Akzent, kein deutscher Akzent, dislocazione a sinistra , sehr mündliche Aussprache“ (Inf 06), „springt zwischen Dialekt und Standarditalienisch, lacht manchmal, wirkt unsicher. Wörter fallen ihr nicht alle sofort ein“ (Inf 07), „Ich merkte leichte Andeutungen des Dialekts, welche aber nicht so gravierend sind, als könne man sie nicht verstehen“ (Inf 08). Im Hinblick auf die Wahrnehmung von Variation zeigt sich, dass die Benennung der entsprechenden Stellen meist in Zusammenhang mit lexikalischen Phänomenen, bzw. mit Wortfindungsschwierigkeiten und Hesitationsphänomenen gebracht wird. Dies sind offensichtlich die salientesten Stellen innerhalb des Diskurses, die den Informanten sofort ins ‚Ohr‘ fallen: „Also, bei Wörter [sic] wie ‚ impigliato ‘ war sie sich unsicher und zögerte bei der Aussprache, auch an anderen Stellen“ (Inf 03), „Beim Wechsel der Sätze werden lückenfüllende Laute verwendet“ (Inf 04), „Zum Ende hin gehen ihr oft die Vokabeln aus“ (Inf 05), „stockt bei dem Wort nido , klang sehr muttersprachlich; ebenfalls bei ‚im Baum festgehangen‘, machte deutlich, dass sie keine Muttersprachlerin ist“ (Inf 06). Interessant ist hierbei vor allem, dass die wahrgenommenen Wortfindungsschwierigkeiten und die stockende Sprechweise eindeutig mit dem Ruhrgebiet in Verbindung gebracht werden und eine Herkunft aus Catania schon hier kategorisch ausgeschlossen wird: „Zum Ende hin fehlten ihr Wörter, zu erwarten, da ich nicht denke, dass sie in Catania lebt“ (Inf 08). Zudem wird der Sprecherin hier bereits die Beherrschung des Italienischen als Muttersprache abgesprochen (cf. Inf 06). An den Antworten auf die Frage nach den sprachlichen Ebenen, auf denen sich die wahrgenommene Variation ansiedeln lässt, wird deutlich, dass auch hier häufig auf lautliche, suprasegmentale Aspekte, aber auch Hesitationsphänomene rekurriert wird: „Die Betonung ist sehr stark, z. B. bei ‚ Perché ‘ und ‚ fine ‘, viele ‚ähm‘“ (Inf 01), „wenig melodisch“ (Inf 04). Informant 06 benennt als wahrgenommenes Phänomen sogar das offene / ɛ/ : „Laute sehr südlich geprägt, offenes E, Wörter „ impigliato “ dialektal, Melodie manchmal stockend, nicht komplett fließend“ (Inf 06). Wiederum wird auch auf die dialektale Sprechweise, aber auch auf fehlende Melodik, fehlenden Sprachfluss und Wortfindungsschwierigkeiten der Sprecherin verwiesen: „klingt zwar melodisch, aber nicht fließend, Sätze oft unterbrochen, Wörter werden nicht so leicht gefunden“ (Inf 08). Auch die Frage nach den passenden beschreibenden Adjektiven für die jeweilige Sprechweise förderte interessante Ergebnisse bezüglich der Zuschreibungen an die Sprecherin zu Tage. So wurde wiederum auf die dialektale, regionale Prägung, bzw. auf die deutsch-italienische Herkunft verwiesen: „deutsch-italienisch, leicht stockend, leicht regional / dialektal geprägt“ (Inf 06). Jedoch wurden auch ästhetische Präferenzen in positiver („lebendig, klar, melodisch“ (Inf 01), <?page no="382"?> 382 Judith Kittler (Bochum) „langsam, deutlich, klar“ (Inf 02)) wie in negativer („unsicher, monoton, unstetig“ (Inf 04), „langsam, stockend“ (Inf 05), „langsam, stockend, unsicher“ (Inf 08)) Hinsicht an der Nennung der Adjektive deutlich, und es wurde der Sprecherin ihre stockende, unsichere und monotone Sprechweise bescheinigt. 3.4.2 Catania: Die Sprecherin CT11 (w, 21) Die Sprecherin CT 11 tendiert im Bereich der E- und O-Varianten weniger deutlich in Richtung einer generellen Öffnung der Vokale, sondern zeigt eher zwischen den offenen und geschlossenen Varianten eine ausgewogene Sprechweise. Sie realisiert in der offenen Silbe 58 % aller / o/ als geschlossenes [o] und 42 % als offenes [ɔ]. Auch bei / ɔ/ zeigt sie in höheren Anteilen die standardnahe Aussprache als [ɔ], da sie dies in 64 % der Fälle und das standardfernere [o] nur in 36 % der Fälle realisiert. Hinsichtlich der E-Varianten lässt sich in der offenen Silbe bei / e/ Ähnliches beobachten, da sie die standardferne Variante [ɛ] in 38 % der Fälle, und das standardnahe [e] in 63 % der Fälle realisiert. Das offene / ɛ/ spricht sie zu 100 % als [ɛ] und damit standardnah aus. In der geschlossenen Silbe zeigt sich die Sprecherin hinsichtlich der Aussprachegewohnheiten dann noch standardbewusster, da hier lediglich geringe Anteile der jeweils standardfernen Aussprache zu beobachten sind. CT11 ist hinsichtlich der Aussprachegewohnheiten im Bereich des Konsonantismus ein typischer Fall unter den Sprechern aus Catania, da sie die drei untersuchten stimmlosen Okklusive in meist hohen Anteilen standardnah als [t, p, k] realisiert, jedoch zudem recht hohe Anteile der jeweils lenisierten Variante aufweist. So realisiert sie 25 % aller / t/ als [d], 50 % aller / p/ als [b] und 35 % aller / k/ als [ɡ]. Auch bei den anderen gemessenen konsonantischen Variablen, wie der Assimilation und den Affrizierungs- und Entaffrizierungsphänomenen zeigt sie hohe bis sehr hohe Anteile der jeweils standardfernen Variante. Sie realisiert 50 % aller / st/ als [sd], 50 % aller / nd/ als [nn] und entaffriziert / tʃ/ sogar zu 100 % als [ʃ], sowie sie / ns/ zu 100 % zu [nts] affriziert. Die Messergebnisse der Sprecherin CT 11 bezüglich der Suprasegmentalia lassen sich wie folgt zusammenfassen: Bei einer Phonationszeit von 44,24 Sekunden und einer Pausenzeit von 27,26 Sekunden, was einem Verhältnis von 62 % Phonationszu 38 % Pausenzeit entspricht, realisiert sie insgesamt 29 Pausen und damit 0,41 Pausen pro Sekunde, die eine durchschnittliche Länge von 1,06 Sekunden aufweisen. Ihre Sprechflüssigkeit beträgt recht hohe 9,52 Silben pro Pausen und die Sprechgeschwindigkeit ist im Vergleich zu den anderen Sprechern mit 8,36 Silben pro Sekunde sehr hoch. Sie realisiert Toneinheiten von einer durchschnittlichen Länge von 1,34s und es lässt sich ein gemäßigt großer Tonhöhenumfang von 14,4 Halbtönen messen. Bezüglich des Rhythmus <?page no="383"?> Gesprochenes Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania 383 und der Hesitationsmerkmale ist zu sagen, dass die Sprecherin insgesamt 7-mal einen gelängten freistehenden Vokal als Pausenfüller nutzt und sogar 10-mal einen Nasal am Wortende als Zeichen der Hesitation längt. Die Sprechweise der Sprecherin CT 11 wurde von vier der acht Informanten als sehr schön und von weiteren vier Informanten als schön wahrgenommen, was einem Mittelwert der Bewertungen von 1,5 entspricht. In Bezug auf die Wahrnehmung als richtig oder falsch bewerteten zwei Informanten ihre Sprechweise als sehr richtig , vier als richtig , während die übrigen zwei Informanten das Etikett neutral eintrugen. Dies entspricht einem Mittelwert von 2,0. Vier Informanten nahmen die Sprechweise als sehr angenehm wahr, während drei Informanten das Etikett angenehm und ein Informant das Etikett neutral eintrugen, was einem Mittelwert von 1,6 entspricht. Die Sprecherin wird eindeutig als aus Catania stammend erkannt. Die Informanten nehmen ihre Sprechweise im Vergleich zu E02 eindeutig positiver wahr. Sie finden sie schöner, angenehmer und sogar richtiger. Diese ästhetischen Aussagen werden zudem deutlich mit der Zuordnung zur Herkunftsregion Catania in Verbindung gebracht. Dies wird auch in den Antworten auf die qualitativen Fragen deutlich. So nehmen die meisten Informanten keine Variation wahr und bescheinigen der Sprecherin ihre guten Grammatikkenntnisse und ihre flüssige Sprechweise: „Sie spricht sehr flüssig und sie beherrscht die italienische Grammatik äußerst gut“ (Inf 03), „Die Sprechweise ist sehr flüssig und ändert sich nicht“ (Inf 04), „Nein, weil sie fließend spricht“ (Inf 05). Zudem wird der Gebrauch des passato remoto wahrgenommen und hier angemerkt: „ uso del passato remoto , Verwendung von Nominalphrasen, ‚ nelle sue ricerche ‘…“ (Inf 06). Hinsichtlich der Frage, an welchen Stellen die Informanten etwas wahrnehmen, was sie nicht erwartet hatten, zeigt sich, dass meistens lexikalische Besonderheiten, wie vor allem „ detective “ und der Gebrauch des passato remoto genannt und deutlich mit der Herkunft aus dem Süden, bzw. aus Catania in Verbindung gebracht werden: „‚ peripezzie ‘, ‚ pedinare ‘, usa il passato remoto (typisch für den Süden), nicht erwartet: benutzt einen sehr anderen Vokabular [sic] als Sprecherin 1“ (Inf 01), „Beim Wort ‚ investigatore ‘ sagt sie ‚Dedektiv‘, kommt eher vom Deutschen“ (Inf 03), „Verwendung des Tempus: Catania passato remoto ; Aussprache von Detective all'italiana “ (Inf 06). Der Informant 08 stellt darüber hinaus fest, dass sich die Sprechgeschwindigkeit der Sprecherin gegen Ende der Erzählung erhöht: „Wird zum Ende hin schneller und findet ein rasches Ende (zu erwarten)“ (Inf 08). An den Antworten auf die Frage nach den sprachlichen Ebenen, auf denen sich die wahrgenommene Variation ansiedeln lässt, zeigt sich, dass meist die lautliche, prosodische und lexikalische Ebenen als auffallend genannt werden: „Melodie, Laute“ (Inf 02), „Laute, Wörter, kein breiter Wortschatz, Sätze un- <?page no="384"?> 384 Judith Kittler (Bochum) strukturiert aufgebaut, Melodie“ (Inf 03), „Melodie = Lachen bei Unsicherheit“ (Inf 07), „spricht sehr melodisch, fließender / leichter als der erste Sprecher“ (Inf 08). In diesem Fall werden jedoch die Melodik und Flüssigkeit in der Sprechweise von CT 11 sowie auch ihre detaillierte Erzählung als deutlich positiv wahrgenommen: „Der Sprecher erzählt mit sehr viel Detail. Zeugt von Vertrautheit mit der Sprache“ (Inf 04), „Verwendung des Tempus, sehr melodisch, kaum stockend (stockend wahrscheinlich wegen der Nervosität der Aufnahme)“ (Inf 06). Der Eindruck der Flüssigkeit deckt sich ganz deutlich mit der errechneten Sprechflüssigkeit. Hinsichtlich der genannten Adjektive zur Beschreibung der Sprechweise äußern die Informanten auch hier ihre positiven Eindrücke und verweisen sowohl auf die Melodik, die Sprechflüssigkeit und die Sicherheit der Sprecherin: „schnell, fließend“ (Inf 02), „flüssig, sicher“ (Inf 03), „schnell, melodisch, deutlich“ (Inf 04), „fließend, sicher, verständlich“ (Inf 05) als auch auf die positive Wahrnehmung der Sprechweise: „angenehm, spontan“ (Inf 01), „schnell, angenehm, schön“ (Inf 06), „schnell, fließend“ (Inf 08). Schnelles und flüssiges Sprechen werden hier deutlich mit der Sprecherin aus Catania in Verbindung gebracht und überwiegend positiv von den Informanten wahrgenommen. 3.4.3 Catania: Der Sprecher CT18 (m, 48) Der Sprecher CT 18 tendiert im Bereich der E- und O-Varianten insbesondere in offenen Silben in Richtung einer generellen Öffnung der Vokale, auch dort, wo das Standarditalienische die jeweils geschlossene Variante des Vokals vorsieht. Er realisiert in der offenen Silbe sowohl alle / o/ und / e/ als auch alle / ɔ/ und / ɛ/ als [ɔ] bzw. [ɛ]. Weniger eindeutige Tendenzen lassen sich jedoch für die geschlossene Silbe beobachten: Bei den im Standarditalienischen jeweils geschlossenenen Varianten realisiert CT 18 zwar in beiden Fällen von / o/ und / e/ zu 100 % die standardfernen Varianten [ɔ] und [ɛ], jedoch neigt er bei der Realisierung der im Standarditalienischen offenenen Varianten in recht hohen Anteilen jeweils zur hyperkorrekten Form ([o] in 50 % und [e] in 62 % der Fälle). CT18 ist hinsichtlich der Aussprachegewohnheiten im Bereich des Konsonantismus ebenfalls ein typischer Fall unter den Sprechern aus Catania, da er die drei untersuchten stimmlosen Okklusive in meist hohen Anteilen standardnah als [t, p, k] realisiert, jedoch zudem recht hohe Anteile der jeweils lenisierten Variante aufweist. So realisiert er 50 % aller / t/ als [d], 55 % aller / p/ als [b] und 45 % aller / k/ als [ɡ]. Die Ergebnisse der suprasegmentalen Messungen ergaben für CT 18, dass er bei einer Phonationszeit von 20,87 Sekunden und einer Pausenzeit von <?page no="385"?> Gesprochenes Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania 385 7,01 Sekunden, was einem Verhältnis von 75 % Phonationszu 25 % Pausenzeit entspricht, insgesamt nur 9 kurze Pausen und somit lediglich 0,36 Pausen pro Sekunde realisiert, die eine durchschnittliche Länge von 1,43 Sekunden aufweisen. Seine Sprechflüssigkeit beträgt sehr hohe 11,40 Silben pro Pausen und die Sprechgeschwindigkeit ist im Vergleich zu den anderen Sprechern mit 8,77 Silben pro Sekunde sehr hoch. Er realisiert vergleichsweise lange Toneinheiten von einer durchschnittlichen Länge von 1,61s und es lässt sich ein sehr großer Tonhöhenumfang von 23,1 Halbtönen messen. Die Sprechweise des Sprechers CT18 wurde von drei der acht Informanten als sehr schön , von zwei Informanten als schön , von den übrigen drei Informanten jedoch als hässlich wahrgenommen, was einem Mittelwert der Bewertungen von rund 2,4 entspricht. In Bezug auf die Wahrnehmung als richtig oder falsch bewerteten zwei Informanten seine Sprechweise als sehr richtig , vier der Informanten als richtig und zwei als falsch . Dies entspricht einem Mittelwert von 2,3. Zwei Informanten nahmen die Sprechweise als sehr angenehm wahr, während die Etiketten angenehm und unangenehm jeweils von einem Informanten eingetragen wurden. Vier Informanten vergaben hier die Bewertung neutral , was insgesamt einem Mittelwert von 2,5 entspricht. Bemerkenswert ist hier auch, dass nur ein Informant die Herkunft des Sprechers eher dem Ruhrgebiet zuschreibt, während die übrigen sieben ihn eindeutig Catania zuordnen. Bezüglich der Wahrnehmung von Variation in der Sprechweise von CT 18 lässt sich feststellen, dass die Informanten sprachliche Besonderheiten wahrnehmen und aufgrund dieser den Sprecher eindeutig als Catanesen identifizieren. So werden vor allem die Dialektalität der Sprechweise, aber auch die Sprechflüssigkeit als Indiz für die Herkunft aus dem italienischen Süden genannt: „rollt das ‚r‘ auf besondere Art und Weise (wie in Sizilien), ‚ recuperarlo ‘, ‚ ritroviamo ‘, dialektal; ‚ ci ritroviamo in primavera ‘, bisschen umgangssprachlich [sic] ( tizio )“ (Inf 01), „Das rollende ‚R‘ hört man sehr deutlich“ (Inf 03), „nein, da er meiner Meinung nach die Sprechweise eines Südländers hat“ (Inf 08), „Sprechweise bleibt stets flüssig“ (Inf 04). Ein Informant nimmt zudem noch einen Tempuswechsel wahr: „Ja, weil der Sprecher im Laufe der Erklärung das Tempus ändert; von remoto zu presente “ (Inf 06). Im Hinblick auf die Wahrnehmung von Variation zeigt sich, dass hier lediglich der „Tempuswechsel“ (Inf 06) wieder aufgegriffen wurde und die fehlende Detailliertheit der Erzählung auf das Geschlecht des Sprechers zurückgeführt wird: „Da es ein Sprecher ist, wurde die Geschichte nicht so ausgeschmückt und mit wenig Elan erzählt“ (Inf 08). An den Antworten auf die Frage nach den sprachlichen Ebenen, auf denen sich die wahrgenommene Variation ansiedeln lässt, wird deutlich, dass auch <?page no="386"?> 386 Judith Kittler (Bochum) hier vor allem suprasegmentale Eigenschaften, wie die Sprechmelodie, die Sprechflüssigkeit und -geschwindigkeit als Merkmalsebenen genannt werden: „Melodie, Betonung“ (Inf 02), „sehr melodisch in vollen Sätzen“ (Inf 04), „sehr schnell, Melodie; Laute: Verschlucken der Endlaute“ (Inf 06). Dies spiegelt sich wiederum in den als passend empfundenen Adjektiven wider: „flüssig, schnell, akzentreich“ (Inf 04), „schnell, verständlich“ (Inf 05), „schnell, sparsam, präzise“ (Inf 06), „selbstsicher, flüssig, verständlich“ (Inf 07), „flüssig, fließend, sicher“ (Inf 08). Zwei Informanten bescheinigen dem Sprecher jedoch auch die Unverständlichkeit und Knappheit seiner Erzählung: „knapp, männlich, unklar“ (Inf 01), „unverständlich, unklar“ (Inf 02). 3.4.4 Ruhrgebiet: Der Sprecher HA03 (m, 61) Der Sprecher HA 03 tendiert im Bereich der E- und O-Varianten insbesondere in offenen Silben in Richtung einer generellen Öffnung der Vokale. Er realisiert in der offenen Silbe sowohl alle / o/ als auch alle / ɔ/ als [ɔ]. Hinsichtlich der E- Variante / e/ zeigt er sich allerdings überaus standardnah, da er alle / e/ als [e] realisiert. In der geschlossenen Silbe verhält es sich ganz ähnlich. Auch hier realisiert HA 03 alle / ɔ/ als offene [ɔ]. Hier neigt er jedoch bei der geschlossenen Variante des / e/ zu 75 % zur Öffnung zu [ɛ], während er 29 % aller / ɛ/ zu [e] schließt. Der Sprecher HA 03 zeigt sich hinsichtlich der Aussprachegewohnheiten im Bereich des Konsonantismus als typischer Sprecher aus dem Ruhrgebiet, da er die drei untersuchten stimmlosen Okklusive in Teilen standardnah als [t, p, k] realisiert, jedoch auch hohe bis sehr hohe Anteile der jeweils lenisierten Varianten aufweist. So realisiert er 22 % aller / t/ als [d], 46 % aller / k/ als [ɡ] und sogar 100 % aller / p/ als [b]. Er aspiriert zudem 44 % aller / t/ zu [t h ] und 46 % aller / k/ zu [k h ]. Bei den anderen konsonantischen Variablen weist der Sprecher jedoch ausschließlich standardnahe Realisierungen auf. Auf der Ebene der suprasegmentalen Merkmale lässt sich feststellen, dass HA 03 bei einer Phonationszeit von 16,08 Sekunden und einer Pausenzeit von 14,42 Sekunden, was einem Verhältnis von 53 % Phonationszu 47 % Pausenzeit entspricht, insgesamt 15 Pausen und somit 0,49 Pausen pro Sekunde realisiert, die eine durchschnittliche Länge von 1,04s aufweisen. Seine Sprechflüssigkeit beträgt in diesem Stück 7,87 Silben pro Pausen und die Sprechgeschwindigkeit ist im Vergleich zu den anderen Sprechern mit 7,38 Silben pro Sekunde recht hoch. Er realisiert Toneinheiten mit einer durchschnittlichen Länge von 1,01s und es lässt sich ein vergleichsweise hoher Tonhöhenumfang von 22,0 Halbtönen messen. <?page no="387"?> Gesprochenes Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania 387 Die Sprechweise des Sprechers HA 03 wurde von drei der acht Informanten als schön , von jeweils zwei Informanten als neutral und als hässlich und von einem Informanten sogar als sehr hässlich wahrgenommen, was einem Mittelwert der Bewertungen von rund 3,1 entspricht. In Bezug auf die Wahrnehmung als richtig oder falsch bewerteten nur zwei Informanten seine Sprechweise als richtig , während drei Informanten falsch , und zwei sogar sehr falsch eintrugen. Ein Informant vergab hier den Wert neutral . Dies entspricht einem Mittelwert von 3,6. Jeweils ein Informant nahm die Sprechweise als sehr angenehm und angenehm wahr, während drei Informanten das Etikett unangenehm und ein Informant das Etikett sehr unangenehm eintrugen. Zwei Informanten beurteilten die Sprechweise als neutral , was insgesamt einem Mittelwert von 3,3 entspricht. Die Informanten sind sich bei der Herkunftsregion des Sprechers HA03 erstmals eher uneinig. Zwar ordnen fünf Informanten ihn dem Ruhrgebiet zu, jedoch gehen drei von ihnen davon aus, dass er aus Catania stammt. Bezüglich der Wahrnehmung von Variation in der Sprechweise von HA 03 lässt sich feststellen, dass der unsichere Gebrauch der Hilfsverben im passato prossimo hier als salientes Merkmal fungiert und moniert wird: „Tempus: ‚ ha corruto ‘, ‚ ha uscito fuori ‘, ‚R‘ gerollte“ (Inf 01). Zudem wird seine Aussprache als undeutlich empfunden: „sehr undeutliche Aussprache“ (Inf 06), und es werden lexikalische Lücken sowie die Änderung der Lautstärke bemerkt: „lacht, Wörter fehlen ihm, Lautstärke ändert sich“ (Inf 07). Hinsichtlich der Frage, an welchen Stellen die Informanten Variation wahrnehmen, zeigt sich, dass auch hier sowohl der Tempusgebrauch als auch die grammatische Unklarheit bei den Hilfsverben wieder aufgenommen und als störend und seltsam wahrgenommen wird: „ich finde den Tempusgebrauch sehr komisch“ (Inf 01), „Sprecher macht am Anfang einen grammatischen Fehler“ (Inf 04), „Grammatikfehler: ‚ Ha uscito fuori ‘/ ‚ ce l’ha volato via ‘“ (Inf 06). Der Informant 7 hatte allerdings eine stärkere dialektale Färbung erwartet: „habe mehr Dialekt erwartet“ (Inf 07). An den Antworten auf die Frage nach den sprachlichen Ebenen, auf denen sich die wahrgenommene Variation ansiedeln lässt, wird deutlich, dass der Sprecher als Dialektsprecher wahrgenommen wird („dialektale Aussprache“ (Inf 01)), wobei vor allem Variation in Melodie und Aussprache, aber auch die Satzkonstruktion angemerkt werden: „Satzkonstruktionen, Aussprache“ (Inf 02), „sehr melodische Sprechweise, mit südländischen Eigenschaften“ (Inf 08), „Melodie ändert sich (lacht), (lauter)“ (Inf 07). Für einige Informanten sind seine Ausführungen zudem nicht gut verständlich: „Sätze sind nicht verständlich“ (Inf 03), „zum Ende hin unverständlicher“ (Inf 05). Diesen Eindruck geben auch die als passend empfundenen Adjektive wieder: „komisch, hässlich“ (Inf 01), „undeutlich“ (Inf 02), „unsicher, ironisch“ (Inf 03), <?page no="388"?> 388 Judith Kittler (Bochum) „undeutlich, nicht schnell“ (Inf 04), „unverständlich, schnell“ (Inf 05), „stockend, unsicher“ (Inf 07). Der Informant 6 empfindet die Sprechweise von HA 03 sogar als „bildungsfern, unbewusst, funktional“ (Inf 06). 3.4.5 Ruhrgebiet. Der Sprecher E01 (m, 23) Der Sprecher E01 tendiert im Bereich der E- und O-Varianten insbesondere in offenen Silben ebenso in Richtung einer generellen Öffnung der Vokale, wie die vorangegangenen Sprecher. Er realisiert in der offenen Silbe sowohl alle / o/ als auch alle / ɔ/ als [ɔ]. Ebenso eindeutig verhält es sich mit den E-Varianten, da er alle / e/ und alle / ɛ/ offen als [ɛ] realisiert. Ähnlich starke Öffnungstendenzen sind in Bezug auf die geschlossene Silbe zu beobachten. Hinsichtlich der Aussprachegewohnheiten im Bereich des Konsonantismus zeigt sich E01 als stärker an den Tendenzen des italienischen Südens orientiert als die übrigen Sprecher aus dem Ruhrgebiet, da er die drei untersuchten stimmlosen Okklusive in meist hohen Anteilen standardnah als [t, p, k] realisiert, jedoch zudem recht hohe Anteile der jeweils lenisierten Variante aufweist. So realisiert er 43 % aller / t/ als [t] und 57 % als [d], 13 % aller / p/ als [p] und 88 % als [b]. Die aspirierte Variante [k h ] lässt sich bei E01 in 50 % der Fälle feststellen. Bei den anderen konsonantischen Variablen weist der Sprecher wie die bereits genannten Sprecher aus dem Ruhrgebiet ausschließlich standardnahe Realisierungen auf. Die Messergebnisse des Sprechers E01 bezüglich der Suprasegmentalia lassen sich wie folgt zusammenfassen: Innerhalb der Nacherzählung der Bildergeschichte wurden bei einer Phonationszeit von nur 5,27 Sekunden und einer Pausenzeit von 26,49 Sekunden, was einem Verhältnis von 17 % Phonationszu 83 % Pausenzeit entspricht, insgesamt 14 Pausen gezählt. Der Sprecher realisiert somit 0,44 Pausen pro Sekunde, die eine durchschnittliche Länge von 0,53s aufweisen. Seine Sprechflüssigkeit beträgt in diesem Stück 7,93 Silben pro Pausen und die Sprechgeschwindigkeit ist im Vergleich zu den anderen Sprechern mit 6,94 Silben pro Sekunde ebenfalls recht hoch. E01 realisiert Toneinheiten von einer durchschnittlichen Länge von nur 0,33s und es lässt sich ein sehr niedriger Tonhöhenumfang von 6,0 Halbtönen messen. Bezüglich des Rhythmus und der Hesitationsmerkmale ist lediglich zu sagen, dass der Sprecher zweimal einen gelängten freistehenden Nasal als Pausenfüller nutzt. Die Sprechweise des Sprechers E01 wurde von sieben Informanten als hässlich und von einem Informanten als neutral wahrgenommen, was einem Mittelwert der Bewertungen von rund 3,9 entspricht. In Bezug auf die Wahrnehmung als richtig oder falsch bewerteten sechs Informanten seine Sprechweise als falsch , während die übrigen zwei Informanten das Etikett neutral eintrugen. <?page no="389"?> Gesprochenes Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania 389 Dies entspricht einem Mittelwert von 3,8. Nur ein Informant nahm die Sprechweise als angenehm wahr, während drei Informanten das Etikett neutral und die übrigen vier das Etikett unangenehm eintrugen, was einem Mittelwert von 3,4 entspricht. Bemerkenswert ist hier auch, dass sieben Informanten die Herkunft des Sprechers dem Ruhrgebiet zuschreiben, während ihn ein Informant Catania zuordnet. Bezüglich der Wahrnehmung von Variation in der Sprechweise von E01 lässt sich feststellen, dass der Großteil der Informanten eine solche wahrnimmt und vor allem die Wortfindungsschwierigkeiten und die mangelnde Sprechflüssigkeit angemerkt wird: „Er spricht abgehackt, stotternd“ (Inf 03), „Ihm fehlen zwischendurch Vokabeln“ (Inf 05), „Ja, weil er viele Einschübe macht, versucht Wortfindungszeit zu überbrücken“ (Inf 08), „benutzt deutsche Wörter, weiß oft nicht weiter“ (Inf 07). Hinsichtlich der Frage, an welchen Stellen die Informanten Variation wahrnehmen, zeigt sich, dass die wahrgenommene Unsicherheit beim Sprechen wiederaufgenommen wird: „Der Sprecher macht eine lange Pause und verwendet deutsche Wörter“ (Inf 04), „ist sich unsicher beim Sprechen“ (Inf 05), „stockt öfter als erwartet“ (Inf 07). Das Lexem berretto , ‘Mütze’, wird als Synonym für cappello , ‘Hut’, hier als salientes Merkmal herausgestellt: „Nicht erwartet: statt cappello berretto “ (Inf 01). Der Informant 8 schließt sogar aus der Sprechweise von E01, dass dieser im Ruhrgebiet aufgewachsen ist und erklärt, dass die Sprechweise daher wie erwartet ist: „Es lässt sich darauf schließen, dass der Sprecher hier groß geworden ist, also spricht er demnach erwartungsgemäß“ (Inf 08). Diese Anmerkung ist besonders interessant, da sich hier die Zuschreibungen an die Sprechweise der Italiener im Ruhrgebiet und damit an die eigene Art zu sprechen zeigen. Besonders vor dem Hintergrund der sehr negativ ausgefallenen ästhetischen Zuschreibungen an den Sprecher E01 erscheint dies essentiell, da deutlich wird, dass die eigene Sprechweise, bzw. die den Informanten umgebende Nähesprache hier negativ wahrgenommen wird. In den Antworten auf die Frage nach den sprachlichen Ebenen, auf denen sich die wahrgenommene Variation ansiedeln lässt, stehen dann erneut die Wortwahl des Sprechers, aber auch die fehlende Struktur in der Erzählung und das Abbrechen von Sätzen im Fokus der Wahrnehmungen: „ berretto , manchmal keinen“ (Inf 01), „Worte: berretto statt cappello “ (Inf 02), „Wörter berretto , Sätze abgebrochene Sätze, keine Struktur“ (Inf 03). Zudem wird hier moniert, dass der Sprecher nicht ausreichendes Vokabular vorweisen kann, sich manchmal mit dem Deutschen weiterhilft und Artikel nicht korrekt an die Substantive angleicht: „Beschreibung der Handlung mit Universalverben ‚ arrivato su un albero ‘, Verschluckt jegliche Endungen, die angepasst werden müssen, ja, ‚ dei uccelli ‘? ! “ (Inf 06), „mal deutsche, mal italienische Wörter springt zwischen bei- <?page no="390"?> 390 Judith Kittler (Bochum) den Sprachen“ (Inf 07). Als letztes Merkmal wird wiederum die als abgehackt wahrgenommene Sprechweise genannt: „spricht sehr abgehackt“ (Inf 08). Auch die beschreibenden Adjektive spiegeln die bereits bei den vorigen Fragen genannten negativen Eindrücke der Sprechweise wider. Hier wird vor allem die Unsicherheit und die fehlende Sprechflüssigkeit beschrieben: „langweilig, knapp, lustlos“ (Inf 01), „unsicher“ (Inf 02), „stotternd, unsicher“ (Inf 03), „deutlich, stockend, unsicher“ (Inf 04), „langsam, stockend, unsicher“ (Inf 05), „unsicher, stockend, langsam“ (Inf 07), „stockend, nicht fließend“ (Inf 08). Schließlich ist zu sagen, dass die Eindrücke der Sprecher in hohem Maße mit den gemessenen suprasegmentalen Werten bei Sprecher E01 übereinstimmen, da die Pausenzeit im Verhältnis zur Phonationszeit tatsächlich sehr hoch ist (17 % Phonationszu 83 % Pausenzeit) und durch den geringen Tonhöhenumfang von 6,0 Halbtönen der Eindruck einer sehr monotonen und gar langweiligen Sprechweise durchaus gerechtfertigt ist. 3.4.6 Catania: Der Sprecher CT12 (m, 19) Auch der Sprecher CT 12 tendiert im Bereich der O-Varianten in offenen Silben in Richtung einer generellen Öffnung der Vokale, auch dort, wo das Standarditalienische die jeweils geschlossene Variante des Vokals vorsieht. Hinsichtlich der E-Varianten weist er sich als überaus standardnah aus, da er / e/ geschlossen als [e] und alle / ɛ/ offen als [ɛ] realisiert. In der geschlossenen Silbe tendiert er bei den O-Varianten zur generellen Öffnung, da er alle / o/ und alle / ɔ/ als [ɔ] realisiert. CT 12 zeigt bei den E-Varianten jedoch andere Präferenzen, da er zwar 40 % aller / e/ offen als [ɛ] realisiert, umgekehrt aber auch 15 % aller / ɛ/ hyperkorrekt zu [e] schließt. CT12 ist hinsichtlich der Aussprachegewohnheiten im Bereich des Konsonantismus ein typischer Sprecher aus Catania, da er die drei untersuchten stimmlosen Okklusive in meist hohen Anteilen als lenisiert [d, b, ɡ] realisiert, jedoch auch Anteile der jeweils standardnahen Variante aufweist. So realisiert er 89 % aller / t/ als [d], 70 % aller / p/ als [b] und 27 % aller / k/ als [ɡ]. Zudem assimiliert und entaffriziert er jeweils ein Drittel der Realisierungen von / st/ zu [ss] und von / tʃ/ zu [ʃ]. Die Messergebnisse des Sprechers CT 12 bezüglich der Suprasegmentalia lassen sich wie folgt zusammenfassen: Innerhalb der Nacherzählung der Bildergeschichte wurden bei einer Phonationszeit von 47,80 Sekunden und einer Pausenzeit von 39,01 Sekunden, was einem Verhältnis von 55 % Phonationszu 45 % Pausenzeit entspricht, insgesamt 35 Pausen gezählt. Der Sprecher realisiert somit 0,40 Pausen pro Sekunde, die eine durchschnittliche Länge von 0,90 Sekunden aufweisen. Seine Sprechflüssigkeit beträgt in der Bildergeschichte 7,54 Sil- <?page no="391"?> Gesprochenes Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania 391 ben pro Pausen und die Sprechgeschwindigkeit lässt sich mit 6,14 Silben pro Sekunde messen. Er realisiert Toneinheiten von einer durchschnittlichen Länge von 1,11s und es lässt sich ein mäßiger Tonhöhenumfang von 14,3 Halbtönen beobachten. Bezüglich des Rhythmus und der Hesitationsmerkmale ist zu sagen, dass der Sprecher zweimal einen gelängten freistehenden Vokal als Pausenfüller nutzt und viermal einen Nasal am Wortende als Zeichen der Hesitation längt. Die Sprechweise des Sprechers CT 12 wurde von zwei Informanten als sehr schön und von fünf Informanten als schön wahrgenommen. Ein Informant setzt hier das Etikett neutral , was einem Mittelwert der Bewertungen von rund 1,9 entspricht. In Bezug auf die Wahrnehmung als richtig oder falsch bewerteten fünf Informanten seine Sprechweise als neutral , während die übrigen drei Informanten das Etikett richtig eintrugen. Dies entspricht einem Mittelwert von 2,6. Sieben Informanten nahmen die Sprechweise als angenehm wahr, während ein Informant sogar das Etikett sehr angenehm eintrug, was einem Mittelwert von 1,9 entspricht. Interessant ist hier wiederum, dass sieben Informanten die Herkunft des Sprechers Catania zuordnen, während ein Informant als Herkunftsregion das Ruhrgebiet einträgt. Bezüglich der Wahrnehmung von Variation in der Sprechweise von CT 12 lässt sich feststellen, dass, was bei Sprecher E01 als fehlender Wortschatz moniert wurde, hier als deutlich salient und positiv herausgestellt wird: „anderes Vokabular ‚ il classico giro ‘, ‚ vento tira a forza ‘, ‚ dal signore all'angolo ‘“ (Inf 01), „ Inventa nomi , ‚ classico giro ‘, ‚ dopo aver fatto ‘; Verwendung von Partizipialkonstruktionen“ (Inf 06). Aufgrund seines vergleichsweise großen Wortschatzes wird CT 12 dann auch die Beherrschung des Italienischen zugesprochen: „Er ist der italienischen Sprache mächtig“ (Inf 03), „Nein, spricht sehr gut und verständlich Italienisch“ (Inf 08). Einige Informanten nehmen zudem einen süditalienischen Akzent und Variationen in der Sprechgeschwindigkeit wahr: „Die Aussprache ändert sich. Bei gewissen Wörtern hört man einen starken Akzent“ (Inf 04), „erst sehr langsam, dann immer sicherer und schneller“ (Inf 05), „lange Pausen, spricht langsam“ (Inf 07). Hinsichtlich der Frage, an welchen Stellen die Informanten Variation wahrnehmen, zeigt sich, dass ein sizilianischer Akzent genannt wird: „Sizilianische Aussprache beim Wort ‚ Villa mattutina ‘“ (Inf 03), „Aussprache“ (Inf 02). Des Weiteren wird die kreative Ausschmückung der Bildergeschichte als positiv wahrgenommen: „Erfindet Namen“ (Inf 06), „schmückt die Geschichte aus“ (Inf 07). In den Antworten auf die Frage nach den sprachlichen Ebenen, auf denen sich die wahrgenommene Variation ansiedeln lässt, werden der abwechslungsreiche Wortschatz, sein südländischer Akzent und die deutliche Aussprache positiv hervorgehoben: „Wörter, benutzt Wörter wie ‚ villa mattutino ‘, Kenntnis <?page no="392"?> 392 Judith Kittler (Bochum) bestimmter Wörter, Sätze sind sinngemäß aufgebaut“ (Inf 03), „deutlichere Aussprache“ (Inf 06), „spricht fließend, und südländisch, sehr zusammenhängend gesprochen“ (Inf 08). Auch die beschreibenden Adjektive spiegeln den Eindruck der flüssigen, kreativen und melodischen Sprechweise wider: „flüssig“ (Inf 02), „ruhig“ (Inf 03), „langsam, verständlich“ (Inf 05), „ moderato “ (Inf 06), „kreativ, langsam“ (Inf 07), „melodisch“ (Inf 08). 3.4.7 Ruhrgebiet: Die Sprecherin HA09 (w, 48) Die Sprecherin HA 09 zeigt sich im Bereich der O-Varianten in offenen Silben äußerst standardnah, da sie alle / o/ als [o] und alle / ɔ/ als [ɔ] realisiert. Hinsichtlich der E-Varianten ist es ähnlich, da sie alle / ɛ/ als [ɛ] realisiert, jedoch bei / e/ nicht generell öffnet, sondern jeweils zu 50 % [e] und [ɛ] beobachten lässt. Auch in der geschlossenen Silbe erweist sich die Sprecherin als äußerst standardnah und realisiert alle / o/ als [o], alle / e/ als [e] sowie alle / ɛ/ als [ɛ]. Lediglich bei den standarditalienisch offenen / ɔ/ in geschlossener Silbe zeigt sie entgegengesetzte Tendenzen und realisiert, wahrscheinlich hyperkorrekt, zu 100 % die geschlossene Variante [o]. HA09 ist hinsichtlich der Aussprachegewohnheiten im Bereich des Konsonantismus jedoch wiederum ein typischer Fall unter den Ruhrgebietssprechern, da sie die drei untersuchten stimmlosen Okklusive in recht hohen Anteilen standardnah als [p, t, k] realisiert, jedoch zudem recht hohe Anteile der jeweils aspirierten Variante aufweist. So realisiert sie sogar 100 % aller / t/ als [t h ], 50 % aller / p/ als [p h ] und 80 % aller / k/ als [k h ]. Zudem zeigt die Sprecherin bei / k/ 20 % der lenisiert realisierten Variante [ɡ]. Bei den anderen konsonantischen Variablen weist die Sprecherin jedoch ausschließlich standardnahe Realisierungen auf. Die Messergebnisse der Sprecherin HA 09 bezüglich der Suprasegmentalia lassen sich wie folgt zusammenfassen: Innerhalb der Nacherzählung der Bildergeschichte wurden bei einer Phonationszeit von 16,63 Sekunden und einer Pausenzeit von 11,32 Sekunden, was einem Verhältnis von 59 % Phonationszu 41 % Pausenzeit entspricht, insgesamt nur 11 Pausen gezählt. Die Sprecherin realisiert somit im Vergleich wenige, 0,39 Pausen pro Sekunde, die eine durchschnittliche Länge von 0,97 Sekunden aufweisen. Daher beträgt ihre Sprechflüssigkeit auch vergleichsweise hohe 8,09 Silben pro Pausen und die Sprechgeschwindigkeit ist ebenfalls im Vergleich zu den anderen Sprechern mit 7,42 Silben pro Sekunde recht hoch. Sie realisiert Toneinheiten von einer durchschnittlichen Länge von 1,39 Sekunden und es lässt sich ein recht niedriger Tonhöhenumfang von 12,1 Halbtönen messen. <?page no="393"?> Gesprochenes Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania 393 Die Sprechweise der Sprecherin HA 09 wurde von einem Informanten als sehr schön , von drei Informanten als schön und von einem Informanten als neutral wahrgenommen. Drei Informanten empfinden ihre Sprechweise sogar als hässlich , was einem Mittelwert der Bewertungen von rund 2,8 entspricht. In Bezug auf die Wahrnehmung als richtig oder falsch bewertete ein Informant ihre Sprechweise als sehr richtig und drei Informanten als richtig , während drei Informanten das Etikett neutral und ein Informant das Etikett falsch eintrugen. Dies entspricht einem Mittelwert von 2,5. Zwei Informanten nahmen die Sprechweise als sehr angenehm wahr, während drei Informanten das Etikett angenehm und zwei das Etikett neutral eintrugen. Ein Informant bewertete hier mit unangenehm , was einem Mittelwert von 2,3 entspricht. Bezüglich der Herkunft der Sprecherin sind die Informanten insofern uneinig, als dass sie drei richtigerweise dem Ruhrgebiet, jedoch vier sie der Provinz Catania zuordnen, während ein Informant sich nicht für eine der beiden Optionen entscheiden kann. Bezüglich der Wahrnehmung von Variation in der Sprechweise von HA 09 lässt sich feststellen, dass in den Äußerungen der Informanten wiederum vor allem auf die Sprechflüssigkeit und die Variationen in der Sprechgeschwindigkeit eingegangen wird: „Sprache bleibt deutlich und flüssig“ (Inf 04), „erst schneller dann langsamer und stockend“ (Inf 05). Als weiteres Merkmal wird hier die Kürze der Erzählung genannt, und die reine Beschreibung der Bilder, ohne einen Zusammenhang herzustellen, bleibt ebenfalls nicht unbemerkt: „Ja, sehr kurz gehalten. Erfindet keine zusammenhängende Geschichte, sondern nur Wiedergabe von Geschehen“ (Inf 06). An den Antworten auf die Frage nach den sprachlichen Ebenen, auf denen sich die wahrgenommene Variation ansiedeln lässt, wird deutlich, dass insbesondere die Kürze der Sätze konstatiert wird, die zum Eindruck einer abgehackten Sprechweise führt: „Sätze, kleine Sätze, Aneinanderreihen von kleinen Sätzen“ (Inf 03), „spricht nicht sonderlich gerundet, Sätze und Wörter recht abgehackt“ (Inf 08). Die genannten beschreibenden Adjektive spiegeln weitestgehend die genannten Eindrücke wider und heben vor allem die Deutlichkeit, Flüssigkeit und Akzentfreiheit der Sprechweise hervor: „lustig, deskriptiv, kurz“ (Inf 01), „komisch“ (Inf 03), „deutlich, akzentfrei, flüssig“ (Inf 04), „langsam, verständlich, stockend“ (Inf 05), „schnell“ (Inf 06), „flüssig“ (Inf 07). <?page no="394"?> 394 Judith Kittler (Bochum) 3.4.8 Catania: Die Sprecherin CT04 (w, 48) Die Sprecherin CT 04 tendiert im Bereich der O-Varianten in offenen Silben zu einer generellen Öffnung der Vokale, da sie sowohl alle / o/ als auch alle / ɔ/ als [ɔ] realisiert. Hinsichtlich der E-Varianten zeigt sie sich als standardnah, da sie alle / e/ als [e] und alle / ɛ/ als [ɛ] realisiert. Ganz analoge Tendenzen lassen sich auch für die geschlossene Silbe beobachten, in der sie sich ebenfalls als überaus standardnah erweist. CT 04 ist hinsichtlich der Aussprachegewohnheiten im Bereich des Konsonantismus eine typische Sprecherin aus Catania, da sie die drei untersuchten stimmlosen Okklusive in unterschiedlich hohem Maße standardnah als [t, p, k] realisiert, jedoch zudem recht hohe Anteile der jeweils lenisierten Variante aufweist. So realisiert sie 80 % aller / t/ als [d], 20 % aller / p/ als [b] und 45 % aller / k/ als [ɡ]. Bei den anderen konsonantischen Variablen weist die Sprecherin jedoch meist standardnahe Realisierungen auf. Die Messung der suprasegmentalen Merkmale der Sprecherin CT 04 hat die folgenden Ergebnisse gebracht: Innerhalb der Nacherzählung der Bildergeschichte wurden bei einer Phonationszeit von 22,23 Sekunden und einer Pausenzeit von nur 7,71 Sekunden, was einem Verhältnis von 74 % Phonationszu 26 % Pausenzeit entspricht, insgesamt nur 9 Pausen gezählt. Die Sprecherin realisiert somit lediglich 0,30 Pausen pro Sekunde, die eine durchschnittliche Länge von 1,17 Sekunden aufweisen. Ihre Sprechflüssigkeit beträgt daher auch sehr hohe 16,56 Silben pro Pausen und die Sprechgeschwindigkeit ist im Vergleich zu den anderen Sprechern mit 12,42 Silben pro Sekunde äußerst hoch. Sie realisiert sehr komplexe Toneinheiten von einer durchschnittlichen Länge von 1,85 Sekunden und es lässt sich ein mittlerer Tonhöhenumfang von 14,1 Halbtönen messen. Die Sprechweise der Sprecherin CT 04 wurde von drei Informanten als sehr schön , von vier Informanten als schön und von einem Informanten als neutral wahrgenommen, was einem Mittelwert der Bewertungen von rund 1,8 entspricht. In Bezug auf die Wahrnehmung als richtig oder falsch bewerteten zwei Informanten ihre Sprechweise als sehr richtig , vier als richtig und jeweils einer als neutral und als falsch . Dies entspricht einem Mittelwert von 2,1. Fünf Informanten nahmen die Sprechweise als angenehm wahr, während die übrigen drei Informanten sogar das Etikett sehr angenehm eintrugen, was einem Mittelwert von 1,6 entspricht. Auch bei dieser Sprecherin sind sich die Informanten hinsichtlich ihrer Herkunftsregion weitestgehend einig, da sie sieben Informanten Catania zuordnen, während ein Informant sie als Ruhrgebietssprecherin wahrnimmt. <?page no="395"?> Gesprochenes Italienisch im Ruhrgebiet und in Catania 395 Bezüglich der Wahrnehmung von Variation in der Sprechweise von CT 04 lässt sich feststellen, dass diese vor allem als flüssig, klar verständlich und damit positiv wahrgenommen wird: „Sprache bleibt deutlich und flüssig“ (Inf 04), „spricht durchgehend gleich“ (Inf 05), „nein, spricht durchgehend klar und flüssig, lacht einmal“ (Inf 07), „Nein, weil sehr deutlich und verständlich spricht“ (Inf 08). Hinsichtlich der Frage, an welchen Stellen die Informanten Variation wahrnehmen, zeigt sich, dass hier nur wenige Informanten überhaupt etwas geschrieben haben, da die Sprecherin weitestgehend so spricht, wie sie es erwartet hatten: „spricht in allen Bereichen, wie ich es erwartet habe“ (Inf 05), „spricht per se, wie man es erwartet“ (Inf 08). In den Antworten auf die Frage nach den sprachlichen Ebenen, auf denen sich die wahrgenommene Variation ansiedeln lässt, wird deutlich, dass hier erneut die Sprechmelodie angeführt wird, die diesmal allerdings als klar positives Merkmal wahrgenommen wird: „Laute, Melodie“ (Inf 02), „spricht melodisch und sehr flüssig“ (Inf 08). Auch die beschreibenden Adjektive für die jeweilige Sprechweise geben die positiven Eindrücke von Sprecherin CT 04 wieder: „angenehm, schön, schnell“ (Inf 03), „akzentfrei, deutlich, schnell“ (Inf 04), „fließend, verständlich, stockend“ (Inf 05), „sicher, flüssig“ (Inf 07), „sicher, fließend, melodisch“ (Inf 08). 4 Fazit Anknüpfend an die leitenden Fragestellungen lässt sich zusammenfassend sagen, dass in dem hier untersuchten Ausschnitt der Sprechergemeinschaft des Italienischen im Ruhrgebiet die Wahrnehmungen der Sprecher durchaus mit den zuvor gewonnenen sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen übereinstimmen. Insbesondere Variationen im Bereich der Lautung und der Prosodie werden auch von Nicht-Fachleuten verlässlich wahrgenommen. Als salienteste Merkmale wurden bei jedem Sprecher die Sprechflüssigkeit, die Aussprache und die Melodik als Aufhänger für positive oder negative Zuschreibungen benutzt. Auch die Variationen der Tonhöhen der Sprecher wurden wahrgenommen und geringe Tonhöhenumfänge (E01) wurden als ‚langweilig‘ etikettiert, während große Tonhöhenumfänge (z. B. CT 11) eher positiv beschrieben wurden. Weitere wichtige Merkmale waren ebenfalls die lexikalische Variation und der Umfang des Wortschatzes. Wenn auffällige grammatische Ungenauigkeiten in den Erzählungen zu hören waren, wurden diese auch sogleich von den Informanten moniert, was interessante Einblicke in die Normorientierung an das Standarditalienische der Laienlinguisten ermöglicht. Dies ist insbesondere im Hinblick <?page no="396"?> 396 Judith Kittler (Bochum) auf die eigene Zuwanderungsgeschichte der Informanten im Ruhrgebiet interessant, da der Kontakt zum Standarditalienischen als Nähesprache sich in der Regel nur auf das Studium und auf die Rezeption des Satellitenfernsehens beschränkt. Die hier untersuchten Informanten mit Zuwanderungshintergrund im Ruhrgebiet nehmen zudem standardfernere Sprechweisen eher negativ wahr. Dies galt hier sowohl für Sprecher aus Catania, als auch für Sprecher aus dem Ruhrgebiet. Als besonders negativ wurden in der Regel Sprechweisen wahrgenommen, die stärker dialektal gefärbt waren, wie zum Beispiel HA 03 und CT18. Insbesondere bei Sprechern, die der älteren Generation angehören, waren sich die Informanten zwar bezüglich der wahrgenommenen dialektalen Färbung einig, jedoch führte dies meist dazu, dass die Sprechweisen nicht eindeutig einer Herkunftsregion zugeordnet werden konnten. In den meisten Fällen waren die Informanten aber sehr präzise in der Lage, die Sprechweisen der jeweils richtigen Herkunftsregion zuzuordnen. Abschließend lässt sich also sagen, dass es deutliche Zusammenhänge und Übereinstimmungen zwischen ästhetischer und normorientierter laienlinguistischer Sichtweise der Informanten und den sprachwissenschaftlich erlangten Erkenntnissen gibt. Die Hypothese, dass Variation in Situationen der Extraterritorialität insbesondere im Bereich der Lautung und der Prosodie wahrgenommen wird, lässt sich daher bestätigen. Literaturverzeichnis Backus, Ad (1996): Two in one. Bilingual speech of Turkish immigrants in the Netherlands , Tilburg, Tilburg University Press. Bernhard, Gerald (1998): Das Romanesco des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Variationslinguistische Untersuchungen , Tübingen, Niemeyer. 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Die rumänische Orthographie als Objekt von Sprachkritik und Sprachberatung Victoria Popovici (Jena) Orthographische Fragen werden in der heutigen rumänischen Sprachkritik und Sprachberatung recht häufig behandelt und liefern seit über zwei Jahrzehnten kontroversen Diskussionsstoff. Bevor wir uns diesem Phänomen widmen, soll auf die Entstehung der aktuellen Sprachnorm sowie der sprachwissenschaftlichen Formen der Sprachkritik eingegangen werden. 1 Herausbildung der rumänischen Sprachnorm Das 19. und 20. Jh. waren für das Rumänische eine Zeit der Modernisierung, in der die Sprachnorm entstand und sich verfestigte. Dieser Prozess lässt sich anhand der Entwicklung der Schreibsysteme und der Orthographie nachverfolgen: bis 1830-1840 wurde das Rumänische in den von den Osmanen regierten Gebieten (Walachei und Moldau) kyrillisch geschrieben, in den Habsburger Provinzen (Siebenbürgen und Banat) hingegen war seit dem 18. Jh. die lateinische Schrift gängiger. Als 1859 der rumänische Nationalstaat durch die Vereinigung der zwei ehemaligen osmanischen Provinzen entstand, war, dank der Bestrebungen der von der Romantik inspirierten Nationalisten, der Wechsel vom kyrillischen zum lateinischen Alphabet bereits generalisiert. 1860 wurde die lateinische Graphie offiziell, es konkurrierten aber mehrere etymologisch ausgerichtete Schreibsysteme miteinander. Erst nach 1880 setzte sich eine moderate Auffassung der Rechtschreibung durch, die die Orthographie in den folgenden Jahrzehnten dem phonographischen Prinzip immer näher brachte. Die wichtigsten Etappen dieser Vereinfachung waren die Orthographiereformen der Jahre 1904, 1932 und 1953. Letztere beseitigte die Überbleibsel der etymologisierenden Graphie, sie wurde allerdings 1965 und 1993 unter dem Einfluss nationalistischen Gedankenguts partiell zurückgenommen (cf. Fußnoten 46 und 47). Für die Beobachter der Zwischenkriegszeit war die rumänische Schriftsprache durch Dynamik und Variation gekennzeichnet. Iordan (1943, 15) sprach sogar von einem „dinamism lipsit de orice frînă“. Als Reaktion darauf setzte im stalinistischen, zentralistisch regierten Rumänien Ende der 1940er Jahre eine ebenfalls zentral gesteuerte Sprachpflege ein. Zuständig dafür wurde das <?page no="402"?> 402 Victoria Popovici (Jena) 1949 in Bukarest neu gegründete Institut für Sprachwissenschaft ( Institutul de lingvistică ), dem auch die Herausgabe der neuen sprachwissenschaftlichen Zeitschrift Cum vorbim (1949-1952) und ihrer Nachfolgerin Limba română (1952-) oblag. Zum grundlegenden Ziel wurde in den fünfziger Jahren die Durchsetzung einer einheitlichen Standardsprache, der limba literară ; dies formuliert in einem Leitartikel der Limba română Dimitrie Macrea, der 1952 ernannte parteitreue Direktor des Instituts für Sprachwissenschaft: Nevoile societăţii de azi cer o limbă unitară, înţeleasă de toţi şi cu reguli bine precizate. Limba ale cărei reguli le precizează noua gramatică şi noua ortografie este limba literară, care constituie forma cea mai îngrijită a limbii naţionale. Graiurile regionale, explicabile prin izolarea în care trăiau, în trecut, provinciile ţării, sunt treptat înlocuite de o limbă naţională unitară (Macrea 1953, 11). Bis heute gilt als Grundlage der limbă literară die gepflegte Bukarester Sprache; regionale Eigentümlichkeiten durften und dürfen in diese nur in begrenztem Maße einfließen: Iată deci baza pe care se face unificarea limbii: graiul oamenilor culţi din Bucureşti, influenţat în unele privinţe de graiul oamenilor culţi din provincie şi generalizat apoi la oamenii culţi din toată ţara (Graur 1963a, 11-12). Dank einiger groß angelegter Projekte, die hauptsächlich vom Institutul de Lingvistică in Bukarest betreut wurden, erschienen binnen kurzer Zeit die Standardwerke der vereinheitlichten limbă literară . Die orthographische Norm wurde ab 1953 in orthographischen Ratgebern festgehalten, bis 1982 das grundlegende DOOM 1 erschien. Die bis heute eher unter dem Namen Gramatica Academiei bekannte Gramatica limbii romîne erschien 1954 in einer ersten Fassung und 1963 in der zweiten, erweiterten Ausgabe (Graur 1963b), die bis heute - mit einigen notwendigen Änderungen - die Grundlage für den Grammatikuntericht an den Schulen bildet. Die lexikographische Basis der limbă literară bilden das 1958 publizierte Dicţionarul limbii romîne moderne und sein Nachfolger DEX 1 (1975). Im Umfeld der akademischen Abhandlungen entstanden in den siebziger und achtziger Jahren kürzere Werke, die bis heute in Laienkreisen als normative Instanzen gelten: Avram ( 1 1986, 2 1997), Şuteu (1986). Diese erste Phase der Sprachnormierung, deren Ziel es war, die regionalen Varietäten durch eine flächendeckende Norm zu ersetzen, galt in den neunziger Jahren als abgeschlossen. Nach der Wende wurde das Bukarester Institut für Sprachwissenschaft von der Akademie damit beauftragt, die alten Standardwerke zu aktualisieren: das <?page no="403"?> Rumänische Orthographie als Objekt von Sprachkritik und Sprachberatung 403 neue DEX 2 erschien 1996, die neue Gramatica limbii române (Guţu Romalo 2005) 1 und das DOOM 2 im Jahre 2005. Aufschlussreiche Informationen aus der Werkstatt des DOOM 2 verdankt man der Leiterin der Arbeitsgruppe, Ioana Vintilă-Rădulescu (2005a). Die Vorgaben der Akademie sahen nicht vor, das Wörterbuch unabhängig vom DOOM 1 neu zu gestalten, sondern es musste das Inventar des DOOM 1 übernommen werden, obwohl dort veraltetes, regionales oder sogar idiolektales Wortmaterial aus der Literatursprache registriert war (Vintilă-Rădulescu 2005a, 87-88). Im Vergleich zu den fünfziger Jahren wurde die Norm restriktiver definiert: ab dem DOOM 2 wird hierunter nur der Sprachgebrauch der Bukarester Intellektuellen mittleren Alters gefasst. Dies hat in mehreren Fällen zu Verschiebungen innerhalb der Artikel geführt, sodass Varianten, die im DOOM 1 zwar registriert, aber nicht empfohlen waren, jetzt zur Norm wurden (Vintilă-Rădulescu 2005a, 89). Ein methodisches Defizit des DOOM 2 , wie übrigens auch des DOOM 1 , ist, dass die Entscheidung für eine orthographische, orthoepische oder morphologische Variante zu Lasten anderer nicht das Ergebnis von Umfragen ist, 2 sondern die Beurteilung der Arbeitsgruppe 3 reflektiert (Vintilă-Rădulescu 2005a, 88-89). 2 Sprachpflege und Sprachkritik seit 1945 Auf dem überschaubaren und streng kontrollierten rumänischen Buchmarkt in der Zeit vor 1989 sind nur wenige sprachkritische Publikationen erschienen. Sie stammen mehrheitlich aus dem Umfeld der Bukarester Schule: Guţu Romalo (1972 und aktualisiert 2000, 2008), Graur (1976), Graur (1988) und Avram (1987). Der auch außerhalb der Fachwelt populärste Sprachbeobachter und -kritiker vor 1989 war Alexandru Graur, dies sowohl durch seine Kolumnen in der Zeitschrift România literară (1969-1988) wie auch insbesondere durch seine Rundfunk- 1 Die Grammatik wurde vollständig neu konzipiert, wobei die damit verbundene Aufgabe des klassischen schulgrammatischen Ansatzes zu einer zurückhaltenden bis negativen Rezeption außerhalb der Fachwelt führte. Um vor allem dem Schulunterricht gerecht zu werden, musste 2010 eine vereinfachte Gramatica de bază a limbii române mit begleitendem Arbeitsheft (Pană Dindelegan 2010) herausgegeben werden. 2 „[…] nu s-au efectuat nici anchete pe scară largă, pe deplin valabile sub aspect sociologic, asupra uzului literar actual, rezultatele minianchetelor pe care le-am întreprins printre vorbitori de limbă literară din diverse categorii fiind adesea contradictorii“ (Vintilă-Rădulescu 2005a, 88-89). 3 Die Arbeitsgruppe war zudem sehr überschaubar: neben Ioana Vintilă-Rădulescu bestand sie aus Cristiana Aranghelovici, Jana Balacciu Matei, Mioara Popescu und Marina Rădulescu-Sala sowie aus drei Gutachterinnen, Monica Busuioc, Gabriela Pană Dindelegan und Rodica Zafiu. <?page no="404"?> 404 Victoria Popovici (Jena) beiträge, die fast ununterbrochen von 1945 bis zu seinem Tod 1988 gesendet wurden. 4 Nach der Wende kam es schnell zu einer unüberschaubaren Anzahl von Publikationen, darunter auch sprachkritisch ausgerichteten. Die Autoren waren nicht mehr ausschließlich Linguisten - zu nennen wären Avram (2001), Zafiu (2001), Gruiţă (2006), Croitor et al. (2008, 2010), Dragomirescu / Nicolae (2011), Nedelcu (2012) -, sondern auch Lehrer - Rădulescu (1999, 2002, 2015) -, Journalisten und Künstler. In der Öffentlichkeit übernahm Rodica Zafiu mit ihren Kolumnen in den Zeitschriften Luceafărul (1990-1993), România Literară (1993-2012) und Dilema veche (seit 2012) die Rolle der kritischen, für Variation und Neuerung durchaus offenen Sprachbeobachterin. Am erfolgreichsten für die Vermittlung des guten Sprachgebrauchs wurden die Fernsehsendungen des Politikers, Journalisten und Hobbylinguisten George Pruteanu (1995-1999 und 2006). Sie trugen den orthographisch provokanten Titel „Doar o vorbă săţ-i mai spun“, mit bewusst am falschen Ort gesetztem Bindestrich ( săţ-i statt să-ţi ). Ein Teil von ihnen wurde im Internet unter zugänglich gemacht. 5 Durch seine Sendungen beeinflusste er die interessierte Laienszene auch nach seinem Tod im Jahr 2008 mehr als die etablierte Linguistik. Das Konzept wurde im Juni 2014 von dem privaten Fernsehsender Digi24 wieder aufgenommen, der seitdem wöchentlich die vierminütige „Pastila de limbă“ des Schriftstellers Emil Paraschivescu ausstrahlt. 6 Die vermehrte Sprachkritik nach der Wende ist eine Reaktion auf die Zäsur, die der Sturz des Kommunismus in sprachlicher Hinsicht brachte. Der öffentliche Sprachgebrauch war bis 1989 streng formalisiert und in seinem Wortschatz eingeschränkt gewesen. Binnen weniger Jahre nach der Wende entwickelten sich die Presse und, mit einiger Verzögerung, die Rundfunk- und Fernsehlandschaft rasant. Die neuen Journalisten, die einen sehr unterschiedlichen Bildungshintergrund hatten, benutzten, zunächst als Zeichen der neuen Redefreiheit, später auch infolge mangelnder sprachlicher Ausbildung in Zeiten eines sinkenden Einflusses der Schule, eine erfindungsreiche, für Entlehnungen und Neubildungen offene Umgangssprache. Zafiu (2001, 193) charakterisiert diesen Prozess als „invazia oralităţii familiare“. Was zunächst ein deutlicher Gewinn 4 Vgl. http: / / www.romania-actualitati.ro/ humanitas_a_reeditat_3_dintre_cartile_lui_alexandru_graur-10566 (26. 08. 2015). Graurs Beiträge sind bis heute Legende. Leider wurden sie nie gesammelt und herausgegeben und selbst genaue Informationen über den Zeitraum seiner Rundfunktätigkeit, z. B. über etwaige Unterbrechungen, sind schwer zu beschaffen. 5 www.pruteanu.ro. 6 Die Videos sind im Archiv des Senders (http: / / www.digi24.ro/ emisiuni/ pastila-de-limba) gespeichert. <?page no="405"?> an Ausdruckskraft war, entwickelte sich jedoch zum Problem für viele gebildete Sprachbenutzer sowie für die beruflichen oder nebenberuflichen Sprachpfleger. Das Gefühl eines „Sprachverfalls“ kommt in den letzten zwanzig Jahren immer öfter zum Ausdruck. So stellt im Vorwort zum DOOM 2 der damalige Vorsitzende der Rumänischen Akademie, Eugen Simion, fest, dass „limba română s-a urâţit sau, mai bine zis, este urâţită , simplificată“ ( DOOM 2 X; vgl. auch Dragomirescu / Nicolae 2011, 11); die Philosophen Gabriel Liiceanu und Andrei Pleşu reden von der „rinocerizarea lingvistică a României“ oder vom „martirajul limbii române“ (vgl. Dragomirescu / Nicolae 2011, 11-12). Als Hauptverantwortliche für die Verbreitung von Sprachfehlern wurden die Medien ausgemacht. Hieraus entstand das bisher einzige sprachkritische Projekt in Rumänien: eine linguistische Medienbeobachtung, mit der 2007 die rumänische Medienregulierungsbehörde Consiliul Naţional al Audiovizualului ( CNA ) 7 das Bukarester Institut für Sprachwissenschaft beauftragte. Die Ergebnisse der Medienbeobachtung wurden bis 2012 mehrmals im Jahr zugänglich gemacht. 8 Diese vielversprechende Zusammenarbeit wurde 2012 nach einem Wechsel in der Führung der CNA abgebrochen, jedoch im März 2016 wieder aufgenommen. In diesem Rahmen nahm eine Linguistengruppe unter der Leitung von Rodica Zafiu zwei (zeitweise vier) öffentliche und zehn private Fernsehsender sowie zwei bis neun Radiosender unter die Lupe, wobei sie die Fehler zählte und klassifizierte, die sie jeweils während eines Zeitraums von 300 Stunden innerhalb eines Monats registrierte. Unter anderem enthalten diese Berichte Fehlerstatistiken: 7 www.cna.ro. 8 Unter http: / / www.cna.ro/ -Calitatea-limbii-romane-la-.html. Rumänische Orthographie als Objekt von Sprachkritik und Sprachberatung 405 <?page no="406"?> 406 Victoria Popovici (Jena) Numărul erorilor de folosire a limbii române în emisiunile unor posturi de televiziune şi radio aşa cum reiese din monitorizarea efectuată de Institutul de Lingvistică „Iorgu Iordan - Al. Rosetti” în perioada 1 octombrie - 31 octombrie 2012 Categorii gramaticale\ Posturi Greşeli de ortografie şi punctuaţie Greşeli de pronunţie (Ortoepie) Greşeli privind morfologia Greşeli privind sintaxa Greşeli de lexic şi semantică Total greşeli TVR1 3 5 2 2 4 16 TVR2 3 4 - 9 6 22 Antena 1 19 1 5 12 3 35 Antena 3 6 1 5 13 2 27 Pro TV 13 2 6 10 3 34 Prima TV 10 1 2 9 7 29 B1 TV 8 2 3 14 3 30 Realitatea TV 5 3 2 26 7 43 România TV 10 5 4 17 1 37 OTV 3 4 18 24 6 55 Kanal D 14 4 1 13 5 37 Digi TV 2 3 10 12 5 32 Radio România Actualităţi - 6 4 8 1 19 Europa FM - 4 3 4 5 16 Sprachfehler in der Medienbeobachtung, Oktober 2012 (http: / / www.cna.ro/ IMG / pdf/ tabelMonitorizare_oct_2012.pdf) <?page no="407"?> Die Sprachbeobachtung bestätigte den allgemeinen Eindruck: Die Anzahl der Abweichungen von der standardsprachlichen Norm war bei den privaten Sendern - die bei weitem die höchsten Einschaltquoten haben - höher als bei den öffentlichen ( TVR 1, TVR 2 und Radio România Actualităţi ), aber auch diese erwiesen sich nicht als besonders ausgeprägte Hüter einer korrekten Standardsprache. Als offizielle Reaktion schickte die CNA mehrere Warnbriefe (rum. scrisoare de atenţionare ) und Aufforderungen (rum. somaţie ) an die betroffenen Sender (Croitor et al. 2010, 139), deren Erfolg jedoch bescheiden war: zeitweise traten tatsächlich sprachliche Verbesserungen auf, die meisten privaten Sender ignorierten aber die Aufforderungen der Behörde durchgehend. Vor kurzem meldete sich die CNA erneut zu Wort und veröffentlichte am 26. Februar 2016 eine Empfehlung, in der sie die Einhaltung der standardsprachlichen Normen in der Werbung fordert. 9 Aus der Medienbeobachtung ergab sich ein didaktisches Projekt zur Sensibilisierung der Schüler für den guten Sprachgebrauch. Eşti cool şi dacă vorbeşti corect (Croitor et al. 2008 / 2010) wurde gemeinsam von der Rumänischen Akademie, dem Bukarester Institut für Sprachwissenschaft, dem Bildungsministerium und dem CNA herausgegeben und 2008 in einer Auflage von 50.000 Exemplaren landesweit an die Schulen verteilt. In dem Werk werden auffällige, wiederkehrende Fehler benannt, erklärt und korrigiert; einige Einträge enden mit attraktiven Aufgaben - ein Versuch, die jugendlichen Leser für eine kritische Auseinandersetzung mit den Medien und für ein korrektes Standardrumänisch zu gewinnen. Aus dem Umfeld der Medienbeobachtung sind zwei weitere Bücher des Typs „Que sais-je? “ für gebildete Laien hervorgegangen: Dragomirescu / Nicolae (2011), die lexikalisch-semantische Normabweichungen besprechen, und Nedelcu (2012), die typische Rechtschreib- und Grammatikfehler erklärt. 9 „Consiliului Naţional al Audiovizualului recomandă furnizorilor de servicii media audiovizuale să asigure respectatea, în cadrul comunicărilor comerciale difuzate în programele lor, a normelor ortografice, ortoepice şi de punctuaţie, precum şi a celor de morfologie şi sintaxă ale limbii române.“ Comunicările comerciale audiovizuale sunt parte a programelor audiovizuale şi nu sunt exceptate de la respectarea normelor de folosire corectă a limbii române stabilite de Academia Română. Difuzarea de comunicări comerciale audiovizuale cu greşeli de ortografie, ortoepie şi morfologie a limbii române ar putea exercita un puternic impact negativ asupra publicului, în special asupra minorilor, prin caracterul repetitiv al difuzării, respectiv 12 minute din timpul oricărei ore date şi de 8 minute pe oră în cazul televiziunii publice (http: / / www.cna.ro/ RECOMANDAREA-C-N-A-nr-2-din-25.html). Rumänische Orthographie als Objekt von Sprachkritik und Sprachberatung 407 <?page no="408"?> 408 Victoria Popovici (Jena) 3 Sprachberatung im Internet Anders als auf dem Buchmarkt ist die Präsenz der rumänischen Sprachwissenschaftler im Internet recht dürftig. Die rumänische Akademie, die Auftraggeberin und Herausgeberin der normativ verbindlichen Wörterbücher und der normativen Grammatik ist, nutzt das Internet kaum als Medium. So stellt sie keine offizielle Onlineversion des DOOM 2 oder des DEX zur Verfügung. 10 Es gibt eine einzige offizielle Online-Sprachberatungsstelle, die im Bukarester Institut für Sprachwissenschaft eingerichtete Consultanţă lingvistică . 11 Sie wird von Ana-Maria Barbu gepflegt; pro Jahr werden hier durchschnittlich achtzig Fragen gestellt, von denen allerdings nur eine Minderheit von allgemeinem Interesse ist. Auf der Internetpräsenz der Beratungsstelle werden ausschließlich diese Fragen und Antworten veröffentlicht. 12 Zur Zeit sind es lediglich siebzehn, darunter hauptsächlich Grammatik- und Wortschatzphänomene. Die einzige konstant im Internet präsente Linguistin ist Rodica Zafiu, und dies dank der Digitalisierung der Archive der beiden Zeitschriften România literară 13 (deren Archiv allerdings erst seit 1999 online zugänglich ist) und Dilema veche 14 . Anders verhält es sich mit den Laienlinguisten, die das Internet aktiv als Medium für metasprachliche Kommentare nutzen. Die meistbesuchte sprachliche Internetressource mit ca. 12.500.000 monatlichen Suchaktionen, DEX online , 15 ist eine ständig wachsende Datenbank der rumänischen Lexikographie, in der ohne Beachtung des Copyrights wichtige Wörterbücher der rumänischen Sprache, allen voran das DEX und das DOOM , in all ihren Ausgaben mit der freien Software GNU digitalisiert wurden. 16 In der Rubrik Articole şi resurse findet man auf der Seite von DEX online Hilfsmaterialien für den korrekten Sprachgebrauch: eine tabellarische Übersicht 10 Obwohl die Akademie einen eigenen Verlag hat, sind die beiden Wörterbücher in dem privaten Verlag „Univers enciclopedic“ erschienen, was bei den sprachlich engagierten Laien, die sich für die Digitalisierung des DEX engagieren, bis heute auf Unverständnis stößt. 11 http: / / www.lingv.ro/ index.php? option=com_content&view=article&id=111&Itemid=41 (05. 03. 16). 12 Mitteilung von Dr. Ana-Maria Barbu im März 2016. 13 Unter http: / / www.romlit.ro/ . 14 http: / / dilemaveche.ro/ . 15 https: / / dexonline.ro. 16 „Nu suntem subordonați Academiei Române, nici altui for. De la începutul proiectului am încercat să colaborăm cu Academia Română, dar nu a existat dorința de comunicare. Suntem recunoscători Academiei Române că nu s-a împotrivit proiectului Dexonline, dar o colaborare în adevăratul sens al cuvântului nu a existat niciodată“ (http: / / wiki.dex online.ro/ wiki/ Informa%C8%9Bii). <?page no="409"?> häufiger Fehler 17 und eine Auswahl linguistischer Publikationen zu kontroversen Fragen, darunter auch die Einleitung zum DOOM 2 , in der die Rechtschreibregeln erläutert werden. Eine inhaltlich und formal ähnliche Liste gängiger Fehler kann man auf Wikipedia nachlesen. 18 Vor allem seit dem Erscheinen von Eşti cool şi dacă vorbeşti corect scheinen sich im Internet die Seiten vermehrt zu haben, die den korrekten Sprachgebrauch fördern. Recht aktiv sind die Blogs Diacritica , 19 Scri , 20 Scriebine , 21 Literparc , 22 Blog de limba română 23 und auf Facebook die Gruppen S. O. S. Limba română , Minutul de limba română , Săraca limba română . Auf der Seite http: / / vorbesc. ro/ limba-romana können Ratsuchende Fragen stellen und erhalten knappe, unkommentierte Antworten von anderen Nutzern; bislang sind dort 1239 beantwortete Fragen aufgelistet (Stand vom 15. 05. 2016). 3.1 Orthographische Fragen und ihre Behandlung im Internet In der rumänischen Rechtschreibung gibt es einige klassische Fehlerquellen, die den durchschnittlichen Rumänen ab der Grundschule begleiten. Dauerbrenner sind diesbezüglich die Regeln, die die Anzahl der i im Wortauslaut oder die korrekte Benutzung des Bindestrichs zwischen Klitika und Verbformen festlegen. In jüngerer Zeit, insbesondere seit der Rechtschreibreform von 1993 und seit dem DOOM 2 , sind neue Schwierigkeiten hinzugekommen: die Doppelschreibung î / â zur Wiedergabe des Lauts [ɨ], die pseudoetymologischen Verbformen des Typs sunt / suntem / sunteţi statt sînt / sîntem / sînteţi ‘ich bin / wir sind / ihr seid’ oder das komplizierte Regelwerk der Getrennt- und Zusammenschreibung im Falle von nici un ‘nicht ein’ vs. niciun ‘kein’). Die öffentliche Diskussion dieser Fragen soll im Folgenden dargestellt werden. Zunächst kann man feststellen, dass Linguisten und Laien orthographische Probleme unterschiedlich angehen. Da die Vermittlung einer verbindlichen 17 https: / / dexonline.ro/ articol/ Ghid_de_exprimare_corect%C4%83. 18 https: / / ro.wikipedia.org/ wiki/ Elemente_problematice_ale_limbii_rom%C3%A2ne. 19 https: / / diacritica.wordpress.com/ . Die Autorin des Blogs bezeichnet sich selbst als Laiin und verweist die Leser auf die einschlägige Fachliteratur, einschließlich der Schulbücher für die Unterstufe: „Blogul ăsta e doar un hobby. Aşa cum unii meşteresc Turnul Eiffel din fire de păr de muscă, eu mă distrez scriind pe net despre orori (ne) ortografice. Ceea ce nu mă face vreo specialistă în domeniu. Prin urmare nu pune bază pe ce zic eu aici, du-te personal la DOOM², la DEX, la îndreptar, la Ştefania Popescu, la Mioara Avram, la Gramatica Academiei. La gramatica de-a cincea. La rubrica de consultanţă a Institutului de Lingvistică“ (https: / / diacritica.wordpress.com/ index-ortografic/ ). 20 http: / / scri.ro/ . 21 http: / / scriebine.ro. Dieser Blog ist inzwischen geschlossen (22. 02. 17). 22 http: / / www.literparc.ro/ . 23 https: / / limbaliterara.wordpress.com/ . Rumänische Orthographie als Objekt von Sprachkritik und Sprachberatung 409 <?page no="410"?> 410 Victoria Popovici (Jena) Orthographie im Prinzip Sache der Schule ist und keine Freiräume für Diskussionen zuläßt, ist sie seltener Gegenstand der Sprachkritik von Linguisten. Eine Ausnahme sind die didaktisch aufgearbeiteten Werke von Croitor et al. (2008 / 2010) und Nedelcu (2012). In den Publikationen, Blogs und Foren der Laien hingegen ist die Rechtschreibung ein ziemlich verbreitetes Thema. In den meisten Fällen versuchen die Laien, die vom DOOM 2 festgelegten Normen didaktisch und benutzerfreundlich zu vermitteln. Eine Sonderstellung nehmen die sprachlich interessierten Diskussionsteilnehmer des Forums Softpedia ein. In dem Unterforum Limba română fragen sie überraschend selten nach den „traditionellen“ Schreibschwierigkeiten (Bindestrichsetzung und Anzahl der i im Auslaut), was möglicherweise auf ein höheres Bildungsniveau der Beteiligten im Vergleich zu anderen Bereichen desselben Forums hindeutet. Die einzigen orthographischen Fragen, die hier die Gemüter erregen, sind die politisch motivierten Neuerungen der Reform von 1993. 3.2 Ein, zwei oder drei--i im Auslaut? Das richtige Setzen eines, zweier oder dreier i im Wortauslaut wird durch logische Regeln bestimmt, zu denen es genauso logische Ausnahmen gibt: Wenn einsilbige Wörter auf -i enden, ist das -i ein Vollvokal ( şi [ʃi] ‘und’). In mehrsilbigen Wörtern ist -i die graphische Darstellung der Palatalisierung des vorangehenden Konsonanten und kann keine Silbe bilden ( Popovici [ˈpopovitʃ], elevi [eˈlevi] ‘Schüler’). Wird im nachtonigen Auslaut ein vokalisches [i] gesprochen, so wird dieses graphisch durch zwei -ii wiedergegeben ( elevii [eˈlevi] ‘die Schüler’). Hiervon gibt es zwei große Ausnahmen: In der Gruppe „muta cum liquida“ ist -i ein Vollvokal ( noştri [ˈnoʃtri] ‘unsere’); in der Verbalflexion ist betontes -i das Infinitivmorphem der 4. Konjugation ( a veni [veˈni] ‘kommen’). In der Nominalflexion können graphisch bis zu drei -i auftreten, da -i hier sowohl als Pluralmorphem als auch als bestimmter Artikel des Maskulinums Plural fungiert. Überwiegend enden maskuline Substantive in der Grundform auf einem Konsonanten ( elev ) sie haben den Plural -i ( elevi ) und den bestimmten Plural -ii ( elevii ). Zur Schreibung eines dritten -i kommt es, wenn der Wortstamm ebenfalls auf -i endet ( copil ‘Kind’, Pl. copii ‘Kinder’, copiii ‘die Kinder’; propriu ‘eigen’, Pl. proprii ‘eigene’, propriii ‘die eigenen’), daher muss der Schreiber in solchen Fällen mitdenken: copiii noştri ‘unsere Kinder’, propriii noştri copii ‘unsere eigenen Kinder’. Bei der Google-Suche (21. 03. 2016) ergeben sich folgende Zahlen: 2060 falsche proprii noştri copii , 144 falsche proprii noştrii copii gegenüber nur 965 korrekten propriii noştri copii . Hier besteht also Beratungsbedarf. Die ausführlichste Erörterung der Regeln, die die Anzahl der -i bestimmen, findet man in Nedelcu (2012, 37-40), die sich hauptsächlich auf die Typen noştri <?page no="411"?> und proprii konzentriert, die die häufigsten Fehlerquellen sind. Die Autorin gibt auch Tipps für diejenigen, die die Regeln nicht in der Schule gelernt haben: Cei care nu au învăţat regulile de mai sus se pot însă „descurca“ prin procedeul substituţiei: vor trebui doar să înlocuiască cuvântul despre a cărui scriere au dubii cu alt cuvânt, care nu se termină în muta cum liquida şi care, când se scrie cu -ii , se pronunţă altfel decât când se scrie cu -i . De pildă: toţi miniştrii se scrie la fel ca toţi oamenii , iar unii miniştri se scrie la fel ca unii oameni (Nedelcu 2012, 39). Scri (dessen Namen - scri statt scrii ‘du schreibst’ - ironisch auf diese Art von Fehler anspielt) widmet dem Problem des -i in der Nominalflexion drei Einträge, 24 vermittelt aber keine Erklärung der jeweils korrekten Form. DEX online behandelt in seinem Ratgeber das Phänomen in zwei Einträgen, aber auch hier sind die Erklärungen nur teilweise klar: Substantivele care au doi i la plural (copii, ulii, vizitii) capătă încă unul în forma articulată (copiii, uliii, vizitiii), iar substantivele care au un singur i la plural (oameni, cobai) vor avea doi i în forma articulată (oamenii, cobaii ). 25 Die Autoren versäumen zu erklären, warum besagte Substantive zwei i im Plural haben und ignorieren den Sonderfall „muta cum liquida“. Diacritica reagiert schlicht ungehalten auf das geläufige Problem „ noştri oder noştrii “, 26 eine Erklärung der „muta cum liquida“-Regel fehlt hier ebenfalls. Bei den Substantiven, deren Plural auf muta cum liquida + i endet, kann die Autorin von Diacritica nur durch Kontexte erläutern, wann ein i und wann zwei i geschrieben werden müssen: Dacă poţi să-i pui în faţă un nişte , atunci e cu un singur i: nişte metri, nişte litri, nişte arbitri. Dacă poţi să pui un aceia după, atunci e cu doi de i: metrii aceia, litrii aceia, arbitrii aceia. 27 E negri când la feminin ar fi negre : ochi negri, zile negre. E negrii când la feminin ar fi negrele : negrii ochi, negrele zile . 28 24 http: / / scri.ro/ categorie/ i-uri-cu-probleme. 25 https: / / dexonline.ro/ articol/ Ghid_de_exprimare_corect%C4%83. 26 „Frăţicule, ‚noştri‘ se scrie întotdeauna cu un singur i. Întotdeauna. Că m-aţi înnebunit. diacritica“ (https: / / diacritica.wordpress.com/ tag/ nostri-sau-nostrii/ ). 27 https: / / diacritica.wordpress.com/ tag/ parametri-sau-parametrii/ . 28 https: / / diacritica.wordpress.com/ tag/ negri-sau-negrii/ . Rumänische Orthographie als Objekt von Sprachkritik und Sprachberatung 411 <?page no="412"?> 412 Victoria Popovici (Jena) Auch in der Verbalflexion findet man typische Fehler, die durch das Zusammenspiel der orthographischen Regeln und Ausnahmen zustandekommen. Die Graphie fugi z. B. entspricht, gemäß der allgemeinen Regel, der 2. Person Singular des Indikativs Präsens (tu) fugi [ˈfuʤi] ‘du rennst’, also einer Palatalisierung. In der Verbalflexion gibt es aber auch ein betontes i [i], das als Infinitivmorphem der 4. Konjugation ( a fugi [fuˈʤi] ‘rennen’) oder als Morphem der 3. Person Singular des perfectul simplu ( el fugi [fuˈʤi] ‘er rannte’) fungiert. Obwohl diese Unterscheidung als leichter zu erlernen gilt, findet man immer wieder die fehlerhafte Schreibung des Infinitivs mit -ii statt -i . Je nach Verb kann die Anzahl der fehlerhaften Graphien recht hoch sein: für das mithilfe des Infinitivs gebildete Futur findet man in Google (12. 02. 2016) 4530 (el) va dorii vs. 250.000 korrekte va dori ‘er wird wünschen’, 24.000 (el) va venii vs. 345.000 va veni ‘er wird kommen’. Noch schwieriger gestaltet sich die Schreibung der Verben mit einsilbigem Infinitiv, in denen -i gleichzeitig Infinitivmorphem und Stammauslaut ist, wie in a şti [ʃti] ‘wissen’. In der Google-Suche (22. 03. 2016) findet man im Infinitiv 253.000 korrekte Treffer pentru a şti ‘um zu wissen’ vs. 37.700 fehlerhafte pentru a ştii , im Futur 124.000 korrekte vei şti ‘du wirst wissen’ vs. 41.400 vei ştii ; 104.000 korrekte veţi şti ‘ihr werdet wissen’ vs. 22.600 veţi ştii . Die 2. Person Singular des Indikativs und des Konjunktivs Präsens wird bei den Einsilbern durch die Hinzufügung des Morphems -i graphisch vom Infinitiv unterschieden ( tu ştii [ʃti] ‘du weißt’), obwohl phonetisch kein Unterschied zwischen dem Infinitiv und der 2. Person des Präsens besteht. In Google (22. 03. 2016) stehen den 406.000 korrekten Belegen für die mithilfe des Konjunktivs gebildete mündliche Futurform o să ştii 52.500 fehlerhafte o să şti gegenüber. Die meisten Sprachkritiker im Internet erkennen das Problem nur in Teilen und kritisieren die wiederkehrenden Fehler in der Schreibung der Futurformen. Literparc z. B. erklärt in dem Eintrag „ veţi şti sau veţi ştii ? “, dass die Futurformen mit dem Infinitiv gebildet werden, dass sie also immer nur mit einem i geschrieben werden - ohne sich zu fragen, ob den Schreibern überhaupt klar ist, dass der Infinitiv mit einem einzigen -i geschrieben wird. 29 Dieselbe Teilerklärung, ohne Berücksichtigung der Infinitivproblematik, ist auch auf Blog de limba română 30 in dem Eintrag „Va fii sau va fi? “ nachzulesen. Nur der Autor auf der Seite Destepti zeigt sich realistischer und führt den Fehler auf die Unkenntnis der korrekten Schreibung des Infinitivs zurück: „Greşelile în ortografierea acestui verb sunt generate de faptul că mulţi vorbitori de limba română nu ştiu că infinitivul verbului în discuţie se scrie cu un -i - a şti “. In diese Erklärung wird auch die Futurvariante o să ştii einbezogen. 31 29 http: / / www.literparc.ro/ veti-sti-sau-veti-stii/ . 30 https: / / limbaliterara.wordpress.com. 31 http: / / destepti.ro/ cum-este-corect-veti-stii-sau-veti-sti. <?page no="413"?> Ein Verb beansprucht jeden Rumänischschreiber in starkem Maße: a fi ‘sein’, bei dem das grammatische Wissen ständig aktiviert werden muss, um entscheiden zu können, ob ein oder zwei -i gesetzt werden. Dieselbe Aussprache [fi] gilt nicht nur für den Infinitiv, sondern auch für die 2. Person Sg. des Konjunktivs Präsens să fii / să nu fii , den Konjunktiv Perfekt să fi fost , den Imperativ der 2. Person Sg. fii! , den negierten Imperativ der 2. Person Sg. nu fi! etc. Diejenigen, die diese Regeln beherrschen, bilden definitiv eine Minderheit. Die Frage nach der richtigen Schreibung des Imperativs ( nu fi! oder nu fii! ) begleitet die Sprachberatung seit Jahrzehnten. Bei Şuteu (1986, 144-155) tritt sie sogar als Kapiteluntertitel auf: „ Fii bun, dar nu fi prost! “ / Să fii bun! ; Să nu fii prost! und wird von dort samt Erklärungen von Literparc übernommen. 32 Tageszeitungen und Fernsehsender bringen immer wieder kurze Kommentare zu diesem besonders häufigen Zweifelsfall. Zu Berühmtheit ist er durch eine Sendung von George Pruteanu gekommen, der das Thema in einer Hamlet- Parodie mit linguistischen Inhalten anspricht: - Să FII sau s ă nu FII ? La conjunctiv sunt amîndouă, n-am nicio-ndoială! Să fii - se scrie, clar, cu doi de i ! Dar s ă nu fii ? E tot cu doi de i, mai mult ca sigur ! Dar cînd se scrie doar cu unul singur? Există o asemenea situaţie, în foc aş fi capabil să pun mîna, dar din păcate biata mea memorie în stare nu-i să-mi spună cînd şi unde ! Atît îmi amintesc, parcă prin ceaţă că-n legătură-i cu imperativul […] - Să-mi spui, te rog, de verbul fii! sau nu fi! : cînd e cu-n singur i şi cînd cu doi? Răspunde-mi ! - O, doamne, ce-mi mai torni şi tu-n ureche ! Astfél de bagatele te frămîntă ? Credeam că-ţi pui probleme mai înalte: e simplu, dragul meu: imperativul la pozitiv, pretinde doi de i, la negativ, se scrie doar cu unul ! 33 32 http: / / www.literparc.ro/ zece-greseli-gramaticale-intalnite-frecvent/ #fnref-1630-1. 33 Sendung 60 - 2.VI.2006 : A FI SAU A NU FI? FII SIGUR, NU FI EZITANT! , http: / / www. pruteanu.ro/ 4doarovorba/ emis-s-060-hamlet.htm. Rumänische Orthographie als Objekt von Sprachkritik und Sprachberatung 413 <?page no="414"?> 414 Victoria Popovici (Jena) DEX online verzeichnet sieben fehlerhaft geschriebene Flexionsformen von a fi , begleitet von der jeweils korrekten Form, und resümiert die Regel: Se folosește fii doar la imperativ afirmativ (fii cuminte) și la conjunctiv afirmativ sau negativ (să fii punctual / să nu fii trist). În toate celelalte situații, se folosește fi . 34 Die fehlerhafte Schreibung des Imperativs fi statt korrektem fii oder umgekehrt nu fii statt nu fi wird auf vielen Internetseiten kritisiert, korrigiert oder gar verspottet, z. B. als 2012 der inkorrekte Satz Fi la modă cu firefox länger als einen Monat auf der rumänischen Startseite von Firefox zu lesen war: Copii, după cum ne-aducem noi aminte dintr-a cincea [= clasa a cincea, V. P.], la imperativ afirmativ e FII ! , cu doi de i, că vine de la conjunctivul prezent să fii , iar la imperativ negativ e NU FI ! , cu un singur i, că vine de la infinitivul a fi . 35 Der Autor des provozierend betitelten Blogs Analfabeti geht genauso kritisch und überheblich mit dem Fehler um, als er 2013 das Bild eines Plakats einstellt, auf dem ein junger Mann seiner Angebetenen Te rog nu fii rece sagt: Recomandare: când mai sunt angajați oameni care imprimă afișe pe bandă rulantă, să se specifice în ofertă: „candidatul trebuie să aibă primele patru clase“. Astfel poate se vor prezenta doar persoane care fac distincția între nu fi rece și nu fii rece . 36 Bezeichnend ist dabei, dass bereits der erste Kommentator dieses Eintrags um Aufklärung bittet, was korrekt sei: Fi mai explicită oder Fii mai explicită . 3.3 Cratima: Der Gebrauch des Bindestrichs Das Rumänische markiert die Verbindung zwischen Klitika und Verbformen sowie zwischen zwei Klitika immer durch einen Bindestrich (rum. cratimă ): te-am văzut ‘ich habe dich gesehen’ , ne-a dat ‘er hat uns gegeben’ , dându-ţi-l ‘ihn / es dir gebend’ etc. Der Bindestrich wird auch bei den umgangssprachlichen Kombinationen Verwandtschaftsbezeichnung + Possessivum (ugs. fratemeu ‘mein Bruder’ vs. Standard fratele meu ), bei obligatorischen oder fakultativen Elisionen ( într-un ‘in einem’, n-avem ‘wir haben nicht’) sowie in einigen Komposita ( prim-ministru ) verwendet ( DOOM 2 XL - XLIII ). Der Nichtgebrauch oder die falsche Anwendung des Bindestrichs, vor allem in den zwei erstgenannten Fällen, sind eine oft kritisierte Erscheinung, auf die 34 https: / / dexonline.ro/ articol/ Ghid_de_exprimare_corect%C4%83. 35 https: / / diacritica.wordpress.com/ tag/ nu-fi-sau-nu-fii/ . 36 http: / / analfabeti.ro/ te-rog-nu-fii-analfabet. <?page no="415"?> George Pruteanu jahrelang durch den ironischen Titel seiner Fernsehsendung ( Doar o vorbă săţ-i [statt să-ţi ] mai spun ) aufmerksam gemacht hat. Die Beobachtung der Mediensprache im Auftrag des CNA hat diese Fehler verhältnismäßig häufig nachgewiesen, so dass Croitor et al. (2010, 22-26) ebenso wie Nedelcu (2012, 48-50) die wichtigsten Regeln nochmals erklären. Letztere empfiehlt für die Selbstkorrektur einfache Ersetzungstipps, um Homophone auseinander zu halten: s-au ‘sie haben sich’ vs. sau ‘oder’ zum Beispiel in s-au căsătorit ‘sie haben geheiratet’ vs. Doriţi cafeaua cu zahăr sau fără? ‘Möchten Sie den Kaffee mit oder ohne Zucker? ’ (Nedelcu 2012, 50). Die unterschiedlichen Fehlertypen im Gebrauch der cratimă erweisen sich bei der Google-Suche (20. 03. 2016) als sehr ungleich verteilt: Auf 300.000 korrekte spuneţi-mi, vă rog ‘sagen Sie mir bitte’ kommen 110.000 spuneţimi und 1350 spune-ţimi ; auf 12.800 korrekte după ce s-au căsătorit ‘nachdem sie geheiratet haben’ kommen 1030 fehlerhafte după ce sau căsătorit ; auf 3860 korrekte cu frate-meu ‘mit meinem Bruder’ kommen 1210 cu fratemeu . Andere Kombinationen werden von den meisten Schreibern richtig gedeutet, so im Falle von vrea să-l vadă ‘er / sie will ihn sehen’ mit 47.600 korrekten Belegstellen gegenüber nur 653 fehlerhaften vrea săl vadă oder von vrea să-ţi dea ‘er / sie will dir geben’ mit 50.200 korrekten Belegen gegenüber nur 290 vrea săţi dea . Im Internet werden die Bindestrichregeln auf verschiedenen Seiten fast wörtlich aus dem DOOM 2 übernommen. 37 DEX online beschränkt sich in der Auflistung der Fehlerquellen auf die Verwechslung zwischen dem Morphem der 2. Person Plural der Verben ţi und dem homonymen Personal- und Reflexivpronomen im Dativ ( Nu trage-ţi! statt korrektem Nu trageţi ‘Schießt nicht! ’ und umgekehrt Trageţi pătura pe tine statt korrektem Trage-ţi pătura pe tine ‘Zieh die Decke über dich! ’. 38 Für Literparc gehören die Bindestrichfehler zu den zehn häufigsten grammatischen Fehlern; die Seite behandelt die Kombinationen Klitikum - Verb ( i-am dat ) und Klitikum 1 - Klitikum 2 ( ţi-o dă ) getrennt, 39 ist dabei jedoch viel kürzer als der Blog Diacritica , in dessen Index die auf die cratimă bezogenen Einträge sehr zahlreich sind. Die Erklärungen der Betreiberin von Diacritica sind didaktisch aufgebaut: Când verbului cu pricina i se poate adăuga un voi sau dumneavoastră, ţi n-are cratimă, intră în forma verbului: voi trimiteţi voi daţi […] 37 Z. B. https: / / dexonline.ro/ articol/ 1.2._Semnele_ortografice#1.2.4._Cratima. 5B8.5D_.5B-.5D; http: / / www.ortografia.ro/ punctuatia-din-limba-romana/ cratima/ . 38 https: / / dexonline.ro/ articol/ Ghid_de_exprimare_corect%C4%83. 39 http: / / www.literparc.ro/ zece-greseli-gramaticale-intalnite-frecvent/ . Rumänische Orthographie als Objekt von Sprachkritik und Sprachberatung 415 <?page no="416"?> 416 Victoria Popovici (Jena) Când verbului respectiv i se poate adăuga un ţie sau posesivul al tău (şi un tu, de altfel), atunci -ţi se scrie cu liniuţă: (tu) trimite-ţi ţie (tu) trimite-ţi CV -ul (tău) (tu) dă-ţi ţie. 40 In verschiedenen weiteren Einträgen versucht Diacritica , die Setzung des Bindestrichs auf analoge Art zu systematisieren und die unterschiedliche Schreibung von Homophonen zu erläutern: Regula de bază: Scriem m -, cu cratimă după m, atunci când putem completa cu pe mine . 1. M- + perfectul compus: M- AM Se scrie întotdeauna m-am , cu cratimă. Poate fi completat cu eu … pe mine : (Eu) m-am pregătit (pe mine) . M- AI / MAI Se scrie m-ai când poate fi completat cu tu … pe mine : (Tu) m-ai înnebunit (pe mine) de cap . În rest, se scrie mai . Adică atunci când se referă la luna mai şi în structuri de genul mai vreau / nu mai vreau . 41 Bei den umgangssprachlichen Kombinationen Verwandtschaftsbezeichnung + Possessivum , die im Schulunterricht wohl nicht oder nur marginal behandelt werden, steigt die Fehlerzahl auf bis zu einem Drittel der im Internet auffindbaren Kontexte: für korrektes lui taică-său ‘seines Vaters / seinem Vater’ lassen sich in Google (23. 03. 2016) 4110 Treffer finden (dazu weitere 3880 für die Kurzform lui taică-su ), für die fehlerhaften Graphien lui taicăsău 1030 und für lui taicăsu 2970. Bei der Falschschreibung măta statt mă-ta ‘deine Mutter’, 42 ist der Anteil der Zusammenschreibungen viel höher: korrektes ce mă-ta faci? ‘Was zum Teufel (wörtlich: deine Mutter) machst du? ’ wird in Google (23. 03. 2016) 245 Mal nachgewiesen, ce măta faci 213 Mal, also fast genauso oft. Noch schwieriger scheint die Genitivform zu sein, wobei sich ein Nutzer von Softpedia traute, eine diesbezügliche Frage im Zusammenhang mit der genitivhaltigen Schimpfformel pizda mă-tii zu stellen: Mă scuzaţi! „p..da matii“ sau „p..da ma-tii“? Cum e corect? , 40 https: / / diacritica.wordpress.com/ tag/ ti/ . 41 https: / / diacritica.wordpress.com/ tag/ m-a-sau-ma/ . 42 Es handelt sich um einen häufigen Bestandteil von Beleidigungen und Schimpfwörtern, aber auch um eine umgangssprachliche Floskel. <?page no="417"?> woraufhin er viele korrekte, aber noch mehr falsche Antworten erhielt. 43 Zum größten Erfolg der rumänischen Sprachberatung der letzten Jahre wurde aus diesem Grund das Lied der Gruppe „Sector 7“, Mă-ta are cratimă ‘Deine Mutter hat einen Bindestrich’, das mit Absicht am 31. 8. 2012, dem offiziellen „Tag der rumänischen Sprache“, seine Premiere hatte und mit Versen wie Când scrii „ băga-mi-aş p*la [= pula ]“, cratima-i stăpână Bagă-ţi-o în orice, dar nu-n limba română […] Mama n-are cratimă, Dar mă-ta are cratimă! Asta a fost tot, dragă internet. Data viitoare când ne înjuri, fă-o corect! Bate-n tastatură până rămâi fără deşte Sunt patru „I“ în morţii mă-tii, foloseşte-i! auf die Rechtschreibung der Umgangssprache aufmerksam machte. 44 Zwei der Bandmitglieder erklärten in einem Interview, dass gerade solche Beleidigungen dermaßen alltäglich seien, dass sie das Erlernen der Grammatik erleichtern würden. 45 3.4 Neue alte Rechtschreibung Sehr lebhafte Diskussionen werden unter Laien bis heute über drei Neuerungen geführt, die allesamt eine Rückkehr zur Orthographie der Zwischenkriegszeit darstellen: die 1993 wieder eingeführte pseudoetymologisierende Schreibung â statt î im Inlaut, 46 die ebenfalls 1993 beschlossene Wiedereinführung der na- 43 http: / / forum.softpedia.com/ topic/ 94270-ma-scuzatipda-matii-sau-pda-ma-tiicum-e-corect/ . 44 Vgl. das offizielle Video auf https: / / www.youtube.com/ watch? v=ALFH3OWCvcc und den Text auf http: / / www.versuri.ro/ versuri/ gemekk_sector-7-krem-ma-ta-are-cratima.html. 45 „Interacționând ani de zile cu admiratori sau detractori ai Sector 7, eram cu toții exasperați de abundența de greșeli și abrevieri din mediul online. Așa că prin 2010 ne-am gândit să facem o melodie simplă, care să enumere niște reguli elementare de gramatică, și pe care internautul să o poată învăța pe de rost […] Limba română […] se învață mai ușor cu înjurături, pentru că sunt mai des exersate. E greu să ții minte participii, infinitive, supine, pentru că sunt niște noțiuni abstracte. Dar mă-ta, ca și morții ei sunt printre noi zi de zi! “ (http: / / www.academiacatavencu.info/ interviu/ ma-ta-are-cratima-12168). 46 Für das Phonem [ɨ] hat das Rumänische seit dem Übergang von der kyrillischen zur lateinischen Schrift eine Vereinfachung durchgemacht, indem seine graphische Wiedergabe durch die auch für [ə] verwendeten Grapheme aufgegeben und die Anzahl der Grapheme für [ɨ] auf zwei ( î und â ) reduziert wurde. Entgegen den Forderungen nach einer phonetischen Lösung - die einen Parallelismus zur einheitlichen Schreibung ă für [ə] geschaffen hätte - festigten die sogenannten „Sextil-Puşcariu-Regeln“ aus dem Jahr 1932 Rumänische Orthographie als Objekt von Sprachkritik und Sprachberatung 417 <?page no="418"?> 418 Victoria Popovici (Jena) tionalistisch motivierten hyperkorrekten Verbformen sunt / suntem / sunteţi ‘ich bin / wir sind / ihr seid’ statt sînt / sîntem / sînteţi 47 und die vom DOOM 2 wiedereingeführte Zusammenschreibung der Indefinita niciun / nicio / niciunul / niciuna statt nici un / nici o / nici unul / nici una . Die ersten beiden Änderungen wurden 1993 von der Rumänischen Akademie 48 gegen die Einwände der angehörten Linguisten durchgesetzt und sind seit dem 01. 01. 1994 verbindlich. 49 Ihre Einführung war als sprachpolitisches Zeichen einer Trennung vom „kommunistischen Erbe“ intendiert, da die bis dahin amtlichen Graphien î - und sînt durch einen historischen Zufall nicht 1932, als sie bereits in der Akademie diskutiert wurden, sondern erst im Jahr 1953, also zur Zeit des Stalinismus, durchgesetzt worden waren. Die Umsetzung dieser Änderungen ist zum Teil bis heute verwirrend: Die staatlichen Verlage, Zeitungen und Zeitschriften stellten sich sofort um. Im Akademikermilieu übernahmen vor allem die Nationalisten sofort die Änderungen, während große Teile der Intellektuellen Widerstand leisteten. Einige Sprachwissenschaftler, vor allem aus Iaşi, aber auch die in Bukarest lebende Mioara Avram, die zuvor vor dem Akademieausschuss vergeblich gegen die Rückkehr zur Orthographie der Zwischenkriegszeit argumentiert hatte, schrieben noch zu Beginn der 2000er Jahre î - und sînt . Nach über 20 Jahren gibt es immer noch Autoren, die nach den alten Regeln schreiben sowie Verlage und Zeitschriften, die Doppelschreibung mit î im An- und Auslaut sowie â im Inlaut. Die Orthographiereform des Jahres 1953 brachte einen zeitweiligen Sieg des phonetischen Prinzips, indem die einheitliche Schreibung î für [ɨ] verbindlich wurde. 1965 startete die Amtszeit Nicolae Ceauşescus linguistisch durch eine nationalistisch inspirierte Aufweichung dieser Regel: die Wortfamilie român, România etc. musste fortan in Anlehnung an Roma, romanus mit einem etymologisierenden â geschrieben werden - eine Regel, die bis 1993 gültig blieb. 47 Die auf einer falschen Etymologie beruhende Schreibung sunt ist in den latinistischen Kreisen der Siebenbürger Aufklärung bereits zu Beginn des 18. Jhs. eingeführt worden. Da es sich um die Wiedergabe der damals allgemeinen Aussprache [sɨnt] handelte, wurden zunächst Diakritika auf dem u gesetzt, wodurch die Graphien su͗ nt und sûnt entstanden. Die Graphie sunt wurde dadurch begünstigt, dass die Druckereien nicht genügend Lettern für û besaßen und stattdessen u verwendeten. Dies hat die allmähliche Übernahme der Aussprache [sunt] durch einen Teil der Eliten nach sich gezogen (Byck 1954, 32-33). In der Zwischenkriegszeit hat sich diese Aussprache dank der Schule besonders bei der städtischen Bevölkerung verbreitet. „În aşa măsură s-a înrădăcinat această pronunţare, fireşte printre cei «cu carte», încît sînt unii care se întreabă dacă s-a rostit vreodată altfel“ (Byck1954, 33). In der Zeit des Kommunismus wurde die Aussprache [sunt] durch die Vorkriegseliten weiter gepflegt. 48 http: / / www.acad.ro/ alteInfo/ pag_norme_orto.htm. 49 Die Veröffentlichung im Monitorul oficial machte diesen Beschluss „gesetzesähnlich“, aber nicht rechtskräftig, da die Urheberin die Akademie und nicht das Parlament war. Man kann ihn auf http: / / www.monitoruljuridic.ro/ act/ hotarare-din-10-martie-1993privind-modul-de-aplicare-a-hotararii-de-revenire-la-a-si-sunt-in-grafia-limbii-romaneemitent-92726.html nachlesen. <?page no="419"?> die diese individuelle Wahl respektieren. Auch im Internet finden immer wieder Diskussionen über Sinn oder Sinnlosigkeit dieser Reform statt. Sowohl die Reform als auch ihre Nichteinhaltung haben sich zu einer Fehler- und Unsicherheitsquelle entwickelt. Die Autorin von Diacritica bezeichnet diese Neuerung sogar humorvoll als „nelinişte fundamentală a românului care a învăţat să scrie înainte de ’91-’92“. 50 Im Falle der Doppelschreibung î / â lautet der klare Teil der Regel, dass im In- und Auslaut nur î stehen darf ( în ‘in’, urî ‘hassen’). Der für Laien weniger eindeutige Teil besagt, dass im Inlaut â steht ( când ‘wann’, urâm ‘wir hassen’), mit Ausnahme folgender Fälle: nach einem Präfix ( reîncepe ‘wieder anfangen’ nach începe ‘anfangen’), in durchsichtigen Komposita ( înţeles ‘verstanden’, bineînţeles ‘selbstverständlich’) und in Personennamen, in deren Fall die Namensträger selbst die Schreibweise bestimmen dürfen (vgl. die Linguistin Sanda Reinheimer-Rîpeanu vs. den Literaturwissenschaftler Valeriu Râpeanu ). Die Texte im Internet zeigen auch hier ein gemischtes Bild, mit einem Fehleranteil von 10-20 %: 734 fehlerhafte neânceput ‘nicht begonnen’ vs. 3890 korrekte neînceput , 41.700 fehlerhafte bineânţeles vs. 441.000 korrekte bineînţeles (Google- Suche vom 22. 03. 2016). Nedelcu (2012, 47) weist die fehlerhafte Schreibung sogar auf dem Marmorsockel des Eisenbahnerdenkmals in Bukarest nach: „Slavă eroilor ceferişti ce s-au jertfit pentru apărarea României şi reântregirea neamului“. Die î / â -Regel kann man im DOOM 2 XXIX und XXXIII - XXXIV nachlesen. Nedelcu (2012, 45-48) erläutert sie erneut anhand einer kommentierten Fehlerliste. Einige der im Internet tätige Berater widmen sich ebenfalls dem Problem, die Zahl der Kommentare bleibt aber im Vergleich zu anderen Fehlertypen überraschend gering. DEX online veröffentlicht eine Liste aller fehleranfälligen Kontexte, 51 und Diacritica systematisiert die Regeln. 52 Verhältnismäßig gravierender sind die Auswirkungen der Rückkehr zur latinisierenden Kunstform sunt / suntem / sunteţi statt sînt / sîntem / sînteţi . Im Beschluss der Rumänischen Akademie vom 17. 02. 1993 steht lediglich: „Se va reveni în grafia limbii române la utilizarea […] formei sunt ( suntem, sunteţi )“, 53 ohne dass ein Einflus der Graphie auf die Aussprache explizit erwähnt würde. Eine auf diesem Wortlaut beruhende weitverbreitete Meinung besagt, dass dabei lediglich eine schriftliche Änderung intendiert gewesen sein soll. Laut einer persönlichen Auskunft von Ioana Vintilă-Rădulescu ist dies aber eine falsche 50 https: / / diacritica.wordpress.com/ 2009/ 06/ 15/ i-din-a-si-a-din-i/ . 51 https: / / dexonline.ro/ articol/ Ghid_de_exprimare_corect%C4%83. 52 https: / / diacritica.wordpress.com/ tag/ i-sau-a/ ; https: / / diacritica.wordpress.com/ 2009/ 06/ 15/ i-din-a-si-a-din-i/ . 53 http: / / www.acad.ro/ grafieLimbaRomana/ pag_grafieLR_norme.htm. Rumänische Orthographie als Objekt von Sprachkritik und Sprachberatung 419 <?page no="420"?> 420 Victoria Popovici (Jena) Annahme, da die Aussprache [sunt] von Beginn an mitintendiert gewesen sei. Die Schule und die Medien haben auf alle Fälle seit den neunziger Jahren die Verbreitung der Aussprache [u] begünstigt. In der ersten Ausgabe des Îndreptar ortografic nach dieser Änderung behandeln die Bukarester Linguisten in den einleitenden Regeln nur die Graphie („Formele […] verbului a fi se scriu: (eu, ei) sunt, (noi) suntem, (voi) sunteţi “, Îndreptar 28), unter dem Eintrag fi werden nur Betonungsvarianten für die u - Formen angegeben: „1 pl. suntém şi súntem , 2 pl. suntéţi şi súnteţi “ ( Îndreptar 161). DOOM 2 XCVII bestätigt im Regelteil ausdrücklich die künstliche Aussprache mit [u] und entscheidet auch die Frage der Betonung: „ sunt, suntem, sunteţi (pronunţate! 54 [suntem], [sunteţi], şi nu [sîntem], [sînteţi]“ ( DOOM 2 XCVII ). Was die Rechtschreibung angeht, kollidiert die Reform sunt statt sînt mit der Reform â statt -î- und öffnet die Tore für einen neuen Schreibfehler: sânt statt sunt (ehemals sînt ), den das DOOM 2 XCVII in einer ungeschickt formulierten und oft missverstandenen Fußnote zu rechtfertigen scheint: „…formele moştenite scrise anterior sînt etc. Redarea acestora din urmă trebuie făcută acum cu â : sânt etc.“ Die Google-Suche (22. 03. 2016) zeigt neben heute korrektem de unde sunteţi (33.100 Treffer) 2230 de unde sânteţi und 7870 de unde sînteţi . Auch Nedelcu (2012, 48) vermerkt die fehlerhaften Graphien sânt, sântem . Im Onlinemilieu wird die Frage nach der richtigen Aussprache der drei von der Reform betroffenen Personen des Verbs a fi des Öfteren diskutiert. Im Forum Softpedia startete am 20. 10. 2008 der linguistisch interessierte Nutzer „AdiJapan“ den Thread Verbul „a fi“ mit einer Umfrage zur Häufigkeit der Aussprache [u] vs. [ɨ] im Umfeld der Forumsteilnehmer; die Antworten ergaben einen geringen Vorsprung der Aussprachen mit [u], verbunden mit einer normkonformen Tendenz in Bezug auf die zu empfehlende Form: Poll: Pronunţia lui „sunt“ (225 member(s) have cast votes) Cum pronunţă familia, prietenii, colegii dumneavoastră? • În jurul meu toată lumea pronunţă cu u. (44 votes [19.47 %]) • În jurul meu majoritatea pronunţă cu u. (49 votes [21.68 %]) • În jurul meu proporţia este cam de 50 % / 50 %. (52 votes [23.01 %]) • În jurul meu majoritatea pronunţă cu î. (54 votes [23.89 %]) • În jurul meu toată lumea pronunţă cu î. (27 votes [11.95 %]) 54 Das Ausrufezeichen markiert im DOOM 2 Änderungen der Norm. <?page no="421"?> Cum credeţi că ar trebui să pronunţăm? • Neapărat cu u. (110 votes [48.67 %]) • Neapărat cu î. (44 votes [19.47 %]) • Fiecare cum s-a obişnuit. (72 votes [31.86 %]) 55 Auch in anderen Foren wird die Frage nach der richtigen Graphie und Aussprache gestellt. In einer am 21. 10. 2009 auf Tpu 56 eröffneten Diskussion sind sich die Teilnehmer nur im Hinblick auf die Chronologie der schriftlichen Formen einig: Când era străbunica elevă era corect „suntem“, când era mama elevă, era corect „sîntem“, acum, când sunt eu elev, e corect „suntem“ (Nutzer „SoftCristi“). Was die Aussprache betrifft, ist die Meinung geteilt; einige behaupten im Sinne der Norm, dass „se scrie şi se pronunţă ‚suntem‘“, andere sind der Ansicht „ suntem dar pronunţăm sîntem “. Auf Vorbesc wird bereits in der Startfrage die hybride Graphie sânt verwendet: „Cum se pronunţă corect sunt sau sânt? “ Sânt soll hier zunächst die Aussprache wiedergeben, wird aber in manchen Antworten wahllos auch im Bezug auf die Schreibung verwendet: Nu e mai normal sa scri si sa pronunti „sant“ pentru pers. I-a singular, si „sunt“ pentru pers. III -a plural…? Sant este forma cea veche, dar in DEX este sunt. Raspunsul corect este. Eu sânt cu â din a. Asa consider pentru ca noi, nu spunem ei sunt ci, iei sânt cand vorbim. Este o mare prostie! Poti observa si tu ca, cele mai multe persoane cand spun „Eu sânt, exact asa se aude cu â din a“ Original, corect si natural se scrie si se pronunta „sânt“. Din pacate sieu am fost invatat de mic in scoala sa scriu si sa pronunt „sunt“. Eu sant de parere ca cuvantul „sant“ se foloseste la persoana I, de altfel cum l-am folosit si eu, si la plural este „santem“ si se foloseste si la persoana a- II -a, dar numai la plural, adica „santeti“. In schimb cuvantul „sunt“ se foloseste doar la persoana a- III -a, la plural, adica „ei / ele sunt“. 57 55 http: / / forum.softpedia.com/ topic/ 454379-verbul-%26-8222 %3Ba-fi%26-8221 %3B/ . 56 http: / / www.tpu.ro/ conversatii/ ce-parere-aveti-sintem-sau-suntem-fiecare-intelege-cumvrea-si-cum-poate-aceasta-intrebare-dar-va-rog-sa-motivati/ . 57 http: / / vorbesc.ro/ 717/ cum-se-pronunta-corect-sunt-sau-s%C3%A2nt. Fehlerhafter Originaltext ohne Diakritika. Rumänische Orthographie als Objekt von Sprachkritik und Sprachberatung 421 <?page no="422"?> 422 Victoria Popovici (Jena) Ein Diskussionsteilnehmer verweist auf die Autorität der Blogs Scri und Diacritica . In beiden jedoch wird das Thema überraschend knapp abgehandelt, hauptsächlich um die Schreibung sânt abzulehnen: Şi, pentru numele ştim noi cui, vă rog frumos, nu mai scrieţi sânt ! Dacă aţi adoptat scrierea cu â, atunci scrieţi sunt , cu u. Dacă aţi rămas la scrierea cu î, atunci scrieţi sînt , cu î. 58 …vă avertizăm că verbul Sânt nu există sub nicio formă în nicio normă. 59 Die dritte orthographische Neuerung, die vom DOOM 2 2005 eingeführte Zusammenschreibung niciun / nicio / niciunul / niciuna ‘kein / keiner’ statt nici un / nici o / nici unul / nici una , beruht auf grammatisch-logischen Erwägungen, die Vintilă-Rădulescu (2005b) in einem im Internet oft zitierten Dokument der Akademie, Ce e nou în DOOM , auflistet: alle anderen Pronomen werden zusammen geschrieben, nici ist schon seit langem Bestandteil von adverbialen Zusammensetzungen wie niciodată ‘nie’ und vor allem wird es durch diese Änderung möglich, niciun ‘kein’ von nici un… ‘nicht einmal ein; weder ein…’ graphisch zu unterscheiden. Dies führt im Endeffekt zu einer ähnlichen Verkomplizierung wie das Regelbündel î / â , da nun dem Schreibakt eine grammatisch-semantische Überlegung vorgeschaltet werden muss ( Nu are niciun prieten ‘Er / sie hat keinen Freund’, aber Nu are nici un prieten, nici o prietenă ‘Er / sie hat weder einen Freund, noch eine Freundin’ oder Nu are nici măcar un prieten ‘Er / Sie hat nicht einmal einen Freund / keinen einzigen Freund’). Rodica Zafiu, seinerzeit Gutachterin des DOOM 2 , erklärte 2006 in einem Interview, dass sie gegen die Einführung der Zusammenschreibung gewesen sei, da diese weder einer festen Verbindung entspreche, noch in der Orthographie verbreitet sei: Eu n-am fost total de acord cu colegii mei care au impus această normă. Argumentele lor ţin mai ales de coerenţa sistemului, în ideea că adjectivele pronominale în română sunt scrise într-un singur cuvânt şi, având în vedere că „nici un“, funcţional, alcătuia o singură unitate gramaticală, trebuia să fie ca toate celelalte. A mai intervenit şi criteriul analogiei cu alte limbi romanice. S-a invocat şi un criteriu al tradiţiei întrerupte: între cele două războaie, la noi s-a scris aşa, legat: „niciun“. E drept că în aceeaşi perioadă se scria şi „dela“, deci argumentul revenirii la tradiţie nu e imbatabil. Există şi contraargumente: de pildă, criteriul frecvenţei aici ar fi funcţionat împotriva modificării normei; pentru că în uz nu existau oscilaţii semnificative. Nu mai scria nimeni legat, decât, cel mult, unii elevi care greşeau accidental. Sunt şi unele situaţii în care se pot produce intercalări: „nici măcar o“, ceea ce arată că sudura nu este deplină. 58 https: / / diacritica.wordpress.com/ tag/ sunt-sau-sant/ . 59 http: / / scri.ro/ sunt-sant-sint-48.html. <?page no="423"?> Oricum, chestiunile acestea de ortografie sunt destul de arbitrare. La urma urmei, a scrie legat sau separat e o simplă convenţie. În acest caz e adevărat că s-a schimbat prea mult şi poate fără mare rost o obişnuinţă de scriere. (Zafiu 2006; rumänische Diakritika von V. P.) Als das DOOM 2 2005 erschien, wurde die Zusammenschreibung von niciun zu einer der meist diskutierten Sprachfragen in der Öffentlichkeit. Zu ihren Befürwortern zählte damals George Pruteanu mit seiner erfolgreichen Fernsehsendung. 60 De facto entstand durch die Neuerung eine zusätzliche Verunsicherung. Das beweisen auch die in den Foren gestellten Fragen: Cum se scrie: „În nici un caz“ sau „în niciun caz“ conform normelor noi? ; 61 în niciun caz; „nicio“ sau „nici o“; Când se scrie niciun împreună şi când separat? ; Spuneţi-mi vă rog cum se scre corect niciun sau nici un. 62 Viele Sprachberatungsseiten und -blogs widmen der Zusammenschreibung von niciun einen Eintrag. DEX online 63 übernimmt tabellarisch die Beispiele und die grammatischen Erklärungen von Vintilă-Rădulescu (2005b, 4-5), Scri veranschaulicht die neue Schreibregel mit Belegen, die aus der Einleitung zum DOOM 2 LXIX stammen. Viel ausführlicher ist der Blog Literparc in dem Beitrag De ce „niciun / nicio“; „niciunul / niciuna“? , 64 in dem die Autorin, Raluca Popescu, mit zum Teil eigenen Beispielen zugunsten der Neuerung argumentiert und die Position der Sprachwissenschaftler verteidigt, die sie als Sieg der grammatischen Logik über den Sprachgebrauch sieht. Anders verhält sich die Autorin des Blogs Diacritica : entgegen ihrer üblichen Position, der Leserschaft die offizielle Norm näherzubringen, spricht sie sich gegen die Neuerung aus, mit dem Argument, dass zahlreiche mit der normativen Grammatik weniger vertraute Sprecher die Kontexte für die Zusammen- und die Getrenntschreibung nicht differenzieren könnten und dadurch zusätzliche Schreibfehler machen würden: Din păcate, nu scriem doar tu şi eu. Mai scriu şi cei care caută aici „când se scrie îmi dezlegat“, „de ce se scrie mi-au cu liniuţă“, „va-ţi sau vaţi“. Şi, încă şi mai din păcate, ei sunt majoritari, nu tu şi cu mine. Iar ei explicaţiile alea n-o să le priceapă-n veci, oricâtă bunăvoinţă ar avea să scrie corect. 65 60 http: / / www.pruteanu.ro/ 4doarovorba/ emis-s-007-niciun.htm. 61 http: / / www.tpu.ro/ educatie/ cum-se-scrie-in-nici-un-caz-sau-in-niciun-caz-conformnormelor-noi-ma-tot-uit-in-doom-si-pe-internet-dar-nu-pricep-ma/ . 62 http: / / vorbesc.ro/ search? q=niciun. 63 https: / / dexonline.ro/ articol/ Niciun_sau_nici_un%3F. 64 http: / / www.literparc.ro/ de-ce-niciun-nicio-impreunat/ . 65 https: / / diacritica.wordpress.com/ 2010/ 02/ 06/ nici-un-niciun/ . Rumänische Orthographie als Objekt von Sprachkritik und Sprachberatung 423 <?page no="424"?> 424 Victoria Popovici (Jena) Ähnlich wie Diacritica argumentieren auch einige der Nutzer des Forums Softpedia , die in einer Diskussion vom 14. 07. 2014 die von der Doppelschreibung niciun / nici un abverlangte Denkleistung kritisieren: …trebuie să socoteşti în creier dacă trebuie scris „nici o legătură, nici două legături“ (adică separat) sau „nicio legătură cu cele prezentate“ (legat). Aşa că, mai mult au băgat oamenii în ceaţă. Nenorocirea e că prea puțină lume știe cînd să scrie într-un fel și cînd în celălalt. Pînă la urmă la citire ne bazăm înțelegerea pe context, nu pe grafie. Asta înseamnă că efortul de a scrie cum trebuie, legat sau dezlegat, e inutil. 66 4 Schlussbemerkungen Obwohl das Rumänische - abgesehen von der Doppelschreibung î / â - eine prinzipiell phonographische Orthographie hat, ist die Zahl der Normabweichungen im alltäglichen Sprachgebrauch recht hoch. Sie werden vor allem dadurch begünstigt, dass zusätzlich zu den phonologischen auch einige morphologische oder morphosyntaktische Regeln berücksichtigt werden müssen. Wie tief verwurzelt diese Abweichungen sind, kann man anhand ausgewählter Belege im Internet nur erahnen, da diese nur den Sprachgebrauch der Medien, sowie von Firmen, Gruppen, Organisationen, Diskussionsforen und Blogs wiedergeben. Von den verschiedenen Bereichen der Sprache steht die hier untersuchte Orthographie am wenigsten im Mittelpunkt der wissenschaftlichen sprachkritischen Betrachtung, da sie, anders als beispielsweise die Morphologie oder Lexikologie, keine einer wissenschaftlichen Erklärung bedürftige Variation vorweist. Aus diesem Grund wird die öffentliche Diskussion über die Rechtschreibung zur Zeit von Laien beherrscht, die den schlechten Sprachgebrauch im Allgemeinen und die mangelnden Rechtschreibkenntnisse im Besonderen monieren sowie die im DOOM 2 verankerten Regeln immer wieder erläutern. Das Spektrum der laienlinguistischen Erklärungen reicht von fehlerhaften bis hin zu gut überlegten und verständlichen Darstellungen von Regeln; manche Seiten bieten auch nützliche Tipps für die Selbstkorrektur. Die rumänische Sprachwissenschaft kann auf eine fast hundertjährige Tradition im Bereich der Sprachkritik zurückblicken und zeigt in den letzten Jahren vor allem durch das Projekt der Medienbeobachtung mehr Präsenz in der Öffentlichkeit. Als breitenwirksame Beratungsinstanz hat sie sich indessen nicht etabliert; dafür ist die einzige wissenschaftliche Sprachberatungsstelle, die des 66 http: / / forum.softpedia.com/ topic/ 980499-nicio-legatura-nici-o-legatura/ . <?page no="425"?> Bukarester Instituts für Sprachwissenschaft, zu marginal, wofür die geringe Zahl der Anfragen ein deutliches Indiz ist. Da zur Zeit die Rumänische Akademie als oberste sprachpflegerische Instanz kein Interesse an der Entwicklung eigener sprachwissenschaftlich beratender Onlineprojekte zeigt, wäre es wahrscheinlich ein besserer Weg für die rumänischen Sprachpfleger, die von Laien zur Verfügung gestellten sprachwissenschaftlichen Ressourcen - allen voran das DEX online - intelligent zu nutzen. Literaturverzeichnis Wörterbücher DEX 1 = Coteanu, Ion (ed.) (1975 / 1984): DEX . Dicţionarul explicativ al limbii române , Bucureşti, Editura Academiei Republicii Socialiste România. DEX 2 = Coteanu, Ion / Mareş, Lucreţia (eds.) (1996): DEX . Dicţionarul explicativ al limbii române , Bucureşti, Editura Univers Enciclopedic. DOOM 1 = Avram, Mioara (ed.) (1982): Dicţionarul ortografic, ortoepic şi morfologic al limbii române , Bucureşti, Editura Academiei Republicii Socialiste România. DOOM 2 = Vintilă-Rădulescu, Ioana (ed.) 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Rumänische Orthographie als Objekt von Sprachkritik und Sprachberatung 427 <?page no="428"?> www.narr.de TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Die Beiträge des Bandes beleuchten die Beschreibung und Bewertung sprachlicher Entwicklungstendenzen und Diskussionen um „guten“ und „schlechten“ oder „richtigen“ und „falschen“ Sprachgebrauch im Spannungsverhältnis von öffentlicher und fachwissenschaftlicher Wahrnehmung. Es werden vielfältige Aspekte von Sprachkritik und Sprachberatung in verschiedenen romanischen Ländern untersucht. 561 Dahmen et al. (Hrsg.) Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania Romanistisches Kolloquium XXX Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Claudia Polzin-Haumann, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.)