Grammatiktheorie und Grammatikographie
0813
2018
978-3-8233-9107-4
978-3-8233-8107-5
Gunter Narr Verlag
Eric Fuß
Angelika Wöllstein
Das Verhältnis von Grammatiktheorie und Grammatikschreibung ist nicht zuletzt aufgrund der Heterogenität ihrer Ziele nicht immer einfach. Der vorliegende Band plädiert dafür, dass beide Disziplinen von einer stärkeren Kooperation profitieren. So können Einsichten aus der Grammatiktheorie wie die Aufdeckung neuer Generalisierungen und tieferer Zusammenhänge zu einer Vereinfachung und Systematisierung der Grammatikschreibung beitragen. Umgekehrt sind umfassende Darstellungen, wie sie in deskriptiven Grammatiken vorliegen, als Datenbasis und Prüfstein der theoretischen Linguistik unentbehrlich.
<?page no="0"?> STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Grammatiktheorie und Grammatikographie Eric Fuß / Angelika Wöllstein (Hrsg.) <?page no="1"?> STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE 76 <?page no="2"?> STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Angelika Wöllstein Band 76 <?page no="3"?> GRAMMATIKTHEORIE UND GRAMMATIKOGRAPHIE Eric Fuß / Angelika Wöllstein (Hrsg.) <?page no="4"?> © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Joachim Hohwieler und Norbert Volz Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-8107-5 Redaktion: Melanie Steinle Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> INHALT Eric Fuß / Angelika Wöllstein Einleitung: Grammatiktheorie und Grammatikographie ................................................. 7 Markus Bader/ Emilia Ellsiepen Experimentelle Syntax: Eine Fallstudie zur Verbalkomplexbildung im Deutschen ......................................................................................................................... 31 Christian Fortmann Vermeintlich verblose Direktiva - stumme Prädikatsbildung in Wurzelstrukturen ............................................................................................................. 63 Werner Frey Über verschiedene Besetzungen des rechten Randes ..................................................... 93 Franz d’Avis / Jochen Geilfuß-Wolfgang Topologische Felder in Grammatiktheorie und Grammatikographie - Topologische Modelle und leere Stellen ......................................................................... 121 Rita Finkbeiner Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? ........................... 139 Martina Werner Wortbildung als grammatische Strukturbildung. Plädoyer für die Berücksichtigung der morphologischen „Antimaterie“ ............................................... 175 Maria Averintseva-Klisch ‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? Einige Überlegungen zu den deutschen Demonstrativa dies- und jen- ............................................................. 199 Mathilde Hennig Grammatik und Variation in Grammatikforschung und Grammatikschreibung .... 233 <?page no="7"?> ERIC FUSS / ANGELIKA WÖLLSTEIN EINLEITUNG: GRAMMATIKTHEORIE UND GRAMMATIKOGRAPHIE In jüngeren Gesamtdarstellungen der deutschen Gegenwartssprache ist ein Bemühen um Offenheit gegenüber verschiedenen grammatischen Theorien zu erkennen, deren Einsichten und Beschreibungsinstrumente vermehrt Eingang in die Grammatikschreibung finden (vgl. Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997; Duden 2009; Eisenberg 2013b). Dennoch lässt sich feststellen, dass das Verhältnis zwischen Grammatikschreibung und Grammatiktheorie schwierig bleibt, was vor allem der Heterogenität der Ziele geschuldet ist, die die beiden Disziplinen verfolgen. Während die nichtnormative Grammatikschreibung bei aller Aufgeschlossenheit gegenüber universellen Fragestellungen primär ergebnisorientiert arbeiten muss und dabei deskriptive Vollständigkeit - möglichst aufgegliedert in historische und andere Varietäten - unter Verwendung eines weitgehend allgemein wissenschaftlich zugänglichen Begriffsnetzes anstrebt (Zifonun 2009), betrachtet die theoretische Linguistik die Beschreibung grammatischer Eigenschaften in der Regel nur als einen ersten Schritt auf dem Weg zu allgemeineren Generalisierungen, auf denen möglichst explizite Modelle aufbauen, die sprachliche Phänomene aus abstrakten Prinzipen ableiten und erklären wollen, vgl. Müller (2013). Vor diesem Hintergrund beschränken sich theoretische Ansätze zuweilen auf empirisch marginal erscheinende Teilaspekte der Grammatik; im starken Kontrast zur Beschreibungstauglichkeit und systematischen empirischen Abdeckung traditioneller Grammatiken ist die Entwicklung bisweilen recht technischer Lösungswege zentral, die vor dem Hintergrund einer Theorie- und Alternativendiskussion präsentiert werden. Trotz dieser scheinbaren Inkompatibilitäten scheint es einen gewissen Konsens zu geben, dass Einsichten aus der Grammatiktheorie potenziell relevant sind für die Grammatikschreibung und umgekehrt. Mit dem vorliegenden Sammelband möchten wir den Austausch von theoretischer und deskriptiver Linguistik weiter vorantreiben und den Nachweis erbringen, dass eine engere Zusammenarbeit für beide Seiten gewinnbringend ist. Im Mittelpunkt steht dabei zum einen eine Diskussion über die Bereitstellung von Beschreibungsinstrumenten sowie die Aufdeckung neuer Generalisierungen und tieferer systematischer Zusammenhänge, die Eingang in die Grammatikschreibung finden sollten. Zum anderen ist es unstrittig, dass die theoretische Linguistik von strukturierten und detaillierten deskriptiven Darstellungen <?page no="8"?> Eric Fuß / Angelika Wöllstein 8 in Form einzelsprachlicher oder komparativer Grammatiken profitieren kann; insbesondere gilt es, aktuell produktive und damit erklärungsbedürftige Regularitäten zunächst einmal überhaupt aufzudecken und festzustellen. Zu diesen beiden größeren Problemkomplexen, die sich aus der jeweiligen Richtung des Informationsflusses zwischen Theorie und Beschreibung ergeben, lassen sich eine Reihe weiterführender Detailfragen formulieren: 1) Welche Einsichten, Instrumente und Generalisierungen der theoretischen Linguistik können für die Grammatikschreibung fruchtbar gemacht werden? 2) Wie beeinflussen umgekehrt empirische Befunde der deskriptiven Sprachwissenschaft die Entwicklung theoretischer Modelle bzw. wie können die unterschiedlichen Ziele und Ansprüche der beiden Richtungen miteinander vereinbart werden? 3) Inwieweit muss sich die theoretische Linguistik an ihrem Vermögen messen lassen, tiefere Erklärungen für die in der Grammatikschreibung tatsächlich erfassten zentralen Regularitäten zu liefern? 4) Wie muss eine Grammatik idealerweise beschaffen sein, um für eine möglichst große Zahl theoretisch arbeitender Linguisten langfristig nutzbar zu sein; wie lässt sich z.B. die theorieunabhängige Validität bei gleichzeitiger theoretischer Speisung der empirischen Grammatikschreibung gewährleisten? 5) Inwiefern sollten Erkenntnisse der Sprachtypologie und Universalienforschung (sowie deren theoretische Korrelate) in einzelsprachlichen Grammatiken reflektiert sein? Im Rahmen des vorliegenden Sammelbands wird eine Auswahl dieser Fragestellungen im Spannungsfeld zwischen Grammatiktheorie und Grammatikschreibung exemplarisch anhand ausgewählter Probleme der deutschen Grammatik diskutiert. Im Mittelpunkt stehen dabei insbesondere: (i) Die Integration neuer Beobachtungen und Generalisierungen in die Grammatikschreibung; (ii) die Auswahl und Adäquatheit (theoretisch inspirierter) Beschreibungsinstrumente und (iii) Fragen, die die Natur des Beschreibungsgegenstands und die Ziele der Grammatikschreibung betreffen. In der Folge möchten wir einführend einige Aspekte des Zusammenspiels von Grammatiktheorie und Grammatikschreibung etwas genauer beleuchten. Abschnitt 2 ist befasst mit dem Verhältnis von theoretischer Linguistik und Grammatikschreibung. In Abschnitt 3 diskutieren wir Fragen, die den Gegenstandsbereich einer deskriptiven Grammatik betreffen. Vor allem geht es uns dabei um verschiedene Ausprägungen des Sprachbegriffs, die einer Grammatik zugrunde liegen können (z.B. Sprache als linguistische Kompetenz <?page no="9"?> Einleitung: Grammatiktheorie und Grammatikographie 9 vs. Sprache als System sozial gültiger Regeln). Daran knüpft sich unmittelbar die Frage nach den empirischen Methoden, die zur Datengewinnung eingesetzt werden (z.B. Introspektion vs. Korpusrecherchen), die in Abschnitt 4 kurz diskutiert wird. In Abschnitt 5 möchten wir anhand einiger Fallbeispiele aus der gegenwärtigen Projektarbeit kurz aufzeigen, wie Grammatikschreibung und Grammatiktheorie voneinander profitieren können. Abschnitt 6 gibt einen Überblick über die Beiträge in diesem Sammelband. 2. Zum Verhältnis von Grammatiktheorie und Grammatikschreibung Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen sind die Erwartungen an Grammatiken, wie sie in der IDS-Grammatik (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 3ff.) formuliert und diskutiert werden: (a) Grammatiken sollen auf maximale Extension des Gegenstandsbereichs zielen, sie sollen eine Einzelsprache deskriptiv vollständig in ihrer mündlichen und schriftlichen Ausprägung erfassen, möglicherweise noch in ihrer Aufgliederung in historische, regionale oder soziale Varietäten. (b) Grammatiken sollen theoretisch fundiert und homogen sein, sie sollen größtmögliche wissenschaftliche Aktualität bieten, auch in der Untersuchung der einzelnen Phänomene. (c) Grammatiken sollen die Teilbereiche des sprachlichen Systems wohlproportioniert behandeln und keine theoretisch nicht legitimierbaren Gewichtungen haben. (d) Grammatiken sollen universellen Fragestellungen zugänglich sein, d.h. die Besonderheiten der Sprache, wie sie für Typologie- und Universalienforschung relevant sind, hervortreten lassen und ein Begriffsnetz verwenden, das auch für andere Sprachen verwendet wird oder verwendbar ist. (e) Grammatiken sollen nicht normativ sein, sondern die Sprachwirklichkeit zum Gegenstand machen. (f) Grammatiken sollen Handbücher zur Problemlösung sein, d.h. eher Resultate als Lösungswege, Theorien- oder Alternativendiskussion präsentieren. Für die Wechselbeziehungen zwischen Grammatiktheorie und Grammatikschreibung, die hier im Vordergrund stehen sollen, sind insbesondere die Punkte (a), (b), (d) und (f) von Belang, die sich kurz wie folgt charakterisieren lassen: (a) Empirische Vollständigkeit, (b) theoretische Fundierung, Homogenität und Aktualität, (d) möglichst theorieneutrales, sprachübergreifend anwendbares Begriffsinventar, (f) Präsentation von Resultaten anstatt von theoretischen oder analytischen Alternativen. <?page no="10"?> Eric Fuß / Angelika Wöllstein 10 Wie Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997) zutreffend feststellen, sind diese Erwartungen in der grammatikographischen Praxis nicht ohne Weiteres miteinander vereinbar. Sie stellen vielmehr Erwartungen an eine ideale deskriptive Grammatik dar, die nicht alle in gleicher Weise beachtet und umgesetzt werden können und zu einer Reihe von Paradoxen führen. Vielmehr ist die Grammatikschreibung hier zu einer Reihe von Kompromissen gezwungen. Eine nähere Betrachtung dieser Unvereinbarkeiten kann dazu genutzt werden, das Verhältnis von linguistischer Theorie und Grammatikschreibung näher zu beleuchten. Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (ebd.) identifizieren eine Reihe solcher Paradoxe; in der Folge konzentrieren wir uns auf drei davon: (i) das Vollständigkeitsparadox, (ii) das sogenannte Hase-und-Igel-Paradox und (iii) das Präzisionsparadox. (1) Das Vollständigkeitsparadox (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 4): „Deskriptive Vollständigkeit [...] und theoretische Fundiertheit [...] schließen sich (derzeit) aus: Vollständigkeit geht auf Kosten theoretischer Konsistenz und umgekehrt.“ Anhand des Vollständigkeitsparadoxes lässt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen theoretischen und deskriptiven Ansätzen herausarbeiten. Ein Charakteristikum (neuerer) linguistischer Forschung ist es, dass sich theoretisch informierte und ambitionierte Arbeiten in der Regel auf bestimmte empirische Phänomene konzentrieren, die vor dem Hintergrund bestimmter theoretischer Annahmen und Hypothesen als besonders relevant und ergiebig betrachtet werden. Daraus folgt, dass sich die theoretische Forschung in der Regel nur mit kleinen Ausschnitten des Phänomens Sprache befasst und - im Gegensatz zur Grammatikschreibung - keine empirische/ deskriptive Exhaustivität anstrebt (vgl. auch ebd., S. 4 und noch deutlicher Zifonun 2009; siehe aber unten für eine rezente Ausnahme im generativen Paradigma). 1 Darüber hinaus gilt, dass unterschiedliche Theorien unterschiedliche theoretische Akzente setzen und daher jeweils unterschiedliche Phänomenbereiche fokussieren. 2 Daraus ergibt sich laut Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (ebd.) das Problem, 1 Freilich ist das Postulat der Vollständigkeit allein ebenfalls kaum einlösbar. Wie auch Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997, S. 4) bereits feststellen, fallen gegenwärtige Grammatiken (inkl. der IDS-Grammatik) hinter die großen traditionellen Grammatiken des Deutschen wie Paul (1916-1920) und Behaghel (1923-1928) zurück, was Umfang und empirische Abdeckung betrifft. Dies gilt sowohl für grammatische Inhalte (vgl. z.B. bestimmte Aspekte der Morphosyntax wie die Distribution von w-Formen als Relativierer) als auch für die Darstellung diachroner und synchroner Variation (für letztere vgl. aber das IDS-Projekt „Korpusgrammatik“, das gegenwärtig eine korpusbasierte Variationsgrammatik des Deutschen erarbeitet). 2 Vgl. z.B. den Fokus auf Extraktionsasymmetrien und Inseleffekte (d.h. Lokalitätsbedingungen für syntaktische Bewegung) in der generativen Grammatik Chomsky'scher Prägung seit der <?page no="11"?> Einleitung: Grammatiktheorie und Grammatikographie 11 dass es kein zusammenhängendes Theoriegebäude gibt, das in der Lage wäre, adäquate Instrumente für alle im Rahmen einer Grammatik zu beschreibenden Phänomene anzubieten. Stattdessen muss sich der Grammatikograph/ die Grammatikographin in der Regel seine/ ihre Beschreibungsmittel aus verschiedenen theoretischen Ansätzen zusammensuchen, was die Umsetzung der Forderung nach einer homogenen theoretischen Fundierung in der Praxis erschwert. (Dass dies nicht immer ein Nachteil sein muss, zeigt die Arbeit von Rita Finkbeiner in diesem Band.) Auch hier müssen also Kompromisse gemacht werden, die - abhängig von der intendierten Leserschaft - entweder größere Zugeständnisse an die Vollständigkeit oder theoretische Fundierung der Grammatik beinhalten. Darüber hinaus gilt, dass die Forderungen nach Vollständigkeit und theoretischer Fundierung, Homogenität und Aktualität auch für sich alleine genommen schwer umsetzbar sind. Dies wurde in Fußnote 1 bereits für den Anspruch auf Vollständigkeit angedeutet, obwohl es sich hier wohl eher um ein praktisches als ein prinzipielles Problem handelt. Anders verhält es sich mit theoretischen Aspekten. Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997, S. 4f.) sprechen hier vom „Hase-Igel-Paradox“: (2) Das Hase-Igel-Paradox: „Wie gut theoretisch fundiert auch immer die Systematisierung sprachlicher Phänomene in einer Grammatik sein mag - sie fällt notwendig hinter den sich entwickelnden Forschungsstand zurück, weil die konzeptionellen Grundentscheidungen in der konkreten Ausarbeitung nicht mehr revidierbar sind und damit auch die Zugriffsweise auf Einzelphänomene prinzipiell präjudiziert ist.“ Das Ziel einer wissenschaftlichen Grammatik kann nicht darin bestehen, den aktuellen Stand einer bestimmten Theorie bzw. der theoretischen Linguistik wiederzugeben. Dies ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass der Theorie im Rahmen einer Grammatik eher eine dienende Rolle zukommt und empirische Aspekte im Mittelpunkt stehen. Zum anderen ist der Versuch, eine Grammatik auf den letzten Stand der Theorie zu gründen, aufgrund der geringen und immer schneller schwindenden Halbwertszeit linguistischer Theorien wohl zum Scheitern verurteilt - deskriptive Grammatiken, die sehr starken einflussreichen Arbeit von Ross (1967). Im Gegensatz dazu liegt ein wesentlicher Schwerpunkt der Konstruktionsgrammatik auf Idiomen und wiederkehrenden grammatischen Mustern. Die Tatsache, dass der Gegenstandsbereich miteinander konkurrierender Theorien in der Regel nicht deckungsgleich ist, führt auch dazu, dass ein Theorievergleich in der Regel schwierig bzw. wenig fruchtbar ist (vgl. bereits Huck/ Goldsmith 1995 zum Verhältnis von interpretativer und generativer Semantik in den 1960er und 1970er Jahren). <?page no="12"?> Eric Fuß / Angelika Wöllstein 12 Gebrauch von einem spezifischen theoretischen Framework/ Instrumentarium machen, sind nach Ablauf des Verfallsdatums der Theorie unter Umständen schwer nutzbar. 3 Instruktiv für die Integration theoretischer Aspekte ist der folgende Passus aus der Einleitung der englischen Grammatik von Huddleston/ Pullum (2002, S. 19): We emphasize, however, that it is not the aim of this book to convince the reader of the merits of the theory for general linguistic description. Quite the reverse, in a sense: whereever it is possible to make a factual point overshadow a general theoretical point, we attempt to do that; wherever a theoretical digression would fail to illuminate further facts about English, we curtail the digression; if ever the facts at hand can be presented in a way that is neutral between competing theoretical frameworks, we try to present them that way. Die Grammatikschreibung wird sich also in der Regel gut etablierter theoretischer Begriffe, Termini, Einsichten und Beschreibungsinstrumente bedienen, die zudem idealerweise insoweit theorieneutral bzw. theorieübergreifend sind, dass sie den Interessentenkreis nicht künstlich einschränken (vgl. Abschnitt 5 für einige Beispiele). Nichtsdestotrotz scheint es unstrittig zu sein, dass eine 3 Vgl. z.B. Kufners (1961) „Strukturelle Grammatik der Münchner Stadtmundart“, die syntaktische Eigenschaften des Münchner Dialekts mithilfe einer frühen Fassung der generativen Transformationsgrammatik beschreibt. Dabei werden Oberflächenvarianten von Sätzen durch Transformationen aus dem normalen Aussagesatz abgeleitet, der als „Prototyp des Satzes“ (ebd., S. 95) betrachtet wird. So sollen sich wesentliche Wortstellungseigenschaften auf der Satzebene durch das Zusammenspiel der folgenden Transformationsregeln ergeben: Transformationsregel 1: „Ungeachtet der Anzahl oder Art der vorkommenden Satzelemente muss das V-element immer das zweite Element des Aussagesatzes sein.“ (ebd., S. 96) (T-1) E 1 + E 2 + E 3 , etc. à E 1 + V + E 3 , etc. Transformationsregel 2: „Jeder Aussagesatz kann von einem Nichtelement [koordinierende Konjunktionen, Interjektionen etc.] eingeleitet werden (vgl. S-Regel 1). Jedes beliebige Satzelement, mit Ausnahme von Neg, kann die Position vor dem Verbum einnehmen. Die verbleibenden Elemente unterliegen der folgenden Ordnung. Diese Formel ist als ein Schema von leeren Fächern zu denken. Alle Fächer, die von Rautenklammern umgeben sind, müssen nicht gefüllt sein. Bei keinem Satz der Münchner Stadtmundart können alle Fächer gefüllt werden.“ (ebd., S. 96) (T-2) E 1 + V + E 3 , etc. à <NE> + E 1 + V + <FG nom > + <FG akk > + <FG dat > + <Adv temp > + <Adv loc > + < 1 HG nom > + <BG nom > + <HG dat > + <BG dat > + <HG akk > + <BG akk > + <Neg> + <PG> + < 2 HG nom > + <Erg> + <Part> + <Inf> Nur ein kurzer Blick auf diese Ausschnitte zeigt, wie überholte (und z.T. idiosynkratische) theoretische Annahmen das Verständnis erschweren. Zudem werden trotz relativ großem technischen Aufwand zentrale Generalisierungen nicht erfasst (wie etwa der zugrundeliegende SOV-Charakter des Deutschen oder der Zusammenhang zwischen Besetzung der LSK durch Subjunktionen und Verbendstellung). <?page no="13"?> Einleitung: Grammatiktheorie und Grammatikographie 13 präzise Beschreibung der Fakten mitunter ein gewisses Maß an theoretischer Abstraktion erfordert. Dies gilt umso mehr, wenn es darum geht, im Rahmen einer deskriptiven Grammatik auch tiefere systematische Zusammenhänge offenzulegen, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen oder unter der Oberfläche sprachlicher Äußerungen verborgen sind. 4 Das Bedürfnis nach deskriptiver Genauigkeit birgt aber auch ein potenzielles Problem, das Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997, S. 5) als das „Präzisierungsdilemma“ bezeichnen: (3) Das Präzisierungsdilemma: „Ein Mehr an Präzision bedingt auch ein gewisses Mehr an Unverständlichkeit.“ Abhängig von der Art der Grammatik kann das Präzisierungsdilemma stärker oder weniger stark wiegen. Während die Autoren von primär wissenschaftlichen Grammatiken (wie z.B. die IDS-Grammatik = Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997) eine gewisse Vertrautheit des Lesers mit allgemein etablierten sprachwissenschaftlichen Fachbegriffen und Beschreibungsinstrumenten voraussetzen können, dürfte die Toleranzgrenze für linguistische Fachterminologie bei potenziellen Nutzern der Dudengrammatik, die sich trotz wissenschaftlichem Anspruch an ein breiteres Publikum wendet, insgesamt wesentlich niedriger liegen (vgl. beispielsweise die Verwendung der Begriffe „Skopus“ und „Fokus“ zur Beschreibung der Funktion und Bedeutung der Negationspartikel nicht in der aktuellen Dudengrammatik; Duden 2016, §§ 1429-1431). Die Betrachtung der unterschiedlichen Erwartungen an eine Grammatik zeigt, dass die Einbindung theoretischer Aspekte zwar ein wichtiges Desiderat darstellt. Aufgrund widerstrebender anderer Erwartungen wie z.B. empirische Vollständigkeit und allgemeine Verständlichkeit (die eine weitgehende Theorieneutralität impliziert), ist dieser Anspruch in der Praxis jedoch mit einigen Problemen behaftet. Ein „geradliniger“, stärker theorieorientierter Lösungsansatz für diese Problematik wird in der „Syntax of Dutch“ (SoD, Broekhuis/ Keizer 2012) verfolgt, einer mehrbändigen exhaustiven Beschreibung der Syntax des Niederländischen im Rahmen eines generativen Ansatzes. Dabei wird im Sinne von Chomsky (1986) explizit die linguistische Kompetenz individueller Sprecher (bzw. entsprechende Gemeinsamkeiten, die die Mehrzahl aller Sprecher teilen, siehe unten für Details) als Beschreibungsgegenstand gewählt. Methodischen Grundannahmen des generativen Paradigmas folgend, bildet Introspektion die primäre Datenquelle, flankiert von alternativen empirischen Methoden wie Korpora oder Erhebungen/ Experimente. Als Mittel der 4 Relevante Beispiele aus dem Bereich der Flexionsmorphologie betreffen hier z.B. die Distribution von markierten und weniger markierten Flexiven, die Charakterisierung system-definierender Synkretismen oder die Identifikation und Einteilung von Flexionsklassen (vgl. z.B. Bierwisch 1967; Wiese 1999; Müller 2006; Eisenberg 2013a und Duden 2016). <?page no="14"?> Eric Fuß / Angelika Wöllstein 14 grammatischen Beschreibung fungiert ein reduziertes, aber dennoch dezidiert generatives Instrumentarium, das Begriffe und theoretische Annahmen vereint, die weitgehend dem präminimalistischen Stand der generativen Prinzipien- und Parametertheorie entnommen sind, wie diskrete lexikalische Kategorien (N, V, A, P etc.), funktionale Köpfe und Projektionen (C/ CP, D/ DP, T/ TP etc.), (eine Form von) X’-Phrasenstruktur, Bewegung, leere Kategorien (Spuren, PRO etc.), strukturelle Relationen wie C-Kommando, Bindungstheorie etc. Das Ergebnis ist eine syntaktische Beschreibung des Niederländischen, der es gelingt, das Vollständigkeitsparadox zu überwinden, indem sie empirische Exhaustivität mit theoretischer Konsistenz und Homogenität vereint. Die „Syntax of Dutch“ zeigt ferner, dass die pessimistisch-skeptische Einschätzung von Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997) und Zifonun (2009) hinsichtlich der Möglichkeit einer generativ basierten deskriptiven Grammatik nicht notwendig zutrifft. Bei der Auswahl der theoretischen Mittel scheinen aber letzten Endes ähnliche Erwägungen eine Rolle gespielt zu haben, wie sie uns auch bereits bei Huddleston/ Pullum (2002) begegnet sind: Im Mittelpunkt steht die Beschreibung einschlägiger grammatischer Phänomene; eine Theorien- und Alternativendiskussion wird explizit ausgeschlossen: The main objective of SoD is to present a synthesis of currently available syntactic knowledge of Dutch. It gives a comprehensive overview of the relevant research on Dutch that not only presents the findings of earlier approaches to the language, but also includes the results of the formal linguistic research carried out over the last four or five decades that often cannot be found in the existing reference books. It must be emphasized, however, that SoD is primarily concerned with language description and not with linguistic theory; the reader will generally look in vain for critical assessments of theoretical proposals made to account for specific phenomena. Although SoD addresses many of the central issues of current linguistic theory, it does not provide an introduction to current linguistic theory. (Broekhuis/ Keizer 2012, S. ix) Abschließend können wir festhalten, dass zwar allgemein Einigkeit darüber herrscht, dass die Grammatikschreibung empirische Beobachtungen und Systemeinsichten der theoretischen Linguistik rezipieren und in die Sprachbeschreibung integrieren sollte. Weniger klar scheint hingegen zu sein, welche theoretischen Instrumente dabei zur Beschreibung grammatischer Phänomene herangezogen werden sollten. Ganz allgemein scheint es einen Konsens zu geben, der sich in etwa mit dem Motto „so wenig Theorie wie möglich, so viel Theorie wie nötig“ umschreiben lässt. Die „Syntax of Dutch“ zeigt allerdings, dass auch eine stärkere theoretische Orientierung ein gangbarer und vielversprechender Weg für künftig zu schreibende Grammatiken sein könnte. <?page no="15"?> Einleitung: Grammatiktheorie und Grammatikographie 15 3. Sprachbegriff und Grammatik(schreibung) Ein weiteres Problemfeld neben dem Grammatikbegriff, d.h. der theoretischen Fundierung der Grammatik, betrifft die verschiedenen möglichen Ausprägungen des Begriffs von Sprache, die einer Grammatik zugrunde liegen können. Eine Klärung des Sprachbegriffs bestimmt nicht nur den Gegenstandsbereich einer Grammatik (wie z.B. die Frage, wie mit grammatischer Variation umzugehen ist), sondern hat auch Konsequenzen für die Wahl der empirischen Methoden (siehe Abschnitt 4; vgl. Zifonun 2009 zu weiteren benachbarten Fragen wie dem Verhältnis von Standard und Norm im Rahmen der Grammatikschreibung). Im Rahmen eines generativen Ansatzes wird Sprache in der Regel als kognitives Fähigkeitssystem definiert, das im Geist/ Gehirn individueller Sprecher verankert ist (sog. linguistische Kompetenz; Chomsky 1986). Zifonun (2009, S. 336f.) kritisiert, dass dieser Sprachbegriff keine geeignete Grundlage für die Grammatikschreibung bildet, da der Fokus auf die individuelle Sprachfähigkeit sich schlecht mit der grammatikographischen Praxis verträgt, in der Sprache traditionell als gesellschaftliches Phänomen aufgefasst wird. Letzteres betrifft sowohl die Natur der relevanten Daten (geschriebene und gesprochene Texte, d.h. sprachliche Performanzdaten, die in der Regel von einer Vielzahl unterschiedlicher Sprecher stammen), als auch die Natur der zu konstruierenden Grammatik: Das empirisch Beschreibbare und das überindividuell Gültige stehen nicht im Fokus dieses [d.h. des generativen] Ansatzes. Andererseits sind mentale Grammatiken erst einmal gesellschaftlich irrelevant, bedeuten also einen Umweg beim Grammatikschreiben, der sich möglicherweise nicht auszahlt, denn die Annahme der Identität oder weitgehenden Überlappung mentaler Grammatiken ist bestenfalls eine wohlmeinende Hypothese. (ebd., S. 336) Stattdessen favorisiert Zifonun (2009) einen Ansatz, der Sprache als „System sozial gültiger Regeln“ begreift und den sie wie folgt definiert: Nach dieser Konzeption werden in natürlichen Sprachen Systeme von interpretierbaren, evolutionär adaptierbaren sozialen Regeln ausgebildet, die wir im kommunikativen Austausch erlernen im Sinne eines knowing how. Diese Regeln lassen Variation in der Synchronie und im Sprachwandel zu, beschränken diese Variation aber gleichzeitig. [...] Grammatische Regeln bilden eine ausgezeichnete Teilmenge dieses Regelsystems; sie charakterisieren die Menge der wohlgeformten Sätze oder Äußerungstypen nach ihrem strukturellen oder konstruktionellen Aufbau und sichern durch die (weitgehende) Isomorphie von strukturellem und semantischem Aufbau letztlich die intersubjektive Interpretierbarkeit von Äußerungen; sie trennen aber auch die grammatischen von den ungrammatischen Äußerungen. (ebd., S. 337) 5 <?page no="16"?> Eric Fuß / Angelika Wöllstein 16 Eine andere Auffassung wird in der „Syntax of Dutch“ vertreten. Erwartungsgemäß wird hier explizit der Begriff der Kompetenz in den Mittelpunkt gerückt. Der gesellschaftliche Charakter einer Standardsprache wird dadurch zu erfassen versucht, dass die zu beschreibenden grammatischen Eigenschaften als die Teilmenge von Eigenschaften zu betrachten sind, die Teil der mentalen Grammatik aller Sprecher des Standardniederländischen sind: [...] the notion of standard language in SoD [Syntax of Dutch] should be understood more neutrally as an idealization that refers to certain properties of linguistic competence that we assume to be shared by the individual speakers of the language. (Broekhuis/ Keizer 2012, S. xii) We believe it to be useful to think of the notions in (5) [referring to different varieties of Dutch] in terms of grammatical properties that are part of the competence of groups of speakers. Standard Dutch can then be seen as a set of properties that is part of the competence of all speakers of the language. (ebd., S. xiii) It must be stressed that the description of the types of Dutch in (5) in terms of properties of the competence of groups of speakers implies that Standard Dutch is actually not a language in the traditional sense; it is just a subset of properties that all non-dialectal varieties of Dutch have in common. (ebd., S. xiv) Ein Ansatz, der den Gegenstand der Grammatik (das Standardniederländische) als Schnittmenge aller entsprechenden individuellen Grammatiken betrachtet, ist aber unter Umständen mit der Frage konfrontiert, wie man mit bestimmten Typen von grammatischer Variation umgeht. Potenziell problematisch sind dabei sowohl Fälle von Intersprechervariation, d.h. Fälle, in denen die verschiedenen Ausprägungen einer linguistischen Variable über verschiedene Gruppen von Sprechern (möglicherweise komplementär) verteilt sind, als auch Fälle von Intrasprechervariation, bei der zwei konkurrierende Varianten in der Sprachproduktion einzelner Sprecher auftreten (vgl. z.B. die lange und kurze Genitivendung im Deutschen wie in des Verstands vs. des Verstandes). In beiden Fällen stellt sich die Frage, welche Variante in die Grammatik aufgenommen werden muss (streng genommen sollte im ersteren Fall keine Variante Eingang in die Grammatik finden, da es bei komplementär verteilter Intersprechervariation keine Variante gibt, die von allen Sprechern akzeptiert wird). Entsprechende Fragen, die die Integration grammatischer Variation in die Grammatikschreibung betreffen, werden im Beitrag von Mathilde Hennig erörtert. 5 Zifonun weist später (2009, S. 340) darauf hin, dass letztere Anforderung, d.h. die Trennung von möglichen und unmöglichen Äußerungen, für die Annahme von Regeln und Prinzipien spricht und gegen rein konstruktionistische Ansätze, die diese Unterscheidung kaum oder gar nicht zulassen (vgl. auch Jacobs 2008). <?page no="17"?> Einleitung: Grammatiktheorie und Grammatikographie 17 4. Empirische Zugänge zur Grammatik Wie bereits angedeutet, hat die Klärung des Grammatik- und Sprachbegriffs in der Regel auch unmittelbare Auswirkungen auf die Art und Weise, wie die sprachlichen Daten, auf denen die grammatische Beschreibung aufbaut, gewonnen werden. Während die Autoren der „Syntax of Dutch“ (Broekhuis/ Keizer 2012) der tradierten generativen Praxis folgend vor allem auf ihre persönlichen Akzeptabilitätseinschätzungen, d.h. auf das Mittel der Introspektion vertrauen, mehren sich in der jüngeren Vergangenheit die Stimmen, die die Adäquatheit dieses Mittels anzweifeln und eine neue Epistemologie der Syntax und Grammatikschreibung verlangen (vgl. z.B. Pullum 2007, 2017). Eine beißende Kritik dieses empirischen Ansatzes, die vor allem die Beliebigkeit und fehlende wissenschaftliche Überprüfbarkeit reiner Introspektion anprangert, findet sich in Pullum (2007, S. 38f.): And I don’t think the how-does-it-sound-to-you-today method can continue to be regarded as a respectable data-gathering technique. Psychology gave up such methodology about a hundred years ago. For one thing, [it] lends itself so readily to abuse. In syntax, if you want some sequence of words to be grammatical (because it would back up your hypothesis), the temptation is to just cite it as good, and probably you won’t be challenged. If you are challenged, just say it’s good for you, but other dialects may differ. If it doesn’t sound so good, decorate the context a bit to enhance its plausibility and cite it as good anyway. Or if you need the same word sequence to be ungrammatical, fiddle with the context or the meter or some irrelevant lexical choices to make it sound a bit worse, and put an asterisk in front of it. Allerdings unterliegen auch alternative Methoden der Datengewinnung bestimmten Einschränkungen. So sind experimentelle Methoden und Sprecherbefragungen im Rahmen einer exhaustiven Grammatik aufgrund der Größe des Phänomenbereichs wenig praktikabel und können (wenn überhaupt) nur punktuell eingesetzt werden. Als wesentlich ergiebiger hat sich vor allem in der jüngeren Vergangenheit die Verwendung korpuslinguistischer Methoden erwiesen. Durch die Verfügbarkeit großer (z.T. morphosyntaktisch annotierter) elektronischer Textkorpora wie dem Deutschen Referenzkorpus (DeReKo), dem DWDS-Korpus oder dem British National Corpus stehen dem Grammatikographen/ der Grammatikographin reiche Datenquellen zur Verfügung, die eine solide empirische Fundierung ermöglichen, die zentrale wissenschaftliche Standards wie Objektivität, Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit erfüllt (vgl. z.B. die Publikationen zum Projekt „Korpusgrammatik“ am IDS) und daher rein kompetenzgestützten Ansätzen methodisch und deskriptiv überlegen zu sein scheint. Allerdings sind auch rein korpusbasierte Ansätze mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert: <?page no="18"?> Eric Fuß / Angelika Wöllstein 18 - Das Auswahlproblem: Ausgangspunkt einer korpusbasierten Grammatik ist in der Regel ein Auswahlprozess, in dessen Verlauf festgelegt wird, welche Phänomene einbezogen/ behandelt werden sollen. Grundlage dieses Prozesses sind aber zumeist andere Datenquellen (existierende Grammatiken/ wissenschaftliche Arbeiten, Introspektion). - Das Variationsproblem: Das Phänomen grammatischer Variation führt auch in einem korpusbasierten Ansatz zu Problemen. Auch hier muss beispielsweise entschieden werden, welche Varianten Eingang in die Grammatik finden (es handelt sich also um einen Spezialfall des Auswahlproblems). Fällt diese Entscheidung auf der Basis rein quantitativer Erwägungen (Häufigkeit/ Robustheit), wie es im Rahmen eines rein korpusbasierten Ansatzes konsequent wäre, so führt dies zum einen zwangsläufig zu einer Einschränkung der deskriptiven Adäquatheit; zum anderen läuft man Gefahr, auf diese Weise von vorneherein Phänomene auszuschließen, die zwar theoretisch aufschlussreich, aber relativ selten sind. Wird diese Entscheidung (auch) auf der Basis qualitativer Gewichtungen getroffen (wiederum auf der Basis von Introspektion, theoretischen Gesichtspunkten etc.), dann bedeutet dies allerdings unter Umständen eine „Verwässerung“ des rein korpusbasierten Ansatzes. - Das Unschärfeproblem: Aufgrund mangelnder/ unscharfer technischer Instrumente (unfertige morphologische Annotation/ nicht-existierende syntaktische Annotation) ist es wahrscheinlich, dass viele interessante/ wesentliche (insbesondere syntaktische) Phänomene nicht gefunden und für die Grammatik nicht (quantitativ) ausgewertet werden können (Extraktionsasymmetrien, parasitäre Lücken, Bindungsdaten etc.). - Das Exhaustivitätsproblem: Auch wenn das zugrunde gelegte Korpus von enormer Größe ist, steht zu befürchten, dass bestimmte (potenziell aufschlussreiche) grammatische Phänomene darin nicht oder nur marginal auftreten (vgl. bereits Chomsky 1957). - Das Problem der mangelnden negativen Evidenz: Ein Spezialfall des Exhaustivitätsproblems besteht darin, dass eine rein korpusbasierte Grammatik keinerlei Aussagen darüber machen kann, welche Phänomene/ Konstruktionen in einer Sprache nicht auftreten (können). Gerade dies ist aber sowohl für die Theoriebildung (vgl. z.B. die Rolle von Extrakationsasymmetrien/ Inseln) als auch für die angestrebte Rolle als Referenzwerk für die Auslandsgermanistik/ den DaF-Unterricht von größtem Interesse. - Das Identifikationsproblem: Bei der manuellen Durchsicht und Korrektur von Korpusbefunden spielen die grammatischen Intuitionen des Autors/ der Autorin wieder eine wesentliche Rolle (z.B. bei der Entscheidung darüber, ob ein bestimmter Befund das gesuchte Muster instantiiert oder nicht) - die Introspektion betritt also quasi über die Hintertür wieder die Bühne. <?page no="19"?> Einleitung: Grammatiktheorie und Grammatikographie 19 Diese Probleme zeigen, dass auch im Rahmen einer korpusbasierten Grammatik alternative empirische Methoden nicht ausgeschlossen werden sollten oder können. Anstelle einer selbstauferlegten Beschränkung auf eine einzelne Datenquelle sollte man vielmehr nach einer Maximierung der verfügbaren Evidenz streben und auch zusätzliche Methoden wie Introspektion (die zur Auswahl der zu bearbeitenden Phänomenbereiche ohnehin notwendig ist), Sprecherbefragungen etc. einbeziehen. Das soll allerdings nicht bedeuten, dass das bereits angelegte Referenzkorpus nicht weiterhin als die primäre Datenquelle genutzt werden kann. Für das Ziel einer deskriptiv adäquaten Grammatik einer Einzelsprache scheint es aber notwendig, dass diese Quelle durch zusätzliche Methoden der Datenerhebung ergänzt wird, vgl. auch den folgenden Passus aus Huddleston/ Pullum (2002, S. 11): The evidence we use comes from several sources: our own intuitions as native speakers of the language; the reactions of other native speakers we consult when we are in doubt; data from computer corpora [...] and data presented in dictionaries and other scholarly work on grammar. We alternate between the different sources and cross-check them against each other, since intuitions can be misleading and texts can contain errors. Issues of interpretation often arise. Ein wesentlicher Punkt, der von mehreren Autoren und Autorinnen hervorgehoben wird, ist dabei, dass es im Rahmen der Grammatikschreibung essenziell ist, zwischen wohlgeformten und nicht-wohlgeformten Sätzen und Ausdrücken zu unterscheiden (vgl. Pullum 2007; Zifonun 2009). Auch hier spielen Akzeptabilitätsbewertungen (die anhand von Korpusstudien und ggf. experimentellen Befunden überprüft werden müssen) eine wichtige Rolle. 5. Fallbeispiele In der Folge möchten wir anhand von ausgewählten Beispielen aus der aktuellen Arbeit im IDS-Projekt „Korpusgrammatik“ exemplarisch aufzeigen, wie Grammatiktheorie und Grammatikschreibung voneinander profitieren können. Der Informationsfluss von Theorie zu Grammatikschreibung wird dabei anhand der Verwendung von was als Relativpronomen illustriert. Dabei geht es zum einen um die Aufdeckung neuer Generalisierungen und systematischer Zusammenhänge und zum anderen um die Bereitstellung neuer Beschreibungsinstrumente, die Eingang in die Grammatikschreibung finden können. 6 6 Ein bekanntes Beispiel für die erfolgreiche Integration eines theoretischen Instruments in die Grammatikschreibung ist das topologische Modell des deutschen Satzes, das es erlaubt, mit relativ geringem theoretischem Aufwand zentrale Wortstellungseigenschaften des Deutschen präzise zu beschreiben. Das topologische Modell wird erstmals in der 3. Auflage der Dudengrammatik (Duden 1973) zur Beschreibung von Satzbau und Wortstellungsmustern verwendet (allerdings parallel zu traditionellen Beschreibungsmethoden als Kernsätze, Stirnsätze und Spannsätzen; vgl. Wöllstein (Hg.) 2015 für die Verwendung im Schulunterricht). <?page no="20"?> Eric Fuß / Angelika Wöllstein 20 Der umgekehrte Informationsfluss von Grammatikschreibung zu Grammatiktheorie, der vor allem in der Aufdeckung erklärungsbedürftiger Regularitäten durch eine präzise grammatische Beschreibung besteht, wird anhand der Distribution von Varianten der starken Genitivmarkierung veranschaulicht: Theorie >>> Grammatikschreibung Aufdeckung neuer Generalisierungen und tieferer systematischer Zusammenhänge was als Relativum Bereitstellung von Beschreibungsinstrumenten und grammatischen Konzepten Grammatikschreibung >>> Theorie Aufdeckung aktuell produktiver und damit erklärungsbedürftiger Regularitäten Distribution von Varianten der starken Genitivmarkierung 5.1 was als Relativum (Brandt/ Fuß 2014, 2017) Attributive Relativsätze werden im Deutschen in der Regel durch ein sogenanntes d-Pronomen eingeleitet, das in Genus und Numerus mit dem Kopfnomen des Relativsatzes übereinstimmt (und in einem Kasus steht, der relativsatzintern zugewiesen wird): (4) a. ein Mann, der schläft b. ein Mann, den Otto kennt c. ein Mann, dem Otto vertraut d. ein Mann, dessen Peter sich gerne erinnert e. eine Frau, die schläft f. ein Pferd, das schläft g. Kinder, die schlafen Nach bestimmten Neutra wird das jedoch durch das korrespondierende w-Pronomen was ersetzt: (5) a. Alles, was die Zuschauer dort sehen, ist Lug und Trug. (Niederösterreichische Nachrichten, 17.1.2013, NÖN Großformat, Ressort: Meinungen; PRO & KONTRA) Trotz seiner Beschreibungskraft wirft das Feldermodell auch einige bekannte empirische und konzeptuelle Fragen auf, die in diesem Sammelband aufgegriffen werden (vgl. den Beitrag von Werner Frey zur Struktur des Nachfelds und den Beitrag von Franz d’Avis und Jochen Geilfuß-Wolfgang zum Umgang mit leeren/ ungefüllten Positionen in diesem Band). <?page no="21"?> Einleitung: Grammatiktheorie und Grammatikographie 21 b. Das, was wir machen, ist das, was uns gefällt. (Braunschweiger Zeitung, 4.6.2007; Das, was wir machen, ist das, was uns gefällt) c. Das Beste, was Microsoft heute tun kann, ist, Yahoo zu kaufen. (Hannoversche Allgemeine, 8.11.2008, S. 15; Microsoft lässt Yahoo abblitzen) In deskriptiven Grammatiken (vgl. z.B. Duden 2009, S. 1031f.) wird die Verteilung von was als Relativum in der Regel als Liste von Ausnahmen beschrieben: (6) a. Indefinita/ Quantoren: alles, vieles, eines, etwas ... b. Demonstrativa: das, dasjenige, dem ... c. Nominalisierte Adjektive (v.a. Superlative): das Beste, das Einzige ... Brandt/ Fuß (2014, 2017) zeigen jedoch, dass eine systematischere und gleichzeitig einfachere Beschreibung verfügbar wird, wenn man Relativierung mittels was nicht als Ausnahme, sondern als regelhaften Prozess behandelt (vgl. auch Behaghel 1928, S. 725f. und Wiese 2013). Die Grundidee ist dabei, dass relativische d-Pronomen ein lexikalisches Bezugsnomen erfordern, während es sich bei was um ein unterspezifiziertes Default-Relativum handelt, das dann verwendet wird, wenn die (spezifischeren) Lizenzierungsbedingungen für d-Pronomen/ das nicht erfüllt sind. Die Tatsache, dass bei Vorliegen eines lexikalischen Bezugsnomens eine d-Form verwendet wird, kann durch die gängige Annahme erfasst werden, dass die Wahl zwischen konkurrierenden Formen durch eine Form des Elsewhere-Prinzips (Kiparsky 1973, 1982) bestimmt wird. Dies kann z.B. durch die Definition in (7) und die Einsetzungsregeln in (8) gewährleistet werden: (7) Spezifizitätsprinzip (Gallmann 2012) Wenn in einem bestimmten Kontext die Wahl zwischen einem markierten (= spezifischen) und einem weniger markierten (= weniger spezifischen) Element besteht, ist das markierte zu wählen. (8) a. PRN Rel à das / N [Neutrum, Sg] ___ b. PRN Rel à was / Elsewhere Die Art und Weise, wie diese Analyse die Distribution von d- und w-Formen erfasst, ist noch einmal anhand des folgenden Beispiels veranschaulicht. (9) a. das Buch, [das du liest] b. alles/ vieles/ nichts, [was du liest] In (9a) liegt ein lexikalisches Bezugsnomen vor. Im Prinzip sind beide Formen mit dem Einsetzungskontext kompatibel. Das Spezifizitätsprinzip verlangt aber die Verwendung des spezifischeren Elements; es erfolgt die Einsetzung von das. In (9b) kann das hingegen nicht eingesetzt werden, da es die Präsenz <?page no="22"?> Eric Fuß / Angelika Wöllstein 22 eines lexikalischen Nomens als Antezedens voraussetzt. Hier greift die „Elsewhere-Regel“, die die Verwendung von was als Default-Relativum verlangt. Auf diese Weise kann nicht nur der Gebrauch von was in attributiven Relativsätzen erklärt werden; die Analyse ermöglicht darüber hinaus eine einheitliche Beschreibung von allen anderen Fällen, in denen Relativsatzkonstruktionen durch w-Pronomen eingeleitet werden: (10) freie Relativsätze: [Was der Mann auch anpackt], funktioniert. (Hannoversche Allgemeine, 14.8.2009) (11) weiterführende Relativsätze: Wie bei allen anderen Mannschaftssportarten nahmen die Starken Rücksicht auf die Schwächeren, [was den Spass für alle garantierte]. (St. Galler Tagblatt, 23.10.2009, S. 52; Goldener Herbst im Simmental) (12) Relativsätze, die sich auf i.w.S Zitate beziehen: Hauptsache, die Stoffe sind flauschig weich und vermitteln ein Gefühl von «Wellness», was soviel bedeutet wie Wohlgefühl. (St. Galler Tagblatt, 17.9.1997, Ressort: TB-MOD (Abk.); Ein Modewinter) Dieses Beispiel zeigt, wie theoretisch motivierte Generalisierungen und Analysen eine präzisere bzw. einfachere Beschreibung der sprachlichen Fakten ermöglichen. Das verwendete Beschreibungsinstrumentarium (Unterspezifikation + Elsewhere-/ Spezifizitätsprinzip) ist dabei weitgehend theorieneutral, was eine Integration in eine deskriptive Grammatik problemlos zulässt. 5.2 Varianten der starken Genitivmarkierung (Konopka/ Fuß 2016) Das folgende Beispiel soll zeigen, wie neue deskriptive Befunde neue theoretische Fragestellungen und Analysen anregen können. Bei der Markierung des Genitiv Singular gibt es bei stark flektierenden Substantiven des Deutschen insgesamt fünf Formtypen: Stamm Genitivmarkierung Filter, Peter -s Dienst -es Name -ns Herz, Fritz -ens Dalai Lama, Sozialismus Ø Tab. 1: Starke Genitivflexion (Singular) im Deutschen: Varianten <?page no="23"?> Einleitung: Grammatiktheorie und Grammatikographie 23 Im Rahmen einer korpusbasierten Studie untersuchen Konopka/ Fuß (2016) die Verteilung der Varianten und die Faktoren, die die Variation zwischen den Optionen in Tabelle 1 steuern. Zu diesem Zweck wurden über drei Mio. Genitivformen aus dem DeReKo extrahiert und annotiert. 7 Im Rahmen einer statistischen Aufarbeitung dieses umfangreichen Datenmaterials machen die Autoren einige neue Beobachtungen, die in bisherigen Beschreibungsansätzen (die sich überwiegend auf morphophonologische Einflussgrößen wie Silbenanzahl oder Art des Stammauslauts konzentrieren) vernachlässigt wurden. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Feststellung, dass die Wahl der Genitivmarkierung offenbar wesentlich von der Häufigkeit eines Lexems abhängig ist. So nehmen stark frequente (einsilbige) Lexeme wie Jahr, Kind, Mann usw. fast obligatorisch die lange Genitivendung -es. Die folgende Abbildung 1 zeigt, dass der Anteil der langen Endung bei den häufigsten Lexemen (ganz links auf der X-Achse) fast bei 100% liegt. Nimmt die Lexemfrequenz ab, tritt die kurze Endung -s stärker in den Vordergrund; bei seltenen Lexemen ist fast nur noch -s zu finden (je höher die Häufigkeitsklasse in Abbildung 1 desto niedriger die Lexemfrequenz). 1 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% 5 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 23 SES Abb. 1: Häufigkeitsklassen und Endungsvariation bei Einsilbern (Konopka/ Fuß 2016, S. 130) 7 Die Ergebnisse der Extraktion sind in einer öffentlich zugänglichen Datenbank abgelegt (http: / / hypermedia.ids-mannheim.de/ call/ public/ korpus.genitivdb, 9.5.2018). Die Datenbank enthält zusätzlich Metadaten wie Erstellungsjahr, Medium (Buch, Zeitung etc.) oder Region; auf diese Weise können verschiedene Dimensionen der Variation erfasst und untersucht werden. <?page no="24"?> Eric Fuß / Angelika Wöllstein 24 Ein ähnlicher Effekt zeigt sich bei der Alternation zwischen Nullmarkierung und -s-Endung im Zusammenhang mit (nicht-nativen) geografischen Namen. In diesem Fall lässt sich beobachten, dass mit zunehmender Häufigkeit eines Toponyms (im vorliegenden Beispiel Iran und Irak), der Anteil des s-Genitivs ansteigt. Mit anderen Worten, es scheint, dass eine zunehmende Geläufigkeit eines Fremdworts zu einer stärkeren Integration in das Flexionssystem führt, die sich in einer overten Markierung des Genitivs manifestiert. In Abbildung 2 kann man erkennen, dass der Anteil der s-markierten Formen von Iran und Irak (Balken in hellerem und dunklerem Mittelgrau) zusammen mit absoluten Häufigkeiten im Gesamtkorpus (Zahlen auf der y-Achse) stark ansteigt, während die endungslosen Formen auf einem relativ niedrigen Niveau stagnieren bzw. wesentlich weniger stark ansteigen (Konopka/ Fuß 2016, S. 226ff.): 1 0 200 400 600 800 1000 1200 1400 1600 1800 1985-1989 1990-1994 1995-1999 2000-2004 2005-2009 Iraks Irak Irans Iran Abb. 2: Genitivmarkierung bei fremdsprachlichen Eigennamen (Iran/ Irak) relativ zur Gesamthäufigkeit im Korpus Beide Teilstudien zeigen, dass die Verteilung der Flexionsendungen von der Lexemfrequenz beeinflusst wird (tatsächlich zeigt die Studie, dass dies einer der stärksten Faktoren ist). Diese empirischen Befunde werfen einige Fragen für die Grammatiktheorie auf. Zum einen muss geklärt werden, wie sich Faktoren wie Lexemhäufigkeit/ Geläufigkeit in eine theoretische Analyse des Flexionssystems integrieren lassen. Zum anderen stellt sich das allgemeinere Problem, wie grammatische Variation im Rahmen moderner regel- und beschränkungsbasierter Theorien formal erfasst werden kann. Es zeigt sich also, dass der Informationsfluss nicht immer von der Theorie zur Grammatikschreibung laufen muss; umgekehrt können auch neue empirische Beobachtungen die Theoriebildung befruchten. <?page no="25"?> Einleitung: Grammatiktheorie und Grammatikographie 25 6. Die Inhalte dieses Sammelbands Im Folgenden möchten wir einen kurzen Überblick über die hier versammelten Beiträge geben. Nach ihren Inhalten können die Aufsätze in drei Gruppen gegliedert werden. Neue Beobachtungen und Generalisierungen stehen im Mittelpunkt der Beiträge von Markus Bader und Emilia Ellsiepen, Christian Fortmann sowie Werner Frey. Die letzten beiden Aufsätze thematisieren darüber hinaus auch Aspekte, die für die zweite Gruppe von Arbeiten charakteristisch ist, die sich zentral mit der Adäquatheit gängiger Beschreibungsinstrumente auseinandersetzt. Hierzu zählen die Beiträge von Franz d’Avis und Jochen Geilfuß-Wolfgang, Rita Finkbeiner, Martina Werner sowie Maria Averintseva-Klisch. Den Abschluss bildet der Beitrag von Mathilde Hennig, die sich mit der generellen Frage auseinandersetzt, wie Varietäten und grammatische Variation in die Grammatikschreibung integriert werden können. 6.1 Neue Beobachtungen und Generalisierungen Beim Kernbereich der Modalverben tritt im Perfekt des Deutschen obligatorisch statt des Partizips II der reine Infinitiv auf, wenn ein vom Modalverb regiertes weiteres Vollverb im Infinitiv vorhanden ist. Der sogenannte Ersatzinfinitiv ist ebenfalls obligatorisch mit der Finitumstellung des Auxiliars als maximal übergeordnetes Verb an die Spitze des Oberfelds verbunden: (a) hat lesen müssen - soweit die (präskriptiven) Grammatiken. Der Beitrag von Markus Bader und Emilia Ellsiepen („Experimentelle Syntax: Eine Fallstudie zur Verbalkomplexbildung im Deutschen“) untersucht auf Basis von Korpusdaten und Akzeptabilitätstest das folgende Muster: (b) lesen müssen hat. Anders als in Grammatiken beschrieben weisen beide methodischen Untersuchungen darauf hin, dass Muttersprachler die Struktur mit der (b)-Abfolge bzw. der Späterstellung des Finitums akzeptieren, vorausgesetzt das Modalverb geht voran; auch die im Korpus beobachteten Gebrauchsdaten bestätigen die Verwendung dieser Struktur. Der Beitrag von Bader/ Ellsiepen schlägt auf der Basis dieser Ergebnisse sowohl einen Beitrag zur Erweiterung der syntaktischen Beschreibung in Frage stehender Strukturen vor und thematisiert darüberhinaus Fragen und Konsequenzen für die Syntaxtheorie. Ähnlich wie Rita Finkbeiner (siehe unten) befasst sich Christian Fortmann in seinem Beitrag „Vermeintlich verblose Direktiva - stumme Prädikatsbildung in Wurzelstrukturen“ mit syntaktischen Ausdrücken wie die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, jedem ein Bier oder in den Müll mit dem Dreck, die auf den ersten Blick eine Analyse als lexikalisierte Konstruktionen (im Sinne der Konstruktionsgrammatik) nahezulegen scheinen (vgl. z.B. Jacobs 2008). Ausgehend von der Beobachtung, dass entsprechende verblose Direktiva auffällige Parallelen zu Wurzelinfinitiven (bitte hinten anstellen, bloß nicht auffallen, <?page no="26"?> Eric Fuß / Angelika Wöllstein 26 einmal in Ruhe frühstücken) aufweisen, indem beide Strukturen subjektlos sind und in der Regel modal interpretiert werden, schlägt Fortmann eine einheitliche derivationelle Analyse solcher Wurzelstrukturen vor, die für verblose Direktiva die Existenz eines phonetisch leeren Verbs annimmt. Gegenstand des Beitrags von Werner Frey („Über verschiedene Besetzungen des rechten Randes“) ist die Besetzung des Nachfelds bzw. rechten Satzrands durch verschiedene Elemente wie Satzglieder, Attribute, Appositionen und rechtsversetzte Konstituenten. Aufbauend auf der Beobachtung, dass die nachgestellten Konstituenten unterschiedliche syntaktische und prosodische Eigenschaften besitzen, wird dafür argumentiert, dass die Besetzung des rechten Satzrands das Resultat unterschiedlicher syntaktischer und phonologischer Operationen ist (Basisgenerierung von Satzgliedern, post-syntaktische Nachstellung von Attributen und Appositionen, Rechtsversetzung als das Resultat von Tilgungsoperationen, die auf adjazente Sätze angewendet werden). Auf diese Weise gelingt es Frey, zentrale Eigenschaften wie Abfolge- und Bindungsbeziehungen zu erfassen, ohne das (deskriptive) Konzept des Nachfelds als homogenen Bereich der Extraposition aufgeben zu müssen. 6.2 Adäquatheit der Beschreibungsinstrumente Der grammatischen Beschreibung des Satzes im Deutschen - ob Satz- oder Verbstellungstyp im Haupt- oder Nebensatzmuster - liegt eine lineare Struktur zugrunde, die durch die Theorie der Topologischen Felder analysierbar ist. In der Felderanalyse werden generell Felder verschiedenen Typs als Grundmuster in einer festen Abfolge angenommen, deren Besetzung je nach syntaktischer Struktur und Verbstellung restringiert ist. Ausgehend davon, können einige Felder aber optional besetzt werden oder müssen - je nach Modell - obligatorisch unbesetzt bleiben. Franz d’Avis und Jochen Geilfuß-Wolfgang („Topologische Felder in Grammatiktheorie und Grammatikographie - Topologische Modelle und leere Stellen“) zeigen, dass nicht alle Typen von leeren Felderpositionen, die in verschiedenen Modellausgestaltungen auftreten, auch ausreichend motiviert sind. Der Beitrag möchte dazu einen Klärungsversuch leisten. Der Beitrag von Rita Finkbeiner („Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? “) behandelt anhand von verblosen Sätzen wie Alles nur Schikane oder Hauptsache, die Qualität stimmt die Frage, wie die Grammatikschreibung mit Ausdrücken umgehen soll, die sich einer traditionellen phrasenstrukturellen („projektionistischen“) Analyse zu widersetzen scheinen. Die Autorin plädiert dafür, entsprechende Phänomene als lexikalische Konstruktionen (im Sinne der Konstruktionsgrammatik) aufzufassen und auch als solche in die beschreibende Grammatik aufzunehmen. Gleichzeitig wendet <?page no="27"?> Einleitung: Grammatiktheorie und Grammatikographie 27 sich der Beitrag gegen eine rein konstruktionistische Grammatikschreibung, die in Form eines Konstruktikons die traditionelle Trennung von Grammatik und Lexikon aufgibt. Vielmehr sollen sowohl konstruktionistische als auch projektionistische Ansätze (z.B. in Form von Prinzipien des syntaktischen Strukturaufbaus) Eingang in die Grammatikschreibung finden. Martina Werner argumentiert in ihrem Beitrag „Wortbildung als grammatische Strukturbildung. Plädoyer für die Berücksichtigung der morphologischen Antimaterie“ dafür, dass systematische Restriktionen für mögliche Wortbildungen (was sie als „morphologische Antimaterie“ bezeichnet) stärker als bisher von der Theoriebildung und Grammatikschreibung beachtet werden müssen. Anhand einschlägiger Beispiele aus der Synchronie und Diachronie des Deutschen (u.a. Beschränkungen für (morphologisch komplexe) Erstglieder von Komposita, Distribution von Fugenelementen, Produktivität von Derivationsaffixen wie -ung) wird diskutiert, wie die Verfügbarkeit und relative Produktivität für Wortbildungsmuster durch den Verlust bzw. die Entwicklung/ Ausbreitung von entsprechenden morphologischen Restriktionen erfolgreich beschrieben werden können. In den meisten Sprachen, so auch im Deutschen, sind bei Demonstrativa zwei parallele Reihen ausgebildet, die zwischen Nähe (dieser) und Ferne (jener) unterscheiden. Obwohl in der linguistischen Forschung zur Semantik und Konzeptualisierung eine Vielzahl von aktuellen Arbeiten und Erkenntnissen vorliegen, finden sie bislang kaum Eingang in Referenzgrammatiken oder sind dienlich für eine im Schulunterricht aufbereitete Verwendung. Der Beitrag von Maria Averintseva-Klisch („‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? Einige Überlegungen zu deutschen Demonstrativa dies- und jen-“) bietet eine Aufarbeitung und Anpassung der aktuellen Erkenntnisse aus der linguistischen Forschung unter Verwendung von Korpusdaten mit pronominalem und adnominalem jen- und erarbeitet einen didaktisch anwendbaren Vorschlag für eine Kategorie eines von Sprecher und Hörer geteilten mentalen Raums für diese Ausdrücke (sog. ‘shared mental space’). 6.3 Kern vs. Peripherie, Sprachbegriff, Variation Der Beitrag von Mathilde Hennig („Grammatik und Variation in Grammatikforschung und Grammatikschreibung“) liefert einen Forschungsüberblick und eine kritische Bestandsaufnahme über Konzepte über und Phänomene von grammatischer Variation im Deutschen sowie notwendige Folgerungen, die sich hieraus für die Grammatikschreibung ergeben. Im Einzelnen werden Fragen über systematische Unterschiede und sich daraus ergebende Differenzierungen von Variations(typen) und deren Verhältnis zur Kerngrammatik und zum individuellen Sprecher/ zur individuellen Sprecherin diskutiert. <?page no="28"?> Eric Fuß / Angelika Wöllstein 28 Ausgehend von der Unterscheidung zwischen extraand intralinguistischer Erklärung für grammatische Variation sowie theoretischen Annahmen zum Systembegriff werden verschiedene Modelle zur (gemeinsamen) Konzeption von System und Variation vorgestellt. Argumentiert wird schließlich für ein modulares Konzept eines grammatischen Kernsystems, das Optionen interner Variation für variationssensitive grammatische Phänomene beinhaltet. Wir möchten an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, um den Autorinnen und Autoren für die konstruktive Zusammenarbeit und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der ars-grammatica-Tagung für ihre wertvollen Diskussionsbeiträge zu danken. Darüber hinaus sind wir unseren Kolleginnen und Kollegen in der Abteilung Grammatik sowie acht anonymen Gutachtern und Gutachterinnen zu Dank verpflichtet. Für Unterstützung bei der Endredaktion und der Herstellung des Bandes möchten wir uns außerdem bei Joachim Hohwieler, Saskia Ripp, Melanie Steinle und Norbert Volz bedanken. Literatur Behaghel, Otto (1923-1928): Deutsche Syntax. Eine geschichtliche Darstellung. 4 Bde. Heidelberg. Behaghel, Otto (1928): Deutsche Syntax. Eine geschichtliche Darstellung. Bd. 3: Die Satzgebilde. Heidelberg. Bierwisch, Manfred (1967): Syntactic features in morphology: General problems of so-called pronominal inflection in German. In: To honor Roman Jakobson: Essays on the occasion of his seventieth birthday. (= Janua linguarum. Series maior 31). Den Haag, S. 239-270. Brandt, Patrick/ Fuß, Eric (2014): Most questionable pronouns: Variation between dasvs. was-relatives in German. In: Linguistische Berichte 239, S. 297-329. 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Berlin. <?page no="29"?> Einleitung: Grammatiktheorie und Grammatikographie 29 Eisenberg, Peter (2013a): Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart. Eisenberg, Peter (2013b): Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 2: Der Satz. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart. Gallmann, Peter (2012): Flexionsmerkmale und Markiertheit. Ms., Universität Jena. www.personal.uni-jena.de/ ~x1gape/ Wort/ Wort_Unterspezzz.pdf (Stand: 8.12.2017). Huck, Geoffrey J./ Goldsmith, John A. (1995): Ideology and linguistic theory: Noam Chomsky and the Deep Structure debates. London. Huddleston, Rodney/ Pullum, Geoffrey (2002): The Cambridge grammar of the English language. Cambridge. Jacobs, Joachim (2008): Wozu Konstruktionen? In: Linguistische Berichte 213, S. 3-44. Kiparsky, Paul (1973): ‘Elsewhere’ in phonology. In: Anderson, Steven/ Kiparsky, Paul (Hg.): A festschrift for Morris Halle. New York, S. 93-106. 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Contrary to this requirement, experiments show that native speakers accept the auxiliary also in later positions as long as it precedes the modal verb. The acceptability data are corroborated by corpus data and experimental data from language production. The relevance of the experimental data for syntactic theory are discussed. 1. Einleitung Bis vor nicht allzu langer Zeit waren Experimente innerhalb der Linguistik eine Sache der Psycho- und Neurolinguistik. Diese beiden linguistischen Teilbereiche beschäftigen sich mit Fragen nach der Verarbeitung von Sprache im menschlichen Geist bzw. Gehirn. Als Gegenstand der theoretischen Linguistik gilt dagegen das sprachliche Wissen, das der Verarbeitung von Sprache zugrunde liegt. Zur Erforschung des sprachlichen Wissens hat sich die theoretische Linguistik im Wesentlichen auf sprachliche Intuitionen gestützt. Im Falle der Syntax handelt es sich dabei insbesondere um Intuitionen bezüglich der Grammatikalität von Sätzen. Die meisten Sprecher des Deutschen haben beispielsweise die Intuition, dass der Satz in (1a) syntaktisch wohlgeformt ist, der Satz in (1b) dagegen nicht. (1) a. Ich glaube, dass Peter das Fahrrad hatte verkaufen wollen. b. *Ich glaube, dass Peter das Fahrrad verkaufen wollen hatte. Die Verwendung von Grammatikalitätsurteilen als Datengrundlage für die theoretische Syntax ist vielfach kritisiert worden (z.B. Edelman/ Christiansen 2003; Ferreira 2005; Wasow/ Arnold 2005; Gibson/ Fedorenko 2010; Antworten auf diese Kritiken geben z.B. Phillips/ Lasnik 2003; Phillips 2009; Culicover/ Jackendoff 2010). Ein Teil dieser Kritik richtet sich nicht gegen Grammatikalitätsurteile als solche, sondern gegen die gängige Praxis, dass syntaktische Analysen auf Grammatikalitätsurteilen sehr weniger Personen beruhen - im Extremfall einer einzigen Person, nämlich dem Autor oder der Autorin der entsprechenden Analyse. <?page no="32"?> Markus Bader / Emilia Ellsiepen 32 Beginnend mit den Arbeiten von Bard/ Robertson/ Sorace (1996) und Cowart (1997) hat sich die Situation grundlegend gewandelt. Syntaktische Fragestellungen mittels experimenteller Methoden zu untersuchen ist mittlerweile eine weitverbreitete Praxis. In zwei großen Studien haben Sprouse/ Almeida (2012) und Sprouse/ Schütze/ Almeida (2013) gezeigt, dass die in einem verbreiteten Syntax-Lehrbuch (Adger 2003) bzw. in einer führenden linguistischen Fachzeitschrift (Linguistic Inquiry) veröffentlichten Bewertungen weitestgehend übereinstimmen mit den Urteilen von Muttersprachlern, die keinen Bezug zur Linguistik haben und deren Urteile deshalb nicht durch theoretische Voreingenommenheit beeinflusst sein können. Über die mangelnde empirische Fundierung syntaktischer Theorien zu lamentieren, ist deshalb nicht mehr notwendig. Die Frage ist dann, ob und in welcher Weise die Syntaxforschung vom Einsatz verschiedener experimenteller Methoden profitieren kann. Wir haben auf diese Frage keine generelle Antwort und werden stattdessen - frei nach dem Motto The proof of the pudding is in the eating - eine Fallstudie zur Syntax der Verbalkomplexe im Deutschen präsentieren, d.h. zu Sätzen wie in (1). Diese Fallstudie zeigt, so hoffen wir, dass mittels experimenteller Methoden fundiertere Analysen syntaktischer Phänomene möglich sind. Aufgebaut ist unser Artikel wie folgt. In Abschnitt 2 stellen wir zwei ausgewählte experimentelle Methoden vor und geben zugleich einen kurzen Überblick über Experimente, die mittels dieser Methoden die Akzeptabilität von Verbalkomplexen untersucht haben. Abschnitt 3 skizziert eine syntaktische Analyse, die auf den experimentell gewonnenen Daten beruht. In Abschnitt 4 diskutieren wir die Frage, ob experimentelle Untersuchungen der Akzeptabilität von Sätzen angesichts der vielfachen Fortschritte im Bereich der Korpuslinguistik überhaupt noch notwendig sind. Dabei werden wir zu dem Schluss kommen, dass Akzeptabilitätsurteile weiterhin benötigt werden und nicht durch andere Daten - wie z.B. Frequenzdaten aus Korpusuntersuchungen - ersetzt werden können. Daraus folgt aber nicht, dass Daten aus der Sprachproduktion irrelevant sind für die theoretische Modellierung syntaktischer Strukturen. Wie Abschnitt 5 zeigt, können auch hier experimentelle Untersuchungen von zentraler Bedeutung sein. Der Artikel endet mit einem Resümee in Abschnitt 6. 2. Experimentelle Untersuchungen zur Akzeptabilität von Verbalkomplexen Das Deutsche ist im Vergleich zu den anderen westgermanischen OV-Sprachen weitgehend konsistent, was die Platzierung der Komplemente betrifft. Ebenso wie die nicht-verbalen Komplemente (mit Ausnahme von Komplementsätzen und bestimmten PPs) werden verbale Komplemente links von dem <?page no="33"?> Experimentelle Syntax: Eine Fallstudie zur Verbalkomplexbildung im Deutschen 33 Element platziert, von dem sie selegiert werden. Dies zeigen die folgenden Beispiele. Dabei erhält das finite Verb als nicht-selegiertes Element den Index 1. Ein Verb, das vom finiten Verb selegiert wird, enthält den Index 2, usw. (2) a. … dass Peter das Buch liest 1 . b. … dass Peter das Buch gelesen 2 hat 1 . c. … dass Peter das Buch gelesen 3 haben 2 soll 1 . (3) a. … dass das Buch anscheinend von Peter gelesen 2 wird 1 . b. … dass das Buch anscheinend von Peter gelesen 3 worden 2 ist 1 . c. … dass das Buch anscheinend von Peter gelesen 4 worden 3 sein 2 soll 1 . Wie die Beispiele in (2) und (3) zeigen, stehen die Verben im Verbalkomplex in absteigender Ordnung, d.h. V N steht vor V N-1 . Dies gilt für andere westgermanische Sprachen nicht. Für das Niederländische beispielsweise ist die umgekehrte, aufsteigende Abfolge der Verben charakteristisch. 1 Bekanntlich gibt es eine Ausnahme zur strikten Abfolge V N vor V N-1 . Für die Modalverben, die Perzeptionsverben und das Verb lassen gilt, dass bei zusammengesetzten Zeitformen das Auxiliar am Anfang des Verbalkomplexes platziert wird. Für das Perfekt gilt dies obligatorisch, für das Futur optional. Im Folgenden werden wir uns auf den im Sprachgebrauch am häufigsten vorkommenden Fall, das Perfekt der Modalverben, konzentrieren (für entsprechende Daten zu lassen; vgl. Bader 2014). Die eigentlich zu erwartende Abfolge der Verben wird in (4) gezeigt. Diese gilt als ungrammatisch und stattdessen muss die Abfolge in (5) verwendet werden. 2 (4) a. *… dass Peter das Buch lesen 3 müssen 2 hat 1 . b. *… dass das Buch anscheinend von Peter gelesen 4 werden 3 müssen 2 hat 1 . (5) a. … dass Peter das Buch hat 1 lesen 3 müssen 2 . b. … dass das Buch anscheinend von Peter hat 1 gelesen 4 werden 3 müssen 2 . Insgesamt gibt es für einen Verbalkomplex mit drei Verben sechs unterschiedliche Serialisierungen. Diese sechs Abfolgen lassen sich systematisch nach zwei 1 Einen ausführlichen Überblick über die Verbalkomplexbildung im Westgermanischen bietet Wurmbrand (2004b 2017). Eine Auswahl unterschiedlicher syntaktischer Ansätze zur Analyse von Verbalkomplexen findet sich in Seuren/ Kempen (Hg.) (2003). 2 Eine weitere Besonderheit dieser Konstruktion ist der sog. Doppelinfinitiv oder IPP-Effekt (infinitivus pro participio): Das Modalverb erscheint hier als Infinitiv und nicht als Partizip, obwohl es sich um ein Perfekt handelt. <?page no="34"?> Markus Bader / Emilia Ellsiepen 34 Faktoren klassifizieren: die Position des Auxiliars (1, 2 oder 3) und die Abfolge von lexikalischem Verb und Modalverb. Tabelle 1 zeigt die Verteilung der sechs verschiedenen Verbalkomplexe gemäß dieser beiden Faktoren. Aux = 1 Aux = 2 Aux = 3 V < Mod Aux 1 -V 3 -Mod 2 hat 1 lesen 3 müssen 2 V 3 -Aux 1 -Mod 2 lesen 3 hat 1 müssen 2 V 3 -Mod 2 -Aux 1 lesen 3 müssen 2 hat 1 Mod < V Aux 1 -Mod 2 -V 3 hat 1 müssen 2 lesen 3 Mod 2 -Aux 1 -V 3 müssen 2 hat 1 lesen 3 Mod 2 -V 3 -Aux 1 müssen 2 lesen 3 -hat 1 Tab. 1: Die sechs Permutationen eines Verbalkomplexes mit drei Elementen Die Akzeptabilität von Verbalkomplexen wie in Tabelle 1 haben wir in zahlreichen Experimenten mittels Magnitude Estimation oder mittels binärer Grammatikalitätsurteile untersucht. 3 Magnitude Estimation (ME) stammt ursprünglich aus der Psychophysik und wird dort verwendet, um den Zusammenhang zwischen physikalischen Größen und wahrgenommenen Größen zu untersuchen. Wenn beispielsweise ein Ton A die doppelte Intensität wie ein Ton B hat, kann gefragt werden, um wie viel lauter Ton A im Verhältnis zu Ton B wahrgenommen wird. Zur Beantwortung von Fragen dieser Art müssen die Versuchspersonen in einem ME- Experiment den Stimuli Zahlenwerte in Relation zu einem vorgegebenen Referenzstimulus zuweisen. Zuerst wird dem Referenzstimulus ein beliebiger Wert größer Null zugewiesen, beispielsweise der Wert 100. Anschließend werden die experimentellen Stimuli bewertet. Wenn, um bei unserem Beispiel zu bleiben, ein Ton als doppelt so laut wie der Referenzwert wahrgenommen wird, erhält er den Wert 200. Ein Ton, der dagegen nur als halb so laut wahrgenommen wird, erhält den Wert 50. Die ME-Methode wurde von Bard/ Robertson/ Sorace (1996) und Cowart (1997) in die Linguistik eingeführt. Genau wie oben für ein Experiment aus der Psychophysik beschrieben, wird zunächst einem Referenzsatz eine Zahl größer Null zugewiesen. Der Referenzsatz, den wir in den weiter unten berichteten ME-Experimenten verwendet haben, wird in (6) gezeigt. Bei diesem Satz han- 3 Wir verwenden im Folgenden den Terminus ‘Grammatikalitätsurteile’ statt des Begriffs ‘Akzeptabilitätsurteile’, wenn Probanden explizit die Instruktion erhalten haben, die Grammatikalität von Sätzen zu beurteilen. Es hat nie Schwierigkeiten bereitet, dieses Konzept den Probanden anhand von Beispielen klar zu machen (z.B. Peter haben verschlafen ist ein ungrammatischer, d.h. ‘inkorrekter’ Satz). Vielen unserer Probanden ist dieser Begriff auch eher vertraut, da moderne Textverarbeitungsprogramme typischerweise eine Grammatikprüfung anbieten, aber keine Akzeptabilitätsprüfung. <?page no="35"?> Experimentelle Syntax: Eine Fallstudie zur Verbalkomplexbildung im Deutschen 35 delt es sich um eine leicht abgewandelte Version des Referenzsatzes aus Experiment 2 von Keller (2000). 4 (6) Ich glaube, dass den Bericht der Chef in seinem Büro gelesen hat. Die Versuchsperson weist dem Referenzsatz einen beliebigen Wert zu und beurteilt anschließend alle weiteren Sätze durch Zuweisung eines Zahlenwertes, der die Akzeptabilität des Satzes in Relation zum Referenzsatz widerspiegelt. Die dabei gewonnenen Werte können nur relativ zum Referenzwert interpretiert werden. Hat ein experimenteller Satz den Wert 50 zugewiesen bekommen, so bedeutet dies „doppelt so akzeptabel wie der Referenzsatz“, wenn dem Referenzsatz eingangs der Wert 25 zugewiesen worden ist. Hat der Referenzsatz dagegen den Wert 100 erhalten, bedeutet ein Wert von 50 „halb so akzeptabel wie der Referenzsatz“. Es gibt verschiedene rechnerische Verfahren, um die Abhängigkeit der Rohdaten vom Referenzwert bei der Auswertung zu berücksichtigen. Die ME-Daten, die im Folgenden präsentiert werden, wurden aus den Rohdaten gewonnen, indem jeder Datenpunkt durch den Referenzwert geteilt wurde. Ein Satz, der als gleich akzeptabel wie der Referenzsatz empfunden wird, hat nach dieser Transformation den Wert 1. Um die anschließende statistische Analyse zu ermöglichen, wird von den dabei resultierenden Werten zusätzlich der Logarithmus genommen, so dass die Daten zumindest näherungsweise einer Normalverteilung entsprechen. In den unten präsentierten Daten bedeutet damit der Wert 0, dass ein Satz als gleichermaßen akzeptabel bewertet wurde wie der Referenzsatz (da 0 der Logarithmus von 1 ist). Sätze mit Akzeptabilitätswerten größer 0 wurden folglich als akzeptabler als der Referenzsatz bewertet, Sätze mit Werten kleiner 0 dagegen als weniger akzeptabel. Experimentelle Untersuchungen zur Akzeptabilität von Sätzen lassen sich auch mit Hilfe von binären Grammatikalitätsurteilen durchführen, wie sie aus der theoretischen Syntax hinlänglich bekannt sind. Binäre Grammatikalitätsurteile sind, wie bereits eingangs erwähnt wurde, ziemlich umstritten. Ein Teil dieser Kritik bezieht sich auf den Umstand, dass es sich typischerweise um die Urteile einer sehr kleinen Personengruppe handelt (häufig nur eine einzige Person), die eine sehr kleine Anzahl von Sätzen betreffen, welche die strukturellen Konfigurationen von Interesse aufweisen (ebenfalls häufig nur ein einziger Satz). Diese Kritikpunkte entfallen, wenn binäre Urteile wie andere experimentelle Daten unter kontrollierten Bedingungen erhoben werden. Dies bedeutet u.a., dass eine größere Anzahl von Sätzen von einer größeren Anzahl von Versuchspersonen beurteilt wird, so dass auch eine statistische Absicherung der Daten möglich ist. 4 Der Originalreferenzsatz von Keller (2000) lautet wie folgt: (i) Ich behaupte, dass den Bericht der Chef im Büro liest. <?page no="36"?> Markus Bader / Emilia Ellsiepen 36 Abb. 1: Akzeptabilität gemessen mittels Magnitude Estimation (links) und mittels binärer Grammatikalitätsurteile (rechts) für Verbalkomplexe mit drei Verben Repräsentative Daten für Verbalkomplexe mit drei Verben, die mit den beiden oben eingeführten Methoden gewonnen wurden, finden sich in Abbildung 1. Die linke Grafik zeigt Daten aus einem ME-Experiment, die rechte Grafik zeigt die Ergebnisse eines Experiments mit binären Grammtikalitätsurteilen. 5 Die beiden Grafiken zeigen das gleiche Muster. Die beste Bewertung erhalten Sätze, bei denen wie in (7a) der Verbalkomplex in der standarddeutschen Abfolge AuxVMod auftritt. (7) a. … dass Peter das Buch hat 1 lesen 3 müssen 2 . b. … dass Peter das Buch lesen 3 hat 1 müssen 2 . Die restlichen fünf Abfolgen, die im Standarddeutschen allesamt als ungrammatisch gelten, werden aber keineswegs im gleichen Ausmaß als ungrammatisch zurückgewiesen. Insbesondere werden Verbalkomplexe wie in Satz (7b), in denen das Auxiliar an zweiter Stelle steht und das lexikalische Verb dem Modalverb vorangeht, im ME-Experiment als akzeptabler als der Referenzsatz bewertet und im Experiment mit binären Grammatikalitätsurteilen in der überwiegenden Zahl der Fälle als grammatisch beurteilt. Alle anderen Abfolgen können dagegen als unakzeptabel betrachtet werden. Bevor wir experimentelle Resultate für Verbalkomplexe mit vier Verben präsentieren, wollen wir noch einmal auf die experimentellen Methoden zurückkommen. Die Erhebung von binären Grammatikalitätsurteilen unter kontrol- 5 Die binären Daten entsprechen Tabelle 2 von Bader/ Schmid (2009b). Die Magnitude-Estimation- Daten entsprechen Tabelle A3 aus Bader/ Häussler (2010). Die ME-Resultate beruhen auf 24 Versuchspersonen und 30 Sätzen. Die Resultate der binären Grammatikalitätsurteile beruhen auf 30 Versuchspersonen und ebenfalls 30 Sätzen. <?page no="37"?> Experimentelle Syntax: Eine Fallstudie zur Verbalkomplexbildung im Deutschen 37 lierten experimentellen Bedingungen entkräftet einen wesentlichen Einwand gegen solche Urteile. Es bleibt aber noch ein weiterer Kritikpunkt gegen binäre Grammatikalitätsurteile, der die Binarität der Urteile selbst betrifft. Im Gegensatz zu ME-Urteilen oder anderen numerischen Urteilen, z.B. auf einer Punkteskala von 1-7, hat eine Versuchsperson im Falle binärer Grammatikalitätsurteile nicht die Möglichkeit, graduelle Abstufungen vorzunehmen. Trotz dieser offensichtlichen Limitation zeigen die Grafiken ein überraschend hohes Maß an Übereinstimmung zwischen den ME-Resultaten und den Resultaten der binären Grammatikalitätsurteile. Dies liegt zum einen daran, dass die Resultate für Experimente mit binären Grammatikalitätsurteilen in Prozenten ausgedrückt werden und damit einen beliebigen Wert zwischen 0 und 100 annehmen können. So werden aus binären Urteilen durch Mittlung kontinuierliche Daten. Dies allein garantiert aber noch nicht, dass die derart gewonnenen Mittelwerte in so auffälliger Weise übereinstimmen mit den Mittelwerten, die mittels der ME-Prozedur gewonnen wurden. Diese Übereinstimmung - die auch für andere Konstruktionen gefunden wurde (z.B. Bader/ Häussler 2010; Fukuda et al. 2012) - deutet darauf hin, dass die Bewertung von Sätzen auf einer numerischen Skala und die Bewertung auf einer binären Skala nicht auf grundlegend unterschiedlichen mentalen Prozessen beruhen. Ein Modell, das die beiden Urteilstypen zueinander in Beziehung setzt, wird in Bader/ Häussler (2010) vorgeschlagen. Ein letzter Punkt, den es noch zu bedenken gilt, ist, dass durch die Mittlung über Versuchspersonen hinweg Ergebnismuster entstehen könnten, die nicht repräsentativ für individuelle Sprecher sind. Wenn für eine bestimmte Konstruktion beispielsweise ein Mittelwert von 60% gefunden wurde, so könnte dieser dadurch zustande gekommen sein, dass 60% der Versuchspersonen die Konstruktion zu 100% als grammatisch bewertet haben, während sie von den restlichen 40% in 0% der Fälle als grammatisch bewertet wurde. Ein solches Szenario könnte beispielsweise dann auftreten, wenn in der Gesamtheit der Versuchspersonen zwei unterschiedliche Dialekte im entsprechenden Mischungsverhältnis repräsentiert sind. Diese Möglichkeit muss bei jedem Experiment, das Akzeptabilitätsurteile erhebt, in Betracht gezogen werden. Eine Analyse der experimentellen Daten bezüglich dieser Fragestellung wird in Abbildung 2 illustriert. In dem zur Diskussion stehenden Experiment hat jede Versuchsperson 30 Sätze bewertet, die sich gleichmäßig auf die 6 verschiedenen Permutationen verteilt haben. Pro Permutation gab es damit 5 Urteile für jede Versuchsperson, was 6 verschiedenen Prozentwerten entspricht (0%, 20%, 40%, 60%, 80%, 100%). 6 6 Diese Werte kommen wie folgt zustande: 0% - keiner der fünf Sätze wurde als grammatisch bewertet; 20% - einer der fünf Sätze wurde als grammatisch bewertet; 40%, 60%, 80%, 100% - 2, 3, 4, 5 der fünf Sätze wurden als grammatisch bewertet. <?page no="38"?> Markus Bader / Emilia Ellsiepen 38 Die Histogramme in Abbildung 2 zeigen für jede Permutation des Verbalkomplexes, wie häufig jeder Prozentwert bei den insgesamt 30 Versuchspersonen aufgetreten ist. Für Verbalkomplexe vom Typ VAuxMod (Aux=2, V vor Mod) reicht die Verteilung von 0% bis 100%, wobei die Verteilung bei ca. 60% ihren höchsten Wert besitzt. Dies bedeutet, dass der Mittelwert von ca. 60% repräsentativ für die Gesamtheit der Population ist, wobei wie zu erwarten Schwankungen nach oben und unten auftreten. Abb. 2: Histogramm der Prozentwerte der 30 Versuchspersonen aus Experiment 1 von Bader/ Schmid (2009b) Eine genauere Analyse der Ergebnisse der einzelnen Versuchspersonen zeigt damit, dass das in Abbildung 1 gezeigte Akzeptabilitätsmuster für die Mehrheit der Versuchspersonen gilt und die gemittelten Ergebnisse keine Artefakte der Mittlung sind. Dass dem nicht immer so ist, zeigt die Untersuchung der Tun-Periphrase von Bader/ Schmid (2006). Sätze des Typs Peter tut das Buch bestimmt nicht lesen wurden von einem Teil der Versuchspersonen mehrheitlich abgelehnt, von einem anderen Teil dagegen mehrheitlich akzeptiert. Entsprechende Akzeptabilitätsdaten liegen auch für Verbalkomplexe mit vier Verben vor. Bei diesen Verbalkkomplexen handelt es sich um Modalverben im Perfekt, die ein passiviertes Vollverb einbetten, d.h. Verbalkomplexe wie hat 1 gelesen 4 werden 3 müssen 2 . Da die 24 unterschiedlichen Permutationen, die für vier Elemente möglich sind, den Rahmen eines Experimentes sprengen würden, wurden nur 8 Serialisierungen untersucht. Wie in Tabelle 2 zu sehen ist, folgt in allen Fällen das Passivauxiliar unmittelbar auf das Partizip des lexikalischen Verbs. Variiert werden lediglich die Position des Auxiliars (1, 2, 3 oder 4) sowie die Stellung des Modalverbs relativ zu dem Komplex aus Partizip und Passivauxiliar (V+Pass < Mod oder Mod < V+Pass). <?page no="39"?> Experimentelle Syntax: Eine Fallstudie zur Verbalkomplexbildung im Deutschen 39 V+Pass < Mod Mod < V+Pass Aux = 1 Aux 1 V 4 Pass 3 Mod 2 hat 1 gelesen 4 werden 3 müssen 2 Aux 1 Mod 2 V 4 Pass 3 hat 1 müssen 2 gelesen 4 werden 3 Aux = 2 V 4 Aux 1 Pass 3 Mod 2 gelesen 4 hat 1 werden 3 müssen 2 Mod 2 Aux 1 V 4 Pass 3 müssen 2 hat 1 gelesen 4 werden 3 Aux = 3 V 4 Pass 3 Aux 1 Mod 2 gelesen 4 werden 3 hat 1 müssen 2 Mod 2 V 4 Aux 1 Pass 3 müssen 2 gelesen 4 hat 1 werden 3 Aux = 4 V 4 Pass 3 Mod 2 Aux 1 gelesen 4 werden 3 müssen 2 hat 1 Mod 2 V 4 Pass 3 Aux 1 müssen 2 gelesen 4 werden 3 hat 1 Tab. 2: Die acht experimentell untersuchten Permutationen eines Verbalkomplexes mit 4 Verben Abb. 3: Akzeptabilität gemessen mittels Magnitude Estimation (links) und mittels binärer Grammatikalitätsurteile (rechts) für Verbalkomplexe mit vier Verben Die Ergebnisse aus zwei Akzeptabilitätsexperimenten werden in Abbildung 3 gezeigt. 7 Wiederum zeigt sich ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen den ME-Daten und den Daten, die mittels binärer Grammatikalitätsurteile gewonnen wurden. Wie bei Verbalkomplexen mit drei Verben erhält auch bei Verbalkomplexen mit vier Verben die standarddeutsche Abfolge (hat 1 gelesen 4 werden 3 müssen 2 ) die beste Bewertung. Auch die beiden anderen Abfolgen, in denen das Modalverb dem Komplex aus Partizip und Passivauxiliar folgt und das finite Perfektauxiliar dem Modalverb vorangeht, d.h. an zweiter oder dritter Position steht (gelesen 4 hat 1 werden 3 müssen 2 und gelesen 4 werden 3 hat 1 müssen 2 ), 7 Die binären Daten entsprechen Tabelle 10 von Bader/ Schmid (2009b). Bei den Magnitude Estimation-Daten handelt es sich um unveröffentlichte Daten. Die ME-Resultate beruhen auf 40 Versuchspersonen und 32 Sätzen. Die Resultate der binären Grammatikalitätsurteile beruhen auf 32 Versuchspersonen und ebenfalls 32 Sätzen. <?page no="40"?> Markus Bader / Emilia Ellsiepen 40 schneiden ziemlich gut ab. Im Experiment mit binären Grammatikalitätsurteilen erreichen diese beiden Abfolgen Akzeptabilitätswerte von über 80%. Die restlichen fünf Abfolgen schneiden dagegen relativ schlecht ab und werden bei binärer Beurteilung meist als ungrammatisch zurückgewiesen. Von diesen fünf Abfolgen erhielt die Abfolge mit initialem Auxiliar und dem Modalverb in zweiter Position (Aux 1 Mod 2 V 4 Pass 3 - hat 1 müssen 2 gelesen 4 werden 3 ) mit ca. 40% Akzeptanz noch die beste Bewertung. Diese Abfolge wird in Bech (1983), dem Standardwerk zur Verbalkomplexbildung im Deutschen, als grammatisch betrachtet. In seiner Untersuchung des Schlesischen führt Dubenion-Smith (2011, S. 316) zwei Belege für Vierverbkomplexe an, von denen einer genau diese Verbabfolge besitzt (bis Korn wieder hat 1 müssen 2 gesät 4 werden 3 ). Im heutigen Deutsch scheint diese Abfolge dagegen nicht mehr akzeptiert zu werden. Die bisher diskutierten Ergebnisse sind in (8) zusammengefasst. Standarddeutsch meint dabei das Deutsch, wie es in präskriptiven Grammatiken des Deutschen kodifiziert ist. Umgangsdeutsch dagegen ist das Deutsch, wie es von unseren Probanden, bei denen es sich generell nicht um Dialektsprecher handelt, tatsächlich akzeptiert und verwendet wird. 8 (8) Position des Perfektauxiliars in Verbalkomplexen vom Typ „Modalverb im Perfekt“ a). Standarddeutsch und Umgangsdeutsch: Alle Verben außer dem Auxiliar stehen in absteigender Reihenfolge b) Standarddeutsch: Das Auxiliar steht an erster Position c) Umgangsdeutsch: Das Auxiliar steht vor dem Modalverb Die Generalisierung in (8) wurde von Bader/ Schmid (2009b) auf der Basis von Verbalkomplexen mit drei und vier Verben aufgestellt. Wenn diese Generalisierung stimmt, dann sollten für Verbalkomplexe mit fünf Verben sogar vier Auxiliarposition als akzeptabel bewertet werden. Diese Vorhersage wurde von Bader/ Schmid/ Häussler (2009) anhand von Verbalkomplexen wie in (9) überprüft. Das Perfektauxiliar sollte in initialer Position (in (9) gezeigt) sowie in den durch + markierten Positionen akzeptiert werden, während die finale Position zur Ungrammatikalität führen sollte. 8 Umgangsprachliches Deutsch ist selbst eine Vereinfachung, da beispielsweise die Existenz von Regiolekten nicht berücksichtigt wird. Dass diese im Bezug auf den Verbalkomplex zu berücksichtigen sind, legt die Analyse des regionalen Hintergrundes der Versuchspersonen von Bader/ Schmid (2009b) nahe. Es zeigte sich zwar das gleiche Muster unabhängig vom regionalen Hintergrund der Versuchspersonen, die numerischen Abstufungen weisen aber auf regionale Einflüsse hin. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Anzahl von Versuchspersonen pro Regiolekt konnte dies statistisch nicht überprüft werden, so dass hier weitere Forschungen notwendig sind. <?page no="41"?> Experimentelle Syntax: Eine Fallstudie zur Verbalkomplexbildung im Deutschen 41 (9) … dass das Fahrrad hätte 1 repariert + worden + sein + müssen. Die sechs Live-Musiker saßen bzw. standen vor einem Werbeplakat, welches in New York hätte fotografiert worden sein können. Quelle: www.musicalfotojournalismus.com/ ? cat=4&m=2014 Daran war größtenteils meine Angst schuld, dass diese Serie, die ich so sehr liebe, zu sehr verhunzt hätte worden sein können. Quelle: www.digitalnippon.de/ anime-manga-japan/ focus-asia/ asian-movies-tv/ rurouni-kenshin_t18669/ drucken/ Den Anfang bestritt mit Werner Dannemann ein phantastischer Gitarrist, der, wüsste man nicht, dass er ein Schwabe durch und durch ist, auch direkt aus einem englischen Club der späten 60er- und frühen 70er-Jahre für diesen Abend entliehen worden hätte sein können. Quelle: www.swp.de/ heidenheim/ lokales/ heidenheim/ Guitar-Festival-Die-hohe- Schule-des-Blues-Rock; art1168893,2321196 Noch härter ist ohne Zweifel „Neverlight“, das auch von großen Metal-Ikonen geschrieben worden sein hätte können. Quelle: www.mindbreed.de/ rezensionen/ tarja-colours-in-the-dark/ Prozentsatz als grammatisch bewerteter Sätze Aux = 1 Aux = 2 Aux = 3 Aux = 4 Aux = 5 79 73 79 63 8 Tab. 3: Korpusbeispiele und Akzeptabilitätsdaten für Verbalkomplexes mit fünf Verben Verbalkomplexe dieser Art sind extrem selten, kommen aber tatsächlich vor. Durch Suche mit Google konnten wir eine Reihe von Belegen finden. Je ein Beispiel für die Auxiliarpositionen 1-4 wird in Tabelle 3 gezeigt. Einen Beleg mit dem Auxiliar in finaler Position haben wir nicht gefunden, was natürlich nicht ausschließt, dass es solche Belege gibt. Zusätzlich zeigt Tabelle 3 die experimentellen Ergebnisse von Bader/ Schmid/ Häussler (2009). 9 Die Ergebnisse zeigen einen drastischen Unterschied zwischen den Verbalkomplexen mit dem Auxiliar vor dem Modalverb und dem Auxiliarkomplex mit dem Auxiliar in finaler Position: Während erstere häufiger akzeptiert als zurückgewiesen werden, werden letztere fast immer als ungrammatisch bewertet. Trotz der relativ hohen Komplexität von Verbalkomplexen dieser Art hatten die Versuchspersonen also eine ziemlich klare Intuition darüber, was erlaubt ist und was nicht. 9 Die Daten in Tabelle 3 stimmen nicht genau mit den Daten von Bader/ Schmid/ Häussler (2009) überein, da nach Fertigstellung dieses Manuskripts weitere Versuchspersonen getestet wurden. <?page no="42"?> Markus Bader / Emilia Ellsiepen 42 3. Vom Experiment zur Theorie und zurück Um die Verzahnung von Experiment und Theorie zu illustrieren, geben wir in diesem Abschnitt einen kurzen Überblick über die von Bader/ Schmid (2009b) vorgeschlagene syntaktische Analyse der Verbalkomplexe im Deutschen, wobei wir uns auf Verbalkomplexe mit Modalverben im Perfekt beschränken. Die Analyse von Bader/ Schmid (2009b) beruht auf der Theorie von Williams (2003), die wiederum zur Familie der kategorialgrammatischen Analysen der Syntax von Verbalkomplexen gehört (siehe Bader/ Schmid 2009b für weitere Referenzen). Williams (2003) definiert die formale Sprache CAT, die den Aufbau syntaktischer Strukturen mittels der Kombinationsregel in (10) erlaubt. (10) Rule of Combination X_ Y + Y_ Z → [X + Y] X _ Z Diese Regel ist wie folgt zu lesen. ‘X_ Y ’ ist eine syntaktische Einheit der Kategorie X, die eine syntaktische Einheit der Kategorie Y subkategorisiert. ‘Y_ Z ’ ist entsprechend eine syntaktische Einheit der Kategorie Y, die eine syntaktische Einheit der Kategorie Z subkategorisiert. Wenn ‘X_ Y ’ und ‘Y_ Z ’ mittels der Rule of Combination kombiniert werden, entsteht eine neue Einheit, die die syntaktische Kategorie X besitzt und Z subkategorisiert. In anderen Worten: Die komplexe Kategorie ‘X_ Z ’ ist vom gleichen Typ wie der Kopf ‘X_ Y ’ und besitzt die gleichen Subkategorisierungseigenschaften wie das Komplement ‘Y_ Z ’. In kategorialgrammatischen Begriffen ausgedrückt erlaubt die Rule of Combination sowohl funktionale Applikation (wenn das Subkategorisierungsmerkmal Z von Y in (10) leer ist) als auch funktionale Komposition (wenn Z nicht leer ist). Dies wird in (11) illustriert. (11) a. Funktionale Applikation b. Funktionale Komposition (11) a. Funktionale Applikation b. Funktionale Komposition X X_ Z X_ Y Y X_ Y Y_ Z Die Grammatik einer Einzelsprache wird in CAT durch Festlegung von Subkategorisierungsrahmen für die lexikalischen Elemente der Sprache spezifiziert. Spezifiziert werden können u.a. die Richtung der Selektion (nach links oder nach rechts, im Folgenden mit ← bzw. → symbolisiert) sowie die syntaktische Kategorie des Komplements. Zur Illustration werden in (12) einige Lexikoneinträge für Verben des Deutschen gezeigt. <?page no="43"?> Experimentelle Syntax: Eine Fallstudie zur Verbalkomplexbildung im Deutschen 43 (12) Auswahl lexikalischer Einträge für Verben im Deutschen a. Lexikal. Verben — V Main : DP← | V Main : PP← | V Main : DP PP← | … b. Modal- und Auxiliarverben — V Mod|Aux : V← Um Verbalkomplexe mit Modalverben im Perfekt analysieren zu können, ist noch ein weiteres Subkategorisierungsmerkmal notwendig. Die Modalverben im Deutschen können nicht nur mit Verben kombiniert werden, sondern auch direkt mit nicht-verbalen Komplementen, teilweise mit NPs (ein Bonbon wollen) oder genereller mit PPs. Wie in (13a) gezeigt wird, verhalten sich Modalverben ohne verbales Komplement im Standarddeutschen so wie alle Verben auch, was die Bildung des Perfekts betrifft. Nur zusammen mit einem verbalen Komplement wie in (13b) erfolgt die Voranstellung des Perfektauxiliars. (13) a. … das Peter nach Paris (gewollt hat|*hat wollen). b. … das Peter nach Paris (*fahren gewollt hat|hat fahren wollen). Aus diesem Grund hat Williams (2003) ein Komplexitätsmerkmal eingeführt, das in (14) definiert wird (unter einer anderen Bezeichnung als bei Williams, der von „stem“ bzw. „non-stem“ spricht). (14) Komplexitätsmerkmal für Verbalkomplexe a. Verbalkomplex: [VV] b. Einfaches Verb: [V] Mit Hilfe des Komplexitätsmerkmals können wir jetzt die Subkategorisierungsrahmen für das Perfektauxiliar festlegen, wenn dieses ein Modalverb subkategorisiert. In Abhängigkeit von der Spezifikation des Komplexitätsmerkmals erhalten wir die drei Systeme in (15). (15) System 1: →-V Mod-[VV] System 2: →-V Mod-[V] System 3: →-V Mod AUX V MOD √ - √ V AUX MOD - √ √ In System 1 selegiert das Perfektauxiliar komplexe Modalverben nach rechts. Dieses System entspricht dem Standarddeutschen, wo sich Modalverben ohne verbales Komplement wie alle anderen Verben verhalten (gewollt hat), während Modalverben mit verbalem Komplement Voranstellung des Perfektauxiliars erfordern (hat lesen wollen). System 2 fordert die Voranstellung des Perfektauxiliars vor ein nicht-komplexes Modalverb. Dies entspricht dem von Louden (1990) beschriebenen Pennsylvenia-Deutsch, das nur Verbalkomplexe vom Typ <?page no="44"?> Markus Bader / Emilia Ellsiepen 44 lesen hat wollen zulässt. 10 System 3 schließlich ist unterspezifiziert bezüglich des Komplexitätsmerkmals. Dieses System entspricht dem Umgangsdeutschen, das Verbalkomplexe vom Typ hat lesen wollen ebenso zulässt wie Verbalkomplexe vom Typ lesen hat wollen. Für Verbalkomplexe des Typs AuxVMod und VAuxMod werden in (16) die syntaktischen Strukturen gezeigt, die gemäß der in diesem Abschnitt referierten Analyse erzeugt werden. (16) 1 a. a. V Aux : DP← b. V Aux : DP← V Aux : →V mod-[VV] V Mod : DP← V Main : DP← V Aux : V← hat V Main : DP← V Mod : V← lesen V Aux : →V Mod-[V] V Mod : V← lesen wollen hat wollen Die hier vorgestellte syntaktische Analyse wurde auf der Grundlage experimenteller Ergebnisse entwickelt. Sie macht aber auch Vorhersagen, die experimentell überprüft werden können. Eine Vorhersage betrifft das Verhältnis von Verbalkomplexen, in denen ein Modalverb ein lexikalisches Verb selegiert, und solchen, wo es dies nicht tut. Wie oben anhand von Beispiel (13) erläutert, ist im Standarddeutschen Auxiliarinversion im Falle eines Modalverbs ohne verbalem Komplement nicht erlaubt. Dies wird in der syntaktischen Analyse durch das Komplexitätsmerkmal VV im Subkategorisierungsrahmen sichergestellt. Da dieses Merkmal im Umgangsdeutschen nicht vorhanden ist, ist es hier möglich, ein vorangestelltes Perfektauxiliar mit einem Modalverb zu kombinieren, auch wenn das Modalverb kein lexikalisches Verb selegiert. Wir erhalten damit die Vorhersage, dass unabhängig von der Größe des Verbalkomplexes im Standarddeutschen niemals die Sequenz AuxMod zulässig ist, im Umgangsdeutschen dagegen immer. Diese Vorhersage haben Bader/ Schmid (2009a) getestet, indem sie Versuchspersonen sowohl Verbalkomplexe vom Typ VAuxMod als auch Verbalkomplexe vom Typ AuxMod beurteilen ließen. Dabei zeigte sich eine signifikante Korrelation. Versuchspersonen, die VAuxMod-Komplexe als akzeptabel beurteilt haben, haben auch AuxMod- Komplexe akzeptiert, während Versuchspersonen, die VAuxMod-Komplexe 10 Die partiell invertierte Verbabfolge VAuxMod ist laut Louden (1990) die einzig grammatisch zulässige Abfolge. Dies unterscheidet das Pennsylvenia-Deutsch von anderen Varienten des Deutschen, in denen diese Abfolge zwar präferiert wird, aber zusätzlich andere Abfolgen als grammatisch gelten, wie das Bairische (siehe Weiß 1998) und bestimmte Varietäten des Österreichischen (siehe Wurmbrand 2004b). <?page no="45"?> Experimentelle Syntax: Eine Fallstudie zur Verbalkomplexbildung im Deutschen 45 als eher wenig akzeptabel beurteilt haben, dazu tendierten, AuxMod-Komplexe als ungrammatisch zurückzuweisen. Auf der Ebene individueller Akzeptabilitätsdaten zeigt sich damit der vorhergesagte Zusammenhang zwischen VAuxMod und AuxMod. Wie andere kategorialgrammatische Analysen des Verbalkomplexes ist die hier vorgestellte Analyse sehr flexibel. Angesichts der bekanntermaßen hohen Variation, die die westgermanischen Sprachen in diesem Bereich der Syntax zeigen, kann dies durchaus als ein Vorteil gesehen werden. Es kann aber auch nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass der kategorialgrammatische Ansatz zu flexibel ist, indem er Abfolgen zu erzeugen erlaubt, die aus grundsätzlichen Gründen ausgeschlossen sind. Beispielsweise können alle Abfolgen eines Verbalkomplexes mit drei Verben erzeugt werden, aber es ist behauptet worden, dass die Abfolge V2-V1-V3 (müssen hat lesen) in keiner der westgermanischen Sprachen zu finden sei (z.B. Barbiers 2005). Dieser Behauptung widersprechen Daten, die Schmid/ Vogel (2004) sowie Salzmann (2013) anführen. Sollten diese Daten einer genaueren Prüfung standhalten, würde dies bedeuten, dass alle sechs möglichen Abfolgen eines Verbalkomplexes mit drei Verben belegt wären (für weitere Diskussion siehe Abels 2016; Salzmann 2016; Wurmbrand 2017). Eine weitere Eigenschaft von Verbalkomplexen, hinsichtlich derer der kategorialgrammatische Ansatz zu flexibel sein könnte, betrifft das Auftreten nichtverbalen Materials im Verbalkomplex, das sog. Verb Projection Raising (VPR). In Verbalkomplexen vom Typ AuxVMod darf im Deutschen bekanntlich nicht-verbales Material zwischen Auxiliar und lexikalischem Verb stehen, wenn dieses Material in einer besonders engen Beziehung zum lexikalischen Verb steht. Dies wird in (17) illustriert. (17) … dass Peter ohne den Lottogewinn niemals hätte 1 nach Paris fahren 3 können 2 . Im Standard-Niederländischen existiert diese Möglichkeit nicht. In Haider (2003) wird deshalb für das Deutsche eine grundlegend andere syntaktische Struktur des Verbalkomplexes vorgeschlagen als für das Niederländische, so dass der Unterschied zwischen den beiden Sprachen bezüglich VPR aus prinzipiellen Gründen folgt. Mittels lexikalischer Spezifikation der phrasalen Ebene im Sinne der X-bar-Theorie kann der oben vorgestellte Ansatz den Unterschied ebenfalls erfassen. Im Deutschen können Modalverben sowohl mit einem bloßen Verb als auch mit einer verbalen Projektion kombiniert werden (unspezifiziertes Ebenenmerkmal), im Niederländischen dagegen nur mit einem bloßen Verb (Ebenenmerkmal V°). Im Gegensatz zu Haiders Analyse ist dies aber kein prinzipieller syntaktischer Unterschied, sondern einer, der lexikalisch stipuliert werden muss. Die Frage ist dann, wie grundlegend der Unterschied <?page no="46"?> Markus Bader / Emilia Ellsiepen 46 zwischen Deutsch und Niederländisch bezüglich VPR ist. Im Gegensatz zum Standard-Niederländischen sind bestimmte niederländische Dialekte deutlich toleranter, was nicht-verbales Material im Verbalkomplex betrifft (siehe Hendriks 2014 und die dort zitierte Literatur). Dies kann als Indiz gewertet werden, dass die Eigenschaft, nicht-verbales Material im Verbalkomplex zuzulassen, als kontinuierliche Eigenschaft verstanden werden kann, mit schweizerdeutschen Dialekten als besonders freizügigen Systemen auf der einen Seite, Standarddeutsch ungefähr in der Mitte, und Standard-Niederländisch mit besonders restriktiven Regeln auf der anderen Seite. In diesem Falle würde die Motivation für prinzipiell unterschiedliche Grammatiksysteme wegfallen. Eine restriktivere syntaktische Analyse von Verbalkomplexen, die wie die hier vorgestellte Analyse auf der kategorialgrammatischen Sprache CAT von Williams (2003) basiert, wird in Wurmbrand (2004a) vorgeschlagen. Für die Basisgenerierung lässt Wurmbrand (ebd.) nur funktionale Applikation zu, so dass die hierarchische Struktur eines Verbalkomplexes die zugrundeliegenden Selektionsbeziehungen direkt widerspiegelt. Die lineare Abfolge ist dagegen variabel. Unter diesen Annahmen lassen sich die vier in (18) gezeigten Abfolgen erzeugen. (18) a. [1 [2 3]] b. [1 [3 2]] c. [[2 3] 1] d. [[3 2] 1] Nicht erzeugen lassen sich die beiden Abfolgen, in denen das bezüglich der Selektion höchste Element 1 zwischen den beiden tieferen Elementen 2 und 3 steht. Hierbei handelt es sich zum einen um die Abfolge V2-V1-V3 (müssen hat lesen), deren Existenz, wie oben erwähnt wurde, umstritten ist. Zum anderen kann aber auch die weitverbreitete Abfolge V3-V1-V2 (lesen hat müssen) nicht erzeugt werden. Hier kommt nun eine weitere Annahme ins Spiel, die besagt, dass die Abfolgevariation, die durch CAT erzeugt wird, keine semantischpragmatischen Konsequenzen hat und deshalb als Teil der PF-Komponente der Grammatik zu betrachten sei. Eine zusätzliche Quelle der Variation ist syntaktische Bewegung, die Konsequenzen für die Interpretation hat. Mittels Bewegung kann die Abfolge V3-V1-V2, wie in (19) gezeigt, erzeugt werden. (19) 3 i 1 2 t i Der interpretative Effekt, den die Bewegung des lexikalischen Verbs an den Anfang des Verbalkomplexes auslöst, besteht laut Wurmbrand (2004a) darin, dass V3 in der Abfolge V3-V1-V2 eng fokussiert sein muss. In Abschnitt 5 <?page no="47"?> Experimentelle Syntax: Eine Fallstudie zur Verbalkomplexbildung im Deutschen 47 werden wir zwei Experimente diskutieren, die diesen Vorschlag überprüft haben. Zuvor werden wir in Abschnitt 4 einen kurzen Blick auf das Verhältnis von Akzeptabilität und Korpusfrequenz werfen. 11 4. Zum Verhältnis von Korpusdaten und Akzeptabilitätsurteilen Abbildung 4 zeigt unveröffentlichte Korpusdaten für Verbalkomplexe mit drei und vier Verben, wie sie oben experimentell untersucht wurden. Diese Daten beruhen auf einer Analyse des deWac-Korpus, einer großen Sammlung von Internettexten (Baroni et al. 2009). Die Korpusdaten zeigen ein anderes Bild als die experimentellen Daten in Abschnitt 2. Die akzeptabelste Verbabfolge, d.h. die standardsprachliche Abfolge, tritt mit weitem Abstand am häufigsten auf. Die nur geringfügig weniger akzeptable Abfolge mit dem Auxiliar an zweiter Position ((20a) und (20b)) tritt ebenfalls auf, aber nur mit einem sehr geringen Anteil. Im Falle von Verbalkomplexen mit vier Verben tritt darüber hinaus gelegentlich auch die Abfolge (20c) mit dem Auxiliar in dritter Position auf. Alle anderen Abfolgen wurden gar nicht oder mit verschwindend geringer Frequenz gefunden. Abb. 4: Korpusdaten für Verbalkomplexe mit drei Verben (n = 20213) (links) und für Verbalkomplexe mit vier Verben (n = 3195) (rechts) 11 Die Sprache CAT spielt in dieser Analyse nur insofern eine Rolle, als sie eine flexible Linearisierung erlaubt. Wird genereller von flexibler Linearisierung ausgegangen, wird der Bezug auf CAT überflüssig. In neueren Arbeiten wie Abels (2016) und Wurmbrand (ersch. demn.) wird dann diese Art von Analyse auch ohne Bezug auf CAT und ohne informationstrukturellen Trigger für Bewegung weitergeführt. <?page no="48"?> Markus Bader / Emilia Ellsiepen 48 (20) a. … dass Peter das Buch lesen 3 hat 1 müssen 2 . b. … dass das Buch anscheinend von Peter gelesen 4 hat 1 werden 3 müssen 2 . c. … dass das Buch anscheinend von Peter gelesen 4 werden 3 hat 1 müssen 2 . Angesichts der recht geringen Korpusfrequenzen für alle Abfolgen außer der standarddeutschen Abfolge könnte man vermuten, dass es sich bei den nichtstandarddeutschen Belegen um Fehler, beispielsweise Verschreiber, handelt. Gerade da das analysierte Korpus ein Korpus von Internettexten ist, die in nicht unerheblicher Zahl ohne redaktionelle Bearbeitung veröffentlicht worden sein dürften, ist mit Fehlern zu rechnen. Ein Vergleich mit den experimentellen Daten spricht aber dafür, dass wir es mit regulär produzierten Belegen zu tun haben. Das Muster, das sich zeigt und das auch für andere Konstruktionen gefunden wurde (Featherston 2005; Kempen/ Harbusch 2008), lässt sich wie folgt zusammenfassen: (i) Ein geringfügiger Akzeptabiltätsunterschied zwischen zwei absolut gesehen akzeptablen Strukturen führt zu einem starken Frequenzunterschied. (ii) Strukturen, die in unterschiedlichem Ausmaß als unakzeptabel bewertet werden, tendieren dazu, überhaupt nicht produziert zu werden. Die Diskrepanz zwischen Akzeptabilitätsbewertungen und Frequenzdaten schließt nicht aus, dass es eine gesetzmäßige Beziehung zwischen Akzeptabilität und Frequenz gibt. Was ausgeschlossen wird, ist lediglich, dass es sich dabei um eine lineare Beziehung handelt. Theorien, die mit gewichteten Beschränkungen arbeiten (z.B. Featherston 2005; Pater 2009), können das beobachtete Muster erklären, wenn sie annehmen, dass Produktionsfrequenzen auf einem Wettbewerb zwischen alternativen Kandidaten beruhen, Akzeptabilitätsurteile dagegen nicht. Die Akzeptabilität eines Kandidaten - wobei ein Kandidat in unserem Falle eine bestimmte Serialisierung eines Verbalkomplexes ist - wird ausschließlich dadurch bestimmt, welche syntaktischen Beschränkungen ein Kandidat erfüllt oder verletzt. Bei der Sprachproduktion dagegen wird aus der Menge aller Kandidaten derjenige mit der besten Bewertung ausgewählt. Wenn diese Auswahl nicht völlig deterministisch ist, sondern ein gewisses Maß an zufälligem Rauschen einschließt, wird der beste Kandidat meistens, aber nicht immer, gewinnen - zumindest dann, wenn konkurrierende Kandidaten vorhanden sind, die nur geringfügig weniger akzeptabel sind als der beste Kandidat. Aus Platzgründen müssen wir darauf verzichten, anhand von konkreten Simulationen zu überprüfen, inwieweit gewichtete Beschränkungen sowohl die Akzeptabilitätsdaten als auch die Korpusdaten modellieren können, wenn wir von einem Wettbewerb bei der Produktion, aber nicht beim Bewerten von Sätzen ausgehen. Zum Abschluss dieses Abschnitts über das Verhältnis von <?page no="49"?> Experimentelle Syntax: Eine Fallstudie zur Verbalkomplexbildung im Deutschen 49 Akzeptabilität und Korpusfrequenz wollen wir deshalb lediglich noch kurz die Frage aufwerfen, was zuerst kommt, Akzeptabilität oder Korpusfrequenz. Geht man beispielsweise von gewichteten Beschränkungen aus, lässt sich die Frage umformulieren zu: Reflektieren die Gewichte primär die Akzeptabilität und die beobachtbaren Korpusfrequenzen sind eine sekundäre Konsequenz der Gewichte, oder ist es umgekehrt, und die Gewichte werden aus Korpusfrequenzen gelernt und bestimmen dann anschließend die Akzeptabilität der jeweiligen Abfolgen? Empirische Untersuchungen anderer Phänomene (z.B. Arppe/ Järvikivi 2007) deuten darauf hin, dass es nicht möglich ist, Akzeptabilität generell aus Korpusfrequenzen oder Korpusfrequenzen generell aus Akzeptabilität abzuleiten. Inwieweit das eine oder das andere im Falle der Verbalkomplexbildung möglich ist, muss als eine offene Frage betrachtet werden. 5. Experimentelle Untersuchungen der Sprachproduktion Die bislang diskutierten Experimente haben alle die Akzeptabilität von Sätzen untersucht. Wie wir in diesem Abschnitt zeigen wollen, können auch Experimente zur Sprachproduktion zu einem besseren Verständnis syntaktischer Phänomene beitragen. Die konkrete Frage, um die es dabei gehen soll, betrifft den Einfluss prosodischer Faktoren auf die Serialisierung der Verben im Verbalkomplex. In Abschnitt 3 haben wir den Vorschlag von Wurmbrand (2004a) diskutiert, dass Verbalkomplexe vom Typ VAuxMod nur dann grammatisch sind, wenn V eng fokussiert ist. Evidenz für den Einfluss prosodischer Faktoren im Allgemeinen und diesen Vorschlag im Speziellen findet sich in Untersuchungen zur Sprachgeschichte (z.B Ebert 1981; Sapp 2011) sowie in Untersuchungen zur Syntax verschiedener deutscher Dialekte (z.B. Schmid/ Vogel 2004; Dubenion- Smith 2011). Der größte Teil der vorliegenden Evidenz betrifft dabei Verbalkomplexe aus zwei Verben, die in früheren Stufen des Deutschen sowie in verschiedenen Dialekten weitaus variabler hinsichtlich der Abfolge der Verben waren als dies im heutigen Deutsch der Fall ist. Im Falle des Perfekts war damit beispielsweise sowohl die Abfolge VAux als auch die Abfolge AuxV möglich, wie in Beispiel (21) illustriert (aus Gründen der Einfachheit in standardsprachlicher Form). (21) a. … dass Peter einen ONKEL hat 1 besucht 2 | besucht 2 hat 1 . b. … dass Peter den Onkel hat 1 BESUCHT 2 | BESUCHT 2 hat 1 . In mehreren Korpusstudien wurde gefunden, dass die Abfolge AuxV eher verwendet wird, wenn dem Verbalkomplex ein indefinites Objekt vorangeht, als wenn ihm ein definites Objekt vorangeht (Dubenion-Smith 2011; Ebert 1981; Sapp 2011). Da, wie ebenfalls in (21) illustriert, der Hauptakzent im Falle eines <?page no="50"?> Markus Bader / Emilia Ellsiepen 50 indefiniten Objekts typischerweise auf das Nomen des Objekts fällt, im Falle eines definiten Objekts dagegen auf das folgende lexikalische Verb, wird dieser Befund von den zitierten Autoren als Evidenz für eine rhythmische Präferenz interpretiert, die bereits von Behagel postuliert worden ist. Effekte dieser Art wurden aber nicht konsistent gefunden, insbesondere nicht für Verbalkomplexe mit drei Verben. Da dies vermutlich an der zu schmalen Datenbasis für Verbalkomplexe mit mehr als zwei Verben liegt, bietet es sich an, dies experimentell zu untersuchen, da dadurch Daten in ausreichendem Maße erzeugt werden können. Wir haben folglich zwei Experimente durchgeführt, in denen der Einfluss der Informationsstruktur durch die unterschiedliche Position einer Fokuspartikel manipuliert wurde. 12 Die Fokuspartikel konnte entweder direkt vor dem Objekt stehen, wie in (22a), oder direkt vor dem Verbalkomplex, wie in (22b). (22) a. … dass Peter sogar das BUCH hat 1 lesen 3 müssen 2 | lesen 3 hat 1 müssen 2 . b. … dass Peter das Buch sogar hat 1 LESEN 3 müssen 2 | LESEN 3 hat 1 müssen 2 . Sätze von der Struktur in (22) wurden digital aufgenommen, wobei der Hauptakzent in (22a) auf dem Nomen und in (22b) auf dem lexikalischen Verb lag. In (22a) haben wir es folglich mit Objektfokus, in (22b) mit Verbfokus zu tun. Die aufgenommenen Sätze wurden in zwei Experimenten mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen Probanden vorgespielt. In einem ersten Experiment mussten die Probanden die gehörten Sätze unmittelbar nach Satzende als grammatisch oder ungrammatisch klassifizieren. Dieses Experiment ist damit identisch zu den oben besprochenen Experimenten, außer dass die Satzpräsentation auditiv erfolgte. Die Ergebnisse, die in Abbildung 5 zu sehen sind, zeigen den erwarteten Effekt der Auxiliarposition. Wenn das Auxiliar am Anfang des Verbalkomplexes stand, wurden die Sätze zu ca. 90% als grammatisch bewertet; stand es dagegen an zweiter Position, war die Akzeptanzrate mit ca. 80% etwas niedriger, aber immer noch ausgesprochen hoch. 13 Im Gegensatz zur Position des Auxiliars hatte die Position der Fokuspartikel - und damit die Position des 12 Den Einfluss von Rhythmus auf die Stellung des Auxiliars in Verbalkomplexen wurde von Vogel et al. (2015) untersucht, wobei ähnlich wie hier ein Akzeptabilitätsexperiment mit einem Produktionsexperiment kombiniert wurde. 13 In diesem Experiment gab es keine Verbalkomplexe mit finalem Auxiliar, diese waren aber in einem weiteren Experiment mit auditiver Präsentation enthalten. Solche Verbalkomplexe wurden nur zu etwas mehr als 20% als grammatisch bewertet. Auch bei auditiver Satzpräsentation zeigt sich damit ein scharfer Unterschied zwischen grammatischen und ungrammatischen Verbalkomplexen. <?page no="51"?> Experimentelle Syntax: Eine Fallstudie zur Verbalkomplexbildung im Deutschen 51 Hauptakzentes - keinen Effekt auf die Akzeptabilität der Sätze. Dieser Befund repliziert einen früheren Befund von Bader/ Schmid (2009b), allerdings mit auditiver statt mit visueller Satzpräsentation. Die Interpretation der Ergebnisse von Bader/ Schmid (ebd.) beruhte auf zwei Hypothesen, deren Korrektheit nicht als a priori gegeben betrachtet werden kann. Die erste Hypothese besagt, dass beim stillen Lesen eine prosodische Struktur berechnet wird, die der prosodischen Struktur beim Sprechen entspricht (vgl. Fodor 2002). Die zweite Hypothese besagt, dass beim Lesen der Hauptakzent auf das Nomen bzw. auf das lexikalische Verb gelegt wird. Dies ist nicht zwingend so, da beispielsweise auch der Artikel anstatt des Nomens oder das Modalverb anstatt des lexikalischen Verbs betont werden kann. Die Tatsache, dass das Experiment mit auditiver Stimuluspräsentation sehr ähnliche Ergebnisse erzielt hat wie das Experiment mit visueller Stimuluspräsentation, liefert starke Evidenz für die Korrektheit dieser beiden Hypothesen. Abb. 5: Akzeptabilitätsergebnisse für Sätze mit Fokuspartikel (unveröffentlichte Daten) In einem zweiten Experiment, das dieselben Sprachaufnahmen wie das soeben beschriebene Akzeptabilitätsexperiment verwendet hat, wurde der Einfluss von Fokus auf die Sprachproduktion untersucht. Ein generelles Problem bei der Erforschung der Prozesse, die beim Produzieren von Sätzen für die Berechnung syntaktischer Strukturen verantwortlich sind, ist, wie man Versuchspersonen dazu bringt, Sätze von der Art zu produzieren, die für die Fragestellung des Experiments von Interesse sind. In einfachen Fällen kann man Versuchspersonen Bilder beschreiben lassen. Diese Methode stößt aber schnell an ihre Grenzen, wenn z.B. Inhalte verbalisiert werden sollen, die sich nicht bildlich darstellen lassen. Als eine alternative Methode hat sich die Satzwiedergabe aus dem Gedächtnis (production from memory) als eine Standardmethode zur Untersuchung syntaktischer Prozesse bei der Sprachproduktion etabliert. In einem Experiment dieser Art hören Versuchspersonen einen oder mehrere Sätze. Sie müssen sich diese Sätze merken und anschließend aus dem Gedächtnis wiedergeben. <?page no="52"?> Markus Bader / Emilia Ellsiepen 52 Wenn man einen nicht allzu langen Satz hört und direkt wiederholen muss, so ist normalerweise eine wortwörtliche Wiedergabe problemlos möglich (Fletcher 1994). Das Gedächtnis für den genauen Wortlaut schwindet allerdings schnell, wenn die Wiedergabe mit einer gewissen Verzögerung erfolgt, indem z.B. eine kurze Zusatzaufgabe zwischen Hören und Wiedergabe eingefügt wird oder indem erst nach der Präsentation mehrerer Sätze mit der Wiedergabe begonnen wird. In diesem Fall muss ausgehend von der Satzbedeutung, die am wenigsten vom Vergessen betroffen ist, die Oberflächenstruktur neu generiert werden (Potter/ Lombardi 1990). In diesem Sinne handelt es sich bei der Satzwiedergabe aus dem Gedächtnis um eine Produktionsaufgabe. McDonald/ Bock/ Kelly (1993) ist eine der klassischen Studien, die von den Versuchspersonen Satzwiedergabe aus dem Gedächtnis verlangt haben. In dieser Studie mussten sich Versuchspersonen jeweils 12 kurze Texte aus zwei Sätzen anhören und merken. Anschließend wurde nur noch der erste Satz vorgelesen und die Versuchspersonen mussten den zweiten aus dem Gedächtnis wiedergeben. Mittels dieser Methode wurde u.a. untersucht, welchen Einfluss die Belebtheit der Argumente auf ihre Linearisierung hat. Zur Illustration werden in (23) und (24) einige ausgewählte Beispieltexte gezeigt. (23) Prompt: Appliances were rare in rural America until after World War II. What occasioned a lot of talk in Deadwood, South Dakota, one week in March, 1940? a. Zielsatz: A farmer purchased a refrigator. 0% b. Zielsatz: A refrigator was purchased by a farmer. 32% (24) Prompt: After investigating the loud rumbling in the hallway, the elementary school teacher returned to find her entire class under their desks. Why? a. Zielsatz: The sound frightend the students. 4% b. Zielsatz: The students were frightened by the sound. 5% Jeder Text bestand aus einer Aufforderung (Prompt) und einem Zielsatz, der entweder im Aktiv oder im Passiv formuliert war. Die Prozentwerte hinter den Zielsätzen geben an, wie häufig das Genus Verbi des Zielsatzes bei der Wiedergabe geändert wurde. Ein Wert sticht dabei hervor: Sätze wie (23b), d.h. Passivsätze mit unbelebtem Subjekt und belebter by-Phrase, wurden zu 32% als Aktivsatz wiedergegeben, d.h. in der Form von (23a). Hierbei handelt es sich laut McDonald/ Bock/ Kelly (1993) um einen Effekt der Belebtheit auf die Argumentserialisierung. Aus einem Passivsatz mit unbelebtem vor belebtem Argument machen die Versuchspersonen einen Aktivsatz mit belebtem vor unbelebtem Argument. <?page no="53"?> Experimentelle Syntax: Eine Fallstudie zur Verbalkomplexbildung im Deutschen 53 Kommen wir damit zurück zu unserem Produktionsexperiment zur Serialisierung der Verben im Verbalkomplex. Wie die obige Diskussion klargemacht hat, muss man bei einem Experiment, das sich der experimentellen Methode der Wiedergabe aus dem Gedächtnis bedient, dafür sorgen, dass die Sätze nicht einfach wortwörtlich aus dem Arbeitsgedächtnis wiedergegeben werden können. Andererseits muss die Gedächtnisrepräsentation hinreichend detailliert bleiben, so dass die Wiedergabe alle Elemente enthält, die für die geplante Auswertung notwendig sind. In unserem Fall muss sichergestellt sein, dass ein Verbalkomplex mit drei Verben beispielsweise nicht - bzw. nicht allzu häufig - zu einem Verbalkomplex mit zwei Verben vereinfacht wird. Wird nämlich ein Verbalkomplex wie hat lesen wollen wiedergegeben als lesen wollte, kann die entscheidende Frage nach der Position des Auxiliars nicht beantwortet werden. Wir haben uns deshalb für eine Variante der Satzwiedergabe entschieden, die weniger Anforderungen an das Arbeitsgedächtnis stellt als die Variante von McDonald/ Bock/ Kelly (1993). Die Versuchsperson hört einen Satz und merkt sich ihn. Danach löst die Versuchsperson eine kleine Rechenaufgabe (Addition zweier Zahlen zwischen 1 und 50). Direkt im Anschluss gibt sie den Satz wieder. Abb. 6: Produktionsergebnisse für Sätze mit Fokuspartikel (unveröffentlichte Daten) Die Ergebnisse für das beschriebene Produktionsexperiment werden in Abbildung 6 dargestellt. Im Gegensatz zur Beurteilung der Grammatikalität zeigt sich bei der Sprachproduktion ein klarer Fokuseffekt. Wenn die Versuchspersonen einen Satz mit dem Auxiliar in erster Position hörten, d.h. mit standardsprachlicher Abfolge der Verben, haben sie diesen bei Fokus auf dem Objekt niemals mit geänderter Stellung des Auxiliars wiedergegeben. Bei Fokus auf dem Verb kommt es in einem geringen Prozentsatz von 7% zu einem Stellungswechsel des Auxiliars, so dass das lexikalische Verb in die initiale Position gelangt. Wenn das lexikalische Verb bereits im gehörten Satz in initialer Position stand und das Auxiliar damit in zweiter Position, wurde bei Objektfokus mit 86% <?page no="54"?> Markus Bader / Emilia Ellsiepen 54 fast immer zur Standardabfolge mit initialem Auxiliar gewechselt. Bei Verbfokus dagegen kam es bei der Wiedergabe nur in etwa der Hälfte der Fälle zu einer Änderung der Verbabfolge. Bei Verbfokus wurde damit ungefähr jeder zweite Satz, der mit der Abfolge VAuxMod gehört wurde, anschließend mit eben derselben Abfolge VAuxMod produziert. Das Muster, das die in Abbildung 6 gezeigten Produktionsdaten aufweisen, stimmt in einer wesentlichen Hinsicht überein mit dem Muster der von McDonald/ Bock/ Kelly (1993) erzielten Daten. In beiden Fällen wird die unmarkierte Struktur - wobei unmarkiert im Sinne von Haspelmath (2006) als die am häufigsten auftretende Struktur verstanden werden kann - fast immer unverändert wiederholt, sogar dann, wenn eine Änderung der Struktur durch die experimentelle Manipulation favorisiert wird. Im Falle des Experiments von McDonald/ Bock/ Kelly (1993) sind dies Aktivsätze mit unbelebtem Subjekt und belebtem Objekt, im Falle der Verbalkomplexe sind dies Sätze mit Verbalkomplexen vom Typ AuxVMod und fokussiertem lexikalischen Verb. In beiden Fällen wurde in weniger als 10% der Fälle zur markierten Struktur gewechselt, obwohl die experimentellen Bedingungen einen solchen Wechsel nahegelegt haben. Die Ergebnisse für die markierte Struktur stimmen dagegen nur partiell überein. Sowohl im Experiment von McDonald/ Bock/ Kelly (ebd.) als auch in unserem Produktionsexperiment wurde die Ausgangsstruktur deutlich häufiger geändert, wenn sie den untersuchten Präferenzregeln widersprochen haben. Passivsätze wurden im Experiment von McDonald/ Bock/ Kelly (ebd.) in 32% der Fälle zu Aktivsätzen, wenn dadurch eine Übereinstimmung mit der Präferenz „belebt vor unbelebt“ erzielt wurde, aber nur in 4% der Fälle, wenn diese Präferenz bereits im Passivsatz erfüllt war. Für die Verbalkomplexe kam es analog zu einer Änderung von VAuxMod zu AuxV- Mod in 86% der Fälle, wenn der Fokus auf dem Objekt lag, aber nur in 49% der Fälle, wenn der Fokus auf dem Verb lag. Der offensichtliche Unterschied zwischen den beiden Experimenten ist, dass im Experiment von McDonald/ Bock/ Kelly (ebd.) generell die Wechselrate wesentlich geringer war als in unserem Experiment. Aufgrund dieses Unterschiedes können die Ergebnisse von McDonald/ Bock/ Kelly (ebd.) in dem Slogan „Ändere eine markierte Ausgangsstruktur nur dann, wenn dies zu einer präferierteren Struktur führt! “ zusammengefasst werden, während unsere Ergebnisse zusammengefasst werden können zu „Behalte eine markierte Ausgangsstruktur nur dann bei, wenn eine Änderung zu einer weniger präferierten Struktur führt“. Wir haben es hier vermutlich nicht mit einem prinzipiellen Unterschied zu tun. Beispielsweise haben Tanaka et al. (2011) in Anlehnung an McDonald/ Bock/ Kelly (1993) untersucht, welchen Effekt die Belebtheit auf die Anordnung der Argumente im Japanischen hat. Im Gegensatz zum Englischen, aber in Übereinstimmung mit dem Deutschen, können die Argumente im Japanischen <?page no="55"?> Experimentelle Syntax: Eine Fallstudie zur Verbalkomplexbildung im Deutschen 55 ohne Änderung des Genus Verbi umgeordnet werden. OS-Sätze wurden in 55% der Fälle als SO-Sätze wiedergegeben, wenn dadurch ein Satz mit der Abfolge „belebt vor unbelebt“ entstand. Aber auch wenn das Gegenteil erreicht wurde, wurden OS-Sätze noch mit einem Prozentsatz von etwas mehr als 30% als SO-Sätze wiedergeben. Was genau dafür verantwortlich ist, wie häufig markierte Strukturen spontan als unmarkierte Strukturen wiedergegeben werden, ist unbekannt. Dass dies im Falle von Verbalkomplexen besonders häufig vorkommt, ist wohl kein Zufall. Erstens kommt die Abfolge VAuxMod sehr selten vor im Vergleich zur Abfolge AuxVMod. Zweitens ist die damit verbundene Änderung besonders gering. Sie betrifft ausschließlich die oberflächenstrukturelle Realisierung. Wie das Ausbleiben eines Akzeptabilitätsunterschieds in Abhängigkeit von der Auxiliarposition in dem oben beschriebenen Experiment zum Zusammenhang von Fokus und Abfolge im Verbalkomplex zeigt, hat diese Änderung keinen Effekt auf die semantisch/ pragmatische Interpretation eines Satzes. Drittens schließlich führt die Abfolge VAuxMod zu einem Zusammenstoß zweier lexikalisch betonter Wörter (ein sog. ‘stress clash’), wenn dem Verbalkomplex direkt ein Nomen vorausgeht, was unter rhythmischen Gesichtspunkten ungünstig ist. Es ist mehrfach in der Literatur festgestellt worden, dass unter diesen Umständen präferiert das Auxiliar zwischen Nomen und lexikalisches Verb gestellt wird, so dass der Betonungszusammenstoß vermieden wird (siehe Sapp 2011 für Diskussion und weitere Referenzen). Abschließend können wir festhalten, dass die in diesem Abschnitt diskutierten Daten zeigen, dass die Informationsstruktur eines Satzes - wie in der einschlägigen Literatur vorgeschlagen - einen Einfluss auf die Serialisierung der Verben in einem Verbalkomplex hat. Dieser Einfluss betrifft nicht die Akzeptabilität der zur Diskussion stehenden Verbalkomplexe, sondern ihre Auftretenshäufigkeit. Dieser Befund widerspricht den theoretischen Annahmen von Schmid/ Vogel (2004) und Wurmbrand (2004a), da diese davon ausgehen, dass die Abfolge VModAux in der Grammatik nur dann lizenziert ist, wenn das lexikalische Verb oder das Modalverb eng fokussiert sind. Unsere Daten weisen aber darauf hin, dass wir es hier nicht mit einem grammatischen Effekt zu tun haben, sondern mit einem Effekt, der die Auswahl aus zwei grammatischen Alternativen bei der Sprachproduktion betrifft, also einem Effekt, den man traditionellerweise als Performanzeffekt bezeichnen würde. Diese Schlussfolgerung wird unterstützt durch die oben zitierten Daten aus der Sprachgeschichte und der Dialektsyntax. In den Korpusdaten von Ebert (1981), Sapp (2011) und Dubenion-Smith (2011) kommen die beiden Abfolgen AuxV und VAux sowohl unter engem Objektfokus als auch unter engem Verbfokus vor, lediglich die prozentuale Verteilung unterscheidet sich in Abhängigkeit vom Fokus. Wie der Einfluss des Fokus auf die Abfolge im Verbalkomplex im Rahmen eines Sprachproduktionsmodells zu modellieren ist, ist momentan eine offene <?page no="56"?> Markus Bader / Emilia Ellsiepen 56 Frage. Beispielsweise ist noch zu klären, ob der hier beschriebene Effekt ein rein prosodischer Effekt ist, der auch auftritt, wenn sich Sätze nicht hinsichtlich ihrer Fokusstruktur unterscheiden. Dass dem so ist, darauf deuten Daten hin, die die Wortart des Wortes berücksichtigen, das dem Verbalkomplex unmittelbar vorangeht. Insbesondere wurde in der oben zitierten Literatur gefunden, dass ein Pronomen im Gegensatz zu einem Nomen die Voranstellung des Auxiliars favorisiert, wie in (25) illustriert (siehe auch Swerts/ van Wijk 2005 fürs Niederländische). (25) a. … dass Peter seinen ONKEL hat 1 besuchen 3 müssen 2 | besuchen 3 hat 1 müssen 2 . b. … dass Peter ihn hat 1 BESUCHEN 3 müssen 2 | BESUCHEN 3 hat 1 müssen 2 . Da die Datenlage auch hier nicht eindeutig ist, bietet sich eine Untersuchung mittels experimenteller Methoden an. 6. Resümee Beginnend mit den einflussreichen Veröffentlichungen von Bard/ Robertson/ Sorace (1996) und Cowart (1997) werden zunehmend experimentelle Methoden eingesetzt, um syntaktische Fragestellungen zu untersuchen. Diese Methoden sind nicht abhängig von speziellen syntaktischen Theorien und sie sind potenziell sowohl für die Grammatiktheorie und Grammatikographie von Interesse. In unserem Beitrag haben wir das Zusammenspiel von experimentellen Daten und syntaktischer Analyse anhand einer Fallstudie illustriert, die sich mit der Abfolge der Verben in Verbalkomplexen mit einem Modalverb im Perfekt beschäftigt hat. Abschließend wollen wir auf die eingangs aufgeworfene Frage zurückkommen, ob und in welcher Weise Grammatiktheorie und Grammatikographie vom Einsatz experimenteller Methoden profitieren können. Im Falle des hier zur Diskussion stehenden Teilbereichs der deutschen Syntax war das Hauptergebnis unserer Experimente, dass die Abfolge mit partieller Voranstellung des Perfektauxiliars von der von uns untersuchten Versuchspersonengruppe als relativ akzeptabel beurteilt wurde. Für Verbalkomplexe mit drei Verben bedeutet dies beispielsweise, dass Verbalkomplexe vom Typ „lesen hat wollen“ zwar weniger akzeptabel sind als Verbalkomplexe mit der standardsprachlichen Abfolge „hat lesen wollen“, aber immer noch so akzeptabel, dass sie als prinzipiell grammatisch einzustufen sind. Aus Studien zur historischen Syntax und zur Dialektsyntax war bereits bekannt, dass Verbalkomplexe in bestimmten Sprachstufen des Deutschen und in bestimmten Dialekten präferiert mit partieller Auxiliarvoranstellung realisiert wurden <?page no="57"?> Experimentelle Syntax: Eine Fallstudie zur Verbalkomplexbildung im Deutschen 57 bzw. werden. In der theoretischen Syntax dagegen war der Status der partiellen Auxiliarvoranstellung umstritten. Während Haider (2003) Verbalkomplexe vom Typ „lesen hat wollen“ als grammatisch bewertet, werden sie von Sternefeld (2006, S. 645) als ungrammatisch zurückgewiesen. Diese Diskrepanz führt Sternefeld darauf zurück, dass Autoren, für die Verbalkomplexe vom Typ „lesen hat wollen“ grammatisch sind, nicht die Verhältnisse im Standarddeutschen wiedergeben, sondern die Verhältnis in den süddeutschen Dialekten, die diese Abfolge erlauben oder sogar präferieren. Nun ist aber Haider (2003) - ebenso wenig wie Sternefeld (2006) - als ein Beitrag zur Dialektsyntax intendiert. Natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass dies unbeabsichtigt dennoch der Fall ist. Die von uns gefundenen Daten weisen aber einen anderen Ausweg aus diesem scheinbaren Widerspruch. Die in diesem Aufsatz diskutierten Akzeptabilitätsdaten beruhen alle auf Experimenten, die an der Universität Konstanz durchgeführt wurden. Mit seiner Lage in Südwestdeutschland gehört Konstanz nicht zu den Spracharealen des Deutschen, in denen Verbalkomplexe mit partieller Auxiliarinversion besonders stark im Sprachgebrauch vertreten sind (Südostdeutschland sowie Österreich; siehe Niehaus 2014). Des Weiteren ergab eine Analyse des regionalen Hintergrunds der Versuchspersonen durch Bader/ Schmid (2009b), dass das grundlegende Akzeptabilitätsmuster unabhängig vom regionalen Hintergrund zu finden ist. Bader/ Schmid (2009b) haben daraus den Schluss gezogen, dass die relativ hohe Akzeptanz von Verbalkomplexen mit partieller Auxiliarinversion eine Eigenschaft des umgangsprachlichen Deutsch ist. Neuere Arbeiten kommen zu demselben Schluss (Krasselt 2013; Niehaus 2014). Der scheinbare Widerspruch zwischen Haider (2003) und Sternefeld (2006, S. 645) lässt sich also dahingehend auflösen, dass Haider (2003) Umgangsdeutsch analysiert, Sternefeld (2006, S. 645) dagegen Standarddeutsch. Einer der Vorteile der oben vorgestellten syntaktischen Analyse von Bader/ Schmid (2009b) ist es, dass der Zusammenhang zwischen Standarddeutsch und Umgangsdeutsch auf einfache Weise erfasst werden kann. Einige der Probleme, die dieser Ansatz aufwirft, werden ausführlich in Salzmann (2013) diskutiert. Die in diesem Beitrag diskutierten Methoden können dazu dienen, grammatische Phänomene besser zu verstehen. Die damit erzielten Ergebnisse sind für Grammatiktheorie und Grammatikographie gleichermaßen relevant. Dass wir uns auf die Implikationen für die Grammatiktheorie konzentriert haben, ist ausschließlich dem Umstand geschuldet, dass die von uns referierten Arbeiten entsprechend ausgerichtet waren. Die wichtigste Implikation für die Grammatikographie betrifft den Status der Abfolge mit partieller Auxiliarinversion (AuxVMOD) als weitverbreitete umgangssprachliche Abfolgeoption (siehe auch Krasselt 2013; Niehaus 2014). Dass in bestimmten Fällen auch fein- <?page no="58"?> Markus Bader / Emilia Ellsiepen 58 körnigere Aussagen möglich sind, zeigt die Studie von Bader (2014) zur Verbalkomplexbildung mit lassen statt mit Modalverb. Bezüglich lassen machen verschiedene deskriptiv orientierte Grammatiken einander widersprechende Aussagen, die anhand von experimentell gewonnenen Daten überprüft werden können. Abschließend können wir festhalten, dass die experimentelle Untersuchung von Verbalkomplexen gezeigt hat, dass es für das Verständnis der Syntax von Verbalkomplexen nicht ausreicht, zwischen Standarddeutsch auf der einen und Dialekten auf der anderen Seite zu unterscheiden. Dazwischen ist zumindest noch eine Ebene des Umgangsdeutsch anzunehmen. Umgangssprachlich weisen Verbalkomplexe mehr Variation auf als standardsprachlich. Ein wichtiges Ergebnis der diskutierten Experimente ist es, gezeigt zu haben, dass die beobachtbare Variation keinesfalls regellos ist, sondern sich genau eingrenzen lässt: Während im Standarddeutschen das Perfektauxiliar an der ersten Stelle stehen muss, sind im Umgangsdeutschen alle Positionen erlaubt, die dem Modalverb vorangehen. 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Oxford, S. 1-109. <?page no="63"?> CHRISTIAN FORTMANN VERMEINTLICH VERBLOSE DIREKTIVA - STUMME PRÄDIKATSBILDUNG IN WURZELSTRUKTUREN 1 Abstract This article targets a distinctive kind of root structures in German formed by minimally two phrases but lacking an overt verbal predicate like i.a. die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, jedem ein Bier or in den Müll mit dem Dreck. Certain instantiations of these patterns have been dubbed verblose Direktiva by Jacobs (2008) who provides an account in terms of construction grammar. Müller (2011), on the other hand, proposes an anti-passive analysis of the phenomenon. However, these apparent verbless root structures show conspicuous parallels in form and interpretation to another type of non-finite root structures in German, namely root infinitives. Both exclude an overt subject expression and both have a modal interpretation. Referring to these parallels, an analysis is elaborated which employs a empty verbal category. The overt constituents, then, are hosted by the (possibly extended) projection of the empty verb. Furthermore, this analysis captures a broader range of data, in particular instances formed by concatenated NP DAT -NP AKK or NP AKK -PP. 1. Nicht-finite Wurzelstrukturen Sätze genießen seit alters her in der Grammatiktheorie als Gegenstand syntaktischer Analyse einen privilegierten Status. In den generativen Theorien werden sie gemeinhin als der Syntagmen-Typ verstanden, welcher Wurzelstrukturen bildet resp. zu bilden in der Lage ist - gleichviel in welcher Weise sie nun kategorial qualifiziert werden als S, CP oder eine andere Variante funktionaler Projektionen. Syntagmen anderer Kategorien können lediglich als Konstituenten vorkommen, was heißt, dass es immer einen - durch eine Satz- Kategorie gebildeten - Wurzelknoten gibt, welcher sie dominiert. 2 Formal 1 In die nachfolgenden Überlegungen sind von verschiedenen Seiten erhaltene Anregungen eingegangen. Ausdrücklich nennen möchte ich die aus der Diskussion bei der Arbeitstagung „ars grammatica“ am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim im Juni 2015 und aus einem Gutachten zur Veröffentlichung dieses Artikels. Schließlich konnte ich auf einen ausführlichen Kommentar von Hardarik Blühdorn zurückgreifen. Bevor es losgeht, möchte ich mich hierfür bedanken. 2 In den Syntactic Structures etwa ist sentence kategorial als das Objekt bestimmt, welches mittels einer Menge von Phrasenstrukturregeln (Ersetzungsregeln) durch eine Grammatik generiert wird - und dann ggf. die Grundlage für transformationelle Modifikation bildet (Chomsky 1957, S. 26ff.). Der Terminus ‘root sentence’ ist dann von Emonds (1970) inauguriert und als Domäne eines spezifischen Typs von Transformationen (im Englischen) identifiziert worden; vgl. Hooper/ Thompson (1973). <?page no="64"?> Christian Fortmann 64 zeichnen sich Wurzel-Sätze darin aus, dass sie Finitheitsmerkmale aufweisen, welche - durch gebundene Morpheme repräsentiert - in Gestalt finiter Verbformen in der Satzstruktur erscheinen. Sätze drücken einen propositionalen Gehalt aus und sind damit auf bestehende oder nicht bestehende Sachverhalte - Ereignisse, Zustände - in der Welt bezogen (sei diese die gegebene oder eine andere mögliche). Sätze sind schließlich das prototypische Mittel, um Illokutionen auszudrücken. Die Assoziation einer spezifischen Illokution mit einer spezifischen Form eines (finiten) Satzes unterliegt wiederum regelmäßigen Beschränkungen, woraus die formale Unterscheidung unterschiedlicher Satztypen resultiert. 3 Es gilt jedenfalls die Generalisierung, dass jedweder Illokutionstyp (etwa in der in Searle 1979 gegebenen Taxonomie) durch einen finiten Satz realisiert werden kann, wie umgekehrt jeder finite Hauptsatz einen Illokutionstyp zu realisieren vermag. Dem stehen Syntagmen gegenüber, die ohne spezifische Kontextbedingungen keinen propositionalen Gehalt ausdrücken können und durch deren selbstständige Äußerung keine (den finiten Sätzen entsprechende) individuell unabhängigen illokutiven Akte vollzogen werden können. Die Diskrepanz ist in (1) und (2) verdeutlicht. (1) a. Alwin isst gern Wildragout. b. Wo ist der Haustürschlüssel? c. Gibt es hier keinen vernünftigen Menschen? d. Vergiß mein nicht - die Postleitzahl! (2) a. #der Mann im Mond b. #vor der Tür c. #gelb vor Neid d. #augenscheinlich Formen wie die in (2) können nur dann den Inhalt selbstständiger Äußerungen bilden und mit diesen nur dann gültige illokutive Akte vollzogen werden, wenn sie im Kontext beispielsweise einer Frage oder - (2a) und (2c) - einer hinweisenden Geste stehen. Im ersten Fall ist allerdings die der geäußerten Form zugrundeliegende Struktur reichhaltiger, nämlich eben ein Satz, welcher durch Elidierung (des in der Frage bereits) gegebenen Materials reduziert wird. 3 In den bereits genannten Syntactic Structures ist diesem Umstand durch die Erwägung Rechnung getragen, dass die Initialkette S, mit der eine jede syntaktische Derivation beginnt, möglicherweise durch eine Menge: Deklarativ-, Interrogativsatz usw. gebildet wird (Chomsky 1957, S. 29). <?page no="65"?> Vermeintlich verblose Direktiva - stumme Prädikatsbildung in Wurzelstrukturen 65 Der Schein von Trivialität, der den vorangehenden Überlegungen anhaften mag, zergeht, sobald man syntaktische Strukturen in die Betrachtung zieht, welche einerseits keine syntaktisch vollständigen finiten Sätze bilden, andererseits aber wie Wurzelstrukturen fungieren, sofern sie eine Proposition kodieren und insbesondere mit ihrer Äußerung taugliche illokutionäre Akte vollzogen werden können, ohne dass ein spezifischer Rekonstruktionskontext wie bei (2) erforderlich ist. Solche Wurzelstrukturen kommen im Deutschen in einer ganzen Reihe verschiedener Varianten vor, die zunächst unter dem Gesichtspunkt ihrer syntaktischen Formen zu betrachten sind. 4 Die erste Klasse möglicher Formen ist durch das Fehlen des Finitums gekennzeichnet, das Vorkommen einer infiniten Verbform ist nicht erforderlich, aber möglich. (3) a. Bisamratte im Ministerbüro b. Arbeiter taub vom Maschinenlärm (geworden) c. Wohlleb Opfer seines Wohllebens (geworden) d. Paket angekommen e. havarierter Frachter innerhalb von dreieinhalb Minuten gesunken f. Abgeordneter jahrelang vom Verfassungsschutz abgehört Eine zweite Klasse wird durch Wurzelinfinitive gebildet - bei denen gleichfalls kein Finitum vorkommt. Hier sind interrogative neben nicht-interrogativen Varianten möglich. (4) a. (bitte) aufrücken. b. die Tür schließen c. bloß nicht auffallen d. einmal in Ruhe frühstücken e. wem helfen? f. warum arbeiten? Die dritte Variante stellen - singulär vorkommende - Partizipien des Perfekts dar: (5) a. stillgestanden. b. aufgewacht. d. stehen/ sitzen/ liegen geblieben. 4 Diese Beschränkung der empirischen Domäne ist wohl zu beachten. Generalisierungen auf andere Sprachen sind im Bereich infiniter Strukturen notorisch Grenzen gesetzt. <?page no="66"?> Christian Fortmann 66 Eine vierte Klasse schließlich ist durch Syntagmen gebildet, die nicht nur über kein Finitum verfügen, sondern in denen ein verbales Prädikat überhaupt fehlt. 5 (6) a. diesem System keinen Mann und keinen Groschen. b. dem Herrn am Nebentisch einen Kaffee. c. die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. d. (die) Hemden in den Schrank. e. darauf einen Schnaps. f. aus dem Haus mit dem Unrat. g. in die Tüte mit den Bohnen. h. hinter die Gardine mit dem Historienschinken. i. herunter (vom Baum) mit den Äpfeln. Die Gemeinsamkeit dieser vier Varianten (3)-(6) liegt im Fehlen eines Finitums, darüber hinaus differieren sie mehr oder weniger nachhaltig in anderen Strukturaspekten und in der Spezifikation des Illokutionstyps. Die in (3) aufgeführten Fälle bilden regelmäßig Assertiva und sind durch das obligatorische Vorkommen einer Nominativ-NP charakterisiert. Sofern eine infinite Verbform vorkommt, ist diese auf Partizipien unakkusativer Verben resp. das Passiv transitiver Verben beschränkt (3e/ f) - Infinitive sind ausgeschlossen. (7) *der Verfassungsschutz einen Abgeordneten abhören. Formal scheidet das Vorkommen eines Nominativs den Fall (3) von den drei anderen (4)-(6), illokutiv zeichnet ihn sein assertives Potenzial aus, das den anderen regelmäßig abgeht. Wurzelstrukturen mit dem reinen Infinitiv/ 1. Status - (4) - schließen eine nominativische NP strikt aus, erlauben aber das Vorkommen aller sonst selegierten Verbargumente resp. adverbialer Ergänzungen (mit rigiden Ausnahmen bei den Satzadverbialen). 6 Die Interpretation ist stets modal (vgl. Reis 1995, 2003; Rapp/ Wöllstein 2009). 5 Die in unter (6f-i) angeführten Fälle sind von Jacobs (2008) als verblose Direktiva charakterisiert worden (siehe unten Abschnitt 3.2). 6 Die Annahme, dass bei infinitem Verb im ersten Status keine nominativische NP als Subjekt vorkommen kann, wird durch Fälle wie (i) nicht entkräftet: (i) a. alle mal herhören! b. Schaffner bitte beim Zugführer melden! Äußerungen dieser Art sind an eingeschränkte Diskursbedingungen gebunden. Sie sind nur möglich, wenn sie an einen im Diskurskontext anwesenden identifizierbaren Adressaten oder <?page no="67"?> Vermeintlich verblose Direktiva - stumme Prädikatsbildung in Wurzelstrukturen 67 Bei Strukturen mit einem Partizip Perfekt, die gleichfalls eine nominativische NP strikt verbieten, treten Einschränkungen in der Wahl der Verben auf. Unzweifelhaft sind die Formen in (5), die typischerweise durch Bewegungs-, Lokations- und eine Reihe von Zustandsänderungsverben (aufgewacht) realisiert werden. Andererseits sind Handlungsverben nicht allgemein dieser Form zugänglich: (8) a. *gearbeitet/ *getanzt/ *gespielt. b. aufgepasst/ hergehört. Auch scheinen regierte Verbergänzungen in dieser Konstellation nicht immer gut vorkommen zu können. (9) a. *der/ den Braten gegessen. b. *die Angaben gemacht. c. *den Fuchs gejagt. Eine klare Systematik ist jedenfalls in diesen Fällen nicht offensichtlich. Ebenso wie die vorgenannten Wurzelstrukturen mit reinem Infinitiv haben auch die mit dem Partizip gebildeten eine modale Interpretation. Charakteristisch für alle nicht-finiten Wurzelstrukturen ohne nominativische NP ist der Ausschluss von Passiv-Partizipien (10), während diese Verbform in den Strukturen mit einer solchen NP die einzig verfügbare darstellt. 7 (10) a. *dem Bedürftigen geholfen. ≠ dem Bedürftigen werde geholfen. b. *dem Chef widersprochen. ≠ dem Chef werde widersprochen. Eine passivische Verbform ist nur zusammen mit einem infinitivischen passivbildenden Auxiliar als dessen Komplement in einem Wurzelinfinitiv möglich. (11) a. einmal von jemandem gehört werden. b. einmal geachtet werden. Aber auch hier scheint eine Beschränkung auf Passivformen transitiver Verben mit Akkusativ-Objekt vorzuliegen. eine Menge von Adressaten gerichtet sind. Die NPen haben eher vokativischen Charakter, als dass sie das Subjekt einer Prädikation vorstellen (vgl. Reis 2003). 7 Es gibt mögliche Formen wie (i), die der genannten Restriktion zu widersprechen scheinen. (i) jetzt noch schnell dem Nachbarn geholfen. Auffällig ist das starke Verlangen nach adverbialer Modifikation in diesen Fällen. Aufgrund der Homonymie von Perfekt- und Passiv-Partizip kann allerdings nicht eindeutig entschieden werden, welcher Fall hier vorliegt. Die Möglichkeit des ersteren ist mit (ii) belegt. (ii) noch schnell dem Lehrer eins ausgewischt und dann nichts wie weg. <?page no="68"?> Christian Fortmann 68 (12) a. *einmal (von jemandem) geholfen werden. b. *einmal nicht widersprochen werden. Die Beispiele in (12) erlauben keine (11) entsprechende Interpretation. Unbeschadet evidenter distributioneller Beschränkungen und solcher der illokutiven Kraft bei den ersten drei Fallgruppen nicht-finiter Wurzelstrukturen ist eine Beziehung zu satzförmigen Syntagmen dennoch transparent. Im ersten Fall (3) weist der Nominativ auch bei Fehlen des Finitums das Syntagma als eine Prädikationsstruktur aus, in welcher das Subjekt die für Sätze typische Form hat. In den beiden weiteren Konstellationen (4)/ (5) findet sich stets ein Verb, einerseits in einer Form, in welcher es auch in die Prädikatbildung von finiten Sätzen eingehen kann, und das andererseits in einer ansonsten (unter Absehung vom Subjekt) bei verbalen Prädikaten von Sätzen gleichfalls vorzufindenden Umgebung erscheint - Verbargumente und adverbiale Modifikatoren sind zumindest bei den Wurzelinfinitiven möglich resp. obligatorisch. Die Form dieser Konstituenten (Kasusmarkierung) entspricht auch der ihres Vorkommens im Satz mit finitem Prädikat. 2. Verblose Wurzelstrukturen In der vierten Fallgruppe fehlt nun nicht nur ein Finitum sondern überhaupt ein verbales Prädikat. Die angeführten vier Varianten in (6a-i) bestehen vorderhand aus einer Folge von NPen und/ oder PPen resp. Adv, die zwar offensichtlich eine syntaktische Gesamtstruktur bilden, bei welcher aber in Ermangelung eines overten verbalen Kopfes überhaupt nicht unmittelbar ersichtlich ist, in welcher Weise eben diese Konstituenten zu solch einer Gesamtstruktur verknüpft sind, will sagen, Kopf und Kategorie des Wurzelknotens sind nicht evident. Insbesondere die Varianten (6g-i) erscheinen prima facie suspekt, da bei gegebener Interpretation kein naheliegendes verbales Prädikat vorliegt, das mit der Verknüpfung zweier PPen in Zusammenhang zu bringen wäre und aus dessen Tilgung beispielsweise die Struktur womöglich resultieren könnte. Unzweifelhaft ist in den Beispielen in (6) andererseits ihr illokutives Potenzial als Direktiva (vgl. Jacobs 2008). In den anschließenden Erwägungen wird es um diese vierte Fallgruppe gehen. 8 Die ersten drei dienen insoweit lediglich zur Markierung des größeren empirischen Terrains, in dem die Gegenstände der Untersuchung situiert sind. Dieses nicht aus den Augen zu verlieren, ist angeraten, da eine Einschränkung auf die Konstellation in (6) oder womöglich noch weiter auf eine der darunter angeführten Facetten zu unzutreffenden Generalisierungen und Fehlschlüssen führen kann. 8 Wurzelinfinitive werden u.a. in Reis (1995, 2003) und Fortmann (i.Vorb.) untersucht. <?page no="69"?> Vermeintlich verblose Direktiva - stumme Prädikatsbildung in Wurzelstrukturen 69 Wie - nach Prüfung alternativer Erklärungsvorschläge - gezeigt werden soll, besteht allerdings eine enge Beziehung des Formtyps in (6) zu den Wurzelinfinitven, die es rechtfertigt, beiden eine weitgehend gleiche syntaktische Struktur zuzuschreiben - mit dem einen entscheidenden Unterschied, dass anstatt eines Verblexems im Infininitiv eine verbale Leerkategorie das Prädikat und den Kopf der Gesamtstruktur bildet. 2.1 Form Unter dem Gesichtspunkt der Form ist eine Übereinstimmung der Beispiele in (6) nur in negativer Hinsicht - eben dem Fehlen eines verbalen Prädikatsausdrucks - erkennbar. Kategorie und Kasus/ grammatische Funktion der Konstituenten, die diese Syntagmen bilden, differieren entweder vollständig oder partiell. Der erste Unterfall ist durch die Verknüpfung einer Dativmit einer Akkusativ-NP gebildet. (13) a. diesem System keinen Mann und keinen Groschen. b. dem Herrn am Nebentisch einen Kaffee. c. jedem das Seine. d. jedem Schulkind ein Glas Milch. Die zweite Teilgruppe erscheint in der Verknüpfung einer Akkusativ-NP mit einer PP. (14) a. die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. b. (die) Hemden in den Schrank. c. darauf einen Schnaps. d. die Hände auf den Tisch/ in den Schoß. Fallgruppe drei wird durch die Kombination zweier PPen gebildet, deren eine obligatorisch die Präposition mit als Kopf aufweist. (15) a. aus dem Haus mit dem Unrat. b. in die Tüte mit den Bohnen. c. hinter die Gardine mit dem Historienschinken. Fallgruppe vier schließlich steht in enger Beziehung zur vorherigen. Charakteristisch ist das Vorkommen eines Adverbs, welches entweder allein oder in Verbindung mit einer weiteren, direktionalen PP vorkommt. (16) a. herunter (vom Baum) mit den Äpfeln. b. her (aus der Dose) mit den Cremeschnitten. c. weg mit dem Dreck (aus dem Garten). <?page no="70"?> Christian Fortmann 70 In den Konstellationen (15) und (16) ist eine der beiden PPen notwendig mit der Präposition mit als Kopf gebildet. In (17) sind die fünf Muster noch einmal in verallgemeinerter Form aufgeführt. (17) a. NP DAT NP AKK b. NP AKK PP / PP NP AKK c. PP PP mit / PP mit PP d. Adv (PP) PP mit (PP) (optionale PP entweder vor oder nach PP mit ) (17) erweist eine gewisse Freiheit in der kategorialen und grammatischen Funktions-Bestimmung der Konstituenten, die in die Fügungen eingehen, und eine quantitative Festlegung, die alle zu umfassen scheint: Die verblose Wurzelstruktur muss aus nicht weniger als zwei Konstituenten bestehen. 9 Weiterungen sind möglich aber nicht obligatorisch. Ferner haben diese Konstituenten eine Kategorie und Form, wie sie auch üblicherweise in Projektionen des Verbs anzutreffen sind. Dieser Umstand ist nicht bloß akzidentiell. Formen mit einer NP schließen deren Genitiv-Markierung strikt aus. (18) a. *eines Schnapses darauf/ auf den Schrecken. b. *der Hemden in den Schrank. Ebenso ist beim Vorkommen einer Dativ-NP als Ko-Konstituente eine Akkusativ-NP verlangt. An deren Stelle kann keine mit-PP treten. (19) a. *dem Herrn am Nebentisch mit einem Kaffee. b. *jedem Schulkind mit einem Glas Milch. Hieraus lassen sich zwei für die weitere Analyse bedeutsame empirische Generalisierungen ableiten. (20) Eine verblose Wurzelstruktur kann nur durch Kategorien gebildet werden, die unabhängig als Konstituenten von Verbalphrasen vorkommen können. Diese Bedingung wird von den beschriebenen Fällen erfüllt: akkusativische und dativische NPen ebenso wie PPen und namentlich auch die mit-PPen 9 Formen wie in (i), die ersichtlich nur aus einem Adverb oder einer direktionalen PP gebildet sind: (i) a. raus! b. vor die Tür! bilden typischerweise mündliche Äußerungen und sind pragmatisch auf unmittelbaren Adressatenbezug beschränkt und können beispielsweise schlecht als generelle Handlungsanweisungen für einen nicht genauer umgrenzten Adressatenkreis fungieren. <?page no="71"?> Vermeintlich verblose Direktiva - stumme Prädikatsbildung in Wurzelstrukturen 71 sowie die genannten Adverben kommen regelmäßig in Projektionen von Verben eingeschlossen vor. Als weiteres gilt: (21) Die minimalen Konstituenten, welche eine verblose Wurzelstruktur bilden, unterliegen einer Formbestimmung, welche unabhängig bei gemeinsamen Vorkommen in Verbalphrasen mit monomorphemischem Verb instantiiert wird. 10 Diese Generalisierung trägt der Abweichung von (19) Rechnung. Gegen (21) mag sich sogleich ein Einwand unter Verweis auf die möglichen Formen (15)/ (16) resp. (17c/ d) erheben, in denen zwei PPen in einer Kombination vorkommen, mit der bei Verben nicht gerechnet werden mag. Hier kommt die Interpretation dieser Präpositionalphrasen in die Erwägung hinein. In den einschlägigen Wurzelstrukturen figuriert die mit-PP als Ausdruck einer bewegten Entität, also eines Thema-Arguments. Die weitere PP resp. das Adverb fungiert als Ausdruck eines Translationsweges. Für sich genommen ist die Möglichkeit, ein Thema-Argument durch eine mit-PP zu realisieren, verbreitet und begegnet regelmäßig in Applikativ-Konstruktionen. Andererseits bilden PPen und Adverben kanonische Formen, in denen Bewegungspfade ausgedrückt werden. Problematisch ist allenfalls das gemeinschaftliche Vorkommen beider. In diesem Zusammenhang ist ein allerdings kleiner Bereich von kausativen, monomorphemischen Bewegungsverben von Interesse, bei denen ein Thema- Argument alternativ durch eine Akkusativ-NP oder eine mit-PP realisiert werden kann. (22) a. er rückt mit dem Bauern vor den König. a'. er rückt den Bauern vor den König. b. er wirft mit Dreck nach den Leuten. b'. er wirft Dreck nach den Leuten. c. er schmeißt mit Äpfeln. c'. er schmeißt Äpfel. d. er rangiert mit dem Wagen in die Garage. d'. er rangiert den Wagen in die Garage. 10 Dies schließt das Vorkommen von Genitiv-Objekten in Kombination mit einem Akkusativ-/ Dativ-Objekt oder einer direktionalen PP strikt aus. Die Beschränkung auf parallele Distributionen von monomorphemischen Verben begründet sich damit, dass Verben wie berauben ein Akkusativneben einem Genitiv-Objekt subkategorisieren. (i) man beraubte ihn seines Portemonnaies. (21) ist gültig als empirische Generalisierung, welche (20) restringiert, was immer die Gründe für die Beschränkung auf monomorphemische Verben sein mögen - vgl. Abschnitt 5 zur weiteren Diskussion dieses Sachverhalts. <?page no="72"?> Christian Fortmann 72 e. ab 4.47h schoss die Schleswig-Holstein mit Granaten auf die Westerplatte. e'. ab 4.47h schoss die Schleswig-Holstein Granaten auf die Westerplatte. Zu beachten ist, dass das Subjekt an der vom Verb bezeichneten Bewegung nicht (notwendig) teilhat und die mit-PP eindeutig eine bewegte Entität bezeichnet und nicht lediglich ein Instrument, welches die Bewegung eines Objekts vermittelt. 11 Unter der alternierenden Realisierung des Thema-Arguments bleibt die Form des Pfadausdrucks stets unverändert erhalten. Hierin liegt ein Unterschied zur Applikativ-Konstruktion, bei der ja ebenfalls unter be-Präfigierung der Ausdruck eines Thema-Arguments durch eine mit-PP möglich wird, wobei allerdings die das Bewegungsziel bezeichnende PP in ein direktes Akkusativ-Objekt gewandelt wird. 12 Ohne hier weiter auf die Bedingungen der Alternation einzugehen - und die fraglos damit verbundenen Interpretationsnuancen weiter zu erhellen - liefert (22) jedenfalls hinreichend Evidenz dafür, dass ein simultanes Vorkommen von direktionaler PP und mit-PP als Thema-Ausdruck auch in der Verbal-Syntax unabhängig von der Applikativkonstruktion unter be-Präfigierung vorzufinden ist und daher kein Spezifikum der verblosen Wurzelstrukturen darstellt. 2.2 Struktur Eine bündige Analyse der zuvor beschriebenen distributionellen Sachverhalte hat zunächst über die Phrasenstruktur Auskunft zu geben, in der die beiden minimalen Komponenten miteinander verbunden sind und welche zudem so gestaltet sein muss, dass die Einfügung weiterer Phrasen ermöglicht wird. Sieht man von der zugestanden etwas suggestiven Redeweise von den verblosen Wurzelstrukturen oder verblosen Direktiva ab, die eine Analyse ausgehend von solchen mit einem Verb ja schon nahe legt, würde die nächstliegende Strukturannahme in einer exozentrischen Verknüpfung von je einer PP mit einer NP oder mit-PP, eines Adv und einer NP oder mit-PP resp. zweier NPen liegen. 11 Dass es sich bei den resp. mit-Phrasen zweifelsfrei um Thema-Argumente handelt, erweist sich an deren Kombinierbarkeit mit genuinen mit-Instrumental-PPen (ib). (i) a. *er hat das Paket mit Draht mit Bindfaden verschnürt. b. die Schleswig-Holstein hat mit ihrer Artillerie mit Granaten auf die Westerplatte geschossen. 12 Der simultane Wechsel der grammatischen Funktionszuordnung ist bei der Applikativkonstruktion obligatorisch, unabhängig davon, ob ein overter morphologischer Index - be- - gegeben ist oder nicht: (i) a. Anton füllt Schnaps in die Flasche. b. Anton (be)füllt die Flasche mit Schnaps. c. *Anton (be)füllt in die Flasche mit Schnaps. <?page no="73"?> Vermeintlich verblose Direktiva - stumme Prädikatsbildung in Wurzelstrukturen 73 (23) a. [NP NP] b. [NP PP] / [PP NP] c. [PP PP mit ] / [PP mit PP] d. [Adv (PP) PP mit ] Gegen eine wechselseitige Einbettung einer der Komponenten in die Phrasenstruktur der anderen spricht, dass eine Kopf-Argument- oder Kopf-Modifikator- Relation schwer zu begründen ist - insbesondere unter Einbeziehung der Interpretation der Gesamtstruktur. Eine Strukturierung wie in (23c/ d) gibt die Konstellation wieder, welche Jacobs (2008) in seiner konstruktionsgrammatischen Erklärung der verblosen Direktiva zugrundelegt. Unter Annahme einer solchen exozentrischen Analyse bleiben allerdings die in (18) und (19) aufgewiesenen Beschränkungen etwas mysteriös. Die Verknüpfungsbedingungen für (17)/ (23) wären ja in diesem Fall gerade nicht unter Rekurs auf irgendwelche Analogien mit beispielsweise einer Projektion des Verbs und deren innerer Struktur zu rechtfertigen. Vielmehr legt eine konstruktionsgrammatische Analyse nahe, dass jegliche Form, welche ein Bewegungsziel ausdrückt, in freier Kombination mit jeglicher anderen verknüpfbar ist, welche ein Thema-Argument denotieren kann. Auch wenn man mit Blick auf die ausgeschlossene NP DAT -mit-PP-Kombination (19) anbringen könnte, dass solche unabhängig generell nicht gegeben ist, würde solcher Einwand gegen (18) nicht Stich halten. In Nominalphrasen ist eine Folge NP GEN PP gang und gäbe: (24) a. die Fahrt [des Sünders] [in die Hölle] b. die Ablage [der Hemden] [in den Schrank] c. die Entfernung [des Abfalls] [aus der Küche] Aus dem mit (23) umschriebenen Formeninventar ergibt sich jedenfalls, dass die spezifischen Bedingungen der kategorialen und funktionalen Bestimmung, unter denen die Konstituenten verbloser Wurzelstrukturen vorkommen, mit denen identisch sind, welche lexikalische Elemente der Kategorie Verb ihren Ergänzungen auferlegen, und damit verschieden von denen, die durch nominale Kategorien gesetzt werden. Eine Erklärung der verblosen Wurzelstrukturen muss daher einen Bezug zur lexikalischen Kategorie der Verben und zu den für Verben gültigen Bedingungen der Argumentlizenzierung herstellen - wie auch immer deren technische Explikation im Einzelnen aussehen mag. Ein bloßer Bezug auf die Semantische Form, die den Konstituenten zugewiesenen thematischen Rollen, genügt offensichtlich nicht, da es gerade Bedingungen der Funktions-Argument-Zuordnung sind, für die Beschränkungen gelten. Ein Bezug auf die Syntax der Verbalprojektion ist natürlich mit dem Problem konfroniert, dass ein overtes verbales Lexem gerade nicht vorkommt. <?page no="74"?> Christian Fortmann 74 Die hier visierte Analyse beruht denn auch wesentlich auf dem Postulat und der Motivierung einer verbalen Leerkategorie, welche die Kopfposition der das Gesamtsyntagma repräsentierenden VP ausfüllt. 3. Holzwege 3.1 Gegen Ellipse Eine zu erwägende Erklärung der verblosen Wurzelstrukturen könnte sie als Ellipsen eines je spezifischen individuellen Verbs ansehen. Allerdings wäre angesichts der ubiquitär vagen Verwendung dieses Begriffs ohne eine strukturelle Explikation nicht mehr als eine Benamsung gewonnen. Einschlägig bekannte Fälle wie Koordinations- oder Antwortellipsen können kein Muster für die hier zu erklärenden Sachverhalte abgeben. Koordinationsellipsen sind an einen spezifischen syntaktischen Kontext - eben eine Koordinationsstruktur - gebunden, der bei den Wurzelstrukturen gerade nicht vorliegt. (25) a. Anton isst eine Flunder und Frieda isst einen Aal. b. ich sehe Anton eine Flunder essen und Frieda einen Aal essen. Die elidierte Komponente, das (finite) Verb, ist in einem der Konjunkte overt repräsentiert. In gleicher Weise erscheint bei Antwortellipsen das elidierte Element im Diskurskontext der vorangehenden Frage. (26) a. wer isst was? b. Anton isst eine Flunder und Frieda isst einen Aal. Was die verblosen Wurzelstrukturen gegenüber diesen Fällen auszeichnet, ist einerseits das Fehlen eines syntaktischen oder pragmatischen Kontextes, in dem ein Element vorkommt, in Verhältnis zu welchem die elliptische Struktur lizenziert wird. Andererseits ist bei zulässiger Ellipse wie in (25)/ (26) der elidierte Gehalt unter Identität mit einem in besagtem Kontext gegebenen Element zu rekonstruieren. Bei den verblosen Formen fehlt es also an einer lexikalisch overten Quelle für die Erschließung eines verbalen Prädikats. Weiter ist es für die verblosen Wurzelstrukturen nun gerade bezeichnend, dass man überhaupt nicht von der Elision eines spezifischen Verbs ausgehen kann. Weder lassen sich alle möglichen Fälle von Wurzelstrukturen auf die Elision eines einzigen spezifischen Verblexems zurückführen, vgl. (27), noch kann für eine gegebene Instanz immer eindeutig nur eines bestimmt werden, vgl. (28). (27) a. (die) Hemden in den Schrank legen/ *stellen. b. (die) Schuhe in den Schrank *legen/ stellen. <?page no="75"?> Vermeintlich verblose Direktiva - stumme Prädikatsbildung in Wurzelstrukturen 75 (28) a. diesem System keinen Mann und keinen Groschen geben/ bewilligen. d. dem Herrn am Nebentisch einen Kaffee geben/ kredenzen/ servieren. Schließlich lässt sich für die Konstellation in (6f) - direktionale PP verknüpft mit einer mit-PP - in der Regel kaum ein Verblexem ausmachen, welches einer angenommenen Elision zugrunde zu legen wäre. Dann wird aber überhaupt jegliche Annahme von Tilgung eines in der Struktur zunächst repräsentierten lexikalischen Elements suspekt. Damit wiederum bleibt die Analogie dieser Konstruktion zur verbalen Prädikatsbildung erklärungsbedürftig. 3.2 Konstruktion In ausdrücklicher Wendung gegen eine derivationelle Erklärung der von ihm als verblose Direktiva bezeichneten Wurzelstrukturen der Form (29) schlägt Jacobs (2008), wie bereits angedeutet, deren Analyse als Konstruktionen vor. 13 (29) a. her mit dem Geld! b. in den Müll mit diesen Klamotten! c. raus aus meinem Haus! 14 Die für die resp. Verknüpfungen von Adverb/ direktionaler PP und mit-PP resp. Adverb und direktionaler PP angenommene kategoriale, d.h. phrasenstrukturelle, Repräsentation ist in der Konstruktion unmittelbar ihrer Bedeutungsrepräsentation assoziiert. Hier interessiert zunächst nur der die Phrasenstruktur betreffende Aspekt. Die in (29) gegebenen Konstituentenfolgen werden als unmittelbare Verknüpfungen zweier Konstituenten verstanden, die eine als U - für unembedded - bezeichnete exozentrische Phrasenstruktur bilden. (30) a. [ U X Adv,dir [ PP mit P Y NP,dat ]] b. [ U X PP,dir [ PP mit P Y NP,dat ]] c. [ U X Adv,dir Y PP,dat ] Mit (30) ist der in (29) erkennbaren Varianz in der kategorialen Bestimmung der Strukturkomponenten Rechnung getragen. Insofern die in der Konstruktion gegebene Form-Bedeutungs-Zuordnung direkt ist, ist eine Erweiterung des Formeninventars um weitere ebenso exozentrische Konstruktionen grundsätzlich möglich und damit auch die Einbeziehung von (23a/ b). Allerdings ergibt sich dann die oben angesprochene Problematik, wie die in (18) und (19) ange- 13 Jackendoff/ Pinker (2005) sehen die Gegenstücke im Englischen: PP-with-NP gleichfalls als nicht (vollständig) regelbasiert an. 14 In diesem Fall gibt es keinen Thema-Ausdruck. Es dürfte hier eine der in Anmerkung 9 benannten ähnlichen Konstellation unter unmittelbarem Adressatenbezug vorliegen, bei welcher der Adressat (präferiert) als Aktor und bewegte Entität identisch ist. <?page no="76"?> Christian Fortmann 76 führten nicht vorfindbaren Konstituentenverknüpfungen ausgeschlossen werden sollen. Ohne Bezug auf die VP-Syntax muss solcher Ausschluss als stipuliert erscheinen, wie umgekehrt dann aber auch die möglichen Formen. 3.3 Anti-Passiv In einer Replik auf den Vorschlag von Jacobs bietet Müller (2011) eine derivationelle Erklärung der verblosen Direktiva, in der diese als eine Instanz von Anti-Passiv charakterisiert werden. Beim Anti-Passiv (einer für Ergativsprachen typischen Diathese) wird das interne Argument eines transitiven Verbs anstatt im Akkusativ durch eine mit-PP realisiert. Bei dieser Diathese wird die Zuweisung von Akkusativ unterdrückt. Ohne auf die technische Ausführung des Vorschlags hier näher einzugehen, ist einsichtig, dass dadurch jedenfalls die von Jacobs gegebenen Fälle in (29) erfasst werden. Als eine sich aus dem Anti-Passiv unmittelbar ergebende Konsequenz wird die Unterdrückung des externen Verbarguments hervorgehoben (die im Jacobsschen Modell stipuliert werden muss). Da das Deutsche zu den Nominativ-Akkusativ-Systemen gehört, kann aufgrund der Generalisierung von Burzio bei Nicht-Zuweisung des Akkusativs das externe Argument nicht im Nominativ realisiert werden und muss daher syntaktisch unausgedrückt bleiben (Müller 2011, S. 223). Sofern man dieser Analyse folgt, ergibt sich aber sofort eine evidente empirische Beschränkung: Alle verblosen Wurzelstrukturen, in denen das Thema- Argument durch eine Akkusativ-NP realisiert wird (vgl. (13)/ (14)), sind einer Anti-Passiv-Erklärung per se entzogen. Namentlich der ebenso strikte Ausschluss der overten Subjekt-Realisierung bei Vorkommen eines Akkusativ- Objekts bleibt dabei ohne Erklärung. Schließlich erweisen noch die Fälle transitiver Verben wie des genannten rücken, die eine alternative Realisierung eines Thema-Arguments als Akkusativ-NP oder mit-PP erlauben, ohne dabei das externe Subjekt-Argument in irgendeiner Weise zu tangieren, dass das Anti- Passiv keine hinreichende Erklärungsgrundlage für das Vorkommen von mit- PPen als Thema-Ausdruck in der Syntax des Deutschen zu liefern vermag. 15 Es wäre also ein recht idiosynkratisches Postulat, für die Analyse der mit-PP eigens für die verblosen Direktiva ein Anti-Passiv-Reservat einzuhegen. Festgehalten werden sollte allerdings an der von Müller gemachten Annahme, dass auch die verblosen Direktiva als Strukturen zu betrachten sind, deren syntaktische Repräsentation die eines verbalen Kopfes einschließt. 15 Ein Bezug zum regulären Vorkommen von Thema-Argumenten in der Form von mit-PP wird auch in den Arbeiten von Schwabe (1994) und Wilder (2008) nicht hergestellt. <?page no="77"?> Vermeintlich verblose Direktiva - stumme Prädikatsbildung in Wurzelstrukturen 77 4. Illokution Wie nicht-finite Wurzelstrukturen der Konstellationen (4)-(6) allgemein unterliegen auch die verblosen Varianten Einschränkungen hinsichtlich der Illokution, die sie kodieren können. In der von Jacobs gewählten (und von Müller übernommenen) Bezeichnung als verblose Direktiva ist der Illokutionstyp benannt - vor dem Hintergrund der Annahme seiner in der Konstruktion basierten Bestimmung. Ganz offensichtlich haben alle in (6) versammelten Varianten eine Verwendung, in welcher der Sprecher einen direktiven Sprechakt den Adressaten gegenüber vollzieht. Weniger offensichtlich ist allerdings, wie und wodurch diese Verwendung kodiert wird. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass Wurzelstrukturen, die mit einem Verb im Inifinitiv (1. Status) gebildet werden, den gleichen Illokutionstyp realisieren können (vgl. Reis 2003; Rapp/ Wöllstein 2009). Es bietet sich an, mit einer Rekapitulation der von Jacobs und Müller gemachten Vorschläge zu beginnen. Wie schon angedeutet, erfasst Jacobs die Illokutionstypbestimmung durch die mit der Konstruktion bedingte Form-Bedeutungs-Zuordnung. Der Illokutionstyp - DIR ill - wird dabei unmittelbar in der Semantischen Repräsentation kodiert - und damit für jegliche Verwendung festgelegt. (31) zeigt den exemplarischen Fall der PP-mit-Direktiv-Konstruktion. 16 (31) Phon / X mit Y/ Kat [ U X PP,dir [ PP mit P Y NP,dat ]] Sem DIR ill (sp, adr, [GO-END(x, w) & Y’(x) & X’(w)]) Aus (31) wäre zu folgern, dass jegliches Vorkommen eines nach der in Kat festgelegten Form gebildeten Syntagmas ein Direktiv und nur ein solches kodieren kann, andere als direktive Verwendungsweisen also nicht möglich sind. 17 In seiner Diskussion des Jacobsschen Vorschlags hat Müller nun darauf verwiesen, dass unter passender Intonation (unter steigendem Verlauf) eine Äußerung wie (32) notwendig als Frage interpretiert wird. (32) in den Müll mit den Klamotten? Es sind zudem nicht nur Entscheidungsfragen wie (32), sondern auch Konstituentenfragen, welche in Gestalt verbloser Wurzelstrukturen vorkommen. 16 Der Umstand, dass der Adressat des Sprechaktes zugleich als Verursacher der durch das Prädikat in Sem bezeichneten Bewegung interpretiert wird, müsste als Ergebnis einer pragmatischen Inferenz angesehen werden. 17 Dass die Benennung der Konstruktion als Direktiv sich auf die Illokution - und nicht etwa auf die Direktionalität der PP/ Adverb-Ergänzung - gründet, ist in (31) erkennbar. <?page no="78"?> Christian Fortmann 78 (33) a. wohin mit dem Müll? b. was in den Schrank? c. wem einen Kaffee? d. warum in den Müll mit den Sachen? Diese Einwendungen mögen unter konstruktionsgrammatischen Auspizien vorderhand keine allzu großen Anfechtungen bedeuten, da Fragen ihrerseits einen spezifischen Konstruktionstyp darstellen, der mit anderen Konstruktionen kombiniert sein kann (Goldberg 2006, S. 21). Dennoch bleibt ein kritischer Punkt. In Wurzelsätzen ist die (grammatische) Festlegung des Illokutionstyps stets einfach und eindeutig - was natürlich die Verwendung in indirekten Sprechakten nicht ausschließt. Ein finiter Satz kann beispielsweise nicht zugleich als deklarativ und interrogativ bestimmt sein. Hat eine Form mehrere Möglichkeiten der Illokutionstypbestimmung, schließt jegliche Festlegung die anderen aus. Der direktive Illokutionstyp par excellence, der Imperativ, beispielsweise lässt sich nicht mit dem Interrogativ verschmelzen: (35) a. mach/ macht die Tür zu! b. *was mach/ macht zu? Hält man an der in (31) gegebenen Repräsentationsform fest, lassen sich die Fälle (32) und (33) wohl nur erfassen, wenn die Bestimmung DIR ill nicht notwendig der Semantischen Repräsentation invariant eingeschrieben ist. 18 Der von Müller (2011, S. 226f.) aufgrund seines Einwands gemachte Vorschlag, dass die Frage-Illokution von (32) ein unmittelbarer Reflex der angenommenen Bewegung des stummen Verbs in die Kopfposition der die Gesamtstruktur repräsentierenden CP sei, trifft die Sache allerdings auch nicht. Sie kann nämlich die Interpretation weder von Fragen wie (32) noch wie (33) hinreichend erklären. Formen wie (32) verfügen nämlich nicht einfach, wie von Müller angenommenen, wahlweise über eine Interpretation als Imperativ- oder Interrogativsatz, was sich unmittelbar aus der Situierung in C 0 ergäbe; vielmehr bleibt bei den Fragen in (32) und (33) der Bezug auf die direktive Illokution erhalten und wird nicht etwa getilgt. Dies lässt sich leicht anhand möglicher Paraphrasen klar machen. So wird eine Frage wie (36a) oder (37a) nicht wie (36b)/ (37b) interpretiert, sondern wie (36c)/ (37c). 18 Dieser Einwand trifft mutatis mutandis auch die Modellierung von Wilder (2008) und deren Erweiterung auf das Deutsche. Darin wird ein stummer IMP(erative) Kopf postuliert. Wilder selbst weist allerdings bereits auf die Probleme hin, die seiner Analyse aus solchen interrogativen Varianten erwachsen. <?page no="79"?> Vermeintlich verblose Direktiva - stumme Prädikatsbildung in Wurzelstrukturen 79 (36) a. wem einen Kaffee? b. wem gebe ich/ gibt man einen Kaffee? c. wem soll ich/ man einen Kaffee geben? (37) a. warum in den Müll mit den Sachen? b. warum werfe ich/ wirft man die Sachen in den Müll? c. warum soll ich/ man die Sachen in den Müll werfen? Das Ergebnis ist also ein wenig dilemmatisch: Aus den Überlegungen von Müller ergibt sich zwar auf reguläre Weise die mögliche interrogative Interpretation von verblosen Wurzelstrukturen, aber eben nicht der Erhalt des direktiven Moments. Dem Vorschlag von Jacobs steht entgegen, dass bei unmittelbarer grammatischer Festlegung des Illokutionstyps der Konstruktion deren Revision dunkel bleibt. Ein Ausweg eröffnet sich, wenn man sich an die Paraphrasen in (36c)/ 36c) und von (32), d.h. Sätze mit einem Modalverb hält: (38) soll ich/ man die Sachen in den Müll werfen? Der interrogative Illokutionstyp ist hier unmittelbar durch die Verbbewegung resp. in (33) durch die [+w]-Phrase determiniert. Die direktive Interpretation erschließt sich aus der Interpretation des Modalverbs. Sätze mit sollen oder müssen bezeichnen stets irgendeine Art von Geboten und referieren insoweit auf unterstellte individuelle oder generalisierte direktive Sprechakte. Diese Separierung des direktiven Moments in der Interpretation von der strukturellen Festlegung des Satzmodus erlaubt eine Erklärung der direktiven Lesart für alle Beispiele der Ausgangskonstellation in (6) aufgrund genereller grammatischer Prinzipien. Hier sind zunächst die den interrogativen in (36)-(38) korrespondierenden deklarativen Formen mit Modalverben zu betrachten. Wird im Kontext eines Diskurses ein deklarativer sollen-Satz mit einem Subjekt der 2. Pers. geäußert, dann kann dieser (und wird es wohl zumeist) als ein indirekter Sprechakt gemeint und verstanden werden, der einen spezifischen Imperativ ausdrückt. (39) a. Du sollst dem Herrn einen Kaffee geben. b. Du sollst die Sachen in den Müll werfen, weil sie verdorben sind. c. Ja! Du sollst die Sachen in den Müll werfen. Unter der ansonsten wohlbegründeten Annahme, dass prima facie assertive Äußerungen als indirekte direktive Sprechakte verstanden werden können, wenn sie, in der genannten Form, eine modale Interpretation haben, lässt sich die direktive Interpretation der verblosen Wurzelstrukturen erklären, wenn für diese aufgewiesen werden kann, wie die modale Interpretation zustande kommt. Dies ist als nächstes zu beleuchten. <?page no="80"?> Christian Fortmann 80 5. Modal-Interpretation und verbale Leerkategorie Wie eingangs vermerkt, besteht im Fehlen von Finitheitsmerkmalen eine gemeinsame (negative) Eigenschaft von Wurzelinfinitiven und verblosen Direktiva. Es ist daher zu erwarten, dass die aus diesem Mangel sich ergebenden Konsequenzen für die Interpretation beide Formvarianten gleichermaßen treffen - unbeschadet der Unterschiede, die aus der Präsenz vs. Nicht-Präsenz eines lexikalischen Verbs sich ergeben. Im Zusammenhang der Diskussion von (4) ist ebenfalls bereits angemerkt, dass Wurzelstrukturen mit dem reinen Infinitiv (1. Status) stets eine modale Interpretation haben und ein direktives Potenzial einschließen. Insoweit besteht also eine ersichtliche Parallele zwischen Wurzelinfinitiven dieses Typs und den verblosen Wurzelstrukturen. Von diesen beiden Sachverhalten ist in den weiteren Überlegungen als einer empirischen Prämisse auszugehen. Wie sich aus der Darstellung des Formen- Inventars, aus dem die verblosen Strukturen gebildet sind, bereits ergeben hat, besteht eine Beschränkung auf solche Formen, die andernfalls in Verbal- Syntagmen miteinander koexistieren können. Eine Erklärung sowohl dieser Formen als auch der spezifischen Interpretation der gesamten Wurzelstruktur ergäbe sich auf naheliegende Weise, wenn die verblosen Wurzelstrukturen systematisch auf die mit einem Infinitiv zurückgeführt werden könnten. Dies wiederum wäre der Fall, wenn für die verblosen Formen das Vorkommen eines stummen verbalen Elements begründbar wäre, welches einerseits ein Prädikat mit den erforderlichen semantischen Bestimmungen und andererseits die nötigen Lizenzierungsbedingungen für die grammatische Funktionszuweisung und deren Variation beisteuert. Im Gang der weiteren Überlegungen soll aufgewiesen werden, dass eben eine solche Erklärung wohl begründet ist. 5.1 Das Prädikat In Rücksicht auf den propositionalen Gehalt verbloser Wurzelstrukturen liegt deren Gemeinsamkeit darin, dass alle Formen auf einem kausativen Bewegungsresp. Transfer-Prädikat basieren, was durch die Zuordnung einer passenden Semantischen Form, eines Theta-Rasters oder dergleichen zu erfassen ist. In dieser Hinsicht besteht eine evidente Parallele zu lexikalisierten Formen der resp. Verbklassen. Zunächst als ein bloßes Faktum muss konstatiert werden, dass verblose Wurzelstrukturen auf eben diesen Prädikatstyp beschränkt zu sein scheinen. Interpretationen in Korrespondenz zu Handlungsverben, gleichviel ob transitiv oder nicht, begegnen ebenso wenig wie solche von (unakkusativen) Bewegungs- oder Zustandsänderungsverben. Es wäre indessen wenig plausibel, dies als eine Beschränkung qua Prädikatstyp zu deuten. Es gibt keinen einsichtigen Grund, warum die Verursachung von Bewegung oder Transfer gegenüber Handlung resp. bloßer Bewegung oder <?page no="81"?> Vermeintlich verblose Direktiva - stumme Prädikatsbildung in Wurzelstrukturen 81 Zustandsänderung dafür privilegiert sein sollte, ein stummes Prädikat zu bilden. Gründe für diese Restriktion - auch wenn sie hier nicht entfaltet werden können - sind eher in den Lizenzierungsbedingungen zu suchen, denen jegliche phonologische Leerkategorien unterliegen; womöglich auch in spezifischen Anforderungen an die Informationsstruktur. 5.2 Argumentrealisierung Hinsichtlich der syntaktischen Realisierung der Argumente des Prädikats konvergieren die unterschiedenen Fälle darin, dass das externe, also Subjekt-Argument in der Struktur overt nicht erscheinen kann, sondern implizit bleibt. Alle anderen Argumente werden hingegen overt repräsentiert. Diese Argumentrealisierung wiederum unterliegt der bereits aufgewiesenen Bedingung, dass nur solche Formen zulässig sind, die überhaupt in Verbal-Projektionen als Verbergänzungen vorkommen können. Dieser letztere Umstand bedingt, dass in der strukturellen Repräsentation die generell für Verben wirksamen, die Zuordnung von Argument und grammatischer Funktion determinierenden Linking-Bedingungen Eingang finden müssen - nur so können die in (18) und (19) bezeichneten Konstellationen ausgeschlossen werden (Thema-Genitiv/ Dativ + Thema-mit-PP). All dies lässt sich wiederum am einfachsten erklären, wenn die Gesamtstruktur als Projektion eines verbalen Kopfes, damit als eine VP, analysiert wird. Für die verschiedenen Varianten aus (6) ergeben sich dann die syntaktischen Repräsentationen in (40). (40) a. [NP [NP e V ]] b. [NP [PP e V ]] / [PP [NP e V ]] c. [PP [PP mit e V ]] / [PP mit [PP e V ]] d. [Adv [PP e V ]] Sofern weiter das Leerelement e V das zuvor benannte Prädikat repräsentiert, ergibt sich aus (40) die Grundlage der Interpretation der Gesamtstruktur. 19 In der Unabhängigkeit dieses Leerelements von irgend spezifizierten Lexemen 19 Im Zusammenhang der Bedingung (21) ist darauf hingewiesen, dass verblose Wurzelstrukturen nur durch solche Subkategorisierungs-Muster gebildet werden, welche auch bei monomorphemischen Verben anzutreffen sind. Mit Rücksicht auf die hier postulierte verbale Leerkategorie bedeutet dies, dass diese ein komplexes Verb, wie es aus Affigierung hervorgeht, nicht repräsentieren können. Man mag das darauf zurückführen, dass die einschlägigen Präfixe, welche etwa bei Verben mit Thema-Argument im Genitiv vorkommen - vgl. berauben - keine stummen Entsprechungen haben. In jedem Fall dürfte der Sachverhalt Konsequenzen bezüglich der Repräsentation von Verben mit komplexer Ereignisresp. Argumentstruktur haben. Werden auch bei prima facie monomorphemischen Stämmen diese morphologisch/ syntaktisch dekomponiert, ergeben sich jedenfalls spezifische Anforderungen an die Erklärung von (21). Auf mögliche Komplikationen sei hier nur aufmerksam gemacht. <?page no="82"?> Christian Fortmann 82 mit phonologischer Matrix besteht der wesentliche Unterschied zu Analysen, die auf Ellipsen im Sinne von Tilgung eines in der syntaktischen Struktur gleichwohl repräsentierten Verbs gründen - wie sie oben (Abschnitt 3.1) verworfen sind. 5.3 Lizenzierung von e V Leerkategorien können generell immer nur unter spezifischen Lizenzierungsbedingungen in einer syntaktischen Struktur vorkommen. Diese Bedingungen umfassen zunächst eine strukturelle Relation zu einem lizenzierenden Element und eine Lokalitätsbedingung. Bei Leerelementen, die nicht durch eine Bewegungs-Transformation erzeugt werden, - und nur um solche Fälle geht es hier - ist die Lizenzierung an gewisse lexikalische und/ oder funktionale Elemente als Funktoren geknüpft. Den Schulfall bilden mitverstandene Argumente, wie etwa die stummen Subjekte satzförmiger Infinitive oder die von finiten Sätzen in den pro-drop-Sprachen. Sie werden durch einen verbalen/ funktionalen Kopf lizenziert, wobei die Lokalitätsdomäne durch dessen maximale Projektion bestimmt ist. In den Fällen der Lizenzierung eines Arguments durch einen Funktor ist die erforderliche strukturelle Relation dadurch etabliert, dass das Argument von einer (erweiterten) Projektion des Funktors oder diesem selbst c-kommandiert wird. Zu dieser formalen Lizenzierung tritt dann regelmäßig eine thematische durch Zuweisung einer thematischen Rolle. Während bei stummen Argumenten die den Funktor repräsentierende Konstituente als lizenzierende Instanz fungiert, ist bei den verblosen Wurzelsätzen die Situation komplementär dazu: Lexikalisch gegeben sind die Argumente und stumm bleibt der Funktor, die phrasenstrukturelle Konfiguration ist aber in beiden Fällen gleich. Was die formale Lizenzierung des leeren V-Kopfes in (40) angeht, so ist sie jeweils dadurch gewährleistet, dass die lizenzierenden Argumente diesen c-kommandieren. Der Gehalt der Lizenzierung wiederum kann auch hier plausibel im Zuweisungsverhältnis einer thematischen Rolle festgemacht werden. Der Unterschied zur Argument-Lizenzierung liegt lediglich darin, dass bei dieser die Zuweisung ausgehend von der Quelle, bei jener (Lizenzierung des Kopfes) dagegen ausgehend vom Ziel in Anschlag kommt. Im ersten Fall wird die thematische Lizenzierung aus dem Prädikat erschlossen, im zweiten deren möglicher Gehalt aus der Form/ grammatischen Funktion der gegebenen Argumente. <?page no="83"?> Vermeintlich verblose Direktiva - stumme Prädikatsbildung in Wurzelstrukturen 83 5.4 Besonderheiten des Argument-Linking Aus der kategorialen Qualifizierung des leeren Kopfes als Verb ergibt sich, dass die grammatische Funktionsbestimmung der Konstituenten, die die Wurzelstruktur bilden, Bedingungen unterliegt, die generell für Verben gelten und solche ausschließen, die beispielsweise in nominalen Syntagmen gegeben sind. Allein, aus dem Umstand, dass es sich beim verbalen Kopf der Wurzelstruktur um eine Leerkategorie handelt, die einer Reihe spezifischer Bedingungen für die Konstituierung von verbalen Elementen des Lexikons enthoben ist, ergeben sich Optionen der Argumentlizenzierung, die bei lexikalischen Varianten mit phonologischer Matrix nicht (ohne weiteres) zu erwarten sind. Einmal entbehren sie jeglicher spezifizierender Bedeutungskomponenten, welche die Art der Bewegung, die aus ihr resultierende Situierung des bewegten Objekts und dergleichen näher bestimmen. Dies erhellt aus Paaren wie in (41), für deren Paraphrasen verschiedene Verben erforderlich sind - resp. unproblematisch insertiert werden können. (41) a. die Hemden in den Schrank (legen/ *stellen). b. die Schirme in den Ständer (*legen/ stellen). Andererseits ist diese Leerkategorie nicht auf eine durch individuelle Verblexeme spezifizierte Fassung der Linking-Bedingungen festgelegt. Die Assoziierung von Argumenten und grammatischen Funktionen ist variabel und schöpft das Potenzial der einschlägigen Verben aus; namentlich das Themaargument variiert in den Formen NP AKK und mit-PP. Es mag zunächst erstaunen, Leerkategorien von solchen individuellen Spezifikationen auszunehmen. Es ist dies jedoch kein Sonderfall und begegnet auch bei anderen, so bei PRO. Schon immer sind in Strukturen mit arbiträrer Kontrolle dem PRO-Subjekt unterschiedliche lexikalische Gehalte assoziiert worden. Es wird nämlich in gewissen Konstellationen in Entsprechung zu einem Personalpronomen interpretiert, in anderen wie ein indefinites man. (42) a. [anstatt PRO i zu arbeiten] vertrödelt Anton i hier seine Zeit. b. [anstatt PRO i zu arbeiten] vertrödelt man i hier seine Zeit. Diese Varianz in der Bestimmung des pronominalen Gehalts wird wieder in den möglichen Paraphrasen durch finite Nebensätze deutlich. (43) a. anstatt dass er/ *man arbeitet, vertrödelt Anton hier seine Zeit. b. anstatt dass man/ *er arbeitet, vertrödelt man hier seine Zeit. Die lexikalische Wahl des Subjekts im Hauptsatz determiniert die des Nebensatzes in (43). Entsprechend muss für (42) angenommen werden, dass das <?page no="84"?> Christian Fortmann 84 stumme PRO-Subjekt des Infinitivs den unterschiedlichen Anfordernissen des Hauptsatzsubjekts an das jeweilige anaphorische Element zu entsprechen vermag. Eine Leerkategorie kann also überhaupt gewisse lexikalische Distinktionen ignorieren, welche bei der Wahl von Lexemen mit einer phonologischen Matrix nicht unspezifiziert bleiben können. Neben der Liberalisierung in den Bedingungen der Argumentrealisierung bei einem phonologisch leeren verbalen Element ist aber auch der in Anmerkung 10 genannten Beschränkung zu gedenken. Das bei präfigierten Verben wie berauben gegebene Subkategorisierungsmuster: Thema-Ausdruck in Form eines Genitiv-Objekts, Source-/ Patiens-Ausdruck in Form eines Akkusativ- Objekts ist bei verblosen Wurzelstrukturen ausgeschlossen. Dies lässt sich aber damit erklären, dass phonologische Leerelemente per se morphologisch nicht komplex sein können. Sofern also das besagte Muster von der be-Präfigierung und damit einhergehender Modifikation der Linking-Bedingungen abhängt, ist dessen Fehlen in der Struktur ohne overtes Verb plausibel. Konzediert man die Möglichkeit verbaler Elemente ohne phonologische Matrix, die in den Konstellationen (40a-c) den Status von Wurzel-Morphemen haben, wird auch der Fall von Adverb-mit-PP-Strukturen weniger mysteriös. Jacobs (2008, S. 23) bemerkt dazu, dass Adverben im Deutschen keine kategoriale Valenz haben und diagnostiziert darin ein Hindernis für eine derivationelle Analyse von Beispielen wie (6i) und den weiteren in (44) angeführten: (44) a. herunter mit den Äpfeln! b. nieder mit den Studiengebühren! c. weg mit dem Krempel! d. her mit dem Geld! Auch hier ist zuerst festzuhalten, dass der Thema-Ausdruck mittels einer mit-PP eine Möglichkeit darstellt. Daneben begegnen auch Adv-NP AKK - Kombinationen. (45) a. die Waffen nieder! b. die Hände weg! c. Bier her! d. Nazis raus! e. (den) Kopf hoch! In Rücksicht auf die Realisierung des Thema-Arguments bestehen hier also die gleichen Alternativen wie bei der Verknüpfung mit direktionalen PPen. Den verblosen Strukturen (44) und (45) stehen nun auch wieder solche gegenüber, die ein overtes, infinitivisches Verb enthalten. <?page no="85"?> Vermeintlich verblose Direktiva - stumme Prädikatsbildung in Wurzelstrukturen 85 (46) a. die Waffen niederlegen! b. die Hände wegnehmen! c. rausrücken mit dem Geld! In (46) kehren die in (44)/ (45) gegebenen Adverben als Verbpartikel wieder. Das Vorkommen einer Objekt-NP resp. einer mit-PP ist hier unmittelbar aus den Subkategorisierungseigenschaften der Partikelverben zu erklären. Wenn man nun die Beispiele in (43) und (45) ebenso wie die oben diskutierten Kombinationen aus direktionaler PP und NP resp. mit-PP als Strukturen analysiert, welche eine stumme verbale Leerkategorie einschließen, lassen sich die Adverben in (44) und (45) als Verbpartikel kategorisieren. Der einzige Unterschied zu den Fällen in (46) besteht dann darin, dass in dieser Form ein overter Verbstamm sich mit einer Partikel zu einem Verb verknüpft, während in jener es ein stummer Verbstamm ist, der diese Verknüpfung eingeht. Für (45) ist daher eine Struktur wie (47) anzusetzen. (47) a. die Waffen [nieder-e V ]! b. die Hände [weg-e V ]! c. Bier [her-e V ]! d. Nazis [raus-e V ]! e. (den) Kopf [hoch-e V ]! Als skeptischer Einwand mag dann noch erhoben werden, dass ein Thema- Argument bei Partikelverben nur äußerst selten durch eine mit-PP realisiert werden kann (herausrücken gibt ein Beispiel). Hier gilt aber analog, was zuvor schon bezogen auf die Verknüpfung solcher PP mit einer direktionalen gesagt ist. Das phonologisch leere mit einer Partikel verknüpfte Verb unterliegt keinen lexemspezifischen Linking-Bedingungen wie die overten; eine höhere Vorkommenshäufigkeit von Formen wie (44)/ (45) ist daher kein Einwand gegen die Annahme eines stummen verbalen Kopfes, sondern umgekehrt indirekte Evidenz für deren Rechtfertigung. 20 6. Informationsstruktur An dieser Stelle ist eine Bemerkung zur Abfolge der beiden Komponenten der verblosen Wurzelstrukturen am Platz. Wird diese durch eine NP und eine direktionale PP resp. ein Adverb/ Verb-Partikel gebildet, dann geht die NP der zweiten Komponente regelmäßig voran. Besteht sie hingegen aus einer 20 Nur der Vollständigkeit halber sei vermerkt, dass Präfixe als gebundene Morpheme eines overten Stammes bedürfen und deswegen in einer Konstellation wie (47) nicht vorkommen können (vgl. Anm. 19). <?page no="86"?> Christian Fortmann 86 mit-PP nebst direktionaler PP oder Adverb/ Verb-Partikel, dann folgt diese PP regelmäßig der direktionalen PP resp. dem Adverb. (48) a. das Geld her! b. her mit dem Geld! Diese Sachverhalte sind bislang wenig diskutiert, allemal nicht die darin gegebene Divergenz. Wilder spricht mit Blick auf die zweite Variante von einer strikt restringierten Abfolge direktionale PP vor mit-PP (Wilder 2008, S. 238ff.), ohne die Variante mit nominalem Thema-Argument zu würdigen. Die strikte Abfolge resultiere aus einer obligatorischen Umstellung der direktionalen PP vor das Thema-Argument - deren Obligatorik allerdings nur postuliert bleibt. Ein empirischer Einwand ergibt sich hier nicht nur aus (48a) sondern auch aus Alternativen wie (49). (49) a. niemals mit den Fingern an die Phase! b. schleunigst mit dem Kind zum Arzt! Diese Beispiele sind vollkommen natürlich, wenngleich deren Äußerung einen pragmatisch passenden Kontext erfordert. Erhellend sind sie allemal, insofern sie auf die Wirksamkeit von Faktoren verweisen, die die Informationsstruktur determinieren und womöglich auch bei der für kanonisch gehaltenen Abfolge zur Geltung kommen. Es besteht hier eine instruktive Parallele zu Imperativen von Verben mit alternativem Thema-Ausdruck wie rausrücken. Je nachdem, in welcher Form das Thema-Argument realisiert wird, ergeben sich auch hier zwei Stellungsvarianten hinsichtlich der relativen Position von Partikel und Argument in Abhängigkeit von der Platzierung des Akzents. (50) a. rück das GELD raus! b. #rück RAUS das Geld! c. rück mit dem GELD raus! d. rück RAUS mit dem Geld! Die Situierung des Thema-Arguments in einer der Partikel folgenden Position ist ohne Komplikationen möglich, wenn es in Form einer PP erscheint. In Gestalt einer Akkusativ-NP ist dem Thema-Argument eine Situierung in dieser Position verwehrt, zumindest ist sie stark markiert. Dieser Sachverhalt entspricht der notorischen Nachfeld-Phobie von Nominalphrasen. Die resp. Stellungsmuster in (50) korrespondieren ihrerseits solchen der Akzentuierung, wie sie dort ebenfalls angedeutet sind. Dies wiederum verweist auf unterschiedliche informationsstrukturelle Gliederungen. Ohne auf die hier wirksamen Bedingungen im Detail einzugehen und sie theoretisch zu rekonstruieren, mag es genügen, die einschlägigen empirischen Sachverhalte darzulegen. <?page no="87"?> Vermeintlich verblose Direktiva - stumme Prädikatsbildung in Wurzelstrukturen 87 In Bezug auf die Fokus-Hintergrund-Gliederung lassen sich durch passende Fragekontexte die Bedingungen für die resp. Antworten festlegen, so auch, wenn diese in der Äußerung von Imperativen gehalten sind. Im Kontext einer Frage, die einen weiten Fokus determiniert, wie in (51a), sind Antworten angemessen, in welchen weite Fokus-Projektion möglich ist: (51) a. was soll ich tun? b. rück das GELD raus! c. rück mit dem GELD raus! d. *rück raus das GELD! e. *rück raus mit dem GELD! f. *rück das Geld RAUS! g. *rück mit dem Geld RAUS! h. *rück RAUS das Geld! i. *rück RAUS mit dem Geld! Fokusprojektion ist nur möglich, wenn das Kopf-Nomen des der Verbposition (repräsentiert durch die Partikel) vorangehenden Arguments betont wird. In allen anderen Abfolge- und Akzent-Varianten ist sie blockiert. Im Kontext einer Frage, welche engen Fokus - in (52a) auf dem Verb - für die Antwort determiniert, ergeben sich die Optionen in (52b-e). (52) a. was soll ich mit dem Geld machen? 21 b. rück‘s RAUS! c. rück das Geld RAUS! d. rück mit dem Geld RAUS! e. rück RAUS mit dem Geld/ damit! f. ? rück RAUS das Geld! Aufgrund der Beschränkung des Fokus auf das Prädikat muss die Partikel den Akzent tragen. Unter Erfüllung dieser Voraussetzung stellen sich aber Einschränkungen resp. Präferenzen für die Konstituentenfolge ein. Bei pronominaler Wiederaufnahme des Thema-Arguments gibt dessen Klitisierung an das Verb eine natürliche Form (52b). Präzedenz des Thema-Arguments, gleichviel, ob in Form einer NP oder einer mit-PP, ist wohl nicht ausgeschlossen, jedoch gegenüber der Form mit pronominalem Klitikon dispräferiert (52c/ d). Bei nachfolgendem Thema-Argument ist eine mit-PP natürlich, unab- 21 Die vorgängige Formierung des Patiens-Arguments in der Frage als mit-PP kann nicht ausschlaggebend für die vorliegenden (Dis-)Präferenzen sein - es wäre die unauffällige Form (52b) mit klitisiertem Objekt dann nicht erklärlich. <?page no="88"?> Christian Fortmann 88 hängig von expliziter oder Pro-Form (52e). Eine nachfolgende Akkusativ-NP erscheint demgegenüber weniger akzeptabel (52f). Bei enger Fokussierung des Verbs und Prädikatsbildung mit einem transitiven Partikelverb ist eine Tendenz zur Extraposition des Thema-Arguments erkennbar. Sofern Extraposition von Nominalphrasen markiert, von Präpositionalobjekten dagegen unmarkiert ist, resultiert in solchen Fällen die Argumentrealisierung eben in Form einer extraponierten mit-PP. In (50)-(52) haben wir es mit einem lexikalischen Partikelverb zu tun, welches die Realisierung des Thema-Arguments durch eine mit-PP zulässt. Unter der Maßgabe, dass verblose Wurzelinfinitive wie in (48) als Strukturen mit einem stummen verbalen Kopf aufzufassen sind, folgt, dass der overte Prädikatsbestandteil - eben die Partikel - die strukturell gleiche Position inne hat wie in der Konstellation mit overtem Verb. Das bedeutet weiter, dass die mit-PP in (48) gleichfalls als extraponiert aufzufassen ist. Der Umstellung unterliegt also das Thema-Argument und nicht der direktionale Pfad-Ausdruck. Mutatis mutandis ist dann aber auch anzunehmen, dass in den Fällen einer direktionalen PP mit nachfolgender mit-PP letztere extraponiert ist. Hier erklärt sich auch der Umstand, dass Wurzelstrukturen ohne lexikalisches Verb, die eine Verbpartikel und eine mit-PP einschließen, geläufiger erscheinen als solche mit einem overten Verb. Letztere sind nur möglich, wenn das je individuelle Verb einen Thema-Ausdruck durch eine mit-PP lizenziert - und solche Verben sind nicht sonderlich zahlreich. Bei einem stummen Verb hingegen greifen solche lexikalischen Beschränkungen nicht. Da das in diesem Fall gegebene kausale Bewegungsprädikat hinsichtlich des Verursachungs- und Bewegungsmodus unspezifiziert bleibt, ist seine Verwendung weniger restringiert, als die lexikalisch spezifizierter Formen. 7. Weitere Parallelen mit Wurzelinfinitiven Als verblos erscheinen die in (6) angeführten Wurzelstrukturen nurmehr, insofern es ihnen an einem phonologisch realisierten und durch ein spezifiziertes Lexem instantiierten Verb mangelt. Ihre innere Verfasstheit stellt sich als die einer Verbalphrase dar. Als solche wiederum stehen sie in Beziehung zu Verbalphrasen, die gleichfalls Wurzelstrukturen bilden, den Wurzelinfinitiven. Mit diesen teilen sie das Fehlen eines overten Subjektausdrucks und die - aus einer modalen Interpretation ableitbare - direktive Lesart. Diese beiden Aspekte bleiben nun noch zu betrachten. 22 22 Der Bezug auf die Untersuchungen zu den Wurzelinfinitiven bleibt aus Platzgründen auf die Grundlinien der resp. Argumentationen beschränkt. Die Details der argumentativen Ausführung und Begründung finden sich in den angegebenen Arbeiten. <?page no="89"?> Vermeintlich verblose Direktiva - stumme Prädikatsbildung in Wurzelstrukturen 89 7.1 Das stumme Subjekt Verblosen Wurzelstrukturen wie Wurzelinfinitiven ist das Fehlen von Finitheitsmerkmalen gemein. Damit einher geht das Unvermögen, Nominativ- Kasus zuzuweisen. Dies ist der unmittelbare Grund dafür, dass ein overter Subjektausdruck nicht möglich ist. Da der Infinitiv im 1. Status und nicht im 2. (als zu-Infinitiv) vorkommt, ist auch die Repräsentation eines stummen PRO- Subjekts in der syntaktischen Struktur nicht möglich. Die Sättigung des beim Infinitiv gleichwohl mit dessen Argumentstruktur gegebenen externen Arguments kann daher allenfalls inferenziell unter Bezug auf den Äußerungskontext vor sich gehen. Für die Wurzelinfinitive des Deutschen ist ein solches pragmatisches Verfahren in Reis (1995, 2003) vorgeschlagen, mit dem auch die in der Verwendung von verblosen Wurzelstrukturen gegebene Interpretation sich erklären lässt. Als Aktor der vom stummen Prädikat bezeichneten Handlung wird stets der Adressat interpretiert. In den Überlegungen von Jacobs (2008) ist dieser Sachverhalt in der Konstellation der Semantischen Repräsentation stipulativ gesetzt (vgl. (31)); bei Müller (2011) folgt dies aus der Annahme des imperativen Verbmodus. Dem Vorschlag von Reis zufolge wird der Aktor aufgrund minimaler Anreicherung der Interpretation durch die mit dem Redekontext gegebene Information bestimmt. Hier sind naturgemäß Sprecher und Adressat als Partizipanten verfügbar; daher die Äquivalenz der beiden Äußerungen in (53). 23, 24 (53) a. den Abfall bitte in den Müll. b. den Abfall bitte in den Müll werfen. Für die Interpretation des Adressaten als Aktor bei der verblosen Wurzelstruktur sind also keine besonderen Bedingungen zu postulieren, die nicht schon für die Wurzelinfinitive ohnehin angenommen werden müssen. 7.2 Die modale Interpretation Im Abschnitt zu den illokutiven Eigenschaften der verblosen Wurzelstrukturen wurde bereits auf die Probleme eingegangen, die sich einstellen, wenn der direktive Gehalt von Äußerungen wie (53a) aus einer unmittelbaren Verbmodusbestimmung, wie von Müller vorgeschlagen, oder aus einer invarian- 23 Die Frage, ob verblose Wurzelstrukturen auch als selbstadressierte Direktiva Verwendung finden, kann hier offen bleiben, ebenso die bei Wurzelinfinitiven vorzufindende optative Verwendung. Zumindest die erstgenannte Lesart ist wohl nicht schlechthin ausgeschlossen. 24 Zu einer Herleitung modaler Interpretation aus generellen Bedingungen für die Reparatur in der Bedeutungskomposition vgl. Brandt (2016). <?page no="90"?> Christian Fortmann 90 ten Kodierung in der Semantischen Repräsentation, wie von Jacobs angenommen, hergeleitet wird. Stattdessen bietet sich eine Erklärung an, die auf die Analogie zu einem Satz abhebt, der ein Modalverb einschließt. Die modale Interpretation, aus der ein direktiver Sprechakt gefolgert werden kann, ist ihrerseits in der hier vorliegenden Struktur nicht unmittelbar lexikalisch kodiert. Andererseits bietet der Umstand, dass in dieser Hinsicht die verblosen Formen und die Wurzelinfinitive sich vollkommen gleichen, Grund genug, auch hier gleiche Voraussetzungen der Interpretation zu vermuten. Wie in Gärtner (2014), Reis (1995, 2003) und Rapp/ Wöllstein (2009) dargelegt, begründen (selbstständige) infinite Verben im 1. Status stets eine modale Interpretation. Dies ist Resultat des Umstands, dass in Ermangelung von Finitheitsmerkmalen das vom Verb denotierte Ereignis temporal nicht relativ zur gegebenen Welt verankert werden kann. Solche referenzielle Verankerung ist jedoch erforderlich, um eine pragmatisch angemessene Äußerung zu machen - eine Folge aus Bach/ Harnishs (1979) communicative presumption. Anstelle der durch die Finitheit begründeten referenziellen Verankerung relativ zur gegebenen Welt tritt infolge der durch die communicative presumption geleiteten Inferenz die Verankerung relativ zu möglichen Welten, woraus die modale Interpretation der Wurzelinfinitive sich ergibt. 25 Gegenüber finiten Sätzen sind also verblose Wurzelstrukturen und Wurzelinfinitive auf vollkommen gleiche Weise defizitär. Andererseits sind die ersteren unter Voraussetzung eines leeren verbalen Kopfes hinreichend bestimmt, um auf ein Ereignis bezogen werden zu können. Es steht daher der Annahme nichts entgegen, den gleichen Inferenzmechanismus, der bei Wurzelinfinitiven die modale Verankerung des Verb-Ereignisses zustande bringt, auch bei den prima facie verblosen Strukturen als wirkend anzusehen. 8. Resümee Eine befriedigende Analyse von Struktur und Interpretation der von Jacobs als verblose Direktiva identifizierten, aus direktionaler PP/ Adverb und einer mit-PP gebildeten Syntagmen erfordert die Einbeziehung weiterer Wurzelstrukturen, die durch Verkettung von Nominalphrasen resp. Nominalphrasen mit direktionalen PPen/ Adverben zustande kommen. Eine Vergewisserung der empirischen Vorkommen erweist, dass Wahl und Kombination der Konstituenten dieser Wurzelstrukturen auf Formen beschränkt sind, welche unabhängig die Subkategorisierungsrahmen monomorphemischer Verben bilden. Ausgenommen hiervon bleibt einzig das als Subjekt fungierende externe 25 In Reis (2003) ist der Inferenzmechanismus umschrieben und in Gärtner (2014) in technischer Form ausgeführt. Da es hier vornehmlich auf die Parallelen der diskutierten Wurzelstrukturen geht, seien interessierte Leser an diese Quellen verwiesen. <?page no="91"?> Vermeintlich verblose Direktiva - stumme Prädikatsbildung in Wurzelstrukturen 91 Argument. Die weiter zu konstatierende Korrespondenz mit Wurzelinfinitiven bezüglich der Interpretation des stummen Subjekt-Arguments und der charakteristischen modalen Interpretation des Prädikats begründet die Annahme, dass die prima facie verblosen Direktiva auf einer syntaktischen Struktur basieren, welche eine verbale Leerkategorie als Kopf einschließt. Die Lizenzierung dieses Leerelements erfolgt unter den für Leerkategorien allgemein gültigen strukturellen Prämissen (hinsichtlich c-Kommando und Lokalitätsdomäne). Die verbale Leerkategorie repräsentiert die Semantische Form/ Argumentstruktur der Klasse der Transferresp. kausativen Bewegungsverben. In Rücksicht auf die Argumentrealisierung, d.h. die Zuweisung der grammatischen Funktion, können die für die genannten Verbklassen verfügbaren Optionen ausgeschöpft werden, ohne dass Festlegungen spezifizierter Lexikoneinträge einschränkende Wirkung entfalten können. Wegen der weiteren formalen Übereinstimmung der verbalen Leerelemente mit den Infinitiven lexikalischer Verben - insbesondere dem Fehlen jeglicher Finitheitsmerkmale - ergeben sich alle übrigen Eigenschaften, namentlich der Wurzelstatus dieser Strukturen überhaupt, die Interpretation des Subjekts und die Modalität des Prädikats sowie die Option der Bildung interrogativer Varianten aus den gleichen Bedingungen, denen auch overte Wurzelinfinitive unterliegen. Eine von diesen Aspekten etwas unabhängige Eigenschaft liegt in dem Zwei-Komponenten-Erfordernis, dem die nunmehr vermeintlich verblosen Direktiva unterliegen. Hier könnte eine Bedingung wirksam sein, die rudimentären Formen eine informationsstrukturelle Gliederung, d.h. Zweiteilung auferlegt und gleichfalls bei da nicht für und vergleichbar fragmentarischen Ausdrücken appliziert. Literatur Bach, Kent/ Harnish, Robert M. (1979): Linguistic communication and speech acts. Cambridge. Brandt, Patrick (2016): Fehlkonstruktion und Reparatur in der Bedeutungskomposition. In: Linguistische Berichte 248, S. 395-433. Chomsky, Noam (1957): Syntactic structures. (= Ianua linguarum 4). Den Haag. Emonds, Joseph E. (1970): Root and structure-preserving transformations. Bloomington, IN. Fortmann, Christian (i.Vorb.): warum-infinitives in German. Ms. Universität Tübingen. [Erscheint in Linguistische Berichte.] Gärtner, Hans-Martin (2014): Überlegungen zur versteckten Modalität infiniter Hauptsatzstrukturen. In: Linguistische Berichte 237, S. 81-92. Goldberg, Adele E. (2006): Constructions at work - the nature of generalization in language. Oxford u.a. Hooper, Joan B./ Thompson, Sandra A. (1973): On the applicability of root transformations. In: Linquistic Inquiry 4, 4, S. 465-497. <?page no="92"?> Christian Fortmann 92 Jackendoff, Ray/ Pinker, Steven (2005): The nature of the language faculty and its implications for evolution of language (Reply to Fitch, Hauser, and Chomsky). In: Cognition 97, 2, S. 211-225. Jacobs, Joachim (2008): Wozu Konstruktionen? In: Linguistische Berichte 213, 3, S. 3-44. Müller, Gereon (2011): Regeln oder Konstruktionen? Von verblosen Direktiven zur sequenziellen Nominalreduplikation. In: Engelberg, Stefan/ Holler, Anke/ Proost, Kristel (Hg.): Sprachliches Wissen zwischen Lexikon und Grammatik. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2010). Berlin/ Boston, S. 211-250. Rapp, Irene/ Wöllstein, Angelika (2009): Infinite Strukturen: selbständig, koordiniert und subordiniert. In: Ehrich, Veronika et al. (Hg.): Linguistische Berichte. Sonderheft 16: Koordination und Subordination im Deutschen. 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Frankfurt a.M. u.a., S. 235-253. <?page no="93"?> WERNER FREY ÜBER VERSCHIEDENE BESETZUNGEN DES RECHTEN RANDES 1 Abstract The paper is concerned with the filling of the right edge of a German clause with different constituents: subconstituents of the clause, arguments and modifiers of the NP, appositions and right-dislocated elements. It is argued that these different ways of filling the right edge come about in quite different ways. Subconstituents of the clause are base generated at the right edge in syntax. Constituents of the NP and appositions get to the right edge postsyntactically, i.e., they are linearised there only in the phonological component. Finally, the appearance of right-dislocated constituents is the result of two well-established deletion processes operating on two adjacent clauses. The different mechanisms allow us to understand differences these elements show regarding positioning inside the right edge, binding and intonation. An important empirical generalisation put forward in the IDS-grammar can be captured. The grammar’s controversial assumption that the right edge comprises a part which is disintegrated in between two syntactically integrated parts can be shown to be superfluous. 1. Einleitung In den großen Grammatiken der deutschen Sprache wird das Nachfeld bzw. die rechte Peripherie größtenteils stiefmütterlich behandelt, der Duden (2016), Eisenberg (2006) und Hoffmann (2014) widmen dem Thema jeweils sehr wenig Raum. Es könnte fast der Eindruck entstehen, als wäre die Positionierung von Konstituenten nach der rechten Klammer ein randständiges Phänomen. Dies entspricht bekanntlich nicht den Tatsachen. Es ist daher wichtig, dass es eine Ausnahme gibt unter den großen Grammatiken: die IDS-Grammatik (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997). In Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (ebd.) werden dem Themenbereich stattliche 31 Seiten gewidmet. Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997) unterscheiden im deutschen Satz drei Felder nach der rechten Satzklammer (rSKl), das enge Nachfeld, das rechte Außenfeld und das weite Nachfeld. In (1) sind potentielle Belegungen für diese Felder angegeben (NF = Nachfeld, AF = Außenfeld). Im vorliegenden Papier 1 Die vorliegende Arbeit wurde gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (Förderkennzeichen 01UG0711). Ich möchte mich herzlich für die sehr wertvollen Hinweise von einer/ m anonymen Gutachter/ in und von Eric Fuß bedanken. Nicht alle Fehler konnten sie verhindern, für die verbleibenden bin allein ich verantwortlich. <?page no="94"?> Werner Frey 94 wird der Terminus ‘rechter Bereich (rB)’ benutzt, wenn keine weitere Differenzierung innerhalb des Bereichs nach der rSKl vorgenommen werden soll. (1) rSKl enges NF rechtes AF weites NF a. man hat ihn b. informiert informiert über den Vorfall den Otto den Otto dass Maria auch kommt Die folgenden generelleren Aussagen zum rB finden sich in Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997): (2) i. Der Bereich hinter der rechten Klammer erscheint funktional und linear weniger strukturiert als die anderen Felder. ii. Die Besetzungsmöglichkeiten sind teils eingeschränkter, teils freier als für andere Stellungsfelder. iii. Als strukturell nicht notwendige Stelle kann das Nachfeld hauptsächlich für kommunikative Zwecke genutzt werden. Die Ausführungen des vorliegenden Papiers beziehen sich hauptsächlich auf die in (2i) gemachte Aussage, dass der rB syntaktisch weniger strukturiert sei als andere Bereiche. Diese Aussage der IDS-Grammatik ist sicherlich zu einem Teil motiviert durch die als notwendig erachtete und in vielen späteren Arbeiten anderer Autoren übernommene Aufteilung des NFs in ein enges NF und ein weites NF, unterbrochen durch das rechte AF, siehe (1). In (1) beherbergt das rechte AF die herausgestellte Konstituente der sogenannten Rechtsversetzung. Das rechte AF ist nach Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997, S. 1646) im Unterschied zum NF kein syntaktisch integrierter Bestandteil des betreffenden Satzes. Es wird somit eine aus struktureller Sicht ungewöhnliche Konfiguration angenommen: Zwei Bereiche, die als in den Satz integriert gelten (enges und weites NF), werden unterbrochen von einem Bereich der Nicht- Integration (AF). Der vorliegende Beitrag versteht sich unter anderem als ein Versuch zu prüfen, ob sich seit Erscheinen der IDS-Grammatik im Jahr 1997 die Verhältnisse im rB etwas entwirrt haben. Insbesondere soll geprüft werden, ob die Aussage (2i) tatsächlich gilt. Eine der Fragen wird dabei sein, ob es eine alternative, weniger unorthodoxe Sichtweise gibt, die die Verteilung der Konstituenten in (1) erfasst. Der vorliegende Aufsatz wird die These vertreten, dass der rB durchaus mehr Struktur aufweist, als (2i) vermuten lässt, und dass speziell die in (1) vorgeschlagenen Aufspaltungen des NFs nicht notwendig sind. <?page no="95"?> Über verschiedene Besetzungen des rechten Randes 95 Es sei an dieser Stelle aber erwähnt, dass die vor nicht langer Zeit erschienene Arbeit von Zifonun (2015) zu einem anderen Ergebnis kommt. Zifonun (ebd.) schlägt vor, den gesamten Bereich nach der rSKl als einen Bereich verminderter Syntaktizität aufzufassen. In den Schlussbemerkungen des vorliegenden Papiers wird auf diese Arbeit noch einmal zurückgekommen. In der generativen Grammatik wird die Besetzung des Nachfelds als Instanz von Extraposition behandelt. Extraposition ist ein Prozess, der für viele Sprachen angenommen wird und der für die Herausstellung von Satzkonstituenten an das Ende der Sätze zuständig ist. Es herrscht eine große Uneinigkeit über die Analyse von Extraposition. Die Standardannahme ist, Extraposition sei eine Bewegung nach rechts, wobei Unterschiede bei der Verortung der Zielpositionen bestehen. Die prinzipielle Alternative ist die Annahme der Basisgenerierung extraponierter Konstituenten, d.h. extraponierte Konstituenten sind in ihrer Oberflächenposition basisgeneriert (z.B. Culicover/ Rochemont 1990; Haider 1994, 2010; Hunter/ Frank 2014), wobei hier große Unterschiede bestehen zwischen den Annahmen, wo die Basispositionen zu verorten sind. Diese Uneinigkeiten übertragen sich auf die Analysen der Besetzung des Nachfelds im Deutschen. Auch hier ist die Standardannahme eine Bewegungsanalyse (z.B. Müller 1995; Büring/ Hartmann 1997; Truckenbrodt 2016), die Alternative ist die Basisgenerierung von Elementen im Nachfeld (Haider 1994, 2010; Kiss 2005; Inaba 2007; Frey 2015a). Die Advokaten von Basisgenerierung machen unterschiedliche Annahmen dazu, ob alle Elemente, die man gemeinhin dem Nachfeld zuordnet, dort basisgeneriert sind oder nur bestimmte. Vereinzelt findet man auch die Überlegung, dass Extraposition bzw. die Nachfeldbesetzung ein post-syntaktischer Prozess ist und damit in der phonologischen Komponente der Grammatik realisiert wird (Truckenbrodt 1995). Experimentelle Untersuchungen zu prosodischen Bedingungen für Relativsatzextraposition im Englischen und Deutschen werden in Poschmann/ Wagner (2014) vorgestellt. Hartmann (2013) und Féry (2015) versuchen, die nach ihrer Sicht obligatorische Extraposition finiter Komplementsätze im Deutschen mit prosodischen Bedingungen abzuleiten. Im Folgenden können die Kontroversen innerhalb der generativen Ansätze nicht ausführlich dargestellt werden. Es werden vielmehr die Thesen in (3) propagiert und damit wird auch bezüglich der Kontroversen Stellung bezogen. (3) i. Satzglieder im Nachfeld sind in einer VP-Schalenstruktur (Larson 1988) basisgeneriert (vgl. Haider 1994, 2010; Frey 2015a). ii. Die Rechtsversetzung und der Nachtrag werden durch Tilgung unter Identität von Konstituenten zweier adjazenter Sätze abgeleitet (vgl. Ott/ de Vries 2016; Truckenbrodt 2016). <?page no="96"?> Werner Frey 96 iii. Attribute und Appositionen werden post-syntaktisch in der rechten Peripherie linearisiert. Ihre rechts-periphere Linearisierung unterliegt daher nicht syntaktischen, sondern prosodischen Bedingungen (vgl. Inaba 2007 für Relativsätze; Frey 2015a für Attribute generell). Das Papier ist wie folgt gegliedert. Abschnitt 2 diskutiert Satzglieder und Attribute im rB. Satzglieder und Attribute im rB sind in den Satz integriert, sie werden also gemeinhin im NF verortet. Trotzdem bestehen gravierende Unterschiede zwischen den Elementen der beiden Klassen. Diese Unterschiede führen, wie in Abschnitt 2 ausgeführt, zu den Thesen (3i) für Satzglieder und (3iii) für Attribute. Abschnitt 3 widmet sich den Appositionen im rB und Abschnitt 4 den rechtsversetzten Konstituenten (und dem Nachtrag). In Abschnitt 5 werden einige Unterschiede zwischen der Herausstellung von Attributen und der Rechtsversetzung herausgearbeitet. Abschließende Bemerkungen finden sich in Abschnitt 6. 2. Satzglieder und Attribute im Nachfeld Zunächst sollen Gründe genannt werden, einen Bereich nach der rSKl anzunehmen, dessen Elemente als in den Satz integriert gelten können. Dieser Bereich soll ‘Nachfeld (NF)’ genannt werden. Satzglieder im rB sind stets im NF, Attribute im rB treten bevorzugt im NF auf. Die Integration einer Konstituente kann man zum Beispiel an Bindungsphänomenen und an der Verteilung des Satzakzents erkennen. Die Beispiele in (4) illustrieren die Möglichkeit von Bindung eines Pronomens in extraponierten Satzgliedern, (4a-c), und extraponierten Attributen, (4d,e), durch eine Konstituente im Vorfeld. (4) a. Jeder 1 hat zugesagt, dass er 1 helfen werde. b. Jeder 1 hat lange gesprochen mit seinem 1 Doktorvater. c. Jeder 1 hat gestern lange gearbeitet auf seinem 1 Balkon. d. Jeder 1 hat gestern ein Buch gelesen über seine 1 Heimatstadt. e. Jeder 1 hat gestern ein Buch gelesen, das er 1 rezensieren muss. (4) zeigt, dass ein Objektsatz, ein Präpositionalobjekt, ein Lokaladverbial, ein PP-Attribut und ein Relativsatz im rB Bindung von außen erlauben. Dies ist ein Hinweis darauf, dass diese Elemente zum Satz gehören und in ihn integriert sind. Ein anderer Hinweis auf den integrierten Status von Satzgliedern und Attributen im NF ist die Tatsache, dass sie eine Intonationsphrase mit dem vorangehenden Satz bilden (z.B. Altmann 1981; Truckenbrodt 2016). Dies ist unter <?page no="97"?> Über verschiedene Besetzungen des rechten Randes 97 anderem daran zu erkennen, dass sie den Hauptakzent des Satzes zu tragen vermögen: (5) Was gibt es Neues? a. Max musste heute sehr lange warten auf MaRIA. b. Maria hat heute ein Gedicht gelesen von RILke. (6) Wann hat Paul zum letzten Mal angerufen? Ich denke, Paul hat zum letzten Mal angerufen vor zwei STUNden. (7) Was hat Maria gelesen? Sie hat ein Gedicht gelesen von RILke. Dass extraponierte Konstituenten den Satzakzent zu tragen vermögen, beweist, dass sie mit dem vorangehenden Material eine Konstituente bilden, andernfalls bliebe das vorangehende Material ohne Satzakzent, was für eine selbstständige Äußerung nicht möglich ist. Wie im nächsten Abschnitt ersichtlich wird, sind die Verhältnisse bei Appositionen im rB und bei rechtsversetzten Konstituenten anders. Konstituenten können natürlich auch extraponiert sein, ohne Träger des Hauptakzents zu sein: (8) WANN hat Max gesprochen mit Maria? Max hat GEStern gesprochen mit Maria. Dass es sich in (8) um Extraposition handeln muss, ergibt sich dadurch, dass ein Argument des Verbs post-verbal auftritt. Es ist aber plausibel, anzunehmen, dass auch das Adverbial in (9a) und das Attribut in (9b) extraponiert sind, wenn die Sätze mit einer fortgeführten Tonbewegung realisiert werden: (9) a. WoHIN wird Max reisen in zwei Tagen? Max wird nach PaRIS reisen in zwei Tagen. b. WEM will Max ein Gedicht vorlesen von Rilke? MaRIA will er ein Gedicht vorlesen von Rilke. Wie gelangen nun Satzglieder und Attribute ins Nachfeld? Für die Beantwortung dieser Frage ist m.E. der in (10) vs. (11) illustrierte Unterschied zwischen Satzgliedern und Attributen sehr wichtig. (Die Bewertungen beziehen sich auf eine Realisierung unter Normalbetonung.) (10) a. Max hat [] 1 über dieses Buch lange gesprochen [mit seinem Onkel] 1 . b. Max hat [] 1 ein Buch gelesen [auf dem Balkon] 1 . (11) a. Ich habe über die Schwangerschaft mit [der Tante] 1 gesprochen [von Max] 1 . <?page no="98"?> Werner Frey 98 b. #Ich habe mit [der Tante] 1 über die Schwangerschaft gesprochen [von Max] 1 . c. Er hat einer Frau [ein Buch] 1 geschenkt, [das er sehr interessant findet] 1 . d. ? ? Er hat [einer Frau] 1 ein Buch geschenkt, [die er sehr interessant findet] 1 . In (10) treten im NF Konstituenten auf, deren Grundposition (markiert durch []) sich nicht am Ende des Mittelfeldes (MFs) befindet. Es lässt sich zeigen, dass in (10a) die Grundposition der mit-PP der über-PP im MF voranginge und dass in (10b) das Lokaladverbial auf dem Balkon seine Grundposition im MF vor dem direkten Objekt hätte (siehe z.B. Frey 2015b). Betrachten wir nun die Beispiele in (11). In (11a,b) sollte von Max als Attribut zu der Tante verstanden werden. Die Grundposition des Attributs von Max befindet sich somit in (11a) am Ende des MFs, aber nicht in (11b). Die Tatsache, dass (11b) eine deviante Interpretation erhält, zeigt, dass bei Normalbetonung Attribute im NF dem nächstgelegenen Satzglied zugeordnet werden müssen. Entsprechendes gilt für den Relativsatz in (11c,d). Bei Normalbetonung muss sich ein Relativsatz im NF auf eine DP beziehen, die sich am Ende des MFs befindet. Die höchst interessante Beschränkung, dass das Bezugselement eines Attributs am Ende des MFs stehen soll, wird von der IDS-Grammatik bemerkt (siehe auch Altmann 1981; Inaba 2007; Féry 2015 und Frey 2015a). Es heißt dort, dass die Positionierung im Nachfeld für Attribute und Vergleichsphrasen als unmarkierte Stellung gelten kann, wenn die lizenzierende Konstituente am Mittelfeldende auftritt. Die Daten in (11) zeigen, dass die Regel der IDS-Grammatik verschärft werden kann, da es nicht nur um Unmarkiertheit geht: Die NF-Positionierung eines Attributs ist bei Normalbetonung eines Satzes nur möglich, wenn die Bezugsphrase direkt vor der rechten Klammer steht. Wir haben somit einen prinzipiellen Unterschied zwischen der NF-Besetzung durch Satzglieder und der NF-Besetzung durch Attribute festgestellt. Die Grundposition eines Satzgliedes im NF kann im MF an einer beliebigen Stelle auftreten, das Bezugselement und damit auch die Grundposition eines Attributs im NF muss am Ende des MF auftreten. Wie kann dieser Unterschied erklärt und erfasst werden? Im Folgenden möchte ich den Vorschlag skizzieren, für den in Frey (2015a) argumentiert wurde. Hiernach ist der grundsätzliche Unterschied zwischen der NF-Positionierung eines Satzgliedes und der NF-Positionierung eines Attributs der, dass erstere in der syntaktischen Komponente erfolgt, also syntaktischstrukturellen Regularitäten unterliegt, während letztere nicht in der Syntax <?page no="99"?> Über verschiedene Besetzungen des rechten Randes 99 erfolgt, sondern eine Linearisierungsoption in der phonologischen Komponente realisiert und als solche phonologischen Regularitäten unterliegt. Die entscheidende Evidenz für die post-syntaktische Linearisierung der Attribute im NF ist, dass sie von prosodischen Gegebenheiten bestimmt wird (Unterstreichung kennzeichnet phrasalen Akzent, Großbuchstaben markieren Hauptakzent). (12) a. ? ? Maria hat [dem Kollegen] 1 die neuen Räume gezeigt [mit den grauen HAAren] 1 . b. Maria hat [DEM KolLEgen] 1 die neuen Räume gezeigt [mit den grauen HAAren] 1 . Die Sätze in (12) weisen die gleiche Linearisierung auf. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die beiden Sätze in ihrer syntaktischen Struktur unterscheiden. Aber auch wenn man annehmen würde, dass sich das indirekte Objekt in (12b) in einer höheren Strukturposition befindet als in (12a) (möglicherweise aufgrund von Fokus-Scrambling), kann dies nicht der Grund für die unterschiedliche Akzeptanz von (12a) und (12b) sein. Es ist in der Literatur kein Fall bekannt, bei dem die Extraposition eines Attributs erst durch eine besondere strukturelle Höhe seiner Bezugs-DP möglich würde. Die unterschiedliche Akzeptanz von (12a) und (12b) muss daher von den unterschiedlichen prosodischen Realisierungen der Sätze herrühren. Es gibt eine weitere Besonderheit von Attributen im NF, die kaum syntaktisch zu erklären ist. Nicht-sententiale Attribute müssen am Beginn des NFs auftreten, vgl. (13), nicht-sententiale Satzglieder müssen dies nicht, vgl. (14). (13) a. Er hat überraschenderweise [] 1 mit [der Tante] 2 gesprochen [von Max] 2 [gestern Abend] 1 . b. *Er hat überraschenderweise [] 1 mit [der Tante] 2 gesprochen [gestern Abend] 1 [von Max] 2 . (14) a. Er hat überraschenderweise [] 1 [] 2 gesprochen [mit der Tante] 2 [gestern Abend] 1 . b. Er hat überraschenderweise [] 1 [] 2 gesprochen [gestern Abend] 1 [mit der Tante] 2 . In den beiden Beispielen in (13) ist die Bedingung, dass das Bezugselement des Attributs am Ende des MFs steht, erfüllt. Der Unterschied zwischen (13a) und (13b) besteht in der Positionierung des Attributs von Max. Man könnte vielleicht vermuten, dass es die syntaktische Restriktion geben könnte, dass Konstituenten im NF spiegelbildlich zu den Verhältnissen im MF anzuordnen sind. Denn dies wäre in (13b) verletzt, da die Grundposition des Temporaladverbials dem Präpositionalobjekt, zu dem das Attribut gehört, im MF vor- <?page no="100"?> Werner Frey 100 angeht (siehe z.B. Frey 2015b). Aber wenn die Syntax diese Forderung an die NF-Besetzung stellen würde, sollte (14b) ebenfalls ungrammatisch sein. Die Grundposition des Präpositionalobjekts in (14) folgt im MF der Grundposition des Temporaladverbials. (14a,b) zeigen zudem, dass es im Prinzip möglich ist, Konstituenten im NF unterschiedlich anzuordnen. Auch eine andere, prinzipiell denkbare syntaktische Erklärung für die Grammatikalitätsverteilung in (13) führt zu keinem Erfolg. 2 Man könnte annehmen, die Ungrammatikalität von (13b) rühre von einem Interventionseffekt der Phrase gestern Abend her. Für einen solchen Effekt müsste die Bezugs-DP (unter Vernachlässigung der PP-Schale, siehe Fn. 6) das Temporaladverbial k-kommandieren und dieses wiederum das Attribut. Wäre aber ein Interventionseffekt die Erklärung für (13b), müsste auch (12b) ungrammatisch sein. Hier wäre das Akkusativobjekt die intervenierende Phrase. Wir können also feststellen, dass (13b) nicht aufgrund der Verletzung einer syntaktischen Regularität ungrammatisch ist, sondern aufgrund der Verletzung einer prosodischen Regularität. Kommen wir nun zu einer damit zusammenhängenden Besonderheit der Positionierung der Attribute im NF. Die in (13b) illustrierte Bedingung, dass nicht-sententiale Attribute direkt nach der rSKl stehen müssen, gilt nicht für sententiale Attribute. Dieses unterschiedliche Verhalten wird in (15) illustriert. (15) a. *Ich habe mit [einer Kollegin] 1 gesprochen über die Ausklammerung [aus Köln] 1 . b. Ich habe mit [einer Kollegin] 1 gesprochen über die Ausklammerung, [die sich sehr gut auskennt] 1 . Auch der Unterschied in (15) ist kaum syntaktisch zu erfassen. Wäre (15a) aufgrund der Intervention von über die Ausklammerung ungrammatisch, so sollte auch (15b) ungrammatisch sein. Eine phonologische Erklärung erscheint aber möglich, da die Attribute in (15a,b) unterschiedliches phonologisches Gewicht aufweisen. Ich möchte nicht versuchen, einen detaillierten Vorschlag für die phonologischen Bedingungen der NF-Besetzung durch Attribute vorzulegen. Ich will aber andeuten, welche Grundregularität hier wirksam zu sein scheint. (16) i. Bei Ausklammerung eines nicht-sententialen Attributs darf zwischen der Bezugs-DP und dem Attribut keine phonologische Phrase (PhonP) intervenieren. 2 Ich danke einer/ m Gutachter/ in, auf diese Option hingewiesen zu haben. <?page no="101"?> Über verschiedene Besetzungen des rechten Randes 101 ii. Ausgeklammerte Attributsätze sind Intonationsphrasen (IP), sie tolerieren zwischen sich und ihrer Bezugs-DP eine PhonP im NF, aber nicht im MF. 3 Ein nicht-sententiales Attribut ist selbst eine PhonP. Nach (16i) darf es von seiner Bezugs-DP nicht durch eine PhonP getrennt sein. Das gilt für eine intervenierende PhonP im MF oder im NF, vgl. (17a,b). (17) a. *Ich habe mit [einer Kollegin] 1 ( PhonP über die Ausklammerung gesprochen) ( PhonP aus Köln) 1 . b. *Ich habe mit [einer Kollegin] 1 gesprochen ( PhonP über die Ausklammerung) (PhonP aus Köln) 1 . Wird aber die intervenierende Konstituente deakzentuiert, konstituiert also keine eigene PhonP, wird der Bezug möglich, vgl. (18a,b) (= (12a,b)). (18) a. ? ? Maria hat [dem Kollegen] 1 ( PhonP die neuen Räume gezeigt) ( PhonP mit den grauen HAAren) 1 . b. Maria hat ( PhonP [DEM KolLEgen] 1 die neuen Räume gezeigt) ( PhonP mit den grauen HAAren) 1 . Wir haben gesehen, dass ein sententiales Attribut eine PhonP zwischen sich und der Bezugs-DP toleriert, wenn die PhonP im NF steht, (15b). Wir haben ebenfalls gesehen, dass dies nicht gilt, wenn die intervenierende PhonP im MF steht, (11d). Dieser Tatbestand wird in (16ii) ausgedrückt und in (19) nochmals illustriert. (19) a. ? ? Ich habe mit [einer Kollegin] 1 ( PhonP über die Ausklammerung gesprochen), ( IP die sich sehr gut auskennt) 1 . b. Ich habe mit [einer Kollegin] 1 gesprochen ( PhonP über die Ausklammerung), ( IP die sich sehr gut auskennt) 1 . Die Tatsache, dass die Möglichkeiten der Positionierung von Attributen im NF durch prosodische Gegebenheiten beeinflusst werden, führt zu der unter (3iii) formulierten These, dass Attribute post-syntaktisch nach der rSKl linearisiert 3 Es sei angemerkt, dass aus diesem Grund die Nachfeldpositionierung eines Attributes zu einer Desambiguierung führen kann. Der Satz (ia) hat drei Lesarten. Sie ergeben sich durch die verschiedenen Anschlussmöglichkeiten des Relativsatzes. (ib) hingegen hat bei normaler Betonung nur die Lesart, bei der sich der Relativsatz auf die zutiefst eingebettete DP bezieht, da zwischen einem herausgestellten Relativsatz und seinem Bezugselement im MF keine phonologische Phrase intervenieren darf. (i) a. Heute wurde die Abhandlung über eine Untersuchung zu einer neuen Befragungsmethode, die Max sehr interessiert, veröffentlicht. b. Heute wurde die Abhandlung über eine Untersuchung zu einer neuen Befragungsmethode veröffentlicht, die Max sehr interessiert. <?page no="102"?> Werner Frey 102 werden. Hiernach stehen sie in der syntaktischen Komponente der Grammatik im MF und die syntaktisch regulierten Prinzipien wirken auf Attribute im NF so, als stünden sie im MF. Dies ergibt unmittelbar die in (4d,e) beobachteten Bindungsdaten. 4 Auch die Zuweisung des Satzakzents an ein Attribut wie in (5b) ergibt sich sofort. Es ist eine Standardannahme, dass die Zuweisung des Satzakzents in einer Sprache wie dem Deutschen sensitiv zur syntaktischen Struktur erfolgt (z.B. Truckenbrodt 2006; Féry 2011). In einem Satz, in dem alle Konstituenten in ihrer Grundposition sind, fällt der Satzakzent auf das im MF am weitesten rechts stehende Satzglied, das nicht bereits im Diskurs gegeben ist. In diesem wiederum wird der Akzent auf der zutiefst eingebetteten Konstituente realisiert. Geschieht die Zuweisung des Satzakzents in (5b) relativ zur syntaktischen Struktur vor der Linearisierung der Attribute, erhalten wir also das korrekte Resultat. Wäre es denkbar, dass Attribute bereits in der Syntax im NF positioniert werden und auf dieser Struktur ein phonologischer Filter wirksam ist, um so Sätze wie (11b,d), (12a), (13b) oder (15a) auszuschließen? Aus verschiedenen Gründen ist dies keine Option. Zum einen ist nicht zu erkennen, wie die phonologische Komponente dann sensitiv für grammatische Funktionen sein könnte, denn diese Information ist konfigurational nicht mehr repräsentiert, sie wäre aber notwendig, damit für Attribute andere Prinzipien wirksam werden könnten als für Satzglieder. Zum anderen macht es ein Beispiel wie (20) prinzipiell höchst unplausibel, dass Attribute in der Syntax im NF positioniert werden. 4 Es sei darauf hingewiesen, dass der Standardannahme, wonach, was in den jeweiligen Sprachen unter Extraposition verstanden wird, auch durch denselben grammatischen Prozess abgeleitet wird, hier ausdrücklich nicht gefolgt wird (in diesem Sinne auch Inaba 2007). So hat etwa im Englischen die Extraposition eines Relativsatzes Auswirkungen auf Bindungseigenschaften, siehe (ia,b) (z.B. Hunter/ Frank 2014). Genau dies ist, wie nach unseren Thesen zu erwarten, im Deutschen nicht der Fall, siehe (ic,d) (Inaba 2007). (i) a. *I gave him 1 an argument [that supports John 1 ’s theory] yesterday. Ich gab ihm ein Argument das unterstützt Johns Theorie gestern b. I gave him 1 an argument yesterday [that supports John 1 ’s theory]. c. *Ich habe ihm 1 ein Argument, das Peters 1 Theorie unterstützt, mitgeteilt. d. *Ich habe ihm 1 ein Argument mitgeteilt, das Peters 1 Theorie unterstützt. Die Daten in (ia,b) sind ein Hinweis darauf, dass im Englischen das, was Extraposition eines Attributs genannt wird, in der syntaktischen Komponente stattfindet, mit dem Ergebnis, dass sich der Relativsatz in (ib) bei Überprüfung der Bindungsprinzipien nicht mehr im K-Kommando-Bereich des Objekts befindet. Im Deutschen ist, wie wir gesehen haben, die Situation anders. Der Relativsatz in (id) hat erst post-syntaktisch seine Oberflächenposition erreicht. Wie Inaba (2007) hervorgehoben hat, gibt es a priori keinen Grund anzunehmen, dass einem Beispiel wie (ib) aus einer VO-Sprache und einem Beispiel wie (id) aus einer OV-Sprache genau derselbe Prozess zugrunde liegen sollte. <?page no="103"?> Über verschiedene Besetzungen des rechten Randes 103 (20) Sie hat die Zusammenfassung der Berichte über die Anschuldigungen gelesen gegen Ronaldo. Das Attribut gehört zu der NP Anschuldigungen, die tief in die Objekt-DP eingebettet ist. Würden Attribute durch syntaktische Bewegung ins NF gelangen, so müsste erklärt werden, warum aus dieser tief eingebetteten Position zwar eine Bewegung nach rechts möglich ist, aber keine der Bewegungen nach links. Würde das Attribut in der Syntax im NF basisgeneriert, so wäre unklar, wie die Bezugs-DP in (20) das Attribut lizenzieren könnte. Diese NP k-kommandiert das Attribut nicht. Welche Architektur der Grammatik ergibt sich mit den bisherigen Überlegungen? Der Satzakzent und weitere Aspekte der Prosodie werden auf Basis der syntaktischen Struktur und informationsstrukturellen Gegebenheiten ermittelt. Die Komponente der Grammatik, die die Linearisierung steuert - sie kann wie die Prosodie als Aspekt der Phonologie aufgefasst werden - operiert ebenfalls auf Basis der syntaktischen Struktur. Im Fall der Attribute kann es dabei, wenn die in (16) gennannten Bedingungen erfüllt sind, eine Wahlmöglichkeit geben. Die Bedingungen in (16) garantieren, dass auch bei Ausklammerung eine (weitgehende) Eindeutigkeit der Zuordnung von Attribut zur Bezugs-DP erhalten bleibt. Es ist intuitiv plausibel, dass die Linearisierungsoption, die neben der kanonischen Option besteht, eine solche ist, bei der zunächst die Bezugs-DP realisiert wird und dann - lokal - das abhängige Attribut. Kommen wir nun zu den Satzgliedern im NF. Wir sind auf die folgenden Unterschiede zu den Attributen gestoßen. (21) i. Während für ein Attribut im NF gilt, dass bei Normalbetonung die Bezugs-DP am Ende des MF stehen muss, muss sich die Grundposition eines Satzgliedes im NF nicht am Ende des MFs befinden. ii. Während nicht-sententiale Attribute am Beginn des NFs stehen müssen, tolerieren nicht-sententiale Satzglieder, dass ihnen im NF eine andere Konstituente vorangeht. Die Positionierung von Satzgliedern im NF wird nicht von phonologischen Regularitäten gesteuert. Es ist daher plausibel anzunehmen, dass die NF- Positionierung von Satzgliedern in der syntaktischen Komponente der Grammatik stattfindet. Im Folgenden wird für die These in (3i) argumentiert, hier wiederholt. (3i) Satzglieder im Nachfeld sind dort in einer VP-Schalenstruktur basisgeneriert (Haider 1994, 2010; Frey 2015a). Nach (3i) hat der Satz (22) eine Nachfeldstruktur wie in (23). Das Partizip steht in der rSKl. <?page no="104"?> Werner Frey 104 (22) Er hat lange gesprochen mit einer Kollegin über das Nachfeld. (23) V‘ V 1 VP gesprochen PP V‘ mit einer V 1 PP Kollegin e über das Nachfeld Da es das primäre Ziel des vorliegenden Artikels ist, einige Unterschiede zwischen den Besetzungen des rBs durch Attribute, Satzglieder, Appositionen und rechtsversetzten Konstituenten herauszuarbeiten, wird im Folgenden der in (3i) angegebene Strukturvorschlag nicht ausführlich diskutiert, sondern lediglich motiviert. Für eine breitere Diskussion sei auf Frey (2015a) verwiesen. Der zentrale Punkt für den vorliegenden Artikel ist, dass die Positionierung der Satzglieder im NF in der Syntax erfolgt und dass sie sich dort im K-Kommando-Bereich der Elemente im MF befinden. Bevor wir zur Motivation für diesen Strukturvorschlag kommen, sei aber auf die folgenden allgemeineren Punkte hingewiesen. Zum einen geht mit einem Strukturvorschlag wie (23) die Annahme einher, dass im Deutschen ein Verb seine thematischen Lizenzen nach links oder nach rechts zuweisen kann. Die vermeintlich strikte OV-Eigenschaft des Deutschen resultiert hiernach aus dem Umstand, dass ein Verb seine grammatischen Lizenzen, wie zum Beispiel die Kasuslizenz für eine DP, nur nach links zuzuweisen vermag. PPs, die keine Kasuslizenz durch das Verb benötigen, können auch rechts realisiert werden. Präpositionalobjekte, wie sie in (22) auftreten, können somit im Prinzip eine Basisposition links oder rechts von der Grundposition des Verbs aufweisen. Entsprechendes gilt, wie weiter unten angesprochen werden wird, für adverbiale Bestimmungen - auch für adverbiale DPs, da diese DPs keine Kasuslizenz vom Verb erhalten. Zum anderen geht mit diesem Strukturvorschlag die Annahme der Verbalkomplexbildung im Deutschen einher (z.B. Haider 1994, 2010; Müller 2002). Bei der Verbalkomplexbildung vereinigen sich die Thetaraster zusammen mit den dazugehörigen grammatischen Lizenzen der beteiligten Verben zu einem gemeinsamen Thetaraster mit dazugehörigen grammatischen Lizenzen. Bei einem Satz wie weil er gesprochen haben wird mit einer Kollegin über das Nachfeld lizenziert somit der Verbalkomplex <?page no="105"?> Über verschiedene Besetzungen des rechten Randes 105 gesprochen haben wird als Einheit die Präpositionalobjekte nach rechts ganz entsprechend zur Situation in (22), in der der Verbalkomplex gesprochen hat als Lizenzgeber auftritt. In einer Verb-zweit-Struktur wie in (22) findet zudem Exkorporation des finiten Verbs aus dem Verbalkomplex statt (nicht dargestellt in (23), siehe z.B. Müller 2002; Haider 2010). Kommen wir nun zu zwei für den Vorschlag in (3i) zentralen Beobachtungen. Zum einen haben Satzglieder im NF Grundpositionen, die relativ zueinander die gleichen Reihenfolgen zeigen wie im MF. Zum anderen verläuft K-Kommando zwischen Argumenten im NF von ‘links nach rechts’. Beginnen wir mit den Grundpositionen der Satzglieder im NF. Ein Diagnoseinstrument für die Feststellung von Grundpositionen ist die Scramblingresistenz von schwachen W-Indefinita im MF. Unter ‘W-Indefinita’ werden nichtspezifische indefinite DPs verstanden, die formgleich sind mit Fragewörtern. Diese Ortsfestigkeit gilt auch für PPs, die minimal ein W-Indefinitum enthalten. Derartige Konstituenten zeigen somit die Grundposition im MF des jeweiligen Satzglieds an, das sie repräsentieren. Die Beispiele in (24) etwa machen sichtbar, welche Grundabfolge für seine Präpositionalobjekte das Verb sprechen induziert. (24) a. Max hat heute lange mit wem über was gesprochen. b. ? ? Max hat heute lange über was mit wem gesprochen. Nach (24) ist bei sprechen die Grundreihenfolge der Objekte ‘mit-obj < über-obj’. Tests, die mit Hilfe von Skopusdaten oder Prinzip-C-Effekten Grundreihenfolgen bestimmen, würden diesen Befund bestätigen. Betrachten wir nun, wie sich die Präpositionalobjekte von sprechen verhalten, wenn sie durch ein W- Indefinitum realisiert sind und im NF stehen. (25) a. Max hat heute lange gesprochen mit wem über was. b. ? ? Max hat heute lange gesprochen über was mit wem. Man erkennt, dass entsprechend zur Realisierung der Objekte durch W-Indefinita im MF die Abfolge ‘mit-obj < über-obj’ zu einem deutlich besseren Resultat führt. 5 Dass es diesen Unterschied zwischen den beiden Varianten gibt, liegt an den W-Indefinita. Sind die Objekte zum Beispiel durch definite DPs realisiert, sind beide Abfolgen gleichermaßen grammatisch, siehe (26). Entsprechende Daten mit einem Temporaladverbial und einem Objekt haben wir bereits in (14) gesehen. (26) a. Max hat heute lange gesprochen mit Maria über den Euro. b. Max hat heute lange gesprochen über den Euro mit Maria. 5 Die Bewertungen in (25) sollen als relative verstanden werden. Absolut betrachtet ist (25a) sicher weniger gut als (24a). Ich danke Eric Fuß, diesen Punkt hervorgehoben zu haben. <?page no="106"?> Werner Frey 106 Unter einer Analyse, bei der die Satzglieder im NF basis-generiert sind, sind die Daten in (25) und (26) unschwer zu erfassen. Auch im NF besteht im Prinzip die Option auf Umstellung (Scrambling). Scrambling kann als eine Adjunktionsoperation aufgefasst werden (z.B. Haider 2010). Unter der Annahme einer Struktur wie (23) ist Scrambling im NF Links-Adjunktion an die VP. Scrambling ist aber für W-Indefinita weder im MF noch im NF möglich. Mit einer Bewegungsanalyse der NF-Besetzung wäre das Erfassen von (25) und (26) sehr viel schwieriger. Man müsste zum einen erlauben, dass die Scrambling-resistenten W-Indefinita eben doch bewegt werden dürfen, wenn es um die NF-Besetzung geht. Zum anderen müsste bei einer Bewegungsanalyse mit Adjunktion nach rechts verlangt werden, dass sich die Bewegungspfade bei Argumenten nicht kreuzen dürfen, da nach (25) die Reihenfolge im NF die gleiche ist wie im MF. Dies dürfte aber nur für Argumente gelten. In Frey (2015a) wird mit Daten wie in (27) argumentiert, dass Adverbiale im NF spiegelbildlich zu den Reihenfolgen im MF angeordnet werden (siehe auch im Folgenden). Das Ausbleiben eines Prinzip-C-Effekts in (27) zeigt, dass das Temporaladverbial nicht im K-Kommando-Bereich des Präpositionalobjekts liegt. 6 (27) Max hat lange gesprochen mit ihr 1 an Marias 1 Geburtstag. Es stellt sich als Nächstes die Frage nach der strukturellen Verortung des NFs innerhalb der gesamten Satzstruktur und es stellt sich die Frage nach den strukturellen Verhältnissen zwischen den Argumenten im NF, d.h. nach ihren K-Kommando-Beziehungen untereinander. Am einfachsten können diese Fragen mittels Bindungsdaten angegangen werden. Die Bindungsdaten in (28a,b) zeigen zunächst, dass sich die basisgenerierten Argumente und Adverbiale des NFs in der K-Kommando-Domäne der Mittelfeldkonstituenten befinden. (28) a. Sie hat jeden 1 konfrontiert mit seinen 1 Fehlern. b. Sie hat mit jedem 1 gesprochen an seinem 1 Geburtstag. Damit ist ausgeschlossen, dass die NF-Konstituenten an die VP des Satzes oder höher in der Basisstruktur adjungiert sein könnten. Weiteren Aufschluss über die Struktur des NFs geben Bindungsbeziehungen zwischen Argumenten im NF. (29) a. Sie hat gesprochen mit jedem 1 über seine 1 neuen Aufgaben. 6 Es ist eine bekannte Tatsache, dass eine DP, die minimal in einem Präpositionalobjekt eingebettet ist, aus der PP ‘herausbinden’ kann, d.h. für eine solche DP gelten die K-Kommando- Verhältnisse der dominierenden PP. <?page no="107"?> Über verschiedene Besetzungen des rechten Randes 107 b. *Sie hat gesprochen mit seinem 1 Verantwortlichen über jedes Projekt 1 . (29a,b) demonstrieren, dass ein vorangehendes Objekt im NF ein nachfolgendes k-kommandiert, und dass dies umgekehrt nicht gilt. Damit ist für Objekte im NF eine Analyse mit einer basisgenerierten Adjunktion an eine gegebene Projektion ausgeschlossen. Wären sie adjungiert, wären die K-Kommando- Verhältnisse invers zu den tatsächlichen: Die nachfolgende Konstituente würde die vorangehende k-kommandieren, und die vorangehende nicht die nachfolgende. Damit ergibt sich, dass NF-Konstituenten strukturell tiefer positioniert sind als die Satzglieder im MF und dass Objekte im NF in einer binär rechts-verzweigenden Struktur verortet sind, sodass ein nachfolgendes Argument tiefer steht als ein vorangehendes, siehe (23). Wie sind Adverbiale im NF positioniert? Bezüglich der Adverbiale im Nachfeld argumentiert Frey (2015a), dass sie an die verbalen Projektionen, die das NF konstituieren, rechts-adjungiert sind. Der Grund für diese Annahmen sind Bindungsdaten wie in (27), die zeigen, dass ein nachfolgendes Adverbial im Unterschied zu einem nachfolgenden Objekt nicht im K-Kommando-Bereich einer vorangehenden Konstituente liegt. Damit sind die strukturellen Verhältnisse z.B. zwischen einem Objekt und einem Temporaladverbial spiegelbildlich zu den Verhältnissen im Mittelfeld. Dort ist ein Temporaladverbial in der Grundabfolge links-adjungiert an eine Verbalprojektion, die das Objekt dominiert. Findet im Mittelfeld Scrambling des Objekts über das Temporaladverbial statt, erhält man dieselbe Oberflächenreihenfolge Objekt < Temporaladverbial wie im NF im Beispiel (27). Da nun aber im MF durch Scrambling das Objekt in eine Position gelangt ist, die strukturell höher ist als die Position des Temporaladverbials, entsteht im MF bei dieser Abfolge ein Prinzip-C- Effekt, der im NF bei dieser Reihenfolge gerade nicht entsteht, man vergleiche (27) mit (30). (30) *Max hat lange mit ihr 1 an Marias 1 Geburtstag gesprochen. Der Unterschied zwischen der Positionierung von Adverbialen und Argumenten im NF wird auch an dem Unterschied zwischen den Prinzip-C-Effekten in (27) und (31a) deutlich. Dass es auch im NF tatsächlich die syntaktische Operation Scrambling gibt, um andere Abfolgen als die Grundabfolge zu generieren, erkennt man zudem an Daten mit Präpositionalobjekten wie in (31b,c). (31) a. *Max hat lange gesprochen mit ihr 1 über Marias 1 Mann. b. Ich habe lange gesprochen mit Peters 1 Frau über ihn 1 . c. *Ich habe lange gesprochen [über ihn 1 ] 2 [mit Peters 1 Frau] t 2 . <?page no="108"?> Werner Frey 108 In (31b) stehen die Elemente im NF in ihrer Grundposition. In (31c) hat im NF Scrambling der tiefer generierten über-PP über die mit-PP stattgefunden. Dadurch kommt es zum K-Kommando von ihn über Peter und damit zu einem Prinzip-C-Effekt. 7 Wir können zum Abschluss dieses Abschnitts die folgende Zwischenbemerkung einfügen. Wenn die bisherigen Überlegungen in die richtige Richtung zielen, dann sind die Satzglieder im rB strukturell eindeutig verortet und sie verhalten sich dort nicht weniger systematisch als im MF. Insofern kann die These in (2i) zumindest bezüglich der Satzglieder abgeschwächt bzw. zurückgewiesen werden: Der rB, genauer das NF, ist bezüglich des Auftretens der Satzglieder nicht weniger strukturiert als andere Felder. In den nächsten Abschnitten soll untersucht werden, ob auch andere Elemente im rB ein solch strukturiertes Verhalten zeigen. Diese Abschnitte beschäftigen sich mit Appositionen und rechtsversetzten Konstituenten. 3. Appositionen im rechten Bereich In (32) befindet sich eine Apposition im rB. (32) a. Ich will mit Frau Masiero sprechen, der neuen Chefin. b. Heute findet der Vortrag von Prof. Schall statt, dem Ärztlichen Direktor des Stadtkrankenhauses. 7 Ich nehme an, dass es auch Scrambling aus dem NF in das MF geben kann, wenn es die grammatischen Prinzipien verlangen. Ein solches Scrambling liegt z.B. in (ia) vor. Das Verb sprechen vergibt als erstes die Lizenz für die über-PP. Sei es im MF oder im NF muss daher die Grundposition der über-PP tiefer als die Grundposition der mit-PP sein. Damit ergibt sich auch, dass (ia) eine der Lesarten von (ia) diejenige mit weitem Skopus des Allquantors über den Existenzquantor ist. Diese Lesart wird durch die Spur t 1 ermöglicht. Die Lesart mit weitem Skopus des Allquantors über den Existenzquantor gibt es hingegen nicht bei (ib). In (ib) hat kein Scrambling stattgefunden, das Verb lizenziert zunächst nach rechts die über-PP und dann nach links die mit-PP. Es gibt somit keine Spur, die die fragliche Lesart ermöglichen könnte. (i) a. Hans hat [über mindestens ein logisches Problem] 1 gesprochen mit fast jeder Frau t 1 . b. Hans hat mit mindestens einer Frau gesprochen über fast jedes logische Problem. Auch bei einem zwischen MF und NF verteilten Auftreten von Adverbialen und Argumenten kann es zu Scrambling aus dem NF ins MF kommen. Dies liegt z.B. in (ii) vor. (ii) Hans hat [mindestens eine Frau] 1 getroffen in fast jeder Stadt t 1 . Nach z.B. Frey (2015b) muss die Grundposition eines Lokaladverbials die Grundposition eines Objekts k-kommandieren. Da nach unseren Beobachtungen ein Lokaladverbial im NF tiefer als ein Objekt im Mittelfeld positioniert ist, muss in (ii) eine Spur des Objekts im NF und Scrambling des Objekts vorliegen. Durch diese Spur wird die K-Kommando-Bedingung für das Lokaladverbial erfüllt. Man beachte, dass (ii) eine Lesart mit weitem Skopus des Allquantors über den Existenzquantor aufweist. Diese wird durch die Spur t 1 ermöglicht. Siehe auch Hinterhölzl (2012) zu Beobachtungen über Skopus von Adverbialen im NF aus einem anderen Blickwinkel. <?page no="109"?> Über verschiedene Besetzungen des rechten Randes 109 Eine erste Frage betrifft den Integrationsstatus von Appositionen. Bindungsdaten und die Zuweisung von Satzakzent zeigen, dass Appositionen im rB nicht in den vorangehenden Satz integriert sind. (33) *Jeder 1 wollte mit Frau Masiero sprechen, seiner 1 neuen Chefin. (34) Was ist heute passiert? a. *Max hat mit Frau Masiero gesprochen, der neuen CHEFin. b. Max hat mit Frau MaSIEro gesprochen, der neuen CHEFin. Eine quantifizierte Phrase im Kernsatz vermag ein Pronomen in einer Apposition nicht zu binden, (33), und eine Apposition im rB kann nicht den Satzakzent realisieren, (34a). Dies sind wichtige Hinweise darauf, dass eine Apposition im rB nicht Teil der Satzstruktur ist. Bekanntlich gilt die Nicht-Integration aber auch für eine Apposition, die adjazent zu ihrer Bezugs-DP auftritt. Auch hier ist z.B. keine Bindung möglich. (35) *Jeder 1 wollte mit Frau Masiero, seiner 1 neuen Chefin, sprechen. (35) belegt, dass eine Apposition stets, ebenso wie eine Parenthese, nicht im herkömmlichen Sinn Teil der syntaktischen Struktur der Phrasen ist, mit denen gemeinsam die Apposition linearisiert wird. Es ist hier nicht der Ort, die kontrovers geführte Diskussion über die Repräsentation von Appositionen und Parenthesen in der Syntax darzustellen. Es genügt festzustellen, dass Appositionen sowohl in ihrer kanonischen Oberflächenposition als auch beim Auftreten im rB nicht in die syntaktische Struktur ihrer Umgebung integriert sind. Es überrascht daher nicht, dass die Besetzung des rBs durch eine Apposition nicht syntaktischen, sondern prosodischen Bedingungen unterliegt. Dass dem so ist, wird durch die folgenden Beispiele deutlich. (36) a. Max hat Maria getroffen, die Bürgermeisterin von Este. b. *Maria hat Max getroffen, die Bürgermeisterin von Este. Der Unterschied in der Akzeptabilität von (36a) und (36b) zeigt, dass bei Normalbetonung die Bezugs-DP einer Apposition im rB am Ende des MFs stehen muss. Die Wirksamkeit prosodischer Bedingungen wird zudem an folgender Beobachtung erkennbar. Bei starker Akzentuierung der Bezugs-DP und Deakzentuierung des Materials zwischen Bezugs-DP und Apposition muss die Bezugs-DP nicht am Ende des MFs stehen. (37) Heute wird MaRIA was erzählen, die Bürgermeisterin von Este. <?page no="110"?> Werner Frey 110 Kommen wir nun zu dem Strukturvorschlag für den rB von Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997) in (1). Appositionen sind Kandidaten für das rechte AF. Begründet würde dies durch Daten wie in (38). (38) a. Heute hat Maria gesagt, die Bürgermeisterin von Este, dass die Zukunft großartig wird. b. *Heute hat Maria gesagt, dass die Zukunft großartig wird, die Bürgermeisterin von Este. Diese Daten scheinen in das Schema (1a) zu passen. Man erkennt aber in (39), dass das Schema (1b) nicht passend ist. (39) a. *Heute wird Maria sprechen, über Abfallentsorgung, die Bürgermeisterin von Este. b. Heute wird Maria sprechen, die Bürgermeisterin von Este, über Abfallentsorgung. Die Daten in (38) und (39) verweisen nicht auf eine syntaktische Restriktion für die Herausstellung von Appositionen, sondern auf eine prosodische: Zwischen der Linearisierungsposition einer Apposition und der Linearisierungsposition ihrer Bezugs-DP darf keine PhonP auftreten. Diese Beobachtungen sind ein erster Hinweis darauf, dass das in (1) postulierte rechte AF keine syntaktische Strukturposition ist. Es gibt keine ‘externe’ Position, die sich strukturell in das NF schiebt. Dass Appositionen im rB vor Komplementsätzen realisiert werden, ergibt sich ausschließlich aus einer prosodischen Bedingung, die die post-syntaktischen Linearisierungsoptionen von Appositionen betrifft. Es ist dies die gleiche prosodische Bedingung, die die post-syntaktische Linearisierung von Attributen im rB reguliert. Die Tatsache, dass Attribute im rB Eigenschaften integrierter Konstituenten zeigen und Appositionen im rB Eigenschaften unintegrierter Konstituenten, ist einfach ein Reflex der Verhältnisse im MF. Attribute, die in ihrer kanonischen Position im MF auftreten, sind in ihre Bezugs-DP integriert und damit auch in den Satz. Hingegen sind Appositionen bereits in ihrer kanonischen Linearisierungsposition, die adjazent zu ihrer Bezugs-DP ist, nicht in diese DP integriert und damit auch nicht in den Satz. 4. Die Rechtsversetzung und der Nachtrag Wenden wir uns nun der Rechtsversetzung (und dem Nachtrag) zu. Ich folge hier der Argumentation von Truckenbrodt (2016) (contra z.B. Averintseva- Klisch 2009), dass es sich bei Rechtsversetzung und dem sog. Nachtrag um ein und dieselbe Konstruktion handelt. Der Unterschied ist lediglich, dass bei der mit ‘Nachtrag’ bezeichneten Wortfolge die Konstituente im rB aus kontextu- <?page no="111"?> Über verschiedene Besetzungen des rechten Randes 111 ellen Gründen fokussiert und deshalb akzentuiert ist (siehe z.B. unten (41a)), während bei der traditionellerweise mit ‘Rechtsversetzung’ bezeichneten Wortfolge die Konstituente im rB aus kontextuellen Gründen unakzentuiert ist. Im Folgenden wird ausschließlich von ‘Rechtsversetzung’ die Rede sein. Bei der Rechtsversetzung tritt im Vorfeld oder Mittelfeld eines Satzes ein Pronomen auf, das mit einer Konstituente im rB ko-referent ist. Ein Beispiel einer Rechtsversetzung findet sich in (40) (40) Peter hat sie umarmt, die Maria. Die rechtsversetzte Konstituente (RVK) der Rechtsversetzung ist ein weiterer Kandidat von Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997) für das rechte AF, vgl. (1a,b), hier wiederholt: (1) a. Man hat ihn informiert, den Otto, dass Maria auch kommt. b. Man hat ihn informiert über den Vorfall, den Otto. Die Prosodie bei Rechtsversetzung zeigt, dass die RVK nicht in den vorangehenden Satz integriert ist (Truckenbrodt 2016). Wie in (41) zu erkennen ist, braucht der vorangehende Satz notwendigerweise einen eigenen Satzakzent. (41) Was ist passiert, als Maria, Arabella und Max hereinkamen? a. Peter hat sie umARMT, die MaRIA. b. *Peter hat sie umarmt, die MaRIA. Der Kontext in (41) erzwingt einen Hauptakzent auf der rechtsversetzten Konstituente. Dessen ungeachtet verlangt der vorangehende Satz seinen eigenen Satzakzent. Dies belegt die Nicht-Integration der RVK. Ist die RVK unakzentuiert, gibt es trivialerweise nur einen Hauptakzent für die gesamte Konstruktion. Es ist daher zunächst überraschend, dass Bindungsbeziehungen zwischen einem Element des vorangehenden Satzes und Material in der RVK möglich sind (Ott/ de Vries 2016; Truckenbrodt 2016). Dies wird besonders deutlich an Prinzip-C-Effekten, siehe (42a). Aber auch Bindung eines Pronomens in der RVK durch einen Operator scheint möglich zu sein, (42b). (42) a. *Sie 1 hat ihn mit einer anderen Frau gesehen, Marias 1 neuen Freund. b. Jeder Doktorand 1 sollte ihr gut zuhören, seiner 1 Doktormutter. Bezüglich des Integrationsstatus einer RVK scheinen mit (41) und (42) widerstreitende Evidenzen vorzuliegen. Während die Daten in (41) gegen Integration sprechen, sprechen die Daten in (42) vermeintlich dafür. <?page no="112"?> Werner Frey 112 In jüngster Zeit ist eine Analyse der Rechtsversetzung entwickelt worden (Ott/ de Vries 2016; Truckenbrodt 2016), die die in (41) und (42) illustrierten Befunde erfasst. Es handelt sich hierbei um eine Tilgungsanalyse der Rechtsversetzung. Hierbei wird die RVK als Teil eines selbstständigen Satzes analysiert, dessen Glieder bis auf die RVK unter Identität mit den Gliedern des vorangehenden Satzes getilgt sind. (43) Maria hat ihn getroffen, Maria hat den Peter getroffen. In (43) wurde im zweiten Konjunkt die als Gapping bekannte Tilgungsoperation angewandt. Bei Gapping werden das finite Verb und alle bereits im Kontext gegebenen Konstituenten getilgt. Nach der Tilgungsanalyse der Rechtsversetzung ist die RVK nicht in den Vorgängersatz integriert, sie ist vielmehr Konstituente des nachfolgenden Satzes. Trotzdem werden durch die Tilgungsanlyse die Bindungsdaten erfasst, da die Bindungsprinzipien vor der Tilgung wirken. (44) a. *Sie 1 hat ihn mit einer anderen Frau gesehen, sie 1 hat Marias 1 neuen Freund mit einer anderen Frau gesehen. b. Jeder Doktorand 1 sollte ihr gut zuhören, jeder Doktorand 1 sollte seiner 1 Doktormutter gut zuhören. Betrachten wir nun die Daten in (1). Neben Gapping gibt es im Deutschen (und vielen anderen Sprachen) die weitere Tilgungsoperation der Linkstilgung. Bei Linkstilgung wird der rechte Rand im ersten Konjunkt unter Identität mit dem rechten Rand eines zweiten Konjunkts getilgt. Dies ist in (45) illustriert. (45) Max hat gestern die Maria getroffen, (und) Otto hat heute die Maria getroffen. Unter der Tilgungsanalyse der Rechtsversetzung lassen sich unter Anwendung der beiden wohletablierten Tilgungsoperationen Gapping und Linkstilgung die Daten in (1) unmittelbar ableiten. (1)’ a. Man hat ihn informiert, dass Maria auch kommt, man hat den Otto informiert, dass Maria auch kommt. b. Man hat ihn informiert über den Vorfall, man hat den Otto informiert über den Vorfall. In (1a)’ hat im ersten Konjunkt Linkstilgung und im zweiten Gapping stattgefunden. Dies ergibt an der Oberfläche die Serialisierung von (1a). In (1b)’ findet ausschließlich Gapping im zweiten Konjunkt statt. Dies ergibt die Serialisierung von (1b). <?page no="113"?> Über verschiedene Besetzungen des rechten Randes 113 In (1a) geht die RVK den Otto dem Komplementsatz voran, in (1b) folgt sie einem Präpositionalobjekt. Ist auch die jeweils andere Reihenfolge möglich? Wenn Rechtsversetzungskonstruktionen über Tilgungsoperationen abgeleitet werden, erwarten wir, dass nicht nur die in (1) angegebenen Serialisierungen möglich sind. (46) a. Man hat ihn informiert, dass Maria auch kommt, den Otto. b. Man hat ihn informiert, den Otto, über den Vorfall. (46) zeigt, dass dem so ist, auch andere Serialisierungen von RVKs und Satzgliedern sind im rB möglich. In (46a) hat nur Gapping im rechten Konjunkt stattgefunden und in (46b) Linkstilgung im ersten Konjunkt (von über den Vorfall) und Gapping im zweiten. Mit der Tilgungsanalyse der Rechtsversetzung erübrigt sich somit auch für die Rechtsversetzung die Annahme eines rechten AFs inmitten des NFs, wie sie von der IDS-Grammatik gemacht wird. Man beachte, dass diese Annahme nicht nur theoretisch problematisch ist, sondern dass sie auch empirisch nicht gerechtfertigt ist, da, wie die Daten in (46) zeigen, es eben nicht der Fall ist, dass dieses rechte AF zwischen nicht-sententialen Satzgliedern im NF und sententialen Satzgliedern im NF positioniert werden könnte. Wäre auch eine gänzlich andere Analyse der Rechtsversetzung denkbar, bei der die Rechtsversetzung in (47a) aus der Struktur in (47b) abgeleitet würde? (47) a. Maria möchte ihn treffen, den Otto. b. Maria möchte ihn, den Otto, treffen. Unter einer solchen Analyse wäre die Rechtsversetzung nur der Spezialfall der generellen Option der Positionierung einer Apposition im rB, wie sie im Abschnitt 3 betrachtet wurde. Dass dieser Ansatz nicht möglich ist, dass also die RVK nicht generell als eine im rB situierte Apposition analysiert werden kann, ergibt sich aus den Beobachtungen des nächsten Abschnitts. 5. Herausgestellte Appositionen versus Rechtsversetzung Die erste Beobachtung, die zeigt, dass eine RVK nicht generell als herausgestellte Apposition analysiert werden kann, ergibt sich aus dem Befund von Abschnitt 3, dass die Bezugsphrase einer im rB linearisierten Apposition am Ende des MFs auftreten muss, vgl. (36b), hier wiederholt in (48a). Eine entsprechende Restriktion gilt bei der Rechtsversetzung nicht, das Resumptivpronomen einer Rechtsversetzung muss nicht am Ende des MFs auftreten, siehe (48b). <?page no="114"?> Werner Frey 114 (48) a. *Maria hat Max getroffen, die Bürgermeisterin von Este. b. Sie hat Max getroffen, die Maria. Ein zweiter Beleg dafür, dass Rechtsversetzung nicht generell als die Herausstellung einer Apposition analysiert werden kann, ergibt sich durch Bindungsdaten. In (42) haben wir gesehen, dass sich Bindungseffekte zwischen einem Element des vorangehenden Satzes und der RVK ergeben. Bindungseffekte zwischen einem Satzglied und einer Apposition ergeben sich nicht, vgl. (33), (35) oder (49). (49) Sie 1 hat ihn, Marias 1 neuen Nachbarn, heute in der Stadt gesehen. Wir können also davon ausgehen, dass die Rechtsversetzung eine eigenständige Konstruktion darstellt, und es ist deshalb gerechtfertigt und notwendig, ihr eine andere Analyse angedeihen zu lassen als der Herausstellung von Appositionen. Aber natürlich kann es der Fall sein, dass eine gegebene Wortfolge sowohl als Rechtsversetzung als auch als Herausstellung einer Apposition aufgefasst werden kann. Dies ist dann der Fall, wenn die Wortfolge die jeweiligen Bedingungen beider Konstruktionen erfüllt. Dies liegt etwa beim Beispiel (47a) vom Ende des letzten Abschnitts vor. Im Folgenden sollen in Ergänzung zu den in (48) und durch Bindungsdaten illustrierten Unterschieden zwischen der Herausstellung einer Apposition und der Rechtsversetzung zwei weitere dargestellt und mit den jeweiligen Analysen in Verbindung gebracht werden. Vergegenwärtigen wir uns als Erstes die Distribution von Appositionen und RVKen im rB. Wie in Abschnitt 3 beobachtet, müssen Appositionen am Beginn des rBs auftreten. Bereits durch (1b) wurde gezeigt, dass dies nicht für eine RVK gilt. In (50) und (51) ist dieser Unterschied noch einmal illustriert. (50) a. Man hat ihn informiert über den Vorfall, den Otto. RVK b. *Man hat Max informiert über den Vorfall, den Mann von Klara. Apposition c. Man hat Max informiert, den Mann von Klara, über den Vorfall. Apposition (51) a. Er hat Maria gesagt, dass alles gut wird, der Otto. RVK b. *Otto hat gesagt, dass alles gut wird, der Sänger. Apposition c. Otto hat gesagt, der Sänger, dass alles gut wird. Apposition <?page no="115"?> Über verschiedene Besetzungen des rechten Randes 115 Die in den vorigen Abschnitten dargestellten Analysen für Appositionen im rB und für RVKen erfassen diesen prinzipiellen Unterschied in der Distribution dieser Elemente. Ein weiterer Befund, der mit den vorgeschlagenen Analysen erfasst werden kann, ist der folgende. Nach der Tilgungsanalyse der Rechtsversetzung, die in Abschnitt 4 dargestellt wurde, kann im Beispiel (52) keine Rechtsversetzung vorliegen. (52) Maria möchte morgen mit ihm sprechen, dem Otto. Der Grund ist, dass die Tilgung, die notwendig wäre, um (52) als eine Instanz von Rechtsversetzung abzuleiten, im Deutschen nicht existiert, vgl. (53). Gapping erlaubt nicht, nur den Kopf einer PP zu tilgen und den Rest beizubehalten. (53) *Maria möchte morgen mit ihm sprechen, Maria möchte morgen [ PP mit dem Otto] sprechen. In einem Beispiel wie (52) muss demnach Herausstellung einer Apposition vorliegen. Wir erwarten daher, dass in einem solchen Beispiel die Bezugs-PP am Ende des MFs auftreten muss. Diese Erwartung bestätigt sich, vgl. (54). (54) *Maria möchte mit ihm morgen sprechen, dem Otto. Wir können an dieser Stelle noch einmal den Vergleich mit einer Rechtsversetzung vornehmen. (55) unterscheidet sich von (52) darin, dass statt eines Präpositionalobjekts ein Dativobjekt auftritt. (55) erlaubt eine Tilgungsanalyse, es kann daher eine Rechtsversetzung vorliegen. Die Bedingungen für die Herausstellung einer Apposition müssen also nicht erfüllt sein. Dies erklärt den Grammatikalitätsunterschied von (54) und (55). (55) Maria möchte ihm morgen danken, dem Otto. Man beachte auch, dass mit der Wiederholung der Präposition (54) in ein grammatisches Beispiel umgeformt werden kann: (56) Maria möchte mit ihm morgen sprechen, mit dem Otto. (56) erlaubt eine Tilgungsanalyse und kann somit als Rechtsversetzung aufgefasst werden. <?page no="116"?> Werner Frey 116 6. Abschließende Bemerkungen Das Papier untersucht die Besetzungen des rechten Randes des deutschen Satzes durch Satzglieder, Attribute, Appositionen und rechtsversetzte Konstituenten. Das Papier argumentiert, dass diese Besetzungen in sehr unterschiedlicher Weise zu Stande kommen. Die Besetzung des rechten Randes durch Satzglieder geschieht in der Syntax mittels Basisgenerierung innerhalb einer Struktur, die im K-Kommando-Bereich der Elemente im Mittelfeld des Satzes liegt. Attribute und Appositionen gelangen durch einen post-syntaktischen Prozess an den rechten Rand. Sie werden dort erst in der phonologischen Komponente positioniert. Das Auftreten rechtsversetzter Konstituenten im rechten Rand ist das Resultat von Tilgungsoperationen, die auf zwei adjazente Sätze angewandt werden. Es ergibt sich, dass Satzglieder und Attribute am rechten Rand genauso in den Kernsatz integriert sind wie bei ihrem Auftreten im Mittelfeld und dass Appositionen am rechten Rand und rechtsversetzte Konstituenten nicht in den Satz integriert sind. Unterschiede in der Positionierung von Satzgliedern, Attributen, Appositionen und rechtsversetzten Konstituenten innerhalb des rechten Randes und Unterschiede ihrer Bindungs- und Betonungseigenschaften können durch die verschiedenen zugrunde liegenden Operationen erklärt werden. Eine wichtige empirische Generalisierung der IDS-Grammatik über die Positionierung der Bezugselemente von Attributen kann erfasst werden. Die problematische Annahme der IDS-Grammatik von einem rechten Außenfeld innerhalb des Nachfeldes, die in (1) wiedergegeben ist, erweist sich als überflüssig. Damit kann auch die Aussage der IDS-Grammatik in (2i) zurückgewiesen werden, oder sie kann zumindest ganz anders interpretiert werden. Der rB ist kein inhärent gering strukturierter Bereich des deutschen Satzes. Dass die Verhältnisse im rB wenig strukturiert erscheinen, ist das Resultat dessen, dass sich am rechten Rand strukturierte syntaktische Prozesse mit strukturierten phonologischen Prozessen verschränken. 8 8 Es sei noch eine Bemerkung zu der Aussage der IDS-Grammatik in (2iii) hinzugefügt. Hiernach kann das Nachfeld als strukturell nicht notwendige Stelle hauptsächlich für kommunikative Zwecke genutzt werden. Wenn damit gemeint ist, dass durch die Nachfeldpositionierung die kommunikative Funktion eines Ausdrucks eindeutig markiert wird, so scheint dies für die informationsstrukturellen Auszeichnungen bekannt, neu, eng fokussiert, kontrastiv fokussiert nicht zu gelten. Hartmann (2014) berichtet, dass bei experimentellen Befragungen kein Akzeptanzunterschied bei Nachfeld-Besetzungen durch PP-Argumente mit diesen unterschiedlichen Auszeichnungen gefunden wurde. Dieser Befund ist gut verträglich mit unserer Annahme der Basisgenerierung der Satzglieder im Nachfeld. Hartmann (2014) testet Beispiele wie die folgenden: (i) a. Peter ist allergisch gegen Insektenstiche aller Art. Das bringt vor allem im Sommer Probleme mit sich, wenn Hummeln in seinem Garten unterwegs sind. Am Wochenende wurde er im Garten gestochen von einer Hummel. (gegeben) <?page no="117"?> Über verschiedene Besetzungen des rechten Randes 117 Auch Zifonun (2015) verwirft den in (1) repräsentierten Strukturvorschlag der IDS-Grammatik. Als Konsequenz verschärft sie aber die Aussage in (2i). Im Unterschied zur IDS-Grammatik erachtet Zifonun (ebd.) es inzwischen nicht mehr als sinnvoll, den Bereich nach der rSKl gemäß syntaktischen Kriterien aufteilen zu wollen. Sie schlägt vielmehr vor, den Bereich nach der rSKl als einen Bereich verminderter Syntaktizität aufzufassen. Dieser Bereich wird ‘das erweiterte Nachfeld’ genannt und es wird davon ausgegangen, dass zumindest aus syntaktischer Perspektive in diesem Bereich keine weiteren Unterteilungen vorzunehmen sind. Zifonun (ebd.) bricht damit in gewisser Weise mit einer Grundannahme zur Syntax des Deutschen, wonach ein Satz im Deutschen drei topologische Stellungsfelder aufweist, das Vorfeld, das Mittelfeld und das Nachfeld, die alle drei als genuine Bestandteile der deutschen Satzstruktur aufgefasst werden. Nach gängiger Annahme treten zu diesen integrierten Bereichen noch das linke Außenfeld vor dem Satz und das rechte Außenfeld nach dem Satz als Orte für in den Satz unintegrierte Einheiten hinzu. Im Vergleich zu Zifonun (2015) ist der vorliegende Aufsatz konservativ. Er hält an dem traditionellen syntaktischen Konzept Nachfeld fest und vertritt die These, dass Daten, die ein homogenes topologisches Nachfeld oder - in generativer Terminologe - einen homogenen Bereich der Extraposition in Frage zu stellen scheinen, tatsächlich nicht das Nachfeld als Bereich der syntaktischen Struktur des deutschen Satzes betreffen. Appositionen, Paradebeispiele desintegrierter Einheiten, scheinen am Beginn des Nachfelds aufzutreten, werden aber nach den Überlegungen von Abschnitt 3 lediglich post-syntaktisch, also erst in der phonologischen Komponente der Grammatik nach dem Verbalkomplex realisiert. RVKen, ebenfalls desintegrierte Einheiten, scheinen inmitten des Nachfelds aufzutreten. Nach der Tilgungsanalyse der Rechtsversetzung, die in Abschnitt 4 dargestellt wurde, ist dies aber ebenfalls eine Täuschung. RVKen gehören zu einem zweiten, unabhängigen Satz und der Effekt eines vermeintlichen Auftretens innerhalb des Nachfeldes des ersten Satzes ist das Ergebnis von Tilgung unter Identität im ersten Satz (Linkstilgung) bzw. zweiten Satz (Gapping). b. Manchmal passieren Markus doch seltsame Sachen. Am Wochenende wurde er gestochen von einer Hummel. (neu) c. Von was wurde Markus am Wochenende im Garten gestochen? Ich glaube, er wurde im Garten gestochen von einer Hummel. (enger Fokus) d. A: Axel wurde am Wochenende im Garten von einer Wespe gestochen. B: Nein, er wurde im Garten gestochen von einer Hummel. (kontrastiver Fokus) <?page no="118"?> Werner Frey 118 Literatur Altmann, Hans (1981): Formen der „Herausstellung“ im Deutschen. Rechtsversetzung, Linksversetzung, freies Thema und verwandte Konstruktionen. (= Linguistische Arbeiten 106). Tübingen. Averintseva-Klisch, Maria (2009): Rechte Satzperipherie im Diskurs. NP-Rechtsversetzung im Deutschen. (= Studien zur deutschen Grammatik 78). 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According to this theory, German sentences are composed of so-called ‘Felder’ (‘fields’) that can be filled by different kinds of syntactic expressions. One widespread assumption is that some of the fields can be left empty, depending on the kind of sentence, another widespread assumption is that some of the fields are only optional. We will show that not all kinds of empty positions or fields which are adopted in different versions of topological theories are motivated. But this seems to be essential if we take the theory of topological fields serious. The following is an first attempt of clarification. Die lineare Analyse deutscher Sätze ist ein grundlegender Bestandteil jeder grammatischen Beschreibung. Zur linearen Analyse deutscher Sätze finden sich verschiedene Vorschläge topologischer Modelle in der Literatur (Askedal 1986; Höhle 1986; Geilfuß-Wolfgang 2007; Pafel 2009; Wöllstein 2014 u.a.). Nicht immer werden alle Grundannahmen oder Ziele, die mit den unterschiedlichen Modellen einhergehen, explizit gemacht. Dazu gehört zum Beispiel die Frage, aus welchen Gründen bestimmte Felder in einem bestimmten Schema überhaupt angenommen werden. Eine weitere Frage, zu der man Stellung beziehen sollte, ist die nach der Rechtfertigung von leeren Stellen in einem Schema oder Modell. Betrachten wir ein Beispiel wie (1). (1) Geh! In (1) handelt es sich um einen Imperativsatz, der aus einem Wort besteht. Die Frage unterschiedlicher Abfolgen stellt sich hier nicht, trotzdem aber die nach der topologischen Analyse. Wir finden hier Analysen, die sich in ihrer grundsätzlichen Einordnung einig sind: Es handelt sich um einen finiten Satz, bei dem das Verb in einer Position steht, die sich von der Position in Verbletztsätzen unterscheidet, vermutlich um einen V1-Satz. Die topologischen Darstellungen können sich dennoch erheblich unterscheiden. Eine Minimallösung bietet Kathol (2000). Kathol verwendet in seinem Ansatz topologische Begrifflichkeiten. Setzt man Kathols order domains gleich mit topologischen Feldern, <?page no="122"?> Franz d’Avis / Jochen Geilfuß-Wolfgang 122 dann haben wir hier eine Analyse, bei der Felder nur dann vorhanden sind, wenn sie phonetisch besetzt sind, vgl. Kathol (2002, S. 87). Eine Analyse von (1) in diesem Sinn sieht aus wie (2). (2) FINIT Geh! Andere Vorschläge sehen aus wie (3) bzw. (4). (3) FINIT MF VK NF Geh! (4) VF FINIT MF VK NF Geh! Während in (2) bestimmte Felder fehlen, die bei der Analyse eines mit (1) ähnlichen Satzes vorhanden wären, finden wir in (3) und (4) Felder, deren Existenz für die Analyse von (1) angenommen wird, die aber in unterschiedlichem Sinne als leer angesehen werden. Zum Teil sind sie bei einem ähnlichen Satz gefüllt, zum Teil bleiben sie auch hier leer. Ein Satz, der (1) ähnlich ist, ist (5). (5) Geh nach Hause! Theorien, die den Analysen (2) bis (4) zugrunde liegen, analysieren (5) wie (6) bis (8). (6) FINIT MF Geh nach Hause! (7) FINIT MF VK NF Geh nach Hause! (8) VF FINIT MF VK NF Geh nach Hause! Wenn der Ausgangspunkt einer linearen Analyse des Satzes die syntaktischen Grundeinheiten sind mit dem Ziel, die Reihenfolge der Wörter aus der Reihenfolge der Felder und den in ihnen geltenden Gesetzmäßigkeiten herzuleiten, dann bedarf die Annahme eines Feldes, das von keiner dieser Grundeinheiten gefüllt ist, einer Rechtfertigung. 1. Typen von leeren Stellen Betrachtet man Vorschläge zur topologischen Beschreibung des Deutschen, so kann man im Grunde vier verschiedene Arten von leeren Stellen in unterschiedlichen Modellen ausmachen. <?page no="123"?> Topologische Felder in Grammatiktheorie und Grammatikographie 123 1.1 Obligatorisch nicht vorhandene Felder Ein Feld, das in einem bestimmten Schema nicht vorhanden ist und auch nicht auftreten kann. (9) V1-Schema: FINIT - MF - VK - NF V2-Schema: VF - FINIT - MF - VK - NF Das VF im V1-Schema ist in dem Sinn nicht vorhanden, dass die beiden Schemata in (9) bis auf das VF gleich sind. V1- und V2-Schema unterscheiden sich gerade dadurch, dass im V1-Schema das VF obligatorisch fehlt. Ein Element, das in einem V1-Satz vor dem finiten Verb steht, muss in einem anderen Feld verortet werden (Bsp.: Linksversetzung). Auch relativ zu uniformen Satzmodellen (vgl. Wöllstein 2014) ist das VF im V1-Schema in Differenzmodellen (z.B. Höhle 1986; Pafel 2009, 2011) obligatorisch nicht vorhanden. 1.2 Fakultativ nicht vorhandene Felder Ein bestimmtes Feld steht als Analyseeinheit nur zur Verfügung, wenn es in einem zu analysierenden Satz besetzt ist. Das schlägt Höhle (1986) etwa für KOORD, PARORD, LV und C vor. In (10b) etwa sind KOORD und LV nicht vorhanden, da sie nicht besetzt sind. (10) KOORD LV VF FINIT MF VK NF a. Und seinen Flügel, den sollte man ab und zu stimmen VF FINIT MF VK NF b. Seinen Flügel sollte man ab und zu stimmen In (11b) ist C nicht vorhanden. (11) C MF VK NF a. (Heinz geht spazieren,) um seinen Sohn auszuführen MF VK NF b. (Heinz versprach,) den Flügel zu stimmen Das gilt auch für selbstständige Sätze wie (12). (12) MF VK NF Nicht auf dem Bahnsteig musizieren! <?page no="124"?> Franz d’Avis / Jochen Geilfuß-Wolfgang 124 1.3 Obligatorisch nicht besetzte Felder Ein Feld ist im Analyseschema vorhanden, ist aber in bestimmten Fällen obligatorisch leer. Diese Art von leerer Stelle finden wir in Vorschlägen zu Modellen, die mit einem Schema für alle Verbstellungstypen arbeiten (z.B. Wöllstein 2014). Betroffen sind davon VF und LSK. Das VF wird dabei bei der Analyse von V1- Sätzen, subjunktionseingeleiteten finiten VL-Sätzen (kurz C-VL-Sätzen) und infiniten VL-Sätzen als obligatorisch leer (mit X markiert) angesehen, vgl. (13). (13) VF LSK MF RSK NF a. X Müsst ihr heute noch auftreten? VF LSK MF RSK NF b. X Dass es schon wieder regnet! VF LSK MF RSK NF c. (Heinz geht spazieren,) X um seinen Sohn auszuführen VF LSK MF RSK NF d. (Heinz versprach,) X X den Flügel zu stimmen Die linke Satzklammer (LSK) ist in Ansätzen, die w- und d-Phrasen in VL- Sätzen im VF verorten, obligatorisch leer. (Dialektale Varianten wie wen dass in w-Sätzen oder der wo in Relativsätzen, die unter anderem schon Reis (1985) diskutiert, bleiben hier außen vor.) (14) VF LSK MF RSK NF a. Wie schnell X der seinen Flügel gestimmt hat! VF LSK MF RSK NF b. (der Autor,) dessen Buch X man ab heute kaufen kann 1.4 Fakultativ nicht besetzte Felder Ein Feld ist im Analyseschema für bestimmte Verbstellungstypen vorhanden und kann besetzt oder unbesetzt sein, ohne dass sich das Schema (und damit der zugrundeliegende Typ des Satzes) ändert. Diese Art von leeren Stellen findet man in praktisch allen aktuellen Vorschlägen zur topologischen Analyse des Deutschen. Die hauptsächlich betroffenen Felder sind dabei MF, VK und NF. (15) VF FINIT MF VK NF a. Es regnet. b. Es regnet heftig. c. Es hat heftig geregnet. d. Es hat heftig geregnet an diesem Morgen. <?page no="125"?> Topologische Felder in Grammatiktheorie und Grammatikographie 125 Außer in (15d) gibt es bei der Analyse der Sätze in (15) bestimmte Felder, die zwar vorhanden, aber leer sind. 1.5 Zusammenfassung Insgesamt lassen sich somit vier verschiedene Typen von leeren Feldern unterscheiden (die Abkürzungen entsprechen nicht immer den jeweiligen Vorschlägen in der Literatur, sollten aber für alle verständlich sein, vgl. Höhle 1986; Pafel 2011; Wöllstein 2014): obligatorisch fakultativ Feld - VF (im V1-Satz) TYP 1 - KOORD, PARORD TYP 2 - LV - C Füllung - VF (im V1- und C-VL-Satz) TYP 3 - LSK (im w- und d-VL-Satz) - MF, VK/ RSK, NF TYP 4 Tab. 1 2. Wie lassen sich die verschiedenen Arten von leeren Stellen rechtfertigen? Fakultativ leere Felder (TYP 4) lassen sich durch folgende Überlegung rechtfertigen, die mehr oder weniger implizit in allen Vorschlägen zugrundegelegt wird: (16) Ein Feld kann fakultativ leer sein, wenn ein grammatischer Satz A, bei dessen topologischer Analyse dieses Feld gefüllt ist, und ein grammatischer Satz B, bei dessen Analyse dieses Feld leer ist, sich in Bezug auf bestimmte (nicht-topologische) Eigenschaften (z.B. Distribution, Funktion) gleich verhalten. Dieses ‘gleiche Verhalten’ gilt etwa für die Sätze in (15). Es scheint keinen syntaktischen (z.B. Einbettung) oder funktionalen (z.B. Sprechakte) Zusammenhang zu geben, der etwa (15a) erlaubt, aber einen der anderen Sätze in (15) ausschließt. (15) VF FINIT MF VK NF a. Es regnet. b. Es regnet heftig. c. Es hat heftig geregnet. d. Es hat heftig geregnet an diesem Morgen. <?page no="126"?> Franz d’Avis / Jochen Geilfuß-Wolfgang 126 Wenn eine solche Überlegung der Rechtfertigung von fakultativ leeren Feldern zugrundeliegt, bekommt man möglicherweise Probleme bei bestimmten Arten von Feldern und Sätzen, z.B. beim Vorfeld in Imperativsätzen, auf die wir unten eingehen werden. Obligatorisch leere Felder (TYP 3) lassen sich offensichtlich nicht auf dieselbe Weise begründen wie der TYP 4. Es gibt per definitionem keinen Satz, bei dem ein solches Feld gefüllt sein kann. Damit bekommt man aber ein grundsätzliches Problem: Was rechtfertigt die Annahme eines solchen Feldes überhaupt? Eine normale und intuitiv einsichtige Rechtfertigung für die Annahme eines bestimmten Feldes für die topologische Analyse eines bestimmten Satzes ist, dass es ähnliche Sätze gibt, d.h. Sätze derselben Art, Sätze die sich gleich verhalten (siehe oben), bei denen dieses Feld besetzt ist. Man kann in gewisser Weise sehen, dass an dieser bestimmten Stelle etwas stehen kann. Das ist durch die Forderung, dass ein obligatorisch leeres Feld nie besetzt sein kann, nicht zu zeigen. Im Grunde fehlt für TYP 3 eine Begründung, dass es das relevante Feld überhaupt geben sollte. Auch der Verweis auf die Einheitlichkeit des zugrundeliegenden Schemas wie in einem uniformen Ansatz genügt nicht. Reduktion auf so wenige Schemata wie möglich ist kein Selbstzweck. Die Annahme eines obligatorisch leeren Feldes ist widersprüchlich. Es ist nicht klar, wie sich leere Stellen von TYP 2, fakultativ vorhandene Felder, rechtfertigen lassen, vor allem im Vergleich zu fakultativ gefüllten Feldern. Betrachten wir noch einmal (11a) vs. (11b), hier (17). (17) C MF VK NF a. (Heinz geht spazieren,) um seinen Sohn auszuführen MF VK NF b. (Heinz versprach,) den Flügel zu stimmen Der infinite VL-Satz in (17a) gehört zu einer anderen Art von Satz als der Infinitivsatz in (17b). Im Grunde kann man adverbiale Infinitivsätze von Argument- Infinitivsätzen gerade dadurch unterscheiden, dass Adverbialsätze durch eine bestimmte Subjunktion eingeleitet werden. Das heißt aber, dass wir durch die Anwesenheit von C bei einem Infinitivsatz eine andere Art von Satz erhalten. Das verhindert, dass C als fakultativ besetzbar angesehen werden kann. Eigentlich könnte man in Bezug auf fakultatives C sagen, dass wir hier eine Kurznotation für zwei verschiedene topologische Schemata haben (vgl. z.B. Askedal 1986, S. 219). Das scheint bei LV nicht der Fall zu sein. Zumindest bei V2-Sätzen mit Linksversetzung ist es nicht offensichtlich, dass sie sich im Vergleich mit V2-Sätzen ohne Linksversetzung wesentlich anders verhalten (in Bezug auf Distribution/ <?page no="127"?> Topologische Felder in Grammatiktheorie und Grammatikographie 127 Funktion). Das wiederum kann man so interpretieren, dass LV gar kein fakultatives Feld ist, sondern ein Feld mit fakultativer Füllung. Diese Annahme macht Pafel (2009, 2011). Leere Stellen vom TYP 1, obligatorisch nicht vorhandene Felder, folgen der Argumentation für die Annahme von Feldern überhaupt (siehe oben). Das heißt, wenn es keinen Grund gibt, ein Feld anzunehmen, also, wenn es keinen Fall gibt, bei dem das Feld besetzt werden kann, dann gibt es das Feld in einem bestimmten Schema nicht. Wenn die Überlegungen soweit zutreffen, sind nicht alle leeren Stellen, die in Vorschlägen zu topologischen Modellen angenommen werden, wirklich gut begründbar, wenn der Versuch einer Begründung überhaupt gemacht wird. Folgende Schlussfolgerungen bieten sich an: 1) Ein Feld ist in einem topologischen Schema entweder vorhanden oder nicht vorhanden, d.h. es gibt keine fakultativen Felder. 2) Ein Feld muss in einem Schema entweder besetzt sein oder es ist fakultativ leer, d.h. es gibt keine obligatorisch leeren Felder. In Bezug auf die Tabelle 1 heißt das, es gibt nur leere Stellen vom TYP 1 und vom TYP 4. 3. Fakultativ leere Felder in Imperativ- und Exklamativsätzen Alle oben genannten Vorschläge topologischer Modelle stimmen mehr oder weniger explizit darin überein, dass das Vorfeld in keinem Satztyp fakultativ besetzbar ist und sich in dieser Hinsicht grundlegend vom Mittelfeld, VK und Nachfeld unterscheidet. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Nach der Festlegung oben in (16) kann ein Feld fakultativ leer sein, wenn die Besetzung oder Nicht-Besetzung keinen Einfluss auf die syntaktischen und semantischpragmatischen Eigenschaften des Satzes hat. Ein V2-Deklarativsatz bleibt ein V2-Deklarativsatz, egal ob das Mittelfeld besetzt ist oder nicht. Beim Vorfeld ist das offenbar anders: Die V1-Deklarativsätze unterliegen besonderen Beschränkungen, weshalb das Vorfeld anders als das Mittelfeld kein fakultativ leeres Feld sein kann, sondern entweder besetzt ist oder fehlt (vgl. dazu z.B. Oppenrieder 2013, S. 36ff.). Bei den Imperativ- und Exklamativsätzen scheint das allerdings nicht so klar zu sein. Schon Reis (1980, S. 65) macht mit Verweis auf Engel (1977) folgende Einschränkung zu der Annahme, dass das Vorfeld immer obligatorisch ist und nicht fakultativ sein kann: „The only exceptional case is the imperative type, where the initial field is optional“. Die Sätze in (18) zeigen, dass das Vorfeld von V2-Imperativsätzen mit Konstituenten unterschiedlicher Art besetzt sein <?page no="128"?> Franz d’Avis / Jochen Geilfuß-Wolfgang 128 kann (vgl. Donhauser 1986; Winkler 1989 u.a.), ohne dass sich diese V2-Imperativsätze in ihrer syntaktischen Distribution oder ihren semantisch-pragmatischen Eigenschaften von den V1-Imperativsätzen unterscheiden. (18) a. Bring die Klamotten hierher! b. Die Klamotten bring hierher! c. Lass dir von der nicht erzählen. d. Von der lass dir nichts erzählen. e. Geh lieber zum Prüfungsamt, bevor du Panik schiebst. f. Bevor du Panik schiebst, geh lieber zum Prüfungsamt. Wenn man der Annahme in (16) folgt und wenn die Schlussfolgerungen, die wir am Ende des vorangehenden Abschnitts gezogen haben, richtig sind und es gar keine fakultativen, optionalen Felder gibt, folgt daraus, dass das Vorfeld in Imperativsätzen fakultativ besetzbar ist. Die richtige topologische Analyse für V1- und V2-Imperativsätze ist dann nicht die übliche in (19), sondern die in (20). Interessanterweise kommt Haftka (1993, S. 857) aus einer ganz anderen Perspektive zu einem vergleichbaren Schluss. Sie nimmt an, dass die Spezifiziererposition von Imperativsätzen, SpecC, anders als die Spezifiziererposition von Deklarativ- und Interrogativsätzen weder als [-w] noch als [+w] markiert ist, sondern gar nicht und dass deshalb die Besetzung von SpecC fakultativ ist. (19) FINIT MF VK NF a. Denk jetzt mal an eine Zahl! VF FINIT MF VK NF b. Jetzt denk mal an eine Zahl! (20) VF FINIT MF VK NF a. Denk jetzt mal an eine Zahl! b. Jetzt denk mal an eine Zahl! Die Fälle, in denen nach Altmann (1993, S. 1023f.) die V2-Variante zum V1- Imperativsatz ausgeschlossen ist, lassen sich möglicherweise so erklären, dass die Imperativmarkierung am Verb in diesen Fällen nicht eindeutig ist und die Sätze deshalb mit entsprechenden V2-Deklarativsätzen verwechselt werden könnten und vermieden werden (z.B. Geht ihr bloß nach Hause! vs. *Ihr geht bloß nach Hause! ). Ist die Imperativmarkierung hingegen eindeutig, kann „die Verbstellung frei zwischen Verb-Erst und Verb-Zweit variieren“. Für V1- und V2-Exklamativsätze hat Altmann (1993, S. 1026) etwas Vergleichbares beobachtet: „Für diesen Satztyp ist charakteristisch, dass bei ihm die genannten Verbstellungstypen frei austauschbar sind“. Er belegt das mit folgenden Beispielen: <?page no="129"?> Topologische Felder in Grammatiktheorie und Grammatikographie 129 (21) a. Hat der (aber/ vielleicht/ aber auch) hingelangt! b. Der hat (aber/ vielleicht/ aber auch) hingelangt! Auch wenn es noch Klärungsbedarf gibt, weil sich die V1- und V2-Exklamativsätze in ihrer Verträglichkeit mit ja unterscheiden (d’Avis 2013, S. 183), scheint somit ein weiterer Satztyp vorzuliegen, in dem das Vorfeld wie in den Imperativsätzen fakultativ leer sein kann. Und auch hier wäre dann die Analyse in (22), nach der sich V1- und V2-Exklamativsätze in der Anzahl ihrer Felder unterscheiden, durch die Analyse in (23) zu ersetzen, nach der V1wie V2-Exklamativsätze ein Vorfeld haben, das besetzt sein kann, aber nicht besetzt sein muss. (22) FINIT MF VK NF a. Hat der aber hingelangt! VF FINIT MF VK NF b. Der hat aber hingelangt! (23) VF FINIT MF VK NF a. Hat der aber hingelangt! b. Der hat aber hingelangt! Wir haben jetzt mit den Imperativ- und Exklamativsätzen zwei Satztypen, die sich insofern von den Deklarativ- und Interrogativsätzen unterscheiden, als dass die Besetzung des Vorfelds nichts an der Distribution und Funktion ändert und das Vorfeld somit fakultativ leer sein kann. In Altmann (1993) findet sich aber noch ein anderer Satztyp, bei dem nicht das Vorfeld, sondern die linke Klammer fakultativ besetzbar zu sein scheint. Es geht um w-VL- und w-V2-Exklamativsätze wie die folgenden: (24) a. Was der für Beine hat! b. Was hat der für Beine! Altmann (1993, S. 1027) merkt dazu an: Da die verschiedenen Verbstellungstypen keine funktionalen Differenzierungen bewirken und da die formalen Merkmale der Subtypen abgesehen von der Verbstellung völlig identisch sind, kann man sie als freie Varianten eine Formtyps betrachten. Das ist ein einmaliger Fall, da sonst nur freie Variation zwischen Verb-Erst und Verb-Zweit vorkommt. Für eine Analyse à la Höhle (1986) oder Pafel (2011), in der w-Ausdrücke in V2-Sätzen in einer anderen Position stehen als in VL-Sätzen, ist das ein Problem: Es gibt bei einer solchen Analyse keine fakultativ leere linke Klammer. <?page no="130"?> Franz d’Avis / Jochen Geilfuß-Wolfgang 130 (25) C MF VK NF a. Was der für Beine hat! VF FINIT MF VK NF b. Was hat der für Beine! Anders in Analysen à la Wöllstein (2014), in denen w-Ausdrücke sowohl in V2als auch VL-Sätzen im Vorfeld stehen: (26) VF FINIT MF VK NF a. Was der für Beine hat! b. Was hat der für Beine! Es sieht also so aus, als hätten wir mit den w-V2- und w-VL-Exklamativsätzen einen Satztyp, dessen eigentümliche Eigenschaften nur in einem uniformen topologischen Modell beschreibbar sind. Zu berücksichtigen sind allerdings nicht nur die Funktion und die formalen Merkmale der Sätze, sondern auch ihre Distribution, und da zeigt sich ein bekannter Unterschied: w-VL-Sätze können Komplemente sein, w-V2-Sätze nicht. Es handelt sich also nicht wirklich um freie Varianten, die in allen Umgebungen durcheinander ersetzbar sind. (27) a. Es ist erstaunlich, was der für Beine hat. b. *Es ist erstaunlich, was hat der für Beine. Was folgt daraus? Es gibt gute Gründe für die Annahme eines fakultativ leeren Vorfelds in bestimmten Satztypen und weniger gute Gründe für die Annahme einer fakultativ leeren linken Klammer. 4. Sind auch fakultativ leere Felder verzichtbar? Wir kommen nach diesem Intermezzo zu Imperativ- und Exklamativsätzen nun noch einmal auf die Überlegungen aus Abschnitt 2 zurück, um genauer zu prüfen, ob sich fakultativ leere Felder wirklich so rechtfertigen lassen, wie wir es getan haben. Wir haben oben festgestellt, dass sich die Sätze in (15) in syntaktischer und funktionaler Hinsicht gleich verhalten und es deshalb gerechtfertigt ist, sie als dieselbe Art oder denselben Typ von Satz zu klassifizieren. Das ist die übliche strukturalistische Sichtweise: Ausdrücke, die sich gleich verhalten, gehören zur gleichen Klasse; aus dieser Zugehörigkeit zur selben Klasse erklärt sich das gleiche Verhalten. Daraus, dass die Sätze in (15) sich gleich verhalten und zur selben Klasse gehören, folgt allerdings nicht zwingend, dass sie denselben Aufbau haben und aus denselben Feldern bestehen müssen. Nehmen wir Ausdrücke anderer Art, und zwar Präpositionalphrasen wie in (28). <?page no="131"?> Topologische Felder in Grammatiktheorie und Grammatikographie 131 (28) a. hinter der Grenze b. kurz hinter der Grenze Diese Ausdrücke gehören zur gleichen Klasse, zu den Präpositionalphrasen, und verhalten sich auch syntaktisch gleich, doch sie haben nicht denselben Aufbau, nicht dieselbe Struktur. Die Position, die in (28b) von kurz besetzt wird, ist in (28a) nicht vorhanden. (29) a. PP b. PP P NP AP P’ hinter der Grenze kurz P NP hinter der Grenze Es gibt allerdings eine Alternative zur Struktur (29a), nach der auch in (28a) die Position vor der Präposition vorhanden ist, jedoch unbesetzt bleibt. Die Position wird dann auch als SpecP kategorisiert, um zu markieren, dass es sich um die Spezifiziererposition der PP handelt. (30) PP SpecP P’ P NP hinter der Grenze Was ist der Status einer solchen Kategorie? Es handelt sich offenbar um eine Positionskategorie, das heißt um eine Kategorie, die sich aus der strukturellen Position ergibt. Der Knoten ist der Spezifizierer von P, also ist die Kategorie SpecP. Solche Positionskategorien sind offensichtlich ganz anderer Art als Kategorien wie P oder NP, die als Projektionskategorien bezeichnet werden können, weil sich diese Kategorien aus den Merkmalen der Ausdrücke ergeben, die diese Knoten füllen. Eine etwas ausführlichere Diskussion dazu findet sich unter anderem in von Stechow/ Sternefeld (1988, S. 390f.), die dazu raten, solche Positionskategorien zu vermeiden, aber auch in Sternefeld (2006, S. 322ff.), der C als Positionskategorie verwendet. Was heißt das für die topologischen Felder? Man könnte für die Beschreibung der linearen Abfolge der Ausdrücke in einer PP drei Felder ansetzen, und zwar neben der Präposition ein Feld hinter der Präposition und ein Feld vor ihr (vgl. Pafel 2011, S. 131ff., wir vereinfachen hier und übergehen Postpositionen <?page no="132"?> Franz d’Avis / Jochen Geilfuß-Wolfgang 132 wie entlang). Das Feld hinter der Präposition wäre dann obligatorisch besetzt, da Präpositionen sich immer mit einem Komplement verbinden, das Feld vor der Präposition hingegen fakultativ leer. Das fakultativ leere Feld vor der Präposition wäre dann die topologische Entsprechung zu der Positionskategorie SpecP in (30) oben. (31) VF P NF a. hinter der Grenze b. direkt hinter der Grenze Bei einer topologischen Analyse, die neben Sätzen auch Phrasen wie NP, AP oder PP einbezieht, kommt es also zu einer gewissen Inflation von fakultativen Feldern. Das ist natürlich kein Argument gegen die Annahme von fakultativ leeren Feldern, aber man muss es mit bedenken. Ein Argument gegen die Annahme von fakultativ leeren Feldern ergibt sich aber vielleicht daraus, dass sich das fakultativ leere Feld nicht aus dem Ausdruck selbst herleiten lässt. Aus dem Ausdruck hinter der Grenze selbst ist nicht ersichtlich, dass vor hinter noch eine Position besetzbar ist; das lässt sich nur herleiten, indem man den Ausdruck zu direkt hinter der Grenze verändert. Ebenso ist aus dem Ausdruck Karl schläft nicht ersichtlich, dass dem Feld, in dem schläft steht, noch drei leere Felder folgen (wenn man die fakultativ leeren Felder MF, RK und NF ansetzt). Das heißt, die topologische Struktur eines Satzes lässt sich, wenn man fakultativ leere Felder zulässt, nicht immer aus den Ausdrücken herleiten, aus denen der Satz besteht. Etwas anders gesagt: Mit fakultativ leeren Feldern kann die topologische Analyse nur eine Top- Down-Analyse sein, bei der vorgegebene Felder gefüllt werden, und keine Bottom-Up-Analyse, bei der sich die Felder aus den Bestandteilen der Sätze herleiten lassen. Wir wollen im nächsten Abschnitt den Versuch einer solchen topologischen Bottom-Up-Analyse unternehmen. 5. Ein Versuch 5.1 Reihenfolgen Wir haben in den vorangehenden Abschnitten diskutiert, dass Annahmen für leere Felder sich mit Bezug auf bestimmte Klassen von Sätzen (Satztypen) begründen lassen. Wir möchten nun noch eine kleine Überlegung vorstellen, die auf eine andere Art zu Unterschieden zwischen der ‘Leere’ von Stellen in einer topologischen Beschreibung führt. Ausgangspunkt sind Reihenfolgebeziehungen zwischen dem finiten Verb (Vfin) und von ihm abhängigen Teilen in grammatischen Sätzen des Deutschen, wobei wir uns auf V1- und V2-Sätze beschränken. Dabei wollen wir den folgenden Fragen nachgehen: <?page no="133"?> Topologische Felder in Grammatiktheorie und Grammatikographie 133 1) Welche Reihenfolgen gibt es und kann man auf ihrer Basis etwas zu leeren Stellen sagen? 2) Kann man daraus auf verschiedene topologische Satztypen schließen (Verbstellungstypen, topologische Schemata)? Wenn wir ausgehen von einem finiten Verb, welche Reihenfolgemöglichkeiten gibt es für grammatische Sätze, wenn man weitere vom finiten Verb (Vfin) abhängige Elemente (AE) hinzunimmt? (Man kann zu den vom Verb abhängigen Elementen sowohl Argumente als auch Adjunkte rechnen.) 1. Fall: Es gibt nur ein Vfin. Hier gibt es eine Reihenfolge, vgl. (29). (29) Vfin 2. Fall: Es gibt Vfin und ein abhängiges Element. Wir finden die beiden Möglichkeiten in (30): (30) a. AE Vfin b. Vfin AE 3. Fall: Es gibt Vfin und zwei abhängige Elemente (AE1, AE2). Es ergeben sich sechs Möglichkeiten (3! ), vgl. (31): (31) a. Vfin AE1 AE2 b. Vfin AE2 AE1 c. AE1 Vfin AE2 d. AE2 Vfin AE1 e. AE1 AE2 Vfin f. AE2 AE1 Vfin Für (31e) und (31f) gibt es (vermutlich) keine grammatischen Beispiele. Weitere Fälle: Wenn wir weitere AE hinzunehmen (und das Phänomen der komplexen VF- Füllung ignorieren), sehen unsere grammatischen Reihenfolgen aus wie (32). (32) a. Vfin Perm{AE1…An} b. AEx Vfin Perm {AE1…An}/ AEx Nach dem finiten Verb finden wir Permutationen der Elemente in {AE1…An}, (32a), beziehungsweise Permutationen der Elemente in {AE1…An} ohne das Element AEx, (32b). <?page no="134"?> Franz d’Avis / Jochen Geilfuß-Wolfgang 134 Ungrammatische Reihenfolgen muss man erklären durch Ungrammatikalität der Permutation von {AE1…An}. Dazu sagen wir hier nichts. Die für uns wichtigen Beobachtungen sind folgende: 1) Ob Vfin (in einem grammatischen Satz) an letzter Stelle der Folge stehen kann (Fall 1. und 2.), ist von der Anzahl der AE abhängig. 2) Ob Vfin an erster Stelle stehen kann, ist nicht abhängig von der Anzahl der AE (alle Fälle). Wenn Vfin mehr als ein AE fordert, dann sind nur solche Folgen grammatisch, bei denen auf Vfin noch mindestens ein AE folgt. Eine mögliche Schlussfolgerung ist: Folgen mit Vfin an erster Stelle sind eine eigene Klasse. 5.2 Reduzierte topologische Darstellung Umgeformt in eine reduzierte topologische Darstellung können wir diese Beobachtungen etwas anders beschreiben. Vfin steht dabei an einer bestimmten Stelle: V. AEs können davor stehen an der Stelle T oder dahinter an der Stelle S. Wir unterscheiden drei Fälle: 1) |AEn| = 0 (33) V Vfin 2) |AEn| = 1 (34) V S a. Vfin AE1 T V b. AE1 Vfin 3) |AEn| > 1 (35) V S a. Vfin AE1 … AEn T V S b. AEx Vfin AE1 … AEn/ AEx Übersetzte Beobachtungen: 1) Ob an der Stelle hinter V (nämlich S) etwas steht, ist in allen drei Fällen davon abhängig, wie viele von Vfin abhängige AE es gibt. 2) Ob vor Vfin etwas steht (an T), ist nicht in allen Fällen davon abhängig, wie viele AE es gibt, vor allem nicht in Fall 3. <?page no="135"?> Topologische Felder in Grammatiktheorie und Grammatikographie 135 Es gilt folgender Schluss: 1) Ob an S etwas steht, ist abhängig von den Eigenschaften von Vfin. 2) Das gilt nicht für T. Die ‘Leere’ von T ist somit von einer anderen Art als die ‘Leere’ von S. In diesem Sinn können wir zwei topologische Satztypen unterscheiden, ohne uns auf Klassenbildung durch Distribution oder Funktion zu beziehen. 6. Ausschluss bestimmter Analysen Um die Frage nach der Explizitheit der Definition von leeren Feldern oder Positionen noch einmal zu verdeutlichen, betrachten wir (36). (36) Heinz schläft. Wie lässt sich verhindern, dass (36) analysiert wird wie (37a) oder (37b)? (37) a. MF VK NF Heinz schläft b. C MF VK NF Heinz schläft Umgekehrt kann man fragen: Was zwingt uns dazu, für (36) eine Analyse als V2-Satz anzunehmen? Wenn man an Distribution und unterschiedliche Funktionen denkt, gehört (36) in eine natürliche Klasse mit anderen V2-Sätzen. Das heißt, wenn man einen (36) ähnlichen grammatischen Satz mit einem transitiven Verb bildet, lautet dieser etwa Heinz küsst den Hund und nicht *Heinz den Hund küsst. Soll eine topologische Theorie korrekte Vorhersagen machen, muss sie die Analyse in (37) ausschließen können. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten. 1. Möglichkeit: Man kann bestimmte Restriktionen über den Zusammenhang (der Eigenschaften) von Feldern formulieren. Zum Beispiel: (38) B: „E-Sätze ohne C sind infinit […]“ (Höhle 1986, S. 332) Da in Höhle (1986) C besetzt sein muss, wenn es C gibt, kann nur (37a) als Analyse überhaupt herangezogen werden. Die Restriktion in (38) schließt (37a) aus. 2. Möglichkeit: Die Einschränkung ergibt sich aus den Beschränkungen der Felder eines bestimmten Satzschemas. Das trifft etwa auf den Satztyp V in Askedal (1986, S. 219) zu. In diesem Satztyp gibt es kein (Äquivalent zu) C. Die Beschrän- <?page no="136"?> Franz d’Avis / Jochen Geilfuß-Wolfgang 136 kung für VK’ („2. Klammerfeld“, Askedal 1986, S. 219) ist, dass das strukturell höchste Verb infinit ist. (39) Satztyp V: MF - VK’ - NF Damit wird die Analyse in (37a) ausgeschlossen. 3. Möglichkeit: Lexikalische Eigenschaften eines Elements in C sorgen dafür, dass das strukturell höchste Verb in VK infinit ist. Pafel (2009) schlägt vor, dass es eine Beziehung zwischen einem phonetisch leeren Element ‘e’ in C und der Form des Verbs in VK gibt. Das Element ‘e’ fordert somit lexikalisch ein infinites Verb. Diese Annahme schließt die Analyse (37b) aus, (37a) ist in Pafel (2009) kein zulässiges Schema. Ad 1: Der Status einer Bedingung wie B innerhalb einer topologischen Theorie muss klar sein. Wenn eine solche topologische Theorie nur aus der Darstellung verschiedener Schemata und ihrer Restriktionen besteht, ist der Platz von Regeln wie B nicht definiert (etwa in Höhle 1986). Ist die Behauptung B in (38) als Generalisierung über topologische Analysen von Sätzen zu verstehen, dann macht sie allgemeine Aussagen über das Aussehen der richtigen Analysen von grammatischen Sätzen. Das Auftreten von Sätzen, die dieser Generalisierung nicht entsprechen, wird nicht ausgeschlossen. Ist B als Bedingung für den Aufbau von grammatischen Sätzen zu verstehen, dann handelt es sich um eine Regel innerhalb der topologischen Theorie. Generalisierungen, die so verwendet werden, haben damit den Status von Gesetzen im Sinne von Jacobs (2008). Allgemein muss man deutlich machen, ob bestimmte Gesetze, die die Eigenschaften von Feldern oder der (möglichen) Besetzung von Feldern zueinander regeln, Teil der Theorie sind. Es handelt sich bei B nämlich gerade nicht um eine lexikalisch begründete Beziehung zwischen Elementen des Satzes. Ad 2: Hier wird die Menge der topologischen Schemata durch ein Schema erweitert. Askedal (1986) unterscheidet nicht zwischen zwei verschiedenen VK-äquivalenten Feldern, sondern schreibt die Restriktionen bezüglich der morphosyntaktischen Eigenschaften der Belegung von VK in seine Schemata für die verschiedenen Satztypen, vgl. Askedal (1986, S. 219). Wenn damit gemeint ist, dass VK je nach Satztyp zu besetzen ist, dann handelt es sich um eine Regel wie in der 1. Möglichkeit; wenn damit die Beschreibung eines bestimmten Feldes gemeint ist, dann sollte man unterscheiden zwischen verschiedenen VKs/ VK-äquivalenten Feldern. Hier ist die Frage des Zusammenhangs zwischen Feldern, die sich nur leicht unterscheiden, wichtig. <?page no="137"?> Topologische Felder in Grammatiktheorie und Grammatikographie 137 Ad 3: Das zugrundeliegende Schema bleibt gleich, die Erweiterung der Theorie geschieht durch die Einführung einer neuen Klasse von Elementen, nämlich phonetisch leeren Elementen mit bestimmten syntaktischen Eigenschaften. Die Analyse in (37b) wird durch lexikalische Eigenschaften der Elemente des zu analysierenden Satzes ausgeschlossen. Das ist eine empirische Frage. Alle drei Lösungen des Problems sind natürlich möglich. Für eine durchsichtige Darstellung einer Theorie der topologischen Felder müssen sie explizit gemacht und begründet werden. Das geschieht, soweit wir sehen, in Pafel (2009) am ausführlichsten. 7. Fazit Jede Theorie muss ihre Grundbegriffe definieren. Diesen Anspruch muss auch das topologische Feldermodell erfüllen, wenn es mehr sein soll als eine propädeutische Übungsgrundlage für andere Arten von syntaktischen Theorien. Wir sind der Meinung, dass man das topologische Feldermodell als Theorie ernst nehmen sollte und deswegen auch explizieren muss, welche Typen von Feldern es gibt. Besonders klärungsbedürftig ist der Status der leeren Stellen, auf die wir uns hier konzentriert haben. Das gilt nicht nur in theoretischer Hinsicht, sondern auch in Bezug auf die schul- und hochschuldidaktische Praxis. Wir haben gezeigt, dass nicht alle Arten von leeren Stellen, wie sie in verschiedenen Modellvarianten typischerweise ohne Diskussion angenommen werden, gut begründbar sind. Unsere Überlegungen sind sicherlich nur ein erster Schritt, aber es sollte deutlich geworden sein, dass eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen fruchtbar für die weitere Theoriebildung sein kann. Literatur Altmann, Hans (1993): Satzmodus. In: Jacobs et al. 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Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985. Bd. 3: Textlinguistik contra Stilistik? Tübingen, S. 329-340. Jacobs, Joachim (2008): Wozu Konstruktionen? In: Linguistische Berichte 213, S. 3-44. Jacobs, Joachim et al. (Hg.) (1993): Syntax. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 9.1). Berlin/ New York. Kathol, Andreas (2000): Linear syntax. Oxford. Meibauer, Jörg/ Steinbach, Markus/ Altmann, Hans (Hg.) (2013): Satztypen des Deutschen. Berlin/ Boston. Oppenrieder, Wilhelm (2013). Deklarativsätze. In: Meibauer/ Steinbach/ Altmann (Hg.), S. 20-50. Pafel, Jürgen (2009): Zur linearen Syntax des Deutschen. In: Linguistische Berichte 217, S. 37-79. Pafel, Jürgen (2011): Einführung in die Syntax: Grundlagen - Strukturen - Theorien. Stuttgart. Pittner, Karin/ Berman, Judith (2008): Deutsche Syntax. 3. Aufl. Tübingen. 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Aufl. (= Kurze Einführungen in die germanistische Linguistik 8). Heidelberg. <?page no="139"?> RITA FINKBEINER WIE SOLL DIE GRAMMATIKSCHREIBUNG MIT KONSTRUKTIONEN UMGEHEN? Abstract Constructionist approaches to grammar do not draw a clear distinction between lexicon and grammar, as generative „words and rules“ accounts do. Rather, they conceptualize grammar and lexicon as a continuum of constructions of greater or lesser complexity and abstraction. In this paper, I explore the implications of this paradigm shift for the applied discipline of grammaticography. If we abandon the distinction between grammar and lexicon, should we also abandon the distinction between grammar books and dictionaries? Drawing on a case study on the treatment of verbless constructions in the „IDS-Grammatik“, it is argued that constructions should play a greater role in grammar books, but that grammar books still need to provide access to general principles of grammar. 1. Einleitung Konstruktionen spielen eine Schlüsselrolle in der (wieder) aktuellen grammatiktheoretischen Debatte darüber, wie die Arbeitsteilung zwischen Lexikon und Syntax am besten zu modellieren ist (Engelberg/ Holler/ Proost (Hg.) 2011). In generativ orientierten grammatiktheoretischen Ansätzen wird sprachliches Wissen als System von generellen Regeln betrachtet, dem ein Inventar von idiosynkratischen Einheiten (Wörtern) zur Seite steht. Die Basis der Grammatik [enthält] ein Lexikon, das einfach eine ungeordnete Liste aller lexikalischen Formative darstellt. […]. Das System der Ersetzungsregeln generiert nun Derivationen, deren letzte Kette aus grammatischen Formativen und komplexen Symbolen besteht. Eine solche Kette nennen wir präterminale Kette […]. Eine terminale Kette […] wird aus einer präterminalen gebildet durch Einsetzung (insertion) eines lexikalischen Formativs. (Chomsky 1973, S. 113) Die Syntax generiert in diesem Modell reguläre komplexe Strukturen, das Lexikon stellt die atomaren Einheiten mit nicht vorhersagbaren Eigenschaften bereit, die in die syntaktischen Strukturen eingesetzt werden. Vereinfachend wird dieses Modell auch „Dictionary-and-Grammar“-Modell (Taylor 2012, S. 8) oder „Wörter-und-Regeln“-Ansatz (Tomasello 2008, S. 20) genannt. In einem Wörter-und-Regeln-Ansatz haben insbesondere Idiome als komplexe idiosynkratische Einheiten keinen Platz, ein Problem, das in der generativen Grammatik bereits sehr früh diskutiert worden ist (Katz/ Postal 1963; Chafe <?page no="140"?> Rita Finkbeiner 140 1968; Weinreich 1972). 1 Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat nun mehr und mehr Phänomene zutage gefördert, die es nahelegen, dass die Interaktion zwischen Syntax und Lexikon sich nicht auf die einer einfachen linearen Einsetzung beschränken kann, sondern dass die beiden Bereiche in sehr viel komplexeren Beziehungen zueinander stehen. Hier kann man etwa die Forschung zu Phrasenkomposita (z.B. Meibauer 2003; Trips 2012; Hein 2015), Partikelverben (Zeller 2001; Müller 2002) oder Adjektiv-Nomen-Konstruktionen (Schlücker 2014) anführen. Eine radikale Neukonzeption der Lexikon-Syntax-Interaktion wurde in der Konstruktionsgrammatik entwickelt (z.B. Langacker 1987; Fillmore/ Kay/ O’Connor 1988; Goldberg 1995, 2006; vgl. auch Hoffmann/ Trousdale (Hg.) 2013). Demnach besteht sprachliches Wissen aus einem sehr großen, strukturierten Inventar von Konstruktionen unterschiedlicher Komplexitäts- und Abstraktionsgrade, von Morphemen bis zu komplexen syntaktischen Strukturen, die miteinander in Beziehungen stehen. Es gibt in der Konstruktionsgrammatik keine Derivationen. Ein potentieller Satz ist dann und nur dann ein Satz der Sprache, wenn in dieser Sprache eine Menge von Konstruktionen existiert, die so kombiniert werden können, dass diese Kombination eine Repräsentation des fraglichen Satzes darstellt. (Kay 1997, S. 125; Übers. Fischer/ Stefanowitsch 2008, S. 7) Damit geht faktisch eine Aufhebung der Lexikon/ Syntax-Unterscheidung einher. Statt Wörtern und Regeln gibt es nur noch Konstruktionen, die im „Konstruktikon“ (Goldberg 2003; Ziem 2014) gespeichert sind. 2 „The totality of our knowledge of language is captured by a network of constructions: a ‘construct-i-con’.“ (Goldberg 2003, S. 219). Gegen eine solche Konzeption lässt sich einwenden, dass eine Grammatik, die sich ausschließlich als Inventar gelernter Konstruktionen darstellt, Schwierigkeiten haben könnte, übergreifende Organisationsprinzipien oder Gesetze einer Sprache zu erfassen. So entwirft Jacobs (2008, 2016) ein Programm, das einerseits - angesichts einer Fülle ansonsten nicht ohne weiteres erklärbarer Phänomene - konstruktionistische Elemente in der Grammatiktheorie vorsieht, andererseits aber auch „projektionistische“ Anteile, insbesondere Gesetze ein- 1 Vgl. für einen Forschungsüberblick Finkbeiner (2008). 2 Nicht in allen konstruktionsgrammatischen Arbeiten wird explizit die Annahme gemacht, dass sich sprachliches Wissen auf das im Konstruktikon gespeicherte Wissen reduzieren lässt. So heißt es bei Fillmore/ Kay/ O’Connor (1988, S. 534; meine Hervorheb., R.F.): „It has seemed to us that a large part of a language user’s competence is to be described as a repertory of clusters of information including, simultaneously, morphosyntactic patterns, semantic interpretation principles to which these are dedicated, and, in many cases, specific pragmatic functions in whose service they exist.“ Fischer/ Stefanowitsch (2008, S. 4) sprechen von einem „Lexikon-Syntax-Kontinuum“. <?page no="141"?> Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? 141 fordert, um Generalisierungen auch auf einem sehr abstrakten Niveau erfassen zu können. Eine solche Grammatiktheorie setzt damit weiterhin zwei getrennt beschreibbare theoretische Komponenten Lexikon und Syntax voraus, erkennt aber zugleich an, dass es Phänomene gibt, die in einem Kontinuum zwischen Lexikon und Syntax angesiedelt sind, und gibt diesen entsprechenden Raum. Ich möchte in diesem Aufsatz zeigen, dass die aktuelle grammatiktheoretische Debatte auch die Grammatikschreibung vor neue Herausforderungen stellt. Wenn es so ist, dass Konstruktionen eine viel größere Rolle spielen als bisher in traditionellen Grammatikmodellen angenommen, dann sollte dies auch Implikationen für die Konzeption der anwendungsbezogenen Korrelate von Lexikon und Syntax haben, also von Wörterbuch (als Domäne der Lexikografie) und Grammatik (als Domäne der Grammatikographie). Eine mögliche Neukonzeption könnte darin bestehen, die traditionellen Formen Wörterbuch und Grammatik durch ein anwendungsbezogenes Korrelat des Konstruktikons, gewissermaßen ein „Konstruktionsbuch“, zu ersetzen. 3 Dies wäre die Konsequenz einer radikalen Umsetzung konstruktionsgrammatischer Annahmen. Eine zweite, mögliche Neukonzeption - und für diese werde ich im Folgenden argumentieren - könnte darin bestehen, dass sowohl Wörterbuch als auch Grammatik Konstruktionen systematisch(er als bisher) in die Beschreibung aufnehmen, ohne deshalb auf generalisierende Regeldarstellungen zu verzichten. Für die Grammatikschreibung würde dies einer Umsetzung des Vorschlags von Jacobs (2008, 2016) entsprechen, wonach die Grammatiktheorie neben projektionistischen auch konstruktionistischen Prinzipien Raum geben sollte. Während es im Bereich der Lexikografie, im Rahmen neuerer, v.a. korpusbasierter und digitaler Wörterbuchprojekte, bereits eine Reihe von Ansätzen gibt, die sich explizit Konstruktionen widmen bzw. ihnen deutlich mehr Raum geben als traditionelle (Definitions-)Wörterbücher, 4 haben die oben beschriebenen theoretischen Entwicklungen in der Grammatikographie bisher kaum Niederschlag gefunden. Für die deutsche Sprache existieren mit anderen Wor- 3 Das „Konstruktionsbuch“ ist nicht zu verwechseln mit einem Konstruktionswörterbuch. Das „Konstruktionsbuch“ ist die konsequente grammatikographische Umsetzung der konstruktionsgrammatischen Konzeption eines Konstruktikons als einzigem Repertoire sprachlichen Wissens. Ein Konstruktionswörterbuch hingegen ist eine (nicht auf eine bestimmte Theorie bezogene) bestimmte Art von Wörterbuch, die z.B. Kollokationen, Phraseologismen und anderen Konstruktionen umfasst, etwa für das Schwedische „Svenskt Språkbruk. Ordbok över konstruktioner och fraser“, Norstedts 2003. 4 Hier wären z.B. das DWDS-Projekt mit seinem Schwerpunkt auf Kollokationen und Kookkurrenzen zu nennen, aber auch die Kookkurrenz-Analysetools in COSMAS sowie aktuelle lexikographische Projekte der Abteilung Lexik des IDS, z.B. zu festen Wortverbindungen als Teil von OWID (Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch). <?page no="142"?> Rita Finkbeiner 142 ten keine (wissenschaftlichen oder Schul-)Grammatiken, die Konstruktionen dezidiert und systematisch in die Betrachtung einbeziehen, und es existieren bisher auch keine „Konstruktionsbücher“ als Umsetzungen eines theoretischen Konstruktikons. 5 Der vorliegende Aufsatz setzt hier an und geht der Frage nach, wie sich die neuere grammatiktheoretische Debatte um die Arbeitsteilung zwischen Lexikon und Syntax in Grammatiken niederschlagen könnte bzw. sollte. Insbesondere geht es um die Rolle von Konstruktionen in der Grammatikographie. Ich werde dazu genauer ausloten, wie vorhandene Grammatiken bisher Konstruktionen erfassen und welche (anderen) Möglichkeiten es geben könnte, Konstruktionen in die Grammatikschreibung systematisch einzubeziehen. Dass sich die Grammatikschreibung mit Konstruktionen auseinandersetzen sollte, halte ich dabei in Anbetracht ihrer empirisch nachgewiesenen Relevanz für unerlässlich. Zugleich werde ich argumentieren, dass Grammatiken dabei nicht den Anspruch aufgeben sollten, Gesetzmäßigkeiten und Ordnungsprinzipien der Sprache aufzudecken und zu systematisieren. Ein „Konstruktionsbuch“, das Grammatik und Wörterbuch überflüssig macht, scheint mir deshalb keine adäquate Lösung zu sein. Ich werde im Folgenden zuerst kurz den Begriff der Konstruktion definieren und in den Forschungszusammenhang einordnen (Abschnitt 2). In Abschnitt 3 erläutere ich das gemischte Modell von Jacobs (2008) und dessen Position in der grammatiktheoretischen Debatte genauer. Abschnitt 4 fragt nach möglichen grammatikographischen Umsetzungen dieses Modells. Dazu untersuche ich zunächst, inwiefern in der IDS-Grammatik (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997) konstruktionistische (nicht-kompositionelle) Verfahren der Strukturbildung repräsentiert sind, und identifiziere für den Fall der „verblosen Sätze“ eine Reihe von Problemen. Abschnitt 5 diskutiert vergleichend die Konzeption einer konstruktionsbasierten Grammatik von Boas (2014). In Abschnitt 6 formuliere ich Leitfragen für eine mögliche Neukonzeption einer Grammatik des Deutschen. 2. Konstruktionen in der Konstruktionsgrammatik Der Begriff der Konstruktion ist einerseits ein traditioneller Begriff der Linguistik, wird aber im Programm der Konstruktionsgrammatik in einem spezifischen Sinn verwendet. In einem konstruktionsgrammatischen Sinn sind Konstruktionen kognitive Einheiten, zu denen Sprecher über schrittweise Abstraktion aus ihrer sprachlichen Erfahrung gelangen. 6 Diese kognitiven Ein- 5 Eine Konzeption dazu (Boas 2014) werde ich in Abschnitt 5 diskutieren. 6 In einem traditionellen Verständnis ist eine Konstruktion dagegen eine syntaktische Konfiguration mit einer bestimmten Funktion, wie etwa die „Passivkonstruktion“ oder die „Impera- <?page no="143"?> Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? 143 heiten werden als Symbole, oder Form-Bedeutungs-Paare aufgefasst, vgl. die vielzitierte Definition von Goldberg (1995): C is a construction iff def C is a form-meaning pair <F i , S i > such that some aspect of F i , or some aspect of S i is not strictly predictable from C’s component parts or from other previously established constructions. (Goldberg 1995, S. 4) Die meisten konstruktionsgrammatischen Ansätze 7 - die z.T. nur lose miteinander verknüpft sind - gehen davon aus, dass Nichtkompositionalität ein wichtiges, wenn auch nicht das einzige Kriterium für eine Konstruktion ist. Insbesondere die Einsicht, dass sprachliche Ausdrücke oft Gebrauchsrestriktionen aufweisen, ohne deshalb notwendigerweise semantisch nichtkompositionell zu sein, 8 hat zu späteren Erweiterungen dieser Definition geführt, vgl.: Any linguistic pattern is recognized as a construction as long as some aspect of its form or function is not strictly predictable from component parts or from other constructions recognized to exist. In addition, patterns are stored as constructions even if they are fully predictable as long as they occur with sufficient frequency. (Goldberg 2006, S. 5) Das heißt, dass auch die reine Gebrauchsfrequenz ausschlaggebend für den Konstruktionsstatus sein kann. Mindestens die folgenden drei Grundannahmen werden von den meisten konstruktionsgrammatischen Ansätzen geteilt: 1) Die Rolle von sprachlichen Versatzstücken: Die Anzahl der idiosynkratischen (nicht regelbasierten), als Ganzes gespeicherten Ausdrücke in einer Sprache ist viel zu groß, als dass diese (noch länger) als peripheres Phänomen abgetan werden könnten (z.B. Fillmore/ Kay/ O’Connor 1988; Jackendoff 1997). 2) Gebrauchsbasiertheit von Sprache und Spracherwerb: Spracherwerb ist nicht angeboren, sondern gebrauchsbasiert. Der Erwerb einer Sprache vollzieht sich durch Generalisierung aus (häufig gebrauchten) konkreten Äußerungen, nicht durch Anwendung abstrakter Regeln (z.B. Tomasello 2003). tivkonstruktion“ (vgl. Hilpert 2014, S. 8). Dies ist ein rein deskriptives bzw. auch didaktisches Verständnis des Begriffs, das in Bezug auf eventuelle kognitive Korrelate keine Aussagen macht. 7 Dazu gehören u.a. der von Fillmore und Kay entwickelte Ansatz (Fillmore/ Kay/ O’Connor 1988; Kay/ Fillmore 1999; vgl. auch Fried/ Östman (Hg.) 2004), der auch als Berkeley-Schule bezeichnet wird, und der Ansatz von Adele Goldberg (1995, 2006). Weitere wichtige Ansätze sind die Cognitive Grammar von Langacker (z.B. Langacker 1987; vgl. auch Taylor 2012), die Radical Construction Grammar von Croft (2001) sowie die Sign-Based Construction Grammar, die der Berkeley-Schule nahe steht und eine Formalisierung über HPSG anstrebt (Sag 2012). 8 Fillmore/ Kay/ O’Connor (1988) nennen insbesondere den Fall der „encoding idioms“, z.B. Kollokationen wie den Tisch decken, die aus Sicht von Muttersprachlern völlig unauffällig sind, bei denen es sich aber um idiosynkratische Festlegungen handelt, die von L2-Lernern nicht vorherzusehen sind. <?page no="144"?> Rita Finkbeiner 144 3) Bedeutungshaftigkeit komplexer Ausdrücke: Nicht nur atomare Einheiten (Wörter) einer Sprache, sondern auch größere (syntaktische) Konstruktionen tragen Bedeutung (z.B. Goldberg 1995). Gemäß dem Anspruch, dass Konstruktionen die Grundeinheiten der Sprache sind, fasst die Konstruktionsgrammatik Sprache als geordnetes Inventar von Konstruktionen auf. Konstruktionen finden sich demnach auf sämtlichen linguistischen Ebenen, in verschiedenen Komplexitäts- und Abstraktheitsgraden. Dies ist in Tabelle 1 beispielhaft illustriert (nach Fischer/ Stefanowitsch 2008, S. 6; vgl. auch Goldberg 2013, S. 17; Jacobs 2008, S. 6f.). Konstruktionen Beispiele Derivations-/ Flexionsmorpheme [ver-V] ‘distributiv’, z.B. verschütten; [N-e] ‘Plural’, z.B. Hunde einfache Wörter geb- ‘überreichen’ komplexe Wörter Geber ‘der etwas gibt’; Zeichengeber ‘telegrafisches Sendegerät’ Idiome, Sprichwörter jmdm. Saures geben ‘jmdn. verprügeln’; Geben ist seliger denn Nehmen ‘Man soll selbstlos und großzügig sein’ teilweise offene Idiome sich ADJ geben ‘sich X verhalten’, z.B. sich siegessicher geben schematische Konstruktionen [[NP Nom ][V][NP Dat ][NP Akk ]] ‘Transfer’ Wortarten, phrasale Kategorien Nomen; NP grammatische Relationen [OBJEKT]; [SUBJEKT-PRÄD] Tab. 1: Beispiele aus dem Inventar von Konstruktionen Ein Problem für den Konstruktionsbegriff, wie er oben definiert wurde, ist, dass es insbesondere auf den sehr abstrakten Ebenen schwierig ist, die Bedeutungsseite der Konstruktion zu spezifizieren: Was wäre etwa die Bedeutung der SUBJEKT-PRÄDIKAT-Konstruktion? Damit hängt auch das Problem zusammen, dass nicht immer klar ist, auf welcher Abstraktionsebene eine Bedeutung angegeben werden soll (vgl. Stefanowitsch 2011, S. 18; Hilpert 2014, S. 56). Die unterschiedlichen Konstruktionen stehen nicht lose nebeneinander, sondern bilden nach Annahme der Konstruktionsgrammatik ein Netzwerk von Konstruktionen, das Konstruktikon, in dem sie miteinander systematisch verbunden sind (vgl. z.B. Goldberg 2003; Goldberg/ Jackendoff 2004; Ziem 2014). Insofern als im Konstruktikon grammatische Konstruktionen und lexikalische Elemente eine Einheit bilden, d.h. mit demselben Formalismus beschrieben werden, wird die Trennung zwischen Syntax und Lexikon hinfällig. <?page no="145"?> Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? 145 Die Beziehungen unter den Konstruktionen werden insbesondere als Vererbungsbeziehungen vorgestellt, bei denen konkretere Konstruktionen Eigenschaften von abstrakteren Konstruktionen „erben“, bzw. konkretere Konstruktionen abstraktere instanziieren. 9 So stehen englische determiniererlose Präpositionalphrasen vom Typ in/ to prison nach Goldberg (2013, S. 21) in einer Vererbungsrelation zu einer generellen PP-Konstruktion, d.h. sie sind spezifische Instanziierungen (Konstrukte 10 ) dieser PP-Konstruktion (vgl. Abb. 1). Von der generellen PP-Konstruktion erbt der Typ in/ to prison etwa die Wortstellung, er hat gegenüber jener aber auf der Formseite die Beschränkung, dass die Präposition mit einem nackten Nomen kombiniert wird, und trägt die speziellere Bedeutung ‘stereotypical activity associated with N’. PP construction [P NP] in hospital (British) to/ at work in/ to prison [P N] stereotypical activity associated with “N” Abb. 1: Ausschnitt aus einem Netzwerk von PP-Konstruktionen (nach Goldberg 2013, S. 21) Auch wenn in den verschiedenen konstruktionsgrammatischen Ansätzen weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass Konstruktionen miteinander über unterschiedliche Arten von Beziehungen vernetzt sind, ist es bisher noch weitgehend offen, wie das Konstruktikon theoretisch genau zu modellieren ist. 11 9 Neben sogenannten Instanziierungsrelationen werden in der Konstruktionsgrammatik auch weitere Typen von Beziehungen diskutiert, z.B. Polysemierelationen, metaphorische Relationen und Teil-Ganzes-Relationen (vgl. Hilpert 2014). 10 Die Unterscheidung Konstruktion vs. Konstrukt betrifft die zwischen abstraktem Typ und konkreter Realisierung (Token). Eine Konstruktion ist in der Regel abstrakter als ein Konstrukt. Die Unterscheidung ist aber nicht immer problemfrei. So ist jmdm. Saures geben eine Konkretisierung der schematischen Ditransitivkonstruktion [[NP Nom ][V][NP Dat ][NP Akk ]], es handelt sich aber trotzdem um eine Konstruktion, denn es gibt wiederum konkretere Realisierungen davon (Der hat uns heute wieder Saures gegeben). Bei Wörtern/ Morphemen wie Haus muss man offenbar annehmen, dass immer zugleich eine Konstruktion und ein Konstrukt vorliegt, die dann denselben Abstraktheits- (bzw. Konkretheits-)grad haben. <?page no="146"?> Rita Finkbeiner 146 Das Konstruktikon - im Sinne eines exhaustiven Modells grammatischer Strukturen einer natürlichen Sprache - kann in der empirischen Forschung immer nur ausschnitthaft und exemplarisch behandelt werden. Obwohl dies vielfach geschehen ist, liegen bislang nur wenige explizite Thematisierungen der ‘Architektur’ eines Konstruktikons vor. (Ziem 2014, S. 26) 11 Für das Folgende wird insbesondere die Frage interessant sein, in welcher Weise sich die theoretische Konzeption eines Konstruktikons auf die zukünftige Grammatikschreibung niederschlagen könnte. 3. Konstruktionen in der Grammatiktheorie: Der Vorschlag von Jacobs (2008) Oben wurden zwei einander konträr gegenüberstehende grammatiktheoretische Auffassungen unterschieden, nämlich generative und konstruktionsgrammatische. Jacobs (2008) verwendet zur generelleren Charakterisierung dieser beiden Typen von Grammatikmodellen das Begriffspaar „Projektion“ vs. „Konstruktion“. Projektionistische (bzw. lexikalistische) Grammatiken modellieren die Syntax und Morphologie weitgehend als Projektion von Merkmalen der jeweils vorkommenden Wörter bzw. Morpheme, wodurch syntaktische Konstruktionen bzw. konstruktionsspezifische Regeln überflüssig werden. Die Projektion von Merkmalen lexikalischer Einheiten in die Syntax ist in generativen Ansätzen durch eine Menge genereller Regeln determiniert. Dieser Menge von Regeln steht das Lexikon gegenüber, das die atomaren, nicht regelhaften Einheiten der Sprache enthält. In der Konstruktionsgrammatik wird dagegen angenommen, dass Lexikon und Syntax mit demselben Formalismus beschreibbar sind, insofern als es sich lediglich um unterschiedlich abstrakte Ausprägungen eines Kontinuums mehr oder weniger abstrakter Zeichenklassen handelt. Es gibt somit keine Trennung dieser Bereiche. Ein Problem für projektionistische Ansätze ergibt sich aus der Existenz komplexer Ausdrücke, die sich einer regelgeleiteten Beschreibung widersetzen, z.B. verblose Sätze wie (1)-(5). (1) Alles nur Schikane. (2) Hauptsache, [die Qualität stimmt]. (3) Klasse, die Frau. (4) Kein Winter ohne Grippe. (5) Noch ein Wort und [du fliegst raus]. 11 Zur (computerlinguistischen) Implementierung wird in vorliegenden Arbeiten insbesondere das FrameNet-Modell verwendet (vgl. z.B. Boas (Hg.) 2009; Fillmore/ Lee-Goldman/ Rhomieux 2012; Ziem/ Ellsworth 2016). <?page no="147"?> Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? 147 Die Beispiele in (1)-(5) sind selbstständige Äußerungseinheiten, die Träger von Illokutionen sind. Die Selbstständigkeit und illokutionäre Kraft von Sätzen wird in generativen Ansätzen normalerweise an das Vorhandensein eines finiten Verbs gebunden (Lohnstein 2000; Truckenbrodt 2006), das diese Merkmale auf die Satzebene projiziert. Da die betreffenden Einheiten aber kein finites Verb enthalten, stellen sie ein Problem für solche Ansätze dar (vgl. Finkbeiner/ Meibauer (Hg.) 2016; siehe aber Fortmann i.d.Bd. für eine projektionistische Analyse ähnlicher verbloser Strukturen). Eine mögliche Lösung dieses Problems besteht darin, Einheiten wie (1)-(5) als ‘Ausnahmen’ zu betrachten, die die generellen Regeln (z.B. der Illokutionszuweisung) relativieren. Diese Lösung schwächt natürlich die Annahme genereller Regeln. Die alternative Lösung besteht darin, eine ‘Kerngrammatik’ von einer ‘Randgrammatik’ zu unterscheiden, so dass die generellen Regeln nur auf den Bereich der Kerngrammatik bezogen sind und der Bereich der Randgrammatik speziellen Regeln unterliegt (vgl. Fries 1987, S. 80). Nach Nolda/ Machicao y Priemer/ Sioupi (2014) kann man diesen Ansatz folgendermaßen beschreiben: Die grammatischen Phänomene in einer Sprache zerfallen in zwei Teilbereiche: ‘regelhafte’ kerngrammatische Phänomene und ‘unregelmäßige’ randgrammatische Phänomene (‘Ausnahmen’). Kerngrammatische Phänomene werden von einer Kerngrammatik der Sprache mit relativ einfachen theoretischen Mitteln erfasst. Die Erfassung randgrammatischer Phänomene erfordert hingegen komplexere Mittel […]. (ebd., S. 9) Die Position der generativen Grammatik wäre dann, dass das grammatische System nur kerngrammatische Phänomene, solche mit einer ‘hohen Generalisierungstendenz’ (Fries 2007) erfassen muss. Umgekehrt stellen nicht-regelgeleitete, komplexe Ausdrücke für die Konstruktionsgrammatik kein Problem dar, denn sie lassen sich ohne besondere Zusatzannahmen einfach auf dem Kontinuum der Konstruktionen einordnen. Die große Zahl von Idiomen und anderen idiosynkratischen komplexen Einheiten in der Sprache trägt ja gerade wesentlich zur Legitimation dieses Forschungsprogramms bei. Eine Unterscheidung in Kern und Rand, und damit einhergehend eine Unterscheidung von Beschreibungsmitteln für die unterschiedlichen Bereiche ist vor diesem Hintergrund in der Konstruktionsgrammatik weder erwünscht noch notwendig. Die beiden oben skizzierten Theoriefamilien scheinen sich zunächst eher unversöhnlich gegenüber zu stehen. Es zeichnet sich aber in der neueren Grammatikforschung eine „gemischte Lösung“ ab, die Anteile aus beiden Forschungsprogrammen kombiniert. Ein solches kombiniertes Programm hat <?page no="148"?> Rita Finkbeiner 148 Jacobs (2008) für das Deutsche entwickelt (vgl. auch Jacobs 2016). 12 Jacobs (2008) argumentiert, dass [e]ine Grammatik, die sowohl nach einer vollständigen Abdeckung aller Daten als auch nach Erklärungen strebt und dabei Ad-hoc-Lösungen zu vermeiden versucht, […] sowohl konstruktionistische Elemente, nämlich konkrete komplexe Konstruktionen, als auch projektionistische Elemente, wie kategoriale Wortvalenzen und Gesetze, enthalten [muss]. (ebd., S. 41) Jacobs (2008) zeigt einerseits, dass eine konstruktionistische Analyse in Bezug auf eine Reihe von Phänomenbereichen - beispielsweise Satztypen, 13 verblose Direktive und nicht-satzwertige Phraseoschablonen - einer projektionistischen Analyse überlegen ist. So argumentiert er am Beispiel von wenn-Optativsätzen, dass das optative Illokutionspotenzial dieser Sätze nur aus einem Zusammenspiel ihrer verschiedenen Merkmale (Konjunktion wenn, Finitum im Konj. II, Modalpartikel aus der Menge {nur, doch oder wenn}) erklärt werden kann, sich aber nicht an einem einzelnen Wort - etwa der obligatorischen Modalpartikel - festmachen lässt. Eine projektionistische Analyse würde hier nach Jacobs nur unter Annahme eines leeren funktionalen Kopfes funktionieren, der sich aber nicht unabhängig motivieren lasse (vgl. aber Bayer 2012). Zugleich argumentiert Jacobs aber, dass auch die projektionistische Annahme kategorialer Valenzen, Valenzvariationen und Gesetze für die Grammatiktheorie unumgänglich ist. So lässt sich z.B. die Präpositionsforderung bestimmter Nomen wie die Suche nach ganz einfach über die Annahme von Valenzvererbung aus der entsprechenden Valenz beim atomaren Verb erklären, ohne eine solche Annahme dagegen nur schlecht (Jacobs 2008, S. 35; vgl. auch Müller 2008). Weiter zeigt Jacobs, dass eine Grammatik, die nur Konstruktionen, aber keine Gesetze vorsieht, zwar Voraussagen für Zeichen einer bestimmten Klasse machen kann, z.B. für die Klasse der ornativen be-Verben (z.B. bemannen, bereifen), dass dies aber unmögliche Beispiele wie béglückwünschen (mit betontem Schwa-Präfix) nicht ausschließt, denn diese Form könnte ja einer anderen 12 Auch Culicover/ Jackendoff (2005) vertreten in ihrem Modell der ‘Simpler Syntax’ die Annahme, dass die Grammatik einerseits als ein Kontinuum von sehr spezifischen zu immer abstrakter werdenden Konstruktionen zu betrachten ist, dass zugleich aber auch generelle (UG-)Prinzipien existieren: „We have offered the possibility of treating rules of grammar as ‘bleached-out’ idioms: they are more or less idiomatic syntactic structures, sometimes with learned interpretations. Thus whatever mechanism is appropriate for learning words and idioms ought to be capable of learning rules as well, with some guidance from principles [of UG]“ (ebd., S. 43; meine Hervorheb., R.F.). Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die stärker formal ausgerichtete Sign- Based Construction Grammar (Sag 2012). 13 Vgl. zu Diskussionen zum Verhältnis von Satztyp und Konstruktion die Aufsätze in Finkbeiner/ Meibauer (Hg.) (2016); vgl. auch Finkbeiner (2015). 14 Vgl. zu Möglichkeiten, auch scheinbar idiosynkratische Konstruktionen zumindest teilweise projektionistisch zu erklären, auch Finkbeiner (2012); vgl. auch Fortmann in diesem Band. <?page no="149"?> Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? 149 Konstruktion entsprechen (Jacobs 2008, S. 39). Dagegen schließtdas Schwa- Gesetz, das besagt, dass Schwa-Silben grundsätzlich nicht betont werden, béglückwünschen sofort aus. 14 Im Grunde geht es nach Jacobs (2008, S. 9-12) also um die Frage, welchen Status eine Grammatik dem Regeltyp „Konstruktion“, und welchen Status sie dem Regeltyp „Gesetz“ einräumt. Während Konstruktionen bestimmte Bildungsweisen für sprachliche Zeichen erlauben, ohne andere Möglichkeiten auszuschließen, verbieten Gesetze bestimmte Form- oder Inhaltskonstellationen, d.h. sie machen Aussagen darüber, was in einer Sprache möglich bzw. nicht möglich ist. Ein […] besonders wichtiger Unterschied ist, daß Gesetze per definitionem Regularitäten beschreiben, während Konstruktionen dadurch, daß sie bestimmte Eigenschaften einer Zeichenklasse direkt festlegen, dem Grammatiker die Möglichkeit geben, idiosynkratische Züge der jeweiligen Zeichenklasse festzuhalten, also solche, die sich nicht aus generelleren grammatischen Mechanismen ergeben. (ebd., S. 9f.) Aus der Übersicht von Jacobs (vgl. Abb. 2) geht hervor, dass typische projektionistische Grammatikmodelle immer auch konstruktionistische Anteile insofern haben, als sie mindestens konkrete atomare Konstruktionen (= Morpheme/ Wörter) zulassen, und insofern, als man die dort formulierten Regeln (z.B. X' → X 0 YP) auch als abstrakte Konstruktionen formulieren könnte. Umgekehrt enthalten aber konstruktionistische Grammatikmodelle nicht notwendigerweise auch projektionistische Anteile. Dies ist nur dann der Fall, wenn sie auch Gesetze zulassen. Bereich Beispiel projektionistisch konstruktionistisch konkrete atomare Konstruktionen töten + + konkrete morphologische Konstruktionen ornative be-Verb- Konstruktion - + konkrete phraseologische Konstruktionen In-X-setzen- Konstruktion - + konkrete syntaktische Konstruktionen benefaktive Dativ- Konstruktion - + abstrakte Konstruktionen X' → X 0 YP + (-) Gesetze That-trace-Gesetz, Schwa-Gesetz (+) (-) konkrete komplexe Konstruktionen konkrete komplexe Konstruktionen Abb. 2: Arbeitsteilung in typischen projektionistischen bzw. konstruktionistischen Grammatikmodellen (nach Jacobs 2008, S. 10) <?page no="150"?> Rita Finkbeiner 150 Beispielsweise lässt die Radical Construction Grammar von Croft (2001) keine Gesetze zu und schreibt auch abstrakten Konstruktionen allenfalls den Status eines Epiphänomens des sprachlichen Wissens zu (vgl. Hilpert 2014, S. 68). 15 Dass eine Grammatik aber Gesetze braucht, begründet Jacobs (2008, S. 38) damit, dass „ein Grammatikmodell mit Erklärungsanspruch erfassen muß, was in der jeweiligen Sprache möglich und was nicht möglich ist“. Gerade dies ist das Hauptargument für projektionistische Elemente in der Grammatik. 4. Konstruktionen in der Grammatikschreibung: die IDS-Grammatik Welchen Status haben nun Konstruktionen und Gesetze in der Grammatikographie? Nach Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997, S. 3) ist eine Erwartung an (wissenschaftliche) Grammatiken, dass sie „theoretisch fundiert und homogen“ sein sollen, und dass sie „größtmögliche wissenschaftliche Aktualität bieten, auch in der Untersuchung der einzelnen Phänomene“. Wir sollten also erwarten können, dass sich die oben skizzierte aktuelle grammatiktheoretische Debatte zur Arbeitsteilung zwischen Lexikon und Syntax, bzw. zwischen konstruktionistischen und projektionistischen Elementen, auch in (wissenschaftlichen) Grammatiken niederschlägt. In den meisten wissenschaftlichen Grammatiken, die zum Deutschen vorliegen - etwa die Akademiegrammatik (Heidolph et al. (Hg.) 1981), die IDS-Grammatik (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997) oder die Grammatik von Eisenberg (2013) -, wie auch in den meisten Schulgrammatiken - z.B. Helbig/ Buscha (2001); Hentschel/ Weydt (2003); Duden (2009) - spiegelt sich die oben skizzierte Wörter-und-Regeln-Sicht auf sprachliches Wissen. So heißt es bei Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997, S. 3): Grammatik betrachten wir als Systematik der Formen und Mittel sprachlichen Handelns. Sprache ist deshalb so vielfältig einsetzbar und so einfach an veränderte Konstellationen und Kommunikationsanforderungen anzupassen, weil ein reiches, offenes lexikalisches Inventar (Substantive, Adjektive, Verben) sich mit einem begrenzten Repertoire an Strukturwörtern (Artikel, Präpositionen usw.) und grammatischen Mitteln wie Flexion, linearer Abfolge, Intonation/ Interpunktion verbindet. Die Akademiegrammatik (Heidolph et al. (Hg.) 1981, S. 44) skizziert Lexikologie und Grammatik als je eigene Bereiche: 15 Hilpert (2014, S. 68) fasst Crofts Sicht folgendermaßen zusammen: „In summary, whereas phrase structure rules would be seen as an essential tool for putting together phrases and sentences, abstract phrasal constructions are really a case of cognitive luxury: they are certainly nice to have, but nothing crucial depends on them, either in language production or in comprehension. The crucial work is done by constructions that occupy lower levels of abstraction in the construct-i-con.“ <?page no="151"?> Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? 151 Zum Gegenstand der Grammatik als einer Darstellung des Systemaspekts einer Sprache gehören nur einige Seiten des Wortschatzes. Sie kann weder auf deren Darstellung verzichten, noch kann sie alle Gesetzmäßigkeiten darstellen wollen, denen der Wortschatz einer Sprache unterliegt. Daher kann nach unserer Auffassung die Grammatik die Lexikologie auch nicht in sich einschließen. Sowohl in der IDS-Grammatik als auch in der Akademiegrammatik wird zugleich reflektiert, dass die Darstellung der Wörter und die Darstellung der syntaktischen Regeln oder Strukturen sich nicht immer klar voneinander trennen lassen. So schreiben Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997, S. 11): Manches ist ein Problem des Lexikons: man kann in einer Grammatik nicht auf die unzähligen Besonderheiten einzelner Lexeme eingehen, sieht man von bestimmten Strukturwörtern ab (Modalverben, Konjunktoren). Die Akademiegrammatik äußert sich ähnlich (Heidolph et al. (Hg.) 1981, S. 44): Da es sich bei den Wörtern bzw. ihren Basismorphemen grundsätzlich um syntaktische Einheiten handelt 16 […], ist die Syntax der Teil der Grammatik, der die Wörter unter den für die Grammatik relevanten Gesichtspunkten zu behandeln hätte. Es ist allerdings fraglich, ob sich alle die Wörter betreffenden Aussagen einer Grammatik an einer Stelle und in einem einheitlichen theoretischen Rahmen treffen lassen. Dies wird jedoch nicht zum Anlass genommen, die Trennung von Wörterbuch und Grammatik generell in Frage zu stellen, sondern eher dazu, die Entscheidung für die Ausklammerung lexikalischer Phänomene aus der Grammatik zu rechtfertigen. Mit dem Aufkommen der Konstruktionsgrammatik - die zumindest in Deutschland erst ca. 20 Jahre nach Publikation der Akademiegrammatik verstärkt rezipiert wurde - scheint es nun erstmals einen „einheitlichen theoretischen Rahmen“ zu geben, innerhalb dessen eine Behandlung von Wörtern und grammatischen Einheiten möglich sein könnte. Ich werde darauf in Abschnitt 5 zurückkommen. In dem oben skizzierten Verständnis ist eine Grammatik gleichzusetzen mit einem Regelwerk, d.h. einer generalisierenden und systematisierenden Darstellung der Regeln und Ordnungsprinzipien, mit denen man die grammatischen Gegebenheiten einer Sprache erklären kann. Dass in einer Grammatikdarstellung somit Regeln oder Gesetze enthalten sein sollen, erscheint aus dieser Sicht selbstverständlich. 17 Dagegen spielen Konstruktionen bzw. kon- 16 Heidolph schreibt hierzu weiter vorne: „Die Wörter bzw. ihre Basismorpheme sind Einheiten der syntaktischen Komponente. Sie besitzen eine Interpretation hinsichtlich der Einheiten der semantischen Komponente als auch hinsichtlich der phonologischen Komponente. Sie sind aber nicht Einheiten dieser Komponenten.“ (Heidolph et al. (Hg.) 1981, S. 42). 17 Damit soll nicht gesagt sein, dass die vorliegenden wissenschaftlichen bzw. Schulgrammatiken einheitlich als „projektionistisch“ beschrieben werden könnten. Während zwar durchaus „projektionistische“ Theorien in Grammatikdarstellungen einfließen - z.B. sind Helbig/ Buscha <?page no="152"?> Rita Finkbeiner 152 struktionistische Verfahren in der Grammatikschreibung bisher eine eher untergeordnete Rolle. 18 Dies verwundert umso mehr, als es eine ganze Reihe von Bereichen der Grammatik gibt, die sich wahrscheinlich nur unter Rückgriff auf Konstruktionen erfassen lassen, z.B. die Satztypen (vgl. Altmann 1993; Finkbeiner/ Meibauer (Hg.) 2016). Nicht zufällig werden Satztypen in Grammatiken oft implizit „konstruktionistisch“ erfasst, ohne dass dies aber theoretisch im Rahmen konstruktionistischer Ansätze verankert wäre. Ich werde im Folgenden am Beispiel der IDS-Grammatik (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997) der Frage nachgehen, ob bzw. wie dort konstruktionistische (nicht-kompositionelle) Verfahren der Strukturbildung repräsentiert sind. Da dies im vorgegebenen Rahmen nur exemplarisch, d.h. auf einen bestimmten Datenbereich bezogen, möglich ist, werde ich genauer der Frage nachgehen, wie verblose Strukturen vom Typ (1)-(5) eingeordnet und systematisiert werden. Die übergreifende Frage ist, inwiefern sich das Programm einer kombinierten, Konstruktionen und Gesetze gleichermaßen enthaltenden Grammatik auch grammatikographisch umsetzen lässt. 4.1 Fallstudie: Verblose Sätze in der IDS-Grammatik Verblose Sätze wie (1)-(5), die unten nochmals aufgeführt sind, lassen sich in Jacobs’ Taxonomie (vgl. Abb. 2) den konkreten komplexen Konstruktionen zuordnen. Diese weisen einerseits nicht die notwendige Abstraktheit auf, um als generelle Regeln erfassbar zu sein. Andererseits handelt es sich auch nicht um voll spezifizierte Idiome, die man einem Idiomwörterbuch oder „Appendix“ zuweisen könnte, sondern um teilspezifizierte, produktive Einheiten (‘schematic idioms’ bei Fillmore/ Kay/ O’Connor 1988). Aus diesem Grund stellen konkrete komplexe Konstruktionen ein besonderes Problem für die Grammatikschreibung dar. Sie stehen deshalb im Fokus der folgenden Überlegungen. (1) Alles nur N Alles nur Schikane/ Theater/ Programm (2) Hauptsache, [V2-Satz] Hauptsache, er ist gesund/ Hauptsache, die Qualität stimmt (3) Präd, NP Klasse, die Frau/ Richtig gut, das Paper (4) Kein N ohne N Kein Winter ohne Grippe/ Keine Regel ohne Ausnahme (5) Noch ein N und [V2-Satz] Noch ein Wort und du fliegst raus/ Noch eine Gehaltssenkung und ich kündige (2008) valenzorientiert, die IDS-Grammatik orientiert sich an der Kategorialgrammatik, und die Akademiegrammatik ist generativ orientiert -, verstehen sich die meisten Grammatiken als „theorieneutral“, verpflichten sich also nicht explizit einer bestimmten Grammatiktheorie. 18 Ein Beschreibungsinstrument, das zumindest oberflächlich an konstruktionistische Ansätze erinnert, sind die sog. Satzbaupläne der Duden-Grammatik. <?page no="153"?> Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? 153 Mit Jacobs lassen sich die verblosen Sätze folgendermaßen charakterisieren: (a) Sie enthalten kein Verb, 19 sind also in diesem Sinn ‘elliptisch’, und (b) sie sind ‘eigenständig’, haben also, wie normale Hauptsätze, ein eigenes Illokutionspotential. […] Dieses Potential ist Teil ihrer konventionellen Bedeutung, also nicht nur ein Effekt einzelner Verwendungskontexte. (Jacobs 2008, S. 15; Hervorheb. i. Orig.) In Bezug auf das Illokutionspotenzial sind (1)-(4) als Assertiva einzuordnen, z.T. mit weiteren Spezifizierungen, z.B. bei (3) als Bewertung (vgl. Finkbeiner/ Meibauer 2016). (5) kann ebenfalls assertiv verwendet werden, etwa im Sinne einer Ankündigung, aber auch den Charakter einer Drohung annehmen. Die Konstruktionen (1), (2), (4) und (5) sind teilspezifiziert, d.h. sie enthalten neben offenen Slots auch lexikalisch festgelegte Einheiten. Dagegen ist (3) eine schematische syntaktische Konstruktion. Für die einzelnen Konstruktionen gelten je ganz spezifische grammatische und pragmatische Restriktionen, durch die sie sich von potenziell als „Vollformen“ anzunehmenden finiten Sätzen unterscheiden. Ich möchte dies beispielhaft für (2) ‘Hauptsache, [V2-Satz]’ vorführen. (2) weist die syntaktische Besonderheit auf, dass der eingebettete Satz vorzugsweise ein V2-Satz und kein dass-Satz ist, vgl. (6) vs. (7), und dass das Nomen Hauptsache artikellos auftritt, vgl. (10) und (11). Enthält der Matrixsatz ein Kopulaverb, scheint die Einbettung eines dass-Satzes dagegen akzeptabler, vgl. (9). Weist das Nomen Hauptsache in der Vollsatz-Variante zudem einen definiten Artikel auf, ist der dass-Satz besser als der V2-Satz, vgl. (12) vs. (13). (6) Hauptsache, die Qualität stimmt. (7) ? Hauptsache, dass die Qualität stimmt. (8) Hauptsache ist, die Qualität stimmt. (9) ? Hauptsache ist, dass die Qualität stimmt. (10) *Die Hauptsache, die Qualität stimmt. (11) *Die Hauptsache, dass die Qualität stimmt. (12) ? Die Hauptsache ist, die Qualität stimmt. (13) Die Hauptsache ist, dass die Qualität stimmt. Diese Akzeptabilitätsurteile lassen sich durch eine exemplarische Korpusrecherche validieren. Tabelle 2 zeigt die Ergebnisse einer Cosmas-Suche in DeReKo (W-Archiv der geschriebenen Sprache, 6.201.236.191 Mio. Wörter) 20 19 Für (2) gilt dies in Bezug auf den Matrixsatz, für (5) in Bezug auf das erste Konjunkt. 20 Vgl. www1.ids-mannheim.de/ kl/ projekte/ korpora/ releases.html (Stand: 2.1.2018). <?page no="154"?> Rita Finkbeiner 154 mit der Suchanfrage [Hauptsache / +w5 stimmt]. 21 Insgesamt erhält man 940 Treffer, davon 920 für das Muster ‘(Die) Hauptsache (ist), (dass) [d- N] stimmt’. Beispiele für Nomen, die in diesem Muster vorkommen, sind Niveau, Kasse, Stimmung, Preis, Rendite, Umfeld, Fassade, Beat, Qualität, Kommunikation, Ergebnis, Gefühl, Klima, Kohle, Chemie. 22 Realisierung Anzahl Treffer Hauptsache, [d- N] stimmt 894 Hauptsache, dass [d- N] stimmt 1 Hauptsache ist, [d- N] stimmt 9 Hauptsache ist, dass [d- N] stimmt 6 Die Hauptsache, [d- N] stimmt 0 Die Hauptsache, dass [d- N] stimmt 0 Die Hauptsache ist, [d- N] stimmt 0 Die Hauptsache ist, dass [d- N] stimmt 4 Andere 6 Gesamt 920 Tab. 2: Ergebnisse für die Suchanfrage [Hauptsache / +w5 stimmt], Cosmas, W-Archiv der geschriebenen Sprache, 27.5.2015 Auch in Bezug auf die Informationsstruktur zeigen sich Unterschiede zwischen der Konstruktion und dem „Vollsatz“. In der Konstruktion liegt das kommunikative Gewicht auf dem eingebetteten Satz, Matrixsatz und eingebetteter Satz haben eine gemeinsame Fokus-Hintergrund-Gliederung. Im „Vollsatz“ liegt das kommunikative Gewicht dagegen (auch) auf dem Matrixsatz. Jeder Teilsatz weist hier eine eigene Fokus-Hintergrund-Gliederung auf. Hierfür gibt es u.a. prosodische Indikatoren: In der Konstruktion hat man keine Pause zwischen Matrixprädikat und eingebettetem Satz (angedeutet durch den Pfeil), der Hauptaktzent liegt auf dem eingebetteten Satz, vgl. (14). In möglichen „Vollsätzen“ dagegen hat man tendenziell eine kurze Pause zwischen Matrix- und eingebettetem Satz (angedeutet durch den senkrechten Strich) sowie zwei Hauptakzente, vgl. (15)-(16). 21 Die Wahl des Wortabstandes (/ +w5, d.h. max. 5 Wörter) stellt einerseits sicher, dass ein relevantes Spektrum von möglichen Realisierungen erfasst wird (von Hauptsache, das stimmt bis Die Hauptsache ist natürlich, dass die Kasse stimmt) und grenzt die Suche andererseits auf eine manuell noch handhabbare Ergebnismenge ein. 22 Zur Verwendung der Konstruktion in der gesprochenen Sprache vgl. die Studien von Bergmann (2014) und Spiekermann (2014). <?page no="155"?> Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? 155 (14) Háuptsache →-die KASSE stimmt. (15) Die HAUPTsache ist, | (dass) die KASSE stimmt. (16) Es ist die HAUPTsache, | dass die KASSE stimmt. Die oben genannten Charakteristika sprechen dafür, (2) als Konstruktion zu betrachten. Aus der Charakterisierung der Konstruktionen (1)-(5) als verblos, aber satzwertig ergeben sich nun zwei traditionelle Wege der Behandlung in Grammatiken: Entweder im Zusammenhang mit Ellipsen, oder im Zusammenhang mit Satztypen/ Satzmodus. Wie wir sehen werden, finden sich in der IDS-Grammatik Beschreibungsansätze in genau diesen beiden Bereichen. Schauen wir uns die Erfassung der Konstruktionen in der IDS-Grammatik der Reihe nach anhand folgender Fragen an: 1) Wird die Arbeitsteilung zwischen projektionistischen und konstruktionistischen Verfahren der sprachlichen Strukturbildung in der IDS-Grammatik thematisiert? 2) Kommen die Konstruktionen (1)-(5) in der IDS-Grammatik vor, und wenn ja, wo? 3) Wie werden die Konstruktionen (1)-(5) ggf. deskriptiv erfasst? 4) In welche Erklärungszusammenhänge werden sie ggf. eingeordnet? 5) Ist eine Systematik der Beschreibung solcher Konstruktionen erkennbar? Wird die Arbeitsteilung zwischen projektionistischen und konstruktionistischen Verfahren thematisiert? Die IDS-Grammatik legt als Gliederungsprinzip ein Prinzip der „Doppelperspektivik“ zugrunde (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 7). Das heißt, dass ein Zugang sowohl von der Funktion zur Form als auch von der Form zur Funktion erfolgt, wobei dem ersten Zugang das Grundprinzip funktionaler Grammatik entspricht [1] und dem zweiten Zugang das Kompositionalitätsprinzip [2]. [1] Das Ensemble sprachlicher Formen und Mittel (die Ausdrucksstruktur) ist zu erklären durch die kommunikativen Aufgaben und Zwecke im Handlungszusammenhang. [...] [2] Die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks ergibt sich aus den Bedeutungen seiner Teile auf der Basis ihrer syntaktischen Beziehungen. (ebd., S. 8) Beide Prinzipien sollen gleichermaßen berücksichtigt werden: Die Aufgabe der Grammatik besteht nun darin, empirisch-konkret zu zeigen, inwieweit diese beiden Prinzipien zutreffen oder welchen Einschränkungen sie unterliegen. (ebd.) <?page no="156"?> Rita Finkbeiner 156 In den Teilen C und D der IDS-Grammatik wird die erstgenannte Perspektive zugrunde gelegt, von der Funktion zur Form. Hier sollen Phänomenbereiche abgedeckt werden, die sich gerade nicht durch Komposition erklären lassen, die also als „antikompositionale Verfahren“ betrachtet werden können. Dazu rechnet die IDS-Grammatik z.B. den Satzmodus. In Teil E wird die letztgenannte Perspektive zugrunde gelegt, also von der Form zur Funktion. Hier stehen kompositionelle (projektionistische) Verfahren im Mittelpunkt, die bei der Verrechnung von Wortformen und Wortgruppen zu Sätzen verwendet werden. Die Syntax-Semantik-Beziehung wird dabei in Termen der Kategorialgrammatik expliziert. Was die IDS-Grammatik als „antikompositionale Verfahren“ bezeichnet, könnte man auch als konstruktionistisch bezeichnen, umgekehrt die „kompositionalen Verfahren“ als projektionistisch. Insofern ist klar, dass die IDS-Grammatik die Arbeitsteilung dieser beiden Verfahren durchaus explizit thematisiert, und sogar den Anspruch hat, beide gleichermaßen zu berücksichtigen, was sich auch im Aufbau der Grammatik niederschlägt. Kommen die Konstruktionen (1)-(5) vor, und wenn ja, wo bzw. in welchem Zusammenhang? Unsere Konstruktionen sollten also im Prinzip in der IDS-Grammatik vorkommen, denn sie gehören zu den „antikompositionalen Verfahren“. Grundsätzlich ist zu sagen, dass die IDS-Grammatik insgesamt bestrebt ist, ein sehr breites Spektrum an sprachlichen Möglichkeiten durch Beispiele und Belege abzudecken. 23 Ein zentraler Begriff der IDS-Grammatik, der für unsere Konstruktionen von besonderer Relevanz ist, ist der der kommunikativen Minimaleinheit (KM). Eine Einheit hat dann KM-Status, wenn sie ein abgrenzbares illokutives Potenzial hat, eine terminale Intonationskontur aufweist und über einen klar abgegrenzten propositionalen Gehalt verfügt (vgl. Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 89). Die „vornehmste Form der Realisierung kommunikativer Minimaleinheiten“ (ebd., S. 87) sind Vollsätze, die insbesondere dadurch charakterisiert sind, dass sie ein finites Verb enthalten, z.B. Brehme schießt ein Tor. Daneben können KM aber auch nicht-finit sein, d.h. ein nicht-finites Verb bzw. gar kein Verb enthalten, z.B. Elfmeter verschossen oder Tor durch Brehme. Von Vollsätzen und Nicht-finit-KM werden über das Kriterium der Nicht-Dekontextualisierbarkeit Ellipsen abgegrenzt, die nur in der konkreten Sprechsituation voll verstehbar sind, z.B. Hierher. Abbildung 3 zeigt die in der IDS- Grammatik vorgeschlagene Taxonomie. 23 So stellt sie u.a. auch ein Beispiel für verblose Direktiva bereit („Auf den Misthaufen damit! “, Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 423, Bsp. 10c), was Jacobs’ (2008, S. 15) Behauptung, die IDS-Grammatik erwähne verblose Direktiva nicht, widerlegt. <?page no="157"?> Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? 157 selbstständige Einheiten interaktive Einheiten kommunikative Minimaleinheiten Interjektionen Responsive nicht-dekontextualisierbar dekontextualisierbar Vollsätze Nicht-finit-KM Ellipsen situative Ellipse empraktische Ellipse Struktur-Ellipse [phatische Ellipse] Abb. 3: Taxonomie selbstständiger Einheiten (nach Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 92) Aus der Taxonomie ergeben sich prinzipiell zwei Möglichkeiten der Einordung unserer Konstruktionen: Die Einordnung als Nicht-finit-KM oder die Einordnung als Ellipse. Tabelle 3 zeigt zusammenfassend, welche der Konstruktionen (1)-(5) ggf. wo in der IDS-Grammatik erwähnt werden. Konstruktion Erwähnung Bereich Anmerkung Alles nur N Verwandte Konstruktionen ohne nur werden erwähnt: S. 440: Alles grau in grau; Alles paletti ----------------------------------------- Alles nur N kommt nicht vor Struktur-Ellipse (Finitum-Ellipse) „Das Kopulaverb kann in bestimmten Strukturen im poetischen und im formelhaften Sprachgebrauch fehlen.“ Hauptsache, X Funktional verwandte Konstruktionen mit dass-Satz werden erwähnt: S. 425: Kein Wunder, daß es ihm nicht besser ging S. 440: Möglich/ Schön, daß sie noch kommt. ----------------------------------------- Hauptsache, [V2-Satz] kommt nicht vor Struktur-Ellipse (Finitum-Ellipse) Zu S. 440: „Weiterhin kann das Kopulaverb nach es-Tilgung in Adjektiv+daß- Satz-Konstruktionen fehlen.“ <?page no="158"?> Rita Finkbeiner 158 Konstruktion Erwähnung Bereich Anmerkung Präd, NP Verwandte evaluative „nackte“ Prädikate werden erwähnt: S. 427: Picassos Meisterwerke! ; Eine Pleite. ----------------------------------------- Präd, NP kommt nicht vor. Empraktische Ellipse (Ellipsen in assertiven SH) „Die Bewertung wird zum Ausdruck gebracht im Rahmen des assertiven Musters. Erwartbar sind solche Bewertungsformen insbesondere an Positionen nach einer Präsentation […] (S. 427) Kein X ohne Y Keine Erwähnung. (Einordnung möglich bei Nicht- Finit-KM im Aussagemodus. Es finden sich aber dort keine Beispiele für die Konstruktion.) (Nicht-finit-KM im Aussagemodus) (Noch) ein N und S Konstruktion wird an zwei Stellen erwähnt: S. 425: Ein Wort (von dir), und ich schlage zu; Noch drei Minuten/ drei Kilometer, und wir sind in Buffalo. S. 661: (Sag) noch ein Wort, und ich gehe. Empraktische Ellipse (Ellipsen in assertiven SH) (S. 425) Aufforderungs- Modus (komplexe KM mit konditional interpretierten Aufforderungsausdrücken) (S. 661) „eher formelhaft“ „Der konditionale Effekt kommt allein dadurch zustande, daß auf eine noch zu erfüllende Situation abgehoben wird, d.h. eine Voraussetzung erst noch zu schaffen ist.“ „spezielles Muster“ (S. 659) Tab. 3: Einordnung der Konstruktionen (1) - (5) in der IDS-Grammatik Als Gesamtbild ergibt sich, dass von den fünf Konstruktionen nur (5) als solche erwähnt wird. Die Konstruktionen (1)-(4) lassen sich in der IDS-Grammatik nicht auffinden. Es gibt allerdings zu (1)-(3) Beispiele, die gewisse Ähnlichkeiten mit den gesuchten Konstruktionen haben. Diese sind sämtlich im Bereich der empraktischen bzw. Struktur-Ellipsen angesiedelt. (4) ließe sich am ehesten den Ausführungen im Bereich der Nicht-finit-KM zuordnen. Zu (5) gibt es Hinweise sowohl bei den Ellipsen als auch im Bereich der KM-Modi. <?page no="159"?> Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? 159 Wie werden die Konstruktionen deskriptiv erfasst? Die einzelnen Konstruktionen bzw. die ihnen ähnlichen Konstruktionen werden insoweit erfasst, als sie als Beispiele zu bestimmten Klassen von Ellipsen bzw. indirekt auch als Beispiele für Nicht-finit-KM dienen. Genauere Erläuterungen zur Form und Bedeutung der einzelnen Fälle oder zu ihrem Konstruktionsstatus gibt die IDS-Grammatik allerdings nicht. Es finden sich aber an mehreren Stellen nicht näher ausgeführte Hinweise darauf, dass es sich bei den Konstruktionen um „Formeln“ oder „Muster“ handeln könnte. In welche Erklärungszusammenhänge werden die Konstruktionen eingeordnet? Der wichtigste Erklärungszusammenhang ist der der Ellipsen (vgl. Tab. 3). Ellipsen werden definiert als Verbalisierungsverfahren für KM, bei dem der Sprecher systematisch nicht versprachlicht, was aufgrund gemeinsamer Orientierung in der Sprechsituation, im aktuellen Handlungszusammenhang oder auf der Basis sprachlichen Wissens in den Hintergrund eingehen und mitverstanden werden kann. (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 413) Unsere Konstruktionen kommen als Beispiele empraktischer sowie von Struktur-Ellipsen vor. Unter empraktischen Ellipsen versteht die IDS-Grammatik solche, die auf der gemeinsamen Orientierung von Sprecher und Hörer in einem bereits aktualisierten oder unmittelbar aktualisierbaren Handlungszusammenhang basieren, z.B. „Hierher“ als Aufforderung einer Wohnungsinhaberin an die Möbelpacker, das Klavier ins Wohnzimmer zu bringen. Struktur-Ellipsen sind solche Äußerungen, die um grammatische Konstruktionselemente reduziert und nur unter bestimmten Bedingungen, d.h. in geeigneten Textformen oder Textsorten, grammatisch akzeptabel sind, z.B. das Weglassen von „Strukturwörtern“ in Schlagzeilen (Russe Weltmeister). Ein weiterer Erklärungszusammenhang ist der als Nicht-finit-KM. Diese sind in der IDS-Grammatik charakterisiert als Formtypen ohne Verb bzw. mit nichtfinitem Verb, die bestimmten KM zugeordnet werden können, allerdings ohne formseitig einem Satztyp anzugehören. Das wichtigste modusrelevante Formmerkmal dieser Typen sind dabei Intonation und Akzent. Ein Kandidat hierfür ist Kein X ohne Y. Die Ausführungen zu Nicht-finit-KM sind aber insgesamt sehr knapp (ca. eine Seite, vgl. Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 612f.). Gibt es eine systematische Erfassung im Zusammenhang? Die uns interessierenden Konstruktionen werden in der IDS-Grammatik an keiner Stelle im Zusammenhang betrachtet, etwa unter einem Stichwort wie „verblose Sätze“ oder „äußerungswertige Konstruktionen“. Stattdessen erscheinen die Konstruktionen relativ unsystematisch an unterschiedlichen Stellen, an denen sie als Beispiele erwähnt werden. Unter den Nicht-finit-KM sind <?page no="160"?> Rita Finkbeiner 160 unsere Konstruktionen nicht explizit erwähnt. Bei den Ellipsen finden sich manche Beispiele, jedoch ohne eine zusammenhängende Betrachtung. Das Auffinden der Konstruktionen ist mühsam, da weder über das Wortregister erschließbar, noch gebündelt unter einer bestimmten (terminologisch anschlussfähigen) Kategorie (z.B. „XY-Konstruktion“) beschrieben. 4.2 Diskussion Zusammengefasst können wir der IDS-Grammatik in Bezug auf unsere Konstruktionen (1)-(5) bzw. ihnen ähnliche Konstruktionen entnehmen, dass - es sich um „antikompositionale Verfahren“ handelt, die von ihrer Funktion her bestimmt sind, - manche davon Ellipsen sind, - andere Nicht-finit-KM sind, d.h. wohl stärker regelhaft erklärbare Einheiten, - sie häufig „formelhafte“ Züge haben und - sie evtl. an bestimmte Text- oder Diskurstypen gebunden sind. Wir erfahren aber nichts darüber, dass es sich bei der Klasse der verblosen Sätze um ein systematisches Phänomen der deutschen Sprache handelt. Insbesondere wird nicht klar, dass diese Konstruktionen unter Bezugnahme auf das System der Satzmodi des Deutschen beschreibbar sind und dass es sich um produktive Muster handelt. Genauer lassen sich drei Problembereiche identifizieren: (i) Abgrenzung von Konstruktion und Ellipse; (ii) Herstellung von systematischen Beziehungen unter verwandten Konstruktionen; und (iii) interne Differenzierungen bei kommunikativen Minimaleinheiten. Abgrenzung Konstruktion/ Ellipse Ein Hauptproblem der Einordnung unserer Konstruktionen bei den Ellipsen ist, dass der Unterschied zwischen den Konstruktionen mit ihren spezifischen Beschränkungen und anderen, „freien“ Ellipsen nicht klar wird. So führt die IDS-Grammatik auf Seite 440 die Ketten Alles grau in grau und Alles paletti als Beispiele für Struktur-Ellipsen, Untertyp Finitum-Ellipsen an. Es findet sich die Erläuterung „Das Kopulaverb kann in bestimmten Strukturen im poetischen und im formelhaften Sprachgebrauch fehlen“ (S. 440), die die Einordnung als Struktur-Ellipse rechtfertigt - man braucht geeignete Textformen bzw. -sorten, etwa poetische oder formelhafte Texte. Dabei bleibt allerdings unklar, was unter formelhaftem Sprachgebrauch genau zu verstehen ist, und wie sich Formeln von Ellipsen unterscheiden. Das heißt, ein Benutzer erfährt nicht, was das Spezifische an einer „Formel“ wie Alles paletti ist, im Unterschied zu einer Struktur-Ellipse wie Russe Weltmeister. Während man ja einerseits eine relativ allgemeine, produktive Konstruktion [N Präd] als Schlagzeile <?page no="161"?> Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? 161 annehmen könnte (Russe Weltmeister, Amerikaner erster Mann auf dem Mond, Kind von Brücke gestürzt), ist Alles paletti stark idiosynkratisch. So ist unklar, was paletti genau bedeutet; auch ist ein Einfügen des „fehlenden“ Kopulaverbs nicht ohne Weiteres möglich (? Alles ist paletti, dagegen Russe ist Weltmeister). Herstellung von systematischen Beziehungen Die Kette Ein Wort (von dir) und ich schlage zu findet sich in der IDS-Grammatik als empraktische Ellipse, Untertyp Ellipsen in assertiven Sprechhandlungen (S. 425). Dieses Beispiel wird als „eher formelhaft“ eingeordnet, erscheint also als Einzelfall - wobei wiederum nicht genauer erklärt wird, was mit „formelhaft“ gemeint ist. Was hier nicht hervorgeht, ist, dass man es mit einer Realisierung der teiloffenen, produktiven Konstruktion (Noch) ein N und [V2- Satz] zu tun hat. Diese Konstruktion wird nun zugleich auf Seite 661 eingeführt als „komplexe KM mit konditional interpretierten Aufforderungsausdrücken“, mit dem Beispiel (Sag) noch ein Wort, und ich gehe. Die Ausführungen hierzu lassen erkennen, dass es im Deutschen eine bestimmte und-Konstruktion gibt, deren erster Teilsatz einem Aufforderungssatz entspricht, und die insgesamt konditional interpretiert wird. Der Benutzerin - sofern sie überhaupt einen Zusammenhang zwischen den beiden Erwähnungen herstellen kann, da hier keine Verweise eingebaut sind - stellt sich die Frage, welche Beziehung zwischen der als Ellipse eingeordneten „Formel“ Ein Wort (von dir) und ich schlage zu und dieser „regulären“, d.h. relativ abstrakt beschreibbaren, konditionalen und-Konstruktion besteht. Es bleibt also nicht nur die Abgrenzung Ellipse- Formel unklar, sondern auch das Verhältnis zwischen elliptischen Äußerungen und KM-Modi. Kommunikative Minimaleinheiten - interne Differenzierungen Ein letzter Punkt betrifft die Unterscheidung zwischen Nicht-finit-KM und Ellipsen. Unsere Konstruktion (4), Kein N ohne N, ist in der IDS-Grammatik nicht verzeichnet. Da es sich um eine assertive Konstruktion ohne finites Verb handelt, könnte man sie den „Nicht-finit-KM im Aussagemodus“ zuordnen. Dort finden sich die beiden Ketten Alle Angaben ohne Gewähr und Keine weiteren Informationen zum Fall Barschel als Beispiele (S. 613). Auch hier stellt sich zum einen die Frage, wie man angemessen erfassen könnte, dass Kein N ohne N ein produktives Muster darstellt, das bestimmten Beschränkungen hinsichtlich der Füllung seiner Slots unterliegt, was etwa für Keine weiteren Informationen zum Fall Barschel nicht gelten dürfte. In konstruktionsgrammatischen Begriffen könnte man auch sagen, dass aus den Beispielen nicht hervorgeht, ob es sich dabei jeweils um Konstruktionen oder um Konstrukte, d.h. aktuelle Realisierungen einer Konstruktion, handelt. Ein anderes, damit verknüpftes Problem ist, dass der Begriff der „kommunikativen Minimaleinheit“, der natürlich unter der Funktion-zu-Form-Perspektive bewusst gewählt ist, es nicht leis- <?page no="162"?> Rita Finkbeiner 162 ten kann, zwischen stärker regelhaften Interaktionen von Form und Funktion und stärker spezialisierten Typen befriedigend zu unterscheiden, also etwa zwischen „normalen“ Deklarativsätzen und unseren Konstruktionen. Zwar versucht die IDS-Grammatik, dem über die Unterscheidung von Haupttypen und peripheren Modi Rechnung zu tragen, aber dass es sich hier um unterschiedlich abstrakte Arten „antikompositionaler“ Verfahren handelt, wird nicht klar. Man würde sich z.B. eine Explizierung der Intuition wünschen, dass es relativ abstrakte Satztypen gibt, die wiederum speziellere Belegungen aufweisen können. Beispielsweise sollte hervorgehen, dass es implikative und- Konstruktionen als relativ abstrakte Konstruktionen gibt, die wiederum speziellere, verfestigte Realisierungen haben können. Insgesamt zeigt die Fallstudie exemplarisch, dass Konstruktionen in vorliegenden Grammatiken des Deutschen bisher nicht systematisch genug erfasst werden. An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob stattdessen eine am Konzept des Konstruktikons orientierte Grammatik das Modell der Zukunft sein kann. Im nächsten Abschnitt möchte ich daher kurz vergleichend den neueren Vorschlag von Boas (2014) „Zur Architektur einer konstruktionsbasierten Grammatik des Deutschen“ diskutieren. 5. Neuere Vorschläge: Grammatik als Konstruktionsnetzwerk Boas (2014) legt ein Konzept für eine Grammatik vor, das sich als Umsetzung der konstruktionsgrammatischen Idee des Konstruktikons versteht. Ultimatives Ziel dieser konstruktionsbasierten Grammatik ist die „komplette Beschreibung der Grammatik des Deutschen auf konstruktionsgrammatischer Grundlage“ (ebd., S. 54). Die Grammatik soll, gemäß dem konstruktionsgrammatischen Postulat der Gebrauchsbasiertheit, korpusgestützt sein, die Daten in ihrer Breite und Variation erfassen und auch Kontextinformationen enthalten, und sie soll, gemäß der konstruktionsgrammatischen Aufhebung der Lexikon-Syntax-Trennung, als Konstruktikon angelegt sein, d.h. linguistische Einheiten unterschiedlicher Abstraktionsgrade bzw. Komplexitätsstufen mit demselben Formalismus erfassen. Der Vorschlag läuft somit darauf hinaus, sämtliche in der Sprache - implementiert als repräsentatives Korpus dieser Sprache - vorkommenden Konstruktionen zu identifizieren und miteinander vernetzt im Konstruktikon zu erfassen, das als Datenbank bzw. Online- Grammatik mit unterschiedlichen Zugriffsmöglichkeiten und mit je nach Nutzerbedürfnissen gestaffelter Detailgenauigkeit angelegt ist. Für das Englische liegen hierzu bereits Umsetzungen im Rahmen von FrameNet bzw. des FrameNet-Konstruktikons vor (vgl. Fillmore/ Lee-Goldman/ Rhomieux 2012). Eine solche konstruktionsbasierte Grammatik besteht aus miteinander in Beziehung stehenden Einträgen für Konstruktionen, ähnlich wie man dies von <?page no="163"?> Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? 163 Lexikoneinträgen kennt. Die von Fillmore/ Lee-Goldman/ Rhomieux (2012) vorgeschlagene Notation stellt dabei Beziehungen zwischen Konstruktionen und ihren einzelnen Komponenten als Mutter-Tochter-Beziehungen dar (vgl. Boas 2014). Die Mutterkonstruktion besteht aus den phonologischen und morphologischen Werten von Zeichen 1 und Zeichen 2 , den Töchtern. Ein Beispiel ist die Konstruktion „Maßeinheit“, deren Mutter aus zwei Töchtern besteht, vgl. (17). (17) Maßeinheit { Maßeinheit [ Zähler Zeichen 1 ][ Gezähltes Zeichen 2 ]}, z.B. dreißig Tropfen pro Tag Der Konstruktionseintrag zu „Maßeinheit“ enthält unter dieser geklammerten Notation Informationen zu syntaktischen Eigenschaften der Mutter- und Tochter-Konstituenten und zu semantischen Eigenschaften der Tochter-Konstituenten sowie der gesamten Konstruktion, vgl. (18), 24 je nach Bedarf ergänzt durch Beispiele, eine Legende und eine Diskussion weiterer Eigenschaften. (18) { Maßeinheit [ Zähler ][ Gezähltes ]} Name Maßeinheit M NP T1 Zähler. Eine quantifizierte NP. T2 Gezähltes. Eine indefinite NP im Singular, die Teil einer PP mit pro als Kopf ist. Interpretation Die Bedeutung wird aus dem Verhältnis von Zähler zu Gezähltem ermittelt. Dieser Konstruktionseintrag lizenziert alle Phrasen, die die in ihm enthaltenen Restriktionen erfüllen, z.B. dreißig Tropfen pro Tag, vier Euro pro Stück, fünfzig Kilometer pro Stunde. In ähnlicher Weise könnte man auch für die oben diskutierten verblosen Sätze solche Konstruktionseinträge erstellen, die dann in der Vernetzung einen systematischen Zugriff auf dieses Phänomen erlauben würden. Dies ist ein wesentlicher Vorteil der konstruktionsbasierten Konzeption. Die generellen Vorteile der hier skizzierten Grammatikkonzeption sieht Boas (2014, S. 52) u.a. in der Uniformität der Konstruktionseinträge, die einen schnellen Vergleich mit entsprechenden Informationen in anderen Konstruktionen ermögliche, in der Verbindung von syntaktischer und semantischer Information, die auch Bezug auf Weltwissen zulässt, sowie in der Möglichkeit der Erfassung von konzeptueller Anpassung (z.B. Motorräder knattern durchs Dorf, Welke 2011). Prinzipiell scheint mir allerdings nichts dagegen zu sprechen, diese Vorteile auch 24 Vgl. Boas (2014, S. 51). M = Mutter, T1 = erste Tochter, T2 = zweite Tochter. <?page no="164"?> Rita Finkbeiner 164 über andere Grammatikkonzeptionen zu bekommen, z.B. indem in der Grammatik aufgezeigt wird, dass die Verwendung artikelloser zählbarer Nomen in Maßeinheit-Konstruktionen systematisch zu anderen artikellosen Verwendungen von Nomen in Beziehung steht, etwa zu bestimmten Präpositionalkonstruktionen (zu Bett, auf See). Zudem wird nach Boas (2014) in der konstruktionsbasierten Grammatik das Problem der theoretischen Fundiertheit und Homogenität einer Grammatik (vgl. Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 3) gelöst, „da alle Einträge demselben Format folgen und das Resultat desselben korpusbasierten Analysevorgangs […] sind“ (Boas 2014, S. 52). Man kann allerdings bezweifeln, ob ein einheitliches Format tatsächlich das Theorieproblem löst: Die Frage wäre, inwieweit die Wahl eines bestimmten Formats mehr ist als eine Darstellungsfrage. Weiter stellt sich die Frage, ob es aus grammatikographischer Sicht überhaupt erstrebenswert ist, alle Phänomene einer Sprache in einem einzigen theoretischen Rahmen zu beschreiben. Es scheint mir nicht notwendigerweise ein Nachteil einer Grammatik zu sein, unterschiedliche Theorieansätze einzubeziehen, können doch für unterschiedliche Phänomene je unterschiedliche Theorien beschreibungsadäquat sein. Weiter wird nach Boas durch die Einführung einer einheitlichen Notation für Form-Bedeutungspaare unterschiedlichen Abstraktionsgrades das Problem der Trennung zwischen Lexikon und Grammatik „faktisch beseitigt“ (Boas 2014, S. 52), wobei ein noch ungeklärtes Problem sei, „[w]ie genau Informationen über das Zusammenwirken von Konstruktionen unterschiedlichen Abstraktionsgrades auf unterschiedlichen Ebenen spezifiziert werden müssen“ (ebd.). Sämtliche Erscheinungen der Sprache in einem einheitlichen Format erfassen zu können, scheint in der Tat zunächst verlockend. Andererseits liegt es auf der Hand, dass man dadurch einen enormen deskriptiven Apparat benötigt, der in weiten Teilen auch Redundanzen aufweisen wird. Insgesamt scheint mir die völlige Aufgabe der Komponenten Lexikon und Grammatik weder theoretisch noch grammatikographisch erstrebenswert, da man dadurch Möglichkeiten verschenkt, sprachliche Phänomene unter Bezugnahme auf die Interaktion zwischen beiden Komponenten zu beschreiben. Dass diese Art der Erklärung durchaus nützlich ist, hat sich nicht zuletzt bei der Beschreibung von Schnittstellenphänomenen gezeigt (vgl. z.B. Jackendoff 1997, 2002). Das Hauptproblem an dieser Konzeption in Bezug auf unsere Fragestellung scheint mir zu sein, dass die konstruktionsbasierte Grammatik keine allgemeinen Prinzipien bzw. Gesetze enthält. 25 So könnte ein Nutzer zwar „online“ 25 Übrigens enthält auch die Arbeit von Welke (2011), die als gemischtes Modell angelegt ist, keine Gesetze. Welke legt eine Beschreibung des Deutschen vor, in der die Perspektive des Valenzträgers um die Perspektive der Konstruktion erweitert wird. Eine Idee dabei ist, Valenzvariation als Anpassung an Konstruktionen zu beschreiben. So kann ein Verb an Konstruktio- <?page no="165"?> Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? 165 nach bestimmten Satzkonstruktionen suchen, etwa einer Passivkonstruktion, und würde dann eine Analyse der an dieser Konstruktion beteiligten Konstruktionen sowie der mit ihr verwandten Konstruktionen bekommen, vielleicht auch Informationen über häufige Vorkommenskontexte. Es ist aber nicht klar, inwieweit er etwas über die systematischen Möglichkeiten erfahren wird, Aktivsätze und Passivsätze ineinander zu überführen. Wenn er sich für die Wortstellung im Mittelfeld deutscher Sätze interessiert, wird er zwar zu einem eingegebenen Satz möglicherweise 26 eine Analyse dazu bekommen. Er wird aber nichts darüber erfahren, welche (miteinander konkurrierenden) Prinzipien gerade diese Wortfolge (und nicht irgendeine andere) determinieren. In ähnlicher Weise wird unser Nutzer zwar erfahren, dass in einem gegebenen Satz Subjekt-Verb-Kongruenz vorliegt, also die SUBJEKT-PRÄ- DIKAT-Konstruktion realisiert ist. Das schließt aber nicht aus, dass es auch Objekt-Verb-Kongruenz geben könnte. Insofern scheint eine Grammatik, die als reines Konstruktikon konzipiert ist, ein Stück weit hinter das zurückzufallen, was projektionistisch orientierte Modelle in Bezug auf die Beschreibung von Regularitäten der deutschen Syntax bereits erreicht haben. Bei Zifonun (2009, S. 339) heißt es entsprechend, unter Bezugnahme auf Jacobs (2008): Allerdings ist die Idee der Konstruktion, auch wenn es um abstrakte Konstruktionsschemata geht, aus meiner Sicht zu schwach, um grammatische Systeme zu erklären. Ihre Stärke besteht in der Erklärung lokaler Organisation. Sprachen folgen aber auch übergreifenden Organisationsprinzipien, zum einen solchen universaler Natur, zum anderen solchen, die für bestimmte Sprachtypen gelten. nen angepasst werden, für die es nicht lizenziert ist (Motorräder knattern durchs Dorf). Das spricht für die Annahme von Konstruktionen. Andererseits können Verben nicht beliebig mit Konstruktionen fusioniert werden (*Sie bemalt ein Bild auf die Tapete). Das spricht für die Annahme von Verbvalenzen, bzw. von konstruktionsunabhängigen, verbspezifischen Eigenschaften. Es scheint nun allerdings so, als seien Verbvalenzen im Prinzip als Konstruktionen beschreibbar (vgl. Goldbergs Arbeiten zu Argumentstruktur-Konstruktionen, z.B. Goldberg 1995). Anstatt zu sagen, dass das Verb geben eine bestimmte Valenzforderung hat, kann man ja sagen, dass die geben-Konstruktion eine bestimmte syntaktische Umgebung mit semantischen Anforderungen festlegt. Verbvalenzen könnten insofern als abstrakte Konstruktionen aufgefasst werden, sind aber keine Gesetze, denn sie sind abhängig vom je spezifischen Verb. 26 Es ist unklar, wie die Konstruktionsgrammatik Wortstellungsregularitäten erfasst. So legen ja manche Konstruktionen eine bestimmte Wortstellung fest (z.B. Präposition-Nomen-Konstruktionen), andere dagegen nur bedingt. So hat eine „Deklarativsatzkonstruktion“ typischerweise V2-Stellung, die Wortstellung im Mittelfeld ist aber relativ frei. Stefanowitsch (2011, S. 21) merkt an: „Des Weiteren ist aber auch zu klären, wie sich konkrete, lexikalisch ganz oder teilweise spezifizierte Konstruktionen zu den abstrakteren Regularitäten verhalten, die sich in ihnen zusätzlich manifestieren (z.B. Flexionsmorphologie, Wortstellung usw.). Diese Fragen werden in einigen Varianten der Konstruktionsgrammatik durchaus diskutiert […] aber systematische und umfassende Modellvorstellungen fehlen hier bisher.“ <?page no="166"?> Rita Finkbeiner 166 Es spricht mit anderen Worten vieles dafür, dass es sinnvoll ist, an der Lexikon- Grammatik-Trennung prinzipiell festzuhalten. Zugleich spricht aber auch vieles dafür, anzuerkennen, dass Lexikon und Grammatik Übergänge aufweisen, die sich unter Bezugnahme auf den Begriff der Konstruktion sinnvoll beschreiben lassen. 6. Fazit und Ausblick Verblose Konstruktionen gehören zu dem insgesamt recht großen Bestand komplexer konkreter Konstruktionen des Deutschen, die sich einer projektionistischen Behandlung widersetzen. Aus Sicht der Grammatiktheorie ist deshalb u.a. anhand dieses Datenbereichs dafür argumentiert worden, in der Grammatik neben projektionistischen auch konstruktionistische Elemente zuzulassen. In diesem Beitrag habe ich diese Forderung auf die Grammatikschreibung übertragen und bin der Frage nachgegangen, wie in einer großen wissenschaftlichen Referenzgrammatik des Deutschen, der IDS-Grammatik, mit verblosen Konstruktionen umgegangen wird. Dabei habe ich eine Reihe von Problemen identifiziert. Insgesamt zeichnet sich ab, dass es bisher noch keine überzeugende, systematische Integration von (konkreten komplexen) Konstruktionen in traditionelle Grammatikdarstellungen geleistet worden ist. Ich habe zugleich die These vertreten, dass auch eine Grammatik, die Konstruktionen Raum gibt, nicht den Anspruch aufgeben sollte, Regularitäten des Strukturaufbaus zu erklären. Eine Grammatik sollte vielmehr systematisch zwischen Phänomenen mit kompositionellem und Phänomenen mit nichtkompositionellem Strukturaufbau unterscheiden, so wie das in der IDS-Grammatik ja angelegt ist. Das heißt aber auch, dass Grammatikdarstellungen, die sich als reines Konstruktikon gestalten - wie die Konzeption von Boas (2014) - nicht völlig überzeugen können, da fraglich ist, inwiefern sie dem Erklärungsanspruch von Grammatiken gerecht werden können. Die Frage stellt sich also, wie eine gelungene Grammatikdarstellung aussehen könnte, die projektionistische mit konstruktionistischen Elementen vereint. Ich möchte abschließend einige Leitfragen formulieren, deren Beantwortung uns möglicherweise einer Lösung näherbringen könnte. Welche Aufgaben soll die Grammatik erfüllen, welche das Wörterbuch? Es ist ganz grundsätzlich zu klären, inwieweit sich die theoretische Möglichkeit eines Kontinuums zwischen Syntax und Lexikon (als theoretische Komponenten) auch auf die traditionell getrennte Beschreibung dieser Bereiche in Grammatik und Wörterbuch (als grammatikographische bzw. lexikographische Korrelate) auswirken muss. Mit anderen Worten, ist es überhaupt die Grammatik, die für (konkrete komplexe) Konstruktionen zuständig ist, oder <?page no="167"?> Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? 167 ist es vielleicht das Wörterbuch, oder ist es doch ein „Konstruktionsbuch“ (als Korrelat eines theoretischen „Konstruktikons“)? Die Frage ist, ob eine Grammatik es überhaupt leisten kann, alle (konkreten komplexen) Konstruktionen einer Sprache in all ihren Einzelheiten vollständig zu erfassen, oder ob dies Aufgabe des Wörterbuchs ist. Eine kombinierte Lösung könnte beispielsweise so aussehen, dass (konkrete komplexe) Konstruktionen unter systematischen Aspekten in der Grammatik behandelt werden, sie aber daneben zusätzlich in einem (Konstruktions-)Wörterbuch mit all ihren spezifischen Besonderheiten zu listen sind. Welche Bereiche der Grammatik können über Prinzipien/ Projektion, welche über Konstruktionen abgedeckt werden? Diese Frage ergibt sich ganz konkret aus dem von Jacobs (2008) entwickelten Forschungsprogramm, und sie ist bisher nur ansatzweise, in Bezug auf ausgewählte Phänomenbereiche beantwortet worden. Hier besteht also noch großer Forschungsbedarf. Erst wenn das geleistet ist, ist letztlich eine Implementierung in einer Grammatikdarstellung möglich. Konzeptionell berührt diese Frage die Kern/ Peripherie-Unterscheidung. Es wäre darüber nachzudenken, ob es nicht zumindest für die Grammatikschreibung fruchtbar sein könnte, diese Unterscheidung weiter aufrechtzuerhalten. Bei Nolda/ Machicao y Priemer/ Sioupi (2014) heißt es: Die Kern/ Peripherie-Unterscheidung wird unter diesen Voraussetzungen auch für den Spracherwerb theoretisch verzichtbar. Die Frage ist, ob sie noch eine empirische und/ oder eine heuristische Berechtigung hat. (ebd., S. 18) Indem man Bereiche identifiziert, die über Prinzipien/ Projektion erfassbar sind, und solche, die (nur) über Konstruktionen erfassbar sind (nämlich konkrete komplexe Konstruktionen), baut man ja gewissermaßen die Idee einer Kern/ Rand-Unterscheidung auch in die Grammatikschreibung ein. 27 Dies könnte durchaus expositorische Vorteile haben. Man könnte hier also argumentieren, dass die Kern/ Rand-Unterscheidung zumindest noch eine anwendungsbezogene Berechtigung hat. Wie können (konkrete komplexe) Konstruktionen systematisch erfasst werden? Diese Frage ist sicherlich eine der Kernfragen. Es ist klar, dass es nicht genügt, Konstruktionen vereinzelt (als „Formeln“) in die Grammatik einzustreuen, sondern dass wir einen systematischen Zugriff brauchen. Aber wie könnte dieser aussehen? Ich habe oben gegen einen Zugriff argumentiert, der sich als 27 Ob man das nun „Kern“ und „Rand“ nennen will oder nicht. Im Gegensatz zur Kern/ Rand- Unterscheidung in der Grammatiktheorie (vgl. die Diskussion in Abschnitt 3) wäre in einer so verstandenen (Nutzer-)Grammatik der „Randbereich“ aber genauso selbstverständlich Teil (und Aufgabe) der Grammatik wie der „Kernbereich“. <?page no="168"?> Rita Finkbeiner 168 reines Konstruktikon gestaltet. Das heißt aber nicht, dass wir nicht Ausschnitte eines Konstruktikons in unsere Grammatik integrieren können. Es wäre beispielsweise vorstellbar, ein Konstruktikon der verblosen Sätze zu entwerfen, das diese als konkrete komplexe Konstruktionen erfasst, die in vielfältigen Beziehungen untereinander stehen. Zugleich sollte dieser Ausschnitt aber auch in Beziehung zu den „regulären“ verbhaltigen Sätzen gesetzt werden, deren Strukturaufbau über generelle Prinzipien erklärt wird. Dies mag gewisse Redundanzen zur Folge haben, muss aber nicht per se (wohl aber im Hinblick auf die gegebene Begrenztheit von (analogen) Grammatikdarstellungen) nachteilig sein. Können (konkrete komplexe) Konstruktionen vollständig erfasst werden? Nach Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997, S. 4) sieht sich jede Grammatikdarstellung vor das Vollständigkeitsparadox gestellt, nach dem deskriptive Vollständigkeit und theoretische Fundiertheit - beides Erwartungen an eine Grammatik - sich (derzeit) ausschließen. Dennoch ist klar, dass man gerne hätte, dass zumindest der Großteil der relevanten Konstruktionen des Deutschen sich auch in der Grammatik wiederfindet, dass die Erfassung von Konstruktionen also nicht nur punktuell erfolgt. Dies setzt natürlich wiederum voraus, dass man weiß, welche Konstruktionen es im Deutschen gibt. Man könnte zunächst einmal mit dem Anspruch herangehen, dass alle (konkreten komplexen) Konstruktionen, die für das Deutsche bereits beschrieben wurden (und bei denen einigermaßen klar ist, dass sie nicht projektionistisch erfassbar sind), als solche in der Grammatik enthalten sein sollen. Auch hier wäre die Idee, dass die Grammatik eine systematische Einordnung vornimmt, dass man aber ergänzend ein Konstruktionswörterbuch hat, das diese Konstruktionen listenartig verzeichnet. Wie kann ein/ e Benutzer/ in verlässlich Konstruktionen in der Grammatik auffinden? Diese Frage betrifft den Zugriff auf (konkrete komplexe) Konstruktionen. Die Grammatik sollte ja eine rasche Orientierung bieten, wenn z.B. gefragt wird, welche Eigenschaft die verblose Konstruktion Alles nur N hat. Man hat hier das Problem, dass traditionelle Grammatiken normalerweise nach wortbzw. satzbezogenen Kategorien gegliedert sind, die zunächst einmal keinen Raum lassen für spezielle Konstruktionen. Die Frage ist dann, unter welchen „Stichwörtern“ die Konstruktionen in der Grammatik verzeichnet sein sollen. Während man teilspezifizierte Konstruktionen wie Alles nur N - neben einer Aufnahme etwa unter einer Rubrik „verblose Konstruktionen“ - z.B. im Stichwortverzeichnis unter dem Stichwort alles verzeichnen kann, funktioniert das bei offenen Konstruktionen wie [Präd, NP] nicht. Man muss also auch über abstraktere Kategorien (wie z.B. „Prädikat“) einen Zugriff auf die Konstruktionen vorsehen. <?page no="169"?> Wie soll die Grammatikschreibung mit Konstruktionen umgehen? 169 Welche Terminologie soll man benutzen? Insgesamt zeichnet sich schließlich auch ein Terminologieproblem ab. Schon grundsätzlich ist zu klären, in welchem Sinn der Terminus ‘Konstruktion’ verwendet wird: als traditioneller, theorieneutraler Begriff (wie etwa in der IDS- Grammatik verwendet), oder als terminus technicus der Konstruktionsgrammatik. In Bezug auf die verblosen Konstruktionen spricht die IDS-Grammatik meist nicht von Konstruktionen, sondern von kommunikativen Minimaleinheiten; statt Satzmodus verwendet sie wiederum den Begriff KM-Modus. Diese Terminologie ist schon deshalb problematisch, weil sie international nicht anschlussfähig ist. Es scheint aber auch generell noch keine gültigen Standards der Benennung von Konstruktionen zu geben. Manchmal sind funktionale Kriterien leitend („Incredulity Response Construction“, vgl. Fillmore/ Kay/ O’Connor 1988, S. 511), manchmal formale („Adjektiv + dass-Satz-Konstruktion“, vgl. Günthner 2009), und manchmal ziemlich impressionistische („Scandinavian Pancake Constructions“, vgl. Haugen/ Enger 2014). Hier ist also noch einige theoretische Vorarbeit zu leisten. Die Liste dieser Fragen nach den konzeptionellen Grundlagen einer „kombinierten Grammatik des Deutschen“ ist bei Weitem nicht vollständig. Auch ganz praktisch-technische Fragen habe ich hier ausgeklammert, etwa danach, ob es sich um eine gedruckte oder eine Online-Grammatik handeln soll (vgl. zum Medienproblem und zu den Vorteilen einer Online-Grammatik Boas 2014). Die hier gestellten Fragen deuten aber an, dass eine Umsetzung des Programms einer „kombinierten Grammatik“ sich vor eine Reihe größerer und kleinerer Probleme gestellt sieht, die erst noch gelöst werden müssen. Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein kleiner Schritt auf diesem Weg. Literatur Altmann, Hans (1993): Satzmodus. In: Jacobs, Joachim et al. (Hg.): Syntax. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 9.1). Berlin/ New York, S. 1006-1029. Bayer, Josef (2012): From modal particle to interrogative marker: A study of German denn. In: Brugé, Laura et al. (Hg.): Functional heads. The cartography of syntactic structures. (= Oxford Studies in Comparative Syntax 7). Oxford, S. 13-28. 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PLÄDOYER FÜR DIE BERÜCKSICHTIGUNG DER MORPHOLOGISCHEN „ANTIMATERIE“ Abstract In current corpuslinguistic investigations, especially the collection of linguistic data and the frequency of linguistic phenomena (i.e. the „linguistic matter“) is in the center of interest of morphological discussions. This paper argues in favor of taking also morphological „antimatter“ into account, i.e. surveying the structure of words containing morphological restrictions which cannot be proven systematically. With recourse to Popper’s falsificationism and starting with prominent restrictions in the morphology of German, the article discusses theoretical consequences and chances for morphological theory with special emphasis on morphological change, i.e. when antimatter becomes matter and vice versa. 1. Ausgangspunkt und Hintergrund Die Disziplin der Wortbildung 1 galt traditionell als Domäne der Lexikologie: Neue Wortkreationen entstehen demnach aus motivierten Bezeichnungsnotwendigkeiten, die sich aus der realen Welt ergeben, und sind morphologisch auf lexikalische Einheiten rückführbar. Die Frage nach einer grammatischen Funktion bzw. einer grammatischen Bedeutung von Wortbildungsprodukten wurde daher traditionell zurückgestellt und stattdessen (so beispielsweise bereits bei Saussure) der lexikalischen Semantik und ihrer Beziehung zur außersprachlichen Welt (Intension vs. Extension) zugerechnet, obgleich innersprachliche Verbindungen zur Grammatik - insbesondere im Bereich der Derivation (vgl. beispielsweise die Partizipialbildung des Deutschen und deren Nähe zur Flexion) - als ‘bekannt’ galten, dadurch jedoch häufig unhinterfragt blieben. Auch die Unterscheidung zwischen Wortbildung und Flexionsmorphologie ist in diesen Zusammenhang zu stellen: Während Wortbildung im Rahmen der Lexikologie und Lexikografie, neuerdings auch im Rahmen semantischer Ansätze der Konstruktionsgrammatik, als regelbasierte Lexikonerweiterung klassifiziert wurde (worunter auch Idiome fallen), wurde die Flexionsmorphologie als ‘Transitzone’ zwischen (lexikalischer) Wortbildung und Syntax angesehen (vgl. hierzu auch Leiss 1998), deren Funktion in der Bereitstellung paradigmatisch organisierter (d.h. in einem Oppositionsverhältnis stehender), grammatische Bedeutung tragender Einheiten besteht wie z.B. Singular vs. 1 Ich danke dem anonymen Gutachter für die konstruktiven Kommentare zu diesem Beitrag. <?page no="176"?> Martina Werner 176 Plural. Die Auffassung, dass Wortneubildungen sogenannte ‘lexikalische Lücken’ füllen, dominiert(e) also die Disziplin der lexikologisch ausgerichteten Wortbildung. Die darauf basierende formale Diskussion der traditionellen Wortbildung konzentrierte sich zum Großteil auf die überwiegend einzelfall- oder musterbasierte Frage nach der (Nicht-)Kombinierbarkeit von Lexemen bzw. ihrer Blockierung durch bereits existierende morphologische „Vorläufer“ - so ist beispielsweise die regelbasierte Bildung von *Kaltheit aufgrund der Existenz des Wortes Kälte blockiert bzw., falls belegbar, semantisch differenziert (wie bei Höhe vs. Hoheit, zu einem Überblick vgl. auch Rainer 2000). Da nicht-native Affixe (vgl. Booij 1997, S. 313ff.; Corbin et al. 1997) sich nur mit nicht-nativen lexikalischen Basen kombinieren (Typ: Absurd-ität), während nicht-native Basen sich auch mit nativen Affixen verbinden (Typ: Absurd-heit), soll im vorliegenden Beitrag die native Wortbildung des Deutschen im Vordergrund der Betrachtung stehen in dem Sinne, als dass nicht-native Lexeme dann als ‘nativ(iert)’ gelten können, wenn sie denselben distributionellen Eigenschaften wie native Lexeme unterliegen. So ist beispielsweise surfen ein lexikalisch entlehntes Verb, flektiert jedoch nativ (wie in Er surf-te) und ist auch bei den Wortbildungstypen des Deutschen (Komposition, Derivation) keinen selektionalen Beschränkungen unterworfen (vgl. Surf-brett, Gesurfe), die nicht auch für native Lexeme gelten würden. Aufgrund der dargestellten wissenschaftshistorischen Ausgangssituation konzentriert(e) sich die traditionelle Forschung auch methodologisch v.a. auf das belegbare Sprachmaterial, ungleich weniger jedoch auf das formal nicht-belegbare Sprachmaterial. Als ein Beispiel für nicht-belegbares Sprachmaterial wären etwa substantivische Determinativkomposita mit partizipialen Erstelementen zu nennen (vom Typ Gebraucht-wagen, Gemischt-waren, Lebend-tier/ -geflügel, Belebt-schlamm neben belebter Schlamm). Hypothetisch bildbare Komposita wie *Ausgebrannt-birne, *Zerbrochen-glas oder *Gekocht-wurst lassen sich weder quantitativ belegen, noch formal-qualitativ stützen (vgl. auch Kapitel 4 und 5). Da jedoch die Beschreibung grammatischer Regularitäten einerseits unmögliche Bildungen wie etwa für die Sprachpraxis, z.B. für den DaF-/ DaZ- Unterricht, auszuschließen imstande sein muss und andererseits auch die linguistische Motivation nach einer theoretischen Erklärung dieser Restriktionen umfasst, ist aus methodologischer Sicht die Berücksichtigung dieser sogenannten morphologischen „Antimaterie“, d.h. das Suchen nach den schwarzen Schwänen im Popperschen Sinne, 2 unabdingbar, was freilich auch die 2 Popper gilt in der Wissenschaftstheorie gemeinhin als Begründer des Falsifikationismus (vgl. z.B. Detel 2007, S. 123ff.). Aus Sicht des Wiener Kreises galt jedoch dieses zu dieser Zeit als bekannt, da der im Wiener Kreis ausgeübte und aus der Mathematik stammende Anspruch der Verifikation durch Widerspruchsfreiheit das Poppersche Prinzip der Falsifikation logisch im- <?page no="177"?> Wortbildung als grammatische Strukturbildung 177 morphologische Rückverfolgung dieser niedrigfrequenten Ausnahmen vom Typ Gebraucht-x miteinschließt. Die Erforschung von Syntax hingegen konzentrierte sich bereits früh nicht nur auf das Belegbare, sondern setzte dies in Relation zum „Nicht-Belegbaren“, was die Ermittlung von Selektionsrestriktionen umfasst. Distributionen und Distributionsbeschränkungen werden gleichermaßen als wesentliche Charakteristika grammatischer Strukturbildung aufgefasst und die sich aus ihnen ergebenden deskriptiven Generalisierungen zur (höheren) Theoriebildung und grammatiktheoretischer Argumentation, später in Übertragung auf die Diachronie, genutzt. Ausgehend von diesem methodologischen Hintergrund versteht sich der vorliegende Beitrag als Positivismuskritik im Popper’schen Sinne: Demnach ist zum Beweis von Distributionen und damit verbundener struktureller Implikationen weniger das morphologietheoretisch von Bedeutung, was formal belegbar ist (sozusagen die ‘weißen Schwäne’ im Popperschen Sinne), sondern im Rahmen des Falsifikationismus vielmehr das, wie im Folgenden ausgeführt wird, was formal nicht belegt werden kann (im Popperschen Sinne die ‘schwarzen Schwäne’). Damit bilden quantitative Studien lediglich eine Seite der sprachlichen Realität ab. Um jedoch zu repräsentativen Aussagen über das Verständnis zu Regeln eines Systems zu kommen, muss man die Grenzen des Systems, d.h. die Prinzipien zunächst identifizieren, die gewährleisten, dass „nicht alles“ geht. Die Grenzen lassen sich jedoch nur auf Basis geeigneter Prüfverfahren ermitteln. Der vorliegende Beitrag versteht sich somit nicht nur als wissenschaftstheoretischer Anstoß zur Reflexion bisheriger Morphologie-Axiome, sondern auch auf empirischer Seite als paradigmenunabhängiges Plädoyer für die Prestigeerhöhung von sogenannten „systematischen Nullbefunden“, also korpuslinguistischen Suchabfragen, die kein quantitatives, jedoch ein qualitativ relevantes Ergebnis bringen. Für die linguistische Theoriebildung sind somit morphologisch Overtes (> Belegbarkeit, d.h. das morphologische ‘Ja’) ebenso wie morphologisch Kovertes (> keine oder statistisch nicht signifikante Belegbarkeit) spannend und wichtig zu erforschen, wobei letztere aus strukturellen Gründen weit über die Frage der morphologischen Produktivität hinausreichen. Die linguistische Berücksichtigung beider empirischer Facetten erweist sich sowohl synchron als auch diachron somit als zwei Seiten derselben Medaille, so dass nur durch deren jeweilige Berücksichtigung ein grundlegendes Verständnis von sprachlichem Wandel in synchroner und diachroner Hinsicht aufgebaut werden kann, da nur so sprachliche Diskontinuitäten von Kontinuitäten in empirischer wie theoplizierte. Dies lässt sich auch wissenschaftshistorisch belegen: Ein Mitglied des Wiener Kreises, Wolfgang Pauli, trug maßgeblich zur Erforschung der physikalischen Antimaterie bei, was als Hinweis auf frühere, d.h. vor-Poppersche Versuche zur Erforschung der „anderen“, ggf. empirisch noch zu beweisenden Welt gewertet werden kann. <?page no="178"?> Martina Werner 178 retischer Hinsicht unterscheidbar werden. Der vorliegende Beitrag diskutiert daher anhand ausgewählter Beispiele von stabilen und nicht-stabilen Restriktionen der Hauptwortbildungstypen des Deutschen, welche sprachtheoretischen Perspektiven sich aus dem vorgeschlagenen Verfahren für die morphologische Diskussion, speziell für die Disziplin der Wortbildungsforschung, ergeben. 2. Distributionen als Materie, Restriktionen als „Antimaterie“ Da - wie im vorherigen Abschnitt ausgeführt - aus natürlichsprachlichem Material in der Syntax deskriptive Generalisierungen abgeleitet wurden, welche übereinzelsprachlich validiert und im Laufe der Zeit axiomatisiert wurden, lässt sich in Bezug auf die Berücksichtigung morphologischer Restriktionen ein ähnliches Vorgehen auch in der Morphologie im Rahmen syntaktischer Ansätze beobachten (vgl. wegweisend hier z.B. Grimshaw 1990). In lexikalisch orientierten Ansätzen zur Morphologie wurde insbesondere die Rolle der morphologischen Produktivität (vgl. z.B. Plag 1999; Rainer 2000, 2005; Bauer 2001) und damit verbundene Distributionsbeschränkungen insbesondere vor dem Hintergrund der Füllung sogenannter lexikalischer Lücken diskutiert. Die mit Distributionsbeschränkungen einhergehende Frage von möglichen vs. unmöglichen Bildungen (vgl. z.B. Scalise 1984) wurde in der Geschichte der traditionellen Morphologie mit Verweis auf die Bedeutung von Gegenbeispielen diskutiert. Es ist bekannt, dass Lexikalisierungen und semantischer Bedeutungswandel voll von individuellen Entwicklungen sind, was gemeinsame strukturelle Merkmale jedoch nicht ausschließt (vgl. hierzu auch den Bereich der Historischen Semantik, siehe z.B. Fritz 2006). Allerdings sollten wir meines Erachtens aus wissenschaftstheoretischen Erwägungen Abstand nehmen vom Prinzip des „exemplum probat“, einer Annahme, der zufolge ein einziges, wenn ggf. auch hochfrequentes Beispiel dazu geeignet sein muss, eine Regel zu falsifizieren. Das Beispiel muss nämlich gar nicht dafür geeignet sein, da dieses sich auf der quantitativen Ebene (Token) befindet, während eine Regel sich immer nach dem Prinzip der morphologischen Reihenbildung auf die Herstellung eines Type bezieht. D.h. die Aufmerksamkeit, die einzelfallbasierten Ausnahmen in morphologischen Diskussionen bisweilen zukommt, bildet die morphologische Realität nicht nur unzureichend ab, sondern verzerrt sie in weiten Teilen, da sie den quantitativ wie qualitativ wichtigen Unterschied von Token und Type verwischt. Wissenschaftstheoretisch sind ‘lediglich’ die Fälle zu prüfen, die (morphologischen) Regeln widersprechen, um zu klären, ob diesen jeweils der Status als ‘Gegenbeispiel’ (> Systemgedanke, Reihenbildung) zukommt. Nur in diesem Fall ist die Regel zu modifizieren oder ggf. zu verwerfen. Dem möglichen Vorwurf eines morphologietheore- <?page no="179"?> Wortbildung als grammatische Strukturbildung 179 tischen Konstruktivismus bei der Bildung möglicher Wortbildungsprodukte kann neben Akzeptabilitätstests 3 auch auf empirischer Ebene durch korpuslinguistische Untersuchungen, psychosowie neurolinguistische Experimenten sowie auf theoretischer Ebene durch diachrone, variationslinguistische und sprachtypologische Studien begegnet werden. In der lexikologischen Tradition wird die Annahme von Restriktionen alleine schon dadurch implizit vorausgesetzt, dass morphologische Regeln (so z.B. die Fähigkeit eines Suffixes wie etwa -heit, Adjektive zu nominalisieren) existieren, die nicht überall und unvorhersagbar wirksam sind, sondern ihrerseits bestimmten morphosyntaktischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen (z.B. Kombinierbarkeit mit nicht-derivierten Adjektivstämmen wie in Schönheit sowie Perfektpartizipien wie in Vergessenheit) bzw. selbst entsprechende neue hervorrufen (z.B. Adjektivnominalisierung). Wie besonders an der Derivation deutlich wird, unterliegen Wortbildungsprozesse dem Gebot der Regelhaftigkeit, was das Verbot der Unregelhaftigkeit (d.h. Arbitrarität) morphologietheoretisch impliziert. Die Ebene der ‘Falsifikation’ dieser Regeln betrifft jedoch stets einzelfallbasierte Ausnahmen (wie Blei-ern-heit; vgl. Gaeta 2015, S. 870), die jedoch per se nicht dazu geeignet sein können, die Regel außer Kraft zu setzen aufgrund fehlender Reihenbildung (vgl. *Ess-bar-heit, *Grün-lich-heit, *Achtsam-heit usw.). Auf Basis wortbildungsmusterspezifischer Reihenbildung bzw. Produktivität kommt beiden daher quantitativ und qualitativ auch die Kraft der formalen Prognose (d.h. synchronen Vorhersagbarkeit) zu, auch wenn einzelfallbasierte Phänomene wie Blockierung (Typ: *Stehler wegen Dieb) oder stilistische Restriktionen (wie ? Banalheit) bei Akzeptabilitätsurteilen auftreten können (vgl. ebd., S. 866ff.). Ein weiteres Argument zugunsten der Berücksichtigung nicht unmittelbar sichtbarer Materie in der Morphologie lässt sich unter der Perspektive der generativen Morphologie entdecken, da es dort theoretische Evidenz für virtuelle Konstituenten gibt (vgl. beispielsweise Aronoff 1976 u.v.a.m.). Virtuelle Konstituenten betreffen mehr als nur das Design von Morphologietheorie, da es bei Zweifeln der Validität von morphologischen Regeln gilt, Bedingungen ihrer Distribution und entsprechende Beschränkungen ebenfalls zu berücksichtigen, was die Annahme von virtueller Materie innerhalb einer bestimmten Theorie (wie beispielsweise die Annahme von Nullmorphemen) nötig machen kann. In Bezug auf die Schnittstellenlokalisation der Wortbildung zwischen Lexikon und Syntax bleibt es bis heute bei dem von Eichinger (2006, S. 196) 3 Akzeptabilitätstests dienen zwar v.a. in der theoretischen Syntax als heuristisches Verfahren, dürften jedoch aufgrund des Einflusses normativer Sprecherurteile (vgl. Gaeta 2015, S. 864f.) zuweilen an gewisse empirische Grenzen stoßen. Daher wäre zur Ermittlung möglicher Wörter (ad-hoc-Bildungen) vs. nicht-möglicher Wörter ein empirischer ‘Methoden-Mix’ zu bevorzugen. <?page no="180"?> Martina Werner 180 formulierten Desiderat, wonach man für die Wortbildung „nach einer Beschreibungsebene suchen [sollte], in der die Vergleichbarkeit über die Wortarten hin ebenso sichtbar würde wie der eigene Charakter der Wortbildung in den verschiedenen Wortarten“. Eine ähnliche, aus der Syntax stammende Richtung zugunsten einer wortbildungstypspezifischen Semantik wird von syntaktischer Seite in jüngeren Ansätzen durch die Distribuierte Morphologie vertreten (vgl. z.B. Halle/ Marantz 1993; jünger Alexiadou 2001; Alexiadou/ Rathert (Hg.) 2010 u.v.a.). Während das Axiom der Wortbildung als Funktion der Lexikonerweiterung auch in traditionellen Ansätzen der historischen Wortbildungsforschung (insbesondere in Form der Disziplin der Historischen Lexikografie, vgl. z.B. Reichmann 2012) bzw. auch in aktuellen Ansätzen der Konstruktionsmorphologie (wegweisend hier Booij 2005) verfolgt wird, sind in jüngerer Zeit innerhalb verschiedener Disziplinen der Wortbildungsforschung vor dem von Eichinger (2006) als Desiderat formulierten Hintergrund einige paradigmenübergreifende Ansätze entstanden, die dafür argumentieren, dass Wortbildungsprodukten strukturelle Eigenschaften zugrunde liegen, die Wortbildungstypen eher in die Nähe von synchron wie diachron motivierter, grammatischer Strukturbildung bringen (Leiss 2005; Werner 2012 zur Suffigierung; Zifonun 2012 zur Pseudosuffigierung; Demske 2001; Schlücker 2014; Härtl 2015; Schuster 2016; Werner 2016 zur Determinativkomposition). Mit der Annahme, dass Wortbildungstypen strukturbildende grammatische Prozesse zugrunde liegen, ist die diachrone Seite ihrer Entstehung, auch im Sinne einer Grammatikalisierung angesprochen. Wie jede Sprachwandeltheorie nimmt auch die Grammatikalisierungstheorie strukturelle bzw. semantische Veränderungen sprachlicher Phänomene in den Blick. Unter dieser Perspektive sind neben den dokumentierbaren Distributionen von sprachlichen Phänomenen automatisch auch der Abbau von bzw. die Zunahme damit verbundener Restriktionen vor dem Hintergrund entsprechender Systemdynamik ins Feld geführt. Im Folgenden soll anhand ausgewählter Restriktionen aus der Synchronie und Diachronie des Deutschen die Frage diskutiert werden, welche Konsequenzen sich daraus für die morphologische Theoriebildung und die empirische Praxis (vgl. auch Kapitel 4-6) ergeben. Zuerst soll jedoch im nächsten Abschnitt die Frage nach verschiedenen Erscheinungsformen morphologischer „Antimaterie“ diskutiert werden. 3. Arten von „Antimaterie“ Da die Synchronie bereits das Wissen und die Abgrenzbarkeit von Diachronie zum Ausschluss von ererbten Bildungen bzw. zur Auswahl synchron repräsentativer Beispiele voraussetzt, ist das Ansinnen, eine rein synchrone Wort- <?page no="181"?> Wortbildung als grammatische Strukturbildung 181 bildungsforschung betreiben zu wollen, ohne Kenntnis der Diachronie schwer durchzuführen, denn um zu erkennen, was „synchron“ (verstanden als ‘aktuell’) ist, muss das Nicht-Aktuelle erkannt, d.h. diachron zugeordnet werden. Methodologisch wäre dies vergleichbar mit der Arbeit eines Paläontologen, der beim Fund eines Saurierknochens über die aktuelle Existenz von Sauriern und der Bedrohtheit der Art vor dem Hintergrund des Klimawandels Mutmaßungen anstellt. Diesen sogenannten Anachronismus gilt es auch in der Morphologie zu vermeiden. Da also die Belegbarkeit eines Wortbildungsprodukts synchron nichts über die Repräsentativität im Hinblick auf die jeweilige Sprachstufe aussagt, müssen für eine diachrone Rekonstruktion des morphologischen Wandels bzw. zur Ermittlung der sprachstufenspezifischen Produktivität eines bestimmten morphologischen Musters sprachstufenspezifische Untersuchungen angestellt werden, die sowohl das Belegbare wie auch das Nicht-Belegbare umfassen. Aus dem bisher Dargelegten ergeben sich sowohl wissenschaftsals auch morphologietheoretisch einige Anforderungen an die morphologische „Antimaterie“: 1) Formale Restriktionen dürfen keine Einzelfallbasiertheit (Ebene: Token) aufweisen. Dies bedeutet umgekehrt aber auch, dass mutmaßliche Beispiele zu regelhaften Distributionen stets systematischer Natur für die jeweilige Sprachstufe sein müssen, um als ‘echte’ Gegenbeispiele gelten zu können. Hierzu müssen sie reihenbildenden Charakter haben. 2) Systematische Restriktionen der betreffenden Wortbildungstypen beziehen sich auf die jeweiligen Wortarten der beteiligten Konstituenten oder ihre jeweilige morphologische Komplexität (Simplex vs. produktiv deriviert/ komponiert). Restriktionen sind wie Distributionen für das Gegenwartsdeutsche durch Distributionsproben, in Anlehnung an die Syntax (vgl. hierzu z.B. Härtl 2015), ermittelbar. In der Physik beispielsweise geht man seit Schuster (1898) davon aus, dass beide Materie-Arten, Materie und Antimaterie, einem gemeinsamen Ursprung entstammen. Antimaterie ist jedoch kein perfektes Spiegelbild der Materie, was erklären könnte, warum Materie überwiegt. Von dieser wissenschaftstheoretisch verallgemeinerbaren Grundüberlegung ausgehend und übertragen auf die Morphologie müsste man vor diesem Hintergrund trennen zwischen einerseits natürlichsprachlich realisierter „Antimaterie“, die dementsprechend regelhaft (> reihenbildend) in Form von variationssprachlichen oder historischen Belegreihen bzw. als tertium comparationis typologisch belegbar ist, vs. andererseits natürlichsprachlich nicht-realisierter „Antimaterie“, deren Existenz in der sprachlichen Realität nur implizit (wie im Falle virtueller „Antimaterie“ von *verarzt-) vorliegt oder aber in natürlichen Sprachen nie belegt werden kann (sogenannte ‘hypothetische „Antimaterie“’). Da jedoch gegenwärtig viele, aber nicht alle natürlichen Sprachen hinreichend beschrieben wur- <?page no="182"?> Martina Werner 182 den, die bestimmte Wortkombinationen empirisch und panchron ausschlössen, gilt es für die Erforschung einer Einzelsprache den Blick auf die Dynamik von (Anti-)Materie zu richten, da nur unter Abgleich mit der synchron morphologischen Materie und der jeweiligen Morphologietheorie die Prinzipien des morphologischen Sprachwandels (so z.B. dass aus Köpfen von Komposita im Laufe der Zeit Affixe werden) rekonstruiert werden können und so indirekt die Unterscheidung zwischen synchron virtueller, d.h. konstruierbarer „Antimaterie“ (wie im Rahmen von theoretischen Ansätzen) vs. hypothetischer „Antimaterie“ empirisch getroffen werden kann. Anhand des in einer Einzelsprache Belegbaren und Nicht-Belegbaren können wir also unterscheiden zwischen stabiler „Antimaterie“, also Belegen, die sich per se nie belegen lassen und nicht-stabiler „Antimaterie“, die sich also nur synchron-sprachstufenspezifisch, nicht aber diachron nachweisen lässt. Dem wollen wir im Folgenden anhand von Stichproben, die anhand von (historischen) Korpora des Deutschen geprüft wurden, nachgehen. Hierzu wurden zu Stichproben konsultiert: zum Ahd. „Deutsch Diachron Digital“ (DDD, siehe deutschdiachrondigital.de), zum Mhd. das „Referenzkorpus Mittelhochdeutsch“ (vgl. referenzkorpus-mhd. uni-bonn.de), zum Fnhd. das „Bonner Frühneuhochdeutsch Korpus“ (siehe korpora.org), zum frühen Nhd. das „Austrian Baroque Corpus“ (ABaC: us, siehe https: / / acdh.oeaw.ac.at/ abacus) sowie zum Nhd. und Gegenwartsdeutschen das DWDS-Korpus (vgl. dwds.de; alle Stand: 1.6.2016). Der Vorteil, der aus der Berücksichtigung formaler morphologischer „Antimaterie“ für die morphologische Theoriebildung resultiert, soll im Folgenden anhand ausgewählter, innermorphologischer Restriktionen des Deutschen illustriert und die sich aus den Restriktionen ableitbaren formalen und semantischen Implikationen für die morphologische Theoriebildung erhellt werden. 4. Stabile „Antimaterie“ im Deutschen Wie im vorherigen Abschnitt ausgeführt, kann man morphologische „Antimaterie“ annehmen, welche sich weder synchron, noch diachron signifikant belegen lässt (sogenannte hypothetische „Antimaterie“). Parallel dazu gibt es virtuelle „Antimaterie“, welche nur indirekt sichtbar wird, wie etwa im Zusammenspiel verschiedener Wortbildungsprozesse, und daher im Rahmen theoretischer Modellierungen angenommen wird (vgl. Abschnitt 2). In diesem Abschnitt soll v.a. die sogenannte hypothetische „Antimaterie“ (vgl. Abschnitt 3) im Vordergrund der Betrachtung stehen. Sie ist deswegen so spannend zu untersuchen, da sie zwar in Einzelfällen existent, allerdings auf Type-Ebene nicht signifikant belegbar und auch in der Sprachtypologie - zumindest nach derzeitigem Kenntnisstand - nicht als eigenes Wortbildungsmuster bekannt ist. Dies deutet darauf hin, dass wir es unter Umstän- <?page no="183"?> Wortbildung als grammatische Strukturbildung 183 den mit einer universalen Wortbildungsrestriktion zu tun haben, was durch die zeitliche Stabilität der Restriktion gestützt wird. Für das Deutsche soll dies illustriert werden am Beispiel des Wortbildungsmusters Partizip+N (Typ: Gebrauchtwagen) der nominalen Determinativkomposition, welche sich von der synthetischen Komposition durch das Fehlen eines deverbalen Kopfes (wie in Getrenntzahlung) auszeichnet. Bei der synthetischen Komposition fungiert das Erstelement als Modifikator des Verbs, im konkreten Fall also als Adverb der VP getrennt zahlen. Aufgrund der formalen Ähnlichkeit beider Kompositionstypen in Bezug auf die Komposition von zwei Lexemen wäre empirisch zu erwarten, dass beide Kompositionstypen sich in Bezug auf die Verfügbarkeit partizipialer Erstelemente gleichen. Dies ist jedoch nicht der Fall, da im Gegensatz zur synthetischen Komposition, bei der das Erstelement durch andere Partizipien reihenbildend ersetzbar ist (vgl. Getrennt-/ Geteilt-/ Versetzt-/ …zahlung), das Erstelement der Determinativkomposition zu ad-hoc-Bildungen in Bezug auf Partizipien avers ist, vgl.: *Geplatzt-/ *Platzend-ballon, *Gestreift-jacke, *Umgegraben-feld usw. Nach eigenen korpuslinguistischen Stichproben handelt es sich um eine diachron stabile Restriktion, d.h. seit dem Ahd. lassen sich in signifikanter Form keine systematischen Belege (Ebene: Types) finden, lediglich im 20. Jahrhundert lassen sich vier Belege (Ebene: Tokens), nämlich Gebraucht-x, Gemischt-x, Lebend-x sowie Belebt-schlamm neben belebter Schlamm finden. Die Erstelemente Gebraucht- und Gemischtsind zwar als bedingt reihenbildend einzustufen (vgl. Gebraucht-wagen/ -fahrrad/ -anhänger bzw. Gemischt-waren/ -typ/ -kost), allerdings handelt es sich um Bildungen derselben Konstituentenfamilie (d.h. desselben Erst- oder Zweitelements; hier der Erstelemente gemischtbzw. gebraucht-; zum Terminus vgl. Olsen 2010, nach Baayen 2010). Eine Reihenbildung außerhalb der genannten Konstituentenfamilien besteht somit nicht. Die genannte Restriktion gilt nach eigenen Recherchen auch für historische Sprachstufen des Deutschen sowie auch für verwandte Sprachen wie das Niederländische und Gegenwartsenglische. Obgleich bei Letzterer aufgrund von Synkretismus mit der ing-Nominalisierung (Typ: swimming school) eine entsprechende Abgrenzbarkeit zur präsenspartizipialen Form problematisch ist, zeigt sich beim Perfektpartizip kein konstituentenfamilienungebundenes, reihenbildendes Auftreten als Erstelement der Determinativkomposition. In Bezug auf das Deutsche kann die Restriktion als stabil gelten, neben weiteren anderen wie etwa die Unfähigkeit zu derivierten adjektivischen Erstelementen (Typ: *Essbar-papier, *Grünlich-stift; vgl. auch Schlücker 2012) oder zu produktiv diminutivierten Erstelementen (Typ: *Tischchen-decke; zu weiteren Details vgl. Werner 2016). Für die wenigen Fälle des Deutschen scheint hingegen nach eigenen Recherchen die Reduktion einer synthetischen Komposition mit Ausfall der verbalen Konstituente vorzuliegen wie beispielsweise in Ge- <?page no="184"?> Martina Werner 184 brauchtwagen zu Gebrauchtwagenhändler/ Gebrauchtwagenhandel zur VP (mit) gebrauchte(n) Wagen handeln; ebenso Gemischtwaren zu Gemischtwarenhandlung, dieses zur VP (mit) gemischte(n) Waren handeln; Lebend-tier/ -gefügel zu Lebendtier/ -geflügel-transport zur VP lebende(s) Tiere/ Geflügel transportieren; in diese Reduktionskette wäre unter Umständen auch Belebtschlamm zu stellen, vgl. Belebtschlamm-Verfahren. Die (vermeintlichen) ‘Ausnahmen’ bzw. ‘Gegenbeispiele’ können also mittels historischer Textrecherchen belegt und somit in Bezug auf ihre individuelle Entstehungsgeschichte morphologisch anhand von Korpusrecherchen in Bezug auf ihre Entstehung erklärt werden, so dass die Regel der „Antimaterie“ *Part.+N bei der nominalen Determinativkomposition bestehen bleiben kann. Sollten sich durch den Sprachvergleich Restriktionen bei partizipialen Erstelementen von Determinativkomposita typologisch validieren bzw. übereinzelsprachlich nachweisen lassen, wäre dies ein Beweis für die übereinzelsprachliche Existenz morphologischer „Antimaterie“ und damit formal wie semantisch ein starkes Argument zugunsten universalgrammatischer Musterbildung auf morphologischer Ebene, die man dann vielleicht als morphologische Symmetrie natürlicher Sprachen bezeichnen könnte; dieser Fragenkomplex macht weitere, typologische Forschung zu diesem Bereich umso dringender. 5. Instabile „Antimaterie“ im Deutschen Instabile „Antimaterie“ kann entweder diachron, d.h. im zeitlichen Verlauf, oder synchron, d.h. zu einem bestimmten Zeitpunkt, existieren. Für die synchrone Ermittlung instabiler „Antimaterie“ sind aufgrund deren Kurzlebigkeit jedoch psycho- oder neurolinguistische Untersuchungen den Akzeptabilitätstests vorzuziehen, so dass auch synchrone Restriktionen, etwa durch den Vergleich von Wörtern und strukturellen Nicht-Wörtern, ermittelbar sind. Als Beispiel für ein mögliches Anwendungsfeld ließen sich lediglich in Bezug auf die mögliche Erweiterbarkeit von Komposita um mögliche Interfigierungen z.B. die Stoffnomina als ‘Testgelände’ in Erwägung ziehen. Im Gegenwartsdeutschen lassen sich bei Stoffnomina mit sehr starker Tendenz keine Fugenelemente belegen, 4 vgl. beispielsweise Schmalz-/ Öl-/ Wasser-/ Sand-gefäß im Gegensatz zu *Schmalz(e)s-/ *Öl(e)s-/ *Wassers-/ *Sand(e)s-gefäß. Somit wären Fugenelemente durchweg ein Phänomen zählbarer Substantive, d.h. neben for- 4 Ich danke Eric Fuß für den Hinweis auf seltene Ausnahmen von Komposita mit Massennomina als Erstelementen vom Typus Fleischeslust. Diese sind in Bezug auf die sprachhistorische Entwicklung der Determinativkomposition spannend zurückzuverfolgen, da partitive Genitivattribute, so beispielsweise im Ahd., postnominal, nicht aber pränominal realisiert werden konnten (vgl. Behaghel 1923/ 1932, S. 177). Da die Komposition aus pränominalen Genitivattributen entstand (Carr 1939), stellen die Massennomina vom genannten Typus eine Herausforderung für die diachrone Kompositaforschung dar. <?page no="185"?> Wortbildung als grammatische Strukturbildung 185 malen Gesichtspunkten auch indirekt semantisch motivierbar. Nach Validierung durch entsprechende Experimente wäre diese vorläufige, semantische Beobachtung mit obigen Restriktionen (keine derivierten Adjektive, keine Partizipien als Erstelemente) kompatibel und mit entsprechenden Morphologietheorien zu der Semantik von Komposita (wie z.B. zugunsten der Annahme von Wurzelkomposita/ engl. root-compounds, vgl. hierzu z.B. Harley 2009) in Beziehung zu setzen. In Bezug auf die Diachronie umfasst der Begriff der instabilen Materie zweierlei: Einerseits morphologische Muster, die es nicht mehr gibt (d.h. den Aufbau einer Restriktion) sowie andererseits morphologische Muster, die im Laufe der Zeit entstanden sind (d.h. den Abbau einer Restriktion). Im Folgenden soll zuerst der Aufbau von morphologischer „Antimaterie“ (Abschn. 5.1), danach deren Abbau (Abschn. 5.2) diskutiert werden. 5.1 Aufbau morphologischer „Antimaterie“ Diachron differenzierten sich die Suffixe im Sinne einer wortartspezifischen Basen-Bifurkation aus, so dass heute die eine Gruppe produktiv ausschließlich nominale (im weiten Sinne des Terminus) Konstituenten (in Form der Suffixe -heit, -keit, -igkeit, -ler), die andere ausschließlich Verben (in Form der Suffixe -ung, -erei, -er sowie des Zirkumfixes Ge-…-e) nominalisiert. Diesen morphologischen Sprachwandel könnte man als Aufbau einer morphologischen Restriktion fassen, die in morphologischer „Antimaterie“ resultiert, denn es existiert kein produktives Suffix im Gegenwartsdeutschen, das gleichzeitig Verben und Adjektive nominalisieren würde, vgl. Dreh-ung, aber *Klein-ung bzw. *Drehheit, aber Klein-heit. Zu Beginn ihrer Produktivwerdung nominalisierten alle - insbesondere deverbalen - Suffixe zunächst Nomina (im weiten Sinne des Terminus) (vgl. Kluge 2011 zum Suffix -heit, -ung, -schaft, -tum usw.), was synchron in Einzelfällen noch in ererbten Bildungen wie Christen-heit (> ahd. kristanheiti ‘Christlichkeit’) bzw. Stall-ung (Details in Werner 2012, Kap. 4 und 7) erhalten ist. Die deskriptive Generalisierung, derzufolge die Produktivität von Suffixen im Deutschen stets im nominalen Bereich beginnt, deckt sich gleichzeitig mit dem Ergebnis Iacobinis (2000), wonach die Entwicklung der Derivation stets von Substantiven zu Nicht-Substantiven (z.B. Verben) verläuft. Das Deutsche beschreitet somit in Bezug auf die historische Entwicklung der Basen der nominalen Derivation Pfade, die sich auch im übereinzelsprachlichen Vergleich nachweisen lassen. Einige Dialekte wie beispielsweise das Schweizerdeutsche bilden den ursprünglichen Sprachzustand (so etwa noch im Frühahd.) noch ab, da eine Bildung wie schweizerdt. lämi im Gegenwartsdeutschen mit ‘Lähmung’ (deverbale Nominalisierung) sowie ‘Lahmheit, Gelähmtheit’ (deadjektivische/ departizipiale Nominalisierung) wiederzugeben ist. <?page no="186"?> Martina Werner 186 Im Gegenwartsdeutschen ist die Ausdifferenzierung der Ableitung von Adjektiven einerseits und Verben andererseits erhalten in Form der femininen Adjektivabstrakta auf -heit bei unmarkierten Adjektiven wie Schönheit, auf -keit bei abgeleiteten Adjektiven wie Geselligkeit sowie auf -igkeit bei Adjektiven des Suffixes -haft wie beispielsweise Professorenhaftigkeit, während die Verbalabstrakta zunehmend durch den substantivierten Infinitiv realisiert werden, da dieser seit spätmhd./ frnhd. Zeit zunehmend die femininen -ung-Nominalisierungen verdrängt (wie beispielsweise ? Chattung > das Chatten; *Laufung > das Laufen). Solche Neubildungen des substantivierten Infinitivs sind nicht pluralisierbar (entgegen aus dem Althochdeutschen erhaltenen, lexikalisierten Gerundiven wie Leben oder Essen). Vor dem Hintergrund der morphologischen Entwicklung der deutschen Verbalabstrakta zeigt sich, dass die Abnahme morphologischer Produktivität wie bei den ung-Nominalisierungen mit der Zunahme neuer Kodierungsformen, hier in Form des substantivierten Infinitivs, einhergeht (Werner 2010). Der Aufbau von morphologischer „Antimaterie“, d.h. die Zunahme von Restriktionen des ung-Nominalisierungsmusters, ging in diesem Fall Hand in Hand mit dem Aufbau neuer morphologischer Materie in Form der nominalisierten Infinitive (ebd.). „Antimaterie“ impliziert also Materie, ebenso umgekehrt (vgl. Leiss 1998). 5.2 Abbau morphologischer „Antimaterie“ Auch der Abbau morphologischer „Antimaterie“ lässt sich feststellen: Denn in den frühen Sprachstufen (d.h. im Ahd. und noch in weiten Teilen im Mhd.) konnten produktiv derivierte Nominalisierungen bei der Determinativkomposition nicht als Erstelemente fungieren (Wilmanns 1896, S. 514), 5 was völlig komplementär zum Gegenwartsdeutschen ist (vgl. Werner 2016), vgl. etwa Bildungen wie Vergesslichkeits-symptom, Verlegenheits-geste, Abtretungs-termin. Unter dieser Perspektive ist auch der Blick diachron nicht nur auf das Belegbare, sondern gleichermaßen auf das Reduzierte bzw. nicht (mehr) Belegbare gerichtet: Da also in frühen Sprachstufen produktiv derivierte Substantive nicht als Erstelemente fungieren können, im Gegenwartsdeutschen jedoch sehr wohl, kann diese morphologische Diskontinuität als Abbau einer morphologischen Restriktion bzw. morphologischer „Antimaterie“ interpretiert werden. Der Integration produktiv derivierter Nomina in das Muster der Komposition kommt damit ein entscheidendes Gewicht im Hinblick auf morphologischen Sprachwandel zu. Damit stellt sich die Frage nach dem Ablauf des morphologischen Sprachwandels, der aus morphologischer „Antimaterie“ morphologische „Materie“ werden ließ. 5 Selbige Restriktion ist auch im Altenglischen belegbar, vgl. Kastovsky (2007). <?page no="187"?> Wortbildung als grammatische Strukturbildung 187 Von der Positionierungsrestriktion der derivierten Nomina nicht betroffen sind jedoch die früher derivierten, deverbalen Abstrakta auf ahd. -ā (wie in pfressā-baum wörtl. ‘Pressungs-baum’, ‘Dreharm der Kelterer’ zu ahd. p(f)ressā ‘Pressung’, vgl. Splett 1993) bzw. -ī (wie in redī-spahī ‘Redegewandteheit, Beredtsamkeit’ und daneben als Adj.; zu redī ‘Auseinandersetzung, Streit, Glaubensgrundsatz’; vgl. ebd.). Entsprechende Komposita mit entsprechend suffigiertem Erstelement lassen sich zwar häufiger im Mhd. (graphematisch nun als -e) finden. Im Mhd. lässt sich erstmals ein Nebeneinander von Belegen mit und ohne -ebeobachten wie etwa mhd. slahte-hus neben slaht-hus, gemäß nhd. Wiedergabe in historischen Wörterbüchern (vgl. z.B. Lexer 2011 zum Mhd.) zueinander synonym, mit der Bedeutung ‘Schlachthaus’ oder ebenso schabe-mezzer neben schab-mezzer ‘Schabmesser’. Die mhd. Bildungen mit -ewären daher am ehesten mit ‘Schlachtungshaus’ bzw. ‘Schabungsmesser’ wiederzugeben. Das Phänomen vermeintlicher Fugenschwankung in diesen Komposita wurde auf phonologischer Ebene diskutiert (Wilmanns 1893, S. 289f.), kann aber nun vor dem Hintergrund möglicher (Nicht-)Restriktionen von Suffigierungen als morpho(no)logischer Reduktionsprozess im Sinne einer Apokope des Suffixes -egefasst werden, durch welchen nicht nur die kategoriale Information [+N] verloren geht, sondern gleichzeitig auch die morphologisch neue Interpretation [+V] möglich wird: Hierdurch wird die einstige deverbale Derivationsbasis als verbaler Stamm reinterpretiert. Neben der in der Forschungsliteratur gut beschriebenen Integration von Nullsuffigierungen (wie Dreh, Knall, Schlaf) in das Muster der N+N-Komposition (vgl. hierzu Osthoff 1878; Carr 1939; Schlücker 2012), die als Verbstämme reinterpretiert wurden und so das Muster der V+N-Komposition ermöglichten, bietet der vorliegende Befund eine weitere Erklärungsgrundlage für den raschen Anstieg der V+N- Komposition ab mhd. Zeit. Durch beide Entwicklungen wurde dadurch die Integration von VPs (wie in das Gemüse-ess-Buch) sowie in der Folge von ganzen XPs (wie in das Ich-will-jetzt-nicht-ins-Bett-Kind) morphologisch initiiert. Im frühen Nhd. lassen sich abermals vergleichbare Reduktionsprozesse deverbaler Nominalisierungen auf den Stamm beobachten - in diesem Fall mit dem ehemals voll produktiven Suffix -ung, dessen Produktivität seit dem Frnhd. im Nachlassen begriffen ist (vgl. Demske 2000), und dem seit dem 17. Jahrhundert zunehmend auftretenden (vgl. Wilmanns 1896, S. 531) Fugen-s. Daher wird z.B. Ableitung-s-silbe zu Ableit-silbe, Anmietung-s-vereinbarung zu Anmiet-vereinbarung, Betret-ung-s-verbot zu Betret-verbot (zu Details der diachronen Rekonstruktion vgl. Werner 2016). Die Parallelität beider Prozesse ist morphologisch nur erklärbar im Rahmen einer diachronen Zusammenschau, im Sinne motivierter Reduktionsprozesse deverbaler Abstrakta, wodurch deren Basis zum Stamm wird, bzw. der damit einhergehenden Reinterpretationsprinzipien als Wurzelkomposita und dem Aufbau einer damit einhergehenden, grammatikalisierten bzw. grammatischen Semantik der Komposition <?page no="188"?> Martina Werner 188 (sogenannte ‘generische’ bzw. ‘typisierende’ Semantik; vgl. Demske 2001; Schlücker 2014; Härtl 2015; Werner 2016). Zusätzliche Evidenz dafür, dass derivierten Nomina eine Schlüsselrolle beim morphosyntaktischen Komplexitätsaufbau der Komposition zukommt, gibt es in diesem Zusammenhang auch aus dem Englischen: Dort können produktiv gebildete Suffigierungen aus historischen Gründen (vgl. hierzu Kastovsky 2007) nicht als Erstelemente fungieren, was folgende, stichprobenartige Beispiele aus dem Gegenwartsenglischen 6 widerspiegeln (zu Details vgl. Werner 2016): *faintness feeling, aber feeling of faintness, *foreignness experience, aber experience of foreignness, *nubility certificate, aber certificate of nubility sowie ? complexification strategy, aber strategy of making things more complex. Im Gegenwartsdeutschen können die entsprechenden morphologischen Korrelate jedoch allesamt über die Komposition enkodiert werden, vgl. Schwächeanfall, Fremdheitserfahrung, Ehefähigkeitszeugnis bzw. Komplexifizierungsstrategie. Auch umgekehrt wäre eine ‘wörtliche’ Übersetzung des Deutschen Kompositums Verbindungsglied ins Englische nach Auskunft von Muttersprachlern nicht möglich, vgl. *connection link. Die Restriktionen des Englischen zeigen, warum seine Komposita weniger morphologisch komplex, d.h. kürzer sind als Komposita des Deutschen: Das Englische scheint hier - im Gegensatz zum Deutschen - oben ausgeführte, ererbte Restriktionspräferenzen im Hinblick auf die Vermeidung von Nominalisierungen als Erstelemente von Determinativkomposita (vgl. Kastovsky 2007) des (West-)Germanischen fortzusetzen. Durch den Abbau der morphologischen Restriktion, produktiv derivierte Abstraktnominalisierungen als Erstelemente von Komposita zu verwenden, kam es im Deutschen also zu einer motivierten Reduktion der morphologischen „Antimaterie“ bei gleichzeitigem Aufbau morphologischer Materie. Die Konsequenz dieser Entwicklung ist an den ‘langen’, d.h. morphologisch komplexen Komposita des Deutschen zu ersehen (Typ: Fallschirmspringbenutzungsanweisung), die in dieser Form im Englischen nicht existieren. 6. Zusammenfassung und Forschungsdesiderata Im vorliegenden Beitrag wurde dafür argumentiert, dass morphologische Restriktionen die zur Theoriebildung notwendige „Schattenseite“ - bezeichnet als morphologische „Antimaterie“ - darstellen, ohne deren Berücksichtigung die zur Theoriebildung notwendige Kontraevidenz konsequent ausgeblendet wird. Die daraus resultierende empirische wie theoretische Verzerrung ist in der Wissenschaftstheorie als Positivismuskritik eingegangen und maßgeblich durch Poppers Falsifikationismus populär geworden. Linguistisch, so wurde argumentiert, ist die Berücksichtigung der sprachlichen (hier: morpho- 6 Beispiele aus dem British National Corpus: http: / / corpus.byu.edu/ bnc/ (Stand: 30.1.2017). <?page no="189"?> Wortbildung als grammatische Strukturbildung 189 logischen) „Antimaterie“ zentral, was sowohl der Sprachvergleich als auch die Diachronie zeigen: Sowohl synchron als auch diachron lassen sich demnach Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Restriktionen beobachten, die, um systemrelevanten Charakter besitzen zu können, stets reihenbildend sein müssen. Damit können einzelfallbasierte Lexikalisierungen von motivierten Wortgruppen (> Systemgedanke) differenziert werden. Gleichzeitig kann, wie in Abschnitt 2 dargelegt, ein Einzelbeispiel nicht geeignet sein, eine morphologische Regel außer Kraft zu setzen. Die bisherige Zurückhaltung bei der Berücksichtigung systematischer Restriktionen in der Morphologie baisert wissenschaftstheoretisch auf dem Prinzip, demzufolge ein einzelner oder eine Hand voll Beleg(e) ausreicht, um eine Regel zu falsifizieren. Wie jedoch auch mit Verweis auf die syntaktische Theoriebildung gezeigt wurde, greift diese Kritik zu kurz, da bereits auf quantitativer Ebene den Einzelbeispielen (Ebene: Token) kein statistischer Stellenwert zukommt (unterhalb des Signifikanzniveaus). Auch wenn diese Einzelbeispiele hochfrequent sind, so zeigen wiederum hochfrequente Entlehnungen aus anderen Sprachen, dass diese nicht systemisch relevant werden, da in beiden Fällen keine morphologische Produktivität (verstanden als synchron wortartenspezifische Reihenbildung) entwickelt wird. Gleichzeitig halten die nach dem Prinzip des ‘exemplum probat’ erhobenen Einwände einer historischen Prüfung i.d.R. nicht stand, da überwiegend historische Belege als ‘Ausnahmen’ zum gegenwärtigen Sprachsystem angeführt werden, was wissenschaftstheoretisch jedoch dem Prinzip des Anachronismus entspricht. Wie gezeigt wurde, sind morphologische Kodierungsstrategien und die damit einhergehenden morphologischen Produktivitäten von Wortbildungstypen und -mustern dynamisch und gleichzeitig auch stabil. Als Beispiel für eine stabile Restriktion wurden im Bereich der nominalen Komposition die Partizipien identifiziert, die in der Überlieferung des Deutschen in systematischer Weise nicht als Erstelemente von Determinativkomposita (im Gegensatz zur synthetischen Komposition) fungieren können. Die dazu gehörigen ‘Ausnahmen’ umfassen nach eigenen korpuslinguistischen Recherchen lediglich vier lexikalische Erstelemente derselben Konstituentenfamilie (nämlich Gebraucht-x, Gemischt-x, Lebend-x, Belebt-x). Das Muster „Partizip + N“ ist für nominale Determinativkomposita (definiert als Muster N+N, ohne deverbalen Kopf) nicht reihenbildend. Da dies nach eigenen Recherchen in verschiedenen Korpora des Deutschen auch für historische Sprachstufen gilt, kann die gefundene Restriktion als systematisch, d.h. als stabile „Antimaterie“ gelten. Der umgekehrte Fall einer nicht-stabilen „Antimaterie“ liegt vor bei der Integration derivierter Abstraktnominalisierung in das Muster der Determinativkomposition. Im Ahd. und nach eigenen Recherchen noch zu großen Teilen im Mhd. (Werner 2016) konnten produktive Abstraktsuffigierungen nicht als <?page no="190"?> Martina Werner 190 Erstelemente von Komposita fungieren (Wilmanns 1896, S. 514). Da dies auch für das Altenglische gilt (Kastovsky 2007), ist anzunehmen, dass es sich bei dieser Restriktion um eine ererbte Beschränkung handelt. Da sich im Gegenwartsdeutschen jedoch eine Vielzahl von Komposita dieses Musters belegen lassen (Typ: A-heit-s-x wie in Schön-heit-s-fleck bzw. Typ: V-ung-s-x wie in Umgeh-ung-s-straße), lässt sich eine morphologische Diskontinuität feststellen, der diachron der Charakter einer nicht-stabilen „Antimaterie“-Regel zukommt und einen Fall von morphologischem Sprachwandel darstellt. Die Sprachgeschichte lehrt uns also ebenso wie der Sprachvergleich, dass morphologische Kodierungsstrategien keinesfalls willkürlich sind, sondern motivierten Dynamiken unterliegen, deren Trennung in synchron produktive vs. unproduktive Muster jeweilige Restriktionen als integralen Bestandteil morphologischer Musterbildung erkennbar werden lässt. Auch die Tatsache, dass morphologische Produktivitäten von morphosyntaktisch relevanten Suffixen abnehmen (wie im Fall von -ung, vgl. *Tretung, aber Zertretung, *Zwingung, aber Bezwingung, vgl. beispielsweise Demske 2000) und parallel neue Nominalisierungsmuster entstehen können (wie im Fall des substantivierten Infinitivs wie bei das Treten, Zwingen), beweist, dass Restriktionen (Nicht-Belegbares) und Distributionen (Belegbares) stets motiviert aufeinander bezogen sind, so dass Wortbildung mehr ist als eine (ggf. beliebige) Erweiterung des Lexikons, sondern vielmehr das wortinterne Pendant grammatischer Musterbildung im komplexen Zusammenspiel von Morphologie und Syntax. Erst durch den diachronen Vergleich einzelner Sprachstufen wird dabei ersichtlich, ob wir es in der jeweiligen Mustermodifikation mit einem Fall von Kodierungsabbau oder -aufbau zu tun haben und gleichzeitig, ob den individuell gefundenen ‘Ausnahmen’ (Ebene: Token) mit der Zeit (> Frequenz, Reihenbildung) ein systemverändernder und damit -relevanter Status als konkret beobachtbare Realisierungen morphologischen Sprachwandels (> Type) zukommt. Daraus ergeben sich für die morphologische Praxis und Theoriebildung im Sinne einer ars grammatica einige Forschungsdesiderata, die im Folgenden skizziert werden sollen. Zum Ersten sollten korpuslinguistische Befunde weniger auf ihre quantitative und mehr auf ihre qualitative Relevanz geprüft werden. Die qualitative „Einordnung“ von quantitativen Befunden aus der Sprachgeschichte kann dabei zweitens am besten unter Abgleich mit dem „Vorherigen“, d.h. der vorangegangenen Sprachstufe, und mit dem „Danach“, d.h. der darauf folgenden Sprachstufe, erfolgen. Als zusätzliche Vergleichsebene können drittens morphologische Varianten dienen, die es als solche zuvor zu identifizieren gilt (ein Beispiel hierfür wurde jüngst von Schuster 2016 vorgelegt). Für die empirische Wortbildungsforschung wären sowohl synchron, als auch diachron, Korpora hilfreich, die nach übereinzelsprachlich validierten Wortbildungsstandards annotiert wurden. Hierbei sollte möglichst der Anteil ‘nor- <?page no="191"?> Wortbildung als grammatische Strukturbildung 191 mativer’ Annotation reduziert werden, d.h. in Zweifelsfällen zur möglichst deskriptiven Nutzung zwischen verschiedenen theoretischen Wortbildungsannotationen gewählt werden können. Um diesem Anspruch näher zu kommen, sollten morphologische Axiome und Testverfahren, wie sie zum Teil bereits sehr erfolgreich in der Syntax Anwendung finden, auch in die (historische) Wortbildungsforschung integriert werden. Die unterschiedlichen Paradigmen der Wortbildungstheorie könnten vor dem Hintergrund neuer, technischer Möglichkeiten verstärkt miteinander, d.h. ‘transparadigmatisch’ zusammenarbeiten. So könnten z.B. verstärkt transparadigmatische Diskussionen darüber stattfinden, wo die Grenzen des jeweiligen Testverfahrens liegen und was die Ursache dafür sein könnte. Die Entwicklung neuer Testverfahren bzw. die Übertragung von Verfahren zur Ermittlung grammatischer sowie semantischer Restriktionen (vgl. hierzu z.B. Härtl 2015) scheint in diesem Zusammenhang als sprachtheoretisch vielversprechend. Auch die Integration von Befunden aus verwandten linguistischen Disziplinen wie der Neurolinguistik oder der Psycholinguistik erscheint in diesem Zusammenhang begrüßenswert, denn insbesondere zur Entdeckung synchroner „Antimaterie“ sind Akzeptabilitätstests sicher nicht die einzige Evidenzquelle: So können auch psycholinguistische oder neurolinguistische Experimente helfen, den (k)overten Prinzipien sprachlicher Musterbildung auf die Spur zu kommen. In diesem Zusammenhang müssen auch die in der traditionellen Wortbildung gut beschriebenen Bedingungen der Sprachproduktion (wie Kontext, Textsorte, Stilistik, Sprachproduzentenspezifik, Rezipientenspezifik) Mitberücksichtigung finden, um die Frage zu klären, inwieweit sich aus der kontextspezifischen Verwendung auf kontextübergreifende Verwendung schließen lässt. Auch die Verbindung zwischen der Form- und der Inhaltsebene gilt es vielleicht teilweise stärker als bislang zu explizieren: So wäre aus morphologischer Sicht im Einzelfall stets zu begründen, warum im konkreten Fall einem phonologischen Argument im Gegensatz zu einem (ggf. zu entdeckenden) morphologischen Argument der Vorzug gegeben wird und umgekehrt. Auch sind durch ein solches Verfahren neue Evidenzen für Schnittstellenbereiche wie die Morphonologietheorie zu erwarten. Die Annahme sprachlicher Strukturbildung (im Gegensatz zu Chaos) impliziert das Verstehen im Sinne einer Modellierung unabhängig, aber selbstverständlich bezogen auf das jeweils zugrunde gelegte Sprachmodell. Um Struktur von der Nicht-Struktur abzugrenzen bzw. besser zu verstehen, könnten für die Zukunft vielleicht auch innovative Modellierungen wie beispielsweise katastrophen- und chaostheoretische Modelle (vgl. hierzu z.B. Wildgen/ Plath 2005) für die linguistische Beschreibungspraxis erwägenswert sein und bereits auf historischen Vorlagen aus dem vorwissenschaftlichen Bereich der <?page no="192"?> Martina Werner 192 Historischen Spieltheorie stammen (vgl. frühe Wortspiele des 17. Jahrhunderts; hierzu Klecker 2008; Reuter 2013). 7 Vor dem Hintergrund der in diesem Beitrag dargelegten Berücksichtigungsnotwendigkeit morphologischer „Antimaterie“ könnten auch in der linguistischen Praxis nicht mehr nur deskriptive Regeln (vs. präskriptive, vgl. Hentschel 2002) darüber, was belegt ist, sondern auch darüber, was nicht belegt ist, expliziert und verstärkt diskutiert werden. Der Fremdsprachunterricht berücksichtigt dies bereits teils indirekt, indem häufigste Fehler von Lernern als (ggf. falsche) Generalisierungen kommentiert und Alternativregeln an die Hand gegeben werden, warum etwas so (und nicht etwa anders, wie beispielsweise in der jeweiligen Muttersprache) zu kodieren ist. Das Grundkonzept des ‘Warum-nicht-anders’ ist ebenfalls aus der Sprachvariation und der Sprachgeschichte bekannt und könnte gut für die Grammatologie bzw. Grammatographie adaptiert bzw. entsprechend intensiviert werden. „Antimaterie“ könnte neben der Wortbildung womöglich auch in der Flexionsmorphologie zu lokalisieren sein (vgl. hierzu auch Guimier 1995), etwa in Form von bislang als „Lexikalisierungen“ unscharf umfassten Wortbildungsprodukten, deren Flexionsverhalten sich geändert hat. So sind beispielsweise produktive (im Sinne von reihenbildende) tum-Suffigierungen transnumeral (d.h. nicht pluralisierbar wie Studententum - *Studententümer, Professorentum - *Professorentümer), lexikalisierte hingegen nicht (wie Herzogtum - Herzogtümer, Reichtum - Reichtümer). Die ‘Lexikalisierung’, die mit einer Einschränkung der einst abstrakten Bedeutung (wie in Studententum ‘Studentenwesen, -eigenschaft’) hin zu einer konkreten (wie in Herzogtum ‘Reich des Herzogs’, sogenannte nomen loci in der historischen Wortbildung) verläuft, führt gleichzeitig zu einer Änderung des Flexionsverhaltens. Die dahinterliegenden, abstrakten Mechanismen eines solchen morphologischen Prozesses sind induktiv, etwa im Rahmen der Historischen Semantik zu untersuchen oder aber durch entsprechende Experimente synchron empirisch zu ermitteln. Wenn wir die Dynamik von Sprache mit einem Vulkan vergleichen, so gibt es Sprachschichten (erkaltete Lava, Gestein), die zwar belegbar, aber ererbt sind. Daneben existiert das sprachliche Magma in Form der ad-hoc-Bildungen, die synchron produktiv in den Äther geschleudert werden. In der Morphologie gibt es also im Grunde eine Arbeitsteilung zwischen Geologen, die lexikalisiertes Material auf Musterbildung untersuchen, und Seismologen, die das Zustandekommen von Vulkanausbrüchen und damit der Lavaentstehung (> Sprachwandel) unter dem Aspekt der Plattentektonik untersuchen. Für eine panchrone Theoriebildung sollten dauerhaft jedoch beide Bereiche zusammenarbeiten, um zum integralen Verständnis unterschiedlicher Sprach- 7 Ein in diesem Zusammenhang zu erwähnender, innovativer Entwurf aus formal-syntaktischer Perspektive wird angestellt von Müller (2011). <?page no="193"?> Wortbildung als grammatische Strukturbildung 193 wandelprinzipien zu klären, wie Tektonik (> sprachdynamische Prozesse und deren Prinzipien) zu materiellen Umschichtungen und schließlich zu „Erkaltungen“ (> Lexikalisierung) führt. Mit der Axiomatik von Sprachdynamik ist jedoch auch immer die Frage verbunden, warum unter bestimmten Prämissen ein bestimmter Wandel eintritt bzw. wann er es nicht tut. Die Perspektive von Dynamik impliziert also stets die Perspektive der Antidynamik ebenso wie die Perspektive des Belegbaren/ der Materie die Perspektive des Unbelegbaren/ der „Antimaterie“ impliziert. Wie im vorliegenden Beitrag illustriert wurde, ist die Erweiterung der bisherigen Axiomatik im Sinne einer Berücksichtigung formaler, systematischer „Antimaterie“ somit geeignet, neue Lösungsansätze für die morphologische Forschungspraxis und -theorie zu erschließen. Literatur Alexiadou, Artemis (2001): Functional structure in nominals: Nominalization, and ergativity. Amsterdam. Alexiadou, Artemis/ Rathert, Monika (Hg.) (2010): The syntax of nominalizations across languages and frameworks. (= Interface Explorations 23). Berlin/ Boston. Aronoff, Mark (1976): Word formation in Generative Grammar. Cambridge. Baayen, R. 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I adapt these to offer a semantic analysis for jenusing corpus data from modern German with pronominal and adnominal jen-, and propose a didactically applicable category of 'shared mental space' of the speaker and the hearer for the demonstratives: I argue that speakers use demonstrative reference to anchor the referent inside resp. outside their and the hearers' shared mental space. 1. Einleitung Dieser Beitrag versteht sich ganz im Sinne der Mannheimer ars-grammatica- Tagung im Juni 2015 als ein Versuch eines exemplarischen Brückenbaus zwischen der linguistischen Forschung und der Grammatikschreibung und -vermittlung. Zu diesem Zweck wird zuerst möglichst breit zusammengefasst, welche Beschreibungskategorien für die Demonstrativpronomina dies- und jenaktuell gebraucht werden: Hierzu werden nach einer kurzen Problematisierung (Abschn. 1) exemplarisch ausgewählte einschlägige linguistische Forschungsliteratur (Abschn. 2) und ausgewählte Nutzergrammatiken und Schulbücher (Abschn. 3) zu Rate gezogen. Vor allem für das sogenannte distale Demonstrativ jenkann dabei keine adäquate Analyse gefunden werden. Deshalb wird anschließend, gestützt durch die Ergebnisse einer explorativen Korpusuntersuchung (Abschn. 4), eine Analyse vorgeschlagen, welche die Kategorie des ‘mentalen Raums’ definiert und zur Beschreibung der pragmatischen Bedeutung von dies- und jennutzt (Abschn. 5) und dafür plädiert, ‘kognitive Annäherung vs. Distanzierung’ als Sprecherhandlung bei der Wahl der 1 Sehr herzlich möchte ich den Organisatoren und den Teilnehmern der Tagung ars grammatica für die hilfreichen Anmerkungen zu meinem Vortrag danken sowie zwei anonymen Gutachter/ innen für ihre präzise und stets konstruktive Kritik. Ein großer Dank geht an meine Tübinger studentischen Hilfskräfte Anna Mingoia, Benedikt Kings und Pirmin Scharer für ihre Hilfe bei der Datenauswertung. <?page no="200"?> Maria Averintseva - Klisch 200 Demonstrativa als Referenzmittel in die Grammatikschreibung und die schulische Grammatikvermittlung zu übernehmen (Abschn. 6). 2. Demonstrativa dies- und jenim Deutschen Demonstrativpronomina oder „deiktische Demonstrativa“ (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997) werden als sprachliche Ausdrücke mit pronominalen und adnominalen Gebrauchsweisen und der Funktion des „rückwärts- oder vorwärtsweisenden Zeigen[s] im Text“ sowie des „Verweisen[s] auf […] Gegenstände der dargestellten Welt“ (Duden 2016, S. 280) definiert. Für die Demonstrativa dies- und jenwird dabei oft angenommen, dass sie primär deiktische Ausdrücke mit einer sekundären textuell-anaphorischen Verwendung seien, die eine Opposition bezüglich Distanz bilden. So definiert Duden (ebd., S. 286): „Mit dem Demonstrativ dieser weist der Sprecher oder Schreiber identifizierend auf eine Person oder Sache hin, die ihm räumlich oder zeitlich näher liegt; mit jener verweist er auf etwas Ferneres“ und illustriert dies (unter anderem) wie folgt: 2 (1) Die Aussicht von dieser Bank ist schöner als von jener. (Duden 2016, S. 286) Duden (2011) gibt auch ein Beispiel für den textuellen Verweis, wobei sich die Ferne in diesem Fall auf die textuelle Entfernung des Pronomens zum Antezedenten bezieht: Das Pronomen jene greift den textuell weiter vorne genannten Antezedenten Mutter auf: (2) Mutter 1 und Tochter 2 kamen näher, diese 2 trug ein Sommerkleid, jene 1 ein Kostüm. (Duden 2011, S. 240) Hierbei erfolgt in der Duden-Grammatik eine wichtige Ergänzung: Das Gefühl für die kontrastive Wirkung von dieser und jener ist allerdings im Schwinden […]. Besondere Vorsicht ist beim Verweis auf Textstellen geboten. Ursprünglich verwies dieser auf das zuletzt Genannte, jener auf das zuerst Genannte. [Beispiel] Verweise dieser Art werden heute nicht mehr recht entschlüsselt und sollten daher nicht mehr verwendet werden. (Duden 2016, S. 286) Eine eindrucksvolle Bestätigung für dieses „Schwinden des Gefühls“ liefert eine kleine Studie von Manfred Consten (Friedrich-Schiller-Universität Jena), die 2005 durchgeführt wurde. Dabei wurden den Probanden, 72 muttersprachlichen Germanistik-Studierenden, Sätze wie (3) präsentiert: 2 Die das Demonstrativ beinhaltende NP wird in den Beispielen kursiviert und bei dem anaphorischen Gebrauch mit dem Antezedenten durch Zahlindizes koindiziert; längere Antezedenten- Ausdrücke werden mit eckigen Klammern gekennzeichnet. In den Erläuterungen zu den Beispielen im Fließtext erfolgt der Bezug auf Diskursreferenten in Kapitälchen, auf sprachliche Ausdrücke kursiv. <?page no="201"?> ‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? 201 (3) Markus und Paul lesen - dieser ein Buch, jener eine Zeitung. Den Probanden fiel es schwer, nach einem solchen Satz die Frage Wer liest was? zu beantworten, d.h., die anaphorische Referenz der beiden Demonstrativa aufzulösen. Nur 25 der 72 haben die korrekte Auflösung dieser = Paul (der zuletzt Erwähnte), jener = Markus (der zuerst Erwähnte) gewählt, während 45 der 72 die Interpretation bevorzugt haben, die sich nach der syntaktischen Parallelität richtet: zuerst Erwähnter = erstes Demonstrativ, zuletzt Erwähnter = zweites Demonstrativ. Dabei haben 48 von 72 Probanden den Satz als „etwas komisch“ beurteilt. 3 Somit wird bestätigt, dass kompetente Muttersprachler durchaus Probleme mit der Referenzauflösung der Demonstrativa bei deren paariger Verwendung im Text haben. Auffällig ist, dass eine gewisse Unsicherheit bezüglich des Gebrauchs von jenals einem distalen Pendant zu dies- und allgemeiner zum Status von jenmehr oder weniger explizit sowohl von der linguistischen Literatur als auch von den Schulbüchern (siehe 3 unten) geteilt wird. So stellt Löbner (2015, S. 82) fest, jensei im heutigen Deutsch „praktisch nicht mehr gebraucht“, so dass diesein bezüglich Distanz zum deiktischen Zentrum unmarkiertes Demonstrativ sei. Nichtsdestotrotz wird in dem Abschnitt „Textkohäsion durch Artikelwörter und Pronomen“ in Duden (2016) der deiktische Aspekt bei der textuellen Verwendung von dies- und jenhervorgehoben: „Deiktische Funktion haben demonstrative Artikel und Pronomen wie dieser, der, jener. Sie erlauben nicht nur einen phorischen Schluss, sondern zeigen explizit entweder im Text oder in der Diskurssituation“ (ebd., S. 1124). Dabei wird auf den Kontrast Personalpronomen vs. dieseingegangen, allerdings wird der jeweilige Gebrauch und die (Nicht-)Austauschbarkeit in konkreten Fällen lediglich knapp als „Hier muss häufig die Anapher [das Personalpronomen der 3. Person, M. A.-K.] gesetzt werden“ (ebd., S. 1124) angedeutet und mit Beispielen illustriert, so dass der Gebrauch kaum systematisch nachzuvollziehen ist. Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997) sowie Weinrich (2003) definieren den Beitrag der phorischen Demonstrativa als eine (ggf. wiederholte) Neu-Fokussierung der Aufmerksamkeit des Sprechers und des Hörers auf den Referenten, während phorische Personalpronomina der Beibehaltung der Fokussierung dienen. Man kann also rekapitulieren, dass für dies- und mit Einschränkungen für jeneine situativ-deiktische und eine textuelle Verwendung festgestellt werden, wobei die beiden Demonstrativa einen Distanzkontrast markieren, welcher jedoch de facto kaum mehr zum Tragen kommt. Es stellt sich die Frage, ob dies- und jenin der textuellen Verwendung nicht gar austauschbar sind und im Kontrast zu dem Personalpronomen der 3. Person stehen. 3 Die Probanden wurden auch nach ihrer Einschätzung der Sätze gefragt: Ist der Satz (in geschriebener Sprache) gebräuchlich? , wobei man durch Ankreuzen zwischen ja, problemlos; klingt etwas komisch und gar nicht wählen konnte. <?page no="202"?> Maria Averintseva - Klisch 202 Im folgenden Abschnitt werden die in der linguistischen Forschungsliteratur sprachübergreifend identifizierten Funktionen der demonstrativen Referenz systematisch für dies- und jenreferiert und mit den Formulierungen in den Schulgrammatiken verglichen (Abschn. 3). Die Ergebnisse dieser Sichtung, insbesondere der immer noch unklare Bedeutungsbeitrag des Demonstrativs jenim Deutschen, bieten eine Ausgangslage für die Korpusstudie, die in Abschnitt 4 präsentiert wird. 3. Funktionen der demonstrativen Referenz bei dies- und jen- Im Folgenden werden die sprachübergreifend definierten Funktionen der demonstrativen Referenz vorgestellt: die deiktische, die anaphorische, die anamnestische und die determinative Funktion. Hierbei wird unterschieden, welche Funktionen dies- und jenpronominal und adnominal jeweils aufweisen. 3.1 Deiktische und textdeiktische Referenz Sprachübergreifend werden Demonstrativa üblicherweise als Ausdrücke mit einer primär deiktischen Funktion definiert; z.B. Diessel (2012, S. 2417): „In their basic use, demonstratives focus the interlocutors’ attention on concrete entities in the surrounding situation; that is, demonstratives serve to establish joint attention“. Primär ist für Demonstrativa somit eine Verwendung, bei welcher i) der Referent der Demonstrativ-NP für den Sprecher/ Produzenten (= S) und den Hörer/ Adressaten (= H) in der Äußerungssituation physisch wahrnehmbar ist und ii) mit dem Verweis durch das Demonstrativ dieser Referent in den gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus gebracht wird (z.B. Himmelmann 1997; Diessel 1999, 2012). Obwohl prototypischerweise für die mündliche Kommunikation definiert, ist eine deiktische Verwendung auch schriftsprachlich möglich; hierbei ist die Referenz direkt aus der Situation, die den S und den H involviert, heraus rekonstruierbar: (4) Von Dienstag bis Donnerstag dieser Woche befragte die Forschungsgruppe 1285 zufällig ausgesuchte Wahlberechtigte. (Mannheimer Morgen, 30.4.2005) 4 (5) Kraftwerksbetreiber RWE Power habe den Rückbau bereits akzeptiert. Dies dementierte eine Unternehmenssprecherin auf Anfrage dieser Zeitung. (Mannheimer Morgen, 17.2.2012) 4 Die sprachlichen Beispiele werden, falls nicht anders gekennzeichnet, aus dem Archiv für geschriebene Sprache, DeReKo, Cosmas II, des IDS Mannheim (vgl. Kupietz et al. 2010) entnommen, vor allem aus den Teilkorpora Mannheimer Morgen (= MM) und Wikipedia-Diskussionen (= WDD); vgl. die Erläuterungen in Abschnitt 4. <?page no="203"?> ‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? 203 In (4) ist diese Woche diejenige, in der die Zeitungsausgabe erscheint und der Text voraussichtlich gelesen wird. In (5) ist diese Zeitung die Zeitung, in welcher die Demonstrativ-NP abgedruckt ist. In beiden Fällen ist die Referenz situativ aufzulösen, in (5) ist die Demonstrativ-NP und der sie beinhaltende Text zugleich ein Teil der Zeitung, auf welche die NP referiert. Solche textuellen Verweise auf Elemente des Texts selbst nenne ich mit Himmelmann (1997, S. 83) textdeiktisch. Auch wenn das zu Beginn genannte Beispiel 1 aus der Duden-Grammatik deiktisch sein soll, ist die Forschungsliteratur zu deutschen Demonstrativa noch deutlicher als oben zitierter Duden (2016) der Ansicht, dass jennicht (mehr) deiktisch verwendet werde, vgl. z.B. Gunkel (2007a, S. 215), der es anzweifelt, dass jenüberhaupt deiktisch gebraucht werden kann, vor allem da es im heutigen Deutsch auf die Schriftsprache beschränkt sei. 5 Wie in Abschnitt 4 ausgeführt wird, konnten auch in meinen Daten keine deiktischen jen-NPs gefunden werden. 3.2 Anaphorische und „anaphorisch-deiktische“ Referenz Ebenso können Demonstrativa anaphorisch verwendet werden (vgl. z.B. Himmelmann 1997, S. 57). Hierbei wird der Referent textuell durch eine NP oder eine propositionale Struktur eingeführt und durch das Demonstrativ wiederaufgegriffen, vgl. (6): (6) Und er mahnte potenzielle Fernreisende, künftig [Thailand, Sri Lanka, Indien oder die Malediven] 1 nicht links liegen zu lassen und damit den Staaten mit dem Tourismus auch noch eine wichtige Erwerbsgrundlage zu entziehen. Große Teile dieser Länder 1 seien vom Tsunami nicht betroffen, die Bevölkerung weiterhin auf Urlauber angewiesen […] (Mannheimer Morgen, 5.1.2005) Hier greift die Demonstrativ-NP die textuell erwähnten Staaten Thailand, Sri Lanka, Indien oder die Malediven wieder auf. Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997) und Duden (2016, S. 1124) sprechen hierbei von der Anadeixis, im Unterschied zu der Anaphorik, die sich ausschließlich auf die Nutzung des Personalpronomens der 3. Person beschränkt; wie oben dargestellt, unterscheiden sie sich bezüglich der Fokussierung der Referenten. Ich benutze nach Consten/ Schwarz- Friesel (2007) einheitlich die Bezeichnung Anapher für diejenigen Fälle, in denen der Referent textuell und nicht situativ eingeführt oder verankert wird, 5 Hauenschild (1982, S. 183) geht noch deutlich weiter und postuliert, „jener practically never occurs in modern spoken or written language“. Während dies in Anbetracht der Daten, die in Abschnitt 4 präsentiert werden, zu stark erscheint, sprechen auch meine Daten für die Annahme von Gunkel (2007a). <?page no="204"?> Maria Averintseva - Klisch 204 unabhängig von der Form des (i.w.S. definiten) Ausdrucks und davon, ob mit der referenziellen Wiederaufnahme zusätzliche Funktionen wie Aufmerksamkeits(re)fokussierung oder Emotionsausdruck verbunden sind. Der Unterschied in solchen zusätzlichen Funktionen der Referenzwiederaufnahme ist jedoch für die Wahl eines bestimmten anaphorischen Ausdrucks verantwortlich. So argumentieren Consten/ Averintseva-Klisch (2010), dass diesin der Regel für den nicht-topikalen Referenten 6 verwendet wird, während das Personalpronomen für die Referenz auf Diskurstopiks gewählt wird, vgl. (7): 7 (7) [Ein maskierter Räuber] 1 ist gestern in Fulda vom [Filialleiter eines Supermarktes] 2 ausgesperrt worden und ohne Beute geflohen. Laut Polizei hatte [der Täter] 1 am Morgen in einem Gebüsch auf [den 25-jährigen Filialchef] 2 gelauert. Als dieser 2 den Hintereingang aufgeschlossen habe, sei er 2 von [dem maskierten Mann] 1 mit einem Elektroschockgerät bedroht worden. (Mannheimer Morgen, 17.8.2005) Hierbei werden zwei Referenten textuell eingeführt, der Räuber und der Filialleiter. Man kann annehmen, dass zu Beginn des Textausschnitts der Räuber das Diskurstopik ist: Es geht vorrangig um den Täter und seinen Raubversuch; auch grammatisch gesehen ist in den zwei Sätzen von dem Satz mit der demonstrativen Anapher ein maskierter Räuber bzw. der Täter das Subjekt, und diese grammatische Funktion korreliert oft mit Topikalität (Bosch/ Umbach 2007, S. 50). Dies ändert sich im dritten Satz, in welchem der Filialleiter stärker in den Vordergrund rückt (und entsprechend auch ein Personalpronomen zur Referenz auf ihn genutzt wird). Eine alternative Erklärung der Wahl des Referenzmittels hier wäre, dass dieser als ein proximales Demonstrativ den textuell näheren Antezedenten, hier den […] Filialchef (und eben nicht der Täter), bevorzugt. Allerdings wäre hier auch jener mit der Referenz auf den Filialleiter anstelle von dieser möglich (ich danke einem/ einer anonymen Gutachter/ in für diesen Hinweis! ): (7') [Ein maskierter Räuber] 1 ist gestern in Fulda vom [Filialleiter eines Supermarktes] 2 ausgesperrt worden und ohne Beute geflohen. Laut Polizei hatte [der Täter] 1 am Morgen in einem Gebüsch auf [den 25-jährigen Filialchef] 2 gelauert. Als jener 2 den Hintereingang aufgeschlossen habe, 6 Unter Diskurstopik wird derjenige Diskursreferent verstanden, der für die Dauer eines Diskursabschnitts im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, ‘über welchen’ dieser Abschnitt ist (vgl. das Aboutness-Konzept von Reinhart (1981), aber über einen Satz hinaus); vgl. Consten/ Averintseva-Klisch (2010, S. 4f.). 7 Bosch/ Umbach (2007) zeigen für das Demonstrativ der dieselbe Präferenz für einen nichttopikalen Referenten. <?page no="205"?> ‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? 205 sei er 2 von [dem maskierten Mann] 1 mit einem Elektroschockgerät bedroht worden. Wäre das distale Demonstrativ hier für den ferneren Antezedenten gebraucht, so dürfte die Koreferenz mit dem Filialchef ausgeschlossen sein; sie ist möglich, wenn nicht gar deutlich bevorzugt, vgl. (7''): (7'') Laut Polizei hatte [der Täter] 1 am Morgen in einem Gebüsch auf [den 25-jährigen Filialchef] 2 gelauert. Als jener ? ? 1/ 2 sich vor dem Hintereingang versteckte […] Das Beispiel wurde so modifiziert, dass die Referenz von jener auf den Täter plausibel ist: Es ist im gegebenen Kontext viel wahrscheinlicher, dass sich der Täter lauernd versteckt; trotzdem (und trotz des normkonformen Wiederaufgreifens des ferneren Referenten) ist die Bezugnahme auf den Täter in (7'') dispräferiert. Dies spricht dafür, dass tatsächlich die Nicht-Topikalität und nicht die Nähe des Antezedenten hier das entscheidende Kriterium für die Wahl des Demonstrativs ist und dass nicht nur der und dies-, sondern auch jendie nicht-topikalen Referenten bevorzugen. Somit ist eine mögliche Nebenfunktion der anaphorischen Referenz mit einem Demonstrativ die Markierung des nicht-topikalen Status des Referenten. 8 Die räumliche Entfernung des Antezedenten spielt hingegen bei der sogenannten anaphorisch-deiktischen Verwendung eine Rolle, vgl. (8): (8) Den Begriff der „Risikogesellschaft“ prägte der Münchner Soziologe Ulrich Beck. Die Produktion von Reichtum 1 gehe einher mit derjenigen von Risiken 2 , die 2 wie jener 1 sinnvoll zu verteilen seien, so seine These. (Mannheimer Morgen, 31.8.2011) Hier spielt die textuelle Nähe vs. Ferne des potenziellen Antezedenten zur Anapher eine wesentliche Rolle für die Wahl des Referenzmittels bzw. die Referenzauflösung: Das unmarkierte Demonstrativ die wird hierbei für den näheren Antezedenten Risiken genutzt, das distale jener für den ferneren Antezedenten Reichtum. In meinen Korpusdaten sind solche Beispiele selten (vgl. Abschnitt 4 unten). Es kann als ein Konsens in der einschlägigen Literatur 8 Anders als Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997) sehe ich hierbei die Funktion des Demonstrativs nicht in einer Re-Fokussierung, sondern in einer Markierung der Nicht-Topikalität des entsprechenden Referenten, da Re-Fokussierung meines Erachtens nicht spezifisch für demonstrative Referenz ist. Auch für sogenannte Re-Nominalisierungen, d.h. für anaphorische definite volle NPs nach einer Reihe von Personalpronomina, stellt Thurmair (2003, S. 212) fest, dass sie der Re-Fokussierung dienen. Die (Re-)Fokussierung und die Topikalität können, müssen aber nicht, interagieren; so kann die Re-Fokussierung durch den Wechsel des Topik-Referenten bedingt werden, es können aber auch andere Gründe für eine Fokussierung vorliegen (siehe auch Consten/ Averintseva-Klisch 2010, S. 28-30). <?page no="206"?> Maria Averintseva - Klisch 206 angesehen werden, dass in der anaphorisch-deiktischen Verwendung diesnicht primär mit jenkontrastiert, auch wenn Beispiel (2) oben aus Duden (2011) das nahelegen will, sondern mit dem Personalpronomen oder anderen lexikalischen Mitteln (der Erstgenannte usw.), vgl. z.B. Bryant et al. (2014, S. 160) und Duden (2016, S. 286). Interessant ist, dass in (8) zwar jener verwendet wird, mit ihm jedoch nicht das proximale Demonstrativ diese, sondern das Relativpronomen die kontrastiert. Nominale Anaphern wie in (6)-(8), bei denen sowohl der Antezedent-Ausdruck als auch die Anapher NPs (inkl. Pronomina) sind, sind mit dies- und jenmöglich. Nur mit pronominalem dies (und das), adnominal aber mit semantisch geeigneten dies- und jen-NPs, sind die sogenannten Komplexanaphern möglich, bei denen der nominale anaphorische Ausdruck einen Diskursreferenten durch eine Komplexbildung aus einer propositionalen Antezedent-Struktur etabliert, vgl. Consten/ Schwarz-Friesel (2007, S. 275), wie in (9)-(11): (9) [Kraftwerksbetreiber RWE Power habe den Rückbau bereits akzeptiert] 1 . Dies 1 dementierte eine Unternehmenssprecherin […]. (Mannheimer Morgen, 17.2.2012) (10) [Beim Sonderparteitag im Käfertaler Kulturhaus hat die Mannheimer CDU stattdessen den Grundstein gelegt, damit sie nach den lähmenden Querelen der vergangenen Monate endlich wieder auf die Beine kommt] 1 . [Dieser Erfolg] 1 hat einen Namen […] (Mannheimer Morgen, 6.12.2005) (11) [Ein gerader Straßenzug führt von Norden nach Süden, nüchterne Hausfassaden beherrschen die Sicht, nur hier und da strecken fast schüchtern Barockhäuser ihre verspielten Fassaden hervor] 1 . Inmitten [jener Schmucklosigkeit am Breiten Weg in Magdeburg] 1 entsteht „Die Grüne Zitadelle“ […] (Mannheimer Morgen, 15.1.2005) In diesen Beispielen dient der ganze (in (10) und (11) syntaktisch komplexe) vorangehende Satz als Antezedent für die pronominale (9) bzw. die NP- Komplexanapher. 3.3 Anamnestische Referenz Bei der anamnestischen Referenz (Himmelmann 1997, S. 61) ist der Referent der Demonstrativ-NP weder aus der Äußerungssituation zu rekonstruieren noch vorerwähnt. Der S referiert „versuchsweise“, das heißt, durch die Wahl des Demonstrativs legt er dem H nahe, dass dieser die Referenz mithilfe des gemeinsamen Wissens auflösen kann (vgl. Auer 1981; Himmelmann 1996; Consten/ Averintseva-Klisch 2012): <?page no="207"?> ‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? 207 (12) S: dort unten konnte man den Wein richtig becherweise trinken. H: Mhmh. S: Meine Eltern haben immer viel Rotwein gekauft aus diesen berüchtigten Tschian-- Chiantiflaschen, und ich […] (PF 002, zitiert nach Consten/ Averintseva-Klisch 2012, Bsp. 1) Durch dies- (unterstützt durch das Adjektiv berüchtigt) suggeriert der S, dass der H weiß, von welchen Flaschen die Rede ist. Anamnestische Referenz ist ausschließlich mit vollen NPs möglich, da ein Pronomen nicht genug deskriptiven Gehalts hat, um eine solche Referenz ohne (kon)textuelle Unterstützung zu ermöglichen. Dabei sind dies- (12) und jen-NPs (13) möglich, vgl. Molnár (2010): (13) Selbst das Unmögliche erscheint möglich: Warum sollte eine Figur, die einem Buch entspringt, keine Gefühle haben und kein Heimweh nach seiner fiktiven Welt empfinden wie eben jener Feuerspucker Staubfinger? (Mannheimer Morgen, 20.12.2012) In diesem Fall wird von einer Theater-Aufführung nach Funkes Roman „Tintenherz“ berichtet; Staubfinger, eine der Hauptfiguren des Romans, wird im ganzen Artikel zum ersten Mal genannt, so dass es sich hier eindeutig um einen Fall der anamnestischen Referenz handelt. Der Autor setzt voraus, dass seine Lesenden entweder das Theaterstück gesehen (das immerhin in Mannheim, wo die Zeitung erscheint, aufgeführt wird) oder das populäre Buch gelesen haben. 3.4 Determinative Referenz Gunkel (2007a, S. 219) plädiert dafür, dass für morphologisch plurale jen-NPs im heutigen Deutsch die determinative Funktion die typische sei: Die jen-NP wird unabhängig davon, ob der Referent schon erwähnt wurde oder nicht, genutzt, wobei sie als Antezedent eines restriktiven Relativsatzes dient, der alle zur Identifizierung des Referenten nötigen Informationen beisteuert. Somit werde jenim Plural (anders als im Singular) nahezu analog zu derjenigverwendet, nur dass jenausschließlich spezifische Referenz zulasse: 9 9 Mit nicht-spezifischer Referenz wie in (i) sei nur derjenigmöglich, vgl. Gunkel (2007a, S. 220): (i) Diejenigen / #Jene Urlauber, die schon angekommen sind (falls es solche überhaupt gibt), mögen sich bitte bei der Rezeption melden. Der determinative Gebrauch kann auch für das distale Demonstrativ that im Englischen beobachtet werden, vgl. (ii): (ii) Those who backed a similar plan last year hailed the message. (Himmelmann 1997, S. 77) <?page no="208"?> Maria Averintseva - Klisch 208 (14) Für jene Urlauber, die Sri Lanka einst als Fernreiseziel entdeckten, ist in den Plänen kein Platz mehr. (Bsp. (20b) in Gunkel 2007a) Hier referiert die jen-NP auf eine spezifische Urlauber-Gruppe. Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997, S. 37) nehmen hier nicht die morphologische (Numerus), sondern die syntaktische Unterscheidung an: Adnominale jen- und dies- „haben keine selbstständige Verweisfunktion wie ihr Pendant, die Objektdeixis; vielmehr ist das deiktische Verfahren zum Zweck der Determination funktionalisiert“. 3.5 Emotionalisierende Referenz Für dieswird oft ein emotionalisierender Aspekt der Referenz postuliert. So nimmt Bisle-Müller (1991, S. 70) an, dass der Sprecher mit dieseine „emotionale Distanziertheit“ zum Ausdruck bringe: Diese „könnte so verstanden werden, dass der entsprechende Referent nicht Teil der positiv-emotionalen Diskurswelt des Sprechers ist“. Als Illustration verwendet er, hierbei Erben (1980, S. 228) folgend, ein Beispiel aus Thomas Manns „Zauberberg“: (15) Da hat nun dieser Herr Naphta - ich sage „dieser Herr“, um anzudeuten, daß ich durchaus nicht unbedingt mit ihm sympathisiere, sondern mich im Gegenteil innerlich höchst reserviert verhalte. Man kann sich fragen, wieso der Protagonist Castorp sich genötigt sieht, seinen Gebrauch des Demonstrativs gesondert zu erläutern, wenn die emotionale Distanzierung stets durch dieser ausgedrückt werde. In Averintseva-Klisch (2016b) übernehme ich stattdessen den Vorschlag von Consten/ Averintseva- Klisch (2010) für den emotionalisierenden Bedeutungsbeitrag von dies-. Dort wird vorgeschlagen, diesen als eine Ausprägung der Nähe-Bedeutung zu sehen, die wir ‘kognitive Proximität’ nennen. Darunter wird die Markierung der mentalen Nähe zwischen dem Sprecher, dem Hörer und dem Referenten durch den Gebrauch von diesverstanden. Wir zeigen, dass die Emotion dabei durchaus auch positiv sein kann, vgl. (16): (16) Der Kirchbau, dessen Einweihung wir heute feiern, zählt zu dem Besten, was freie Bürger leisten können. Dieser wunderbare Bau ist mehr als ein Gebäude. Er steht für das Gute, das uns eint. (Ansprache von Bundespräsident Horst Köhler zur Eröffnung der Dresdner Frauenkirche, 30.10.2005; www.bundespraesident.de) Dabei ist die Emotionalisierung der Referenz stets eine Zusatzfunktion von dies-, da das Demonstrativ dabei anaphorisch (wie in (16)), deiktisch oder anamnestisch gebraucht wird. <?page no="209"?> ‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? 209 Die in 2.1 bis 2.5 referierten Beobachtungen in der Literatur zu den Funktionen von dies- und jenkönnen wie folgt zusammengefasst werden: diesjenpronominal adnominal pronominal adnominal deiktisch ja ja nein nein anaphorisch Nominale Anapher ja ja ja ja Komplexanapher ja ja nein ja anaphorischdeiktisch eher ja (? ) eher ja (? ) eher nein (? ) eher nein (? ) anamnestisch nein ja nein ja determinativ nein nein ja (Pl.)/ nein ja (Pl.)/ ja (Pl. & Sg.) emotional ja ja nein nein Tab. 1: Funktionen von dies- und jen- 4. Schulgrammatiken zu dies- und jen- Wenn man die in Abschnitt 2 präsentierten Funktionen für dies- und jenmit den Eigenschaften vergleicht, die in den exemplarisch gesichteten Schul- und Nutzergrammatiken formuliert wurden, so kann Folgendes festgestellt werden: 10 Auf die deiktischen und die anaphorischen Funktionen wird explizit eingegangen, wobei die Schulbücher keine klare Unterscheidung der beiden Funktionen vornehmen. So wird in „Klartext“ 2 (2009, S. 184) - nahezu wortgleich mit „Verstehen und Gestalten“ 2 (2004, S. 127) sowie mit Schüler-Duden (2009, S. 29) - festgehalten, dass Demonstrativpronomina „auf etwas hinweisen“; von den beiden unmittelbar diese Definition illustrierenden Beispielen ist eines klar deiktisch, während beim anderen nicht eindeutig ist, ob eine deiktische oder eine anaphorische Verwendung vorliegt. Später wird (unter der einen funktionalen Blick suggerierenden Überschrift „Wie nutzt du Demonstrativpronomen? “) postuliert: „Mit ihnen kannst du auf etwas zurück- oder vorausweisen.“ Diese räumlich formulierte Beschreibung zielt eindeutig auf die textuell-anaphorische Verwendung ab, denn für die situationell-deiktische Verwendung haben die Konzepte Vor und Zurück kaum eine Interpretationsmöglichkeit. 10 Für diesen Aufsatz habe ich zwei in Baden-Württemberg gebräuchliche Schulbücher, „Klartext“ für die 6. und 8. Klassen der Realschule (Klartext 6 bzw. Klartext 4) und „Verstehen und Gestalten“ für die 6. Klasse des Gymnasiums Deutsch (Verstehen und Gestalten 2) sowie den Schüler-Duden (2009) und den klar präskriptiv ausgerichteten Duden (2011) durchgesehen. <?page no="210"?> Maria Averintseva - Klisch 210 Zum Teil wird explizit ein Distanzkontrast zwischen dies- und jenangenommen (Duden 2011, S. 506; Schüler-Duden 2009, S. 30); ein Beispiel einer auf der Annahme des Distanzkontrasts basierenden Vermittlung ist das Folgende aus einer früheren Ausgabe von „Klartext“ für Gymnasien (Klartext 6): Abb. 1: Klartext 6 (1996, S. 42) Hier wird man explizit zur Textproduktion mit dem kontrastiven deiktischen Gebrauch angehalten, was nicht im Einklang mit der sprachlichen Intuition stehen kann. In neueren Büchern wird hingegen nahegelegt, dass beide Demonstrativa identisch gebraucht werden: In „Klartext“ 4 (2011, S. 215) werden Demonstrativpronomina pauschal in Abgrenzung zu Personalpronomina wie folgt definiert: „Personalpronomen können Nomen ersetzen und stellen Bezüge her. […] Demonstrativpronomen heben eine Person oder eine Sache hervor. Sie werden sprachlich stärker betont und stehen meist am Satzanfang.“ 11 Auch die Beispiele, die gegeben werden, suggerieren eher die Austauschbarkeit der Demonstrativpronomina untereinander, wobei zum einen dieswie jenanaphorisch (textuell rückverweisend) gebraucht werden, zum anderen jenwie derjenigals Bezugswort für restriktive Relativsätze verwendet wird, wie in (17): (17) Lina wird dieses Jahr aus der Schule entlassen. Diese steht zwischen zwei Jungen und trägt eine rote Kappe. Jener, der rechts neben ihr steht, heißt Per. […] Derjenigen, die mit ihm gekommen ist, sind die anwesen- 11 Was genau dabei unter „Hervorheben“ und „Betonen“ verstanden werden soll, bleibt unklar. Erst nach dem Vergleich mit den wissenschaftlichen Grammatiken kann man vermuten, dass die (Neu-)Fokussierung des Referenten gemeint sein soll. <?page no="211"?> ‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? 211 den Jungen egal, da sie schon einen festen Freund hat. Sie will nur mit jener, die die Älteste ist, für die Abschlussfeier shoppen gehen. (Klartext 4, S. 215, Rätseltext zu einem Bild) Auf die determinative Funktion der Demonstrativa wird in den Schulbüchern trotz der einschlägigen Beispiele wie (17) nicht explizit eingegangen. Duden (2011, S. 506) verurteilt sogar explizit einen determinativen Gebrauch von jen-: Es sei „nicht korrekt, jener anstelle von derjenige oder hinweisendem der zu gebrauchen. Also nicht: Jener, der das getan hat… Sondern Derjenige, der das getan hat… Oder Der, der das getan hat…“. Ebenfalls nicht angesprochen werden der anamnestische Gebrauch der Demonstrativa und die emotionalisierende Funktion von dies-. Diese Reduzierung der Betrachtung der Funktionen der Demonstrativa auf wenige vage Sätze und konstruierte Beispiele, 12 obwohl Demonstrativa sich ausgezeichnet dazu eignen, die in den Bildungsplänen geforderte Sprachbewusstheit zu schulen, ist äußerst unbefriedigend. Umso mehr, da festgestellt werden kann, dass im aktuellen Gebrauch der Demonstrativa in denselben Schulbüchern in den Aufgaben- und in den Beispieltexten sämtliche in der linguistischen Literatur beschriebenen Funktionen der Demonstrativa zu bestimmen sind. So zeigt eine kleine informelle Untersuchung des Abschnitts „Miteinander sprechen“ (9 Seiten) aus dem Schulbuch „Verstehen und Gestalten“ 2 (2004), dass dort in den Texten und Aufgabenstellungen dies- (adnominal und pronominal) 10 Mal vorkommt, davon einmal anamnestisch und zugleich emotional, fünfmal anaphorisch und viermal textdeiktisch (auf Textabschnitte im Schulbuch selbst verweisend). Auf den Vorschlägen in der linguistischen Literatur und den bereits existierenden Schulbuchtexten aufbauend ließe sich sicher eine deutlich adäquatere Vermittlung für die Demonstrativa in ihrer textuellen Funktion gestalten. Im Folgenden will ich eine theoretische Basis für diese Vermittlung legen, indem ich dort ansetze, wo die meisten offenen Fragen sind: Bei der Bedeutung und dem Gebrauch von jenim heutigen Deutsch: Wie in Abschnitt 2 gezeigt, ist bei der anaphorischen Verwendung von jenunklar, ob hier noch Distanzbedeutung (ggf. im Kontrast zu dies-) vorhanden ist. Generell ist der Bedeutungsbeitrag von jenüber die bloße Determination hinaus ungeklärt, und verschiedene grammatische und pragmatische Eigenschaften der NP werden als zentral für den determinativen Gebrauch vorgeschlagen. Ich werde eine explorative Korpusuntersuchung zu jenvorstellen (Abschn. 4), auf deren Basis 12 Diese Beispiele sind auch teilweise von zweifelhafter Grammatikalität. So ist meines Erachtens diese im zweiten Satz in (17) als Verweis auf den Topik-Referenten deutlich dispräferiert gegenüber sie (siehe oben); vgl. auch Duden (2016, S. 1124) für ähnliche Beispiele, die als ungrammatisch beurteilt werden. <?page no="212"?> Maria Averintseva - Klisch 212 ich einen Vorschlag zu der Bedeutung (Abschn. 5) und erste Gedanken zu der Grammatikschreibung und der Vermittlung von dies- und jen- (Abschn. 6) machen werde. 5. Explorative Korpusuntersuchung zu Bedeutung und Gebrauch von jen- 5.1 Daten, Hypothesen und Annotationskategorien Für meine qualitative Untersuchung habe ich insgesamt 328 Belege verwendet, davon die Hälfte (164) für dies- und die Hälfte (164) für jen-; je 82 Belege (zufällige Auswahl) für diesbzw. jenstammten aus der Zeitung Mannheimer Morgen (MM) aus den Jahrgängen 2005, 2011 und 2012, die gleiche Zahl aus den Wikipedia-Diskussionen (WDD) bis 2011. Diese Wahl der Quellen erklärt sich aus der Hypothese I: - Hypothese I ‘Textsorte’: Da jen- „auf die Schriftsprache beschränkt“ (vgl. Gunkel 2007b, S. 8) sei, diesdiesbezüglich keine Einschränkungen aufweist, wird jeneher in den Zeitungstexten (MM) als in WDD erwartet, da nur Erstere deutlich der medialen und konzeptionellen Schriftlichkeit (im Sinne von Koch/ Oesterreicher 1985) angehören, während für Letztere eher konzeptionelle Mündlichkeit erwartet wird. Bei dies-Belegen wird kein Unterschied erwartet. Darüber hinaus wird, basierend auf den in Abschnitt 2 referierten Analysen der Demonstrativa, Folgendes erwartet: - Hypothese II ‘Textfunktion’: (i) Für diesfinden sich Belege in deiktischer (inkl. textdeiktisch), anaphorischer (inkl. anaphorisch-deiktisch) und anamnestischer Funktion; es finden sich keine Belege mit determinativer Funktion; (ii) Für jenfinden sich Belege mit anamnestischem und determinativem Gebrauch (siehe auch Hypothese IV); möglich sind auch Belege mit anaphorischem Gebrauch, nicht jedoch mit deiktischem oder textdeiktischem; anaphorisch-deiktische Belege sind nicht zu erwarten (aber siehe Hypothese IV-ii). - Hypothese III ‘Emotionalisierung’: Zusätzlich zu der Textfunktion kann bei diesder emotionalisierende Aspekt hinzu kommen, bei jennicht. - Hypothese IV ‘Grammatik und Textfunktion’: (i) Numerus: jen-Belege im Plural sind vorwiegend determinativ; jen-Belege im Singular können determinativ, anamnestisch oder anaphorisch sein. Bei dieswird kein funktionaler Unterschied in Abhängigkeit von Numerus der NP erwartet. (ii) Syntax: Pronominale jen-Belege sind anaphorisch-deiktisch (oder es gibt keine); <?page no="213"?> ‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? 213 adnominale jen-Belege sind determinativ oder anamnestisch. Pronominale dies-Belege können nicht anamnestisch sein; sonst gibt es für dieskein einschränkendes Zusammenspiel zwischen den grammatischen Eigenschaften und den Funktionen. Ausgehend von den Hypothesen I-III wurden folgende Kategorien bei den Daten annotiert: Variable Ausprägung Textsorte MM WDD Numerus Sg. Pl. Syntax pronominal adnominal Emotionalisierend ja nein Textfunktion 13 deiktisch anaphorisch anamnestisch determinativ (sit.-)deikt. textdeikt. ana.deikt. anaphor. Tab. 2: Annotationskategorien 5.2 Ergebnisse Aufgrund der Art der Studie kann es keine quantitativen Auswertungen geben, sondern es können lediglich explorative Beobachtungen vorgestellt werden. Was die Hypothese I betrifft, so konnten keine wesentlichen Unterschiede bezüglich der Textsorte festgestellt werden. Dies kann jedoch auch damit zusammenhängen, dass auf den ersten Blick die Wikipedia-Diskussionen zum großen Teil eher konzeptionell-schriftlich zu sein scheinen (diesen Punkt genau zu untersuchen hätte den Rahmen dieses Aufsatzes gesprengt). Es konnte dennoch beobachtet werden, dass gewisse funktionale Tendenzen, die unten festgestellt werden - die Ausweitung des determinativen Gebrauchs auch auf Fälle der nicht-spezifischen Referenz unabhängig vom Numerus der jen- NP; referenzielle Unsicherheiten beim (seltenen) anaphorisch-deiktischen Ge- 13 Um die Textfunktion operationalisieren zu können, habe ich folgende Kriterien verwendet: deiktisch wird annotiert, wenn sich die Referenz aus der Textsituation auflösen lässt (vgl. diese Woche) bzw. auf den Text selbst als Objekt referiert wird (diese Zeitung/ dieser Artikel; textdeiktisch); anaphorisch wird annotiert, wenn der Referent in den 10 vorausgehenden (auch komplexen) Sätzen vorerwähnt wurde; anamnestisch wird annotiert, wenn der Referent nicht aus der Situation heraus bestimmt ist und nicht textuell vorerwähnt wurde (siehe oben) und wenn kein restriktives Attribut die Referenz eindeutig festlegt; determinativ wird annotiert, wenn der Referent nicht aus der Situation heraus bestimmt ist und nicht textuell vorerwähnt wurde (siehe oben) und wenn ein restriktiver Relativsatz oder ein anderes klar restriktives Attribut die Referenz eindeutig festlegt. Aber siehe Abschnitt 6 unten zu den Schwierigkeiten und funktionaler (In-)Adäquatheit einer einfachen Operationalisierung. <?page no="214"?> Maria Averintseva - Klisch 214 brauch -, auf den ersten Blick bei den WDD-Belegen stärker ausgeprägt zu sein scheinen. Dies ist ein Punkt, der sicher einer weiteren, quantitativen, Untersuchung bedarf. Was die Textfunktion und deren Zusammenspiel mit der Grammatik betrifft (Hypothesen II und IV), so konnte Folgendes beobachtet werden: a) Deixis: Für dieskonnte erwartungsgemäß der deiktische (vgl. z.B. (18) und (19)) Gebrauch beobachtet werden, inkl. Textdeixis wie in (18): (18) Alle wichtigen Informationen dazu gibt es in unserer Beilage, die in dieser Ausgabe zu finden ist. (Mannheimer Morgen, 9.9.2005) (19) Pokalspielleiter Reiner Held hatte den einzigen fußballfreien Tag dieser Woche genutzt - für Fußball. (Mannheimer Morgen, 22.6.2012) Deiktischer Gebrauch war auschließlich adnominal wie oben; dies hängt jedoch mit der Spezifik der Texte zusammen, die ja medial schriftliche Texte sind und ohne außersprachliche Identifikationshinweise auf die deskriptiv ausreichende sprachliche Form angewiesen sind. Für jenhingegen konnte, wiederum erwartungsgemäß, kein deiktischer Gebrauch gefunden werden. b) Anapher: Der anaphorische Gebrauch konnte für dies- (vgl. z.B. (20), (21)) und für jen- (vgl. (22) und (23)) gefunden werden: (20) So gesehen im Falle Grüns 1 . Dieser 1 ist sich seiner Sache sicher, auf einen Anwalt verzichtet er […] (Mannheimer Morgen, 30.4.2012) (21) Zum Glück ist wenigstens [die Berufsbezeichnung „Architekt“] 1 geschützt, nicht auszudenken welche Berufsgruppen sich alle [dieser Bezeichnung] 1 ermächtigen könnten. Ich empfinde das wirklich als Anmassung. (wikipedia.de, Diskussion: Architektur, 22.3.2004) (22) Wikipedia ist eine Enzyklopädie, in der bekanntes Wissen zusammengestellt wird. Referenz sind [die in der jeweiligen Wissenschaft diskutierten Forschungsstände] 1 , nicht Privatmeinungen über jene 1 . (wikipedia.de, Diskussion: Auferstehung Jesu Christi, 26.11.2009) (23) An Nummer eins spielte [Jan Seib] 1 und kam in der Rückrunde auf 0: 9-Einzel. Kurze Zeit später verkündete der TTC, dass [jener Seib] 1 nun in der Oberliga in der ersten Garnitur zum Einsatz kommen solle. (Mannheimer Morgen, 6.4.2005) Beim anaphorischen Gebrauch konnte kein funktionaler Unterschied zwischen pronominalem ((20) bzw. (22)) und adnominalem ((21) bzw. (23)) Gebrauch beobachtet werden. Auffällig ist, dass in diesen Beispielen, wie in der überwiegenden Mehrheit der Fälle, diesbzw. jensich auf den einzelnen bzw. morphosyntaktisch einzig möglichen Referenten bezieht. <?page no="215"?> ‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? 215 Die Fälle von anaphorisch-deiktischer Referenz, bei der die Ferne/ Nähe zum Antezedenten (ggf. im Zusammenspiel mit der Topikalität; siehe oben) eine Rolle spielt, sind für diesebenfalls belegt; dabei steht diesallerdings nur einmal im Kontast zu jen- (vgl. (26) unten). Für jenwurden lediglich 4 Fälle wie in (24) und (25) gefunden, bei denen es einen Nähe-Ferne-Kontrast gibt und jensich auf einen der beiden Antezedenten bezieht: (24) Den Begriff der „Risikogesellschaft“ prägte der Münchner Soziologe Ulrich Beck. Die Produktion von Reichtum 1 gehe einher mit derjenigen von Risiken 2 , die 2 wie jener 1 sinnvoll zu verteilen seien, so seine These. (Mannheimer Morgen, 31.8.2011) (25) Die Unterscheidung zwischen Slow- 1 und Fast-Ram 2 , also [dem Speicher, der auch von den Customchips] 1? und [jenem, der nur von der CPU genutzt werden konnte] 2? und auch die Bezeichnung, stammt nicht von Emulatorprogrammieren. (wikipedia.de, Diskussion: Amiga 500, 5.6.2008) In zwei der vier Fälle des deiktisch-anaphorischen Gebrauchs von jenerfolgt die referenzielle Wiederaufnahme eindeutig im Einklang mit den üblichen Annahmen, wie in (24), wo jener sich auf den ferneren der beiden Antezedenten Reichtum und Risiken bezieht. In (25) kann dies aus inhaltlichen Gründen kaum der Fall sein: Sofern ich weiß, ist es gerade der Slow-Ram-Speicher, welcher der verschieden genutzte ist, während der Fast-Ram-Speicher derjenige ist, der nur für den Hauptprozessor (CPU) zugänglich ist. Im vierten Fall ist es nicht eindeutig aufzulösen, auf welchen der Referenten sich jenbezieht: (26) Was von dir als „offensichtliche Banalitäten“ heruntergespielt wird, sind übrigens gravierende Mängel im Artikel, die [dem unbedarften Leser] 1 so wie auch [dem interessierten Autoren] 2 durchaus mitgeteilt werden sollten - jenem 1(? 2) , damit er weiß, daß der Artikel schlecht ist, und diesem 2(? 1) , damit er den Artikel evtl. erstmal über [sic] findet und ihn dann überarbeitet oder sich auf der Disku dazu umguckt. (wikipedia.de, Diskussion: Acala, 7.8.2007) Hier ist natürlich die normkonforme Referenzauflösung jenem = dem Leser (der fernere Antezedent) möglich und auch die plausibelste. Nichtsdestotrotz ist meines Erachtens gerade im Kontext von Wikipedia, wo sich jeder als Autor betätigen kann, auch die Lesart, nach der ein Leser den Artikel finden und ihn dann selbst als ein neuer Autor überarbeiten soll, denkbar. 14 14 Auch ist die relative Abfolge der beiden anaphorischen Pronomina in (26), bei der jenvor diessteht, eher unüblich; zumindest habe ich in allen durchgesehenen Grammatiken und Schulbüchern ausschließlich Beispiele mit der Abfolge dies- … jengefunden. Da diesden linear <?page no="216"?> Maria Averintseva - Klisch 216 Auffällig ist auch, dass nur in einem Fall, in (26), die Nähe-Ferne-Unterscheidung tatsächlich mit diesvs. jenkodiert wird: In (24) kontrastiert jenmit die, in (25) mit einer definiten NP mit restriktiven Relativsatz, im vierten (hier aus Platzgründen nicht aufgeführten) Beispiel liegt ein Kontrast zwischen jener und einem Eigennamen vor. Die vier Fälle sind allesamt pronominal. Aufgrund der sehr kleinen Datenmenge können bezüglich der Hypothesen II und IV-ii keine Aussagen gemacht werden, außer dass die anaphorisch-deiktischen Fälle von jenselten zu sein scheinen. Die vier vorhandenen Belege suggerieren eine gewisse Unsicherheit bei der Referenzkodierung und -auflösung. Auch fällt auf, dass die Belege alle pronominal sind, was erstmal im Einklang mit der Hypothese IV-ii ist, aber einer Überprüfung an einer größeren Datenmenge bedarf, und dass in den Belegen der Kontrast zwischen jenfür fernere und einem anderen sprachlichen Ausdruck für nähere Antezedenten besteht, nicht in erster Linie zwischen dies- und jen-. Dies spricht für die von Duden (2016) beobachtete Abschwächung des Distanzkontrasts. c) Determinativer Gebrauch: Gemäß der Hypothese II wurden für jen-, nicht jedoch für dies-, Belege mit determinativem Gebrauch gefunden: (27) Du hast erkannt, dass sich die Mehrheit wohl für das Lager interessiert. […] Jene, die den Lagerteil Birkenau suchen, finden den Link im Artikel KZ Auschwitz. (wikipedia.de, Diskussion: Auschwitz, 15.3.2011) (28) Die Physik ist unter Naturwissenschaften jene, deren Begriffe am klarsten definiert sind. (wikipedia.de, Diskussion: Drehmoment, 13.12.2008) Es konnte dabei weder eine klare Korrelation mit Plural noch mit adnominalem Gebrauch festgestellt werden. Es konnten auch Belege mit nicht-spezifischer Referenz gefunden werden wie (27) mit pronominalem jenin Plural sowie definitorische Belege wie (28), in welchen jeneinen Teil der Prädikativ-NP bildet. Man kann aufgrund meiner Daten keinerlei quantitative Schlüsse ziehen, jedoch kann eine gewisse Tendenz beobachtet werden, dass jenin determinativer Funktion sich mit derjenigüberschneidet. 15 d) Anamnestischer Gebrauch: Belege mit anamnestischem Gebrauch wurden sowohl für dies- (allerdings ausschließlich bei WDD) und für jen- (in MM und WDD) gefunden: nächsten Antezedenten wählt, ist die Entfernung zwischen dem Antezedenten und diesmöglichst kurz und weitere referierende Ausdrücke dazwischen werden möglichst vermieden. 15 Falls diese Tendenz tatsächlich festzustellen ist, so wäre es denkbar, dass es sich dabei um eine Art morphologische Rückbildung handelt, da derjenigmorphologisch gesehen eine Ableitung von jenist. Als einen möglichen Grund könnte man die morphologische Komplexität und die untypische Flexion von derjenigvermuten: Derjenigwird „doppelt flektiert: der erste Bestandteil wie der definite Artikel, der zweite wie ein Adjektiv nach bestimmtem Artikel: derjenige, desjenigen usw.“ (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 1935). <?page no="217"?> ‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? 217 (29) Das ist bei vielen Unternehmen, das wird aber höchstens als Eigenschreibweise bezeichnet, aber nicht als Firmenname. --K@rl Genau, das dient der Eigenwerbung bzw. Eigendarstellung, hat aber nichts mit der eigendlichen Schreibweise zu tun. --TH.CB So einfach ist das tatsächlich nicht und ist ein Fall für dieses Meinungsbild. Als Abkürzung von Albrecht-Discount wäre nach auch die Schreibweise ALDI denkbar, […] (wikipedia.de, Diskussion: Aldi, 16.6.2011) (30) Selbst das Unmögliche erscheint möglich: Warum sollte eine Figur, die einem Buch entspringt, keine Gefühle haben und kein Heimweh nach seiner fiktiven Welt empfinden wie eben jener Feuerspucker Staubfinger? (Mannheimer Morgen, 20.12.2012) In beiden Fällen wird mit der Demonstrativ-NP auf etwas bzw. jemanden referiert, das/ der vom Sprecher als für ihn und die Adressaten bekannt vorausgesetzt wird, ohne dass der Referent bereits textuell genannt worden wäre. In (29) wird auf ein Meinungsbild im terminologischen Sinne des Wikipedia-Schreibens referiert; 16 in der Diskussion zuvor wurde kein Meinungsbild erwähnt, so dass hier zum einen nicht von einem anaphorischen Gebrauch ausgegangen werden kann, zum anderen ein wahrscheinliches gemeinsames Wissen über die Wikipedia-Konventionen eine anamnestische Referenz gerechtfertigt. In (30) kann man ebenfalls von einer anamnestischen Referenz ausgehen, wie oben gezeigt (der Beleg wurde bereits als Bsp. (13) diskutiert). e) Emotionalisierender Gebrauch (Hypothese III): Belege mit klarem emotionalisierendem Gebrauch kamen in meinen Daten nicht vor. In Abschnitt 5 werde ich im Rahmen meines Analysevorschlags für die Semantik und Pragmatik von jenauf den emotionalisierenden Gebrauch zurückkommen. Nach dieser Datensichtung ergibt sich für dies- und jenfolgendes Bild: Sie haben nicht nur, wie wiederholt festgestellt wurde, unterschiedliche Häufigkeit und unterschiedliche Gebrauchsregister oder stilistische Konnotationen, sondern auch unterschiedliche Funktionen in gleichen Texten. Insbesondere kann man nicht von einem Nähe-Ferne-Kontrast im Sinne einer (textuell-) räumlichen Entfernung innerhalb des von Sprecher und Hörer geteilten Raums bei dies- und jenals deren funktionalen Hauptunterschied sprechen, da eine solche kontrastierende Verwendung sehr selten vorkommt. Jedoch wird jenbei weitem nicht ausschließlich in determinativer Funktion gebraucht; dies macht es plausibel, dass jenklar einen Bedeutungsbeitrag jenseits der bloßen 16 Meinungsbilder sind „in der deutschen Wikipedia ein Mittel, um generelle Fragen zu klären, die sich bei der Arbeit an der Enzyklopädie ergeben“, indem eine in einer lokalen Diskussion nicht zu lösende Frage öffentlich gestellt wird (Einberufen eines Meinungsbilds); vgl. https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Wikipedia: Meinungsbilder (Stand: 27.12.2016). <?page no="218"?> Maria Averintseva - Klisch 218 Definitheit haben muss. Abschnitt 6 geht nun der Frage nach, wie dieser Bedeutungsbeitrag aussehen kann. 6. Analysevorschlag Ich schlage vor, dass jenim heutigen Deutsch nur in dem Sinn als ein distales Demonstrativ zu bezeichnen ist, dass es dazu gebraucht wird, kognitive Distanzierung zu markieren: 17 (i) Durch den Gebrauch von jenzur Referenz auf ein Verweisobjekt R signalisiert S dem H, dass seine Referenz vermittelt über ein Bezugsobjekt R1 aufzulösen ist, wobei R1 sich nicht im gemeinsamen ‘mentalen Raum’ des S und H befindet. Unter dem gemeinsamen mentalen Raum des S und H verstehe ich dabei ein vierdimensionales Raum-Zeit-Objekt, welches den physischen Raum, den S und H zur Äußerungszeit gemeinsam einnehmen, sowie das geteilte private Wissen des S und H zur Äußerungszeit beinhaltet. 18 Für die Modellierung in (i) übernehme ich die Annahme von Vuillaume (1986), dass ein Demonstrativ nicht unmittelbar auf einen Referenten verweist (anders als die Personalpronomina du oder ich), sondern die Identifikation des Referenten über ein anderes Referenzobjekt vermittelt erfolgt. So signalisiere der Ausdruck dieses Buch, dass die Informationen, die eine Identifikation des Buches ermöglichen, „vor Ort der Äußerung“ (ebd., S. 307) zu finden sind (eine Zeigegeste; eine textuelle Nennung usw.). Deshalb unterscheide ich zwischen dem Verweisobjekt R, dem Referenten der jen-NP, und dem für diesen Verweis wesentlichen Bezugsobjekt R1, dem Träger der für die Identifizierung notwendigen Informationen im Sinne von Vuillaume (1986). Diese Unterscheidung geschieht in Anlehung an die Differenzierung zwischen dem Verweisort und dem Bezugsort (die sich wiederum an diejenige zwischen der Ereigniszeit und der Referenzzeit seit Reichenbach 1947 in der Domäne der 17 Die ‘kognitive Distanzierung’ ist ein Versuch, die mehrfach in der einschlägigen Literatur zu findenden Aussagen zu dem ‘nicht-räumlichen’ Charakter der distalen Bedeutung von jeneinheitlich zu modellieren, vgl. schon Behaghel (1923, S. 290), der von einer „geistige[n] Entfernung“ des jen-Referenten spricht, oder Gunkel (2007b, S. 8): „Was jener an Distanz ausdrückt, ist metaphorisiert (‘subjektiviert’)“. 18 Anders als bei Common-Ground-Ansätzen, die Common Ground als den für den aktuellen Diskurs relevanten Ausschnitt aus dem gemeinsamen Wissen von S und H definieren (z.B. Stalnaker 2002), ohne nach der Quelle und der Art des Wissens zu differenzieren, ist für meine Analyse die Konzeptualisierung des (gemeinsamen) Wissens als privat vs. öffentlich entscheidend. Diese Unterscheidung ähnelt der zwischen individual mental concepts und public concepts, welche die pragmatische Relevanztheorie macht, vgl. Wilson/ Sperber (2012, Kap. 2). Es ist sicher lohnenswert, diese Ähnlichkeit weiter zu untersuchen. <?page no="219"?> ‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? 219 Zeitreferenz orientiert), die Ehrich (1983) für die lokalen Deiktika hier/ da/ dort im Deutschen vorschlägt. Die Modellierung in (i) soll am Beispiel (31) erläutert werden: (31) […] kann es nicht schaden, den Blick auch einmal nach Timbuktu, jener sagenumwobenen Stadt aus Lehm am mächtigen Nigerfluss in Mali, Afrika, zu richten. Der Publizist Roger Willemsen hat dies (wie berichtet) in seiner Rede […] getan und uns wissen lassen, dass Bundespräsident Heinrich Lübke dort im Jahre 1956 eine Bronzeplakette eingeweiht habe […] (Mannheimer Morgen, 12.1.2012) Wenn der S in (31) zum Referieren den Ausdruck jene Stadt verwendet, verweist er damit auf die reale Stadt Timbuktu (R), die über ein anderes Referenzobjekt R1 (hier das mentale Konstrukt einer „sagenumwobenen“ Stadt) vermittelt zugänglich ist, wobei R1 sich außerhalb des gemeinsamen mentalen Raums des S und H befindet, d.h. zum Äußerungszeitpunkt weder situativ zugänglich noch im geteilten privaten Wissen zu finden ist. Eine jen-NP hat also stets einen Bezugsreferenten R1, der außerhalb des geteilten mentalen Raums des S und H liegt. 19 In der Regel befindet sich der Verweisreferent R, d.h. der Referent der jen-NP selbst, ebenfalls außerhalb des geteilten mentalen Raums des S und H, wie im Beispiel (31) oben, bei dem es plausibel ist, anzunehmen, dass der Schreiber und die (potenziellen) Leser/ innen weder in Timbuktu sind noch geteiltes privates Wissen über Timbuktu haben. Jedoch ist die Platzierung von R außerhalb des geteilten mentalen Raums keine Bedingung für den Gebrauch von jen-, wie (32) zeigt: 20 (32) a. Der Rechtsstaat, jene uns so wohlvertraute Institution, ist in Gefahr. b. Diese Leute, vor allem jene, die wir beide gut kennen, haben […]. Die Semantik der Attribute in den jen-NPs in (32) macht deutlich, dass S und H durchaus gemeinsames Wissen über R (der Rechtsstaat bzw. bestimmte Leute) haben, ob dieses nun privat ist oder nicht, kann ohne Kontext nicht 19 Im Gegensatz dazu markiert diesdas Herstellen der kognitiven Nähe, wobei R1 im geteilten mentalen Raum des S und H lokalisiert ist, vgl. (i). (i) Ich liebe diese Stadt! (S zum H, beide stehen in Tübingen auf der Neckarbrücke und blicken auf die Altstadt) Wenn der S den Ausdruck diese Stadt in (i) verwendet, verweist er auf eine bestimmte Stadt (Referenzobjekt R), hier Tübingen, die über ein anderes Referenzobjekt R1 vermittelt zugänglich ist; hier sind es die Altstadthäuser am Neckarufer, die für den S und den H sichtbar sind. In (i) befindet sich R1 im geteilten physischen Raum des S und H, es handelt sich also um einen deiktischen Gebrauch. 20 Für diese Beispiele bin ich einem/ einer anonymen Gutachter/ in dankbar. <?page no="220"?> Maria Averintseva - Klisch 220 beurteilt werden. Die Verankerung der Referenz erfolgt jedoch in beiden Fällen über einen Referenten R1, welcher sich zum Äußerungszeitpunkt nicht im gemeinsamen mentalen Raum befindet (frühere Erfahrungen mit dem Rechtsstaat bzw. mit den Menschen, von denen die Rede ist). Anders in (32a') mit dies-: (32a') Der Rechtsstaat, diese uns so wohlvertraute Institution, ist in Gefahr. Hier wird R durch die Wahl des proximalen Demonstrativs im gemeinsamen mentalen Raum verankert, als R1 ist eine aktuelle gemeinsame Einstellung zum Rechtsstaat denkbar. Diese Verankerung außerhalb oder innerhalb des gemeinsamen mentalen Raums ist nichts objektiv Gegebenes, sondern eine sprecherseitige Wahl: Der Sprecher präsentiert den Referenten als in diesem Sinne ‘fern’, weswegen ich nicht von kognitiver Distanz, sondern von einer Distanzierung (durch den Sprecher) rede, vgl. (33): 21 (33) Im Januar dreiundvierzig sprach man viel von [der Stadt Stalingrad] 1 . Da Matzerath jedoch den Namen [dieser Stadt] 1 ähnlich betonte, wie er zuvor Pearl Harbour, Tobruk und Dünkirchen betont hatte, schenkte ich den Ereignissen in [jener fernen Stadt] 1 nicht mehr Aufmerksamkeit als anderen Städten, die mir durch Sondermeldungen bekannt wurden. (Günther Grass, Die Blechtrommel) Auffällig hier ist die vermeintliche Austauschbarkeit der beiden Demonstrativa: Während die erste anaphorische Wiederaufnahme des Stadt-Referenten mit dieser Stadt geschieht, wird für die zweite jener fernen Stadt gebraucht, natürlich ohne dass sich die örtliche Lage der Stadt relativ zu S und H geändert hätte. Um diese vermeintliche Austauschbarkeit zu erfassen, schlage ich vor, zwischen den at-issue- und den not-at-issue-Bedeutungsanteilen im Sinne von Simons et al. (2011) zu differenzieren: Der at-issue-Bedeutungsbestandteil, der für die Wahrheitsbedingungen relevant ist und kompositional verrechnet wird, ist bei beiden Demonstrativa dies- und jenidentisch. Dies ist zum einen die Definitheitssemantik, die Demonstrativa mit dem definiten Artikel teilen; Definitheit sei dabei vereinfachend als die Markierung der eindeutigen Identifizier- 21 In Consten/ Averintseva-Klisch (2010, S. 9-11) besprechen wir Belege mit zeitlicher Referenz, die deutlich zeigen, dass eine zeitliche Entfernung bei jenbzw. Nähe bei dieskeine objektive ist, sondern eine vom S konstruierte. So wird in (i) ein 15 Jahre zurück liegendes Ereignis durch die Verwendung von dies- (in Kombination mit dem narrativen Präsens) ‘vergegenwärtigt’: (i) An diesem Nachmittag ist Helmut Kohl am Ziel seiner Wünsche. „Herr Präsident, ich nehme die Wahl an.“ […] Man schreibt den 1. Oktober 1982. […] Es ist eine leidenschaftliche Debatte, die das Parlament an diesem 1. Oktober vor 15 Jahren führt. <?page no="221"?> ‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? 221 barkeit im Kontext verstanden. 22 Zum anderen aber, und das unterscheidet Demonstrativa von dem definiten Artikel, haben sie in ihrer Semantik einen zusätzlichen Parameter (vgl. z.B. Elbourne 2008, S. 432), welchen ich als Bezug zum S und H modelliere. Nimmt man die Zeige-Funktion der Demonstrativa ernst, so muss es beim Zeigen neben der gezeigten Entität auch immer jemanden geben, der zeigt, und jemanden, dem gezeigt wird. Auf der not-at-issue-Ebene jedoch unterscheiden sich die beiden Demonstrativa, indem jeneinen nicht-wahrheitsfunktionalen, nicht-kompositionalen Bedeutungsbestandteil mit sich trägt, welcher einen sprecherseitigen Interpretationshinweis darstellt (Portner 2007), und zwar in diesem Fall, dass sich der S von R im obigen Sinne distanziert: (ii) at-issue-Bedeutung von jen-: der Referent R ist im Kontext eindeutig bestimmbar (= definit; auch dies-; der/ die/ das), und zwar relativ zu S und H (= demonstrativ; auch dies-); not-at-issue-Bedeutung von jen-: der Referent R wird vom S als via R1 außerhalb des gemeinsamen mentalen Raums von S und H verankert präsentiert. In (33) ist der textuell eingeführte Referent R (Stalingrad) objektiv an einem bestimmten Ort in der realen Welt gegeben, aber der Sprecher verankert den Referenten durch die Wahl seines Referenzmittels im gemeinsamen mentalen Raum bzw. außerhalb dieses Raums. Die Austauschbarkeit von dies- und jenist also nur zum Teil, bezüglich des wahrheitswertrelevanten Bedeutungsanteils, gegeben: Der Satz Matzerath betont den Namen der/ dieser/ jener Stadt. ist dann wahr, wenn die als Matzerath identifizierbare Person den Namen einer im Kontext eindeutig (und bei dies- und jenrelativ zu S und H) bestimmbaren Stadt betont. Darüber hinaus trägt aber jenden Bedeutungsbestandteil der kognitiven Distanzierung: In (33) unterstützt die Wahl von jener anstelle eines Artikels das, was lexikalisch durch fernen kodiert ist: Der S bringt hier zum Ausdruck, dass der Referent Stalingrad ihn und den potenziellen H (Leser) nichts angeht, weil diese Stadt örtlich weit weg ist und dadurch auch die Geschehnisse dort irrelevant sind. 22 Die Analyse der Definitheit ist in den letzten hundert Jahren vermutlich das Thema schlechthin in der Semantik (und Pragmatik). Allen teilweise recht unterschiedlichen Analysen ist jedoch Folgendes gemeinsam: Zum einen der Bezug zum Kontext, zum anderen der besondere Status des Referenten im Kontext; hierbei wurden Einzigartigkeit, Bekanntheit (zur Zusammenfassung der verschiedenen Ansätze zu diesen beiden Kategorien siehe Lyons 1999, S. 1-14) und höchste Salienz (von Heusinger 2013, S. 369) als die relevanten Konzepte vorgeschlagen. Für meine Annahmen ist die genaue Modellierung zunächst weniger relevant, sondern lediglich die beiden Aspekte Kontextbezug und eine wie auch immer geartete eindeutige Bestimmbarkeit. <?page no="222"?> Maria Averintseva - Klisch 222 Eine Unterstützung für die Differenzierung des Bedeutungsbeitrags der Demonstrativa bringt der historische Blick. Die Grammatiken und Wörterbücher der älteren Stufen des Deutschen äußern sich deutlich vorsichtiger zum vermeintlichen dies-/ jen-Kontrast als beispielsweise Duden (2011). So Paul (2007, S. 370) zum Mittelhochdeutschen: „Eine strenge semantische Differenzierung der drei Demonstrativpronomina der, dirre, jener lässt sich nicht nachweisen.“ Es ist also anzunehmen, dass es sich bei jenvon Anfang an um eine komplexe Bedeutung mit unterschiedlichen Bestandteilen handelt. 23 Die Modellierung in (ii) macht deutlich, warum der in den Referenzwerken postulierte deiktische Gebrauch von jenkaum vorkommt (und wenn, dann unnatürlich klingt). Der Referent R1 muss sich außerhalb des geteilten mentalen Raums des S und H, somit auch außerhalb des Situationsraums, befinden; man würde also auf etwas Sichtbares vermittelt über etwas Nicht-Sichtbares zeigen; diese Komplexität macht die Verwendung unnatürlich. Ebenfalls sind die Schwierigkeiten bei dem Verstehen der anaphorisch-deiktischen Fälle wie (3) oben, hier wiederholt als (34), vorhersagbar: (34) Markus und Paul lesen - dieser ein Buch, jener eine Zeitung. Hier gibt der Sprecher keine kontextuelle Legitimierung für die unterschiedliche not-at-issue-Verankerung der beiden Referenten. Stattdessen wird so getan, als ob beide Demonstrativa innerhalb eines und desselben Verweisraumes, in dem beide verankert sind, agieren. Dies widerspricht zwar nicht der at-issue-Bedeutung der beiden Demonstrativa, so dass der Satz nicht ungrammatisch wirkt. Es berücksichtigt jedoch nicht den not-at-issue-Bedeutungsanteil von jen-, sodass, wie oben dargestellt, die Leser Interpretationsprobleme bei solchen Sätzen haben und auf syntaktische Parallelität als Interpretationsstrategie ausweichen. 24 Ist jedoch eine unterschiedliche Verankerung kontextuell plausibel, wie im folgenden Beispiel aus einer Online-DaF-Grammatik 23 Eine Alternative wäre die Annahme, dass dies- und jensemantisch (und pragmatisch) identisch sind und sich jenausschließlich stilistisch abhebt, da es auf die gehobene Schriftsprache festgelegt ist (wie ein(e) der Gutachter/ innen vorschlägt). Dagegen sprechen meines Erachtens gerade die literarischen Fälle wie (33), bei denen man von bewusstem (und m.E. wie oben skizziert in gewisser Weise kontrastierendem) diesvs. jen-Gebrauch ausgehen kann, ohne dass dabei ein Sprecher- oder ein Situationswechsel stattfindet, der den Wechsel eines Stilregisters bedingen könnte. In Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ werden 11 der insg. 22 jen-Belege von dem Ich-Erzähler während der späteren Zeiten des Liebesleids zur Referenz auf die früheren, glücklichen Zeiten verwendet; die Referenten sind dabei außerhalb des aktuellen mentalen Raums (R1: damaliges Empfinden) verankert. 24 Eine Frage, der in diesem Aufsatz nicht nachgegangen werden kann, ist, ob diachron gesehen eine Verschiebung des Ferne-Konzepts bei jenvon „fern im geteilten (mentalen) Raum“ zu „fern als außerhalb des geteilten mentalen Raums“ stattgefunden hat oder ob jen- (wie das Zitat von Paul suggeriert) eigentlich nie ein distales Demonstrativ im ersteren Sinne war. Eine exemplarische Untersuchung von „Die Leiden des jungen Werthers“ (erschienen 1774) lässt <?page no="223"?> ‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? 223 (www.deutschplus.net; der Kontext-Satz wurde von mir hinzugefügt), so ist die Interpretation deutlich einfacher und der Satz weniger unnatürlich: (35) (Sie denkt an [ihre eigene Hochzeit vor zehn Jahren] 1 .) Dieser Tag ist warm, [jener Tag] 1 war ziemlich kühl. Da hier die Zeitangabe in Kombination mit den unterschiedlichen Tempora klar eine Verankerung von jener Tag zeitlich außerhalb des gemeinsamen mentalen Raums legitimiert, ist die Verwendung im Einklang mit beiden Bedeutungskomponenten von jen-. Mit der hier skizzierten Analyse der Bedeutung von jenkönnen die konkreten textuellen Gebrauchsweisen von jeneinheitlich erfasst werden. Die Verankerung außerhalb des gemeinsamen mentalen Raums kann zum Effekt einer räumlichen (vgl. das Beispiel 31 oben), einer zeitlichen (36) und/ oder einer emotionalen (37) Distanzierung dienen: (36) Aber dass das hier ein Versuch ist, Hugo Distler vom Makel des Nationalsozialismus reinzuwaschen hört sich zwar kernig und resolut an, ist aber nicht belegt. Viele Künstler, die das Pech hatten in jener Zeit jung zu sein, sahen oft keine andere Möglichkeit, sich zu betätigen, als sich mit den Verhältnissen zu arrangieren. (wikipedia.de, Diskussion: Hugo_Distler, 5.5.2009) (37) Ein gerader Straßenzug führt von Norden nach Süden, nüchterne Hausfassaden beherrschen die Sicht, nur hier und da strecken fast schüchtern Barockhäuser ihre verspielten Fassaden hervor. Inmitten jener Schmucklosigkeit am Breiten Weg in Magdeburg entsteht „Die Grüne Zitadelle“ […]. (Mannheimer Morgen, 15.1.2005) In (36) ist die anaphorische NP jene Zeit außerhalb des gemeinsamen mentalen Raums verankert, und zwar über die zeitliche Distanz. 25 In (37) befindet sich nicht nur die beschriebene Straße örtlich weit weg vom Schreibenden und seinen Lesern (die Zeitung erscheint in Mannheim), sondern auch emotional gesehen wird der Referent zwar mit einer NP mit dem eher negativ belegten Kopfnomen Schmucklosigkeit beschrieben, die negative Emotion wird aber keineswegs als stark präsentiert. Vielmehr findet eine emotionale Distanzierung statt: Der Referent könnte aufgrund seiner Beschaffenheit (schmucklos) kaum positive Emotionen hervorrufen, da er aber kognitiv fern vom S und H ist, kann er generell keine starken Emotionen verursachen. Wie keine relevanten Unterschiede zum heutigen Gebrauch feststellen; allerdings können auch hier bei insgesamt nur 22 jen-Belegen keine quantitativen Schlüsse gezogen werden. 25 Der Gebrauch von jenfür die zeitliche Referenz ist zumindest in meinen Daten sehr häufig: 41 der betrachteten 164 Fälle sind NPs wie jene Zeit, jene Nacht, jene Tage usw. <?page no="224"?> Maria Averintseva - Klisch 224 in 2.5 gezeigt wurde, ist diesbesonders gut zum Referieren auf Entitäten, die starke negative oder positive Emotionen beim Sprecher auslösen, geeignet, vgl. auch (38): (38) Rechtsbruch als Vorbild für Deregulierung? Dieser Idiot von Kartellamtschef gehört sofort gefeuert. (https: / / twitter.com) Jener Idiot wäre in diesem Kontext nicht angemessen. Mit der oben skizzierten Analyse kann dies systematisch nachvollzogen werden: Durch den Gebrauch von dieslegt der S nahe, dass R1 (ein bestimmter Vorfall, der den Ärger auslöst) sich im geteilten mentalen Raum des S und H befindet. S drückt seine unmittelbare Emotion gegenüber R (Kartellamtschef) aus und appelliert zugleich an den H, der ja das entsprechende Wissen teilt, seine Emotion zu teilen; dadurch entsteht der Effekt einer Nähe zwischen dem S und dem H über die möglicherweise geteilte Emotion. Deutlich anders ist die Wirkung der NP jener Idiot in (39): (39) „Böse Leute, diese Roten“, kommentierte Signora Cristina. „Diese Roten, die gesiegt haben, sind wir“, fuhr Spiccio fort. „Trotzdem böse Leute“, beharrte Signora Cristina. „Im Jahre 1901 wollte jener Idiot von deinem Vater, dass ich das Kruzifix aus der Schule entferne.“ „Alte Zeiten“, sagte Spiccio. „Jetzt ist es anders! “ (G. Guareschi, Don Camillo and Peppone, www.deutschunddeutlich.de/ contentLD/ GD/ GT83b) Hier wird R1 (der Vorfall, der den Ärger auslöst) von Signora Cristina als vor langer Zeit stattgefunden präsentiert; er ist plausiblerweise nicht im geteilten mentalen Raum der Sprecherin und des Hörers (der damals noch ein Kind war). Auch hat die Sprecherin vermutlich keine unmittelbare Emotion gegenüber R (den Vater von Spiccio), so dass ihre Aussage nicht als ein Appell an den H, irgendeine Emotion zu teilen, wirken kann. Vielmehr wird hier eine frühere Emotion „zitiert“; vgl. Averintseva-Klisch (2016b) zu den emotionalisierenden Demonstrativa. Entsprechend kann auch der Unterschied bei der anamnestischen Verwendung von dies- und jen- (siehe Beispiele (12) und (13) in Abschnitt 2.3) beschrieben werden: Beiden Demonstrativa in dieser Verwendung ist ein Appell an das unterstellte geteilte Wissen gemeinsam. Die Quelle dieses Wissens aber wird durch die Auswahl des einen oder des anderen Demonstrativums als gemeinsames privates vs. gemeinsames allgemein-öffentliches Wissen präsentiert (siehe auch Averintseva-Klisch 2016a, S. 278). <?page no="225"?> ‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? 225 7. Ausblick: Überlegungen für die Grammatikschreibung und die Didaktik Der oben skizzierte Vorschlag für die Bedeutung von jen- (und dies-) setzt zum einen die Unterscheidung der at-issue- und not-at-issue-Bedeutungkomponenten voraus, zum anderen nimmt er dezidiert den funktionalen Blickwinkel ein: Es geht darum, die textuellen Funktionen von Demonstrativa präzise aus dem Zusammenspiel der Bedeutungskomponenten abzuleiten. Dabei wird von einem Form-Funktions-Zusammenhang ausgegangen und davon, dass das Einbeziehen von Sprecher und Adressaten in die Modellierung der Bedeutung notwendig ist. Dies rückt meinen Vorschlag in die Nähe der funktional ausgerichteten Grammatiken wie z.B. Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997), Weinrich (2003) oder Hoffmann (2014), auch wenn der Vorschlag an sich relativ theorie- und terminologieneutral ist. Wichtig für die (nutzer-)grammatische Beschreibung und die (nicht nur schulische) Vermittlung erscheinen mir dabei - neben dem expliziten Einbeziehen des S und H und dem genauen Blick auf die textuelle Funktionen - folgende zwei Punkte: Erstens, anders als in der einschlägigen Literatur, die in Abschnitt 2 referiert wurde, erscheint es mir problematisch, von einer textuellen Funktion eines konkreten Demonstrativs - anaphorisch oder deiktisch oder anamnestisch oder determinativ - auszugehen. Auch wenn diese Funktionen sich theoretisch definitorisch unterscheiden oder gar eigentlich ausschließen müssten (z.B. textuell gegeben bei Anapher vs. situationell gegeben bei Deixis; vorerwähnt/ situationell gegeben bei Anapher und Deixis vs. Ersterwähnung bei anamnestischer Funktion): De facto können in konkreten Fällen Eigenschaften von mehreren Verwendungen zugleich zutreffen, vgl. (40) und (41): (40) Als Elias Leondaris die Zuschauer auffordert, mitzutanzen, und diese auch dazu bereit sind, da weht ein Hauch von Stoupa durch Ladenburg. Stoupa − Filmfreunde erinnern sich − ist jener Ort auf dem Peleponnes, in dem der Hollywoodstreifen „Alexis Sorbas“ spielt. (Mannheimer Morgen, 27.9.2005) In (40) ist es nicht leicht zu entscheiden, ob es sich um eine determinative Funktion der jen-NP handelt, da der restriktive Relativsatz ja für die Identifizierung des Referenten ausreicht, oder um eine anaphorische Referenz, da der Referent bereits im Satz davor genannt wurde, 26 oder doch um eine 26 Die jen-NP bildet hier zwar das Prädikativ des Satzes, syntaktisch gesehen kann man jedoch von einem Identitätssatz ausgehen, bei dem auch die zweite NP referierend ist, vgl. Geist (2013, S. 485). <?page no="226"?> Maria Averintseva - Klisch 226 anamnestische Referenz, da man hier einen expliziten Appell an das bestehende gemeinsame Wissen über den Referenten findet. (41) [Mehrere Zeichnungen auf einer Doppelseite, z.B. am Strand: Kinder in Strandkleidung, ein Junge fragt: „Gibt's hier irgendwo Eis? “, drei Mädchen antworten auf Englisch, Französisch bzw. Italienisch, dass sie Deutsch nicht verstehen; ein Dialog, bei dem ein Partner eine Gedankenblase mit lauter Fragezeichen hat; usw.] [Aufgabentext oben auf der zweiten Seite: ] Wo liegt das Problem? Erläutert, was die Zeichnungen ausdrücken. Spielt diese Situationen in der Klasse nach […] (Verstehen und Gestalten 2 (2004), S. 6f.) Auch in diesem Schulbuch-Beispiel ist es nicht eindeutig, ob die NP diese Situationen sich deiktisch auf die bildlich dargestellten Situationen bezieht oder ob sie dem anaphorischen Bezug auf die NP die Zeichnungen dient, zum Verweis auf die Situationen auf den Zeichnungen als indirekte Anapher im Sinne von Consten/ Schwarz-Friesel (2007, S. 284-286). Deswegen schlage ich vor, die Konzepte anaphorisch, deiktisch, anamnestisch und determinativ nicht als distinkte Funktionen der demonstrativen Referenz aufzufassen, sondern als ihre deskriptiven funktionalen Eigenschaften, die kumulativ auftreten können, umzudeuten (siehe Tab. 3 unten). Zweitens schlage ich vor, das Konzept der mentalen Annäherung vs. Distanzierung im Sinne eines Sprecherappells an eine bestimmte Quelle des gemeinsamen Wissens als eine Kategorie der Grammatikschreibung für das Deutsche anzunehmen. Es kann nicht in diesem Aufsatz ausgeführt werden, aber ich sehe es als durchaus aussichtsreich, die Kategorie der mentalen Annäherung vs. Distanzierung für die Modellierung des Gebrauchs von Konjunktiv vs. Indikativ in der indirekten Rede zu nutzen. Wie oben dargestellt, verstehe ich mentale Annäherung vs. Distanzierung als eine vom S durch die Wahl seiner sprachlichen Mittel vorgenommene Verankerung innerhalb oder außerhalb des gemeinsamen mentalen Raums. Dies unterscheidet dieses Konzept von den Merkmalen <Nähe> und <Ferne> bei Weinrich (2003), die beide auf das „neutrale Merkmal“ <Kontakt> zurückzuführen sind: Wesentlich für meine Analyse ist, dass die mentale Distanzierung gerade keinen „Kontakt“ im Sinne der räumlichen oder mentalen Nähe beinhaltet. In diesem Verständnis sind mentale Annäherung vs. Distanzierung auch viel konkreter als die Konzepte der Nähe vs. Distanz(ierung) bei Koch/ Oesterreicher (1985) oder Hennig (2009), auch wenn sie sicherlich unter dem viel allgemeineren Konzept der Nähe/ Distanz zu subsumieren sind. So gesehen ist es auch zu erwarten, dass jenauf die (konzeptionelle) Schriftsprache <?page no="227"?> ‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? 227 festgelegt zu sein scheint: Als „Sprache der Distanz“ (Koch/ Oesterreicher 1985) ist diese prädestiniert, um über Entitäten zu reden, die nicht im gemeinsamen mentalen Raum vorhanden sind. Gemäß diesen beiden Punkten müssen die in Abschnitt 2 referierten funktionalen Eigenschaften der Referenz mit einem demonstrativen Ausdruck wie folgt umformuliert werden, wobei es stets um den Gebrauch des Ausdrucks D durch den Sprecher S gegenüber dem Hörer H zur Referenz auf ein Objekt R geht: Terminus Definition anaphorisch S verweist mit D auf R, wobei R bereits textuell eingeführt wurde, oder ist via R', einen anderen sprachlichen Ausdruck, der im systematischen Zusammenhang zu R steht, im Text verankert 27 deiktisch S verweist mit D auf ein nicht-textuell gegebenes, perzeptuell wahrnehmbares (in der Situation real oder als Abbildung vorhandenes) R anamnestisch S appelliert mit der Verwendung von D an H, den referenziellen Bezug von D auf R aufgrund des gemeinsamen Wissens herzustellen (in der Regel ist R weder textuell noch situativ gegeben, da ein expliziter Appell sonst überflüssig ist) determinativ S appelliert mit der Verwendung von D an H, den referenziellen Bezug von D auf R aufgrund der eindeutigen restriktiven Attribute in D herzustellen emotionalisierend S bringt durch die Verwendung von D zum Bezug auf R seine starke positive oder negative Emotion gegenüber R zum Ausdruck mental nah/ fern S kennzeichnet durch die Verwendung von D zum Bezug auf R den Referenten R als innerhalb bzw. außerhalb des gemeinsamen mentalen Raums von S und H via einen Referenten R' verankert Tab. 3: Einige Eigenschaften der demonstrativen Referenz 28 Insbesondere für die (schulische) Vermittlung des sprachlichen Wissens über Demonstrativa (und die Referenzmittel im Allgemeinen) ist es unabdingbar, 27 Unter welchen Bedingungen die indirekte Anaphorik möglich ist, siehe Consten/ Schwarz- Friesel (2007, S. 286). 28 In dieser Tabelle werden nur die in diesem Aufsatz besprochenen Eigenschaften reformuliert, so dass die Tabelle keineswegs einen Einspruch auf die umfassende Darstellung aller relevanten Eigenschaften der demonstrativen Referenz erhebt. So ist beispielsweise für die demonstrative Referenz außerdem die Nicht-Topikalität des Referenten wichtig, siehe oben, Abschnitt 2.2. <?page no="228"?> Maria Averintseva - Klisch 228 auf die Rollen der S und H und deren Interaktion einzugehen: Wie oben gezeigt wurde, ist der Beitrag der Demonstrativa zur Äußerungsbedeutung sonst nicht adäquat zu erfassen. Für die Wahl des Artikelwortes oder Pronomens gibt die Grammatik im engeren Sinne außer der (In-)Definitheit oder der KNG-Form kaum etwas vor. Das Wissen über Demonstrativa und deren funktionale Besonderheiten soll natürlich an „echten Texten“ er- und vermittelt werden, wie es das langjährige Anliegen des funktionalen Grammatikunterrichts ist (z.B. Hoffmann 2014), und zwar durch die Reflexion und Diskussion der funktionalen Unterschiede unter Einbezug des Sprechers/ Schreibers und seiner Absichten sowie des Adressaten. 29 Es erstaunt, dass die schulischen Lehrwerke noch stark mit traditioneller Grammatikvermittlung behaftet sind und die Sprache de facto abstrakt als ein System der Formen thematisiert wird, während die Bildungspläne (exemplarisch sei hier der Bildungsplan Baden-Württemberg 2016 für das Fach Deutsch am Gymnasium genannt) explizit die Sprache in ihrer Funktion thematisieren und klar von Ziel- und Adressatengerichtetheit von Texten sprechen. 30 Für einen kleinen Ausschnitt, das Demonstrativ jen- (im Vergleich mit dies-), habe ich eine Analyse skizziert, die eine funktionsbezogene Betrachtung unter Einbezug des Sprechers in seiner Interaktion mit dem Adressaten auch im Schulkontext ermöglicht. 29 Dabei zeigt sich die zurecht als vereinfachend und zirkulär kritisierte Formulierung, dass bestimmte sprachliche Mittel einen bestimmten Referentenstatus markieren, welcher wiederum aufgrund der gewählten sprachlichen Mittel bestimmt werden kann (vgl. Consten 2014), für den didaktischen Zugang als geeignet. Als Lerninput ist die Information, der Sprecher wähle ein bestimmtes Referenzmittel, um den Referenten auf eine bestimmte Art und Weise darzustellen, durchaus adäquat. Ein Beispiel für eine konkrete DaZ-Fördereinheit für anaphorisches diesbei ambiger Referenz ist Bryant et al. (2014). 30 Im Bildungplan 2016 für das Fach Deutsch am Gymnasium Baden-Württemberg wird die Sprache als Inhalt des Deutschunterrichts explizit funktional als das Medium der Kommunikation gesehen: „Kommunikative Prozesse, insbesondere das Leseverstehen und der Erwerb einer mündlichen und schriftlichen Ausdrucksfähigkeit, machen den Kernbestand des Faches [Deutsch] aus.“ (ebd., S. 3); „Sie [Schüler/ innen] sind in der Lage, Texte transparent zu strukturieren und adressatensowie zielorientiert zu formulieren. Sie schreiben sicher, normgerecht, sprachlich variabel und stilistisch angemessen.“ (ebd., S. 14); (siehe: www.bildungsplaene-bw.de, Stand: 29.12.2016). <?page no="229"?> ‘Kognitive Distanzierung’ als Grammatikkategorie? 229 Literatur Auer, Peter (1981): Zur indexikalitätsmarkierenden Funktion der demonstrativen Artikelform in deutschen Konversationen. In: Hindelang, Götz/ Zillig, Werner (Hg.): Sprache: Verstehen und Handeln. Tübingen, S. 301-310. Averintseva-Klisch, Maria (2016a): Definite or still demonstrative? Some ideas on the semantics of German distal demonstrative jen-. In: Grosz, Patrick/ Patel-Grosz, Pritty (Hg.): The impact of pronominal form on interpretation. (= Studies in Generative Grammar 125). Berlin/ Boston, S. 253-288. Averintseva-Klisch, Maria (2016b): Demonstrative pejoratives. In: Finkbeiner, Rita/ Meibauer, Jörg/ Wiese, Heike (Hg.): Pejoration. (= Linguistik aktuell 228). Amsterdam, S. 119-141. Behaghel, Otto (1923): Deutsche Syntax. 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(Zifonun 2009, S. 352) Abstract The paper provides a survey about grammatical variation in German and discusses the consequences for grammar books: How can they describe systematic differences between several varieties as well as the core system of German as an individual language? Proceeding from the differentiation between extraand intralinguistic explanations for grammatical variation and from theoretic considerations on the notion of ‘system’ the paper discusses different possibilities of modeling the relationship between system and variation. It argues for a modular concept with a core system that provides the option of internal variation and modular systems that contain grammatical phenomena which are specific for certain varieties. 1. Einleitung ‘Grammatik und Variation’ ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts in aller Munde: Die Gesprochene-Sprache-Forschung ist nun 50 Jahre alt und hat in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Erkenntnisse zu grammatischen Phänomenen gesprochener Sprache hervorgebracht. Auch in der Soziolinguistik hat die Beschäftigung mit einer Varietätengrammatik schon eine längere Tradition. Inzwischen bezieht sich auch die Areallinguistik (Dialektologie, Regionalsprachenforschung etc.) immer häufiger auf die morphosyntaktische Ebene und hinzu kommen noch die Fach- und Wissenschaftssprachforschung sowie auf einzelne soziale Gruppen bezogene Ansätze (bspw. Kiezdeutsch). Nicht zuletzt führen offenbar auch die neuen medialen Möglichkeiten der Internetkommunikation zu einer erweiterten Variationsbreite an Ausdrucksmöglichkeiten. Die Korpuslinguistik bietet schließlich die Möglichkeit, Gebrauchsdaten zu grammatischen Phänomenen in den genannten Kontexten systematisch in die Analyse einzubeziehen und die Erforschung grammatischer Variation somit auf eine solide empirische Basis zu stellen. 1 Für anregende Kommentare und Diskussionen danke ich Dániel Czicza und Robert Niemann. <?page no="234"?> Mathilde Hennig 234 Wir haben es also mit einer erheblichen Diversifikation des Gegenstands grammatischer Forschung zu tun. Der uneingeschränkte Deskriptionsanspruch der Linguistik schließt dabei eine normative Einschränkung des Gegenstandsbereichs aus: Während die Gesprochene-Sprache-Forschung in ihren Anfängen die Beschäftigung mit gesprochensprachlichen Phänomen noch rechtfertigen musste, geraten wir heute in Rechtfertigungszwang, wenn wir die variationslinguistische Breite eines grammatischen Phänomens vernachlässigen. Diese Gemengelage hat auch erhebliche Konsequenzen für die Grammatikschreibung: Von ihr wird zunehmend verlangt, dass sie Variationsphänomene systematisch mit berücksichtigt. Gisela Zifonun stellt zu Recht die Frage: „Wie schaffen es Grammatiker und Grammatikerinnen dieser Komplexität gerecht zu werden? “ (2009, S. 335). Und: „Welche Konzeption seines Gegenstandes ermöglicht es ihm [dem Grammatiker, M.H.], die Tradition des Schreibens einer Grammatik des Deutschen, des Englischen oder Polnischen fortzusetzen und zu erneuern, ohne mit ihr zu brechen? “ (ebd.). Zifonun geht davon aus, dass man dieser Komplexität nur durch Komplexitätsreduktion und Pragmatismus begegnen könne und schlussfolgert: „In der Tat plädiere ich für einen theoretisch abgesicherten Pragmatismus des Grammatikers“ (ebd.). Wie kann nun ein solcher theoretisch abgesicherter Pragmatismus aussehen? An welchen Stellen ist eine Komplexitätsreduktion zulässig, an welchen nicht? Den dezidiertesten Vorstoß hat diesbezüglich m.E. Peter Eisenberg vorgenommen, indem er sich zum geschriebensprachlichen Standard als Gegenstand der Grammatikschreibung bekennt (2007a, b). Er begründet das mit der Funktion der Grammatik für den Erwerb des geschriebenen Standards (2007a, S. 290) und hat sich insbesondere bei seiner Bearbeitung von Duden 9 für die Umsetzung dieser Perspektive stark gemacht (2007b). 2 Sicherlich kann man das als eine Strategie der theoretisch abgesicherten Komplexitätsreduktion betrachten. Die diversen Versuche zur Integration gesprochensprachlicher Phänomene in die Grammatikschreibung (insbesondere in der Dudengrammatik und IDS-Grammatik) lassen aber erkennen, dass offenbar nicht alle den Eisenberg’schen Weg der Komplexitätsreduktion gehen wollen. Dabei zeigen gerade die vorliegenden Versuche der Integration gesprochener Sprache in die Grammatikschreibung, wie wenig klar ist, was der systematische Stellenwert der gesprochenen Sprache in Bezug auf das grammatische System ist: Unterschiedlicher könnten die Gesprochene-Sprache- 2 Zwar ist der Dudenband 9 „Richtiges und gutes Deutsch“ keine Grammatik im engeren Sinne, das Nachschlagewerk für Zweifelsfälle in verschiedenen linguistischen Bereichen ist aber auch kein reines Wörterbuch, sondern eher eine Mischform aus Grammatik und Wörterbuch. Erwähnung findet es hier, weil sich Peter Eisenberg in seiner programmatischen Begleitpublikation (2007b) zu seiner Bearbeitung der 6. Auflage von Duden 9 besonders dezidiert für die geschriebene Standardsprache als „Leitvarietät“ ausspricht. <?page no="235"?> Grammatik und Variation in Grammatikforschung und Grammatikschreibung 235 Kapitel der IDS- und der Dudengrammatik nicht sein. Abgesehen davon gibt es ja „Grammatiken mit unterschiedlichen Zweckbestimmungen“ (Zifonun 2009, S. 333; vgl. dazu auch Helbig 1992 und Hennig 2001), darunter auch eine „wissenschaftliche Grammatikographie“ (Zifonun 2009), sodass der von Eisenberg postulierte Zusammenhang von Grammatikschreibung und geschriebenem Standard nicht uneingeschränkt vorausgesetzt werden kann. So setzt die Grammatikschreibung „eine Klärung nicht nur des Konzepts von Grammatik voraus, auf das der Autor oder die Autoren sich verpflichten, sondern vorgängig dazu eine Reflexion darüber, wie denn Sprache in Grammatik der deutschen Sprache oder Grammatik der englischen Sprache usw. zu verstehen ist“ (ebd.). Der vorliegende Beitrag möchte an die durch Eisenberg (2007a) und Zifonun (2009) angestoßene Diskussion zu den Konsequenzen der Diversifizierung der Fragen nach Zusammenhängen von Grammatik und Variation für die Grammatikschreibung anknüpfen. Es scheint derzeit außer Frage zu stehen, dass sich die Grammatikschreibung zu grammatischer Variation verhalten muss. Angesichts der großen Bandbreite an variationslinguistischen Perspektiven sowie an grammatischen Variationsphänomenen scheint es aus meiner Sicht dringend geboten, die durch Eisenberg und Zifonun angestoßene Diskussion auszuweiten. Ich möchte hier versuchen, durch einen möglichst globalen Blick auf Zusammenhänge von Grammatik und Variation und den darauf aufbauenden Versuch einer Systematisierung grammatischer Variationsphänomene zu einem theoretisch abgesicherten Pragmatismus im Sinne von Zifonun beizutragen. Gegenstand der Beschäftigung mit Zusammenhängen von Grammatik und Variation sind grammatische Phänomene, die irgendeine Form von Variabilität aufweisen. Die kaum überschaubare Gruppe an einschlägigen Phänomenen lässt sich zunächst einteilen in Bezug auf die Frage, ob die Variabilität sprachintern oder sprachextern begründet ist: <?page no="236"?> Mathilde Hennig 236 Grammatik und Variation sprachinterne Faktoren der Variabilität sprachexterne Faktoren der Variabilität = sprachsystematische Begründungszusammenhänge (etwa phonologische, prosodische und morphologische Faktoren) = i.w.S. pragmatische Begründungszusammenhänge (Kontextbedingungen, Kommunikationssituation) Beispiele: starke Genitivmarkierung, Fugenelemente Beispiele: JA in gesprochener Sprache, Nominalstil in Wissenschaftssprache Abb. 1: sprachintern vs. sprachextern begründete grammatische Variation So ist beispielsweise die Frage, welche Form der Genitivmarkierung ein stark flektiertes Substantiv selegiert, abhängig von sprachsystematischen Faktoren wie der lautlichen und morphologischen Struktur der Substantive (vgl. das IDS-Projekt Korpusgrammatik, dazu grammis sowie Konopka 2015). 3 Andere Variationsphänomene wie etwa die bevorzugte Verwendung nominalstilistischer Phänomene in der Wissenschaftssprache oder die Verwendung von interaktiven Einheiten in der gesprochenen Sprache wiederum entziehen sich einer rein sprachsystematischen Begründbarkeit, vielmehr ergibt sich ihr Auftreten aus den jeweiligen Bedingungen der Kommunikationssituation. Während für sprachsystematisch begründbare Variationsphänomene wohl ohne Weiteres behauptet werden kann, dass es sich um Variation innerhalb des Systems einer Einzelsprache handelt, stellt sich für die nicht sprachsystematisch begründbaren Variationsphänomene die Frage, welchen Stellenwert sie überhaupt in Bezug auf das System einer Einzelsprache haben. Da sie deshalb eine besondere Herausforderung für die grammatische Theoriebildung darstellen und für sie die Frage nach den Konsequenzen für die Grammatikschreibung besonders virulent ist, widmet sich der vorliegende Beitrag den durch sprachexterne Faktoren begründbaren Variationsphänomenen. 3 Gerade angesichts des hohen Prestigewerts des Genitivs ist aktuell aber auch nicht völlig auszuschließen, dass auch sprachexterne Faktoren bei der Wahl einer Genitivform eine Rolle spielen können. Die hier vorgenommene Gegenüberstellung von sprachextern und sprachintern bedingter Varianz soll grundsätzliche Möglichkeiten der Sortierung grammatischer Variationsphänomene aufzeigen und erhebt dabei nicht den Anspruch, absolut trennscharf zu sein. <?page no="237"?> Grammatik und Variation in Grammatikforschung und Grammatikschreibung 237 Als Grundlage für die systematische Erfassung sprachextern bedingter Variationsphänomene dient das auf Coserius Unterscheidung zwischen diatopischer, diastratischer und diaphasischer Variation aufbauende Modell der Diasystematik von Koch/ Oesterreicher (1994), das einen Ausgangspunkt für die Verortung von Variationsphänomenen bieten kann: Modell sprachlicher Variation (Koch/ Oesterreicher 1994, S. 595) Beispiele grammatischer Variation universal 1a Nähe Distanz JA in GSPS (Imo 2013) Listen in GSPS (Selting 2004) Interaktive dass-Sätze in GSPS (Günthner 2014) 1b ‘Nähe’ ‘Distanz’ 2 niedrig Diaphasik hoch Attribution in Wissenschaftssprache (Hennig/ Niemann (Hg.) 2015) 3 niedrig Diastratik hoch Nichtrealisierung von Präp. im Kiezdeutsch (Wiese 2006) 4 stark Diatopik schwach Flektierte Subjunktoren in verschiedenen Dialekten (Weiss 2005) STATUS einzelsprachlich kontingent DIASYSTE- MATISCHE MARKIE- RUNG nichtmarkiert markiert Abb. 2: Verortung von Beispielen für grammatische Variation in der Architektur einer Einzelsprache Mit Hilfe einer solchen Modellierung können grammatische Variationsphänomene folglich in Bezug auf die diasystematisch begründbaren Bedingungen ihres Auftretens klassifiziert werden. 4 Damit werden allerdings nur Aussagen über die Verortung der Phänomene in bestimmten Kommunikationsbereichen getroffen. Eine solche Sortierung bietet hingegen keinerlei Anhaltspunkte für die hier interessierende Frage nach dem Stellenwert dieser Phänomene in Bezug auf das System einer Einzelsprache. 4 Die Zuordnung einzelner grammatischer Variationsphänomene zu den Variationsdimensionen im Modell stellt ebenso eine Vereinfachung dar wie die Modellierung selbst. So wurde insbesondere in der Rezeption der Diadimensionen in der Romanistik mehrfach auf Überschneidungen zwischen den Dimensionen hingewiesen (Albrecht 1986, S. 77; dort auch der Hinweis auf Schlieben-Lange 1973, S. 76). Das von Koch/ Oesterreicher vorgeschlagene Konzept der Varietätenkette (1994, S. 595) weist ja auch bereits auf systematische Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Ausprägungen hin (dazu auch bereits Albrecht 1986, S. 77). Während die drei Grundbegriffe der Diasystematik möglicherweise aber gerade wegen ihrer Unschärfe eine breite Anwendung und Anerkennung finden, ist die Nähe-Distanz-Dimension als diamediale Dimension nicht unumstritten (vgl. Schneider 2016). Darüber hinaus weist gerade die Nähe-Distanz-Dimension auch Überschneidungen mit den anderen Dimensionen auf (Gleßgen 2005, S. 211). Die genannten Unschärfen werden hier in Kauf genommen, weil es hier lediglich darum geht, auf die prinzipielle Möglichkeit der Klassifikation grammatischer Variationsphänomene auf der Basis der Variationsdimensionen hinzuweisen und weil diese Form der Klassifikation nicht den Schwerpunkt des vorliegenden Beitrags bildet. <?page no="238"?> Mathilde Hennig 238 2. System und Variation: Ein Annäherungsversuch auf der Basis des Coseriu’schen Systembegriffs Wenn hier nun im Folgenden die Frage nach dem sprachsystematischen Stellenwert variationslinguistisch begründbarer Phänomene und damit nach den Konsequenzen der Berücksichtigung der komplexen Architektur einer Einzelsprache (Coseriu 2007, S. 265) gestellt wird, dann wird damit im Grunde genommen die Systemgretchenfrage erneut aufgegriffen, die in Bezug auf die gesprochene und geschriebene Sprache in der sogenannten „Systemdebatte“ vor allem in den 1980er Jahren intensiv diskutiert wurde: Bildet die gesprochene Sprache eine eigene Sprachvarietät im Sinne eines eigenen Systems oder beruht ihre Differenz zur geschriebenen Sprache auf unterschiedlichen Verwendungsweisen nur eines Sprachbzw. medialen Systems? (Richter 1990, S. 8). 5 Eisenberg betrachtet die Annahme eigenständiger Systeme als „bedrohliche Perspektive“ (2007a, S. 277) und plädiert vehement dafür zu versuchen, „die Grammatik als Beschreibung des Sprachsystems einer Einzelsprache so aufzubauen, dass man […] mit einer Menge von Grundbegriffen auskommt“. Er bezeichnet die Möglichkeit, dass man für das Gesprochene spezifische Begriffe benötigen könnte, als den „schlimmsten Fall“ (2007a, S. 290f.). Ich meine hingegen, dass wir uns dieser Frage durchaus stellen müssen. Der Eisenbergs Auffassung nach „schlimmste Fall“ der Notwendigkeit spezifischer Begriffe soll hier vielmehr als Indiz für die Notwendigkeit der Annahme eigenständiger Systeme betrachtet werden. Es sei an dieser Stelle aber betont, dass es in diesem Abschnitt noch nicht darum geht, eine eigene Stellungnahme zur Systemfrage vorzulegen. Vielmehr werden erst in Abschnitt 4 auf der Basis der in Abschnitt 3 diskutierten Fallbeispiele aus verschiedenen variationellen Kontexten verschiedene Denkmodelle zum Umgang mit dieser Frage gegenübergestellt. In diesem Abschnitt geht es zunächst darum, grundsätzliche begriffliche Fragen zu klären. Da ich mich dabei (wie bspw. auch Eroms 2000, S. 18) auf den Systembegriff von Eugenio Coseriu beziehe, geht es in diesem Abschnitt also vor allem darum, aus dem Systemverständnis von Coseriu prinzipielle Möglichkeiten des Umgangs mit der Systemfrage abzuleiten. Ich beziehe mich dabei auf die folgende Begriffsbestimmung von ‘Norm’ und ‘System’ durch Eugenio Coseriu: Das Individuum realisiert also konkret in seiner Gemeinschaft geläufige Modelle und Strukturen, indem es sie in seinem Sprechen wiedererzeugt. Auf einer ersten Stufe der Formalisierung sind diese Strukturen nun einfach konstant, normal und traditionell innerhalb der Gemeinschaft: sie bilden das, was wir Norm nennen. 5 Zu einer vergleichbaren Diskussion in der Soziolinguistik vgl. Durrell (2004, S. 197f.). <?page no="239"?> Grammatik und Variation in Grammatikforschung und Grammatikschreibung 239 Auf einer höheren Ebene der Abstraktion dagegen werden, wenn man alles eliminiert hat, was in der Norm beständiges aber für das Funktionieren der Sprache als Instrument der Kommunikation unwesentliches ‘Begleitwerk’ ist, nur jene idealen Strukturen bewahrt, die wesentlich sind und unabdingbare funktionelle Oppositionen bilden, also das, was wir System nennen. (Coseriu 1971, S. 67) Der Rückgriff auf einen sprach- und nicht grammatiktheoretischen Systembegriff lässt sich mit Zifonun dadurch rechtfertigen, dass Grammatikschreibung […] eine Klärung nicht nur des Konzepts von Grammatik voraus[setzt], auf das der Autor oder die Autorin sich verpflichten, sondern vorgängig eine Reflexion darüber, wie denn Sprache in Grammatik der deutschen Sprache oder Grammatik der englischen Sprache usw. zu verstehen ist. (Zifonun 2009, S. 333) Schließlich muss ohnehin davon ausgegangen werden, dass es keinen grammatiktheorieneutralen Systembegriff gibt. Die im vorliegenden Beitrag zu behandelnde Frage nach dem Systemstatus von grammatischen Variationsphänomenen liegt hingegen quer zu den Positionsbestimmungen von Grammatiktheorien. Was nun die Grammatikschreibung anbelangt, so wird laut Zifonun die Grundfrage ‘Was ist das System und wie erkennen wir es? ’ […] verständlicherweise meist in den Grammatiken nicht direkt angesprochen. Erkennbar aber ist, z.B. recht deutlich in Eisenbergs Grammatik, dass ein Systembegriff zugrunde liegt, der sich an den Prinzipien von innersprachlicher Funktionalität und Geordnetheit, somit an Prinzipien orientiert, die im Wesentlichen abgeleitet sind aus dem Umfeld strukturalistischer und poststrukturalistischer Theorien wie der Markiertheitstheorie oder der Natürlichkeitstheorie. (ebd., S. 347) Insofern passt der Coseriu’sche Systembegriff im Grunde genommen gut zu dem von Zifonun offenbar als Grundkonsens der Grammatikschreibung angenommenen Verständnis von ‘System’, für das Funktionalität und Geordnetheit zentral sind: Auch Coserius Systemverständnis kann aufgrund der zentralen Rolle des Konzepts der funktionellen Opposition als in der strukturalistischen Tradition stehend angesehen werden. Für die Anwendung des Coseriu’schen Systembegriffs auf die Fragestellung des vorliegenden Beitrags ist nun das Verhältnis des Systemverständnisses zu sprachlicher Variation zentral. Coseriu geht davon aus, dass einzelne Varietäten - bei ihm ‘funktionelle Sprachen’ - Sprachsysteme bilden: Die Architektur […] betrifft die Zusammensetzung des sprachlichen Wissens aus verschiedenen Sprachsystemen, z.B. aus verschiedenen Mundarten, aus verschiedenen Sprachniveaus und stets aus verschiedenen Sprachstilen. (Coseriu 2007, S. 263f.) <?page no="240"?> Mathilde Hennig 240 Nur für die homogene funktionelle Sprache stellt sich die Frage nach der Strukturiertheit im engeren Sinne, d.h. die Frage nach den stabilen Formen der inneren Relationen. Hier können wir fragen, wie die Technik einer funktionellen Sprache strukturiert ist, und die Ebenen ihrer Strukturierung feststellen, die wir Sprachnorm, Sprachsystem und Sprachtypus nennen. (ebd., S. 265) Wir haben es also eigentlich mit einer grundlegenden Unvereinbarkeit der Dimensionen der Homogenität und der Variation zu tun, auf die im Grunde nur mit einer pragmatisch motivierten Komplexitätsreduktion reagiert werden kann, 6 wie Jürgen Erich Schmidt trotz der angeführten Bedenken gegenüber dem vagen Konzept einer homogenen Varietät es vorschlägt: Aber möglicherweise geht es ja bei dem Homogenitätspostulat nicht um theoretische Konsequenz, sondern um eine methodisch scheinbar notwendige Annäherung an den Gegenstand der Linguistik: Aus methodischen Gründen könnte es notwendig scheinen, den Gegenstand heterogene Gesamtsprache in möglichst viele, möglichst homogene Varietäten aufzuteilen. Hier sind Fehlschlüsse zu vermeiden. Bei empirischem Vorgehen sind methodische „Verkürzungen“ komplexer Gegenstände unabdingbar. (Schmidt 2005, S. 62) Wenn man nun in diesem Sinne homogene Varietäten respektive funktionelle Sprachen annimmt und mit Coseriu davon ausgeht, dass das Konzept des Systems auf diese zu beziehen ist, dann müsste man sich im Grunde genommen das System einer Einzelsprache als eine Menge an Systemen einzelner funktioneller Sprachen dieser Einzelsprache vorstellen (ausführlicher dazu in 4.2). Dabei stellt sich aber auch die Frage, wie es zu erklären ist, dass die funktionellen Sprachen eigenständige Systeme aufweisen. Um dieser Frage nachzugehen, muss man sich m.E. noch einmal vor Augen führen, dass das ‘System’ bei Coseriu als zweite Abstraktionsstufe immer auch einen systematischen Bezug zum ‘Sprechen’ und zur ‘Norm’ aufweist: Abb. 3: System als zweite Abstraktionsstufe Dass es nun mehrere funktionelle Sprachen und folglich - zumindest nach diesem Denkmodell - mehrere Systeme gibt, kann damit begründet werden, dass das Sprechen, also der Ausgangspunkt, stark variiert: Das Sprechen weist aber nicht nur die Dimension der Homogenität auf, sondern auch die der Varietät. 7 Es gibt kein Individuum, das überhaupt nichts von 6 Eine weitere in Frage kommende Strategie wäre die Arbeit mit Prototypenkonzepten. 7 Coseriu verwendet den Begriff der ‘Varietät’ nicht für einzelne Varietäten, also für das, was er ‘funktionelle Sprache’ nennt, sondern für Variation im Allgemeinen. <?page no="241"?> Grammatik und Variation in Grammatikforschung und Grammatikschreibung 241 anderen Mundarten und Sprachniveaus weiß. Jedes Individuum kennt per definitionem mehrere Sprachstile. Es spricht nicht nur eine einzige funktionelle Sprache innerhalb seiner historischen Sprache. (Coseriu 2007, S. 264f.) Die Entscheidung für eine Sprechweise in konkreten Sprechsituationen trifft das Individuum auf der Basis der äußeren Umstände der jeweiligen Sprechsituation, 8 wie etwa Kommunikationspartner, -ziel und -medium. 9 Es sind also externe Faktoren, die den Ausschlag dafür geben, für welche Art des Sprechens sich ein Individuum in einer individuellen Sprechsituation entscheidet: 10 Abb. 4: Externe Faktoren als Hintergrund für die Gestaltung des Sprechens Die Entscheidung des Sprechers für eine bestimmte Sprechweise auf der Basis sprachexterner Faktoren ist aber keine Einbahnstraße von links nach rechts, wie diese Darstellung suggeriert. D.h.: Zwar ist bei Coseriu das Sprechen immer der Ausgangspunkt und Norm und System stellen - wie hier visualisiert - Abstraktionen dar, dennoch trifft der kompetente Sprecher im konkreten Sprechen seine Entscheidung für eine Form immer auf der Basis seines Wissens über das Mögliche (System) und Normale (Norm). Da, was normal ist, wiederum - wie auch Coseriu sagt - abhängig ist von den Traditionen einer Gesellschaft, steht die Ebene der Norm in unmittelbarer Beziehung zu den hier auf das Sprechen bezogenen externen Faktoren. Deshalb kann man sagen: Wenn sich ein Sprecher aufgrund externer Faktoren im Sprechen 1 für eine Variante 1 entscheidet und in Sprechen 2 für eine Variante 2, dann sind das jeweils unmittelbar mit den gesellschaftlichen Traditionen begründbare Normalisierungen. Um dies an Beispielen zu verdeutlichen: Ein Sprecher wird sich in einem gesprochensprachlichen Alltagsgespräch eher für das Per- 8 Sicherheitshalber sei angemerkt, dass ‘Sprechen’ bei Coseriu ein sprachtheoretischer Begriff ist und somit nicht auf die medial mündliche Realisierung beschränkt. 9 Diese Sichtweise ist m.E. durchaus kompatibel mit dem Gedanken der Synchronisierung bei Schmidt/ Herrgen (2011). Aus Gründen der Überschaubarkeit - der Schwerpunkt liegt hier ja auf der Entwicklung von Denkmodellen zur Systemfrage auf der Basis von Coserius Systembegriff - wird hier aber auf eine systematische Aufarbeitung der Berührungspunkte der Sprachdynamiktheorie von Schmidt/ Herrgen mit Coserius Theorie des Sprechens verzichtet. 10 Vgl. dazu auch die Überlegungen zu „Bedingungsgefügen“ in Hennig (2010, 2015). <?page no="242"?> Mathilde Hennig 242 fekt zum Ausdruck der Vergangenheit entscheiden, ein Verfasser eines schriftsprachlichen Berichts eher für das Präteritum. Der Verfasser eines Wissenschaftstextes macht einen gegenüber der Alltagskommunikation verstärkten Gebrauch von nominalstilistischen Ausdrucksweisen (Nominalisierungen, komplexe Attribution u.a.) und ich-vermeidender Verfasserreferenz (Passiv, lassen- und Reflexivkonstruktionen u.a.). Zumindest in Bezug auf diese Beispiele lässt sich sagen, dass das System offenbar tatsächlich autonomer ist als die Norm (also weniger abhängig von externen Faktoren), denn systematisch möglich sind sowohl Perfekt und Präteritum, sowohl Passiv und Aktiv, sowohl nominalals auch verbalstilistische Ausdrucksweisen. In Bezug auf diese Beispiele entsteht somit eher der Eindruck, dass ein gemeinsames System die Grundlage bildet: Abb. 5a: Formen des Sprechens auf der Basis eines Systems Folgt man hingegen der oben zitierten Einschätzung Coserius, dass funktionelle Sprachen eigenständige Systeme bilden, müsste es eher folgendermaßen funktionieren: Abb. 5b: Formen des Sprechens auf der Basis mehrerer Systeme Es sei an dieser Stelle sicherheitshalber noch einmal betont, dass es hier zunächst nur um den Versuch der theoretischen Bestimmung des Verhältnisses von System und Variation auf der Basis des Coseriu’schen Systembegriffs geht. Eine ausführlichere Diskussion von Beispielen und Denkmodellen findet sich in den folgenden beiden Abschnitten. Das Problem besteht nun darin, dass mit Coseriu noch nicht ausreichend begründet werden kann, ob und wenn ja wie die beiden hier skizzierten potenziellen Möglichkeiten des Verhältnisses von System zu Norm und Sprechen <?page no="243"?> Grammatik und Variation in Grammatikforschung und Grammatikschreibung 243 aufeinander zu beziehen sind. Das liegt wohl vor allem daran, dass nicht ganz klar wird, in welchem Verhältnis die Systeme funktioneller Sprachen zum System der Einzelsprache stehen: Ist das System einer Einzelsprache quasi als Summe aller Systeme der ihr zugeordneten funktionellen Sprachen zu verstehen oder ist es eine Art gemeinsamer Nenner dieser Systeme? Ich möchte hier als Arbeitshypothese die Überlegung einführen, dass es als gemeinsamen Nenner, quasi als Durchschnitt von verschiedenen Varietäten einer Einzelsprache ein varietätenübergreifendes Kernsystem einer Einzelsprache gibt. Das Kernsystem einer Einzelsprache beinhaltet diejenigen sprachsystematischen Eigenschaften, die nicht an spezifische variationelle Kontexte gebunden sind. Variationsphänomene, die innerhalb des Kernsystems beschreibbar sind, werden im Folgenden als ‘systemintern’ bezeichnet, außerhalb des Kernsystems liegende Variationsphänomene als ‘systemextern’. Als varietätenübergreifendes System ist der Begriff des Kernsystems eine Abstraktion und korreliert per definitionem nicht mit einem Teilbereich der komplexen Architektur einer Einzelsprache. Folglich kann ‘Kernsystem’ auch nicht mit ‘System der Standardsprache’ gleichgesetzt werden. Aus Praktikabilitätsgründen ist es aber unvermeidlich, auf die grammatikographische Praxis der Erfassung systematischer Eigenschaften der Einzelsprache Deutsch zurückzugreifen, die wiederum eine besonders hohe Schnittmenge mit der geschriebenen Standardsprache aufweisen dürfte. 11 Wenn im Folgenden bei der Beispieldiskussion gelegentlich auf den Begriff ‘Standardsprache’ zurückgegriffen wird, so ist damit weder eine Gleichsetzung von ‘Standardsprache’ mit dem hier eingeführten Begriff des Kernsystems gemeint noch eine Entscheidung bezüglich eines möglicherweise übergeordneten Status dieser Varietät vorweggenommen. 12 11 Eine Möglichkeit der Annäherung an das Kernsystem könnte es auch sein, auf das zurückzugreifen, was in der modernen Sprachtypologie über eine Einzelsprache ausgesagt wird. Zum Kernsystem der Einzelsprache Deutsch gehört dann beispielsweise, dass adjektivische Modifikatoren vor dem Kernnomen stehen. Allerdings bietet diese Strategie des quasi externen Blicks auf die Einzelsprache aus typologischer Perspektive noch keine Anhaltspunkte für die Bewertung der internen Variation der Einzelsprache und somit in Bezug auf das Verhältnis einzelner Phänomene zum Kernsystem. 12 Abgesehen davon ist der Begriff der Standardsprache im Sinne der hier angenommenen komplexen Struktur einer Einzelsprache ohnehin problematisch, weil nicht klar ist, auf welche Dimension im oben aufgeführten Modell sprachlicher Variation er eigentlich zu beziehen ist. Im Sinne der von Koch/ Oesterreicher angenommenen Varietätenkette (1994, S. 595) ist er wahrscheinlich eine Art diatopisch schwache sowie diaphasisch und diastratisch hohe Distanzsprache. Natürlich muss der Begriff der Standardsprache nicht so verstanden werden. Vielmehr haben wir es mit einem immer breiteren Spektrum an Standardbegriffen zu tun, das von ‘gesprochenem Standard’ (Schneider/ Albert 2013; Deppermann/ Helmer 2013), über ‘pragmatischen Standard’ (Hagemann/ Klein/ Staffeldt (Hg.) 2013) bis hin zu regionalen Varianten des Standarddeutschen reicht (Dürscheid/ Elspaß 2015). Im Sinne von Eisenberg (2007a, b) korreliert der Standardsprachbegriff in der Grammatikschreibung ja aber traditionell mit medialer Schriftlichkeit. <?page no="244"?> Mathilde Hennig 244 3. Beispieldiskussion Um die bisher fast ausschließlich theoretisch geführte Diskussion mit Leben zu füllen, werden in diesem Abschnitt einige Beispiele aus verschiedenen variationslinguistischen Kontexten besprochen. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob es sich eher um Variationsphänomene auf der Ebene der Norm oder auf der Ebene des Systems handelt. Auf der Basis der Beispieldiskussion können dann die in Abschnitt 2 bereits theoretisch angedachten Denkmodelle weiter ausgearbeitet werden. Für die Beispieldiskussion sei festgehalten, dass zentrale Eckpfeiler sowohl des Coseriu’schen Systembegriffs als auch des von Zifonun rekonstruierten Systembegriffs der Grammatikschreibung einerseits die Annahme geordneter sprachlicher Strukturen und andererseits die Annahme der Funktionalität dieser Strukturen ist. Wie auch bereits in Hennig (2006, S. 115) plädiere ich hier deshalb dafür, die Systemgretchenfrage nicht allein auf spezifische Strukturen in verschiedenen variationellen Kontexten zu beziehen, sondern auf das Zusammenspiel von Form und Funktion. Als Kriterien für die Einordnung eines grammatischen Phänomens als eigenständiges Phänomen des Systems einer Varietät X gelten folglich gleichermaßen seine formale als auch funktionale Spezifik. Ein gut handhabbares Indiz sowohl für formale als auch für funktionale Spezifik bietet die Notwendigkeit eigenständiger Kategorien: Wenn eine Struktur oder ihre Funktion in einer Varietät X nicht mit Rückgriff auf das varietätenübergreifende grammatische Kategorieninventar erfasst werden kann, sondern im Sinne von Fiehler (2000) ein kategorialer Neustart erforderlich ist, liegt strukturelle und/ oder funktionale Spezifik vor. Den Bezugspunkt für die Frage nach der Notwendigkeit eines kategorialen Neustarts bildet im Folgenden das in Abschnitt 2 eingeführte hypothetische Konstrukt des Kernsystems. Dabei stellt sich die Frage, was die Bedingungen dafür sind, dass ein grammatisches Phänomen als strukturell und/ oder funktional spezifisch gelten kann. Insbesondere beim Versuch der Bestimmung funktionaler Spezifik betritt man unweigerlich vermintes Gelände, weil der Begriff der Funktion ebenso schillernd wie diffus ist. Aus der oben aufgeführten Bestimmung des Begriffs ‘System’ kann zunächst ein systembezogener Funktionsbegriff abgeleitet werden. Im Sinne des in Hennig (2017) eingeführten Gedankens der Rekursivität des Systembegriffs würde Funktionalität in Bezug auf eine linguistische Beschreibungsebene immer automatisch auch Funktionalität in Bezug auf eine im Sinne von Coseriu funktionelle Sprache (2007, S. 265) mitbedeuten. Diese Schlussfolgerung ist für die Fragestellung des vorliegenden Beitrags deshalb zentral, weil sie die ohnehin auf der Hand liegende Frage nach dem Stellenwert eines grammatischen Variationsphänomens in Bezug auf den jeweiligen variationellen Kontext legitimiert: Interessant ist ja keineswegs nur, inwiefern Grammatik <?page no="245"?> Grammatik und Variation in Grammatikforschung und Grammatikschreibung 245 in verschiedenen variationellen Bereichen variiert, sondern vor allem warum. Der Versuch der Bestimmung sprachsystematischer Spezifika einzelner Varietäten muss deshalb immer auch die pragmatischen Bedingungen der jeweiligen Variationsdimensionen berücksichtigen. 13 Die im Folgenden zu diskutierenden Beispiele entstammen verschiedenen variationslinguistischen Bereichen. Bei der Auswahl der Beispiele kam es aber weniger auf die variationslinguistischen Bezüge der Beispiele an, sondern vielmehr darauf, in Bezug auf die Verortung der Phänomene zwischen System und Norm ein möglichst breites Spektrum abzudecken. Folglich wird bei der Diskussion der Beispiele ein besonderes Augenmerk darauf zu richten sein, welchen sprachsystematischen Status das jeweilige Variationsphänomen hat. Ausgehend von der systematischen Erfassung diesbezüglicher Variationsformen kann dann im Anschluss die Systemgretchenfrage erneut aufgegriffen werden. Beispiel (I) Das erste Beispiel entstammt dem Projekt ‘Variantengrammatik’ (Dürscheid/ Elspaß/ Ziegler 2015), das sich zum Ziel gesetzt hat, diatopische Unterschiede in der Grammatik des Standarddeutschen zu erforschen und zu dokumentieren. Dürscheid/ Elspaß (2015) illustrieren ihr Vorhaben u.a. an einem Beispiel zur Rektionsvarianz des Verbs beantragen: (1) Der Regierungsrat des Kantons Bern beantragt dem Grossen Rat, die Auflösung der Burgergemeinde Meiringen zu genehmigen. (beantragen + Dativ) (2) Der Pächter kann im Falle einer ordentlichen Pachtauflösung beim Richter eine einmalige Erstreckung der Pacht beantragen. (beantragen + bei) Laut Dürscheid/ Elspaß (2015) ist die Dativrektion normal im Schweizerdeutschen, sie macht dort 75% aller Fälle aus. Im Österreichischen sowie Bundesdeutschen hingegen ist sie nicht belegt. Es handelt sich folglich um eine grammatische Varianz, die regional begrenzt ist und die das laut E-Valbu fakultative Präpositionalkomplement bei betrifft. Das Sprachsystem wird von dieser Varianz nicht tangiert, da eine gewisse Variabilität der Komplementrealisierung in der Verbrektion systematisch ist, sie stellt also kein Spezifikum des Schweizerdeutschen dar. Hier ist folglich „nur“ ein einzelnes Lexem von der Varianz betroffen, nicht das grammatische System bzw. das Teilsystem der Rektion. 13 Diesem Grundgedanken trägt das Nähe-Distanz-Modell von Ágel/ Hennig (Hg.) (2006) Rechnung, indem die grammatischen Phänomene des Nähebzw. Distanzsprechens systematisch auf die Kommunikationsbedingungen der Nähe-Distanz-Kommunikation zurückgeführt werden. Dem Vorbild dieses Modells folgt auch die Modellierung von Pragmatik-Grammatik- Bezügen in der Wissenschaftssprache in Czicza/ Hennig (2011). <?page no="246"?> Mathilde Hennig 246 Als Indiz dafür, dass das System von der vorliegenden Varianz nicht tangiert wird, kann die Tatsache gewertet werden, dass sie problemlos mit dem für die Beschreibung des grammatischen Systems des Standarddeutschen zur Verfügung stehenden Kategorieninventar erfasst werden kann und auch nicht in Konflikt mit grundlegenden systematischen Eigenschaften des Standarddeutschen gerät. Beispiel (II) Auch das zweite Beispiel stammt aus dem Projekt ‘Variantengrammatik’ (Elspaß/ Engel/ Niehaus 2013). Die folgende Tabelle dokumentiert eine Varianz in der Bildung der Präteritalformen von backen und saugen: D A CH backte(n) 1.275 = 78% 82 = 48% 78 = 52% buk(en) 363 = 22% 88 = 52% 71 = 48% saugte(n) 568 = 57% 157 = 41% 51 = 38% sog(en) 434 = 43% 227 = 59% 84 = 62% Tab. 1: Plurizentrische Variation in der Verbflexion (Elspaß/ Engel/ Niehaus 2013, S. 56) Im Gegensatz zu Beispiel (I) sind hier die Varianten jeweils in allen Räumen normal, es bestehen lediglich unterschiedliche Präferenzen. Auch hier gilt, dass die Varianz nicht das Sprachsystem betrifft, da die schwache und starke Flexion von Verben grundständige Teilsysteme der Verbflexion bilden. Auch hier werden keine gesonderten Kategorien zur Beschreibung der Varianz benötigt, auch hier sind einzelne Lexeme der Ort der Varianz. Beispiel (III) Das folgende Beispiel ist anders gelagert: (3) (I frog’me,) obsd ned du des mocha kansd (Bayrisch) (Weiss 2005, S. 148) (4) Waaln mer graad besamn seen (Ostfränkisch) (ebd., S. 154) Die Beispiele zu flektierten Subjunktoren in süddeutschen Dialekten entstammen der Studie von Weiss (2005) zu ‘inflected complementizers’ bzw. ‘complementizer agreement’. 14 Flektierte Subjunktoren und im Zusammen- 14 Die Beispiele von Weiss belegen, dass das Phänomen nicht nur im deutschsprachigen Raum belegt ist, sondern beispielsweise auch im Ostniederländischen und im Friesischen. Übereinzelsprachliche typologische Bedingungen der Variation sind aber für die im vorliegenden Beitrag verfolgte Frage nicht von Belang. Innerhalb der Einzelsprache Deutsch sind die flektierten Subjunktoren ein diatopisches Spezifikum. <?page no="247"?> Grammatik und Variation in Grammatikforschung und Grammatikschreibung 247 hang damit die redundante Markierung der Kategorien Person und Numerus an Subjunktor und finitem Verb sind dort offenbar normal. Aus Systemperspektive sind sie als spezifische Phänomene der jeweiligen Sprachräume einzustufen. Subjunktoren gehören im Standarddeutschen eindeutig zu den nicht flektierbaren Wortarten. Darüber hinaus ist es im System des Standarddeutschen nicht vorgesehen, dass außer Subjekt und Finitum weitere Einheiten (hier: Subjunktoren) korrespondieren. Zwar ist für die Beschreibung der flektierten Subjunktoren kein vollständiger kategorialer Neustart notwendig, die gemeinsame Verwendung der Beschreibungskategorien ‘Subjunktor’ und ‘Flexion’ steht aber im Konflikt zu den Systemeigenschaften des Standarddeutschen. Folglich liegt mit diesem Beispiel ein Kandidat für ein grammatisches Phänomen vor, das Bestandteil eines spezifischen Systems im Bereich diatopischer Variation ist. Dabei geht es hier um eine für die entsprechenden diatopischen Bereiche spezifische Form. Beispiel (IV) Das folgende Beispiel entstammt einem Ansatz zur Operationalisierung von Wissenschaftssprachlichkeit auf der Basis grammatischer Eigenschaften (Czicza et al. 2012). Hier wird das Attribuierungsverhalten eines Beispiels für maximale Wissenschaftskommunikation (ein Aufsatz von Gabriele Diewald) und eines Beispiels für minimale Wissenschaftskommunikation (Emil und die Detektive) gegenübergestellt: Diewald Emil Anzahl erweiterte NGr 153 67 Anzahl Erweiterungen 447 90 Quotient 2,92 1,34 Tab. 2: Attributive Erweiterungen in maximaler/ minimaler Wissenschaftskommunikation (Czicza et al. 2012, S. 11) Diewald Emil 1. Grades 240 80 2. Grades 145 10 3. Grades 45 - 4. Grades 14 - 5. Grades 1 - 446 90 Tab. 3: Attribuierungstiefe in maximaler/ minimaler Wissenschaftskommunikation (ebd.) <?page no="248"?> Mathilde Hennig 248 Variation findet hier ausschließlich auf der Ebene des Gebrauchs statt, d.h., in den beiden Texten wird von den gemeinsprachlich-systematischen Möglichkeiten der Attribuierung auf unterschiedliche Weise Gebrauch gemacht. Folglich ist dieser Typ von Variation ebenso wie die Beispiele (I) und (II) kein Kandidat für eine spezifische Systematik. Beispiel (V) 633 R aber ich SAG ja [wenn du Erstmal wieder] was Arbeitest, 634 H [( )] 635 R dann wIrd (.) wErden auch wieder Andere zei(h)eiten kommen; 636 also (.) von Daher, 637 H JA: , 638 ja; 639 [ja im] moMENT is das natürlich so; (.) (Imo 2013, S. 178) Das Beispiel aus der Studie von Wolfgang Imo zu ‘Sprache in der Interaktion’ illustriert spezifisch gesprochensprachliche Verwendungsweisen von ja. Laut Imo verteilen sich die Verwendungen von ja in seinem Korpus folgendermaßen: Modalpartikel 34 Responsiv 79 Hörersignal 38 Diskursmarker/ Zögerungssignal/ Planungssignal 28 Beendigungssignal 11 Vergewisserungssignal 1 Partikelkombination 6 Gesamt 197 Tab. 4: Verwendungsweisen von JA in gesprochener Sprache (Imo 2013, S. 196) Während Modalpartikeln zwar bevorzugt in gesprochener Sprache verwendet werden, aber auch in geschriebener Sprache vorkommen, können die hier aufgeführten interaktiven Verwendungsweisen zweifelsohne als spezifisch gesprochensprachlich betrachtet werden. Dafür sprechen sich auch Ágel/ Kehrein (2002) aus, die auf der Basis prosodischer Analysen konstatieren, dass es zwar nur ein Schreibzeichen, aber zwei Sprechzeichen JA gebe, wobei die eine Gruppe der Sprechzeichen mit einem eigenständigen, akzentuierten Intonationsmuster mit den von Imo als Responsiv, Hörersignal, Diskursmarker, Be- <?page no="249"?> Grammatik und Variation in Grammatikforschung und Grammatikschreibung 249 endigungssignal und Vergewisserungssignal eingeordneten Verwendungsweisen korrelieren dürfte. Ebenso wie bei (III) liegt hiermit also ein Kandidat für ein spezifisches grammatisches Phänomen vor, das nicht Gegenstand des Kernsystems ist. Als Gründe für diese Einschätzung können die Notwendigkeit eines kategorialen Neustarts sowie eines Rückgriffs auf die Prosodie genannt werden. Dabei geht es hier sowohl um formale Spezifika (im Sinne der prosodischen Analyse von Ágel/ Kehrein) als auch um funktionale (im Sinne der Ausführungen Imos zu interaktiven Funktionen). Beispiel (VI) Mit der prosodischen Argumentation von Ágel/ Kehrein (2002) kann direkt übergeleitet werden zum Beispiel für das von Margret Selting (2004) als ‘Liste’ eingeführte Phänomen: (Selting 2004, S. 4) Die eigentliche Liste wird durch die einfachen Pfeile gekennzeichnet; der Punkt kennzeichnet die die Fortsetzung projizierende Komponente und der mit dem doppelten Pfeil markierte Teil wird von Selting als gestaltschließender dritter Bestandteil der Listenstruktur betrachtet (Selting 2004, S. 7f.). Die Liste an sich könnte mit den gängigen Mitteln etablierter Beschreibungskategorien problemlos als Koordination erfasst werden; die Kombination der dreiteiligen Struktur mit spezifischen prosodischen Eigenschaften (Hochakzent in der Akzentsilbe, hohe Plateaus, nur leichtes Abfallen am Ende bei den ersten beiden Elementen der Liste sowie fallende Tonhöhenbewegung zur Kennzeichnung des Listenendes beim dritten Element; vgl. ebd., S. 5) spricht hingegen doch für ein spezifisches grammatisches Phänomen gesprochener Sprache. Schließlich besteht mit Kategorien wie ‘Projektion’ sowie dem pro- <?page no="250"?> Mathilde Hennig 250 sodischen Kategorieninventar hier die Notwendigkeit spezifischer Begriffe für die Erfassung des Phänomens. Dafür lässt sich auch mit Eisenberg argumentieren, der die Intonation neben der Reihenfolge und der morphologischen Markierung zu den ‘syntaktischen Mitteln’ zählt, die wiederum „das Instrumentarium zur strukturierten Bildung komplexer Ausdrücke abgeben“ (Eisenberg 2006, S. 27). Die logische Konsequenz dieser Auffassung - dass für den Fall, dass das Mittel Intonation maßgeblich an der strukturierten Bildung komplexer Ausdrücke beteiligt ist, spezifische grammatische Phänomene angenommen werden müssen - steht im Widerspruch zu Eisenbergs deutlichem Plädoyer für die Annahme einer einheitlichen Gesamtgrammatik. Beispiel (VII) Das letzte Beispiel stammt ebenfalls aus dem Bereich der gesprochenen Sprache und illustriert die derzeit gängige Form der Erfassung interaktiv realisierter, emergenter Strukturbildung: (7) FUCHSBANDWURM - FOX TAPEWORM (SCHWARZWALD 1993) 211 Jepp: ECHT? 212 Ma: joah! 213 Jepp: on no kann mer nix mehr MACHe (-) dagege? 214 Ma: i GLAUB ähm [dass] 215 Kira: [dass] wenn du des mol HOSCH, 216 dann ischs z-SPÄ: T. 217 Anna: WEIß i net. (Günthner 2014, S. 193) 15 Günthner spricht hier von als „joint projects“ realisierten syntaktischen Konstruktionen (ebd., S. 194), es geht ihr also um die dialogische Organisation von Interaktion: „Dass-constructions in everyday interactions are not the selfcontained products of a singular speaker, but they are dialogic and emergent products of the ongoing interaction“ (ebd., S. 201). Das Spezifische besteht hier also in der interaktiven Sequentialisierung. Aus meiner Sicht ist es fraglich, ob diese ein hinreichender Grund dafür ist, von einer spezifisch-grammatisch systematischen Eigenschaft der gesprochenen Sprache zu sprechen, zumal die grundständige Satzgefügestruktur unberührt von der interaktiven Organisation bleibt. Die kollaborative Realisierung grammatischer Strukturen setzt natürlich die für die gesprochene Sprache einschlägige Kommunikationsbedingung der face-to-face-Interaktion voraus. 15 Das Beispiel enthält im Original eine interlineare englische Übersetzung, da der Beitrag auf Englisch verfasst wurde. Diese wurde hier entfernt. <?page no="251"?> Grammatik und Variation in Grammatikforschung und Grammatikschreibung 251 Wenn es sich aber „nur“ um einen spezifisch funktionalen Realisierungskontext handelt und die formale Struktur des Phänomens hingegen kernsystemkonform ist, stellt sich die Frage, ob das ein hinreichender Grund für die Annahme eines systematischen Spezifikums der gesprochenen Sprache ist. Die Analyse ausgewählter Beispiele für grammatische Varianz, die wiederum unterschiedlichen Variationsdimensionen zugeordnet werden können, hat erkennen lassen, dass wir es mit einem recht breiten Spektrum an Variationsphänomenen zu tun haben: Sie reichen von solchen Phänomenen, die lediglich unterschiedliche Gebrauchspräferenzen in verschiedenen Kontexten dokumentieren, über auf der Basis des Gesamtsystems der Einzelsprache Deutsch beschreibbare Spezifika in verschiedenen variationellen Bereichen bis hin zu systematischen Spezifika einzelner Varietäten. Die folgende tabellarische Übersicht fasst die Ergebnisse der Beispieldiskussion zusammen: Bereich Normstatus Systemstatus Indizien für Systemstatus (IV) Attribute diaphasisch Unterschiede im Gebrauch in Wissenschaftsu. Alltagssprache innerhalb des Gesamtsystems Keine unterschiedlichen Strukturen in verschiedenen Varietäten, „nur“ Unterschiede in der Gebrauchsfrequenz (II) backte diatopisch Unterschiede innerhalb von CH, A, D innerhalb des Gesamtsystems (I) beantragen diatopisch Unterschiede zw. CH, A, D innerhalb des Gesamtsystems Mit Hilfe der zur Beschreibung des Systems der Gemeinsprache vorhandenen Kategorien erfassbar (III) wennsde diatopisch normal in best. Räumen systematisch in best. Räumen + Struktur nur in Varietät X vorhanden + eigene Beschreibungskategorien notwendig + funktional in Varietät X (V) ja diamedial normal in GSPS systematisch in GSPS (VI) Liste diamedial normal in GSPS systematisch in GSPS (VII) dassinteraktiv diamedial normal in GSPS ? - Struktur nur in Varietät X vorhanden - eigene Beschreibungs kategorien notwendig - funktional in Varietät X Tab. 5: Gesamtauswertung der Beispiele In Bezug auf die Frage nach dem sprachsystematischen Stellenwert der Variationsphänomene lässt sich konstatieren, dass wir es einerseits mit Phänomenen zu tun haben, die - im Sinne der in 2. aufgegriffenen Systemgretchen- <?page no="252"?> Mathilde Hennig 252 frage - tatsächlich die Sicht untermauern, dass verschiedene Varietäten eigenständige Systeme aufweisen könnten, während andere als Beispiele für die Gegenposition - ein Grundsystem mit verschiedenen Abwahlregularitäten - herangezogen werden können. Die Tatsache, dass sich Beispiele für beide Denkmodelle finden lassen, möchte ich hier als Indiz dafür werten, dass es möglicherweise nicht sinnvoll ist, die Systemgretchenfrage als Entweder-Oder- Frage zu stellen. Die Beispiele wurden in der Tabelle nun so angeordnet, dass in der oberen Hälfte diejenigen Beispiele zusammengefasst sind, die keine Kandidaten für einen eigenen systematischen Status sind (IV, II und I), während in der unteren Hälfte die Beispiele aufgeführt sind, die als Kandidaten für eigenständige systematische Eigenschaften verschiedener Varietäten in Frage kommen (III, V-VII). Die erste Gruppe zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Variationsphänomene problemlos im Kernsystem verorten lassen, da sie sowohl in formaler als auch in funktionaler Hinsicht mit dem varietätenübergreifenden Kategorieninventar beschreibbar sind. Die übrigen Beispiele hingegen erweisen sich im Sinne der in 2. eingeführten Kriterien als einschlägige Beispiele für spezifische Erscheinungen der jeweiligen variationellen Kontexte. Dabei wurde allerdings in Bezug auf Beispiel (VII) die Frage offen gelassen, ob es als Beispiel für eine einem spezifischen System der gesprochenen Sprache zuzuordnende Erscheinung gelten kann, da der Satz unabhängig von seiner interaktiven Realisierung die grundständigen Parameter einer Satzgefügestruktur erfüllt, sodass auch zumindest in Bezug darauf kein kategorialer Neustart erforderlich ist. Gerade dieses Beispiel illustriert deshalb anschaulich, dass eine Einordnung eines grammatischen Variationsphänomens als in Bezug auf das Kernsystem systemintern oder systemextern vielfältige Entscheidungen voraussetzt. Aber auch in Bezug auf die anderen diskutierten Beispiele stellt sich die Frage, welche Konsequenzen die hier vorgestellten Einschätzungen in Bezug auf die Modellierung der Architektur der Einzelsprache Deutsch haben. 4. Zur Modellierung der komplexen Systemstruktur einer Einzelsprache Auf der Basis der in Abschnitt 3 erfolgten Beispieldiskussion sollen nun die in Abschnitt 2 bereits angedeuteten Denkmodelle aufgegriffen und ausgebaut werden. Auf diese Weise soll eine Verortung der in Abschnitt 3 vorgestellten Befunde im Gesamtsystem der Einzelsprache Deutsch ermöglicht werden. In Abschnitt 5 werden dann Konsequenzen für die Grammatikschreibung diskutiert. <?page no="253"?> Grammatik und Variation in Grammatikforschung und Grammatikschreibung 253 4.1 Denkmodell A: Ein gemeinsames System mit Abwahlregularitäten Wie bereits in 2. zitiert, bezeichnet Eisenberg die Annahme eigenständiger Systeme als „bedrohliche Perspektive“ (2007a, S. 277). Auch in der erwähnten Systemdebatte der Gesprochene-Sprache-Forschung gab es durchaus ein starkes Lager für die Annahme eines einheitlichen Gesamtsystems. So äußerte sich beispielsweise Hugo Steger folgendermaßen: „Die heutigen Differenzierungen zwischen gesprochenen und geschriebenen Texten der deutschen Standardsprache sind als Abwahlregularitäten erklärbar“ (1987, S. 57). Der folgende Versuch einer Modellierung grammatischer Phänomene der Wissenschaftssprache in Bezug auf das gesamtsprachliche grammatische System aus Czicza/ Hennig (2011) illustriert, dass das Denkmodell eines gemeinsamen Systems mit Abwahlregularitäten durchaus auch für andere Variationsdimensionen in Frage kommen könnte: Abb. 6: „Abwahlregularitäten“ am Beispiel diaphasischer Variation (Czicza/ Hennig 2011, S. 54) Das Denkmodell ist so zu verstehen, dass es ein gesamtsprachliches System der Grammatik gibt, das eine breite Palette an Möglichkeiten bietet, von denen in unterschiedlichen Kommunikationsbereichen auf unterschiedliche Art und Weise Gebrauch gemacht wird. So wird beispielsweise das Passiv in der Fach- und Wissenschaftssprache in besonders hohem Umfang verwendet (= expansiv), von den Möglichkeiten des Tempussystems wird hingegen mit der klaren Bevorzugung des Präsens nur sehr eingeschränkt Gebrauch gemacht (= reduktiv) (vgl. Kretzenbacher 1991 sowie Roelcke 2005). Auch die hier als Beispiel (IV) in die Diskussion eingebrachte Gegenüberstellung des Attribuierungsverhaltens eines prototypisch wissenschaftlichen und eines proto- <?page no="254"?> Mathilde Hennig 254 typisch nicht wissenschaftlichen Textes kann als Illustration für diese Modellierung angesehen werden. Die derzeitige Forschungslage deutet insgesamt also darauf hin, dass die Unterschiede zwischen Wissenschafts- und Gemeinsprache als Abwahlregularitäten beschreibbar sind. Im Sinne der Unterscheidung zwischen System und Norm bei Coseriu handelt es sich dabei um „normale Realisierungen“, also grammatische Variationsphänomene auf der Ebene der Norm und nicht auf der Ebene des Systems. 16 Dass das Modell auf eine Variationsdimension anwendbar zu sein scheint, heißt aber noch nicht automatisch, dass damit die Systemfrage in Bezug auf die gesamte Architektur der Einzelsprache Deutsch geklärt ist. 4.2 Denkmodell B: Historische Einzelsprache als Gefüge von Sprachsystemen In Hennig (2006) bin ich ausgehend von Coserius Unterscheidung zwischen System und Norm in Bezug auf die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache von folgendem Mehrebenenmodell ausgegangen: Gemeinsame Grammatik des Systems Gemeinsame Grammatik der Norm Grammatik des Systems der GSPS Grammatik der Norm der GSPS Grammatik des Systems der GSCHS Grammatik der Norm der GSCHS Abb. 7: Mehrebenenmodell der Grammatik (Hennig 2006, S. 120) Dieser Modellierung liegt die Einschätzung zu Grunde, dass die Systemfrage nicht unbedingt als Entweder-Oder-Frage gestellt werden muss (also entweder ein gemeinsames System oder eigenständige Systeme), sondern dass es durchaus der Fall sein kann, dass es einerseits grammatische Phänomene gibt, die einem gemeinsamen System angehören und andererseits auch grammatische Spezifika. Deshalb wird also den Ebenen der gesprochenen und geschriebenen Sprache auch eine gemeinsame grammatische Ebene gegenübergestellt. Da nicht alle Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener 16 Wenn man wiederum das Vorhandensein eines eigenständigen Systems als Bedingung für die Annahme einer Varietät ansieht, führt diese Einschätzung im Grunde genommen zu der Schlussfolgerung, dass der Bereich der Wissenschaftssprache keine eigene Varietät bildet. Zur Differenzierung eignet sich möglicherweise der von Schmidt/ Herrgen (2011) vorgenommene Unterschied zwischen ‘Vollvarietät’ und ‘sektorale Varietät’. Diese Bemerkung erfolgt hier deshalb im Rahmen einer Fußnote, weil eine ausführliche Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Qualitäten verschiedener funktioneller Sprachen den Rahmen sprengen würde. <?page no="255"?> Grammatik und Variation in Grammatikforschung und Grammatikschreibung 255 Sprache systematisch im auch hier in den Abschnitten 2 und 3 beschriebenen Sinne sind, sondern da es neben systematischen Spezifika auch „normale Realisierungen“ (im Sinne von Coseriu) geben kann (bspw. im Bereich des Tempusgebrauchs, vgl. Hennig 2000), wurde dem Bereich des grammatischen Systems der Bereich der grammatischen Norm gegenübergestellt. Wie bereits in 4.1 ausgeführt, korreliert die Ebene der Norm mit dem Denkmodell A zugrunde liegenden Konzept der Abwahlregularitäten. 17 Dem Mehrebenenmodell aus Hennig (2006) liegt die Überzeugung zu Grunde, dass es prinzipiell denkbar ist, dass einzelne Bereiche sprachlicher Variation eigenständige Systeme haben bzw. darstellen. So heißt es auch bei Coseriu: „Eine historische Sprache ist nie ein einziges Sprachsystem, sondern ein Gefüge von - teilweise - verschiedenen Sprachsystemen.“ (2007, S. 24) 18 bzw. „Die Architektur als die äußere Struktur betrifft die Zusammensetzung des sprachlichen Wissens aus verschiedenen Sprachsystemen, z.B. aus verschiedenen Mundarten, aus verschiedenen Sprachniveaus und stets aus verschiedenen Sprachstilen.“ (ebd., S. 263f.). Wenn man nun - wie in Abschnitt 2 ausgeführt - annimmt, dass die verschiedenen „funktionellen Sprachen“ eigenständige Systeme darstellen, kommt man zu folgendem Denkmodell: Abb. 8: Eigenständige Systeme Das ist natürlich eine Idealisierung, die außer Acht lässt, dass es kein Individuum [gibt], das überhaupt nichts von anderen Mundarten und Sprachniveaus weiß. Jedes Individuum kennt per definitionem mehrere Sprachstile. Es spricht nicht nur eine einzige funktionelle Sprache innerhalb seiner historischen Sprache. (Coseriu 2007, S. 265) 17 In Hennig (2002, S. 322) findet sich der Versuch der Zuordnung einzelner in der Gesprochene- Sprache-Forschung beschriebenen Phänomenen zu den Ebenen des Systems und der Norm der GSPS, auch dort bereits vor dem Hintergrund der Frage nach Konsequenzen für die Grammatikschreibung. 18 Vgl. auch Ammon „Eine ganze Sprache wird dabei aufgefasst als eine Menge von Varietäten, besonders von Dialekten und einer oder mehreren Standardvarietäten.“ (2004, S. 180), in Anlehnung daran auch Berruto: „Eine Sprache kann also als eine Menge von Varietäten definiert werden.“ (ebd., S. 189). <?page no="256"?> Mathilde Hennig 256 Folglich ist die „empirische Isolierung des Systems und der Normen einer bestimmten funktionellen Sprache mitunter sehr schwer“ (Ágel 2008, S. 66). Wenn man das hier vorgestellte Denkmodell weiter verfolgen möchte, muss man also mindestens mit Überlappungen zwischen den Systemen rechnen: Abb. 9: Überlappende Systeme Nach diesem Modell müsste sich das System einer Einzelsprache quasi als Summe aus allen Systemen funktioneller Sprachen ergeben. 4.3 Denkmodell C: Baukastenprinzip Das nun vorzustellende Denkmodell C ist quasi ein integratives Modell, das sowohl die Verortung von grammatischen Phänomenen im Sinne von Denkmodell A als auch im Sinne von Denkmodell B erlaubt. Es ist das von mir präferierte Modell, weil ich davon ausgehe, dass es am ehesten geeignet ist, der Vielschichtigkeit von grammatischen Variationsphänomenen gerecht zu werden. So geht dieses Modell weder davon aus, dass alle Variationsphänomene als Abwahlregularitäten auf der Basis eines einheitlichen Gesamtsystems verstehbar sind, noch davon, dass alle Variationsphänomene spezifischen Systemen einzelner funktioneller Sprachen zuzuordnen sind, sondern es bietet die Möglichkeit, beide Typen von Variationsphänomenen zu verorten: Das „Baukastenprinzip“ sieht ein Nebeneinander verschiedener Bausteine vor, die entweder dem varietätenübergreifenden Kernsystem angehören oder spezifische Systembausteine einzelner Varietäten sind. Die Abbildung ist also nicht so zu verstehen, dass die hier aufgeführten potenziellen Systeme jeweils das Gesamtsystem einer Varietät bilden. Es ist also nicht so gemeint, dass etwa das Kernsystem mit dem System der Standardsprache übereinstimmt und das diatopische System A das System des Dialekts oder der Regionalsprache A abbildet. Vielmehr ist das Baukastenprinzip ein kombinatorisches Prinzip: Die Systeme funktioneller Sprachen setzen sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen, die entweder Bausteine des Kernsystems sind oder aber spezifische Bausteine der jeweiligen Varietät. Insofern illustriert die Abbildung nur <?page no="257"?> Grammatik und Variation in Grammatikforschung und Grammatikschreibung 257 Abb. 10: Baukastenprinzip die Bausteine (Teilsysteme), die in der jeweiligen Kombinatorik die Systeme von einzelnen Varietäten konstituieren. Darüber hinaus stellt auch die hier vorgenommene Abbildung auf die verschiedenen diasystematischen Variationsdimensionen eine Idealisierung dar, sie soll lediglich die prinzipiellen Möglichkeiten der Zuordnung illustrieren. Vor allem ist der große Bereich des Kernsystems eine starke Vereinfachung, denn vor allem das Kernsystem dürfte eine sehr komplexe interne Struktur aus diversen Teilsystemen aufweisen (vgl. Hennig 2017). Die Grundidee des Baukastenprinzips sei nun durch eine Verortung der in Abschnitt 3 diskutierten Beispiele illustriert: Listen und Diskursmarker sind spezifisch-systematische Bausteine der gesprochenen Sprache. Ebenso sind die flektierbaren Subjunktoren spezifisch-systematische Bausteine der entsprechenden Dialekte. Die anderen diskutierten Beispiele hingegen können als Variationsphänomene innerhalb des Kernsystems beschrieben werden. Das Kernsystem umfasst also einerseits homogene varietätenübergreifende grammatische Eigenschaften und bietet andererseits die Möglichkeit der Verortung systeminterner Phänomene grammatischer Variation. Im Sinne von Abbildung 1 können diese sowohl sprachintern als auch sprachextern bedingt sein. So lassen sich im Kernsystem sowohl solche Variationsphänomene verorten, die unabhängig von den diasystematischen Dimensionen der Variation sind, als auch solche Phänomene, bezüglich derer es Abwahlregularitäten in <?page no="258"?> Mathilde Hennig 258 bestimmten variationellen Kontexten gibt. Gerade weil das Kernsystem eben nicht nur aus in sich homogenen Komponenten besteht, sondern sich an vielen Stellen Teilsysteme gegenüberstehen, die im Sprachgebrauch in Konflikt geraten können (im Sinne von Ágel 2008; ausführlicher dazu in Hennig 2017), bildet die Annahme eines varietätenübergreifenden Kernsystems und von innerhalb des Kernsystems stattfindender grammatischer Variation keinen Widerspruch. Wie so häufig führt der Versuch der Bearbeitung einer Gretchenfrage - hier war ja die Systemgretchenfrage, also die Frage, ob verschiedene Varietäten ein gemeinsames System haben oder aber eigenständige Systeme, der Ausgangspunkt - zu weiterführenden Fragen. So ergibt sich aus der Annahme eines Baukastenprinzips mit einem Kernsystem als zentraler Komponente die Frage, wie man genau ermitteln kann, welche Phänomene dem Kernsystem angehören und welche nicht. In der Beispieldiskussion wurden diesbezüglich einige potenzielle Kriterien diskutiert. Als besonders starke Indizien dafür, dass ein Phänomen nicht zum Kernsystem gehört, haben sich als anwendbar erwiesen: - das jeweilige Phänomen ist im Kontext einer Varietät normal; - das jeweilige Phänomen weist eine spezifische Struktur auf; - der Verwendung des Phänomens liegt ein spezifisches Form-Funktions- Zusammenspiel zugrunde; - für die Beschreibung des Phänomens sind spezifische Beschreibungskategorien notwendig. Dabei können dann solche Phänomene, auf die alle der genannten Kriterien uneingeschränkt zutreffen, als besonders gute Kandidaten für nicht zum Kernsystem gehörige Phänomene gelten. Wenn ein Phänomen umgekehrt in mehreren variationellen Kontexten normal ist und funktional nicht auf bestimmte Bedingungen einer Varietät zugeschnitten, ist es ein Kandidat für das Kernsystem. 5. Konsequenzen für die Grammatikschreibung Das zentrale Anliegen des vorliegenden Beitrags bestand darin, die von Zifonun (2009) angeregte Diskussion zur genaueren Bestimmung des sprachsystematischen Gegenstands der Grammatikschreibung aufzugreifen und mit systematischen Überlegungen zum Stellenwert grammatischer Variationsphänomene im Gesamtsystem der Einzelsprache Deutsch zur Verortung von Variationsphänomenen in der Grammatikschreibung beizutragen. Die nun folgenden Überlegungen zu Konsequenzen für die Grammatikschreibung verstehen sich als Beitrag zu dieser Fragestellung. Dabei sei sicherheitshalber betont, dass es um die Grammatikschreibung im Allgemeinen geht, d.h., es handelt sich ausschließlich um theoretisch-konzeptionelle Überlegungen zur Integra- <?page no="259"?> Grammatik und Variation in Grammatikforschung und Grammatikschreibung 259 tion grammatischer Variation in die Grammatikschreibung und nicht etwa um die Analyse oder Bewertung bisher erfolgter Integrationsversuche. 19 Wenn hier von Konsequenzen für die Grammatikschreibung gesprochen wird, so setzt das voraus, dass es sich um eine Form der Grammatikschreibung handelt, die sich zum Ziel setzt, grammatische Variation zu berücksichtigen. Wie in der Einleitung bereits angedeutet wurde, kommen Grammatikautoren heutzutage nicht umhin, sich mit grammatischer Variation auseinanderzusetzen, sie müssen sich dazu verhalten. Dabei gibt es natürlich die Möglichkeit des expliziten Bekenntnisses zu einem eingeschränkten Bereich sprachlicher Variation, wie Eisenberg (2007a, b) es vorschlägt. In welchem Umfang auch sprachextern bedingte grammatische Variation in einer Grammatik abgedeckt werden soll, hängt immer von der Zielsetzung einer Grammatik ab und kann hier deshalb nicht allgemein bestimmt werden. Die hier erfolgenden Vorschläge zur Integration von Phänomenen grammatischer Variation in die Grammatikschreibung verstehen sich also ausschließlich als Schlussfolgerungen aus den Überlegungen zur Modellierung des Verhältnisses von diasystematischer Variation und grammatischer Systematik. Wenn man davon ausgeht, dass es ein quer zur Varietätensystematik liegendes Kernsystem gibt, so folgt daraus, dass jede Grammatik der Einzelsprache Deutsch dieses Kernsystem zum Gegenstand haben muss (deshalb wird im Folgenden von ‘Kerngrammatik’ gesprochen). Die Berücksichtigung weiterer Systeme hängt wie gesagt von der jeweiligen Zielsetzung einer Grammatik ab. Im Großen und Ganzen kann davon ausgegangen werden, dass bestehende Grammatiken dieser Anforderung gerecht werden, indem sie sich um die Abbildung des Systems der Standardsprache bemühen, die ja zumindest in Bezug auf die diatopische Variation als neutral, also nicht variationell markiert gilt. Angesichts des immer wieder diagnostizierten bzw. beklagten Skriptizismus (Coulmas 1985; Krämer 1996; Ágel 2003) gibt es aber wohl keine völlig neutrale Grammatikschreibung. Diejenigen vorhandenen Ansätze zur Integration gesprochener Sprache in die Grammatikschreibung, die der gesprochenen Grammatik ein eigenständiges Kapitel widmen (vgl. insbesondere die IDS-Grammatik 1997 und die Dudengrammatik 2005), setzen im Grunde genommen voraus, dass die gesprochene Sprache über systematische Eigenschaften verfügt, die nicht im Rahmen der Kerngrammatik beschrieben werden können. Hier wird hingegen ausgehend von Denkmodell C vorgeschlagen, systeminterne Variationsphänomene innerhalb der Kerngrammatik zu beschreiben und lediglich solche Variationsphänomene in eigenständige auf die jeweilige Variationsdimension bezogene 19 Zur Integration gesprochener Sprache in konkrete Exemplare der Grammatikschreibung siehe Hennig (2002). <?page no="260"?> Mathilde Hennig 260 Kapitel auszulagern, die kernsystemextern, also spezifisch für die jeweilige Variationsdimension sind. Angesichts der Breite an in Abschnitt 3 illustrierten Variationsmöglichkeiten (und auch diese Illustration war ja rein exemplarisch) stellt sich die Frage, welche Arten von Variationsphänomenen Gegenstand der Grammatikschreibung sein sollten und welche - im Sinne der von Zifonun (2009) angesprochenen Notwendigkeit der Komplexitätsreduktion - möglicherweise nicht unbedingt den Übergang von der linguistischen Forschung zur Grammatikschreibung bestreiten müssen. Zu dieser Frage soll hier abschließend anhand der in Abschnitt 3 angewendeten Kriterien ‘Struktur’ und ‘Funktion’ Stellung genommen werden. So hat sich gezeigt, dass unterschieden werden kann zwischen solchen Variationsphänomenen, die sich in Bezug auf diese Kriterien als systematisch eigenständige Phänomene einer Variationsdimension erweisen, und solchen, die diesbezüglich keine Eigenständigkeit aufweisen und deshalb als Variation innerhalb des Kernsystems aufgefasst werden können. Mit Beispiel (VII) wurde aber auch auf die prinzipielle Möglichkeit hingewiesen, dass eine dem Kernsystem angehörende Struktur in funktional spezifischen Zusammenhängen verwendet werden kann. Folglich ist die Unterscheidung zwischen systemexternen und systeminternen Variationsphänomenen eher skalar als dichotomisch zu verstehen: Abb. 11: Typen von Variationsphänomenen Phänomene wie (VII) wären also eher in der Mitte angesiedelt, Beispiele wie (III, V, VI) am linken Pol und Beispiele wie (I, II, IV) am rechten Pol. Ob System A überhaupt beschrieben wird, hängt, wie mehrfach erwähnt, von der Zielsetzung der Grammatik ab. Wenn sie sich zum Ziel gesetzt hat, die Varietät X zu berücksichtigen, sollten die am Pol stehenden Phänomene Gegenstand der Darstellung in einem die Spezifik dieser Phänomene herausarbeitenden gesonderten Kapitel sein. Aber auch am rechten Pol stehende Variationsphänomene sind nur dann automatisch Gegenstand der Grammatik, wenn sie sprachintern bedingt sind (Stichwort: Genitivvariation), auch hier setzt eine Berücksichtigung sprachextern bedingter Variationsphänomene eine entsprechende Ziel- <?page no="261"?> Grammatik und Variation in Grammatikforschung und Grammatikschreibung 261 setzung der Grammatikschreibung voraus; beispielsweise wird wohl kaum jede Grammatik in der Lage sein, diatopische Varianz wie in den Beispielen (I) und (II) vollständig abzubilden. Fälle wie (VII) müssen m.E. nicht unbedingt Berücksichtigung in der Grammatikschreibung finden, es sei denn, es handelt sich um eine Grammatik mit explizitem Schwerpunkt auf gesprochener Sprache, die neben spezifischen Strukturen auch allgemeine Prinzipien wie Emergenz, Interaktionalität und On-line-Zeitlichkeit beschreiben möchte. Der im vorliegenden Beitrag vorgenommene Versuch einer Systematisierung von Phänomenen grammatischer Variation ändert nichts daran, dass Grammatikschreibung im Zeitalter von Variations- und Korpuslinguistik und konkurrierender grammatiktheoretischer Zugänge ein komplexes Geschäft ist. Vor diesem Hintergrund versteht sich der Beitrag in erster Linie als ein Plädoyer für eine intensivere Zusammenarbeit variationslinguistischer Forschungsrichtungen und germanistischer Grammatikforschung. Literatur Ágel, Vilmos (2003): Prinzipien der Grammatik. In: Lobenstein-Reichmann, Anja/ Reichmann, Oskar (Hg.): Neue historische Grammatiken. Zum Stand der Grammatikschreibung historischer Sprachstufen des Deutschen und anderer Sprachen. (= Reihe Germanistische Linguistik 243). Tübingen, S. 1-46. Ágel, Vilmos (2008): Bastian Sick und die Grammatik. Ein ungleiches Duell. In: Informationen Deutsch als Fremdsprache 35, S. 64-84. 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Berlin/ New York, S. 333-354. <?page no="266"?> Studien zur Deutschen Sprache Forschungen des Instituts für Deutsche Sprache herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Angelika Wöllstein Aktuelle Bände: Frühere Bände finden Sie unter: http: / / www.narr-shop.de/ reihen/ s/ studien-zurdeutschen-sprache.html 49 Wolf-Andreas Liebert / Horst Schwinn (Hrsg.) Mit Bezug auf Sprache Festschrift für Rainer Wimmer 2009, 584 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6470-2 50 Daniela Heidtmann Multimodalität der Kooperation im Lehr-Lern-Diskurs Wie Ideen für Filme entstehen 2009, 340 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6471-9 51 Ibrahim Cindark Migration, Sprache und Rassismus Der kommunikative Sozialstil der Mannheimer „Unmündigen“ als Fallstudie für die „emanzipatorischen Migranten“ 2010, 283 Seiten €[D] 72, - ISBN 978-3-8233-6518-1 52 Arnulf Deppermann / Ulrich Reitemeier / Reinhold Schmitt / Thomas Spranz-Fogasy Verstehen in professionellen Handlungsfeldern 2010, 392 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6519-8 53 Gisella Ferraresi Konnektoren im Deutschen und im Sprachvergleich Beschreibung und grammatische Analyse 2011, 350 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6558-7 54 Anna Volodina Konditionalität und Kausalität im Deutschen Eine korpuslinguistische Studie zum Einfluss von Syntax und Prosodie auf die Interpretation komplexer Äußerungen 2011, 288 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6559-4 55 Annette Klosa (Hrsg.) elexiko Erfahrungsberichte aus der lexikografischen Praxis eines Internetwörterbuchs 2011, 211 Seiten €[D] 72, - ISBN 978-3-8233-6599-0 56 Antje Töpel Der Definitionswortschatz im einsprachigen Lernerwörterbuch des Deutschen Anspruch und Wirklichkeit 2011, 432 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6631-7 <?page no="267"?> 57 Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia / Melanie Steinle (Hrsg.) Sprache und Integration Über Mehrsprachigkeit und Migration 2011, 253 Seiten €[D] 72, - ISBN 978-3-8233-6632-4 58 Inken Keim / Necmiye Ceylan / Sibel Ocak / Emran Sirim Heirat und Migration aus der Türkei Biografische Erzählungen junger Frauen 2012, 343 Seiten €[D] 49, - ISBN 978-3-8233-6633-1 59 Magdalena Witwicka-Iwanowska Artikelgebrauch im Deutschen Eine Analyse aus der Perspektive des Polnischen 2012, 230 Seiten 72, - ISBN 978-3-8233-6703-1 60 Kathrin Steyer (Hrsg.) Sprichwörter multilingual Theoretische, empirische und angewandte Aspekte der modernen Parömiologie 2012, 470 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6704-8 61 Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia / Christiane Schoel / Dagmar Stahlberg (Hrsg.) Sprache und Einstellungen Spracheinstellungen aus sprachwissenschaftlicher und sozialpsychologischer Perspektive. Mit einer Sprachstandserhebung zum Deutschen von Gerhard Stickel 2012, 370 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6705-5 62 Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt (Hrsg.) Raum als interaktive Ressource 2012, 400 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6706-2 63 Annette Klosa (Hrsg.) Wortbildung im elektronischen Wörterbuch 2013, 279 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6737-6 64 Reinhold Schmitt Körperlich-räumliche Aspekte der Interaktion 2013, II, 334 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6738-3 65 Kathrin Steyer Usuelle Wortverbindungen Zentrale Muster des Sprachgebrauchs aus korpusanalytischer Sicht 2014, II, 390 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6806-9 66 Iva Kratochvílová / Norbert Richard Wolf (Hrsg.) Grundlagen einer sprachwissenschaftlichen Quellenkunde 2013, 384 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6836-6 67 Katrin Hein Phrasenkomposita im Deutschen Empirische Untersuchung und konstruktionsgrammatische Modellierung 2015, 510 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6921-9 <?page no="268"?> 68 Stefan Engelberg / Meike Meliss / Kristel Proost / Edeltraud Winkler (Hrsg.) Argumentstruktur zwischen Valenz und Konstruktion 2015, 497 Seiten €[D] 128, - ISBN 978-3-8233-6960-8 69 Nofiza Vohidova Lexikalisch-semantische Graduonymie Eine empirisch basierte Arbeit zur lexikalischen Semantik 2016, ca. 340 Seiten €[D] ca. 88, - ISBN 978-3-8233-6959-2 70 Marek Konopka / Eric Fuß Genitiv im Korpus Untersuchungen zur starken Flexion des Nomens im Deutschen 2016, 283 Seiten €[D] 108, - ISBN 978-3-8233-8024-5 71 Eva-Maria Putzier Wissen - Sprache - Raum Zur Multimodalität der Interaktion im Chemieunterricht 2016, 282 Seiten €[D] 108, - ISBN 978-3-8233-8032-0 72 Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt / Wolfgang Kesselheim Interaktionsarchitektur, Sozialtopographie und Interaktionsraum 2016, 452 Seiten €[D] 138, - ISBN 978-3-8233-8070-2 73 Irmtraud Behr / Anja Kern / Albrecht Plewnia / Jürgen Ritte (Hrsg.) Wirtschaft erzählen Narrative Formatierungen von Ökonomie 2017, 278 Seiten €[D] 108, - ISBN 978-3-8233-8072-6 74 Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel (Hrsg.) Verben im interaktiven Kontext Bewegungsverben und mentale Verben im gesprochenen Deutsch 2017, 494 Seiten €[D] 128, - ISBN 978-3-8233-8105-1 75 Nadine Schimmel-Fijalkowytsch Diskurse zur Normierung und Reform der deutschen Rechtschreibung Eine Analyse von Diskursen zur Rechtschreibreform unter soziolinguistischer und textlinguistischer Perspektive 2017, 404 Seiten €[D] 128, - ISBN 978-3-8233-8106-8 76 Eric Fuß / Angelika Wöllstein (Hrsg.) Grammatiktheorie und Grammatikographie 2018, 265 Seiten €[D] 108, - ISBN 978-3-8233-8107-5 77 Jarochna D ą browska-Burkhardt / Ludwig M. Eichinger / Uta Itakura (Hrsg.) Deutsch: lokal - regional - global 2017, 474 Seiten €[D] 138, - ISBN 978-3-8233-8132-7 78 Karoline Kreß Das Verb machen im gesprochenen Deutsch Bedeutungskonstitution und interaktionale Funktionen 2017, 396 Seiten €[D] 128, - ISBN 978-3-8233-8153-2 <?page no="269"?> ISBN 978-3-8233-8107-5 Das Verhältnis von Grammatiktheorie und Grammatikschreibung ist nicht zuletzt aufgrund der Heterogenität ihrer Ziele nicht immer einfach. Der vorliegende Band plädiert dafür, dass beide Disziplinen von einer stärkeren Kooperation profitieren. So können Einsichten aus der Grammatiktheorie wie die Aufdeckung neuer Generalisierungen und tieferer Zusammenhänge zu einer Vereinfachung und Systematisierung der Grammatikschreibung beitragen. Umgekehrt sind umfassende Darstellungen, wie sie in deskriptiven Grammatiken vorliegen, als Datenbasis und Prüfstein der theoretischen Linguistik unentbehrlich.