Homer und Vergil im Vergleich
Ein Paradigma antiker Literaturkritik und seine Ästhetik
0612
2017
978-3-8233-9110-4
978-3-8233-8110-5
Gunter Narr Verlag
Philipp Weiß
Der Vergleich mit Homer bestimmt das Bild Vergils in der Literaturgeschichte bis in die Gegenwart. Schon in der Antike waren "Ilias" und "Odyssee" die wichtigsten Bezugspunkte, wenn es darum ging, Vergils dichterische Leistung zu taxieren. Dabei reichte das Spektrum vom simplen Vorwurf des Homerplagiats bis hin zur Anerkennung künstlerischer Eigenständigkeit beim 'imitator' Vergil, der an die Stelle homerischer 'simplicitas' den Gedanken der 'ars', also der ästhetisch gleichwertigen dichterischen Umarbeitung der Vorbildstelle, setzt. Dieser Band zeichnet unter Rekonstruktion ihrer jeweiligen ästhetischen Prinzipien die Antworten nach, die Seneca d. Ä., Gellius und Macrobius auf die Homer-Vergil-Frage gefunden haben. Die detaillierte Untersuchung über diesen speziellen Fall eines Autorenvergleichs ist eingebettet in die allgemeinere Fragestellung nach den Methoden und vor allem der Funktion komparativer Lektüre in der Antike überhaupt.
<?page no="0"?> www.narr.de ISBN 978-3-8233-8110-5 Der Vergleich mit Homer bestimmt das Bild Vergils in der Literaturgeschichte bis in die Gegenwart. Schon in der Antike waren Ilias und Odyssee die wichtigsten Bezugspunkte, wenn es darum ging, Vergils dichterische Leistung zu taxieren. Dabei reichte das Spektrum vom simplen Vorwurf des Homerplagiats bis hin zur Anerkennung künstlerischer Eigenständigkeit beim imitator Vergil, der an die Stelle homerischer simplicitas den Gedanken der ars, also der ästhetisch gleichwertigen dichterischen Umarbeitung der Vorbildstelle, setzt. Dieser Band zeichnet unter Rekonstruktion ihrer jeweiligen ästhetischen Prinzipien die Antworten nach, die Seneca d. Ä., Gellius und Macrobius auf die Homer-Vergil-Frage gefunden haben. Die detaillierte Untersuchung über diesen speziellen Fall eines Autorenvergleichs ist eingebettet in die allgemeinere Fragestellung nach den Methoden und vor allem der Funktion komparativer Lektüre in der Antike überhaupt. Philipp Weiß Homer und Vergil Homer und Vergil im Vergleich Ein Paradigma antiker Literaturkritik und seine Ästhetik von Philipp Weiß <?page no="1"?> Homer und Vergil im Vergleich <?page no="2"?> CLASSICA MONACENSIA Münchener Studien zur Klassischen Philologie Herausgegeben von Martin Hose und Claudia Wiener Band 5 · 2017 2 <?page no="3"?> Philipp Weiß Homer und Vergil im Vergleich Ein Paradigma antiker Literaturkritik und seine Ästhetik <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb. de abrufbar. Diss. Ludwig-Maximilians-Universität München 2016 Gedruckt mit Unterstützung der FAZIT-STIFTUNG/ Gemeinnützige Verlagsgesellschaft mbH und der Munich Graduate School for Ancient Studies/ Distant Worlds. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Umschlagabbildung: Marmorsphinx als Basis. Neapel, Museo Nazionale Inv. 6882. Guida Ruesch 1789. H: 91 cm INR 67.23.57 Printed in Germany ISSN 0941-4274 ISBN 978-3-8233-8110-5 <?page no="5"?> 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1 Die Verhandelbarkeit des Kanons: Vier spätantike Epigramme zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2 Fragestellung, forschungsgeschichtliche Einordnung und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.3 Die Synkrisis in der antiken Praxis und Theorie im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.3.1 Der Literaturvergleich als Methode und Gattung philologischer Spezialliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.3.2 Dionysios von Halikarnassos über die Funktion komparativer Literaturkritik ( Pomp. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.1 Die obtrectatores Vergilii in der Nachfolge der Homerkritiker ( VSD 43-46) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.2.1 Philologische Spezialschriften περὶ κλοπῆς . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil im Kontext der zeitgenössischen imitatio -Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3.1 Klassizistische imitatio -Konzeption und Plagiatsbegriff bei Seneca d. Ä. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern nach dem Kriterium der Glaubwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.2.1 Ein Urteil des Maecenas und die Kategorie der sachlichen ὑπερβολή ( suas. 1, 12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.2.2 Ein Urteil Ovids und die Kategorie der psychologischen πιθανότης ( contr. 7, 1, 27) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 <?page no="6"?> 6 Inhaltsverzeichnis 4. Gellius, Noctes Atticae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.1.1 Enzyklopädische, rhetorische und grammatische Bildung bei Gellius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.1.2 Autoren- und Textvergleiche in den Noctes Atticae - eine Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4.1.3 Die synkritischen Kapitel in den Noctes Atticae . . . . . . . . . . . . . . 113 4.2 Parthenios und Homer als polare Bezugsgrößen für die Bewertung Vergils (Gell. 13, 27) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4.3 Ein bloßgestellter Kritiker: Probus über das Auftrittsgleichnis der Dido (Gell. 9, 9, 12-17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 5. Macrobius, Saturnalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.1.1 Vergil im Bildungskonzept der Saturnalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.1.2 Inszenierte Philologie in den grammatischen Vorträgen von Sat. 5, 2-6, 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 5.1.3 Aufbau und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 5.1.3.1 Die Gliederung der Vorträge über Vergils Kunst der imitatio in Sat. 5, 2-6, 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 5.1.3.2 Folgerungen für die Quellenfrage von Sat. 4-6 . . . . . . . 187 5.2 Homer und Vergil in Sat. 5: Synkrisis und struktureller Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5.2.1 Wettstreit zweier Dichter ( Sat. 5, 11 und 13) . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5.2.1.1 Vergil vor Homer: cultus als Kriterium der Wertung ( Sat. 5, 11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5.2.1.2 Homer vor Vergil: Verschiedene stilistische Einzelaspekte ( Sat. 5, 13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 5.2.2 Dichtung in Nachfolge Homers - Elemente einer komparativen Poetik ( Sat. 5, 14, 1-17, 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 5.2.2.1 Die πάθη des Hexameters ( Sat. 5, 14, 1-4) . . . . . . . . . . . . 250 5.2.2.2 Die εἴδη des Hexameters ( Sat. 5, 14, 5) . . . . . . . . . . . . . . . . 263 5.2.2.3 Epanalepsen und Anaphern ( Sat. 5, 14, 6) . . . . . . . . . . . . . 269 5.2.2.4 Epitheta ( Sat. 5, 14, 7-8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 5.2.2.5 Apostrophen ( Sat. 5, 14, 9-10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 5.2.2.6 Erzähltechnik ( Sat. 5, 14, 11-16 und Sat. 5, 17, 1-4) . . . 282 5.2.2.7 Kataloge ( Sat. 5, 15, 1-16, 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 5.2.2.8 Sentenzen ( Sat. 5, 16, 6-8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis 7 5.2.2.9 Sachliche Abweichungen ( Sat. 5, 16, 8-11) . . . . . . . . . . . 315 5.2. 2. 10 Unmerkliche Entlehnungen ( Sat. 5, 16, 12-14) . . . . . . 326 5.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 6. Der Vergleich mit Homer im Kontext der Kanonisierung Vergils . . . . . . . . . . . . 331 Gliederung zu den Büchern 5 - 6 der Saturnalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Übersicht über die Vergilparallelen in Sat . 5, 2 - 6, 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Bucolica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Georgica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Aeneis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Index der behandelten Textstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 <?page no="9"?> 9 Vorwort Die hier publizierte Studie hat im Dezember 2015 der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertationsschrift vorgelegen; die Disputation erfolgte am 28. Januar 2016. Mein erster und wichtigster Dank gilt Prof. Dr. Claudia Wiener, die die Arbeit angeregt und mit großem Einsatz und Interesse betreut hat. Der Accessus ad Vergilium wurde mir durch sie bereits im Studium bereitet. Ihre Aufgeschlossenheit und ständige Gesprächsbereitschaft, verbunden mit enzyklopädischer Fachkenntnis und philologischer Akribie, waren die idealen und keineswegs selbstverständlichen Voraussetzungen für den Doktoranden, ein so umfangreiches Projekt innerhalb eines vertretbaren Zeitrahmens fertigzustellen. Prof. Dr. Martin Hose hat dankenswerterweise das Korreferat übernommen und wichtige Anregungen gegeben, die mir die Synthese der Ergebnisse erleichterten. PD Dr. Bianca-Jeanette Schröder und Prof. Dr. Susanne Gödde ( FU Berlin) waren spontan dazu bereit, das Drittgutachten über die Dissertation zu erstellen bzw. als Kommissionsmitglied bei der Disputation zu fungieren. Ihnen allen danke ich herzlich für die Zeit und Mühe, die sie für mich investiert haben. Ermöglicht haben mir die Umsetzung meines Dissertationsvorhabens in der Anfangszeit ein Doktorandenstipendium der Hanns-Seidel-Stiftung und von 2013 bis 2016 eine Anstellung als Doctoral Fellow an der Graduiertenschule Distant Worlds ( LMU München), wo ich ein in gleicher Weise intellektuell anregendes wie auch zwischenmenschlich erfüllendes akademisches Klima vorgefunden habe. Einzelne Abschnitte und Thesen konnte ich bei Vorträgen und Tagungen in München ( Forschungskolloquium an der Abteilung für Griechische und Lateinische Philologie , 2013), Salzburg ( Volturnia , 2014) und Eichstätt (Tagung zur „Philologie auf zweiter Stufe“, 2015) vorstellen. Allen Diskutanten, Kollegen und Freunden, besonders auch den Mitgliedern meiner Focus area bei Distant Worlds ( Constructions of „the beautiful“ ), die mir ihre wertvollen Hinweise, Fragen, Anregungen und Kritik gegeben und z. T. einzelne Kapitel gegengelesen haben, sei an dieser Stelle aufrichtig gedankt. Nur wenige Namen sollen stellvertretend für viele weitere stehen: Dr. habil. Anna Anguissola (Pisa), Nadiya Eberts, Manuel Förg, Prof. Dr. Jens-Uwe Hartmann, Constanze Pabst von Ohain, Dr. Stefano Rocchi, Prof. Dr. Rolf Michael Schneider, Martin Schrage, Dr. Verena Schulz, Dr. Paolo Visigalli (Shanghai), Dr. Isabella Wiegand, Alexander Winkler. Einen besonderen Anteil an der Entstehung dieses Buches hat Ulrich Feckl. <?page no="10"?> 10 Vorwort Prof. Dr. Claudia Wiener und Prof. Dr. Martin Hose haben die Arbeit in ihre Reihe Classica Monacensia aufgenommen. Die Drucklegung wurde durch Zuschüsse der Graduiertenschule Distant Worlds und der FAZIT -Stiftung ermöglicht. Diesen Personen und Institutionen bin ich für ihre freundliche Unterstützung in den praktischen Belangen meines Publikationsprojekts eigens zum Dank verpflichtet. Gewidmet sei dieses Buch den drei Menschen, die mich seit frühester Kindheit in vielerlei Hinsicht unterstützt und hinter mir gestanden haben, meinen Eltern Rosa Maria und Erwin Weiß, sowie meiner Tante Agnes Weiß († 22. September 2016). München, April 2017 <?page no="11"?> 1.1 Die Verhandelbarkeit des Kanons: Vier spätantike Epigramme zur Einführung 11 1. Einleitung 1.1 Die Verhandelbarkeit des Kanons: Vier spätantike Epigramme zur Einführung In der Sammlung (spät-)antiker und frühmittelalterlicher Kleindichtung, die seit ihrer editorischen Bearbeitung durch Alexander Riese den Titel Anthologia Latina trägt, findet sich eine beträchtliche Anzahl von Gedichten über Vergil. In einigen von ihnen ist es den Autoren speziell um die Frage zu tun, welchen Platz der Dichter der Aeneis im Kanon der griechisch-römischen Literatur einnimmt. So in dem folgenden, unter dem Namen des Alcimus 1 überlieferten Epigramm mit der Überschrift Virgilius ( Anth. Lat. 674 a 2 Riese): 2 Maeonium quisquis Romanus nescit Homerum, | Me legat, et lectum credat utrumque sibi. | Illius immensos miratur Graecia campos; | At minor est nobis, sed bene cultus ager. | Hic tibi nec pastor nec curvus deerit arator. | Haec Grais constant singula, trina mihi. („Ein jeder Römer, der den Mäonier Homer nicht kennt, soll mich lesen und glauben, dass er damit beide gelesen hat. Griechenland bewundert die unermesslichen Felder jenes Dichters - unser Acker hingegen ist kleiner, dafür aber gut gepflegt. Hier wirst du weder den Hirten noch den Pflüger mit krummem Rücken vermissen. Für die Griechen macht das alles nur ein einziges Werk aus, für mich drei.“) Das Gedicht ist, worauf schon der Titel hinweist, als Ethopoiie gestaltet, eine in der Spätantike beliebte Form des Dichtens über Literatur. 3 Vergil spricht also selbst: Er richtet sich an ein römisches Publikum , erhebt scherzhaft den An- 1 Vgl. Kurt Smolak: Art. „Alcimus“, in: HLL § 546, 3 = HdAW VIII.5 245-246, wonach der Dichter der folgenden Epigramme mit dem bei Auson. prof. Burd. 2 = 35 Prete genannten Rhetor Alcimus Alethius identisch ist. Auf ihn beziehen sich wohl auch Hier. chron. ab Abr. 2387 = 239 Helm ( Alcimus et Delphidius rhetores in Aquitanica florentissime docent ) - diese Datierung verweist ins Jahr 355 n. Chr. - und Sidon. epist. 8, 11. Jakobi (2000), S. 118 bringt inhaltliche Gründe vor, die eine Einordnung des Dichters „exakt in die Lucan- Renaissance der Zeit zwischen Donat und Servius“ plausibel erscheinen lassen. 2 Als authentisches Werk Vergils werden die Verse in der Vita Vaticana II (Vat. lat. 1588, fol. 49 r -50 v ) ausgegeben ( Ed. : EV V.2 [1991], S. 503-504; vgl. zur Vita auch Suerbaum [1981], S. 1182-1183 und Ziolkowski / Putnam [2008], S. 282-289). 3 Ein solches Gedicht könnte als Buchtitulus verwendet worden sein, wie die Nähe zu Ov. ars 1, 2 ( … hoc legat et lecto carmine doctus amet ) vermuten lässt; vgl. Kurt Smolak: Art. „Alcimus“, in: HLL § 546, 3 = HdAW VIII.5 245-246 (bes.: 246) und Jakobi (2000), S. 119-122. <?page no="12"?> 12 1. Einleitung spruch künstlerischer Gleichrangigkeit mit Homer - die Lektüre seiner Werke könne die Homerlektüre gleichsam ersetzen -, formuliert dann aber einen Unterschied zwischen sich und Homer hinsichtlich der leitenden ästhetischen Prinzipien - immensos … campos vs. cultus ager 4 -, und bezieht außerdem Eklogen und Georgica in den Wettstreit mit Homer ein, der hier hauptsächlich als Dichter der Ilias in Betracht kommt ( singula vs. trina ). - In einem anderen Gedicht, ebenfalls dem Alcimus zugeschrieben, wird die Perspektive des Mantuaner Dichters durch den auktorialen Blickwinkel des Literaturkritikers ersetzt. Es trägt entsprechend den Titel De Virgilio und lautet ( Anth. Lat. 740 2 Riese): De numero vatum si quis seponat Homerum | Proximus a primo tunc Maro primus erit. | At si post primum Maro seponatur Homerum, | Longe erit a primo, quisque secundus erit. („Wenn einer Homer aus der Zahl der Dichter streicht, dann wird Maro, der dem ersten am nächsten steht, der erste sein. Wenn man hingegen Maro hinter dem erstplatzierten Homer streicht, so wird, wer auch immer dann der zweite ist, im weiten Abstand hinter dem ersten abgeschlagen sein.“) Anstelle der von Vergil im ersten Gedicht selbstbewusst beanspruchten Gleichrangigkeit steht hier die nüchterne Rechnung des Literaturkritikers, der mit der Autorität einer sich über die Jahrhunderte hin verfestigten communis opinio die Rangverhältnisse festsetzt: Vergil, der „ewige Zweite“, rangiert nicht weit hinter seinem erklärten Vorbild Homer, erhebt sich aber über alle anderen (griechischen und lateinischen) Dichter, die sich im gehörigen Abstand auf die hinteren Plätze verwiesen sehen. 5 - Diese differenzierte Rangabstufung hatte bekanntlich Quintilian in seinen Lektüreempfehlungen für den angehenden Redner ( inst. 10, 1, 46-131) 6 unter Berufung auf Cn. Domitius Afer (cos. 39 n. Chr; † 59 n. Chr.) 7 in gleicher Weise definiert ( inst. 10, 1, 86): 4 Vgl. zu dem hier aufgerufenen kallimacheischen Programm von der λεπταλέη Μοῦσα und seinem Fortwirken in der Epigrammdichtung Jakobi (2000), S. 120 mit Anm. 19. 5 Zum Topos proximus primo vgl. auch Reiff (1959), S. 82-94; Neuhausen (1968), pass. ; Suerbaum (2011), S. 215 Anm. 80. 6 Eine kurze Einordnung dieses Kanons in den Werkzusammenhang bietet Schwindt (2000), S. 155 ( Lit. : Anm. 571 und 573); vgl. auch Citroni (2005), pass. , Citroni (2006 b ), pass. und zuletzt Suerbaum (2011), S. 213-217. - Zum Kanonbegriff vgl. → Kap. 1.2. 7 Carm. Eins. 1, 48-49 gibt einen Hinweis dafür, dass die standardisierte Bewertung, Vergil habe Homer beinahe erreicht, in neronischer Zeit auch sonst verbreitet war ( haud procul Iliaco quondam non segnior ore | stabat et ipsa suas delebat Mantua cartas ); nur von Vergils Versuch, mit Homer in Wettstreit zu treten, ist die Rede in dem etwa zeitgleich entstandenen Gedicht Laus Pis. 232 ( … Maeoniumque senem Romano provocat ore … ). - Statius spielt im Epilog seiner Thebais (entstanden um 90 n. Chr.) wohl ebenfalls auf diese Rangfolge an, obwohl hier von Homer nicht die Rede ist; vgl. Stat. Theb. 12, 816 b -817 ( nec tu divinam Aeneida tempta, | Sed longe sequere et vestigia semper adora ). <?page no="13"?> 1.1 Die Verhandelbarkeit des Kanons: Vier spätantike Epigramme 13 Utar enim verbis isdem quae ex Afro Domitio iuvenis excepi, qui mihi interroganti quem Homero crederet maxime accedere ‘secundus’ inquit ‘est Vergilius, propior tamen primo quam tertio’. Et hercule ut illi naturae caelesti atque inmortali cesserimus, ita curae et diligentiae vel ideo in hoc plus est, quod ei fuit magis laborandum, et quantum eminentibus vincimur, fortasse aequalitate pensamus. Ceteri omnes longe sequentur. („Ich will mich nämlich der gleichen Worte bedienen, die ich als junger Mann von Domitius Afer als Antwort erhalten habe, der zu mir auf meine Frage, wer nach seiner Meinung Homer am nächsten käme, sagte: ‘Der Zweite ist Vergil, jedoch dabei dem Ersten näher als dem Dritten.’ Und ja, beim Herkules, mögen wir auch hinter der himmlischen und unsterblichen Naturkraft ihres Dichters zurückstehen, so zeigt der unsere doch mehr Liebe und Sorgfalt - schon deshalb, weil er sich mehr hat mühen müssen, und das, was wir an hervorragenden Stellen an Abstand verlieren, gleichen wir vielleicht durch die Gleichmäßigkeit des Ganzen wieder aus.“ ÜS Rahn ) Natur ( … illi naturae caelesti atque inmortali … ) und Kultur ( … curae et diligentiae … ) sind hier als poetologische Prinzipien deutlich kontrastiert. Auch Alcimus geht von einem ähnlichen Begriffspaar aus, wenn er den „wohlbebauten Acker“ Vergils von Homers „gewaltigen Feldern“ abgrenzt (s. o.). Quintilian verknüpft mit Vergil und Homer zwei gegensätzliche Grundvorstellungen, die die Rezeption beider Dichter bis in die Neuzeit prägen sollten. 8 Für Quintilian besteht grundsätzlich die Möglichkeit, einen dem homerischen vergleichbaren Grad an Vollkommenheit zu erreichen - ars und natura werden im zweiten Satz des zitierten Abschnitts nicht hierarchisiert. Allerdings ist für Vergil im Wettkampf mit Homer ein anderes Mittel angezeigt, nämlich eben diese ars , d. h. die gleichmäßige künstlerische Ausarbeitung (vgl. aequalitate ) des ganzen Werks, wodurch allein der Vorsprung der homerischen Schöpfung mit ihren unübertrefflichen Einzelinspirationen (vgl. eminentibus ) eingeholt werden kann. Ein drittes Epigramm, wieder mit dem Namen des Alcimus verbunden, lotet ebenfalls die Möglichkeiten, Homer zu erreichen, aus. Es ist in einer Abschrift 8 Die Vorstellung ist nicht neu: Mit dem Gegensatz zwischen naturhaftem ingenium und veredelnder ars hatte sich schon Horaz in seiner Ars poetica - in harmonisierender Weise - auseinandergesetzt (Hor. ars 408-411): Natura fieret laudabile carmen an arte, | quaesitum est; ego nec studium sine diuite uena | nec rude quid prosit uideo ingenium; alterius sic | altera poscit opem res et coniurat amice . Vgl. - auch zu den Ursprüngen in der peripatetischen Poetik - Brink (1971), S. 394-400 und Vogt-Spira (1994), pass. - Ein Beispiel für das Fortwirken dieser beiden Prinzipien findet sich im zweiten Kapitel des fünften Buches ( Criticus ) von Julius Caesar Scaligers Poetik; vgl. Vogt-Spira (1998), S. 46-63 ( bes. : 46-49). <?page no="14"?> 14 1. Einleitung des Humanisten Claude Binet erhalten und trägt beide Dichternamen im Titel ( De Vergilio et Homero ; Anth. Lat. 713 2 Riese): 9 Maeonio vati qui par aut proximus esset, | Consultus Paean risit et haec cecinit: | Si potuit nasci, quem tu sequereris, Homere, | Nascetur, qui te possit, Homere, sequi. („Als man Apollo befragte, wer dem Dichter aus Mäonien gleich oder doch am nächsten komme, lachte er und gab folgenden Orakelspruch: ‘Wenn einer geboren werden konnte, dem du, Homer, folgen musstest, dann wird es wohl einer sein, der dir, Homer, folgen kann.’“) Von Vergil ist in diesem Gedicht - anders als in der Überschrift suggeriert - nicht ausdrücklich die Rede. Zunächst hat es den Anschein, dass im zweiten Distichon einer traditionellen Vorstellung vom schlechthin nicht zu imitierenden Homer, der auch selbst keine Vorgänger gehabt hat, das Wort geredet wird: „Wenn es jemanden gegeben hätte, den du nachahmen konntest, so wird es auch künftig jemanden geben, der dich nachahmen können wird.“ Velleius Paterculus hatte - ins Negative gewendet - über Homer eine entsprechende Anschauung formuliert: in quo < scil. poeta > hoc maximum est, quod neque ante illum, quem ipse imitaretur, neque post illum, qui eum imitari posset, inventus est (Vell. 1, 5, 2). 10 Doch sind die Worte Apollos, ihrer Natur als Orakelspruch entsprechend, doppeldeutig. Den Schlüssel gibt die zweifache Bedeutung von sequi : Das Verbum kann einerseits - wie im Schlusssatz des oben zitierten Quintilianabschnitts der Fall - die Nachfolge hinsichtlich des Ranges bezeichnen, andererseits aber auch eine intentionale literarische Bezugnahme auf einen Modelltext. 11 Im Fall von Anth. Lat. 713 2 Riese liegt ein Wortspiel nach Art einer distinctio vor. Die zweite, verrätselte Gedichthälfte lässt sich nämlich auch folgendermaßen paraphrasieren: „Falls es möglich ist, dass du, Homer, einmal den zweiten Platz einnehmen musst, dann wird wohl einer geboren werden, der dich nachahmen kann.“ 12 Die imitatio ist demnach geradezu die Bedingung, um die Überbietung des kanonischen Modells zu erreichen. Delphische Orakelsprüche behalten in der Regel recht, und zwar gerade in dem Sinn, der sich nicht auf den ersten Blick hin erschließt: Das Gedicht plädiert demnach mit der Autorität des Musengottes für eine Vorrangstellung Vergils vor Homer. 13 9 Jakobi (2000), S. 123-124 (ohne genaue Interpretation des Orakelspruchs). 10 Mit Archilochos teilt er sich demnach die besondere Leistung, als Archeget einer Gattung zugleich deren Vollender zu sein; vgl. Vell. 1, 5, 2 ( neque quemquam alium, cuius operis primus auctor fuerit, in eo perfectissimum praeter Homerum et Archilochum reperiemus ). 11 Vgl. neben Reiff (1959), S. 9, 82 u. 107-108 auch den oben zitierten Vers Stat. Theb. 12, 817. 12 Nascetur ist folglich als potentiales Futurum aufzufassen; vgl. LSS § 174 b (γ) = HdAW II.2.2 311. 13 Zu korrigieren ist demnach das Urteil bei Jakobi (2000), S. 120, der über Anth. Lat. 674 a 2 Riese schreibt: „Hier aber wird, soweit ich sehe, zum ersten und auch zum einzigen Mal <?page no="15"?> 1.1 Die Verhandelbarkeit des Kanons: Vier spätantike Epigramme 15 Die drei Gedichte 14 weisen entgegen der von Quintilian ex cathedra verkündeten Rangfolge eine erhebliche Variabilität im Urteil und in der Perspektive auf: Selbstbewusste Verkündigung der Überbietungsabsicht durch Vergil selbst ( Anth. Lat. 674 a 2 Riese), schulmäßige Bestenliste mit Homer an unhinterfragt erster Stelle ( Anth. Lat. 740 2 Riese), ironisches Spiel mit den Bedingungen und Möglichkeiten von imitatio und aemulatio ( Anth. Lat. 713 2 Riese). Ermöglicht wurde eine derartige Dynamik durch das Doppelprinzip von Natur und Kultur , von dem der zitierte Passus aus der Institutio oratoria ausgeht: Je nach Gewichtung und Verhältnisbestimmung der beiden Parameter konnte man damit ja entweder die prinzipielle Unerreichbarkeit Homers begründen oder eben die Möglichkeit einer Einholung der natura durch ars . Indem Quintilian die Einschätzung der beiden Dichter an zwei unterschiedliche Kriterien knüpfte, machte er sein Urteil von der Definition und Relation eben dieser Kriterien abhängig. Der Name des Alcimus führt schließlich noch zu einem letzten Text, der in knapper Form einen Vergleich dreier Dichter bringt, und damit den literaturgeschichtlichen Horizont der bisher behandelten Gedichte erweitert ( Anth. Lat. 225 Shackleton Bailey): 15 Mantua, da veniam, fama sacrata perenni: | sit fas Thessaliam post Simoenta legi. („ Mantua , sei nachsichtig, du bist ja mit ewigem Ruhm gesegnet: Lass zu, dass man auch nach dem Simois über Thessalien liest.“) in der Antike der kühne Anspruch auf eine Vorrangstellung des Römers erhoben.“ Stattdessen gilt dies für das vorliegende Gedicht Anth. Lat. 713 2 Riese; in Anth. Lat. 674 a 2 Riese wird allenfalls der Anspruch Vergils auf Vorrang artikuliert. 14 Die Frage, ob die drei bislang behandelten Gedicht vom selben Autor stammen, ist nicht - wie etwa durch Jakobi (2000), S. 124-125 geschehen, dessen metrisches Argument gegen Anth. Lat. 740 2 Riese schon wegen der geringen Anzahl der überlieferten Verse kaum verfangen dürfte - leicht zu entscheiden. Sicherlich erreicht das von Jakobi angezweifelte Gedicht auf den ersten Blick nicht den Grad an Raffinesse, wie ihn die anderen Epigramme aufweisen, doch spricht - sieht man von der literarischen Qualität einmal ab, ein notorisch unzuverlässiger Ratgeber in Echtheitsfragen - die Überlieferungssituation eher gegen Anth. Lat. 713, für das man auch eine Autorschaft durch Binet ins Kalkül ziehen muss (so Kurt Smolak: Art. „Alcimus“, in: HLL § 546, 3 = HdAW VIII.5 245-246, hier: 246). In der Zusammenschau mit den drei anderen Gedichten wirkt die pedantische Rechnerei von Anth. Lat. 740 2 Riese beinahe wie eine gewollte Parodie auf Quintilians Kanondekret; der umständliche Stil muss also nicht zwangsläufig gegen die Authentizität des Gedichts sprechen. 15 Die Zuschreibung an Alcimus ist freilich nur im Cod. Paris. 8209 bezeugt; in den anderen Manuskripten steht über dem Gedicht der kryptische Hinweis Caesaris ; vgl. Jakobi (2000), S. 116. <?page no="16"?> 16 1. Einleitung Die drei geographischen Namen verweisen auf Vergil ( Mantua ), Lucan ( Thessaliam ) und Homer ( Simoenta ). 16 Mit Bezug auf Lucan. 9, 980-986 17 bittet der Sprecher - die fiktive persona Lucans oder der im neunten Buch der Pharsalia genannte Caesar , d. h. Nero? - bei Vergil darum, dass man auch das Bürgerkriegsepos nach einem Werk wie der Ilias noch lesen würde. Der Autor des Epigramms sah allem Anschein nach einen Widerspruch darin, dass sich Lucan im neunten Buch der Pharsalia auf den ewigen Ruhm Homers berufen, Vergil aber dabei mit keinem Wort erwähnt hatte. Die Bitte an Vergil - dem mit fama sacrata perenni bei Alcimus genau diejenige Qualität zugeschrieben wird, mit der Homer in Lucan. 9, 984 glänzt, nämlich ewiger Ruhm - soll diesen literaturkritischen faux pas Lucans ausgleichen: Neben Homer ist es für Alcimus eben auch Vergil, bei dem man mit seinem Wunsch nach ewigem Dichterruhm vorstellig werden muss. 18 Zumindest zwei der vier Gedichte - Anth. Lat. 674 a und 713 2 Riese - behandeln den vorgegebenen Kanon also als eine verhandelbare Größe: Sie stellen das durch Quintilians Autorität verfestigte Urteil zur Disposition, wonach grundsätzlich Homer der erste, Vergil aber der zweite Rang zukommt, wobei auch beim letzten Gedicht ( Anth. Lat. 225 Shackleton Bailey), in dem sich einer von den traditionell auf die hinteren Ränge verwiesenen Autoren zu Wort meldet, ein spielerischer Ton den Umgang mit den Vorgaben des Kanons bestimmt. Das einzige Gedicht, in dem der Kanon scheinbar uneingeschränkt affirmativ behandelt wird ( Anth. Lat. 740 2 Riese), lässt durch das pedantisch vorexerzierte Auszählen der Positionen ebenfalls eine gewisse Distanzierung zum Inhalt erkennen. Kanonisierung wird in diesen kurzen Stücken demnach einerseits als ein spielerischer Prozess des Aushandelns von Positionen vorgeführt, der seine besondere Dynamik andererseits aber in einem argumentativen Austausch konkurrierender Begründungen für die jeweilige Wertung entfaltet. 16 So zurecht Jakobi (2000), S. 116-117 gegen Kurt Smolak: Art. „Alcimus“, in: HLL § 546, 3 = HdAW VIII.5 245-246 (hier 245: „… einen wertenden Vergleich der Pharsalia Lukans mit Vergils Äneis …“). 17 Lucan bittet an dieser Stelle den Caesar (Nero), nicht eifersüchtig auf ihn als Dichter der Pharsalia zu sein, da der Ruhm des Caesar ebenso wie der des Dichters der Pharsalia solange dauern wird, wie man sich an Homer erinnert (984: … quantum Zmyrnaei durabunt vatis honores … ). 18 Anders deutet das Gedicht Jakobi (2000), S. 117-118 („Der Dichter unseres Epigramms legt seinerseits Caesar die gleichen Worte über den Ruhm ‘seines’ Epos in den Mund: Das Werk Lucans wird auch hier neben Homer gestellt. Was aber bei Lucan aus dem konkreten Handlungszusammenhang - Caesars Besuch in Troia - entwickelt wurde, wird hier zu einer zu Ungunsten Vergils ausfallenden Neubewertung des Bellum civile.“). Woran er aber genau festmacht, dass das Gedicht „zu Ungunsten Vergils“ ausfällt, bleibt undeutlich. <?page no="17"?> 1.2 Fragestellung, forschungsgeschichtliche Einordnung und Methode 17 Das kann in einem Epigramm nur in pointierter Zuspitzung geschehen. Andere Zeugnisse antiker Literaturkritik, die im Zentrum der nachfolgenden Untersuchung stehen, tun dies in weit ausführlicherer und differenzierterer Form. Die Epigramme des Alcimus zeigen aber, dass man sich - zumindest in diesem Falle - von einer statischen Auffassung des Kanons zu lösen hat. Für Alcimus bzw. die personae seiner Gedichte besitzt der Kanon zwar Gültigkeit als ein allgemein bekannter kultureller Bezugspunkt. Die Gedichte formulieren aber alternative Sichtweisen und Perspektiven, sei es im Modus der Parodie ( Anth. Lat. 740 2 Riese), der Ethopoiie des unterlegenen Zweiten ( Anth. Lat. 674 a 2 Riese), in der Doppeldeutigkeit eines Orakelspruches ( Anth. Lat. 713 2 Riese) oder in der nachgeholten Reverenz des „Dritten“ an den „Zweiten“ ( Anth. Lat. 225 Shackleton Bailey). Man greift sicherlich zu hoch, wenn man diesen Gedichten die Absicht unterstellt, sie wollten den gültigen Kanon subversiv infrage stellen oder generell „Kanonkritik“ betreiben. Vielmehr geht es um einen produktiven und differenzierenden Umgang mit den Vorgaben der autoritativen Bestenlisten, der bestimmte ästhetische Aspekte - ars und ingenium , imitatio und Originalität u. a. - in den Vordergrund spielt, die bei einer simplen Listenplatzierung aus dem Blick geraten. Die Gedichte führen also gewissermaßen von der Wertung zu den Werten : Nicht mehr das statische Ergebnis, sondern die ästhetischen Beurteilungsgrundlagen des Kanonisierungsvorgangs, die seinen prozesshaften Verlauf bestimmen, rücken in den Vordergrund. 1.2 Fragestellung, forschungsgeschichtliche Einordnung und Methode Ausgehend von den Gesichtspunkten, die im Zusammenhang mit den vier Gedichten aus der Anthologia Latina angesprochen wurden, ist die zentrale Fragestellung der vorliegenden Untersuchung näher zu bestimmen. Die Arbeit verfolgt das Ziel, die ästhetischen Beurteilungskriterien und Begründungsstrategien in denjenigen Texten, die einen wertend-begründenden Vergleich zwischen den beiden Dichtern Vergil und Homer anstellen, zu benennen, zu erklären und nach ihren rezeptionsgeschichtlichen Bedingungen zu befragen. Daran schließt sich als übergeordnetes Untersuchungsziel die Frage an, ob und - wenn ja - wie sich die verschiedenen Antwortversuche auf das Problem einer Vorrangstellung Homers oder Vergils in der antiken Kanondiskussion positionieren, näherhin ob und inwieweit die fraglichen Vergleiche als Beiträge zu einer solchen Kanondiskussion betrachtet werden können oder ob sich die Funktion des Homer-Vergil-Vergleichs in der Antike anders bzw. differenzierter bestimmen lässt. <?page no="18"?> 18 1. Einleitung Als Untersuchungsgegenstände kommen also grundsätzlich wertende Vergleiche zwischen Homer und Vergil in Betracht. Diese wertenden Vergleiche wurden in der Antike mit dem Terminus Synkrisis (bzw. lat. diiudicatio locorum o. ä.) bezeichnet (s. u. → Kap. 1.3.1 und 4.1.3). Gemeint ist dabei immer ein methodengeleiteter, von bestimmten ästhetischen Kriterien ausgehender Vergleich mindestens zweier Texte mit dem Ziel, eine qualitative Hierarchie zwischen ebendiesen Texten zu bestimmen. Ausgeschlossen aus der engeren Themenstellung sind demnach solche Texte bzw. Abschnitte, die ein homerisches Modell für eine konkrete Vergilstelle lediglich identifizieren , ohne eine explizite literaturkritische Stellungnahme damit zu verbinden. Das gilt etwa für die umfangreichen Abschnitte Sat. 5, 2, 6-5, 3, 17, 5, 3, 2-14, 5, 4, 2-5, 10, 13 und 5, 11 in den Saturnalia des Macrobius, aber auch für den Großteil der Homer-Vergil-Vergleiche in den Vergilkommentaren, zumal bei Servius. - Von einer gesonderten Untersuchung der Vergilkommentare konnte in diesem Rahmen vor allem aus zwei Gründen abgesehen werden: Einerseits sind die literaturkritisch wertenden Vergleiche mit Homer in diesen Erklärungsschriften wie erwähnt quantitativ unterrepräsentiert, zumeist wird einfach auf ein homerisches Beispiel verwiesen oder es werden unter Berufung auf Homer Sacherläuterungen gegeben. Außerdem liegt mit der Studie von Marco Scaffai eine umfassende Monographie vor, die alle expliziten Erwähnungen Homers bei Servius und den anderen Kommentatoren eingehend bespricht (vgl. ergänzend dazu Cyron [2009], S. 192-223 [„Die Funktion von Verweisen auf andere Autoren“; bes. zu Homer S. 210-223]). Die i. e. S. synkritischen Notizen nehmen dann entsprechend auch bei Scaffai nur einen kleinen Abschnitt ein; vgl. Scaffai (2006), S. 327-373 (Kapitel 3: „Critica poetica e sistema narrativo“). Gerade der zuletzt genannte Abschnitt kann daher als Ergänzung der vorliegenden Studie angesehen werden, auch weil er auf die an den jeweiligen Stellen relevanten ästhetischen Kategorien - wenn auch nicht systematisch - eingeht. Metapoetische Deutungen entsprechender Stellen, an denen Vergil in den Augen seiner antiken Exegeten über sich und sein Verhältnis zu anderen Autoren - Zeitgenossen, aber auch kanonischen Vorbildern - spricht, behandelt Cyron (2009), S. 277-282. - Selbstverständlich sind Servius und die anderen Kommentatoren aber auch für die engere Fragestellung dieser Untersuchung von Relevanz, weil es oft nur durch die in den Kommentaren überlieferten Vergildeutungen möglich ist, den philologischen Diskussionszusammenhang zu rekonstruieren, in den sich die wertenden Vergleiche bei Seneca d. Ä., Gellius oder Macrobius einordnen. Die Kommentatoren werden hier also durchaus durchgehend berücksichtigt, aber nicht eigenständig behandelt. 19 19 Eine ganz andere Frage ist es, wie Servius und die anderen Kommentatoren in der Form und in den Fragestellungen ihrer Kommentare auf das Muster der Homerphilologie zurückgreifen - auch und vor allem an Stellen, an denen nicht explizit von Homer die Rede <?page no="19"?> 1.2 Fragestellung, forschungsgeschichtliche Einordnung und Methode 19 Mit dieser Fragestellung soll also nicht nur ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte Vergils geleistet werden, vielmehr werden am Beispiel des Homer-Vergil-Vergleichs exemplarisch Analysekriterien zusammengestellt, mit denen der literaturkritische Praktiker in der Antike zumal solche Beziehungen zwischen Texten bewertete, bei denen er eine intentionale Bezugnahme eines Nachahmers auf sein Modell im Sinne von imitatio bzw. aemulatio unterstellte. 20 Dieser antike Zugang zum Text steht den modernen, von den methodischen Grundsätzen der strukturalistischen Intertextualitätstheorie mit ihrer Ausblendung der Autorinstanz geleiteten Annäherungen an Vergil natürlich grundsätzlich entgegen: Die antiken Philologen hatten, pointiert formuliert, keine Angst vor der intentional fallacy . Daraus ergibt sich die generelle Tendenz, bei entsprechenden Text-Text-Beziehungen immer von einer „bewussten“ Bezugnahme des jüngeren Autors auf den Text des älteren auszugehen und diese Bezugnahme entsprechend regelmäßig als imitatio bzw. aemulatio mit Wettkampfcharakter zu deuten. Deutlich kommt dies schon in der bekannten Formulierung des Servius am Beginn seines Vergilkommentars zum Ausdruck: intentio Vergilii haec est, Homerum imitari … (I 4, 10 Thilo-Hagen). - Zu den verwendeten Begriffen: Im Folgenden wird also in der Regel von „Modell“, „Vorbild“, „Muster“ bzw. „Nachahmung“, „Nachbildung“, „ imitatio “ gesprochen, ohne dass in jedem Fall die - ohnehin nur schwer zu beantwortende - Frage diskutiert wird, ob tatsächlich eine intentionale Bezugnahme Vergils auf Homer vorliegt. Ausgegangen wird von der Feststellung eines derartigen Bezugs durch den antiken Literaturkritiker. Zur Bewertung seiner Einschätzung ist dann hingegen sehr wohl zu fragen, ob es nicht noch weitere Vorbilder gibt, zumal solche „Zwischenmodelle“ - z. B. ein nach Homer gestaltetes Gleichnis bei Apollonios, das wiederum Vergil zum Vorbild gedient hat - Aufschluss über die kritische Rezeptionsgeschichte der fraglichen Homer stelle geben können (s. u.). Die Synkrisis , der Vergleich von Modell und Nachahmung, ist für den antiken Literaturkritiker also das Instrument, um Strategien einer intentional verstandenen imitatio und aemulatio zu verbalisieren und nach ihrem Erfolg zu beurteilen. Eine zusammenfassende Analyse synkritischer Urteile, wie sie in ist. Problemaufriss und Fallbeispiele bei Farrell (2008), pass. ; vgl. auch zusammenfassend Vogt-Spira (2008), S. 261: „Hervorzuheben bleibt dabei, dass der imitatio auctorum ein sekundärer Status zukommt … Gleichwohl lassen sich vielfältige Spuren der Vergil-Homer-Debatte auch in Servius’ Kommentar entdecken, und sei es, in Fällen ohne explizite Erwähnung der homerischen Vorlage, indirekt in den Legitimationsstrategien für die jeweilige vergilische Formulierung. Allerdings scheinen sich dabei keine regelmäßigen Beziehungen zu ergeben; das bedarf einer umfassenden Untersuchung, in der insbesondere auch das zusätzliche Material des Servius auctus in die Geschichte der Homer-Vergil-Debatte einzuordnen ist.“ 20 Zu diesen beiden Begriffen vgl. auch → Kap. 1.3.1. <?page no="20"?> 20 1. Einleitung der vorliegenden Untersuchung für den Fall der vergilischen Homerimitatio unternommen wird, ermöglicht somit Rückschlüsse auf den literaturkritischen Erwartungshorizont, der als Faktor literarischer Produktion auch für andere, zumal epische Texte von Relevanz ist. Wenn man die von den antiken Philologen durch Textvergleich rekonstruierten und verbalisierten Strategien der Nachahmung analysieren und klassifizieren will, so sind grundsätzlich verschiedene Bezugsebenen zu unterscheiden. Literaturvergleiche beziehen sich auf zwei oder mehr Texte. Im Falle des Homer-Vergil-Vergleichs ergibt sich daraus z. B. das folgende Szenario: Der Kritiker bezieht sich auf zwei Stellen aus Aeneis und Odyssee . Die fragliche Odysseestelle hat ihrerseits eine bestimmte Rezeptionsgeschichte - etwa eine ästhetische Bewertung durch einen Grammatiker, die sich heute noch durch eine entsprechende Notiz in den Odysseescholien rekonstruieren lässt (= direkte Beurteilung der Modellstelle in ihrer Rezeption) -, die einerseits für Vergil, andererseits aber auch für die Beurteilung durch den vergleichenden Kritiker relevant ist bzw. sein kann. (Dass Vergil seine Modelltexte, zumal Homer, auch als Gegenstand philologischer und literaturkritischer Debatten wahrgenommen und herangezogen hat, wurde umfassend in den beiden Studien von Schlunk [1967 bzw. 1974] und dann insbesondere von Schmit-Neuerburg [1999] herausgearbeitet, letzterer mit dem Nachweis zahlreicher Einflüsse ethischer und kritischer Homerexegese auf Vergil. 21 ) Zu dieser philologischen Rezeption ist wie bereits erwähnt auch die literarische Rezeption hinzuzunehmen, die für Vergil eine Rolle gespielt haben kann (= indirekte Beurteilung der Modellstelle in der Rezeption): Wenn Apollonios Rhodios etwa ein Gleichnis Homers aufgreift, so kann man in den Änderungen, die er vornimmt, einen Beitrag zur (kritischen) Homerrezeption sehen und für Vergil einen doppelten Bezug, nämlich auf Homer und Apollonios, annehmen. - Das Ergebnis der Synkrisis kann schließlich noch durch die besondere Rezeptionsgeschichte der Vergil stelle - ohne dass dabei Homer eine Rolle spielen muss - beeinflusst sein, die wiederum direkt (innerhalb von Vergilkommentaren etc.) oder indirekt (durch Vergilnachahmer) vonstatten gehen kann (= direkte bzw. indirekte Beurteilung der Nachahmung in der Rezeption). Die hier zu behandelnden Literaturvergleiche geben also einen Einblick in die Kriterien, die man bei der Beurteilung von Nachahmung und Modell(-en) - und allgemeiner: von zwei oder mehreren Texten - heranziehen konnte, um eine konkrete ästhetische Wertung zu rechtfertigen. Synkritisches Lesen war eine verbreitete kulturelle Praxis, die hier zur Anwendung kommenden Kriterien 21 Zur methodischen Berechtigung vgl. auch Schmit-Neuerburg (1999), S. 13-14. - Vgl. zuletzt auch Bitto (2012), der vergleichbare Zusammenhänge für Horaz und die hellenistische Pindarkommentierung nachweisen konnte. <?page no="21"?> 1.2 Fragestellung, forschungsgeschichtliche Einordnung und Methode 21 und Methoden waren demnach nicht das Spezialgebiet der professionellen Grammatiker, sondern steuerten allgemein ästhetische Wahrnehmungsprozesse in der Antike. 22 Die Literaturvergleiche sind daher ein wesentlicher Schlüssel für das Verständnis sowohl der Rezeptions als auch der Produktions bedingungen innerhalb einer literarischen Kultur, die die einzelnen Werken der Dichter, aber auch der Geschichtsschreiber, Redner und Philosophen, als grundsätzlich aufeinander bezogen wahrnahm, ob sie nun tatsächlich in einem intentionalen imitatio -Verhältnis von Modell und Nachahmung standen oder ob sich die Bezüge loser - etwa durch einen gemeinsamen Gegenstand o. ä. - gestalteten. 23 22 Dass der Literaturvergleich eine gängige Praxis unter gebildeten, auch nichtprofessionellen Lesern war, zeigt der Satiriker Juvenal, der sich in 6, 434-437 darüber empört, dass sich nun auch schon Frauen in ihrer Freizeit synkritisch betätigen: illa tamen grauior, quae cum discumbere coepit | laudat Vergilium, periturae ignoscit Elissae, | committit uates et comparat, inde Maronem | atque alia parte in trutina suspendit Homerum . Vgl. auch Iuv. 11, 179-181, wo zwar nicht von einem synkritischen Vergleich, aber immerhin von Rezitationen (ἀκροάματα) beider Dichter - Homer und Vergil - beim Gastmahl die Rede ist (180-181: conditor Iliados cantabitur atque Maronis | altisoni dubiam facientia carmina palmam ). Dazu Courtney (1980), S. 512 über die Praxis von Dichterrezitationen beim Gastmahl. - Wie eine Parodie auf eine quaestio convivalis nimmt sich die Frage des Trimalchio in Petron. 55 ( quid putas inter Ciceronem et Publilium interesse? ) aus. 23 Gerade Vergil kommt in der Diskussion über die Kriterien gelungener Nachahmung eine Schlüsselstellung zu (→ Kap. 2.2.2). - Hier ist ein kurzer Ausblick in die Forschungsgeschichte zum Homer-Vergil-Komplex im 20. Jhdt. am Platz (vgl. ergänzend die Bibliographie zum Zeitraum 1520 bis 1961 bei Knauer [1964], S. 19-28): Die Frage, mit welchen Konzepten das Verhältnis Vergils zu Homer - und dann allgemeiner: römischer Autoren zu ihren griechischen bzw. römischen Modellen - adäquat zu beschreiben ist, war für die latinistische Theoriebildung seit der Nachkriegszeit besonders fruchtbar. Pasqualis Konzept der arte allusiva hat Gian Biagio Conte 1974 in einer einflussreichen Studie ( Memoria dei poeti e sistema letterario: Catullo, Virgilio, Ovidio ; erw. engl. Übersetzung: Conte [1986]) weiterentwickelt. Das Hauptinteresse in seiner Abkehr vom herkömmlichen rhetorischen imitatio -Konzept lag darin, die Kategorie der Intentionalität - die, wie bereits erwähnt, im antiken Selbstverständnis des nachahmenden Dichters, der dem Überbietungspostulat genügen musste, gegeben war und seitens der Literaturkritik auch als solche reflektiert wurde - in der Analyse des konkreten Textes aus zuschließen („intentional fallacy“). Damit schließt er an strukturalistische Überlegungen zur Intertextualität (z. B. Julia Kristeva) an, die ebenfalls den methodischen Grundsatz verfolgten, vom Autor und seinen - immer ja nur spekulativ zu erschließenden - Absichten abzusehen. Fortgeführt wurde dieser Ansatz von Alessandro Barchiesi, der sich in seiner Monographie La traccia del modello. Effetti omerici nella narrazione virgiliana (1984) in einer Reihe von Einzelstudien zur zweiten Aeneishälfte speziell mit der Präsenz Homers bei Vergil auseinandersetzte (vgl. jetzt auch die persönliche Standortbestimmung des Autors in Barchiesi [2015], S. 115-131). Das homerische Modell wird hier „dynamisch“ gesehen: Vergil bildet nicht einfach homerische Szenen nach, sondern eröffnet durch übereinandergeblendete Folien Deutungsmöglichkeiten, die sich erst während des Rezeptionsprozesses interpretativ erschließen. Neuere Studien sind diesen Weg entsprechend weitergegangen; vgl. etwa Dekel (2012), der in Fortführung der Ansätze von Knauer (1964) - ohne Frage <?page no="22"?> 22 1. Einleitung Das Vorgehen ist im Folgenden grundsätzlich chronologisch und autorengebunden, was sich aus der übergeordneten Frage nach der Einordnung in die Kanondiskussion ergibt: Ausgegangen wird dabei von der frühesten Phase der Vergilrezeption, aus der uns zwar keine Texte, aber immerhin Titel einschlägiger Schriften überliefert sind. Wie bereits erwähnt, lässt sich zeigen, dass Vergil im Verlauf dieser frühen Diskussion, in der die Frage nach der Bewertung homerischer Übernahmen z. T. mit dem Vorwurf des Plagiats beantwortet wurde, eine Schlüsselstellung zugewiesen wird und der Dichter der Aeneis nach und nach zum exemplarischen Modellfall für Dichtung „auf zweiter Stufe“ im positiven Sinne avancieren konnte (→ Kap. 2). Seneca d. Ä. steht mit seinen beiden Homer-Vergil-Vergleichen noch ganz im Kontext dieser Diskussion (→ Kap. 3), während für Gellius die kanonische Stellung Vergils als eines exemplarischen Homernachahmers bereits soweit gefestigt ist, dass er sich in seiner literaturhistorischen Einordnung ganz im Fahrwasser Quintilians bewegt (→ Kap. 4.2) und frühere Kritik an Vergils Homerimitatio kommentarlos in ihrer Widersprüchlichkeit entlarven kann (→ Kap. 4.3). Macrobius steht mit seinen Saturnalia am Ende der hier behandelten Reihe: Bei ihm erlangt der Homer-Vergil-Vergleich systematische Geltung und wird konstitutiv für ein umfassendes Bildungsprogramm (→ Kap. 5.1.1 u. 3). Gleichzeitig ist der Vergleich mit Homer argumentativ eingebunden in einen symposialen Dialog, in dem die Diskussion über kanonischen Rang und Autorität (vgl. bes. Sat. 5, 11 und 13) eine neue Funktion erhält (→ Kap. 5.1.3). Die wertenden Vergleiche begründen nämlich zwar abwechselnd den Vorrang Vergils und Homers, zeigen aber vor allem stilistische Sachverhalte auf (→ Kap. 5.2.1). Dann wird in einem nach Kategorien geordneten Nachweis der Versuch unternommen, Vergils Dichtung als strukturelle Adaption ihres homerischen Vorbilds zu erweisen, womit sich eine bestimmte Absicht verbindet, nämlich der Entwurf einer Poetologie griechisch-römischer Hexameterdichtung in der Nachfolge Homers, wie er in vergleichbarer Geschlossenheit sonst bei keinem Autor der (Spät-)Antike vorliegt (→ Kap. 5.2.2). Ausgehend von den Ergebnissen dieser Untersuchungen soll dann abschließend auf die bereits aufgeworfene Frage nach der Stellung der Synkrisis zwischen Homer und Vergil in den antiken Kanondebatten 24 eingegangen werden (→ Kap. 6). immer noch Ausgangspunkt jeder Beschäftigung mit diesem Thema - die ganze Aeneis als nach dem Modell der Odyssee konzipiert auffasst und auch in der Verwendung „iliadischer“ Szenen eine „odysseeische“ Interpretation erkennt. 24 Zum Begriff „Kanon“: Der Terminus wird erst seit dem ausgehenden 18. Jhdt. (David Ruhnken) im heutigen Sinne für ein bestimmtes Textkorpus verwendet; vgl. Oppel (1937), S. 47. Die moderne Kanontheorie folgt grundsätzlich entweder normativ-präskriptiven oder analytisch-deskriptiven Ansätzen. Normativ-präskriptive Kanontheorien , wie <?page no="23"?> 1.2 Fragestellung, forschungsgeschichtliche Einordnung und Methode 23 Methodisch ergibt sich in den Kapiteln zu Seneca d. Ä., Gellius und Macrobius jeweils folgender Doppelschritt: Auszugehen ist von den - etwa in den Vorsie bis in jüngste Zeit - etwa von Harold Bloom - mit großer Vehemenz vertreten werden, argumentieren ausgehend von der „ästhetischen Qualität“ eines Textes für eine bestimmte kanonische Wertung. Diese „ästhetische Qualität“ wird anhand bestimmter Kriterien - formale Normen wie Proportionen, Gattungskonventionen etc., aber auch innere Kohärenz, Unvorhersehbarkeit des Plots, psychologische Komplexität u. a. - begründet. Normative Kanontheorie kann sich innerhalb von kontextbezogenen Modellen aber auch auf den Bildungswert, den ökonomischen Erfolg - „kanonisch ist, was gekauft wird“ -, die Idee einer Nationalliteratur und den Einfluss staatlicher Institutionen und allgemein auf Aspekte der Identität berufen. Vgl. zu den normativen Kanontheorien Freise (2013) und Starre (2013). - Dagegen ist die deskriptive Kanontheorie ein relativ junges Phänomen, das aus der bildungskritischen Bewegung der 1960er und 1970er Jahre entstanden ist und dessen primärer Ansatz darin besteht, den Kanon als Form kultureller Autorität zu hinterfragen und Kanonisierungsprozesse in ihrer Interdependenz mit Faktoren wie „Macht“ und „Gender“ zu analysieren. Versuche, ein allgemein anwendbares „Modell der Kanonbildung“ zu entwerfen, haben bislang zu keinem konsensfähigen Ergebnis geführt. Erwähnenswert sind immerhin die Ansätze von Joachim Küpper und Achim Hölter, Kanonisierung als Narration und „Form des historiographischen Diskurses“ zu verstehen (zit. nach Beilein [2013], S. 72-73). Der Kanon erscheint hier als ein „sinnstiftende<r> Text, in dem, wie bei historiographischen Narrationen, durch den Akt des Aufschreibens dem Geschehenen Bedeutung zugewiesen und dieses damit erst zur ‘Geschichte’“ wird. Den einflussreichsten Beitrag zur deskriptiven Kanontheorie stellt jedoch die von Aleida und Jan Assmann entwickelte Theorie des kulturellen Gedächtnisses dar. Schrift, aber auch andere Medien der Erinnerung stellen Zugänge zur Vergangenheit bereit und stiften als Beiträger zum „kulturellen Gedächtnis“ Identität. Kanon und Kanonisierung steuern bzw. beeinflussen das kulturelle Gedächtnis, wobei die beständige Auseinandersetzung mit den „Klassikern“ in diesem Sinne als „Arbeit am kulturellen Gedächtnis“ (Assmann [2013], S. 81) zu interpretieren ist. - Die allgemeinen Entwicklungstendenzen des griechisch-römischen Schulkanons von der alexandrinischen Philologie bis zur sog. quadriga Messii - Terenz, Vergil, Cicero und Sallust als Kernautoren des römischen Schulunterrichts bis weit in die Spätantike - können in diesem Zusammenhang nicht eigens nachgezeichnet werden. Vgl. dazu die grundlegenden Beiträge von Schmidt (1987), Schmidt (1993) und Citroni (2006 a ), dazu Mindt (2013), S. 12-16 sowie die Überblicksdarstellungen von Asper (1998), Dummer (2001), Dubielzig (2005) und zuletzt Huber-Rebenich (2013). - Unter die Ansätze einer deskriptiven Kanonbetrachtung rechnet auch der Versuch von Schmidt (1987), verschiedene Funktionen des Kanons, auch in der römischen Literatur, zu unterscheiden. Schmidt unterscheidet drei „Orientierungsfunktionen“ des Kanons: Einerseits kann die Erkenntnis, dass eine „kanonische“ Epoche unwiederbringlich abgeschlossen ist, Innovationspotential entfalten, wie von Schmidt für die alexandrinische und neoterische Literatur angenommen („Orientierungsfunktion I: kanonische Literatur als Vollendung - neue Aufgaben“). Zum anderen kann der Kanon als „bewältigbare Aufgabe“ im Sinne der römischen Klassizisten oder der augusteischen Klassiker aufgefasst werden („Orientierungsfunktion II: kanonische Literatur als Muster - μίμησις, aemulatio, imitatio“). Schließlich können im Umgang mit kanonischen Autoren die Aspekte ihrer Verbindlichkeit als Muster und ihre Unerreichbarkeit verbunden erscheinen („Orientierungsfunktion III: kanonische Literatur als unerreichte oder unerreichbare Größe - automatisierte imitatio oder antiklassische Auseinandersetzung“). <?page no="24"?> 24 1. Einleitung reden formulierten - programmatischen Stellungnahmen, in denen sich die Autoren über die Voraussetzungen und Ziele ihrer Schriften äußern. Besonderes Augenmerk ist dabei auf die Rolle literarischer Texte, die jeweils artikulierte Bildungsidee, den methodischen Stellenwert des (Literatur-)Vergleichs im Allgemeinen sowie auf das grundsätzliche Verhältnis zur griechischen Vorbildkultur zu legen. - Im zweiten Schritt werden dann die einzelnen vergleichenden Urteile in Abgleich mit ihren philologisch-ästhetischen Bedingungsfaktoren gebracht und auf Divergenz oder Konvergenz mit den andernorts überlieferten Wertungen geprüft. Vor dieser rezeptionsgeschichtlichen Folie kann dann die Stoßrichtung des einzelnen Urteils näher bestimmt und die Frage seiner Berechtigung bzw. seiner spezifischen Tendenz genauer beantwortet werden. 1.3 Die Synkrisis in der antiken Praxis und Theorie im Überblick 1.3.1 Der Literaturvergleich als Methode und Gattung philologischer Spezialliteratur Der zentrale Begriff, mit dem man in der Antike wertende Textvergleiche im oben erläuterten Sinne umschrieb, war derjenige der Synkrisis (σύγκρισις). 25 In seiner Verwendung i. S. v. comparatio 26 bezeichnet dieser Terminus zunächst allgemein die logische Operation des Vergleichs. 27 Eine speziellere Verwendung ergibt sich im literaturkritischen Zusammenhang: Hier ist an die κρίσις ποιημάτων zu denken, die nach Dionysios Thrax als sechstes Aufgabenfeld des antiken Philologen zur γραμματικὴ τέχνη gehört und - neben Echtheitskritik - im Kern die ästhetische Würdigung umfasst. 28 Die σύγκρισις ist folglich die wechselseitig aufeinander bezogene κρίσις mehrerer Schriftwerke - Dichtung, aber auch Reden und andere vom Grammatiker behandelte Texte. Die Synkrisis als Methoden begriff lässt sich folglich näherhin als vergleichende ästhetische Würdigung von Texten definieren, und der Hinweis auf die disziplinäre Einbettung der κρίσις ποιημάτων legt bereits nahe, dass es sich hierbei in der Regel nicht um 25 Vgl. ergänzend zu dieser Übersicht → Kap. 4.1.2 und → Kap. 4.1.3 über Autoren- und Textvergleiche sowie Formen der Synkrisis bei Gellius. 26 Belege für zwei weitere Möglichkeiten des Wortgebrauchs („aggregation, combination, condensation“ bzw. „interpretation<,> … decision“) bei LSJ s. v. σύγκρισις. 27 Vgl. etwa Arist. top. 102 b 14-20 und - neben den bei Vardi (1996), S. 493 genannten Stellen - Suda s. v. Σύγκρισις = Adler ς 1301. 28 Vgl. jetzt Stephanos Matthaios: Art. „Disziplinäre Inhalte der antiken Philologie: φιλόλογος - κριτικός - γραμμματικός und die γραμματικὴ τέχνη“, in: HGL II = HbdA VII.2 (2014), S. 505-510 (bes. S. 506 mit Anm. 17 und S. 509-510). <?page no="25"?> 1.3 Die Synkrisis in der antiken Praxis und Theorie im Überblick 25 eine subjektive Einschätzung, sondern um einen methodisch geleiteten Vorgang, der bestimmten ästhetischen Prinzipien folgt, handelt. Die Zahl möglicher Vergleichsgegenstände ist mit diesem Begriff noch nicht näher bestimmt, mindestens zwei müssen es aber natürlich sein. Dazu kommt, dass die Vergleiche in der Regel auf einen abschließenden Rangentscheid ( iudicium bzw. κρίσις) hin ausgerichtet sind, es also nicht allein darum geht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen, sondern die Parteinahme des κριτικός gefordert ist. 29 - Der Terminus σύγκρισις kann neben der Methode des wertenden Vergleichens auch als Gattungsbegriff für eine literarische (Klein-)Form stehen, z. B. - aber nicht nur 30 - im Gebiet der Literaturkritik. Diese beiden Bedeutungsvarianten zeigen eine grundsätzliche Schwierigkeit bei der Annäherung an das Phänomen des Literaturvergleichs in der Antike, da die Methode der Komparation sowohl in unselbstständiger wie auch in selbstständiger Form angewandt sein kann, wobei sie im letzteren Fall dann auch u. U. wiederkehrende Gattungsmerkmale - etwa einen symposialen Rahmen, die Form des Streitgesprächs o. Ä. - aufweist. Im Textkorpus der vorliegenden Untersuchung schlägt sich das insofern nieder, als in den Homer-Vergil-Vergleichen beide Möglichkeiten realisiert sind: Die exkursartigen Einlassungen Senecas rechnen zum ersten Typus, die eigenständigen Synkrisiskapitel bei Gellius, aber auch der in sich geschlossene wertende Vergleich in Sat. 5, 11-13 sind eher als συγκρίσεις bzw. diiudicationes im gattungsmäßigen Sinn anzusprechen. Berücksichtigt man außerdem das Verhältnis der analysierten Texte zueinander, so ist noch eine - zumal für den Bereich der römischen Literaturkritik relevante - begriffliche Unterscheidung zu treffen. In vielen Fällen lässt der Literaturkritiker nämlich erkennen, dass er einen direkten, vom jüngeren Autor intendierten Bezug auf den älteren Text annimmt. Relativ selten - zumindest im römischen Bereich - sind dagegen die Fälle, wo dies nicht der Fall ist, die Texte also etwa allein wegen ihres gemeinsamen Themas gewählt sind. Die Art dieses Bezugs kann bei den Vergleichstexten des ersten Typs in ganz unterschiedlicher Form - etwa als Übersetzung ( interpretatio ), Nachahmung ( imitatio ) oder literarischer Wettkampf ( aemulatio ), um eine der diskutierten Stufungen zu zitieren (s. u.) - realisiert und dann auch durch entsprechende Termini seitens des Kritikers markiert sein. 29 Ähnlich die bündige Definition von „comparative criticism“ bei Vardi (1996), S. 492: „… an evaluative method based on the confrontation of two objects in order to weigh their respective qualities and rank them by merit …“ 30 Neben der Literaturkritik begegnet der Terminus σύγκρισις vor allem als Bezeichnung (1) für ein Strukturelement des epideiktischen Schemas (Focke [1923], S. 332-339) und (2) in der Geschichtsschreibung (Focke [1923], S. 348-351), zumal in der biographischen Literatur, die - wie im Falle von Plutarchs βίοι-Paaren mit angehängten Vergleichungen - auch ihrer Struktur nach komparativ angelegt sein können (Focke [1923], S. 351-368). <?page no="26"?> 26 1. Einleitung Die Kategorien interpretatio , imitatio und aemulatio wurden von Arno Reiff (1959) als fixes begriffliches System zur Beschreibung literarischer Abhängigkeit in der römischen Literatur vorgeschlagen. Dagegen hat man zurecht eingewandt, dass den verwendeten Termini keine feste Hierarchie entspricht, ihre Verwendung also gewissen kontextabhängigen Spielräumen folgt; vgl. Fuhrmann (1961), pass. - Die wesentlichen Aspekte der Konzepte von imitatio bzw. aemulatio fasst Bauer (1992), Sp. 144-150 zusammen. Sie wurden zunächst in der Rhetorik theoretisch entwickelt und sind nicht immer scharf voneinander zu trennen: Der Begriff der imitatio impliziert schon beim Auctor ad Herennium (1, 4: imitatio est qua impellimur, cum diligenti ratione, ut aliquorum similes in dicendo valeamus esse ) und bei Cicero das Ziel, das jeweilige Modell - in regelgeleiteter Weise ( ratione ) - zu übertreffen ( Überbietungsabsicht ). Aemulatio kann dann aber zur Bezeichnung der gelungenen Nachahmung auch als Gegensatzbegriff zu der entsprechend als pedantische Nachbildung verstandenen imitatio verwendet werden. Bei Dionysios von Halikarnassos können die sonst als Synonyma behandelten Begriffe μίμησις und ζῆλος an einer Stelle sogar in vergleichbarer Weise differenziert werden: ζῆλος setzt die psychologische Assimilation des Vorbilds voraus, während μίμησις nur die regelgeleitete Nachahmung bezeichnet, die ohne ein Eindringen in den „Geist“ des Vorbilds auskommt. Ps.-Longinos baut dieses ζῆλος-Konzept in seiner Abhandlung περὶ ὕψους zu einer regelrechten Inspirationstheorie aus, in der die kanonischen Vorbilder wie göttliche Mächte auf den Nachahmer einwirken, der dadurch nicht auf der Oberfläche lehr- und lernbarer Stilistika, sondern auch dem Wesen nach Teil an ihnen hat. Damit wird der im traditionellen imitatio -Konzept unvermeidliche Qualitätsabfall vom Modell zum Nachahmer in gewissem Sinne aufgehoben, weil das klassische Modell auf den Nachahmer nun in der Weise wirkt, dass es ihm zeigt, wie er als ein der Natur analoger Schöpfer selbst schöpferisch tätig werden kann: Der Nachahmer wird dadurch zum originalen Schöpfer und kann auf diese Weise selbst als Klassiker wirken. - Aus der Forderung nach einer Orientierung an vorbildlichen Mustern resultierten bei den griechischen Klassizisten die Bemühungen, einen festen Kanon an Modellautoren zu definieren - im Bereich der Rede waren dies hauptsächlich die attischen Redner des vierten Jhdt. v. Chr. Dies geht einher mit der Abwertung der nun als Verfallsperiode deklassierten Zwischenzeit, also der hellenistischen Periode. - In Rom war die Definition einer „klassischen“ Modellepoche aufgrund der literaturgeschichtlichen Situation ungleich schwieriger, was zu verschiedenen Versuchen einer Kanondefinition führte (Lit.: → Kap. 1.2). Quintilians Kanon in inst. 10, 1 ist der systematisch anspruchsvollste Versuch in dieser Richtung, der aus der Antike erhalten ist. - Vgl. neben dem bereits zitierten Überblick bei Bauer zum imitatio -Konzept noch Flashar (1979), pass. und Görler (1979), pass. ; dazu Kroll (1924), S. 139-184 und Farrell (1991), S. 3-25. <?page no="27"?> 1.3 Die Synkrisis in der antiken Praxis und Theorie im Überblick 27 Dass ein intentionaler Bezug angenommen wird und dieser Umstand bei ihrer ästhetischen Wertung eine Rolle spielt, lassen die Kritiker in der Regel durch die Verwendung von Termini wie sequi , aemulari etc. erkennen. 31 Dem stehen, wie bereits erwähnt, die Vergleiche gegenüber, in denen eine derartige intendierte Abhängigkeit nicht explizit unterstellt wird. Die Möglichkeit einer relativen Bewertung der fraglichen Autoren bzw. Texte ist natürlich auch hier gegeben, sie muss aber von den besonderen Bedingungen einer bewussten Bezugnahme absehen, bei welcher der Vorlagentext selbst und die Art seiner Rezeption mehr oder minder verbindliche ästhetische Maßstäbe liefern, die der spätere Autor, aber auch der Kritiker in seinem Kalkül bzw. seiner Bewertung zu berücksichtigen hat. Betrachtet man die überlieferten Literaturvergleiche in ihrer historischen Entwicklung, so lässt sich diese doppelte Dichotomie von Methoden- und Gattungsbegriff bzw. „neutralem“ Stellenvergleich und expliziter imitatio -Kritik auch diachron genauer verorten. 32 - Eine Reihe von überlieferten Titeln zeigt, dass die gegenüberstellende Anlage in monographischen Abhandlungen zu bestimmten Dichtern (→ Synkrisis als eigenständige Gattung ) schon in vorhellenistischer Zeit verbreitet war. Monographische Gegenüberstellungen von Dichtern und Rednern sind seit dem vierten Jhdt. v. Chr. bezeugt, wiesen aber wohl eine erhebliche Divergenz in der Zielsetzung auf. Exemplarisch sei hier auf Herkleides Pontikos (ca. 390-320 v. Chr.) hingewiesen (alle Titel bezeugt bei Diog. Laert. 5, 86 = frg. 22 Wehrli): Die drei Bücher περὶ τῶν παρ’ Εὐριπίδῃ καὶ Σοφοκλεῖ behandelten wohl stofflich-sachliche Übereinstimmungen bei den beiden Tragikern (vgl. auch → Kap. 2.2.1). 33 Ob die Schrift περὶ τῶν τριῶν τραγῳδοποιῶν im Umfang eines Buches in eine ähnliche Richtung ging, ist hingegen nicht mehr festzustellen. Die beiden Bücher περὶ Ἀρχιλόχου καὶ Ὁμήρου behandelten zwei Gattungsarchegeten; inwieweit hier tatsächlich ein Vergleich der beiden Autoren , etwa nach stilistischen Kriterien, stattgefunden hat, muss auch hier dahingestellt bleiben. Der Frage nach der relativen Datierung von Homer und Hesiod gingen schließlich die beiden Bücher Περὶ τῆς Ὁμήρου καὶ Ἡσιόδου ἡλικίας (vgl. Diog. Laert. 5, 86 = frg. 22 Wehrli) nach. 34 - Eigenständige Schriften, die den Terminus σύγκρισις im Titel führten, sind dann erst aus späthellenistischer Zeit bezeugt: Kleo- 31 Zur semantischen Differenzierung dieser Termini bietet die Studie von Reiff (1959) immer noch die ergiebigste Materialbasis. 32 Vgl. die Überblicke bei Focke (1923), S. 339-348 und Vardi (1996), S. 492-502. 33 Auch der Theophrastschüler Duris von Samos (ca. 340-270 v. Chr.) schrieb περὶ Εὐριπίδου καὶ Σοφοκλέους; vgl. dazu Landucci Gattinoni (1997), S. 40. 34 Hekataios von Abdera (4. Jhdt. v. Chr.) verglich diese beiden Dichter in seiner Schrift περὶ τῆς ποιήσεως Ὁμήρου καὶ Ἡσιόδου (Suda s. v. Ἑκαταῖος = Adler ε 359) stattdessen hinsichtlich ihrer Werke. <?page no="28"?> 28 1. Einleitung chares von Myrlea stellte einen monographischen Vergleich zwischen Demosthenes und den Isokrateern an (Photios bibl. 176.121 B 9-15: … ἐν τῇ πρὸς τὸν Δημοσθένην συγκρίσει …) 35 , und von Poseidonios (135-51 v. Chr.) - nicht vom Astronomen Dionysios, wie Focke (1923), S. 343 vermutet - dürfte ein Schrift des Titels Περὶ συγκρίσεως Ἀράτου καὶ Ὁμήρου περὶ τῶν μαθηματικῶν stammen, in der die beiden Epiker nach ihren astronomischen Kenntnissen verglichen wurden. 36 Erst in hellenistischer bzw. nachhellenistischer Zeit wurde der Terminus σύγκρισις nach unseren Zeugnissen also für literaturvergleichende Monographien verwendet, wobei auch dann noch eine gewisse thematische Varianz - rhetorische Stilkritik im Falle des Kleochares vs. Realienkritik bei Poseidonios - für die so bezeichnete Textsorte charakteristisch bleibt. - Einen Vorläufer hatten derartige literaturvergleichende Schriften - ob sie nun den Terminus σύγκρισις im Titel trugen oder nicht - in der sog. Agonliteratur, in der der Agon als institutionalisierte Form der Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Dichtern literarisiert wird - am prominentesten vertreten im sog. Certamen Homeri et Hesiodi sowie in den Fröschen des Aristophanes. Einen wirklichen Aufschwung nahm die Synkrisis zumal als Methode literaturkritischer Bewertungsprozesse in den Stildebatten des ersten Jhdt. v. Chr. (vgl. auch → Kap. 2.2.2). Autoren wie Dionysios von Halikarnassos formulierten ein theoretisch anspruchsvolles Programm literarischer und kultureller Erneuerung, das sich in einem klassizistischen Rückgriff auf die „goldene Zeit“ des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr. vollzog. Ihr Bildungs- und Literaturverständnis war stark auf der Geltung anerkannter Autoritäten aus dieser „klassischen Zeit“ gegründet. Die Methode der Synkrisis war dabei ein Weg, eben diese Autorität und kanonische Stellung auszuhandeln und auf diese Weise brauchbare Muster überhaupt erst zu legitimieren. Neben zahlreichen Stilvergleichen zwischen den verschiedenen attischen Rednern liefert Dionysios von Halikarnassos in seinem Brief an Cn. Pompeius auch einen theoretischen Versuch, die Synkrisis methodisch zu rechtfertigen (→ Kap. 1.3.2): 37 Das unausgesetzte Vergleichen 35 Vgl. zu ihm Asper (1997), S. 162 mit Anm. 136-137. - Vgl. auch den Fall des Antisthenes (ca. 445-365 v. Chr.): Er schrieb περὶ τῶν δικογράφων <ἢ> Ἰσογράφης καὶ Δεσίας (vgl. Diog. Laert. 6, 15 = frg. 1 Decleva Caizzi), eine Parteinahme im Streit zwischen den Anhängern des Lysias und des Isokrates, vielleicht in Form eines Dialoges, in dem die Träger der beiden im Titel verdrehten Namen auftraten. 36 Vgl. Maass (1958), S. 150. In einer lateinischen Quelle wird die Schrift mit dem Titel Praedicatio Homeri et Arati de mathematicis zitiert; vgl. Maass (1958), S. 143. 37 Dion. Hal. Pomp. 1 = VI 221, 1-226, 21 Usener-Radermacher. - Der Brief ist auch ein Musterbeispiel dafür, wie sich Dionysios einen methodisch geleiteten Vergleich - in diesem Fall zwischen Historikern - vorstellte. Der Kritiker habe demnach verschiedene Gesichtpunkte zu berücksichtigen: (1) Welches ist der richtige Gegenstand? (232, 19-233, 2: πρῶτόν τε καὶ σχεδὸν ἀναγκαιότατον ἔργον ἁπάντων ἐστὶ τοῖς γράφουσιν πᾶσιν ἱστορίας <?page no="29"?> 1.3 Die Synkrisis in der antiken Praxis und Theorie im Überblick 29 der Besten mit den Besten setze die Unterlegenen nicht herab, sondern finde seine teleologische Begründung in einem nicht abschließbaren Prozess der Optimierung, in dem es darum geht, sich beständig der stilistischen Qualitäten der kanonischen Muster im Modus des Vergleichs zu versichern. Von dieser Lust am ständigen Vergleich, wie sie die Attizisten wohl schon vor Dionysios ausgeprägt hatten, zeugen auch zahlreiche Stellen in Ciceros Brutus . 38 In späteren Epochen, zumal im Umfeld der zweiten Sophistik, finden sich dann viele Beispiele für synkritische Bewertungen von Autoren und konkreten Texten. 39 Zwei Vergleiche griechischer Dramatiker sind aus der kaiserzeitlichen Literatur überliefert, an denen die Charakteristika rein griechischer Literaturvergleiche - von Griechisch schreibenden Autoren und nur über griechische Texte - besonders klar hervortreten. - Ein kurzes Stück, das im Korpus der Schriften Plutarchs überliefert ist, in der überlieferten Form aber nicht von diesem Autor stammt, trägt traditionell den Titel Συγκρίσεως Ἀριστοφάνους καὶ Μενάνδρου ἐπιτομή. 40 Der Text gibt sich als eine Zusammenfassung von Plutarchs Einschätzung über die beiden Hauptvertreter der Alten und der Neuen Komödie, Aristophanes und Menander. Es handelt sich dabei um einen generellen Autorenvergleich - es steht also keine spezielle Komödie im Zentrum -, der aber doch konkrete Textstellen zur Stützung des Arguments heranzieht. Die Gegenüberstellung geht zunächst von der Sprache der beiden Dichter aus und stellt hier entsprechende Qualitätsunterschiede heraus (Kap. 1-2). Sein Erfolg beim Publikum bestätigt die Qualitäten Menanders (Kap. 3). Abschließend wird der urbane Witz Menanders dem bissigen Spott des Aristophanes gegenübergestellt (Kap. 4). Es handelt sich hier also um einen nach formalen - Sprache und Witz - und biographisch-literaturgeschichtlichen - Erfolg bei den Zeitgenossen - Kategorien geordneten Vergleich. Texte kommen nur insofern in Betracht, als sie eine vorab festgestellte allgemeine Differenz belegen können. ὑπόθεσιν ἐκλέξασθαι καλὴν καὶ κεχαρισμένην τοῖς ἀναγνωσομένοις); (2) Womit beginnt und womit endet man? (234, 16-18: Δεύτερόν ἐστι τῆς ἱστορικῆς πραγματείας ἔργον γνῶναι πόθεν τε ἄρξασθαι καὶ μέχρι τοῦ προελθεῖν δεῖ); (3) Welche Ereignisse sollen ins Werk aufgenommen werden, welche nicht? (236, 6-8: Τρίτον ἐστὶν ἀνδρὸς ἱστορικοῦ σκοπεῖν, τίνα τε δεῖ παραλαβεῖν ἐπὶ τὴν γραφὴν πράγματα καὶ τίνα παραλιπεῖν); (4) Welche ist die richtige Stoffanordnung? (237, 6-7: Μετὰ τοῦτο ἔργον ἐστὶν ἱστορικοῦ διελέσθαι τε καὶ τάξαι τῶν δηλουμένων ἕκαστον ἐν ᾧ δεῖ τόπῳ); (5) Welche Haltung äußert der Autor gegenüber seinen Gegenständen? (238, 12-15: Μιᾶς δ΄ ἰδέας ἐπιμνησθήσομαι πραγματικῆς, ἣν οὐδεμιᾶς τῶν εἰρημένων ἧττον ἐν ἁπάσαις ἱστορίαις ζητοῦμεν, τὴν αὐτοῦ τοῦ συγγραφέως διάθεσιν, ᾗ κέχρηται πρὸς τὰ πράγματα περὶ ὧν γράφει). 38 Vgl. zusammenfassend Kytzler (1986), S. 292-294. 39 Hier wird im Folgenden darauf verzichtet, einen vollständigen Katalog der erhaltenen Zeugnisse zu geben (vgl. dafür wieder die Zusammenstellungen bei Focke [1923], S. 339-348 und Vardi [1996], S. 492-502). 40 Plut. mor. 56 = 853 a -854 d . <?page no="30"?> 30 1. Einleitung Das zweite Beispiel, Dions berühmte 52. Rede (περὶ Αἰσχύλου καὶ Σοφοκλέους καὶ Εὐριπίδου ἢ περὶ τῶν Φιλοκτήτου τόξων), stellt stattdessen durchaus konkrete Texte in den Mittelpunkt, nämlich die Philoktetdramen der drei attischen Tragiker, von denen bekanntlich nur das Stück des Sophokles erhalten ist. 41 Bemerkenswert ist hier der imaginäre Agon , den Dion als Rahmen für seinen Textvergleich entwirft (Kap. 3-4); es handelt sich dabei um eine bewusste Stilisierung eines kritischen Entscheids nach den alten attischen Theatersitten. Nacheinander werden dann die drei Stücke besprochen, wobei erst die beiden schließlich abgewerteten Versionen des Aischylos und Euripides, als Abschluss dann die gelungene Bearbeitung des Stoffes durch Sophokles analysiert wird. Ohne auf die angewendeten Kriterien hier im Einzelnen einzugehen, ist allgemein darauf hinzuweisen, dass sich Dion fast ausschließlich auf die Konstatierung von Unterschieden beschränkt. Literarische Abhängigkeit kommt nur an einer Stelle ins Spiel, wobei die Bemerkung hier gerade von der Tragikertrias wegführt (vgl. Kap. 5: καθάπερ Ὅμηρος κἀκείνῳ δὴ ἑπόμενος Εὐριπίδης). Vergleicht man diese beiden Beispiele etwa mit dem Übersetzungs vergleich, den Gellius in 2, 23 ebenfalls mit zwei dramatischen Texten - Menander und Caecilius Statius - anstellt, so wird die besondere Aufmerksamkeit kenntlich, die die römischen Philologen den Aspekten der literarischen Abhängigkeit - hier der Übersetzung - gewidmet haben. 42 Dabei sind die Unterschiede in der Textgrundlage gar nicht so entscheidend: Wie die Beispiele aus dem Plocium des Caecilius Statius zeigen, war der römische Begriff der „Übersetzung“ ein sehr weiter. Man hätte in ähnlicher Weise wohl auch in den Philoktetdramen Stellen finden können, die sich inhaltlich direkt vergleichen lassen. Dion tut das nicht; er behandelt jedes Drama für sich, ohne einzelne Textstellen unmittelbar gegeneinander zu halten. Das deutet schon darauf hin, dass die in Rom über die Epochen hinweg so wichtigen Konzepte von imitatio und aemulatio in der Technik des Einzelstellenvergleichs auch methodische Auswirkungen hatten. Die Frage nach Grad und Art der Intentionalität stellte sich in Rom offensichtlich drängender als in Griechenland, auch weil sich die römische Literatur in ihrer ersten Phase als Übersetzungs literatur verstanden hatte. Vergleichende Literaturkritik ist hier in der Regel auch imitatio -Kritik, und das Beispiel des prototypischen Homernachfolgers Vergil - das Provozierende seiner programmatischen Orientierung an Homer war bekanntlich schon den ersten Rezipienten bewusst 43 - musste demnach besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. 41 Vgl. dazu den ausführlichen Kommentar von Müller (2000), S. 240-291. 42 Vgl. zu diesem Abschnitt → Kap. 4.3. 43 Vgl. Prop. 2, 34, 65-66 ( cedite Romani scriptorcs, cedite Grai! | nescio quid maius nascitur Iliade ). <?page no="31"?> 1.3 Die Synkrisis in der antiken Praxis und Theorie im Überblick 31 1.3.2 Dionysios von Halikarnassos über die Funktion komparativer Literaturkritik (Pomp. 1) Neben diesen Beispielen für ihre praktische Anwendung hat es in der Antike aber auch vereinzelt theoretische Reflexion über die Zielbestimmung der literaturkritischen Synkrisis gegeben, und zwar in einem Gebiet, das neben den Dichtervergleichen als der zweite große Gegenstandsbereich komparativer Literaturkritik angesprochen werden kann, nämlich den Vergleichen von Prosaautoren. Hierzu gehört insbesondere die bereits erwähnte, relativ kurze Passage in einem Brief des Geschichtsschreibers und Literaturkritikers Dionysios von Halikarnassos, der in augusteischer Zeit in Rom gewirkt hat und als Hauptvertreter des sog. „römischen Klassizismus“ gilt. 44 Es handelt sich um das Einleitungskapitel zum Brief an Gnaeus Pompeius Geminus , wohl ein Spätwerk des Autors. 45 Der Text steht zwar nicht repräsentativ für alle literaturvergleichenden Untersuchungen in der Antike, er leistet allerdings wichtige begriffliche Differenzierungen, insbesondere mit seiner Abgrenzung der Kategorien ἔπαινος und διάγνωσις, die auch die bereits bei Quintilian erkennbare Grundproblematik der Homer-Vergil-Vergleiche betrifft. Dionysios verteidigt im genannten Abschnitt sein methodisches Vorgehen in der Schrift über Demosthenes . Dort hatte er einen Vergleich zwischen dem Redner Demosthenes und dem Philosophen Platon angestellt, der sich hauptsächlich auf stilistische Aspekte konzentrierte. Das abschließende Urteil dieser Synkrisis war zuungunsten Platons ausgefallen. Gnaeus Pompeius Geminus hatte Dionysios nun in einem nicht erhaltenen Brief unterstellt, dass es dessen Absicht gewesen sei, Platon mit diesem Vergleich zu kritisieren, seine stilistische Autorität also polemisch in Frage zu stellen. Dionysios kontert, indem er sich zunächst als einen großen Bewunderer Platons darstellt. Er behauptet außerdem, dass er mit seiner Platonbewunderung ganz auf der Linie einer bestimmten Gruppe von Literaturkritikern liegt, denen es um eine „Verbesserung von βίος und λόγος“ zu tun ist - eine Formel, mit der Dionysios auch an anderer Stelle seine klassizistischen Parteigänger umschreibt, Kritiker also, deren Urteil er für maßgeblich hält. 46 Gnaeus Pompeius habe die Tendenz der Demosthenes- Schrift aus der Sicht ihres Autors also falsch interpretiert, und folglich geht es Dionysios im Abschnitt Kap. 3-8 zunächst darum, dieser Fehlinterpretation eine alternative Deutung entgegenzusetzen. 44 Auf Dionysios von Halikarnassos und insbesondere seine Konzeption der „eklektischen Mimesis“ wird in → Kap. 2.2.2 detailliert eingegangen. 45 Vgl. Dion. Hal. Pomp. 1 = VI 221, 3-226, 21 Usener-Radermacher. Vgl. zu diesem Brief auch den Kommentar von Fornaro (1997), pass . 46 Vgl. dazu Hidber (1996), S. 44-56, bes. 56, und Wiater (2011), S. 65-77. <?page no="32"?> 32 1. Einleitung Das geschieht insbesondere in Kapitel 3: Dionysios kommt es an dieser Stelle darauf an, dass er keine Lobschrift (ἔπαινος) über den Redner hatte schreiben wollen, sondern dass es ihm um eine differenzierende Analyse - das Stichwort lautet διαγνῶναι - von Vorzügen und Schwächen des Demosthenes ging: Ἐγὼ οὖν νομίζω δεῖν, ὅταν μὲν ἔπαινον προέληται γράφειν τις πράγματος εἴτε σώματος ὁποίου γέ τινος, τὰς ἀρετὰς αὐτοῦ καὶ οὐ τἀτυχήματα, εἴ τινα πρόσεστι, [τῷ πράγματι ἢ τῷ σώματι δεῖν] προφέρειν· ὅταν δὲ βουληθῇ διαγνῶναι, τί τὸ κράτιστον ἐν ὅτῳ δή ποτε βίῳ καὶ τί τὸ βέλτιστον τῶν ὑπὸ ταὐτὸ γένος ἔργων, τὴν ἀκριβεστάτην ἐξέτασιν προσφέρειν καὶ μηδὲν παραλείπειν τῶν προσόντων αὐτοῖς εἴτε κακῶν εἴτε ἀγαθῶν· ἡ γὰρ ἀλήθεια οὕτως εὑρίσκεται μάλιστα, ἧς οὐδὲν χρῆμα τιμιώτερον. (Dion. Hal. Pomp. 1, 3 = VI 222, 1-10 Usener-Radermacher) („Ich halte es also für notwendig, wenn man eine Lobrede auf eine Handlung oder eine Person - wie immer sie auch beschaffen sein mag - zu schreiben unternimmt, dass man die Vorzüge und nicht das Misslungene, wenn es denn welches gibt, vorbringt. Wenn man aber unterscheidend erkennen möchte, was das Vortrefflichste in irgendeinem Leben und was die beste unter Taten gleicher Art ist, <so muss man> die genaueste Untersuchung anstellen und darf nichts übergehen von dem Schlechten und dem Guten, was sich mit ihnen verknüpft. Auf diese Weise aber gelangt man am ehesten zur Wahrheit, die doch den höchsten Wert besitzt.“) Als Maßstab einer derartigen „unterscheidenden Erkenntnis“ beruft sich Dionysios also auf das Kriterium der Wahrheit (ἀλήθεια), womit er offenkundig eine nicht tendenziöse, rein sachbezogene inhaltliche und stilistische Analyse meint. Dieses Kriterium hat für den ἔπαινος weniger Relevanz als für die διάγνωσις und wird hier geradezu als das differenzierende Merkmal zwischen Lob und Analyse eingeführt. Die Unterscheidung dieser beiden Gattungen und die besondere Wahl, die Dionysios trifft, wird in den Kapiteln 4-8 näher ausgeführt. Zentral ist das Argument in Kapitel 5: Zur Erkenntnis der Stileigentümlichkeiten einzelner Reden bzw. einzelner Redner sei es hilfreich, zunächst eine Auswahl der Besten - an anderer Stelle ist allgemeiner von „Gleichartigen bzw. -rangigen“ die Rede - zu treffen und diese dann miteinander zu vergleichen. Damit lasse sich schließlich zwar ebenfalls eine Entscheidung darüber treffen, wer von dieser Bestenauswahl wiederum den ersten Platz erhält, die Qualität der unterlegenen Autoren werde damit aber nicht in Frage gestellt. εἰ δὲ χαρακτῆρας λόγου προελόμενος σκοπεῖν καὶ τοὺς πρωτεύοντας ἐν αὐτοῖς φιλοσόφους τε καὶ ῥήτορας ἐξετάζειν τρεῖς μὲν ἐξ ἁπάντων ἐξελεξάμην τοὺς δοκοῦντας εἶναι λαμπροτάτους, Ἰσοκράτην τε καὶ Πλάτωνα καὶ Δημοσθένη, ἐκ δὲ τούτων αὐτῶν πάλιν προέκρινα Δημοσθένη, οὐδὲν ᾤμην οὔτε Πλάτωνα οὔτε Ἰσοκράτην ἀδικεῖν. (Dion. Hal. Pomp. 1, 5 = VI 222, 17-223, 2 Usener-Radermacher) <?page no="33"?> 1.3 Die Synkrisis in der antiken Praxis und Theorie im Überblick 33 („Wenn ich aber in dem Entschluss, die Stilarten der Rede genau zu betrachten und die in diesen jeweils ranghöchsten Philosophen und Redner herauszustellen, aus der Gesamtheit drei ausgewählt habe, die mir die glänzendsten zu sein scheinen, Isokrates, Platon und Demosthenes, aus diesen aber wiederum Demosthenes den Vorzug gegeben habe, so glaubte ich weder Platon noch Isokrates Unrecht zu tun.“) Wieder versteht der fiktive Interlokutor Gnaeus Pompeius den Gedanken des Dionysios falsch, wenn er einwendet, ein Lob des Demosthenes hätte auch ohne eine vermeintliche Herabsetzung Platons auskommen können. Dionysios antwortet mit dem Hinweis, dass er von allen drei Autoren die besten Reden für seinen Vergleich ausgewählt und dabei festgestellt habe, dass alle Reden in ihren Teilen unterschiedliche Qualitätsstufen erreichten und erst eine Gesamtschau der differenzierten Urteile ein vor dem Maßstab der „Wahrheit“ belastbares Pauschalurteil zulässt: Νὴ Δία, φῄς, ἀλλ’ οὐκ ἔδει σε τὰ Πλάτωνος ἁμαρτήματα ἐξελέγχειν, βουλόμενον ἐπαινεῖν Δημοσθένη. ἔπειτα πῶς ἄν μοι τὴν ἀκριβεστάτην βάσανον ὁ λόγος ἔλαβεν, εἰ μὴ τοὺς ἀρίστους λόγους τῶν Ἰσοκράτους τε καὶ Πλάτωνος τοῖς κρατίστοις <τῶν> Δημοσθένους ἀντιπαρέθηκα καὶ καθ’ ὃ μέρος ἥττους οἱ τούτων λόγοι εἰσὶ τῶν ἐκείνου, μετὰ πάσης ἀληθείας ἐπέδειξα, οὐχ ἅπαντα τοῖς ἀνδράσιν ἐκείνοις ἡμαρτῆσθαι λέγων - μανίας γὰρ τοῦτό γε - , ἀλλ’ οὐδ’ ἅπαντα ἐπίσης κατωρθῶσθαι. (Dion. Hal. Pomp. 1, 6 = 223, 3-12 Usener-Radermacher) („‘Beim Zeus’, sagst du, ‘doch hättest du nicht die Fehler Platons aufzählen müssen, wenn es deine Absicht war, Demosthenes zu preisen.’ Wie hätte sich dann aber meine Rede der schärfsten Prüfung unterziehen können, wenn ich nicht die besten Reden des Isokrates und Platons mit den hervorragendsten von Demosthenes verglichen und nicht völlig der Wahrheit gemäß gezeigt hätte, in welchem Bereich ihre Reden schwächer als seine sind, ohne dabei zu behaupten, dass sich jene Männer in jeder Hinsicht verfehlt hätten - das wäre nämlich reiner Wahnsinn -, sondern nur, dass nicht alles in gleicher Weise ausgearbeitet sei.“) Es ergibt sich also eine Akzentverschiebung: Während sich Gnaeus Pompeius ganz auf das Ergebnis der Synkrisis konzentriert, rückt dieser Aspekt für Dionysios in den Hintergrund. Diesem ist der Prozess des Vergleichens wichtiger. Zwar positioniert auch Dionysios seine drei Autoren auf einer imaginären Bestenliste, doch bringt es die Entscheidung für die „Wahrheit“ als leitendem Kriterium mit sich, dass die Bewertung der einzelnen Autoren differenzierter ausfällt, was grundsätzlich auch für den Erstplatzierten Demosthenes gelten muss - nur dass dieser eben verhältnismäßig wenig oder gar keinen Anlass zur Kritik gibt. Dionysios enttäuscht damit in mehrfacher Hinsicht die Erwartungen seines Lesers Gnaeus Pompeius: Die Bewertung Platons im Demosthenes widerspricht <?page no="34"?> 34 1. Einleitung grundsätzlich der Einschätzung des Pompeius. Zugleich ist dieser aber irritiert, dass Dionysios nicht nur die negativen, sondern auch die positiven Seiten des Unterlegenen herausarbeitet und damit weder einen kunstgerechten Angriff 47 noch einen ἔπαινος auf Platon vorbringt. Der vermeintliche ἔπαινος auf Demosthenes entspricht in den Augen dieses Lesers aber ebenfalls nicht den Regeln der Kunst, da Platon und Isokrates nicht wie zu erwarten pauschal abgewertet, sondern durchaus gerecht und differenziert behandelt werden. 48 Der Grund für diese Verwirrungen ist klar: Gnaeus Pompeius geht nicht von der bei Dionysios getroffenen Unterscheidung zwischen ἔπαινος und διάγνωσις aus; er legt an alle Abschnitte der Schrift die Maßstäbe des ἔπαινος an. Zur Rechtfertigung seines methodischen Vorgehens beruft sich Dionysios in den Kapiteln 9-14 auf die Autorität Platons selbst, der mit der Gegenüberstellung verschiedener ἐρωτικοὶ λόγοι im Phaidros gewissermaßen einen Prototyp literaturkritischer Synkrisis geschaffen habe. Dionysios kommt es auf einen bestimmten Gesichtspunkt an, nämlich auf das grundsätzliche Verhältnis von Literaturvergleich und Polemik. Er setzt sich nämlich im gleichen Zug von seinem formalen Vorbild Platon ab, wenn er darauf hinweist, dass dieser im Gegensatz zu ihm aus „Eifersucht“ bzw. „Neid“ - φιλοτιμία 49 - gehandelt habe, wenn er seinen Zeitgenossen Lysias durch Konfrontation mit einer selbstverfassten Rede herabsetzt; ein Charakterzug, der dann auch generell in anderen Schriften Platons, besonders aber in seinem Verhältnis zu Homer nachgewiesen wird. Das Autoritätsargument wird hier also mit dem bereits eingeführten Gesichtspunkt der Objektivität, d. h. der durch keine anderen Interessen gestörten Suche nach der „Wahrheit“, erweitert. Ein letzter Rechtfertigungsgrund kommt am Ende des Gedankengangs nur kurz ins Spiel, nämlich in Kapitel 16. Hier verweist Dionysios darauf, dass sich eine objektive, um die Wahrheit bemühte kritische Behandlung Platons auf eine Tradition berufen kann, die bis in die unmittelbare Zeitgenossenschaft Platons - verwiesen wird auf Aristoteles - zurückreicht: πολλοὶ γὰρ εὑρεθήσονται πρὸ ἐμοῦ τοῦτο πεποιηκότες, οἳ μὲν κατὰ τὸν ἐκείνου γενόμενοι χρόνον, οἳ δὲ λίαν ὕστερον ἐπακμάσαντες. καὶ γὰρ τὰ δόγματα διέβαλον αὐτοῦ τινες καὶ τοὺς λόγους ἐμέμψαντο πρῶτον μὲν ὁ γνησιώτατος αὐτοῦ μαθητὴς Ἀριστοτέλης, ἔπειτα οἱ περὶ Κηφισόδωρόν τε καὶ Θεόπομπον καὶ Ζωΐλον καὶ Ἱπποδάμαντα καὶ Δημήτριον καὶ ἄλλοι συχνοί, οὐ διὰ φθόνον ἢ διὰ φιλαπεχθημοσύνην κωμῳδοῦντες ἀλλὰ τὴν ἀλήθειαν ἐξετάζοντες. (Dion. Hal. Pomp. 1, 16 = VI 226, 6-15 Usener-Radermacher) 47 Dionysios spricht im betreffenden Kapitel von καταδρομή; vgl. Pomp. 1, 4 = VI 222, 11-12 Usener-Radermacher. 48 Vgl. insbesondere Pomp. 1, 6 = VI 223, 3-12 Usener-Radermacher. 49 Dion. Hal. Pomp. 1, 12 = VI 225, 11 Usener-Radermacher. <?page no="35"?> 1.3 Die Synkrisis in der antiken Praxis und Theorie im Überblick 35 („Viele aber wird man finden, die das vor mir getan haben, wobei die einen zu seiner Zeit gelebt haben, die anderen hingegen viel später. Manche aber kritisierten seine Lehren, andere tadelten seine Redeweisen, an erster Stelle der Schüler, der ihm am nächsten kam, Aristoteles, dann auch Männer um Kephisodoros, Theopompos, Zoilos, Hippodamas, Demetrios und viele andere, die ihn nicht aus Neid oder Streitsucht verlachten, sondern weil sie nach der Wahrheit suchten.“) Der Vergleich der Guten mit den Guten - ἀγαθοὺς ἀγαθοῖς ἀντεξετάζειν 50 - kann sich also auf drei Argumente stützen: Die Autorität Platons selbst, die Objektivität einer von φιλοτιμία freien Wahrheitssuche, und die Tradition der in diesem Sinne tadellosen kritischen Vorgänger. Eine solcherart legitimierte synkritische Lektüre fügt sich - damit beendet Dionysios seine Rechtfertigung - ein in das Konzept einer „philosophischen Rhetorik“ (φιλόσοφος ῥητορική), ein Schlüsselterminus klassizistischer Literaturkritik: 51 τοσούτοις δὴ καὶ τηλικούτοις ἀνδράσι παραδείγμασι χρώμενος καὶ παρὰ πάντας τῷ μεγίστῳ Πλάτωνι οὐδὲν ἡγούμην τῆς φιλοσόφου ῥητορικῆς ποιεῖν ἀλλότριον ἀγαθοὺς ἀγαθοῖς ἀντεξετάζων. περὶ μὲν οὖν τῆς προαιρέσεως, ἣν ἔσχον ἐν τῇ συγκρίσει τῶν χαρακτήρων, ἱκανῶς ἀπολελόγημαι καὶ σοί, Γεμῖνε φίλτατε. (Dion. Hal. Pomp. 1, 17 = VI 226, 15-21 Usener-Radermacher) („Mit so vielen und so bedeutenden Männern als Vorbildern und insbesondere mit dem größten unter ihnen, Platon selbst, glaubte ich nichts zu tun, was der philosophischen Rhetorik widerspricht, indem ich die Guten mit den Guten verglich. Über meine Absichten, die ich beim Vergleich der Stile verfolgte, habe ich mich nun sogar für deine Begriffe, mein bester Geminos, ausreichend erklärt.“) An dieser Stelle wird deutlich, dass Dionysios die von ihm vorgeschlagene Methode der vergleichenden διάγνωσις über den i. e. S. rhetorisch-stilistischen Bereich hinaushebt und ihr eine allgemeine erzieherisch-bildende Funktion zuweist. Für die vorliegende Untersuchung ist diese spezifische Einbettung in ein geschlossenes didaktisches System mit hohen kulturellen Ansprüchen nur in Teilen von Relevanz. Wichtiger ist der allgemeine Hinweis, den Dionysios mit seiner Unterscheidung von ἔπαινος und διάγνωσις gibt: Nicht jede vergleichende Bewertung von Autoren impliziert automatisch eine Hierarchisierung dieser Autoren nach denselben Kriterien. Der Fokus verschiebt sich bei Dionysios wie erwähnt vom Ergebnis des Vergleichs hin zum Prozess des Vergleichens. Der Vergleich hat bei Dionysios nicht mehr das primäre Ziel, eine fixe Rangliste zu erstellen, sondern dient als heuristisches Instrument zur Identifizierung nachahmenswerter Stileigentümlichkeiten. Das eröffnet grundsätzlich die Möglich- 50 Dion. Hal. Pomp. 1, 17 = VI 226, 18-19 Usener-Radermacher. 51 Vgl. dazu wieder Hidber (1996), S. 44-56 und Wiater (2011), S. 65-77. <?page no="36"?> 36 1. Einleitung keit, Autoren nach ihrer literaturgeschichtlichen Eigengesetzlichkeit zu beurteilen. Gerade in der frühen Diskussion um den „Plagiator“ Vergil wird dieses Element zum Tragen kommen, wenn Vergils Kunst als Inbegriff künstlerischer imitatio gegen einen überkommenen furtum -Begriff ausgespielt wird. Homer und Vergil sind am Ende dieses Prozesses eben nicht mehr ohne Weiteres miteinander vergleichbar, wie aus der etwas „schiefen“ Rangbestimmung bei Quintilian ersichtlich wird: Einerseits versucht er bzw. der zitierte Domitius Afer in inst. 10, 1, 86 eine traditionelle Rangfolge zu etablieren, andererseits gesteht er mit seiner Unterscheidung von ingenium und ars ein, dass die beiden Autoren von unterschiedlichen ästhetischen Prinzipien ausgehen und daher grundsätzlich nicht vergleichbar sind. Weist man gelungene imitatio als Element von ars aus, wie es Klassizisten wie Dionysios getan haben, so verliert der Plagiatsvorwurf seine Bedeutung. Die im Folgenden zu untersuchenden Texte stellen sich alle in unterschiedlicher Weise der Herausforderung, Homer und Vergil sowohl unter dem Gesichtspunkt ihrer relativen Hierarchisierung als auch ihrer künstlerischen Eigentümlichkeit zu bewerten. Am Beginn steht die nur mehr sekundär bezeugte Debatte über die vermeintlichen Homerplagiate Vergils. <?page no="37"?> 2.1 Die obtrectatores Vergilii in der Nachfolge der Homerkritiker (VSD 43 - 46) 37 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil 2.1 Die obtrectatores Vergilii in der Nachfolge der Homerkritiker (VSD 43 - 46) Über die Anfänge der philologischen Beschäftigung mit Vergil sind wir durch ein knappes Résumé unterrichtet, das in der sogenannten Vita Suetonii vulgo Donatiana ( VSD ) in den Schlussteil der eigentlich biographischen, dem auctor Vergilius gewidmeten Partie eingefügt ist. Diese Lebensbeschreibung wurde von Aelius Donatus im vierten Jhdt. n. Chr. an den Beginn seines sonst weitgehend verlorenen Vergilkommentars gestellt und ist in dieser Fassung überliefert. 52 Doch reicht die Geschichte der VSD um etwa zweihundert Jahre zurück: Donatus verwendete für die Einleitung zu seinem Kommentar eine von Sueton am Beginn des 2. Jhdt. n. Chr. verfasste Vergilbiographie, die dieser in die Reihe der Dichterviten im 15. Buch ( De poetis ) seiner antiquarischen Sammelschrift Pratum aufgenommen hatte. 53 Wie Sueton auch in seinen Kaiserbiographien 52 Vgl. Peter L. Schmidt: Art. „Aelius Donatus“, in: HLL § 527 = HdA VIII.5 (1989), S. 143-158, bes. 148-154. - Einen umfassenden Überblick über die einzelnen Etappen im frühen Kanonisierungsprozess Vergils (bis Quintilian) gibt die Studie von Suerbaum (2011), pass. (zur Synkrisis mit Homer vgl. bes. S. 187-190; zur frühen Vergilkritik [„Gegenströmungen“] S. 197-198). Suerbaum weist zurecht auf das auffällige Schweigen Vergils über sein Verhältnis zu Homer hin, was sich wohl dadurch erklärt, dass sich Ennius im Proöm seiner Annales programmatisch zum alter Homerus - unter Rückgriff auf den Gedanken der Metempsychose - stilisiert hatte; vgl. dazu ausführlich Suerbaum (1968), 46-113. 53 Das wird heute allgemein in der Forschung angenommen (vgl. zusammenfassend Peter L. Schmidt: Art. „C. Suetonius Tranquillus“, in: HLL § 404 = HdA VIII.4 [1997], S. 14-53, hier S. 31-33 mit weiterführender Literatur). Interpolationen, Kürzungen und Umarbeitungen durch Donatus müssen zwar als Möglichkeit in Betracht gezogen werden, doch gibt es keine Anhaltspunkte, die Authentizität des im Folgenden zu behandelnden Abschnitts §§ 43-46 in Zweifel zu ziehen. Beanstandet wurde hier bislang nur der Einleitungssatz Obtrectatores … quidem (vgl. Paratore [1950], S. 271 Anm. 213 und Bayer [2002], S. 303-306 zu nec mirum, nam nec Homero quidem [vgl. S. 306: „Der Satzeingang ist mit Sueton in Deckung zu bringen. Ab Nec mirum … handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um einen Einschub, wohl Donats.“]) und die Bemerkung sed insulsissime παρῳδήσας zu den Antibucolica des Numitorius (vgl. Bayer [2002], S. 307-308, bes. S. 308: „Das parodesas an der vorliegenden Stelle fällt also ganz aus dem Rahmen der Suetonischen Sprachgepflogenheit“). Sueton als Autor von §§ 43-46 hätte wohl auch die versifizierte Vita des Phocas erweisen können, die nicht auf Donatus, sondern ebenfalls direkt auf Sueton zurückgeht (vgl. Schmidt a. a. O., S. 32-33), doch bricht die Darstellung noch vor dem Tod Vergils überlieferungsbedingt ab. - Vgl. allgemein zu den Vergilviten <?page no="38"?> 38 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil nach der Schilderung der Todesumstände in knappen Zügen die Einschätzung des Toten bei Mit- und Nachwelt umreißt, so folgt auch in der VSD auf die Nachricht vom Ableben Vergils in Brundisium (§ 35) und seiner Bestattung in Neapel (§ 36) 54 ein Katalog von Kritikern ( obtrectatores ), die Vergils Werk schon zu Lebzeiten und postum auf den Plan rief: 55 Obtrectatores Vergilio numquam defuerunt, nec mirum, nam nec Homero quidem. prolatis Bucolicis Numitorius quidam rescripsit Antibucolica, duas modo eclogas sed insulsissime παρῳδήσας, quarum prioris initium est: ‘Tityre, si toga calda tibi est, quo tegmine fagi? ’ sequentis: ‘Dic mihi, Damoeta: cuium pecus, anne Latinum? | non. verum Aegonis nostri sic rure loquuntur.’ alius recitante eo ex Georgicis: ‘Nudus ara, sere nudus’, subiecit: ‘habebis frigore febrem’. est adversus Aeneida liber Car<v>ili Pictoris, titulo ‘Aeneidomastix’. M. Vip<s>anius a Maecenate eum suppositum appellabat novae cacozeliae repertorem, non tumidae nec exilis, sed ex communibus verbis atque ideo latentis. Herennius tantum vitia eius, Perellius Faustus furta contraxit. sed et Q. Octavi Aviti Ὁμοιότητων 56 octo volumina, quos et unde versus transtulerit, continent. Asconius Pedianus libro, quem contra obtrectatores Vergilii scripsit, pauca admodum obiecta ei proponit, eaque circa historiam fere et quod pleraque ab Homero sumpsisset; sed hoc ipsum crimen sic defendere assuetum ait: ‘cur non illi quoque eadem furta temptarent? verum intellecturos facilius esse Herculi clavam quam Homero den Katalog bei Suerbaum (1981), S. 1165-1184 sowie Brugnoli / Naumann (1990) mit älterer Literatur. 54 Der Passus über Vergils Testamentsbestimmungen (§§ 37-42) gilt heute als größtenteils nichtsuetonisch oder zumindest stark überarbeitet (Literaturhinweise bei Brugnoli / Naumann [1990], S. 576 und Peter L. Schmidt: Art. „C. Suetonius Tranquillus“, in: HLL § 404 = HdA VIII.4 [1997], S. 14-53, hier S. 33). 55 Im Folgenden der Text der Ausgabe von Brugnoli / Stok (1997), die den umfangreichsten Variantenapparat bietet, in der Textkonstitution jedoch an zahlreichen Stellen angreifbar ist (vgl. zur Kritik Deufert [2009], S. 115 Anm. 2). - Abschließende Bemerkungen über die Einschätzung durch die Nachwelt fügen auch die auf Sueton zurückgehenden Viten des Terenz (33, 8-34, 13 Reifferscheid) und Lucans (52, 2-4 Reifferscheid) an die Schilderung der Todesumstände an; vgl. Leo (1990), S. 11-14 und die Ausführungen zur Geschichte der Disposition S. 17-34. Das Interesse an dieser Thematik lässt sich aber bis in die peripatetische Literaturgeschichtsschreibung zurückverfolgen: Eine systematische Zusammenstellung von Dichtern und den jeweils zugehörigen zeitgenössischen und postumen Kritikern enthielt schon das dritte Buch der aristotelischen Schrift περὶ ποιητῶν (vgl. Diog. Laert. 2, 46 = frg. 75 Rose, wo die Kritiker von Philosophen, Dichtern und historischen Persönlichkeiten in bunter Reihe aufgezählt werden). 56 Brugnoli / Stok (1997), S. 40 nehmen die Form Ὁμοιοτελεύτων in ihren Text auf und berufen sich dabei auf die breite, mehr oder minder gleichlautende Überlieferung (vgl. App. z. St.). Hermann Hagen hat - indem er Reifferscheids Vorschlag homoeon elenchon verwarf - in seiner Ausgabe der Scholia Bernensia (S. 18) als erster die Konjektur Ὁμοιότητων vorgeschlagen, die - wie noch zu zeigen ist - an dieser Stelle am besten passt. <?page no="39"?> 2.1 Die obtrectatores Vergilii in der Nachfolge der Homerkritiker 39 versum surripere’; et tamen destinasse secedere, ut omnia ad satietatem malevolorum decideret. ( VSD §§ 43-46 = 174-199 Hardie = 38, 8-41, 6 Brugnoli-Stok) Von den genannten Werken ist keines erhalten, und man hat vermutet, dass auch Sueton die Titel nur aus zweiter Hand, nämlich aus der Einleitung zu der von ihm erwähnten Verteidigungsschrift des Asconius Pedianus contra obtrectatores Vergilii , kannte. 57 Bei der Liste handelt es sich auch offenkundig nicht um den Versuch, eine vollständige Dokumentation der frühen Vergilkritik zu leisten. Stattdessen tritt, zieht man die klare Strukturierung des Passus in Betracht, der systematische Charakter der Zusammenstellung in den Vordergrund: Sueton - bzw. seiner Vorlage, Asconius Pedianus - ging es eher darum, für bestimmte Typen von Kritik repräsentative Beispiele aus der frühen Vergilliteratur zu nennen. Der literatur- und philologiegeschichtliche Bezugspunkt ist dabei im ersten Satz des Abschnitts benannt: Das rezeptionsgeschichtliche Faktum der Vergilkritik wird mit einem analogen Phänomen aus der Homerrezeption parallelisiert. Damit soll der kanonische Status beider Autoren freilich nicht in Frage gestellt werden. Im Gegenteil: Die Tatsache der Kritik wird von Sueton geradezu als Indiz für den Rang des Homernachfolgers Vergil ausgegeben: nec mirum, nam nec Homero quidem . Doch worin bestehen die behaupteten Bezüge zur Homerkritik im Einzelnen? Bei der zuerst genannten Gruppe, Parodien von Vergils Eklogen- und Lehrdichtung, ist die postulierte besondere Verbindung vielleicht auf den ersten Blick am wenigsten evident, weil man kreative Umbildungen in parodistischer Absicht auch zu zahlreichen anderen antiken Autoren kennt, es sich also nicht um eine Besonderheit der Homerrezeption handelt. 58 Sueton nennt einen nicht weiter greifbaren Numitorius 59 , der gleich nach der Veröffentlichung der Bucolica zu Beginn der dreißiger Jahre 60 eine zwei Eklogen umfassende Gegenschrift verfasste, der er den Titel Antibucolica gab. 61 Das poetische Verfahren des Numitorius wird durch den Zusatz insulsissime παρῳδήσας in ästhetischer wie technischer Hinsicht qualifiziert. 57 Vgl. Görler (1987), S. 810 mit weiterführenden Literaturhinweisen. 58 Einen breiten Überblick über die Praxis der Parodie in der Antike gibt der Sammelband von Ax / Glei (1993). - Speziell zu den Homerparodien vgl. die Zusammenstellung bei Buchheit (1968), S. 520-528, sowie zuletzt die Beiträge in Acosta-Hughes u. a. (2011). 59 Der Name wurde von Hagen in seiner Ausgabe der Scholia Bernensia (S. 17) konjiziert; die Codices bieten ein sehr uneinheitliches Bild (Übersicht bei Görler [1987], S. 809 und im Apparat bei Brugnoli / Stok [1997], S. 38). 60 Zum Publikationsdatum der Bucolica vgl. zusammenfassend Perutelli (1995), S. 28-31. 61 Eine vergleichbare Wortbildung als Titel einer polemischen Gegenschrift liegt bekanntlich bei Caesars Anticato (Suet. Iul. 56) vor; zu den griechischen Vorbildern solcher Titel vgl. Tschiedel (1981), S. 6 mit Anm. 19. <?page no="40"?> 40 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil Um zu verstehen, warum Sueton diese Eklogen- und Georgica -Parodien (und keine anderen zeitgenössischen Vergilparodien) als Gegenstücke zu vergleichbaren Phänomenen gerade aus der Homer rezeption nennt, muss man die Besonderheiten des antiken Parodiebegriff in Rechnung stellen. In der lateinischen Literatur begegnet der Terminus zuerst bei Quintilian: In seiner Erörterung über den risus legt er dar, wie der Redner Verse verwenden soll, um komische Wirkungen zu erzielen. Neben ihrer Übernahme im unveränderten Wortlaut haben insbesondere das variierende Zitat und die freie Nachbildung von Versen komisches Potenzial. 62 Dergleichen Anspielungen lassen den Redner als gewandten, schlagfertigen Mann von Welt erscheinen. 63 Eine wichtige Voraussetzung für die angestrebte Wirkung liegt dabei darin, dass es sich um bekannte Verse handelt - die Identifikation des Vorbildverses seitens des Zuhörers muss also gewährleistet sein. An anderer Stelle öffnet Quintilian seinen Parodiebegriff auf den Bereich der Prosarede hin und schränkt ihn zugleich in historischer Perspektive ein, indem er eine ältere, strengere Definition ins Spiel bringt, nach der es sich ursprünglich bei der παρῳδή um ein canticum gehandelt habe, dessen Melodie nach der eines anderen canticum gestaltet war. 64 Die Bezeichnung für diesen Vorgang, den man heute als Kontrafaktur bezeichnen würde, wäre demnach später auf die Imitation von Versen und Prosastücken übertragen worden. - Ein ähnliches Nebeneinander von engerem und weiterem Parodiebegriff begegnet in einem Abschnitt der Schrift Πρὸς Τιμαῖον des Periegeten Polemon 65 aus dem 3./ 2. Jhdt. v. Chr. Hier wird einmal Hipponax (6. Jhdt. v. Chr.) als erster Dichter von Parodien genannt, während eine andere Stelle Hegemon von Thasos anführt, der als erster Parode in einem Agon gesiegt haben soll. 66 Nach Aristoteles ist Hegemon sogar als Archeget der Gattung anzusprechen. 67 Die Begriffsgeschichte zeigt, dass sich der noch heute übliche weite Gebrauch des Terminus „Parodie“ erst in hellenistischer Zeit eingebürgert hatte. 68 Davor 62 Quint. inst. 6, 3, 96-97 ( seu toti ut sunt … seu verbis ex parte mutatis … seu ficti notis versibus similes, quae παρῳδία dicitur ). 63 Quint. inst. 6, 3, 96 ( adiuvant urbanitatem ). 64 Quint. inst. 9, 2, 35 ( incipit esse quodam modo παρῳδή , quod nomen ductum a canticis ad aliorum similitudinem modulatis abusive etiam in versificationis ac sermonum imitatione servatur ). Derartige Versuche, den Ursprung des parodischen Genres mit etymologischen Argumenten im musikalischen Bereich zu verorten, wurden bis ins 20. Jhdt. hinein unternommen; vgl. den Überblick bei Pöhlmann (1972), S. 146, Pöhlmanns eigenen Ansatz (S. 151) sowie die Kritik von Glei (1992), S. 50-53. Dies tut der Richtigkeit der weiteren Begriffsgeschichte, die Pöhlmann (1972), S. 151-156 rekonstruiert, keinen Abbruch. 65 Athen. deipn. 15, 698 b -699 c = frg. 45 Preller = FHG 3, 128-129. 66 Vgl. Athen. deipn. 15, 698 b und 699 a . 67 Vgl. Arist. poet. 1448 a 12-13, wo Hegemon als <ὁ> τὰς παρῳδίας ποιήσας πρῶτος figuriert, und Körte (1912), pass. 68 Glei (1992), S. 53-54 hat Eurip. Iph. Aul. 1147 (entstanden nach 408 v. Chr.) als erste Stelle identifiziert, wo παρῳδός im übertragenen Sinn für „spöttisch“ verwendet werden kann. In den Scholien hat der Begriff παρῳδεῖν oft eher eine technische Bedeutung: Die Ari- <?page no="41"?> 2.1 Die obtrectatores Vergilii in der Nachfolge der Homerkritiker 41 bezeichnete der Begriff eine genau definierte Gattung epischer Dichtung, die sich zu den Vorträgen der Rhapsoden verhielt wie etwa die Paratragödie zur Tragödie. 69 Institutionalisiert scheint das parodische Genos demnach hinsichtlich seines Gattungscharakters wie auch seines Rezeptionsrahmens mit Hegemon von Thasos zu sein, der im Athen des ausgehenden 5. Jhdt. mit seinen komischen Epennachbildungen bei Parodenagonen antrat. Aufgrund archäologischer Zeugnisse wissen wir, dass man das parodische Genre als eingeführte Dichtungsart auch unter die Disziplinen der musikalischen Agone aufnahm. 70 Wichtig in unserem Zusammenhang ist, dass noch Aristoteles nur an Epenparodien denkt, wenn er den Terminus παρῳδία verwendet. 71 Der Parode Hegemon siegte, wie zufällig überliefert ist, in Athen mit einer epischen Γιγαντομαχία. 72 Die bei Aristoteles erwähnte Δείλιας 73 des Nikochares gibt sich unschwer als Homerparodie zu erkennen und wird demnach als παρῳδία im engeren Sinn des Wortes zu charakterisieren sein, als ein Werk also, das bei musikalischen Agonen zur Aufführung gebracht wurde. Später wurde der Begriff zwar auch für Kitharodenparodien verwendet 74 , doch war dies eine sekundäre Erscheinung: Ursprünglich bezogen sich die Paroden mit ihren Gattungstravestien auf die Vorträge von Rhapsoden und damit im Wesentlichen auf die Epen Homers. Dieser Umstand ist auch aus den überlieferten Fragmenten zu ersehen, die in ihrer sprachlichen Gestalt zahlreiche Bezüge zum homerischen Idiom aufweisen. Der Tragödiendichter 75 und Elegiker Alexandros Aitolos reflektiert diese Praxis explizit in einem Gedicht gegen Euboios, der in homerischen Hexametern über Handwerker gedichtet hatte: … ἔγραφε δ’ ὡνὴρ | εὖ παρ’ Ὁμηρείην ἀγλαίην stophanesscholien geben Beispiele an die Hand, wo der Begriff ganz ohne polemische Implikationen zur Angabe einer abgewandelten Vorbildstelle gebraucht wird, vgl. Roemer (1908), S. 247. - Bsp. in den lateinischen Scholiencorpora: Don. Ter. Eun. 590 und Ps. Ascon. Verr. p. 215, 22. 69 Glei (1992), S. 53. 70 In Eretria tritt die Parodie um 340 v. Chr. als eigene Disziplin neben die alten musikalischen Darbietungen; ein vergleichbares Zeugnis ist für Delos aus dem Jahr 236 v. Chr. überliefert (Pöhlmann [1972], S. 152). Vgl. auch Athen. deipn. 699 a (τούτων δὲ πρῶτος εἰσῆλθεν εἰς τοὺς ἀγῶνας τοὺς θυμελικοὺς Ἡγήμων καὶ παρ’ Ἀθηναίοις ἐνίκησεν ἄλλαις τε παρῳδίαις καὶ τῇ Γιγαντομαχίᾳ [„An Theateraufführungen beteiligte sich als erster von diesen Hegemon. Er trug bei den Athenern mit der ‘Gigantenschlacht’ und anderen Parodien Siege davon“ ÜS Claus Friedrich ]). 71 Vgl. Pöhlmann (1972), S. 152. In poet. 1448 a 11-14 trennt Aristoteles drei Kategorien der Mimesis voneinander ab und gibt dafür Beispiele aus der epischen Dichtung. 72 Vgl. Athen. deipn. 15, 699 a . 73 Δείλιας („Epos von der Furcht“) in Anlehnung an den Titel der Ilias . 74 Vgl. Pöhlmann (1972), S. 153 und Athen. deipn. 14, 638 b = Aristoxenos frg. 136 Wehrli, wo Oinopas als πρῶτος εὑρετής der parodischen Kitharodie genannt wird. 75 TrGF 101. <?page no="42"?> 42 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil ἐπέων | πισσύγγους ἢ φῶρας ἀναιδέας ἤ τινα χλούνην, | φλύων ἀνθηρῇ σὺν κακοδαιμονίῃ. 76 Zumindest über die Tradition der peripatetischen Poetik und Literaturgeschichtsschreibung dürfte sich auch in späterer Zeit ein Bewusstsein für die Mehrdeutigkeit des Parodiebegriffs erhalten haben, auch als der Begriff soviel von seiner Schärfe eingebüßt hatte, dass man grundsätzlich jede beliebige literarische Bezugnahme in komischer Absicht damit bezeichnen konnte. Die oben zitierte Stelle aus Quintilian zeigt zumindest, dass man zwischen einem ursprünglichen, d. h. engeren, und einem erweiterten Parodiebegriff auch noch in römischer Zeit zu unterscheiden wusste. In der Zeit der gattungsmäßigen Parodie zielte man nicht eigentlich darauf ab, Homer lächerlich zu machen 77 , sondern versuchte nur, aus dem Widerspruch von Form und Inhalt komische Wirkungen für das eigene dichterische Produkt zu ziehen. 78 Von einer polemischen Haltung gegenüber dem Musterautor ist in den überlieferten Fragmenten jedenfalls kaum etwas zu bemerken, und grundsätzliche Homerkritik kann auch kaum die Absicht der Paroden gewesen sein, die sich des kanonischen Dichters vor allem wegen seines Wiedererkennungswerts bei den Zuhörern bedienten. Die Möglichkeit, die Form der Parodie für literarische Angriffe (ψόγος) gegen den imitierten Dichter oder Redner zu verwenden, trat erst mit der Zeit zu der ursprünglichen Funktion hinzu, dichterisches Geschick, Witz und Einfallsreichtum zu zeigen und das Auditorium zum Lachen zu bewegen (γελοῖον). 79 Diese modernere, polemische Form der Parodie kam insbesondere dann zur Anwendung, wenn es nicht gegen einen etablierten Autor wie Homer, sondern gegen zeitgenössische Dichterrivalen - wie etwa Vergil - ging. 80 76 Athen. deipn. 699 c : „Er schilderte aber - | nutzend homerischen Glanz, wie er die Epen verziert - | Flickschuster oder das schamlose Diebesvolk oder auch Räuber, | über und über bedeckt mit der Gemeinheit der Welt.“ ( ÜS Claus Friedrich ) 77 So richtig bemerkt von Pöhlmann (1972), S. 155. 78 Vgl. zusammenfassend zur Technik der Parodie Glei (1992), S. 54: „Die Parodie repliziert auf einen vorgegebenen Text, die Rhapsodie bzw. das homerische Epos, und verfremdet ihn, indem sie statt der heroischen Charaktere banale verwendet und so, durch formale und stilistische Brüche unterstützt, eine komische Wirkung erzeugt.“ 79 Neben der von Quint. inst. 6, 3, 96 erwähnten urbanitas ist hier noch auf Polemons Feststellung zu verweisen, der als Besonderheit des parodischen Genres die Möglichkeit zur doppeldeutigen Rede hervorhebt und den Paroden damit unter Umständen sogar den Vorrang vor den Musterautoren zubilligt; vgl. Athen. deipn. 698 b : … διὰ τὸ παίζειν ἀμφιδεξίως καὶ τῶν προγενεστέρων ποιητῶν ὑπερέχειν ἐπιγεγονότας („… weil sie so genial mit dem Doppelsinn umgingen; sie übertrafen die Dichter vor ihnen, obwohl sie erst später auftraten“ ÜS Claus Friedrich ). 80 Zu den Vergilparodien allgemein vgl. die Zusammenstellung bei Senis (1987), pass. <?page no="43"?> 2.1 Die obtrectatores Vergilii in der Nachfolge der Homerkritiker 43 Eindeutig polemisch ist die Parodie jedenfalls im ersten Fragment (nach ecl. 1, 1) des Numitorius, für das man eine gegen den Dichter Vergil gerichtete Spitze plausibel machen konnte: Mit der toga calda ist wohl auf den sozialen Aufstieg des Emporkömmlings Vergil = Tityrus angespielt. 81 Das zweite Fragment (nach ecl. 3, 1-2) hat eine erkennbar stilkritische Nuance. 82 In der anonymen Ergänzung eines Georgica -Halbverses ( georg. 1, 299) liegt ein intelligenter Kalauer nach einem auch aus anderen Autoren bekannten Muster vor. 83 81 Vgl. Scarcia (1969), pass. Die später weit verbreitete Allegorese der vergilischen Hirtennamen als Chiffren für Zeitgenossen des Dichters kann sich bekanntlich schon auf den Dichter selbst berufen ( ecl. 5, 85-87 und Ziolkowski / Putnam [2008], S. 3; vgl. zu dieser Stelle auch Della Corte [1985], pass. ). - Alfred Housman, der das überlieferte tegmine gegen Gronovius ( tegmina ) verteidigt, schlägt vor, den Vers als eigenständigen Satz zu lesen und tegmine fagi als Zitat zu verstehen; vgl. die Paraphrase in Housman (1935), S. 167 „what point has the phrase tegmine fagi ? “ Dagegen ist einzuwenden, dass sich der Vorwurf ja gegen den Ausdruck des Meliboeus bei Vergil richtet und daher in einer Anrede an Tityrus unpassend erscheint. Allenfalls müsste man paraphrasieren: „Tityrus, wenn du schon eine warme Toga hast, warum spricht Meliboeus dann von tegmine fagi ? “ Ich bleibe aber bei der von Scarcia vorgeschlagenen Ergänzung mit ecl. 1, 2 (Scarcia [1969], S. 181-182). 82 Scarcia (1969), S. 180 erkennt auch darin einen Angriff auf die rusticitas Vergils (d. h. seine soziale Herkunft); es steht aber wohl der stilkritische Aspekt im Vordergrund. - Die Kritik richtet sich gegen den Gebrauch von cuium , der zu Vergils Zeit unüblich geworden war: Cuius dekliniert hier wie ein Adjektiv der ersten und zweiten Deklination ( cuius, -a, -um ). Im Altlateinischen begegnet diese morphologische Besonderheit häufiger (vgl. etwa Cato agr. 139; Pl. Curc. 111; Ter. Eun . 321), spätestens seit ciceronischer Zeit vermeidet man die Formen allerdings. Die letzten Beispiele stammen von Cicero und datieren in die siebziger Jahre des 1. Jhdt. v. Chr.: Verr. 2, 1, 142 ( cuia res sit, cuium periculum ); 2, 2, 127; 2, 3, 16; 2, 3, 68 und frg. 9 p. 443 Or. Vgl. Wackernagel (1957), S. 81-82. Ob es sich dabei um eine besonders „ländliche“ Ausdrucksweise oder um einen Archaismus handelt, lässt sich nicht mit völliger Sicherheit sagen. Jedenfalls weicht der Ausdruck von der seitens des Rezipienten erwartbaren Sprachnorm ab. Daher muss sich Damoetas die Frage gefallen lassen, ob es sich denn überhaupt um eine lateinische Form handle ( anne Latinum? ). Numitorius greift hier für seine parodistischen Zwecke auf die seit späthellenistischer Zeit in der Rhetorik und Grammatik ausgebildete Lehre von der Sprachrichtigkeit zurück und wirft Vergil einen βαρβαρισμός vor. Der Sprecher der ersten Gedichtzeile (anders Kraggerud [2006], S. 86, der den Dialogcharakter bei Numitorius aufgegeben sieht) fragt also nach dem Verhältnis der von Damoetas gebildeten Form cuium zu der als normative Größe begriffenen korrekten lateinischen Sprache. Damoetas gesteht seine sprachliche Schwäche ein und beruft sich spielerisch auf gängige Kriterien der latinitas (vgl. Quint. inst. 1, 6, 1: sermo constat ratione vetustate auctoritate consuetudine ), nämlich auf die auctoritas des Aegon und auf die consuetudo der Landbevölkerung - ein Kriterium, das Quintilian als die certissima loquendi magistra bezeichnete (Quint. inst. 1, 6, 44-45). 83 Das Verfahren der spontanen Improvisation eines vorgegebenen Halbverses erfolgt hier wie in Plin. 6, 15, 2 beschrieben (ähnlich Serv. ad georg. 1, 299 = III.1 197, 18-19 Thilo- Hagen: sane quidam post hoc hemistichium dicitur subsecutus ‘habebis frigore febres’ ). - Es liegt eine (bewusste? ) Verkennung von Vergils poetischer Intention vor: Der Lehrdichter fordert in georg. 1, 299 vom Bauern körperlichen Einsatz bei der Landarbeit. Der Kritiker <?page no="44"?> 44 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil Wenn Sueton für Vergil also als ein besonderes Rezeptionsphänomen hervorhebt, dass dieser wie schon Homer parodiert worden sei, dann wird der zeitgenössische Leser wohl die seit Aristoteles und Polemon zu einem literaturhistorischen Faktum gewordenen Parodendichtungen assoziiert haben, die zumindest am Beginn immer auf epische Rhapsodenvorträge bezogen waren. Dass die Parodie zum Mittel der persönlichen Invektive gegen einen zeitgenössischen Dichter gerät, ist hingegen ein „modernes“ Element. Eine Frage bleibt aber noch zu klären: Warum zitiert Sueton Eklogen- und Georgica -Parodien, nicht aber den Culex , der als Aeneisparodie eine naheliegende Verbindung zu diesen ‘klassischen’ Homerparodien herstellen würde? Die Antwort ist wohl darin zu sehen, dass man den Culex als authentisches Jugendwerk Vergils betrachtete 84 und der Parodiebegriff nur auf Werke angewendet wurde, bei denen eine sekundäre Bezugnahme auf ein Werk eines kanonischen Autors durch einen von diesem verschiedenen Paroden anzunehmen war. Aus denselben Gründen wird der ps.-homerische Margites an keiner Stelle explizit als Homer- Parodie geführt. 85 Ähnlich liegen die Dinge bei der ps.-homerischen Batrachomyomachie, die nie im strengen Sinn als Parodie angesprochen und dem Culex schon früh als dichterische praelusio an die Seite gestellt wurde. 86 Folgt man der VSD , so hat es neben der Parodie aber noch andere Gattungen der Vergilkritik gegeben: Kritik in der Nachfolge der sog. Ὁμηρομάστιξ des Zoilos vernachlässigt, dass es sich um eine sommerliche Szenerie handelt, die im Kontrast zur Untätigkeit im Winter steht (vgl. Erren [2003], S. 174-175 zu georg. 1, 297-310). Die Aufforderung, nackt zu arbeiten, wird - wohl vor dem Hintergrund der römischen Badesitten (Cic. off. 1, 129) - mit dem Hinweis zurückgewiesen, man könnte sich auf diese Weise eine Erkältung zuziehen. Wie sich schon bei der ersten Parodie des Numitorius gezeigt hat, spielen für diese Art von Kritik, die sich vor allem auf lebensweltliche Einwände bezieht, Vergils poetische Vorbilder keine Rolle (der Vers ist gestaltet nach Hes. op. 391-392: γυμνὸν σπείρειν, γυμνὸν δὲ βοωτεῖν, | γυμνὸν δ’ ἀμάειν [„nackt sollst du säen und nackt den Boden bepflügen, | nackt auch mähen“ ÜS von Schirnding ]). 84 Vgl. die von Seelentag (2012), S. 10-11 zusammengestellten Zeugnisse. - Dieter Güntzschels Datierung des Culex in tiberische Zeit wird heute in der Forschung gemeinhin akzeptiert, vgl. zuletzt Seelentag (2012), S. 9-17. 85 Glei (1992), S. 49-50. Vgl. die bei Allen V (1912), S. 152-159 versammelten Testimonien und Pfeiffer (1978), S. 99-100 zum Kanon der für authentisch gehaltenen Werke Homers. 86 Vgl. die beiden nebeneinandergestellten Gedichtpaare Mart. 14, 183 / 184 ( Homeri Batrachomachia und Homerus in pugillaribus membraneis ) und 185 / 186 ( Vergili Culex und Vergilius in membranis ); Stat. silv. praef. 5 ( sed et Culicem legimus et Batrachomyomachiam [ codd. Batrachomachiam ] etiam agnoscimus; nec quisquam est illustrium poetarum qui non aliquid operibus suis stilo remissiore praeluserit ) sowie aus späterer Zeit Fulg. myth. = S. 7-8 Helm ( quod cecinit pastorali | Maro silva Mantuae, | quod Meonius ranarum | cachinavit proelio ). - Zur Frage der Authentizität der Batrachomyomachie vgl. die Testimonien bei Allen V (1912), S. 163-164. <?page no="45"?> 2.1 Die obtrectatores Vergilii in der Nachfolge der Homerkritiker 45 und Plagiatsvorwürfe. Dass sich der zuerst genannte Carvilius Pictor 87 mit dem Titel seiner Aeneidomastix auf den prototypischen Vertreter der Homerkritik, Zoilos von Amphipolis, bezog, dürfte auf der Hand liegen. Wie aber ordnet sich diese Nachricht in die Rezeptionsgeschichte des Zoilos, soweit uns diese heute noch greifbar ist, ein? 88 Der Sophist Zoilos hatte sich im vierten Jahrhundert neben historischen und rhetorischen Werken mit seinen neun Büchern κατὰ τῆς Ὁμήρου ποιήσεως einen Namen als Homerkritiker gemacht. Er folgte in dieser Schrift vermutlich dem Handlungsgang von Ilias und Odyssee und brachte an denjenigen Stellen, die ihm anfechtbar schienen, seine Ausstellungen an. Soweit wir wissen, hat sich Zoilos - anders als sein Zeitgenosse Aristoteles in der Schrift über die Homerprobleme 89 - mit der Identifikation und Verzeichnung der problematischen Passagen begnügt. Den Beinamen Ὁμηρομάστιξ scheint man ihm erst nach seinem Tod gegeben zu haben, wie es auch wohl erst in späthellenistischer bzw. augusteischer Zeit dazu kam, dass man ihn zum Muster des Homerkritikers erhob. 90 Aus dieser Periode sind uns sowohl zustimmende 91 , neutrale 92 wie auch eindeutig ablehnende (s. u.) Einschätzungen des Zoilos bezeugt, bevor sein Name dann in der Folgezeit zum Inbegriff des Homerbekritlers werden konnte. 93 Zur letzteren Kategorie gehört ein Distichon aus Ovids Lehrgedicht über die Heilmittel gegen die Liebe: ingenium magni livor detractat Homeri: | quisquis es, ex illo, Zoile, nomen habes . 94 Ovid wendet sich in dieser Einlassung gegen 87 Name und Titel der Schrift wurden nachträglich wiederhergestellt (vgl. den App. bei Brugnoli / Stok [1997], S. 39). Bowra (1933 / 34), S. 10 vertrat noch die Ansicht, dass die Schrift Aeneomastix überschrieben war und ethische Kritik am Titelhelden im Zentrum stand, doch widerspricht dem der erläuternde Zusatz adversus Aeneida liber , den die VSD gibt (so auch Görler [1987], S. 810-811). 88 Vgl. zum Folgenden bes. Friedländer (1895), pass. und Gärtner (1978), pass. - Übrigens ist wohl auch der Einfall des Asconius Pedianus, eine Verteidigungsschrift gegen die obtrectatores Vergilii zu verfassen, von einem Umstand der Zoilosrezeption angeregt worden: Die biographische Überlieferung zu Arat berichtet, dass der Bruder des Dichters, Athenodoros, als Erwiderung gegen Zoilos eine Apologie Homers verfasst habe (146, 11-13 Maass). An anderer Stelle wird Athenodoros sogar als erster von mehreren Homerverteidigern genannt (325, 14-17 Maass; über diese Schriften ist allerdings nichts Näheres überliefert). 89 Vgl. frg. 142-179 Rose und Hintenlang (1961), pass. 90 Vgl. das Résumé bei Gärtner (1978), Sp. 1552, 62-1553, 11. 91 Ps.-Long. de subl. 9, 14 = frg. 7 Friedländer = FGrHist 71 frg. 3. - Zu den notorischen Datierungsproblemen dieser Schrift vgl. zuletzt Mazzucchi ( 2 2010), S. 29-37, der ebenfalls auf eine Abfassung in augusteischer Zeit kommt. 92 Dion. Hal. Is. 20 (= V 123, 2-4 Usener-Radermacher) = frg. 3 Friedländer und Pomp. 1, 4 (= VI 222, 12 Usener-Radermacher) = frg. 4 Friedländer. 93 Übersicht bei Gärtner (1978), Sp. 1553, 32-54. 94 Ov. rem. 365-366 = frg. 9 Friedländer. - Der Aspekt des livor , der übelwollenden Kritik, kommt auch in der berühmten Anekdote zum Tragen, die Vitruv in die Praefatio zum siebten Buch von De architectura aufnahm (= Vitr. 7 praef. 8-9 = frg. 1 Friedländer = <?page no="46"?> 46 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil Kritiker, die seine erotischen Dichtungen unter moralischem Gesichtspunkt beanstanden (vgl. rem. 361-362: Nuper enim nostros quidam carpsere libellos, | Quorum censura Musa proterva mea est ). Die Stelle zeigt einerseits, dass Zoilos zur Abfassungszeit der Remedia , also ca. 1 v. Chr. / 2 n. Chr. 95 , als Inbegriff des schmähsüchtigen Kritikers gelten und andererseits auch für moralisch motivierte Kritik in Anspruch genommen werden konnte. Die zweite Beobachtung stellt eine bemerkenswerte Erweiterung des kritischen Spektrums dar, wie wir es aus den überlieferten Zoilosfragmenten rekonstruieren können. 96 Für die Aeneidomastix , an die Ovid - wie gleich noch zu zeigen ist - an dieser Stelle denkt, kann damit prinzipiell auch moralische Kritik angenommen werden. 97 Bei Ovid folgt unmittelbar anschließend in rem. 367-368 dieselbe Parallelisierung von Vergil- und Homerkritik, die wir in der VSD angetroffen haben: Et tua sacrilegae laniarunt carmina linguae, | Pertulit huc victos quo duce Troia deos . Die explizite Erwähnung des Aeneisdichters berechtigt zu dem Schluss, dass Ovid hier auf die Aeneidomastix anspielt 98 , woraus sich eine Datierung dieser Schrift in die zwei Jahrzehnte zwischen 19 v. Chr. und spätestens 2 n. Chr. ergäbe. Zwar verlegt sich Ovid in dem anschließenden Passus rem. 373-388 auf den Hinweis auf stoffliche und stilistische Gattungskonventionen als Rechtfertigungsstrategie gegen den livor , erklärt die Kritik an Homer und Vergil in rem. 369-370 aber mit dem allgemeinen Hinweis Summa petet livor, perflant FGrHist 71 test . 3). Hier wird betont, dass Zoilos Homer in seinen Schriften Unrecht tue, weil sich der Angeklagte ja nicht mehr wehren könne. Damit ist wohl tatsächlich ein wichtiger Punkt getroffen, der Zoilos’ Schrift von der προβλήματα-Literatur eines Aristoteles und seiner alexandrinischen Nachfolger unterschied. Aristoteles bemühte sich um die Lösung von schwierigen Stellen, während sich Zoilos - zumindest aus späterer Perspektive stellte es sich so dar - auf die Identifikation der problematischen loci beschränkte. Vitruv unterstellt Zoilos in 7 praef. 10, dass er Homer nur aus Ruhmsucht getadelt habe ( neque ullius cogitata vituperans institui ex eo me adprobare ). 95 Vgl. zusammenfassend Syme (1978), S. 8-13. 96 Gärtner (1978), Sp. 1544, 50-1548, 11 unterteilt die inkriminierten Passagen, die wir noch sicher mit Zoilos’ Namen in Verbindung bringen können, in (1) diejenigen, wo gegen das πρεπόν epischer Darstellung bes. in der Charakterzeichnung verstoßen wird, ferner nennt er als Gegenstand der Schrift (2) Fehler hinsichtlich Handlungslogik, Naturgesetzen, Plausibilität etc. sowie (3) Verstöße gegen die Sprachrichtigkeit. 97 Ein Vergleich mit der bei Gell. 17, 1, 1 bezeugten Schrift Ciceromastix eines Larcius Licinus kann hier stützend hinzugezogen werden: Cicero wurden in dieser Schrift nicht nur i. e. S. Verstöße gegen die Maßstäbe der Rhetorik vorgeworfen ( inproprie atque inconsiderate locutum ), sondern man machte ihm auch moralische Vorhaltungen ( parum integre … locutum ). - Ebenfalls im Titel einer Schrift erscheint die Bildung mit -mastix im 13. Gedicht von Ausonius’ Technopaegnion (Auson. 349: Grammaticomastix ). Vgl. auch den bei Diog. Laert. 2, 64 ῥητορομάστιξ genannten Aeschines aus Mytilene. 98 So auch Geisler (1969), S. 353 z. St. <?page no="47"?> 2.1 Die obtrectatores Vergilii in der Nachfolge der Homerkritiker 47 altissima venti, | Summa petunt dextra fulmina missa Iovis . 99 Nach dieser Sentenz ruft alles Große, beinahe einem Naturgesetz folgend, Kritik hervor. Indem er aus dem Umstand der Kritik auf den Rang der angefeindeten Dichter schließt, trifft sich Ovid mit Sueton, der im Einleitungssatz VSD 43 ja einen ganz ähnlichen Gedanken formuliert hatte. Methode und Tendenz der Aeneidomastix sind für uns heute nur mehr umrisshaft zu erschließen, doch wird man Folgendes festhalten können: Die Schrift dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach in die erste Phase der Aeneisrezeption in den beiden Jahrzehnten unmittelbar nach Vergils Tod fallen. Wenn der im Titel gegebene Bezug mehr ist als eine unverbindliche Anspielung, dann wird sich die Kritik methodisch in dem von Zoilos vorgegebenen Rahmen bewegt haben und, wie aus dem Ovidzitat hervorgeht, moralische Kritik miteingeschlossen haben. Die Methode, kritische Anfragen gegen eine Dichtung in Form eines ζήτημα bzw. einer quaestio zu richten, war aus der alexandrinischen Philologie schon kurz vor der Entstehung der Aeneidomastix in Rom eingeführt worden und wird Carvilius Pictor das formale Muster für seine Kritik an die Hand gegeben haben. 100 Was den Inhalt von Herennius’ Schrift über die vitia Vergils betrifft, so lässt sich dieser wohl enger als bei Carvilius Pictor eingrenzen. Worin bestanden die inkriminierten vitia ? Eine Schrift mit einem ähnlichen Titel verfasste der Aristarchschüler Dionysodoros. 101 Einer der Irrtümer, die er im Rhesos korrigierte, betraf die genaue Lokalisierung eines Apollontempels, also ein sachliches Detail. Die Scholiennotiz referiert die Kritik mit dem Hinweis, Euripides hätte sich hier παρὰ τὴν ἱστορίαν vergangen. Wie aus VSD 46 hervorgeht, hat Asconius Pedianus Vergil auch gegen Vorwürfe contra historiam verteidigt. Möglich also, dass eine mit vitia betitelte Schrift Vorwürfe dieser Art enthalten hat. Die Reihenfolge des Titelkatalogs bei Sueton legt aber einen anderen Schluss nahe: Unmittelbar zuvor wird eine Anekdote berichtet, die die Eigentümlichkeiten des vergilischen Stils betrifft. Die Schrift des Herennius wird in einem Atemzug mit einer anderen stilkritischen Schrift, den furta des Perellius Faustus, genannt. Die zeitliche Nähe zu den seit dem 1. Jhdt. v. Chr. in großer Zahl entstehenden 99 Zu livor bzw. invidia für die Missgunst der Kritiker vgl. die von Wimmel (1960), S. 302 Anm. 1 aus den apologetischen Stellungnahmen der augusteischen Dichter zitierten Stellen. 100 Varro hatte die Form ζητήματα-λύσεις bzw. quaestiones-solutiones in seinen fünf Büchern mit quaestiones Plautinae aufgegriffen; vgl. Deufert (2002), S. 107 mit weiterer Lit. in Anm. 296. 101 Schol. ad Eur. Rhes. 508 gibt den Titel der Schrift (περὶ τῶν παρὰ τοῖς τραγικοῖς ἡμαρτημένων); vgl. Cohn (1903), pass. und Bagordo (1998), S. 49-50. <?page no="48"?> 48 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil Werken περὶ ἑλληνισμοῦ 102 lässt es plausibel erscheinen, dass der Begriff vitium im Titel streng terminologisch im Sinne eines Verstoßes gegen die Regeln richtigen Sprachgebrauchs verwendet ist. 103 Herennius dürfte Vergil keine Verstöße gegen Handlungslogik, Charakterdarstellung o. ä. vorgeworfen haben, sondern sich auf Sprachfehler im engeren Sinne beschränkt haben. Dass er seinen Analysen dabei die Kategorien zugrunde legte, in die man die vitia in Anlehnung an die griechische grammatische Theorie einteilte, ist wahrscheinlich. 104 Man warf Vergil entsprechende vitia vor, wie sich ja schon im zweiten Fragment des Numitorius gezeigt hat, und viel früheres Material ist auch in den Kommentar des Servius eingegangen. 105 Doch stellt sich auch dann wieder die Frage, wie sich der von Sueton behauptete direkte Bezug zur Homerkritik herstellen lässt. Dass sich die alexandrinischen Grammatiker auf die Kriterien der Sprachrichtigkeit bei der Diorthose des Homertextes berufen konnten, lässt sich aus den überlieferten Aristarchfragmenten ersehen. 106 Doch schon die Sophisten hatten die ὀρθοέπεια, den richtigen Wortgebrauch, in den homerischen Gedichten thematisiert und in Frage gestellt. 107 Auch Spezialschriften zu diesem Thema wurden verfasst: Immerhin ist schon für Demokrit eine Schrift mit dem Titel περὶ Ὁμήρου [ἢ] ὀρθοεπείης καὶ γλώσσεων überliefert, in der Homer für seine sprachlichen Besonderheiten in Schutz genommen wurde. 108 Auch erklärte Homerkritiker wie Zoilos hatten sprachliche Beanstandungen in ihre Schriften aufgenommen. 109 Herennius konnte, wenn er sich tatsächlich auf sprachliche vitia Vergils kon- 102 Vgl. die Sammlung der Zeugnisse (Ptolemaios von Askalon, Philoxenos, Tryphon, Seleukos, Eirenaios, Antonius Gniphos, Varro, Caesar, Pansa, Caper, Plinius d. Ä., Quintilian) bei Siebenborn (1976), S. 33-35. 103 Der Terminus vitium (ἁμάρτημα) ist ein eingebürgerter Gegenbegriff zu virtus dicendi (vgl. z. B. Quint. inst. 1, 5, 1: oratio tris habeat virtutes … totidem vitia ). Vgl. auch Brink II (1971), S. 115. 104 Die Grammatiker unterschieden hinsichtlich der Sprachrichtigkeit ( latinitas ) drei Fehlerkategorien (vgl. Siebenborn [1976], S. 35-36 und zusammenfassend Uhl [1998], S. 33-36): Fehler hinsichtlich der sprachlichen Form (Orthographie, Aussprache, Prosodie, Flexion) eines Einzelwortes ( barbarismus , βαρβαρισμός; vgl. Siebenborn [1976], S. 36-48), Fehler hinsichtlich der syntaktischen Form einer Wortgruppe bzw. der idiomatischen Korrektheit ( soloecismus , σολοικισμός; vgl. Siebenborn [1976], S. 50-52) und Fehler hinsichtlich der genauen Wortbedeutung / proprietas (ἀκυρολογία; vgl. Siebenborn [1976], S. 48-50). 105 Vgl. auch die Zusammenstellung des kritischen Vokabulars bei Uhl (1998), S. 112. 106 Belege bei Siebenborn (1976), S. 27-29. 107 Siebenborn (1976), S. 15-16 zu Protagoras: „Unter ὀρθοέπεια versteht Protagoras also das richtige Sprechen gemäß der Forderung nach Übereinstimmung von sachlichen und grammatischen Kategorien.“ 108 Siebenborn (1976), S. 17-20. 109 Vgl. Gärtner (1978), Sp. 1547, 39-1548, 11 (bes. den vermeintlichen Solözismus in Il. 1, 128-129). <?page no="49"?> 2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil 49 zentrierte, demnach mit einem gewissen Recht für eine bestimmte Richtung der Homerkritik in Anspruch genommen werden, wenn seine Methoden auch wohl aus jüngerer Zeit stammten und ganz der im 1. Jhdt. erst zu einem Teilbereich des τεχνικὸν μέρος der Grammatik ausgebauten Lehre von der Sprachrichtigkeit verpflichtet gewesen sein dürften. 2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil 2.2.1 Philologische Spezialschriften περὶ κλοπῆς Kein direktes Vorbild aus der Homerkritik lässt sich aber für die mit den Titeln furta und Ὁμοιότητες überschriebenen Sammlungen des Perellius Faustus bzw. Quintus Octavius Avitus ausmachen. Der Inhalt der acht Bücher umfassenden Schrift des Avitus 110 , aber auch der furta des Perellius Faustus, ergibt sich aus Suetons erklärendem Zusatz quos et unde versus transtulerit ( VSD 45). Wie ordnen sich aber diese Schriften, deren Titel einmal eine polemische Stoßrichtung ( furta ), einmal eine neutrale Wertung der Parallelen als „Ähnlichkeiten“ (Ὁμοιότητες) erkennen lassen, in die philologisch-kritische Tradition ein? Um diese Frage zu beantworten, sind zunächst die antiken Nachrichten über philologische Plagiatsliteratur unter den besonderen Aspekten von Chronologie und Tendenz erneut zu prüfen. 111 Hauptquelle für unsere Kenntnis über die griechischen Spezialabhandlungen zum Plagiat ist ein Abschnitt aus der Φιλόλογος ἀκρόασις des Neuplatonikers 110 Zwar nennt Athen. deipn. 4, 170 e und 15, 690 e zwei Werke gleichen Titels, doch führt dies in unserem Zusammenhang nicht weiter: Bei den Ὁμοιότητες des mauretanischen Königs Juba (FGrHist 275 frg. 14; PIR I 65) handelte es sich, wie aus dem a. a. O. besprochenen ζήτημα hervorgeht, um ein kulturvergleichendes Sammelwerk (vgl. Jacoby [1916], Sp. 2394, 6-68). Ähnliches gilt für den Inhalt der Schrift, die Sosibios (FGrHist 595 frg. 9) unter dem Titel Ὁμοιότητες verfasst hat. 111 Zum antiken Plagiatsbegriff sei hier allgemein auf die Studie von Stemplinger (1990) und den RE-Artikel von Ziegler (1950) verwiesen. Zur griechischen Plagiatsliteratur vgl. Roscalla (2006), pass. ; zu den rechtlichen Aspekten des römischen Konzepts von „Urheberschaft“ Schickert (2005), pass. - Wichtige Gesichtspunkte zum antiken, speziell römischen Plagiatsverständnis enthält McGill (2012), obwohl er die im Folgenden behandelte Frage ausklammert und sein Thema fast ganz ohne Rückgriff auf griechische Quellen angeht. <?page no="50"?> 50 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil Porphyrios 112 , den uns Eusebios in seiner zwischen 312 und 322 entstandenen Praeparatio evangelica überliefert: 113 Ταῦτ᾿ εἰπόντος τοῦ Νικαγόρου ὁ Ἀπολλώνιος∙ ῾Καὶ τί θαυμάζομεν᾿, ἔφη, ῾εἰ Θεοπόμπου καὶ Ἐφόρου τὸ τῆς κλοπῆς πάθος ἥψατο, ἀργοτέρων οὕτως ἀνδρῶν, ὅπου γε καὶ Μένανδρος τῆς ἀρρωστίας ταύτης ἐπλήσθη, ὃν ἠρέμα μὲν ἤλεγξε διὰ τὸ ἄγαν αὐτὸν φιλεῖν Ἀριστοφάνης ὁ γραμματικὸς ἐν ταῖς Παραλλήλοις αὐτοῦ τε καὶ ἀφ᾿ ὧν ἔκλεψεν ἐκλογαῖς; Λατῖνος δ᾿ ἓξ βιβλίοις, ἃ ἐπέγραψε Περὶ τῶν οὐκ ἰδίων Μενάνδρου, τὸ πλῆθος αὐτοῦ τῶν κλοπῶν ἐξέφηνε∙ καθάπερ ὁ Ἀλεξανδρεὺς Φιλόστρατος Περὶ τῆς τοῦ Σοφοκλέους κλοπῆς πραγματείαν κατεβάλετο. Κεκίλιος δέ, ὥς τι μέγα πεφωρακώς, ὅλον δρᾶμα ἐξ ἀρχῆς εἰς τέλος Ἀντιφάνους, τὸν Οἰωνιστήν, μεταγράψαι φησὶ τὸν Μένανδρον εἰς τὸν Δεισιδαίμονα.᾿ … ἀλλ᾿ ἵνα μὴ καὶ αὐτὸς κλοπῆς ἄλλους αἰτιώμενος κλέπτης ἁλῶ, τοὺς πραγματευσαμένους τὰ περὶ τούτων μηνύσω. Λυσιμάχου μέν ἐστι δύο Περὶ τῆς Ἐφόρου κλοπῆς, Ἀλκαῖος δέ, ὁ τῶν λοιδόρων ἰάμβων καὶ ἐπιγραμμάτων ποιητής, παρῴδηκε τὰς Ἐφόρου κλοπὰς ἐξελέγχων, Πολλίωνος δὲ ἐπιστολὴ πρὸς Σωτηρίδαν Περὶ τῆς Κτησίου κλοπῆς, τοῦ δ᾽ αὐτοῦ καὶ Περὶ τῆς Ἡροδότου κλοπῆς ἐστι βιβλίον καὶ ἐν τῷ ἐπιγραφομένῳ Ἰχνευταί πολλὰ περὶ Θεοπόμπου λέγεται, Ἀρητάδου τέ ἐστι Περὶ συνεμπτώσεως πραγματεία, ἐξ ὧν τοιαῦτα πολλὰ ἔστι γνῶναι. ( frg. 408 / 409 Smith = Euseb. praep. evang. 10, 3, 12-13 u. 23) („Auf diese Worte des Nikagoras hin sagte Apollonios: ‘Was wundern wir uns also darüber, dass Theopomp und Ephoros von der Kleptomanie ergriffen wurden, zwei so träge Gesellen, wenn selbst Menander von dieser Krankheit befallen war, den der Grammatiker Aristophanes, weil er ihn allzu sehr verehrte, in den Parallelexzerpten , die er aus seinen Werken und den von ihm bestohlenen Schriftstellern anfertigte, nur ein bisschen schmähte. Latinos aber zeigte die ganze Menge seiner Plagiate auf in den sechs Büchern, die er Über das, was nicht von Menander stammt schrieb. Ebenso unternahm es auch Philostratos von Alexandria, ein Werk Über die Plagiate des Sophokles zu schreiben. Und Kekilios sagt - so als ob er eine große Entdeckung gemacht hätte -, dass Menander vom Anfang bis zum Ende ein ganzes Drama, den Augur des Antiphanes, zu seinem Abergläubigen umgeschrieben habe.’ … Doch um nicht selber als Ankläger von Plagiatoren des Plagiats überführt zu werden, möchte ich diejenigen Autoren, die zu diesen Fragen geschrieben haben, nennen. Von Lysimachos gibt es 112 Nach Beutler (1953), Sp. 288, 21-23 und Männlein-Robert (2001), S. 252 identisch mit den in test. 407 Smith = Suda s. v. Πορφύριος = Adler π 2098 genannten Φιλολόγου ἱστορίας βιβλία ε’. Bidez führt die Schriften in seinem Werkkatalog aber getrennt als Nr. 56 und 57; vgl. Bidez (1980), S. 71*. 113 Zur näheren Einordnung vgl. Männlein-Robert (2001), S. 251-292. - Neben Porphyrios ist uns eine Sammlung von Einzelplagiaten bei Klemens von Alexandrien im sechsten Buch seines poikilographischen Hauptwerks, den Στρωματεῖς ( strom. 6, 2), überliefert, allerdings ohne explizite Quellenangaben und somit nur von indirektem Wert für die Geschichte der Plagiatsliteratur. <?page no="51"?> 2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil 51 zwei Bücher Über die Plagiate des Ephoros ; auch Alkaios, der Dichter von schmähenden Jamben und Epigrammen, brachte die Plagiate des Ephoros ans Licht und spottete über sie; von Pollion gibt es einen gegen Soteridas gerichteten Brief Über die Plagiate des Ktesias , vom selben Autor auch ein Buch Über die Plagiate Herodots , und viel über Theopomp steht auch in der Spürnasen betitelten Schrift; und von Aretades stammt das Werk Von den Übereinstimmungen - in diesen Schriften kann man viele Beispiele dieser Art finden.“) Zumeist geht man davon aus, dass Porphyrios die Schrift noch während seiner Lehrzeit bei Kassios Longinos in Athen, also vor seinem Weggang nach Rom im Jahr 263 n. Chr., verfasst hat. 114 Der erhaltene Abschnitt beschreibt eine Gastmahlszene, in der sich die beteiligten Sprecher (Grammatiker, Geometer, peripatetische und stoische Philosophen) über literaturkritische Fragen austauschen und, einer bei Symposien gerne geübten Praxis 115 folgend, Autoren synkritisch miteinander vergleichen. Dabei kommen sie auch auf Plagiatsfragen zu sprechen. Im zitierten Ausschnitt belegen die Symposiasten ihre Behauptungen, indem sie auf einschlägige Spezialabhandlungen περὶ κλοπῆς verweisen. Der größere Teil der von Porphyrios genannten Schriften befasst sich mit historischen Werken. Als ein Beispiel wird eine Schrift Περὶ τῆς Ἐφόρου κλοπῆς genannt. 116 Die Lebenszeit ihres Autors Lysimachos lässt sich auf etwa 200 v. Chr. datieren. 117 Soweit wir aus den überlieferten Nachrichten ersehen, muss das Werk als ein Nebenprodukt mythographischer Forschungen angesehen werden. Lysimachos verfasste umfangreiche Untersuchungen zu Reisesagen und eine Zusammenstellung von thebanischen Wundergeschichten. 118 Seine Methode war die des mythologischen Vergleichs, der auch entlegene Gewährsmänner berücksichtigte und die verschiedenen Sagenvarianten durch Zitate mit genauen Quellenangaben dokumentierte. Im Zuge dieser Arbeiten wird er auch auf das universalhistorische Werk des Ephoros von Kyme gestoßen 114 Vgl. Beutler (1953), Sp. 288, 31-37. 115 Vgl. → Kap. 1.2. 116 FGrHist 382 frg. 22. Vgl. Susemihl I (1965), S. 480; Stemplinger (1990), S. 33-34, 47-48; Gudemann (1927), pass. ; Ziegler (1950), Sp. 1980, 20-53. 117 Vgl. Gudemann (1927), Sp. 35, 30-38: „Die obigen Erörterungen zusammenfassend werden wir die ἀκμή des Kyrenaeers und späteren Alexandriners L. etwa um das J. 200 ansetzen müssen und ihm ohne Bedenken die Νόστοι, Θηβαϊκὰ παράδοξα und Περὶ τῆς Ἐφόρου κλοπῆς in 2 Büchern zuschreiben, während seine Verfasserschaft auch der Αἰγυπτιακά zwar ebenfalls völlig einwandfrei ist, aber als unbeweisbar dahingestellt bleiben mag.“ 118 Νόστοι und eine συναγωγὴ τῶν Θηβαϊκῶν παραδόξων bzw. Θηβαϊκὰ παράδοξα; vgl. den Komm. zu FGrHist 382 frg. 6-16 und frg. 1-5. <?page no="52"?> 52 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil sein 119 , dem er - wenn man eine weitere Stelle bei Porphyrios auf Lysimachos zurückführt - besonders schwerwiegende Fälle von Plagiat nachweisen konnte, nämlich Übernahmen aus seinen Vorgängern im Umfang von bis zu dreitausend Zeilen. 120 Mit Ephoros, der sich in seinen kompilatorischen Werken primär auf schriftliche Quellen stützte und deshalb als erster und prototypischer Vertreter des Buchgelehrten gilt, hatte Lysimachos natürlich eine geeignete Zielscheibe für seine Plagiatsvorwürfe gefunden. 121 Der Kritikpunkt war dabei nicht die Benutzung fremden Materials an sich, denn für diese Praxis bot Lysimachos selbst das beste Beispiel, sondern die Absicht, unverändert übernommene wörtliche Zitate zu verschleiern, was er Ephoros mit dem Schlagwort κλοπή unterstellte. Diese Vorwürfe wurden in der zeitgenössischen Jambographie und Epigrammatik aufgegriffen, wie Porphyrios’ Hinweis auf Alkaios von Messene zeigt. 122 Wie wir aus einer anderen Nachricht schließen können, dürften die unter dem Titel Συγκρίσεις gesammelten skoptischen Gedichte des Alkaios zumindest in Teilen der vergleichenden Methode gefolgt sein. 123 119 Gerade für die Νόστοι liegt eine Benutzung des Ephoros, dessen Interesse an κτίσεις ja gut bezeugt ist, nahe; vgl. den Komm. zu FGrHist 382 frg. 22, wo Lysimachos sogar als Begründer der Plagiatsliteratur genannt wird. 120 Vgl. Euseb. praep. evang. 10, 3, 3 = FGrHist 70 test. 17 (καὶ τί γὰρ Ἐφόρου ἴδιον ἐκ τῶν Δαϊμάχου [FGrHist 65 test. 1] καὶ Καλλισθένους [FGrHist 124 test. 33] καὶ Ἀναξιμένους [FGrHist 72 test. 28] αὐταῖς λέξεσιν ἔστιν ὅτε τρισχιλίους ὅλους μετατιθέντος στίχους) und den Abriss bei Stemplinger (1990), S. 47-48 über die Benutzung der Geschichtsschreiber Daimachos, Kallisthenes und Anaximenes durch Ephoros. 121 Polybios wirft dem Ephoros - Ähnliches gilt für Theopomp und Timaios - vor, Schilderungen von Landschlachten nicht auf der Grundlage der seit Herodot für den Geschichtsschreiber verbindlichen Autopsie zu geben (Pol. 12, 25 f 1 = FGrHist 70 test. 20): ἐκεῖνος γὰρ ἐν τοῖς πολεμικοῖς τῶν μὲν κατὰ θάλατταν ἔργων ἐπὶ ποσὸν ὑπόνοιαν ἐσχηκέναι μοι δοκεῖ, τῶν δὲ κατὰ γῆν ἀγώνων ἄπειρος εἶναι τελέως („Dieser scheint mir, wie seine Kriegsschilderungen zeigen, von Seeschlachten eine gewisse Vorstellung gehabt zu haben, von Kämpfen zu Lande dagegen überhaupt nichts zu verstehen.“ ÜS Drexler ). Polybios lehnt das Quellenstudium in seiner Konzeption der pragmatischen Geschichtsschreibung natürlich nicht vollständig ab, sie rangiert aber nur als eine von drei Komponenten (vgl. Pol. 12, 25 e 1). Die Stichhaltigkeit von Lysimachos’ Plagiatsvorwürfen lässt sich für uns heute nicht mehr genau überprüfen, da die Werke des Ephoros nur mehr in fragmentarischer Gestalt erhalten sind. Vgl. aber die Zusammenfassung von Meister (1997), Sp. 1090: „Dazu nutzte er nicht nur fast alle früheren Historiker von Hekataios und Herodot bis hin zu Philistos, Theopompos und Kallisthenes, sondern auch Redner, Publizisten, Dichter (z. B. Tyrtaios, frg. 216; Aristophanes, frg. 196) und Epigramme ( frg. 122, 199).“ 122 Alkaios war ein Zeitgenosse des Lysimachos und schrieb politische Epigramme; vgl. Reitzenstein (1897), pass. Wie Gudemann (1927), Sp. 34, 6-10 ausführt, ist mit παρῴδηκε τὰς Ἐφόρου κλοπὰς ἐξελέγχων gemeint, dass der Epigrammatiker die Plagiatsnachweise des Alexandriners als Materialsammlung für seine Angriffe gegen Ephoros benutzte. 123 Polybios berichtet, dass Alkaios in diesem Werk den Grammatiker Isokrates verspottet habe; vgl. Pol. 32, 6, 5 (οὗτος δ᾽ ἦν μὲν γραμματικὸς τῶν τὰς ἀκροάσεις ποιουμένων, <?page no="53"?> 2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil 53 Der zweite Gewährsmann für Plagiate im Bereich der Geschichtsschreibung ist ein gewisser Pollio, dem Porphyrios drei Titel zuweist. 124 Die ersten beiden Schriften wiesen unstatthafte Entlehnungen bei den Historikern Ktesias (ἐπιστολὴ πρὸς Σωτηρίδαν περὶ τῆς Κτησίου κλοπῆς) 125 und Herodot (τοῦ δ҆ αὐτοῦ καὶ περὶ τῆς Ἡροδότου κλοπῆς ἐστι βιβλίον) nach. Auch bei der letzten Schrift, die den bezeichnenden Titel Ἰχνευταί (‘Spürnasen’) trug, standen wohl literarische Anleihen bei Geschichtsschreibern im Vordergrund (καὶ ἐν τῷ ἐπιγραφομένῳ Ἰχνευταί πολλὰ περὶ Θεοπόμπου λέγεται). Im Falle Theopomps, dem Pollios Interesse im letztgenannten Werk galt, ist die eingehende Auseinandersetzung mit den historiographischen Vorgängern und Konkurrenten bekannt. Neben einer Epitome aus Herodot 126 trat er mit seiner griechischen Geschichte in direkte stoffliche Konkurrenz zu Xenophon. 127 Dass es dabei zu zahlreichen inhaltlichen Entsprechungen kam, die ein übelwollender Kritiker als Plagiat schmähen konnte, liegt nahe. Bei Ktesias und Herodot liegt die Sache allerdings anders. Diese beiden Autoren vertraten in ihren Werken ausdrücklich einen Originalitätsanspruch, der sich aus dem von ihnen proklamierten Ideal der αὐτοψία ergab. Beschreibenswert war demnach nicht, was andere bereits geschildert hatten, sondern das, was man mit eigenen Augen gesehen hatte. 128 Trotzdem ist auch bei den diese Autoren betreffenden Plagiatsvorwürfen davon auszugehen, dass sie sich auf umfangreichere stoffφύσει δ᾽ ὢν λάλος καὶ πέρπερος καὶ κατακορὴς προσέκοπτε μὲν καὶ τοῖς Ἕλλησιν, ἅτε καὶ τῶν περὶ τὸν Ἀλκαῖον ἐν ταῖς Συγκρίσεσιν ἐπιδεξίως σκωπτόντων αὐτὸν καὶ διαχλευαζόντων [„Dieser war ein Grammatiker, der öffentliche Vorlesungen hielt, ein ekelhafter Schwätzer und Aufschneider, der auch in Griechenland Anstoß erregt hatte und den daher auch Alkaios in den Vergleichungen elegant verspottet und verhöhnt.“ ÜS nach Drexler ]). Zur Identität des bei Porphyrios genannten Alkaios mit dem Epigrammatiker vgl. mit weiterführenden Literaturangaben Walbank (1979), S. 519-520 z. St. 124 Vgl. Stemplinger (1990), S. 34-35, 48-51 und Ziegler (1950), Sp. 1980, 54-1982, 25. Stemplinger (1990), S. 34 identifiziert ihn mit dem Grammatiker Πωλίων, der nach Suda s. v. Πωλίων = Adler π 2167 Περὶ τῶν παρὰ γράμμα ἁμαρτανομένων schrieb und - folgt man der Identifikation Stemplingers - nach vita Arat. 56, 105 Westermann Arat- und Euripidesbriefe gefälscht haben soll. 125 FGrHist 688 test. 17. 126 In zwei Büchern; vgl. Suda s. v. Θεόπομπος = Adler θ 172 = FGrHist 115 test. 1. 127 Die beiden Ἑλληνικά überschriebenen Schriften des Xenophon und des Theopomp setzten jeweils das Geschichtswerk des Thukydides fort. Ersterer schrieb über die Jahre 411-362 (bis zur Schlacht bei Mantineia), letzterer über die Jahre 410-394 v. Chr. (Diod. 13, 42, 5 = FGrHist 115 test. 14). 128 Ktesias zweifelt die Glaubwürdigkeit Herodots grundsätzlich an und setzt ihm die eigene Forschung entgegen. Über sein αὐτοψία-Prinzip liest man bei Photios in einem Resümee über ein - heute verlorenes - Methodenkapitel in den Περσικά (Phot. 72 p. 36 a 1-2: φησὶ δὲ αὐτὸν τῶν πλειόνων ἃ ἱστορεῖ αὐτόπτην γενόμενον). <?page no="54"?> 54 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil liche Anleihen bezogen, was jedoch bei Herodot und Ktesias schwerer als bei Theopomp wiegen musste. 129 Wie lässt sich der Autor aber chronologisch einordnen? Schon der Name des Pollio weist in die Kaiserzeit. Einen Datierungshinweis enthält außerdem die Angabe des Adressaten der Schrift über Ktesias. Es handelt sich bei Soteridas mit großer Wahrscheinlichkeit um den Vater der unter Nero lebenden Philologin Pamphila, von der wir wissen, dass sie neben anderen Geschichtswerken eine drei Bücher umfassende Epitome des Ktesias verfasst hatte. 130 Die gelehrten Interessen der Tochter wären demnach bereits beim Vater vorgeprägt gewesen, dem in der biographischen Überlieferung eine Reihe von grammatischen Schriften zugewiesen wird. 131 Wenn man vom Interesse der Tochter an Ktesias auf die literarischen Vorlieben des Vaters schließen darf, so wird man in πρὸς Σωτηρίδαν im Titel der Plagiatsschrift des Pollio eine polemische Absicht erkennen dürfen und den Ausdruck nicht als bloße Angabe des Widmungsträgers zu verstehen haben. Pollion dürfte mit seiner Schrift also die Absicht verfolgt haben, den von Soteridas geschätzten Ktesias als Plagiator bloßzustellen. 132 Von der Schrift Περὶ συνεμπτώσεως πραγματεία des Aretades, die Porphyrios im Anschluss an Pollion erwähnt, können wir uns heute wohl keine nähere 129 Anders Bühler (1964), S. 94, der davon ausgeht, dass Herodots sprachliche Entlehnungen aus Homer Gegenstand der Schrift περὶ τῆς Ἡροδότου κλοπῆς waren. 130 Das literarische Schaffen der Pamphila stellt einen ebenso interessanten wie biographisch verworrenen Fall von Plagiat bzw. Pseudepigraphie dar. Der Autor von Suda s. v. Παμφίλη = Adler π 139 bezeichnet sie einerseits als θυγάτηρ Σωτηρίδου und hält diesen Soteridas als den eigentlichen Autor der unter Pamphilas Namen bekannten Werke. Andererseits spricht der Lexikoneintrag aber auch von einem Ehemann namens Sokratidas, von dem die Werke der Gelehrten eigentlich stammen. In Suda s. v. Σωτηρίδας 1 = Adler σ 875 wird als Ehemann der Pamphila hingegen ein Grammatiker namens Soteridas genannt; Suda s. v. Σωτηρίδας 2 = Adler σ 876 bezeichnet als Soteridas dann wie in Adler π 139 den Vater der Pamphila. Man wird nicht, wie Daub (1880), S. 58-61 angenommen hat, davon auszugehen haben, dass in Adler π 139 eine Verwechslung vorliegt und Vater und Ehemann denselben Namen tragen, sondern dem Lösungsvorschlag Otto Regenbogens folgen, der eine Verschreibung in Adler σ 875 annimmt: Statt ἀνήρ ist also πατήρ zu lesen; vgl. Regenbogen (1949), Sp. 311, 52-57. 131 Vgl. Suda s. v. Σωτηρίδας 1 = Adler σ 875: ἔγραψεν Ὀρθογραφίαν, Ζητήσεις Ὁμηρικάς, ὑπόμνημα εἰς Μένανδρον, Περὶ μέτρων, Περὶ κωμῳδίας, εἰς Εὐριπίδην. 132 Bleibt man bei der vorgeschlagenen Identifikation des Soteridas mit dem vor oder unter Nero wirkenden Grammatiker, so scheiden andere Träger des Namens Pollio aus späterer Zeit, wie etwa der in Suda s. v. Πωλίων 2 = Adler π 2166 genannte φιλόσοφος Valerius Polio bzw. Pollio (unter Hadrian) oder der römische Grammatiker, Horazphilologe und Lehrer Marc Aurels (Hist. Aug. Marc. Aur. 2, 3), aus. Ob der in Suda s. v. Πωλίων 3 = Adler π 2167 genannte Philologe, der Περὶ τῶν παρὰ γράμμα ἁμαρτανομένων schrieb, mit dem vorher genannten Valerius Pollio oder mit dem Plagiatsschriftsteller Pollio gleichzusetzen ist, ist wohl nicht mehr zu entscheiden. <?page no="55"?> 2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil 55 Vorstellung mehr machen. 133 Immerhin begegnet die Vorstellung des συμπίπτειν gelegentlich im Zusammenhang mit Plagiatsfragen. Artemidoros von Daldis etwa erläutert in der Vorrede zum zweiten Buch der Traumdeutung seine wissenschaftliche Methode und weist nachdrücklich darauf hin, dass er unbeabsichtigte sachliche Übereinstimmungen mit seinen Vorgängern vermeiden möchte; in diesem Zusammenhang fällt der Begriff συμπίπτειν. 134 Aretades hat demnach Parallelstellen verglichen, ohne dass man dabei eine polemische Tendenz gegen den bloßen Umstand der sachlichen oder sprachlichen Entsprechung annehmen dürfte. Wahrscheinlich hat Aretades nicht nur einen Autor behandelt, da er ja keine näheren Angaben im Titel macht; Porphyrios Einordnung der πραγματεία unter die Plagiatsschriften über Geschichtsschreiber legt aber immerhin eine entsprechende Gattungswahl bei Aretades nahe. Eine Datierung ins 2. Jhdt. v. Chr. erscheint zumindest plausibel. 135 Wir greifen mit den behandelten fünf Titeln also einen Forschungszweig, der spätestens seit alexandrinischer Zeit bestand. Kein Anlass besteht zu der Annahme, dass die in einem Teil dieser Schriften artikulierten Plagiatsvorwürfe stilistische bzw. sprachliche Entlehnungen betrafen. Vielmehr tadelte man - wenn überhaupt eine polemische Tendenz zu erkennen ist - die dreisten Versuche der Geschichtsschreiber, sachliche Einzelinformationen bzw. ganze Abschnitte ohne Ausweis der Quelle zu übernehmen. Ein wie auch immer theoretisierter Begriff von literarischer imitatio o. Ä. spielt dabei keine Rolle. 133 Stemplinger (1990), S. 9, 52-57 und Ziegler (1950), Sp. 1982, 26-1983, 54. 134 Vgl. Artem. 2 praef. (… ἀεί τε φυλαττόμενος, ὅπου γε μὴ μεγάλη ἀνάγκη ἐπείγοι, μὴ συνεμπεσεῖν τοῖς παλαιοῖς, <καὶ> παραλείπων οὐδὲν τῶν δεόντων ἢ εἴ τι προλαβόντες οἱ παλαιοὶ διδασκαλικῶς ἐξηγήσαντο … [„… Dabei habe ich immer darauf geachtet, die Worte der Alten nicht zufällig zu wiederholen, wenn dazu nicht ein besonderer Grund vorlag, und nichts wegzulassen, mit der Ausnahme, dass die Alten schon etwas vorweggenommen und methodisch behandelt hatten …“ ÜS nach Krauss ]). 135 Vgl. Schwartz (1895), Sp. 669, 27-32: „… setzte in dem Werke Περὶ συνεμπτώσεως … die von Aristophanes von Byzanz begründete Forschung über die Nachahmungen und Übereinstimmungen der Schriftsteller fort.“ Der von Porphyrios genannte Aretades kann nicht mit dem in der pseudoplutarchischen Schrift Συναγωγὴ ἱστοριῶν παραλλήλων Ἑλληνικῶν καὶ Ῥωμαϊκῶν genannten, wohl erfundenen Historiker Aretades von Knidos gleichgesetzt werden, vgl. Ziegler (1951), Sp. 867, 23-870, 37 und ähnlich zurückhaltend bereits Karl Müller in FHG IV, S. 316. Stattdessen ist der hellenistische Grammatiker A. gemeint, vgl. schol. A ( Did. ) ad Il. 24, 110 b 1 (Ἀπολλόδωρος καὶ Ἀρητάδης καὶ Νεοτέλης καὶ Διονύσιος ὁ Θρᾷξ; Aretades wird auch in schol. HMQR ad Od. 3, 341 genannt). Die aufgeführten Gelehrten fallen ins 2. Jhdt. v. Chr.: Apollodoros von Athen (FGrHist 244 frg. 268) war ein Schüler des Aristarch (vgl. Pfeiffer [1978], S. 307-321), ebenso wohl auch Neoteles (vgl. Wendel [1935], Sp. 2477, 51-57). Die Lebenszeit des Dionysios Thrax ( frg. 20 Linke) lässt sich ebenfalls auf das 2. Jhdt. v. Chr. eingrenzen; vgl. Pfeiffer (1978), S. 322-323. Die von Susemihl I (1965), S. 168 vorsichtig geäußerte Vermutung, dass Aretades ein Schüler Aristarchs war, und eine Datierung ins 2. Jhdt. erscheinen daher wahrscheinlich. <?page no="56"?> 56 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil Was lässt sich aber über die auf Dichter bezogenen Plagiatsschriften bei Porphyrios sagen? Zwei der genannten Werke behandelten Plagiate Menanders. Die Schrift des Aristophanes von Byzanz 136 wird folgendermaßen umschrieben: ἐν ταῖς Παραλλήλοις αὐτοῦ τε καὶ ἀφ᾿ ὧν ἔκλεψεν ἐκλογαῖς. Es erscheint bedenklich, den Titel des Werks mit Παράλληλοι Μενάνδρου τε καὶ ἀφ᾽ ὧν ἔκλεψεν ἐκλογαί zu rekonstruieren, da der damit ausgedrückte κλοπή-Vorwurf der verschiedentlich bezeugten Hochachtung des alexandrinischen Grammatikers vor Menander widersprechen würde. Aristophanes sticht unter den alexandrinischen Gelehrten gerade wegen seiner Vorliebe für Menander hervor. Einmal lobt er in einem berühmten, bei Syrian erhaltenen Vers den Realismus Menanders 137 , ein andermal stellt er den Komödiendichter in einem inschriftlich überlieferten Epigramm sogar dem Homer an die Seite. 138 Übrigens weist ja schon die Notiz des Porphyrios διὰ τὸ ἄγαν αὐτὸν φιλεῖν auf die positive Haltung des Aristophanes Menander gegenüber hin. Man rekonstruiert den überlieferten Titel also am besten als Παράλληλοι ἐκλογαί und weist den Einschub, der den eigentlichen Plagiatsvorwurf markiert (ἀφ᾿ ὧν ἔκλεψεν), dem Porphyrios zu. Nimmt man den Titel der Schrift aber ernst, dann dürfte es sich um nichts weiter als um eine tendenzlose Sammlung von einzelnen Passagen bzw. sprichwörtlicher γνώμαι gehandelt haben, in denen Menander bewusst auf andere Autoren zurückgegriffen hat bzw. zufällig mit ihnen übereinstimmt. 139 Dass Aristophanes 136 Stemplinger (1990), S. 7-8 und Ziegler (1950), Sp. 1979, 18-33. Zu den Menanderstudien des Aristophanes von Byzanz (περὶ προσώπων = frg. 363 Slater und περὶ τῶν Ἀθήνησιν ἑταιρίδων = frg. 364-366 Slater) vgl. Nesselrath (1990), S. 180-187 und allgemein Pfeiffer (1978), S. 235-237. 137 Aristoph. Byzantinus ap. Syrian. comm. in Hermog. II 23, 8-11 Rabe = test. 32 Körte- Thierfelder = test. 83 Kassel-Austin = frg. 7 Slater (διόπερ καὶ Ἀριστοφάνης ὁ γραμματικὸς εὐστοχώτατα πεποίηκεν εἰς αὐτὸν ἐκεῖνο ‛ὦ Μένανδρε καὶ βίε, | πότερος ἄρ᾽ ὑμῶν πότερόν ἀπεμιμήσατο;᾽). 138 Das Epigramm ist neben zwei weiteren Gedichten auf dem Schaft einer kopflosen Menanderherme überliefert. Die Herme war ursprünglich neben einem Bildnis Homers platziert; Menander wird also der zweite Rang nach Homer zugebilligt (vgl. Körte [1931], Sp. 715, 16-29). Der Text lautet mit den Ergänzungen von Kaibel (Epigr. 1085 c Kaibel = test. 61 c Körte-Thierfelder = test. 170 c Kassel-Austin = frg. 9 Slater): Οὐκ ἄλλως] ἔστησα κατ᾽ ὀφθαλμούς σε, Μένανδ[ρε | γείτον᾽ Ὁ]μηρείης, φίλτατέ μοι, κεφαλῆς | εἰ σέ γε δεύτ] ερα ἔταξε σοφὸς κρείνειν μετ᾽ ἐκεῖνον | γραμματι]κὸς κλεινὸς πρόσθεν Ἀριστοφάνης. Vgl. auch die ansprechende Vermutung von Nesselrath (1990), S. 181 Anm. 92, dass der in den Scholien zu Dionysios Thrax (XVIIIa 45 Koster = test. 49 Körte-Thierfelder = test. 151 Kassel-Austin) überlieferte Lobvers ὅς ἄστρον ἐστὶ τῆς νέας κωμῳδίας von Aristophanes von Byzanz stammt. 139 Diese Auffassung wird heute allgemein vertreten; vgl. zusammenfassend Ziegler (1950), Sp. 1979, 26-33 und Nesselrath (1990), S. 182-183 mit weiterer Literatur (dagegen äußerte man sich früher gelegentlich ratlos angesichts der scheinbaren Widersprüche in den überlieferten Zeugnissen; vgl. etwa Cohn [1895], Sp. 1004, 9-17). Vielleicht diente die Sammlung des Aristophanes auch als Ausgangsbasis für seine anderweitig bezeugten <?page no="57"?> 2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil 57 dabei insbesondere ältere und zeitgenössische Komödienautoren im Blick hatte, liegt nahe. 140 Solche sammelnd-vergleichenden Studien passen auch gut zu den sonst bezeugten Forschungsinteressen der alexandrinischen Philologie. Ob Aristophanes in seinen Παράλληλοι ἐκλογαί auch die Überlegenheit Menanders hervorheben wollte, muss dahingestellt bleiben. Jedenfalls stellt er sich nicht nur mit dieser Schrift 141 in die Tradition gnomologischer Sammelwerke; eine polemische Tendenz im Sinne eines Plagiats vorwurfs ist in diesem Fall aber auszuschließen. Wir haben zumindest einen weiteren Hinweis, dass solche Parallelensammlungen auch in monographischer Form vorlagen. Ein Grammatiker namens Ptolemaios verfasste, wie wir aus dem zugehörigen Sudaartikel wissen, eine Sammlung ähnlicher Ausdrücke bei den Tragikern mit dem Titel Τὰ ὁμοίως εἰρημένα τοῖς Τραγικοῖς (= 79 frg. 1 Bagordo). 142 Ptolemaios ist wohl in augusteische Zeit zu datieren. 143 Jedenfalls hat er wie Aristophanes synkritische Studien betrieben und sich inhaltlich entsprechende Sentenzen (ὁμοίως εἰρημένα) zusammengestellt, ohne dabei freilich die Autorität der behandelten Tragiker - wohl eher die kanonische Trias als die spätere hellenistische Πλειάς - durch κλοπή-Vorwürfe in Frage zu stellen. In der Schrift des Latinos, der in sechs Büchern Περὶ τῶν οὐκ ἰδίων Μενάνδρου schrieb, finden wir diesen Typus der alexandrinischen Parallelensammlung vielleicht schon ins Polemische gewendet. 144 Der Inhalt der Schrift wird Menanderkommentare: Die philologische Beschäftigung mit Menander setzte schon zu Lebzeiten des Dichters mit der Schrift περὶ Μενάνδρου des Lynkeus von Samos ein und die kommentierende Arbeit des Aristophanes an Menander ist gut bezeugt; vgl. Athen. VI 242 b = test. 75 Kassel-Austin (einen Abriss der Menanderrezeption gibt Körte [1931], Sp. 714, 61-718, 15). 140 Nesselrath (1990), S. 183 vertritt die Auffassung, dass spätestens für Aristophanes, den seine Beschäftigung mit der gesamten überlieferten Komödienliteratur vor den anderen Alexandrinern auszeichnet, ein dreigeteiltes Entwicklungsschema der attischen Komödie anzunehmen ist. Vielleicht hatte die bei Porphyrios erwähnte Parallelensammlung demnach auch den Zweck, Menanders herausragende Stellung als Dichter in Kontrast zu den Autoren der Μέση hervorzuheben. 141 Er erstellte auch eine sechs Bücher umfassende Sammlung von Sprichwörtern in Vers (ἔμμετροι παροιμίαι = frg. 358-362 Slater) und Prosa (παροιμίαι ἄμετροι = frg. 354-357 Slater), wobei er im Einzelnen nachzuweisen versuchte, welches Sprichwort wo in welcher Form verwendet wurde; vgl. Leutsch (1848), S. 566-572 und Cohn (1895), Sp. 1003, 67-1004, 1 über die Spezialstudie περὶ τῆς ἀχνυμένης σκυτάλης (Athen. deipn. 3, 85 e = frg. 367 Slater). 142 Vgl. Suda s. v. Πτολεμαῖος = Adler π 3036 und Dihle (1962), pass. 143 Ob er der Vater, der Sohn oder nur ein Schüler des berühmten Grammatikers Aristonikos war, der unter Augustus in Rom lehrte, geht aus den überlieferten Zeugnissen nicht hervor (schol. A [ Hrd. ] ad Il. 4, 423 a 1 : ὁ τοῦ Ἀριστονίκου). 144 Men. test. 81 Kassel-Austin; vgl. Susemihl I (1965), S. 253 Anm. 28; Stemplinger (1990), S. 35-36 und 51-52; Gudemann (1924), pass. ; Ziegler (1950), Sp. 1979, 34-61; Montanari (1999), pass . <?page no="58"?> 58 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil aus dem erklärenden Zusatz τὸ πλῆθος αὐτοῦ τῶν κλοπῶν ἐξέφηνε deutlich - wenn wir hier nicht wieder mit einer bewussten Umdeutung durch Porphyrios rechnen müssen: Es handelte sich offenbar um Plagiatsnachweise in tadelnder Absicht. Schon im Titel klingen die üblichen verbalen Umschreibungen zur Bezeichnung der tadelnswerten Aneignung fremden Guts an, die in den Plagiatsnachweisen bei Athenaios oder Klemens von Alexandrien verwendet werden. 145 Auch Latinos weist sich durch seinen Namen eindeutig als kaiserzeitlicher Autor aus, allerdings gibt es keine weiteren Anhaltspunkte zur Datierung. 146 Wenn Menander aber von Latinos aufgrund seiner sprachlichen Übereinstimmungen mit anderen Autoren tatsächlich kritisiert wurde, so handelt es sich um eine Einzelstimme. 147 Der kanonische Rang des Dichters war zumindest seit augusteischer Zeit so unbestritten, dass man ihn sogar als stilistisches Vorbild für den angehenden Redner schätzte. 148 145 Vgl. Athen. XV 673 e (ἐξιδιοποιεῖσθαι); Athen. III 84 b (ὡς ἴδια ἐπιφέρειν); Clem. VI 2, 25, 2 p. 442, 4 und VI 2, 26, 7 p. 443, 3 (ὡς ἴδια ἐκφέρειν). 146 Wegen der Abfolge im Schriftstellerkatalog setzt man seine Lebenszeit für gewöhnlich zwischen Caecilius und Porphyrios an; vgl. Stemplinger (1990), S. 51-52 und Gudemann (1924), Sp. 938, 32-33. 147 Unter den philologischen Fachschriften, die sich dem Werk Menanders widmeten, findet sich keine mit explizit polemischer Tendenz; vgl. frg. 75-82 Kassel-Austin. Es handelt sich um fortlaufende Kommentare (ὑπομνήματα; bezeugt für Timaxides [ frg. 77], Didymos [ frg. 78], Soteridas [ frg. 79], Nikadios bzw. Nikandros und Harmatios [ frg. 82]) oder um περί-Literatur (Lynkeus: περὶ Μενάνδρου [ frg. 75]) bzw. andere Spezialschriften (Homeros Sellios: περιοχαὶ τῶν Μενάνδρου δραμάτων [ frg. 80]). 148 Dionysios von Halikarnassos empfiehlt ihn nicht nur wegen seiner sprachlichen Qualitäten, sondern auch wegen der Inhalte dem angehenden Redner zur Nachahmung: Dion. Hal. imit. II frg. 6, 2 (= VI 207, 1 Usener-Radermacher) = test. 87 Kassel-Austin. Ovid nennt ihn in seinem Schriftstellerkatalog nach Homer, Hesiod, Kallimachos, Sophokles und Arat (Ov. am. 1, 15, 17-18 = test. 90 Kassel-Austin). Für Velleius Paterculus steht er klar über den anderen Dichtern der Νέα (Vell. Pat. 1, 16, 3 = test. 93 Kassel-Austin). Vgl. auch Plin. nat. hist. 30, 7 = test. 95 Kassel-Austin. Aus der Sicht des späten 1. Jhdt. n. Chr. stellte es sich so dar, dass Menander zu Lebzeiten unterschätzt und erst später angemessen gewürdigt wurde (Quint. inst. 3, 7, 18 = test. 99 Kassel-Austin: quidam sicut Menander iustiora posterorum quam suae aetatis iudicia sunt consecuti und inst. 10, 1, 72 = test. 101 Kassel-Austin: Philemon, qui ut pravis sui temporis iudiciis Menandro saepe praelatus est, ita consensu tamen omnium meruit credi secundus ). Für Quintilian steht fest: ille ( scil. Menander ) quidem omnibus eiusdem operis auctoribus abstulit nomen, et fulgore quodam suae claritatis tenebras obduxit . - Dion von Prusa muss sich in seiner Rede περὶ λόγου ἀσκήσεως gegenüber den σοφώτεροι dafür rechtfertigen, wenn er Menander und Euripides als geeignete Studienobjekte den älteren Gattungsvertretern vorzieht; vgl. Dion. Chrys. or. 68, 6-7 Arnim (= test. 102 Kassel-Austin): τῶν μὲν δὴ ποιητῶν συμβουλεύσαιμ’ ἄν σοι Μενάνδρῳ τε τῶν κωμικῶν μὴ παρέργως ἐντυγχάνειν καὶ Εὐριπίδῃ τῶν τραγικῶν … καὶ μηδεὶς τῶν σοφωτέρων αἰτιάσηταί με ὡς προκρίναντα τῆς ἀρχαίας κωμῳδίας τὴν Μενάνδρου ἢ τῶν ἀρχαίων τραγῳδῶν Εὐριπίδην. Menander und Euripides werden häufig zusammen genannt. Quintilian behauptet sogar, dass Euripides das bevorzugte <?page no="59"?> 2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil 59 Einen besonders interessanten Fall stellt die Schrift περὶ τῆς Σοφοκλέους κλοπῆς des Philostratos von Alexandria dar. 149 In ihr scheint zum ersten Mal einer der spätestens seit Aristophanes von Byzanz als kanonisch erklärten Autoren 150 , also ein πραττόμενος, unter Plagiatsverdacht zu stehen. Sophokles hatte in der späthellenistischen Zeit Euripides als am höchsten geschätzter Tragiker abgelöst. 151 Offenbar handelt es sich bei Philostratos um den aus Alexandrien stammenden Akademiker, der in der Gunst des Antonius und der Kleopatra stand und von dem eine Reihe von biographischen Informationen überliefert ist. 152 Ein Papyrusfund aus dem Jahr 1943 erlaubt eine nähere Charakteristik der Schrift: 153 ε[ἰ Ꞌ Σο]φοκ[λ]έους τὸ δρᾶμα [· λέ] Ꞌ γει γὰρ Φιλό[σ]τρατος ἐν τῷ λ[γ] πε[ρ]ὶ τῶν Σοφοκλ[έους] {τοδρ[α]μ[α]λεγει} κλοπῶν ὅ Ꞌ τι οὐκ ἔστι Σοφοκλέους („… wenn das Drama überhaupt von Sophokles ist. Philostratos sagt nämlich im 33. Buch seines Werks über die Diebstähle des Sophokles , dass es nicht von Sophokles ist.“) Die Scholiennotiz eines anonymen Grammatikers aus dem 2. Jhdt. n. Chr. betrifft ein textkritisches Problem im pseudosophokleischen Ναύπλιος Πυρκαεύς. Vor dem eigentlichen Zitat stellt der Scholiast die Frage nach der Authentizität des Dramas und verweist dabei darauf, dass Philostratos im 33. Buch seines Werks über die Diebstähle des Sophokles behaupte, es stamme gar nicht von Sophokles. Zwei Gesichtspunkte sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben: Zum einen der schiere Umfang des Werks von über 33 Büchern, mit dem die Schrift sogar die voluminöse Sammlung des Latinos um mehr als das fünffache Imitationsobjekt für Menander war; vgl. Quint. inst. 10, 1, 69 (= test. 101 Kassel-Austin): hunc ( scil. Euripidem ) et admiratur maxime est, ut saepe testatur, et secutus, quamquam in opere diverso . Vgl. auch Cic. pro Q. Gallio frg. 2 p. 400, 6 Sch. (= test. 85 Kassel-Austin), wo davon berichtet wird, dass Euripides und Menander in einem Convivia poetarum ac philosophorum genannten Werk gemeinsam diskutierend dargestellt worden seien ( cum facit Euripidem et Menandrum inter se et alio loco Socraten atque Epicurum disserentes ). 149 TrGF IV test. 154 a Radt. 150 Vgl. dazu etwa Pfeiffer (1978), S. 251-252. 151 Repräsentativ ist hier das Urteil des Didymos; vgl. Wilamowitz (1959), S. 158-162 und Susemihl II (1965), S. 202. 152 Vgl. Fritz (1941), pass. , allerdings ohne Verweis auf diese Schrift, und Männlein-Robert (2001), S. 272, Anm. 103. Philostratos bemühte sich nach der Schlacht bei Actium um die Gunst des Octavian, wobei die Vermittlung des Philosophen Areios Didymos eine Rolle spielte; vgl. Philostr. vit. soph. 1, 5; Plut. Ant. 853 a und Cat. 57, 787 c , sowie Anth. Pal. 7, 645. 153 Der bislang von der Forschung zu diesem Thema nicht berücksichtigte Papyrus wurde von Vittorio Bartoletti ergänzt und herausgegeben (P. S. I. 1287 = TrGF IV test. 154 b Radt). Vgl. Pack (1965), Nr. 1736; Merkelbach (1958), S. 117 und den Komm. zu TrGF IV frg. 425-438 Radt (Ναύπλιος καταπλέων und Ναύπλιος Πυρκαεύς). <?page no="60"?> 60 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil übertrifft. Zum anderen überrascht der Inhalt des Werks, in dem es offensichtlich auch um Fragen der Pseudepigraphie ging. 154 Eine nicht bei Eusebios bezeugte Schrift, bei der man bislang ebenfalls meist davon ausgegangen ist, dass es sich um eine polemische Plagiatsschrift gehandelt haben muss, ist auf der Basis des bisher Ausgeführten noch zu prüfen. Es handelt sich um das ins 2. Jhdt. zu datierende Werk des Ammonios, von dem bei Ps.-Longinus und in den Homerscholien 155 die Rede ist: Ammonios hätte demnach sprachliche Anleihen an Homer bei Platon gesammelt. 156 Ps.- Longinus schreibt, er könne auf einen detaillierten Nachweis der sprachlichen Bezugnahmen Platons auf Homer verzichten, weil diese schon von Ammonios herausgesucht und verzeichnet wurden. 157 Dem anonymen Autor geht es hier darum zu zeigen, dass Entlehnungen kein Diebstahl (κλοπή) sind, sondern einer inspiratorischen Wirkung der älteren Dichter auf ihre Leser entspringen. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass sich auch aus der Erwähnung dieser Schrift keine polemische Haltung des Ps.-Longinus gegen Ammonios ergibt: Der Autor wollte Platon nicht etwa gegen einen von Ammonios erhobenen Plagiatsvorwurf verteidigen, sondern wendet sich gegen eine Fehlinterpretation des gesammelten Parallelenmaterials. Aus seiner Erwähnung bei Ps.-Longinus kann also nicht abgeleitet werden, dass Ammonios in seiner Schrift Plagiatsvorwürfe gegen Platon erhob. 158 Vielmehr wird man sie zu dem Typ der Parallelensammlung rechnen, dem wir schon bei Aristophanes von Byzanz begegnet sind. 159 154 Dass man beide Fälle, Plagiate und Pseudepigraphe, in der Antike unter dem Begriff ψευδεπίγραφα fasste, zeigt eine Episode, die in VSD 48 erwähnt wird: Quamvis igitur multa ψευδεπίγραφα , id est falsa inscriptione sub alieno nomine, sint prolata, ut Thyestes tragoedia huius poetae, quam Varius suo nomine edidit, et alia huiusmodi, tamen Bucolica liquido Vergilii esse minime dubitandum est … Vgl. zu den Hintergründen Suerbaum (1983), pass . Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass in der Darstellung Suetons ein klarer Fall von Plagiat - Varius gibt die als Werk Vergils anerkannte Tragödie Thyestes unter seinem Autornamen, also suo nomine , heraus - mit dem Begriff ψευδεπίγραφον bezeichnet wird. Offensichtlich, so wird jedenfalls aus dem Beispiel des Philostratos von Alexandria deutlich, schied man in diesem Bereich nicht deutlich: Werke περὶ κλοπῆς konnten auch ganz allgemein Fragen der Autorschaft bzw. der Falschattribuierung behandeln. 155 Schol. A ( Did. ) ad Il. 9, 540 a 1 gibt den Titel der Schrift mit Περὶ τῶν ὑπὸ Πλάτωνος μετενηνεγμένων ἐξ Ὁμήρου wieder. 156 Vgl. zu Ammonios allgemein Cohn (1894). 157 Vgl. Ps.-Long. de subl. 13, 3. 158 So auch Bühler (1964), S. 97. 159 In diesem Zusammenhang muss noch kurz auf zwei Papyruszeugnisse eingegangen werden. Zunächst ein von Slings (1979), pass. eingehend besprochenes Parallelenpaar in P. Petrie III, 1.1 aus dem 3. Jhdt. v. Chr.: Der Papyrus enthält vier Verse, angeblich aus der Feder des frühen Komödiendichters Epicharm, die Euripides umgestaltet haben soll. Die pseudepigraphen Verse sollen nach Slings (1979), S. 42 in der Absicht erfunden worden sein, Euripides des Plagiats zu überführen. Das ist aus sprachlichen Gründen zwar wahr- <?page no="61"?> 2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil 61 Zusammenfassend lässt sich demnach festhalten: (1) Von einem breiten Strom hellenistischer Literatur περὶ κλοπῆς kann rein quantitativ nicht die Rede sein. Offenbar hatte schon Porphyrios Probleme, eine ausreichende Zahl von einschlägigen Schriften mit dezidierten Plagiatsvorwürfen zusammenzubringen, sonst hätte er Aristophanes nicht ebendiese polemische Absicht entgegen der ursprünglichen Intention seiner Parallelensammlung unterstellt. (2) Im Kontext der hellenistischen Philologie können wir nur im Bereich der Geschichtsschreibung und, wenn man die beiläufigen Äußerungen eines Herakleides Pontikos, Eratosthenes oder Apollonios von Perge in Betracht zieht 160 , bei Fachprosa im weiteren Sinne Vorwürfe περὶ κλοπῆς feststellen, wo es auf die eigene ἐμπειρία bzw. die im Sinne des wissenschaftlichen Fachdiskurses notwendige exakte Zitation ankam. (3) Im Feld der Dichtung, wo raffinierte intertextuelle Bezugnahmen an der Tagesordnung waren, sticht in voraugusteischer Zeit hingegen geradezu das Fehlen des κλοπή-Vorwurfs seitens der Philologen ins Auge. Allenfalls stellte man - etwa bei den ἐγκριθέντες, den kanonischen Autoren - sorgsam die parallelen Formulierungen zusammen, um sie etwa bei der gelehrten Kommentierung heranzuziehen (Aristophanes von Byzanz; Ammonios). (4) Die bezeugten Monographien, in denen explizit Plagiatsvorwürfe gegen Dichter erhoben werden - also die Schrift des Perellius Faustus über Vergils furta und die beiden griechischen Werke des Latinos und des Philostratos -, lassen sich alle relativ genau in die augusteische bzw. frühkaiserzeitliche Epoche datieren; sie sind demnach am besten in die Nachahmungsdebatten dieser Zeit einzuordnen. Die Ὁμοιότητες des Avitus wird man stattdessen besser mit dem älteren Typus der tendenzlosen Parallelensammlung verbinden. scheinlich, doch erlaubt diese Feststellung noch nicht den Schluss, dass es sich bei der Schrift, aus der das Fragment stammt, um eine Sammlung von κλοπαί gehandelt habe - solche Sammlungen wären, wie dargelegt, für diesen Zeitraum singulär, weshalb bei einer entsprechenden Charakterisierung der Schrift Vorsicht geboten ist. Stattdessen wird man besser bei der früheren Einschätzung bleiben, dass der Papyrus einer Parallelensammlung - vielleicht einer Gnomologie, vielleicht einer philologischen Sammlung nach Art des Aristophanes von Byzanz bzw. des Ammonios - entstammt, in der inhaltlich vergleichbare Dichterstellen zusammengestellt wurden (vgl. Barns [1951], S. 1). - Analoges gilt für die Homer-Archilochos-Parallelen im P. Hibeh 173, der etwa in dieselbe Zeit wie der Petrie-Papyrus zu datieren ist (Slings [1989], S. 6-8 argumentiert hier zwar wieder dafür, dass es sich um einen Plagiatsnachweis handelt, ohne dass er aber eine polemische Tendenz am Text nachweisen kann). 160 Zeugnisse bei Ziegler (1950), Sp. 1975, 17-1975, 4. <?page no="62"?> 62 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil 2.2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil im Kontext der zeitgenössischen imitatio-Debatte Asconius Pedianus berichtet in seiner Schrift gegen die obtrectatores , Vergil habe sich gegen den Vorwurf ( crimen ) des Homerplagiats mit dem Hinweis verteidigt, seine Ankläger müssten beim Versuch, es ihm gleichzutun, feststellen, dass es leichter sei, dem Herkules die Keule als Homer einen Vers zu stehlen. Den literarischen Aneignungsprozess beschreibt Vergil hier zwar mit einer Diebstahlsmetapher ( surripere ), er hebt aber zu seiner Verteidigung die mit einem solchen furtum verbundene (künstlerische) Anstrengung hervor. 161 Offensichtlich soll damit ausgedrückt werden, dass Vergils Verwendung von homerischen Einzelstellen 162 mit den Begriffen furtum bzw. κλοπή nicht adäquat umschrieben ist. Ob Vergil den Ausspruch tatsächlich so getan hat, ist eine Frage. Unabhängig davon aber ist es wichtig zu verstehen, wie die Anekdote als Argument gegen den Plagiatsvorwurf in der augusteischen bzw. frühkaiserzeitlichen Vergilkritik Plausibilität beanspruchen konnte. Werfen wir zur Beantwortung der letzteren Frage zunächst einen Blick auf einen Zeitgenossen Vergils: Wenn sich Horaz in epist. 1, 3, 15-20 nach seinem Dichterkollegen Albinovanus Celsus erkundigt, der sich ungeniert aus den Bücherschätzen der von Augustus gegründeten palatinischen Bibliothek bedient und seine dichterischen Machwerke wie die sprichwörtliche Krähe mit „fremden Federn“ schmückt, so spricht aus diesen Versen ein reflektiertes Bewusstsein über literarische Appropriation. 163 Horaz stellt dem Celsus seinen 161 Macrobius referiert die Anekdote in Sat. 5, 3, 16 und ergänzt sie um den Hinweis, dass Vergil „durch seine jeweils passende Übertragung“ ( opportune … transferendo ) den Eindruck zu erwecken verstehe, es handle sich bei den eingearbeiteten Homerversen um seine eigene Schöpfung; vgl. Sat. 5, 3, 16: quia cum tria haec ex aequo impossibilia putentur, vel Iovi fulmen vel Herculi clavam vel versum Homero subtrahere, quod etsi fieri possent, alium tamen nullum deceret vel fulmen praeter Iovem iacere, vel certare praeter Herculem robore, vel canere quod cecinit Homerus: hic opportune in opus suum quae prior vates dixerat transferendo fecit ut sua esse credantur ( opportune wird auch sonst als t. t. für die inhaltlich passende Verwendung eines Zitats bzw. fremden sprachlichen Guts verwendet; vgl. Quint. inst. 6, 3, 98: proverbia opportune aptata und Porph. Hor. carm. 3, 1, 2: ‘fauete linguis’ … quod oportune poeta hic intulit ). - Das Adynaton vom Diebstahl der Herkuleskeule ist in dieser ausführlicheren Fassung um zwei Gesichtspunkte erweitert: Zum einen wird als ein zusätzliches Analogon der Raub des Jupiterblitzes genannt, zum anderen wird betont, dass - auch wenn Homernachahmung grundsätzlich möglich wäre - es nur Vergil anstehe, das homerische Gut zu nutzen ( alium tamen nullum deceret … canere quod cecinit Homerus ). 162 Vergil spricht in beiden Versionen der Anekdote von entlehnten Einzelversen; vgl. VSD 46 ( quam Homero versum surripere ) und Sat. 5, 3, 16 (s. o.). 163 Hor. epist. 1, 3, 15-20 a ( Quid mihi Celsus agit? Monitus multumque monendus, | privatas ut quaeret opes et tangere vitet | scripta, Palatinus quaecumque recepit Apollo, | ne, si forte <?page no="63"?> 2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil 63 Briefadressaten Florus gegenüber, indem er seine rednerische oder dichterische Tätigkeit zwar ebenfalls mit der Metapher des Zusammensammelns bezeichnet - hier ins Bild der Biene gefasst, die ihren Honig aus verschiedenen Blüten zusammenmischt -, ihm aber als spezifische unterscheidende Qualität non … parvum | ingenium, non incultum zuspricht, das seinen Produkten den ersten Rang unter den Konkurrenten sichert. 164 Die natürliche Anlage und ihre Ausbildung sind demnach Voraussetzung für erfolgreiche imitatio - es findet sich aber keine Spur einer Abwertung der Nachahmung als solcher bei Horaz. Stattdessen erscheint der ständige Rekurs auf dichterische Vorbilder gewissermaßen als die Ausgangssituation des Dichtens: Den Unterschied macht das wie . 165 Im Bienengleichnis liegt ein entscheidender Hinweis auf das Kriterium, das die Qualität des Produkts bestimmt: So wie der gute Honig auf der gelungenen Mischung der Blütensäfte beruht, zeichnet sich das Dichtwerk, das Einflüsse aus verschiedenen Autoren aufnimmt, vor allem durch Einheitlichkeit und Integration der Einzelelemente aus. Entsprechend ist auch der Originalitätsanspruch, den Horaz in epist. 1, 19, 19-34 erhebt, zu verstehen: Er rechnet sich nicht zum servom pecus der Nachahmer, die sklavisch ihrem Vorbild in Form und Inhalt folgen. 166 Zwar orientiert er sich in seiner Epodendichtung in der metrischen Gestalt und dem Ethos an den archilochischen Jamben, doch weicht er inhaltlich von ihnen ab ( epist. 1, 19, 24-25: numeros animosque secutus | Archilochi, non res et agentia verba Lycamben ). Sappho und Alkaios geben ihm ein Muster an die Hand, wie man formal an ein Vorbild anschließen, hinsichtlich des Gegenstands aber eigene Wege gehen kann. Indem sich Horaz das alte Vorbild auf diese Weise eigenständig aneignet, kann er sich als „Archegeten“ der jambischen Gattung in Rom bezeichnen. An anderer Stelle wertet es Horaz sogar als Fehler, wenn man sich immer streng an sein Vorbild hält und wortwörtlich der Maßgabe griechischer Vorbilder, nicht aber dem eigenen ingenium folgt. 167 Die schöpferische Potenz realisiert sich also nicht vornehmlich in der Erfindung neuer Inhalte, sondern in der gekonnten Anverwandlung alter Muster. suas repetitum venerit olim | grex avium plumas, moveat cornicula risum | furtivis nudata coloribus. … ). 164 Hor. epist. 1, 3, 20 b -25 ( … Ipse quid audes? | Quae circumvolitas agilis thyma? Non tibi parvom | ingenium, non incultum est et turpiter hirtum; | seu linguam causis acuis seu civica iura | respondere paras seu condis amabile carmen, | prima feres hederae victricis praemia. ). 165 Vgl. auch das bekannte praeceptum der Ars poetica , wonach keine stoffliche Innovation vom Dichter verlangt wird und ihm sogar die Anlehnung an ein kanonisches Muster empfohlen wird (Hor. ars 119-120 a und 128-130). 166 Zu diesem Gedicht vgl. Reiff (1959), S. 58-69. 167 Hor. ars 133-135 ( nec verbo verbum curabis reddere fidus | interpres nec desilies imitator in artum, | unde pedem proferre pudor vetet aut operis lex ). Vgl. dazu Brink (1971), S. 208-212. <?page no="64"?> 64 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil Dass man einen ähnlichen Grundsatz, wie ihn Horaz hier für die Dichtung formuliert, auch in der Rhetorik vertrat, zeigt der Verfasser der ps.-dionysischen Rhetorik : μίμησις γὰρ οὐ χρῆσίς ἐστι τῶν διανοημάτων, ἀλλ’ ἡ ὁμοία τῶν παλαιῶν ἔντεχνος μεταχείρισις. καὶ μιμεῖται τὸν Δημοσθένην οὐχ ὁ τὸ <Δημοσθένους λέγων ἀλλ’ ὁ> Δημοσθενικῶς, καὶ τὸν Πλάτωνα ὁμοίως καὶ τὸν Ὅμηρον. 168 Hier ist die horazische Lehre zur bündigen Schulformel geronnen: Nicht die wörtliche Anleihe an Demosthenes, Platon oder Homer sichern die Qualität der μίμησις, sondern die sprachliche Gestaltung im Geist der genannten Autoren. Besonderes Gewicht liegt auf der Forderung, dass es sich um einen regelgeleiteten Rückgriff auf die kanonischen Autoren handeln muss (ἔντεχνος μεταχείρισις). 169 Auch Dionysios von Halikarnassos 170 weist der τέχνη einen wichtigen Stellenwert zu, wenn er im Dinarchus die μίμησις in zwei Typen untergliedert: ὡς δὲ καθόλου εἰπεῖν, δύο τρόπους τῆς διαφορᾶς ὡς πρὸς τὰ ἀρχαῖα μιμήσεως εὕροι τις ἄν· ὧν ὃ μὲν φυσικός τέ ἐστι καὶ ἐκ πολλῆς κατηχήσεως καὶ συντροφίας λαμβανόμενος, ὃ δὲ τούτῳ προσεχὴς ἐκ τῶν τῆς τέχνης παραγγελμάτων. περὶ μὲν οὖν τοῦ προτέρου τί ἄν τις καὶ λέγοι; περὶ δὲ τοῦ δευτέρου τί ἂν ἔχοι τις εἰπεῖν <ἢ> ὅτι πᾶσι μὲν τοῖς ἀρχετύποις αὐτοφυής τις ἐπιπρέπει χάρις καὶ ὥρα, τοῖς δ’ ἀπὸ τούτων κατεσκευασμένοις, κἂν ἐπ’ ἄκρον μιμήσεως ἔλθωσι, πρόσεστίν τι ὅμως τὸ ἐπιτετηδευμένον καὶ οὐκ ἐκ φύσεως ὑπάρχον. ( Din. 7 = V.1 307, 8-17 Usener-Radermacher) („Man wird wohl zwei Arten der Nachahmung hinsichtlich der alten Muster finden: Die eine ist natürlich und wird erworben durch viel mündlichen Unterricht und gemeinsame Erziehung, die andere ist dieser ähnlich, fußt aber auf technischen Lehrsätzen. Was soll man über die erste schon sagen? Was aber die zweite betrifft, was muss man da sagen, außer, dass aus den originalen Mustern wie von selbst eine gewisse Anmut und Schönheit ausgeht, wohingegen bei den nach ihnen gefertigten Kopien, auch wenn sie den Gipfel der Nachahmungskunst erreicht haben, immer Reste von Fleißarbeit und Unnatürlichkeit bleiben.“) Dionysios differenziert am Beispiel des Redners Dinarchos zwei Formen der Nachahmung. Die eine, umstandslos positiv bewertete, war nur zu einer Zeit erreichbar, als man noch in unmittelbaren persönlichen Kontakt zu den bewunderten Vorbildautoren treten konnte. Bei Dinarchos war das in der ersten Le- 168 Ps.-Dion. Hal. ars 10, 19 = VI 373, 16-20 Usener-Radermacher („Die Nachahmung aber ist nicht einfach der Rückgriff auf bereits Gedachtes, sondern eine ähnliche, kunstvolle Verwendung der alten Autoren. Und nicht der imitiert Demosthenes, der einen Ausspruch von ihm zitiert, sondern der in der Art des Demosthenes spricht. Das gleiche gilt für Platon und Homer.“). 169 Das verbindet die Stelle mit der Definition der imitatio in Rhet. Her. 1, 3 ( imitatio est, qua impellimur cum diligenti ratione, ut aliquorum similes in dicendo valeamus esse ). 170 Vgl. zur Mimesiskonzeption des Dionysios generell Flashar (1979), bes. S. 87-88, Hidber (1996), S. 56-75 und Wiater, (2011), S. 77-92. <?page no="65"?> 2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil 65 benshälfte vor dem Tod Alexanders im Jahr 323 v. Chr. gegeben. In der zweiten Phase seines Lebens, als die klassischen Muster aus Athen vertrieben oder tot waren, musste sich Dinarchos an die rhetorischen Handbücher halten, ohne die Qualität seiner früheren Produkte jemals wieder zu erreichen. 171 Regelgeleitete, technische Mimesis ist für Dionysios demnach die Methode, die zeitliche Distanz zu der als klassisch anerkannten Musterepoche des 5. / 4. Jhdt. zu überbrücken. Zwar werden die Produkte ihre Musterautoren niemals ganz erreichen, doch ist so zumindest die maximal mögliche Annäherung zu erhoffen. Der besondere Stellenwert dieser Definition ergibt sich, wenn man den Mimesisbegriff mit der Geschichtskonzeption des Dionysios verbindet. Das klassizistische Programm des Dionysios ist nicht in erster Linie als ein rein literarisches oder ästhetisches Konzept zu verstehen, sondern erhebt einen weitreichenden soziokulturellen Anspruch. Grundlage seines Programms ist eine triadische Geschichtsauffassung, derzufolge die Blütezeit der attischen Beredsamkeit mit Alexanders Tod untergegangen ist und nun - im klassizistischen Rückgriff auf diese ideale Urzeit und in konsequenter Ablehnung der dazwischenliegenden Verfallsepoche - wiederbelebt werden soll. 172 Klassischer attischer Stil , so besonders deutlich in der Isokratesschrift ausgesprochen, geht Hand in Hand mit klassischer attischer Identität . Der Redner bzw. sein Stil und der Mensch bzw. seine Einstellungen und Haltungen sind in Dionysios’ Konzeption nicht zu trennen. An dieser Stelle kommt das Konzept der Mimesis als Nachahmung der klassischen Muster ins Spiel: Dionysios sieht in ihr mehr als ein rein technisches Verfahren der Redegestaltung, sondern ein Mittel, wie der Redner in einer existentiellen Grenzüberschreitung über die Epochengrenzen hinweg gleichsam zu einem Menschen des 4. Jhdt. wird und seine Rede tatsächlich zu einem πολιτικὸς λόγος machen kann. 173 Dionysios fasst seine Anschauungen über die Nachahmung am Beginn des zweiten Buches der verlorenen Schrift De imitatione mit zwei Anekdoten ins Bild. 174 Beide geben einen Eindruck davon, wie man sich den Vorgang der Mimesis psychologisch konkret vorzustellen hat. Die erste Erzählung vom hässlichen Bauern, der seine Frau während des Zeugungsaktes verschiedene schöne Bilder betrachten lässt, damit auch die später geborenen Kinder eine schöne Gestalt hätten, wird von Dionysios auf den Bereich der stilistischen Imitation übertragen: Ebenso wie die Bauersfrau die schönen Bilder, solle sich der 171 Vgl. Wiater (2011), S. 89-92. 172 Besonders pointiert ausgesprochen in der Vorrede zu De oratoribus veteribus ; vgl. Hidber (1996), S. 14-25. 173 Ausführlich dazu Wiater (2011), S. 65-77. 174 Die Fragmente der Schrift in V.2 195, 1-217, 23 Usener-Radermacher. <?page no="66"?> 66 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil Redner gelungene Beispiele aus den alten Musterautoren vor Augen halten. 175 Diese Vorbilder würden sich dann in seinem Geist wie Zuflüsse zu einem Strom vereinigen und zu einem einheitlichen Stil verbinden. 176 Die zweite Anekdote schließt unmittelbar an: In ähnlicher Weise sei es nämlich dem Maler Zeuxis gelungen, Helena, die schönste der Frauen, zu malen, indem er die Mädchen der Stadt Kroton betrachtet und jeweils die besten Einzelheiten ihrer Körper zu einem neuen Ganzen verbunden habe. Offensichtlich geht es Dionysios in beiden Fällen darum, die Bedeutung der genauen Beobachtung bzw. - auf den Redner übertragen - der Lektüre zu betonen. 177 Durch einen psychologischen Prozess der Aufmerksamkeitssteuerung werden die Merkmale der Vorlage vom Redner aufgenommen und in seiner Seele zu einem eigenen Produkt amalgamiert. Das wichtigste Qualitätsmerkmal dieses neuen Produkts ist die vollständige Integration der fremden Einflüsse zu einem einheitlichen Ganzen: Man darf der Rede nicht anmerken, dass sie auf heterogenen Einflüssen basiert. Dionysios prägt für diese Stilqualität der Rede den Begriff der ὁμοείδεια. Im Dinarchos wird ὁμοείδεια im Sinne der Einheitlichkeit des Stils sogar als Echtheitskriterium für die Reden klassischer Autoren wie Lysias gebraucht. 178 Dinarchos mangele dagegen dieser Vorzug, daher könne man seine Produkte (zumindest diejenigen aus seiner späteren Schaffensphase) von den gelungenen Mustern der klassischen Meister gut unterscheiden. 179 Die griffigen Vergleiche bei Dionysios boten geeignete Bilder, um auch den Begriff des Plagiats neu zu verhandeln. Das zeigt eine einschlägige Stelle bei Ps.-Longinus, die wohl direkt auf die bei Dionysios verwendete Analogie von Malerei und Dichtung rekurriert. Ps.-Longinus führt als einen Weg zum Erhabenen die Nachahmung der großen Dichter der Vergangenheit ein. 180 Insbesondere 175 Zu diesem Gleichnis eingehend Hunter (2009), S. 107-127 („The ugly peasant and the naked virgins: Dionysius of Halicarnassus, On Imitation “). 176 Zum Bild vgl. Bühler (1964), S. 96-97. 177 Vgl. Wiater (2011), S. 81. - Dass dieser Prozess der intimen Kenntnisnahme Mühe und Anstrengung kostet, hatte ja auch Horaz in ars 268-269 formuliert. 178 Vgl. Din. 6 = V.1 305, 7-8. Usener-Radermacher (αὐτὸς αὑτῷ ὁμολογούμενος). 179 Vgl. Din. 6 = V.1 305, 23-306, 5 Usener-Radermacher (ὁ δὲ Δείναρχος οὔτε ὅμοιος ἐν ἅπασίν ἐστιν οὔτ’ ἰδίου τινὸς εὑρετής, δι’οὗ γνώσεταί τις αὐτὸν ἀκριβῶς, ἢ τοῦτον τὸν τρόπον· πολὺ γὰρ ἐμφαίνει μιμήσεις τε καὶ αὐτῶν ὡς πρὸς τῶν λόγων τἀρχέτυπον διαφοράν, ὡς καὶ ἐπὶ τῶν Ἰσοκράτους μαθητῶν καὶ αὐτοῦ τοῦ Ἰσοκράτους [„Dinarchos aber ist weder in allen Stücken einheitlich noch der Erfinder eines individuellen Stils, an dem man ihn sicher erkennen könnte, es sei denn auf diese Weise: Er macht sehr deutlich, dass er nachahmt und sich von den Urbildern seiner Reden unterscheidet. Das war ja auch bei den Isokratesschülern und bei Isokrates selbst der Fall.“]). 180 Ps.-Long. de subl. 13, 2 (<ἡ> τῶν ἔμπροσθεν μεγάλων συγγραφέων καὶ ποιητῶν μίμησίς τε καὶ ζήλωσις [„Das Nachahmen und Nacheifern großer Schriftsteller und Dichter früherer Zeiten“ ÜS Brandt ]). <?page no="67"?> 2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil 67 Homer wird als Muster sowohl von Prosaautoren (Herodot, Platon) wie auch von Dichtern (Stesichoros, Archilochos) genannt. Am Beispiel Platons lässt sich diese Form der Abhängigkeit am besten studieren. Doch stellt sich gerade hier die Frage nach der Bewertung dieser literarischen Nähe: ἔστι δ̓ οὐ κλοπὴ τὸ πρᾶγμα, ἀλλ̓ ὡς ἀπὸ καλῶν εἰδῶν ἢ πλασμάτων ἢ δημιουργημάτων ἀποτύπωσις. καὶ οὐδ̓ ἂν ἐπακμάσαι μοι δοκεῖ τηλικαῦτά τινα τοῖς τῆς φιλοσοφίας δόγμασι, καὶ εἰς ποιητικὰς ὕλας πολλαχοῦ συνεμβῆναι καὶ φράσεις εἰ μὴ περὶ πρωτείων νὴ Δία παντὶ θυμῷ πρὸς Ὅμηρον, ὡς ἀνταγωνιστὴς νέος πρὸς ἤδη τεθαυμασμένον, ἴσως μὲν φιλονεικότερον καὶ οἱονεὶ διαδορατιζόμενος, οὐκ ἀνωφελῶς δ̓ ὅμως διηριστεύετο … (Ps.-Long. de subl. 13, 4) („Dabei handelt es sich nicht um Plagiat; es ist, wie wenn man schöne Gestalten in einer künstlerischen Plastik nachprägt. Und mir scheint, Platon hätte seine philosophische Lehre nicht zu solcher Blüte entfaltet und wäre nicht so häufig in die Vorstellung und Sprache der Dichtung gedrungen, hätte er nicht, beim Zeus, leidenschaftlich mit ihm um den Siegespreis gerungen - als noch junger Streiter gegen einen Rivalen, den bereits alle bewunderten. Vielleicht war er zu kampflustig und griff gleichsam zur Lanze, aber er kämpfte nicht ohne Gewinn um den Vorrang …“ ÜS nach Reinhard Brandt ) Mit dem Terminus ἀποτύπωσις greift Ps.-Longinus die Analogie von bildender Kunst und Rede, von der schon Dionysios bei seinem Zeuxisvergleich ausgegangen ist, auf. Doch ist hier am Beispiel des prototypischen Nachahmers Platon die Vorstellung zu einem anspruchsvollen Inspirationsmodell erweitert, das den psychologischen Prozess der künstlerischen Anregung mit der Begeisterung die Pythia durch die delphischen Dämpfe gleichsetzt. Ps.-Longinus erklärt den durch die Lektüre bewirkten ἐνθουσιασμός davon ausgehend in analoger Weise: οὕτως ἀπὸ τῆς τῶν ἀρχαίων μεγαλοφυΐας εἰς τὰς τῶν ζηλούντων ἐκείνους ψυχὰς ὡς ἀπὸ ἱερῶν στομίων ἀπόρροιαί τινες φέρονται. 181 Im Vergleich mit Dionysios wird deutlich, dass Ps.-Longinus das Nachahmungskonzept um den Aspekt des Wettkampfes mit dem Vorbild erweitert. Zwar differenziert auch Dionysios ζῆλος und μίμησις 182 , indem er mit dem ersten Begriff einen psychischen Vorgang meint, unter μίμησις aber eine Nachbildung auf der Basis genauer Beobachtung versteht, doch ist das Erreichen des Vorbilds oder gar ein Wettstreit im Sinne einer aemulatio seiner streng klassi- 181 „So entströmen wie aus heiliger Tiefe dem Genius der Alten Kräfte und dringen in die Seelen derer, die ihnen nachstreben.“ ( ÜS Brandt ) 182 Syrian. in Hermog. de formis 3, 16 Rabe = frg. 3 Usener-Radermacher (μίμησίς ἐστιν ἐνέργεια διὰ τῶν θεωρημάτων ἐκματτομένη τὸ παράδειγμα … ζῆλος δέ ἐστιν ἐνέργεια ψυχῆς πρὸς θαῦμα τοῦ δοκοῦντος εἶναι καλοῦ κινουμένη [„Nachahmung ist eine Tätigkeit, die durch Betrachtung ein Vorbild nachbildet … Nacheiferung aber ist eine Tätigkeit der Seele, die zur Bewunderung dessen, was schön erscheint, veranlasst wird“]). <?page no="68"?> 68 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil zistischen Konzeption nach eigentlich ausgeschlossen. 183 Schon Isokrates hatte eingeräumt, dass man über dieselben Themen sprechen dürfe, die schon frühere Autoren behandelt haben - wenn man es mit der Absicht tut, sie zu übertreffen! -, doch konnte er diese Aussage ohne die Voraussetzung des strengen Kanonbegriffs und des triadischen Geschichtsverständnisses, wie es für Dionysios Gültigkeit besitzt, tun. 184 Für Dionysios kann das Ziel der Nachahmung nur die maximal mögliche Annäherung an das Vorbild sein. Ps.-Longinus dagegen erweitert die Vorstellung zur selbstbewussten Auseinandersetzung - in seinem Beispiel Platons mit Homer. Der offen geforderte Anschluss an die besten Autoren der Vergangenheit ist ein Aspekt, der die Klassizisten - vielleicht weniger in der Dichtungsbzw. Redepraxis als auf theoretisch-programmatischer Ebene - von den poetologischen Stellungnahmen früherer hellenistischer Dichter abhebt. Dass sich daraus eine Bedeutungsverschiebung des Plagiatsbegriffs ergeben musste, ist nur folgerichtig: Wenn ein Autor gegen einen kanonischen Autor vor einem wie bei Ps.- Longinus imaginierten „Publikum aller Zeiten“ 185 antritt, so geht er davon aus, dass die Vorbilder identifiziert werden können - sonst hätte der Wettkampfgedanke keinen Sinn. Nachahmung ist darauf angelegt, als solche erkannt zu werden. Die Täuschungsabsicht, die mit den Begriffen furtum bzw. κλοπή sonst immer auch bezeichnet ist 186 , musste vor dem Hintergrund des emphatischen klassizistischen imitatio -Begriffs gerade in ihr Gegenteil verkehrt werden: Wer sich durch entsprechende Lektüretechniken und psychologische Annäherungsprozesse so sehr in die klassische Zeit hineinversetzt, dass er nicht mehr nur die Worte, sondern ganz in der Art etwa eines Demosthenes sprechen konnte, bei 183 Vgl. die oben zitierte Mimesistypologie aus Din. 7. Dass man ζῆλος und μίμησις nicht mit dem Begriffspaar aemulatio und imitatio gleichsetzen darf, hat Reiff (1959), S. 116-117 betont; vgl. auch Bühler (1964), S. 89 und → Kap. 1.2. 184 Vgl. Isokr. or. 4, 8 und Bühler (1964), S. 87. 185 Vgl. zu dem Gedanken, dass die gesamte Nachwelt als kritische Urteilsinstanz für die Nachahmung vorauszusetzen ist, Bühler (1964), S. 88. 186 Das betrifft vor allem die Plagiatsvorwürfe, die die Autoren der Alten Komödie gegen ihre zeitgenössischen Konkurrenten erhoben; vgl. das Material bei Ziegler (1950), Sp. 1969, 7-59. Für die römischen Komödienautoren war es eine Selbstverständlichkeit, dass sie griechische Vorbilder kopieren durften, problematisch erachtete man hingegen die Kontamination verschiedener griechischer Vorlagen (Ter. Andr. 5 ff. und Heaut. 16 ff.) und die Bearbeitung von Vorlagen, die schon einmal lateinisch wiedergegeben wurden ( Eun. 4 ff.). Böswillige Täuschungsabsicht war auch der Grund, weshalb man in der Philosophie, der Geschichtsschreibung und in anderen Gattungen wissenschaftlicher Prosa Plagiatsvorwürfe äußerte; vgl. zusammenfassend Ziegler (1950), Sp. 1970, 55-1976, 67. - Dass man einen entsprechenden Plagiatsbegriff mit Akzent auf der böswilligen Täuschungsabsicht gelegentlich auch im Umfeld der römischen Klassizisten gebraucht hat, zeigt das Beispiel des Caecilius von Caleacte ( frg. 164 Ofenloch: Caecilius bezichtigt Menander, ein ganzes Drama des Antiphanes kopiert zu haben). <?page no="69"?> 2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil 69 dem war im Idealfall kaum mehr zu entscheiden, ob es sich nun um authentischwörtliche oder gut erfundene stilistische Anleihen handelt. Der neue Akzent, den der Plagiatsbegriff bei den römischen Klassizisten erhält, liegt demnach darin, dass mit κλοπή oder furtum eine ästhetisch mangelhafte Verwendung fremden Guts bezeichnet werden kann, ohne dass damit aber eine Abwertung der literarischen Anleihe als solcher verbunden wäre. Nur durch intensive, mit Anstrengung und Methode erreichte Vertrautheit mit dem Modell lässt sich ein neues Werk als einheitliches Ganzes schaffen; ist diese enge Vertrautheit nicht gegeben, so wirken die entlehnten Versatzstücke auf den Leser wie die sprichwörtlichen gestohlenen Federn, die Horaz an Albinovanus Celsus tadelt. Die nötige Anstrengung kann wie bei Ps.-Longinus im Bild des Wettkampfes mit dem Vorbild oder wie bei Horaz in Analogie zum Fleiß der Bienen ausgedrückt werden, wobei im einen Fall das neue Selbstbewusstsein in der Auseinandersetzung mit den Alten zum Ausdruck kommt, im anderen die Neubewertung künstlerischer Originalität, die in der gelungenen Mischung verschiedener Vorbilder zu einem einheitlichen, neuen Ganzen besteht. Wendet man das bisher Ausgeführte auf die Vergilanekdote an, wie sie bei Sueton bzw. Asconius Pedianus und bei Macrobius überliefert ist, so ergibt sich ein stimmiges Bild: Wenn Vergil sagt, es sei leichter, Homer einen Vers als dem Herkules die Keule heimlich zu entreißen, so dass er - gemeint ist Homer bzw. Herkules, gedacht ist aber auch an den Leser - davon nichts merkt, so wertet er den Täuschungsvorwurf um, indem er auf die Schwierigkeiten hinweist, den „gestohlenen“ Vers so zu verwenden, dass er sich organisch ins Werk einfügt und seine Einheitlichkeit nicht stört. Man möge die Anleihe also in dem Sinne „nicht bemerken“, dass man keine Brüche und Uneinheitlichkeiten entdeckt - die künstlerische Leistung soll man aber wohl wahrnehmen und schätzen. Zum anderen betont der bei Macrobius (s. o.) überlieferte erklärende Nachsatz die persönlichen Qualitäten des Dichters, die für eine gelungene Nachahmung notwendig sind. Der Imitator (= Vergil) muss demnach vergleichbare Qualitäten wie der Autor des Vorbildtextes (= Homer) unter Beweis stellen, so wie der, der Jupiter den Blitz oder Herkules die Keule stiehlt, auch über die Kraft verfügen muss, Blitz und Keule einzusetzen. Zwar geht Vergil in der Anekdote nicht soweit, hinsichtlich seiner persönlichen Qualitäten im Sinne einer aemulatio Überlegenheit über Homer zu beanspruchen, doch lässt sich der Wettkampfaspekt aus der behaupteten qualitativen Äquivalenz mit dem kanonischen Vorbild immerhin ableiten. Die Plagiatsthematik war unter Augustus und Tiberius zu einem bestimmenden Diskurs der Literaturkritik geworden. Sie stellt gewissermaßen die Kehrseite der von den Klassizisten um Dionysios vorangetriebenen Theoretisierung der μίμησις bzw. imitatio dar. Damit war allerdings, wie Horaz und Ps.-Longinus <?page no="70"?> 70 2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil zeigen, eine Neuakzentuierung des Begriffs verbunden: Wenn man die imitatio explizit zum Programm der Dichter und Redner erhob, konnte man sprachliche Übernahmen aus den mittlerweile kanonisch gewordenen Autoren kaum mehr nach Art der frühen Komödiendichter als Verstoß gegen ein wie auch immer aufgefasstes Urheberrecht betrachten. Stattdessen war die imitatio dann schlecht realisiert, wenn man sich wie Albinovanus Celsus zwar aus Ruhmsucht der alten Dichter bediente, dem entlehnten Material künstlerisch aber nicht Herr werden konnte. Wer ungeschickt entlehnte, machte sich des Diebstahls schuldig - die geglückte Verwendung des übernommenen Gutes sicherte dem Imitator auch das Besitzrecht. 187 Dieser theoretisch fundierte Anspruch scheint sich auch in der philologischen Literatur über loci similes niedergeschlagen zu haben, die - wie gezeigt - die schon immer geübte Praxis literarischer Bezugnahmen gerade jetzt nicht mehr nur in Form tendenzloser Parallelensammlungen, sondern unter dem Kampfbegriff des Plagiats reflektieren. Auch wenn wir über diese Werke wenig mehr als das, was ihre Titel preisgeben, aussagen können, so spricht aus ihnen doch ein chronologisch auf die Prinzipatsbzw. frühe Kaiserzeit eingrenzbares gesteigertes Interesse an Fragen der gelungenen Nachahmung, dessen Ursprung bei den römischen Klassizisten um Dionysios von Halikarnassos recht wahrscheinlich ist. 188 Vergils Werk wäre demnach im Laufe der ersten Hälfte des 1. Jhdt. n. Chr. zu einem wichtigen Gegenstand für die Theoretiker der μίμησις bzw. imitatio avanciert. Seine Leistung wurde anfangs kontrovers beurteilt; spätestens in der Mitte des Jahrhunderts war sein Ruf als Homernachahmer aber soweit gefestigt, dass Plinius schon auf die Vergiliana virtus als Schlagwort für den siegreichen Wettstreit mit einem Vorbildautor in der Vorrede zur Naturalis historia Bezug nehmen konnte. 189 187 Vgl. Sat. 5, 3, 16 ( ut sua esse credantur ). 188 Vgl. auch Vitr. 7 praef. 3-10, Manil. 2, 57-59 sowie die im nächsten Kapitel besprochenen Zeugnisse zu Seneca d. Ä. - Suet. gramm. 15, 2 referiert eine aufschlussreiche Anekdote über den Fall eines stilistischen Plagiatsvorwurfes, der genau in den beschriebenen Zusammenhang passt: Lenaeus, Magni Pompei libertus … tanto amore erga patroni memoriam extitit, ut Sallustium historicum, quod eum oris probi, animo inverecundo scripsisset, acerbissima satyra laceraverit … <eum appellans> priscorum Catonis[que] verborum ineruditissimum furem . 189 Vgl. Plin. nat. praef. 22 ( scito enim conferentem auctores me deprehendisse a iuratissimis ex proximis veteres transcriptos ad verbum neque nominatos, non illa Vergiliana virtute, ut certarent, non Tulliana simplicitate, qui de re publica Platonis se comitem profitetur, in consolatione filiae Crantorem, inquit, sequor, item Panaetium de officiis, quae volumina ediscenda, non modo in manibus cotidie habenda, nosti ). <?page no="71"?> 2.3 Zusammenfassung 71 2.3 Zusammenfassung Der von Sueton wohl aus der Verteidigungsschrift des Asconius Pedianus übernommene Katalog von Vergil kritikern erweist sich in beinahe allen Stücken als eine nach Sparten geordnete Adaption der entsprechenden Phänomene aus der Homer rezeption: Parodien wie die des Numitorius konnten dabei mit Bezug auf die rhapsodischen Epenparodien als ein Analogon nicht nur zum parodistischen Umgang mit Literatur bei den Griechen überhaupt, sondern im Besonderen mit den Epen Homers interpretiert werden. Auch die Aeneidomastix des Carvilius Pictor besetzt mit ihren - wahrscheinlich auch methodischen - Bezügen ein Kritikfeld, das über den prototypischen Kritiker Zoilos von Amphipolis speziell mit Homer verbunden ist, wofür nicht nur der Titel dieser Schrift, sondern auch eine auf Carvilius anspielende Stelle bei Ovid zeugt. Ähnliches gilt für die wohl sprachkritische Schrift des Herennius, die methodisch zwar enger an ihre Entstehungszeit gebunden gewesen sein dürfte, für die sich aber ebenfalls Entsprechungen in der Homerkritik finden. (→ Kap. 2.1) Anders ist die Situation bei den Plagiatsvorwürfen, wie sie die Sammlung des Perellius Faustus ( furta ) enthielt. Die überlieferten Zeugnisse lassen erkennen, dass monographische Abhandlungen, in denen literarische Übernahmen oder Anleihen durch Dichter als Plagiate angegriffen wurden, erst etwa seit augusteischer Zeit entstanden. Zuvor verzeichnete man entsprechende sprachliche oder inhaltliche Parallelen, ohne einen polemischen Vorwurf damit zu verbinden. Die zwei bei Sueton genannten Titel - die furta des Perellius Faustus und die Ὁμοιότητες des Avitus - repräsentierten wohl beide Typen von Schriften. (→ Kap. 2.2.1) Dass die systematischen Plagiatsvorwürfe gegen Dichter ein relativ spätes Phänomen sind, ist nicht nur aufgrund der überlieferten Titel anzunehmen, sondern erklärt sich auch aus der aktuellen literaturkritischen Diskussion. Schon Vergil selbst sah sich Plagiatsvorwürfen ausgesetzt. Das Bild vom Diebstahl der Keule des Herkules, das er angeblich zu seiner Verteidigung bemüht hat, lässt sich, was die zum Ausdruck gebrachte Bewertung von imitatio betrifft, in die Nähe des etwa zeitgleich von Dionysios von Halikarnassos formulierten Programms der sog. „römischen Klassizisten“ rücken. Der Plagiatsvorwurf und seine Entkräftung - wie sie etwa in der Schrift des Asconius Pedianus, aber auch schon in der Replik Vergils unternommen wurde - sind demnach zwei komplementäre Beiträge in einer Diskussion, die letztlich auf eine programmatische Aufwertung der Nachahmung hinauslief. Vergil steigt - so zeigt die spätere Rede von der imitatio als Vergiliana virtus - im Zuge dieser Diskussion geradezu zum Muster für die gelungene künstlerische Auseinandersetzung mit einem anerkannten Vorbild auf. (→ Kap. 2.2.2) <?page no="72"?> 72 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae 3.1 Klassizistische imitatio-Konzeption und Plagiatsbegriff bei Seneca d. Ä. Die kanonische Stellung Vergils war durch die frühen Plagiatsschriften nicht ernsthaft in Frage gestellt worden. Vielmehr war der Dichter der Aeneis schon vor oder bald nach seinem Tode als ein lohnenswertes Studienobjekt zum Gegenstand stilkritischer Debatten geworden, die auch im Bereich des professionellen Rhetorikunterrichts geführt wurden. Dabei dürfte es gerade seine selbstbewusste imitatio Homers gewesen sein, die das Interesse der Rhetoriklehrer auf ihn lenkte: Vergil hatte ja gewissermaßen das Problem literarischer Nachahmung selbst zum Thema gemacht, indem er mit seiner Aeneis an das in Rom seit den Neoterikern traditionelle Tabu einer offenen Homernachfolge gerührt hatte. Wer fortan in Rom über imitatio nachdachte, konnte an Vergil kaum mehr vorbei. Der Rhetorik war es spätestens seit Isokrates ebenfalls grundsätzlich um die Problematik der Nachahmung zu tun, gründete sie ihr Ausbildungskonzept doch neben anderen Prinzipien auch auf dasjenige der μίμησις bzw. imitatio , der Nachahmung anerkannter Musterautoren zum Zweck der rednerischen Vervollkommnung. 190 Wie bereits skizziert, knüpften nicht nur die Klassizisten um Dionysios von Halikarnassos an diese isokrateische Vorgabe an; die Frage nach einer angemessenen Nachahmung der literarischen Hinterlassenschaft früherer „klassischer“ Zeiten - anerkannter Redner oder Musterautoren aus dem Bereich der Historiographie, Philosophie oder Dichtung - beschäftigte die Theoretiker der Rhetorik wie der Poetik seit augusteischer Zeit eminent. Wie unterschiedlich aber noch in der frühen Kaiserzeit die Perspektiven auf den Themenkomplex der Nachahmung ausfallen konnten, wie abhängig die konkrete Einschätzung einer literarischen Anleihe vom theoretischen Horizont des Rezipienten war, und welche Rolle Vergil in diesem Zusammenhang spielen konnte, lässt sich aus den stilkritischen Urteilen im Werk Senecas d. Ä. ersehen, 190 Der früheste der Belege, die imitatio mit ars und exercitatio als Voraussetzung der rednerischen Leistung zu einer Trias zusammenfassen, findet sich in der sog. Rhetorica ad Herennium ; vgl. Rhet. Her. 1, 3 ( Haec omnia < scil. officia oratoris > tribus rebus adsequi poterimus: arte, imitatione, exercitatione … imitatio est, qua inpellimur cum diligenti ratione ut aliquorum similes in dicendo valeamus esse ). <?page no="73"?> 3.1 Klassizistische imitatio -Konzeption und Plagiatsbegriff bei Seneca d. Ä. 73 der in seinen Oratorum et rhetorum sententiae, divisiones, colores 191 viele zentrale praktische Aspekte literarischer Kritik in der frühen Kaiserzeit berührt. Über die Absichten, die Seneca d. Ä. mit seiner wohl unter Caligula 192 zusammengestellten Schrift verfolgt, gibt er in der Vorrede zum ersten Buch der Kontroversiennachschriften Auskunft. Auf die Bitte seiner drei Söhne hin möchte er kritische Einschätzungen über die Vorträge derjenigen Deklamatoren geben, die er noch selbst als junger Mann in den Rhetorenschulen gehört hat. Um seine Ausführungen so anschaulich wie möglich zu machen, sollen zu diesem Zweck auch konkrete Beispiele aus den Übungsreden in Form von wörtlichen Zitaten beigebracht werden. 193 Der Nutzen, den sich seine Söhne vom Studium der so entstandenen Sammlung erhoffen können, ist ein zweifacher. Die Beschäftigung mit den berühmten Rednern der Vergangenheit bewirkt nicht nur, wie im zweiten Teil des Abschnitts zum Ausdruck gebracht, historische Einsicht in die negative Entwicklung der Redekunst, der Seneca eine Verfallstendenz im Sinne des Dekadenzmodells 194 unterstellt, sondern sie hat, gewissermaßen als positiven Ertrag, eine quantitative Ausweitung der potentiellen Vorbildautoren für den angehenden Redner zur Folge: Facitis autem, iuvenes mei, rem necessariam et utilem, quod non contenti exemplis saeculi vestri priores quoque vultis cognoscere; primum quia, quo plura exempla inspecta sunt, plus in eloquentiam proficitur. non est unus, quamvis praecipuus sit, imitandus, quia numquam par fit imitator auctori. haec rei natura est: semper citra veritatem est similitudo. deinde, ut possitis aestimare, in quantum cotidie ingenia decrescant et nescio qua iniquitate naturae eloquentia se retro tulerit. quidquid Romana facundia habet, quod insolenti Graeciae aut opponat aut praeferat, circa Ciceronem ef- 191 So der Titel in der modernen Forschung; vgl. die Subskription der Suasorienhandschriften B und V und Feddern (2013), S. 36. 192 Die Datierung ergibt sich aus einer Reihe von zeitgeschichtlichen Anspielungen; vgl. zusammenfassend Fairweather (1981), S. 15. Seneca d. Ä., der vor 41 n. Chr. starb, war zur Zeit der Abfassung wohl bereits über achtzig Jahre alt. 193 Sen. contr. 1 praef. 1. 194 Vgl. Heldmann (1982), S. 88-97, der betont, dass es sich hier nicht um eine umfassende kulturhistorische Theorie handelt, sondern dass das Verfallsmotiv aus dem Begründungszusammenhang der praefatio zu verstehen ist. - Vgl. auch die präzise Gliederung der Argumentation auf S. 88: „Zunächst die Behauptung selbst, im Bild eines ständigen Abnehmens der Begabungen durch eine iniquitas naturae ; damit verknüpft die Datierung der Wende auf die Zeit Ciceros; dann die drei denkbaren Ursachen des Verfalls; schließlich, ganz neu einsetzend …, eine eigene Darstellung des Zusammenhangs durch Seneca: das Nachlassen der ingenia sei unzweifelhaft dadurch bedingt, dass die jungen Adepten der Beredsamkeit neuerdings keinerlei moralischen Halt mehr hätten.“ - Heldmann stellt auf S. 89 Anm. 147 eine Ähnlichkeit mit dem doppelten Begründungsmuster („drei konventionelle … Topoi“ vor der „persönliche<n> Auffassung des Verfassers“) bei Dionysios von Halikarnassos fest. <?page no="74"?> 74 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae floruit; omnia ingenia, quae lucem studiis nostris attulerunt, tunc nata sunt. in deterius deinde cotidie data res est … (Sen. contr. 1 praef. 6-7) 195 Bei Dionysios von Halikarnassos war diese quantitative Ausweitung an Vorbildautoren für die Epigonen nachklassischer Zeit die Bedingung der Möglichkeit literarischen Wettstreits mit der Vergangenheit gewesen. Auch für Seneca d. Ä. gilt es gleich einem Naturgesetz, dass der nur ein Vorbild Nachahmende dieses Vorbild nicht übertreffen kann: haec rei natura est: semper citra veritatem est similitudo . 196 Je mehr Vorbildautoren er aber imitiert, umso sicherer kann der rednerischen Anstrengung Erfolg prognostiziert werden: quo plura exempla inspecta sunt, plus in eloquentiam proficitur . Auch wenn sich Seneca d. Ä. verhaltener als Dionysios äußert, spricht aus diesen Worten doch ein grundsätzlicher Optimismus: Dem gegenwärtigen Missstand wäre eigentlich abzuhelfen. Doch ist für Seneca d. Ä. nicht nur der Mangel an geeigneten zeitgenössischen Vorbildern verantwortlich für den Verfall, auch die Unfähigkeit zur Nachahmung seitens der jungen Redner ist ein Grund für den Abstieg. Statt sich ihre Vorbilder kreativ anzueignen, flüchte sich die jüngere Generation in plumpe Plagiate, weil sie nicht mehr über die notwendige geistige Disposition - hier mit dem von Cato d. Ä. repräsentierten Ideal der Einheit von rednerischer und moralischer Integrität bezeichnet - verfügt. Plagiate gelten demnach als Krisensymptome einer Zeit, die die ihr innewohnende rednerische Kraft nicht mehr aktualisieren kann: ite nunc et in istis vulsis atque epolitis et nusquam nisi in libidine viris quaerite oratores. merito talia habent exempla qualia ingenia. quis est qui memoriae studeat? quis est qui non dico magnis viribus sed suis placeat? sententias a disertissimis viris factas facile in tanta hominum desidia pro suis dicunt et sic sacerrimam eloquentiam, quam praestare non possunt, violare non desinunt. (Sen. contr. 1 praef. 10) Wie schon bei Dionysios von Halikarnassos begegnen wir bei Seneca d. Ä. in den wenigen Paragraphen der ersten praefatio einem auffälligen Nebeneinander von „modernem“ imitatio -Begriff und „traditionellem“ Plagiatsvorwurf. Wo ordnen sich die Stellungnahmen Senecas d. Ä. demnach in der zeitgenössischen Diskussion über die Nachahmung ein? So wie Seneca d. Ä. in contr. 1 praef. 6-7 das Thema behandelt, schließt seine Konzeption gelungener Nachahmung an die Forderungen an, wie sie von Autoren wie Dionysios von Halikarnassos formuliert worden waren: Die pessimistische Einschätzung über die Grenzen der imitatio einzelner ausgewählter Musterautoren in contr. 1 praef. 6 mündet in dieselbe Forderung nach einer Kombination der Vorbilder, wie sie 195 Dazu Berti (2007), S. 22-23. 196 Derselbe Gedanke später auch bei Quint. inst. 10, 2, 11 und 24-26. <?page no="75"?> bei Horaz mit der Biene, die ihren Honig aus zahlreichen Blüten sammelt, und bei Dionysios mit den Gleichnissen von der Bauersfrau und von Zeuxis ins Bild gebracht worden war, wo auch jeweils eine größere Zahl schöner Gegenstände der Betrachtung die Schönheit des natürlichen bzw. künstlerischen Produkts gewährleistet. 197 Wer hingegen wie die modernen Deklamatoren aus dem Vorgegebenen nichts Neues zu schaffen weiß, übernimmt nur wörtliche Zitate und macht sich auf diese Weise des Plagiats schuldig. Plagiate werden aber nach Seneca d. Ä. auch von Seiten des Publikums begünstigt, weil sich infolge des konstatierten Verfalls der Redekunst niemand mehr um die Ausbildung seines Gedächtnisses ( memoria ) kümmere und man mithin allgemein die Fähigkeit verloren habe, unlautere Übernahmen auch nur zu erkennen. 198 Seneca verknüpft also Plagiats- und Dekadenzgedanken in doppelter Weise, nämlich sowohl auf der Ebene des Produzenten wie auf der Ebene des Rezipienten: Die hohe rhetorisch-literarische Bildung des Publikums zu Zeiten Ciceros war ein natürlicher Schutz gegen literarischen Diebstahl gewesen, weil man sich furta vor einer so gut informierten Zuhörerschaft nicht hätte erlauben können. Das Aufkommen der Plagiate in jüngerer Zeit wird als Symptom einer moralischen und rhetorischen Verkommenheit gewertet, die nicht nur den Plagiator kennzeichnet, sondern auch im Publikum bzw. der Gesellschaft vorliegt, dessen kritisches Vermögen so weit reduziert ist, dass es sich von Plagiatoren täuschen lässt. In suas. 2, 19 wird dieser Verfallsprozess auf Seiten des Publikums im Zusammenhang mit einem Plagiatsvorwurf gegen Abronius Silo dargestellt, der eine Sentenz seines Lehrers Latro ( si nihil aliud, erimus certe belli mora ) übernommen hatte: 199 postea memini auditorem Latronis Abronium Silonem … recitare carmen, in quo agnovimus sensum Latronis in his versibus: ‘ite agite, <o> Danai, magnum paeana canentes, | ite triumphantes: belli mora concidit Hector.’ tam diligentes tunc auditores erant, ne dicam tam maligni, ut una syllaba surripi non posset; at nunc quilibet orationes in Verrem tuto dicet pro suo. ( suas. 2, 19) Früher hätte man keine Silbe unbemerkt entwenden können, während das Publikum zur Entstehungszeit der Sammlung es nicht einmal registrieren würde, wenn ein moderner Redner einen Klassiker wie Ciceros Verrinen als sein Werk ausgäbe. 197 Vgl. oben → Kap. 2.2.2. 198 In diesen Zusammenhang sind auch die Ausführungen Senecas d. Ä. über die phänomenale Kapazität seines Gedächtnisses einzuordnen, das als ein Gegenbeispiel aus der „guten alten Zeit“ vorgeführt wird ( contr. 1 praef. 2-4). 199 Vgl. zum Folgenden auch McGill (2005), pass. , McGill (2010), pass. , McGill (2012), S. 167-177 und Feddern (2013), S. 293-299. 3.1 Klassizistische imitatio -Konzeption und Plagiatsbegriff bei Seneca d. Ä. 75 <?page no="76"?> Andererseits finden sich aber auch Stellen, an denen Plagiatsvorwürfe vom Publikum gegen einen Deklamator erhoben, von Seneca d. Ä. oder einem der beteiligten Sprecher hingegen nachdrücklich als ästhetisch unbegründete Wertungen zurückgewiesen werden. In suas. 3, 7 berichtet Gallio davon, dass Ovid in seiner Medea einen berühmten Ausdruck Vergils ( plena deo ) 200 verwendet habe, der zuvor schon seine Runde in den Rhetorenschulen gemacht hatte und sich großer Beliebtheit erfreute. 201 Gallio muss explizit klarstellen, dass Ovid hier wie auch sonst bei seinen zahlreichen Vergilanleihen ( quod in multis aliis versibus Vergilii fecerat ) nicht unlauter als Plagiator gehandelt habe ( non subripiendi causa ), sondern dass er mit der Möglichkeit der Entdeckung nicht nur gerechnet, sondern eine solche sogar gewünscht habe ( sed palam mutuandi, hoc animo ut vellet agnosci ). Ähnlich ist demnach auch der Hinweis auf Vergils Bearbeitung der zitierten Sentenz Silos in suas. 2, 20 zu deuten (s. o.). Statt wie Silo den Ausdruck belli mora aus Latro wörtlich zu übernehmen, wandelt ihn Vergil in der Rede, in der er den Unterhändler Venulus im elften Buch der Aeneis vor Latinus die Antwort des Diomedes wörtlich referieren lässt, in manu … | haesit um: sed ut sciatis sensum bene dictum dici tamen posse melius, non †prae ceteris† quanto decentius Vergilius dixerit hoc, quod valde erat celebre, ‘belli mora concidit Hector’: ‘quidquid ad adversae cessatum est moenia Troiae, | Hectoris Aeneaeque manu victoria Graium | haesit.’ < Aen. 11, 288-290> Der Gedanke, dass der siegreiche Ausgang des Krieges für die Griechen durch die Hand des Hektor und Aeneas verzögert wird, entspricht inhaltlich dem abstrakteren Ausdruck belli mora . Hervorzuheben ist, dass Seneca d. Ä. an Silos belli mora concidit Hector nicht wirklich etwas aussetzt: Der Ausdruck fügt sich rhetorisch wirkungsvoll in Silos Verse ein und wird kurz darauf auch als „wohlformulierte Sentenz“ ( sensum bene dictum ) bezeichnet. Nur die Tatsache, dass es sich um ein wörtliches Zitat handelt, wird von den Zuhörern erkannt ( agnovimus ): Silo setzt sich auf diese Weise dem Plagiatsvorwurf aus - den sich Seneca d. Ä. freilich nicht zu eigen macht! - und schmälert damit seine Leistung. Vergil wird als Beleg angeführt, dass man eine gelungene Vorbildstelle auch unter Vermeidung wörtlicher Übernahme in sein Werk integrieren kann, nämlich indem man den Ausdruck noch optimiert ( sensum bene dictum dici tamen posse melius ). 202 Die Verbesserung ist darin zu sehen, dass Vergil die Drastik des Abs- 200 Die Formulierung ist in den erhaltenen Werken Vergils nicht überliefert. 201 Die Stelle wurde wiederholt in der Forschung behandelt; eine kritische Diskussion der bisher vorgebrachten Stimmen findet sich - mit weiterführenden Literaturhinweisen - bei Feddern (2013), S. 307-311 und 327-338. 202 Vergil scheute aber auch nicht vor einer wörtlicheren Adaption der Stelle zurück; vgl. Aen. 10, 428 ( pugnae mora ) mit Feddern (2013), S. 297. 76 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae <?page no="77"?> traktums belli mora durch den konkreten körperlichen Instrumentalausdruck manu … | haesit ersetzt und der Vorbildstelle so die Schärfe nimmt (vgl. quanto decentius Vergilius dixerit hoc ). Der Imitator ist also in zweierlei Hinsicht von seinem Publikum abhängig: Einerseits muss es literarisch hinreichend informiert sein, um das imitierte Muster erkennen zu können, andererseits muss es die Nachahmung als künstlerische Tätigkeit schätzen und nicht einfach als Plagiat abtun. Dass hier immer wieder Diskussions- und Klärungsbedarf bestand, zeigt contr. 9, 1, 12-14: 203 Arellius Fuscus hatte eine griechische Sentenz des Asianers Adaeus im Lateinischen nachgeahmt und dabei leicht verändert. Als ihm dies zum Vorwurf gemacht wurde, soll er entgegnet haben: do … operam, ut cum optimis sententiis certem, nec illas corrumpere conor sed vincere ( contr. 9, 1, 13). Nicht Geltungssucht oder die Bequemlichkeit des Plagiators haben ihn zur Übersetzung ( transtulisse … in Latinum ) veranlasst, sondern die rednerische Übung ( exercitatio ). 204 Dann verallgemeinert er: multa oratores, historici, poetae Romani a Graecis dicta non subripuerunt sed provocaverunt . 205 Arellius Fuscus zitiert zum Beweis seiner Ansichten eine Sentenz des Thukydides, die Sallust imitiert und dadurch übertroffen habe, dass er ihre spezifische stilistische Qualität - die brevitas - nachzuahmen und zu steigern versuchte ( in suis illum castris cecidit ). Der doppelte Vorwurf, der dann im Anschluss in contr. 9, 1, 14 von Livius gegen Sallust erhoben wird, besteht einerseits darin, dass er übersetzt, andererseits, dass er stilistisch verschlechtert hat. Aus dem erstgenannten Vorwurf lässt sich ersehen: Der Übersetzer, der seine Quellen nicht kenntlich macht, handelt für Livius verwerflich. Die Argumentation des Arellius, es handle sich eben nicht um Plagiat ( surripere ), sondern um künstlerischen Wettstreit, will Livius nicht gelten lassen. An einer weiteren Stelle wird deutlich, dass kleinere Korrekturen der Vorlage nicht hinreichen, um die Nachahmung gelingen zu lassen. In contr. 10, 5, 20 wird der Fall des Triarius berichtet, der eine griechische Sentenz des Glycon „stiehlt“ ( subriperet ), d. h. übersetzt, und dabei nur geringfügig ändert ( ex aliqua parte … inflexit ). 206 Severus Cassius habe dieses Vorgehen trotz der Änderung als Plagiat 203 Vgl. dazu McGill (2012), S. 146-158. 204 Eine gewisse Vorliebe für die wörtliche Übersetzung zeichnet sich bei Arellius Fuscus ab: In contr. 9, 6, 16 wird berichtet, dass Fuscus eine Sentenz des Asianers Hybreas wörtlich ins Lateinische übersetzt habe ( transtulit ad verbum quidem ). Auch in contr. 10, 4, 20 wird eine aus dem Griechischen übertragene Sentenz des Arellius Fuscus zitiert, mit dem ausdrücklichen Vermerk, dass es sich hierbei nicht um einen Diebstahl, sondern um Imitation handelt; vgl. hierzu McGill (2012), S. 159-160. - Zur translatio als rednerischer exercitatio vgl. die Hinweise bei McGill (2012), S. 154 Anm. 27. 205 Der Satz ist nur in einer Handschrift überliefert; vgl. zur Stellung nach conor sed vincere Castiglioni (1928), S. 112-113. 206 Vgl. zu dieser Stelle Berti (2007), S. 259 und McGill (2012), S. 151-152. 3.1 Klassizistische imitatio -Konzeption und Plagiatsbegriff bei Seneca d. Ä. 77 <?page no="78"?> bezeichnet, indem er die Deklamatoren, die so handelten, mit den Herstellern schlechter Vasenimitate verglich. 207 Künstlerische Nachahmung im Sinne der imitatio erfordert demnach nicht ein notdürftiges Kaschieren einzelner Spuren der Vorlage, sondern muss in einer wirklichen Verbesserung des Modells bestehen. Ein weiterer wichtiger Aspekt kommt in contr. 7 praef. 4 zum Tragen, wo Seneca d. Ä. vom Deklamator Albucius berichtet. Dieser Redner folgt zwar in gewisser Weise der Forderung nach der Wahl mehrerer Vorbilder (vgl. contr. 1 praef. 6), doch weist er Mängel im Bereich einer anderen Kategorie auf, nämlich beim rhetorischen iudicium . Albucius habe sich bei der Wahl seiner Vorbilder von allzu schnell gefassten Meinungen leiten lassen und schwankend im Urteil habe er einmal diesen, einmal jenen nachgeahmt: quem proxime dicentem commode audierat, imitari volebat. Das ging so weit, dass er sich sogar an Vorbilder anschloss, die jünger als er selber waren, wie etwa den Philosophen Fabianus. Als Grund macht Seneca d. Ä. also ein Defizit an Urteilsvermögen geltend ( inconstantia iudicii ), das bei Albucius zu der beanstandeten stilistischen Ungleichmäßigkeit führt. 208 Besonders aufschlussreich für das Imitationsverständnis Senecas d. Ä. ist schließlich der bereits erwähnte plena deo- Abschnitt suas. 3, 4-7. 209 Wieder wird hier Arellius Fuscus als Beispiel für eine umstrittene Art der Nachahmung präsentiert. Diesmal gibt Seneca d. Ä. erkennbar seine Ablehnung zu erkennen: Arellius hätte Verse aus Vergils Georgica nachahmen wollen, allerdings ohne dass die Wahl dieses Vorbilds durch die Thematik der Suasorie gerechtfertigt gewesen wäre ( valde autem longe petit et paene repugnante materia, certe non desiderante ). Vergil dagegen hätte seine Beschreibung - es geht um die Schilderung des Mondlichts in georg. 1, 427-429 und 432-433 - zugleich einfacher ( simplicius ) und geglückter ( beatius ) in den Gang seines Gedichts integriert. Ausschlaggebend waren für Arellius Fuscus demnach nicht die inhaltlichen Erfordernisse seines Gedichts, sondern ein anderer Grund, den Seneca d. Ä. direkt im Anschluss explizit macht - er wollte Maecenas mit seinen Vergilimitationen imponieren: solebat autem Fuscus ex Vergilio multa trahere, ut Maecenati imputaret . Hier wird Arellius Fuscus also eben jene commendatio unterstellt, die er im Zusammenhang mit dem Plagiatsvorwurf in contr. 9, 1, 13 noch abgestritten hatte. Als positives Gegenbeispiel wird ihm der Deklamator Gallio gegenübergestellt, der die vergilische Phrase plena deo zwar überaus häufig, 207 Vgl. contr. 10, 5, 20 ( hos aiebat Severus Cassius, qui hoc facerent, similes sibi videri furibus alienis poculis ansas mutantibus. multi sunt, qui detracto verbo aut mutato aut adiecto putent se alienas sententias lucri fecisse. ). 208 Vgl. contr. 7 praef. 3 ( inaequalitatem in illo mirari non libebat ). 209 Vgl. Feddern (2013), S. 326-338. 78 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae <?page no="79"?> 3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern 79 doch auch sehr geschmackvoll angewandt habe. Wie eigens vermerkt wird, habe Gallio die Phrase so verinnerlicht, dass er sie unwillkürlich und ohne es selbst zu merken in seine Rede einbaute ( hoc ipsi iam tam familiare erat, ut invito quoque excideret ), womit er ganz auf der Linie der von Dionysios geforderten Internalisierung der Vorbildautoren liegt. Seneca d. Ä. gibt keinen kompakten Kriterienkatalog, der Aufschluss darüber geben könnte, was er sich konkret unter gelungener imitatio vorstellt. Er argumentiert fallgebunden, lässt in den besprochenen Beispielen aber seine Nähe zum klassizistischen Nachahmungsbegriff erkennen, der u. a. auf der internalisierten Vertrautheit mit den Musterautoren, auf der Gabe zur Kombination von Vorbildern sowie auf einer Neigung zum Wettstreit mit dem Modell beruht. 210 Was die Frage nach Originalität und Plagiat betrifft, so hat man zurecht auf einen Widerspruch zwischen der dargestellten literarischen Öffentlichkeit und den eigenen Ansichten Senecas d. Ä. aufmerksam gemacht. 211 Wie sich den Publikumsreaktionen entnehmen lässt, war der ästhetische Eigenwert bewusster Rückgriffe auf anerkannte Muster in der augusteischen Periode und der frühen Kaiserzeit noch in der Diskussion begriffen und musste seitens der Deklamatoren als Anspruch oft genug noch explizit formuliert und durchgesetzt werden, um sich nicht dem Vorwurf des Plagiats auszusetzen. Demgegenüber vertritt Seneca ein moderneres, an der klassizistischen Ästhetik geschultes Nachahmungsverständnis und einen entsprechend engeren Plagiatsbegriff, der sich auf unlautere Übernahmen mit der Intention zur Verschleierung und dem Wunsch nach Steigerung des persönlichen Ruhms beschränkt. 3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern nach dem Kriterium der Glaubwürdigkeit 3.2.1 Ein Urteil des Maecenas und die Kategorie der sachlichen ὑπερβολή (suas. 1, 12) Seneca d. Ä. unterbricht zuweilen den Gang seiner Darstellung und fügt in Form von Exkursen ergänzende, thematisch zugehörige Anekdoten und kritische Einlassungen - mitunter aus dem Mund bekannter Persönlichkeiten - ein. 212 Zu dieser Gruppe von Stilurteilen gehört auch der folgende Abschnitt, der von einer Homermetaphrase des griechischen Deklamators Dorion handelt. Maecenas 210 Weitere Stellen, an denen Seneca d. Ä. literarische und rednerische Nachahmungen erwähnt bzw. bespricht, sind zusammengestellt bei Fairweather (1981), S. 297. 211 Vgl. McGill (2012), S. 170. 212 Vgl. die Beispiele bei Feddern (2013), S. 204. <?page no="80"?> vergleicht sie mit einer Stelle in der Aeneis , an der Vergil dieselben Homerverse imitiert, und kommt zu einem für Dorion ungünstigen Urteil. Der griechische Deklamator sei in den Stilfehler des „Schwulstes“ verfallen, wenn er Polyphem „einen Berg vom Berg abreißen“ und „eine in seiner Hand befindliche Insel <auf Odysseus> schleudern“ lässt: 213 corruptissimam rem omnium, quae umquam dictae sunt ex quo homines diserti insanire coeperunt, putabant Dorionis esse in metaphrasi dictam Homeri, cum excaecatus Cyclops saxum in mare deiecit: *** haec quomodo ex corruptis eo perveniant, ut et magna et tamen sana sint, aiebat Maecenas apud Vergilium intellegi posse. tumidum est ὄρους ὄρος ἀποσπᾶται. Vergilius quid ait? Rapit ‘haud partem exiguam montis.’ < Aen. 10, 128> ita magnitudini [scedat] studet, <ut> non imprudenter discedat a fide. est inflatum καὶ χειρία βάλλεται νῆσσος. Vergilius quid ait [qui] de navibus? ‘credas innare revolsas | Cycladas.’ < Aen. 8, 691 b -692 a > non dicit hoc fieri sed videri. propitiis auribus accipitur, quamvis incredibile sit, quod excusatur antequam dicitur. 214 Methodisch lässt sich das angewandte Verfahren etwa so beschreiben: Zwei Texte, die als Nachahmungen eines gemeinsamen Prätextes - hier nicht zitiert, sondern nur durch ein kurzes inhaltliches Resümee bestimmt - identifiziert worden sind, werden mit ihrer Vorlage verglichen. (Im konkreten Fall wird man zwischen den beiden Homerimitationen Dorions und Vergils trotz haec quomodo ex corruptis eo perveniant kein eigenes Abhängigkeitsverhältnis annehmen. 215 ) 213 Dass die hier zu behandelnde Metaphrase nicht Teil einer Deklamation des Dorion war, hat man erst in jüngerer Zeit gesehen; vgl. Feddern (2013), S. 202 und 204-205. - Zum Begriff: Bei der Metaphrase (auch als paraphrasis bezeichnet; vgl. Quint. inst. 10, 5, 4-8 und Lausberg [1990], §§ 1099-1103) handelt es sich um die Umsetzung eines Dichtertextes in Prosa zum Zweck der rednerischen Übung; sie wurde in der Regel im Rahmen der Progymnasmata ausgeführt. Fortunatianus empfieht die Metaphrase zur Erweiterung der copia verborum ; vgl. Fort. rhet. 3, 3 = 122, 17-19 Halm ( Quae igitur summa est exercitationis, id est quot partibus constat? quattuor. | Quibus? ut Graeca in Latinum convertas, ut difficilia scribas, ut μετάφρασιν facias, ut de tempore adsidue dicas ). 214 Sen. suas. 1, 12; vgl. Costanza (1990), pass. ; Berti (2007), S. 208-209; Feddern (2013), S. 202-209. Die Einschätzung des Maecenas wird als freies Referat präsentiert; es spricht also weiterhin Seneca d. Ä. - An der Feststellung, dass nach deiecit das wörtliche Zitat der griechischen Metaphrase ausgefallen ist, ist wegen des folgenden haec festzuhalten; vgl. zusammenfassend Feddern (2013), S. 202-203. 215 Also in dem Sinne, dass Vergil auf Dorion in der Art einer Kontrastimitation Bezug genommen hätte. - Eine nähere zeitliche Einordnung des Deklamators ist schwierig. Die Stellen, an denen er in der Sammlung Senecas d. Ä. erwähnt wird, erlauben keine sichere Antwort auf die Frage, ob ihn Seneca d. Ä. persönlich gehört hat oder ob er seine Informationen aus zweiter Hand bezogen hat. Jedenfalls muss, wenn es sich um ein tatsächliches Geschehen handelt, Dorion seine Metaphrase vor dem Todesjahr des Maecenas (8 v. Chr.) vorgetragen haben; die Angabe ex quo homines diserti insanire coeperunt führt zusammen mit contr. 1 praef. 6-7 nur vage in die Zeit nach dem Ende der rednerischen 80 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae <?page no="81"?> 3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern 81 Seneca d. Ä. bzw. Maecenas präsentiert mit Dorion 216 und Vergil zwei Homernachahmer, von denen der eine der beklagten rednerischen Verfallsperiode angehört ( ex quo homines diserti insanire coeperunt ), der andere hingegen die Kunst der Nachahmung in exemplarischer Weise repräsentiert. Dass es sich dabei um einen griechischen Deklamator und einen lateinischen Epiker handelt, wird nicht eigens problematisiert. Wie verhalten sich die Texte aber zu ihren jeweiligen Vorlagen? Die Zitate aus Dorions Paraphrase nehmen Bezug auf die homerische Kyklopenepisode ( Od. 9, 106-566), genauer auf den Schlussteil der Erzählung, wo der geblendete Polyphem dem zu Schiff fliehenden Odysseus einen Stein nachwirft, der vor dem Schiff im Wasser auftrifft und dieses durch die entstehende Welle zur Küste zurückwirft ( Od. 9, 481-486): 217 ὣς ἐφάμην, ὁ δ’ ἔπειτα χολώσατο κηρόθι μᾶλλον· | ἧκε δ’ ἀπορρήξας κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο, | κὰδ δ’ ἔβαλε προπάροιθε νεὸς κυανοπρῴροιο | [τυτθόν, ἐδεύησεν δ’ οἰήϊον ἄκρον ἱκέσθαι.] | ἐκλύσθη δὲ θάλασσα κατερχομένης ὑπὸ πέτρης· | τὴν δ’ ἂψ ἤπειρόνδε παλιρρόθιον φέρε κῦμα, | πλημυρὶς ἐκ πόντοιο, θέμωσε δὲ χέρσον ἱκέσθαι. 218 („So sprach ich. Doch der ergrimmte darauf noch mehr im Herzen, riss ab die Kuppe von einem großen Berge, schleuderte sie, und nieder schlug sie vorn vor dem Schiff mit dem dunklen Bug. Da wallte das Meer auf unter dem herniederfahrenden Felsen, und zurück zum Lande trug es die rückbrandende Woge, die Flutwelle aus dem Meer, und versetzte es, dass es an das trockene Land gelangte.“ ÜS Schadewaldt ) Seneca d. Ä. bzw. Maecenas erkennt - ohne dass der homerische Prätext zitiert wird - in der vergilischen Formulierung haud partem exiguam montis ( Aen. 10, 128 a ) eine Imitation von ἧκε δ’ ἀπορρήξας κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο ( Od. 9, 481). 219 Bei Vergil ist es der Lyrnesier Acmon, also ein Trojaner und Gefährte Wirksamkeit Ciceros. Immerhin lässt sich wohl soviel sagen, dass Vergil und Dorion in etwa Zeitgenossen waren. 216 In contr. 10, 5, 24 wird Dorion zu den Graeci gerechnet und tatsächlich hat er nach allem, was wir wissen, nur auf Griechisch deklamiert. Seneca d. Ä. äußert sich nicht immer abwertend über ihn (vgl. suas. 2, 11), verweist aber des Öfteren auf seine pathetische, auf Affekterregung abzielende Redeweise (vgl. contr. 1, 8, 16: Dorion dixit rem paulo quidem elatiorem quam pressa et civilis oratio recipit, sed qua egregie attonitos patris affectus exprimeret und contr. 10, 5, 23: e Graecis Dorion furiose dixit ). 217 Bei dem Prätext Dorions handelt es sich um die erste homerische Steinwurfszene ( Od. 9, 481-486) und nicht um deren Pendant, das die Weiterfahrt der Gefährten motiviert ( Od. 9, 537-541); vgl. zum parallelen Aufbau der Kyklopenszene de Jong (2001), S. 246. Der zweite geworfene Stein erreicht das Schiff nicht mehr und treibt es beim Auftreffen auf dem Wasser von der Insel weg. 218 Od. 9, 480-486. 219 Die modernen Kommentare sind vorsichtig, was die Identifikation der Stelle als Homernachahmung betrifft; vgl. Conington / Nettleship (1963), III S. 248 ad loc. („… is not a <?page no="82"?> des Aeneas, der den schweren Stein hebt, um das Lager gegen die belagernden Rutuler zu verteidigen. Der Unterschied zu Dorions Ausdruck ὄρους ὄρος ἀποσπᾶται liegt darin, dass Vergil zwar die Größe des in die Höhe gewuchteten Felsblocks durch die Nennung des Berges betont, gleichzeitig - und im Unterschied zu Dorion - aber der Wahrscheinlichkeit Rechnung trägt, indem er Acmon nur einen Teil eines Berges tragen lässt. Diese beiden Punkte hebt Maecenas hervor, wenn er das Streben nach magnitudo 220 anerkennt, gleichzeitig aber die fides gewahrt sieht. Der Bezug des zweiten Vergilzitats ( Aen. 8, 691-692: pelago credas innare revulsas | Cycladas ) zu Homer ist weniger deutlich. Die Stelle entstammt der Schildbeschreibung ( Aen. 8, 626-728), die das achte Buch der Aeneis abschließt. Im zentralen Bereich des Schildes ist die Seeschlacht bei Actium dargestellt ( Aen. 8, 675-713), bei der Octavian und Agrippa ihre Gegner Antonius und Kleopatra überwältigen. Beide Parteien benutzen Schiffe, auf denen hohe, turmartige Aufbauten angebracht sind. 221 Die Vorstellung von den hoch aufgeführten Schiffstürmen veranlasst Vergil, sie mit den Kykladen ( pelago credas innare revolsas | Cycladas ) und - in einer allgemeineren Wendung - mit hohen Bergen ( aut montis concurrere montibus altos ) zu vergleichen. Vergils Vergleich hebt also auf die Höhe der Substruktionen ab - obwohl die Höhe nur selten als besondere Qualität der Inselgruppe genannt wird. 222 Eine direkte Verbindung happy imitation, if it be an imitation“) und Harrison (1991), S. 95 ad loc. („The phrase as a whole has a distant model in … Od. 9, 481 …“). Vgl. auch die bei Harrison (1991), a. a. O. genannten vergilischen Parallelen Aen. 9, 569 ( saxo et ingenti fragmine montis ) und Aen. 10, 698-699 ( ingenti fragmine montis | occupat os faciemque adversam ). - Wahrscheinlicher ist es, dass Vergil an dieser Stelle Il. 12, 378-386 imitieren wollte, wo die altertümliche Kampftechnik des Steinwurfs am Beispiel von Ajax geschildert wird. 220 Die von Feddern (2013), S. 208 geäußerte Ansicht, magnitudo sei konkret auf die Größe des gehobenen Steins zu beziehen, ist abwegig. Es handelt sich hier um einen stilkritischen Terminus, der zuweilen i. S. v. sublimitas verwendet wird; vgl. Sen. dial. 12, 11, 6 ( ex tanta orationis magnitudine desciscere ) und insbes. Aug. doctr. christ. 4, 6, 10, wo er ähnlich wie hier bei Seneca d. Ä. als positiver Gegenbegriff zu tumor gebraucht wird ( linguae non magnitudine sed tumore ). 221 Vgl. Dio Cass. 50, 23, 3 (καὶ ἐπ’ αὐτὰ πύργους τε ὑψηλοὺς ἐπικατεσκεύασε καὶ πλῆθος ἀνθρώπων ἐπανεβίβασεν, ὥστε καθάπερ ἀπὸ τειχῶν αὐτοὺς μάχεσθαι [„Und er baute hohe Türme auf sie und ließ eine Menge Menschen auf sie hinaufsteigen, sodass sie von diesen herab kämpfen konnten“]) und (D)Serv. ad loc. = II 301, 25-28 Thilo-Hagen (hoc de historia traxit: nam Agrippa primus hoc genus turrium invenit, ut de tabulatis subito erigerentur, simul ac ventum esset in proelium, turres hostibus inprovisae , in navigando essent occultae ). 222 Vgl. aber Stat. Ach. 1, 205 und 1, 530. Sonst erwähnt man ihre große Zahl (Stat. Theb. 5, 183; Ach. 1, 676) und ihre verstreute Lage in der Ägäis (Ov. met. 2, 264; Prisc. periheg. 130), so auch in der einzigen Parallele bei Vergil ( Aen. 3, 126-127: sparsasque per aequor | Cycladas mit [D]Serv. a. l. = I 366, 12-17 Thilo-Hagen: ‘sparsas’ autem, quia nullo ordine continentur … cyclades vero non ideo dicuntur, quia in rotunditate sunt, sed quod longo 82 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae <?page no="83"?> 3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern 83 zu den zitierten Homerversen lässt sich hier jedoch nicht herstellen. Das Verbindungsglied ist vielmehr Dorions Metaphrase: Mit καὶ χειρία βάλλεται νῆσσος wird der vom Kyklopen geworfene Fels mit einer Insel gleichgesetzt, um seine gewaltige Größe zu kennzeichnen. Vergil wählt ebenfalls den Vergleich mit einer Insel, allerdings um die Größe der Schiffe vor Actium zu bezeichnen. Vor welchem Hintergrund trifft Seneca d. Ä. bzw. Maecenas aber nun sein stilkritisches Urteil, wenn er die fragmentierten Wendungen des Dorion, die er zitiert, als tumidum bzw. inflatum bezeichnet? Betrachten wir zur Beantwortung dieser Frage den stilkritischen Kontext, in dem die homerische Kyklopenepisode steht, um die spezifischen Herausforderungen, die sich einem Homernachahmer hier stellten, näher zu bestimmen. Der Passus über den frostigen Stil (τὸ ψυχρόν) aus der Schrift περὶ ἑρμηνείας, die unter dem Namen des Demetrius überliefert ist und meist ins 1. Jhdt. v. bzw. n. Chr. 223 datiert wird, führt bei der theoretischen Standortbestimmung weiter. Für Demetrios ist der frostige Stil als korrespondierende Fehlausprägung zum erhabenen Stil (χαρακτὴρ μεγαλοπρεπής) 224 entsprechend in drei Bereiche zu unterteilen, nämlich in ‘Frostigkeit’ hinsichtlich der Gedanken (διάνοια) 225 , hinsichtlich der Wortwahl (λέξις) 226 und hinsichtlich der Wortfügung (σύνθεσις) 227 . Um seine Ausführungen zum ψυχρόν im Bereich der διάνοια zu belegen, wählt Demetrios ein Beispiel, das den bei Seneca d. Ä. zitierten Wendungen des Dorion auffallend ähnelt: Γίνεται μέντοι καὶ τὸ ψυχρὸν ἐν τρισίν, ὥσπερ καὶ τὸ μεγαλοπρεπές. ἢ γὰρ ἐν διανοίᾳ, καθάπερ ἐπὶ τοῦ Κύκλωπος λιθοβολοῦντος τὴν ναῦν τοῦ Ὀδυσσέως ἔφη τις· φερομένου τοῦ λίθου αἶγες ἐνέμοντο ἐν αὐτῷ. ἐκ γὰρ τοῦ ὑπερβεβλημένου τῆς διανοίας καὶ ἀδυνάτου ἡ ψυχρότης. ( Demetr. eloc. 115 = 28, 3-7 Radermacher.) („Der frostige Stil entsteht aus drei Ursachen, wie auch der hohe. Die eine liegt im Gedanken, so wie einer bei der Beschreibung des Kyklopen, der Steine auf das Schiff des Odysseus wirft, gesagt hat: ‘Während der Stein flog, weideten noch Ziegen darauf.’ Die Frostigkeit entsteht auch durch den übertriebenen Gedanken und das Unmögliche.“) Man hat wegen der inhaltlichen Nähe sogar angenommen, dass es sich bei den von Demetrios angeführten Worten um ein weiteres Zitat aus Dorions Homerordine eas circumire necesse est. alii sporadas nomine cycladum dictas tradunt, quod sparsae sunt .). 223 Vgl. die Zusammenstellung der Zeugnisse und den Forschungsüberblick bei Marini (2007), S. 4-16. 224 Vgl. Demetr. eloc. 114 = 27, 26-27 Radermacher. 225 Vgl. eloc. 115 = 28, 3-7 Radermacher. 226 Vgl. eloc. 116 = 28, 8-13 Radermacher. 227 Vgl. eloc. 117 = 28, 14-17 Radermacher. <?page no="84"?> metaphrase handelt. 228 Die Darstellung von sachlich nicht nachvollziehbaren und somit unglaubwürdigen Begebenheiten - wie hier der Vorstellung, der vom Kyklopen geworfene Stein sei so groß gewesen, dass noch Ziegen darauf weiden konnten - wird bei Demetrios jedenfalls für die besagte ‘frostige’ Wirkung verantwortlich gemacht. Bei den anschließenden Ausführungen zur Übertreibung (ὑπερβολή) in eloc. 124-127 = 29, 25-30, 14 Radermacher wird dem Aspekt des ἀδύνατον dann sein systematischer Ort zugewiesen: Die Hyperbole hält Demetrios für die schlimmste Ausprägung des frostigen Stils, und macht für sie neben dem Vergleich (καθ’ ὁμοιότητα; Bsp.: Il. 10, 437: θείειν δ’ ἀνέμοισιν ὁμοῖοι „im Lauf wie die Winde“) und der Überbietung (καθ’ ὑπεροχήν; Bsp.: Il. 10, 437: λευκότεροι χιόνος „weißer als Schnee“) das besagte Unmögliche (κατὰ τὸ ἀδύνατον; Bsp.: Il. 4, 443: οὐρανῷ ἐστήριξε κάρη καὶ ἐπὶ χθονὶ βαίνει „sie stemmte das Haupt gegen den Himmel“) als Quelle aus. 229 Was hat man sich unter der Darstellung unmöglicher Sachverhalte genau vorzustellen und welcher Stellenwert kommt diesen ἀδύνατα in der epischen Dichtung zu? Ein Abschnitt in der Poetik des Aristoteles gibt hier nähere Aus- 228 Vgl. Radermacher (1905), Sp. 1563, 33-45; Feddern (2013), S. 202-209 lässt die Stelle unberücksichtigt. - Dass der Nachahmer hier sein Vorbild auf einem Gebiet zu übertreffen sucht, wo Homer selbst angreifbar war, bringt auch Eustathios zum Ausdruck; vgl. Eust. ad Od. 9, 481 = 1640, 62-64 = I 358, 20-21 Stallbaum (ὁ δὲ πλάσας καὶ μῆλα συναφεθῆναι οἷα ἐπὶ τῆς τοιαύτης τυχόντα νέμεσθαι κορυφῆς, τὴν Ὁμηρικὴν τερατείαν ψυχρῶς ὑπερήλασεν [„Der aber, der sich vorstellte, dass auch Schafe, die zufällig auf diesem Berggipfel weiden, daran hafteten, überschritt in geschmackloser Weise die homerische Fabuliererei.“]). 229 Vgl. Demetr. eloc. 124 = 29, 25-28 Radermacher. - Daneben kann die Hyperbole bei Demetrios aber auch als Konstituente des - positiv gewerteten - erhabenen Stils aufgefasst werden. So zitiert er bei der Behandlung der σύνθεσις μεγαλοπρεπής (Dem. eloc. 38-74 = 12, 27-20, 26 Radermacher) gerade die Kyklopenbeschreibung als Beispiel für eine steigernde Wortanordnung, die den Charakter der Hyperbole trägt; vgl. Demetr. eloc. 52 = 15, 28-16, 5 Radermacher: Καὶ Ὅμηρος δ’ ἐπὶ τοῦ Κύκλωπος ἀεὶ ἐπαύξει τὴν ὑπερβολήν, καὶ ἐπανιόντι ἐπ’ αὐτῆς <ἔοικεν>, οἷον ‘οὐ γὰρ ἐῴκει | ἀνδρί γε σιτοφάγῳ, ἀλλὰ ῥίῳ ὑλήεντι’ < Od. 9, 190-191> καὶ προσέτι ὑψηλοῦ ὄρους καὶ ὑπερφαινομένου τῶν ἄλλων ὀρῶν. ἀεὶ γὰρ καίτοι μεγάλα ὄντα τὰ πρότερον ἥττονα φαίνεται, μειζόνων αὐτοῖς τῶν μετὰ ταῦτα ἐπιφερομένων („Auch Homer steigert in der Kyklopenepisode beständig die Übertreibung und scheint darin ständig höher zu steigen: ‘er glich nicht | einem Mann, der Brot isst, sondern einem bewaldeten Gipfel’, und überdies <der Gipfel> eines hohen Berges, der alle anderen Berge überragt. Immer nämlich erscheint das zuerst genannte schwächer, wie groß es auch sein mag, wenn ihm danach größere Dinge folgen.“). - Letztlich steht, wie Demetrios in eloc. 120 = 29, 1-3 Radermacher deutlich macht, bei der ὑπερβολή die Forderung nach der Angemessenheit der Darstellung im Hintergrund: τὸ δὲ πρέπον ἐν παντὶ πράγματι φυλακτέον, τοῦτ’ ἔστι προσφόρως ἑρμηνευτέον, τὰ μὲν μικρὰ μικρῶς, τὰ μεγάλα δὲ μεγάλως („Bei jedem Gegenstand muss man die Angemessenheit wahren, das heißt, man muss seine Worte passend wählen, bei Geringem gering, bei Großem groß.“). 84 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae <?page no="85"?> 3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern 85 kunft. Bekanntlich entwickelt Aristoteles seine Theorie vom Epos, indem er sie kontrastiv der zuvor dargelegten Tragödientheorie gegenüberstellt und besonders auf die Unterschiede der beiden Dichtungsformen eingeht. Eine der sechs Hauptunterschiede besteht in der Verwendung des Wunderbaren (τὸ θαυμαστόν) 230 , für das er das Ungereimte (τὸ ἄλογον) als Hauptquelle identifiziert. 231 Für Aristoteles gilt die anthropologische Grundannahme, dass das Wunderbare Gefallen erregt. 232 Im neunten Kapitel hatte er ausgeführt, dass der Tragödiendichter seine bekannten Wirkungsabsichten vor allem durch überraschende Handlungsverläufe erreichen kann, wobei die innere Logik der handelnden Charaktere, d. h. die Wahrscheinlichkeit, gewahrt bleiben muss. Das ist ein Hinweis auf die Funktion, die dem θαυμαστόν zugewiesen wird: Das Wunderbare soll die Aufmerksamkeit des Publikums erwecken, um dem gewünschten psychologischen Effekt zu umso größerem Durchschlag zu verhelfen. 233 Wenn Aristoteles nun auf das Staunenswerte im Epos zu sprechen kommt, so geht es ihm nicht um diese eindeutig als positiv gewerteten überraschenden Handlungsverläufe, sondern um tatsächliche logische Inkonsistenzen, die aber um ihrer Wirkung willen erlaubt sind und denen er besonders in der epischen Dichtung einen Platz einräumt, weil der epische Dichter nicht auf die besonderen realistischen Erfordernisse des Bühnengeschehens Rücksicht zu nehmen hat. 234 Im Epos hat das Widersprüchliche seinen Platz, insofern es nur die beabsichtigte überraschende Wirkung erreicht. Aristoteles zitiert einige Beispiele für Inkonsistenzen im Drama und im Epos, u. a. aus der Odyssee . 235 230 Arist. poet. 1460 a 11-1460 b 2. 231 Vgl. Arist. poet. 1460 a 13-14 (τὸ ἄλογον, δι’ ὃ συμβαίνει μάλιστα τὸ θαυμαστόν [„das Ungereimte, die Hauptquelle des Wunderbaren“ ÜS Fuhrmann ]). - Zur Gliederung des 24. Kapitels vgl. Schmitt (2008), S. 687. 232 Vgl. Arist. poet. 1460 a 17-18 (τὸ δὲ θαυμαστὸν ἡδύ· σημεῖον δέ, πάντες γὰρ προστιθέντες ἀπαγγέλλουσιν ὡς χαριζόμενοι [„Das Wunderbare bereitet Vergnügen; ein Beweis dafür ist, dass jedermann übertreibt, wenn er eine Geschichte erzählt, in der Annahme, dem Zuhörer hiermit einen Gefallen zu erweisen.“ ÜS Fuhrmann ]). 233 Vgl. Arist. poet. 1452 a 1-4 (ἐπεὶ δὲ οὐ μόνον τελείας ἐστὶ πράξεως ἡ μίμησις ἀλλὰ καὶ φοβερῶν καὶ ἐλεεινῶν, ταῦτα δὲ γίνεται καὶ μάλιστα [καὶ μᾶλλον] ὅταν γένηται παρὰ τὴν δόξαν δι’ ἄλληλα [„Die Nachahmung hat nicht nur eine in sich geschlossene Handlung zum Gegenstand, sondern auch Schaudererregendes und Jammervolles. Diese Wirkungen kommen vor allem dann zustande, wenn die Ereignisse wider Erwarten eintreten und gleichwohl folgerichtig auseinander hervorgehen.“ ÜS Fuhrmann ]). 234 Vgl. dazu und zu den von Aristoteles beigebrachten Beispielen Schmitt (2008), S. 697-700. 235 Konkret geht es um die Landung des Odysseus in Ithaka ( Od. 13, 70-125). Vgl. dazu Schmitt (2008), S. 699: „<E>r schläft so fest, dass er gar nicht merkt, wie ihn die Phäaken nach der Ankunft aus dem Schiff an Land tragen. Dass er nicht einmal bei diesem Transport aufgewacht sein soll, war auch einer der ‘Kunstfehler’, die man Homer nachgerechnet hat. Aristoteles entkräftet die Kritik mit dem Hinweis auf die Schönheit der Darstellung, die bewirke, dass man den Fehler gar nicht bemerke.“ <?page no="86"?> Als wichtigstes Kriterium gilt dabei, dass der epische Dichter den Eindruck der Wahrscheinlichkeit erweckt, auch wenn er - was Aristoteles freilich eigentlich ablehnt - eine inkonsistente Handlungsabfolge konstruiert hat. 236 Eng mit der Frage, welche sachlichen Unstimmigkeiten ein Dichter in Kauf nehmen darf, hängt die Vorstellung zusammen, dass der Poesie anders als etwa der Geschichtsschreibung eine besondere Freiheit (ποιητικὴ ἐξουσία) zustände. 237 Die Idee ist bereits bei Isokrates zum Ausdruck gebracht, der im Euagoras die Unterschiede zwischen Prosaautoren und Dichtern sowohl auf der Ebene der Gedanken - Gegenstand der Dichtung sind etwa die Handlungen der Götter - wie auch auf der der Sprache festmacht: Den Dichtern werden auf beiden Gebieten Sonderrechte zugestanden. 238 Der Terminus ποιητικὴ ἐξουσία bzw. ἄδεια wird zwar meist gebraucht, um morphologische oder stilistische Idiosynkrasien zu bezeichnen. 239 Doch beruft man sich auch auf ποιητικὴ ἐξουσία, wenn es gilt, sachliche Ungenauigkeit oder Widersprüche bei Dichtern zu entschuldigen. Polybios etwa unterscheidet in dem bei Strabo 1, 2, 17 überlieferten Fragment zwischen μεταβολή (zufällig unterlaufene Vertauschung), ἄγνοια (Unkenntnis) und ποιητικὴ ἐξουσία (bewusst in Anspruch genommene dichterische Freiheit), um sachliche Ungereimtheiten bei Dichtern zu erklären. 240 Auch andere Ausdrücke in den Scholien verweisen auf Erklärungen dieser Art, wie etwa der Hinweis auf ποιητικὴ ἀρεσκεία oder darauf, dass der Dichter etwas κατ’ ἐπιφοράν („ohne ersichtlichen Grund“) gesagt habe. Ein aufschlussreiches Beispiel für einen Fall von dichterischer Lizenz - ebenfalls in der homerischen Kyklopenepisode - gibt die Diskussion über die Iterata Od. 3, 72-74 und Od. 9, 253-255. Aristarch begründete seine Entscheidung, die zweite Stelle als ursprünglich homerisch anzuerkennen und deshalb allein in den Text aufzunehmen gegen Aristophanes von Byzanz mit dem Argument, dass die Worte Nestors, der Telemachos und Peisistratos gefragt hatte, ob sie etwa Piraten seien, entgegen der Meinung des Aristophanes nicht in den Kontext von Od. 3 passten. Bei der zweiten Stelle hingegen ergäben sich zwar auf 236 Vgl. Arist. poet. 1460 a 26-29 (προαιρεῖσθαί τε δεῖ ἀδύνατα εἰκότα μᾶλλον ἢ δυνατὰ ἀπίθανα· τούς τε λόγους μὴ συνίστασθαι ἐκ μερῶν ἀλόγων, ἀλλὰ μάλιστα μὲν μηδὲν ἔχειν ἄλογον, εἰ δὲ μή, ἔξω τοῦ μυθεύματος [„Das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, verdient den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist. Die Fabeln dürfen nicht aus ungereimten Teilen zusammengefügt sein, sondern sollen nach Möglichkeit überhaupt nichts Ungereimtes enthalten. Wenn Ungereimtes unvermeidlich ist, dann soll es außerhalb der eigentlichen Handlung liegen …“ ÜS Fuhrmann ]). 237 Vgl. zum Folgenden insbes. Nünlist (2009), S. 174-184. 238 Vgl. Euag. 9-10; zit. bei Nünlist (2009), S. 174 mit weiterführenden Hinweisen. 239 Vgl. schol. h ad Il. 2, 107 a (= test. Il. 2, 107 a Erbse) und schol. A ad Il. 22, 28 a = V 268, 15-16 Erbse. 240 Ähnlich Jul. or. 1, 10 b und schol. D ad Il. 5, 385 = 242 van Thiel. 86 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae <?page no="87"?> 3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern 87 den ersten Blick einige Widersprüche, doch müsse man dabei die Freiheit des Dichters in Rechnung stellen und die Verse anerkennen: ὁ δὲ Ἀρίσταρχος οἰκειότερον αὐτοὺς τετάχθαι ἐν τῷ λόγῳ τοῦ Κύκλωπός φησιν· οὐδὲ γὰρ νῦν οἱ περὶ Τηλέμαχον λῃστρικόν τι ἐμφαίνουσι. δοτέον δέ - φησί - τῷ ποιητῇ τὰ τοιαῦτα· καὶ γὰρ ναῦν αὐτὸν παράγει εἰδότα, “ἀλλά μοι εἴφ’ ὅπη ἔσχες ἰὼν εὐεργέα νῆα” [ι 279], καὶ συνίησιν Ἑλληνίδα φωνήν. (schol. DHM a ad Od. 3, 71 a = II 30, 6-10 Pontani) („Aristarch aber sagt, dass man sie passender in die Rede des Kyklopen einfügt. Hier nämlich erwecken Telemachos und seine Gefährten nicht den Anschein, als wären sie Piraten. Er sagt, man müsse dem Dichter das zugestehen: Er lässt ihn ja auch das Schiff kennen, ‘Sage mir aber, wo du dein gut gebautes Schiff hast’, und er versteht die griechische Sprache.“) Daneben kann sich die Freiheit des Dichters auch auf weitere Bereiche beziehen, etwa auf die Möglichkeit, tradierte Mythen abzuwandeln und den Erfordernissen der eigenen Dichtung anzupassen, oder auf eine spezifische Freizügigkeit, wenn sich der Dichter an die Götter wendet. 241 Die zahlreichen diesbezüglichen Scholiennotizen und das breite Anwendungsfeld der Kategorie der dichterischen Freiheit dürfen dabei aber nicht den Eindruck erwecken, dass den Dichtern tatsächlich alles erlaubt war. Die Zeugnisse geben vielmehr zu erkennen, dass die Grenzen der Freiheit dichterischer Darstellung ein notorisches Thema kritischer Diskussionen war: Nicht alles war den Dichtern erlaubt und das Diktum des Eratosthenes ἀλλ’ ἔξεστι πλάττειν τοῖς ποιηταῖς ἅ βούλονται („und die Dichter dürfen gestalten, was sie wollen“) 242 darf - wie auch aus den gleich zu zitierenden Stimmen zur homerischen Kyklopenszene zu ersehen - nicht als repräsentativ für die antike Literaturkritik angesehen werden. 243 Auch in der Kyklopenepisode in der Odyssee wurde nämlich eine stilistische Entgleisung hinsichtlich der Plausibilität der Handlung diagnostiziert. Am deutlichsten stellt Hermogenes, der Autor verschiedener Schriften über Teilgebiete der Rhetorik 244 , in seinem Traktat περὶ εὑρέσεως im Kapitel über das κακόζηλον 245 die Anstößigkeit des Kyklopensteinwurfs in Od. 9, 481 heraus - und belegt 241 Vgl. Nünlist (2009), S. 178-181 und S. 181-182 mit schol. AT ad Il. 1, 1 d = I 5, 41-45 Erbse. 242 Schol. ad Pind. O. 4, 31 b = I 136, 7-8 Drachmann = frg. I A 19 Berger. 243 Vgl. Nünlist (2009), S. 180 mit Anm. 21. 244 Vgl. jetzt den Überblick bei Lempp (2012), S. * 9-11 und * 22-24 sowie die Einleitung zur Schrift περὶ εὑρέσεως bei Kennedy (2005), S. * 13-18. 245 Hermog. inv. 4, 12 = 202, 3-204, 15 Rabe. - Vgl. Lausberg (1990), § 1073: „Das ungezügelte Streben nach ornatus und sein Resultat, der affektiert-übersteigerte ornatus , heißen κακόζηλον, mala affectatio … Die durch das κακόζηλον verunstaltete Rede heißt corrupta oratio …“ Zum Begriff vgl. auch Demetr. eloc. 186-189 = 41, 4-28 Radermacher und Quint. inst. 8, 3, 56. <?page no="88"?> dabei gleichzeitig die Popularität und Exemplarität der Verse als Schulbeispiel für eine unrealistische Darstellung. Das Hauptproblem ist demnach darin zu sehen, dass die Darstellung durch ihre Übertreibungen unglaubwürdig (ἄπιστον) wird. Hermogenes gibt verschiedene Gründe an, warum man eine Stelle als κακόζηλον verwerfen konnte: Τὸ δὲ κακόζηλον γίνεται ἢ κατὰ τὸ ἀδύνατον ἢ κατὰ τὸ ἀνακόλουθον, ὃ καὶ ἐναντίωμά ἐστιν, ἢ κατὰ τὸ αἰσχρὸν ἢ κατὰ τὸ ἀσεβὲς ἢ κατὰ τὸ ἄδικον ἢ κατὰ τὸ τῇ φύσει πολέμιον, καθ’ οὓς τρόπους καὶ ἀνασκευάζομεν μάλιστα τὰ διηγήματα ἐκβάλλοντες ὡς ἄπιστα. (Hermog. inv. 4, 12 = 202, 4-8 Rabe) („Der Stilfehler [τὸ κακόζηλον] entsteht entweder durch die Darstellung von Unmöglichem [τὸ ἀδύνατον] oder von Unzusammenhängendem [τὸ ἀνακόλουθον], was dann auch ein Widerspruch [τὸ ἐναντίωμα] ist, oder durch die Darstellung von etwas Hässlichem [τὸ αἰσχρὸν] oder etwas Gottlosem [τὸ ἀσεβὲς] oder von etwas Unrechtem [τὸ ἄδικον] oder von etwas, das der Natur widerspricht [τὸ τῇ φύσει πολέμιον]. Diesen Gesichtspunkten folgend verwerfen wir bestimmte Erzählungen, indem wir sie als unglaubhaft aussondern.“) Der zuletzt genannte Vorwurf der Unglaubwürdigkeit dichterischer Darstellung ist für Hermogenes der entscheidende: Das Kriterium der Plausibilität (τὸ εἰκός) erlaubt ein Urteil darüber, ob eine dichterische Unternehmung (διασκευή) als akzeptabel gewertet werden kann oder nicht. 246 Um einen gewagteren, die Grenzen der Glaubwürdigkeit überschreitenden Gedanken dennoch zu formulieren, aber zugleich dem Vorwurf des κακόζηλον zu entgehen, schlägt Hermogenes als Strategie die Vorbereitung (προκατασκευή bzw. προθεραπεία) durch den Dichter vor: Ἰστέον μέντοι, ὅτι τὰ κακόζηλα ἔστι πολλάκις ἰᾶσθαι τῇ προκατασκευῇ καὶ προθεραπείᾳ· τὰ γὰρ προμαλαχθέντα τῇ ἑρμηνείᾳ νοῦν εἰσάγει, ὅθεν καὶ τὸ τόλμημα προσδοκᾶται τοῖς ἀκούουσιν, ὃ καὶ πρὶν λεχθῆναι ἀσφαλὲς εἶναι δοκεῖ, γυμνὸν δ’ ἂν τεθῇ πρὸ τῆς κατασκευῆς τοῦ λόγου, κακόζηλον ἔδοξεν ἢ τῷ νῷ ἢ τῷ λόγῳ. (Hermog. inv. 4, 12 = 202, 16-203, 1 Rabe) („Man muss freilich wissen, dass Stilfehler [κακόζηλα] häufig durch Vorbereitung [προκατασκευή] und Vorsorge [προθεραπεία] geheilt werden: Was nämlich durch 246 Vgl. Hermog. inv. 4, 12 = 202, 9-13 Rabe (διά τοι τοῦτό φαμεν καὶ τὰς διασκευὰς μέχρι τοῦ εἰκότος προχωρεῖν, ὡς, εἰ παρὰ τὸ εἰκὸς εὑρεθείη τι, πάντως καὶ κακόζηλον ἐσόμενον καὶ ἐμπεσούμενον τῇ ἀνασκευῇ· καὶ γὰρ ἐκεῖ λέγομεν ‘οὐκ εἰκὸς τόδε πραχθῆναι’, ἢ ὅτι ἀδύνατον ἢ ὅτι αἰσχρὸν καὶ τὰ ἑξῆς [„Deshalb sagen wir auch, dass die rednerischen Ausschmückungen nur bis zu den Grenzen der Wahrscheinlichkeit gehen dürfen, denn wenn etwas über das Wahrscheinliche hinaus erfunden wird, so wird es völlig schwülstig geraten und entfernt werden müssen. Und in diesem Fall sagen wir ‘Es ist unwahrscheinlich, dass so etwas geschieht’, oder dass es unmöglich ist oder hässlich und so weiter.“]). 88 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae <?page no="89"?> 3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern 89 die Wortwahl vorher abgeschwächt wurde, erregt einen Gedanken, von dem seitens der Hörer ein Wagnis erwartet wird, das, noch bevor es ausgesprochen wurde, den Anschein der Glaubwürdigkeit erweckt, wenn es aber ungeschützt gesagt wurde, bevor noch die Rede entsprechend ausgerüstet wurde, so erscheint es entweder als gedankliches oder sprachliches κακόζηλον.“) Um dies zu illustrieren, zitiert Hermogenes die Kyklopenepisode aus der Odyssee : καὶ σκόπει, πῶς καὶ Ὅμηρος ἐποίησεν· ὡς γὰρ λέξειν ἔμελλεν: ‘ἧκε δ’ ἀπορρήξας κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο’ < Od. 9, 481>, φοβούμενος τούτου τὸ ἀδύνατον προκατασκευάζει τοιοῦτον ἄνδρα τῷ λοιπῷ διηγήματι, ὡς μηδὲ τὸν περὶ τούτου λόγον ἄπιστον καταστῆναι λεχθέντα, τῷ τε τροφὰς αὐτῷ παραθεῖναι μείζονας ἢ κατὰ ἄνθρωπον τῷ τε ἀποδοῦναι αὐτῷ ῥόπαλον βαστάζειν, οἷον οὐκ ἄνθρωπος, καὶ λίθον καὶ τῷ τὴν ἰδέαν αὐτοῦ διελθεῖν ὡς μεγάλην καὶ φοβερὰν καὶ τῷ εἰπεῖν ‘οὐδὲ ἐῴκει | ἀνδρί γε σιτοφάγῳ, ἀλλὰ ῥίῳ ὑλήεντι’ < Od. 9, 190-191>· πάντες γὰρ οἱ περὶ τούτου προγυμνασθέντες λόγοι πιστὸν ἐποίησαν εἶναι δοκεῖν τὸ παράδοξον τὸ περὶ τοῦ Κύκλωπος ῥηθὲν τὸ ‘ἧκε δ’ ἀπορρήξας κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο’ < Od. 9, 481>· εἰ γὰρ καὶ τοιοῦτος ἦν, οἷον αὐτὸν προκατεσκεύαζεν, οὐδὲν ἦν τὸ καὶ τοιοῦτον αὐτὸν ποιῆσαι δυνηθῆναι. (Hermog. inv. 4, 12 = 203, 1-18 Rabe) („Und schau, wie auch Homer das bewerkstelligt hat. Er wollte nämlich sagen ‘er riss ab die Kuppe von einem großen Berg’, fürchtete aber die Unmöglichkeit dabei und leitete deshalb in der restlichen Erzählung auf einen solchen Mann hin, sodass das, was über ihn gesagt wurde, nicht unglaubwürdig würde, indem er ihm nämlich Nahrung zuwies, die über das Menschenmaß ging, und indem er ihn eine Keule tragen ließ, die kein Mensch tragen könnte, und einen Stein, und indem er seine Gestalt als groß und furchteinflössend beschrieb, und indem er sagte: ‘und er glich nicht einem brotessenden Manne, sondern einer bewaldeten Felsenkuppe’. Alle diese vorbereitenden Reden aber über ihn bewirkten, dass das Paradoxon, das vom Kyklopen ausgesagt wurde, nämlich ‘er riss ab die Kuppe von einem großen Berg’, glaubhaft erscheine. Wenn er nämlich so war, wie er ihn vorbereitend geschildert hatte, so war es für ihn ein Leichtes, etwas von dieser Art tun zu können.“) Vorbereitung durch den Dichter - Hermogenes verwendet nicht den üblichen Terminus προδιόρθωσις 247 - kann also dem Eindruck mangelnder Glaubhaftigkeit vorbeugen. 248 Eben diese vorbereitende Strategie identifiziert nun ein Scholion zu Od. 9, 187, wo eine Beschreibung des Kyklopen gegeben wird: 247 Vgl. Lausberg (1990), § 786, 1 und Feddern (2013), S. 209. 248 Der Terminus προκατασκευή, wie er hier verwendet wird, ist zu abzugrenzen von dem Begriff, den Hermogenes in inv. 3, 2 = 126, 16-131, 24 Rabe einführt und der eine vorbereitende Übersicht über die in der probatio (κατασκευή) behandelten Gesichtspunkte darstellt ( praeparatio : Fortun. 2, 15 = 110, 22 Halm); vgl. Lausberg (1990), § 324, 1 und <?page no="90"?> ἔνθα δ’ ἀνὴρ] εἰκότως προσυνίστησι τὸ μέγεθος, ἵνα ἀξιόπιστος φανῇ τὰ < Od. 9, 287-293> δύο σώματα σιτούμενος. πλείστας δὲ παραβολὰς ποιεῖται τοῦ μεγέθους αὐτοῦ. διὸ καὶ ὄρει ἄνθρωπον εἴκασεν ὡς ὑπερβάλλοντα παντὸς ζῴου μέγεθος, καὶ οὐδ’ ὄρει ἁπλῶς, ἀλλὰ < Od. 9, 191> ῥίῳ ὑλήεντι, ὅ ἐστιν ὄρει τῷ ὑψηλοτέρῳ καὶ τούτῳ ὑλήεντι. τοῦτο δέ ἐστιν ὑπερβολὴ ὑπερβολῆς. (schol. Q ad Od. 9, 187 = 421, 10-15 Dindorf) („Seine Größe stellt er im Voraus dar, wobei er Wahrscheinlichkeit erzeugt, nämlich damit es glaubwürdig erscheint, dass er zwei Menschenleiber frisst. Die meisten Gleichnisse macht er bezüglich der Größe. Deswegen vergleicht er auch einen Menschen mit einem Berg, weil er die Größe jedes Lebewesens übertrifft, und nicht einfach mit einem Berg, sondern mit einem bewaldeten Gipfel, also mit einem höheren und bewaldeten Berg. Das ist die Übertreibung der Übertreibung.“) 249 Homer hat demnach den an sich anstößigen, weil unrealistischen Gedanken vom losgerissenen Berggipfel durch den Gang der Erzählung und die vorbereitenden Schilderungen des Kyklopen, die dem Publikum die übermenschliche Kraft Polyphems eindrucksvoll vor Augen gestellt hatten, erträglich gemacht. 250 § 786, 4 sowie Rutherford (1998), S. 112-113. - Der Begriff προθεραπεία wird hier synonym zu προκατασκευή verwendet und begegnet - allerdings nur in seiner Nebenform προθεράπευσις - gelegentlich bei lateinischen Philologen und Rhetorikern; vgl. Porph. ad Hor. epist. 1, 17, 1; Fortun. rhet. 3, 10 und Don. Ter. Ad. 481, 4 sowie Lausberg (1990), § 786, 4. - Zu den verwandten lateinischen Begriffen ( pro -) oeconomia vgl. → Kap. 3.2.2 (mit Lit.). 249 Der bei Hermogenes vorgebrachten Erklärung schließt sich auch Eustathios in seiner Kommentarnotiz an; vgl. Eust. Hom ad. Od. 9, 187 = 1621, 50-57 = I 331, 6-10 Stallbaum (Ὅτι μέλλων ἐν τοῖς ἑξῆς εἰπεῖν ὁ ποιητὴς πάνυ τολμηρῶς ὡς ἀποῤῥήξας κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο ἀφῆκε κατὰ τῆς Ὀδυσσέως νηὸς ὁ Κύκλωψ, καὶ προθεραπεύων μὲν τὸ τοῦ λόγου ἀπίθανον, θηρώμενος δὲ τὸ ἀξιόπιστον ἑαυτῷ, πολλοὺς θεμελίους πιθανότητος προκαταβάλλεται. καὶ τέως ἐν πρώτοις πελώριον αὐτὸν ὑποτίθεται. καὶ οὐχ’ ἁπλῶς τοιοῦτον, ἀλλὰ ῥίῳ ἐοικότα. φησὶ γάρ: ‘ἔνθα δ’ ἀνὴρ ἐνίαυε πελώριος’ [„Der Dichter möchte im Folgenden ganz kühn beschreiben, dass der Kyklop den Gipfel eines großen Berges losriß und auf das Schiff des Odysseus warf, und indem er die unglaubwürdige Rede vorbereitete und für sich Glaubwürdigkeit erlangte, hat er im Vorhinein eine gute Grundlage für die Glaubwürdigkeit gelegt. Und zu Beginn stellt er ihn schon einmal als gewaltig groß vor, und nicht einfach so, sondern einem Gipfel gleichend. Er sagt nämlich: ‘Dort haust ein riesiger Mann.’“]). - Auch an anderen Stellen wird die übertriebene, die Wirklichkeit übersteigende Art der Kyklopenschilderung in den Scholien vermerkt; vgl. schol. T ad Od. 9, 289 = 429, 6-7 Dindorf (σὺν δὲ δύω μάρψας] σὺν δύο ἡμῶν μάρψας. τὴν τῆς ἰσχύος ὑπερβολὴν ἐκ τούτου δηλοῖ [„Zwei zusammen ergreifend] Zwei von uns ergreifend. Daraus geht seine übertriebene Körperkraft hervor.“]). 250 Auf Od. 9, 481 greift auch Apollonios Rhodios in seiner Erzählung von Talos zurück (vgl. Apoll. Rhod. 4, 1638 b -1639 a : ἀπὸ στιβαροῦ σκοπέλοιο | ῥηγνύμενος πέτρας; „von der wuchtigen Klippe Felsen losreißend“): Die Argonauten werden von Talos bei ihrer Fahrt von Libyen nach Kreta mit Steinwürfen in Empfang genommen; Apollonios scheint bewusst auf das anstößige κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο verzichtet zu haben. - Eine ähnliche Absicht lässt sich bei Ov. met. 14, 181 b -184 erkennen ( vidi, cum monte revulsum | 90 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae <?page no="91"?> 3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern 91 Das war möglich, weil Homer sein Kyklopenabenteuer in einem langen, beinahe das ganze neunte Buch der Odyssee umfassenden Narrativ entwickelt. Bei der ersten von Seneca d. Ä. bzw. Maecenas zitierten Vergilstelle stellen sich die Dinge hingegen anders dar: Acmon ist eine Nebenfigur, außer den wenigen in Aen. 10, 127-129 gegebenen Information erfahren wir nichts weiter von ihm - eine umständliche Vorbereitung wie bei Homer war hier nicht möglich. Vergil musste den hyperbolischen Gedanken durch die Litotes haud partem exiguam montis abschwächen, um dem Vorwurf eines Stilfehlers zu entgehen. Dass auch bei der zweiten von Seneca d. Ä. bzw. Maecenas zitierten Vergilstelle eine stilistische Steigerung vorliegt, wurde schon in der Antike vermerkt. Quintilian zitiert in inst. 8, 6, 68 die Verse Aen. 8, 691-692 als Beispiel für eine Hyperbel (= decens veri superiectio ; vgl. Quint. inst. 8, 6, 67), ohne dass er dabei aber einen negativen Hyperbelbegriff zugrundelegt. 251 Auch bei Quintilian wird die fides , die Wirklichkeitstreue, als die sensible Bezugsgröße eingeführt, gegen die die Hyperbel tendenziell verstößt. 252 Ähnlich wie Seneca d. Ä., der eigens hervorhebt, dass es sich bei den Schiffen nicht tatsächlich um Inseln gehandelt habe und Vergil die imaginäre Qualität seines Vergleichs durch credas hinreichend markiert habe, ordnet Quintilian die Vergilstelle in seiner Typologie der Formen der Hyperbel der Kategorie per similitudinem zu und bringt damit zum Ausdruck, dass der Gleichniswert des Bildes erhalten bleibt. 253 Seneca d. Ä. bzw. Maecenas hingegen verteidigt Vergil mit dem Hinweis auf die legitime Strategie der προδιόρθωσις, wenn er in credas eine Vorbereitung des Hörers auf einen unter handlungslogischen Gesichtspunkten problematischen, hinsichtlich seiner Wirkung aber effektvollen Gedanken erkennt: propitiis auribus accipitur, quamvis incredibile sit, quod excusatur antequam dicitur . inmanem scopulum medias permisit in undas; | vidi iterum veluti tormenti viribus acta | vasta Giganteo iaculantem saxa lacerto … ). 251 Vgl. die Diskussion bei Feddern (2013), S. 208. Wie von Feddern richtig angemerkt, kann von einer Ablehnung der Hyperbel durch Quintilian nicht die Rede sein. 252 Vgl. Quint. inst. 8, 6, 73 ( quamvis enim est omnis hyperbole ultra fidem, non tamen esse debet ultra modum, nec alia via magis in cacozeliam itur ). 253 Der Grammatiker Sacerdos (3. Jhdt. n. Chr.) ordnet die Stelle in sein Kapitel über die parabola , eine Unterart der homoeosis (vgl. Sacerd. 1 = VI 463, 31-32 Keil: Homoeosis est ignotae rei descriptio per similitudinem eius quae cognita est ), ein, die er als rerum dissimilium comparatio definiert (= VI 464, 1 Keil). Von den acht Unterarten der parabola gehört der vergilische Kykladenvergleich zum Typus per magnitudinem . <?page no="92"?> 3.2.2 Ein Urteil Ovids und die Kategorie der psychologischen πιθανότης (contr. 7, 1, 27) Seneca d. Ä. gibt keine systematische Übersicht über die Kriterien gelungener Nachahmung, sondern legt seinen Söhnen die ästhetischen Grundbegriffe, denen er folgt, anhand von Einzelbeispielen dar. Vergil wird dabei durchweg als stilistisches Muster vorgestellt, der die Kunst der Nachahmung in vorbildhafter Weise repräsentiert. 254 So auch in contr. 7, 1, 27, wo der von Seneca d. Ä. hoch geschätzte Julius Montanus auf eine Vergilimitation des Cestius zu sprechen kommt. Zwar handelt es sich hierbei nicht um einen Homer-Vergil-Vergleich im engeren Sinne, doch sind, wie noch zu zeigen sein wird, das homerische Modell und die daran anschließenden kritischen Diskussionen bei den besprochenen Texten präsent, sodass eine Behandlung in unserem Zusammenhang geboten erscheint. In contr. 7, 1 verlangte der Fall die Schilderung einer nächtlichen Meeresszenerie. 255 Cestius 256 hatte sich daran versucht, doch mangelte es dem Deklamator, der kein lateinischer Muttersprachler war, nach dem Urteil Senecas d. Ä. an der copia verborum . 257 Dieser Umstand hinderte seinen Redefluss insbesondere dann, wenn er sich mit den großen literarischen Vorbildern messen wollte. In contr. 7, 254 Unter anerkannte Stilmuster wie Cicero, Sallust und Platon eingereiht erscheint er in contr. 3 praef. 8. - Wie man wörtliche Vergilzitate mit unterschiedlichem Erfolg in seine Deklamationen einbaute und wie man sie schlagfertig dazu nutzte, sein Gegenüber in die Enge zu treiben, zeigt der Deklamator Fuscus in suas. 4, 4-5. - Fuscus als unglücklichen Vergilimitator, der die Gegebenheiten eines neuen Kontextes nicht berücksichtigt, zeigt suas. 3, 4-5. 255 Der Fall sah vor, dass ein Bruder den anderen auf Befehl des Vaters des Nachts auf freier See ausgesetzt hatte. 256 Der gebürtige Grieche L. Cestius Pius hatte noch vor 29 v. Chr. damit begonnen, in Rom als lateinischsprachiger Rhetor und Deklamator zu wirken. Die Zeugnisse sind gesammelt bei Brzoska (1899); vgl. dazu Kaster (1995), S. 327-329 und Calboli (1997) mit weiterer Literatur. Dass er nur lateinisch deklamierte, geht aus Sen. contr. 9, 3, 13 und Hieron. a. Abr. 2004 = Suet. rhet. frg. 91 Reifferscheid hervor. Brzoska (1899), Sp. 2010, 67 charakterisiert ihn aufgrund seines modernen Stils als „Asianer durch und durch“. - Seneca d. Ä. lässt bei verschiedenen Gelegenheiten erkennen, dass Cestius eine vermittelnde Stellung zwischen den griechisch- und lateinischsprachigen Deklamatoren einnahm. In den referierten Redeausschnitten und kritischen Einlassungen zeichnet sich eine intimere Kenntnis der griechischen Literatur ab: In contr. 7, 7, 19 bedient sich Cestius eines Homerzitats ( Il. 9, 97), um eine unerwünschte Echowirkung in der Übungsrede eines seiner Schüler zu tadeln. In contr. 10, 4, 21 wird berichtet, dass Cestius eine griechische Sentenz des Damas Scombros übersetzt habe (vgl. auch contr. 1, 1, 14). Neben Vergil galt sein Interesse unter den römischen Autoren v. a. Cicero ( contr. 7, 2, 3; suas. 7, 3). Zu seinem Schülerkreis gehörte der Redner Sordinus, der - wohl, wie Brzoska (1899), Sp. 2009, 56-58 annimmt, auf Anregung seines Lehrers - griechische Dramen ins Lateinische übersetzte. 257 Vgl. contr. 7, 1, 27 ( Latinorum verborum inopia <ut> hominem Graecum laborasse ). 92 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae <?page no="93"?> 3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern 93 1, 27 wird dies an einem Beispiel vorgeführt. Cestius schildert in einer narratio die Stille der Nacht: nox erat concubia, et omnia luce canentia <sub> sideribus muta erant („Tiefe Nacht war, und alles, was bei Tageslicht sang, schwieg <unter> den Sternen.“). Julius Montanus, selbst ein gewandter Dichter tiberischer Zeit und Verehrer Vergils, 258 erkennt darin die Nachahmung einer Passage im achten Buch der Aeneis ( Aen. 8, 26-27). Ein stilistisches Urteil des Julius Montanus findet sich bei Seneca d. Ä. nicht, doch zeigt die einleitende Partikel des Folgesatzes at , dass Montanus die Nachahmung des Cestius für misslungen hält. Vergil habe in den zitierten Versen nämlich ebenfalls einen Dichter imitiert, dabei jedoch weit mehr Erfolg als Cestius gehabt. Als Vorbild Vergils gibt Julius Montanus einen Abschnitt aus den Argonautae des P. Terentius Varro Atacinus an. 259 Der Passus schließt ab mit einem Verbesserungsvorschlag, den Ovid zur zitierten Varrostelle gemacht hat: Soleo dicere vobis Cestium Latinorum verborum inopia <ut> hominem Graecum laborasse, sensibus abundasse; itaque, quotiens elatius aliquid describere ausus est, totiens substitit, utique cum se ad imitationem magni alicuius ingeni derexerat, sicut in hac controversia fecit. nam in narratione, cum fratrem traditum sibi describeret, placuit sibi in hac explicatione una et infelici: ‘nox erat concubia, et omnia luce canentia <sub> sideribus muta erant.’ Montanus Iulius, qui comes fuit <Tiberii>, egregius poeta, aiebat illum imitari voluisse Vergili descriptionem: ‘nox erat et terras animalia fessa per omnis | alituum pecudumque genus sopor altus habebat.’ < Aen. 8, 26-27> at Vergilio imitationem bene cessisse, qui illos optimos versus Varronis expressis<set> in melius: ‘desierant latrare canes urbesque silebant; | omnia noctis erant placida composta quiete.’ <Varro At. carm. frg. 8 FPL 4 > solebat Ovidius de his versibus dicere potuisse longe meliores, si secundi versus ultima pars abscideretur et sic desineret: ‘omnia noctis erant.’ Varro quem voluit sensum optime explicuit; Ovidius in illius versu suum sensum invenit. aliud enim intercisus versus significaturus est, aliud totus significat. Gewöhnlich wird Ovids Vorschlag, den zweiten Halbvers bei Varro zu streichen, mit Verweis auf die auf diese Weise erzielte brevitas (= durch Kürzung verstärkte stilistische Prägnanz) erklärt. 260 Zweifel an dieser einfachen Erklärung weckt 258 Vgl. contr. 7, 1, 27 ( egregius poeta ) und VSD 28 (44). Zu den erhaltenen Fragmenten vgl. FPL 4 S. 296-297 mit weiterführenden Literaturangaben. 259 Für weiterführende Literatur vgl. FPL 4 S. 229-231. 260 Folgenreich war hier die Deutung Eduard Nordens; vgl. Norden (1986), I S. 283-284 („Sehr hübsch erkennt man dies Streben nach pointierter Kürze in einem Urteil Ovids …“) und ähnlich Higham (1958), S. 38 („intent here too upon brevity“). Zuletzt hat Berti (2007), S. 278 diese Ansicht wiederholt: „ma la proposta di troncamento è una spia significativa del nuovo gusto per la brevità e la concentrazione espressiva, che preferisce alla rappresentazione distesa dell’originale un’enunciazione assai più densa e audace nella sua <?page no="94"?> aber schon die Präsentation durch Seneca d. Ä., der als unterscheidendes Merkmal zwischen Varro und Ovid herausstellt, dass in den beiden Versionen jeweils ein anderer Gedanke zum Ausdruck gebracht wird ( Varro quem voluit sensum optime explicuit; Ovidius in illius versu suum sensum invenit ). Seneca d. Ä. bescheinigt Ovid also geradezu das Gegenteil, nämlich den stilistisch gelungenen Ausdruck eines anderen Gedankens ( optime explicuit ). Lassen sich also alternativ anstelle der bislang vermuteten stilistischen auch sachliche Gründe für die Änderung ausmachen? Um dieses Frage zu beantworten, sind die Prätexte, auf die Varro und Vergil bei ihren Nachtschilderungen zurückgreifen - insbesondere Apollonios und Homer - und die Zeugnisse für die daran anschließende kritische Diskussion heranzuziehen. Auch hier wird eine präzise definierbare und bereits in der Antike reflektierte Schwachstelle in den Vorlagen auszumachen sein, welche eine genauere Bestimmung der ästhetischen Herausforderung, der sich die Imitatoren jeweils gegenübersahen, und einen besseren Nachvollzug ihrer Entscheidungen erlaubt. Zunächst ist von der Vorlage Varros, der entsprechenden Stelle in den Argonautika des Apollonios Rhodios, auszugehen und zu ermitteln, welchen dichterischen Erfordernissen der hellenistische Epiker bei seiner Nachtschilderung zu genügen hatte. Apollonios’ Darstellung lässt den Einfluss der kritischen Auseinandersetzung mit bestimmten homerischen Nachtszenen, nämlich mit denen am Beginn des zweiten und zehnten Buches der Ilias , erkennen. Doch betrachten wir zunächst die Schilderung des Apollonios im Zusammenhang (Apoll. Rhod. 3, 744-748): νὺξ μὲν ἔπειτ᾽ ἐπὶ γαῖαν ἄγεν κνέφας: οἱ δ᾽ ἐνὶ πόντῳ | ναῦται εἰς Ἑλίκην τε καὶ ἀστέρας Ὠρίωνος | ἔδρακον ἐκ νηῶν: ὕπνοιο δὲ καί τις ὁδίτης | ἤδη καὶ πυλαωρὸς ἐέλδετο: καί τινα παίδων | μητέρα τεθνεώτων ἀδινὸν περὶ κῶμ᾽ ἐκάλυπτεν: | οὐδὲ κυνῶν ὑλακὴ ἔτ’ ἀνὰ πτόλιν, οὐ θρόος ἦεν | ἠχήεις, σιγὴ δὲ μελαινομένην ἔχεν ὄρφνην … („Die Nacht nun brachte Dunkelheit über die Erde, und die Seeleute auf dem Meer blickten von ihren Schiffen zum Großen Bären und zum Sternbild des Orion; auf Schlaf hoffte auch schon mancher Wanderer und Türhüter; selbst manche Mutter, deren Kinder gestorben waren, umfing tiefer Schlaf. Auch Hundegebell war in der Stadt nicht mehr zu hören, und auch kein Geräusch von Stimmen: Schweigen herrschte in dem schwärzer werdenden Dunkel.“ ÜS Glei / Natzel-Glei ) Im zitierten Passus werden, bevor die Sprache auf Medea selbst kommt, eine Reihe von Personengruppen genannt, die nachts keine Ruhe finden. Es scheint, concisione.“ - Abwegig ist die von Arcellaschi (1988), S. 85 geäußerte Vermutung, Ovid habe die Stelle durch die Tilgung der zweiten Vershälfte zum elegischen Distichon umformen wollen. Die Penthemimeres ist eine im Hexameter zu oft auftretende Zäsur, um diese Behauptung zu rechtfertigen. 94 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae <?page no="95"?> 3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern 95 dass Apollonios schrittweise von der sorgsamen Wachsamkeit der Seeleute über die Schläfrigkeit der Wanderer und Türhüter zu den „vom Schlaf eingehüllten“ Müttern, die ihre Kinder verloren haben, fortschreitet, das allmähliche Einschlafen der ganzen Welt also dichterisch nachzuvollziehen versucht. 261 Alle, die zuvor noch von Sorgen gequält waren, umfängt nach und nach tiefer Schlaf; nur Medea, die kontrastiv am Ende der Reihe steht, bleibt wach. Apollonios verleiht mit dieser narrativ steigernd strukturierten Darstellung den Sorgen der Verliebten besonderen Nachdruck: Das nächtliche Schweigen hat eine solche Gewalt 262 , dass ihm eigentlich niemand widerstehen kann. Medea hingegen ist von einer solchen inneren Unruhe gequält, dass sie sogar der Macht des Schlafes standhält. Wie aber sind das Schlafen der Vielen und das Wachen des Einzelnen zu bewerten? Wenn Schlaf in Situationen geschildert wird, in denen sich die Ruhe wegen einer drohenden Gefahr o. ä. eigentlich verbietet, so provoziert dies vor allem zwei Reaktionen seitens der antiken Kritiker: Entweder sie tadeln auf der Handlungsebene die schlafenden Personen selbst, indem sie ihnen Vorhaltungen wegen ihres unpassenden Verhaltens machen, oder sie kritisieren den Dichter, der seinem Publikum eine psychologisch unglaubwürdige Darstellung zumutet. Beide Formen der Kritik begegnen in den antiken Homerkommentaren - entweder als explizit geäußerter Tadel oder implizit in Form einer Verteidigung Homers gegen bestimmte Vorwürfe - im Zusammenhang mit Szenen, die sich im weiteren Sinne als Vorlagen für die Nachtschilderungen bei Apollonios, Varro und Vergil auffassen lassen. Kritik an den handelnden Figuren findet sich in einer Kommentarnotiz zu Il. 2, 1-4, wo nach der Auseinandersetzung zwischen Hera und Zeus, die den Abschluss des ersten Buches der Ilias bildet, der Schlaf der Götter und Menschen geschildert wird: 261 Vgl. dazu Hunter (1989), S. 176-177: „A.’s picture of the world at evening moves from alert watchfulness (sailors) to exhausted sleep (a mother whose children have died), from the expansive seas to the narrower land, from the male world of exchange and communication (sailors, travellers, a gate-keeper) to the most private female grief, from one sphere of activity controlled by Hermes (commercial travel) to another (sleep and death) …“ 262 Vgl. Apoll. Rhod. 3, 750 (σιγὴ δὲ μελαινομένην ἔχεν ὄρφνην) und Latacz (2000 ff.), II.2 S. 12 zu Il. 2, 2 („Der Schlaf als Agens wird wie andere körperlich-seelische Zustände … oft mit Verben des Kommens …, Sich-Niederlassens oder Ergreifens verbunden …; hier: ‘fest im Griff haben, beherrschen’ [ebenso 10.4, Od. 15, 7 …]“). <?page no="96"?> Ἄλλοι μέν ῥα θεοί τε καὶ ἀνέρες ἱπποκορυσταὶ | εὗδον παννύχιοι, Δία δ’ οὐκ ἔχε νήδυμος ὕπνος, | ἀλλ’ ὅ γε μερμήριζε κατὰ φρένα ὡς Ἀχιλῆα | τιμήσῃ, ὀλέσῃ δὲ πολέας ἐπὶ νηυσὶν Ἀχαιῶν. 263 („Da schliefen die anderen Götter und die pferdegerüsteten Männer | Die ganze Nacht. Aber den Zeus hielt nicht der süße Schlaf, | Sondern er überlegte in seinem Sinn, wie er den Achilleus | Ehre und viele der Achaier verderben sollte bei den Schiffen.“ ÜS Schadewaldt ) Im ersten Buch wird zwar keine akute Bedrohung durch den Krieg beschrieben. Dennoch findet der Schlaf der Krieger - die Götter bleiben von der Kritik ausgenommen - den Tadel der Philologen: ἱπποκορυσταί] οὓς ἀγρυπνεῖν ἔδει διὰ τὴν τοῦ πολέμου πρόνοιαν. οἱ δὲ τοὺς βασιλεῖς ἤκουον. (schol. bT ad Il. 2, 1 c = I 175, 7-8 Erbse) („roßgerüstet] Sie hätten wachen müssen, weil sie den Kampf schon vorhersahen. Sie hatten ja die Anführer gehört.“) Die Einlassung gilt den Achaiern selbst, die am Tag zuvor der Beratung beigewohnt hatten, bei der die Rücksendung der Chryseis und die Überstellung der Briseis an Agamemnon beschlossen worden war ( Il. 1, 54-305). Der anonyme Kommentator hat insbesondere die Worte des Achilles im Blick, der den Achaiern unter Eid seine Enthaltung vom Kampf und vielfachen Tod unter den Händen Hektors für den Fall in Aussicht gestellt hatte, dass ihm das Ehrgeschenk genommen würde ( Il. 1, 233-244). Nach einer solchen Szene war es dem antiken Kritiker zufolge als unangemessen zu tadeln, dass die Achaier sorglos schliefen. Wenn nicht die handelnden Figuren für ihr inkonsequentes Verhalten, sondern der Dichter und seine Darstellung getadelt werden, so richtet sich die Kritik auf die fehlende Plausibilität der Darstellung. Auch dafür findet sich in den Homerscholien ein treffendes Beispiel, nämlich am Beginn des zehnten Buches der Ilias ( Il. 10, 1-4): Ἄλλοι μὲν παρὰ νηυσὶν ἀριστῆες Παναχαιῶν | εὗδον παννύχιοι μαλακῷ δεδμημένοι ὕπνῳ· | ἀλλ’ οὐκ Ἀτρεΐδην Ἀγαμέμνονα ποιμένα λαῶν | ὕπνος ἔχε γλυκερὸς πολλὰ φρεσὶν ὁρμαίνοντα. („Da schliefen die anderen bei den Schiffen, die Ersten der All-Achaier, | Die ganze Nacht hindurch, vom weichen Schlaf bezwungen. | Doch den Atreus-Sohn Agamemnon, den Hirten der Völker, | Hielt nicht der süße Schlaf, denn viel bewegte er in dem Sinn.“ ÜS Schadewaldt ) 263 Il. 2, 1-4. - Vgl. Latacz (2000 ff.), II.2 S. 11-12 und zum Motiv ‘Alles schläft, einer wacht’ Wöhrle (1995), S. 52 mit weiterer Literatur. 96 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae <?page no="97"?> 3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern 97 Legt man wieder die zur Parallele im zweiten Buch genannten Kriterien an, so wäre ein Schlafverbot an das achaische Kriegsvolk an dieser Stelle noch eher am Platz als dort. Nach der abgebrochenen Schlacht ( Il. 8, 53-349) und der misslungenen Gesandtschaft an Achilles ( Il. 9, 182-668) ist der Mut der Achaier geschwunden; an Schlaf sollte in dieser Situation nicht zu denken sein. Der anonyme Kommentator muss also eigens betonen, dass hier eine glaubhafte Darstellung vorliegt, um Homer zu rechtfertigen: ἄλλοι μὲν παρὰ νηυσὶν ἀριστῆες Παναχαιῶν | <εὗδον παννύχιοι>] εἰκότως· ἀμφότερα γὰρ ὕπνου ἀγωγά, καὶ ὁ ἐκ τῆς μάχης κάματος καὶ ἡ ἐπὶ τῇ ἥττῃ δυσθυμία. (schol. A ad Il. 10, 1-2 = III 1, 7-8 Erbse) („Das stellt er glaubwürdig dar: Die beiden Dinge nämlich führen den Schlaf herbei, sowohl die Anstrengung des Kampfes wie auch die Mutlosigkeit infolge der Niederlage.“) Die Achaier sind nach einem Tag voller Kämpfe und der von Achill abgeschlagenen Bitte um Unterstützung vom Schlaf wie überwältigt (vgl. Il. 10, 2 b : μαλακῷ δεδμημένοι ὕπνῳ). 264 Diese Gewalt des Schlafes über alle Menschen ist ein Gemeinplatz: μαλακῷ] τῷ πάντας μαλάσσοντι, ὅθεν καὶ < Il. 24, 5; Od. 9, 373> ‘πανδαμάτωρ’ καλεῖται. (schol. bT et b ad Il. 10, 2 b = III 2, 21-22 Erbse) („vom weichen] von dem, der alle weich macht, weswegen er auch ‘Allbezwinger’ genannt wird.“) Die negative Wertung des Schlafes als bedrohliche Macht, die von den Menschen Besitz ergreift, hat ihr Pendant in der positiv besetzten Tugend der ἀγρυπνία, die man besonders von den homerischen Führungsgestalten Agamemnon und Achill einforderte. Am Beginn der homerischen Dolonie wird diese Qualität im Kontrast zu den Achaiern an Agamemnon betont (vgl. Il. 10, 3-4). Die Scholien bemerken dazu: <ἀλλ’ οὐκ Ἀτρείδην - / ὕπνος ἔχε>] ἀγρυπνεῖ ὁ στρατηγός, πρῶτα μὲν ὅτι τοὺς πρώην πολιορκουμένους πολιορκοῦντας ὁρᾷ, καὶ ὅτι ἡ εἰς Ἀχιλλέα ἐλπὶς ἐξεκέκοπτο, ἧς μάλιστα τὴν αἰτίαν εἶχεν. ἀκήκοε δὲ καὶ τοῦ ὀνείρου λέγοντος· < Il. 2, 24> ‘οὐ χρὴ παννύχιον εὕδειν βουληφόρον ἄνδρα’· τὰ μὲν γὰρ ἄλλα τῆς τύχης, τοῦ δὲ ἀμελεῖν ἡ αἰτία ἀπαραίτητος τοῖς στρατηγοῖς. … (schol. bT ad Il. 10, 3-4 = III 2, 25-36 Erbse) („Der Feldherr aber schläft nicht, erstens weil er die kürzlich noch Eingeschlossenen nun angreifen sieht und weil sich seine Hoffnung auf Achilles zerschlagen hat, zu der er die größte Veranlassung hatte. Den Traumgott aber hat er sagen hören: ‘Nicht ge- 264 Latacz (2000 ff.), II.2 S. 12 zu Il. 2, 2 (s. o.). <?page no="98"?> bührt es dem richtenden Manne die Nacht zu durchschlummern.’ 265 Das andere ist den Umständen geschuldet; hart aber ist der Vorwurf der Sorglosigkeit für Feldherren.“) Dass man auch in Rom epische Texte vor dem Hintergrund dieser homerischen Wertevorstellungen las, zeigen die antiken Vergilkommentatoren. In der Aeneis hat das Motiv des schlafenden Anführers eine wichtige Funktion bei der Charakterisierung der Figuren. Ein Scholion des Servius zeigt, dass man den Schlaf des Aeneas bei der Wegfahrt aus Karthago als anstößig empfand. Servius schreibt zu Aen. 4, 555: carpebat somnos] hoc est quod et paulo post culpat Mercurius , dicens < Aen. 4, 560> ‘nate dea, potes hoc sub casu ducere somnos’? sed excusatur his rebus: nam et certus eundi fuerat, et rite cuncta praeparaverat: aut certe prooeconomia est, ut possit videre Mercurium. rite ] recte et ex ordine compositis. et diligenter virum strenuum non ante facit requiescere, quam rite omnia paravisset. ([D]Serv. ad Aen. 4, 555 = I 562, 27-563, 3 Thilo-Hagen) Servius wendet zwei unterschiedliche Strategien an, um einen potentiellen Tadel an der Stelle, der vielleicht schon in einer der frühen Obtrektationsschriften gegen Vergil erhoben worden war, zu entkräften: Mit dem Stichwort prooeconomia ist der erzählstrategische Aspekt angesprochen, der im Schlaf 265 Das Zitat verweist auf den Beginn des zweiten Buches der Ilias zurück, wo der Schlafgott Agamemnon mahnt, er solle als guter Feldherr in der Nacht wachen; vgl. Il. 2, 23-25 (εὕδεις Ἀτρέος υἱὲ δαίφρονος ἱπποδάμοιο· | οὐ χρὴ παννύχιον εὕδειν βουληφόρον ἄνδρα | ᾧ λαοί τ’ ἐπιτετράφαται καὶ τόσσα μέμηλε … [„Du schläfst, Sohn des Atreus, des kampfgesinnten Pferdebändigers? | Nicht darf die ganze Nacht schlafen ein ratpflegender Mann, | Dem die Völker anvertraut sind und dem so viel obliegt.“ ÜS Schadewaldt ]). - Die Gnome war weit verbreitet: Epikt. diatr. 3, 22, 92 und Theo progymn. 5 = II 98, 23-27 Spengel berichten von einer Begegnung Alexanders des Großen mit Diogenes von Sinope: Der Makedone trifft den Philosophen schlafend an und richtet an ihn die homerischen Worte, worauf Diogenes aufwacht und im Halbschlaf mit dem Folgevers Il. 2, 25 antwortet. Kompilatoren wie Stobaios nahmen den prägnanten Spruch in ihre Anthologien auf. Auch in der lateinischen Literatur lassen sich zahlreiche Bezugnahmen auf die Sentenz nachweisen. Marc Aurel zitiert den Vers in einem Brief an Fronto (Fronto epist. ad M. Caes. et invicem 1, 4, 5 = 7, 12-14 van den Hout); vgl. auch Prisc. praeex. 11 = III 432, 31-32 Keil; Fulg. myth. 3, 1; Sil. 3, 172 ( turpe duci totam somno consumere noctem ). - Das Interesse an der Gnome war nicht nur in ihrer einprägsamen Prägnanz und ihrem allgemeingültigen Charakter begründet, sondern leitete sich auch aus dem Umstand her, dass Agamemnon in der hellenistischen und kaiserzeitlichen Homerexegese als exemplarische Führungsfigur gedeutet wurde, die die für einen βασιλεύς notwendigen Eigenschaften auch in Extremsituationen verkörperte. Im Hintergrund stand das Bemühen, in Homer den Dichter der Monarchie zu sehen und seine Werke als Lehrstücke des rechten königlichen Betragens zu begreifen, wie es prägnant in zwei Formulierungen in der pseudoplutarchischen Schrift De Homero zum Ausdruck kommt; vgl. Ps.-Plut. De Hom. B 178, 1 = 2214-2216 und 182, 1-2 = 2240-2244 Kindstrand. 98 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae <?page no="99"?> 3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern 99 des Helden die logische Voraussetzung für die folgende Traumerscheinung des Mercurius erkennt, wodurch die narrative Kohärenz gewährleistet wird. 266 Das erste apologetische Argument, das Servius vorbringt, bewegt sich hingegen auf einer anderen Ebene, nämlich derjenigen der ethischen Qualität des Helden. Der Schlaf des Helden sei gerechtfertigt, weil Aeneas sicher mit seiner Abreise rechnen konnte und zuvor alle nötigen Vorkehrungen getroffen habe: Seine Sorglosigkeit ist begründet - anders als bei den Achaiern an den oben behandelten Homerstellen. 267 Auch im Zusammenhang mit der Nachtszene, die mit Aen. 8, 26-27 eingeleitet wird, finden wir Hinweise, dass das Thema des Schlafes hier von den Vergilkommentatoren mit Bezug auf die homerischen Vorbildszenen behandelt wurde. Servius bringt eine Erklärung, die der oben in dem Scholion zu Il. 2, 1 referierten Kritik vom Ansatz her erstaunlich ähnelt: seramque dedit per membra quietem] tardam, quippe in bellicis curis. (Serv. ad Aen. 8, 30 = II 203, 21-22 Thilo-Hagen) Deutlicher wird der anonyme Verfasser eines Veroneser Scholions, der die bekannten Worte des Schlafgottes aus dem zweiten Buch der Ilias mit einem Hinweis auf ihre ethische Relevanz für den dux zitiert: 266 Zum Konzept des προοικονομεῖν vgl. → Kap. 3.2.1 und Nünlist (2009), S. 28-30. - Die Stellen, an denen Servius und die spätantiken Vergilkommentatoren auf die Kategorien oeconomia und prooeconomia zurückgreifen, behandelt Cyron (2009), S. 89-117 (S. 94-95 zur oben zitierten Stelle); vgl. auch Lazzerini (1989). Zu den Schwierigkeiten einer genauen Definition (Cyron [2009], S. 85-88) vgl. zusammenfassend ders. S. 87: „Aus den bisher zitierten Quellen folgt, dass oeconomia ein Begriff ist, der auf Rhetorik wie auf Dichtung angewandt werden konnte und meist mit Zügen der rhetorischen dispositio versehen wird, der zweckmäßigen Anordnung des in der inventio be<s>timmten Stoffes auf ein Ziel hin, der aber offenbar auch Züge der inventio und sogar der elocutio tragen konnte.“ Cyron (2009), S. 88 verweist noch auf ein Scholion des Ps.-Acro zur Ars poetica des Horaz, aus dem hervorzugehen scheint, dass geschickte oeconomia über die dispositio des Stoffes hinaus auch noch zur Einheit des Gedichts beitragen soll. 267 Servius erwähnt das Thema der Wachsamkeit des Königs in homerischem bzw. trojanischem Zusammenhang bei der Betrachtung der karthagischen Tempeltüren im ersten Buch der Aeneis , wo Aeneas und Achates unter anderem auch den vor Achill um Hektors Lösung bittenden Priamos dargestellt sieht. Er verweist in seiner Kommentarnotiz auf die historia , von der Homer bewusst abweiche, wenn er Achill den Priamos wachend empfangen lässt. Homer hätte sich von der mythographischen Vulgata entfernt, um seinen Protagonisten keinem moralischen Tadel auszusetzen (derselbe Hinweis findet sich auch zu Aen. 2, 541); vgl. Serv. ad Aen. 1, 487 = I 154, 15-19 Thilo-Hagen (sane per transitum historiam tetigit, quia constat Priamum, cum ad supplicandum tentorium Achillis fuisset ingressus, dormientem Achillem excitavisse, ut pro filii corpore rogaret eum, cum eum potuisset occidere: licet hoc Homerus propter Achillis turpitudinem supprimat). <?page no="100"?> <seramque - quietem>] Ut dictum est: Οὐ χρὴ παννύχιον εὕδειν βουληφόρον ἄνδρα <Il. 2, 24 > quod duci convenit . (schol. Ver. 439, 13-14 Hagen = 117, 16-19 Baschera) Diese Besonderheiten des epischen Verhaltenskodex, den die antiken Kritiker an die Texte von Homer, Apollonios bzw. Varro und Vergil in vergleichbarer Weise anlegten, sind zu berücksichtigen, wenn man den Vorschlag Ovids, Varros zweiten Halbvers zu tilgen, richtig verstehen will. Vergleicht man die Übertragung Varros und stellt sie in den aus Apollonios zu rekonstruierenden Kontext, so ergibt sich nach antiker Vorstellung ein Widerspruch. Man kann nämlich schwerlich davon sprechen, dass die genannten Personengruppen, die trotz ihrer schweren Sorgen vom Schlaf überwältigt wurden, nach ihrem Einschlafen einen „friedlichen“ Schlaf genossen hätten. Ähnliches gilt auch für die Situation der Argonauten in dieser Nacht: Jason hatte kurz zuvor von den Aufgaben erfahren, die er zu vollbringen hat, und sich auf das risikoreiche Zaubermittel Medeas eingelassen. In dieser Situation wie Varro davon zu sprechen, dass sich „alles in friedlicher Ruhe niedergelegt“ hätte, erscheint nach den Maßstäben der Figurenpsychologie unglaubwürdig. Dass placidus als Adjektiv für die nächtliche Ruhe der besorgten Bevölkerung nicht passen kann, zeigt auch Seneca d. J., der denselben Varrovers zitiert, der schon bei seinem Vater kritisiert wurde. Nach Seneca schließen sich nämlich innere Erregtheit und die in noctis placida quies zum Ausdruck kommende Vorstellung aus: … Nam quid prodest totius regionis silentium, si affectus fremunt? ‘Omnia noctis erant placida composta quiete.’ Falsum est: nulla placida est quies nisi quam ratio composuit; nox exhibet molestiam, non tollit, et sollicitudines mutat. (Sen. ep. mor. 56, 5-6) Seneca d. J. will sagen: Nur die durch ratio erworbene Ruhe ist wirklich friedlich; die Beseitigung äußerer Störfaktoren trägt nichts zur inneren Ruhe bei. Wen die Nacht überwältigt hat, obwohl er eigentlich an Ruhe nicht denken kann - wie die Argonauten oder die anderen bei Apollonios genannten Personengruppen -, der genießt nicht eigentlich eine friedliche Ruhe, sondern tauscht nur die Unruhe am Tage mit der Drangsal bei Nacht ein. Werfen wir abschließend einen kurzen Blick auf die vergilischen Schlafszenen und die hier verwendeten Adjektive, um die bisher vorgebrachten Überlegungen zu überprüfen. An der von Seneca d. Ä. zitierten Stelle Aen. 8, 27, die der Szenerie bei Apollonios bzw. Varro an Gespanntheit und innerer Dramatik entspricht, verwendet Vergil - wie sich nun sagen lässt: stilistisch begründet - das Adjektiv altus - und nicht placidus -, um den Schlaf zu charakterisieren. - Nach der Abfahrt des Aeneas besteht - außer für Dido - kein Grund zur Sorge mehr. Dass die Männer des Aeneas bei der Abfahrt froh gestimmt waren, hat die Königin selbst ihrer Schwester Anna berichtet ( Aen. 4, 418). 100 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae <?page no="101"?> 3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern 101 Und wenn man sich erinnert, welches Skandalon die Verbindung zwischen Aeneas und Dido bei der karthagischen Bevölkerung und bei den angrenzenden Völkern darstellte 268 , erscheint es plausibel, dass nach der Abfahrt der trojanischen Gäste auf Seiten der Karthager ein begründetes Gefühl der Sorglosigkeit vorherrschend war. Hier passen also die Wendungen, die Vergil in bewusstem Anklang an Varros Neugestaltung des Apollonios verwendet. 269 - Aufschlussreich ist schließlich im Kontrast zu den zuletzt genannten Stellen Aen. 1, 247-249, wo Venus zu Jupiter von Antenor spricht, der - im Gegensatz zu Aeneas - das Ziel seiner Reise erreicht und Padua gegründet hat, demnach also auch keine Sorgen mehr leidet und seine friedliche Ruhe genießen kann. Auch hier finden sich - im letzten Vers - eindeutige Bezüge zu Varro ( Aen. 1, 247-249): Hic tamen ille urbem Patavi sedesque locavit | Teucrorum, et genti nomen dedit, armaque fixit | Troia; nunc placida compostus pace quiescit . Abschließend lässt sich also zusammenfassen: Ovid kritisiert bei Varro die Verwendung von placidus , weil es nicht zu der unmittelbar zuvor - für uns nur bei Apollonios, aber sicherlich auch in der Übertragung Varros - geschilderten sorgenvollen Welt passt. Durch die Streichung des zweiten Halbverses ändert Ovid den Sinn insofern, als er jetzt sagt, dass die Nacht Besitz von allem ergriffen hätte, und nähert so den Varrovers an die parallele Schilderung bei Homer an, wo beschrieben wird, dass der Schlaf als πανδαμάτωρ Gewalt über die Achaier ausübt. Das zugrundegelegte ästhetische Kriterium ist das der psychologischen Folgerichtigkeit bzw. Plausibilität (πιθανότης), wonach die Art des Schlafes mit der äußeren Situation der Schlafenden übereinstimmen muss. Das gibt aber nun gleichzeitig ein Kriterium an die Hand, um Vergils Änderung der varronischen Vorlage zu erklären: Altus nimmt den bei Varro vorliegenden Widerspruch zurück, die Stelle ist einer möglichen Kritik weniger stark ausgesetzt. 268 Vgl. die Fama-Episode und das Gebet des Iarbas in Aen. 4, 173-217. Didos Liebesleidenschaft führte zu einem Erlahmen der karthagischen Unternehmungslust ( Aen. 4, 86-89). 269 Vgl. Aen. 4, 522 ( Nox erat et placidum carpebant fessa soporem ). - Servius nähert die Stelle in seinem Komm. zu Aen. 1, 388 noch weiter an Varro an, wo er fälschlich aus dem Gedächtnis et placidam carpebant membra quietem zitiert - und Aen. 4, 526-527 ( quaeque … quaeque … | … tenent, somno positae sub nocte silenti [Varro: omnia noctis erant placida composta quiete ]). - Der Vers Aen. 4, 528 ( lenibant curas et corda oblita laborum ; ~ Aen. 9, 225), der nur in einem Teil der Handschriften überliefert ist und im Kommentar des Servius nicht erläutert wird, ist nach Meinung der meisten modernen Herausgeber zu tilgen. Vergil zeichnet also im Gegensatz zu Apollonios in seiner Nachtschilderung in Aen. 4, 522-528 ein ungetrübtes Bild des Friedens und der Sorglosigkeit - abgesehen natürlich vom inneren Zustand Didos. <?page no="102"?> 3.3 Zusammenfassung In seinen programmatischen Äußerungen zeigt sich Seneca d. Ä. ganz auf der Höhe der stilkritischen Debatten seiner Zeit (→ Kap. 3.1). Er nimmt eine „moderne“ Position ein, wenn er die künstlerische imitatio einer Vielzahl von anerkannten Vorbildautoren als eine Methode beschreibt, dem aktuellen rednerischen Verfallszustand abzuhelfen. Seine Sammlung von Controversiae und Suasoriae hat weniger systematischen Anspruch im Sinne einer Theorie der imitatio , als vielmehr den Zweck, anhand konkreter Fälle Kategorien gelungener und misslungener Nachahmung vorzuführen. - In beiden behandelten Beispielen wird Vergils Kunst der imitatio als vorbildlich vorgestellt. Dies erfolgt jeweils vor der Kontrastfolie einer Prosadeklamation: Im Falle von suas. 1, 12 (→ Kap. 3.2.1) ist es ein aus Homer geschöpfter Abschnitt einer Übungsrede des griechischsprachigen Deklamators Dorion, der mit Vergils Homerimitatio verglichen wird, in contr. 7, 1, 27 (→ Kap. 3.2.2) eine Formulierung des Cestius. Im letzteren Fall ist die Vergleichstechnik besonders raffiniert: Cestius imitiert und verfehlt Vergil; Vergil aber hat an selber Stelle wiederum Varro imitiert und dabei auch Modellstellen aus Homer und Apollonios Rhodios und deren philologischen Diskussionszusammenhang berücksichtigt. Als Anhang wird ein eigener Vorschlag Ovids referiert, der eine Schwachstelle in Varros Versen kenntlich macht: Wenn Varro in seiner Nachtschilderung die Menschen ruhig schlafen lässt, verstößt er gegen die Forderung nach psychologischer Glaubwürdigkeit . Erst durch diesen Kommentar Ovids wird deutlich, worin der Vorzug Vergils vor seinem Modell besteht: In der Aeneis ist nur vom tiefen Schlaf die Rede - der „Fehler“ Varros wird also vermieden. Auf ähnliche Weise führt suas. 1, 12 das Thema der Glaubwürdigkeit ein, diesmal aber in sachlicher Hinsicht : Vergil stellt den Steinwurf des Kyklopen viel vorsichtiger und den Gegebenheiten der Realität entsprechend dar, wohingegen Dorion seine Schilderung durch unrealistische und effekthascherische Details belastet. In beiden Abschnitten wird die imitatio also kontrastiv vor dem Kriterium der Glaubwürdigkeit bewertet, wobei in suas. 1, 12 Glaubwürdigkeit als Realismus im sachlichen Sinne - d. h. als Übereinstimmung mit der Erfahrungswirklichkeit -, in contr. 7, 1, 27 als Realismus im psychologischen Sinne gemeint ist. 102 3. Seneca d. Ä., Suasoriae und Controversiae <?page no="103"?> 4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae 103 4. Gellius, Noctes Atticae 4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae 4.1.1 Enzyklopädische, rhetorische und grammatische Bildung bei Gellius Über ein Jahrhundert trennen Seneca d. Ä. von Gellius, dem wir mit den beiden Kapiteln 9, 9 und 13, 27 seiner Noctes Atticae zwei wichtige Beiträge zur Frage der relativen Bewertung Vergils und Homers verdanken. 270 Wie bereits ausgeführt, war Vergils kanonische Stellung zu Gellius’ Zeit, also in der zweiten Hälfte des zweiten Jhdt. n. Chr., gefestigt 271 und sein Verhältnis zum Vorbild Homer nicht zuletzt durch die Autorität Quintilians definiert. Wo positionieren sich aber die Noctes Atticae in der Homer-Vergil-Frage? Wieder ist zunächst von der besonderen Zielsetzung, der Gellius in seiner Schrift folgt, auszugehen, bevor die in 9, 9 und 13, 27 präsentierten kritischen Methoden auf ihre Tendenz hin untersucht werden. Über den Zweck, den Gellius mit seinen Noctes Atticae verfolgt, macht er in der Vorrede - sie ist wegen eines wohl nicht beträchtlichen Textausfalls am Beginn nur teilweise erhalten - unterschiedliche Angaben. Eher bescheiden äußert er sich an der Stelle, wo der überlieferte Text einsetzt: Gellius möchte demnach seinen Kindern die Möglichkeit geben, sich bei gelegentlichen Arbeitspausen ( interstitione aliqua negotiorum data ) geistig zu erholen ( quando animus … laxari indulgerique potuisset ). 272 Im nächsten Abschnitt streicht er dagegen den persönlichen Nutzen, den er selbst mit seiner Sammlung verfolgt, hervor: Sie diene ihm als „Gedächtnisstütze“ bzw. „Wissensvorrat“ ( ad subsidium memoriae quasi 270 Zum Titel vgl. Gell. praef. 4-10 und Holford-Strevens ( 2 2003), S. 27-29. - Gründe für eine Datierung in die Zeit des Apuleius bei Holford-Strevens ( 2 2003), S. 22-26. 271 Auch die erklärte „Kanonkritik“ von Archaisten wie Kaiser Hadrian, der den alten Cato über Cicero, Ennius über Vergil und Coelius Antipater über Sallust stellte (Hist. Aug. Hadr. 16, 6), belegt in ihrer Wirkungslosigkeit vor allem die Gültigkeit des herrschenden Kanons von (Schul-)Klassikern, der ernsthaft auch im zweiten Jhdt. nicht in Frage gestellt werden konnte. (Cassiodor wird später bezugnehmend auf den Grammatiker Arusianus Messius [~ 395 n. Chr.] von Vergil, Terenz, Cicero und Sallust als der quadriga Messii sprechen; vgl. inst. 1, 15, 7.) - Vgl. zum Archaismus des 2. Jhdt. Schindel (1994); für Gellius - dessen Vorliebe auch für die archaische Literatur außer Frage steht - ist keinerlei kritische Haltung zu Vergil nachzuweisen (s. u.). 272 Gell. praef. 1. <?page no="104"?> 104 4. Gellius, Noctes Atticae quoddam litterarum penus ), indem sie die wesentlichen Inhalte der von ihm studierten Werke in komprimierter Form aufbewahrt. An einer dritten Stelle kommt Gellius dann wieder auf den Nutzen für die Kinder zu sprechen, diesmal allerdings in differenzierterer Weise und verbunden mit einem pädagogischen Gedanken. Sein Ziel sei demnach dreifacher Natur: Lesevergnügen, Bildung durch Lektüre und praktische Anwendbarkeit des memorierten Wissens ( … quod sit aut voluptati legere aut cultui legisse aut usui meminisse ). 273 Er nimmt dabei für sich in Anspruch, seine Quellen „nicht ohne kritisches Unterscheidungsvermögen“ ( ‘alba’ ut dicitur ‘linea’ sine cura discriminis ) 274 ausgewählt zu haben, um die besagten drei Ziele zu erreichen. 275 Einer Sentenz des Heraklit zufolge ist es nicht Vielwisserei, die den Verstand bildet. 276 Darauf beruft sich Gellius in praef. 12, wenn er seine Auswahl rechtfertigt, indem er zwei leitende Ziele geltend macht: Den aufnahmebereiten Lesern ( ingenia prompta expeditaque ) will er nur Anregungen bieten, die die Lust auf weitere Lektüre steigern sollen, für andere hingegen, die wegen drängender Geschäfte von weiteren Studien abgehalten werden, will er durch seine handliche Exzerptensammlung immerhin die Informationen liefern, mit denen sie sich vor dem Vorwurf schändlicher Unwissenheit bewahren können. 277 Diese 273 Gell. praef. 11. 274 Gell. praef. 11. - Das Bild von der „weißen Linie“, die sich vom - ebenfalls weißen - Grund nicht abhebt, zuerst bei Plat. Charm. 154 b und dann bei Lucil. 834-835 = 830-831 Marx ( … nam ut discrimen non facit | neque signat linea alba ). 275 Trotz dieses Bekenntnisses zur urteilsgeleiteten Auswahl seines Materials macht die Sammlung auf weite Strecken hin den Eindruck unsystematischer Stoffanhäufung; vgl. zu diesem Widerspruch und zur Zielsetzung der Noctes Atticae allgemein Holford-Strevens ( 2 2003), S. 36-47 und Morgan (2004), pass. Kritik am Bildungsanspruch („Didaktische Intention“) bei Lindermann (2006), S. 34-40. - Zuletzt hat es Heusch (2011) unternommen, unter dem kulturwissenschaftlich gefassten Begriff der memoria eine Gesamtinterpretation der Noctes Atticae in ihrer kaleidoskopartigen Vielfalt an Themen zu leisten. Auch sie geht dabei vom Konzept des vir civiliter eruditus (s. u.) aus; vgl. zusammenfassend S. 405: „So gibt das gellianische Bildungskompendium seinen Lesern einen Führer an die Hand, der sie durch die unübersichtlich gewordene Wissens- und Bücherlandschaft führt, und ihnen den angemessenen Umgang mit Literatur aller Art am Lektüre- und Rezeptionsverhalten des Autors und anderer Figuren demonstriert. Daneben gewähren die ‘Noctes Atticae’ … Einblick in das Regelwerk des Gesellschaftsspiels der gebildeten Unterhaltung. Diese … Bildungskultur hat einerseits distinktive Funktion … Andererseits entfaltet die von Gellius reflektierte und reproduzierte Bildungskultur auch integrative Kräfte [i. S. e. globalisierten, bikulturellen Bildungswelt].“ Vgl. zu den in den Noctes Atticae auftretenden Figuren und der durch sie repräsentierten Bildung auch Pausch (2004), S. 147-232. 276 Vgl. frg. 40 Diels (πολυμαθίη νόον οὐ διδάσκει). 277 Gellius differenziert seine Leserschaft hier graduell nach der Intensität ihrer Lektüre bzw. ihrer Bereitschaft, sich zu bilden. <?page no="105"?> 4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae 105 „schändliche und bäurische Unwissenheit“ 278 erstreckt sich für Gellius auf verba und res ( rerum atque verborum imperitia ), womit die beiden Hauptbereiche des in den Noctes Atticae vermittelten Wissens bezeichnet sind, nämlich der sprachliche und der antiquarisch-sachliche. Die selbstauferlegte quantitative Beschränkung beim Exzerpieren hat zufolge, dass Gellius den einzelnen Themengebieten eine exemplarische Bedeutung zuweisen muss, wenn er gleichzeitig an der enzyklopädischen Grundidee der von ihm kompilierten Sammlung festhalten möchte. Diese enzyklopädische Grundidee kommt besonders in dem Abschnitt zum Tragen, in dem sich Gellius für die Behandlung entlegener Gegenstände aus Sachgebieten wie Grammatik, Dialektik oder Geometrie rechtfertigt: Non enim fecimus altos nimis et obscuros in his rebus quaestionum sinus, sed primitias quasdam et quasi libamenta ingenuarum artium dedimus, quae virum civiliter eruditum neque audisse umquam neque attigisse, si non inutile, at quidem certe indecorum est. ( praef. 13) Mit den ingenuae artes spielt Gellius auf den von Varro definierten Disziplinenkanon an, der als geschlossenes enzyklopädisches System eine Gesamtheit des Wissens repräsentieren sollte. 279 Gellius legt die Betonung an der zitierten Stelle auf die Notwendigkeit einer bestimmten Form von Bildung für den sozialen Stand ihres Trägers, deren Fehlen zur sozialen Exklusion führt ( … si non inutile, at quidem certe indecorum … ). Dies rechtfertigt auch den Kompendiencharakter des Werks: Wenn er mit seinen Noctes Atticae bei einem Teil der Leser auch keine weiterreichenden Bildungsbemühungen anregen kann, so erfüllen sie doch ihren Zweck, indem sie diesem Rezipientenkreis zumindest das notwendige Minimum an Wissen an die Hand geben, um den sozialen Anforderungen an einen vir civiliter eruditus zu genügen. Eine genauere Bestimmung der inhaltlichen Aspekte im Bildungsbegriff des Gellius geschieht eher beiläufig in praef. 16. Gellius tritt hier präventiv Einwänden entgegen, die sich gegen Abschnitte in seinem Werk richten könnten, in denen von entlegenen, dem Leser noch nicht aus anderen Texten bekannten Gegenständen die Rede ist. Hier sei Gellius zufolge zu prüfen, ob nicht auch sie Bildungswert besitzen: … aequum esse puto, ut sine vano obtrectatu considerent, an … eius seminis generisque sint, ex quo facile adolescant aut ingenia hominum vegetiora aut memoria 278 Vgl. Gell. praef. 12 ( a turpi certe agrestique rerum atque verborum imperitia ). 279 Vgl. Fuchs (1962 a ), Sp. 387-389 und - zur Einordnung in die enzyklopädische Tradition - Fuchs (1962 b ), Sp. 509. <?page no="106"?> adminiculatior aut oratio sollertior aut sermo incorruptior aut delectatio in otio atque in ludo liberalior. (Gell. praef. 16) Diese allgemeine Zielbestimmung ist nicht nur auf das „Neue und Unbekannte“ ( nova … ignotaque ) - d. h. auf Randbereiche im antiken Disziplinenkanon - zu beziehen, sondern gilt für den Stoff der Noctes Atticae generell. Worauf läuft dieses übergeordnete Bildungsziel aber hinaus? Gellius profiliert es an dieser Stelle als ein rhetorisches, dem auch im strengeren Sinne der Grammatik zugehörige Bereiche ( sermo incorruptior ) 280 und Fragen einer für Gebildete angemessenen Freizeitbeschäftigung ( delectatio in otio atque in ludo liberalior ) zugeordnet sind. Vor allem aber sollen die rhetorischen Kernkompetenzen ingenium , memoria und Redegewandtheit ( oratio sollers ) durch die Beschäftigung auch mit Nischenthemen ausgebildet werden. Dabei fällt freilich auf, dass die rhetorische Theorie nur einen geringen Teil der in den Noctes Atticae angesprochenen Gegenstände darstellt. 281 Auch der Lektürestoff der Rhetorenschule - Historiker und Redner 282 - tritt, verglichen mit der Dichterlektüre, die strenggenommen ins Metier der Grammatiker fällt, keineswegs in den Vordergrund. 283 Die zahlreichen Erörterungen über Archaismen, korrekten Sprachgebrauch, lexikalische Vergleiche zwischen der griechischen und lateinischen Sprache, Etymologien, Morphologie und Semasiologie 284 sind der Disziplin nach grammatischer Natur, und C. Sulpicius Apollinaris, die zentrale Grammatikerfigur in den Noctes Atticae , bildet auch auf der Ebene des Personals ein Gegengewicht zu Rhetoriklehrern wie Antonius Julianus und T. Castricius. 285 Gellius formuliert in seiner Vorrede also zwar ein rhetorisches Bildungsziel als Leitidee, berücksichtigt in der Auswahl seiner Themen aber die verschiedensten Themengebiete, wobei sich ein erkennbarer Schwerpunkt im Bereich der grammatischen Bildung ergibt. 286 Damit folgt er der Idee von den ingenuae 280 Vgl. die Definition bei Quint. inst. 1, 4, 2 ( haec igitur professio, cum … in duas partis dividatur, recte loquendi scientiam et poetarum enarrationem, … ). 281 Vgl. die Übersicht bei Holford-Strevens ( 2 2003), S. 290-294. 282 Quint. inst. 2, 5, 1 weist die poetarum enarratio den Grammatiklehrern, die Historiker- und Rednerlektüre den Rhetorikern zu. 283 Zusammenstellung bei Berthold (1959), S. 115-116 (Reden und Rhetorik) und 126-127 (Historiographie) vs. 127-133 (Dichtung und Drama). 284 Berthold (1959), S. 100-114. 285 Vgl. Holford-Strevens ( 2 2003), S. 83-90. 286 Das steht in einem gewissen Widerspruch zu der despektierlich-herablassenden Haltung, die Gellius an vielen Stellen gegenüber dem Stand der Grammatiker zum Ausdruck bringt; vgl. Holford-Strevens ( 2 2003), S. 172-173. Die Grenzen dürfen freilich nicht zu streng gezogen werden, empfehlen doch schon Theophrast und Cicero die Lektüre der Dichter auch für den Redner, womit der enarratio poetarum beim Grammatiker auch und 106 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="107"?> artes als eines umfassenden Wissenssystems, dessen Beherrschung erst den vir civiliter eruditus ausmacht, ohne dass er dieses Wissenssystem in vollem Umfang enzyklopädisch darstellen müsste. Aus dieser Schwerpunktsetzung im Bereich der Grammatik, wie sie sich in der Themenwahl der Noctes Atticae abzeichnet, erklärt sich nun auch das besondere Interesse, das Gellius Vergil als dem exemplarischen Dichter lateinischer Sprache entgegenbringt. 287 Fragestellungen und Methoden sind hier wieder vor allem grammatischer Natur: Sprachgebrauch 288 , Lesarten (Gell. 4, 1, 15), angebliche Verstöße gegen die historia (Gell. 10, 16) oder die Frage, welche Bezüge zwischen Biographie und Werk bei diesem Dichter relevant sind (Gell. 6, 20), stehen hier im Zentrum. An manchen Stellen kommt außerdem zum Ausdruck, dass Gellius Vergil auch als Quelle „verborgenen“ Wissens schätzt, das er dann durch grammatische Sacherläuterung erschließt. 289 Gelegentlich kommt er auch auf das Verhältnis zu Homer zu sprechen, wenn er dessen Autorität bei der Behandlung konkreter Vergilstellen entweder bestätigend 290 oder - in Fällen von explizit festgestellter aemulatio - kontrastiv zur synkritischen Beurteilung mit Vergil 291 heranzieht. im Besonderen die Funktion einer rhetorischen Propädeutik zukommt; vgl. Quint. inst. 10, 1, 27-30. 287 Damit nimmt Vergil eine Sonderstellung unter den (nach-)augusteischen Dichtern ein; vgl. Holford-Strevens ( 2 2003), S. 209: „Vergil is cited over twice as often as any of his Latin predecessors; next come Plautus, Lucilius, and Ennius. But apart from fleeting hints of Horace, and one apparent reminiscence of Ovid, no other Augustan or Silver poet leaves a trace; not even Lucan, whom Fronto had deemed worthy of his censure while completely ignoring Vergil.“ 288 Vgl. Gell. 1, 21, 5-7 (über Besonderheiten Vergils in diesem Bereich, die auf Lukrez zurückgehen); 2, 16; 5, 8 (durch Vergleich mit Stellen aus Vergil selbst widerlegt); 16, 6. 289 Vgl. Gell. 5, 12, 13 und 3, 2, 14. 290 Einen Tadel an Vergil hinsichtlich des passenden Wortgebrauchs zu entkräften hilft der Hinweis auf Homer - neben anderen Autoritäten - in Gell. 2, 6, 11. Auch bestimmte Stileigentümlichkeiten bei Vergil werden durch den Hinweis auf Homer gerechtfertigt bzw. gewürdigt; vgl. Gell. 6, 20, 2-6 (über Hiate bei Vergil, Homer und Catull). 291 Eine Homerimitatio „unter erschwerten Bedingungen“ wird in Gell. 9, 10, 3-4 gewürdigt: An Vergils Darstellung der Liebesszene zwischen Vulcanus und Venus ( Aen. 8, 404 b -406) lobt der Dichter Annianus nämlich, dass er trotz der Ausführlichkeit der Schilderung den Anstand bewahrt habe, Homer dagegen zwar ebenso anständig geblieben sei, sich aber auf kurze Andeutungen beschränkt habe. - Auch in sachlichen Fragen ist Überbietung möglich: Gell. 12, 1, 20 zeigt, dass Vergil durch seine überragenden Kenntnisse auch auf dem Gebiet der Physiologie in Aen. 4, 367 sein Modell Il. 16, 33 b -35 übertrifft. 4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae 107 <?page no="108"?> 4.1.2 Autoren- und Textvergleiche in den Noctes Atticae-- eine Übersicht Die wichtigste Methode, der sich Gellius bzw. die bei ihm auftretenden Gelehrten in ihren literarischen Analysen, aber auch in anderen Zusammenhängen bedienen, ist der Vergleich . 292 Das hat verschiedene Gründe und hängt z. T. mit der Genese der Sammlung, z. T. aber auch mit den behandelten Themen selbst und den auf diesen Gebieten einschlägigen Methoden zusammen. Der entstehungsgeschichtliche Aspekt wird aus den Angaben in der Vorrede deutlich: Demnach sind die Noctes Atticae eine Sammlung von Buchexzerpten, deren Abfolge keinem besonderen System, sondern nur dem mehr oder minder zufälligen Lektüregang des Kompilators folgt. 293 In einzelnen Kapiteln werden sachlich zusammengehörige Exzerpte gesammelt. Die komparative Auswertung der so zusammengetragenen Abschnitte ergibt sich dann ganz natürlich im Prozess des Sammelns. Im engeren Bereich der Sprache und Literatur reicht die Bedeutung des Vergleichs als Leitmethode aber noch erheblich weiter. Grundsätzlich ist hier zwischen selbstständigen und unselbstständigen Vergleichen zu unterscheiden: Selbstständige Vergleiche bilden jeweils das Thema einzelner Kapitel - z. T. argumentativ verbunden mit übergeordneten Fragestellungen -, unselbstständige Vergleiche haben eher beiläufigen Charakter; sie sind in den Argumentationsgang der jeweiligen Kapitel eingebunden, für diese aber nicht strukturbestimmend. Inhaltlich lassen sich die unselbstständigen Vergleich in zwei Gruppen unterteilen: Solche, in denen Autoren, und solche, in denen Texte miteinander verglichen werden ( Autoren- und Textvergleich ). Eine gewisse formale und inhaltliche Varianz bieten schon die Autorenvergleiche: In einer Reihe von Kapiteln werden etwa bestimmte biographische Aspekte der behandelten Autoren - Redner, Philosophen, Dichter und Historiker -, wie z. B. Datierung, Lebensumstände und Charakterzüge, miteinander verglichen ( biographischer A.-Vergleich ). 294 An 292 Vgl. grundsätzlich Berthold (1996), pass. und Heusch (2011), S. 283-301. 293 Gell. praef. 2 ( Usi autem sumus ordine rerum fortuito, quem antea in excerpendo feceramus. Nam proinde ut librum quemque in manus ceperam seu Graecum seu Latinum vel quid memoratu dignum audieram, ita quae libitum erat, cuius generis cumque erant, indistincte atque promisce annotabam … ). 294 Datierung : Gell. 3, 11 (Homer und Hesiod); 15, 23 (Hellanikos von Lesbos, Herodot, Thukydides); 17, 21 (= Synchronismuskapitel; vgl. 3: Homer und Hesiod; 18: Sophokles, Euripides, Hippokrates und Demokrit; 35: Aristoteles und Demosthenes; 38: Epikur und Zeno; 42: Livius Andronicus und Sophokles, Euripides sowie Menander; 47: Cato und Plautus; 49: Ennius, Caecilius Statius, Terenz, Pacuvius und Accius). Lebensumstände : Gell. 2, 18, 3 u. 6-11 (die Philosophen Phaedon, Menippus, Pompylus, Perseus, Mys, Diogenes und Epiktet entstammen dem Sklavenstand); 3, 3, 14-15 (Plautus und Naevius 108 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="109"?> anderer Stelle halten Gellius bzw. die auftretenden Gelehrten Autoren - wieder ohne Bezug auf konkrete Textstellen - gegeneinander ( genereller A.-Vergleich ), entweder um eine relative Wertung zu treffen ( synkritischer A.-Vergleich ) oder einfach um auf Unterschiede hinzuweisen, ohne Rangstufen festzulegen ( qualitativer A.-Vergleich ). 295 Zum ersten der beiden Typen zählen auch die Stellen, an denen durch superlativische Ausdrücke beiläufig generelle Wertungen über einzelne Autoren gegeben werden, 296 und solche, wo die Auseinandersetzung zwischen Autoren in Form von Wettkämpfen u. ä. - gewissermaßen inszenierte Kanonisierungsprozesse - beschrieben bzw. erwähnt wird. 297 Geht man vom Autorenzum Text vergleich über, so ergibt sich ein noch vielfältigeres Bild. Ein großer Teil der diesbezüglichen Bemerkungen bei Gellius betrifft das, was man modern als „Quellenkritik“ bezeichnen würde: Gemeinsamkeiten 298 und Unterschiede 299 der zu bestimmten sachlichen Fragen haben ihre Stücke in der Mühle bzw. im Gefängnis verfasst); 15, 28, 6-7 (Cicero und Demosthenes bereits früh als Redner hervorgetreten und beinahe im selben Alter verstorben); vgl. auch Gell. 17, 17 (Mithridates beherrschte 25, Ennius drei Sprachen). Charakterzüge : Gell. 1, 5 (übertriebene Körperpflege des Demosthenes und Hortensius); 14, 1, 29 (Lebensumstände und Veranlagung des Sokrates, Antisthenes und Platon gleichwertig). - Vgl. auch Gell. 1, 24 (Grabepigramme von Naevius, Plautus und Pacuvius zusammengestellt). 295 Kanonisierung : Gell. 15, 24 (Volcacius Sedigitus über den Kanon der Komödienautoren); 17, 14, 1 (Caesar über die Mimendichter Syrus und Laberius); vgl. auch Gell. 14, 3 (Xenophon und Platon erst von ihren Schülern zu Kontrahenten stilisiert). - Qualitative Bewertung : Gell. 2, 5 (Favorinus definiert den Unterschied zwischen dem Stil des Lysias und dem Platons); 6, 14, 6 u. 7 u. 8-10 (Pacuvius / Lucilius / Terenz bzw. Odysseus / Menelaos / Nestor [bei Homer] bzw. Karneades / Diogenes / Kritolaos als Vertreter der drei Stilgattungen). 296 Vgl. Gell. 2, 20, 5 ( … Scipionem omnium aetatis suae purissime locutum … ); 5, 1, 6 ( … poetarum sapientissimus < scil. Homerus > …); 6, 17, 4 ( … Plautus … homo linguae atque elegantiae in verbis Latinae princeps … ); 6, 20, 6 ( Catullus … elegantissimus poetarum … ); 7, 2, 14 ( … sapientissimus ille et antiquissimus poetarum < scil. Homerus > …); 19, 12, 1 ( Herodem Atticum … audivi Graeca oratione, in qua fere omnes memoriae nostrae universos gravitate atque copia et elegantia vocum praestitit ). 297 Vgl. Gell. 10, 18 (Artemisias Redneragon zu Ehren des Mausolos mit Beiträgen von Theopomp, Theodektes, Naukrates und Isokrates); 15, 20, 2 u. 17, 4, 3 (Euripides bei Tragödienagonen); 17, 4, 1-2 u. 4-5 (Menander und Philemon als Konkurrenten in dramatischen Wettkämpfen); 13, 5 (Wahl des Aristoteles zwischen Theophrast und Menedemos); 18, 1 (zwei anonyme Philosophen vor dem Schiedsgericht Favorins). 298 Gell. 3, 9, 1; 4, 4, 4; 4, 10, 7; 4, 12, 3; 4, 19, 2; 6, 15, 2; 7, 11, 1; 7, 14, 5; 9, 4, 7 u. 13-14; 9, 11, 1 ( De Maximo Valerio … haut quisquam est nobilium scriptorum, qui secus dixerit ); 10, 8, 2 ( Cuius rei ratio in litteris veteribus, quas quidem invenire potui, non exstat ); 10, 9, 2; 10, 15, 1; 11, 1, 1; 13, 23, 1; 16, 4, 1-2; 17, 11, 6. - Vgl. auch 19, 1, 14 (Schrift Epiktets stimmt mit Werken Zenos und Chrysipps überein). 299 Gell. 3, 10, 11; 4, 8, 8; 4, 11; 5, 6, 27 ( … super quo dissensisse veteres scriptores accipio ); 6, 22, 2-3; 11, 6; 11, 10; 14, 7, 12-13 ( … parum convenire videtur cum eo, quod Ateius Capito … 4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae 109 <?page no="110"?> herangezogenen Schriften werden - z. T. pauschal, z. T. anhand konkreter Details - konstatiert ( quellenkritischer T.-Vergleich ). Damit verwandt sind auch die Zusammenstellungen von z. T. einander widersprechenden Ansichten verschiedener Philosophen bzw. -schulen zu konkreten Fragen ( doxographischer T.-Vergleich ). 300 Das Interesse an sachlichen Abweichungen betrifft auch die Behandlung der Werke der Dichter: Auch hier werden sachlich zusammengehörige 301 und abweichende 302 Stellen gesammelt ( sachlicher bzw. inhaltlicher Dichtervergleich ). Eine besondere Stellung nehmen diejenigen Passagen ein, an denen mit einem expliziten Hinweis auf eine vom Autor intendierte imitatio die literarische Abhängigkeit zwischen zwei Texten bzw. einzelnen Textstellen konstatiert wird. Das betrifft manchmal ganze Werke, in der Regel aber einzelne loci , versus oder verba 303 - diese drei Felder literarischer imitatio führt Gellius beiläufig im Zureliquit ); 14, 8; 15, 28; 15, 30, 4-7 (vermeintliche Abweichung des Probus von der communis opinio ); 17, 11. 300 Vgl. Gell. 1, 13; 9, 5 ( voluptas ); 11, 5 (Unterschied zwischen Pyrrhonismus und Akademie); 11, 12 (Chrysipp und Diodor); 18, 1 (Meinungen eines stoischen und eines peripatetischen Philosophen vor dem Richtstuhl des Favorinus). 301 Vgl. Gell. 1, 15 (diverse Autoren über das Laster der Schwatzhaftigkeit); 2, 24, 7-10 (verschiedene Dichterstellen mit Bezug auf ein bestimmtes Gesetz); 6, 12, 6-7 (Vergil und Ennius tadeln das Tragen der tunica ); 6, 16 (Varro und Euripides über das lasterhafte Verlangen nach exotischen Speisen); 14, 1, 34 (Rätselworte bei Pacuvius und Accius); 15, 20, 7-8 (Aristophanes und Alexander Aitolos über Euripides); 15, 21 (Auffassung „der Dichter“ über die Söhne von Zeus und Neptun pauschal referiert). - Häufiger wird dieses Vorgehen auf die Thematik des griechisch-römischen Kulturvergleichs angewendet, etwa wenn inhaltlich zusammengehörige Anekdoten aus griechischen und römischen Historikern gesammelt werden; vgl. Gell. 1, 11 (Thukydides, Herodot und Gracchus über das Flötenspiel); 6, 1 (Anekdoten über die Mütter von Alexander und Scipio); 7, 8 (Alexander und Scipio); 10, 2 (Anekdoten von Aristoteles und aus augusteischer Zeit); 10, 10 (Gewohnheiten der Griechen und Römer beim Ringetragen); 11, 18 (drakonische Gesetze mit den zwölf Tafel-Gesetzen verglichen). Vgl. auch das Synchronismuskapitel Gell. 17, 21. 302 Vgl. Gell. 3, 16, 2-5 (Plautus, Menander und Caecilius über den richtigen Zeitpunkt der Entbindung); 13, 7 (Homers Darlegungen über die Natur der Löwen mit denen von Herodot und Aristoteles verglichen); 20, 7 (griechische Dichter über die Zahl von Niobes Kindern). 303 Texte : Gell. 1, 3, 10-16 u. 21 (Cicero folgt Theophrast im Laelius ; detailliertere Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in 11-16); 2, 18, 7 (Varro imitiert die Satiren des Menippus); 2, 23 ~ 3, 16, 3-4 (Caecilius folgt im Plocium Menanders gleichnamiger Komödie); 13, 28, 1 (Cicero ahmt in De officiis die Schrift Περὶ τοῦ καθήκοντος nach). - Loci : Gell. 2, 29, 20 (Ennius übernimmt ein äsopisches Gleichnis); 10, 17, 2-4 (Laberius übernimmt eine Episode über Demokrit aus nicht näher bezeichneten griechischen Historikern in eines seine Gedichte; Unterschiede werden festgestellt); 12, 1, 20 (Vergil übernimmt einen locus Homers). - Versus : 18, 9, 6 (Livius Andronicus übersetzt Od. 1, 1). - Verba : 1, 21, 5-6 (Vergil übernimmt amaror aus Lukrez); 13, 21, 14 (Ennius übernimmt 110 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="111"?> sammenhang mit Vergils Lukrezanleihen ein ( Vergleich von Modelltext und Nachahmung ). 304 Etwas anders gelagert sind die Stellen, an denen der Rückgriff auf einen allgemein bekannten, meist anonym überlieferten Gedanken, etwa eine Sentenz, durch einen Autor nachgewiesen wird ( Gedankenbzw. Sentenzenvergleich ). 305 Hier kann i. d. R. nicht von einem imitatiobzw. aemulatio -Verhältnis gesprochen werden, die Parallele wird einfach wertneutral als gedankliche Entsprechung konstatiert. Apologetischen Charakter haben die Stellen, an denen im Abgleich mit der auctoritas der „alten“, zumeist lateinischen Dichter eine Besonderheit im Sprachgebrauch - i. d. R. ein Abweichen vom sermo vulgaris bzw. von der consuetudo der Gegenwart im Bereich der verba - gerechtfertigt wird ( Vergleich mit sprachlichen Autoritäten ). 306 Zu erwähnen ist außerdem noch der singuläre Vergleich verschiedener Gattungen der Historiographie in Gell. 5, 18 ( Gattungsvergleich ). 307 den Ausdruck ἠέρα βαθεῖαν aus Homer); 16, 10, 5 (Ennius übernimmt den Ausdruck proletarius aus dem Zwölftafelgesetz); 18, 5, 7 (Vergil übernimmt den Ausdruck eques statt ecus aus Ennius). - Vgl. auch Gell. 7, 8, 6 (Valerius Antias durch Naevius zu seinem Urteil über Scipio angeregt); 12, 2 (Gellius referiert Senecas’ Urteil über Vergil, der den Versbau des Ennius nachgeahmt hat, um den Anhängern dieses Dichters zu gefallen); 18, 8, 1 (Lucilius über die Nacheiferer des Isokrates). 304 Vgl. Gell. 1, 21, 7 ( Non verba autem sola, sed versus prope totos et locos quoque Lucreti plurimos sectatum esse Vergilium videmus ). Dieselbe Einteilung liegt auch den Ausführungen von Rufius und Caecina Albinus, die Macrobius im sechsten Buch der Saturnalia über Vergils Rückgriffe auf die altlateinischen Dichter referieren lässt, zugrunde ( Sat. 6, 1, 7-65: versus ; 6, 2-3: loci ; 6, 4[-5]: verba ); vgl. → Kap. 5.1.3. 305 Gell. 1, 17, 4 (Varro greift einen Gedanken des Sokrates in einer seiner menippeischen Satiren auf); 6, 16, 6 (Chrysipp verwendet sprichwörtlich bekannte Verse des Euripides); 9, 8 (Favorin formuliert in einer Rede eine anonyme Sentenz um); 10, 19, 2 (Demosthenessentenz sollte allgemein bekannt sein); 12, 11, 6-7 (Peregrinus Proteus schreibt eine ganze Abhandlung über eine Sentenz aus Sophokles); 13, 1, 2 u. 5 (Cicero folgt einer Sentenz aus Homer bzw. Demosthenes); 13, 8 (Gedanke des Afranius von Pacuvius übernommen); 13, 18 (Catosentenz drückt dasselbe aus wie Euripidessentenz); 13, 29, 5 und 13, 31, 3 (griechische Sentenz in menippeischer Satire Varros); 16, 1 (Musonius und Cato verwenden dasselbe Enthymem); 17, 12, 4 (Favorinus verwendet eine Sentenz Hesiods). - Vgl. auch 1, 15, 16 (anonyme lateinische Sentenz geht auf Epicharm zurück); 4, 5, 5-7 (Knaben auf der Straße bilden eine aus Hesiod bekannte Sentenz nach); 17, 13 (Sentenzensammlung aus Publius Syrus); 15, 14 (Übernahme einer griechischen Redensart durch Q. Metellus Numidicus und Caecilius Statius). 306 Hingewiesen sei aus der großen Zahl an Beispielen an dieser Stelle nur auf den methodisch interessanten Abschnitt Gell. 12, 10, 3-4 ( Satis hoc esse potuit admonendi gratia dixisse †…† propter agrestes quosdam et indomitos certatores, qui nisi auctoritatibus adhibitis non comprimuntur. M. Varro in libro secundo … ); vgl. auch Holford-Strevens ( 2 2003), S. 173 und 178. 307 Behandelt werden historia, annales und ἐφημερίς; vgl. Holford-Strevens ( 2 2003), S. 244. 4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae 111 <?page no="112"?> Im engen Zusammenhang mit der Frage nach literarischer Abhängigkeit steht diejenige nach unlauteren Übernahmen aus anderen Schriften ( Plagiat ). Gellius kommt auf dieses Thema relativ selten zu sprechen. Immerhin referiert er in 3, 17, 4-6 den Vorwurf des Timon gegen Platon, wonach dessen Timaios zur Gänze einer pythagoreischen Lehrschrift nachgebildet sei. 308 Das Gegenstück zum Plagiat, die Falschattribuierung eines nicht authentischen Werks an einen bekannten Autor, spielt hingegen eine weitaus wichtigere Rolle bei Gellius, etwa wenn es darum geht, die echten Stücke im Corpus Plautinum von den falschen zu scheiden ( Pseudepigraphie ). 309 Ein benachbartes Gebiet von gleichwohl hoher Relevanz für die i. e. S. synkritischen Partien der Noctes Atticae ist die Übersetzung aus dem Griechischen und damit verbundene Fragen ( Übersetzungsvergleich ). 310 Bilinguismus und Bikulturalität stellen bekanntlich eine kulturelle Konstante in der Entstehungszeit der Noctes Atticae dar. 311 Gellius reflektiert an verschiedenen Stellen über die Übersetzbarkeit bestimmter Texte aus dem Griechischen ins Lateinische und stellt konkrete Übersetzungsvergleiche an. 312 Praktischen Erwägungen folgen 308 Vgl. Gell. 3, 17, 5 ( In eo libro Platonem philosophum contumeliose appellat, quod inpenso pretio librum Pythagoricae disciplinae emisset exque eo Timaeum, nobilem illum dialogum, concinnasset ). 309 Vgl. Gell. 3, 3, wo der Vergleich mit den zweifelsfrei von Plautus stammenden Stücken als methodisches Prinzip vorgeführt wird, und 11, 7, 5 mit Holford-Strevens ( 2 2003), S. 193-194. Echtheitskritik wird auch in 4, 18, 6 an einer angeblich von Scipio stammenden Rede geübt. Kleinere Fehlzuschreibungen stehen in 10, 12, 1 u. 6 (angebliche Demokritzitate bei Plinius d. Ä.) und 13, 19 (angebliches Sophokleszitat bei Platon, das aber eigentlich aus Euripides stammt) im Zentrum. - In gewissem Grad vergleichbar sind die Stellen, an denen ein - absichtliches oder unabsichtliches - Fehlverständnis der zitierten Stelle nachgewiesen wird, da hier das Zitat entgegen dem Sinn des Autors erfolgt; vgl. 15, 2, 3 (Fehldarstellung von Platons Lehren) und 15, 6 (Cicero zitiert eine Homerstelle im falschen Sinn). 310 Hingewiesen sei grundsätzlich auf die Studie von Seele (1995). 311 Zur Zweisprachigkeit vgl. Gell. 3, 19, 1 (Gastmähler bei Favorinus); 9, 15 (bilingue Deklamationspraxis) und 11, 8 (Catos Kritik an dem griechisch schreibenden Albinus) sowie den Überblick bei Swain (2004), pass. - Zur Symbiose griechischer und römischer Kultur im 2. Jhdt. n. Chr. sei auf die Studien von Vogt-Spira (1996) und Hose (1999) hingewiesen; speziell zu Gellius vgl. Holford-Strevens (1993). 312 Griechische Originaltexte werden in Gell. 9, 3, 4 (Brief König Philipps von Makedonien), 15, 26 (Definition des Syllogismus von Aristoteles) und 20, 5 (Briefe von Alexander und Aristoteles) übersetzt, wobei in allen Fällen das griechische Original und die lateinische Übersetzung gegeben werden. Die Möglichkeit der adäquaten Wiedergabe einer Platonstelle im Lateinischen wird in 10, 22, 3 ( … quoniam vertere ea consilium non fuit, cum ad proprietates eorum nequaquam possit Latina oratio aspirare ac multo minus etiam mea … ) und in 17, 20, 7-8 von Gellius - er spricht freilich nur von sich selbst und nicht prinzipiell - in Abrede gestellt. Ähnliches verlautet in 12, 1, 24 und 14, 1, 32 über die Reden des Favorinus. - Vgl. zu den Übersetzungen durch Gellius Steinmetz (1992), pass. Eine grundsätzliche Flexibilität zwischen wörtlicher Entsprechung und freier Wiedergabe 112 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="113"?> die bilinguen Synopsen griechischer und lateinischer Termini aus diversen Spezialdisziplinen, die Gellius der bequemen Übersicht willen zusammenstellt. 313 4.1.3 Die synkritischen Kapitel in den Noctes Atticae In einer ganzen Reihe von Kapiteln in den Noctes Atticae stellt der Textvergleich nicht einen gelegentlichen methodischen Zugriff auf bestimmte Texte dar, sondern er wird zum Thema des betreffenden Abschnitts selbst. 314 Dies kommt z. T. schon in der Formulierung der Kapitelüberschriften zum Ausdruck. So ist Gell. 2, 23 etwa mit den beiden Begriffen Consultatio diiudicatioque locorum … überschrieben, die auf den analytischen ( consultatio ) und synkritischen ( diiudicatio ) Charakter des Abschnitts hinweisen. 315 In den anderen tituli werden zwar nicht diese Termini, aber bedeutungsähnliche substantivische bzw. verbale Umschreibungen verwendet, wie aus der folgenden Übersicht zu ersehen: - Gell. 2, 23: Caecilius Statius und Menander ( Consultatio diiudicatioque locorum facta ex comoedia Menandri et Caecilii, quae Plocium inscripta est ) - Gell. 2, 27: Demosthenes und Sallust ( Quid T. Castricius existimarit super Sallustii verbis et Demosthenis, quibus alter Philippum descripsit, alter Sertorium ) stellt auch Beall (1997), pass. bei seiner exemplarischen Untersuchung von Gell. 17, 20 als Übersetzungsprinzip bei Gellius fest. 313 Logik (5, 10, 1-2; 16, 8); Grammatik (5, 20; 13, 6); Rhetorik (9, 15, 6); Geometrie (1, 20); Philosophie (1, 26, 10); Astronomie (2, 21; 3, 10, 1-3; 13, 9); Sonderbereiche: Farbbezeichnungen (2, 26; 3, 9, 9; 17, 8, 10); Zahlbezeichnungen (18, 14); Sinne (19, 2); Winde (2, 22); Einzelworte (11, 16; 12, 6; 13, 11, 7; 13, 22, 5; 19, 13). 314 Nicht eigens behandelt bei Focke (1923), S. 339-348 („Die literarische Kritik“); vgl. aber den grundlegenden Aufsatz von Vardi (1996) sowie Holford-Strevens ( 2 2003), S. 195-205. - Das folgende Kapitel stellt eine Fortführung von → Kap. 1.3.1 zur gattungsmäßigen literaturkritischen Synkrisis dar. 315 Vardi (1996), S. 502 beschränkt sich für seine Untersuchung auf sechs der synkritischen Kapitel („criticism of imitations“) in den Noctes Atticae (Gell. 2, 23; 2, 27; 9, 9; 11, 4; 13, 27; 17, 10) und fokussiert sich damit ganz auf Kapitel, an denen explizit auf eine Imitatiobeziehung zwischen den behandelten Texten durch Ausdrücke wie aemulari etc. hingewiesen wird. Diese Beschränkung rechtfertigt er zuvor mit der Unterscheidung zwischen „Comparison of Passages“ (S. 498-500) - d. h. von sachlich entsprechenden Stellen ohne explizit festgestelltem Imitatiobezug - und „Comparisons of Imitations and their Models by Rhetoricians“ (S. 500-502). Bei Gellius finden sich - wie von Vardi (1996), S. 499 auch gesehen - Beispiele für beide Typen. Wegen der vielfältigen methodischen und formalen Entsprechungen wird hier im Folgenden ein weiterer Synkrisisbegriff zugrundegelegt, der die beiden von Vardi identifizierten Synkrisistypen umfasst. Deshalb ist die Zahl der behandelten Kapiel auch um drei (10, 3; 19, 9; 19, 11) erweitert. Wir folgen Vardi jedoch insofern, als nur Kapitel, die ganz bzw. zum größten Teil einem bzw. mehreren Stellenvergleichen gewidmet sind, unter den Begriff der Synkrisis fallen. 4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae 113 <?page no="114"?> - Gell. 9, 9: Vergil, Theokrit und Homer ( Quis modus sit vertendi verba in Graecis sententiis; deque his Homeri versibus, quos Vergilius vertisse aut bene apteque aut inprospere existimatus est ) - Gell. 10, 3: Cato d. Ä., C. Gracchus und Cicero ( Locorum quorundam inlustrium conlatio contentioque facta ex orationibus C. Gracchi et M. Ciceronis et M. Catonis ) - Gell. 11, 4: Ennius und Euripides ( Quem in modum Q. Ennius versus Euripidis aemulatus sit ) - Gell. 13, 27: Vergil, Parthenios und Homer ( De versibus, quos Vergilius sectatus videtur, Homeri ac Partheni ) - Gell. 17, 10: Vergil und Pindar ( Quid de versibus Vergilii Favorinus existumarit, quibus in describenda flagrantia montis Aetnae Pindarum poetam secutus est; conlataque ab eo super eadem re utriusque carmina et diiudicata ) - Gell. 19, 9: Römische und griechische Kleindichtung ( titulus nicht überliefert) - Gell. 19, 11: Ps.-Platon und ein lateinischer Anonymus ( titulus nicht überliefert) Die Zahl von Kapiteln in den Noctes Atticae , die dem synkritischen Textvergleich gewidmet ist, legt es nahe, in diesen Fällen geradezu von einer eigenständigen literaturkritischen Kleinform zu sprechen. Inwieweit diese Annahme auch durch das Vorliegen gemeinsamer inhaltlicher und formaler Merkmale gerechtfertigt ist, soll im Folgenden durch eine knappe Analyse derjenigen Texte, die sich nicht speziell mit dem Homer-Vergil-Vergleich auseinandersetzen - vgl. zu diesen → Kap. 4.2 und 4.3 -, untersucht werden. Das erste synkritische Kapitel der Noctes Atticae ist Gell. 2, 23, der Vergleich einer griechischen Komödie Menanders (Πλόκιον) 316 mit ihrer - heute ebenso wie das griechische Original verlorenen - lateinischen Übertragung durch Caecilius Statius. 317 Die Unterschiede zwischen Menander und Caecilius werden in vier bzw. sechs Schritten erarbeitet: Nachdem Gellius in der Einleitung (I) seine Vorliebe für die Lektüre lateinischer Komödien nach griechischen Originalen (Menander, Poseidippos, Apollodoros, Alexis etc.) bekundet und festgestellt hat, dass nach ihrer Lektüre die griechischen Stücke in seinen Augen regelmäßig den Vorzug verdienten (2, 23, 1-3), kommt er ( II ) konkret auf das Plocium des Caecilius Statius zu sprechen (2, 23, 4-7). Dann 316 Vgl. frg. 296-310 PCG. 317 Zu ihm vgl. Jürgen Blänsdorf: „Caecilius Statius“, in: HLL 1 (2002), § 128 = S. 229-231. - Zur Synkrisis von Gell. 2, 23 vgl. Jensen (1997), pass. (mit dem Versuch einer Systematik der in Gell. 2, 23 gefällten Werturteile auf S. 379-381) und Vogt-Spira (2000), pass. Die beiden verglichenen Texte behandeln auch Riedweg (1993), pass. und Lennartz (1994), S. 89-94. 114 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="115"?> folgen ( III a-c) drei Parallelenpaare , jeweils unter Voranstellung des griechischen Originals und mit kurzer inhaltlicher Einordnung und ästhetischer Wertung der verglichenen Stellen: • 2, 23, 8-10: Caecil. com. II 142-157 SRPF 3 ← Men. frg. 296 PCG = 333 Körte • 2, 23, 11-13: Caecil. com. II 158-162 SRPF 3 ← Men. frg. 297 PCG = 334 Körte • 2, 23, 14-21: Caecil. com. II 169-172 SRPF 3 ← Men. frg. 298 PCG = 335 Körte Abschließend ( IV ) wird in 2, 23, 22 noch einmal der Vorzug Menanders mit dem Hinweis hervorgehoben, dass die lateinische Nachbildung für sich betrachtet ihren künstlerischen Wert besitze, im direkten Vergleich mit dem Original aber ästhetisch abfalle. Gellius geht es in diesem Kapitel um den Vergleich zweier Ganzschriften: Die drei Textbeispiele ( loci ) sind exemplarisch gewählt und dienen dem Zweck, die künstlerische Unterlegenheit der lateinischen Nachbildung im Ganzen zu belegen. 318 Für derartige Vergleiche von Ganzschriften bot die frühe lateinische Übersetzungsliteratur - archaisches Epos und insbes. Tragödie und Komödie - reichlich Material, wobei die fehlende stoffliche Originalität der Texte grundsätzlich keinen Anlass zur Kritik lieferte. 319 Auch Gellius setzt in 2, 23 die besonderen Produktionsbedingungen der frühen römischen Komödie als Übersetzungsliteratur als gegeben voraus: Gellius greift in 2, 23 auf die traditionelle Terminologie zur Kennzeichnung von Übersetzungen - im weiteren antiken Sinne verstanden 320 - zurück; vgl. 2, 23, 1 ( Comoedias … nostrorum poetarum sumptas ac versas de Graecis … ) und 2, 23, 6 ( … Menandri … Plocium …, a quo istam comoediam verterat ). 321 Den Vorgang der Abweichung vom Original bezeichnet er mit dem Terminus mutare (2, 23, 7). Die Intention des „Übersetzers“ gerät in 2, 23, 11-12 in den Blick: Caecilius wird die Absicht unterstellt, bestimmte 318 Soweit wir wissen, ist Caecilius in seinen Stücken jeweils einer Vorlage gefolgt, hat die griechischen Originale also nicht kombiniert bzw. „kontaminiert“; vgl. Leo ( 2 1912), S. 100. 319 Dass es sich insbesondere beim archaischen römischen Drama fast durchwegs um Übersetzungen griechischer Originale handelte, stand für die antiken Rezipienten außer Frage und wurde den lateinischen Stücken nicht zum Nachteil ausgelegt; vgl. Cic. opt. gen. 18 ( Idem Andriam et Synephebos nec minus Terentium et Caecilium quam Menandrum legunt, nec Andromacham aut Antiopam aut Epigonos Latinos † recipiunt † , sed tamen Ennium et Pacuvium et Accium potius quam Euripidem et Sophoclem legunt. Quod igitur est eorum in orationibus e Graeco conversis fastidium, nullum cum sit in versibus? ). - Vgl. allgemein Jürgen Blänsdorf: „Das Drama: Einleitung zur literarischen Seite“, in: HLL 1 (2002), § 118 = S. 143-146 mit weiterführenden Literaturhinweisen. 320 Vgl. zur Abgrenzung Seele (1995), S. 10-14. 321 In allen drei Beispielen geht Caecilius charakteristischerweise sehr frei mit seiner Vorlage um; vgl. zusammenfassend Leo (1913), S. 221-224 (S. 222: „Was an den Stellen des Caecilius vor allem ins Auge fällt, ist die völlige Emanzipation vom griechischen Wortlaut“), Traina ( 1 1970), S. 41-53 sowie Vogt-Spira (2000), S. 692-693. 4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae 115 <?page no="116"?> Züge des Originals übernehmen zu wollen, ohne jedoch die Fähigkeit zur Umsetzung besessen zu haben: … ea Caecilius, ne qua potuit quidem, conatus est enarrare, sed quasi minime probanda praetermisit et alia nescio qua mimica inculcavit et illud Menandri … simplex et verum et delectabile, nescio quopacto omisit. Die Abweichungen vom Original erscheinen in dieser Betrachtung als Symptome eines generellen künstlerischen Mangels. Entsprechend wird in 2, 23, 13 die lateinische Übertragung der zweiten Menanderstelle als „Entstellung“ des Originals ( corrupit ) gescholten, und auch in 2, 23, 21 ist Menander das Maß aller Dinge: Im Zusammenhang mit der dritten Caeciliusstelle stellt Gellius die Frage, ob der Römer die sinceritas und veritas der Menanderverse erreicht habe ( … an adspiraverit Caecilius, consideremus ). 322 Auch der Schlussgedanke reiht sich hier ein: Der Versuch der Nachahmung sei in den Fällen, wo er mangels Begabung von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist, nicht einmal erlaubt (2, 23, 22: … non puto Caecilium sequi debuisse, quod assequi nequiret ). Caecilius wird demnach als ein Beispiel für eine zwar beabsichtigte, aber misslungene Nachahmung vorgestellt. Und schon in der Einleitung wird aemulatio ohne weitere Begründung als die leitende Absicht, die hinter dem Nachahmungsversuch des Caecilius steht, vorausgesetzt (2, 23, 3: ita Graecarum, quas aemulari nequiverunt, facetiis atque luminibus obsolescunt ). In den drei Einzelstellenvergleichen wird detailliert vorgeführt, was Gellius unter aemulatio verstanden wissen möchte. 323 Die ästhetischen Kriterien, die zur Anwendung kommen, beziehen sich allesamt auf das poetische Programm der Neuen Komödie : Possenhafte Theatereinlagen ( mimica ) werden als unpassende Ergänzungen des Caecilius verurteilt, Menanders sprichwörtliche Lebensnähe 324 und sein Realismus als Vorzüge des Griechen gegen den Lateiner ausgespielt, Schlichtheit und Gefälligkeit als Maßstäbe dramatischer Gestaltung auch an die lateinische Adaption angelegt. 325 Beim zweiten Stellenpaar wird Menanders Fähigkeit der „angemessenen und schicklichen“ Charakterzeichnung gerühmt, die den Erfordernissen der Situation nachkommt und die der „alberne Spaßmacher“ 322 Die Wendung an adspiraverit ist mehrdeutig: Es dürfte an dieser Stelle aber nicht darum gehen, ob Caecilius sein Vorbild erreichen wollte - das steht für Gellius in den anderen Abschnitten ja außer Frage -, sondern ob er es erreicht hat. Vgl. zur Bedeutung Oertel: Art. adspiro , TLL II 841, 47-80 ( adspiro i. S. v. appropinquo ; neben Gell. 2, 23, 21 ist hier noch auf 10, 3, 15; 10, 22, 3 und 13, 31, 1 im gleichen Sinne verwiesen) und 841, 80-842, 55 ( adspiro i. S. v. appeto bzw. ambio ). 323 Vgl. zum Folgenden Vogt-Spira (2000), S. 685-687. 324 Vgl. Men. test. 83 PCG (Aristophanes von Byzanz: ὦ Μένανδρε καὶ βίε …) und Quint. inst. 10, 1, 69 ( … ita omnem vitae imaginem expressit, tanta in eo inveniendi copia et eloquendi facultas, ita est omnibus rebus personis adfectibus accommodatus ). 325 Vgl. Gell. 2, 23, 12 ( … sed quasi minime probanda praetermisit et alia nescio qua mimica inculcavit et illud Menandri de vita hominum media sumptum, simplex et verum et delectabile, nescio quo pacto omisit ). 116 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="117"?> Caecilius verfehlt habe. 326 Glaubwürdigkeit und „Wahrheit“, d. h. Lebensnähe ( sinceritas und veritas ), sind, wie bereits angesprochen, die Leitbegriffe, die auch beim dritten Parallelenpaar die Beurteilungskriterien abgeben und mit denen der „tragische Schwulst“ des Caecilius kontrastiert. 327 Die knappe Übersicht über die ästhetischen Analysen zeigt, dass Gellius an Caecilius dieselben Maßstäbe anlegt, die traditionell die Grundlage für die - positive - Beurteilung von Menanders Komödienstil bildeten. 328 Aufführungs- und Rezeptionsbedingungen der Palliata geraten dabei an keiner Stelle in den Blick: Caecilius wird wie ein lateinischer Vertreter der griechischen Neuen Komödie beurteilt. 329 Damit zwingt Gellius dem Caecilius in seiner Analyse einen Wettstreit unter falschen Voraussetzungen auf: Änderungen der Vorlage werden nicht unter ihren besonderen Bedingungen, sondern als Abweichungen von einer gegebenen und somit gültigen Norm betrachtet. Dem entspricht auch der bei Gellius vorausgesetzte Rezeptionskontext. Die beiden Dramen sind hier nicht mehr als Bühnenstücke, sondern als Gegenstände der gemeinschaftlichen Lektüre präsentiert. 330 Auf diese Weise kann Gellius von den zeitgebundenen 326 Vgl. Gell. 2, 23, 13 ( Caecilius vero hoc in loco ridiculus magis, quam personae isti, quam tractabat, aptus atque conveniens videri maluit ). 327 Vgl. Gell. 2, 23, 21 ( Ad horum autem sinceritatem veritatemque verborum an adspiraverit Caecilius, consideremus. Versus sunt hi Caecili trunca quaedam ex Menandro dicentis et consarcinantis verba tragici tumoris: … ). - Übrigens wird ein wichtiger formaler Unterschied, der Wechsel im Versmaß vom jambischen Trimeter zum Rezitationsbzw. Canticumvers, bei Gellius übergangen. Vgl. Jürgen Blänsdorf: „Caecilius Statius“, in: HLL 1 (2002), § 128 B = S. 231 mit weiterführenden Literaturhinweisen zur Metrik des Caecilius. 328 Vgl. neben den bereits zitierten Stellen etwa Dion. Hal. imit. II frg. 6, 2 = II 207, 1-4 Usener-Radermacher = test. 87 PCG (besonderes Lob für den Stoff bzw. die Gegenstände Menanders, d. h. wieder den Lebensbezug); Manil. 5, 470-476 = test. 94 PCG und Dion. Chrys. or. 68, 6-7 = test. 102 PCG. 329 Vgl. dazu Vogt-Spira (2000), S. 691-697, bes. S. 695-696: „Zunächst einmal gilt, dass die Konkurrenz, gegen die sich die Palliatendichter durchsetzen müssen, von dem Vergleichshorizont des nachgeborenen Lesers oder gar des in die Werkstatt des Autors blickenden Philologen maßgeblich verschieden ist: Es ist die eigene italische Bühne mit ihrer drastischen Wirkungsästhetik bis hin zu noch erheblich derberen Volksbelustigungen wie Seiltänzern, Boxern usw. unter den Bedingungen notwendigen ökonomischen Erfolges. … Indirekten Aufschluss geben ferner die literarischen Fehden um Kontaminationsverbot und Furtum-Verdacht. Wenn ein einmal übersetztes Stück für alle nachfolgenden als belegt gilt, fehlt offenbar der Gedanke, dass Übertragungen von ihren Vorbildern und damit auch untereinander differieren. … Zu bedenken ist schließlich, dass eine entscheidende Voraussetzung fehlt, die später ein konstitutiver Faktor im Imitatioschema sein wird: die Kontrollmöglichkeit auf der Rezeptionsseite. … Das griechische Stück ist außerhalb der professionellen Gilden vor allem ein Name - und kaum einer kann einen Palliatendichter hindern, damit umzugehen, wie er es für richtig hält.“ 330 Gell. 2, 23, 1 ( Comoedias lectitamus… ); 2, 23, 2 ( … cum legimus eas … ); 2, 23, 5-7 ( Caecili Plocium legebamus; hautquaquam mihi et, qui aderant, displicebat. Libitum et Menandri 4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae 117 <?page no="118"?> Erfordernissen, denen der römische Palliatadichter genügen musste, abstrahieren: Die Lesekultur der Noctes Atticae bedingt in diesem Fall eine ahistorische Betrachtungsweise von Literatur, die scheinbar zeitlosen Bewertungskriterien folgt - hier dem in Menanders Stück ideal verwirklichten Komödientypus. Zwei der synkritischen Kapitel in den Noctes Atticae sind Textsorten gewidmet, deren Behandlung nach Quintilian 331 in den Zuständigkeitsbereich des Rhetoriklehrers fallen, nämlich der Historiographie und der Rede (Gell. 2, 27 und 10, 3). Dabei handelt es sich nur im Fall von Gell. 2, 27 um den Vergleich eines griechischen (Demosth. steph. 67) mit einem lateinischen (Sall. hist. I frg. 88 Maurenbrecher) Text, und nur hier wird eine direkte Abhängigkeit im Sinne intentionaler aemulatio behauptet. 332 Das Urteil ist T. Castricius in den Mund gelegt, einem Rhetoriklehrer, den Gellius in den wenigen Kapiteln, in denen er auftritt, als sittenstrenge Autoritätsperson kennzeichnet. 333 Es ist dann auch ein moralischer Gesichtspunkt, den Castricius in seiner synkritischen Bewertung der beiden Stellen vorbringt: Sallust hatte den bei Demosthenes formulierten Gedanken, dass König Philipp von Makedonien - abgesehen von seinen bislang im Krieg erlittenen Blessuren - bereit sei, zur Mehrung seines Ruhmes den Verlust eines jeden Körperteils in Kauf zu nehmen, in der Weise auf Sertorius übertragen, dass er dem Römer noch zusätzlich eine perverse Freude an der Verstümmelung unterstellte: Quin ille dehonestamento corporis maxime laetabatur neque illis anxius, quia reliqua gloriosius retinebat (Gell. 2, 27, 2). Für Philipp war die Verstümmelung nur der notwendige, aber grundsätzlich unerwünschte Preis für die Steigerung seines Ruhms: … πᾶν ὅ τι βουληθείη μέρος ἡ τύχη τοῦ σώματος παρελέσθαι, τοῦτο προϊέμενον, ὥστε τῷ λοιπῷ μετὰ τιμῆς καὶ δόξης ζῆν („… jedes Körperglied, das das Schicksal ihm nehmen wollte, preisgebend, um mit dem, was ihm blieb, in Ehre und Ansehen zu leben.“). Castricius erkennt einen Gegensatz zwischen der von ihm zugrunde gelegten Definition der laetitia - exultatio quaedam animi gaudio efferventior eventu rerum expetitarum (Gell. 2, 27, 3) - und der Situation des Sertorius: Der Verlust von Körperteilen könne, so ist zu ergänzen, keinesfalls unter die res expetitae fallen, deren Eintritt die Voraussetzung für die exultatio animi darstellt. Aus quoque Plocium legere, a quo istam comoediam verterat. Sed enim postquam in manus Menander venit … ); 2, 23, 8 ( Accesserat dehinc lectio ad eum locum … ). 331 Vgl. → Kap. 4.1.1. 332 Vgl. Gell. 2, 27, 2 ( Haec aemulari volens Sallustius … ). 333 Vgl. Gell. 1, 6, 4-5; 11, 13, 1 ( … disciplinae rhetoricae doctorem, gravi atque firmo iudicio virum, … ) und 13, 22, 1 ( T. Castricius, rhetoricae disciplinae doctor, qui habuit Romae locum principem declamandi ac docendi, summa vir auctoritate gravitateque et a divo Hadriano in mores atque litteras spectatus, … ) sowie Holford-Strevens ( 2 2003), S. 88-90. 118 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="119"?> diesem gleichsam logischen Widerspruch ergibt sich ein moralischer Vorwurf gegen Sertorius, der in den Augen des Castricius das „rechte Maß“, d. h. die von der Natur vorgegebenen Grenzen der laetitia , überschreitet: nonne … ultra naturae humanae modum est dehonestamento corporis laetari? 334 Castricius überträgt den moralischen Vorwurf gegen Sertorius nun bezeichnenderweise auf die Ebene des Autors bzw. Redners, wenn er Sallust indirekt eine Unstimmigkeit bzw. Unglaubwürdigkeit der Darstellung - also eine technische, keine moralische Schwäche - vorwirft, indem er einleitend zu dem oben zitierten Schlusssatz des Demosthenespassus urteilt: Quanto illud sinceriusque et humanis magis condicionibus conveniens (Gell. 2, 27, 4). Sincerius kann in diesem Zusammenhang nur auf die historische Glaubwürdigkeit der Charakterzeichnung Philipps durch Demosthenes gehen. Die Stoßrichtung des Vorwurfs bleibt in 2, 27 also in der Schwebe: Der moralische Tadel an einer Figur, die sich contra naturam verhält, wird zum Vorwurf gegen den Autor selbst umgemünzt. Es wäre demnach in den Entscheidungsspielraum des Historikers Sallust gefallen, den merkwürdigen Charakterzug des Sertorius psychologisch glaubwürdiger darzustellen bzw. auf die Erwähnung seiner naturwidrigen laetitia zu verzichten. 335 In Gell. 10, 3 steht eine Trias exemplarischer Redner aus drei verschiedenen Generationen im Zentrum der Betrachtung. Das Kapitel kommt ohne narrative Einkleidung der Synkrisis aus, Gellius spricht also in eigener Person. Bei den drei verglichenen Rednern handelt es sich um M. Porcius Cato (234-149 v. Chr.), C. Sempronius Gracchus (153-121 v. Chr.) und M. Tullius Cicero (106-43 v. Chr.), die Entstehungszeit der Reden, aus denen die behandelten loci entnommen sind, fällt in die Jahre 190 v. Chr. (Cato or. frg. 9 Jordan = 8 frg. 58 ORF 2 = frg. 42 Sblendorio Cugusi), 122 v. Chr. (Gracch. or. = 48 frg. 48-49 ORF 2 ) und 70 v. Chr. (Cic. Verr. 2, 5, 161-163). Eine Sonderstellung nimmt Gell. 10, 3 insofern ein, als hier von den synkritischen Kapiteln der Noctes Atticae der einzige Fall vorliegt, wo Gellius ausschließlich lateinische Texte miteinander vergleicht. Gell. 10, 3 verdient insofern besonderes Interesse, als hier - anders als etwa in Gell. 2, 23 - die literaturgeschichtliche Stellung der behandelten Redner stärker in den Blick gerät. Alle zum Vergleich gewählten loci behandeln dasselbe Thema, die ungerechte Misshandlung römischer Bürger durch römische Magistrate. Die drei Redner versuchen, mit der Schilderung dieses Vorgangs Empörung bei den Zuhörern auszulösen, setzen zu diesem Zweck jedoch unterschiedliche Mittel ein. Gellius stellt zunächst den Gegensatz zwischen Gracchus und Cicero 334 Gell. 2, 27, 3. 335 Unklar ist, worauf sich die Worte insolens und inmodicum in Gell. 2, 27, 4 beziehen: auf die Darstellung der perversen laetitia des Sertorius durch Sallust oder auf die Freude selbst? 4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae 119 <?page no="120"?> heraus, indem er sich gegen die Einschätzung stellt, Gracchus sei der „ernstere, heftigere und gewaltigere“ (10, 3, 1: severior, acrior, ampliorque ) der beiden Redner. Das allgemeine Urteil über den Stil des Gracchus wird in 10, 3, 4 gefällt. Nach Gellius besteht demnach ein Widerspruch zwischen res und verba , wenn Gracchus einen so schrecklichen Gegenstand „beinahe wie bei Komödienaufführungen üblich“ abhandelt: brevitas sane et venustas et mundities orationis est, qualis haberi ferme in comoediarum festivitatibus solet . Der schlichte, umgangssprachliche Ton, den Gracchus in seiner Rede De legibus promulgatis anschlägt, verstößt damit gegen die Forderung des aptum , den angemessenen sprachlichen Ausdruck für den jeweiligen Gegenstand. Das dabei relevante vitium eines zu niedrigen und unbedeutenden Ausdrucks für eine gewichtige Sache wird in der rhetorischen Terminologie mit den Begriffen humilitas bzw. ταπείνωσις bezeichnet. 336 - In den Abschnitten 10, 3, 10-13 werden dann konkrete Vorzüge von Ciceros Darstellung 337 benannt, die in das allgemeine Urteil münden (10, 3, 14): Haec M. Tullius atrociter, graviter, apte copioseque miseratus est . Hier wird das aptum also explizit als Beurteilungskriterium herangezogen. Welche Funkion hat aber der abschließende Hinweis auf Cato (10, 3, 15-19)? Gellius bringt hier in einer beiläufigen Wendung die zeitliche Dimension der behandelten Reden ins Spiel: Wenn jemand das ältere Werk (10, 3, 15: priora ) des Gracchus wegen seiner „archaischen“ Eigenschaften - Ungekünsteltheit, Kürze, natürliche Süße etc. - schätzt, soll er sich durch ein noch älteres Werk, nämlich Catos Rede De falsis pugnis (10, 3, 15: M. Catonis, antiquioris hominis ), davon überzeugen lassen, dass der Verzicht auf rhetorische Kunstmittel nicht per se als Ausweis altertümlicher Natürlichkeit zu loben ist, sondern schon etwa 70 Jahre vor Gracchus von so herausragenden Rednern wie Cato als Mangel empfunden wurde (10, 3, 15): Sed si quis est tam agresti aure ac tam hispida, quem lux ista et amoenitas orationis verborumque modificatio parum delectat, amat autem priora idcirco, quod incompta et brevia et non operosa, sed nativa quadam suavitate sunt quodque in his umbra et color 336 Vgl. Quint. inst. 8, 3, 48 ( Deformitati proximum est humilitatis vitium [ταπείνωσιν vocant ] , qua rei magnitudo vel dignitas minuitur, ut ‘saxea est verruca in summo montis vertice’: cui natura contrarium sed errore par est parvis dare excedentia modum nomina, nisi cum ex industria risus inde captatur. Itaque nec parricidam ‘nequam’ dixeris hominem nec deditum forte meretrici ‘nefarium’, quia alterum parum, alterum nimium est. ) und Lausberg (1990), § 1074, 1 a = S. 516-517 mit § 1076 = S. 518. 337 Anschaulichkeit: Gell. 10, 3, 10 ( tanti motus horrorisque sunt, ut non narrari, quae gesta sunt, sed rem geri prorsus videas ); wirkungsvoller Tempusgebrauch: Gell. 10, 3, 12 ( Sed enim M. Cicero praeclare cum diutina repraesentatione non ‘caesus est’, sed: ‘caedebatur’ inquit … ); emotionaler Appell durch Ausrufe: Gell. 10, 3, 13 ( Complorationem … inpense atque acriter atque inflammanter facit, cum haec dicit: ‘O nomen dulce libertatis! …’ ). 120 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="121"?> quasi opacae vetustatis est, is, si quid iudicii habet, consideret in causa pari M. Catonis, antiquioris hominis, orationem, ad cuius vim et copiam Gracchus nec adspiravit. Der Hinweis, dass sich Cato bei einem ähnlichen Gegenstand ähnlicher rhetorischer Mittel wie Cicero bedient habe, soll demzufolge zeigen, dass Gracchus in seiner Rede eine rhetorische Option, die zu seiner Zeit durchaus bestand, nicht ergriffen hat, dass sein schmuckloser und unpathetischer Bericht also eine bewusste stilistische Entscheidung darstellt: Intelleget < scil. lector > , opinor, Catonem contentum eloquentia aetatis suae non fuisse et id iam tum facere voluisse, quod Cicero postea perfecit . Damit stellt Gellius die Gültigkeit des Alterskriteriums keineswegs in Frage: Das Beispiel Catos hat ja auch deshalb Gewicht, weil er vor Gracchus geschrieben hat. Gellius führt aber vor, wie zwei ästhetische Prinzipien miteinander in Widerstreit geraten können, nämlich das Wirkungspostulat der Rhetorik - hier die kunstgerechte Erzeugung von Empörung durch den Redner - und die Liebe zur Vergangenheit, die das Alte um des Alters willen schätzt. Indem er differenzierend auf die stilistischen Varietäten innerhalb der archaischen Literatur hinweist, korrigiert er die einseitige Verehrung des Altertums durch den Gedanken, dass die alte Zeit nicht per se nachahmenswert ist, sondern bereits Cato die Mängel in der Redekunst seiner Zeit erkannt und auf eine Verbesserung der rhetorischen Technik hingearbeitet habe. Zwei weitere Kapitel, Gell. 11, 4 und 17, 10, vergleichen Imitationen griechischer loci (Euripides und Pindar) durch lateinische Dichter (Ennius und Vergil). - Zunächst zu Gell. 11, 4: 338 Gellius vergleicht hier einen Abschnitt aus der Hekuba des Euripides (Eur. Hek. 293-295) mit seiner Nachbildung durch Ennius (Enn. trag. 73 TrRF = I 165-167 SRPF 3 ): Beide Stellen drücken den Gedanken aus, dass ein hochstehender Mann unabhängig von der Qualität seiner Rede höhere Glaubwürdigkeit besitzt als ein niedrigstehender. An den Versen des Euripides 339 lobt Gellius - wieder wird die Synkrisis ohne erzählerische Rahmung präsentiert - die Wortwahl, den Gedanken und die Kürze. 340 Die Absichten des Ennius 338 Wieder kommt im Folgenden der konkrete Textvergleich von Original und Nachbildung nur insofern in Betracht, als er für die formal-methodische Gestaltung der Synkrisis bei Gellius von Relevanz ist. Eine detaillierte Analyse der ennianischen Euripidesübersetzung gibt Lennartz (1994), S. 267-277; vgl. auch Fleckenstein (1953), S. 59-60; Della Casa (1994), S. 63-65; Gamberale (1969), S. 119-122; Flores (1974), S. 94-95 und Traina ( 2 1974), S. 130-133. - Den Einfluss hellenistischer Euripides kommentare auf die Übersetzungen des Ennius weist Bitto (2013), pass. anhand der Übertragung der euripideischen Medea nach. 339 Sie waren wohl auch sprichwörtlich im Umlauf; vgl. Stob. anth. 4, 4, 6. - Der Gedanke auch sonst häufiger in der Tragödie; vgl. Matthiessen (2010), S. 293-294 z. St. 340 Gell. 11, 4, 1 ( Euripidis versus sunt in Hecuba verbis, sententia, brevitate insignes inlustresque … ). 4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae 121 <?page no="122"?> bezeichnet Gellius mit den Termini vertere und aemulari 341 und weist anschließend ausdrücklich darauf hin, dass Ennius für seine Übertragung dieselbe Anzahl von Versen benötigt habe. 342 Einen qualitativen Unterschied stellt Gellius abschließend in 11, 4, 4 fest, indem er befindet, dass Ennius den Gedanken des Euripides nicht exakt wiedergegeben habe ( satisfacere sententiae non videntur ), wenn er bei der Übersetzung der Wendung ἔκ τ’ ἀδοξούντων ἰὼν | κἀκ τῶν δοκούντων ( scil. λόγος; Eur. Hek. 294 b -295 a ) von ignobiles und opulenti spricht. Ennius lässt also den für die sententia des Euripides notwendigen Aspekt des Ansehens, der nicht unbedingt vom äußerlichen Status bzw. vom Reichtum abhängt, zurücktreten. 343 Damit schwächt er aber die Stringenz des Arguments: Euripides koppelt das Ansehen - d. h. die positive Wahrnehmung des Sprechers durch die Zuhörer, die auf der psychologischen Kategorie des ἦθος gründet - mit der rednerischen Überzeugungskraft, Ennius den Stand ( ignobiles ) bzw. den äußerlichen Wohlstand ( opulenti ) des Redners mit der Wirkung seiner Rede. Diese Einschätzung hebt die Gültigkeit des allgemeinen Urteils, Ennius habe sein Vorbild „gut“ nachgeahmt (11, 4, 3: Hos versus Q. Ennius … non sane incommode aemulatus est ; 11, 4, 4: Bene, sicuti dixi, Ennius ), nicht grundsätzlich auf, schränkt es aber in einem Teilaspekt - eben der gedanklichen Stringenz - ein. Auch in Gell. 17, 10 werden zwei Dichterstellen miteinander verglichen; diesmal geht es um Vergil und Pindar, die beide eine eingehende Schilderung des feuerspeienden Ätna in ihre Gedichte aufgenommen haben. 344 Vergils Verhältnis zu Pindar wird in 17, 10, 8 als „wetteifernde Nachahmung“ ( cum … aemulari vellet ) des griechischen „Klassikers“ ( veteris poetae ) in Betreff der „Gedanken und Worte“ ( sententias et verba ) gekennzeichnet. Das Urteil fällt negativ für Vergil aus: Der Lateiner hätte, so wird einleitend in 17, 10, 8 festgestellt, eine Stileigentümlichkeit Pindars, nämlich den „überladenen Stil“ ( qui nimis opima pinguique esse facundia existimatus est ), so übertrieben, dass er im Gegenzug in das vitium des Schwulstes verfallen sei ( ut Pindaro quoque ipso … insolentior hoc quidem in loco tumidiorque sit ). Das Urteil wird dem Favorinus in den Mund gelegt, einer der Lieblingsgestalten bei Gellius. 345 Ein narrativer Rahmen wird 341 Wie schon in Gell. 2, 23 der Fall wird das Konzept der aemulatio auf das frühe römische Drama rückprojiziert; vgl. wieder Vogt-Spira (2000), S. 691-697. 342 Gell. 11, 4, 3-4 ( Hos versus Q. Ennius, cum eam tragoediam verteret, non sane incommode aemulatus est. Versus totidem Enniani hi sunt: … ). 343 Gell. 11, 4, 4 ( … sed ‘ignobiles’ tamen et ‘opulenti’ ἀντὶ ἀδοξούντων καὶ δοκούντων satisfacere sententiae non videntur; nam neque omnes ignobiles ἀδοξοῦσι , <neque omnes opulenti εὐδοξοῦσιν .> ). 344 Vgl. Pind. P. 1, 21-26 und Aen. 3, 570-577. - Das Kapitel behandeln Kapsomenos (1972) und Berthold (1981); vgl. auch Seidel (1925). 345 Zu ihm vgl. zusammenfassend Holford-Strevens ( 2 2003), S. 98-130, insbes. 118-129 über „Favorinus the Latinist“ (125-126 zu Gell. 17, 10) und die Studien von Lakmann (1997) 122 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="123"?> immerhin angedeutet mit der Angabe, Favorinus hätte sich vor der sommerlichen Hitze in die Villa eines Freundes bei Antium zurückgezogen, wohin auch Gellius und andere nicht näher bezeichnete Zuhörer gekommen seien. Damit ist die Szenerie aber auch schon umrissen; die Ausführungen über Pindar und Vergil sind ganz als Vortrag des Favorinus gehalten und werden durch keine Zwischenbemerkungen der Zuhörer unterbrochen. Das negative Urteil über Vergils Ätnabeschreibung wird durch zwei biographische Anekdoten eingeleitet, die die Gültigkeit des negativen Urteils über den Dichter erheblich relativieren. Da ist zunächst der Vergleich mit der Bärengeburt, mit dem Vergil sein poetisches Produktionsprinzip als einen rigorosen Selektions- und Bearbeitungsvorgang der ursprünglichen Hervorbringung charakterisiert. 346 Die Produkte des ingenium verlangen nach tractatio und cultus , d. h. ars , bevor sie ihre endgültige Gestalt erlangen - Vergil wird folgerichtig als vir […] iudicii subtilissimi bezeichnet. 347 Dieses Produktionsprinzip lasse sich besonders gut am Beispiel der Aeneis studieren, die - wie sich auch aus der angeblichen testamentarischen Verfügung Vergils, dass das Epos nach seinem Tod verbrannt werden soll, ergebe - die letzte Bearbeitungsstufe nicht erreicht habe und daher in der überlieferten Form sowohl ausgearbeitete als auch nur vorläufig abgeschlossene Partien enthalte. 348 Die Synkrisis der beiden Ätnabeschreibungen hat demnach eine argumentative Funktion und soll ein Beispiel für die Stellen liefern, an die Vergil nicht mehr letzte Hand 349 anlegen konnte. Fragt man nach den konkreten Beurteilungskriterien, auf die sich Favorinus in 17, 10, 13-19 stützt, so lassen sich die für Pindar in Vorschlag gebrachten positiven ästhetischen Kriterien folgendermaßen zusammenfassen: - (1.) Realismus (1: … Pindarus veritati magis obsecutus id dixit, quod res erat quodque istic usu veniebat quodque oculis videbatur … ) - (2.) Differenzierte Darstellung von Einzelaspekten (12: Vergilius … utrumque tempus nulla discretione facta confundit ) - (3.) Transparenz i. S. v. Verständlichkeit (13: Atque ille Graecus quidem … luculente dixit ) Dem stehen auf der Seite Vergils eine Reihe von Negativkriterien gegenüber, die sich z. T. als korrespondierende vitia den o. g. Positivkriterien zuordnen lassen: und Beall (2001). 346 Vgl. Gell. 17, 10, 2-3. - Das Bärengleichnis noch in VSD 22; Hier. comm. in Gal. praef. = PL 26, 427 c und comm. in Zach. praef. = PL 25, 1571 a . 347 Gell. 17, 10, 3 ( … proinde ingenii quoque sui partus recentes rudi esse facie et inperfecta, sed deinceps tractando colendoque reddere iis se oris et vultus liniamenta ). 348 Gell. 17, 10, 5-7. - Der Hinweis auf Vergils letzten Willen schon bei Plin. nat. 7, 114. 349 Gell. 17, 10, 5. 4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae 123 <?page no="124"?> - Einsatz von Klangmitteln auf Kosten des Inhalts (12: Vergilius autem, dum in strepitu sonituque verborum conquirendo laborat … ) - Unklarheit in der Verbindung von Vorstellungsbereichen ↔ Positivkriterium (3) (14: at hic noster ‘atram nubem turbine piceo et favilla fumantem’ ῥόον καπνοῦ αἴθωνα interpretari volens crasse et inmodice congessit ) - Verstöße gegen die eigentliche Wortbedeutung bei der Übertragung (15: ‘globos’ quoque ‘flammarum’, quod ille κρουνούς dixerat, duriter et ἀκύρως transtulit ) - Mangel an Anschaulichkeit bzw. konkreter Vorstellung ↔ Positivkriterium (2) (16: Item quod ait ‘sidera lambit’, vacanter hoc etiam … accumulavit et inaniter ; 17-18: Neque non id quoque inenarrabile esse ait et propemodum insensibile, quod ‘nubem atram fumare’ dixit ‘turbine piceo et favilla candente.’ … ) - Unglaubwürdigkeit bzw. „Monstrosität“ ↔ Positivkriterium (1) (19: … hoc … nec a Pindaro scriptum nec umquam fando auditum et omnium, quae monstra dicuntur, monstruosissimum est. ) Entscheidend für die Beurteilung ist wieder, dass Favorinus vom ästhetischen status quo der Vorbildstelle, d. h. vom besonderen poetischen Stil Pindars (vgl. 17, 10, 8: … qui nimis opima pinguique esse facundia existimatus est ), ausgeht, und Vergils Nachbildung explizit an diesem Standard misst. Der „reiche bzw. volle“ - und das heißt hier: der erhabene - Stil schlägt bei nicht kunstgemäßer Handhabung um in „Schwulst“ (ebd.: insolentior … tumidiorque sit ). Deutlich ist, dass Favorinus hier, wenn er einleitend auf die sententiae und verba als Gegenstände des Vergleichs hinweist, auf die rhetorische Lehre von den Redestilen hinauswill: Insbesondere der Gesichtspunkt der Unglaubwürdigkeit in der διάνοια bzw. der sententia wurde von den Rhetorikern als Kennzeichen des ψυχρόν ~ frigidum angesehen, aber auch Auffälligkeiten in der Klangwirkung, wie sie Favorinus an Vergil beanstandet bzw. registriert, fielen in diesen Bereich. 350 Die Kritik in 17, 10 ist also auf einen anerkannten stilistischen Standard, nämlich den hohen Stil Pindars, bezogen, was auch heißt, dass sie sich nicht primär auf die sachlichen Unglaubwürdigkeiten und Unstimmigkeiten in der vergilischen Ätnabeschreibung richtet und sich damit auf traditionelle Realienkritik reduzieren ließe. Stattdessen wendet sie sich gegen eine für jeden Leser erkennbare, im Ergebnis misslungene aemulatio , die den genannten Standard zwar zu erreichen bzw. zu übertreffen versucht, dies mangels letzter künstlerischer Sorgfalt aber nicht umzusetzen vermag. Die beiden letzten synkritischen Kapitel der Noctes Atticae , Gell. 19, 9 und 19, 11, unterscheiden sich von den bislang behandelten in zweifacher, näm- 350 Vgl. Demetr. eloc. 115 und 117-118 = 28, 3-7 und 14-20 Radermacher. 124 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="125"?> lich thematischer und methodischer, Hinsicht: Sie sind durch das gemeinsame Thema der Nachbildung bzw. Übersetzung griechischer Kleindichtung (Lyrik und Elegie) aufeinander bezogen und verzichten beide auf eine eingehende ästhetische Würdigung von Modell und Nachahmung. Stärker als bisher berührt gerade das erste der beiden Kapitel (Gell. 19, 9) grundsätzliche Fragen des Kulturvergleichs zwischen Griechenland und Rom und des literaturhistorischen Stellenwerts der fraglichen Gedichte. Gellius verhandelt diese Themen, indem er für seine Gegenüberstellung exemplarischer Liebesgedichte eine komplexe Szenerie entwirft. Anlass ist die Geburtstagseinladung eines reichen, anonymen Jünglings ( adulescens ) aus dem Ritterstand, der, aus Asien stammend, sich allgemein durch seine Begabung, besonders aber durch seine Liebe zur Musik ( res musica ) auszeichnet. 351 Er lädt Freunde und Lehrer zu einem Symposium bzw. einer cena auf sein Landgut „vor der Stadt“ - gemeint ist Athen - ein (19, 9, 1), unter ihnen Antonius Julianus, der an dieser Stelle als Rhetor - d. h. öffentlicher (Rede-) Lehrer -, beredter Kenner der Altertümer und der älteren römischen Literatur, vor allem aber als Spanier charakterisiert wird: … Antonius Iulianus rhetor, docendis publice iuvenibus magister, Hispano ore florentisque homo facundiae et rerum litterarumque veterum peritus (19, 9, 2). 352 Auf Bitten des Julianus lässt der Gastgeber seinen gemischten Chor, den er für musikalische Darbietungen unterhält, Gedichte von Anakreon, Sappho sowie von jüngeren, nicht näher benannten Elegikern vortragen. 353 Zitiert wird ein 15 Verse umfassendes Gedicht bzw. Gedichtfragment in katalektischen jambischen Dimetern, das Gellius dem Anakreon zuschreibt. 354 In 19, 9, 7-9 erfolgt dann im Anschluss an diese griechischen Darbietungen die direkte Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe von literaturkundigen Griechen - ihre Kompetenz auch auf dem Gebiet der lateinischen Literatur wird eigens betont (19, 9, 7: … et nostras quoque litteras haut incuriose docti … ) - 351 Wie durch den folgenden musikalischen Vortrag der Gedichte nahegelegt, bezeichnet das Adjektiv musicus hier speziell die Musik als Klangkunst; vgl. zu den engeren und weiteren Verwendungsweisen TLL VIII Sp. 1702, 13-1703, 20. 352 Vgl. Holford-Strevens ( 2 2003), S. 86-88. 353 Elegien wurden zur Begleitung des Aulos gesungen dargeboten; vgl. Bowie (1997), Sp. 969-970 und 972-973. - Auch in 20, 9 tritt Antonius Julianus als Liebhaber erotischer Poesie auf. 354 Vgl. 19, 9, 5 ( … versiculis lepidissimis Anacreontis senis … ). Es handelt sich jedoch um eines der späteren, im Stil des Anakreon verfassten Gedichte, die heute als Carmina Anacreontea geführt werden; vgl. die Studie von Müller (2010), zum Folgenden bes. S. 269-270. - Das Gedicht wurde von Konstantinos Kephalas Ende des 9. Jhdt. n. Chr. in seine Sammlung übernommen und findet sich folglich in den verschiedenen Fassungen der Griechischen Anthologie ; vgl. Anth. Pal. 11, 48 sowie West ( 2 1993), S. IX und 3-4 mit drei verschiedenen Rekonstruktionsversuchen. 4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae 125 <?page no="126"?> und Antonius Julianus. Ihr Vorwurf richtet sich gegen zwei Eigenschaften des Julianus, nämlich seine für die Griechen wenig respektable Herkunft aus der spanischen Provinz ( … tamquam prorsus barbarum et agrestem, qui ortus terra Hispania foret … ) und seine Tätigkeit als Lehrer der Rhetorik in der lateinischen Sprache, die für die Feinheiten griechischer (Liebes-)Dichtung ungeeignet sei ( … clamatorque tantum et facundia rabida iurgiosaque esset eiusque linguae exercitationes doceret, quae nullas voluptates nullamque mulcedinem Veneris atque Musae haberet ). Immerhin schränken sie dieses Urteil wieder ein, indem sie auf „einige wenige Stücke“ ( pauca ) der Neoteriker Catull und Calvus verweisen, die ihren Vorstellungen von guter Dichtung entsprechen. An den Zeitgenossen der beiden Dichter lasse sich aber der grundsätzliche Mangel an Anmut in der lateinischen Sprache klar erkennen. 355 Antonius Julianus entgegnet, dass seine Gegner an Liederlichkeit sogar den Alkinoos 356 überträfen, wobei er charakteristischerweise - und ganz als Redelehrer, dem Catos Devise vom vir bonus dicendi peritus geläufig ist - Lebensführung und Poesie miteinander in Verbindung bringt: cedere equidem … vobis debui, ut in tali asotia atque nequitia Alcinoum vinceretis et sicut in voluptatibus cultus atque victus, ita in cantilenarum quoque mollitiis anteiretis (19, 9, 8). Mit dem Hinweis auf Alkinoos verfolgt Julianus sicherlich wie auch mit der folgenden sprechenden Geste den Zweck, seine Kompetenz auf dem Feld griechischer litterae zu beweisen. Er setzt den Angriff gegen seine Person mit einem Angriff gegen die lateinische Sprache (und Literatur) gleich ( … nos, id est nomen Latinum … ) und bedeckt sein Haupt mit dem pallium , dem traditionellen Gewand der Philhellenisten unter den Römern (19, 9, 9). 357 Mit dieser Geste hatte - Julianus weist eigens darauf hin - der verschämte Sokrates in Platons Phaidros auf die Aufforderung seines Gesprächspartners reagiert, nach einer eben rezitierten Lysiasrede über die Liebe einen eigenen λόγος ἐρωτικός zu halten ( Phaidr. 237 a ). 355 Die hier genannten Dichter sind alle bis auf Laevius (Protoneoteriker im 2. / frühen 1. Jhdt. v. Chr.; sonst bei Gellius - vgl. 19, 7 - höher geschätzt) etwa in dieselbe Zeit, nämlich die erste Hälfte des 1. Jhdt. v. Chr., zu datieren: Q. Hortalus Hortensius (Dichtungen bezeugt bei Plin. epist. 5, 3, 5; Varro ling. 8, 14 und 10, 78), der Neoteriker Helvius Cinna und C. Memmius (Dichtungen bezeugt bei Ov. trist. 2, 433-434; Plin. epist. 5, 3, 5). 356 Die Kritik an der Weichlichkeit des Alkinoos war seit dem kontrastiven Wortspiel Platons (Ἀλκίνοος / ἄλκιμος [„tapfer“]; vgl. Plat. rep. 10 = 614 b [ἀλλ᾽ οὐ μέντοι σοι, ἦν δ᾽ ἐγώ, Ἀλκίνου γε ἀπόλογον ἐρῶ, ἀλλ᾽ ἀλκίμου μὲν ἀνδρός; „Ich will dir indessen keine Erzählung des Alkinoos mitteilen, sondern von einem gar wackeren Manne …“ ÜS Schleiermacher / Kurz ) topisch und ist bei Theopomp (Athen. deipn. 12 = 531 a ) und Herakleides Pontikos (schol. ad Od. 13, 119 = 563, 10-565, 14 Dindorf) bezeugt. Horaz greift den Gedanken in epist. 1, 2, 28 b -31 auf ( Alcinoique | In cute curanda plus aequo operata iuventus, | Cui pulchrum fuit in medios dormire dies et | Ad strepitum citharae cessatum ducere somnum ). 357 Hurschmann (2000), pass. mit Liv. 29, 10. 126 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="127"?> Indem er gestisch auf die Scham des Sokrates über den anzüglichen Gegenstand verweist, spielt er seine Position als sittenreiner Römer gegen den von den Griechen geäußerten Vorwurf der Unbildung mit den Mitteln der griechischen Bildung selbst aus und erreicht auf diese Weise zweierlei: Einerseits beweist er, dass sie es bei ihm nicht mit einem ungebildeten „Barbaren und Bauern“ (19, 9, 7) zu tun haben, andererseits verwahrt er sich mit dem Hinweis auf die eigene Scham gegen den Vorwurf der asotia und nequitia (19, 9, 8). Den letzten Trumpf zieht er schließlich, wenn er in 19, 9, 9 betont, dass anmutige Liebesdichtung in Rom schon vor den genannten - zumeist neoterischen - Dichtern entstanden sei: … et audite ac discite nostros quoque antiquiores ante eos, quos nominastis, poetas amasios ac venerios fuisse . 358 Die zeitliche Differenz zwischen Anakreon, Sappho und den Elegien der „jüngeren“ griechischen Dichter in 19, 9, 4 hatte für die Bewertung ihrer Gedichte keine Rolle gespielt. 359 Gell. 19, 9 ist keine Synkrisis im strengen Sinne eines Vergleichs von Modell und Nachahmung. Antonius Julianus hätte natürlich auch für einen solchen Vergleich Material in der lateinischen erotischen Literatur finden können - griechische Modelle sind für mindestens zwei der in 19, 9, 11-14 zitierten Gedichte belegt. 360 Doch fügt es sich besser in die Verteidigungsstrategie des Julianus, diesen Aspekt der Nachahmung bei den lateinischen Liebesdichtern auszuklammern, verfolgt er in 19, 9 doch offensichtlich die Absicht, die autonomen Qualitäten der lateinischen Lyrik bzw. Elegie gegen die Vorwürfe der Griechen zu betonen. 361 Es passt als Ergänzung daher gut, dass Gellius zwei Kapitel später in 19, 11 zwei Gedichte desselben Themenkreises, nämlich wieder Liebesgedichte, gegeneinanderhält, diesmal aber mit dem erklärten Hinweis, dass es sich bei dem lateinischen Gedicht (= 345-346 FPL 4 ) um eine Übersetzung bzw. um eine 358 Die vier von Antonius Julianus in 19, 9, 11-14 vorgetragenen Gedichte stammen von Valerius Aedituus (Aedit. epigr. 1 + 2 FPL 4 ), Porcius Licinus (Porc. Lic. carm. frg. 6 FPL 4 ) und Quintus <Lutatius> Catulus (Lutat. epigr. 1 FPL 4 ). - Zur Datierung vgl. Helm (1948), Sp. 2313, 2-4; Werner Suerbaum: Art. „Porcius Licinus“, HLL 1 (2002), § 143 c = S. 290-291 (seine Lebenszeit ist demnach [§ 143 a = S. 289] „[a]ufgrund vager Indizien … in der zweiten Hälfte des 2. Jh. v. Chr.“ anzunehmen) und ders.: Art. „Q. Lutatius Catulus“, HLL 1 (2002), § 172 B.4 = S. 451-453 (Lebensdaten nach A = S. 448 ca. 150-87 v. Chr.). 359 Wie diese Entgegnung des Julianus von den Griechen aufgenommen wurde, verschweigt Gellius freilich; vgl. Holford-Strevens ( 2 2003), S. 66-67. 360 Holford-Strevens ( 2 2003), S. 67 Anm. 10 weist auf thematisch entsprechende griechische Gedichte für Catulus (Kall. epigr. 41) und Aedituus ( frg. 2 FPL 4 ) bzw. Porcius Licinus (Anth. Pal. 9, 15; vgl. auch 16, 209) hin, wobei die relative Datierung in den beiden letzteren Fällen unklar ist. - Zur Quelle, aus denen Gellius die zitierten Gedichte kannte - vermutlich eine Anthologie - vgl. Vardi (2000), insbes. 154-158. 361 Die ästhetischen Standards, an denen die lateinischen Produkte gemessen werden ( suavitas , dulcedo , venustas etc.), werden freilich auch hier wieder von Anakreon, Sappho und den griechischen Elegikern vorgegeben. 4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae 127 <?page no="128"?> freie poetische Nachbildung handelt: Hoc δίστιχον amicus meus, οὐκ ἄμουσος adulescens, in plures versiculos licentius liberiusque vertit (19, 11, 3). 362 Der enge Bezug von Gell. 19, 9 und 19, 11 ergibt sich auch daraus, dass das pseudoplatonische Distichon von 19, 11, 2 nicht nur allgemein der erotischen Poesie zuzurechnen ist, sondern sogar exakt dasselbe Thema wie das letzte in Gell. 19, 9 von Antonius Julianus vorgetragene lateinische Beispiel behandelt. Das Distichon des Catulus, in dem geschildert wird, dass der animus des Liebenden im Geliebten Asyl und Zuflucht findet, lässt sich nämlich als gedankliche Variation des in 19, 11, 2 zitierten pseudoplatonischen Doppelzeilers (= Anth. Pal. 5, 78) - der Kuss als Moment, in dem die ψυχή sich auf den Lippen des Liebenden einfindet, um in den Geliebten überzugehen; vgl. auch die formale Entsprechung in der Metrik - auffassen. 363 Damit ergänzt Gellius den Nachweis des Julianus, dass es schon in ältester Zeit eine der griechischen gleichwertige lateinische erotische Poesie gegeben habe, indem er ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit bringt: Der anonyme Dichter der 17 jambischen Dimeter wird als amicus des Gellius eingeführt (s. o.). 364 Die Ausführungen von 19, 9 werden in 19, 11 aber in doppelter Hinsicht erweitert, indem nämlich neben der zeitlichen Dimension auch der Aspekt der imitatio angesprochen wird, die in 19, 11 als vollwertiges künstlerisches Produktionsprinzip an die Seite der - vermeintlich - „originalen“ römischen Kleindichtung von 19, 9, 11-14 tritt. Ein detaillierter Vergleich von Vorbild und Nachahmung findet in 19, 11 freilich nicht statt. 365 Fasst man abschließend die Merkmale der synkritischen Kapitel der Noctes Atticae zusammen, so ergibt sich eine erhebliche formale und inhaltliche Varianz: - Wie bereits einleitend erwähnt, finden sich sowohl einfache Stellenvergleiche (10, 3; 19, 9; 19, 11) als auch Vergleiche von Modell und Nachahmung, bei denen der Nachahmungsaspekt auch entsprechend gekennzeichnet ist (2, 23; 2, 27; 9, 9; 11, 4; 13, 27; 17, 10). 362 Vgl. zu 19, 11 Steinmetz (1982), S. 334-336. 363 Ein weiterer formaler Bezug, nämlich die Entsprechung in Umfang und Metrum - nicht aber im Inhalt - mit den Pseudoanakreonteen von 19, 9, 6 macht den Doppelcharakter der beiden Kapitel noch deutlicher. 364 Zu den Spekulationen, dass sich hinter dieser vagen Kennzeichnung Apuleius verberge, vgl. die zurückhaltenden Äußerungen von Dahlmann (1979), pass. und Steinmetz (1982), S. 336 Anm. 107, letzterer mit dem Vorschlag, Gellius selbst als Autor der Verse in Betracht zu ziehen. 365 Als wichtigste Unterschiede sind der Gattungswechsel von der Elegie zur Lyrik und die inhaltlichen Erweiterungen in der lateinischen Fassung anzusehen; vgl. dazu Steinmetz (1982), S. 335-336. 128 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="129"?> 4.2 Parthenios und Homer als polare Bezugsgrößen für die Bewertung Vergils 129 - Hinsichtlich der gewählten Textsorten kommen sowohl historische bzw. rhetorische (2, 27; 10, 3) als auch poetische Texte (2, 23; 9, 9; 11, 4; 13, 27; 17, 10; 19, 9; 19, 11) als Vergleichsgegenstände in Frage. - Nur in Gell. 11, 4 werden ausschließlich lateinische Texte miteinander verglichen; regulär ist der Vergleich von griechischen und lateinischen Stellen. - Die Anzahl der verglichenen Autoren schwankt zwischen zwei (2, 23; 2, 27; 11, 4; 17, 10; 19, 11), drei (9, 9; 10, 3; 13, 27) und vier (19, 9). - Hinsichtlich ihres Umfangs sind die Dichterstellen in versus und loci zu klassifizieren, wobei einzelne Stellen auch repräsentativ für das jeweilige Gesamtwerk aufgefasst werden können (2, 23). - In der Regel wird ein abschließendes Urteil über die verglichenen Stellen gefällt, das meist auch detailliert ästhetisch begründet wird (vgl. aber 19, 9 und 10). - Der Vergleich kann entweder mit (z. B. 13, 27) oder ohne (z. B. 2, 23) Berücksichtigung der literaturgeschichtlichen Stellung der Autoren erfolgen. - Ein narrativer Rahmen, der den Vergleich auch soziokulturell einbettet und gelegentlich auf allgemeinere Fragestellungen - z. B. das Thema des Kulturvergleichs Griechenland / Rom - verweist, kann ausgeführt sein (z. B. 2, 23; 19, 9) oder nicht (z. B. 11, 4). Trotz dieser Unterschiede wird man den textvergleichenden Einzelkapiteln der Noctes Atticae ihren insgesamt einheitlichen Charakter nicht absprechen. Wieder ist hier der eingangs erwähnte exemplarische Charakter der Einzelkapitel zu berücksichtigen: Gellius geht es weniger darum, einen einheitlichen Gattungstypus zu verwirklichen, als vielmehr die Vielfalt der in Frage kommenden Themen und Methoden bzw. ästhetischen Kriterien beispielhaft vorzuführen. Es lässt sich folglich durchaus mit Berechtigung von der Synkrisis als eigenständiger literaturkritischer Kleinform sprechen, auf die Gellius dann auch zurückgreift, wenn er in zwei Kapiteln seines Sammelwerks Vergleiche zwischen Vergil und dessen Vorbild Homer anstellt. 4.2 Parthenios und Homer als polare Bezugsgrößen für die Bewertung Vergils (Gell. 13, 27) Zwei Abschnitte in den Noctes Atticae thematisieren das Verhältnis zwischen Vergil und seinem Vorbild Homer. In einem, dem kurzen 27. Kapitel des 13. Buches, behandelt Gellius unter dem Titulus De versibus, quos Vergilius sectatus videtur, Homeri ac Partheni zwei nur entfernt vergleichbare Vergilstellen <?page no="130"?> nach verschiedenen griechischen Modellen. 366 Bei beiden Stellenpaaren sind jeweils zwei bzw. drei Götternamen, z. T. mit Attribut erweitert, in einem Vers zusammengefasst: Partheni poetae versus est: ‘Γλαύκῳ καὶ Νηρεῖ καὶ εἰναλίῳ Μελικέρτῃ.’ < frg. 36 Lightfoot = SH 647> Eum versum Vergilius aemulatus est itaque fecit duobus vocabulis venuste inmutatis parem: ‘Glauco et Panopeae et Inoo Melicertae.’ < georg. 1, 437> Sed illi Homerico non sane re parem neque similem fecit; esse enim videtur Homeri simplicior et sincerior, Vergilii autem νεωτερικώτερος et quodam quasi ferumine inmisso fucatior: ‘Ταῦρον δ’ Ἀλφειῷ, ταῦρον δὲ Ποσειδάωνι.’ < Il. 11, 728> ‘Taurum Neptuno, taurum tibi, pulcher Apollo.’ < Aen. 3, 119> Wenn Gellius gerade Verse von Parthenios und Homer aus dem Kanon möglicher vergilischer Referenztexte 367 wählt, so geschieht dies nicht willkürlich, sondern um des exemplarischen Charakters der präsentierten Beispiele willen, der zunächst einmal durch die zeitlichen Verhältnisse gegeben ist: Homer gilt ja als der erste Dichter der Griechen, Parthenios - der angebliche Lehrer Vergils 368 - gehört in die unmittelbare Zeitgenossenschaft des Römers. Gellius wählt also die beiden zeitlich am weitesten voneinander entfernten Modelle, auf die Vergil zurückgreifen konnte. Dass es sich aber nicht nur in zeitlicher, sondern auch in ästhetischer Hinsicht um „Extremfiguren“ handelt, ergibt sich aus einigen Hinweisen auf literaturkritische Diskussionen, wie sie wenige Jahrzehnte vor Abfassung der Noctes Atticae geführt wurden. 369 Parthenios erlebte nämlich in der Zeit Hadrians mit ihrer Vorliebe für neoterische Dichtung eine Renaissance. 370 Die poetae novelli des 2. bzw. 3. Jhdt. n. Chr. 371 optierten ganz nach den Prinzipien der Neoteriker für den feinen, „modernen“ Parthenios und damit gegen großepische Dichtung, wie sie in Gestalt der kyklischen Ependichter seit dem Hellenismus zum literaturkritischen Klischee geworden war. Homer selbst wird dabei zwar nicht 366 Ein umfassender moderner Kommentar zum 13. Buch fehlt; vgl. aber zu Gell. 13, 27 vorläufig Cavazza (1999), S. 275-282. 367 Vgl. den Katalog poetischer Modelle Vergils in Gell. 9, 9, 3, wo Homer und Parthenios in einer ganzen Reihe von möglichen Vorbildern figurieren ( Scite ergo et considerate Vergilius, cum aut Homeri aut Hesiodi aut Apollonii aut Parthenii aut Callimachi aut Theocriti aut quorundam aliorum locos effingeret, partem reliquit, alia expressit ). 368 Vgl. Macr. Sat. 5, 17, 18 = test. 9 a Lightfoot. 369 Zum Nachleben des Parthenios vgl. Lightfoot (1999), S. 76-96; die negative Haltung gegenüber Homer, die man ihm nachsagte, wird auf S. 76-79 erörtert. 370 Die Wertschätzung des Kaisers für den Dichter aus Nicaea ist auch inschriftlich bezeugt; vgl. IG XIV 1089 = test. 4 Lightfoot und Lightfoot (1999), S. 82-84. 371 Zu diesem forschungsgeschichtlich problematischen Begriff und den damit bezeichneten lyrischen Dichtern vgl. Steinmetz (1989), pass. 130 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="131"?> 4.2 Parthenios und Homer als polare Bezugsgrößen für die Bewertung Vergils 131 kritisiert, homerisierende Großdichtung aber durchaus. Greifbar wird diese Haltung etwa in einem Epigramm der Anthologia Palatina , das dem Dichter Pollianos 372 zugeschrieben wird: Τοὺς κυκλίους τούτους τοὺς ‘αὐτὰρ ἔπειτα’ λέγοντας | μισῶ, λωποδύτας ἀλλοτρίων ἐπέων. | καὶ διὰ τοῦτ’ ἐλέγοις προσέχω πλέον· οὐδὲν ἔχω γὰρ | Παρθενίου κλέπτειν ἢ πάλι Καλλιμάχου. | ‘θηρὶ μὲν οὐατόεντι’ γενοίμην, εἴ ποτε γράψω, | εἴκελος, ‘ἐκ ποταμῶν χλωρὰ χελιδόνια.’ | οἱ δ’ οὕτως τὸν Ὅμηρον ἀναιδῶς λωποδυτοῦσιν, | ὥστε γράφειν ἤδη ‘μῆνιν ἄειδε, θεά.’ ( Anth. Pal. 11, 130 = test. 5 Lightfoot) („Wie ich es hasse, dies kyklische Volk mit dem ‘Aber darauf nun’! | Fledderer sind sie am Werk anderer epischer Kunst. | Lieber nehm ich darum die elegische Dichtung; da stehl ich | dem Parthenios nichts, nichts dem Kallimachos fort. | Eher wünschte ich selbst zum ‘ohrigen Tiere’ zu werden, | ehe ich schreibe: ‘Vom Fluss das Chelidionion gelb.’ | Solch ein Gesell aber fleddert so schamlos am großen Homeros, | dass er am Ende noch schreibt: ‘Singe mir, Muse den Zorn! ’“ ÜS Beckby ) Bezeichnenderweise wird die kyklische Dichtung in ihrer kaum verhohlenen Homernachfolge hier mit Diebstahls-, d. h. mit Plagiats vorwürfen in Verbindung gebracht. Als Elegiker folgt Pollianos stattdessen den Prinzipien des Kallimachos und des Parthenios - solchen Dichtern also, bei denen sich wegen der sorgsamen Durcharbeitung ihrer Werke leichtfertiges Plagiieren verbietet. Die bei Pollianos formulierte Kritik an den Kyklikern wurde einige Jahrzehnte zuvor bereits von Erykios in einem Epigramm gegen Homer selbst gerichtet. Hier treten nicht die Anhänger der beiden Dichter gegeneinander an, sondern Parthenios selbst wird als Homerverächter präsentiert 373 : Εἰ καὶ ὑπὸ χθονὶ κεῖται, ὅμως ἔτι καὶ κατὰ πίσσαν | τοῦ μιαρογλώσσου χεύατε Παρθενίου, | οὕνεκα Πιερίδεσσιν ἐνήμεσε μυρία κεῖνα | φλέγματα καὶ μυσαρῶν ἀπλυσίην ἐλέγων. | ἤλασε καὶ μανίης ἐπὶ δὴ τόσον, ὥστ’ ἀγορεῦσαι | πηλὸν Ὀδυσσείην καὶ πάτον Ἰλιάδα. | τοιγὰρ ὑπὸ ζοφίαισιν Ἐρινύσιν ἀμμέσον ἧπται | Κωκυτοῦ κλοιῷ λαιμὸν ἀπαγχόμενος. ( Anth. Pal. 7, 377 = test. 2 Lightfoot) („Liegt auch Parthenios schon mit der schmutzigen Lästererzunge | unter der Erde, so gießt trotzdem noch Pech über ihn. | Hat auf die Musen er doch so oft die Flut seines Geifers | und seiner Spottelegien unreine Bosheit gespien. | Ja, er trieb seine Tollheit so weit, dass Homers Odyssee er | einen Morast, dass er Mist die Iliade genannt. | Darum würgten ihn auch mit dem Halsring die finstern Erinnyen | und umketteten ihn mitten im Schlamm des Kokyts.“ ÜS Beckby ) 372 Vgl. zu ihm Peek (1952), pass. (Datierung in hadrianische Zeit). 373 Vgl. Degani (1998), pass. <?page no="132"?> Homer und Parthenios konnten also sowohl zeitlich wie auch ästhetisch als Antipoden gelten, auch wenn sich hinsichtlich der Bewertung Homers und der Kykliker Unterschiede zeigen. Welchen ästhetischen Kriterien folgt nun aber der knappe Literaturvergleich in Gell. 13, 27? Das erste griechische Zitat mit der Aufzählung von Meeresgottheiten entstammt wohl dem Propemptikon des Parthenios. 374 Gellius stellt die Nachahmung als künstlerisch gleichwertig hin: Die beiden als „anmutig“ (vgl. venuste ) bewerteten Modifikationen des Partheniosverses durch Vergil, die von Gellius für die ästhetische Äquivalenz der beiden Stellen geltend gemacht werden ( itaque fecit … parem ), betreffen Einzelwortersetzungen. Statt des Meergottes Nereus erscheint eine seiner Töchter, Panopea , und an die Stelle des Attributs εἰνάλιος tritt das Matronymikon Inous ein. Die metrische Gestaltung des vergilischen Verses zeigt einige „gräzisierende“ Besonderheiten. 375 Die Verwendung möglichst vieler (griechischer) Eigennamen in einem Vers galt als Ausweis dichterischer Fertigkeit; in der Ersetzung εἰναλίῳ / Inoo kann man daher wohl eine Überbietungsabsicht Vergils erkennen. Richard Thomas 376 hat plausible Gründe dafür vorbringen können, dass beide Änderungen - die auffällige Form Panopea (Πανόπεια) statt des homerischen Πανόπη 377 und Inoo 378 - durch Kallimachos angeregt worden sind. Damit läge in den Georgica die Verbindung zweier Modelle - Parthenios und Kallimachos - vor, was freilich von Gellius nicht eigens erwähnt wird. Zwei spätere Varianten bzw. Zitate des Partheniosverses sind erhalten, die in einem komplexeren Verhältnis zu ihren Vorlagen stehen. Der unter Nero schreibende Epigrammatiker Lukillios beginnt eines seiner Epigramme mit den Worten: Γλαύκῳ καὶ Νηρῆι καὶ Ἰνοῖ καὶ Μελικέρτῃ. 379 Hier ist ein klarer Bezug 374 Vgl. Lightfoot (1999), S. 40-41 und 194, zum ganzen Fragment den Kommentar bei Lightfoot (1999), S. 194-196 und Scarcia (1983), pass. - Zu den beiden Stellen, in denen Gellius Parthenios erwähnt - neben dem hier behandelten Kapitel noch Gell. 9, 9, 3 = test. 9 c Lightfoot -, vgl. auch Lightfoot (1999), S. 84-85 und Holford-Strevens ( 2 2003), S. 75 und 205. 375 Hiat nach Spondeus; weibliche Zäsur κατὰ τρίτον τροχαῖον; corruptio epica im Schlussdiphthong von Panopeae . - Anders als von Thomas (1988), S. 140 zu georg. 1, 437 dargelegt, liegt bei Glauco keine correptio epica vor. 376 Vgl. Thomas (1988), S. 140-141 zu georg. 1, 437. 377 Bei Vergil findet sich nur diese Form (vgl. noch Aen. 5, 240 und Aen. 5, 825). 378 Vgl. Callim. Aet. 4 frg. 91 f. Pfeiffer = SH 275 (von Vergil sonst nur noch in Aen. 5, 823 verwendet). 379 Anth. Pal. 6, 164, 1 = °128, 1 Floridi (Γλαύκῳ καὶ Νηρῆι καὶ Ἰνοῖ καὶ Μελικέρτῃ | καὶ βυθίῳ Κρονίδῃ καὶ Σαμόθρᾳξι θεοῖς | σωθεὶς ἐκ πελάγους Λουκίλλιος ὧδε κέκαρμαι | τὰς τρίχας ἐκ κεφαλῆς· ἄλλο γὰρ οὐδὲν ἔχω; „Glaukos und Nereus zugleich, zugleich Melikertes und Ino | wie dem Kroniden im Meer und Samothrakiens Chor | weih ich, Lukillios, hier, aus dem Meere gerettet die Haare, | die ich vom Haupte mir schnitt: Weiter besitz ich nichts 132 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="133"?> 4.2 Parthenios und Homer als polare Bezugsgrößen für die Bewertung Vergils 133 auf Parthenios intendiert, doch hat auch eine der Änderungen Vergils - der Ersatz von εἰναλίῳ durch Inoo - bei Lukillios eine Entsprechung. - Die Vergil-Parthenios-Parallele zitiert auch Macrobius, allerdings mit einer auffälligen Variante im griechischen Text: versus est Parthenii quo grammatico in Graecis Vergilius usus est: Γλαύκῳ καὶ Νηρῆι καὶ Ἰνώῳ Μελικέρτῃ . hic ait: ‘Glauco et Panopeae et Inoo Melicertae’ . 380 Es dürfte außer Frage stehen, dass Gellius den Partheniosvers so gelesen hat, wie er in den modernen Ausgaben erscheint: Gellius benennt ja eindeutig die beiden Stellen, an denen Vergil Änderungen vorgenommen hat (Νηρεῖ / Panopeae ; εἰναλίῳ / Inoo ). 381 Nimmt man also an, dass der Wortlaut bei Gellius authentisch ist, so ist damit zu rechnen, dass Lukillios zu seiner Ersetzung (Ἰνοῖ καὶ anstelle von εἰναλίῳ) durch Vergils Versschluss Inoo Melicertae angeregt worden ist. Die Änderung bei Macrobius ist dann am Einfachsten als nachträgliche Angleichung der Vorlage an den Wortlaut der vergilischen Nachahmung zu erklären. 382 Zum zweiten Verspaar: Die Kritik an Vergils Homeranleihe in Aen. 3, 119, die Gellius im Anschluss übt, wird durch die polaren Doppelausdrücke simplicior / sincerior vs. νεωτερικώτερος / quodam quasi ferumine inmisso fucatior eingeleitet. Mit dieser Opposition ist ein Gegensatz von alt und modern gemeint, den Gellius - ohne dies eigens hervorzuheben - wohl vor allem an der Verwendung des Attributs pulcher festmacht. 383 Aeneas berichtet in diesem Vers von dem Stieropfer, das Anchises auf Delos vor der Abreise nach Kreta den mehr.“ ÜS Beckby ). Bei dem Epigramm handelt es sich um die Parodie einer Inschrift auf einer Weihgabe (ἀνάθημα); die ersten beiden Verse nennen den Konventionen dieser Texte entsprechend die Götter, denen das Weihgeschenk - hier die Haare des auf See verunglückten Λουκίλλιος - gilt. Der Verfasser, der sich im Gedicht selbst als Spender nennt, dürfte der Epigrammatiker Lukillios sein, dessen Lebenszeit in neronische Zeit fällt und der chronologisch also nach Parthenios und Vergil einzuordnen ist; vgl. Floridi (2014), S. 3-5 und Anth. Pal. 9, 572, 8 = 2, 8 Floridi. Das Gedicht Anth. Pal. 6, 164 wird bei Floridi (2014), S. 533-537 unter die carmina dubia gerechnet; vgl. aber zur Echtheit ibid. S. 533: „l’epigramma è assai probabilmente da attribuire a Lucillio“. 380 Vgl. Macr. Sat. 5, 17, 18. 381 Vgl. auch Thomas (1988), S. 140-141 zu georg. 437. Gamberale (1969), S. 132-142 geht stattdessen davon aus, dass Macrobius den Partheniosvers korrekt zitiert; vgl. zur Kritik an ihm und an Scarcia (1983), der Ἰνοῖ καί statt εἰναλίῳ vorschlägt, Lightfoot (1999), S. 195. - Erren (2003), S. 232 z. St. erkennt in der Ersetzung Νηρεῖ / Panopeae parodistische Absicht, weil Vergil dabei durch die Wahl des Namens bewusst einen Hiat in Kauf genommen habe. Den Nachweis, dass es sich bei dem Vers um eine „<t>ypische Epigrammformel“ handle, die Parthenios hier zitiert habe, bleibt er jedoch schuldig. Jedenfalls sieht er in der Version des Lukillios die „naivere“, d. h. die ursprünglichere Fassung der Formel, die dann bei Parthenios - wie bei Gellius zitiert - abgewandelt erscheine. 382 Ἰνώῳ ist eine exakte Transkription des vergilischen Inoo ; vgl. auch Lightfoot (1999), S. 195. 383 So schon Georgii (1891), S. 159. <?page no="134"?> Göttern Neptun und Apollo dargebracht hat. Verglichen mit dem homerischen Vorbild aus der Erzählung des Nestor im 11. Buch der Ilias unterscheidet sich Vergils Vers nämlich - sieht man von der Ersetzung der Götternamen ab - nur in zwei Punkten, nämlich der Apostrophe tibi 384 und, wie bereits erwähnt, dem Attribut pulcher . Es wäre denkbar, dass Gellius bei seiner kontrastiven Vergilkritik in 13, 27, 3 an einen der frühen Vergilkritiker - vielleicht Probus 385 - gedacht hat, den er entweder direkt oder durch einen Kommentar vermittelt kennen konnte. Durch Servius sind noch Spuren der Kritik an Aen. 3, 119 kenntlich: et quidam ‘pulcher Apollo’ epitheton datum Apollini reprehendunt; pulchros enim a veteribus exsoletos dictos; nam et apud Lucilium < frg. 27 Krenkel = frg. 23 Marx> Apollo pulcher dici non vult. ( DS erv ad Aen. 3, 119 = I 364, 27-28 Thilo-Hagen) Die von Servius zitierten anonymen Kritiker beanstandeten Vergils Wortwahl, indem sie sich auf den zur Entstehungszeit der Aeneis geltenden usus beriefen, der dem Adjektiv einen anzüglichen Nebensinn unterlegt ( pulcher ~ exoletus ). 386 Dieser beim Satiriker Lucilius durch den Gott Apollo persönlich gerügte Wortgebrauch lässt sich etwa auch beim Neoteriker Catull beobachten. 387 Tatsächlich wird das Attribut, wenn von Apollo die Rede ist, in der lateinischen Dichtung in der Regel vermieden - die bei Servius dokumentierte Kritik an Vergils Vers ist also wohl zutreffend. 388 Freilich ist von einem anzüglichen Nebensinn bei Gellius nicht die Rede. Wenn er Aen. 3, 119 als νεωτερικώτερος bezeichnet, so rückt er zunächst einmal die zeitliche Distanz zu Homer in den Vordergrund. Die Metapher von der ge- 384 Die Apostrophe erlaubt eine variatio der starren Formelhaftigkeit des homerischen Vorbilds und dürfte auch eine Echo an die beim Opfer persönlich an den Gott gerichteten Worte sein; vgl. Williams (1983), S. 265 und Horsfall (2006), S. 122 z. St. 385 Georgii (1891), S. 387. 386 Vergil wird bei Servius unter die veteres auctores gerechnet: Ein Unterschied zwischen klassischen (etwa Vergil) und vorklassischen Autoren (etwa Lucilius) wird nicht gemacht; vgl. Uhl (1998), S. 315-323 und 419-421. 387 Vgl. Catull. 79, 1 u. 3 mit Holzberg (2002), S. 16. 388 Vgl. die Zusammenstellungen bei Carter (1902), S. 14 u. 143 sowie Kruse, s. v. pulc(h)er , TLL X.2.2 Sp. 2562, 51-72 u. 2568, 73-2569, 17. Die lateinischen Dichter vor Vergil vermeiden es, das Adjektiv zu einem männlichen Götternamen zu setzen; auf Apollo beziehen es noch Tib. 2, 5, 7 ( nitidus pulcherque veni [ scil. Phoebe ]); Calp. ecl. 4, 57; Avien. phaen. 622 und Claud. 6 cons. Hon. 25 (vgl. auch Fiedler [2004], S. 218 f. zu Avien. phaen. 622). - Dass es sich nur um ein lexikalisches Problem des Lateinischen handelt, zeigt die häufige Verwendung des Epithetons καλός in der griechischen Dichtung; vgl. Theogn. 7 (ἀθανάτων κάλλιστον); Kall. Ap. 36 (καὶ μὲν ἀεὶ καλὸς καὶ ἀεὶ νέος) und Anth. Pal. 278, 1 (καλῷ … Φοίβῳ) sowie ecl. 4, 57 ( formosus Apollo ); Tib. 2, 3, 11; Priap. 39, 2 ( forma conspiciendus est Apollo ). 134 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="135"?> 4.2 Parthenios und Homer als polare Bezugsgrößen für die Bewertung Vergils 135 schminkten Rede ( fucata oratio ), die Gellius bei seiner Erläuterung des Sachverhalts bringt, ist ganz in diesem Sinn gebraucht: Sie lässt sich seit Seneca in der lateinischen Literatur nachweisen und impliziert eine diachrone Komponente, nämlich die Abgrenzung des verkommenen modernen vom natürlichen alten Stil. 389 Tacitus verwendet sie etwa ganz ähnlich wie Gellius, wenn er im Dialogus Messalla die Impulsivität bzw. würdevolle Reife ( impetum aut … maturitatem ) von früheren Rednern wie C. Gracchus oder L. Crassus der verfeinerten Künstelei und dem Versgeklingel ( calamistros … aut tinnitus ) 390 der Modernen - Maecenas oder Gallio - gegenüberstellen lässt. 391 Rechnet Gellius Vergil in 13, 27, 3 unter die Neoteriker im heutigen Sinn, wenn er Aen. 3, 119 als νεωτερικώτερος bezeichnet? Ein Blick auf die Verwendung des Terminus bei Servius führt hier weiter. Grundsätzlich ist hier von der ursprünglichen relationalen Bedeutung des Begriffs auszugehen - die neoterici sind diejenigen Autoren, die nach Vergil geschrieben haben. Servius verknüpft diese relationale Bedeutung freilich auch mit einer bestimmten Wertung: 392 Namentlich werden bei Servius die Autoren Persius, Juvenal und Lucan unter die neoterici gerechnet, also allesamt Dichter, die nach Vergil geschrieben haben. 393 Die drei Autoren werden angeführt, um chronologisch nach Vergil liegende sprachliche Entwicklungen in Abgrenzung zur jeweils besprochenen Stelle zu belegen. An einem Punkt scheint aber eine Unterscheidung zwischen posteriores im Allgemeinen und neoterici gemacht zu sein, und zwar in dem Sinn, dass Servius den Sprachgebrauch der als neoterici qualifizierten Autoren nicht zur Nachahmung empfiehlt. 394 Wie richtig bemerkt wurde, hat der Begriff bei Servius aber keine streng klassifizierende Bedeutung, sondern kann bei Gelegenheit verwendet werden, um die grundsätzlich nicht in Frage gestellte auctoritas nachvergilischer Autoren wie Persius, Lucan oder Juvenal an der betreffenden Stelle vorübergehend zu relativieren. An einer Stelle kontrastiert 389 Vgl. Sen. epist. 115, 2 und Rubenbauer, s. v. fuco , TLL VI.1 Sp. 1460, 72-84. - Die Vokabel ferumen („Bindemittel, Klebstoff“) wird nur hier in dieser übertragenen Bedeutung gebraucht; vgl. Rubenbauer: s. v. ferumen , TLL VI.1 Sp. 586, 43-56. 390 Vgl. zu den Metaphern Cic. Brut. 262 und or. 78 sowie Quint. inst. 2, 3, 9. 391 Vgl. Tac. dial. 26, 1-2 ( … adeo melius est orationem vel hirta toga induere quam fucatis et meretriciis vestibus insignire. neque enim oratorius iste, immo hercule ne virilis quidem cultus est quo plerique temporum nostrorum actores ita utuntur, ut lascivia verborum et levitate sententiarum et licentia compositionis histrionalis modos exprimant … ). 392 Vgl. dazu auch Uhl (1998), S. 242 Anm. 77. 393 Vgl. Serv. ad Aen. 6, 187 = II 37, 18-21 Thilo-Hagen zu Persius, Serv. ad Aen. 6, 320 = II 55, 8-10 Thilo-Hagen zu Lucan, und Serv. ad Aen. 11, 715 = II 558, 24-559, 1 Thilo-Hagen zu Juvenal. 394 Vgl. Serv. ad Aen. 11, 715 = II 558, 24-559, 1 Thilo-Hagen; vgl. dazu Uhl [1998], S. 244, die zeigt, dass Servius zumindest an dieser Stelle die neoterici von den nachzuahmenden auctores idonei abgrenzt. <?page no="136"?> Servius etwa den Sprachgebrauch der nachzuahmenden Autoren ( auctores idonei ) und der - folglich also nicht nachzuahmenden - neoterici . 395 Konkret geht es um zwei morphologische Alternativen, von denen die eine empfohlen, die andere abgelehnt wird. „Neoterischer“ Sprachgebrauch kann auch als Argument dienen, eine bestimmte Lesart zu verwerfen. 396 An anderen Stellen ist die - mit putant bzw. putatur als Zitat aus früheren Kommentatoren markierte - Ablehnung der als „neoterisch“ qualifizierten Stellen zwar nicht explizit gemacht, lässt sich aber wegen der jeweils vorliegenden sprachlichen Gewagtheiten erschließen. 397 An einer weiteren Stelle wird deutlich, dass Servius unter „neoterisch“ auch das versteht, was überflüssig ist und gegen die gravitas des Gedichts verstößt. 398 Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass neoterici bei Servius - im Gegensatz zu neutralen Relationsbegriffen wie recentiores - in der Regel mit einer negativen Wertung verbunden wird. 399 Wie die Verwendung des Begriffes neoterici bei Probus 400 und in den anonym zitierten Vergilkommentaren zeigt, dürfte sich die damit verbundene negative Wertung bei den antiken Vergilphilologen eingebürgert haben und kann somit auch für die Noctes Atticae angenommen werden. Da es keine Anhaltspunkte gibt, dass Gellius Aen. 3, 119 wegen des möglichen obszönen Nebensinns von pulcher kritisiert und den Vers deshalb als „neoterisch“ geißelt, so bleibt als die wahrscheinlichere Deutungsmöglichkeit, dass er den Zusatz eines Adjektivs selbst als eine Abweichung vom alten, d. h. einfachen und unverfälschten homerischen Stil (vgl. simplicior et sincerior ) betrachtet. Diese Betrachtungsweise, d. h. die Frage nach der Notwendigkeit eines bestimmten sprachlichen Ausdrucks, hat eine Entsprechung in den ästhetischen Grundsätzen der Homerphilologen, dürfte also von dort in die Vergilphilologie übernommen worden sein. 395 Vgl. Serv. ad georg. 4, 122 = III.1 328, 30-329, 4 Thilo-Hagen. Der erste Beleg für die abgelehnte „neoterische“ Form ist Plin. nat . 12, 71. 396 In einer Kommentarnotiz ([D]Serv. ad Aen. 12, 605 = II 626, 30-627, 6 Thilo-Hagen) wird diskutiert, ob Vergil floros (~ florulentos = pulchros ) oder flavos geschrieben habe. Die erste Alternative wird mit dem Hinweis, florus gehöre zum sermo Ennianus , als antiqua lectio erwiesen. Probus ( frg. 43 Velaza = frg. 42 Aistermann) wird stützend hinzugezogen, der die Lesart flavos mit der Erklärung, sie sei „neoterisch“ ( neotericum ), abgelehnt habe. 397 Es handelt sich an den beiden Stellen um Personifikationen; vgl. DServ. ad Aen. 10, 192 = II 412, 19-20 Thilo-Hagen ( canentem senectam ] pro albo colore neoterice dictum putant ) und DServ. ad Aen. 11, 590 = II 548, 9 Thilo-Hagen ( … et neotericum putatur ipsum ‘sagittam ultricem’ ). 398 Vgl. DServ. ad Aen. 8, 731 ( attollens umero famaque et facta nepotum ] … hunc versum notant critici quasi superfluo et humiliter additum nec convenientem gravitati eius: namque est [ eius ] magis neotericus … ). 399 Die Vermischung der Kategorienpaare maiores / recentes (chronologisch) und idonei / neoterici (Bezug zur Sprachrichtigkeit) findet sich nur an einer Stelle; vgl. Kaster (1978), S. 203-204 und Uhl (1998), S. 241-242. 400 Vgl. (D)Serv. ad Aen. 12, 605 = II 626, 30-627, 6 Thilo-Hagen. 136 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="137"?> 4.3 Ein bloßgestellter Kritiker: Probus über das Auftrittsgleichnis der Dido 137 Die antiken Homerkommentatoren befassten sich - abgesehen von den vielen semantischen Problemen, die sich auf diesem Gebiet ergaben; vgl. dazu Nünlist (2009), S. 299 - hauptsächlich mit der Frage, ob Homer seine Epitheta glücklich gewählt hat oder nicht. 401 Man unterschied in problematischen Fällen zwischen dem aktuellen Kontext (τότε), der bei der Wahl nicht unbedingt berücksichtigt werden musste, und einer „generellen“ Gültigkeit eines Beiworts (φύσει); vgl. Nünlist (2009), S. 300-305. Im Zuge der intensiven Forschungen über homerische Epitheta, die in der Antike betrieben wurden, wurden in manchen Kontexten Epitheta auch als „überflüssig“ (περισσός) kritisiert; vgl. Nünlist (2009), S. 303. Vergils Verwendung von pulcher kann also vor diesem Hintergrund ebenfalls als περισσός bzw. superfluus bezeichnet werden; demgegenüber hebt sich die Zurückhaltung Homers positiv ab. 402 Gell. 13, 27 stellt also eine literaturhistorische Miniaturbetrachtung dar, in der Vergil zu zwei diachron weit entfernten Bezugsautoren ins Verhältnis gesetzt wird. Das Ergebnis der kontrastiven Gegenüberstellung fällt - zumindest an dieser Stelle, doch scheint die Einschätzung Allgemeingültigkeit zu beanspruchen - ambivalent aus: Im unmittelbaren literaturgeschichtlichen Umfeld glückt Vergils Versuch der aemulatio , an Homers archaische Schlichtheit reicht er hingegen nicht heran. Eine solche Gegenüberstellung fügt sich in die nach Quintilian bis auf Domitius Afer zurückgehende Vorstellung, wonach Vergil als der „ewige Zweite“ zwar alle anderen Dichter übertrifft, an Homer aber nur schwerlich heranzureichen vermag. 403 Bei Quintilian findet sich im Nachsatz wie bereits erwähnt dieselbe scharfe Opposition ästhetischer Grundkategorien - sorgfältige Ausarbeitung bzw. ars vs. natürlich-einfache Schöpfung bzw. ingenium -, die auch der Gegenüberstellung Vergils mit Parthenios und Homer in Gell. 13, 27 zugrunde liegt. 4.3 Ein bloßgestellter Kritiker: Probus über das Auftrittsgleichnis der Dido (Gell. 9, 9, 12 - 17) Der andere längere Abschnitt, in dem Gellius einen Beitrag zur Synkrisis zwischen Homer und Vergil liefert, findet sich am Ende des neunten Kapitels im neunten Buch der Noctes Atticae . Obwohl der Homer-Vergil-Vergleich nicht 401 Vgl. zu diesem Thema auch → Kap. 5.2.2.4. 402 Servius kennt die Kategorie des incongruum epitheton ebenfalls; vgl. Serv. ad Aen. 3, 691 = I 454 Thilo-Hagen (infelicis Ulixi] epitheton ad inplendum versum positum more Graeco, sine respectu negotii); DServ. ad Aen. 3, 398 = I 412, 18-21 Thilo-Hagen und Georgii (1891), S. 407-408 (zur Junktur pulcher Iulus in Aen. 9, 291). 403 Vgl. dazu → Kap. 1.1. <?page no="138"?> das einzige Thema des Kapitels ist, rechnet es dennoch zu den synkritischen Kapiteln der Noctes Atticae i. e. S. Die drei Vergleiche von Modell und Nachahmung, die Gellius in 9, 9 präsentiert, sollen nämlich allesamt das Problem der gelungenen Übersetzung bzw. imitatio griechischer sententiae illustrieren. Dass dabei die Kategorie der Wörtlichkeit variabel gefasst wird, macht Gellius in den Eingangssätzen deutlich: Quando ex poematis Graecis vertendae imitandaeque sunt insignes sententiae, non semper aiunt enitendum, ut omnia omnino verba in eum, in quem dicta sunt, modum vertamus. Perdunt enim gratiam pleraque, si quasi invita et recusantia violentius transferantur. (Gell. 9, 9, 1-2) Gellius bzw. seine anonymen Autoritäten ( aiunt ) stellen also den ästhetischen Wert der Wörtlichkeit nicht grundsätzlich in Frage; als Regelfall wird hier die Übertragung ad verbum vorgestellt. Nur für Fälle, in denen ein Konflikt zwischen den Prinzipien der Wörtlichkeit und der Anmut ( gratia ) in der Übertragung besteht, sind anstelle eines allzu strengen Festhaltens am Wortlaut des Originals gewisse Veränderungen am Modell vorzunehmen. Das Streben nach Wörtlichkeit wird in derartigen Fällen mit Ausdrücken der gewaltsamen Anstrengung ( enitendum ; violentius ), die Widerstände im Material mit solchen der persönlichen Renitenz ( invita ; recusantia ) umschrieben. 404 Vergil habe die Änderungen an seinen Vorlagen 405 unter diesen Umständen wissentlich ( scite ) und überlegt ( considerate ) vorgenommen. Diese einleitende Bemerkung und die ersten beiden Stellenvergleiche sind wichtig, um das folgende Probusreferat und Gellius’ Haltung zu den wiedergegebenen Bewertungen richtig einzuschätzen. Zunächst werden nämlich Beispiele für gelungene Nachahmung von Einzelstellen aus Theokrit besprochen. Die Szenerie ist, wie ein knapper Hinweis zu verstehen gibt, diejenige einer Unterhaltung beim Mahl, also ein symposiastischer Kontext, in dem griechische und lateinische Eklogen vorgetragen werden. 406 Beim ersten Beispiel (9, 9, 4-6) habe Vergil eine wegen ihrer Süße gelobte griechische Stelle ( mire quam suave ) abgeändert und stattdessen etwas Anmutigeres gesetzt ( non abest, quin iucundius lepidiusque sit ). Wie aus dem Vergleich der beiden Textstellen 407 hervorgeht, soll hier insbesondere der Umstand hervorgehoben werden, 404 Das entspricht übrigens ganz den Prinzipien, denen Gellius selbst als Übersetzer griechischer Prosatexte folgt; vgl. zusammenfassend Steinmetz (1992), S. 210-211. 405 Namentlich werden genannt: Homer, Hesiod, Apollonios Rhodios, Parthenius, Kallimachos und Theokrit. 406 Vgl. Gell. 9, 9, 4 ( nuperrime aput mensam cum legerentur utraque simul Bucolica Theocriti et Vergilii ). 407 Vgl. Theokr. eid. 5, 88-89 (βάλλει καὶ μάλοισι τὸν αἰπόλον ἁ Κλεαρίστα | τὰς αἶγας παρελᾶντα καὶ ἁδύ τι ποππυλιάσδει; „Es wirft sogar mit Äpfeln nach dem Ziegenhirt Klearista, 138 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="139"?> 4.3 Ein bloßgestellter Kritiker: Probus über das Auftrittsgleichnis der Dido 139 dass Vergil in seiner Nachahmung das - in dieser Form nur bei Theokrit belegte - Wort ποππυλιάζειν ausgelassen hat. Wie ein Eintrag im Lexikon des Hesychios belegt, erkannte man in dieser Vokabel schon in der Antike einen onomatopoietischen Ausdruck und verband damit einen besonders gefälligen akustischen Eindruck. 408 Auch Gellius streicht in 9, 9, 4 hervor, dass der Ausdruck auf Griechisch eine besondere, ins Lateinische nicht übertragbare Lieblichkeit besitze ( quod Graecum quidem mire quam suave est, verti autem neque debuit neque potuit ). Vergils Änderung war demnach berechtigt, wenn er - statt sich an Unmöglichem zu versuchen - ein gefälligeres und heitereres Detail setzte ( iucundius lepidiusque ), indem er das neckische Versteckspiel der Galathea beschrieb - den klanglichen Effekt also durch einen inhaltlichen ersetzte. - Im zweiten Beispiel (9, 9, 7-11) wird eine sprachlich auffällige Junktur bei Theokrit, die als solche nur im Griechischen möglich ist, als ungewöhnlich ( verba … non translaticia ) bezeichnet. 409 Die Wirkung dieses Ausdrucks erkennt Gellius in seiner natürlichen Süße. 410 Wieder tut Vergil gut daran, die Phrase unübersetzt zu lassen, was ihm auch nicht als Fehler angerechnet wird. Einen Fehler begeht er stattdessen, wenn er sich an eine Übersetzung wagt und diese misslingt, wie in 9, 9, 9-11 am Beispiel der unglücklichen Wiedergabe von ἐνόρχης (Theokr. eid. 3, 4) durch caper ( ecl. 9, 25), das nach Varro 411 nur für kastrierte Böcke in Frage kommt, gezeigt wird. Wichtig ist im ganzen Abschnitt die Feststellung, dass die griechische Dichtung Qualitäten - in den besprochenen Fällen auf akustischer und lexikalischgrammatischer Ebene - hat, die im Lateinischen nicht wiederzugeben sind. Den lateinischen Dichter zeichnet es demnach aus, wenn er diese Stellen als solche erkennt und bei seiner Übertragung in bewusster Vorsicht ( caute ) unberückwenn er die Ziegen vorbeitreibt, und süß säuselt sie ihm zu.“ ÜS Effe ) und ecl. 3, 64-65 ( malo me Galatea petit, lasciva puella, | et fugit ad salices et se cupit ante videri ). - Eine detaillierte Übersicht über Parallelen und Unterschiede von Modell und Nachahmung gibt Lindermann (2006), S. 197-198. 408 Vgl. Hesych. β 346 s. v. βατταρίζειν (ἐμοὶ μὲν δοκεῖ κατὰ μίμησιν τῆς φωνῆς πεποιῆσθαι, ὡς τὸ ποππύζειν…). 409 Vgl. Theokr. eid. 3, 3-5 (Τίτυρ’, ἐμὶν τὸ καλὸν πεφιλημένε, βόσκε τὰς αἶγας, | καὶ ποτὶ τὰν κράναν ἄγε, Τίτυρε· καὶ τὸν ἐνόρχαν, | τὸν Λιβυκὸν κνάκωνα, φυλάσσεο μή τυ κορύψῃ [„Tityros, du mein schön Geliebter, lass die Ziegen weiden und führe sie zur Quelle, Tityros; und vor dem Bock, dem libyschen Gelben, hüte dich, dass er dich nicht stößt.“ ÜS Effe ]) und ecl. 9, 23-25 ( Tityre, dum redeo, brevis est via, pasce capellas | et potum pastas age, Tityre, et inter agendum | occursare capro, cornu ferit ille, caveto ). - Es handelt sich bei dem fraglichen Ausdruck um Theokr. eid. 3, 3 (τὸ καλὸν πεφιλημένε), eine ungewöhnliche Verbindung von adverbialem Adjektiv mit einer passiven Verbform; vgl. Gow (1965), Bd. 2 S. 65. - Translaticius kann hier nicht „übersetzbar“ heißen, sondern meint „gewöhnlich, in Gebrauch“; vgl. die Belege bei Lindermann (2006), S. 200 z. St. 410 Vgl. Gell. 9, 9, 7 ( dulcissimum ) und 9, 9, 8 ( verba … cuiusdam nativae dulcedinis ). 411 Vgl. GRF frg. 419. <?page no="140"?> sichtigt lässt. Stattdessen ist er nach Gellius gehalten, ein ästhetisches Äquivalent zu schaffen, indem er auf andere Gestaltungsmöglichkeiten zurückgreift. Das Probusreferat in Gell. 9, 9, 12-17 412 , das in unserem Zusammenhang besonders interessiert, schließt eher lose an die zuvor geschilderte Szene beim Mahl an. Die Verbindung wird über das Thema der Übersetzung bzw. imitatio im dargelegten Sinne hergestellt ( quoniam de transferendis sententiis loquor ). Gellius habe durch Schüler des berühmten Philologen 413 von seinem Urteil über eine berühmte Homerimitatio Vergils erfahren. Es handelt sich um das Dianagleichnis, mit dem Dido im ersten Buch der Aeneis eingeführt wird. Aeneas und Achates betrachten, von Venus unsichtbar gemacht, voller Bewunderung die kunstvoll gearbeiteten Türen am eben entstehenden Tempel in Karthago. Da erscheint Dido in strahlender Schönheit, umringt von einer großen Schar junger Männer ( Aen. 1, 498-504): Qualis in Eurotae ripis aut per iuga Cynthi | exercet Diana choros, quam mille secutae | hinc atque hinc glomerantur oreades; illa pharetram | fert umero, gradiensque deas supereminet omnis: | Latonae tacitum pertemptant gaudia pectus: | talis erat Dido, talem se laeta ferebat | per medios, instans operi regnisque futuris. Gellius zitiert - die Reihenfolge entspricht den Theokrit-Vergil-Beispielen - vorab das griechische Modell, nämlich das Artemisgleichnis aus dem sechsten Buch der Odyssee , mit dem Homer die am Strand mit ihren Gefährtinnen spielende Nausikaa näher beschreibt ( Od. 6, 102-108): 414 οἵη δ’ Ἄρτεμις εἶσι κατ’ οὔρεα ἰοχέαιρα, | ἢ κατὰ Τηύγετον περιμήκετον ἢ Ἐρύμανθον, | τερπομένη κάπροισι καὶ ὠκείῃσ’ ἐλάφοισι· | τῇ δέ θ’ ἅμα Νύμφαι, κοῦραι Διὸς αἰγιόχοιο, | ἀγρονόμοι παίζουσι· γέγηθε δέ τε φρένα Λητώ· | πασάων δ’ ὑπὲρ ἥ γε κάρη ἔχει ἠδὲ μέτωπα, | ῥεῖά τ’ ἀριγνώτη πέλεται, καλαὶ δέ τε πᾶσαι … 412 Die Kritik dürfte auch in den Vergilkommentar des Probus Eingang gefunden haben; vgl. frg. 12 Velaza = frg. 4 Aistermann. 413 Vgl. zu M. Valerius Probus allgemein Suet. gramm. 24, 1-4 mit Kaster (1995), S. 242-269 sowie Lehnus (1988), pass. Gellius zitiert bzw. erwähnt ihn noch in 1, 15, 18 ( frg. 56 Velaza = frg. 1 Aistermann); 3, 1, 5-6 ( frg. 69 Velaza = frg. 2 Aistermann); 4, 7, 1-5 ( frg. 55 Velaza = frg. 56 Aistermann); 6, 7, 3-5 ( frg. 54 Velaza = frg. 55 Aistermann); 6, 9, 11-12 ( frg. 65 Velaza = frg. 100 Aistermann); 13, 21, 1-6 ( frg. 2 Velaza = frg. 66 Aistermann); 15, 30, 4-6 ( frg. 48* Velaza = frg. 59 Aistermann); 17, 9, 5 (fehlt bei Velaza; test. 26 Aistermann). Ein weitergehendes Interesse an Vergils Homerrezeption lassen die erhaltenen Fragmente nicht erkennen; vgl. aber die gelegentlich erwähnte Parallele von Aen. 6, 1 und Il. 1, 387 bei Serv. ad Aen. VI init. = II 1, 5-8 Thilo-Hagen = frg. 22 Velaza = frg. 21 Aistermann. - Zu Probus bei Gellius vgl. Holford-Strevens ( 2 2003), S. 163-165. 414 Nicht zitiert wird der abschließende Vers des Gleichnisses Od. 6, 109 (ὣς ἥ γ’ ἀμφιπόλοισι μετέπρεπε παρθένος ἀδμής [„… so stach unter den Mädchen hervor die unbezwungene Jungfrau“ ÜS Schadewaldt ]). 140 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="141"?> 4.3 Ein bloßgestellter Kritiker: Probus über das Auftrittsgleichnis der Dido 141 („… und wie Artemis über die Berge schreitet, die pfeilschüttende, über den gar langen Taygetos oder den Erymanthos, sich erfreuend an Ebern und schnellen Hindinnen, und zusammen mit ihr spielen Nymphen, die Töchter des Zeus, des Aigishalters, die im freien Felde walten, und es freut sich in ihrem Sinne Leto: über sie alle hinaus hat jene Haupt und Stirn, und leicht herauszuerkennen ist sie, doch schön sind alle…“ ÜS Schadewaldt ) Die beiden epischen Situationen sind - wie bereits vielfach bemerkt 415 - grundverschieden: Hier der verborgene Beobachter Aeneas, dort der schlafende Odysseus; hier die mit dem Bau der Stadt beschäftigte Königin, dort die sorglos spielende Tochter des Alkinoos; hier der Tempelbereich als Schauplatz, dort die Szenerie in freier Natur. Die Applikation des homerischen Modells auf einen ganz anderen Kontext musste förmlich zu einem kritischen Abgleich herausfordern, wie ihn Probus in exemplarischer Weise vollzogen hat. Es lassen sich im Referat des Gellius vier Kritikpunkte unterscheiden: - Die Detailzuordnung der einzelnen Elemente des Gleichnisses unterscheidet sich bei beiden Dichtern hinsichtlich der Proprietät , d. h. der inhaltlichen Entsprechung; vgl. Gell. 9, 9, 14 ( Primum omnium id visum esse dicebant Probo, quod aput Homerum quidem virgo Nausicaa ludibunda inter familiares puellas in locis solis recte atque commode confertur cum Diana venante in iugis montium inter agrestes deas, nequaquam autem conveniens Vergilium fecisse, quoniam Dido in urbe media ingrediens inter Tyrios principes cultu atque incessu serio, ‘instans operi’, sicut ipse ait, ‘regnisque futuris’, nihil eius similitudinis capere possit, quae lusibus atque venatibus Dianae congruat … ). - Homer habe Artemis klar und deutlich ( aperte ) in schicklicher Weise ( honeste ) geschildert, Vergils andeutende Darstellung hingegen sei unklar und verstoße gegen die Würde der Göttin , die in der Aeneis ihr Jagdgerät selbst tragen muss; vgl. Gell. 9, 9, 15 a ( tum postea, quod Homerus studia atque oblectamenta in venando Dianae honeste aperteque dicit, Vergilius autem, cum de venatu deae nihil dixisset, pharetram tantum facit eam ferre in humero, tamquam si onus et sarcinam … ). - Homer zeige Letos tief empfundene Freude über den Anblick der Tochter, die Freude Latonas bei Vergil sei hingegen nur oberflächlich ; vgl. Gell. 9, 9, 15 b ( … atque illud impense Probum esse demiratum in Vergilio dicebant, quod Homerica quidem Λητώ gaudium gaudeat genuinum et intimum atque in ipso 415 Vgl. die Forschungsüberblicke bei Rieks (1981), S. 1034-1038 und Glei (1990), pass. Die motivischen Bezüge zur übergreifenden Handlungssequenz im ersten Buch bzw. im ersten Werkdrittel werden behandelt von Pöschl (1977), S. 84-94; Schmit-Neuerburg (1999), S. 103-109; Suerbaum (1999), S. 285-294 und Nelis (2001), S. 82-86; vgl. zum Didogleichnis auch Binder (2009), pass. <?page no="142"?> penetrali cordis et animae vigens, siquidem non aliud est: γέγηθε δέ τε φρένα Λητώ , ipse autem imitari hoc volens gaudia fecerit pigra et levia et cunctantia et quasi in summo pectore supernantia; nescire enim sese, quid significaret aliud ‘pertemptant’… ). - Vergil lasse den „besten Vers“ ( flos ) der homerischen Vorlage, wonach Artemis inmitten ihrer schönen Nymphen hervorsticht und leicht zu erkennen sei, bei seiner Bearbeitung aus; vgl. Gell. 9, 9, 16-17 ( praeter ista omnia florem ipsius totius loci Vergilium videri omisisse, quod hunc Homeri versum exigue secutus sit: ῥεῖά τ’ ἀριγνώτη πέλεται, καλαὶ δέ τε πᾶσαι , quando nulla maior cumulatiorque pulchritudinis laus dici potuerit, quam quod una inter omnis pulchras excelleret, una facile ex omnibus nosceretur ). Im Folgenden sind drei Gesichtspunkte zu prüfen: Auf welche ästhetischen Grundannahmen stützt sich der Kritiker bei den einzelnen Punkten? Wie berechtigt ist die Kritik, insbesondere im methodischen und philologischen Horizont der antiken Homerphilologie? Welche Haltung verrät Gellius gegenüber den Ausstellungen des Probus? - Zunächst zum ersten Kritikpunkt. Um seinen Vorwurf zu bekräftigen, gibt Probus einen Katalog von Detailzuordnungen, die er bei Homer als besonders gelungen herausstellt: verglichene Aspekte: Erzählebene: Bildebene: persönliche Eigenschaften virgo Nausicaa Diana ( scil. ‘die jungfräuliche Göttin’) Beschäftigung ludibunda venante Begleitung inter familiares puellas inter agrestes deas Schauplatz in locis solis in iugis montium Entsprechend wurde auch das Artemisgleichnis von den antiken Homerphilologen analysiert. Ein Scholion vermerkt pauschal, dass sich bei Homer Erzähl- und Bildebene in allen Details entsprechen: κατὰ πάντα ἀπαράλλακτος ἡ εἰκών. 416 Probus ist in diesem Punkt genauer, wenn er anstelle der Quantität der Einzelentsprechungen deren Proprietät , also den Grad der Entsprechung, in den Vordergrund rückt ( recte atque commode confertur ): Von einer Detailzuordnung aller Details kann man bei Homer auch schwerlich sprechen. 417 416 Vgl. schol. P ad Od. 6, 102 = 302, 20 Dindorf („Dieses Gleichnis ist in allen Zügen entsprechend“). 417 Zumindest gibt es einen Halbvers, der keine Entsprechung in der unmittelbaren Erzählumgebung hat: Od. 6, 106 b : γέγηθε δέ τε φρένα Λητώ (s. u.; vgl. aber Hunter [1989], S. 194). Man kann in diesem Umstand, also dem Mangel an einem Pendant in einem sonst 142 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="143"?> 4.3 Ein bloßgestellter Kritiker: Probus über das Auftrittsgleichnis der Dido 143 Im Falle Vergils ergibt sich augenscheinlich ein etwas anderes Bild. In allen Einzelkategorien, in denen Homer einen engen Bezug von Erzähl- und Bildebene herstellen konnte, versagt Vergil nach der Einschätzung des Probus: verglichene Aspekte: Erzählebene: Bildebene: persönliche Eigenschaften Dido ( scil. ‘eine ehemals verheiratete Frau’) Diana ( scil. ‘die jungfräuliche Göttin’) Beschäftigung cultu atque incessu serio, ‘instans operi’, sicut ipse ait, ‘regnisque futuris’ venante Begleitung ingrediens inter Tyrios principes inter agrestes deas Schauplatz in urbe media in iugis montium Wird Probus mit seiner Kritik den Absichten Vergils gerecht? Eine Brückenstellung in der Rezeptionsgeschichte des homerischen Artemisgleichnisses nimmt Apollonios von Rhodos ein, der Medea im dritten Buch der Argonautika ebenfalls mit Diana vergleicht und dabei, wie später auch Vergil, auf Homer zurückgreift (Apoll. Rhod. 3, 875-886): 418 οἵη δέ, λιαροῖσιν ἐν ὕδασι Παρθενίοιο | ἠὲ καὶ Ἀμνισοῖο λοεσσαμένη ποταμοῖο, | χρυσείοις Λητωὶς ἐφ’ ἅρμασιν ἑστηυῖα | ὠκείαις κεμάδεσσι διεξελάῃσι κολώνας, | τηλόθεν ἀντιόωσα πολυκνίσου ἑκατόμβης· | τῇ δ’ ἅμα νύμφαι ἕπονται ἀμορβάδες, αἱ μὲν ἀπ’ αὐτῆς | ἀγρόμεναι πηγῆς Ἀμνισίδες, αἱ δὲ λιποῦσαι | ἄλσεα καὶ σκοπιὰς πολυπίδακας, ἀμφὶ δὲ θῆρες | κνυζηθμῷ σαίνουσιν ὑποτρομέοντες ἰοῦσαν - | ὧς αἵγ’ ἐσσεύοντο δι’ ἄστεος, ἀμφὶ δὲ λαοί | εἶκον ἀλευάμενοι βασιληίδος ὄμματα κούρης. („Wie die Tochter der Leto, nachdem sie in den warmen Wassern des Parthenios oder auch des Amnisos gebadet hat, auf goldenem Wagen stehend, mit schnellen Hindinbis aufs letzte mit der Erzählebene verknüpften Gleichnis, einen Grund dafür sehen, dass Gelehrte wie Megakleides - ein peripatetischer Homerkritiker des 4. Jhdt. v. Chr. und Verfasser eines wohl mindestens zweibändigen Werkes Περὶ Ὁμήρου (schol. A ad Il. 16, 140 = IV 194, 19 Erbse); vgl. zu ihm auch FHG IV 443-444; Bux (1931), pass. und Damschen (1999), pass. - sich veranlasst sahen, den Vers zu emendieren und eine Konjektur vorzuschlagen; vgl. schol. HP ad Od. 6, 106 = 303, 17 Dindorf (Μεγακλείδης ‘ἀγρόμεναι παίζουσιν ἀνὰ δρία παιπαλόεντα’ [„Megakleides <schlägt vor>: ‘sie waren versammelt und scherzten im schroffen Gebüsch’“]). - Vgl. aber die alternative Deutung der Megakleides-Kritik (s. u.). 418 Vgl. Hunter (1989), S. 193-196. Dass Apollonios hier Homer imitiert, bemerkten schon die antiken Kommentatoren; vgl. schol. 3, 876 = 242, 23-243, 3 Wendel (λιαροῖσι] … παραγράφει δὲ τὰ ἐν Ὀδυσσείᾳ < Od. 6, 102>· ‘οἵη δ’ Ἄρτεμις εἶσι κατ’ οὔρεος ἰοχέαιρα.’) sowie Glei (1990), pass . - Zu den Bezügen zum Artemishymnos des Kallimachos vgl. Hunter (1989), S. 192 und Eichgrün (1961), S. 111-118. <?page no="144"?> nen die Hügel durchfährt, um, von fernher kommend, ein rauchendes Hundertopfer entgegenzunehmen; ihr aber folgt eine Schar von Nymphen - die einen versammeln sich von der Quelle des Amnisos her, die anderen verlassen die Wälder und quellenreichen Höhen -, ringsum aber winseln und schmeicheln die wilden Tiere vor Angst, wenn sie vorbeikommt: So eilten diese durch die Stadt, und rings wichen die Leute, um den Blick der Königstochter zu meiden.“ ÜS Glei / Natzel-Glei ) Wie richtig bemerkt wurde, hat das Gleichnis bei Apollonios weniger die Funktion, Medeas Schönheit zu illustrieren, als den optischen Eindruck ihrer Fahrt durch die Stadt, der bei allen Beobachtern Furcht auslöst, zu vermitteln. 419 Doch zeigt sich Apollonios trotz dieser Änderung des Vergleichspunktes bemüht, den formalen Qualitäten seiner Vorlage gerecht zu werden. Die tabellarische Übersicht soll verdeutlichen, welches Gewicht der Alexandriner gerade auf den Aspekt der Detailentsprechung von Bild- und Gleichnisebene legt: Vers Bildebene Vers Erzählebene 3, 876-877: Diana ist eben dem Bad entstiegen 3, 827 ff.: Medea hat kurz zuvor gebadet 3, 878: Diana fährt auf einem (goldenen) Wagen 3, 841; 3, 843; 3, 869-875: Medea fährt auf einem Wagen 3, 879: Jagdtiere ziehen Dianas Wagen 3, 838-840: Maultiere ziehen Medeas Wagen 3, 880: Dianas Fahrtziel: Kultstätte, um ein Hundertopfer entgegenzunehmen 3, 842: Medeas Fahrtziel: Kultstätte der Hekate 3, 881-883a: Nymphen bilden das Gefolge Dianas 3, 838-840; 3, 870-875: zwölf Mägde bilden Medeas Gefolge 3, 883b-884: Furcht der Tiere vor Diana 3, 885b-886: Furcht der begegnenden Menschen vor Medea Diese beinahe pedantische Zuordnung der Details stellt einen poetischen Überbietungsgestus dar. 420 Vor der Folie eines solchen Optimierungsversuchs durch Apollonios wird auch erst deutlich, dass sich Homer außer der bereits genannten fehlenden Entsprechung zur Freude Letos noch zwei weitere Abweichungen zwischen Bild- und Erzählebene erlaubt: 419 Vgl. Nelis (2001), S. 83. 420 Vgl. in diesem Sinne auch Clausing (1913), S. 31-33. 144 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="145"?> 4.3 Ein bloßgestellter Kritiker: Probus über das Auftrittsgleichnis der Dido 145 Vers Bildebene Vers Erzählebene Od. 6, 102: Diana geht zu Fuß Od. 6, 110-111a: Nausikaa fährt auf dem Wagen Od. 6, 104: Freude Dianas an den Jagdtieren --- - ohne konkrete Entsprechung - Insbesondere die neue Rolle, die die Jagdtiere in Apoll. Rhod. 3, 879 spielen 421 - Apollonios lässt die Hunde, die bei Homer ohne rechte Entsprechung aus Gründen der poetischen Ausschmückung erwähnt werden, Dianas Wagen ziehen und verweist damit auf die Maultiere, die Medeas Wagen ziehen -, deckt die Absichten des hellenistischen Homernachfolgers auf: Apollonios wollte Homer an Stellen, die man unter dem Maßstab möglichst umfassender Detailzuordnung als fehlerhaft ansehen konnte, verbessern. Dabei muss man natürlich nicht annehmen, dass die entsprechenden Passagen in Homers Artemisgleichnis tatsächlich Gegenstand der Homerkritik gewesen waren. Auch wenn das Gleichnis - wie von dem oben zitierten anonymen Scholiasten - wegen seiner Detailentsprechung im Allgemeinen gelobt wurde, so konnte ein ambitionierter Dichter wie Apollonios gerade von diesem Umstand zum Wettstreit mit Homer animiert werden, indem er nämlich genau diejenige Qualität noch steigerte, die man an Homer positiv herausgestellt hatte. 422 Man kann daraus nun die Folgerung ableiten, dass es für Vergil nach dem Vorgang des Apollonios nicht mehr interessant war, Homer auf dem Felde der Proprietät übertreffen zu wollen. 423 Servius formuliert genau diesen Zusammenhang in seinem Kommentar zum Dianagleichnis in der etwas simplen allgemeinen Regel, dass es eben Gleichnisse verschiedenen Typs gebe: Die einen 421 Vgl. Hunter (1989), S. 195 z. St. 422 Über die Absichten des Apollonios an dieser Stelle äußert Clausing (1913), S. 31-32 ähnliche Ansichten; allerdings verkennt er die dichten Bezüge von Bild- und Gleichnisebene bei Homer, die er fast gänzlich in Abrede stellt („Sonst hat aber das weit ausgeführte hom. Gl. keine Beziehungen zu der zugrundeliegenden Darstellung, vergleicht dieser doch die auf einem Platz spielenden Mädchen mit der durch die Wälder ziehenden Göttin [! ].“). - Auch hinsichtlich der narrativen Funktion lässt sich das düstere Medea-Artemis-Gleichnis als Kontrastimitation zum heiteren homerischen Vorbild verstehen (vgl. Effe [1996], S. 300 und Effe [2001], S. 157; zum Verhältnis zu den anderen Gleichnissen in den Argonautika Reitz [1996], S. 104). 423 Dass Apollonios für Vergils Gleichnis als Rezeptionsdokument des homerischen Modells von Relevanz war, zeigt die Auswahl der Örtlichkeiten. Vergil, der mit Eurotas und Cynthus einen Fluss und einen Berg nennt, kombiniert die beiden griechischen Gleichnisse: Homer hatte in Od. 6, 103 mit Taygetos und Erymanthos zwei Berge gewählt, Apollonios in 3, 876-877 mit Parthenios und Amnisos zwei Flüsse. Vergils Wahl zweier Dianaheiligtümer steht den beiden Kultorten bei Apollonios näher als die - im Vergleich dazu recht willkürlich gewählten - Jagdgebiete bei Homer. <?page no="146"?> seien in allen, die anderen nur in einer bestimmten Beziehung mit der epischen Wirklichkeit verbunden. stipante caterva] ad hoc tantum sequens pertinet comparatio, quam vituperant multi, nescientes exempla vel parabolas vel conparationes adsumptas non semper usquequaque congruere, sed interdum omni parte, interdum aliqua convenire. (Serv. ad Aen. 1, 497 = I 156, 11-15 Thilo-Hagen) 424 exercet Diana choros] hoc non ad conparationem pertinet, sed est poeticae descriptionis evagatio , quia chori nec personis hic nec locis congruunt; saltantium enim et cantantium dicuntur . ([D]Serv. ad Aen. 1, 499 = I 156, 19-21 Thilo-Hagen) Der Vergleichspunkt, auf den es Vergil demnach ankam, ist Dianas bzw. Didos Schönheit, d. h. der optische Eindruck einer Person, die von anderen Personen umgeben ist und unter diesen hervorsticht. Die übrigen Elemente der Schilderung werden als poeticae descriptionis evagatio , also als „dichterische Abschweifung“, abgetan. Auch bei Homer hatte das Artemisgleichnis die Funktion, den Aspekt der Schönheit der Artemis bzw. Nausikaa zu verdeutlichen - Vergil und Homer zielen also auf denselben Vergleichspunkt ab. Technisch ergeben sich Unterschiede: Homer stattet sein Gleichnis mit zahlreichen Details aus, die direkte Korrelate auf der Erzählebene haben, Vergil - wie ausgeführt - nicht. Umgekehrt verhalten sich die Dinge, wenn man Homer und Apollonios vergleicht: Apollonios wählt einen anderen Vergleichspunkt - wichtig ist bei ihm der Anblick einer Frau, die inmitten eines zahlreichen Gefolges auf einem Wagen fährt -, wendet aber dieselbe Technik wie Homer - die detaillierte Zuordnung der Einzeldetails - in beinahe übersteigerter Fom an. Vergil wählt also die Gestaltungsoption, gegen die sich Apollonios entschieden hat. Probus klammert das Zwischenglied Apollonios bei seiner Bewertung aus, legt allein den Maßstab homerischer Detailentsprechung an und kommt damit zu einem für Vergil negativen Ergebnis. 425 Zum zweiten Kritikpunkt: Wenn Probus in 9, 9, 15 a an Vergil tadelt, er hätte das Jagdvergnügen der Diana nur durch eine Andeutung bezeichnet, womit zudem auf eine der Göttin unwürdige Tätigkeit - das Tragen eines Köchers - hingewiesen werde, verbinden sich darin zwei Vorwürfe, nämlich der formale der Undeutlichkeit und der inhaltliche der Unschicklichkeit . 426 Auch hier ist die 424 Ähnlich auch schol. A ad Il. 10, 5 a = III 3, 38-42 Erbse (ὡς δ’ ὅταν ἀστράπτῃ] … καθ’ ἕκαστα δὲ οὐκ ἐπεξείργασται, διότι οὐκ ἔστι πρὸς ἅπαντα ἡ εἰκών). 425 In der Forschung wurde gelegentlich - etwa bei Schmit-Neuerburg (1999), S. 103-104 Anm. 270 - Vergils Abhängigkeit von Homer und Apollonios gegeneinander ausgespielt. Dass man damit die Intentionen Vergils verfehlt - und auf denselben Fehler verfällt, den schon Probus gemacht hat -, zeigen die Analysen von Nelis (2001), S. 82-86, der das komplexe Wechselspiel der beiden Vorlagen an dieser Stelle einleuchtend nachgezeichnet hat. 426 Vgl. zum Folgenden auch die Ausführungen zur andeutenden Rede, die in den Scholien mit dem Terminus αἰνίττεσθαι umschrieben wird, bei Nünlist (2009), S. 231-237. 146 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="147"?> 4.3 Ein bloßgestellter Kritiker: Probus über das Auftrittsgleichnis der Dido 147 Rezeptionsgeschichte des homerischen Artemisgleichnisses zu berücksichtigen, um die Prinzipien von Vergils Umgestaltung nachzuvollziehen. Insbesondere ein Passus im Stiltraktat des Demetrios ist dabei von Relevanz. Demetrios zitiert Abschnitte aus Homers Gleichnis an prominenter Stelle, nämlich am Beginn seiner Ausführungen über den eleganten Stil (γλαφυρὸς λόγος). 427 Homers Verse werden hier als Musterbeispiele für diese besondere Stilkategorie angeführt, die sich durch Anmut und Heiterkeit auszeichnet (χαριεντισμὸς καὶ ἱλαρὸς λόγος). Prosaautoren und Dichter erreichen χάρις nach Demetrios auf je eigene Weise, da es den ersteren erlaubt sei, Scherz- und Spottworte zu verwenden, während anmutige Wirkungen in der Dichtung durch erhabenere Mittel erreicht werden sollen. 428 Als Beispiel für diese σεμναὶ χάριτες καὶ μεγάλαι zitiert Demetrios eben jene Verse aus dem Artemisgleichnis, und es ist denkbar, dass die Verse nicht nur bei ihm als Musterbeispiele für diese besondere Stilart herangezogen wurden. Probus gibt nun schon mit seiner Wortwahl - wenn er die homerischen Verse nämlich als versus amoenissimi bezeichnet und damit beiläufig in die Kategorie des γλαφυρὸς λόγος einordnet - zu erkennen, dass er mit seiner Einschätzung an diese oder eine vergleichbare stilistische Bewertung der Homerverse anschließt. 429 Interessant ist nun, dass Demetrios als die erste Quelle (τόπος) der Anmut (χάρις) im Bereich der sprachlichen Gestaltung (λέξις und σύνθεσις) 430 eine Darstellungsform nennt, die ihren Gegenstand nur andeutungsweise bezeichnet: Εὐθὺς οὖν πρώτη ἐστὶ χάρις ἡ ἐκ συντομίας, ὅταν τὸ αὐτὸ μηκυνόμενον ἄχαρι γένηται, ὑπὸ δὲ τάχους χάριεν … 431 Insbesondere wenn durch einen Satz 427 Vgl. Demetr. eloc. 128-189 = 30, 15-41, 28 Radermacher. Die fraglichen Verse ( Od. 6, 105-106 und 108) werden am Beginn des Abschnitts im Kapitel 129 = 30, 22-27 Radermacher zitiert. 428 Demetr. eloc. 128 = 30, 15-18 Radermacher (τῶν δὲ χαρίτων αἱ μέν εἰσιν μείζονες καὶ σεμνότεραι, αἱ τῶν ποιητῶν, αἱ δὲ εὐτελεῖς μᾶλλον καὶ κωμικώτεραι, σκώμμασιν ἐοικυῖαι, οἷον αἱ Ἀριστοτέλους χάριτες καὶ Σώφρονος καὶ Λυσίου … [„Die einen Fälle von Anmut sind erhabener und feierlicher und gehören zu den Dichtern, die anderen sind wertloser und komischer, sie gleichen Scherzreden, so wie bei Aristoteles und Sophron und Lysias …“]). 429 Vgl. Gell. 9, 9, 12. - Das Adjektiv amoenus gebraucht Gellius, wenn er den eleganten Stil Xenophons und Platons beschreibt, von denen zumindest der erste ein herausragender Vertreter des γλαφυρὸς λόγος ist (Demetr. eloc. 131 = 31, 5-11 Radermacher); vgl. Gell. 14, 3, 11: Xenophon et Plato, Socraticae amoenitatis duo lumina . Quintilian verwendet es in seinen Ausführungen zum genus medium (Quint. inst. 12, 10, 59: egressionibus amoenus ). 430 Diese τόποι (συντομία, τάξις, σχήματα …) behandelt Demetrios in den Kapiteln 137-155 = 32, 11-36, 5 Radermacher. Daneben kann die χάρις auch durch entsprechende Wahl der Gegenstände (πράγματα) erzielt werden; vgl. eloc. 156-162 = 36, 6-37, 9 Radermacher. 431 Demetr. eloc. 137 = 32, 11-12 Radermacher („Zuallererst resultiert die Anmut aus der Kürze, wenn nämlich etwas, das bei längerer Darstellung seine Anmut verlöre, diese durch Raschheit gewinnt.“). - Der mit der Anmut (χάρις) korrespondierende Stilfehler, der in einer zu ausführlichen Behandlung besteht, wird als „nackte Darbietungsweise“ (διήγημα … ψιλὸν) bezeichnet; vgl. Demetr. eloc. 137 = 32, 18 Radermacher. <?page no="148"?> zwei Gedanken ausgedrückt werden, entstehe das γλαφυρόν (Demetr. eloc. 138 = 32, 19-25 Radermacher): Πολλάκις δὲ καὶ δύο φράζεται δι’ ἑνὸς πρὸς τὸ χάριεν, οἷον ἐπὶ τῆς Ἀμαζόνος καθευδούσης ἔφη τις, ὅτι τὸ τόξον ἐντεταμένον ἔκειτο, καὶ ἡ φαρέτρα πλήρης, τὸ γέρρον ὑπὸ τῇ κεφαλῇ· τοὺς δὲ ζωστῆρας οὐ λύονται. ἐν γὰρ τούτῳ καὶ ὁ νόμος εἴρηται ὁ περὶ τοῦ ζωστῆρος, καὶ ὅτι οὐκ ἔλυσε τὸν ζωστῆρα, τὰ δύο πράγματα διὰ μιᾶς ἑρμηνείας. καὶ ἀπὸ τῆς συντομίας ταύτης γλαφυρόν τί ἐστι. („Oftmals werden aber auch zwei Gedanken in Einem ausgesprochen und rufen einen anmutigen Eindruck hervor, so wie einer einmal über eine schlafende Amazone gesagt hat: ‘Der Bogen lag angespannt da, ihr Köcher gefüllt, ihr Schild nahe ihrem Kopf; die Gürtel lösen sie nie.’ Mit einem einzigen Satz wird sowohl der Brauch, der den Gürtel betrifft, ausgedrückt, und dass sie ihren Gürtel nicht gelöst hat - zwei Dinge durch einen Ausdruck. Und aus dieser Kürze resultiert eine gewisse Feinheit.“) Damit ist genau der Fall umschrieben, den Probus bei Vergil zwar erkannt, aber nicht in diesem Sinne würdigt (9, 9, 15: Homerus … honeste aperteque dicit, Vergilius autem … pharetram tantum facit eam ferre in humero … ). 432 Daraus kann man ableiten, dass Vergil den Beispielwert der Homerstelle für die rhetorische Theorie von der eleganten Stilart gekannt hat und durch eine subtile Änderung seiner Vorlage im Sinne der entsprechenden Vorgaben Homer übertreffen, d. h. eine „Verbesserung“ vornehmen wollte. 433 Wenn Vergils Motivation in dieser Weise zu rekonstruieren ist, so trifft ihn auch der Vorwurf einer unschicklichen Götterdarstellung nicht mehr in dieser Härte: 434 Das konkrete Detail, also das Tragen des Köchers, soll die Göttin nicht in einer ihr unwürdigen Situation zeigen, sondern hat die Funktion, das eigentlich Gemeinte in leicht verschlüsselter Form ausdrücken, um so beim Leser im Sinne des Demetrios den Eindruck der Anmut hervorzurufen. 432 Die von Demetrios geforderten „beiden Gedanken“ wären also das äußere Erscheinungsbild und die Betätigung Dianas als Jägerin. 433 Folgt man diesem Gedanken, so lässt sich noch eine weitere Besonderheit der vergilischen Umformung als bewusste Stilisierung im Sinne des γλαφυρὸς λόγος deuten: Vergil verwendet in Aen. 1, 501 das neugebildete Wort supereminere (vgl. Horsfall [2013], II S. 590 zu Aen. 6, 856) und entspricht damit einer Empfehlung, die Demetrios in eloc. 144 = 33, 25-34, 2 Radermacher gibt. Auffällig war die Wortneubildung allemal: Ovid greift die Vokabel in met. 3, 182-183 auf, wo er Dianas Körpergröße in einer freilich ganz anders gearteten Situation erwähnt ( tamen altior illis | ipsa dea est colloque tenus supereminet omnes ). 434 Probus überträgt hier die traditionelle Kritik an Homers Götterdarstellung auf Vergil. Schon Xenophanes hatte an Homer bemängelt, dass er die Götter mit menschlichen Zügen ausstattete und damit ihrer Würde nicht gerecht wurde; vgl. dazu Schäfer (1996), S. 146-162. - Derartige Vorwürfe wurden auch später noch häufiger gegen Homer erhoben: Zenodot etwa athetierte das Gleichnis Il. 9, 14-15, weil er die erwähnten Tränen Agamemnons für unpassend hielt; vgl. schol. A ad Il. 9, 14 b = II 399, 34-37 Erbse. 148 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="149"?> 4.3 Ein bloßgestellter Kritiker: Probus über das Auftrittsgleichnis der Dido 149 Der dritte Gesichtspunkt betrifft Unterschiede in der Darstellung der mütterlichen Freude Letos bzw. Latonas, also den Bereich der Affektdarstellung. Probus wirft Vergil vor, die echte und tief empfundene Freude der homerischen Leto ( gaudium … genuinum et intimum atque in ipso penetrali cordis et animae vigens ) verfälscht zu haben, wenn er Latona eine „träge, leichte, zögerliche und gleichsam nur oberflächlich die Brust berührende Freude“ ( gaudia … pigra et levia et cunctantia et quasi in summo pectore supernantia ) beigibt, wobei er sich, dem Referat des Gellius nach zu urteilen, insbesondere an der Wahl der Vokabel pertemptare stößt. Was die Stichhaltigkeit der vorgebrachten Punkte betrifft, so muss Probus - wie schon in der Antike bemerkt - vor allem entgegengehalten werden, dass Vergil die Intensität des mütterlichen Gefühls sehr wohl betont, indem er das Adjektiv tacitum zu pectus setzt: tacitum] maior enim est taciturnitatis adfectus, ut supra < Aen. 1, 37> ‘haec secum’. sic Terentius <Ter. Hec. 107> ‘ut mecum tacita gaudeam’. tacitum ] pro tacite, ut < Aen. 7, 343> ‘tacitumque obsedit limen Amatae’; aut tacita gaudet. ([D]Serv. ad Aen. 1, 502 = I 157, 1-4 Thilo-Hagen) Servius verbindet Vergils Darstellung hier mit einen bestimmten affekttheoretischen Ansatz, demzufolge ein Gefühl so groß sein kann, dass es mit Worten nicht mehr geäußert werden kann und in Schweigen resultiert - und antwortet damit wohl auf die von Probus vorgebrachte Kritik. 435 Doch liefert auch Homer selbst Anhaltspunkte, die Vergils Änderung erklären können. Der Hinweis auf Emotionen ist in den homerischen Epen nämlich in fast topischer Weise an bestimmte Situationen geknüpft. Stille, innerliche Freude ἐν(ὶ) θυμῷ tritt hier insbesondere zwischen Gastfreunden 436 , in Vater-Sohn- Beziehungen 437 und bei besonderen Gelegenheiten, wenn sich etwa ein König an der friedlichen Arbeit seiner Untertanen freut 438 , auf. Alle diese Situationen und Verhältnisse sind typische Friedensszenen. 439 Auch bei der Ankunft des Aeneas 435 Dass bei quam ( scil. comparationem ) vituperant multi vor allem an Probus zu denken ist, meint auch Georgii (1891), S. 86-87 z. St. 436 Vgl. Od. 1, 311 und 8, 395. 437 Vgl. Il. 24, 491 mit Lucr. 3, 896 und Heinze (1897), S. 170 z. St. 438 Vgl. Il. 18, 556-557 (βασιλεὺς δ’ ἐν τοῖσι σιωπῇ | σκῆπτρον ἔχων ἑστήκει ἐπ’ ὄγμου γηθόσυνος κῆρ): Die Freude ist ihm nur am Ausdruck seines Gesichtes abzulesen, wie auch im schol. A ad Il. 18, 557 c = IV 553, 50-51 Erbse (γηθόσυνος κῆρ] ἐφαίνετο γὰρ τῷ προσώπῳ ἡδόμενος καὶ τοιαύτην ἔχων κατάστασιν) betont. 439 Vgl. auch Latacz (1966), S. 71-72 (nur die Aufforderung an Eurykleia beim Anblick der gemordeten Freier [ Od. 2, 411] fällt hier aus dem Rahmen). - Dieser friedliche Charakter ist natürlich schon in Homers Artemisgleichnis vorgegeben, allerdings weniger explizit als bei Vergil (vgl. aber Latacz [1966], S. 137: „γέγηθα drückt ein anhaltendes, stilles, intensiv-inniges, erhebendes [vorwiegend stolzes] und sehr persönliches Freudegefühl aus. <?page no="150"?> in Karthago soll der Friedensaspekt unterstrichen werden: Indem Vergil mit tacitum pertemptant gaudia pectus auf einen spezifischen, bei Homer beinahe exklusiv vom Friedenskontext determinierten Emotionstypus zurückgreift, signalisiert er dem homerkundigen Leser, welche Rolle das karthagische Asyl nun nach dem stürmischen Beginn des Epos für Aeneas und seine Gefährten spielt. 440 Die Detailänderung, die auf den spezifischen Gefühlskodex der homerischen Epen zurückgreift, stellt den friedlichen Charakter der Szenerie damit also noch einmal zugespitzt heraus. Es liegt also eine bewusste Weiterführung und Nuancierung der homerischen Situation vor, die Probus außerdem ignoriert, wenn er die Bedeutung der Vokabel pertemptare missversteht. Wieder können wir zur Erläuterung auf die antiken philologischen Diskussionen verweisen: Nach Servius kann die Vokabel nämlich in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet werden. … pertemptant] modo vehementer temptant. alibi leviter, ut < Aen. 5, 827> ‘blanda vicissim gaudia pertemptant mentem’. sunt enim multa quae pro locis intelleguntur, ut ‘inpotens’ et satis et minus et nihil potens significat. (Serv. ad Aen. 1, 502 = I 157, 4-7 Thilo-Hagen) Wie der Kommentator zurecht feststellt, sind die Einlassungen des Probus zur Semantik von pertemptare haltlos: 441 Bei Vergil findet sich das Wort sogar ausschließlich in der von Servius spezifizierten Bedeutung „heftig berühren“. 442 In Aen. 1, 502 passt das zu der von Servius zuvor erläuterten Vorstellung von der Vehemenz der unausgesprochenen Gefühle Latonas. Der letzte Gesichtspunkt beinhaltet den Vorwurf des Probus, dass Vergil den „schönsten Vers“ ( flos ) aus Homers Artemisgleichnis bei seiner Übertragung nur verkürzt wiedergegeben habe. 443 Wie bereits angedeutet, hatte sich im Zu- Als Wiedergabe scheint geeignet: ‘erfüllt aber ist [war] in seinem Sinn von stiller, inniger [stolzer] Freude …’“). 440 Die homerischen Kontexte sind für Vergil entscheidend: Die Parallelen aus der zeitgenössischen römischen Literatur, die Austin (1971), S. 168-169 z. St. beibringt (Prop. 2, 25, 29-30 und Tib. 3, 19, 8), tragen dagegen zum Sinn der Vergilstelle wenig bei. Hier geht es jeweils um die soziale Norm, derzufolge die unkontrollierte Äußerung von Gefühlen gesellschaftlich verpönt ist; vgl. auch Otto (1890), S. 324 s. v. sinus [2]. 441 Vgl. Lucr. 6, 287 ( inde tremor terras graviter pertemptat ) und die Beispiele bei Hays, Art. pertempto , TLL X.1.2, 1776, 74-1778, 52, bes. 1778, 31-52. 442 Vgl. georg. 3, 250-251 ( nonne vides ut tota tremor pertemptet equorum | corpora ); Aen. 5, 827-828 ( patris Aeneae suspensam blanda vicissim | gaudia pertemptant mentem ); Aen. 7, 354 ( ac dum prima lues sublapsa veneno | pertemptat sensus ). 443 Vgl. Gell. 9, 9, 16 ( … exigue secutus sit ). - Es sollte kein Zweifel daran bestehen, dass mit deas ( Aen. 1, 501) die eben genannten Oriades ( Aen. 1, 500) gemeint sind; vgl. Conington / Nettleship (1963), Bd. II S. 58 z. St. mit Aen. 8, 117 und 10, 235. 150 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="151"?> 4.3 Ein bloßgestellter Kritiker: Probus über das Auftrittsgleichnis der Dido 151 sammenhang mit der Erwähnung der Λητώ in Od. 6, 106 b eine gelehrte Kontroverse entsponnen, in die auch Vergils Änderung einzuordnen ist. Nach Megakleides, dem Homerkritiker des 4. Jhdt. v. Chr., ist der Halbvers Od. 6, 106 b (γέγηθε δέ τε φρένα Λητώ) zu tilgen und der Vers mit den Worten ἀνὰ δρία παιπαλόεντα zu schließen (s. o.). 444 Bei Od. 6, 106 b handelt es sich nämlich - so ist sinngemäß zu ergänzen - um eine typische epische Klausel, wie sie Homer an ähnlichen Stellen benutzt, um den Bildteil seiner Gleichnisse zu beschließen, der Halbvers passt aber nach Ansicht der Kritiker an dieser Stelle gerade nicht. 445 Ob Megakleides die beiden nachfolgenden Verse athetiert hat 446 oder sie durch seine Textänderung in Od. 6, 106 b verteidigen wollte, ist heute zwar nicht mehr zu entscheiden - die zweite Alternative ist freilich wahrscheinlicher. Das Scholion lässt aber grundsätzlich den Schluss zu, dass die fraglichen Verse hinsichtlich ihrer Echtheit umstritten waren. Die vermutete nachträgliche Interpolation von Od. 6, 107-108 würde sich demnach folgendermaßen erklären: Man hatte nicht mehr verstanden, dass die überragende Schönheit der Artemis - das tertium comparationis 447 - schon indirekt durch die Zusammenstellung mit den Nymphen ( Od. 6, 105-106 a ) ausgedrückt ist, und deshalb die beiden erklärenden Verse nachgeschoben. 448 Vergil gibt in seiner Übertragung zu erkennen, dass er ebenfalls Anstoß an den unter dieser Perspektive überflüssig erscheinenden Versen Od. 6, 107-108 genommen hat, wenn er sie nämlich in seiner Umgestaltung des Gleichnisses an der betreffenden Stelle übergeht bzw. in Aen. 1, 502 ( gradiensque deas supereminet omnis ) vor dem Schlusssatz komprimiert wiedergibt. In Vergils Version umfasst das Gleichnis genau fünf Verse, schließt formal „regulär“ mit dem Hin- 444 Schol. HP ad Od. 6, 106 = 303, 17 Dindorf (Μεγακλείδης ‘ἀγρόμεναι παίζουσιν ἀνὰ δρία παιπαλόεντα’ [„Megakleides: ‘sie waren versammelt und scherzten im schroffen Gebüsch’“]); die Konjektur ist sprachlich an Hes. op. 530 angelehnt. - Vgl. zur ganzen Stelle auch Schwartz (1908), S. 5. 445 Vgl. die von Clausing (1913), S. 12 beigebrachten Parallelen Il. 13, 493 (γάνυται δ’ ἄρα τε φρένα ποιμήν) und Il. 4, 455 (τῶν δέ τε τηλόσε δοῦπον ἐν οὔρεσιν ἔκλυε ποιμήν), wo jeweils ein eine affektive Reaktion darstellender Halbvers der vorangegangenen objektiven Schilderung folgt und so den Bildteil des Gleichnisses abschließt. Anders als in Od. 6, 106 handelt es sich allerdings bei dem beschriebenen Affekt an der ersten der genannten Stellen nicht nur um einen die menschliche Reaktion schildernden Zusatz, sondern um das tertium comparationis . 446 Wie auch von Schwartz (1908), S. 5 vorgeschlagen. Um gegen die Echtheit von Od. 6, 107 b und 108 a zu argumentieren, hätte man sich auf zwei parallele Formulierungen in der Ilias (16, 798 und 15, 490) berufen können. 447 Heubeck / West / Hainsworth (1988), I 106 zu Od. 6, 109. 448 Heubeck / West / Hainsworth (1988), I 106 z. St. vermuten hingegen - anders als der formal argumentierende Schwartz - inhaltliche Gründe („perhaps not understanding how Leto could observe her agile daughter“). <?page no="152"?> weis auf die freudige Beobachterin und macht zudem noch explizit, was man aus Od. 6, 105-106 a nur erschließen konnte und was die aus Sicht mancher Kritiker interpolierten Verse Od. 6, 107-108 ausdrücklich sagen, nämlich dass Diana bzw. Artemis aus der Schar der sie umgebenden Göttinnen hervorragt. Folgt man der Annahme einer Interpolation, so hätte es der lateinische Epiker also fertiggebracht, alle wesentlichen inhaltlichen Elemente, die Homer in seinem Gleichnis beschrieben und die seine Interpolatoren verdeutlichend hinzugefügt haben, auf demselben Raum, den Homer ursprünglich benötigt hatte - fünf Verse -, zu kombinieren. (Die Schönheit der umgebenden Nymphen lässt er mit Blick auf die epische Wirklichkeitsebene unerwähnt: Dido ist ja von jungen Männern umgeben, eine Übertragung von Od. 6, 108 b [καλαὶ δέ τε πᾶσαι] hätte sich an dieser Stelle seltsam ausgenommen.) Wie ist dieser Befund aber nun insgesamt zu deuten? Probus macht als Kritiker in Gell. 9, 9, 12-17 eine schlechte Figur, wie auch der zeitgenössische Leser mit einiger Kenntnis der griechischen Literatur und der zugehörigen philologischen Kontroversen erkennen konnte. Gellius verzichtet auffallenderweise darauf, die angestellte Kritik einzuordnen bzw. zu bewerten. In krassem Widerspruch stehen die Ausstellungen des Probus zu der einleitend von Gellius getroffenen Feststellung, dass Änderungen von dichterischen Vorlagen gelegentlich sogar notwendig sein können. Gerade auf Vergils Fertigkeit in diesem Bereich wird in 9, 9, 3 eigens hingewiesen: Scite ergo et considerate Vergilius … partem reliquit, alia expressit . Das Ausbleiben einer kritischen Einordnung des paradoxen Probusreferats ist daher so zu erklären, dass Gellius nach den Musterbeispielen für freiere Übertragung in 9, 9, 4-11 ein Beispiel für unangemessene Vergilkritik zitieren wollte, die das vorangestellte ästhetische Prinzip missachtet, das poetische Modell als Maß aller Dinge nimmt und Änderungen an der Vorlage ohne Rücksicht auf die neuen Bedingungen der imitatio prinzipiell verurteilt. Das Verfahren ist induktiv: Der philologisch versierte Leser soll selbst die Aporien der Probuskritik erkennen und - nach der Propädeutik der einleitenden Eklogenbeispiele - in ein kritisches Verhältnis zu den kommentarlos referierten Beanstandungen des Kritikers treten. 4.4 Zusammenfassung Die Zielsetzung der Noctes Atticae wird in der Vorrede des Werks mit einer rhetorischen Bildungskonzeption bestimmt, die im Ideal des vir civiliter eruditus zwei Aspekte akzentuiert: Die interpersonelle Komponente, die soziale Anerkennung an den Faktor Bildung knüpft, und den enzyklopädischen Anspruch, der eine Vielzahl relevanter Disziplinen einschließt. Aus dieser thematischen Vielzahl 152 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="153"?> 4.4 Zusammenfassung 153 und dem gleichzeitig erklärten Bemühen nach Beschränkung in Auswahl und Umfang resultiert der exemplarische Charakter der einzelnen Kapitel: Sie stehen stellvertretend für disziplinäre Teilbereiche und sollen entweder zu weiteren Studien anregen oder wenigstens einen Teil der Wissenslücken schließen, die sonst zur sozialen Exklusion des Ungebildeten führen. Die grammatischen Kapitel, die einen wesentlichen Anteil der 398 Teilstücke des Werks bilden und zu denen auch die literaturkritischen Abschnitte rechnen, sind demnach einerseits eingebunden in eine umfassendere Bildungskonzeption, geben andererseits aber auch konkret nützliches Wissen an die Hand, wie es in einer Bildungskultur wie derjenigen des 2. Jhdt. n. Chr. gebraucht wurde. (→ Kap. 4.1.1) Das gilt zumal für die Literaturvergleiche, die demnach als Modellfälle einer kulturellen Praxis - nämlich des synkritischen Lesens, wie es Gellius etwa in Gastmahlszenen auch in seiner sozialen Situierung präsentiert - Handlungswissen im dargelegten Sinne vermitteln sollen. Dabei ergibt sich auf dem Felde des Literaturvergleichs eine erhebliche formale Varianz, innerhalb derer die synkritische Textanalyse nur einen Teilbereich besetzt. (→ Kap. 4.1.2) Dem exemplarischen Charakter der Einzelkapitel entsprechend sind es dann auch zwei Hauptthemen des Homer-Vergil-Komplexes, die Gellius in den beiden Abschnitten, die er dieser Fragestellung widmet, in den Vordergrund rückt. In Gell. 13, 27 ist es die kanonische Stellung Vergils, die durch die Wahl der beiden zeitlich extrem auseinanderliegenden Bezugsgrößen Homer und Parthenios schlaglichtartig profiliert werden soll. Die gewählten Beispiele werden aber auch als - in der zeitgenössischen literaturkritischen Diskussion ähnlich bewertete - stilistische Extreme kontrastiert: Homers Einfachheit steht der neoterischen bzw. kallimacheischen Feinheit in der Ausarbeitung bei Parthenios gegenüber, die Vergil wohl erreicht, während er den Anspruch des homerischen Modells jedoch nicht zu erfüllen vermag. (→ Kap. 4.2) In Gell. 9, 9 soll Vergils Stellung als prototypischer Verteter der ars imitandi belegt werden; im zweiten Teil des Kapitels steht die stilistische Einzelkritik vergilischer und homerischer Gleichnisse im Zentrum. Die einleitende Behauptung über Vergils Vorrang auf diesem Gebiet wird anhand einiger zustimmend bewerteter Beispielpaare demonstriert. Eher unverbunden schließt sich daran das Referat über die Beurteilung des Auftrittsgleichnisses der Dido durch den Grammatiker Probus an, wobei sich Gellius einer expliziten Stellungnahme enthält. Die von Probus geltend gemachten Kritikpunkte erweisen sich bei näherer Prüfung als wenig stichhaltig, wie sich - in Ergänzung zur jüngeren philologischen Kritik und in Relativierung von probusfreundlichen Positionen, die ein modernes Vergilverständnis zugrundelegen - auch vor dem Verständnishorizont der antiken Philologie zeigen lässt, wenn man nämlich die Wirkungsgeschichte des homerischen Modells und die Interpretationen der <?page no="154"?> Vergilphilologen mit den Einschätzungen des Probus vergleicht. Probus verfehlt demnach die Intentionen Vergils, wie der zeitgenössische Leser wohl verstehen konnte. Das Ausbleiben einer einordnenden Bewertung durch Gellius ist folglich aus einer induktiv-didaktischen Strategie heraus zu verstehen, wie sich aus dem argumentativen Zusammenhang des ganzen Kapitels ergibt. (→ Kap. 4.3) 154 4. Gellius, Noctes Atticae <?page no="155"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 155 5. Macrobius, Saturnalia 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 5.1.1 Vergil im Bildungskonzept der Saturnalia Der umfassendste Vergleich zwischen Vergil und Homer, der aus der antiken Spezialliteratur zu diesem Thema überliefert ist, findet sich in den Saturnalia des Macrobius. Dieses Werk, das wohl Mitte der dreißiger Jahre des fünften Jhdt. entstand, ist als literarisches Symposium gestaltet: Im fünften Buch hält einer der Teilnehmer, Eustathius, einen umfänglichen Lehrvortrag, in dem er beide Dichter miteinander vergleicht. Im Folgenden soll zunächst der Frage nachgegangen werden, welchen allgemeinen Zweck Macrobius mit seinen Saturnalia und speziell mit den Dichtervergleichen des fünften (und sechsten) Buches verfolgt. Im zweiten Schritt ist dann zu untersuchen, welche Methoden, Kriterien und argumentative Strategien im Einzelnen eingesetzt werden und wie sich diese Detailbeobachtungen zu den allgemeinen Zielsetzungen des Werks verhalten. Über Lebenszeit und Identität des Autors hat sich auf Grundlage der prosopographischen Untersuchungen Alan Camerons 449 in der Forschung mittlerweile weitgehend Konsens eingestellt. 450 Der vollständige Name des Autors lautet demnach Macrobius Ambrosius Theodosius , seine soziale Stellung wird in den Handschriften mit v<ir> c<larissimus> et inlustris angegeben. 451 Er hatte als praefectus praetorio Italiae et Africae ( PPO ) im Jahr 430 n. Chr. eine zentrale Position in der staatlichen Zivilverwaltung inne. 452 (Ob er im April des Jahres 426 n. Chr. primicerius notariorum war, wie Cameron vermutet, ist weniger sicher, würde die Spätdatierung der Saturnalia aber stützen. 453 ) Sein Sohn, Fl. Macrobius Plotinus Eustathius , als praefectus urbi im Jahr 462 n. Chr. 449 Vgl. Cameron (1966), pass. und den Forschungsüberblick bei De Paolis (1986 / 1987), 113-125. 450 Vgl. zuletzt Armisen-Marchetti (2003), S. XVIII, Schmidt (2008), S. 47-54 und Goldlust (2011), S. 11-14. 451 Vgl. die Subskription zu comm. in Somn. Scip. (= II 154 Willis) und Schmidt (2008), S. 48-49. 452 Zur Identifikation des in PLRE II 1101 verzeichneten „Theodosius (8)“ mit dem in PLRE II 1102-1103 geführten „Theodosius (20)“ vgl. De Paolis (1986 / 1987), S. 124 und Schmidt (2008), S. 49-50. 453 PLRE II 1107 s. v. „Theodosius (7)“; vgl. Cameron (1966), S. 27 Anm. 21 und zustimmend Schmidt (2008). S. 50. <?page no="156"?> 156 5. Macrobius, Saturnalia bezeugt, ist der Widmungsträger der Saturnalia . 454 Aus der Verwendung der Amtsbezeichnung in den Titeln und Subskriptionen der Handschriften lässt sich die relative Chronologie der drei Werke des Macrobius 455 dann wie folgt rekonstruieren: Demnach ist die Schrift De verborum Graeci et Latini differentiis vel societatibus 456 vor seiner Erhebung zum PPO entstanden, die Saturnalia 457 und der Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis 458 - in dieser Reihenfolge 459 - erst nach 430 n. Chr. Verbindet man diese Daten mit dem erwähnten Amtsjahr des Sohnes, der als jugendlicher Widmungsadressat in den Saturnalia genannt wird, so lässt sich die Entstehung dieses Werks in etwa auf die Zeit um das Jahr 435 n. Chr. einschränken. 460 Bei den Saturnalia handelt es sich also um literarische Gastmahlliteratur in der Tradition des platonischen Symposion . 461 Wichtiger als dieser Text ist für Aufbau und Anlage der Saturnalia freilich ein Klassiker der römischen Dialogliteratur, Ciceros De re publica . 462 Nach diesem Modell hat Macrobius die Datierung seines Dialogs kurz vor dem Tod der greisen Hauptfigur (Laelius bzw. Vettius Agorius Praetextatus) vorgenommen: Das fiktive Datum der Saturnalia dürfte demnach im Jahr 382 bzw. 383 n. Chr. anzusetzen sein. 463 Außerdem ließ er sich von Cicero bei der Frage des Gesprächsanlasses beeinflussen: War De re publica in den feriae Latinae des Jahres 129 v. Chr. angesiedelt, so stellt auch Macrobius seinen Dialog in den Rahmen eines Festes, eben der Saturnalia . 464 Das ciceronische Modell 454 Vgl. Sat. praef. 1 ( … Eustathi fili … ). - Der vollständige Name des Sohnes ist auf der Basis einer Ehrenstatue bezeugt (CIL VI 41 394). „Eustachius“ ist eine mittelalterliche Entstellung von „Eustathius“; vgl. Cameron (1966), S. 37. 455 Trotz der Kritik bei Schmidt (2008), S. 53 („Wer sich heute noch auf Macrobius [statt Theodosius ] kapriziert, bevorzugt … eine letztlich mittelalterliche Tradition unter Vernachlässigung des spätantiken onomastischen Regelsystems“) wird im Folgenden aus Gründen der Konvention der traditionelle Name Macrobius weiterverwendet. 456 Die grammatische Schrift - der Titel wird traditionell mit De differentiis et societatibus Graeci Latinique verbi wiedergegeben - ist nur in Auszügen erhalten; Ed. : De Paolis (1990). 457 Ed. : Kaster (2011 a ) mit Kaster (2011 b ) und Kaster (2010). 458 Ed. : Armisen-Marchetti (2003). 459 Vgl. Armisen-Marchetti (2003), S. XVI und XVIII. 460 Schmidt (2008), S. 50. 461 Auf den Gattungscharakter der Saturnalia als Symposium wurde vor allem in der französischen Forschung immer wieder hingewiesen; vgl. Flamant (1977), S. 172-232 und zuletzt Goldlust (2012), S. 177-244. 462 Vgl. zusammenfassend über die intertextuellen Parallelen Dorfbauer (2010), S. 57-60. 463 Vgl. zum fiktiven Datum des Dialogs Kaster (2011 b ), S. XXIV-XXV, der gegen Camerons Vorschläge (Cameron [1966], S. 28 [384 n. Chr.] vs. Cameron [2011], S. 260-261 [382 n. Chr.]) eine Datierung ins Jahr 383 bevorzugt. 464 Mit der Benennung des Dialogs nach einem Festereignis folgt Macrobius einer der bei Proklos genannten Titeloptionen (ἐκ τῶν περιστατικῶν); vgl. Lausberg (1991), S. 190 Anm. 85. <?page no="157"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 157 schlägt auch in der dialogischen Disposition durch: Der Gesprächsverlauf ist in lange, meist von einem Hauptsprecher gehaltene Lehrvorträge gegliedert, und das Werk dürfte ursprünglich nicht wie in den heutigen Ausgaben in sieben, sondern entsprechend der Anlage von De re publica in sechs Bücher unterteilt gewesen sein, von denen je ein Buchpaar einen der drei Festtage zum Thema hatte. 465 Das dritte und fünfte Buch befasst sich jeweils mit dem Werk Vergils, womit sich die folgende Gliederung ergibt: 466 ursprüngliche Bucheinteilung moderne Bucheinteilung Hauptthemen Vorabend und erster Tag (16./ 17.12.) * Sat. 1 1 Vorabendgespräche Morgengespräche ( Schluss : Vergil als Gesprächsgegenstand für die beiden Folgetage gewählt; Themenverteilung [ Sat. 1, 24]) * Sat. 2 2 467 <…> Nachmittags- und Abendgespräche zweiter Tag (18.12.) * Sat. 3 <…> 3, 1, 1- 3, 12, 10 <…> 1. <Eustathius: Astrologie und Philosophie bei Vergil> 2. <Flavianus: Auguralrecht bei Vergil> 3. Praetextatus: Pontifikalrecht bei Vergil ( Sat. 3, 1-12) * Sat. 4 <…> 3, 13, 1- 3, 20, 8 Nachmittags- und Abendgespräche 465 Dass die moderne Gliederung in sieben Bücher - so noch in der jüngsten kritischen Edition von Kaster (2011 a ) - eine erst später in der Überlieferung vorgenommene Modifikation der ursprünglichen Disposition ist, zeigt Dorfbauer (2010), S. 43-55. 466 Vgl. auch die Aufrisse bei Dorfbauer (2010), S. 54 und 60 sowie Kaster (2011 b ), S. IL-LIII. - Die eckigen Klammern bezeichnen die in der Überlieferung ausgefallenen Textpartien. 467 Lücke nach Sat. 2, 2, 14. <?page no="158"?> ursprüngliche Bucheinteilung moderne Bucheinteilung Hauptthemen dritter Tag (19.12.) * Sat. 5 <…> 4-6 468 <…> 1. <Symmachus> und Eusebius: Vergil als Rhetoriker ( Sat. 4, 1-5, 1) 2. Eustathius: Vergil und die griechische Literatur ( Sat. 5, 2-22) 3. Rufius und Caecina Albinus, Servius: Vergil und die altlateinische Literatur ( Sat. 6, 1-9) * Sat. 6 7 Nachmittags- und Abendgespräche Mit der Wahl Vergils als Gegenstand der „ernsteren“ Morgengespräche des zweiten und dritten Festtages, der damit den gewichtigen Themen des ersten Vormittags - Festkalender und Sonnentheologie 469 - gleichgestellt wird, hebt sich Macrobius von seinem ciceronischen Modell ab, in dem Dichtung keine besondere Rolle gespielt hat. Was qualifiziert aber nun gerade Vergil, den Klassiker des römischen Schulunterrichts, für diese Rolle im Zentrum der Saturnalia ? Eine Antwort auf diese Frage muss von den programmatischen Stellungnahmen zu Beginn des Werkes ihren Ausgang nehmen. In der Vorrede kommt die pädagogische Zielsetzung der Saturnalia deutlich zum Ausdruck: Macrobius bekundet hier zunächst seine väterliche Sorge um die Bildung des Sohnes Eustathius und seinen Wunsch, dass sich der Erwerb der dafür notwendigen Kenntnisse so rasch und effizient wie möglich gestalte. Diese Kenntnisse soll Eustathius nämlich nicht nur durch eigenes Studium erlangen, auch die - griechische und lateinische - Lektüre des Vaters soll dafür nutzbar gemacht werden, indem Macrobius sie als „wissenschaftliches Rüstzeug“ ( scientiae supellex ) aufarbeitet und eben in Form der Saturnalia für den Sohn bereitstellt ( praef. 1-2). Als inneres Organisationsprinzip proklamiert er dafür die Einheit , d. h. die Integration der heterogenen Bestandteile seines Miszellanwerks zu einem Ganzen. Um diesen Einheitscharakter sinnfällig zu machen, verwendet Macrobius sechs Gleichnisse, die jeweils den Eingliederungsprozess selbstständiger Elemente in eine höhere Organisation beschreiben. 470 Diese sechs Gleichnisse fo- 468 Lücke nach Sat. 4, 6, 24. 469 Vgl. dazu die Studie von Syska (1993). 470 Folgende Gleichnisse werden in praef. 3-9 ausgeführt: (1) Körpergleichnis ( praef. 3); (2) Bienengleichnis ( praef. 5; vgl. neben der Studie von Waszink [1974], pass. auch Nünlist [1998], S. 60-63, sowie speziell zu Macrobius de Rentiis [1998], pass. und Dorf- 158 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="159"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 159 kussieren also den Produktions aspekt und die daraus resultierende Struktur der Saturnalia - sie haben streng genommen noch nichts mit dem pädagogischen Wirkungs potenzial, das Macrobius seinem Sohn mit der Lektüre des Werks in Aussicht stellt, zu tun. Doch unterbricht Macrobius an einer Stelle seine Gleichnisreihe, um auf den Zusammenhang zwischen der einheitlichen Struktur der Saturnalia und ihrer didaktischen Dynamik zu sprechen zu kommen: nos quoque quicquid diversa lectione quaesivimus committemus stilo, ut in ordinem eodem digerente coalescat. nam et in animo melius distincta servantur, et ipsa distinctio non sine quodam fermento, quo conditur universitas, in unius saporis usum varia libamenta confundit, ut etiam si quid apparuerit unde sumptum sit, aliud tamen esse quam unde sumptum noscetur appareat. ( Sat. praef. 6) Erst der ordo , in den die isolierten Wissensbestände gebracht werden, gewährleistet für Macrobius Eingängigkeit und Retention der vermittelten Sachverhalte; erst ihre Kontextualisierung macht die Einzelinformation didaktisch wirksam. Außerdem verändert der Vorgang der Ordnung die Elemente selbst (~ fermentum ): Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. 471 Dann differenziert Macrobius in Fortführung eines seiner Gleichnisse - nun schon ganz mit Blick auf den Rezipienten der Saturnalia - diesen Gedanken noch durch den Aspekt, dass eine gedächtnismäßige Aufnahme von Informationen, wenn sie isoliert präsentiert werden, in die memoria zwar möglich, eine Förderung des ingenium hingegen unter diesen Umständen undenkbar sei: bauer [2006], pass. ); (3) Verdauungsgleichnis ( praef. 7); (4) Additionsgleichnis ( praef. 8 a ); (5) Parfum- / Duftstoffgleichnis ( praef. 8 b ); (6) Chorgleichnis ( praef. 9). Der Großteil der Gleichnisse ist aus Senecas 84. Brief übernommen; vgl. Lausberg (1991), S. 167 mit Anm. 1. - Wie von Lausberg a. a. O., S. 175-191 herausgearbeitet, liegt der Gleichnisreihe bei Macrobius ein spezifisch neuplatonisches Einheitsprogramm zugrunde, nach dem der einzelne Text analog zum einheitlich zu denkenden Kosmos strukturiert ist; vgl. zusammenfassend S. 191: „Einheit und Vielheit sind im Neuplatonismus grundlegende, weit über das Literarische hinausreichende philosophisch-theologische Grundgedanken. Durch die Einheit partizipiert das literarische Werk an der Vollkommenheit des Göttlichen, durch die Vielheit bezieht es die für die Seinsstufen, die unterhalb der allerobersten liegen, charakteristische Vielheit mit ein. Senecas Gedanken von der Verbindung des Vielen zur Einheit haben … eine über Seneca hinausgehende überraschende philosophische Tiefe erhalten; und auch in diesem Sinne hat Macrobius wohl Senecas Worten tatsächlich eine neue Bedeutung gegeben.“ 471 Dieser Einheitsgedanke spricht sich auch in der Wahl der Form aus: Kohärenz und Einheitlichkeit zeichnen gerade den literarischen Dialog aus, der bei Macrobius als dramatisch konzentrierte Form im Kern nicht mehr als dreieinhalb Tage umfasst und so auch äußerlich die Einheitlichkeit des Gesamtwerks verbürgt - anders als etwa bei Gellius, der auf eine übergeordnete vereinheitlichende Struktur in seinen Noctes Atticae verzichtet, obwohl er ähnliche Anschauungen über den Bildungsvorgang äußert wie Macrobius. - Vgl. → Kap. 4.1.1. <?page no="160"?> idem in his quibus aluntur ingenia praestemus, ut quaecumque hausimus non patiamur integra esse, ne aliena sint, sed in quandam digeriem concoquantur: alioquin in memoriam ire possunt, non in ingenium. ( Sat. praef. 7 b ) Die Vorstellung von der pflegenden Sorge für das ingenium , die unverzichtbare Begabungskomponente 472 bei der Ausbildung des Redners, zeigt an, in welche Richtung Macrobius mit seinem Bildungskonzept geht, das sich nämlich im Kern als grammatisch-rhetorisch bestimmen lässt. Das wird noch deutlicher, wenn Macrobius in einem späteren Abschnitt - unter Rückgriff auf Gell. praef. 16 - seinen allgemeinen Bildungsbegriff mit der Angabe von vier besonderen Bildungszielen konkretisiert: nihil enim huic operi insertum puto aut cognitu inutile aut difficile perceptu, sed omnia quibus sit <1> ingenium tuum vegetius, <2> memoria adminiculatior, <3> oratio sollertior, <4> sermo incorruptior … ( Sat. praef. 11) Damit ist das allgemeine Bildungsziel der Saturnalia deutlich als ein rednerisches bezeichnet, das sowohl grammatische (<4>) wie auch rhetorische Einzelziele (<1>-<3>) einschließt. 473 Wie fügt Macrobius nun aber Person und Werk Vergils - das erklärte Hauptthema des Dialogs 474 - in seinen grammatisch-rhetorischen Rahmen ein, der auf die Vermittlung eines als Einheit präsentierten Wissensbestands abzielt? 472 Vgl. Lausberg (1990), § 1152 = S. 550 („Das ingenium … ist die natürliche Begabung, die weder durch imitatio noch durch ars zu ersetzen ist [Quint. 10, 2, 12]. Das ingenium ist die Produktivität, die der Lenkung bedarf: für die Lenkung sorgen das iudicium … und das consilium … Die Tätigkeit des ingenium ist die inventio …“). 473 Die Reihenfolge (erst rednerische, dann grammatische Gesichtspunkte) erklärt sich aus dem Fortgang der Argumentation: Der unmittelbar an sermo incorruptior angeschlossene Passus praef. 11 b -15 wirbt mit einer aus Gellius übernommenen Anekdote (vgl. Gell. 11, 8, 1-4 - mit Quellenverweis auf Nep. de viris illustribus 13 = frg. 56 Marshall in Gell. 11, 8, 5 -, Polyb. 29, 1, 4-8 und Plut. Cat. mai. 12, 5) für Verständnis, dass dem „unter einem anderen Himmel“ ( sub alio … caelo ; praef. 11 b ) - es ist wohl Afrika gemeint - geborenen Macrobius gelegentlich die elegantia des lateinischen Muttersprachlers fehle. 474 Gerth (2013), S. 39 Anm. 82 verkennt die Absicht des Macrobius, wenn er Vergil den Status als Hauptthema der Saturnalia absprechen will; vgl. die Gewichtung, die Macrobius selbst im Prolog zwischen den Themen der Vormittags- und Nachmittagsgespräche - und damit zwischen Vergil und den anderen Gegenständen des Werks - vornimmt ( Sat. 1, 1, 4: matutina vero erit robustior disputatio, quae viros et doctos et praeclarissimos deceat ). - Im Folgenden wird versucht, die Behandlung Vergils in den Saturnalia aus dem skizzierten grammatischen Bildungskonzept zu entwickeln und so den inneren Zusammenhang zwischen Vorrede und Dialog deutlicher zu machen. An alternativen Zielbestimmungen für die Vergilabschnitte bei Macrobius hat es in der Vergangenheit freilich keineswegs gefehlt. Hingewiesen sei hier nur auf die - schon durch die Spätdatierung Camerons nur schwerlich nachvollziehbare - Vorstellung, in den Saturnalia würde Vergil vom heidnischen Neuplatoniker Macrobius als paganer Ersatz für die heilige Schrift der Christen, 160 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="161"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 161 Gelegentlich wird in den Saturnalia der Bezug zwischen Vergil und dem in der Vorrede formulierten Einheitsprogramm hergestellt, etwa wenn Eustathius Vergils Homernachahmung als „Inkorporation“ heterogener Einflüsse in das corpus vergilischer Dichtung beschreibt. 475 Übernahmen, die nicht mehr kenntlich sind, weil Vergil sie vollkommen in sein Werk integriert habe, rügt Eustathius nicht als Plagiate, sondern würdigt sie als Teil der vergilischen Dichtkunst. 476 Aus Stellen wie diesen lässt sich ableiten, dass Vergils dichterische Praxis gewissermaßen ein Modell für die Saturnalia liefert - auch wenn dieser Bezug nirgends ausdrücklich hergestellt wird: Ebenso wie sich bei Vergil verschiedene „Quellen“ und Modelle ausmachen lassen, die die Assimilationskraft des Dichters zu einem einheitlichen Ganzen verbunden hat, beabsichtigt auch Macrobius, die Diversität seiner Vorlagen zu einem einheitlichen Ganzen zu integrieren. Dass die Auffassung, Vergil verkörpere in exemplarischer Weise das Ideal der Einheit, nicht nur das Einarbeiten direkter literarischer Modelle in einzelnen versus bzw. loci betrifft, sondern auch auf einer allgemeineren poetologischen Ebene Gültigkeit beansprucht, wird in Sat. 1, 24 bei der Wahl Vergils zum Thema der Gespräche des zweiten und dritten Festtages deutlich. Symmachus entwickelt hier in Reaktion auf die Kritik des Euangelus ein anspruchsvolles Konzept von Dichter und Dichtung, dessen philosophisch-religiöse Implikationen letztlich auch den Rahmen für die Homer-Vergil-Vergleiche des fünften Buches bilden. Euangelus kritisiert in Sat. 1, 24, 2 Praetextatus, weil er sich bei seinen Darlegungen zur Sonnentheologie auf Vergil berufen hat. Konkret nimmt er dabei Bezug auf Sat. 1, 16, 44, wo Praetextatus behauptet hat, Vergil meine in georg. 1, 7 mit Liber und Ceres „eigentlich“ Sonne und Mond, weil an dieser Stelle auf die altrömische Tageseinteilung nach dem Mond- und die neuere nach dem Sonnenlauf angespielt sei. 477 Praetextatus möchte also - in einer aus heutiger also die Bibel, inauguriert; vgl. die Kritik bei Sinclair (1982), pass. (Lit.: 261 Anm. 2-4) und zuletzt Vogt-Spira (2012), S. 161 (Lit.: Anm. 5). 475 Vgl. Sat. 5, 2, 2 ( … non parva sunt alia quae traxit a Graecis et carmini suo tamquam illic nata conseruit ) und Sat. 5, 13, 30 ( his praetermissis, quae animam parabolae dabant, velut exanimum in Latinis versibus corpus remansit ); vgl. auch → Kap. 5.1.2 zur imitatio -Terminologie des Eustathius. 476 Vgl. → Kap. 5.2.2.6. 477 Vergil führe demnach den Gedanken von georg. 1, 6 ( labentem caelo quae ducitis annum ) fort. - Der Bezug, den Praetextatus hier herstellt, ist problematisch. Liber et alma Ceres ( georg. 1, 7 a ) schließt nicht an uos, o clarissima mundi | lumina, labentem caelo quae ducitis annum ( georg. 1, 5 b -6) an, sondern leitet von den zwei Himmelskörpern zu den beiden Wein- und Ackergottheiten Bacchus und Ceres über, die das zweite Götterpaar der einleitenden Epiklese ( georg. 1, 5-23) bilden. Kritik an der Position des Praetextatus, wie sie Euangelus übt, ist daher grundsätzlich angebracht, doch verfehlt er den eigentlich problematischen Punkt, wenn er nämlich die Frage nach der Triftigkeit der von ihm angegriffenen Interpretation in Sat. 1, 24, 2-4 nicht stellt. <?page no="162"?> Perspektive willkürlichen Verdrehung des ursprünglichen Sinns der Stelle - eine „tiefere Wahrheit“ in den vergilischen Götternamen erkennen, indem er eine allegorische Lesart der Stelle in Vorschlag bringt. Genau dagegen richtet sich nun aber die Kritik des Euangelus. Er unterstellt Vergil in Sat. 1, 24, 3, dass er Liber und Ceres für „Sonne“ und „Mond“ aus einem nicht näher bezeichneten anderen Dichter übernommen habe ( … in alterius poetae imitationem posuit … ), ohne die genaue theologische Begründung für die Gleichsetzung jedoch gekannt zu haben ( … ita dici audiens, cur tamen diceretur ignorans ). Diese hier an programmatischer Stelle von Euangelus hinterfragte allegorische Deutungsart - für die neuplatonische Dichterexegese bekanntlich die Methode der Wahl (s. u.) - spielt im weiteren Verlauf der Saturnalia keine Rolle mehr; diesen Widerspruch betont zurecht Vogt-Spira (2012), S. 164-165. 478 Stattdessen geht es in den Gesprächen des zweiten Tages im Wesentlichen um Vergils umfassendes Sachwissen ( doctrina ), in denen des dritten Tages um sein rhetorisches Vermögen und seine griechisch-römischen Vorbilder, freilich auch hier mit besonderem Akzent auf seine Sachkenntnisse, d. h. auf antiquarische doctrina . Wie zuletzt von Vogt-Spira (2012), pass. herausgearbeitet, handelt es sich dabei um ein originelles poetologisches Konzept, das zwei unterschiedliche Aspekte - Sachwissen über die „Wirklichkeit“ ( doctrina ) und philosophisches Wissen über die „Wahrheit“ ( sapientia ) - verbindet. 479 - Wie ist die Verbindung nämlich herzustellen? Dass der Nachweis von Vergils Sachwissen als Teilaspekt seiner sapientia auf der Basis der neuplatonischen Konzeption vom Dichter als „zweitem Schöpfer“ bzw. als „kosmischem Dichter“ zu erklären ist, stellt Vogt-Spira (2012), S. 166-169 heraus (vgl. auch die Hinweise auf das entsprechende Phänomen in der Homerdeutung auf S. 166; bes. Anm. 22). Vergils imitatio naturae steht, wie Vogt- Spira a. a. O. anhand von Sat. 5, 1, 18-20 nachweist, nicht in einem Abhängigkeits -, sondern in einem Analogie verhältnis zur Natur: Der Dichter schafft als ein zweiter Schöpfer, daher kann sein Werk sozusagen als eine Primärquelle der Naturerkenntnis einstehen (vgl. Bernard Weinbergs Formulierung, zit. nach Vogt-Spira [2012], S. 168: 478 Anders ist die Situation im comm. in somn. Scip. (vgl. z. B. 1, 9, 8), wo Vergils Dichtung viel mehr als verschleierte Wahrheit aufgefasst wird. - Vgl. zur Berechtigung dieser Deutungsart Wlosok (1990 a ), S. 401-402, die - ausgehend von einem Abriss der vorvergilischen Homerallegorese - Vergil grundsätzlich die Intention, ein doppeltes Deutungsangebot zu liefern, zuspricht. An anderer Stelle (vgl. Wlosok [1990 b ], S. 486-487) kommt zum Ausdruck, dass Wlosok die verborgenen Kenntnisse ( doctrina ) Vergils, die in Sat. 3-6 offengelegt werden, ebenfalls mit dem Begriff der Allegorie verbindet, die Trennung von doctrina und Allegorie, wie sie Vogt-Spira a. a. O. vorschlägt, also nicht vollzieht. 479 Vogt-Spira (2012), S. 162-163 stellt entsprechend als die beiden Grundkomponenten einer impliziten Poetik in den Saturnalia die „Textkonzeption in grammatisch-rhetorischer Tradition“ und die philosophisch motivierte Auslegungsform der Allegorese heraus; vgl. S. 163: „Um es typologisch zuzuspitzen, wird er im ersten Fall nach seiner Darstellung der Wirklichkeit, im zweiten Fall unter dem Kriterium der Wahrheit beurteilt.“ 162 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="163"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 163 „Vergil is nature“, und zusammenfassend Vogt-Spira [2012], S. 169: „Kennzeichnend für das Konzept der imitatio naturae ist dabei, dass es nicht gegenstandsbezogen ist, sondern sich auf eine Ordnungsstruktur richtet: Der Dichter ahmt nicht die äußere Welt, sondern das, was ihr Struktur und Form gibt, ihren ‘Prätext’ nach; daher ordnet er die Dinge wie die Natur. … <D>ie Pointe in Macrobius’ imitatio -Entwurf liegt darin, dass sie nicht nur philosophisch ihre Begründung im neuplatonischen Kosmoskonzept findet, sondern gleichzeitig pragmatisch in der gängigen rhetorischen Nachahmungsdoktrin verankert ist, die geradezu mit Nachdruck eingearbeitet scheint. Eben damit gewinnen die Saturnalia über die theologisch-philosophische oder auch die antiquarische Seite hinaus die Grundzüge einer Poetik.“). Der Vorwurf des Euangelus zielt in Sat. 1, 24 vordergründig also auf einen Mangel an doctrina , letztlich stellt er sich aber gegen die Auffassung des Praetextatus, dass in Vergils Werk eine allegorisch verschlüsselte Wahrheit vorhanden und erkennbar sei. Imitatio ist - so lässt sich die Auffassung des Euangelus an dieser Stelle zusammenfassen - nur dann zulässig, wenn das nachgeahmte Modell vom nachahmenden Dichter auch intellektuell bewältigt wurde und dann auch ganz der antiquarischen doctrina entspricht. 480 Auf die Frage nach der grundsätzlichen Berechtigung der allegorischen Lesart - und damit auf die Frage, ob man Vergil sapientia im Sinne der oben dargelegten Dichtungskonzeption zubilligen darf - geht Euangelus nicht ausdrücklich ein, er verlegt die Diskussion auf das Feld der doctrina . In Sat. 1, 24, 4 erhebt Euangelus einen vergleichbaren Vorwurf gegen Cicero, der mit seinem philosophischen Konzept vom Redner und dem Anspruch, auch selbst in beiden Eigenschaften - als Philosoph und Redner - wirksam zu sein, gescheitert sei, weil er durch seine „wirren“ philosophischen Einlassungen den Ruhm, den er sich als Redner erworben hatte, geschmälert hat ( … gloriam quam oratione conflavit incondita rerum relatione minuat ). - Die Rede von der incondita relatio zielt wieder auf die intellektuelle Bewältigung des aus den Quellen geschöpften Wissens (in diesem Fall philosophischer Lehrmeinungen u. a.). Im fertigen Werk zeigt sich dieser Mangel, weil beim Leser der Eindruck der Unordnung und des unreflektierten Nachsprechens entsteht. Auf die doctrina -Kritik an Vergil übertragen heißt das für Euangelus: Weil Vergils doctrina dem intellektuellen Anspruch der verwendeten Quellen nicht entspricht, kann der Dichter seine Vorbilder nicht eigentlich künstlerisch nachahmen, 480 Der Widerspruch, dass Euangelus Vergil hier wegen Nachahmung einer Modellstelle ohne entsprechende Kenntnisse kritisiert, in Sat. 5, 2, 1 hingegen gänzlich in Abrede stellt, dass Vergil auch nur die geringste Kenntnis griechischer Literatur ( vel levis Graecarum notitia litterarum ) besessen habe, bleibt freilich bestehen, es sei denn, man nimmt an, dass er sich in Sat. 1, 24, 3 bei in alterius poetae imitationem auf ein mögliches lateinisches Vorbild des Dichters bezieht. <?page no="164"?> sondern kommt über ungeschickte Übernahmen, die eben nicht virtuos und souverän in das organische Ganze seiner Werke eingefügt sind, nicht hinaus. Die Kritik an Vergils doctrina läuft also letztlich darauf hinaus, einzelne Stellen in seinem Werk als intellektuell unbewältigte Übernahmen aus anderen Werken zu beanstanden und damit implizit auch den von Praetextatus behaupteten Status Vergils als Dichter im Sinne eines der natura analogen Schöpfers zu hinterfragen. Damit ist zugleich eine fundamentale Infragestellung des Einheitscharakters der vergilischen „Schöpfung“ verbunden, der sich - wie man jetzt spezifizieren kann - zunächst einmal vor dem Kriterium der Sachrichtigkeit und den Maßstäben der doctrina zu bewähren hat. Erst wenn sich jeder Verdacht sachlicher Unstimmigkeit als haltlos erwiesen hat, kann man Vergils Werk Einheit und dem Dichter philosophische sapientia zuschreiben, wie sie Praetextatus mit seiner allegorischen Interpretation in den Augen des Euangelus vorschnell vorausgesetzt hatte. Der Nachweis über Vergils doctrina steht also im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ideal der Einheit: Die Vorträge an den Vormittagen des zweiten und dritten Festtages zielen darauf ab, dass Vergil in seinen Dichtungen keine heterogenen Agglomerate produziert, sondern jedes einzelne Modell in das jeweilige corpus integriert hat. Gerade die immer wieder betonten „verborgenen“ Kenntnisse Vergils, die sich dem Laien, der sich nur auf der Erzähloberfläche bewegt, nicht ohne weiteres enthüllen, sondern die Spezialisten unter den Lesern ansprechen, werden in diesem Sinne zu Indizien für eine gelungene Integration, über deren Herkunft nur der uneingeweihte Leser im Unklaren bleibt. 481 Im Folgenden wechselt die Diskussion von Sat. 1, 24 zur Frage nach der „richtigen“ Vergilrezeption im Horizont des doctrina -Kriteriums über. Auf den Vorwurf des Symmachus, er sei über ein schülerhaftes Verhältnis zu Vergil noch nicht hinaus, betont Euangelus in Sat. 1, 24, 6 seine Fähigkeit, vitia im Werk Vergils zu erkennen, im Umkehrschluss geradezu als Ausweis für ein gereiftes Verständnis des Dichters, das sich über das Niveau des Schulunterrichts und sein adulatorisches Verhältnis zu Vergil erhebe. Beide Kontrahenten bringen biographische Zeugnisse zum Beweis ihrer Auffassungen vor: Euangelus die Anekdote von Vergils testamentarischer Verfügung über die Verbrennung der Aeneis - ein Beweis für ihre Unvollkommenheit - ( Sat. 1, 24, 6; vgl. Gell. 17, 481 Vgl. die Darlegungen des Eustathius über die kaum merklichen Übernahmen Vergils aus griechischen Autoren in Sat. 5, 18, insbesondere die programmatische Einleitung in Sat. 5, 18, 1 ( ad illa venio quae de Graecarum litterarum penetralibus eruta nullis cognita sunt, nisi qui Graecam doctrinam diligenter hauserunt. fuit enim hic poeta ut scrupulose et anxie, ita dissimulanter et quasi clanculo doctus, ut multa transtulerit quae unde translata sint difficile sit cognitu .). Auch an dieser Stelle geht es also nicht in erster Linie um die sapientia , sondern um die doctrina Vergils. 164 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="165"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 165 10, 7 und VSD 39-41), Symmachus einen Abschnitt aus einem Brief Vergils an Augustus, in dem der Dichter über die Arbeitsbelastung im Zusammenhang mit den Spezialstudien für sein Epos klagt ( Sat. 1, 24, 11). 482 Simplifizierende Vergilkritik wird von Symmachus in den Bereich der bornierten litteratores ( Sat. 1, 24, 12) 483 verwiesen, also der Elementarschulmeister, die keinen Zugang zum „Innersten des heiligen Gedichts“ ( adyta sacri poematis ; Sat. 1, 24, 13) haben. Man kann die Vergilvorträge der Saturnalia , die in den folgenden Büchern die doctrina des Dichters demonstrieren sollen, als eine umfassende Bestätigung dieser von Symmachus vorgebrachten These auffassen. Auf seine Aufforderung hin wählen die anwesenden Gäste in Sat. 1, 24, 14-19 folgende Spezialgebiete für ihre Vorträge: Vormittag des 2. Festtages Vormittag des 3. Festtages Vettius Agorius Praetextatus Pontifikalrecht (16) Quintus Aurelius Symmachus rhetorische Glanzstücke (14) Virius Nicomachus Flavianus Auguralrecht (17) Eusebius Rhetorik (14) Eustathius Astrologie (18) Eustathius Übernahmen aus den Griechen (18) Eustathius Philosophie (18) Furius Albinus Übernahmen aus altlateinischen Autoren in versibus (19) Caecina Albinus Übernahmen aus altlateinischen Autoren in verbis (19) [ Avienus gelegentliche Bemerkungen (20)] [ Servius dunkle Stellen (20)] Der hier präsentierte Disziplinenkanon ist von beinahe enzyklopädischer Vielfalt, auch weil der Schluss des imitatio -Vortrags von Eustathius und das Wechselgespräch zwischen Avienus und Servius über unklare Stellen bei Vergil grundsätzlich für jedes antiquarische Problem, das sich im Zusammenhang 482 Der in Sat. 1, 24, 11 zitierte Brief wird von Deufert (2013), pass. als nachsuetonische Prosopopoiie erwiesen. 483 Im gleichen Satz ist vom grammaticus die Rede; Symmachus scheint hier also nicht zwischen den beiden untersten Stufen römischer Schulbildung zu differenzieren. <?page no="166"?> mit Vergils Schriften erläutern lässt, offen ist ( Sat. 5, 18-22 und Sat. 6, 7-9). Macrobius gliedert seinen Stoff, indem er die im engeren Sinne sachlichen Aspekte vergilischer doctrina auf den zweiten, die Themen Rhetorik und imitatio auctorum auf den dritten Festtag verteilt. 484 Damit deckt er im Wesentlichen diejenigen Bereiche, für die traditionell der grammaticus zuständig ist - Sprache und Sachen -, ab. 485 Das steht nur auf den ersten Blick im Widerspruch mit der Polemik des Symmachus gegen den Schulunterricht: Die Gespräche in den Saturnalia bleiben thematisch durchaus im Bereich der Grammatik, überschreiten das Niveau der litteratores - hier wohl mit den grammatici gleichzusetzen - aber durch die gründliche und umfängliche Art der Behandlung. Wenn man in der Engführung von allegorischer Methode mit grammatischantiquarischem Nachweis der überragenden doctrina Vergils, wie sie sich an dialogisch exponierter Stelle in Sat. 1, 24 vollzieht, einen selbstständigen programmatischen Betrag des Macrobius zur Dichtungskonzeption sehen konnte (s. o.), so gilt Gleiches weder für die bereits erwähnte Auratisierung des Gesprächsgegenstands Vergil zum quasi-göttlichen Dichter noch für die Disposition der Themen in den Vormittagsgesprächen des zweiten und dritten Festtages. Macrobius verfährt hier keineswegs originell, sondern lehnt sich an entsprechende Vorbilder aus der Homerrezeption an. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die erwähnte Gliederung nach Sach - und Sprach aspekten strukturell einer Schrift entspricht, der es ebenfalls um den Nachweis enzyklopädischen Wissens bei einem Dichter zu tun ist, nämlich der unter dem Namen Plutarchs überlieferten Schrift Περὶ Ὁμήρου. 486 Ps.-Plutarch gliedert seine Schrift (vgl. de Hom. B 6, 4 = 53-55 Kindstrand) in zwei Abschnitte, nämlich über Homers sprachliche πολυφωνία ( de Hom. B 6, 5-73 = 56-761 Kindstrand) und seine πολυμάθεια ( de Hom. B 74-217 = 762-2705 Kindstrand) in Sachfragen. Unter dem Thema der πολυφωνία werden Metrum, Dialekte, Archaismen, Tropen und Figuren sowie Stilarten abgehandelt. Die πολυμάθεια gliedert sich in drei Teilbereiche, die der Autor in einer „eigenwillige<n> Umbiegung der Begriffe 484 Vogt-Spira (2012), S. 163-164 schlägt statt der hier vertretenen Zweiteilung eine Gliederung in „ philosophus , rhetor und poeta “ vor, womit freilich die Tageseinteilung der Saturnalia und die strukturellen Bezüge zu De Homero (s. u.) etwas aus dem Blick geraten („… nach der Einführung des Hauptthemas im ersten Buch als philosophus in Buch 3, als rhetor in Buch 4 und 5.1, als poeta schließlich in den restlichen Kapiteln des fünften Buches und in Buch 6.“). 485 Vgl. Quint. inst. 1, 9, 1 ( … ratio loquendi et enarratio auctorum, quarum illam methodicen, hanc historicen vocant … ). - Zu den beiden griechischen Begriffen, die Quintilian hier verwendet, vgl. Colson (1924), S. 115-116 z. St. 486 Vgl. zum Folgenden Hillgruber (1994), S. 35-76; Datierung ins späte 2. Jhdt. n. Chr. auf S. 75-76. - Der Hinweis auf strukturelle Bezüge zur Schrift De Homero bereits bei Lausberg (1991), S. 184 (vgl. zustimmend auch Vogt-Spira [2012], S. 163-164 Anm 11). 166 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="167"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 167 ins Inhaltliche“ (Hillgruber [1998], S. 191) in de Hom. B 74, 1 = 762-764 Kindstrand mit den aus Cic. or. 180 bekannten Redetypen ἱστορικὸς λόγος (Gegenstand und Form der Erzählung), θεωρητικὸς λόγος (Physik, Ethik u. a.; die Kategorie wird in der vorangestellten Gliederung nicht eigens genannt, später aber ausgeführt), πολιτικὸς λόγος (Rhetorik, Recht, Staat, persönliche Verpflichtungen gegen Götter und Familie, Kriegswesen und Lebensalter) bezeichnet. In seiner Tendenz, Homers universales Wissen nachzuweisen, trifft sich Ps.- Plutarch mit der Grundaussage der Saturnalia . 487 Doch lassen sich, zumal bei der ersten Themengruppe der Saturnalia , auch nähere inhaltliche Übereinstimmungen feststellen: Die vier Vorträge des zweiten Festtages der Saturnalia behandeln nämlich gerade solche Gegenstände, die Ps.-Plutarch unter seinen zwei Hauptkategorien im Bereich der πολυμάθεια, dem θεωρητικὸς λόγος 488 - vgl. die Vorträge des Eustathius über Astrologie und Philosophie - und dem πολιτικὸς λόγος 489 - vgl. Praetextatus und Nicomachus Flavianus über Pontifikal- und Auguralrecht - thematisiert hatte. Die Analogien sind zu vage, um an dieser Stelle von einer direkten Benutzung der Schrift durch Macrobius auszugehen. Wahrscheinlicher dürfte es vielmehr sein, dass Macrobius in der Anlage seiner Vorträge - wenn auch in umgekehrter Reihenfolge - auf einen Gliederungstypus zurückgreift, der Homermonographien von der Art der Schrift Περὶ Ὁμήρου zugrunde gelegen hat, die grundsätzlich eine Unterteilung des Stoffes in einen sprachlichen und einen sachlichen Bereich vornahmen. 490 Der Hinweis auf De Homero führt aber noch einen Schritt weiter: Dieser Text steht, wie bereits erwähnt, in einer Tradition von Schriften, die auf den Nachweis abzielen, „verborgene“ Wissensbestände im Werk Homers aufzudecken und so den göttlichen Rang der homerischen Dichtung zu belegen. 491 Die Auffassung von Homer als Ursprung aller Bildung und folglich als Inbegriff der Weisheit lässt sich bis auf Xenophanes und Heraklit zurückverfolgen, und noch Platons gelegentliche Angriffe zeugen indirekt von der im Grunde unbestrittenen 487 Vgl. schon die Einschätzung Friedrich Schlegels (zit. bei Hillgruber [1994], S. 5). 488 Vgl. de Hom. B 92-160 = 944-1988 Kindstrand (Kosmos und Naturphänomene: de Hom. B 103-111 = 1063-1208 Kindstrand). 489 Vgl. de Hom. B 161-199 = 1989-2440 Kindstrand mit den Abschnitten über Staat, Recht, Sitten und Gebräuche in de Hom. B 175-191 = 2181-2366 Kindstrand. 490 Vgl. über die möglichen Quellen des anonymen Autors Hillgruber (1994), S. 1-5 (zur „Echtheitsfrage“; bes. S. 5) und S. 35-76 (zu „Aufbau und Quellen“), zumal die Zusammenfassung auf S. 71: „Wenn unsere Überlegungen richtig sind, bediente sich unser Autor zunächst einer poetischen Lehrschrift … In dieser Schrift fand er bereits eine Zweiteilung in einen sprachlichen (μέτρον, λέξις) und einen sachlichen Teil (ἱστορία, μῦθος) vor, die er zur Gliederung seiner eigenen Schrift verwendete.“ 491 Vgl. dazu den Überblick bei Hillgruber (1994), S. 5-35. <?page no="168"?> Geltung Homers als enzyklopädischer pädagogischer Instanz. 492 Mit seiner extensiven Verwendung im hellenistischen Schulunterricht 493 hängt es zusammen, dass er auch für die Vermittlung rhetorischer Kenntnisse in Anspruch genommen wurde. 494 Die enge Beziehung der entstehenden griechischen Philosophie, die sich immer wieder auf Homer als Anreger und Gewährsmann berief 495 , tat ihr Übriges, um den Dichter von Ilias und Odyssee in den Rang eines Weltweisen zu erheben: Gerade in diesem Bereich lässt sich schon früh die hermeneutische Methode der Allegorese nachweisen, mit deren Hilfe unter der Oberfläche der epischen Erzählung allgemeine Wahrheiten erschlossen wurden. 496 Zwar erhob sich gelegentlich Widerspruch gegen eine solche Vereinnahmung Homers - bezeugt etwa im Falle des Eratosthenes 497 -, doch waren dies nur vereinzelte Stimmen. Die Stoiker geben ein besonders gutes Beispiel für die Indienstnahme der Autorität Homers für die eigenen philosophischen Zwecke. 498 Es überrascht nicht, dass auch die Neuplatoniker - entgegen der bekannten reservierten Haltung Platons gegenüber der Dichtkunst - nicht auf die gewichtige Stimme Homers verzichten wollten. Wenn hier im Laufe der Zeit die Allegorese zum privilegierten und bald dominierenden Zugang bei der Homerlektüre avancierte, so bleibt die traditionelle Vorstellung von Homer als der Quelle allen Wissens die notwendige Voraussetzung eines derartigen Homerverständnisses. 499 Man kann davon ausgehen, dass Macrobius seinen Versuch, Dichterperson und Werk Vergils mit göttlicher Aura auszustatten, nicht nur vor dem Hintergrund, sondern in bewusster Adaption einer dominanten Strömung der Homerrezeption unternommen hat, und darin einen strategisch gelenkten Schritt zur Kanonisierung Vergils als alter Homerus sehen. In den charakterisierenden Bemerkungen, die Vergils besondere Qualitäten fokussieren, kommt dieses Moment immer wieder zum Tragen: Hinzuweisen ist insbesondere auf die bereits behandelte Grammatikerschelte des Symmachus in Sat. 1, 24, 12: nec his Vergilii verbis copia rerum dissonat, quam plerique omnes litteratores pedibus inlotis praetereunt, tamquam nihil ultra verborum explanationem liceat nosse grammatico. ita sibi belli isti homines certos scientiae fines et velut 492 Hillgruber (1994), S. 6-7 mit weiterer Literatur. 493 Hillgruber (1994), S. 10-11. 494 So bereits von den Sophisten; vgl. Hillgruber (1994), S. 13-14. 495 Hillgruber (1994), S. 11-12 und 16. 496 Hillgruber (1994), S. 16-18 über Diogenes von Apollonia (5. Jhd. v. Chr.) und S. 18-19 über die Anhänger Heraklits. 497 Hillgruber (1994), S. 21-23. 498 Hillgruber (1994), S. 23-31. 499 Grundlegend die beiden Studien von Lamberton (1986) und Bernard (1990), letzterer mit dem Versuch, die Allegorese der Neuplatoniker („dihairetische Allegorese“) von derjenigen der Stoiker („substitutive Allegorese“) zu scheiden. 168 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="169"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 169 quaedam pomeria et effata posuerunt, ultra quae si quis egredi audeat, introspexisse in aedem deae a qua mares absterrentur existimandus sit . Vgl. dazu Sat. 1, 16, 12 ( Maro omnium disciplinarum peritus ); Sat. 1, 24, 13 (Divinisierung der Aeneis : sacri poematis ) und Sat. 1, 24, 16 (wo Vergil von Praetextatus geradezu als pontifex maximus bezeichnet wird). - Dieses Bild lässt sich noch durch einige Stellen aus dem Kommentar zu Cicero Somnium Scipionis erweitern; vgl. somn. 1, 6, 44 ( Vergilius nullius disciplinae expers ); 1, 13, 12 ( doctissimus vates ); 1, 15, 12 ( Vergilius disciplinarum omnium peritissimus ) und 2, 8, 1 ( Vergilius quem nullius umquam disciplinae error involvit ). Wie bereits ausgeführt, tritt diese hohe Auffassung vom Dichter als kosmischallwissendem vates und von seinem Werk als geheimem „Tempel“ des Wissens an den programmatischen Stellen der Saturnalia deutlich zutage und wird von Praetextatus in Form der Allegorese dann auch praktisch umgesetzt ( Sat. 1, 16, 44). Den methodischen Grundcharakter, zumal in den Vorträgen des zweiten und dritten Festtages, bestimmen aber - soweit die erhaltenen Teile erkennen lassen - traditionelle antiquarisch-grammatische Einzelstellenerklärungen, die insgesamt ohne allegorische Ausdeutungen auskommen. Wie schon der anonyme Autor der Schrift Περὶ Ὁμήρου 500 konnte sich wohl auch Macrobius dabei auf eine ganze Reihe älterer Spezialabhandlungen stützen, die er aber selbstständig zu einem zusammenhängenden Lob des enzyklopädischen Dichters Vergil vereinigt hat. Servius liefert einen Hinweis zur Quellenfrage, wenn er - ganz im Sinne des Vergilbilds der Saturnalia - seinem Kommentar zum sechsten Buch der Aeneis folgende Bemerkung vorausschickt: Totus quidem Vergilius scientia plenus est, in qua hic liber possidet principatum, cuius ex Homero pars maior est. et dicuntur aliqua simpliciter, multa de historia, multa per altam scientiam philosophorum, theologorum, Aegyptiorum, adeo ut plerique de his singulis huius libri integris scripserint pragmatias (Serv. praef. ad Aen. 6 = II 1, 1-5 Thilo-Hagen). Die Vorstellung von der Fülle des - zumal in der Aeneis - verborgenen Wissens hatte demnach ihren Niederschlag in einer Reihe von Monographien ( pragmatiae ) 501 gefunden. Servius denkt an dieser Stelle an allegorische Erklärungsschriften; für Macrobius kommen aus den erwähnten Gründen eher antiquarisch-grammatische Monographien in Frage. Originell ist die Behandlung bei Macrobius durch die Verknüpfung des Gedankens vom allwissenden - d. h. die „Welt“ und damit auch die doctrina souverän überblickenden - poeta mit dem grundlegenden poetologischen Theorem vom Dichter als einem der natura analogen Schöpfer, wodurch die langen Erörte- 500 Vgl. zur Quellenfrage Hillgruber (1994), S. 35-76. 501 Als Buchtitel wurde der griechische Terminus pragmatia schon von Furius gebraucht; vgl. Henriksson (1956), S. 39-41. <?page no="170"?> rungen über die vergilische doctrina ihre besondere argumentative Funktion bekommen. 502 Dem Konzept der Schöpfung durch einen der natura prinzipiell gleichgestellten Dichter steht das rhetorische Konzept der imitatio auctorum bei Macrobius nicht grundsätzlich entgegen - sonst könnte er nicht einerseits Vergil als Quelle aller Weisheit und entsprechend als Objekt allegorischer Exegese präsentieren, andererseits soviel Mühe darauf verwenden, Vergils künstlerische Abhängigkeit von Homer und anderen griechischen und lateinischen Autoren synkritisch zu erweisen. Die beiden Auffassungen treten bei Macrobius in ein komplementäres Verhältnis. Der Nachweis, dass sich Vergil auf der Höhe der griechischen Literatur und Wissenschaft befindet und er die darin niedergelegten Kenntnisse so beherrscht hat, dass er sie organisch in sein Werk einfügen konnte, setzt den allegorischen Zugang, den Euangelus in Sat. 1, 24 an der Vergilinterpretation des Praetextatus kritisiert hatte, nachträglich wieder ins Recht. Die vermeintlichen sachlichen Widersprüche lösen sich bei genauerer Betrachtung auf und Vergil beweist auf den verschiedensten Gebieten enzyklopädische Kenntnisse ( doctrina ). Nachdem dieser Einwand also ausgeräumt ist, könnte man Vergil - wie durch Praetextatus mit seiner allegorischen Interpretation anfangs ohne weitere Begründung geschehen - sapientia zuschreiben und eine tiefere Wahrheit in den Gedichten suchen. Das geschieht in den Saturnalia freilich nicht; sie beschränken sich mit ihren Sach- und Spracherörterungen auf den ersten Schritt - was sich nicht zuletzt aus der in der Vorrede formulierten grammatisch-rhetorischen Zielsetzung des Werks ergibt, zu der umfängliche allegorische Interpretationen kaum gepasst hätten. Die engen Homerbezüge lassen sich auf Grundlage dieser Argumentation und vor der Folie des neuplatonischen Homerverständnisses als Indizien für eine „Strukturähnlichkeit“ zwischen beiden Dichtern verstehen: Der Nachweis seiner literarischen Abhängigkeit von Homer setzt Vergils Rang als quasi-natürlicher Schöpfer nicht herab, sondern beweist mit dem Hinweis auf die Art dieser Abhängigkeit - nämlich die Souveränität, mit der die Modelle ins neue Werk integriert werden - grundsätzlich die Gleichrangigkeit beider Dichter. 502 Soweit wir wissen, hat es vor Macrobius keinen Versuch mit vergleichbar systematischem Anspruch gegeben. Die Annahme einer neuplatonischen quaestiones -Schrift, wie sie Norden (1957), S. 26 Anm. 2 mit dem Namen des Marius Victorinus verknüpft und auch für Macrobius als Quelle geltend gemacht hatte, bewegt sich ganz im Bereich des Spekulativen; vgl. auch Flamant (1977), S. 579-580. 170 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="171"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 171 5.1.2 Inszenierte Philologie in den grammatischen Vorträgen von Sat. 5, 2 - 6, 9 Vergils doctrina ist also Gegenstand der Vormittagsgespräche des zweiten und dritten Tages der Saturnalia . Der zeitlichen Aufteilung entspricht eine thematische: Am zweiten Festtag stehen sachliche - nämlich astrologische bzw. philosophische (Eustathius) sowie augural- und pontifikalrechtliche (Flavianus und Praetextatus) - Themen im Zentrum, während in den drei Vorträgen des dritten Tages v. a. formale Sachverhalte erörtert werden: Symmachus und Eusebius sprechen über Rhetorik, Pathos und Stil, während Eustathius Vergils Verhältnis zur griechischen Literatur, die beiden Albini und Servius das zu den altlateinischen Dichtern erörtern, wobei sich mit dem Thema imitatio besonders in den Schlusspartien der Vorträge jeweils auch inhaltliche (z. B. antiquarische) Fragestellungen verbinden. Die Aufteilung auf die verschiedenen Sprecher dient dabei nicht allein der Abwechslung und Strukturierung des Gesprächsablaufs. Der Abschnitt am Abend des ersten Festtages, wo man sich auf die Kritik des Euangelus hin auf Vergil als Gegenstand der nachfolgenden Gespräche einigt und jeder der Anwesenden sich sein Thema entsprechend den eigenen Fähigkeiten und Kenntnissen wählt ( Sat. 1, 24, 14-21), führt szenisch vor, dass die zur Erläuterung gebrachte doctrina Vergils in den Saturnalia eng an die Sachkompetenz der auftretenden Personen gebunden ist. Macrobius zeigt in dieser Szene, dass die verschiedenen Sprecher - bei allen vorausgeschickten Bekundungen ihrer Bescheidenheit 503 - als ideale Spezialisten für ihr jeweiliges Fachgebiet aufgefasst werden sollen. Dazu kommt, dass Macrobius, indem er ein Symposium als literarische Form seiner grammatisch-rhetorischen Didaxe wählt, seine Spezialisten in einen fest ritualisierten sozialen Rahmen stellt, der ihre jeweiligen Charaktere mit bestimmten, von der Gattung vorgeprägten Rollenerwartungen verknüpft. 504 Nicht nur das Wissen der Gäste, sondern auch ihr Verhalten rückt damit ins Zentrum der Darstellung. Man hat die besondere didaktische Struktur, durch die sich die inszenierte Instruktion der Saturnalia von den herkömmlichen Formen der pädagogischer Fachprosa unterscheidet, mit dem Begriff des Modelllernens zusammengebracht. 505 Macrobius unterrichte seinen Adressaten demnach nicht nur direkt, indem er bildungsrelevante Inhalte durch das auftretende Personal vortragen lässt, sondern er weist der Interaktion zwischen den auftretenden Figuren selbst 503 Vgl. etwa Sat. 1, 24, 16 ( si tantae dissertationi sermo non cesserit ). 504 Vgl. zuletzt umfassend Goldlust (2012), S. 177-244. 505 Vgl. Dorfbauer (2009), pass. , bes. S. 283 mit einer anonymen theoretischen Stellungnahme eines Neuplatonikers zur didaktischen Wirkungsweise der platonischen Dialoge. <?page no="172"?> eine bildende Funktion zu. Macrobius’ Sohn Eustathius sollen im sozialen Miteinander der Figuren Modelle für das eigene Verhalten an die Hand gegeben werden. 506 Bildung wird dabei als ein umfassender Prozess der Inkulturation verstanden, in dem habituelle Verhaltensweisen des Umgangs unter Gebildeten ebenso zum Programm gehören wie Sachkenntnisse im engeren Sinne. Im Zusammenhang dieser Untersuchung interessiert ein besonderer Teilaspekt dieses Gedankens: Die Verhaltensweisen, die durch die auftretenden Figuren exemplifiziert werden, umfassen nämlich nicht nur den Bereich des sozialen Miteinanders, sondern schließen auch gelehrte Praktiken und philologische Methoden mit ein. Die Sprecher stehen auch für bestimmte, z. T. kontrastierende Zugänge zur Literatur, die neben der eigentlichen Sachinformation eine wichtige Dimension des Textes ausmachen und daher im Folgenden kurz umrissen werden sollen. Das fünfte und sechste Buch der Saturnalia bilden zusammen nicht nur ein im Thema, sondern auch in Aufbau und Struktur wechselseitig aufeinander bezogenes Buchpaar. 507 Das gilt auch für die auftretenden Grammatiker: Sie stehen auch für verschiedene Typen des Gelehrten, die erst in ihrer Summe ein Bild von der Vielgestalt möglicher Zugänge zur Literatur vermitteln. Im Folgenden werden daher auch die Hauptsprecher des sechsten Buches - Rufius und Caecina Albinus, Avienus und Servius - in die Betrachtung einbezogen, da sie ergänzend bzw. kontrastierend zur Charakterisierung der Protagonisten des fünften Buches - Euangelus und Eustathius 508 - beitragen. Den Hauptteil des heute das fünfte Buch bildenden Abschnitts der Saturnalia stellen die Ausführungen des Eustathius über Vergils Kenntnisse auf dem Gebiet der griechischen Literatur dar ( Sat. 5, 2, 4-22, 15). Ihr geht ein zwar kurzer, methodisch jedoch relevanter Abschnitt voraus: 509 Euangelus 510 - provoziert durch die Behauptung des Eusebius in Sat. 5, 1, 20, Vergil vereine in sich die Stile der 506 Dorfbauer (2009) exemplifiziert seine These vom „Lernen am Modell“ in den Saturnalia anhand der Figuren Euangelus (S. 284-288) und Avienus (S. 288-294). 507 Vgl. → Kap. 5.1.3.1. 508 Eusebius, der in Sat. 5, 1 über Vergils Stilvielfalt referiert, schließt mit diesem Thema an seine eigenen rhetorischen Erörterungen im vierten Buch und an das heute verlorene rhetorische Referat des Symmachus an; er kann daher in unserem Zusammenhang vernachlässigt werden. Vgl. auch Dorfbauer (2010), S. 59-60, der aus Überlieferungsgründen zu dem Schluss kommt, dass die drei Hauptteile, die heute Buch 4-6 bilden - Rhetorik, griechische und altlateinische Literaturkenntnisse Vergils -, ursprünglich zusammen das vorletzte fünfte Buch der Saturnalia bildeten (→ Kap. 5.1.1). 509 Vgl. dazu auch → Kap. 5.1.3.1. 510 Zu ihm vgl. zuletzt Goldlust (2012), S. 231-232. - Die Frage, ob es sich bei der Figur des Euangelus um den Vertreter des Christentums gegen den paganen Traditionalismus des Symmachuskreises handelt, ist negativ zu beantworten; verwiesen sei dazu auf den 172 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="173"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 173 zehn attischen Redner - spricht in Sat. 5, 2, 1 dem „Mantuaner Bauernsohn“ 511 Vergil jegliche Kenntnis der griechischen Sprache und Literatur ab: unde … < scil. Vergilio > vel levis Graecarum notitia litterarum? In der Antwort des Eustathius ( Sat. 5, 2, 2) fällt das Stichwort doctrina , die Euangelus bei Vergil vermisst und mit der der Kern seines Vorwurfs zusammengefasst ist. Was für die Gesamtheit der Vergilvorträge in den Saturnalia gilt, wird hier also speziell auf das Thema der imitatio Graecorum bezogen: Der Hinweis auf die Herkunft und die daraus abgeleitete Infragestellung von Vergils Bildung hat die klärende Erörterung durch den Spezialisten zur Folge. 512 An anderer, bereits erwähnter Stelle (→ Kap. 5.1.1) wird die besondere kritische Stoßrichtung des Euangelus deutlicher: In der programmatischen Schlussszene des ersten Buches ( Sat. 1, 24), in der die Gäste das Thema für die Unterhaltungen der nächsten Tage festlegen, fällt Euangelus ja die Rolle zu, durch einige provokante Thesen das Gespräch auf Vergil zu bringen. Auch hier argumentiert er biographisch: Vergil hätte sich der Fehler in seiner Aeneis so geschämt, dass er anstelle einer Veröffentlichung des Werks testamentarisch seine Verbrennung angeordnet hätte. Dann fügt er erläuternd hinzu: nec inmerito. erubuit quippe de se futura iudicia, si legeretur petitio deae precantis filio arma a marito cui soli nupserat nec ex eo prolem suscepisse se noverat, vel si mille alia multum pudenda seu in verbis modo Graecis modo barbaris seu in ipsa dispositione operis deprehenderentur. ( Sat. 1, 24, 7) Das Tableau der angesprochenen kritischen Einwände wird unter das Stichwort vitia gestellt. Damit greift Euangelus einen zentralen Terminus aus der frühen Vergilkritik auf. 513 Wie aus den aufgeführten Punkten hervorgeht, fasst Euangelus unter dem Begriff vitium Verstöße im Bereich der nichtlateinischen verba und des Erzählaufbaus, also der οἰκονομία (~ dispositio operis ). Das einzige konkrete Beispiel, auf das er an dieser Stelle verweist, deutet aber noch in eine andere Richtung: Euangelus kritisiert Vergils Darstellung im achten Buch der Aeneis , wo Venus ihren Gatten Vulcanus - von dem sie bekanntlich kein Kind empfangen hat - um die Waffen für ihren und Anchises’ Sohn Aeneas bittet ( Aen. 8, 370-386). Die Stelle wurde von den Vergilphilologen wegen des nur deutungsgeschichtlichen Überblick bei Dorfbauer (2009), S. 279-281 und auf Goldlust (2012), S. 231. 511 Vgl. Sat. 5, 2, 1 ( … a rure Mantuano poetam … Veneto rusticis parentibus nato, inter silvas et frutices educto … ). 512 Vgl. zum Aufbau und Gedankengang auch → Kap. 5.1.3. - Dass schon die - heute verlorenen - Darlegungen, die Eustathius am Vortag über die Astrologie- und Philosophiekenntnisse Vergils gemacht hat, diesen Vorwurf hätten widerlegen müssen, wird von Eustathius nur im Vorbeigehen angedeutet ( Sat. 5, 2, 2). 513 Vgl. → Kap. 2.1. <?page no="174"?> angedeuteten Liebesaktes der beiden Götter gelobt, von Cornutus hingegen wegen der Doppeldeutigkeit von membra ( Aen. 8, 406) - ein Verstoß gegen das πρεπόν bei Götterhandlungen - getadelt. 514 Die Kritik des Euangelus richtet sich hingegen auf die Kategorie der psychologischen Glaubwürdigkeit (πιθανότης): Für Euangelus ist die Forderung der Göttin deshalb zu beanstanden, weil sie ja wusste ( noverat ), dass sie kein gemeinsames Kind mit Vulcanus hatte, und sich dennoch bei ihrer Bitte um Waffen für den Sohn Erfolg versprach. Es wirkt also unglaubwürdig, wenn Venus sich an ihren Ehemann wendet. Schamauslösend war für Vergil demnach ein formaler Mangel, nämlich eine Inkonsequenz in Figurenzeichnung und Handlungsführung. Damit ergeben sich in Sat. 1, 24, 7 mit den Bereichen πιθανότης, λέξις und οἰκονομία drei traditionelle, aus der Homerkritik bekannte Angriffspunkte, die Euangelus gegen Vergil vorbringt. 515 - Auf die anderen Abschnitte in den Saturnalia , in denen sich Euangelus kritisch zu Wort meldet, wird im Zusammenhang mit Avienus und Servius noch zurückzukommen sein. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass sich Euangelus sowohl mit seiner doctrina -Kritik in Sat. 5, 2, 1 als auch mit den drei in Sat. 1, 24, 7 gegen Vergil erhobenen Vorwürfen als traditioneller Kritiker im Stile der frühen Homer- und Vergiltadler präsentiert. Der Hauptsprecher des fünften Buches, Eustathius , tritt schon in der Frage- Antwort-Szene von Sat. 5, 2 in ein kontrastives Verhältnis zum Spötter und Kritiker Euangelus. Wer war Eustathius? Man nimmt heute an, dass der in den Saturnalia unter diesem Namen auftretende Sprecher 516 (= PLRE I 311 s. v. „Eustathius [5]“) mit Eustathius von Kappadokien, dem bei Eunap. vitae soph. 6, 4, 6-10, 3 genannten Neuplatoniker und Schüler des Jamblich (= PLRE I 310 s. v. „Eustathius [1]“), zu identifizieren ist: Damit bezöge sich die einleitende Feststellung des Macrobius, dass er es bei der Chronologie des Personals seiner Saturnalia nicht sehr genau genommen hätte ( Sat. 1, 1, 5-6), nicht nur auf Avienus und Servius, sondern auch auf Eustathius. 517 514 Vgl. Gell. 9, 10. - (D)Serv. ad Aen. 8, 272 = II 255, 14-256, 5 Thilo-Hagen beantwortet hingegen dieselbe quaestio , die auch Euangelus bei Macrobius aufwirft. 515 Vgl. → Kap. 2.1. 516 Der Name, den Macrobius seinem Sohn - und Widmungsempfänger der Saturnalia - gibt ( Fl. Macrobius Plotinus Eustathius ) ist als Reverenz vor zwei namhaften Neuplatonikern gemeint; vgl. Schmidt (2008), S. 77. 517 Vgl. Schmidt (2008), S. 54-56 (über die „drei anachronistische[n] Zeitebenen in der Besetzung der Saturnalien “) und 77: Macrobius nimmt sich in Sat. 1, 1, 5 ausdrücklich nur die Lizenz heraus, Personen einzuführen, die nach dem fiktiven Datum des Dialogs ihre matura aetas erreicht hätten. Die angeführten Platonbeispiele weisen freilich in eine andere Richtung: Das Protagorasbeispiel in Sat. 1, 1, 6 lässt den Schluss zu, dass er auch das Auftreten von Personen, die zum fiktiven Zeitpunkt des Dialogs bereits verstorben sind, unter die erlaubten Unstimmigkeiten rechnet. Genau das wäre bei dem 382 bereits 174 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="175"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 175 Seine in Sat. 1, 5, 13-16 gegebene Charakteristik ist ganz aus Gell. 6, 14, 8-10 geschöpft: 518 Eustathius vereint demnach die ingenia der drei Philosophen Karneades, Diogenes und Kritolaos, die im Jahr 155 v. Chr. als Gesandte nach Rom gekommen waren, um für ihre Heimatstadt Athen in einer Strafangelegenheit als Redner einzutreten. Macrobius betont zunächst weniger die Unterschiede in der Lehrmeinung - Karneades war Akademiker, Diogenes Stoiker, Kritolaos Peripatetiker -, sondern in der stilistischen Qualität der gehaltenen Vorträge (Karneades: facundia violenta et rapida ; Kritolaos: scita et teres ; Diogenes: modesta et sobria ). Dann jedoch bezieht er auch ihre philosophischen Haltungen auf seine Figur: Eustathius unterscheide sich nämlich von den genannten Philosophen, weil er sich einerseits nicht auf eine bestimmte philosophische Schule beschränke, andererseits auch das Lateinische so gut beherrsche, dass er - anders als die genannten Philosophen - keinen Übersetzer benötigt. Die spärlichen Informationen über den realen Eustathius von Kappadokien geben für die Interpretation der Figur in den Saturnalia wenig her. 519 Macrobius entwickelt den Charakter seiner Eustathiusfigur entsprechend der schon beim Vergleich mit der Philosophengesandtschaft ins Spiel gebrachten Doppelkompetenz als Philosoph und als Kenner von Grammatik und Rhetorik. Philosoph ist Eustathius am zweiten Festvormittag, wo er einen - nicht mehr erhaltenen - Vortrag über die astrologische und philosophische doctrina Vergils hält, Grammatiker am dritten Vormittag mit seinem ausführlichen Referat über Vergils Beschlagenheit in der griechischen Literatur ( Sat. 5, 2-22). Die anderen Stellen, an denen Eustathius in den Saturnalia in Erscheinung tritt, bestätigen diese Doppelrolle und fügen ihr einige weitere Charakterzüge hinzu. So tritt Eustathius in Sat. 7, 1-3 ganz als Philosoph auf, wenn er seine Meinung über die Rolle der Philosophie bei Tischgesprächen kundtut. Zu zwei Teilnehmern der Saturnalia - neben Euangelus noch zum Arzt Dysarius - tritt Eustathius in ein kontrastiv gezeichnetes Verhältnis, jeweils mit einem anderen Akzent. Dysarius ( PLRE I 275) begegnet er in der Rolle des Philosophen zwar unerbittlich in der Auseinandersetzung um die Sache, zollt dem Arzt aber gleichzeitig persönlichen Respekt: verstorbenen Eustathius von Kappadokien der Fall. - Gegen eine Identifikation sprach sich Flamant (1977), S. 68 aus. Vgl. auch Bréchet (2009), pass. , der in Eustathius eine Verkörperung Plutarchs sieht (dazu Goldlust [2012], S. 227-228). 518 Schmidt (2008), S. 77. 519 Vgl. zusammenfassend Schmidt (2008), S. 77-78: „Es kam ihm offenbar nur darauf an, die Philosophie durch einen berühmten Griechen vertreten zu lassen und damit die griechische Triade Eustathius, Eusebius und Dysarius eindrucksvoll zu arrondieren. … Als Philosoph einer bestimmten Schule wird er jedenfalls kaum konturiert … Eustathius tritt … mehr wie ein Philosophieprofessor denn als ein Überzeugungsdenker auf …“ <?page no="176"?> Eustathius stellt die naturkundlich-medizinischen Ausführungen des Dysarius an zwei Stellen richtig; vgl. Sat. 7, 13, 19-20 mit 21-27 und Sat. 7, 14, 2-4 mit 5-23. Dysarius antwortet mit dem Hinweis auf die Kritik des Arztes Erasistratos an Platon ( Sat. 7, 15, 1-8) - ein Bild für sein Verhältnis zu Eustathius -, was der Angesprochene zwar verärgert aufnimmt, aber zum Anlass für eine Verteidigung der Philosophie nimmt ( Sat. 7, 15, 14-24). - In Sat. 7, 5, 4 veranlasst Symmachus Eustathius zu einer Replik auf Dysarius, der zuvor der Mäßigkeit beim Essen das Wort geredet hat, im Stile der Rhetorenschulen. Eustathius tut dies nur unwillig, weil er sich selbst für einen Anhänger der Mäßigkeit hält ( Sat. 7, 5, 5). Abschließend wird er von seinem Kontrahenten Dysarius als Dialektiker bezeichnet ( Sat. 7, 5, 33). Im siebten Buch wird Eustathius demnach als stets streitbarer und diskussionsfreudiger Vertreter seiner Disziplinen gezeichnet, was noch deutlicher wird, wenn man das Verhalten des Euangelus ihm gegenüber vergleicht: In Sat. 7, 9, 26-27 werden Euangelus und Eustathius direkt kontrastiert: Euangelus meldet sich nach einem längeren Vortrag des Dysarius zu Wort und schneidet damit Eustathius die Möglichkeit ab, eine Frage zu stellen. Als Eustathius schließlich zum Zug kommt, übergibt er das Wort bescheiden an Eusebius. - In Sat. 7, 16, 19 heizt Euangelus die Auseinandersetzung zwischen Dysarius und Eustathius ungeniert an, woraufhin Eustathius seine Darlegungen mit einer respektvollen Wendung an den Arzt beginnt, womit noch einmal der Unterschied in seinem Verhältnis zu Euangelus und Dysarius zum Ausdruck kommt. Doch auch schon zuvor wurden Euangelus und Eustathius als Antagonisten präsentiert: In Sat. 2, 8, 5-15 interveniert der Grieche gegen Euangelus, der mit dem Hinweis auf Platon zum Weingenuss aufruft, indem er ihm ein Missverständnis einer diesbezüglichen Platonstelle nachweist und außerdem noch entsprechende Äußerungen von Aristoteles, Sokrates und Hippokrates zitiert. - Auch die Ausführungen des Eustathius über Vergils Kenntnisse der griechischen Literatur sind, wie bereits ausgeführt, im Ganzen eine Replik gegen Euangelus, der dem Dichter mangelnde doctrina vorgeworfen hatte, resultieren also ebenfalls aus dem antagonistischen Verhältnis der beiden Sprecher (s. o.). Macrobius markiert die problematische Beziehung zwischen Eustathius und Euangelus noch deutlicher, wenn er kontrastiv zu dem provokanten interlocutor Euangelus den zurückhaltenden und stets ohne böse Absicht, nur aus Wissensdurst fragenden Avienus auftreten lässt: Deutlich wird dies insbesondere in Sat. 6, 7, 1-2, wo Avienus dem Experten Eustathius die Frage, die ihm bei den Ausführungen des Servius gekommen ist, in seiner 176 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="177"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 177 Bescheidenheit nur ins Ohr zu flüstern traut. Ein ähnliches Verhalten zeigt Avienus in Sat. 7, 2, 1 und 7, 3, 1, wo er jeweils als Stichwortgeber für die Ausführungen des Eustathius fungiert. Wenn hingegen in Sat. 7, 5, 2 - also in einer Überleitungspartie und somit an strukturell vergleichbarer Position - Euangelus eine längere Einlassung des Eustathius provoziert, so wird der Unterschied der beiden gegensätzlichen Charaktere deutlich: Auf der einen Seite der wissbegierige Avienus, der schüchtern um weitere Belehrung bittet, auf der anderen Seite Euangelus, der seine Fragen nur um der Provokation oder allenfalls um des Vergnügens an einer heftigen gelehrten Auseinandersetzung willen stellt. Im längsten zusammenhängenden Textabschnitt, der den griechischen Philosophen ins Zentrum stellt - die Darlegungen über Vergils Kenntnis der griechischen Literatur ( Sat. 5, 2-22) -, zollt Eustathius beiden Dichtern, Vergil und Homer, gleichermaßen seinen Respekt: 520 So bei dem Hinweis, dass nicht einmal die besten griechischen Dichter Vergil hinsichtlich der doctrina erreichen können; vgl. Sat. 5, 2, 2 ( cave … Graecorum quemquam vel de summis auctoribus tantam Graecae doctrinae hausisse copiam credas, quantam sollertia Maronis vel adsecuta est vel in suo opere digessit ). - Vergils Gelehrsamkeit steht für Eustathius außer Frage; vgl. Sat. 5, 18, 1 ( fuit enim hic poeta ut scrupulose et anxie, ita dissimulanter et quasi clanculo doctus, ut multa transtulerit quae unde translata sint difficile sit cognitu ); Sat. 5, 18, 9 ( … doctissime … ); Sat. 5, 18, 21 ( est enim ingens ei cum Graecarum tragoediarum scriptoribus familiaritas ); Sat. 5, 22, 5 ( … Vergilium de nimia doctrina hoc nomen … transtulisse ); Sat. 5, 22, 12 ( doctissimum vatem ). Sie paart sich mit Sorgfalt ( Sat. 5, 18, 18: diligentissime verba Euripidis a Marone servata ) und peinlicher Genauigkeit ( Sat. 5, 18, 21: vir tam anxie doctus ). - Homers umfassendes Wissen wird im Gegenzug nicht eigens bewiesen, sondern steht für Eustathius von vornherein fest. Als besonderes Charakteristikum der homerischen Kunst werden simplicitas , praesentia orationis , tacita maiestas (alle Sat. 5, 13, 40; vgl. auch Sat. 5, 15, 16) und gravitas ( Sat. 5, 15, 1) genannt. Dieser altertümlichen Einfachheit stellt Eustathius nicht wie eigentlich zu erwarten Vergils Modernität oder höhere Kunstfertigkeit gegenüber, sondern macht ihn auch im Altertümlichen zu einem Nachahmer Homers (vgl. z. B. Sat. 5, 14, 1-5). Dem Beweisziel seiner Ausführungen - also dem Nachweis griechischer doctrina im Werk Vergils - entsprechend, stellt Eustathius Vergils Kunst der imitatio 520 Auch in seinen Äußerungen über sich selbst und seine Fähigkeiten äußern sich der Respekt und die persönliche Bescheidenheit des Eustathius, was ihn mit dem Grammatiker Servius verbindet, dessen zentrale Eigenschaft nach Sat. 1, 2, 5 in doctrina mirabilis und amabilis verecundia bestehen (vgl. etwa Sat. 5, 3, 1: … licet omnes [ scil. versus ] praesens memoria non suggerat … ). <?page no="178"?> in ein ungetrübtes Licht, klammert also auch den traditionellen Plagiatsvorwurf weitgehend aus. 521 Für Eustathius besteht - ganz im Sinne der einleitenden Feststellung intentio Vergilii haec est, Homerum imitari … im Kommentar des Servius (I 4, 10 Thilo-Hagen) - die Absicht Vergils darin, Homer in allen Teilen seines Werks zu imitieren: … quod in omni operis sui parte alicuius Homerici loci imitationem volebat inserere, nec tamen humanis viribus illam divinitatem ubique poterat aequare … ( Sat. 5, 13, 33; auf Homer als Modellautor für alle drei Hauptwerke Vergils weist Eustathius in Sat. 5, 16, 5 hin). Gelegentliche Schwächen sind bei einer so intensiven Fixierung auf ein Modell unvermeidlich ( Sat. 5, 13, 40). Gelegentlich wird der Anschluss Vergils an sein Modell mit quasireligiösen bzw. philosophischen Begriffen umschrieben: In Sat. 5, 16, 8 - Thema ist Fortuna, die Vergil ohne homerisches Vorbild auftreten lässt - wird das Fehlen eines direkten Modells bei Homer als „Abfall von einer (philosophischen) Schule“ bezeichnet ( in nonnullis ab Homerica secta haud scio casune an sponte desciscit ). - Eustathius verwendet folgende Metaphern, um Nachahmungsvorgänge zu beschreiben: • Körpermetapher ( Sat. 5, 2, 2: … non parva sunt alia quae traxit a Graecis et carmini suo tamquam illic nata conseruit ; Sat. 5, 13, 30: his praetermissis, quae animam parabolae dabant, velut exanimum in Latinis versibus corpus remansit ) • Webereimetapher ( Sat. 5, 2, 8: quod totum Homericis filis texuit ) • Spiegelbildmetapher ( Sat. 5, 2, 13: Quid quod et omne opus Vergilianum velut de quodam Homerici operis speculo formatum est? … Dido refert speciem regis Alcinoi … ) 522 • Metapher von der Entzündung durch einen Funken ( Sat. 5, 11, 22: … accepto brevi semine de Homerico flagro … ) • Weinlesemetapher ( Sat. 5, 17, 4 … non de unius racemis vindemiam sibi fecit, sed bene in rem suam vertit quidquid ubicumque invenit imitandum ) Das Fehlen der Plagiatsthematik fällt in den Eustathiusreferaten des fünften Buches der Saturnalia - sieht man von Sat. 5, 16, 12-14 ab - besonders ins Auge, waren doch gerade die Entlehnungen Vergils aus Homer ein Hauptgegenstand 521 Vgl. aber → Kap. 5.2. 2. 10. - Im Zusammenhang mit Homer wird die Plagiatsthematik sonst nur von Avienus ins Spiel gebracht, der in Sat. 5, 3, 16 den von der Apologie des Asconius Pedianus herrührenden Vergleich mit dem Diebstahl des Jupiterblitzes bzw. der Herkuleskeule referiert ( VSD 46; vgl. auch Sat. 5, 3, 16: hic opportune [! ] in opus suum quae prior vates dixerat transferendo fecit ut sua esse credantur ). - Nur im Sinne der variatio und ohne Plagiatsvorwurf ist die Wortwahl an folgenden Stellen getroffen: Sat. 5, 17, 7 ( subtraxit ), Sat. 5, 22, 1 ( mutuatur ), Sat. 5, 22, 12 ( mutuatum ). 522 Zur Spiegelmetapher und zu ihrer platonischen Vorgeschichte in Sat. 5, 2, 13 vgl. Vogt- Spira (2012), S. 170-171. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass Macrobius die Plagiatsgefahr im Falle der griechischen Modelle nicht ausdrücklich thematisiert, sondern bezeichnenderweise erst am Beginn von Buch 6 erörtert (s. u.). 178 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="179"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 179 der Vergilkritik schon zu Lebzeiten des Dichters ( VSD 46). 523 Es ist daher besonders auffallend, dass der sich unmittelbar anschließende Referent, Rufius 524 Albinus, seine Ausführungen mit einer ausführlichen Zurückweisung des Plagiatsvorwurfs gegen Vergil einleitet ( Sat. 6, 1, 2-6). Die beiden Albini , von denen die zwei ersten Vorträge im sechsten Buch gehalten werden, sind Vertreter der römischen Aristokratie. 525 Es handelt sich wohl um Brüder, obwohl Macrobius diesen Umstand in den erhaltenen Partien der Saturnalia nicht erwähnt. 526 Beide hatten hohe Ämter in der römischen Provinz- und Stadtverwaltung inne und werden in den Saturnalia als Experten für römische Altertümer präsentiert. 527 Diese antiquarischen Kenntnisse über das frühe Rom qualifizieren die beiden auch für ihre Ausführungen über Vergils Anleihen aus altlateinischen Dichtern (Rufius Albinus; Sat. 6, 1, 7-3, 9) bzw. über Archaismen in Vergils Sprache (Caecina Albinus; Sat. 6, 4-5), die auf den Nachweis altlateinischer doctrina bei Vergil vorbereiten sollen, den Servius im Wechselgespräch mit Avienus in Sat. 6, 7-9 führt. Diese drei Bereiche folgen eindeutig den Themen und ihrer Abfolge in den Darlegungen des Eustathius im fünften Buch. Ein Unterschied liegt nun aber darin, dass Vergils Kenntnisse der altlateinischen Literatur, anders als im fünften Buch der Fall (vgl. Euangelus in Sat. 5, 2, 1), nicht durch einen Gesprächsteilnehmer in Frage gestellt werden. Buch 6 schließt sich trotz der strukturellen Entsprechungen bei näherer Betrachtung also nur locker an das Eustathiusreferat an; es geht einer analogen Fragestellung nach, ohne wie bei Eustathius einen konkreten Vorwurf widerlegen zu wollen. Daraus ergibt sich auch die Lösung für die Frage nach dem fehlenden Plagiatsvorwurf im fünften Buch: Weil Eustathius die These des Euangelus, Vergil hätte keine Kenntnis der litterae Graecae gehabt, ja entkräften will, kann er schwerlich auch noch auf den Plagiatsvorwurf eingehen. Dieser war nicht Gegenstand des Vorwurfs und ein Einbezug dieses Aspekts hätte sein Argument eher geschwächt. In den assoziativ angeschlossenen Erörterungen des sechsten Buches, denen kein entsprechender Vorwurf vorangeht, ist es hingegen sehr wohl möglich, darauf einzugehen, und Rufius Albinus stellt seine Ausführungen zu diesem traditionell wichtigen Thema auch gleich an den Beginn seines Abschnitts ( Sat. 6, 1, 2-6). 523 Vgl. → Kap. 2.2. 524 Zum Namen, der im Mittelalter zu Furius geändert wurde, vgl. Goldlust (2012), S. 224 Anm. 42. 525 Vgl. PLRE I 34-35 (Caecina Albinus) und 37-38 (Rufius Albinus), sowie Goldlust (2012), S. 224-225. 526 Kaster (2011 b ), I S. *29. 527 Vgl. Sat. 1, 3 und die Gespräche am zweiten Festnachmittag, bei denen Caecina Albinus ( Sat. 3, 13) und Rufius Albinus ( Sat. 3, 14-17) über Luxus im frühen Rom sprechen. <?page no="180"?> Das Wechselgespräch der drei Kapitel Sat. 6, 7-9 wird von Avienus und Servius geführt. Auch mit diesen beiden Figuren werden bestimmte Gelehrtentypen vorgeführt. Servius war schon in Sat. 6, 6, 1 von Caecina Albinus gebeten worden, über die originären Figuren Vergils zu sprechen, was er in Sat. 6, 6, 2-20 dann auch ausgeführt hat. Die anschließenden Kapitel sind in Frage-Antwort-Form gehalten: Avienus stellt jeweils eine Frage über eine unklare Stelle bei Vergil, und Servius antwortet entweder direkt darauf ( Sat. 6, 8-9) oder zusammenhängend auf mehrere Fragen ( Sat. 6, 7). Avienus gehört als jüngster Gesprächsteilnehmer zu den Personen der Saturnalia , für die Macrobius sich einleitend die Freiheit gelegentlicher Anachronismen herausnimmt. 528 Er ist wohl zu identifizieren mit dem um 415 - also etwa eine Generation nach dem fiktiven Datum der Saturnalia - geborenen Gennadius Avienus ( cos. 450). 529 Außerdem lassen sich Gründe anführen, die eine Identifikation des Avienus der Saturnalia mit dem Verfasser einer spätantiken Fabelsammlung, die den Namen des Avianus trägt, nahelegen. 530 Diese Fabelsammlung - einem Theodosius gewidmet, folglich mit Macrobius identifiziert 531 - entstand nach den Saturnalia , d. h. nach 435 n. Chr. 532 Welche Rolle nimmt Avienus im Verlauf der Saturnalia ein? Aus den Stellen, an denen er auftritt bzw. zu Wort kommt, ergibt sich zunächst ein widersprüchliches Bild. 533 Zwar wird überall deutlich, dass Avienus ein Lernender ist, der etwa durch gezielte Nachfragen das gelehrte Gespräch im Gang hält, doch lassen sich im Verhalten des adulescens zwei Phasen unterscheiden. 534 In den ersten Büchern zeigt sich Avienus ungestümer und enthusiastischer als in den Büchern 5-7, wo seine Rolle auf die des anständigen gelehrigen Schülers beschränkt ist. 535 Man hat von einem „pädagogische<n> Prozess“ gesprochen, den Macrobius mit dieser Figur vorführen will. 536 Ziel dieses Prozesses ist nämlich die zentrale Tugend der verecundia , die etwa dann erreicht ist, wenn Avienus 528 Vgl. Sat. 1, 1, 5 und oben. - Zu Avienus vgl. neben den unten genannten Titeln auch Goldlust (2012), S. 232-233. 529 Vgl. PLRE II 193-194, Sidon. epist. 1, 9, 2-4 und Schmidt (2008), S. 56-60. 530 PLRE II 191-192 s. v. „Avienus (1)“; vgl. Cameron (1967), pass. und Schmidt (2008), S. 68-71 mit dem forschungsgeschichtlichen Überblick auf S. 55-56. 531 Avian. fab. praef. 1. 532 Einflüsse - u. a. vom Fabelkapitel in Macrobius’ Kommentar zum Somnium Scipionis (1, 2, 7-21) - auf Avienus versucht Schmidt (2008), S. 72-76 nachzuweisen. 533 Vgl. die Zusammenstellung bei Schmidt (2008), S. 60-63. 534 Vgl. dazu auch Kaster (1980), S. 242-248. 535 Der Kontrast wird deutlich, wenn man seine ungestümen Unterbrechungen in Sat. 1, 6, 3 und 2, 3, 14-16 mit dem zurückgenommenen Verhalten in Sat. 5, 1, 2-6, 7, 2, 1 und 7, 12, 1 vergleicht. 536 Vgl. Schmidt (2008), S. 64 und 64-67 mit geringfügigen Korrekturen an Kaster (1980), S. 242-243. 180 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="181"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 181 sich in den Gesprächen des siebten Buches nicht mehr wie zuvor im zweiten Buch vordrängt, sondern bescheiden seinen Platz nach den Vertretern von Philosophie, Rhetorik und Grammatik einnimmt. 537 Die Stellen im sechsten Buch, wo Avienus mit Servius in ein Wechselgespräch tritt, zeigen jedenfalls schon diesen „zweiten“, gereiften Avienus, der die Zentraltugend der verecundia in seinen Einschaltungen auch dialogisch umsetzt. Sein Gesprächspartner Servius besitzt diese Tugend schon von Beginn an in exemplarischer Weise. 538 Bei seiner Vorstellung durch Postumianus in Sat. 1, 2, 15 werden zwei bestimmende Eigenschaften, stupende Gelehrsamkeit und eben die persönliche Bescheidenheit, hervorgehoben: hos Servius inter grammaticos doctorem recens professus, iuxta doctrina mirabilis et amabilis verecundia, terram intuens et velut latenti similis sequebatur . Auch Servius ist eine anachronistische Figur, doch fallen bei ihm immerhin noch die ersten Lebensjahre in die Zeit vor das fiktive Datum der Saturnalia (Dezember 382 bzw. 383). 539 Im Dialog selbst tritt er - ähnlich wie Avienus - als adulescens bzw. iuvenis auf. Bei Servius äußert sich die verecundia auch äußerlich: Schweigen, Schamesröte und sein Sprechen nur auf ausdrückliche Aufforderung hin setzen diesen Charakterzug ins Szenische um. 540 Das provokative Potenzial, das sich mit dieser Bescheidenheit verbindet, wird in dem Ausfall des Euangelus in Sat. 2, 2, 12 deutlich, nachdem sich Servius geweigert hat, Witzworte zur allgemeinen Unterhaltung beizusteuern: ‘omnes nos’, inquit Euangelus, ‘impudentes, grammatice, pronuntias, si tacere talia vis videri tuitione pudoris, unde neque tuum nec Dysarii aut Hori supercilium liberum erit a superbiae nota, ni Praetextatum et nos velitis imitari.’ Die Wortwechsel zwischen Avienus und Servius in Sat. 6, 7-9 zeigen - auch in ihrem Kontrast zum früheren Verhalten des Avienus - wie eine auf verecundia gegründete Interaktion abzulaufen hat. Praetextatus stellt in der Einleitungsszene dieses Abschnitts gerade die neu erlangte verecundia des Jünglings heraus, wenn er Eustathius nämlich auffordert, die Fragen, die ihm der jetzt ganz verschüchterte Avienus ins Ohr geflüstert hat, ins Gespräch einzubringen. 541 537 Vgl. zu den beiden ordines der Gesprächsbeiträge in Sat. 2, 2, 1-15 und 7, 4, 1-13, 1 die Übersicht bei Schmidt (2008), S. 65 sowie S. 66. 538 Grundlegend über die verecundia des Servius Kaster (1980), bes. S. 224-229; vgl. auch Kaster (1988), S. 169-198, Schmidt (2008), S. 78-82 (insbes. zu den Datierungsfragen) und Goldlust (2012), S. 232-235. 539 Vgl. zusammenfassend Schmidt (2008), S. 78-82 mit einem Überblick zur Forschungsgeschichte auf S. 79-80. 540 Belegstellen bei Schmidt (2008), S. 81. 541 Vgl Sat. 6, 7, 1 ( Cum Servius ista dissereret, Praetextatus Avienum Eustathio insusurrantem videns, ‘quin age’, inquit, ‘Eustathi, verecundiam Avieni probi adulescentis iuva et ipse pu- <?page no="182"?> Das wäre in den Büchern 1-2 kaum vorstellbar gewesen: Avienus musste erst lernen, wie er sich als der jüngste im Kreis an den geltenden Verhaltenskodex anzupassen hat. Dass nun gerade er zum Stichwortgeber für Servius wird, hängt nicht nur mit seiner Jugend und seiner Rolle als Adept zusammen. Er wird in den Gesprächen von Sat. 6, 7-9 mit Servius verbunden, um seinen Bildungsprozess als abgeschlossen zu markieren und auf dieser Grundlage ein Beispiel für ein gelingendes Bildungsgespräch zu geben. Die verhaltenen Einwände, die Avienus gegen den Dichter Vergil vorbringt, können so eine positive Funktion als produktive Schritte zu einem tieferen philologischen Verständnis erlangen. Damit steht das Wechselgespräch zwischen Avienus und Servius in einem grundsätzlichen Gegensatz zu den Provokationen des Euangelus, der mit seiner Vergilkritik in Sat. 5, 2, 1 zwar ebenfalls eine längere Klarstellung des Eustathius provoziert, von seiner destruktiven Haltung gegenüber Vergil aber - soweit kenntlich - im Verlauf der Saturnalia nicht abrückt. 5.1.3 Aufbau und Quellen 5.1.3.1 Die Gliederung der Vorträge über Vergils Kunst der imitatio in Sat. 5, 2 - 6, 9 Der Vergleich zwischen Homer und Vergil, den Eustathius in Sat. 5, 2, 6-17, 3 durchführt, zielt als Entgegnung auf den Vorwurf des Euangelus auf den Nachweis umfassender doctrina bei Vergil ab. Er und die nachfolgenden Ausführungen über weitere griechische Einflüsse stehen, wie bereits erwähnt, in engen strukturellen Bezügen zu den Ausführungen über die imitatio altrömischer Autoren im sechsten Buch. Diese Bezüge und die innere Gliederung des ganzen Abschnitts Sat. 5, 2-6, 9 sollen im Folgenden in einer gliedernden Übersicht nachvollzogen werden. Die Struktur der Partie geht wohl auf den Autor der Saturnalia selbst zurück. Das Material für die Ausführungen seiner Sprecher bezieht Macrobius jedoch aus verschiedenen Quellen, über deren Charakter auf der Grundlage der folgenden Aufbauanalyse weitere Schlüsse gezogen werden können. 542 Die Darlegungen des Eustathius im fünften und diejenigen der drei Hauptsprecher Rufius und Caecina Albinus sowie Servius im sechsten Buch entsprechen sich in der thematischen Anlage, nicht aber im Umfang der einzelnen Abschnitte. Den Anstoß für die Ausführungen des fünften, aber nur mittelbar des sechsten Buches gibt die Kritik des Euangelus, der Vergil wegen seiner einfachen bäuerlichen Herkunft jegliche Kenntnis der griechischen Literatur blicato nobis quod inmurmurat.’ ). 542 Vgl. → Kap. 5.1.3.2. 182 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="183"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 183 abspricht ( Sat. 5, 2, 1). 543 Diese Kritik ist als Reaktion auf die Einschätzung des Eusebius formuliert, der in Sat. 5, 1, 3-5 und 7-20 Vergil als Meister aller Stilarten gepriesen hatte. Um den Einwand des Euangelus zu widerlegen, legt Eustathius in drei Argumentationsschritten folgende Sachverhalte dar: - „Vergil verfügt über eine umfängliche Kenntnisse der griechischen Literatur , was die zahlreichen wörtlichen Übernahmen in seinem Werk erkennen lassen.“ - Im Zentrum steht in diesem Abschnitt Homer: Eustathius führt nach einer Reihe von systematischen Aspekten ( Sat. 5, 2, 6-12) zahlreiche Szenenimitationen aus der Aeneis ( Sat. 5, 2, 13-17) und wörtliche Homerübernahmen aus Georgica und Aeneis ( Sat. 5, 3, 1-14) an, die seine Gegenthese beweisen sollen. Dann folgt ein systematischer Durchgang durch die einzelnen Bücher der Aeneis ( Sat. 5, 4-10), der im elften Buch abbricht und dessen Ende vielleicht in der Überlieferung ausgefallen ist. Drei Abschnitte sollen dann nacheinander die Überlegenheit Vergils über Homer ( Sat. 5, 11), die ästhetische Äquivalenz beider Dichter ( Sat. 5, 12) und die Überlegenheit Homers über Vergil ( Sat. 5, 13) beweisen, wobei in Sat. 5, 11-12 ausschließlich Stellen aus der Aeneis , in 5, 13 auch solche aus den Georgica zitiert werden. Dann folgt mit Sat. 5, 14, 1-17, 3 ein Katalog von homerischen Stileigentümlichkeiten, die Vergil aus seinem Modell übernommen hat. Neben Homer kommen andere griechische Vorbildautoren nur in den einleitenden Abschnitten Sat. 5, 2, 4-5 (Theokrit, Hesiod, Arat, Pisander) und abschließend in Sat. 5, 17, 4-6 (Apollonios) bzw. 5, 17, 7-14 (Pindar) zur Sprache. - „Vergil verfügt über eine genaue Kenntnis der griechischen Sprache , wie aus den zahlreichen Gräzismen in seinem Werk ersichtlich ist.“ - In diesem Abschnitt ( Sat. 5, 17, 15-20), der sich in lexikalische und morphologische Übernahmen gliedert, werden bis auf eine Ausnahme keine konkreten Vorbildstellen genannt. - „Vergil greift in seinem Werk auf umfangreiche Wissensbestände aus der griechischen Literatur zurück, sodass der Leser sein Werk nur mithilfe der Kenntnis dieser Quellen verstehen kann.“ - Erst in Sat. 5, 18-22 wird das anfänglich von Eustathius formulierte Argumentationsziel, Vergils doctrina , erreicht; vgl. Sat. 5, 2, 2 ( cave … Graecorum quemquam vel de summis auctoribus tantam Graecae doctrinae hausisse copiam credas, quantam sollertia Maronis vel adsecuta est vel in suo opere digessit ). Für diesen Abschnitt lässt sich keine übergeordnete Gliederung ausmachen; systematischen Charakter hat immerhin Sat. 5, 19, wo Vergils Kenntnis der klassischen Tragikertrias bewiesen werden soll. 543 Vgl. auch → Kap. 5.1.2. <?page no="184"?> Eustathius geht also vom Nachweis der griechischen Literatur - und Sprachkenntnisse Vergils über zu dessen Vertrautheit mit den im griechischen Schrifttum enthaltenen antiquarischen Sach kenntnissen. Die ersten beiden Punkte sollen vor allem glaubhaft machen, dass Vergil seine doctrina aus den griechischen Originalquellen selbst geschöpft hat, weil er - anders als von Euangelus in Sat. 5, 2, 1 behauptet - das Griechische beherrscht hat und die Texte im Original lesen konnte. Die Homer-Vergil-Vergleiche haben also eine auf diesen Nachweis vorbereitende Funktion. Dies vorausgesetzt, stellt sich die Frage nach der genauen Funktion der Abschnitte Sat. 5, 11-13 und 5, 14-17, 3. Besonders der erste Abschnitt führt thematisch vom Hauptgedanken weg, weil die Frage nach den Rangunterschieden zwischen beiden Dichtern für den bloßen Nachweis der Homerkenntnisse Vergils nichts beisteuert. Auch die detaillierten stilistischen Einlassungen des zweiten Abschnitts fügen sich nur lose in einen Beweisgang ein, der die Rückführung der vergilischen doctrina auf griechische Quellen zum Ziel hat. Immerhin ist beiden Abschnitten gemeinsam, dass sie für ihre jeweiligen Zwecke - ästhetische Synkrisis bzw. systematische Zusammenstellung homerischer Stilistika in der vergilischen Dichtung - Parallelstellen aus Vergil und Homer zitieren müssen und damit wiederum Beweiskraft im oben genannten Sinne erhalten. 544 Trotzdem haben die beiden bezeichneten Abschnitte einen eher exkurshaften Charakter, ohne stringent in den übergeordneten Gedankengang eingebunden zu sein. Den Ausführungen des sechsten Buches über Vergils Verhältnis zu seinen altlateinischen Quellen liegt nun im Prinzip dasselbe Argumentationsschema wie im fünften Buch zugrunde, wie aus der folgenden Synopse hervorgehen soll: Vergil und seine griechischen Vorbilder Vergil und seine altlateinischen Vorbilder Erweiterung I: Plagiatsdiskussion Sat. 5, 2, 4- 5, 17, 14 konkrete griechische Modelle Sat. 6, 1, 8-6, 2 konkrete altlateinische Modelle Erweiterung I: Synkrisis Homer- Vergil Erweiterung II : Prioritätsfrage über konkurrierende Modellstellen Erweiterung II : homerische Stileigentümlichkeiten 544 Vgl. auch → Kap. 5.1.3.2. 184 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="185"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 185 Sat. 5, 17, 15-20 Gräzismen Sat. 6, 4-5 Archaismen Erweiterung III : Vergils originäre Figuren Sat. 5, 18-22 Klärung von Einzelstellen Sat. 6, 7-9 Klärung von Einzelstellen Wieder soll der Nachweis von sprachlichen Übernahmen konkreter Einzelstellen - versus bzw. loci - aus dem Munde des Rufius Albinus und von Archaismen durch Caecina Albinus auf die Klärung schwieriger Stellen in den drei Abschlusskapiteln vorbereiten, die in Form eines Frage-Antwort-Spiels zwischen Avienus und Servius gestaltet ist. Die Grobgliederungen der Bücher 5 und 6 entsprechen sich also, doch ergeben sich, z. T. bedingt durch den thematischen Wechsel von griechischen zu lateinischen Modellautoren, auch einige Veränderungen: - Rufius Albinus geht einleitend auf das Thema Plagiat ein. Für Eustathius war dies nicht notwendig gewesen, da Euangelus, gegen den er sich wendet, in Sat. 5 ja gerade davon überzeugt werden soll, dass Vergil auf ältere Vorbildautoren zurückgreift. Die Plagiatsthematik ist in den Saturnalia - sieht man von dem Abschnitt Sat. 5, 16, 12-14 über Vergils „heimliche“ Homeranleihen einmal ab (vgl. dazu aber → Kap. 5.2. 2. 10) - auf die lateinischen Vorbilder Vergils beschränkt. - Die einzelnen Abschnitte sind im sechsten Buch durch die Aufteilung auf die drei bzw. vier Sprecher Rufius Albinus, Caecina Albinus und Servius (mit Avienus) deutlicher als im fünften Buch voneinander getrennt. - Anders als Eustathius zumindest in einem Teil seiner Homer-Vergil-Vergleiche ( Sat. 5, 11-13) verzichtet Rufius Albinus gänzlich auf eine ästhetische Würdigung der verglichenen Stellen; er vollzieht also keine Synkrisis i. e. S., sondern beschränkt sich auf eine reine Parallelensammlung. - Dagegen erweitert Rufius Albinus in Sat. 6, 3 den Untersuchungshorizont um die Frage nach der Priorität zwischen zwei möglichen Modellstellen . Stets handelt es sich dabei um zwei konkurrierende Passus aus Homer und einem altlateinischen Dichter. Rufius Albinus stellt dabei nicht infrage, dass die altlateinischen Dichter nicht ebenfalls auf Homer zurückgegriffen hätten (vgl. Sat. 6, 3, 2-3: Homerus … ait … hunc locum Ennius … his versibus transfert ; Sat. 6, 3, 6: Homeri est … hunc secutus Hostius poeta … ait ; Sat. 6, 3, 7-8: Homerica descriptio est … Ennius hinc traxit … ). Stattdessen steht die Frage im Vordergrund, ob Vergil bei seiner Nachahmung eher an das homerische oder an das altlateinische Vorbild gedacht hat, was immer im letzteren Sinne beantwortet wird. <?page no="186"?> - In seinen beiden ersten Kapiteln über versus und loci nennt Rufius Albinus auch altlateinische Modelle zu Vergilstellen, für die Eustathius im fünften Buch bereits homerische Verse angeführt hatte. Diese „Widersprüche“ werden von Rufius Albinus nicht weiter erörtert, insbesondere macht er nicht wie in Sat. 6, 3 den Versuch, den Einfluss der jeweiligen zwei Stellen auf Vergil in irgendeiner Weise zu gewichten. In diesem Sinne widersprüchliche Doppelzitate finden sich in Sat. 6, 1-2 an folgenden Stellen: • Aen. 4, 584 = 9, 459 ~ Lucr. 2, 144 ( Sat. 6, 1, 25) vs. ~ Il. 11, 1-2 und 8, 1 ( Sat. 5, 6, 15 und 5, 9, 11) • Aen. 4, 585 = 9, 460 ~ Furius frg. 7 FPL 3 ( Sat. 6, 1, 31) • Aen. 10, 100-103 ~ Enn. frg. 31 FLP 2 ( Sat. 6, 2, 26) vs. ~ Il. 1, 528-530 ( Sat. 5, 13, 37-38) • Aen. 6, 179-182 ~ Enn. Ann. 175-179 ( Sat. 6, 2, 27) vs. ~ Il. 9, 4-7 und 16, 765-771 ( Sat. 5, 13, 14-15) • Aen. 9, 672-818 ~ Enn. Ann. frg. IV 105 ( Sat. 6, 2, 32) ~ Il. 12, 131-136 ( Sat. 5, 11, 26-29) Auch in den zeitgenössischen Vergilkommentaren werden altlateinische Parallelen aufgeführt. Häufig stimmt (D)Serv. mit Macrobius überein. 545 Nur gelegentlich finden sich hingegen zu den in Sat. 6, 1-2 genannten Vergilstellen andere als die bei Macrobius genannten Modellstellen, und zwar jeweils aus Homer: • Aen. 10, 488 ~ Enn. Ann. 363 ( Sat. 6, 1, 23) vs. ~ Il. 4, 504 ( DS erv. ad Aen. 10, 488 = II 442, 7-8 Thilo-Hagen) • georg. 2, 246-247 ~ Lucr. 2, 401 ( Sat. 6, 1, 47) vs. ~ Lucr. 4, 224 (Serv. ad georg. 2, 246 = III .1 241, 15 Thilo-Hagen) Was die Stellen aus Sat. 6, 3 betrifft, so lässt sich beobachten, dass in den zeitgenössischen Vergilkommentaren i. d. R. - gegen Rufius Albinus bzw. Macrobius - das homerische Modell genannt wird. Eine Diskussion konkurrierender Einflüsse auf Vergil findet nicht statt: 546 545 Das ist der Fall bei den an folgenden Stellen der Saturnalia genannten Vergilversen: Sat. 6, 1, 15 (DServ.); 6, 1, 17; (Serv.); 6, 1, 18 (DServ.); 6, 1, 23 (Serv.); 6, 1, 25 (DServ.); 6, 2, 2 (Serv.) und 6, 2, 7 (Serv.). 546 In einem Fall bringt Servius eine Lukrezparallele (Serv. ad Aen. 6, 625 = II 88, 12-13 Thilo- Hagen: Lucretii versus sublatus de Homero …; im selben Sinne auch Serv. ad georg. 2, 42 = frg. 1 Martin), Eustathius bei Macrobius eine Homerparallele ( Sat. 5, 7, 16; vgl. Il. 2, 488-490), und Rufius Albinus gibt einer Hostiusparallele vor derselben Homerstelle den Vorzug ( Sat. 6, 3, 6). Vgl. dazu auch Giancotti (1976), pass. und Jeunet-Mancy (2012), S. 246-247 Anm. 640. 186 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="187"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 187 • DS erv. ad Aen. 9, 808 = II 380, 6 Thilo-Hagen vs . Sat. 6, 3, 4 • Serv. ad Aen. 10, 361 = II 431, 9-19 Thilo-Hagen [~ Sat. 5, 13, 27] vs . Sat. 6, 3, 5 • Serv. ad Aen. 11, 492 = II 539, 1-2 Thilo-Hagen vs . Sat. 6, 3, 8 Die Materialbasis ist zu gering, um hier weiterführende Schlüsse zu ziehen. (Plausibel erscheint, dass die Vorlage, der Macrobius in Sat. 6, 3 gefolgt ist, später als die Quelle des Kommentators entstanden ist, weil sie sich kritisch bzw. korrigierend mit den bei Servius genannten Homerparallelen auseinandersetzt.) - Der Abschnitt über Vergils originäre Figuren ( Sat. 6, 6), den Macrobius dem Grammatiker Servius in den Mund legt, stellt nach dem Bekunden des Caecina Albinus nur einen zusätzlichen Aspekt zu einem Thema dar, das Caecina zwar ankündigt, aber im weiteren Verlauf der Saturnalia nicht eigens ausführt, nämlich die von Vergil aus den altlateinischen Schriften übernommenen figurae (vgl. Sat. 6, 6, 1: Figuras vero quas traxit de vetustate, si volentibus vobis erit, cum repentina memoria suggesserit, enumerabo ). Eine solche Zusammenstellung hätte - wie nicht zuletzt der oben rekonstruierte Gedankengang nahelegt - nur im direkten Anschluss an Sat. 6, 6 ihren Platz gehabt, was auf Textverderbnis schließen lässt. Der überlieferte Wortlaut von Sat. 6, 7, 1, der die Erörterung des Servius über Vergils originäre Figuren unmittelbar an das Folgende anknüpft ( cum Servius ista dissereret, Praetextatus Avienum Eustathio insusurrantem videns … inquit … ), macht aber einen Ausfall eines entsprechenden Caecinareferats über übernommene figurae unwahrscheinlich. Dass der Abschnitt nach dem Avienus-Servius-Gespräch über dunkle Stellen ( Sat. 6, 7-9), wo der abschließende Teil des Textes verloren gegangen ist, gestanden haben könnte, ist aus kompositorischen Gründen wie dargelegt ebenfalls unplausibel. Man wird die Inkonsequenz daher am besten mit der Dynamik des Gesprächs erklären: Caecina kommt nicht mehr dazu, seinen ursprünglichen Plan auszuführen, weil die Fragen des Avienus den Dialog in eine andere Richtung lenken. Eine ausführliche Gliederung über das Buchpaar 5-6 der Saturnalia wird im Anhang beigegeben. 5.1.3.2 Folgerungen für die Quellenfrage von Sat. 4 - 6 Die innere Struktur der Bücher 5 und 6 lässt Rückschlüsse in der Quellenfrage zu. Wie Macrobius selbst in seiner Vorrede einräumt, handelt es sich bei den Saturnalia zu großen Teilen um eine Kompilation von Fachtexten unterschiedlicher Provenienz. Die erhaltenen Partien der Saturnalia lassen z. T. noch erkennen, welchen Prinzipien Macrobius bei der Zusammenstellung seines Werks <?page no="188"?> gefolgt ist: Er verfügt relativ souverän über seine Quellen und kombiniert sie entsprechend dem Plan seiner Saturnalia , wobei er den Wortlaut der Vorlagen auch gelegentlich modifiziert. 547 Bevor nun die Schlussfolgerungen aus den Beobachtungen zum Aufbau von Sat. 5-6 für die Quellenfrage gezogen werden, sei kurz der Stand der bisherigen Forschung über die Quellen der Vergilabschnitte in den Saturnalia zusammengefasst: - Sat. 3: Zunächst ging man für die Abschnitte Sat. 3, 1-8 + 10-12 von einer Zweiquellenhypothese aus (zu Sat. 3, 9 + 13-18 vgl. Wissowa [1881], S. 502-505). Nach Linke (1880), S. 29 ff. handelt es sich bei beiden Quellen um keine fortlaufenden Kommentare. Anders Wissowa (1904), S. 103 Anm. 1, der „eine lexikalisch oder sachlich geordnete Abhandlung über die verba pontificalia bei Vergil“, die in die Zeit nach Festus zu datieren sei, und „einen fortlaufenden Kommentar, der wegen der Erwähnung des Cornelius Labeo und Haterianus nach der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts verfasst sein muss“, annimmt. Die Kurzfassung des Serviuskommentars hätte nur diesen letztgenannten fortlaufenden Kommentar zur Verfügung gehabt. Einen Versuch, die einzelnen Abschnitte von Sat. 3, 1-8 und 10-12 auf beide Quellen aufzuteilen, macht Wissowa a. a. O. - Wessner (1928), Sp. 186, 2-188, 58 geht stattdessen von nur einer Quelle aus, auf die sowohl Macrobius in Sat. 3, 2-12 wie auch Servius und Servius auctus in den entsprechenden Kommentarpartien zurückgegriffen hätten (zur Kritik an den Vorgängern vgl. Sp. 187, 56-188, 16), und identifiziert diese mit dem heute verlorenen Kommentar des Aelius Donatus. Unterschiede betreffen die häufigere Nennung von Gewährsmännern und ausführlichere Vergilzitate bei Macrobius. - Marinone (1946) erkennt für Sat. 3, 1-9 ebenfalls Aelius Donatus als Quelle; vgl. auch Marinone (1977), S. 46-47 und Santoro (1946), die gegen Wissowa und Linke Macrobius einen relativ eigenständigen Umgang mit seiner Vorlage einräumt. Vgl. dazu auch Bernabei (1970), S. 100 ff. und Flamant (1977), S. 276-277. - Gegen die traditionelle Quellenkritik stellt sich pauschal Türk, ohne freilich selbst überzeugende Argumente für seine These von Macrobius als selbstständigem Philologen vorbringen zu können. 548 - Mastandrea (1979), S. 199 ff. geht von 547 An Untersuchungen zu Macrobius’ Umgang mit den Quellen seien hier Türk (1961) und Bernabei (1970) genannt, auf Spezialliteratur zu einzelnen Abschnitten wird jeweils ad locum verwiesen. - Nützliche Überblicke über die Quellen der Saturnalia bei Bevilacqua (1973), S. 103-117 (bes. 112-117) und Marinone (1987), S. 303. 548 Der Ansatz Egbert Türks, der in seiner unveröffentlichten Freiburger Dissertation von 1961 den Versuch unternimmt, die Existenz vermittelnder Zwischenquellen für Macrobius auszuschließen und für den Autor der Saturnalia eine umfassende Kenntnis der Primärquellen - also etwa der altlateinischen Dichter - nachzuweisen, ist methodisch 188 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="189"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 189 Quaestiones Vergilianae aus der Feder des Neuplatonikers Labeo als Quelle sowohl für Sat. 3, 1-12 als auch für Servius aus. - Jocelyn (1981), pass. bringt gegen die communis opinio von Aelius Donatus als gemeinsamer Quelle für Macrobius und die beiden Serviusredaktionen wieder die alte These von einer pontifikalrechtlichen Abhandlung in Vorschlag. - Lit. : Linke (1880), S. 29 ff.; Wissowa (1904), S. 103 Anm. 1.; Wessner (1928), Sp. 186, 2-188, 58; Santoro (1946); Marinone (1946); Türk (1961), S. 181-203; Bernabei (1970), S. 100 ff.; Flamant (1977), S. 276-277; Marinone (1977), S. 46-47; Jocelyn (1981), pass. (zu Sat. 3, 2, 7-9). - Sat. 4: Zum vierten Buch - der Abhandlung über das Pathos bei Vergil - schreibt Linke (1880), S. 41: „Debemus statuere tertio vel quarto saeculo rhetorem quendam, hominem scholasticum, cuius nomen nescimus, de oratoria arte Vergilii scripsisse.“ Auf S. 41 Anm. 2 weist Linke frühere Vermutungen, es könne sich hierbei um P. Annius Florus handeln, zurück. In den sechs Kapiteln von Sat. 4 geht es um allgemein bekannte rhetorische Lehren; vgl. Linke (1880), S. 39-40 und Flamant (1977), S. 261 Anm. 28. Über eine mögliche gemeinsame Quelle von Macrobius und den Praecepta artis rhetoricae des Julius Severianus vgl. Besthul (1974-1975), pass. und Goldlust (2010), S. 369-370. Zur Frage nach einer gemeinsamen Quelle mit Sat. 5, 1 und Sat. 6, 6 s. u. - Lit. : Linke (1880), S. 37-42; Wessner (1928), Sp. 188, 59-65; Besthul (1974-1975), pass. ; Flamant (1977), S. 260-261; Goldlust (2010), S. 369-371. - Sat. 5, 1: Für diesen Abschnitt, der die Stilvariabilität Vergils zum Thema hat, wurde dieselbe Quelle wie für die rhetorische Pathosabhandlung des vierten Buches angenommen; vgl. Linke (1880), S. 37-42; Wessner (1928), Sp. 188, 59-65; Marinone (1977), S. 47. Dagegen geht Flamant (1977), S. 268-270 für Sat. 5, 1 von einer separaten Quelle aus der Zeit nach Fronto, u. U. aus dem Schülerkreis dieses Redners, aus. Goldlust (2010), S. 385-389 schließt sich Flamants These prinzipiell an, schreibt die Besonderheiten der hier präsentierten fragwürdig. Türk spekuliert zunächst allgemein über den hohen Bildungsstandard im Symmachuskreis, dem er Macrobius zurechnet, und schließt daraus, dass die Quellenbenutzung in den Saturnalia diesen Standards entsprochen haben müsse, Sekundärquellen für den umfassend gebildeten Macrobius also nicht in Frage kämen; vgl. bes. Türk (1961), S. 145-165 über die Vergilabschnitte. Die restlichen Teile der Studie verfolgen den Zweck, Macrobius in möglichst allen Teilen seines Werks als selbstständigen Autor zu erweisen, der aus einer unmittelbaren Kenntnis der alten Schriften schöpft; vgl. Türk (1961), S. 166-234. Die Unstimmigkeiten und Unplausibilitäten seiner Argumentation können hier nicht im Einzelnen dargelegt werden; Türks Thesen haben in der Forschung auch kaum Niederschlag gefunden. Vgl. auch Türks ablehnende Haltung gegenüber dem traditionellen quellenkritischen Ansatz in seiner Rezension der Ausgabe von Marinone (Türk [1970], pass. ). <?page no="190"?> Vierstillehre aber Macrobius selbst zu. - Lit. : Linke (1880), S. 37-42; Wessner (1928), Sp. 188, 59-65; Flamant (1977), S. 261-270; Goldlust (2010), S. 372-399. - Sat. 5, 2-17: Hier herrschte zunächst die Ansicht vor, dass Sat. 5, 2-17 aus einer Quelle stammen, in der noch Material aus der Vergilapologie des Asconius Pedianus (so Linke [1880], S. 43) bzw. aus der Parallelensammlung des Avitus (so Wessner [1928], Sp. 189, 10-14) enthalten sei. Wessner (1928), Sp. 189, 1-4 macht auf einige „Einlagen“ aus Gellius aufmerksam ( Sat. 5, 11, 14-19; 17, 8-14; 17, 18; vgl. Gell. 12, 1, 20 und 13-16; 17, 10, 8-15 und 17-18; 13, 27, 1-2); zu diesen Parallelen auch Linke (1880), S. 42-43. - Jocelyn (1964), S. 287-288 geht hingegen von zwei Monographien aus, die Macrobius in Sat. 5, 2-17 herangezogen habe. Eine vergilkritische Schrift liegt seiner Meinung nach den Abschnitten Sat. 5, 13, 10-33; 16, 8-14 und 17, 1-14 zugrunde. Der Rest stamme von einem Vergil freundlich gesonnenen Autor (Asconius Pedianus? ). Beide Schriften datierten in die Zeit vor Gellius; demzufolge stammten die von Wessner a. a. O. aufgeführten „Einlagen“ aus Gellius nicht aus den Noctes Atticae , sondern gehen auf eine gemeinsame Quelle zurück. Widersprüche zwischen Sat. 5, 2-17 und Sat. 6, 1-3 verzeichnet Jocelyn (1964), S. 289 Anm. 1. - Lit. : Linke (1880), S. 42-43; Wessner (1928), Sp. 188, 66-189, 14; Türk (1961), S. 215-218 (zur Plausibilität s. o.). - Sat. 5, 18-22: Zwar nennt Macrobius in Sat. 5, 18, 1 und 11 Didymus als Quelle, doch polemisiert er an anderer Stelle ( Sat. 5, 22, 9 und 5, 19, 2-3) gegen die römischen Grammatiker Probus und Cornutus. Wenn man demnach von einer einheitlichen Quelle für diesen Abschnitt ausgehen möchte, so sieht man sich auf das zweite bzw. dritte Jhdt. n. Chr. verwiesen. Man hat daher diese Abschnitte ausgehend von einer Notiz bei (D)Serv. zu georg. 1, 102 (vgl. Sat. 5, 20, 2-16) mit den Libri rerum reconditarum des Serenus Sammonicus in Verbindung gebracht, der - vielleicht über die Zwischenquelle Terentius Scaurus - auf Didymos und die genannten römischen Grammatiker zurückgegriffen hat. - Lit. : Wissowa (1880), S. 45-56; Wissowa (1913), pass. ; Wessner (1928), Sp. 189, 35-190, 58; Courcelle (1948), S. 1-16; Türk (1961), S. 218-234; Flamant (1977), S. 181-182, 278 und 302; Marinone (1977), S. 47-48. - Sat. 6, 1-5: Von der Quelle für Sat. 5, 2-17 ist wegen der Doppelzitation bestimmter Vergilstellen diejenige von Sat. 6, 1-5 zu unterscheiden; vgl. Jocelyn (1964), S. 289, Anm. 1. Linke (1880), S. 44 vermutet, der Abschnitt gehe insgesamt letztlich auf Avitus zurück. - Jocelyn (1964), S. 289 hat der Frage nach den Quellen dieses Abschnitts eine minutiöse Untersuchung gewidmet. Er nimmt drei Quellenbestände für Sat. 6, 1-5 an: (1) eine vergilkritische Kompilation altlateinischer furta , die Sat. 6, 1-2 zugrundeliege, stamme aus der Zeit vor Asconius; (2) die Sammlung von jeweils drei Parallelstellen in Sat. 6, 3 datiere - wie durch Sen. epist. 108, 33-34 nahegelegt - in die Zeit Senecas; 190 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="191"?> 5.1 Der Homer-Vergil-Vergleich bei Macrobius 191 (3) Sat. 6, 4-5 offenbare eine archaistische Grundtendenz und könne daher erst ab dem späteren ersten Jhdt. n. Chr. entstanden sein. Diese drei Bestände seien dann Ende des ersten Jhdt. n. Chr. verbunden worden und dann in die Saturnalia eingegangen. - Lit. : Wessner (1928), Sp. 189, 14-32; Türk (1961), S. 205-214; Jocelyn (1964), S. 286-289; Marinone (1977), S. 48; Flamant (1977), S. 278-280. - Sat. 6, 6: Der kurze Abschnitt, in dem Servius über Vergils originäre Figuren spricht, wurde von Linke auf dieselbe rhetorische Quelle wie diejenige von Sat. 4 zurückgeführt (zustimmend in diesem Punkt Flamant [1977], S. 268-270; ablehnend Marinone [1977], S. 48). Vgl. auch einleitend zu seiner Serviusedition I Thilo-Hagen XXV mit dem Hinweis auf strukturelle Übereinstimmungen mit den auf Asper zurückgehenden quaestiones Vergilianae . - Sat. 6, 7-9: Diese Kapitel sind im Wesentlichen aus den Noctes Atticae des Gellius geschöpft ( Sat. 6, 7, 4-19 ~ Gell. 2, 6; Sat. 6, 8, 1-6 ~ Gell. 5, 8; Sat. 6, 8, 7-13 ~ Gell. 10, 11; Sat. 6, 8, 15-23 ~ Gell. 16, 5; Sat. 6, 9, 1-7 ~ Gell. 16, 6; Sat. 6, 9, 8-12 ~ Gell. 18, 5); z. T. wohl auch aus Alexander von Aphrodisias (Marinone [1977], S. 48 ff.). - Lit. : Linke (1880), S. 45; Wessner (1928), Sp. 189, 32-35; Türk (1961), S. 128-131; Türk (1965), S. 399 ff.; Bernabei (1970), S. 67 ff. Diesem Diskussionsstand lassen sich auf der Basis der im letzten Kapitel gemachten Beobachtungen zum Aufbau von Sat. 5, 2-6, 9 die folgenden Überlegungen hinzufügen: - Die Doppelzitate in den Parallelenlisten von Sat. 5 und 6 zeigen, dass die beiden Bücher wohl nicht aus einer Vorlage stammen können. - Für Sat. 6, 7-9 ist mit den Noctes Atticae des Gellius die direkte Vorlage für Macrobius erhalten, die nicht das Material für die anderen Teile von Sat. 6, 1-6 geliefert haben kann. Für Sat. 6 ist demnach festzuhalten, dass Macrobius verschiedenen Quellen gefolgt ist. (Die alternative Überlegung, Gellius und Macrobius seien einer gemeinsamen Quelle gefolgt, ist nicht auszuschließen, wenn auch wenig wahrscheinlich.) - Eine entsprechende Kombination verschiedener Quellen ist prinzipiell auch im Falle von Sat. 5 anzunehmen. - Die dreistufige Argumentationsstruktur von Sat. 5 und 6 geht aller Wahrscheinlichkeit nach auf Macrobius selbst zurück, wie schon die dialogische Einbindung von Sat. 5 als Replik auf die Kritik des Euangelus nahelegt. Der Autor der Saturnalia hat sich demnach verschiedener Quellenbestände bedient, um seinen Beweisschritt in beiden Büchern mit Beispielen zu unterlegen. - Der Abschnitt mit den wertenden Vergleichen in Sat. 5, 11-13 lässt verschiedene Redaktionsschichten erkennen (→ Kap. 5.1.3.1). Ob Macrobius an <?page no="192"?> diesen Redaktionen beteiligt war oder ob sie auf seine unmittelbare Quelle zurückgehen, ist nicht mehr ersichtlich; auch an eine nachträgliche Interpolation ist - besonders in Teilen von Sat. 5, 13 - zu denken. - Der Umgang mit den Quellen in Sat. 6, 7-9 zeigt, dass Macrobius die Noctes Atticae durch systematische Lektüre vom Anfang bis zum Ende ausgewertet hat, um Material für seine Vergilprobleme zu beziehen. Ob Analoges für die Quellenbenutzung in Sat. 5, 18-22 gilt, ist wegen der Überlieferungslage der Quelle(n) nicht mehr feststellbar. Denkbar ist hingegen, dass die Parallelstellen in Sat. 5, 4, 2-5, 10, 13 auf ähnliche Weise gesammelt wurden, nämlich durch lineare Lektüre und Auswertung eines Vergilkommentars, u. U. durch Macrobius selbst. Der kompliziertere Befund in Sat. 5, 11-13, wo wie dargelegt verschiedene Quellenschichten zu unterscheiden sind, macht eine Zusammenstellung in diesem Abschnitt durch Macrobius selbst unwahrscheinlich. - Der Abschnitt Sat. 5, 14, 1-5, 17, 4 gibt, was die Quellen betrifft, weiter Rätsel auf. Wenn Macrobius die systematische Zusammenstellung von elf Vergleichskriterien nicht selbst erarbeitet bzw. aus einem Vergilkommentar kompiliert hat, so wird man am ehesten an eine - vielleicht monographische - Abhandlung zum Thema denken. 5.2 Homer und Vergil in Sat. 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 5.2.1 Wettstreit zweier Dichter (Sat. 5, 11 und 13) 5.2.1.1 Vergil vor Homer: cultus als Kriterium der Wertung ( Sat. 5, 11) Der erste Abschnitt, in dem Eustathius wertend Stellung zu den zitierten Parallelenpaaren nimmt, ist Sat. 5, 11, 2-30. Für den langen Durchgang durch die einzelnen Bücher der Aeneis in Sat. 5, 4-10 hatte er sich ja ausdrücklich einer Entscheidung enthalten bzw. diese seinen Zuhörern überlassen: Et haec quidem iudicio legentium relinquenda sunt, ut ipsi aestiment, quid debeant de utriusque collatione sentire ( Sat. 5, 11, 1). An den nun folgenden - ausschließlich der Aeneis entnommenen - Stellen aber habe Vergil sein Vorbild Homer hinsichtlich der „Dichte der Ausgestaltung“ übertroffen ( … Vergilium in transferendo densius excoluisse … ). Er fügt den einzelnen Stellenpaaren also jeweils wertende Erläuterungen bei, die immer einen besonderen Teilaspekt des fraglichen cultus benennen. In ähnlichem Sinne wie densius excoluisse verwendet Eustathius in diesem Abschnitt die folgenden Ausdrücke: … extitit locupletior interpres ( Sat. 5, 11, 5); magno cultu … ex- 192 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="193"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 193 pressit ( Sat. 5, 11, 9); … mire et velut coloribus … pinxit ( Sat. 5, 11, 11); plene … sequebatur ( Sat. 5, 11, 15); accepto brevi semine de Homerico flagro pinxit … ( Sat. 5, 11, 22); … ut esset illi … plena descriptio ( Sat. 5, 11, 22); … tota rei pompa descripta est ( Sat. 5, 11, 25); … compensavit quod deerat copiae varietate descriptionis ( Sat. 5, 11, 25); bene … se habet poeticae tubae cultus, omnia … comprehendens ( Sat. 5, 11, 25); … uberius … pulchriusque descripsit ( Sat. 5, 11, 29); cultius … prolatum ( Sat. 5, 11,30). Was aber meint Eustathius mit diesem Begriff? Mit dem Terminus cultus greift der Redner einen Kernterminus der rhetorischen Stilistik auf. Quintilian sieht in seinem Grundlagenkapitel zum ornatus in der mit diesem Begriff bezeichneten sprachlichen Ausarbeitungsstufe eine Steigerung der Grundstufe des „Durchsichtigen“ und des „Wahrscheinlichen“: Ornatum est, quod perspicuo ac probabili plus est ( inst. 8, 3, 61). Er macht dabei drei Stufen ( gradus ) aus, die bis zum ornatus führen und deren letzte - die ersten beiden sind durch Textverderbnis nicht mehr genau zu bestimmen 549 - der Rede „Glanz verleiht“, was Quintilian dann im engeren Sinne als cultus bezeichnet wissen will: … tertius, qui haec nitidiora faciat, quod proprie dixeris cultum . Als unmittelbare Wirkung des cultus nennt Quintilian ἐνάργεια („Anschaulichkeit“; ~ evidentia bzw. repraesentatio ), die als zusätzliche Qualität über die perspicuitas hinausgeht, daher zu den Schmuckmitteln der Rede zu zählen ist und zur Überzeugungskraft der Rede beiträgt: 550 Itaque ἐνάργειαν, cuius in praeceptis narrationis feci mentionem, quia plus est evidentia vel, ut alii dicunt, repraesentatio quam perspicuitas, et illud patet, hoc se quodam modo ostendit, inter ornamenta ponamus. Magna virtus res de quibus loquimur clare atque ut cerni videantur enuntiare. Non enim satis efficit neque, ut debet, plene dominatur oratio si usque ad aures valet, atque ea sibi iudex de quibus cognoscit narrari credit, non exprimi et oculis mentis ostendi. (Quint. inst. 8, 3, 61-62) Der cultus wird also eng an die Kategorie der Anschaulichkeit (ἐνάργεια) gebunden. Wenn Quintilian daher in inst. 8, 3, 63 - in polemischer Abgrenzung zu seinen Rhetorenkollegen - eher exemplarisch als systematisch erschöpfend verschiedene Methoden zur Erreichung von ἐνάργεια nennt, so kann man diese auch als Strategien zur Steigerung des cultus ansehen. Quintilian nennt folgende genera : 549 Radermacher schlägt folgende Konjektur vor : eius primi sunt gradus in eo quod velis exprimi <clare ostendendo [cf. inst. 8, 3, 86 … clare atque evidenter ostendere … ] , attolendo, aut deprim>endo [cf. inst. 8, 3, 8 … quid elocutio attollat aut deprimat … ] , tertius, qui haec nitidiora faciat, quod proprie dixeris cultum . 550 Eine Zusammenstellung der einschlägigen Abschnitte aus der lateinischen und griechischen Rhetorik bietet Lausberg (1990), §§ 810-819 = S. 399-407; vgl. auch - v. a. zur philosophischen Herleitung des Konzepts - Otto (2009), S. 67-134. <?page no="194"?> 194 5. Macrobius, Saturnalia - sprachliche Wiedergabe eines visuellen Gesamteindrucks ( … genus, quo tota rerum imago quodam modo verbis depingitur … ; vgl. inst. 8, 3, 63-65) - Darstellung der verschiedenen Aspekte eines Sachverhalts ( … ex pluribus efficitur illa, quam conamur exprimere, facies … ; vgl. inst. 8, 3, 66-69) 551 - Beschränkung auf wahrscheinliche Gegenstände ( consequemur autem ut manifesta sint, si fuerint veri similia, et licebit etiam falso adfingere quidquid fieri solet ; vgl. inst. 8, 3, 70 a ) - Erwähnung von Begleitumständen ( contingit eadem claritas etiam ex accidentibus ; vgl. inst. 8, 3, 70 b ) Die Liste ist bewusst offen gehalten und kann, wie Quintilian selbst versichert, beliebig erweitert werden. 552 Wichtig ist, dass die evidentia ein qualitativer stilistischer Zusatz ist, Klarheit ( perspicuum ) und Wahrscheinlichkeit ( probabile ) aber als ihre Voraussetzungen gewahrt bleiben müssen. 553 - Die folgenden Analysen sollen zeigen, welche Aspekte des cultus Eustathius an Vergil in direkter Konfrontation mit seinen homerischen Vorbildstellen geltend macht. Dass Vergil in der Einschätzung der antiken Philologen gerade auf diesem Feld Besonderes leisten konnte, wird deutlich, wenn man die allgemeine Anerkennung berücksichtigt, die man Homer gerade für die Anschaulichkeit seiner Darstellungen zollte. 554 a) Bienengleichnisse ( Aen. 1, 430 - 436 und Il. 2, 87 - 93; Sat. 5, 11, 2 - 4) Das Bienengleichnis Aen. 1, 430-436, das Eustathius in Sat. 5, 11, 2 zitiert, beschließt den Abschnitt in der Aeneis , in dem Aeneas und Achates von einem Hügel aus die Scharen der Karthager betrachten, die am Aufbau ihrer Stadt arbeiten ( Aen. 1, 430-436): qualis apes aestate nova per florea rura | exercet sub sole labor, cum gentis adultos | educunt fetus, aut cum liquentia mella | stipant et dulces distendunt nectare cellas, | 551 Vgl. Lausberg (1990), § 813 = S. 402-404. 552 Lausberg (1990), S. 402 nennt außer der bereits genannten „Detaillierung des Gesamtgegenstandes … den Gebrauch des Praesens (§ 814), den Gebrauch der die Anwesenheit ausdrückenden Ortsadverbien (§ 815), die Anrede von in der Erzählung vorkommenden Personen (§ 816), die direkte Rede der in der Erzählung vorkommenden Personen untereinander (§ 817).“ 553 In inst. 9, 2, 40-44 behandelt Quintilian in der Reihe der Gedankenfiguren den Fall der Hervorrufung imaginärer Bilder durch den Redner ( sub oculos subiectio ), die von anderen Systematikern - z. B. Celsus - ebenfalls als evidentia bzw. ὑποτύπωσις bezeichnet wurde, und i. d. R. durch einen vorbereitenden Satz ( credite vos intueri ) eingeleitet wird. Diese spezielle Erscheinungsform der Anschaulichkeit geht zwar von demselben Wirkungsmechanismus wie die ἐνάργεια aus, ist aber als Figur natürlich von begrenzterer Reichweite als das Konzept der „Anschaulichkeit“ als Grundprinzip der elocutio . 554 Vgl. die Hinweise bei Nünlist (2009), S. 206 (speziell zu Homers Gleichnistechnik). <?page no="195"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 195 aut onera accipiunt venientum aut agmine facto | ignavum fucos pecus a praesepibus arcent: | fervet opus redolentque thymo fragrantia mella. Als Parallele führt Eustathius Il. 2, 87-93 an, wo die Achaier, die auf den Befehl Agamemnons hin zur Versammlung zusammenströmen, ebenfalls mit Bienen verglichen werden: ἠΰτε ἔθνεα εἶσι μελισσάων ἁδινάων, | πέτρης ἐκ γλαφυρῆς αἰεὶ νέον ἐρχομενάων· | βοτρυδὸν δὲ πέτονται ἐπ᾽ ἄνθεσιν εἰαρινοῖσιν· | αἱ μέν τ᾽ ἔνθα ἅλις πεποτήαται, αἱ δέ τε ἔνθα· | ὣς τῶν ἔθνεα πολλὰ νεῶν ἄπο καὶ κλισιάων | ἠϊόνος προπάροιθε βαθείης ἐστιχόωντο | ἰλαδὸν εἰς ἀγορήν· μετὰ δέ σφισιν Ὄσσα δεδήει. („Und wie Schwärme heranziehen von dichtgedrängten Bienen, | Die immer neu aus dem hohlen Felsen kommen, | Und in Trauben fliegen sie zu den Frühlingsblumen, | Die einen fliegen hierhin, genugsam viel, und die anderen dorthin: | So kamen von denen viele Schwärme von den Schiffen und Hütten | Vorn an dem tiefen Gestade in Reihen scharenweise | Zur Versammlung. Und unter ihnen war Ossa, das Gerücht, entbrannt …“ ÜS Schadewaldt ) Eustathius weist in Sat. 5, 11, 4 auf einen Hauptunterschied zwischen beiden Dichtern hin, dass die Bienen bei Vergil nämlich nicht nur frei umherfliegen, sondern auch bei der Arbeit geschildert werden ( vides descriptas apes a Vergilio opifices, ab Homero vagas: alter <scil. Homerus> discursum et solam volatus varietatem, alter <scil. Vergilius> exprimit nativae artis officium ). Er erwähnt dabei nicht, dass diese Erweiterung des homerischen Gleichnisses durch den besonderen Kontext bedingt ist. In der Aeneis sind die Karthager ja als Bauleute gemeint, in der Ilias steht allein die Zusammenkunft der Truppen im Zentrum. Vergil erweitert den Vergleichspunkt also unter den besonderen Voraussetzungen seines Erzählkontextes. Die implizite Kritik des Eustathius an Homer erhält erst dann ihre besondere Pointe, wenn man die Rezeptionsgeschichte des homerischen Gleichnisses mitberücksichtigt. Tiervergleiche bergen ja oft die Gefahr, das Bezugsobjekt des Vergleichs herabzusetzen. Ps.-Plut. de Hom. B 2, 85, 2 = 858-859 Kindstrand führt Il. 2, 87 als ein Beispiel für Homers Tiergleichnisse an. 555 Typisch für Homers Gleichnistechnik sei der Vergleich mit Tieren von geringer Körpergröße (Ps.-Plut. de Hom. B 2, 85, 1 = 852-853 Kindstrand: Καὶ ἔστι μὲν ὅτε ἀπὸ τῶν ἐλαχίστων ποιεῖται τὴν ὁμοίωσιν, οὐ πρὸς τὸ μέγεθος τοῦ σώματος ἀλλὰ πρὸς τὴν φύσιν ἑκάστου ἀφορῶν). Darin erkennt Ps.-Plutarch nun aber gewissermaßen eine Verfremdungstechnik, durch die die Aufmerksamkeit des Hörers auf eine durch das Tier repräsentierte charakteristische Eigenschaft gelenkt wird. Im 555 Vgl. dazu Hillgruber (1999), S. 200. <?page no="196"?> 196 5. Macrobius, Saturnalia Falle des Bienenschwarms sind diese charakteristischen Eigenschaften Haufenbildung und Ordnung in großer Menge (Ps.-Plut. de Hom. B 2, 85, 2 = 858 Kindstrand: τὸν δὲ ἀθροισμὸν καὶ τὴν πολυπλήθειαν μετ’ εὐταξίας μελίσσαις). Homers Wahl des Vergleichsgegenstands erklärt sich also mit der Absicht, die Aufmerksamkeit der Hörer bzw. Leser auf eine bestimmte abstrakte Eigenschaft der Bienen bzw. Achaier zu lenken. Die Reihe möglicher Vergleichspunkte zwischen Bienen und Kriegern erweitert ein exegetisches Scholion z. St.: ἔθνεα] … πρώτη δὲ αὕτη παραβολὴ τῷ ποιητῇ. … ἡ μὲν οὖν φαλαγγηδὸν γινομένη πρόοδος εὖ ἔχει· ὡπλισμέναι τε κέντροις εἰσίν, ὑπήκοοι τε καὶ αὐταί εἰσι καὶ ἐπ’ ἔργον ἐξίασιν, οὐχ ὡς αἱ γέρανοι <vgl. Il. 3, 3-7>, φιλάλληλοί τέ εἰσι μεταβαίνουσαί τε πολλὰς ἀρχὰς πτήσεως ποιοῦνται. (schol. AbT ad Il. 2, 87 a = I 194, 61-67 Erbse) („… dies ist das erste Gleichnis Homers … Der Ausflug in Scharen passt gut: Ihre Ausrüstung sind nämlich ihre Stacheln, sie sind gehorsam und entsenden zur Arbeit, ganz anders als die Kraniche, auch sind sie einander zugetan, und im Hin- und Herfliegen beginnen sie ihren Flug oftmals wieder neu.“) Vier Vergleichspunkte sind hier genannt: (1) Bewaffnung, (2) Befehl und Gehorsam, (3) Zusammenhalt, (4) unablässige Bewegung. Der anonyme Scholiast streicht damit vor allem die „militärischen“ Eigenschaften der Bienen heraus, wohingegen Vergil bewusst den Akzent auf die Tätigkeiten der Bienen im Frieden legt (Erziehung der Jugend und Honigproduktion; nur in Aen. 1, 434-435 kommt die Abwehr äußerer Feinde ins Spiel). Homers geschickte Wahl von Vergleichspunkten wird im Scholion ausdrücklich gelobt, was der Beurteilung durch Eustathius widerspricht. Hätte Homer aber die Punkte ebenfalls gebracht, die Vergil hinzufügt, so hätte er sich dem Vorwurf mangelnder sachlicher Anbindung ausgesetzt. Bei Eustathius tritt dieser Zusammenhang zurück, was dazu führt, dass er durch seine isolierte Betrachtung die Aufmerksamkeit ausschließlich auf den stilistischen Aspekt der detailreichen Ausgestaltung ( cultus ) und eben nicht auf den der Proprietät legt. 556 Ps.-Plutarch und der anonyme Kommentator zeigen an dieser Stelle Optionen für eine ausgewogenere Bewertung auf. Die Absicht des Eustathius war es an dieser Stelle weniger, eine derart ausgewogene Bewertung bzw. allgemeine Kriterien für ein gelungenes Gleichnis zu geben, sondern einen besonderen Aspekt des cultus zu illustrieren. 556 Vgl. zu diesem Kriterium auch → Kap. 4.3. <?page no="197"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 197 b) Trostreden ( Aen. 1, 198 - 204 und Od. 12, 208 - 212; Sat. 5, 11, 5 - 8) Eustathius zitiert in Sat. 5, 11, 5 die Anfangsverse aus der Trostrede des Aeneas an seine gestrandeten Gefährten ( Aen. 1, 198-204). Vergil habe sich hier als der locupletior interpres Homers erwiesen: o socii (neque enim ignari sumus ante malorum), | o passi graviora, dabit deus his quoque finem. | vos et Scyllaeam rabiem penitusque sonantes | accestis scopulos, vos et Cyclopea saxa | experti: revocate animos maestumque timorem | mittite; forsan et haec olim meminisse iuvabit. | per varios casus … et reliqua < scil. Aen. 12, 204-207>. Als Vorlage identifiziert Eustathius Od. 12, 208-212, obwohl DS erv. ad Aen. 1, 198 = I 78, 1-2 Thilo-Hagen ( et totus hic locus de Naevio belli Punici libro translatus est ) eine Stelle bei Naevius ( frg. 13 Blänsdorf) - die sich sicherlich ebenfalls eng an Homer anlehnte - als direktes Vorbild nennt: 557 ὦ φίλοι, οὐ γάρ πώ τι κακῶν ἀδαήμονές εἰμεν· | οὐ μὲν δὴ τόδε μεῖζον ἔπι κακόν, ἠ’ ὅτε Κύκλωψ | εἴλει ἐνὶ σπῆϊ γλαφυρῷ κρατερῇφι βίῆφιν· | ἀλλὰ καὶ ἔνθεν ἐμῇ ἀρετῇ βουλῇ τε νόῳ τε | ἐκφύγομεν, καί που τῶνδε μνήσεσθαι ὀΐω. („Freunde! Sind wir doch bislang nicht unerfahren in schlimmen Dingen! Gewiss steht uns dort kein größeres Übel bevor als damals, wo uns der Kyklop einschloss in der gewölbten Höhle mit übermächtiger Gewalt. Doch auch von dort sind wir durch meine Tüchtigkeit: meinen Rat wie wachen Sinn, entkommen. So werden wir uns auch dessen hier, so denke ich, einmal erinnern.“ ÜS Schadewaldt ) Der erste von Eustathius genannte Vorzug berührt die quantitative Dimension (Detailfülle) des cultus : Ulixes ad socios unam commemoravit aerumnam: hic ad sperandam praesentis mali absolutionem gemini casus hortatur eventu . Aeneas nennt mit Scylla und den „Kyklopenfelsen“ 558 zwei Abenteuer und stärkt Eustathius zufolge auf diese Weise die argumentative Kraft seiner Rede. Eustathius hebt also den Aspekt der Quantität hervor, Servius in seinem Kommentar z. St. die Qualität des gewählten Sachbereichs; vgl. Serv. ad Aen. 1, 200 = I 78, 8-10 Thilo-Hagen (exempla pro negotiorum qualitate sumere debemus, ut hoc loco in marinis periculis ponit peractae tempestatis exempla). Beide Argumente sind rhetorisch: Das übergeordnete Redeziel, dem Aeneas folgt, wird jedoch 557 Vgl. dazu Wigodsky (1972), S. 23. 558 Die genaue Bedeutung von Cyclopea saxa war umstritten; (D)Serv. ad Aen. 1, 201 = I 78, 17-25 Thilo-Hagen schlägt die vom Kyklopen auf Odysseus geworfenen Steine, Sizilien, den Aetna u. a. vor. Vgl. auch Conington / Nettleship (1963), S. 26-27 z. St.: „… they did not actually enter the cave of the Cyclops, but they landed on the shore, and so may be said to have known it. So they did not actually pass Scylla, but they came near enough to be in danger. In Od. 12, 209 Ulysses consoles his crew by reminding them of their escape from the Cyclops, but carefully avoids mentioning Scylla, which they were just approaching.“ <?page no="198"?> 198 5. Macrobius, Saturnalia nur in den Kommentaren explizit genannt; vgl. (D)Serv. ad Aen. 1, 199 = I 78, 3-6 Thilo-Hagen (arte magna utitur. vult enim eos meminisse gravissimorum, ut praesentia facilius tolerent. et bene graviora dicit esse transacta, ut de praesenti eos naufragio consoletur, et ut ostendat futura esse leviora). Im Kontext der Aeneasrede bezieht aber auch Eustathius die Kategorie des cultus auf die argumentative Überzeugungskraft und die Wirkabsicht des Redners. 559 Beim zweiten von Eustathius genannten Vorzug geht es um die Klarheit der Aussage , also um einen qualitativen Aspekt des cultus (vgl. auch die eingangs zitierte Forderung Quintilians nach perspicuitas ). Eustathius führt zu Aen. 1, 203 b aus: deinde ille obscurius dixit, καί που τῶνδε μνήσεσθαι ὀΐω , hic apertius, ‘forsan et haec olim meminisse iuvabit.’ Vergil übersetzt Homers Halbvers wörtlich und ändert seine Vorlage nur durch die Einfügung des Wortes iuvabit . Eustathius dürfte sich also auf dieses Wort beziehen, wenn er Vergil eine „offenere“ bzw. „deutlichere“ Formulierung bescheinigt: Odysseus stellt nur fest, dass man sich künftig an die gegenwärtigen Gefahren erinnern wird, Aeneas verheißt seinen Gefährten dagegen zusätzlich Vergnügen an der Erinnerung, was seine Rede natürlich überzeugender macht. 560 Die letzte Bemerkung des Eustathius bezieht sich auf die in den Saturnalia nicht zitierten Schlussverse der Aeneasrede ( Aen. 1, 204-207): per varios casus, per tot discrimina rerum | tendimus in Latium, sedes ubi fata quietas | ostendunt; illic fas regna resurgere Troiae. | durate et vosmet rebus servate secundis. Hier kommt Eustathius auf den rhetorischen Redezweck als übergeordnetes Kriterium zu sprechen: sed et hoc quod vester adiecit solacii fortioris est . Neben den Exempla der gemeinsam durchgestandenen Gefahren gebe Aeneas bei Vergil zusätzlich noch einen Ausblick auf das künftige Glück: suos enim non tantum exemplo evadendi, sed et spe futurae felicitatis animavit, per hos labores non solum sedes quietas sed et regna promittens . Anders Odysseus bei Homer: Seine Rede besteht im zweiten Teil ( Od. 12, 213-221) nur mehr aus konkreten Anweisungen für die anstehende Durchschiffung von Skylla und Charybdis. Der Vergleich mit Homer soll an dieser Stelle verdeutlichen, welche Relevanz die Kategorie des cultus für die argumentative Überzeugungskraft der Rede hat. Die rhetorischen Fähigkeiten, die Odysseus hier an den Tag legt, werden von 559 Vgl. zur Deutung dieser Rede als consolatio in den spätantiken Vergilkommentaren auch Cyron (2009), S. 172. 560 Eine Notiz im Servius auctus zeigt übrigens, dass man über die genaue Bedeutung des Wortes iuvabit an dieser Stelle uneins war; vgl. DServ. ad Aen. 1, 203 = I 79, 19-20 Thilo- Hagen ( sicut nunc priorum meminisse iuvat. et multi ‘iuvabit’ non delectabit, sed usus erit tradunt ). <?page no="199"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 199 Eustathius nicht in Frage gestellt, doch zeigt Vergils Imitation, wie man durch noch sorgsamere Bearbeitung die Rede überzeugender gestalten kann. 561 c) Baumgleichnisse ( Aen. 2, 626 - 631 und Il. 13, 389 - 91-= 16, 482 - 484; Sat. 5, 11, 9) Vergil vergleicht in Aen. 2, 626-631 das brennende Troja mit einer Bergesche, die von den Bauern im Gebirge geschlagen wird und nach langem Widerstand schließlich zu Boden stürzt: ac veluti summis antiquam in montibus ornum | cum ferro accisam crebrisque bipennibus instant | eruere agricolae certatim: illa usque minatur | et tremefacta comam concusso vertice nutat, | vulneribus donec paulatim evicta supremum | congemuit traxitque iugis avulsa ruinam. Eustathius erkennt darin ein homerisches Gleichnis wieder, das zweimal in der Ilias vorkommt. An der ersten Stelle ( Il. 13, 389-391) tötet Idomeneus den Asios, an der zweiten Stelle ( Il. 16, 482-484) Patroklos den Sarpedon: ἤριπε δ᾽ ὡς ὅτε τις δρῦς ἤριπεν ἠ’ ἀχερωῒς | ἠὲ πίτυς βλωθρή, τήν τ᾽ οὔρεσι τέκτονες ἄνδρες | ἐξέταμον πελέκεσσι νεήκεσι νήϊον εἶναι. („Und er stürzte, wie wenn eine Eiche stürzt oder Silberpappel | Oder eine Fichte, eine hochragende, die in den Bergen Zimmermänner | Herausschlugen mit Äxten, neugeschliffenen, um ein Schiffsbalken zu sein …“ ÜS Schadewaldt ) Der Unterschied zwischen Modell und Nachahmung ist deutlich und wird von Eustathius ohne eingehende Analyse registriert: magno cultu vester difficultatem abscidendae arboreae molis expressit, verum nullo negotio Homerica arbor absciditur . Trotz einiger homerischer Anklänge 562 haben Vergils Verse auch kaum 561 Das homerische Vorbild als Bezugsgröße für die rhetorische Analyse steht auch hinter einer Bemerkung im Servius auctus . Dort heißt es über die bevorstehenden Gefahren, die Aeneas seinen Gefährten in Aussicht stellt: et bene dicendo ‘casus’ et ‘discrimina’ praeterita attenuat; neque enim ait ‘pericula’ . Dass er eine allzu konkrete Bezeichnung der anstehenden Gefahr in seiner Rede zu vermeiden sucht, bekennt nämlich auch Odysseus, wenn er in Od. 12, 223-225 sagt: Σκύλλην δ’ οὐκέτ’ ἐμυθεόμην, ἄπρηκτον ἀνίην, | μή πώς μοι δείσαντες ἀπολλήξειαν ἑταῖροι | εἰρεσίης, ἐντὸς δὲ πυκάζοιεν σφέας αὐτούς („Doch von der Skylla sagte ich nichts weiter: der Plage, gegen die nichts auszurichten, damit mir die Gefährten nicht in Furcht abließen von der Ruderarbeit und sich in dem Schiff zusammendrängten“ ÜS Schadewaldt ). - Das Interesse an den rhetorischen Strategien in der Trostrede des Aeneas zeigt sich außerdem in (D)Serv. ad Aen. 1, 198 = I 77, 19-21 Thilo-Hagen (bene autem socios dixit, ut se eis exaequaret. quidam socios proprie remiges accipiunt, sed illi socii navales appellantur ) und Serv. ad Aen. 1, 204 = I 79, 21 Thilo-Hagen (argumentum a conpensatione). 562 Vgl. etwa comam in Aen. 6, 629 (~ κόμη in Od. 23, 195) sowie Horsfall (2008), S. 449 und 451. <?page no="200"?> 200 5. Macrobius, Saturnalia mehr als das Thema mit dem Gleichnis aus der Ilias gemein. Doch Vergil ist, wie in der Forschung 563 bereits mehrfach festgestellt, an dieser Stelle noch anderen Modellen gefolgt. Eines davon stammt ebenfalls aus Homer: In Il. 4, 482-487, wo vom Tod des Simoeisios im Bild einer niederstürzenden Pappel die Rede ist, wird dem eigentlichen Fällen nur ein einziger Vers gewidmet ( Il. 4, 485), die Ähnlichkeiten sind eher gering. In einem anderen Vorbildtext hat die detaillierte Schilderung Vergils eine nähere Entsprechung. Apollonios vergleicht im vierten Buch der Argonautika den Tod des Talos mit einer umstürzenden Kiefer (Apoll. Rhod. 4, 1682-1686): ἀλλ’ ὥς τίς τ’ ἐν ὄρεσσι πελωρίη ὑψόθι πεύκη, | τήν τε θοοῖς πελέκεσσιν ἔθ’ ἡμιπλῆγα λιπόντες | ὑλοτόμοι δρυμοῖο κατήλυθον, ἡ δ’ ὑπὸ νυκτί | ῥιπῇσιν μὲν πρῶτα τινάσσεται, ὕστερον αὖτε | πρυμνόθεν ἐξαγεῖσα κατήριπεν … („… sondern wie eine gewaltige, hochragende Bergfichte, die Holzfäller mit ihren scharfen Beilen erst halbgeschlagen beim Verlassen des Waldes zurückgelassen haben und die dann des Nachts unter dem Andrang <des Windes> zunächst schwankt und schließlich, von Grund auf entwurzelt, umstürzt: …“ ÜS Glei ) Auch diese Stelle geht auf die Ilias zurück. Hinter der Homerimitation des Apollonios steht ein vergleichbares ästhetisches Prinzip, wie es auch Eustathius an Vergil lobt: Ein konkreter Vorgang wird nicht allgemein, sondern in seinen einzelnen Details geschildert. Das Besondere der Aeneisstelle wird erst im Vergleich mit dem späteren Modell deutlich: Vergil geht noch über Apollonios hinaus, indem er dem Baum im Niederstürzen Züge eines verwundeten Menschen gibt ( minatur ; tremefacta comam concusso vertice nutat ; vulneribus … evicta ; congemuit ). Der Verweis auf Apollonios fehlt in den Saturnalia , weshalb einerseits ein wichtiges - und wohl das primäre - Vorbild für Vergil übergangen wird, andererseits aber auch das Alleinstellungsmerkmal der vergilischen Bearbeitung dieses Themas, die Vermenschlichung des niederstürzenden Baumes, nicht recht deutlich wird. Für Eustathius ist eine ausgewogene Bewertung aber offenbar zweitrangig: Um den besonderen Aspekt der detaillierten Hergangsbeschreibung als Weg zum cultus zu illustrieren, reicht der einfache Vergleich mit Homer nämlich durchaus hin. d) Nächtliche Sternbetrachtung ( Aen. 3, 513 - 517 und Od. 5, 270 - 274; Sat. 5, 11, 10 - 13) Eustathius führt Aen. 3, 513-517, wo die nächtliche Sternbetrachtung durch Palinurus beschrieben wird, auf ein homerisches Vorbild zurück: 563 Vgl. Horsfall (2008), S. 448-449 (mit Literatur). <?page no="201"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 201 haud segnis strato surgit Palinurus et omnes | explorat ventos atque auribus aëra captat: | sidera cuncta notat tacito labentia caelo, | Arcturum Pliadasque Hyadas geminosque Triones, | armatumque auro circumspicit Oriona. In Od. 5, 270-274 segelt Odysseus und orientiert sich dabei durch Beobachtung der Sterne: αὐτὰρ ὁ πηδαλίῳ ἰθύνετο τεχνηέντως | ἥμενος· οὐδέ οἱ ὕπνος ἐπὶ βλεφάροισιν ἔπιπτεν | Πληϊάδας τ᾽ ἐσορῶντι καὶ ὀψὲ δύοντα Βοώτην | Ἄρκτον θ᾽, ἣν καὶ ἄμαξαν ἐπίκλησιν καλέουσιν, <= Il. 18, 487> | ἥ τ᾽ αὐτοῦ στρέφεται καί τ᾽ Ὠρίωνα δοκεύει <= Il. 18, 488> <…> („Doch mit dem Ruder steuerte er kunstgerecht und saß, und es fiel ihm kein Schlaf auf die Augenlider, während er auf die Pleiaden blickte und den spät versinkenden Bootes und die Bärin, die sie auch Wagen mit Beinamen nennen, die sich auf derselben Stelle dreht und nach dem Orion späht …“ ÜS Schadewaldt ) Diese Verse wurden in der Antike ausführlich kommentiert, auch um Homers Kenntnisse auf dem Gebiet der Astronomie zu belegen. 564 Traditionell berief man sich in diesem Zusammenhang aber auf eine Stelle aus der Schildbeschreibung der Ilias ( Il. 18, 486-489), wo nicht eigentlich der Sternenhimmel, sondern dessen Abbildung als kosmologisches Ornament beschrieben wird. Diese Verse stimmen z. T. wörtlich mit der oben zitierten Odysseestelle überein. Ein Vergleich der drei Texte zeigt zudem, dass Vergil beide Homerstellen im Auge hatte, als er Aen. 3, 513-517 formulierte: 565 Πληϊάδας θ’ Ὑάδας τε τό τε σθένος Ὠρίωνος | Ἄρκτόν θ’, ἣν καὶ Ἄμαξαν ἐπίκλησιν καλέουσιν, <= Od. 5, 273> | ἥ τ’ αὐτοῦ στρέφεται καί τ’ Ὠρίωνα δοκεύει, <= Od. 5, 274> | οἴη δ’ ἄμμορός ἐστι λοετρῶν Ὠκεανοῖο. („Die Pleiaden und die Hyaden und die Kraft des Orion | Und die Bärin, die sie auch ‘Wagen’ mit Beinamen nennen, | Die sich auf derselben Stelle dreht und nach dem Jäger Orion späht | Und allein nicht teil hat an den Bädern im Okeanos.“ ÜS Schadewaldt ) Auch in Il. 18, 486-489 folgt die Aufzählung der Sternbilder, wie in Od. 5, 270-274, der einfachen Richtung von Süden nach Norden, wobei in den Ilias- 564 Dieses Thema wird ausführlich behandelt bei Ps.-Plut. de Hom. B 104-105 = 1075-1106 Kindstrand (über die Sonne) und 106 = 1107-1118 Kindstrand (über die Gestirne; ~ schol. E ad Od. 5, 272 = 269, 23-32 Dindorf). Vermutlich gab es dazu auch Monographien in größerer Zahl; vgl. das verlorene Werk des Poseidonios mit dem Titel Σύγκρισις Ἀράτου καὶ Ὁμήρου περὶ τῶν μαθηματικῶν ( frg. 48 a - b Edelstein-Kidd = frg. 303 a - b Theiler) sowie Hillgruber (1999), S. 236-239. 565 Vgl. besonders die Erwähnung der Hyaden, die in Il. 18, 486 eng gekoppelt mit den Pleiaden genannt werden, und die Entsprechung von τό … σθένος Ὠρίωνος und armatum… auro … Oriona . <?page no="202"?> 202 5. Macrobius, Saturnalia versen drei südliche und ein nördliches Sternbild genannt werden, während sich der Blick in der Odyssee auf ein südliches und zwei nördliche Sternbilder richtet. Vergils Palinurus lenkt seinen Blick vom Nordsternbild Bootes mit seinem Stern Arcturus zu den Südsternbildern Plejaden und Hyaden, dann zurück in den Norden zu den beiden Bären ( Triones ) 566 und erneut in den Süden zu Orion. Die homerische Bewegung ist also bei Vergil umgekehrt und verdoppelt. 567 Eustathius erkennt darin eine bewusste Gestaltungsabsicht Vergils, der die unruhigen Kopfbewegungen des Steuermanns bei der nächtlichen Himmelsbetrachtung nachzeichnen wollte: gubernator qui explorat caelum crebro reflectere cervicem debet, captando de diversis caeli regionibus securitatem sereni. hoc mire et velut coloribus Maro pinxit. nam quia Arcturus iuxta septemtrionem est, Taurus vero in quo Hyades sunt, sed et Orion, in regione austri sunt, crebram cervicis reflexionem in Palinuro sidera consulente descripsit. ‘Arcturum’ inquit: ecce intuetur partem septemtrionis; deinde ‘Pliadasque Hyadas’: ecce ad austrum flectitur; ‘geminosque Triones’: rursus ad septemtriones vertit aspectum; ‘armatumque auro circumspicit Orionem’: iterum se ad austrum reflectit. sed et verbo ‘circumspicit’ varietatem saepe se vicissim convertentis ostendit. ( Sat. 5, 11, 11-12) Ausgehend von allgemeinem Erfahrungswissen über die Verhaltensweisen von Steuermännern analysiert Eustathius die Anordnung der Sternbilder in Aen. 3, 516-517. Abschließend belegt er die von ihm postulierte Intention Vergils durch den Verweis auf Vergils Wortgebrauch ( circumspicit ). Bei Homer liege hingegen, wie in Sat. 5, 11, 13 festgestellt, die einfache Süd-Nord-Bewegung vor: Homerus gubernatorem suum semel inducit intuentem Pliadas, quae in australi regione sunt, semel Booten et Arcton, quae sunt in septentrionali polo . Eustathius unterstellt in beiden Fällen, dass die Dichter die Reihenfolge der genannten Sternbilder von der jeweiligen Figurenperspektive abhängig machen. Die Anschaulichkeit der vergilischen Darstellung (vgl. hoc mire et velut coloribus Maro pinxit ) beruht demnach auf einem genauen Abbildungsverhältnis zwischen der gewählten Anordnung der Sternbilder und den aus der Erfahrung bekannten Gewohnheiten von Steuermännern unter Berücksichtigung ihrer besonderen Figurenperspek- 566 Vgl. zur Bedeutung DServ. ad Aen. 3, 516 = I 431, 1-3 Thilo-Hagen ( Triones ] id est septentriones duos, Cynosuram [„Kleiner Bär“] et Helicen [„Großer Bär“] . Varro autem ait boves triones dici. et haec signa etiam plaustra dicuntur, quae a bobus necessario trahi solent, ut Graeci ἄρκτον ἅμαξαν.). 567 An anderer Stelle - vgl. georg. 1, 138 ( Pleiadas, Hyadas, claramque Lycaonis Arcton ) - übernimmt Vergil die einfache Süd-Nord-Bewegung Homers. Weitere Zeugnisse zur Nachwirkung von Od. 5, 272-274 bringen Heubeck / West / Hainsworth (1988), S. 276. <?page no="203"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 203 tive. 568 Diese korrekte Abbildungsrelation lässt die Szene realistisch wirken, weil die Imagination des Hörers bzw. Lesers nicht gestört wird (vgl. auch das bereits zitierte Wahrscheinlichkeitspostulat bei Quint. inst. 8, 3, 70 a ). e) Schmähung der Abkunft ( Aen. 4, 365 - 367 und Il. 16, 33 - 34; Sat. 5, 11, 14 - 19) Das Verhältnis der beiden nächsten Stellen wird außer in den Saturnalia noch bei Servius (Serv. ad Aen. 4, 367 = I 529, 3-9 Thilo-Hagen) und Gellius (Gell. 12, 1, 13-16 u. 20) eingehender besprochen und gehört zu den Standardbeispielen vergilischer Homerimitatio. 569 In unserem Zusammenhang soll wieder der besondere Aspekt des cultus , den Eustathius mit diesem Beispiel veranschaulichen möchte, im Vordergrund stehen. - Dido schmäht Aeneas in Aen. 4, 365-367, indem sie seine edle trojanische Abkunft in Frage stellt: nec tibi diva parens, generis nec Dardanus auctor, | perfide, sed duris genuit te cautibus horrens | Caucasus Hyrcanaeque admorunt ubera tigres. Diese Worte, die auf Didos früheres Lob in Aen. 4, 12 ( credo equidem, nec vana fides, genus esse deorum ) Bezug nehmen, verdeutlichen - wie schon von Serv. ad Aen. 3, 365 = I 528, 24-27 Thilo-Hagen bemerkt - den Sinneswandel Didos. 570 - Bei Homer ist es Patroklos, der in Il. 16, 21-45 versucht, Achilleus zur Aufgabe des Zorns zu bewegen, indem er diese Worte an ihn richtet ( Il. 16, 33-34): νηλεές, οὐκ ἄρα σοί γε πατὴρ ἦν ἱππότα Πηλεὺς, | οὐδὲ Θέτις μήτηρ, γλαυκὴ δέ σε τίκτε θάλασσα | <πέτραι τ’ ἠλίβατοι, ὅτι τοι νόος ἐστὶν ἀπηνής.> („Erbarmungsloser! Dein Vater war nicht der Rossetreiber Peleus | Noch auch Thetis die Mutter: das blanke Meer hat dich geboren <| Und schroffe Felsen, denn dein Sinn ist ohne Milde! >“ ÜS Schadewaldt ) Eustathius identifiziert zunächst Aen. 4, 367 b ( Hyrcanaeque admorunt ubera tigres ) als Erweiterung der homerischen Vorlage ( Sat. 5, 11, 15) und erläutert dann ausführlich, warum Vergil diese Änderung vorgenommen hat. Seine Argumen- 568 Ob diese spitzfindige Erklärung tatsächlich die Intentionen Vergils trifft, lässt sich nicht mit Gewissheit entscheiden. Wahrscheinlicher ist es, dass der Rechtfertigungsversuch als Reaktion auf eine vorausliegende Kritik zu erklären ist, die die auffällige Anordnung der Sternbilder bei Vergil zum Gegenstand hatte, um daraus den Vorwurf astronomischer Unkenntnis abzuleiten. Eine vergleichbare kritische Tendenz äußert DServ. ad Aen. 3, 516 = I 430, 28-431, 1 Thilo-Hagen ( … quidam autem ‘arcturum vel pluvias hyadas’ accipiunt, quia non utraque uno tempore oriuntur: quod si ita est, erit ‘que’ pro ‘ve’. … ). 569 Vgl. Scaffai (2006), S. 89-94. Servius stößt sich an der Lokalisierung der Tigerinnen im Kaukasus sowie an der Vorstellung, der (männliche) Gebirgszug hätte Aeneas „gebären“ können, eine Schwierigkeit, die bei Homer (γλαυκὴ δέ σε τίκτε θάλασσα) nicht besteht. 570 Quellen und Nachwirkung dieser vergilischen Stelle sind nachgezeichnet bei Pease (1967), S. 314-315 zu Aen. 4, 365. <?page no="204"?> 204 5. Macrobius, Saturnalia tation beginnt mit der Feststellung, dass die Eigenschaften der Amme bzw. ihrer Milch großen Einfluss auf die Entwicklung von Neugeborenen hat, weil sich Milch und Samenflüssigkeit vermischten ( Sat. 5, 11, 15). Aus dem Blut, aus dem sich zuvor im Mutterleib der Körper des Kindes gebildet habe, entstehe nach der Geburt die Muttermilch ( Sat. 5, 11, 16 ~ Gell. 12, 1, 12-13). Daher gewährleisteten Samen und Muttermilch in gleicher Weise die Ähnlichkeit zwischen Eltern und Kinder ( Sat. 5, 11, 17 ~ Gell. 12, 1, 14). Das gelte sowohl für die Menschen als auch für die Tiere ( Sat. 5, 11, 18 ~ Gell. 12, 1, 15). Auch bei Pflanzen habe die Qualität des Wasser dieselbe Bedeutung wie der Samen, aus dem sie entstanden sind ( Sat. 5, 11, 19 ~ Gell. 12, 1, 16). Zweimal weist Eustathius nach dieser umständlichen - letztlich ganz aus Gellius geschöpften - physiologischen Herleitung darauf hin, dass Dido mit der unterstellten Abkunft die Kraft ihrer criminatio erhöht ( Sat. 5, 11, 15: plene Vergilius non partionem solam … sed educationem quoque … criminatus est ; Sat. 5, 11, 19: ad criminandos igitur mores defuit Homero quod Virgilius adiecit ). Der cultus , der Didos Vorwürfe „voll“ ( plene ) erscheinen lässt, besteht hier also in einer Erweiterung der Angriffspunkte. Nicht mehr nur die Abstammung, sondern auch die Säugung durch die Tigerinnen soll die Härte des Aeneas erklären. Beide Aspekte werden von Eustathius auf dasselbe physiologische Wirkprinzip zurückgeführt. Wie schon bei den in Sat. 5, 11, 5-8 besprochenen Trostreden hat der cultus hier rhetorische Funktion, indem er die Wirksamkeit der Figurenrede durch Ergänzung eines physiologischen Details erhöht. 571 f) Wagengleichnisse ( Aen. 5, 144 - 147 und Od. 13, 81 - 83; Sat. 11, 20 - 22) Homer vergleicht in Od. 13, 81-83 die Schnelligkeit des Phäakenschiffes, das Odysseus nach Ithaka bringt, mit derjenigen von Rennpferden: οἱ δ᾽ ὥς τ’ ἐν πεδίῳ τετράοροι ἄρσενες ἵπποι, | πάντες ἀφορμηθέντες ὑπὸ πληγῇσιν ἱμάσθλης, | ὑψόσ᾽ ἀειρόμενοι ῥίμφα πρήσσουσι κέλευθα … („… wie im Felde vierspännige männliche Pferde, alle zugleich hinstrebend unter Peitschenhieben, sich hoch erhebend, schnell den Lauf vollbringen …“ ÜS Schadewaldt ) Vergil übernimmt den Schiff-Pferd-Vergleich in seiner Schilderung des Schiffsrennens in Aen. 5, 144-147: non tam praecipites biiugo certamine campum | corripuere ruuntque effusi carcere currus, | nec sic inmissis aurigae undantia lora | concussere iugis, pronique in verbera pendent. 571 Andere relevante Vorbildstellen ( Od. 19, 163; Eur. Bacch. 987-990; Theokr. 23, 19; Catull. 64, 154-157; vgl. Scaffai [2006], S. 91) bleiben bei Macrobius wieder unerwähnt. <?page no="205"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 205 Eustathius konzentriert sich hier ganz auf die Schilderung des Vergleichsgegenstandes, dessen Verhältnis zum Erzählgegenstand wird hingegen nicht berührt: Als Schwachstelle des homerischen Gleichnisses macht er dabei den Umstand aus, dass Homer nur den Vorgang des Laufens nennt ( Sat. 5, 11, 21: Graius poeta equorum tantum meminit flagro animante currentium ), Vergil alle einzelnen Aspekte dieses Laufes vom Verlassen der Schranken über das Erreichen des Feldes bis hin zu den Wagenlenkern, die sich über die Pferde lehnen, detailliert schildert ( Sat. 5, 11, 22: verum Maro et currus de carcere ruentes et campos corripiendo praecipites mira celeritate descripsit, et accepto brevi semine de Homerico flagro pinxit aurigas concutientes lora undantia et pronos in verbera pendentes: nec ullam quadrigarum partem intactam reliquit, ut esset illi certaminis plena descriptio ). Entscheidend für das abschließende Urteil ist, dass Vergil aus einer kleinen Andeutung bei Homer (vgl. Od. 13, 82: ὑπὸ πληγῇσιν ἱμάσθλης) die ganze zweite Hälfte seines Gleichnisses entwickelt, wo sich der Blick von den Pferden auf die Wagenlenker richtet. Das geschieht bei nahezu gleichbleibendem Umfang, was zum Eindruck der celeritas beiträgt. Wichtig für die generelle Tendenz seiner Bewertung ist, dass Eustathius trotz seiner grundsätzlichen Kritik einen Vorzug der homerischen Darstellung hervorhebt, der keine Entsprechung bei Vergil hat, nämlich das erzählerische Detail, dass die Pferde unter den Peitschenhieben ihrer Lenker in die Höhe springen, was Eustathius als versteckten Hinweis auf die körperliche Konstitution der Pferde deutet ( Sat. 5, 11, 21: licet dici non possit elegantius quam quod adiecit ὑψόσ᾽ ἀειρόμενοι , quo expressit quantum natura dare poterat impetum cursus ). Im Emporspringen haben andere antike Philologen nun aber gerade den eigentlichen Vergleichspunkt des Gleichnisses gesehen, wie aus einem Scholion z. St. deutlich hervorgeht: εὖ τῇ παραβολῇ κέχρηται. ὥσπερ γὰρ οἱ ἵπποι τρέχοντες ἐκ τῶν ὀπισθίων μερῶν διεγείρονται, οὕτω καὶ ἡ ναῦς ἐλαυνομένη ἐκ τῆς πρύμνης κουφίζεται („Das Gleichnis wendet er gut an. So wie nämlich die Pferde beim Laufen hinten hochgehoben werden, so wird auch das fahrende Schiff vom Heck her in die Höhe gehoben.“). 572 Im Auf und Ab der Pferdekörper spiegelt sich demnach bei Homer der optische Eindruck des bewegten Schiffes. Vergil hingegen lässt diesen Aspekt zurücktreten und rückt die Schnelligkeit der Bewegung ins Zentrum. - Wenn Homer für die Wahl dieses Vergleichspunktes allgemeines Lob 573 gefunden hatte, so soll der Hinweis des Eustathius in den Saturnalia diesem Umstand Rechnung tragen, ohne dass daraus aber ein naheliegender Vorwurf gegen Vergil formuliert wird. Stattdessen wird der Aspekt 572 Vgl. schol. BV ad Od. 13, 81 = 560, 28-30 Dindorf. 573 Vgl. Eust. ad Od. 1733 = II 40, 3-4 Stallbaum (ἐπαινοῦντες δὲ καὶ ἄλλως τὴν πρώτην παραβολὴν οἱ παλαιοί φασι τὸν ποιητὴν εὖ κεχρῆσθαι αὐτῇ). <?page no="206"?> 206 5. Macrobius, Saturnalia der Auf- und Abbewegung ausgeklammert und allein auf die Detailliertheit der Darstellung verwiesen. g) Kesselgleichnisse ( Aen. 7, 462 - 466 und Il. 21, 362 - 365; Sat. 11, 23 - 25) Die beiden Kesselgleichnisse Aen. 7, 462-466 und Il. 21, 362-365, auf die Eustathius in Sat. 11, 23-25 zu sprechen kommt, sind nur bedingt vergleichbar, da sie in sehr unterschiedlichen Kontexten stehen. Vergil charakterisiert mit seinem Gleichnis einen psychologischen Zustand, nämlich die Kriegswut des Turnus, der, von Allecto angestachelt, nachts vom Schlaf auffährt: 574 … magno veluti cum flamma sonore | virgea suggeritur costis undantis aëni, | exsultantque aestu latices, furit intus aquai | fumidus atque alte spumis exuberat amnis. | nec iam se capit unda: volat vapor ater ad auras. Anders Homer, der das Gleichnis dazu verwendet, um den konkreten optischen Eindruck vom Fluss Skamander zu vermitteln, der durch das Feuer des Hephaistos in Bedrängnis gerät: 575 ὡς δὲ λέβης ζεῖ ἔνδον ἐπειγόμενος πυρὶ πολλῷ | κνίσῃ μελδόμενος ἁπαλοτρεφέος σιάλοιο | πάντοθεν ἀμβολάδην, ὑπὸ δὲ ξύλα κάγκανα κεῖται, | ὣς τοῦ καλὰ ῥέεθρα πυρὶ φλέγετο, ζέε δ᾽ ὕδωρ. („Und wie ein Kessel siedet im Innern, bedrängt von vielem Feuer, | Fett ausschmelzend von einem wohlgenährten Mastschwein, | Allseits aufwallend, und darunter liegen trockene Scheite: | So flammten seine schönen Fluten im Feuer, und es siedete das Wasser.“ ÜS Schadewaldt ) Die ästhetische Wertung des Eustathius bezieht sich wieder nicht auf das Verhältnis von Erzähl- und Vergleichsgegenstand, sondern auf die Anschaulichkeit bei der Schilderung des Vergleichsgegenstandes selbst. Dabei fehlt es nicht an expliziter Wertschätzung des homerischen Modells, insbesondere der sprachlich auffällige Ausdruck πάντοθεν ἀμβολάδην findet bei Eustathius Anerkennung: Graeci versus aëni continent mentionem multo igne ebullientis, et totum ipsum locum haec verba ornant, πάντοθεν ἀμβολάδην , nam scaturrigines ex omni parte emergentes sic eleganter expressit. - Vergils literarisches Können bewährt sich in doppelter Hinsicht: Einmal setzt er der bloßen „Erwähnung“ ( mentio ) des sprudelnden Kessels bei Homer eine detailliertere Schilderung des kochenden Kessels entgegen, die auch die akustische Dimension einschließt, andererseits findet er für den gelungenen Ausdruck πάντοθεν ἀμβολάδην eine zwar längere, aber äs- 574 Vgl. dazu Horsfall (2000), S. 310-315. 575 Ganz wie im Parallelgleichnis Od. 12, 237-238, wo die aufschäumende Charybdis mit einem Wasserkessel verglichen wird, steht hier ein Sinneseindruck im Vordergrund. <?page no="207"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 207 thetisch äquivalente Ausdrucksform: in Latinis versibus tota rei pompa descripta est, sonus flammae et pro hoc quod ille dixerat: πάντοθεν ἀμβολάδην , exultantes aestu latices et amnem fumidum exuberantem spumis atque intus furentem: unius enim verbi non reperiens similem dignitatem compensavit quod deerat copiae varietate descriptionis. 576 Vergil gleicht den Mangel an Ausdrucksmöglichkeiten im lateinischen Wortschatz ( copia ) durch eine vielseitigere Hergangsbeschreibung ( varietas descriptionis ) aus. Dabei ist zu bemerken, dass es bei πάντοθεν ἀμβολάδην um einen seltenen, bei Homer singulären Ausdruck handelt, der sicherlich schon deshalb das Interesse an einem Vergleich mit seiner Nachbildung in der Aeneis provoziert hat (ἀμβολάδην = „in die Höhe getrieben, aufwallend“). 577 Eine abschließende Bemerkung soll die Wirklichkeitstreue Vergils belegen: adiecit post omnia, ‘nec iam se capit unda’, quo expressit quod semper usu evenit suppositi nimietate caloris . Eustathius resümiert, indem er sich auf allgemein bekanntes Erfahrungswissen beruft: bene ergo se habet poeticae tubae cultus, omnia quae in hac re eveniunt conprehendens . 578 Insgesamt werden also drei Aspekte genannt, in denen die künstlerische Qualität der vergilischen Imitation besteht: (1) detaillierte Abbildung eines Prozesses bei Vergil vs. statische Momentaufnahme bei Homer; (2) äquivalente Wiedergabe einer homerischen Glanzstelle durch Umschreibung; (3) Einbezug von Erfahrungswissen bei der Ausschmückung der Vorlage. h) Eichengleichnisse ( Aen. 9, 675 - 682 und Il. 12, 131 - 136; Sat. 11, 26 - 29) In der homerischen Teichomachie versucht Asios in das Lager der Griechen einzudringen ( Il. 12, 108-194). Polypoites und Leonteus verteidigen den Eingang zum griechischen Lager. Ihre Standfestigkeit im Kampf wird mit der Festigkeit von Eichen verglichen ( Il. 12, 131-136): τὼ μὲν ἄρα προπάροιθε πυλάων ὑψηλάων | ἕστασαν ὡς ὅτε τε δρύες οὔρεσιν ὑψικάρηνοι, | αἵ τ’ ἄνεμον μίμνουσι καὶ ὑετὸν ἤματα πάντα | ῥίζῃσιν μεγάλῃσι διηνεκέεσσ’ ἀραρυῖαι· | ὣς ἄρα τὼ χείρεσσι πεποιθότες ἠδὲ βίηφι | μίμνον ἐπερχόμενον μέγαν Ἄσιον οὐδὲ φέβοντο. 576 Vgl. auch Richardson (1993), S. 83 z. St. und Horsfall (2000), S. 310 über die klangliche Gestalt des Verses. 577 Vgl. Eva-Maria Voigt: Art. „ἀμβολάδην“, LfgrE I (1979), Sp. 615, 51-78 mit Hom. h. 4, 411. In der Antike scheint der Vers - anders als sein problematischer Vorgänger; vgl. schol. AbTGe ad Il. 21, 363 = V 209, 95-213, 63 Erbse - keine weiteren Diskussionen nach sich gezogen zu haben; vgl. Erbse im App. zu Il. 21, 364. 578 Dass Vergil das im Kessel kochende Fleisch des Mastschweins ( Il. 21, 363) bei seiner Nachbildung nicht erwähnt, übergeht Eustathius. Der Vers war in seiner Bedeutung bereits in der Antike umstritten; vgl. Porph. quaest. Hom. 54, 3 Sodano. Vergil dürfte ihn auch wegen seines niedrigen Gegenstandes als unpassend ignoriert haben; vgl. Horsfall (2000), S. 310. <?page no="208"?> 208 5. Macrobius, Saturnalia („Die beiden standen vorn vor den hohen Toren | So wie Eichen in den Bergen mit hohen Häuptern, | Die dem Wind standhalten und dem Regen alle Tage, | Mit großen, sich weit erstreckenden Wurzeln festgeklammert: | So hielten diese, ihren Händen und ihrer Gewalt vertrauend, | Stand, wie er herankam, dem großen Asios und flohen nicht.“ ÜS Schadewaldt ) Vergil greift diesen homerischen Vergleich im neunten Buch der Aeneis auf, um seine beiden Helden Pandarus und Bitias näher zu charakterisieren, die das Lager der Trojaner verteidigen ( Aen. 9, 675-682): portam, quae ducis imperio commissa, recludunt | freti armis, ultroque invitant moenibus hostem. | ipsi intus dextra ac laeva pro turribus astant | armati ferro et cristis capita alta corusci: | quales aeriae liquentia flumina circum | sive Padi ripis Athesim seu propter amoenum | consurgunt geminae quercus intonsaque caelo | attollunt capita et sublimi vertice nutant. Als inhaltlichen Hauptunterschied nennt Eustathius, (1) dass Homer seine beiden Kämpfer vor den Toren unbewegt ihren Feind erwarten lässt, während Vergil seine Helden in Aktion zeigt, nämlich beim Öffnen der Tore ( Sat. 5, 11, 28-29: Graeci milites Polypoetes et Leonteus stant pro portis et immobiles Asium advenientem hostem velut fixae arbores opperiuntur. hactenus est Graeca descriptio. verum Vergiliana Bitian et Pandarum portam ultro recludere facit, oblaturos hosti quod per vota <vgl. Aen. 9, 24> quaerebat, ut compos castrorum fieret, per hoc futuros in hostium potestate <vgl. Aen. 9, 703 und 722-755> …). Im Anschluss lobt Eustathius an Vergil die Erweiterung des homerischen Eichengleichnisses um (2) einen weiteren kurzen Vergleich ( Sat. 5, 11, 28: et geminos heroas modo turres vocat ; vgl. Aen. 9, 677: pro turribus astant ) und (3) um eine anschauliche Beschreibung des äußeren Erscheinungsbildes der Helden ( Sat. 5, 11, 28: modo describit luce cristarum coruscos ; vgl. Aen. 9, 678: armati ferro et cristis capita alta corusci ). Außerdem habe er (4) das eigentliche Baumgleichnis ( Aen. 9, 679-682) „reicher und schöner“ ausgestaltet ( Sat. 5, 11, 28: nec arborum, ut ille, similitudinem praetermisit, sed uberius eam pulchriusque descripsit ). Dazu ist zu bemerken: - Die Öffnung des Tores durch Bitias und Pandarus und die daraus resultierende Steigerung der Gefahr ist tatsächlich ein Zusatz Vergils und ohne Entsprechung im homerischen Modell. In Sat. 6, 2, 32 erläutert Rufius Albinus, dass Vergil hier eine Stelle aus den Annalen des Ennius imitiert habe: item de Pandaro et Bitia aperientibus portas locus acceptus est ex libro quinto decimo Ennii, qui induxit Histros duos in obsidione erupisse porta et stragem de obsidente hoste fecisse . Dieser Umstand spielt für Eustathius keine Rolle. - Die Interpretation von Aen. 9, 677 ( pro turribus ) im Sinne eines Kurzvergleichs ist problematisch und wurde bereits in der Antike kontrovers diskutiert. Aus- <?page no="209"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 209 gangspunkt ist wieder Homer: In Il. 12, 131 ist mit der Präposition προπάροιθε eindeutig ein räumliches Verhältnis ausgedrückt. 579 Es ergibt sich aber folgende Schwierigkeit: Die verteidigenden Lapithen befinden sich in Il. 12, 131-132 vor dem Tor. Den Ansturm des Asios erwarten die beiden jedoch innerhalb des Lagers , wie aus Il. 12, 145 zu ersehen ist (vgl. auch schol. D ad Il. 12, 142 = 412 van Thiel [ἔνδον] ἔσω τειχῶν] und schol. D ad Il. 12, 145 = 412 van Thiel [ἐκ δὲ τὼ ἀΐξαντε] ἐξελθόντς δὲ καὶ αὐτοί]). Die Lösungsvorschläge, die in der Antike vorgebracht wurden, brauchen hier nicht detailliert nachgezeichnet werden. 580 Es fällt aber auf, dass Vergil für diesen locus conclamatus einen nicht minder unklaren Ausdruck setzt. Schon in der Antike war man sich nämlich über den genauen Sinn von Aen. 9, 677 uneinig. Claud. Don. ad Aen. 12, 677-678 = 274, 8-14 Georgii überliefert eine umfangreiche Liste von Deutungsvorschlägen für pro . Seiner Meinung nach nehmen Pandarus und Bitias die Funktion von Türmen ein ( ad vicem turrium ). Die Auffassung von pro als lokaler Präposition ( ante turris ) wird abgelehnt, ebenso die Ansicht, die beiden Trojaner kämpften pro ipsarum defensione , also um des Erhalts der Türme willen . Liest man pro homerisch im lokalen Sinn, so müsste man nach dem vorangegangenen intus von einem Perspektivenwechsel des Erzählers ausgehen. 581 Außer von Charisius (Char. 305, 11-13 Barwick) wurde die lokale Deutung in der antiken Vergilerklärung aber nicht vertreten. Servius entscheidet sich in seinem Scholion z. St. zwar nicht zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, schließt eine lokale Deutung aber unausgesprochen aus. 582 Auch Eustathius vertritt in den Saturnalia die von Servius mit vice turrium bezeichnete Auffassung ( Sat. 5, 11, 29: geminos heroas modo turres vocat ). - Eustathius verkennt, dass Vergils Beschreibung des Helmschmuckes nicht einfach eine weitere Veranschaulichung leistet, sondern eng mit Vergils Neuinterpretation des Eichengleichnisses zusammenhängt (s. u.). - Eustathius ignoriert nämlich, dass Homer und Vergil ihre Eichengleichnisse jeweils durch ein weiteres vorbzw. nachgeschaltetes Gleichnis ergänzen. 579 Vgl. William A. Beck: Art. „προπάροιθε(ν)“, LfgrE III (2004), Sp. 1562, 24-26. 580 Vgl. Porph. ad Il. 12, 127-132 [4-13] = 177, 10-178, 23 Schrader. Als Lösungsstrategien kamen demnach Versumstellungen, Athetesen und die Annahme eines zeitlichen Rücksprungs in Frage. Die von Hainsworth (1993), S. 331-332 zu Il. 12, 127-153 referierten Lösungsversuche zeigen, dass die modernen Kommentatoren kaum Neues zur Klärung der Stelle beitragen konnten. 581 Zustimmend Dingel (1997), S. 249 zu Aen. 9, 677: „Wegen intus muss der Leser sich gleichsam in den Tordurchgang oder ins Lager stellen: Nur aus einer solchen Perspektive stehen Pandarus und Bitias ‚vor‘ den Türmen (d. h. Tortürmen); von außen betrachtet, stehen sie daneben oder dahinter. […] <Diese Deutung> hat auch den Vorzug, dass pro turribus hier ähnlich zu verstehen ist wie in 9, 575 < et summis stantem pro turribus Idan >.“ 582 Vgl. Serv. ad Aen. 9, 677 = II 370, 27 Thilo-Hagen (aut vice turrium aut pro defensione). <?page no="210"?> 210 5. Macrobius, Saturnalia Polypoites und Leonteus werden in Il. 12, 146-153 mit zwei wilden Ebern verglichen, die dem Angriff der Jäger begegnen. Dieses dynamische Bild steht in krassem Widerspruch zu der Statik, die das vorangegangene Eichengleichnis bestimmt, und soll den Umschwung der Situation - Polypoites und Leonteus stürmen nun auf das freie Feld hinaus - verdeutlichen. In der Verschiedenheit der Gleichnisse wird noch einmal deutlich, was Homer mit seinem Eichengleichnis bezweckt: Ihm geht es um die Standfestigkeit der beiden Kämpfenden. 583 Vergil hingegen wählt in beiden Baumgleichnissen einen anderen Vergleichspunkt, nämlich die Körpergröße : 584 Bei ihm ist nicht von den Wurzeln der Bäume die Rede, sondern von ihren Wipfeln ( aeriae … | … | consurgunt geminae quercus intonsaque caelo | attollunt capita et sublimi vertice nutant ). Daher steht es auch in keinem Widerspruch, dass er Pandarus und Bitias in Aen. 9, 674 mit den Tannen und Bergen vergleicht, um sie gleich im nächsten Vers dann die Tore öffnen zu lassen. So erklärt sich übrigens auch, dass Vergil in Aen. 9, 678 eigens auf den Helmschmuck an den „hohen Köpfen“ ( capita alta ) der Kämpfer hinweist, der im Anschluss dann ja mit den Wipfeln der Eichen verglichen wird. - Die „schönere und reichere“ Ausschmückung, die Eustathius Vergil bescheinigt, beruht daher nicht allein auf einer quantitativen Erhöhung der beschriebenen Details - Vergils Formulierung des Eichengleichnisses übertrifft diejenige Homers quantitativ um einen Vers -, sondern auf einer Akzentverschiebung, die den homerischen Vergleichspunkt aufhebt und durch einen anderen ersetzt. i) Der eherne Schlaf des Iphidamas ( Aen. 10, 745 - 746 und Il. 11, 241; Sat. 5, 11, 30) In Il. 11, 221-247 schildert Homer, wie der Antenorsohn Iphidamas gegen Agamemnon mit seiner Lanze ankämpft. Der Angriff misslingt und der Atride tötet den Feind mit seinem Schwert. Das Sterben des Jünglings wird mit folgenden Worten geschildert ( Il. 11, 241): ὣς ὃ μὲν ἔνθα πεσὼν κοιμήσατο χάλκεον ὕπνον („So fiel dieser dort und schlief den ehernen Schlaf …“ ÜS Schadewaldt ). Vergil 583 Den Unterschied stellt ein Scholion z. St. deutlich heraus; vgl. schol. bT ad Il. 12, 132-134 b = III 327, 43-47 Erbse (ἡ προκειμένη ἀπὸ τῶν δρυῶν εἰκὼν πρὸς τὴν στάσιν, ἡ δὲ τῶν συῶν <vgl. Il. 12, 146-150> πρὸς τὴν καρτερίαν τῶν βελῶν· καὶ τὸ δύο ὄντας ἀνθίστασθαι πολλοῖς ἀτάκτως βάλλουσιν εἴκασε συσὶ πρὸς πολλῶν κυνηγετῶν ἔφοδον ἀνθισταμένοις [„Das vorliegende Eichengleichnis geht auf die Standfestigkeit, das Ebergleichnis auf die Heftigkeit der Wurfgeschosse; und den Kampf zweier gegen eine Vielzahl von ungeordnet Werfenden verglich er mit Ebern, die sich dem Angriff vieler Jäger entgegenstellen.“]). 584 Vgl. zur riesenhaften Körpergröße des Bitias Aen. 9, 708 und des Pandarus Aen. 9, 734 (jeweils inmania membra ) sowie über den Tod des Pandarus Aen. 9, 752 ( ingenti concussa est pondere tellus ). <?page no="211"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 211 greift die Rede vom ehernen Schlaf des Iphidamas auf, wenn er den Trojaner Orodes durch die Hand des überlegenen Mezentius umkommen lässt ( Aen. 10, 745-746): 585 olli dura quies oculos et ferreus urget | somnus, in aeternam clauduntur lumina noctem. Eustathius bemerkt, Vergil habe Homers Vers „schmuckvoller“ ( cultius ) wiedergegeben, ohne genau aufzuzeigen, worin diese Ausschmückung besteht. Wie seine Bemerkungen und die beiden Stellen selbst zeigen, sind es vor allem zwei Strategien, die den cultus bei Vergil steigern helfen. - (1) Die genaue Bedeutung des homerischen Ausdrucks χάλκεον ὕπνον ist nicht klar. Zwei Vorstellungen sind denkbar: Entweder ist der „eherne Schlaf “ ein besonders tiefer Schlaf, oder er ist - als Todesschlaf - besonders hart, also unbequem für den Schlafenden. Dass man diese beiden Möglichkeiten diskutiert hat, zeigt noch eine Notiz im Kommentar des Byzantiners Eustathios: … χάλκεον μὲν ὕπνον … φησὶ ἢ τὸν στερρὸν διὰ τὸ ἀνέγερτον, ὥς που καὶ χάλκεον ἔφη δεσμὸν καὶ οὐρανόν, ἢ καὶ τὸν οὐ μαλακόν, ὁποῖον καὶ τὸ ἀλλαχοῦ μαλακὸν κῶμα, ἀλλὰ σκληρόν. (Eust. Il. 841, 29-32 = III 186, 11-14 van der Valk) („‘Ehern’ nennt er … entweder den festen Schlaf, weil man ihn nicht auflösen 586 kann, so wie er auch einmal eine Fessel <vgl. Il. 5, 391 mit van der Valk im App.> und den Himmel < Il. 16, 425> ‘ehern’ nennt, oder den Schlaf, der nicht ‘weich’ ist - etwa wie er auch an anderer Stelle vom ‘weichen Schlaf ’ < Il. 14, 359> spricht -, sondern hart.“) Vergil scheint beide Bedeutungsdimensionen berücksichtigt zu haben, wenn er das homerische Oxymoron χάλκεον ὕπνον mit dem Doppelausdruck dura quies und ferreus … | somnus wiedergibt. Die in dura zum Ausdruck kommende Vorstellung verbindet physische Härte mit Grausamkeit. 587 Vergil selbst greift an anderer Stelle diesen Aspekt auf, wenn er von der „Härte“ des Todes spricht. 588 Bei ferreus hingegen ist - wie auch der anschließende Halbvers Aen. 10, 745 in aeternam clauduntur lumina noctem expliziert - primär auf die ewige Dauer des Todes abgehoben. Vergil belässt aber den doppeldeutigen Charakter des griechischen χάλκεος, indem er seine Vorlage ändert und den Tod als ferreus 585 Die Verse Aen. 10, 745-746 werden in Aen. 12, 309-310, wo Alsus den Trojaner Podalirius mit einem Beilhieb tötet, wörtlich wieder aufgenommen (mit dem einzigen Unterschied conduntur statt clauduntur ; vgl. zur Überlieferung Tarrant [2012], S. 165 zu Aen. 12, 310). Servius identifiziert die Parallele nur an der zweiten Stelle; vgl. Serv. ad Aen. 12, 309 = II 605, 17 Thilo-Hagen (ferreus somnus] Homerus χάλκεος ὕπνος). 586 Van der Valk erwägt im Apparat z. St., dass die Erklärung χάλκεον ~ ἀνέγερτον auf ein älteres D-Scholion z. St. zurückgeht. 587 Vgl. Bannier, TLL V.1 2302, 43-2305, 39 und 2305, 58-2307, 41. 588 Vgl. georg. 3, 68 ( durae … inclementia mortis ) und Aen. 10, 791 ( mortis durae ). <?page no="212"?> 212 5. Macrobius, Saturnalia somnus - und nicht etwa als aeneus somnus - bezeichnet. 589 (2) Mit der von Eustathius gelobten „reicheren Ausschmückung“ ist aber auch der Nachsatz in aeternam clauduntur lumina noctem gemeint. Indem Vergil den Schlaf, in den Orodes bzw. Podalirius fallen, als ewige Todesruhe näher spezifiziert, räumt er jede Unklarheit beim Leser aus, wohingegen der Homerleser die Verbindung von Schlaf und Tod selbst herstellen muss. 590 Die ps.-plutarchische Trostschrift an Apollonios ergänzt erläuternd den Vergleichspunkt zwischen Tod und Schlaf unter Verweis auf Il. 11, 241 mit dem Stichwort der ἀναισθησία. 591 Vergil hebt in seiner ‘reicheren Ausschmückung’ der Stelle eben diesen Aspekt der Sinneswahrnehmung hervor, der den Zustand des Schlafes mit dem des Todes verbindet ( oculos … urguet | … in aeternam clauduntur lumina noctem ). 592 - Der cultus dient in beiden Fällen - also bei der Ersetzung des homerischen Oxymorons durch zwei bedeutungsähnliche Ausdrücke und bei der Hinzufügung eines den Bildbereich erläuternden Nachsatzes - der Klärung des Sinns , wodurch sich die Vorstellung in der Imagination des Hörers bzw. Lesers deutlicher einstellen soll, die Bildhaftigkeit der Modellstelle aber gewahrt bleibt. Vergil erfüllt damit die später von Quintilian aufgestellte Forderung nach Klarheit ( perspicuum ), neben der Wahrscheinlichkeit ( probabile ) eine der beiden Voraussetzungen für Anschaulichkeit (s. o.). 589 Das lateinische aēneus wird im übertragenen Sinne erst nach Vergil im Sinne von duritia oder perpetuitas verwendet (Bickel, TLL I 1445, 58-68). Der uneigentliche Gebrauch von ferreus findet sich dagegen schon früher (Rubenbauer, TLL VI.1 574, 29-78.). 590 Dass es sich beim χάλκεος ὕπνος um den Tod handelt, stellen die späteren Lexika z. St. heraus; vgl. Hesych. χ 68 = IV 197, 14-15 Hansen / Cunningham. Vgl. zu dieser verbreiteten Vorstellung die Stellen bei Harrison (1991), S. 251 zu Aen. 10, 745-746. 591 Ps.-Plut. cons. ad Apoll. 107 e (πάλιν τέ πού φησι τὸν θάνατον εἶναι ‘χάλκεον ὕπνον’, τὴν ἀναισθησίαν ἡμῶν αἰνιττόμενος). - In den Theokritscholien wird Homers Formulierung als Beispiel für einen Euphemismus zitiert; vgl. schol. Theocr. 1, 138 = 73, 15-17 Wendel (ἀνεπαύσατο] εὐφήμως τὸ ἀποθανεῖν ἀναπαύσασθαι ἔφη. καὶ Ὅμηρος < Il. 11, 241>· ‘ὣς ὁ μὲν αὖθι πεσὼν κοιμήσατο χάλκεον ὕπνον’). - Ein Scholion zu Sophokles’ Aias lobt in ähnlichem Sinne die gelungene Verwendung des Verbs κοιμᾶν im Zusammenhang mit Schlaf; vgl. schol. Soph. Ai. 832 = 71, 3-5 Papageorgius (εὖ με κοιμίσαι] θαυμαστῶς καὶ γενναίως κοιμίσαι εἶπεν ὡς ἐπὶ ὕπνου τὸν θάνατον· καὶ Ὅμηρος < Il. 11, 241> ‘κοιμήσατο χάλκεον ὕπνον’). 592 Vergil verwendet für seinen klärenden Nachsatz zwei weitere formelhafte Verse Homers, in denen der Tod als dunkle Nacht erscheint, die sich über die Augen des Sterbenden legt; vgl. Il. 4, 461 u. ö. (τὸν δὲ σκότος ὄσσε κάλυψεν [„und ihm umhüllte Dunkel die Augen“ ÜS Schadewaldt ]) und Il. 13, 580 u. ö. (τὸν δὲ κατ’ ὀφθαλμῶν ἐρεβεννὴ νὺξ ἐκάλυψεν [„Und dem verhüllte finstere Nacht die Augen“ ÜS Schadewaldt ; Hinweis bei Harrison [1991], S. 250 zu Aen. 745-746]). - Wie Tarrant (2012), S. 165 zu Aen. 12, 310 hervorhebt, imitiert Vergil in dieser pathetischen Schlachtenszene auch erotische Verse Catulls (Catull. 51, 11-12 gemina teguntur | lumina nocte ). <?page no="213"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 213 Zusammenfasssung Charakteristisch für die Beurteilung des homerischen bzw. vergilischen cultus durch Eustathius ist also, dass der Kritiker, dem Beweisziel seiner Untersuchung entsprechend, die den cultus betreffenden Aspekte stark in den Vordergrund rückt, u. U. auch unter Absehung des jeweils besonderen Kontextes ( Sat. 5, 11, 2-4; 11, 26-29). Bei den Gleichnissen ergibt sich daraus eine Tendenz zur Überbewertung der Detailfülle vor dem Kriterium der Proprietät des Vergleichspunkts ( Sat. 5, 11, 2-4; 11, 20-22). Dynamische bzw. prozesshafte Schilderungen erhöhen den cultus von eher statischen Vorbildstellen ( Sat. 11, 23-25). Eustathius klammert andere (nichthomerische) Modellstellen aus, die für eine ausgewogene Bewertung der jeweiligen Änderungen relevant sind und oft erst die Motivation für eine Umgestaltung durch Vergil erklären ( Sat. 5, 11, 9; 11, 26-29). Cultus ist auch ein rhetorischer Begriff i. e. S., wenn nämlich mit dieser Kategorie ein Mehr an Argumenten bezeichnet wird ( Sat. 5, 11, 5-8; 5, 11, 14-19). Auch eine die Bedeutung klärende Umformulierung wird im Sinne Quintilians als für den cultus förderlich herausgestellt ( Sat. 5, 11, 5-8; 5, 11, 30). Außerdem spielt das Kriterium der Wahrscheinlichkeit und der Nachvollziehbarkeit auf der Basis des allgemeinen Erfahrungswissens beim cultus eine wesentliche Rolle ( Sat. 5, 11, 10-13; 11, 23-25). 5.2.1.2 Homer vor Vergil: Verschiedene stilistische Einzelaspekte ( Sat. 5, 13) Nach den unkommentierten Beispielpaaren, die Vergils Gleichrangigkeit mit Homer belegen sollen ( Sat. 5, 12), folgt ein längerer Abschnitt über den Vorrang des homerischen Modells vor Vergil ( Sat. 5, 13). - Die ersten drei Beispiele, die die Überlegenheit Homers demonstrieren, lassen sich unter dem Stichwort celeritas zusammenfassen. Damit ist die knappe, prägnante Darstellung rascher Vorgänge gemeint, die dem Hörer bzw. Leser die Raschheit des Vorgangs sinnfällig machen soll, indem die Schilderung gleichsam in ein Abbildungsverhältnis zur Wirklichkeit tritt. Ähnlich wie bei den in Sat. 5, 11 unter dem Stichwort cultus besprochenen Beispielen soll damit wieder eine möglichst konkrete mentale Repräsentation beim Hörer bzw. Leser provoziert werden, wobei in diesem Falle der Parameter Zeit als Gestaltungsoption ins Spiel kommt. Wie die behandelten Szenen zeigen - Köpfung (Bsp. 1), Wagenrennen (Bsp. 2) und Wettlauf (Bsp. 3) -, zielt die Darstellung jeweils auf eine möglichst anschauliche visuelle Vorstellung ab, setzt demnach mit der Unterkategorie der celeritas das Thema der ἐνάργεια ( Sat. 5, 11) fort. 593 593 Mit vergleichbarer - nämlich auf Gefühlserregung (Pathos) abzielender - Wirkung hatte Macrobius das Thema „Zeit“ schon in Sat. 4, 3, 16 eingeführt, hier aber auf das entgegengesetzte Extrem bezogen: Eusebius führt aus, dass der Hinweis auf lange Zeiträume <?page no="214"?> 214 5. Macrobius, Saturnalia Als eine besondere Darstellungsstrategie Homers wird die knappe und konzentrierte Schilderung rascher Vorgänge auch in den Scholien betont. Wenn Achilleus beispielsweise in Il. 20, 455-456 Dryops mit seiner Lanze ersticht - der Vorgang nimmt in Homers Darstellung gerade einmal eineinhalb Verse ein (Ὣς εἰπὼν Δρύοπ’ οὖτα κατ’ αὐχένα μέσσον ἄκοντι· | ἤριπε δὲ προπάροιθε ποδῶν [„So sprach er, und den Dryops stieß er mitten in den Hals mit dem Speer, | Und er stürzte ihm vor die Füße.“ ÜS Schadewaldt ]) -, so findet sich im zugehörigen Scholion die folgende Notiz: ἐπιτρέχει τὸν τῶν βαρβάρων θάνατον, ἐπὶ τῇ εὐχερείᾳ καὶ ὀξύτητι τοῦ Ἀχιλλέως ταχύνας τὸν λόγον („Nur kurz handelt er den Tod der Barbaren ab, wobei er seine Rede wegen der Behändigkeit und Schnelligkeit des Achilleus beschleunigt“; vgl. schol. bT ad Il. 20, 456 = V 71, 67-69 Erbse). - Vgl. auch VI 500 Erbse (Index III s. v. „τάχος“ u. „ταχύς“). a) Erstes Bsp. für celeritas ( Aen. 10, 554 - 555 a -~ Il. 10, 457-= Od. 22, 329; Sat. 5, 13, 2) Der erste zitierte Homervers entstammt der Dolonie ( Il. 10, 457 = Od. 22, 329). Der trojanische Späher Dolon trifft des Nachts auf Odysseus und Diomedes und wird von diesen gefangengenommen. Nach dem Verhör durch Odysseus wird der Trojaner von Diomedes getötet. Dolon versucht noch, sich seinem Gegner durch Berührung des Kinns zu unterwerfen, doch da trennt ihm Diomedes schon mit dem Schwert den Kopf ab: φθεγγομένου δ᾽ ἄρα τοῦδε κάρη κονίῃσιν ἐμίχθη („Und während er noch aufschrie, wurde das Haupt mit dem Staub vermengt“ ÜS Schadewaldt ) In der parallelen Schilderung in Od. 22, 310-329 ist von Leiodes die Rede, der von Odysseus enthauptet wird. - Eustathius zitiert zwei Verse aus dem zehnten Buch der Aeneis , in denen der Tod des Tarquitius geschildert wird, den Aeneas grausam enthauptet ( Aen. 10, 554-555): tunc caput orantis nequiquam et multa parantis | dicere deturbat terrae truncumque reliquit. Das Urteil des Eustathius fällt zugunsten Homers aus: Dieser habe das Pathos der Szene bewahrt ( salvo pondere ), in seiner Darstellung aber im Gegensatz zu Vergil auch die Raschheit der Handlung adäquat ausgedrückt ( vide nimiam celeritatem …, ad quam non potuit conatus Maronis accedere ). Diese celeritas besteht, wie der Vergleich der beiden Stellen zeigt, in zwei Aspekten, nämlich (1) (z. B. georg. 4, 507 über die Trauerzeit des Orpheus: septem illum totos perhibent ex ordine menses ) Pathos bewirke. - Vgl. dazu Furnari Luvrà (1997), S. 318-323. <?page no="215"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 215 dem geringeren Versumfang bei vergleichbarer Handlung 594 und (2) dem feinen Unterschied, dass der Kopf Dolons noch Laute von sich gibt 595 , als er schon in den Staub gefallen ist. Von Tarquitius wird hingegen nur gesagt, dass er im Moment der Enthauptung „vergebens“ ( nequiquam ) bittet und „viele Worte zu machen versucht “ ( multa parantis | dicere ). Dieser zweite Aspekt lässt die Aeneisverse realistischer erscheinen. Ein Blick auf die Rezeption von Il. 10, 457 = Od. 22, 329 zeigt, dass die Änderung Vergils in den Kontext der kritischen Diskussion z. St. eingeordnet werden muss. Aristoteles lehnt in part. anim. 3, 10 = 673 a 12-17 die Vorstellung ab, dass der Kopf eines Enthaupteten noch sprechen könnte, wie dies von anderen eben mit Berufung auf Il. 10, 457 = Od. 22, 329 behauptet wurde. Er bevorzugt daher an dieser Stelle die - später auch allgemein akzeptierte - Lesart φθεγγομένου (statt φθεγγομένη scil. κάρη). 596 Das hängt damit zusammen, dass man bei der Lesart φθεγγομένου nicht notwendig daran denken musste, dass der Kopf nach dem Schwerthieb noch redete. Das Partizip konnte im konativen Sinne auf den Enthaupteten bezogen werden, womit die Plausibilität der Darstellung gewahrt blieb. 597 - Wie man sich den Vorgang konkret vorzustellen hatte, blieb aber auch unter Annahme der Alternativlesart problematisch. Ein Scholion rekonstruiert die physiologischen Details minutiös und versucht so eine Lösung des Problems: φθεγγομένου δ’ ἄρα τοῦ γε <κάρη κονίῃσιν ἐμίχθη>] ἅμα τῷ ἄρξασθαι φωνὴν ἀφεῖναι πρὶν σαφηνισθῆναι τὸ λεγόμενον· καὶ ἀνῆλθε μὲν τὸ πνεῦμα μέχρι τοῦ στόματος καὶ τὸν τόπον ὅλον πληρῶσαν ἐξεχύθη τῇ τμήσει τῆς κεφαλῆς, ὡς, εἰ καὶ σωλῆνά τινες μεστὸν ὕδατος διατέμοιεν, ἡ μὲν τῆς ἐπεισροῆς φορὰ εἴργεται, τὸ δὲ ἤδη διελθὸν ἐκχεῖται. (schol. bT ad Il. 10, 457 ex. = III 97, 56-61 Erbse) („Des Sprechenden <Kopf aber vermengte sich mit dem Staube>] Zugleich mit dem Beginn der Rede, bevor noch deutlich geworden ist, was gesagt werden soll. Und der 594 Vgl. dazu Nünlist (2009), S. 208-209, insbes. 209: „A cherished notion is praise for a poet who can achieve much in a single line (ἑνὶ στίχῳ) …“. 595 Das Verb φθέγγεσθαι bedeutet bei Homer in der Regel nicht „reden“, sondern bezeichnet nur unartikulierte Äußerungen (mit der Ausnahme Il. 21, 213, wo jedoch ein besonderer Kontext vorliegt); vgl. Georg Markwald: Art. φθέγγομαι, LfrgE IV (2010), Sp. 907, 60-908, 4. 596 Vgl. Arist. part. anim. 3, 10 = 673 a 12-17 (Τοῦτο γὰρ μᾶλλόν ἐστιν ἀξιοπίστων ἀκοῦσαι λεγόντων ἢ τὸ περὶ τὴν κεφαλήν, ὡς ἀποκοπεῖσα φθέγγεται τῶν ἀνθρώπων. Λέγουσι γάρ τινες ἐπαγόμενοι καὶ τὸν Ὅμηρον, ὡς διὰ τοῦτο ποιήσαντος· φθεγγομένη δ’ ἄρα τοῦγε κάρη κονίῃσιν ἐμίχθη· ἀλλ’ οὐ, φθεγγομένου. [„Jedenfalls kann man dies von glaubwürdigeren Personen sagen hören, als das, was hinsichtlich des Kopfbereiches erzählt wird, dass der abgeschnittene Kopf der Menschen noch spricht. Einige behaupten dies, indem sie auch den Homer anführen, als ob er deshalb gedichtet hätte: ‘Sprechend aber vermengte sich dessen Kopf mit dem Staube‘ und nicht ‚des Sprechenden [Kopf]…‘“ ÜS Kullmann ]). 597 Hennings (1903), S. 557 z. St. <?page no="216"?> 216 5. Macrobius, Saturnalia Atem ist hochgekommen bis zum Mund, füllte diesen ganzen Bereich aus und wurde durch das Abschneiden des Kopfes ausgegossen, so wie, wenn man ein mit Wasser gefülltes Rohr durchschneidet, einerseits der Druck des Zustroms zurückgehalten wird, das aber, was bereits durchgekommen ist, ausfließt.“) Homers Schilderung wurde - trotz oder gerade wegen der unrealistischen Züge - bei den nachfolgenden griechischen und römischen Dichtern häufiger rezipiert, was gewiss mit der besonderen pathetischen Wirkung der Szene zusammenhängt. 598 Vergil scheint mit der Problematik der Stelle vertraut gewesen zu sein, entgeht seine Darstellung, indem sie den Sprechversuch des Tarquitius auf den Moment der Enthauptung vorverlegt, doch gerade dem Vorwurf der Unwahrscheinlichkeit, dem sich Homer aussetzte. Die Kritik des Eustathius ignoriert diesen Grund, der Vergil allem Anschein nach zu seiner Änderung veranlasste, verfehlt also den besonderen Vorzug der Aeneisstelle. Eustathius geht allein von der celeritas des homerischen Verses aus, ohne den Aspekt der Wahrscheinlichkeit in seine Beurteilung einzubeziehen. Diese Verengung der Perspektive hängt wieder mit dem konkreten Analyseziel zusammen, nämlich seiner Absicht, den Aspekt der celeritas dichterischer Darstellung anhand konkreter Beispiele zu verdeutlichen. Ein ausgewogenes Urteil über Vergils künstlerische Nachbildung ist dabei zweitrangig. b) Zweites Bsp. für celeritas ( georg. 3, 111-~ Il. 23, 380 - 381; Sat. 5, 13, 3) In Sat. 5, 13, 3 kommt Eustathius auf zwei Stellen zu sprechen, an denen dahinstürmende Pferdewagen geschildert werden. 599 Homer beschreibt im Zuge der Leichenspiele für Patroklos, wie der Rücken des Wagenlenkers Eumelos vom Atem der Pferde, die den ihn verfolgenden Wagen ziehen, heiß wird ( Il. 23, 380-381): 598 Nikander schildert den Schrei eines durch einen vergifteten Pfeil Verwundeten (Nik. Alex. 214-216: αὐτὰρ ὁ μηκάζει μανίης ὕπο μυρία φλύζων, | δηθάκι δ’ ἀχθόμενος βοάᾳ ἅ τις ἐμπελάδην φώς | ἀμφιβρότην κώδειαν ἀπὸ ξιφέεσσιν ἀμηθείς [„… ferner schreit vor Wahnsinn und lässt tausend Worte hervorsprudeln, seufzt oft auf und ruft, was in unmittelbarer Nähe ein Mann schreit, dem man den beherrschenden [vgl. schol. 216 b Geymonat] Kopf mit dem Schwert abgehauen …“]); vgl. auch den Verweis auf Il. 10, 457 bzw. Od. 22, 329 in schol. 216 a Geymonat sowie Ov. met. 5, 103-106 ( huic Chromis amplexo tremulis altaria palmis | decutit ense caput, quod protinus incidit arae | atque ibi semianimi verba exsecrantia lingua | edidit et medios animam exspiravit in ignes ). Dass die homerische Szene in Rom ihrer Drastik wegen als rhetorischer Topos schon zu Ennius’ Zeiten bekannt war, stellt Gualandri (1965), S. 409 heraus. Zum Fortleben des Motivs in der römischen Dichtung vgl. Fuhrmann (1968), S. 37 und 39. 599 Vgl. auch Sat. 5, 13, 7 zu georg. 3, 108-109 und Il. 23, 368-369. <?page no="217"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 217 πνοιῇ δ᾽ Εὐμήλοιο μετάφρενον ἠδὲ καὶ ὤμους | θέρμετ᾽· ἐπ᾽ αὐτῷ γὰρ κεφαλὰς καταθέντε πετέσθην. („Und von dem Atem wurden des Eumelos Rücken und breite Schultern | Heiß, denn auf ihn ihre Köpfe gesenkt, flogen sie dahin.“ ÜS Schadewaldt ) Vergil berichtet im dritten Buch seines Lehrgedichts von einer vergleichbaren Situation ( georg. 3, 111), wo allerdings nicht der Wagenlenker, sondern die verfolgten Pferde selbst den Atem ihrer Verfolger zu spüren bekommen: 600 humescunt spumis flatuque sequentum . Eustathius zitiert mit den Iliasversen ein bekanntes Beispiel für Homers Kunst anschaulicher Darstellung. Demetrios, der die ἐνάργεια im Zusammenhang mit seiner Lehre vom einfachen Stil (χαρακτὴρ ἰσχνός) behandelt, beruft sich auf Il. 23, 380 a und 379 als Beispiele für die Stiltugend der Anschaulichkeit und macht in diesem Zusammenhang besonders den Umstand geltend, dass die in diesen Versen enthaltene Beschreibung alle Details berücksichtigt (Demetr. eloc. 210 = 45, 16-17 Radermacher): … πάντα ταῦτα ἐναργῆ ἐστιν ἐκ τοῦ μηδὲν παραλελεῖφθαι τῶν τε συμβαινόντων καὶ συμβάντων („All dies ist anschaulich, weil nichts ausgelassen wurde von dem, was sich ereignet und was sich <auch damals> ereignet hat.“). 601 Man hätte Vergil zugutehalten können, dass er den Vorgang in nur einem Vers beschreibt, und damit den relativen Mangel an Details entschuldigen können; Eustathius verzichtet aber darauf. Stattdessen ist für ihn wohl die von Demetrios gelobte Detailliertheit der Schilderung verantwortlich für den Eindruck von celeritas : Homer verdient den Vorzug, weil er sowohl den Rücken des Eumelos als auch die Bewegung der verfolgenden Pferde genau beschreibt. Indem der Vorgang damit minutiöser als bei Vergil vorgestellt wird, ergibt sich beim Hörer bzw. Leser der Eindruck seines raschen Verlaufs. c) Drittes Bsp. für celeritas ( Aen. 5, 324-~ Il. 23, 764; Sat. 5, 13, 4) Auch der folgende Homervers entstammt den Leichenspielen für Patroklos. Odysseus verfolgt Aias beim Wettlauf ( Il. 23, 764): ἴχνια ποσσὶν ἔτυπτε [Hom.: τύπτε πόδεσσι] πάρος κόνιν ἀμφιχυθῆναι. 602 600 Die Homerimitation setzt schon in georg. 3, 107 b ( volat [~ πίλνατο] vi fervidus axis ) ein. 601 Vgl. auch Il. 13, 384-386 (τῷ δ’ Ἄσιος ἦλθ’ ἐπαμύντωρ | πεζὸς πρόσθ’ ἵππων· τὼ δὲ πνείοντε κατ’ ὤμων | αἰὲν ἔχ’ ἡνίοχος θεράπων [„Doch dem kam Asios als Beschützer, | Zu Fuß vor seinen Pferden: die hielt ihm dicht an den Schultern schnaubend | Immer der Zügelhalter, der Gefährte.“ ÜS Schadewaldt ]), Il. 17, 501-502 (Ἀλκίμεδον μὴ δή μοι ἀπόπροθεν ἰσχέμεν ἵππους, | ἀλλὰ μάλ’ ἐμπνείοντε μεταφρένῳ [„Alkimedon! halte nicht fern von mir die Pferde, sondern so, | Dass sie mir dicht auf den Rücken schnauben! “ ÜS Schadewaldt ]) und Soph. El. 718-719. 602 Nachgeahmt in den Leichenspielen bei Nonn. Dion. 37, 634. <?page no="218"?> 218 5. Macrobius, Saturnalia („… Schlug er die Fußspuren mit den Füßen, noch ehe der Staub sie < scil. die Fußspuren> umhüllte.“) Diesmal wird eine Parallele aus den Wettkämpfen der Aeneis zitiert. Bei Vergil verfolgt Diores den Elymus ( Aen. 5, 324): … calcemque terit iam calce Diores Eustathius benennt zunächst die celeritas als die bei Homer hervortretende Qualität 603 und zeichnet dann detailliert den Vorgang nach: Bei einer Verfolgungsjagd über staubigen Boden würden demnach die vom Verfolgten verursachten Fußspuren eigentlich sofort wieder von dem Staub bedeckt werden, der durch die heftigen Fußtritte aufgewirbelt wird. Anders hier, wo Odysseus dem Aias so dicht auf den Fersen ist, dass er dessen Fußspuren erreicht, noch bevor der Staub sich gelegt hat. 604 Seine Erklärungen decken sich mit den Interpretationen, die sich in den Homerscholien zu dieser Stelle finden. 605 Keine Erläuterung bringt Eustathius zu dem zitierten Vergilvers, nur die allgemeine Feststellung, Vergil hätte hier „dasselbe ausdrücken wollen“ ( idem significare cupiens ). Wie ist Vergils Halbvers aber genau zu verstehen? Eine Antwort auf die Frage bereitete schon den antiken Exegeten Probleme. Servius geht von einer übertragenen Bedeutung von calx i. S. v. pes aus, wenn er ausführt: calcem calce terit] calcem dicimus unde terram calcamus; ergo non proprie dixit ‘calcem calce terit’: planta enim calcem non potuit terere: unde a parte totum accipiendum, id est calcem pede 606 terebat. (Serv. ad Aen. 5, 324 = I 620, 25-621, 3 Thilo-Hagen) 603 Vgl. Sat. 5, 13, 4 ( mirabilior est celeritas consequentis priorem in cursu pedum apud eundem vatem ). 604 Vgl. Sat. 5, 13, 4 ( est autem huius versus hic sensus: si per solum pulvereum forte curratur, ubi pes fuerit de terra a currente sublatus, vestigium sine dubio signatum videtur, et tamen celerius cogitatione pulvis qui ictu pedis fuerat excussus vestigio superfunditur. ait ergo divinus poeta ita proximum fuisse qui sequebatur ut occuparet antecedentis vestigium antequam pulvis ei superfunderetur. ). 605 Vgl. schol. bT ad Il. 23, 764 = V 485, 75-77 Erbse (ἴχνια τύπτε <πόδεσσι πάρος κόνιν ἀμφιχυθῆναι>] πολλὴ ἡ ἀγχιστεία, εἴγε φθάνει τὸ βῆμα τὴν καταφερομένην ἐπὶ τὸ ἴχνος κόνιν, ἣν ὁ προτρέχων ἀνέστησεν. [„Schlug er die Fußspuren <mit den Füßen, noch ehe der Staub sie umhüllte>] Groß ist die Nähe, wenn der Schritt dem Staub zuvorkommt, der auf die Fußspur fällt und den der vor ihm Laufende aufgewirbelt hat.“]) und schol. D ad Il. 23, 764 (ἴχνια τύπτε πόδεσσι πάρος κόνιν ἀμφιχυθῆναι] ἐπέβαινεν αὐτοῦ τοῖς ἴχνεσιν πρὶν ἢ κονιορτωθῆναι [„Schlug er die Fußspuren mit den Füßen, noch ehe der Staub sie umhüllte] Er trat auf seine Fußspuren bevor diese noch von Staub bedeckt wurden.“]). 606 Diese Lesart ist nur in L tradiert, die anderen Handschriften überliefern calce pedem , was aber nicht zu der vorab von Servius gegebenen Erklärung passt. <?page no="219"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 219 Demnach wäre zu verstehen: „… und schon stieß Diores mit seinem Fuß an die Fußsohle < scil. des Elymus>“. Ist dieses Verständnis von calx eine Spezialität des Servius? Donat. ad Ter. Phorm. 78 = II 371, 16-17 Wessner setzt calx in dem bei Terenz zitierten Sprichwort ( Phorm. 77-78: namque inscitiast | advorsu’ stimulum calces ) mit dem Ausschlagen des Fußes, also der damit verbundenen Bewegung gleich, grenzt davon aber Vergils Verwendung in Aen. 5, 324 ab, ohne diese freilich eigens zu erklären: modo ‘calces’ non partes plantae, sed percussiones pedum plagasque significat. aliter Vergilius ‘calcemque terit iam calce Diores’ . - Non. 29, 9-16 Mercerus = 42 Lindsay identifiziert die calx als den Teil des Fußes, der bei Mensch und Tier den Boden berührt: calces a calcando, quod est nitendo, dictae sunt, non a calcitrando; nam et de omnibus pedibus et de hominum et universorum animantium dici potest. nam sunt calces extrema pars pedum, terrae proxima <zitierte Belege: Aen. 5, 324 und 10, 892>. Eine ähnliche Erklärung folgt in Non. 257, 49-52 = 392 Lindsay: calx est finis. Lucilius Satyrarum lib. VII ‘hoc est cum ad calcem …’. Vergilius lib. V [324] ‘calcemque terit iam calce Diores’ . An allen drei Belegstellen, die sich auf Vergils Wortgebrauch berufen, wird - bei Donat freilich nur indirekt - ein Verständnis von calx i. S. v. „Fuß sohle “ vorausgesetzt. Den Vorgang hat man sich mit Servius demnach so vorzustellen: Diores verfolgt den Elymus so schnell, dass sein Fuß bzw. seine Fußspitzen die Fußsohlen des Verfolgten berührten. 607 Festzuhalten bleibt, dass sich Eustathius mit seiner beiläufigen Bemerkung idem significare cupiens offenbar von der in den Vergilkommentaren üblichen Interpretation der Verse entfernt. Nach Servius tritt Diores ja nicht in die Fußstapfen des Elymus, sondern berührt dessen Fußsohlen mit seinen Füßen. Hätte Vergil tatsächlich genau dieselbe Vorstellung wie Homer wiedergeben wollen, so wäre seine Darstellung tatsächlich um das Detail des Staubes, der in der Eile noch nicht einmal auf die Fußstapfen des Verfolgten fallen konnte, ärmer. Vergil ersetzt das homerische Bild, indem er ein effektvolles Polyptoton formuliert, aber auch sachlich von Homer abweicht. Eustathius wird der vergilischen imitatio schwerlich gerecht, wenn er nur von der Bedeutung der Homerstelle ausgeht und nicht berücksichtigt, dass Vergil zum Ausdruck der celeritas auch eine Änderung im Gedanken vornehmen konnte. Die stilistische Eigenleistung Vergils - immerhin ist dessen Halbvers 607 Conington (1963), S. 360 z. St. gibt einen Überblick über die Deutungsmöglichkeiten: „It is a question however whether we are to take ‘calx’ as put for the whole foot (or, which is the same thing, say that ‘calce’ is used carelessly or hyperbolically where a stricter or more prosaic writer, e. g. Sil. 16, 491, … would have said the toe), or whether it is meant that the heel of Diores’ fore foot came into contact with the heel of Helymus’ hind foot. Probably Virg. would himself have been at a loss to say which of these various considerations determined his choice of the word.“ <?page no="220"?> 220 5. Macrobius, Saturnalia knapper als das homerische Modell formuliert und weist ein in Sat. 5, 13, 27 von Eustathius selbst ausdrücklich gelobtes Polyptoton auf (vgl. auch den hier zitierten Vers Aen. 10, 361: pede pes … viro vir ) - bleibt für den Kritiker, der ausschließlich von Homer her denkt, unberücksichtigt. d-g) Vier unkommentierte Kurzbeispiele zum homerischen cultus ( Aen. 3, 631-~ Od. 9, 372, georg. 3, 108 - 109-~ Il. 23, 368 - 369, Aen. 1, 501-~ Od. 6, 107, Aen. 7, 645-~ Il. 2, 485; Sat. 5, 13, 6 - 9) Nach den Beispielen zur celeritas folgen in Sat. 5, 13, 6-9 vier kurze Stellenpaare, die sich thematisch ebenfalls an den in Sat. 5, 11 eingeführten Komplex des cultus anschließen. (Vgl. auch dazu die Einleitung zu → Kap. 5.2.1.1.) Die Reihenfolge der Beispiele ist auch in diesem Abschnitt so gewählt, dass die lateinische Nachbildung jeweils auf das griechische Modell folgt. Ein übergeordnetes Anordnungsprinzip der vier Beispielpaare lässt sich nicht feststellen. Beim ersten Beispielpaar handelt es sich um eine der vielen wörtlichen Entsprechungen, in denen sich Vergil in der Polyphemerzählung des Achaemenides ( Aen. 3, 570-681) an das homerische Pendant anschließt. 608 Odysseus’ Worte lauten: 609 κεῖτ᾽ ἀποδοχμώσας πλατὺν αὐχένα. („… und lag alsdann, den feisten Hals zur Seite geneigt …“ ÜS Schadewaldt ) In der Aeneis wird diese Wendung so wiedergegeben: cervicem inflexam posuit … Mit dem gesteigerten cultus , den Eustathius Homer attestiert, sind - bezieht man sich nur auf die beiden kurzen Textbeispiele - zwei Details angesprochen, nämlich (1) die bei Homer eigens erwähnte Breite des Rückens (πλατὺν αὐχένα) und (2) die präzisere Richtungsangabe, die bei Homer mit dem Partizip ἀποδοχμώσας ausgedrückt ist. 610 Bei Homer kommt also einerseits die schiere Körpergröße des Kyklopen besser zur Geltung, 611 andererseits lässt sich die 608 Vgl. Aen. 3, 623-627 ~ Od. 9, 288-293; Aen. 3, 632 a ~ Od. 9, 374 b ; Aen. 3, 635 f. ~ Od. 9, 387 f.; Aen. 3, 642 ~ Od. 9, 341. 609 Nach Clem. Alex. strom . 6, 2, 26, 2 ist Od. 9, 372-373 a eine Übernahme aus der orphischen Theogonie, die man für älter als die homerischen Gedichte erachtete (ταῦτα δὲ Ὅμηρος ἐπὶ τοῦ Κύκλωπος μετέθηκεν). 610 Vgl. zur Bedeutung schol. T et BPV ad Od. 9, 372 = 434, 1-2 Dindorf (ἀποδοχμώσας] εἰς πλάγιον ποιήσας. πλαγιάσας· δόχμιον γὰρ τὸ πλάγιον. [„seitwärts richtend. seitwärts richtend: ‘Flanke’ meint nämlich ‘Seite’.“]). Vgl. zu δόχμιον auch schol. b ad Il. 23, 116 = V 387, 31-32 Erbse mit den im App. gegebenen Parallelen. 611 Vgl. aber Quint. inst. 8, 3, 84, für den die Größe des Kyklopen etwas subtiler, nämlich durch die in Aen. 3, 631 realisierte virtus der ἔμφασις ausgedrückt ist ( idem Cyclopa cum <?page no="221"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 221 genaue Körperposition durch das im Vergleich mit dem vergilischen inflexam präzisere Partizip besser nachvollziehen. Beide Details gewährleisten bei Homer den konkreten visuellen Eindruck und tragen damit zur Anschaulichkeit der Stelle bei. In Sat. 5, 13, 7 kommt Eustathius noch einmal auf zwei Stellen aus den Pferderennen der Ilias und der Georgica zu sprechen. 612 Die homerischen Verse lauten ( Il. 23, 368-369): ἅρματα δ᾽ ἄλλοτε μὲν χθονὶ πίλνατο πουλυβοτείρῃ, | ἄλλοτε δ᾽ ἀΐξασκε μετήορα. („Und die Wagen näherten sich einmal der vielnährenden Erde, | Dann wieder schnellten sie hoch in die Luft.“ ÜS Schadewaldt ) Dazu Vergils Nachbildung in georg. 3, 108-109: 613 iamque humiles iamque elati sublime videntur | aëra per tenerum ferri … Es ist nicht leicht zu ersehen, weshalb Eustathius den bekannten homerischen Versen 614 unter dem Gesichtspunkt des cultus den Vorzug gibt. Bei Homer wird die Berührung des Bodens durch die Wagen ausführlicher geschildert (vgl. χθονὶ … πουλυβοτείρῃ), bei Vergil dagegen ihr Flug durch die Luft ( aëra per tenerum ). Der Umfang von einem bzw. einem halben Vers für die jeweils beschriebenen Bereiche ist bei beiden Dichtern gleich, wenn auch in genau umgekehrter Anordnung. Wenn Eustathius seine Wertung wie erwähnt vornimmt, so kann er sich dabei eigentlich nur auf den Vers Il. 23, 368 beziehen, den Vergil tatsächlich „verkürzt“ wiedergibt. Das in Sat. 5, 13, 8 zitierte Verspaar entstammt den von Gellius in 9, 9, 12-17 behandelten Auftrittsgleichnissen der Nausikaa bzw. der Dido. Eustathius bezieht sich hier auf eine von Probus übergangene Partie des homerischen Gleichnisses ( Od. 6, 107): πασάων δ᾽ ὑπὲρ ἥ γε κάρη ἔχει ἠδὲ μέτωπα. („… über sie alle hinaus hat jene Haupt und Stirn …“ ÜS Schadewaldt ) iacuisse dixit ‘per antrum’, prodigiosum illud corpus spatio loci mensus est ). - Ähnlich schätzt dies Servius an zwei Stellen ein; vgl. Serv. ad Aen. 3, 632 = I 446, 18-19 Thilo-Hagen (inmensum] etiam ‘inmensum’ [v. l. inmensus ] ad Polyphemi magnitudinem pertinet, quasi in toto antro iacuerit) und Serv. ad Aen. 6, 423 = II 65, 1-2 Thilo-Hagen (totoque ingens extenditur antro] per hoc magnitudo eius ostenditur, sicut ait in tertio de Polyphemo). 612 Vgl. auch oben zu Sat. 5, 13, 3. 613 Die Homerimitation setzt schon in georg. 3, 107 b ( volat [~ πίλνατο] vi fervidus axis ) ein. 614 Dion Chrysostomos gibt in 32, 82-85 eine Parodie von Il. 23, 368-372 a , um die Alexandriner wegen ihres ausgelassenen Verhaltens beim Wagenrennen zu schelten, und bezeugt damit nicht zuletzt die Bekanntheit dieser homerischen Verse. <?page no="222"?> 222 5. Macrobius, Saturnalia Die Vergilparallele lautet ( Aen. 1, 501): ingrediensque deas supereminet omnes. Wie bereits an anderer Stelle 615 näher ausgeführt, waren die Verse Od. 6, 107-108 hinsichtlich ihrer Authentizität in der Antike wohl umstritten. Trotzdem gibt der Vergleich der beiden Stellen in den Saturnalia Aufschluss über das von Eustathius angelegte ästhetische Kriterium. In diesem Fall ist es wieder die detailliertere Schilderung, genauer: die Angabe der Bezugsgrößen, nach denen Diana bei Homer die Nymphen überragt (κάρη … ἠδὲ μέτωπα). Dieses Detail fehlt bei Vergil, dessen Darstellung folglich weniger anschaulich ausfällt. In Sat. 5, 13, 9 zitiert Eustathius den Vers Il. 2, 485, in dem der Erzähler die allwissenden Musen anruft, bevor er mit seinem Schiffskatalog beginnt: ὑμεῖς γὰρ θεαί ἐστε, πάρεστέ τε ἴστέ τε πάντα. („Denn ihr seid Göttinnen und seid zugegen bei allem und wisst alles“ ÜS Schadewaldt ) Der als Nachbildung dieser Apostrophe vorgestellte Vergilvers entstammt ebenfalls einem Musenanruf, und zwar der kurzen invocatio , mit der in Aen. 7, 641-646 der Latinerkatalog einleitet wird. Er steht also an strukturell vergleichbarer Position wie das homerische Modell: et meministis enim, divae, et memorare potestis. Einen konkreten Vorzug des Homerverses sieht Eustathius offenbar darin, dass in Il. 2, 485 drei ähnlich lautende Verben - z. T. stammverwandt (ἐστε, πάρεστέ τε), z. T. in Form einer Paronomasie (ἴστέ τε) aufeinander bezogen - verbunden werden, in Aen. 7, 645 hingegen nur zwei ( meministis … memorare ). 616 h) Erstes Bsp. zu Einzelaspekten des cultus ( Aen. 2, 222 - 224-~ Il. 20, 403 - 405; Sat. 5, 13, 10 - 11) Die in Sat. 5, 13, 10-30 analysierten Homer-Vergil-Parallelen heben sich, wie bereits ausgeführt (→ Kap. 5.1.3.1), von den blockartig abgehandelten Themen celeritas , cultus und importunitas durch die geschlossene Anordnung der Stellen nach Vorkommen in der Aeneis sowie durch ihre thematische Vielfalt ab. Wie die nachfolgenden Analysen zeigen, ergeben sich dabei folgende Themen: Erwähnung konkreter - in diesem Fall: sakralkundlicher - Details (Bsp. 1); Mängel im cultus bei der Kombination zweier homerischer Gleichnisse (Bsp. 2-3); Zahl und Qualität der homerischen epitheta (Bsp. 4); Pathos durch detaillierte Schil- 615 Vgl. → Kap. 4.3. 616 Vgl. aber Horsfall (2000), S. 424 z. St. über die Beziehung der divae = Musae zur memoria , an die Vergil möglicherweise gedacht hat. 222 5. Macrobius, Saturnalia <?page no="223"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 223 derung bei Homer (Bsp. 5); Ausführlichkeit der Erzählung bei bedeutendem Gegenstand (Bsp. 6); Detailfreude, Erweiterung des Bildbereichs und konkrete Naturschilderung in den homerischen Gleichnissen (Bsp. 7); Homers anschauliche Götterportraits (Bsp. 8); Klarheit (Bsp. 9); ausführliche Vorgangsschilderung (Bsp. 10); malerischer Einsatz von Wortfiguren (Bsp. 11); Detailfreude (Bsp. 12). Alle diese Kriterien lassen sich grundsätzlich wieder auf die Aspekte cultus bzw. ἐνάργεια zurückführen. Die ersten drei Beispiele der Gruppe sind aus den Gleichnissen der Aeneis genommen. Im ersten lateinischen Zitat, Aen. 2, 222-224, wird das Schreien des sterbenden Laokoon durch einen Vergleich mit einem zum Opfertier bestimmten brüllenden Stier veranschaulicht, den das Schlachtbeil nicht genau getroffen hat: 617 … clamores simul horrendos ad sidera tollit, | qualis mugitus, fugit cum saucius aram | taurus et incertam excussit cervice securim. Vergil hat dieses Gleichnis aus Il. 20, 403-405 (Tod des Hippodamas durch Achilles) übernommen, wo der Stier, der für Poseidon geopfert werden soll, zwar noch nicht verletzt ist, aber brüllend zur Opferstätte gezerrt wird: 618 αὐτὰρ ὃ θυμὸν ἄϊσθε καὶ ἤρυγεν, ὡς ὅτε ταῦρος | ἤρυγεν ἑλκόμενος Ἑλικώνιον ἀμφὶ ἄνακτα | κούρων ἑλκόντων· γάνυται δέ τε τοῖς Ἐνοσίχθων … („Und er hauchte aus den Lebensmut und brüllte, wie wenn ein Stier | Brüllt, der geschleift wird für den Herrn von Helike, | Wenn die jungen Männer ihn schleifen, und es freut sich an ihnen der Erderschütterer …“ ÜS Schadewaldt ) Eustathius macht für die elegantia der Stelle den Umstand geltend, dass Homer im Gegensatz zu Vergil zwei konkrete Götter - Apollo und Poseidon - nennt. Dabei unterläuft ihm ein grober Fehler, wenn er den in Il. 20, 404 mit Ἑλικώνιος 617 Dieser markante Mensch-Tier-Vergleich galt bei den Grammatikern als Musterbeispiel für die parabole (= rerum genere dissimilium conparatio ; vgl. Don. gramm. mai. 3, 6 = IV 402, 24-28 Keil mit Charis. gramm. I 277, 11-15 Keil und Diom. gramm. I 463, 32 Keil). Servius kommt auch auf dieses Verhältnis zu sprechen, wenn er hervorhebt, dass die Wahl eines Opferstiers als Vergleichsgegenstand gut zum Priester Laokoon passe - was man übrigens der Kritik Eustathius als lobenswert entgegenhalten könnte -; vgl. Serv. ad Aen. 2, 223 = I 256, 21-22 Thilo-Hagen (… facta autem comparatio est propter sacerdotis personam). - Macrobius lässt Eusebius in Sat. 4, 5, 8 die Stelle als Beispiel dafür zitieren, wie mit Gleichnissen pathetische Wirkungen erreicht werden können. 618 Vgl. auch das Bullengleichnis in Il. 17, 520-24; zum römischen Charakter von Vergils Opferbeschreibung vgl. Horsfall (2008), S. 201-202. - Der Schrei des Stieres wurde als gutes Vorzeichen ausgelegt; vgl. schol. bT ad Il. 20, 404 b = V 65, 47-49 Erbse und Strab. 8, 7, 2 = 384 Casaubon. <?page no="224"?> 224 5. Macrobius, Saturnalia angesprochenen Gott mit Apollo identifiziert ( … quod de tauro ad sacrificium tracto loquens meminit et Apollinis: Ἑλικώνιον ἀμφὶ ἄνακτα). Mit dem Beiwort ist nicht auf den Helikon abgehoben, sondern auf die Stadt Helike: Schon zu Strabos Zeit wusste man, dass mit dem Beinamen Ἑλικώνιος nicht Apollo, sondern Poseidon gemeint sein musste. 619 Der Irrtum des Eustathius erklärt sich aus dem unmittelbar im Anschluss zitierten Vers Aen. 3, 119 (vgl. dazu auch Sat. 3, 10, 5): his autem duobus praecipue rem divinam fieri tauro testis est ipse Vergilius: ‘taurum Neptuno, taurum tibi, pulcher Apollo’ . Eustathius projiziert also ein aus Vergil bekanntes sakrales Detail auf Homer, erkennt es - im Widerspruch zur communis opinio der Homerphilologen über die Bedeutung des Beiworts Ἑλικώνιος - in der Iliasstelle wieder, die er folglich fehlinterpretiert, um dann diese vermeintlichen homerischen Sakralkenntnisse der imitatio Vergils vorzuhalten. Unabhängig von dieser Fehlerklärung lässt die Äußerung des Eustathius aber einen Aspekt hervortreten, der in den Homer-Vergil-Vergleichen der Saturnalia sonst keine besondere Rolle spielt, nämlich die sakralkundliche Kompetenz des Dichters. 620 In den kleinen konkreten Details der Opferszene offenbart sich nach Meinung der Exegeten, wie beschlagen Homer auf diesem antiquarischen Gebiet ist. Der griechische Dichter wird gelobt, weil er, mehr oder weniger versteckt, durch die (vermeintliche) Nennung der beiden Götter sein Wissen auf diesem Gebiet unter Beweis stellt; Vergil hingegen habe die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen, seine - anderswo ja durchaus gezeigten - Kenntnisse in diesem konkreten Gleichnis anzubringen. i) Zweites Bsp. zu Einzelaspekten des cultus ( Aen. 2, 304 - 308-~ Il. 11, 155 - 157-+ Il. 5, 87 - 93; Sat. 5, 13, 12 - 13) Vergil kombiniert gelegentlich zwei homerische Vorbilder zu einem Gleichnis, so etwa in Aen. 2, 304-308, wo Aeneas das brennende Troja mit Saatfeldern bzw. Äckern vergleicht, die vom Blitz getroffen bzw. von einem Sturzbach überschwemmt werden: 621 in segetem veluti cum flamma furentibus Austris | incidit aut rapidus montano flumine torrens | sternit agros, sternit sata laeta boumque labors | praecipitesque trahit silvas; stupet inscius alto | accipiens sonitum saxi de vertice pastor. 619 Vgl. Strab. 8, 7, 2 = 384 Casaubon sowie schol. A ad Il. 20, 404 b = V 66, 50-52 Erbse und schol. bT ad Il. 20, 404 c = V 66, 53-61 Erbse. 620 Ausführlich wurden Vergils Fähigkeiten auf diesem Gebiet in Sat. 3, 1-12 erörtert, allerdings weitgehend ohne Bezug zu Homer. 621 Vgl. dazu Horsfall (2008), S. 260-263, bes. 260-261 über die verschiedenen in der Forschung bislang vorgebrachten Hypothesen zu den Vorbildstellen, denen Vergil konkret gefolgt sein könnte (mit weiterführenden Literaturhinweisen). <?page no="225"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 225 Bei den beiden von Eustathius verglichenen Parallelstellen handelt es sich einmal um das Waldbrandgleichnis in Il. 11, 155-157, mit dem Agamemnons Wüten im Kampf verglichen wird: 622 ὡς δ᾽ ὅτε πῦρ ἀΐδηλον ἐν ἀξύλῳ ἐμπέσῃ ὕλῃ, | πάντῃ τ᾽ εἰλυφόων ἄνεμος φέρει, οἳ δέ τε θάμνοι | πρόρριζοι πίπτουσιν ἐπειγόμενοι πυρὸς ὁρμῇ. („Und wie wenn vernichtendes Feuer in einen holzreichen Wald fällt, | Und überallhin trägt es wirbelnd der Wind, und die Stämme | Fallen mitsamt den Wurzeln, bedrängt vom Ansturm des Feuers: …“ ÜS Schadewaldt ) Das zweite Gleichnis Il. 5, 87-93 aus der Aristie des Diomedes parallelisiert die Taten dieses Helden mit einem reißenden Strom: θῦνε γὰρ ἀμπεδίον, ποταμῷ πλήθοντι ἐοικὼς | χειμάρρῳ, ὅσ τ᾽ ὦκα ῥέων ἐκέδασσε γεφύρας· | τὸν δ᾽ οὔτ᾽ ἄρ τε γέφυραι ἐεργμέναι ἰσχανόωσιν, | οὔτ᾽ ἄρα ἕρκεα ἴσχει ἀλωάων ἐριθηλέων, | ἐλθόντ᾽ ἐξαπίνης ὅτ᾽ ἐπιβρίσῃ Διὸς ὄμβρος· | πολλὰ δ᾽ ὑπ᾽ αὐτοῦ ἔργα κατήριπε κάλ᾽ αἰζηῶν· | ὣς ὑπὸ Τυδεΐδῃ πυκιναὶ κλονέοντο φάλαγγες. („Denn er wütete durch die Ebene, einem vollen Strom gleichend, | Einem winterlichen, der schnell strömend die Dämme zerbrach; | Und ihn halten nicht die sich hinziehenden Dämme | Und halten nicht die Gehege der kräftig blühenden Obstgärten, | Wenn er plötzlich kommt, wenn der Regen des Zeus darauf lastet, | Und viele schöne Werke der Männer stürzen unter ihm zusammen: | So kamen unter dem Tydeus-Sohn in Verwirrung die dichten Reihen …“ ÜS Schadewaldt ) Der bloße Umstand, dass Vergil zwei gegensätzliche Bildbereiche zur Bezeichnung der Kriegswirren wählt, kann nicht Gegenstand der Kritik gewesen sein. Servius erkennt in diesem speziellen Fall sogar eine Stileigentümlichkeit Vergils: incendia belli] id est vim; semper enim diluvio et incendio conparat bellum, ut < Aen. 2, 304-305> ‘in segetem veluti cum flamma furentibus austris | incidit aut rapidus montano gurgite torrens’. (Serv. ad Aen. 1, 566 = I 172, 3-6 Thilo-Hagen) 623 Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man anstelle der Bildoberfläche die Wirkungen von Feuer und Wasser in den Blick nimmt, die den eigentlichen 622 Vgl. auch das Feuergleichnis in Il. 20, 490-493 und Hainsworth (1993), S. 242. 623 Vgl. auch beinahe wortgleich Serv. ad Aen. 12, 524 = II 621, 7-10 Thilo-Hagen und DServ. ad Aen. 1, 566 = I 172, 6-10 Thilo-Hagen (incendia belli] aut ardorem simpliciter belli, quia semper diluvio et incendio et tempestati conparat bellum, ut < Aen. 2, 304-305> ‘in segetem veluti cum flamma furentibus austris | incidit aut rapidus montano flumine torrens’ et alibi < Aen. 7, 222-223> ‘saevis effusa Mycenis | tempestas ierit’: aut potest subtilius dictum accipi, quod Ilium conflagravit incendio ). - Die angesprochene Tendenz zur Mischung gegensätzlicher Bildbereiche lässt sich auch für Homer feststellen; vgl. Hainsworth (1993), S. 63 („Fire and surging water are Homer’s two favourite comparisons for irresistible attacks, whether by individual or whole army.“). <?page no="226"?> 226 5. Macrobius, Saturnalia Vergleichspunkt ausmachen. Das haben bereits die antiken Grammatiker getan, die Aen. 2, 304-308 als Musterbeispiel für die parabola per effectum (vgl. Sacerd. gramm. = VI 464, 35-465, 4 Keil) bzw. für den Gleichnistypus per energian (vgl. Diom. gramm. 2 = I 464, 2-5 Keil) zitierten. - Auch die Technik des Doppelgleichnisses an sich scheint Eustathius nicht infrage zu stellen. Sie wird von Servius unter Berufung auf Aen. 2, 304-308 gerechtfertigt: … nec mirandum duas eum posuisse conparationes, cum et in secundo hoc fecerit, ut < Aen. 2, 304-305> ‘in segetem veluti cum flamma furentibus austris | incidit, aut rapidus montano flumine torrens’, et in georgicis tres ponat conparationes, ut < georg. 4, 261-263> ‘frigidus ut quondam silvis inmurmurat auster, | ut mare sollicitum stridit refluentibus undis, | aestuat ut clausis rapidus fornacibus ignis’. (Serv. ad Aen. 5, 595 = I 635, 25-636, 5 Thilo-Hagen) Das allgemeine Urteil des Eustathius ( et dignitatem neutrius implevit ) dürfte sich also ganz auf die Ausgestaltung der Gleichnisse beziehen und verweist damit wieder in den Bereich des cultus . Im direkten Vergleich zeigt sich, dass Vergil im Feuergleichnis zwar einige Aspekte des homerischen Vorbilds übergeht - das Attribut ἀΐδηλον und das in Il. 11, 156 b -157 beschriebene Niederstürzen der Bäume -, Unterschiede aber besonders im zweiten Teil hervortreten: Vergil zählt in Aen. 2, 305-306 a vier vom Wasser beschädigte Bereiche auf (Äcker, Saaten, Pflugarbeit und Wälder) und beschreibt dann in Aen. 2, 307 b -308 das ungläubige Staunen des Hirten. Homer legt den Akzent hingegen auf den Vorgang des Fließens, wobei er besonders den vergeblichen Widerstand der Dämme beschreibt, und nennt erst in Il. 5, 92 knapp die daraus resultierenden Wirkungen. j) Drittes Bsp. zu Einzelaspekten des cultus ( Aen. 2, 416 - 419-~ Il. 9, 4 - 7-+ Il. 16, 765 - 771; Sat. 5, 13, 14 - 15) Wenn Eustathius dem in Sat. 5, 13, 14 zitierten Gleichnis Vergils „denselben Fehler wie zuvor“ bescheinigt ( idem et hic vitium quod superius incurrit, de duabus Graecis parabolis unam dilucidius construendo ), so steht also auch hier wieder der Aspekt des cultus im Zentrum der Bewertung. 624 - Vergil vergleicht in Aen. 2, 416-419 den Angriff der Griechen mit einem vom Sturm erregten Meer: adversi rupto ceu quondam turbine venti | confligunt, Zephyrusque Notusque et laetus Eois | Eurus equis: stridunt silvae saevitque tridenti | spumeus atque imo Nereus ciet aequora fundo. 624 Gegen Georgii (1891), S. 125: „Es ist eine unmögliche Zumutung an die Vorstellungskraft des Lesers, sich die Wirkung des Kampfs der Winde zugleich auf dem Meere und im Waldesdickicht zu denken.“ <?page no="227"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 227 Vergil geht bei seiner Schilderung in zwei Schritten vor, wenn er nämlich zunächst den ausbrechenden Sturm und dann wieder die Auswirkungen auf Wälder und Meer beschreibt. - Eustathius macht für dieses Gleichnis zwei homerische Vorlagen aus. 625 Die erste Stelle, Il. 9, 4-7, beschreibt im Bild eines vom Wind aufgeregten Meeres die Unruhe der Achaier nach dem zweiten Schlachttag der Ilias : ὡς δ᾽ ἄνεμοι δύο πόντον ὀρίνετον ἰχθυόεντα, | Βορέης καὶ Ζέφυρος, τώ τε Θρῄκηθεν ἄητον, | ἐλθόντ᾽ ἐξαπίνης· ἄμυδις δέ τε κῦμα κελαινὸν | κορθύεται, πολλὸν δὲ παρὲξ ἅλα φῦκος ἔχευεν … („Und wie zwei Winde das fischreiche Meer aufrühren, | Boreas und Zephyros: sie wehen von Thrakien herüber | Plötzlich aufgekommen, und zugleich türmt sich auf die schwarze Woge | Und spült vielen Tang an entlang der Salzflut: …“ ÜS Schadewaldt ) Dient das Bild an dieser Stelle dazu, einen psychischen Zustand zu schildern, so verwendet es Homer in Il. 16, 765-771, um das aufgeregte Schlachtgeschehen zwischen Trojanern und Achaiern kurz vor dem Höhepunkt des 16. Buches, dem tödlichen Zweikampf zwischen Hektor und Patroklos, zu veranschaulichen: ὡς δ᾽ Εὖρός τε Νότος τ᾽ ἐριδαίνετον ἀλλήλοιιν | οὔρεος ἐν βήσσῃς βαθέην πελεμιζέμεν ὕλην | φηγόν τε μελίην τε τανύφλοιόν τε κράνειαν, | αἵ τε πρὸς ἀλλήλας ἔβαλον τανυήκεας ὄζους | ἠχῇ θεσπεσίῃ, πάταγος δέ τε ἀγνυμενάων, | ὣς Τρῶες καὶ Ἀχαιοὶ ἐπ᾽ ἀλλήλοισι θορόντες | δῄουν, οὐδ᾽ ἕτεροι μνώοντ᾽ ὀλοοῖο φόβοιο. („Und wie der Ostwind und der Süd miteinander streiten | In den Schluchten des Berges, den tiefen Wald zu erschüttern, | Eiche und Esche und die glattrindige Kirsche, | Und sie schlagen gegenseitig die langgestreckten Äste | Mit unsäglichem Lärm, und ein Krachen ist, wenn sie zerbrechen: | So mordeten Troer und Achaier, gegeneinander springend, | Und beide gedachten sie nicht der verderblichen Flucht.“ ÜS Schadewaldt ) Die kombinierte Imitation zweier homerischer Gleichnisse beruht hier nicht wie bei dem in Sat. 5, 13, 12-13 zitierten Bsp. darauf, dass zwei gegensätzliche Bildbereiche verbunden werden - die beiden zitierten Homergleichnisse haben ein gemeinsames Thema, den Sturm. Kombination findet hingegen in den beschriebenen Auswirkungen des Sturms statt: Die Geräusche im Wald (vgl. Aen. 2, 418: stridunt silvae ) sind ausführlich in Il. 16, 768-769 beschrieben, während das aufgewühlte Meer ( Aen. 2, 418 b -419) Gegenstand von Il. 9, 6 b -7 ist. Das Urteil über die Dürftigkeit der vergilischen Schilderung bezieht sich insbesondere auf das in der Aeneis nur angedeutete, bei Homer hingegen ausführlich beschriebene Rauschen der Wälder. - Diese Kritik dürfte auch der Schlüssel für 625 Vgl. aber Sat. 6, 2, 28, wo Rufius Albinus die Verse Enn. Ann. 432-434 zitiert, die Vergil zu seiner Stelle angeregt haben sollen. <?page no="228"?> 228 5. Macrobius, Saturnalia die kryptische Bemerkung bei Serv. ad Aen. 2, 418 = I 285, 19-20 Thilo-Hagen (stridunt silvae] excursus poeticus: qui ultra tres versus fieri non debet. [ne sit vitiosissimum.]) sein, wo es offenbar darum geht, die Kürze der vergilischen Schilderung gegen einen entsprechenden Vorwurf zu verteidigen. k) Viertes Bsp. zu Einzelaspekten des cultus ( Aen. 3, 130-~ Od. 11, 6 - 7 [=- Od. 12, 148 - 149]; Sat. 5, 13, 16) In Sat. 5, 13, 16 wird zum Vers Aen. 3, 130 ( prosequitur surgens a puppi ventus euntis ), der die Überfahrt der Äneaden von Delos nach Kreta schildert, die folgende Parallele, die an zwei Stellen in den Apologen der Odyssee ( Od. 11, 6-7 und 12, 148-149) steht, angeführt: ἡμῖν δ’ αὖ κατόπισθε νεὸς κυανοπρῴροιο | ἴκμενον οὖρον ἵει πλησίστιον, ἐσθλὸν ἑταῖρον, … („Und es schickte uns hinter dem schwarzbugigen Schiffe her einen günstigen Fahrwind, der das Segel füllte, als guten Gefährten <Kirke> …“ ÜS Schadewaldt ) Eustathius lobt die Übersetzung von κατόπισθε νεός mit surgens a puppi ( satis decore ). Für gelungen hält er insbesondere den Umstand, dass Vergil den Ausdruck nicht wörtlich übersetzt, sondern durch die Ersetzung von ναῦς („Schiff“) durch puppis („Hinterdeck“) die Richtung, aus der der Wind bläst, mit anderen Worten andeutet. 626 Die qualitative Überlegenheit des homerischen Modells wird jedoch hinsichtlich eines anderen Parameters festgestellt: sed excellunt epitheta quae tot et sic apta vento noster inposuit . Zahl und Qualität der epitheta 627 werden hervorgehoben: Tatsächlich verbindet Od. 11, 7, worauf Eustathius hier wohl in erster Linie Bezug nimmt, zwei Adjektive (ἴκμενον; πλησίστιον) 628 und eine Apposition (ἐσθλὸν ἑταῖρον) mit οὖρον. Sieht man von dem homerischen surgens a puppi ab, so fehlen nähere Charakterisierungen des Windes bei Vergil ganz. Neben den beiden seltenen Adjektiven fand insbesondere die Apposition ἐσθλὸν ἑταῖρον die Aufmerksamkeit der Homerphilologen. Dieser Versschluss wird insgesamt fünfmal in Ilias und Odyssee verwendet: An den Iliasstellen ( Il. 4, 491; 5, 469; 17, 345) fällt der Gebrauch nicht weiter auf; nur an den beiden 626 Serv. ad Aen. 3, 130 = I 367, 5-7 Thilo-Hagen hebt den Bildcharakter von surgens (~ flans ) hervor. 627 Zu den Epitheta vgl. auch → Kap. 5.2.2.4. 628 Zur Bedeutung („hinkommend“ bzw. „die Segel blähend“) dieser beiden seltenen Vokabeln vgl. Rudolf Führer: Art. „ἴκμενος“, LfgrE 2 (1991), Sp. 1184, 62-69 und ders.: Art. „πλησίστιος“, LfgrE 3 (2004), Sp. 1290, 29-34. - Erklärungsbedürftig war das seltene Adjektiv ἴκμενος schon in der Antike; vgl. schol. B ad Od. 12, 149 = 542, 23 Dindorf (ἐπιτήδειον πρὸς τὸ ἱκέσθαι). Mit spiritus lenis (ἴγμενος) will es der Verfasser von schol. H ad Od. 11, 7 = 479, 1 Dindorf (ψιλωτέον τὸ ἴκμενον, ἤτοι ὑγρόν) geschrieben wissen. <?page no="229"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 229 Iteratastellen in der Odyssee (vgl. Od. 11, 6-8 und 12, 148-150) ist der Ausdruck in den außermenschlichen Bereich übertragen. Ihre übertragene Bedeutung musste daher eigens erläutert werden; vgl. neben schol. Q et V ad Od. 11, 7 = 479, 2-3 Dindorf (ἑταῖρον εἶπεν, ὡς ἀξιωσάσης αὐτῆς τὸν ἄνεμον. νῦν τὸν συνεργόν.) insbesondere die folgende Notiz, die bei Eustathios überliefert ist: Ὅτι καὶ νῦν τὸν πλησίστιον οὖρον ἐσθλὸν ἑταῖρον λέγει, ἀφελῶς καὶ γλυκέως θεὶς ἐπὶ ἀνέμου καὶ τὸ ἐσθλὸς καὶ τὸ ἑταῖρος, ὅ πέρ ἐστι βοηθὸς, συνεργὸς, ὥς φασιν οἱ παλαιοί. ἄλλως μέντοι πρὸς ἀλήθειαν φίλος λόγῳ γλυκύτητος. διὸ καὶ Σοφοκλῆς ἀφελῶς ἔφη τὸ <Soph. Phil. 237> ‘τίς δ’ ἀνέμων ὁ φίλτατος’. (Eustath. ad Od. 12, 149 = 1717, 7-9 = II 19, 8-11 Stallbaum) („Auch jetzt nennt er den günstigen Fahrwind einen ‘guten Gefährten’, wobei er ganz einfach und gefällig dem Wind <die Beiwörter> ‘gut’ und ‘Gefährte’ beigibt, was altem Sprachgebrauch nach soviel heißt wie ‘hilfreich’ oder ‘förderlich’. Abweichend davon <wird der Wind auch> in einer süßen Wendung der Wahrheit entsprechend ‘freundlich’ <genannt>. Daher sagte auch Sophokles einfach ‘Welcher freundlichste von den Winden’.“) l) Fünftes Bsp. zu Einzelaspekten des cultus ( Aen. 3, 622 - 625-~ Od. 9, 288 - 294; Sat. 5, 13, 17) Achaemenides berichtet in Aen. 3, 622-625 ein grausiges Detail über Polyphem: visceribus miserorum et sanguine vescitur atro. | vidi egomet duo de numero cum corpora nostro | prensa manu magna medio resupinus in antro | frangeret ad saxum, … Diese Verse sind einem Abschnitt aus der Polyphemerzählung in den Apologen der Odyssee nachgebildet ( Od. 9, 288-294): 629 ἀλλ’ ὅ γ’ ἀναΐξας ἑτάροις ἐπὶ χεῖρας ἴαλλεν | σύν τε δύω μάρψας ὥς τε σκύλακας ποτὶ γαίῃ | κόπτ’· ἐκ δ’ ἐγκέφαλος χαμάδις ῥέε, δεῦε δὲ γαῖαν. | τοὺς δὲ διὰ μελεϊστὶ ταμὼν ὡπλίσσατο δόρπον· | ἤσθιε δ’ ὥς τε λέων ὀρεσίτροφος, οὐδ’ ἀπέλειπεν, | ἔγκατά τε σάρκας τε καὶ ὀστέα μυελόεντα. | ἡμεῖς δὲ κλαίοντες ἀνεσχέθομεν Διὶ χεῖρας … („… sondern <er> sprang auf und streckte nach den Gefährten die Hände aus und packte zwei auf einmal und schlug sie wie junge Hunde gegen die Erde. Da floss das Gehirn aus auf den Boden und benetzte die Erde, und nachdem er sie Glied für Glied 629 Auch Servius vergleicht diese Homerverse, allerdings um sachliche Widersprüche zur Vorlage festzustellen; vgl. (D)Serv. ad Aen. 3, 623 (vidi egomet duo] Homerus quattuor dicit. ergo aut dissentit ab eo, ut etiam in temporibus: nam ante ad Siciliam Aeneas, quam Ulixes venisse dicitur: aut certe hoc dicit, duo vidisse se; quot autem occiderit, ignorare per timorem. alii ‘duo’ ‘simul’ dicunt, non enim duo sola adlisit ). Dazu Scaffai (2006), S. 344-346. <?page no="230"?> 230 5. Macrobius, Saturnalia zerschnitten, bereitete er sie sich zum Nachtmahl und aß sie wie ein bergernährter Löwe und ließ nichts übrig, nicht Eingeweide noch Fleisch noch markerfüllte Knochen. Wir aber weinten und erhoben zu Zeus die Hände …“ ÜS Schadewaldt ) Eustathius stellt in Sat. 5, 13, 17 Vergils „nackte und kurze Erzählung“ der pathetischen Schilderung Homers gegenüber ( narrationem facti nudam et brevem Maro posuit, contra Homerus πάθος miscuit ) und erkennt in Odysseus’ schmerzerfüllter Erzählung einen angemessenen Ausdruck für seine Reaktion auf Polyphems Grausamkeit ( et dolore narrandi invidiam crudelitatis aequavit ). 630 Ein gewisser Widerspruch ergibt sich, wenn man Sat. 4, 6, 14 vergleicht, wo Aen. 3, 623 gerade für seine pathetische Wirkung gelobt wird, also eine genau entgegengesetzte Wertung getroffen wird. Der Sprecher dieser Partie, Eusebius, macht besonders auf den Aspekt der Autopsie aufmerksam, der mit vidi egomet ins Spiel kommt. Die hier angewandte pathetische Strategie erläutert er einleitend so: Et attestatio rei visae apud rhetoras pathos movet. Mit dieser Einschätzung steht Eusebius nicht alleine, wie eine weitere, von Eustathius nicht erwähnte Vorbildstelle Vergils und deren Rezeptionsgeschichte zeigt. Mit eben den Worten vidi egomet leitet nämlich auch Priapus bei Horaz in sat. 1, 8, 23-24 seine Erzählung von der Hexe Canidia ein. Ein anonymer Horazkommentator erkennt an beiden Stellen dieselbe pathetische Strategie wie Eusebius in den Saturnalia ; vgl. Ps.-Acro ad Hor. sat. 1, 8, 23 = II 96, 12-14 Keller ( Hic versus tragice profertur, ut < Aen. 3, 623> ‘Vidi egomet, duo de numero cum corpora nostro’ ). Die Berufung auf die eigene Augenzeugenschaft steigert die tragische bzw. pathetische Wirkung des Berichts, weil sie die Wahrheit der schaurigen, potenziell unglaubwürdigen Details verbürgt. Der ausdrückliche Autopsiehinweis fehlt nun aber gerade bei Homer. Eustathius kann es also in Sat. 5, 13, 17 kaum um ein abgewogenes Urteil gehen, das alle stilistischen Besonderheiten der beiden Textstellen berücksichtigt - sonst hätte er die Bemerkung seines Vorredners Eusebius noch einmal aufgreifen müssen -, sondern er konzentriert sich mit seinem Vergleich auf eine andere stilistische Qualität, die Homers Darstellung pathetischer als diejenige Vergils macht. Wie in der Begründung dargetan, ist es für Eustathius einzig der Detailreichtum der Erzählung, der als Kriterium an dieser Stelle eine Rolle spielt. 631 Er gewährleistet Anschaulichkeit (ἐνάργεια / evidentia ) und verhilft der Darstellung 630 Bei diesem Ausdruck klingen die Worte nach, mit denen Aeneas in Aen. 2, 362 ( quis … possit lacrimis aequare labores ) seine Erzählungen eingeleitet hat. 631 Die Odysseescholien berufen sich dagegen nicht auf die Ausführlichkeit der Erzählung, sondern auf den kurzen Löwenvergleich in Od. 9, 292 (ἤσθιε δ’ ὥστε λέων), um Homers Darstellung als besonders pathetisch zu erweisen; vgl. schol. HQ ad Od. 9, 292 = 429, 11-14 Dindorf und schol. T ad Od. 9, 292 = 429, 15-18 Dindorf. <?page no="231"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 231 zum gewünschten Pathos. (Diesen Zusammenhang von evidentia und Pathos hat auch Quintilian in inst. 9, 2, 40 hergestellt, wenn er das sub oculos subiectio genannte Stilistikum unter die Figuren einreiht, die eine Steigerung der Empfindung beim Hörer verursachen; vgl. Quint. inst. 9, 2, 26 [ augendis adfectibus accommodatae figurae ]). 632 - Auf der übergeordneten Ebene der ἐνάργεια verbinden sich aber die Beobachtungen des Eustathius zur Detailgenauigkeit der homerischen Erzählung und die des Eusebius zur Augenzeugenschaft, da in beiden Fällen der suggestive Eindruck der unmittelbaren Erfahrung evoziert werden soll, nur jeweils mit unterschiedlichen Mitteln. m) Sechstes Bsp. zu Einzelaspekten des cultus ( Aen. 6, 582 - 584-~ Od. 11, 308 - 316; Sat. 5, 13, 18 - 19) Eustathius führt in Sat. 5, 13, 18-19 die Verse Aen. 6, 582-584, in denen die Sibylle dem entsetzten Aeneas die Büßer in der Unterwelt zeigt, auf ein homerisches Vorbild zurück: hic et Aloidas geminos immania vidi | corpora, qui manibus magnum rescindere caelum | adgressi superisque Iovem detrudere regnis. Homer lässt nämlich in Od. 11, 308-316 Odysseus davon berichten, was ihm Iphimedeia in der Nekyia von ihren beiden Söhnen Otos und Ephialtes erzählt habe: Ὦτόν τ’ ἀντίθεον τηλεκλειτόν τ’ Ἐφιάλτην, | τοὺς δὴ μηκίστους θρέψε ζείδωρος ἄρουρα | καὶ πολὺ καλλίστους μετά γε κλυτὸν Ὠρίωνα· | ἐννέωροι γὰρ τοί γε καὶ ἐννεαπήχεες ἦσαν | εὖρος, ἀτὰρ μῆκός γε γενέσθην ἐννεόργυιοι. | οἵ ῥα καὶ ἀθανάτοισιν ἀπειλήτην ἐν Ὀλύμπῳ | φυλόπιδα στήσειν πολυάϊκος πολέμοιο. | Ὄσσαν ἐπ’ Οὐλύμπῳ μέμασαν θέμεν, αὐτὰρ ἐπ’ Ὄσσῃ | Πήλιον εἰνοσίφυλλον, ἵν’ οὐρανὸς ἀμβατὸς εἴη. („… den göttergleichen Otos und den weitberühmten Ephialtes. Die nährte die nahrunggebende Ackerscholle als die größten und die weit schönsten nach dem berühmten Orion. Denn mit neun Jahren waren sie schon neun Ellen groß an Breite und wurden an Größe neun Klafter hoch. Die drohten sogar den Unsterblichen, das Getümmel des vieltobenden Kriegs auf den Olymp zu tragen, und strebten, den Ossa auf den Olymp zu setzen und auf den Ossa den blätterschüttelnden Pelion, damit der Himmel ersteigbar wäre, …“ ÜS Schadewaldt ) Eustathius hebt in Sat. 5, 13, 19 zwei Gesichtspunkte hervor, nach denen Homers Darstellung der vergilischen überlegen ist, nämlich (1) die ausführlicher beschriebene Körpergröße der Riesen ( Homerus magnitudinem corporum alto latoque dimensus est et verborum ambitu membra depinxit, vester ait ‘imma- 632 Vgl. die Einleitung zu → Kap. 5.2.1.1. <?page no="232"?> 232 5. Macrobius, Saturnalia nia corpora’ nihilque ulterius adiecit, mensurarum nomina non ausus attingere ; vgl. Od. 11, 309-312) und (2) der detailliert geschilderte Versuch, Jupiter zu stürzen ( ille de construendis montibus conatum insanae molitionis expressit, hic ‘adgressos rescindere caelum’ dixisse contentus est ; vgl. Od. 11, 313-316). Auch an weiteren Stellen ließen sich derartige „beschämende Unterschiede“ feststellen ( postremo locum loco si compares, pudendam invenies differentiam ). Mit diesem letzten Punkt sind wohl kleinere Unklarheiten bei Vergil gemeint, etwa wenn er anstatt wie Homer die Riesen namentlich zu nennen in Aen. 6, 582 nur von den „beiden Aloiden“ spricht oder wenn er im Gegensatz zu Homer, der die Größe des Himmels durch die übereinander geschichteten Berge verdeutlicht ( Od. 11, 315-316), nur vom magnum … caelum ( Aen. 6, 583) spricht. - Im direkten Vergleich wird jedenfalls die Kürze der vergilischen Schilderung deutlich, Eustathius würdigt also wieder den cultus der Darstellung. Hinzu kommt, dass der cultus hier - wie etwa auch bei Polyphem der Fall - durch den Gegenstand gefordert ist: Monströse Gestalten wie Otos und Ephialtes können nicht einfach wie bei Vergil gleichsam nebenbei erwähnt werden - der besondere Gegenstand erfordert besondere darstellerische Aufmerksamkeit. 633 n) Siebtes Bsp. zu Einzelaspekten des cultus ( Aen. 7, 528 - 530-~ Il. 4, 422 - 426; Sat. 5, 13, 20 - 21) Bei der ersten kriegerischen Auseinandersetzung in der zweiten Aeneishälfte, dem Rachekampf der latinischen Landleute gegen die jungen Trojaner um Ascanius wegen des getöteten Hirschen, vergleicht Vergil den Anblick der kampfbereiten Scharen mit dem eines Meeres, kurz bevor ein Sturm ausbricht: fluctus uti primo coepit cum albescere ponto 634 , | paulatim sese tollit mare et altius undas | erigit, inde imo consurgit ad aethera fundo. 633 Den Kommentatoren war dieser Mangel vielleicht ebenfalls bewusst: Servius sieht sich in seinem Kommentar z. St. veranlasst, alle zum Verständnis notwendigen Informationen aus Homer nachzutragen; vgl. (D)Serv. ad Aen. 6, 582 = II 81, 14-18 Thilo-Hagen (Aloidas geminos] Aloeus Iphimediam uxorem habuit [ Od. 11, 305], quae conpressa a Neptuno duos peperit [ Od. 11, 306-307], Otum et Ephialten [ Od. 11, 308], qui digitis novem per singulos menses crescebant [abweichend von Homer; vgl. aber Od. 11, 311-312]. freti itaque altitudine , cum adhuc novem annorum essent [vgl. Od. 11, 311] , caelum voluerunt subvertere [ Od. 11, 313-314], sed confixi sunt Dianae et Apollinis telis [nur Apollo genannt in Od. 11, 318]. …). 634 Die Lesart ponto nur bei Macrobius (nach georg. 3, 237 bzw. Il. 4, 424: πόντῳ μέν τε πρῶτα); die Vergilkodizes überliefern fundo oder vento . Vgl. dazu Horsfall (2000), S. 348 z. St. <?page no="233"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 233 Das Vorbild entstammt, wie Eustathius bemerkt, der Ilias . 635 Homer vergleicht in Il. 4, 422-426 die Scharen der zum Kampf aufziehenden Danaer mit Meereswellen: ὡς δ’ ὅτ’ ἐν αἰγιαλῷ πολυηχέϊ κῦμα θαλάσσης | ὄρνυτ’ ἐπασσύτερον Ζεφύρου ὕπο κινήσαντος· | πόντῳ μέν τε πρῶτα κορύσσεται, αὐτὰρ ἔπειτα | χέρσῳ ῥηγνύμενον μεγάλα βρέμει, ἀμφὶ δέ τ’ ἄκρας | κυρτὸν ἐὸν κορυφοῦται, ἀποπτύει δ’ ἁλὸς ἄχνην … („Und wie wenn am vielhallenden Gestade die Woge des Meeres | Sich erhebt: eine dicht nach der anderen, vom West getrieben; | Fern auf dem Meer behelmt sie sich erst, dann aber am Festland | Sich brechend braust sie gewaltig, und um die Klippen | Wölbt sie sich, gipfelt sich auf und speit von sich den Salzschaum: …“ ÜS Schadewaldt ) Diesem Gleichnispaar widmet Eustathius eine relativ ausführliche ästhetische Beurteilung. Im Einzelnen kommt er dabei auf folgende Punkte zu sprechen, die alle auf eine Steigerung der Anschaulichkeit hinauslaufen: (1) Detailgenauigkeit bei der Beschreibung des Naturvorgangs von Beginn an ( ille cum marino motu et litoreos fluctus ab initio describit, hoc iste praetervolat ); (2) Ergänzung eines zusätzlichen Bildbereichs - die behelmte Welle - bei Homer ( deinde quod ait ille, πόντῳ μέν τε πρῶτα κορύσσεται , Maro ad hoc vertit ‘paulatim sese tollit mare’ ) 636 und (3) Vorzug der konkreten, wirklichkeitsgetreuen Naturschilderung bei Homer vor Vergils hyperbolischer Ausdrucksweise ( ille fluctus in incremento suo ait in sublime curvatos litoribus inlidi [vgl. Il. 4, 422-423 a ; 424 a ; 425 b -426 a ] 635 Vgl. aber Il. 7, 63-64 und Catull. 64, 272-275 sowie Horsfall (2000), S. 348-349 z. St. - Widersprüchliche Angaben zum Vergleichspunkt machen Serv. ad Aen. 7, 529 = II 18-19 Thilo-Hagen (sic bella dicit surrexisse paulatim, sicut ventis flantibus sensim mare turgescit) und dagegen - über den optischen Eindruck - schol. bT ad Il. 4, 422 (οὐ πρὸς τὸν ἦχον, ἀλλὰ τὴν ἐπάλληλον τῶν φαλάγγων φοράν· πορεύονται γὰρ < Il. 4, 431> ‘σιγῇ δειδιότες σημάντορας’. [„<Das Gleichnis bezieht sich nicht> auf das Geräusch, sondern auf das Gegeneinanderrennen der Schlachtreihen; sie laufen nämlich ‘schweigend, in Furcht vor den Befehlshabern’.“]). Demnach passen die beiden Wogengleichnisse Il. 2, 209-210 und 2, 394-397, die Kirk (1985), S. 377 z. St. zitiert, wegen ihres akustischen Vergleichspunkts an dieser Stelle nicht. 636 Porphyrios hebt ebenfalls diese Mischung der Bildbereiche hervor; vgl. Porph. quaest. Hom. 6 = 24, 24-25, 9 Sodano (οὕτω καὶ ἐπὶ τοῦ κύματος, ὃ τάξεσιν ἀπεικάζει στρατοπέδου, προειπών· < Il. 4, 422-423> ‘ὡς δ’ ὅτ’ ἐν αἰγιαλῷ πολυηχέϊ κῦμα θαλάσσης | ὄρνυται Ζεφύρου ὑποκινήσαντος’, μετάγει ἀπὸ τῶν στρατιωτῶν ἐπὶ τὰ ἑξῆς· < Il. 4, 424> ‘πόντῳ μὲν τὰ πρῶτα κορύσσεται’. [„So sagt er auch über eine Welle, die er als ein Bild für ein Heer benutzt: ‘Und wie wenn am vielhallenden Gestade die Woge des Meeres | Sich erhebt: eine dicht nach der anderen, vom West getrieben’ und greift aber dann für das Folgende auf Dinge aus der Welt der Soldaten zurück: ‘Fern auf dem Meer behelmt sie sich erst.’“]). <?page no="234"?> 234 5. Macrobius, Saturnalia et asperginem collectae sordis exspuere [vgl. Il. 4, 426 b ] quod nulla expressius pictura signaret, vester mare a fundo ad aethera usque perducit ). 637 o) Achtes Bsp. zu Einzelaspekten des cultus ( Aen. 9, 104 - 106-= 10, 113 - 115-~ Il. 1, 528 - 530 und Il. 15, 37 - 38; Sat. 5, 13, 22 - 23) Die Verbindung von cultus und Anschaulichkeit macht Eustathius in Sat. 5, 13, 22-23 explizit. 638 Zunächst zitiert er drei Verse Vergils: dixerat idque ratum Stygii per flumina fratris | per pice torrentis atraque voragine ripas | adnuit et totum nutu tremefecit Olympum. In der Aeneis stehen diese drei Verse als Iterata an zwei Stellen, nämlich am Ende der Unterredung zwischen Jupiter und Kybele im neunten Buch ( Aen. 9, 80-106, hier 104-106) und als Abschluss der großen Götterversammlung des zehnten Buches ( Aen. 10, 1-117, hier 113-115). Eustathius zufolge kombiniert Vergil hier zwei Homerstellen, indem er aus der ersten das Erbeben des Olymps 639 ( Aen. 9, 106 b ~ Il. 1, 530 b ), aus der zweiten den Schwur bei den Wassern der Styx übernimmt ( Aen. 9, 104 b -105 ~ Il. 15, 37-38). Vgl. Il. 1, 528-530 und Il. 15, 37-38: ἦ καὶ κυανέῃσιν ἐπ᾽ ὀφρύσι νεῦσε Κρονίων· | ἀμβρόσιαι δ᾽ ἄρα χαῖται ἐπερρώσαντο ἄνακτος | κρατὸς ἀπ᾽ ἀθανάτοιο· μέγαν δ᾽ ἐλέλιξεν Ὄλυμπον. („Sprach es, und mit den schwarzen Brauen nickte Kronion, | Und die ambrosischen Haare des Herrn wallten nach vorn | Von dem unsterblichen Haupt, und erbeben ließ er den großen Olympos.“ ÜS Schadewaldt ) καὶ τὸ κατειβόμενον Στυγὸς ὕδωρ, ὅς τε μέγιστος | ὅρκος δεινότατός τε πέλει μακάρεσσι θεοῖσιν. („… Und das herabfließende Wasser der Styx, welches der größte | Schwur und der furchtbarste ist den seligen Göttern …“ ÜS Schadewaldt ) 637 Pathetische Steigerung (αὔξησις) als Folge der detaillierten Schilderung registrieren die Homerscholien z. St.; vgl. schol. bT ad Il. 4, 422 = I 520, 69-73 Erbse (ὡς δ’ ὅτ’ ἐν αἰγιαλῷ <πολυηχέϊ>] … Ζέφυρον γὰρ παρέλαβεν ἄνωθεν ἐπικυλίοντα τὰ κύματα, ἠρεμαίως τε ἄρχεται, ἐπιτείνεται δὲ ὕστερον· διὸ καὶ τὸ < Il. 4, 423> ‘ὑποκινήσαντος’. καὶ νῦν οὕτως αὔξει τὰ τοῦ πολέμου. [„Und wie wenn am vielhallenden Gestade] … Er nahm den Zephyrus, der die Wogen von oben her daraufwälzt und ruhig beginnt, sich aber später dann steigert; deshalb nennt er ihn auch ‘von unten her bewegend’. Auch hier steigert er auf diese Weise <die Darstellung des> Kriegsgeschehens.“]). 638 Vgl. zu dem hier diskutierten Stellenpaar auch unten zu Sat. 5, 13, 37-38. 639 So auch DServ. ad Aen. 9, 106 = II 319, 22-23 Thilo-Hagen (totum tremefecit Olympum] Homericum est μέγαν δ᾽ ἐλέλιξεν Ὄλυμπον) und (D)Serv. ad Aen. 10, 115 = II 400, 4 Thilo- Hagen (totum tremefecit Olympum] hoc Homeri est). - Vgl. Scaffai (2006), S. 113-115. <?page no="235"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 235 Nicht berücksichtigt hat Vergil demnach die Beschreibung der Brauen und Haare des Zeus in Il. 1, 528-530 a . Um nun aber die These von der besonderen Anschaulichkeit der homerischen Beschreibung zu erweisen, zitiert Eustathius eine Anekdote über den Bildhauer Phidias, der diese Verse Homers als Anregung für die Gestaltung seiner Zeusstatue in Olympia benutzt habe: Phidias cum Iovem Olympium fingeret, interrogatus de quo exemplo divinam mutuaretur effigiem, respondit archetypum Iovis in his se tribus Homeri versibus invenisse: < Il. 1, 528-530> . nam de superciliis et crinibus totum se Iovis vultum collegisse . Die Anekdote soll zeigen, dass Homer durch Auswahl und Präsentation der beschriebenen Details einen unmittelbaren visuellen Eindruck bei seinem Leser bzw. Hörer hervorrufen konnte. Damit ist exakt das Konzept der Enargeia als einer Stilqualität umschrieben, die unmittelbar die sinnliche Vorstellungskraft anregt. - Die Phidiasanekdote wird auch bei Strabo erzählt. Hier findet sich in einem späteren Zusatz 640 auch eine ausführliche Erläuterung, wie man sich die Wirkung der homerischen Beschreibung genau vorzustellen hat: εἰρῆσθαι γὰρ μάλα δοκεῖ καλῶς ἔκ τε τῶν ἄλλων καὶ τῶν ὀφρύων, ὅτι προκαλεῖται τὴν διάνοιαν ὁ ποιητὴς ἀναζωγραφεῖν μέγαν τινὰ τύπον καὶ μεγάλην δύναμιν ἀξίαν τοῦ Διός, καθάπερ καὶ ἐπὶ τῆς Ἥρας, ἅμα φυλάττων τὸ ἐφ᾽ ἑκατέρῳ πρέπον· φησὶ μὲν γάρ, < Il. 8, 199> ‘σείσατο δ᾽ εἰνὶ θρόνῳ, ἐλέλιξε δὲ μακρὸν Ὄλυμπον’, τὸ δ᾽ ἐπ᾽ ἐκείνης συμβὰν ὅλης κινηθείσης τοῦτ᾽ ἐπὶ τοῦ Διὸς ἀπαντῆσαι ταῖς ὀφρύσι μόνον νεύσαντος, συμπαθούσης δέ τι καὶ τῆς κόμης. κομψῶς δ᾽ εἴρηται καὶ τὸ ‘ὁ τὰς τῶν θεῶν εἰκόνας ἢ μόνος ἰδὼν ἢ μόνος δείξας’. (Strab. geogr. 8, 3, 30) („Dies gilt nämlich als eine sehr glückliche Beschreibung, vor allem wegen der Brauen, weil der Dichter dadurch auffordert, sich in Gedanken eine recht große Gestalt und eine große, des Zeus würdige, Macht auszumalen, ebenso wie im Falle der Hera, wobei er gleichzeitig das jedem der beiden Angemessene beobachtet: denn er sagt ‘Regte sich heftig im Thron und erschütterte weit den Olympos’, aber was geschah als sie den ganzen Körper bewegte, sei im Falle des Zeus durch das bloße Nicken mit den Brauen eingetreten, von dem auch sein Haar etwas berührt wurde. Geistreich hat man auch gesagt ‘der die Bildnisse der Götter entweder als einziger geschaut oder als einziger gezeigt hat’.“ ÜS Radt ) Das Schlusszitat zeigt, dass die Götterschilderungen Homers als besondere Kunstleistungen angesehen wurden, die auf einer unmittelbaren Kenntnis über die Götter beruht. Eustathius wählt für seinen Vergleich also eine Paradestelle für Homers sprichwörtlich gewordene Kunst der Götterdarstellung. Auf die Unterschiede zu Il. 1, 528-530 kommt es ihm daher auch hauptsächlich an, wenn 640 Die Authentizität des Abschnitts wurde von Meineke im Anschluss an Kramer in Frage gestellt. <?page no="236"?> 236 5. Macrobius, Saturnalia er Vergils Verse als kümmerliche Nachbildung Homers zu erweisen versucht. Die sachliche Ergänzung, die Vergil durch Einbezug von Il. 15, 37-38 leistet und die man auch als Steigerung des cultus hätte hervorheben können, bleibt für den Kritiker ästhetisch außer Acht ( ius iurandum vero ex alio Homeri loco sumpsit, ut translationis sterilitas hac adiectione conpensaretur ). p) Neuntes Bsp. zu Einzelaspekten des cultus ( Aen. 9, 181-~ Il. 24, 348-= Od. 10, 279; Sat. 5, 13, 24) Die beiden in Sat. 5, 13, 24 zitierten Stellen beschreiben die jugendliche Schönheit des Euryalus bzw. des Hermes; vgl. Aen. 9, 181 ( ora puer prima signans intonsa iuventa ) und Il. 24, 348 = Od. 10, 279 (beide Male über Hermes: πρῶτον ὑπηνήτῃ, τοῦ περ χαριεστάτη ἥβη [„<einem jugendlichen Manne gleichend,> einem, der im ersten Bart steht, bei dem am anmutigsten die Jugend ist“ ÜS Schadewaldt ]). Dass die Zeit des ersten Bartwuchses mit der größten Anmut bei Knaben einhergeht, wurde in den Homerkommentaren ausführlich erläutert 641 und ist zum Topos epischer Personenbeschreibung geworden. 642 Mit der Erwähnung dieses Details entspricht Vergil dem homerischen Vorbild, wenn auch die Verwendung von intonsa anstößig erscheinen konnte: Es ergab wenig Sinn, von „ungeschorenen“ Gesichtern zu sprechen, weil es nach archaischer Sitte ohnehin unüblich war, dass sich Jünglinge den Bart schoren. 643 Wenn Eustathius aber betont, in der Aeneisstelle fehle die „Anmut beginnender Jugend“ ( praetermissa gratia incipientis pubertatis - τοῦ περ χαριεστάτη ἥβη - minus gratam fecit Latinam descriptionem ), so vermisst er wohl die explizite Deutung des Phänomens , wie sie Homer im zweiten Teil des zitierten Verses vollzogen hat, die Vergil beim Rezipienten aber stillschweigend voraussetzt. Mangel an Anschaulichkeit hängt hier also mit einem Mangel an Klarheit zusammen. q) Zehntes Bsp. zu Einzelaspekten des cultus ( Aen. 9, 551 - 553-~ Il. 20, 164 - 175; Sat. 5, 13, 25 - 26) In Sat. 5, 13, 25-26 steht wieder ein Gleichnis aus der Aeneis in seinem Verhältnis zum homerischen Modell im Zentrum. Vergil vergleicht in Aen. 9, 551-553 den eingeschlossenen Helenor mit einem umstellten Tier: ut fera, quae densa venantum saepta corona | contra tela furit seseque haud nescia morti | inicit et saltu supra venabula fertur. 641 Vgl. schol. AbT ad Il. 24, 348 = V 583, 10-19 Erbse. 642 Vgl. Od. 18, 175-176; 18, 269-270; Aen. 8, 160. - Bierl / Latacz VIII.2 (2009), S. 128 z. St. mit weiterführender Literatur. 643 Das kritisiert DServ. ad Aen. 9, 181 = II 325, 19-20 Thilo-Hagen (hoc ad sua tempora rettulit; alioquin heroes non tondebantur). <?page no="237"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 237 In der von Eustathius zitierten homerischen Vorbildszene Il. 20, 164-175 wird der Ansturm des Achilleus gegen Aineias in einem Löwengleichnis beschrieben: Πηλεΐδης δ’ ἑτέρωθεν ἐναντίος ὦρτο λέων ὣς | σίντης, ὅν τε καὶ ἄνδρες ἀποκτάμεναι μεμάασιν | ἀγρόμενοι, πᾶς δῆμος· ὃ δὲ πρῶτον μὲν ἀτίζων | ἔρχεται, ἀλλ’ ὅτε κέν τις ἀρηϊθόων αἰζηῶν | <δουρὶ βάλῃ, ἐάλη τε χανών, περί τ’ ἀφρὸς ὀδόντας> | γίνεται, ἐν δέ τέ οἱ κραδίῃ στένει ἄλκιμον ἦτορ, | οὐρῇ δὲ πλευράς τε καὶ ἰσχία ἀμφοτέρωθεν | μαστίεται, ἑὲ δ’ αὐτὸν ἐποτρύνει μαχέσασθαι, | γλαυκιόων δ’ ἰθὺς φέρεται μένει, ἤν τινα πέφνῃ | ἀνδρῶν, ἢ αὐτὸς φθίεται πρώτῳ ἐν ὁμίλῳ· | ὣς Ἀχιλῆ’ ὤτρυνε μένος καὶ θυμὸς ἀγήνωρ | ἀντίον ἐλθέμεναι μεγαλήτορος Αἰνείαο. („Der Pelide aber drüben stürmte ihm entgegen wie ein Löwe, | Ein reißender, den auch die Männer zu töten streben, | Gesammelt, das ganze Volk; und zuerst geht er unbekümmert | Dahin, doch sobald ihn einer der kampfschnellen Männer mit dem Speer | Trifft, zieht er sich zusammen mit aufgesperrtem Rachen, und um die Zähne | Tritt Schaum, und ihm stöhnt im Innern das wehrhafte Herz, | Und mit dem Schweif die Flanken und Hüften auf beiden Seiten | Peitscht er und treibt sich selber an zu kämpfen, | Und funkelnden Auges dringt er voran mit Kraft, ob er einen tötet | Der Männer oder auch selbst umkommt im vordersten Haufen: | So trieb Achilleus die Kraft und der mannhafte Mut, | Entgegen zu gehen dem großherzigen Aineias.“ ÜS Schadewaldt ) Der Vergleich der beiden Stellen macht deutlich, dass Vergil Homers detaillierte Schilderung der Löwenjagd auf einen kurzen Moment, nämlich den letzten Ausbruchsversuch des Tieres, reduziert. Eustathius beschränkt sich in seiner Wertung auf den Aspekt des cultus : videtis in angustum Latinam parabolam sic esse contractam ut nihil possit esse ieiunius, Graecam contra et verborum et rerum copia pompam verae venationis inplesse. in tanta ergo differentia paene erubescendum est conparare ( Sat. 5, 13, 26). Er erwähnt freilich nicht, dass das Gleichnis bei Vergil viel besser passt, weil Helenus sich tatsächlich in einer gefährlichen Umzingelung befindet (Proprietät des Vergleichspunkts). Achilleus hingegen kämpft ebenbürtig gegen Aineias; der Vergleich mit dem verwundeten Löwen führt vom aktuellen Kontext weg bzw. hat nur den Zweck, die waghalsige Kampfeslust des Peliden zu charakterisieren. Genau diesen Gesichtspunkt stellt nämlich ein Scholion z. St. heraus: δουρὶ βάλῃ] καὶ μὴ τετρωμένον τρωθέντι λέοντι εἰκάζει· τότε γὰρ ἰσχυρότερος ἑαυτοῦ γίνεται. ἢ ὅτι, ὅσον τὸ καθ’ ἑαυτόν, ἔτρωσεν αὐτὸν ἀκοντίσας ὁ Αἰνείας <vgl. Il. 20, 259-272>· τότε γοῦν ὡς τρωθεὶς ὥρμησεν· τὰ γὰρ πρῶτα καὶ ἀπέτρεπεν αὐτόν <vgl. Il. 178-98>, καθ’ Ἕκτορος ὡρμημένος. (schol. bT ad Il. 20, 168 a = V 29, 25-29 Erbse) Die Änderung Vergils wird also einseitig nach dem Maßstab des cultus bewertet, ohne den doch mindestens ebenso wichtigen Aspekt der Vergleichbarkeit zu berücksichtigen. <?page no="238"?> 238 5. Macrobius, Saturnalia r) Elftes Bsp. zu Einzelaspekten des cultus ( Aen. 10, 360 - 361-~ Il. 16, 214 - 215 [ Il. 16, 215-= 13, 131]; Sat. 5, 13, 27) In Sat. 5, 13, 27 lässt es Eustathius offen, nach welchen Kriterien er die zitierten Stellen beurteilt: quanta sit differentia utriusque loci lectori aestimandum relinquo . Bei der ersten Stelle handelt es sich um die Schlussverse des Windgleichnisses, mit dem kurz vor der Aristie des Pallas der unentschiedene Nahkampf der Trojaner und der Rutuler beschrieben wird: haud aliter Troianae acies aciesque Latinae | concurrunt: haeret pede pes densusque viro vir. In den von Eustathius beigebrachten Parallelversen, die an zwei Stellen in der Ilias verwendet werden, wird das dichte Zusammenstehen der Achaier ( Il. 13, 132-133) bzw. der Myrmidonen ( Il. 16, 214-215) illustriert, also keine Kampfschilderung wie bei Vergil gegeben: ὣς ἄραρον κόρυθές τε καὶ ἀσπίδες ὀμφαλόεσσαι. | ἀσπὶς ἄρ’ ἀσπίδ’ ἔρειδε, κόρυς κόρυν, ἀνέρα δ’ ἀνήρ. („So fügten sich aneinander die Helme und Schilde, die gebuckelten. | Schild drängte den Schild, Helm Helm und Mann den Mann.“ ÜS Schadewaldt ) Die Imitation ist auch bei Servius vermerkt; vgl. Serv. ad Aen. 10, 361 (… et est Homeri versiculus). 644 In Sat. 6, 3, 5 wird nicht Homer, sondern der Dichter Furius als Quelle angegeben ( FPL 4 205 = frg. 10): pressatur pede pes, mucro mucrone viro vir . Furius hält sich viel enger an die homerische Vorlage, auch bei ihm stehen drei Polyptota in einem Vers - das letzte sogar in genauer Übersetzung. Vergil hingegen lässt das mittlere Paar weg und übernimmt lediglich pede pes und viro vir von Furius, ohne selbst ein Polyptoton beizusteuern. Eustathius hat demnach die rein quantitative Differenz der verwendeten Polyptota im Auge, wenn er Vergil in Sat. 5, 13, 27 kritisiert. s) Zwölftes Bsp. zu Einzelaspekten des cultus ( Aen. 11, 751 - 756-~ Il. 12, 200 - 207; Sat. 5, 13, 28 - 30) Das Adler-Schlangen-Gleichnis in Aen. 11, 751-756 verdeutlicht, wie der Etruskerfürst Tarchon (~ Adler) den Latiner Venulus (~ Schlange) mitten im Kampf auf seinem Pferd entführt: utque volans alte raptum cum fulva draconem | fert aquila implicuitque pedes atque unguibus haesit: | saucius at serpens sinuosa volumina versat, | arrectisque horret 644 Vgl. Scaffai (2006), S. 129. Weitere Vorbilder und Nachfolger Vergils bzw. Homers weist Harrison (1991), S. 166 nach. <?page no="239"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 239 squamis et sibilat ore | arduus insurgens, illa haud minus urguet obunco | luctantem rostro, simul aethera verberat alis. Venulus wehrt sich vergebens und der Erfolg Tarchons spornt die Etrusker zum Angriff an ( Aen. 11, 758 b -759 a ). - Ganz anders ist die Situation in Il. 12, 200-207. Ein von Zeus gesandtes Adler omen - also kein Gleichnis, sondern ein „reales“ Element der Erzählung - soll Hektor vor einem Angriff auf die Mauer der Achaier warnen: ὄρνις γάρ σφιν ἐπῆλθε περησέμεναι μεμαῶσιν | αἰετὸς ὑψιπέτης, ἐπ’ ἀριστερὰ λαὸν ἐέργων | φοινήεντα δράκοντα φέρων ὀνύχεσσι πέλωρον | ζωὸν ἔτ’, ἀσπαίροντα, καὶ οὔ πω λήθετο χάρμης, | κόψε γὰρ αὖ τὸν ἔχοντα κατὰ στῆθος παρὰ δειρὴν | ἰδνωθεὶς ὀπίσω· ὃ δ’ ἀπὸ ἕθεν ἧκε χαμᾶζε | ἀλγήσας ὀδύνῃσι, μέσῳ δ’ ἐνὶ κάββαλ’ ὁμίλῳ, | αὐτὸς δὲ κλάγξας πέτετο πνοιῇς ἀνέμοιο. („Denn es kam ihnen ein Vogel, als sie hinüber wollten, | Ein Adler, hochfliegend, nach links hin das Volk abschneidend, | Und trug eine blutrote Schlange in den Fängen, eine ungeheure, | Lebend, noch zuckend, und sie vergaß noch nicht des Kampfes: | Denn sie schlug ihn, der sie hielt, gegen die Brust beim Halse, | Rückwärts sich krümmend, und der ließ sie von sich zu Boden fallen | In scharfen Schmerzen und warf sie nieder inmitten der Menge | Und flog selbst kreischend hinweg mit dem Wehen des Windes.“ ÜS Schadewaldt ) Der Zeichendeuter Polydamas legt das Omen in Il. 12, 217-227 aus, ohne damit bei Hektor Gehör zu finden. - Die Stellen unterscheiden sich vor allem darin, dass die Schlange bei Vergil in der Gewalt des Adlers verbleibt, sie sich bei Homer hingegen wehrt und zu Boden fällt. Wie dargetan, erklärt sich dieser Unterschied aus der abweichenden narrativen Einbettung des Adler-Schlangen- Kampfes - Vergil musste das Gleichnis ändern, weil sich der Bezugspunkt geändert hatte. Eustathius berücksichtigt also wieder zu wenig den Kontext der Gleichnisse. Detailliert legt er nämlich in Sat. 5, 13, 30 dar, welche Elemente er bei Vergil vermisst: Vergilius solam aquilae praedam refert, nec Homericae aquilae omen advertit, quae et sinistra veniens vincentium prohibebat accessum <vgl. Il. 12, 201 b > et accepto a captivo serpente morsu praedam dolore deiecit <vgl. Il. 12, 204-206 a >, factoque tripudio solistimo cum clamore dolorem testante praetervolat <vgl. Il. 12, 207>: quibus omnibus victoriae praevaricatio significabatur. Es sind dies alles Bestandteile der homerischen Gleichniserzählung, die den Kampf zwischen Schlange und Adler zu einem für die Trojaner unglücklichen Vorzeichen machen. Zwar kämpfen die Trojaner (~ Adler) anfänglich siegreich <?page no="240"?> 240 5. Macrobius, Saturnalia um die Mauer, doch werden sie zuletzt von den Achaiern (~ Schlange) zurückgedrängt. Das Omen warnt die Trojaner - freilich vergeblich -, dem schnellen Sieg zu trauen ( victoriae praevaricatio ). Bei Vergil ist das Gegenteil der Fall: Tarchons Kampf gegen Venulus ist erfolgreich. Bei seinem abschließenden Urteil verwechselt Eustathius sogar ganz offenkundig die Erzählebenen, wenn er im Fall des homerischen Omens von einer parabola spricht: his praetermissis, quae animam parabolae dabant, velut exanimum in Latinis versibus corpus remansit ( Sat. 5, 13, 30). Dieser Fehler ist bezeichnend für die isolierende Betrachtungsweise in den Eustathiusreferaten der Saturnalia , wo es vor allem darum geht, die stilistisch-rhetorische Qualität zweier isolierter Abschnitte gegeneinander abzuwägen. t) Erstes Bsp. zur importunitas ( Aen. 4, 176 - 177-~ Il. 4, 442 - 443; Sat. 5, 13, 31 - 33) Mit der Kategorie der importunitas , die die letzten vier Beispielpaare illustrieren sollen, wechselt Eustathius von den stilistischen zu den inhaltlichen Aspekten missglückter Homerimitation. Vergil habe demnach Abschnitte aus Ilias und Odyssee in sein Werk - die Beispiele stammen allesamt der Aeneis - übernommen, ohne den neuen Kontext hinreichend zu berücksichtigen. Der so beschriebene Mangel berührt also die Frage nach der Integration von Einzelelementen in die höhere Organisation des Gesamtwerks und lässt sich in etwa mit dem vitium in Deckung bringen, das Horaz am Beginn seiner Ars poetica im Bild eines zusammengewürfelten Gemäldes beschreibt: denique sit quodvis, simplex dumtaxat et unum . 645 - Das Ideal der unitas ist für Eustathius bzw. Macrobius insbesondere dann verletzt, wenn sich aus der Übernahme von Einzelzügen logische Inkonsequenzen ergeben (Bsp. 1), wenn die notwendigen Verständnisvoraussetzungen bei der Nachahmung nicht mitgeliefert werden (Bsp. 2), wenn das nachgeahmte Detail an falscher Stelle steht und sich daraus ein Widerspruch zu ähnlichen epischen Situationen (Bsp. 3) oder der Eindruck mangelnder Notwendigkeit (Bsp. 4) ergibt. In Sat. 5, 13, 31-33 vergleicht Eustathius zwei Verse aus der homerischen Beschreibung der Streitgöttin Eris ( Il. 4, 440 b -445, hier 442-443) mit deren Adaption im Abschnitt über die Fama im vierten Buch der Aeneis ( Aen. 4, 173-188, hier 176-177). Die beiden Verspaare lauten: 645 Vgl. Hor. ars 23 und die Einleitungspartie 1-9. - Horaz hat, wie das Ekphrasisbeispiel in 14-19 zeigt, v. a. unverbundene Kombinationen umfangreicherer loci im Blick, doch gilt die Forderung nach unitas auch für die kürzeren Stellen bzw. versus , die Eustathius bei Macrobius bespricht. - Vgl. zum Einheitsgedanken außerdem → Kap. 2.3 und → Kap. 5.1.1. <?page no="241"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 241 parva metu primo, mox sese attollit in auras, | ingrediturque solo et caput inter nubila condit. 646 ἥ τ’ ὀλίγον μὲν πρῶτα κορύσσεται, αὐτὰρ ἔπειτα | οὐρανῷ ἐστήριξε κάρη καὶ ἐπὶ χθονὶ βαίνει. („… Welche klein sich zuerst behelmt, dann aber | Gegen den Himmel stemmt das Haupt und auf der Erde schreitet.“ ÜS Schadewaldt ) Zwei Kritikpunkte macht Eustathius geltend: (1) Vergil habe den Aspekt des Wachstums „unpassend“ ( incongrue ) auf seine Fama übertragen, weil ein Gerücht kein Gerücht mehr bleibe, wenn es wächst und sich verbreitet, sondern zur allgemein bekannten Tatsache werde. 647 (2) Außerdem habe er keine adäquate Entsprechung für die homerische hyperbole gefunden, die darin besteht, dass Homer Eris bis in den Himmel wachsen lässt (vgl. οὐρανῷ ἐστήριξε κάρη). 648 Der Vorwurf der importunitas betrifft also streng genommen nur den ersten von Eustathius genannten Punkt, der zweite Aspekt hängt aber damit zusammen. Es war nämlich umstritten, was Vergil genau meint, wenn er Fama „zu den Lüften“ aufsteigen und „ihr Haupt in den Wolken verbergen“ lässt. Servius - bzw. Servius auctus - schlägt zwei Deutungsmöglichkeiten vor, mit denen die von Eustathius diagnostizierte Problematik der importunitas in gewisser Weise aufgehoben wird: ingrediturque solo et caput inter nubila condit] hoc vult ostendere, nec humili eam fortunae parcere, nec superiori. vel quia famae incertus auctor. ([D]Serv. ad Aen. 4, 177 = I 494, 21-23 Thilo-Hagen) 649 Folgt man diesem Erklärungsansatz, dann hätte Vergil mit dem „Wachstum“ der Fama „bis zu den Wolken“ nicht das sich unter den Karthagern immer weiter ausbreitende Gerücht gemeint, sondern entweder (1) das wahllose Interesse der Fama an Personen höheren oder niedrigeren Standes bzw. Menschen und 646 Der Vers Aen. 4, 177 = 10, 767 wurde bereits in Sat. 5, 2, 11 auf Il. 4, 443 zurückgeführt. 647 Vgl. Sat. 5, 13, 32 ( hoc idem Maro de Fama dixit, sed incongrue. neque enim aequa sunt augmenta contentionis et famae, quia contentio etsi usque ad mutuas vastationes ac bella processerit, adhuc contentio est, et manet ipsa quae crevit; fama vero cum in immensum prodit, fama esse iam desinit et fit notio rei iam cognitae. quis enim iam famam vocet cum res aliqua a terra in caelum nota sit? ). 648 Vgl. Sat. 5, 13, 32 ( deinde nec ipsam hyperbolen potuit aequare. ille caelum dixit, hic auras et nubila. ). - Als ὑπερβολὴ κατὰ τὸ ἀδύνατον wird Il. 4, 443 auch von Demetr. eloc. 124 = 29, 27-28 Radermacher zitiert (ähnlich Dion. Chrys. 12, 72). 649 Ein Veroneser Scholion z. St. bleibt in seiner Auslegung ganz auf der Litteralebene; vgl. schol. Veron. ad Aen. 176 = 109, 20-23 Baschera (parva metu primo] Primo propter metum parva, mox, ubi valere iam coepit, laeta sublimitate procera famosum v oce c[aput] | sideribus audet inserere). <?page no="242"?> 242 5. Macrobius, Saturnalia Göttern 650 oder (2) den Umstand, dass der Ursprung - d. h. der „Kopf “ - von Gerüchten in der Regel im Dunkeln liegt ( et caput inter nubila condit ). 651 Mit beiden Interpretationen wäre die Schwierigkeit vermieden, die Eustathius an dieser Stelle anspricht. Es dürfte sich daher bei dem Passus in den Saturnalia um eine ältere Kritik handeln, auf die Servius (bzw. Servius auctus) mit seinen beiden alternativen Deutungen Bezug nimmt. 652 u) Zweites Bsp. zur importunitas ( Aen. 9, 732 - 733, 10, 270 - 271, 7, 785 - 786 und 8, 620-~ Il. 5, 4; Sat. 5, 13, 34 - 36) Einen zweiten Fall von importunitas macht Eustathius in Sat. 5, 13, 34-36 an verschiedenen vergilischen Imitationen des folgenden homerischen Verses fest ( Il. 5, 4): δαῖέ οἱ ἐκ κόρυθός τε καὶ ἀσπίδος ἀκάματον πῦρ („Und brennen ließ sie ihm aus Helm und Schild ein unermüdliches Feuer, …“ ÜS Schadewaldt ) Der Vers beschreibt, wie Athene Diomedes im Kampf durch ein Flammenwunder unterstützt: Wie ein herbstlicher Stern strahlen Haupt und Schultern des Helden ( Il. 5, 4-7). Diese Szene stieß schon bei Zoilos auf Kritik und regte die antiken Homerkommentatoren zu verschiedenen λύσεις an. 653 So brachte man etwa eine übertragene Bedeutung von πῦρ in Vorschlag: 650 Diese Erklärung dürfte auf Aspers Interpretation von Aen. 4, 178-180 ( illam Terra parens, ira inritata deorum | … | progenuit ) zurückgehen; vgl. schol. Veron. ad Aen. 4, 178 = 109, 24-26 Baschera (Asp.: an[imo inritato] | in deos saevire Famam creavit, per quam quia introducuntur invicem certantes et adulter[asse deos inter se] | et belligerasse, haec nobis innotescerent). 651 Im Falle der homerischen Eris ist der Vorgang des Wachstums unschwer vorzustellen; vgl. Herakl. all. 29, 4-7, bes. 6-7 (ἀλλ’ ὃ συμβέβηκεν ἀεὶ τοῖς φιλονεικοῦσι πάθος ἐκ ταύτης τῆς ἀλληγορίας διετύπωσεν· ἀρξαμένη γὰρ ἀπὸ λιτῆς αἰτίας ἡ ἔρις, ἐπειδὰν ὑποκινηθῇ, πρὸς μέγα δή τι κακοῦ διογκοῦται. [„Doch setzte er diese Allegorie ein, um das zu beschreiben, was streitlustigen Menschen immer widerfährt: Der Streit fängt bei einer unbedeutenden Ursache an und schwillt, wenn er einmal losgetreten ist, zu einem gewaltigen Übel an.“]). 652 Anders Georgii (1891), S. 205-206 („… eine … Kritik …, von welcher in unseren Scholien keine Spur erhalten ist“). 653 Vgl. frg. 26-27 Friedlaender und Porph. quaest. Hom. I 79, 18-20 Schrader (Ζωίλος … ὁ Ἐφέσιος κατηγορεῖ τοῦ τόπου τούτου καὶ μέμφεται τῷ ποιητῇ …, ὅτι λίαν γελοίως πεποίηκεν ἐκ τῶν ὤμων τοῦ Διομήδους καιόμενον πῦρ). Weitere Stellen sind in Erbses Apparat zu schol. T ad Il. 5, 7 a = II 3, 45-50 Erbse aufgeführt. - Eine Übersicht über die vorgebrachten Lösungen findet sich bei Porph. quaest. Hom. I 79, 1-17 Schrader. <?page no="243"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 243 τοῖόν οἱ πῦρ δαῖεν] ἀντὶ τοῦ λαμπηδόνα τῶν ὤμων αὐτοῦ ἀπολάμπειν ἐποίει ὡς {ἀπὸ} πυρός …· εἰ γὰρ πῦρ, ἐκινδύνευεν ἂν ὁ ἥρως καταφλεχθῆναι. ἀλλ’ οὖν τοῖς θεοῖς πάντα εὐχερῆ. (schol. T ad Il. 5, 7 a 1 = II 3, 45-49 Erbse) („solch ein Feuer ließ sie ihm brennen] Anstatt vom Glanz seiner Schultern zu sprechen, lässt er sie gleichsam wie von Feuer erstrahlen … Wenn es aber wirklich Feuer gewesen wäre, dann wäre der Held in der Gefahr gewesen, zu verbrennen. Doch ist den Göttern alles möglich.“) Das Scholion gibt zwei Interpretationsmöglichkeiten, eine metaphorische und eine wörtliche. Ein wörtliches Verständnis sei deshalb vertretbar, weil auch in dem Fall, dass Athene wirkliche Flammen geschickt hätte, keine Gefahr für Diomedes bestanden hätte - die Göttin hätte die Wirkung der Hitze ja aufheben können. - Eustathius hebt einleitend hervor, dass Athene Diomedes nur während des eigentlichen Kampfgeschehens mit dem Feuerglanz ausstattet: Minerva Diomedi suo pugnanti dumtaxat flammarum addit ardorem, et inter hostium caedes fulgor capitis vel armorum pro milite („so wie der Krieger, d. h. Diomedes, selbst“) minatur . Man kann aufgrund dieser Worte (vgl. auch flammarum … ardorem ) annehmen, dass Eustathius den Feuerglanz nicht metaphorisch, sondern wörtlich auffasst. Minervas übernatürliche Tat, die die Naturgesetze außer Kraft setzt, erfolgt demnach nur in der Ausnahmesituation des Kampfes. Dies ist nun genau der Gesichtspunkt, nach dem Eustathius im Anschluss die vier Vergilstellen beurteilt, in denen er eine Nachbildung der Iliasverse erkennt. An der ersten Stelle ist tatsächlich eine Kampfszene beschrieben. Turnus dringt nach dem Tod des Bitias ins trojanische Lager ein ( Aen. 9, 732 b -733): tremunt sub vertice cristae | sanguineae clipeoque micantia fulmina mittunt; Erst an der zweiten Stelle erkennt Eustathius eine unpassende Übernahme des Motivs. In Aen. 10, 270-271 wird der Anblick des von Euander zurückkehrenden Aeneas beschrieben: 654 ardet apex capiti cristisque ac vertice flamma | funditur, et vastos umbo vomit aereus ignes … 654 Dass es sich bei dem Beschriebenen um Aeneas und nicht Turnus handelt, legt Serv. ad Aen. 10, 270 = II 420, 21-25 Thilo-Hagen dar. Das anschließende Sterngleichnis in Aen. 10, 272-275 wird von Servius auf Il. 5, 5-6 zurückgeführt; vgl. Serv. ad Aen. 10, 270 = II 420, 25 Thilo-Hagen (est autem Homeri et locus et comparatio. hoc autem iste violentius posuit, quod ille stellae tantum facit comparationem, hic etiam stellae pestiferae, respiciens quas clades Rutulis sit inlaturus Aeneas.). <?page no="244"?> 244 5. Macrobius, Saturnalia Eustathius erläutert: quod quam importune sit positum hinc apparet, quod necdum pugnabat Aeneas sed tantum in navi veniens apparebat. - Die dritte Stelle entstammt dem Latinerkatalog, wieder wird Turnus beschrieben ( Aen. 7, 785-786): cui triplici crinita iuba galea alta Chimaeram | sustinet Aetnaeos efflantem faucibus ignis. Wie zuvor geht es hier ebenfalls um keine eigentliche Kampfschilderung, doch verzichtet Eustathius auf eine explizite Wertung der Stelle. - Anders zu Aen. 8, 620, einem Vers aus der Beschreibung der von Vulcanus neu gefertigten Waffen, die Eustathius mit den Worten quid quod Aeneas recens allatis armis a Vulcano et in terra positis miratur? kommentiert: terribilem cristis galeam flammasque vomentem? Als entscheidender Unterschied aller vier Stellen zu Homer wird deutlich, dass bei Vergil nirgends die Rede davon ist, dass ein Gott bzw. eine Göttin für den Feuerglanz sorgt. Das Feuersprühen ist anders als bei Homer nicht Element der epischen Handlung und daher an allen vier Stellen als metaphorischer Ausdruck verständlich. Anders als dem Diomedes bei Homer wird der Flammenschein Aeneas und Turnus bei Vergil nicht als besondere Hilfe in einer schwierigen Situation durch eine Gottheit verliehen. Das Moment des Wunderbaren oder auch Unglaubwürdigen, das das Eingreifen der Athene in der Ilias auszeichnet, wäre immerhin durch die äußere Situation, den hitzigen Kampf des ersten Schlachttages, gerechtfertigt, doch selbst hier sah man sich genötigt, eine rationale Erklärung des Phänomens nachzuschieben (vgl. die im oben zitierten Scholion gegebene erste Erklärung). Vergil will den Feuerglanz metaphorisch verstanden wissen, wenn er das Flammenmotiv auch in Kontexten aufgreift, in denen kein Kampf geschildert wird. v) Drittes Bsp. zur importunitas ( Aen. 10, 101 - 103-~ Il. 1, 528 - 530; Sat. 5, 13, 37 - 38) In Aen. 10, 101-103 schildert Vergil, wie der Kosmos - genannt werden Himmel, Erde, Äther, Luft und Meer - auf die Worte des Weltenherrschers Jupiter reagiert, mit denen er die Auseinandersetzung zwischen Juno und Venus schlichtet: infit (eo dicente deum domus alta silescit | et tremefacta solo tellus, silet arduus aether, | tum Zephyri posuere, premit placida aequora pontus). 655 655 Vgl. aber Sat. 6, 2, 26, wo Verse aus dem Scipio des Ennius als Quelle Vergils zitiert werden; vgl. FPL 2 frg. 31 ( mundus caeli vastus constitit silentio | et Neptunus saevus undis asperis pausam dedit. | Sol equis iter repressit ungulis volantibus, | constitere amnes perennes, arbores vento vacant ). <?page no="245"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 245 Die Verse, die Eustathius in Sat. 5, 13, 37-38 heranzieht, um das Vorbild für Vergils Beschreibung zu bestimmen, wurden bereits in Sat. 5, 13, 22-23 zitiert. Sachlich hat dieser Abschnitt über Zeus’ Nicken und das dadurch verursachte Beben des Olymp nur entfernt mit Vergils Schilderung zu tun, die nämlich in drei Punkten von der Homers abweicht: (1) in der Ursache des beschriebenen Vorgangs - Jupiters Worte bei Vergil vs. Zeus’ Nicken bei Homer -, (2) im Wirkungsbereich - ganzer Kosmos bei Vergil vs. Olymp bei Homer 656 - und (3) in der Art der Wirkung - Schweigen des Kosmos bei Vergil vs. Erschütterung des Olymps bei Vergil. Diese Erweiterungen könnte man problemlos als Erhöhung des cultus zugunsten Vergils geltend machen. Doch Eustathius lässt diesen Aspekt hier unbeachtet und hält dem Dichter der Aeneis stattdessen vor, er habe sich zwar vom Glanz der homerischen Verse packen lassen ( loci … fulgore correptus ), seine Nachahmung aber zu spät im Epos platziert. Er nennt die Götterszenen im ersten ( Aen. 1, 223-304), vierten ( Aen. 4, 219-237) und neunten Buch der Aeneis ( Aen. 9, 80-106), in denen jeweils der Hinweis auf die kosmischen Auswirkungen der abschließenden Jupiterbescheide fehlt. - Vergils Entscheidung, die Wirkung der Worte des Gottes auf den Kosmos nur im zehnten Buch zu bringen, folgt jedoch einem gewissen Plan. Es handelt sich ja um die für das ganze Epos entscheidende Beratung, während die Relevanz der anderen genannten Szenen auf die jeweiligen Episoden beschränkt ist - mit dem Venusgespräch des ersten Buches als einziger Ausnahme („Jupiterprophetie“ in Aen. 1, 257-296), die aber nun gerade auch einen Hinweis auf Jupiters kosmische Macht enthält (vgl. Aen. 1, 255: voltu, quo caelum tempestatesque serenat ). Die Bedeutung des Götterkonzils im zehnten Buch kommt schon im schieren Umfang des Abschnitts zum Tragen, der die vorangegangenen Jupiterszenen z. T. erheblich übertrifft. Vergil dürfte seinen Hinweis auf Jupiters kosmische Macht bewusst für diese die finale Entscheidung vorbereitende Szene aufgehoben haben. Die Kritik des Eustathius wird Vergil demnach in zweifacher Hinsicht nicht gerecht: Einmal ignoriert er, dass Vergil sehr wohl bereits zuvor, nämlich in der ersten olympischen Szene, einen Hinweis auf Jupiters kosmische Macht gegeben hat ( Aen. 1, 255; dagegen Eustathius: tamquam non idem sit qui locutus sit paulo ante sine ullo mundi totius obsequio ), und außerdem verkennt er die besondere Funktion, die dieser Hinweis gerade in der abschließenden Götterszene hat. 656 Die kosmologische Erweiterung bei Vergil betont Serv. ad Aen. 1, 102 = II 398, 7-10 Thilo-Hagen (tremefacta solo tellus] loquente Iove stupor elementorum omnium ostenditur per naturae mutationem: nam et quicquid in aeterno motu est, quievit, et contra terra mota est, semper immobilis, unde Horatius < carm. 1, 34, 9> ‘et bruta tellus’). <?page no="246"?> 246 5. Macrobius, Saturnalia w) Viertes Bsp. zur importunitas ( Aen. 12, 725 - 726-~ Il. 8, 69-= Il. 22, 209; Sat. 5, 13, 39) In Sat. 5, 13, 39 zitiert Eustathius nach der Vorankündigung, nun einen weiteren Fall von importunitas zu bringen, einen Vers Homers: καὶ τότε δὴ χρύσεια πατὴρ ἐτίτηνε τάλαντα („Da nun spannte der Vater die goldenen Waagschalen auseinander“ ÜS Schadewaldt ) Dieser Vers erscheint zweimal in der Ilias : An der ersten Stelle wägt Zeus am Morgen des zweiten Kampftages die Schicksalslose der Achaier und der Troer (vgl. Il. 8, 68-74, hier 69). An der zweiten Stelle senkt sich das Todeslos Hektors auf der Schicksalswaage, nachdem der überlegene Achilleus diesen dreimal um die Mauern Trojas gejagt hat (vgl. Il. 22, 208-213, hier 209). Eustathius hat die zweite Stelle im Sinn, wenn er die finale Wägung der Schicksale von Aeneas und Turnus durch Jupiter in der Aeneis als Nachbildung des homerischen Modells zitiert ( Aen. 12, 725-726): Iuppiter ipse duas aequato examine lances | sustinet, et fata inponit diversa duorum. Das Ergebnis der Schicksalswägung wird bei Vergil nicht mitgeteilt. - Eustathius zufolge ergibt sich nun ein Widerspruch, wenn man Junos Worte an Juturna in Aen. 12, 149-150 vergleicht: nunc iuvenem imparibus video concurrere fatis, | Parcarumque dies et lux inimica propinquat … Man könne diesen Versen entnehmen, dass das Schicksal von Aeneas’ Konkurrenten zu diesem früheren Zeitpunkt bereits feststehe und Jupiters Schicksalswägung demnach ohne handlungslogische Notwendigkeit erfolge. Freilich fordert Juno Juturna in den nächsten beiden Versen ( Aen. 12, 151-152) ausdrücklich auf, ins Geschehen einzugreifen, mit der Aussicht, dass sich die Dinge doch noch zum Guten ändern könnten ( Aen. 12, 153: … forsan miseros meliora sequentur ). 657 Jupiter hatte dem Schicksal der Trojaner und der Rutuler zwar in der Götterversammlung in Aen. 10, 107-113 freies Spiel gelassen (vgl. insbes. Aen. 10, 111 b -113 a : sua cuique exorsa laborem | fortunamque ferent. rex Iuppiter omnisbus idem. | fata viam invenient. ), doch stand für ihn schon im Venusgespräch des ersten Buches fest, dass Aeneas am Ende siegen werde (vgl. Aen. 1, 257-296). 658 Juno hingegen kennt oder ahnt zwar die Grenzen des Schicksals, reizt aber das in ihrem Rahmen Mögliche aus. Deshalb setzt sie Juturna ein, 657 Vgl. auch Aen. 12, 157 ( adcelera et fratrem, si quis modus, eripe morti ). 658 Den hinhaltenden Charakter von Jupiters Worten in der Götterversammlung des zehnten Buches betont Harrison (1991), S. 90. <?page no="247"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 247 um Turnus und die Rutuler zu unterstützen (vgl. Aen. 12, 222-237, 468-480 und 623-630). Erst nachdem alle Versuche gescheitert sind und der Zweikampf unmittelbar bevorsteht, räumt die Göttin ein, dass sie sich über den Sieg des Aeneas, d. h. den Willen Jupiters nie wirklich Illusionen gemacht habe; vgl. Aen. 12, 808-809 ( Ista quidem quia nota mihi tua, magne, voluntas | Iuppiter, et Turnum et terras invita reliqui … ). Die Problematik bringt Heinze (1897), S. 296 Anm. 2 auf den Punkt: „Am schwersten ist zu sagen, was sich Virgil bei der nach homerischem Muster … in den letzten Zweikampf eingeschobenen Psychostasie gedacht hat … Zwar, dass dem Turnus jetzt bestimmt ist zu fallen, war noch nicht gesagt …; aber nimmt man danach an, dass sich jetzt endlich Turnus’ Schicksal in Juppiters Willen entscheidet, so ist doch jenes Bild dafür wenig geeignet, denn es könnte der Kampf höchstens unentschieden bleiben, keinenfalls aber, nach dem Plan des Ganzen, Aeneas jetzt dem letum verfallen.“ Heinze macht dann einen darstellungtechnischen Grund für die Einfügung der Szene geltend: „Virgil sucht … den Leser mit allen Mitteln in die Stimmung und Spannung des Zuschauers zu versetzen, die wussten, dass jetzt die Entscheidung falle, und atemlos ihrer harrten; mythisches Symbol ist die Psychostasie, und die Evidenz dieses Symbols schien Virgil für seinen nächsten Zweck so wertvoll, dass er die entgegenstehenden Bedenken übersah oder geringachtete. Ob er bemerkt hat, dass auch bei Homer Zeus den Hektor bereits vor der Psychostasie preisgegeben hatte (167-185), mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist Virgil auch darin auf Erhaltung der Spannung bedacht, dass er abweichend von Homer nicht sagt, wie die Waage entscheidet: das wird eben der Erfolg ergeben.“ Die Frage ist nun, ob sich Eustathius zurecht auf Aen. 12, 149-150 berufen kann, wenn er einen Widerspruch zwischen dieser Äußerung und der finalen Wägeszene behauptet. Dieses Problem hat zwei Komponenten: Einmal ist zu klären, in welchem Sinn Juno die oben zitierten Worte spricht und ob sie damit tatsächlich eine grundsätzliche Aussage über die Unabänderlichkeit des Schicksals macht. Außerdem ist zu fragen, ob in der Wägeszene - zumal aus der Perspektive der antiken philologischen Diskussion - tatsächlich ein Entscheidungsprozess dargestellt wird oder ob es noch andere Deutungsmöglichkeiten gibt. Eustathius stellt die Sache so dar, als ob Juno an dieser Stelle Juturna gegenüber behaupten würde, dass sie von Turnus’ unmittelbar bevorstehendem Ende weiß. Dem steht das argumentative Ziel der Göttin in dieser Rede entgegen: Sie will Juturna ja zum Eingreifen bewegen, wird ihr also kaum offen sagen, dass ein solches Eingreifen ohne Wirkung bleiben muss. In Aen. 12, 146-147 weist sie darauf hin, dass sie selbst Turnus - soweit es Fortuna und die Parzen erlaubt hätten - geschützt habe und den weiteren Schutz nun der Nymphe überlasse. Ihre Andeutungen über die „ungleichen fata “, den „Tag der Parzen“ und die <?page no="248"?> 248 5. Macrobius, Saturnalia „feindliche Gewalt“ in Aen. 12, 149-150 sind aber so unbestimmt, dass man sie auch einfach als nachdrücklichen Hinweis auf die aktuelle kritische Lage verstehen kann - sie haben die Funktion, Juturna zum Einschreiten zu bewegen. Junos Ziel ist weiterer Aufschub: Im Schlusssatz ihrer Rede formuliert sie ja die Möglichkeit, dass sich die Dinge zum Besseren wenden können, was aus ihrer Perspektive heißen muss, dass Turnus noch nicht stirbt und die Kämpfe noch längere Zeit weitergehen. Eustathius kritisiert außerdem, dass Jupiter die Psychostasie „allzu spät“ ( sero ) vollführt, wo doch schon alles entschieden sei. Wie ausgeführt, wählt Eustathius sein Beispiel unglücklich, im Grunde hat er aber recht: Der Leser der Aeneis kann kaum im Zweifel darüber sein, dass Aeneas letztlich über seinen Gegner siegen wird und die fata auf seiner Seite sind. Mit seiner Kritik unterstellt Eustathius, dass Vergil die Entscheidung über den allgemeinen Ausgang der Aeneis Jupiter erst an dieser Stelle treffen lässt, womit sich tatsächlich der erwähnte Widerspruch ergäbe. Die Lösung des zweiten Problems hängt also mit der Frage zusammen, wie man die Funktion der Schicksalswaage genau bestimmt. Wie sich aus den zeitgenössischen Vergilkommentaren ersehen lässt, gab es neben der von Eustathius vorgebrachten Lösung noch mehrere Alternativerklärungen. (D)Serv. sieht die Schicksalswägung im zwölften Buch der Aeneis ebenfalls als problematisch an, geht freilich bei den vier Lösungsvorschlägen, die er in seiner Anmerkung zu Aen. 12, 725 = II 635, 26-636, 7 Thilo-Hagen entwickelt, von einer etwas anders akzentuierten Problemstellung aus. 659 Für ihn liegt der vornehmliche Widerspruch darin, dass die sich in der Wägung der Lose ausdrückende Unwissenheit Jupiters mit seiner Eigenschaft als allwissender Gott nicht vereinbar wäre. Folgende Erklärungsmöglichkeiten werden erwogen: - Es handle sich um eine poetische Lizenz , die keine Schlüsse auf Jupiters Unwissenheit zulässt ( aut poetice dictum est et ratione caret: nam Iuppiter ignorare nihil poterat ). - Der Tod sei der einzige Bereich , auf den sich Jupiters Allwissenheit nicht erstreckt (aut certe illud quaerit, quid sibi de Turno et Aenea mortis adferat causa. 660 nam dicunt philosophi, mortem ad eum < scil. Iovem> minime pertinere: nam bona tantum praestat, nec ad eum quae mala sunt, pertinent: nam ideo et aequas lances sustinet. ). 659 Vgl. dazu auch Georgii (1891), S. 547-549 und Scaffai (2006), S. 244-246. - Die Abhängigkeit Vergils von Homer wird im Schlusssatz des Scholions festgestellt (tamen sciendum, locum hunc a Vergilio ita esse translatum, ut in Homero lectus est). 660 Thilos Lesart (quis ibi de Turno et Aenea mortis adferat causam) zurecht verbessert von Georgii (1891), S. 548: „… d. h. was ihm ( Juppiter) hinsichtlich des Turnus und Äneas die den Tod verursachende Macht d. h. das Schicksal (mittels der Wage) anzeige.“ <?page no="249"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 249 - Der Vorgang des Wägens diene nur der Demonstration des schon von vornherein feststehenden Schicksalswillens vor den anderen Göttern, hat also rein kommunikative Funktion ( vel ideo a Iove hoc fit, ut Iunoni aliisque deis necessitatis violentiam probet ). - Jupiter wolle nur in Erfahrung bringen, ob die Zeit für Turnus’ Tod schon gekommen sei ( an inquirit, utrum tempus sit? ). Der Vergleich mit einem Scholion zur ersten Wägeszene bei Homer zeigt, dass sich (D)Serv. im vierten Verteidigungsansatz mit stoischen Erklärungsversuchen in der Homerphilologie trifft: καὶ τότε δὴ χρύσεια <πατὴρ ἐτίταινε τάλαντα>] ποιητικῶς τὸ δισταζόμενον ἐπανάγει τῷ ζυγῷ. οἱ Στωϊκοὶ ( SVF II 267, 41 = Chrys. frg. 931) δέ φασιν ὡς ταὐτὸν εἱμαρμένη καὶ Ζεύς. διττὸν δὲ τὸ τῆς Μοίρας· ἀπαράβατον, ὡς τὸ δεῖ θνητὸν ὄντα ἀποθανεῖν, οὗ οὐδὲ Ζεὺς κρατεῖ, ὡς ἐπὶ Σαρπηδόνος <vgl. Il. 16, 431-461>· τὸ δὲ ταχὺ ἢ βραδύ, ὡς ἐπὶ Ἀχιλλέως, οὗ κρατεῖ Ζεύς <vgl. Il. 15, 72-77 und Il. 22, 356-360>. (schol. bT ad Il. 8, 69 = II 313, 64-70 Erbse) („Da nun spannte der Vater die goldenen Waagschalen auseinander] In dichterischer Weise legt er das, worüber Unklarheit herrscht, auf die Waage. Die Stoiker aber sagen, dass das Schicksal und Zeus dasselbe sind. Zwei Dinge aber gehören zur Moira: Die Unabänderlichkeit, dass nämlich das Sterbliche sterben muss, worauf auch Zeus nicht einwirken kann, so wie im Fall des Sarpedon, und die Frage, ob man gleich oder nach längerer Zeit erst stirbt, wie im Fall des Achilleus, was <hingegen> in der Macht des Zeus liegt.“) 661 Zeus erscheint hier in zwei Rollen: Eingangs wird er mit dem Schicksal (= μοίρα) identifiziert, im zweiten Teil des Scholions wird er hingegen als der „Teilbereich“ des Schicksals genannt, der über den konkreten Todeszeitpunkt bestimmt. Der Wägevorgang steht demnach genau für diesen Entscheidungsprozess. - Die Frage, ob Vergil nun tatsächlich auf eine derartige stoische Schicksalskonzeption abgezielt hat, kann in diesem Rahmen nicht weiter verfolgt werden. 662 661 Die Stelle galt auch sonst als problematisch: Von Zoilos ist eine kritische Anfrage überliefert, wie man sich den Vorgang konkret vorzustellen hätte, dass Zeus die Moiren auf die Waage setzt; vgl. schol. T ad Il. 22, 210 b = V 312, 33-313, 35 Erbse = frg. 35 Friedlaender. - Eine allegorische Lesart schlägt ein Scholion zur zweiten Wägeszene in der Ilias vor; vgl. schol. T ad Il. 22, 209 = V 312, 23-25 Erbse (<πατὴρ> ἐτίταινε τάλαντα] ἴσως ἀλληγορεῖ τὴν Διὸς γνώμην, πῶς περὶ τῶν ἐνεστώτων ἐσκέπτετο· φησὶ γοῦν ἀλλαχοῦ < Il. 16, 658>· ‘γνῶ γὰρ Διὸς ἱρὰ τάλαντα’. [„spannte der Vater die … Waagschalen auseinander] Diese Allegorie über den Geist des Zeus entspricht der Art, wie <dieser> über das Bevorstehende im Unklaren war; an anderer Stelle sagt er zum Beispiel ‘denn er erkannte des Zeus heilige Waage’.“]) 662 Vgl. dazu die Literaturhinweise und den Überblick bei Jenkyns (2014), pass. - Das Thema fatum (und Fortuna ) wird bei Macrobius auch in Sat. 5, 16, 8-11 behandelt (→ Kap. 5.2.2.9). <?page no="250"?> 250 5. Macrobius, Saturnalia Wichtig ist der Hinweis auf diese Stellen, weil sie zeigen, dass Eustathius ein seit langem intensiv diskutiertes Vergilproblem - die Scholiennotiz bei (D)Serv. geht vielleicht bis auf Asper zurück 663 - im Vorbeigehen andeutet und in seinen wertenden Vergleich mit Homer einbezieht, ohne etwa auch zu berücksichtigen, dass sich bei Homer genau derselbe Kritikpunkt anbringen lässt (vgl. oben das Zitat von Heinze). Es geht also weniger um ein abgewogenes Urteil, das die bereits diskutierten Lösungswege berücksichtigt. Eustathius möchte an dieser Stelle vielmehr ein mögliches Problem illustrieren, das sich bei der imitatio von Vorbildstellen ergeben kann, nämlich das der mangelnden handlungslogischen Einbindung und der ungeschickten Platzierung einer Nachahmung. Damit bestätigt sich auch im Fall der importunitas der Eindruck, der sich schon bei den verschiedenen cultus -Abschnitten ergeben hatte. Eustathius kommentiert die einzelnen Stellen nicht ausgewogen, indem er etwa mögliche andere Bezugstexte heranzieht, philologische Lösungsversuche berücksichtigt oder konkurrierende Kriterien in den Wertungsprozess einbezieht, sondern er nimmt die als Modell und Nachahmung identifizierten Parallelenpaare, um an ihnen isolierte stilistische Phänomene, etwa bestimmte Einzelaspekte des cultus wie Detailfülle, celeritas o. ä. zu exemplifizieren. Das hat seine Berechtigung, weil er damit einem so komplexen Phänomen wie dem Thema der Anschaulichkeit (ἐνάργεια) in vielen Facetten gerecht werden kann, ohne sich in Detaildiskussionen - etwa über die inhaltliche Einbettung und den Vergleichspunkt eines Gleichnisses etc. - zu verlieren. Das Zitat von Modell und Nachahmung reicht allemal hin, um einen bestimmten Sachverhalt zu illustrieren, den vermutlichen Intentionen Vergils werden diese Analysen in vielen Fällen aber nicht gerecht. 5.2.2 Dichtung in Nachfolge Homers-- Elemente einer komparativen Poetik (Sat. 5, 14, 1 - 17, 4) 5.2.2.1 Die πάθη des Hexameters ( Sat. 5, 14, 1 - 4) Eustathius eröffnet seinen Nachweis, dass Vergil dem Vorbild Homer außer bei Imitationen von Einzelstellen auch unter strukturellen Gesichtspunkten gefolgt sei, mit drei Besonderheiten, die den Versbau betreffen ( Sat. 5, 14, 1-4). Die eingangs gegebene Bewertung erscheint paradox: Eustathius lobt Vergils Homernachahmung (vgl. dulcis imitatio ) mit der Bemerkung, dass es gerade die „Fehler“ ( vitia ) im homerischen Versbau gewesen seien, die zum Gelingen der Nachahmung beigetragen hätten. Diese vitia seien nämlich Elemente des epischen Stils ( heroicus stilus ). 664 Mit dieser Einschätzung setzt sich Eustathius von den in 663 Scaffai (2006), S. 245. 664 Vgl. Sat. 5, 14, 1 ( quos hic quoque [ scil. Vergilius ] heroicum stilum approbans non refugit ). <?page no="251"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 251 seinen Augen ahnungslosen Homerkritikern ab. Der Abschnitt ordnet sich also in das weitere Feld der kritischen Homerrezeption und der darauf reagierenden apologetischen Versuche - hier unter Berufung auf die Autorität Vergils - ein. Zunächst stellt sich die Frage, wie sich die angesprochenen Phänomene - versus ἀκέφαλοι / λαγαροί / ὑπερκαταληκτικοί - in die metrische Theorie einfügen. Eustathius gibt in zwei Fällen selbst knappe Definitionen: Mit den ersten beiden Klassen ist demzufolge der Ersatz langer Silben durch kurze am Versanfang 665 bzw. in der Versmitte 666 gemeint; bei der Hyperkatalexe 667 hingegen liegt ein Silbenüberschuss am Versschluss vor, der dann - wie aus den zitierten Beispielen ersichtlich, obwohl von Eustathius nicht eigens benannt - durch Synalöphe über die Versgrenze hinaus ausgeglichen wird. Die drei Abschnitte in Sat. 5, 14, 2-4 sind entsprechend der Position der jeweiligen Anomalie im Vers - Versanfang, -mitte und -ende - nacheinander angeordnet. Diese Anordnung hat eine Parallele in einer wenige Jahrzehnte zuvor entstandenen metrischen Spezialschrift: Der unter Constantius II . wirkende Grammatiker Asmonius 668 gibt nämlich am Ende des ersten Buches seiner Schrift De metris eine Überblick über verstechnische vitia , denen er den folgenden Gliederungshinweis vorausschickt: nam aut in principio aut in medietate aut in extrema sui parte corrumpuntur . 669 Es handelt sich bei Asmonius, zumindest was die ersten beiden gerügten Phänomene - versus ἀκέφαλοι 670 und λαγαροί 671 - betrifft, um die von Eustathius im Gegenzug als gelungene Aspekte vergilischer Homerrezeption herausgestellten Besonderheiten an Versbeginn und -mitte. Nur bei der letzten Kategorie, den versus miuri (μείουροι = 665 Diese Kategorie wird von Macrobius nicht eigens definiert. 666 Vgl. Sat. 5, 14, 3 (λαγαροὶ autem, qui in medio versu breves syllabas pro longis habent … ). - Wie aus den Beispielen Aen. 11, 890 und Aen. 11, 469 zu ersehen, kann bei den versus λαγαροί jede beliebige Länge im Versinneren durch eine Kürze ersetzt werden. 667 Vgl. Sat. 5, 14, 4 (ὑπερκαταληκτικοὶ syllaba longiores sunt … ). 668 Zur Namensform und den Identifizierungs- und Überlieferungsproblemen vgl. Peter L. Schmidt: Art. „Aelius Festus Asmonius (Apthonius? )“, HLL § 525.1 = HdAW VIII.5 136-138. 669 Ps.-Mar. Victorin. gramm. = GL VI 67, 15-16 Keil. 670 Ps.-Mar. Victorin. gramm. = GL VI 67, 16-19 Keil ( … cuius initium pro condicione propriae legis nequaquam integrum processerit, ἀκέφαλος dicitur, veluti capite imminuto, ut < georg. 1, 482> ‘fluviorum rex Eridanus’: item < Aen. 11, 354> ‘adicias nec te ullius violentia vincat’ ). 671 Ps.-Mar. Victorin. gramm. = GL VI 67, 20-24 Keil ( in media vero parte laesus λαγαρός appellatur, ut < Aen. 3, 179> ‘Anchisen facio certum’. cui qui medentur, finalis syllabae excusatione succurrunt, ne media versus sede iambus habeatur, causantes, quod parte orationis terminata pro longa posita o accipienda sit, ut < Aen. 1, 15> ‘quam Iuno fertur’ et < Aen. 6, 841> ‘quis te, magne Cato, tacitum’, item < Aen. 1, 379> ‘classe veho mecum’ ). <?page no="252"?> 252 5. Macrobius, Saturnalia „kurzschwänzig“) 672 ergibt sich ein Unterschied zu Eusthatius, der an dieser Stelle die versus ὑπερκαταληκτικοί nennt. - Auch bei dem nur kurze Zeit nach Asmonius tätigen Grammatiker Diomedes sind diese verstechnischen Anomalien mit einer entschieden negativen Wertung verbunden: Die versus ἀκέφαλοι 673 bezeichnet er als mutili vel trunci , die versus λαγαροί 674 als exiles vel hiulci , und die versus μείουροι 675 bzw. σκάζοντες nennt er in Anlehnung an die griechische Metaphorik abwertend ecaudes . Asmonius und Diomedes folgen in ihren Zusammenstellungen von „Fehlertypen“ der von griechischen Metrikern entwickelten Lehre über die πάθη (~ vitia ) des Hexameters, die vor allem aus den metrischen Besonderheiten des homerischen Versbaus abgeleitet wurde. 676 Die erste Erwähnung dieses Schemas findet sich im 14. Buch der Deipnosophisten . Athenaios nennt die später von Diomedes und Asmonius aufgegriffene Trias von metrischen Auffälligkeiten, die sich alle bei Homer finden ließen, und gibt als Grund für das Phänomen den besonderen Umstand an, dass die homerischen Dichtungen musikalisch vorgetragen worden und dem Rhapsoden dabei gelegentlich auch unregelmäßige Verse unterlaufen seien: ὅτι δὲ πρὸς τὴν μουσικὴν οἰκειότατα διέκειντο οἱ ἀρχαῖοι δῆλον καὶ ἐξ Ὁμήρου· ὃς διὰ τὸ μεμελοποιηκέναι πᾶσαν ἑαυτοῦ τὴν ποίησιν ἀφροντιστὶ [τοὺς] πολλοὺς ἀκεφάλους ποιεῖ στίχους καὶ λαγαρούς, ἔτι δὲ μειούρους. Ξενοφάνης δὲ καὶ Σόλων καὶ Θέογνις καὶ Φωκυλίδης, ἔτι δὲ Περίανδρος ὁ Κορίνθιος ἐλεγειοποιὸς καὶ τῶν λοιπῶν οἱ μὴ προσάγοντες πρὸς τὰ ποιήματα μελῳδίαν ἐκπονοῦσι τοὺς στίχους τοῖς ἀριθμοῖς καὶ τῇ τάξει τῶν μέτρων … καὶ σκοποῦσιν ὅπως αὐτῶν μηθεὶς <μήτε> ἀκέφαλος ἔσται μήτε λαγαρὸς μήτε μείουρος. ἀκέφαλοι δέ εἰσιν οἱ ἐπὶ τῆς ἀρχῆς τὴν χωλότητα ἔχοντες· … λαγαροὶ δὲ οἱ ἐν μέσῳ … μείουροι δ’ εἰσὶν οἱ ἐπὶ τῆς ἐκβολῆς … (Athen. 14, 31 = 632 c - f ) 677 672 Ps.-Mar. Victorin. gramm. = GL VI 67, 25-31 Keil ( at in ultima miuros ob decurtationem, ut Graeci dixerunt, caudae, id est extimae partis, ut est ille versus apud Homerum, < Il. 12, 208> Τρῶες δ’ ἐρρίγησαν, ὅπως ἴδον αἴολον ὄφιν . cuius exemplo etiam nos utemur ita, <Ter. Maur. 1930> ‘attoniti Troes viso serpente pavitant’ ). - Terentianus Maurus, dessen Übersetzung des Paradeverses Il. 12, 208 Asmonius hier zitiert, widmet dem Phänomen der στίχοι μείουροι den Abschnitt 1920-1939. Vgl. auch West (1982), S. 173-174. 673 Vgl. Diom. gramm. III = GL I 500, 5-10 Keil (Definition: qui in principio amputantur et litteram vel syllabam amittunt vel tempore deficiunt ; Bsp.: georg. 1, 482 und Il. 23, 2). 674 Vgl. Diom. gramm. III = GL I 500, 11-13 Keil (Bsp.: Od. 10, 60). 675 Vgl. Diom. gramm. III = GL I 500, 14-16 Keil (Definition: qui in ultima conclusione oratiuncula vel syllaba fraudantur vel tempore deficiunt ; Bsp.: Il. 12, 208). 676 Vgl. zur Trias στίχοι ἀκέφαλοι, λαγαροί und μείουροι im homerischen Versbau Meister (1921), S. 42-44. 677 Zitiert werden für die ἀκέφαλοι Il. 23, 2 sowie eine Kombination aus Od. 12, 423 und Il. 3, 375; für die λαγαροί neben einem nicht mehr zuzuordnenden Fragment (vgl. aber Od. <?page no="253"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 253 („Aber auch aus Homer ist ersichtlich, dass die Alten der Musik gegenüber äußerst aufgeschlossen waren. Dieser macht aufgrund dessen, dass er seine gesamte Dichtung vertont hat, unabsichtlich viele Verse ‘ἀκέφαλοι’ [‘kopflos’], ‘λαγαροί’ [‘schlaff’], und ‘μείουροι’ [‘kurzschwänzig’]. Xenophanes, Solon, Theognis, Phokylides, auch Periandros aus Korinth, der Elegiendichter, und von den übrigen diejenigen, die keine Musik mit ihren Gedichten verbunden haben, gestalten ihre Verse nach der Anzahl und der Anordnung der Metren … und sehen darauf, dass keiner von ihnen ‘kopflos’, ‘schlaff’ oder ‘kurzschwänzig’ ist. ‘Kopflos’ aber sind diejenigen, die am Anfang ihre Unregelmäßigkeit haben … ‘Schlaffe’ haben ihre Unregelmäßigkeit in der Mitte … ‘Kurzschwänzige’ haben sie im Auslaut …“ ÜS nach Friedrich ) Die erwähnten Anomalien werden unter der besonderen Bedingung des musikalischen Vortrags akzeptiert, woraus sich ableiten lässt, dass ihre Regelwidrigkeit für Athenaios sonst außer Frage steht. Die Lehre von den πάθη des Hexameters hat eine wechselvolle Geschichte durchlaufen, deren einzelne Stationen sich nur mehr annähernd rekonstruieren lassen. 678 Einige allgemeine Entwicklungstendenzen sind aber immer noch kenntlich: Am Beginn stand die bei Athenaios, Asmonius und Diomedes genannte Trias ἀκέφαλοι - λαγαροί - μείουροι. Diomedes definiert zumindest das erste und letzte dieser Phänomene über einen im ersten bzw. letzten Fuß vorliegenden Quantitäten mangel - amputantur , deficiunt , fraudantur (s. o.) -, eine genaue Definition der λαγαροί bleibt er ebenso wie die Autoren der frühen griechischen Traktate über die erwähnte Trias schuldig. 679 Diese drei Anomalien wurden später mit der Lehre von den sechs εἴδη des Hexameters 680 kombiniert, sodass sich eine Gesamtzahl von neun εἴδη ergab. In späteren Traktaten ist die Zahl der πάθη auf sechs erweitert, wobei jedem der genannten Mängel (πάθη κατ’ ἔλλειφιν bzw. κατ’ ἔνδειαν) ein πάθος des Überschusses zugesellt wird. Sie heißen dann (als πάθη κατὰ μέγεθος bezeichnet) μακροκέφαλος („großköpfig“) - προκοίλιος („mit vorne herunterhängendem Bauch“) - μακροσκελής („langschenklig“) bzw. (als πάθη κατὰ πλεονασμόν bezeichnet) προκέφαλος („mit vorstehendem Kopf “) - προκοίλιος („mit vorne herunterhängendem Bauch“) - 5, 28) Il. 2, 731; für die μείουροι schließlich Il. 12, 208, ein Il. 8, 305 ähnlicher Vers und - fälschlich, vgl. Rauscher (1886), S. 54 Anm. 5 - Od. 9, 212. 678 Verwiesen sei hier nur auf das ausführliche Scholion zu Heph. ench. 17, 6 = 290, 5-292, 3 Consbruch, wo auch mögliche „Heilungen“ für die problematischen Stellen diskutiert werden. Die wechselseitigen Abhängigkeiten der Traktate περὶ παθῶν behandelt Voltz (1889), pass. Zu den εἴδη und πάθη des homerischen Hexameters und ihre Behandlung in den Scholien vgl. Rauscher (1886), S. 50-54. 679 Vgl. Voltz (1889), S. 80-81; anstelle von λαγαρός wird auch der Terminus μεσόκλαστος verwendet. 680 Vgl. dazu Hoerschelmann (1888), S. 15-16 und Voltz (1893), pass. <?page no="254"?> 254 5. Macrobius, Saturnalia δολιχόουρος („langschwänzig“). 681 Diese drei πάθη des Überschusses wurden gelegentlich als Anhängsel an die Liste der oben erwähnten neun εἴδη des Hexameters hinzugefügt. 682 Auffällig ist demnach, dass die bei Macrobius erwähnten ὑπερκαταληκτικοί terminologisch in keiner der verschiedenen πάθη-Lehren eine Entsprechung haben. Dieser Umstand bedarf der Erklärung, wobei noch einmal von der ästhetischen Wertung dieser Phänomene in der Antike auszugehen ist. Was die Rezeptionsgeschichte der Trias ἀκέφαλοι - λαγαροί - μείουροι und ihre Wertung durch die antiken Grammatiker betrifft, so sind drei Stellen bei Plutarch von Aufschluss: 683 In De Pythiae oraculis kritisiert Theon seinen Dialogpartner, dass er zu strenge literaturkritische Maßstäbe an die pythischen Orakelverse anlege: … ἀλλὰ κἀκείνας αἰτιᾶσθε τὰς πάλαι προφήτιδας ὡς φαύλοις ποιήμασι χρωμένας καὶ τὰς νῦν καταλογάδην καὶ διὰ τῶν ἐπιτυχόντων ὀνομάτων τοὺς χρησμοὺς λεγούσας, ὅπως ὑμῖν ἀκεφάλων καὶ λαγαρῶν μέτρων καὶ μειούρων εὐθύνας μὴ ὑπέχωσι. (Plut. de Pyth. or. 7 = 397 c - d ; „… sondern du beschuldigst jene alten Prophetinnen, dass sie schlecht gedichtete Verse benutzt hätten, und die von heute, dass sie ihre Orakel in Prosa und mit zufällig gewählten Worten geben, sodass sie euch keine Rechenschaft über ihre ‘kopflosen’, ‘schlaffen’ und ‘dünnen’ Verse geben können.“). - An anderer Stelle wird die Suche nach metrischen Auffälligkeiten bei Homer als Paradebeispiel einer sinnlosen Tätigkeit vorgeführt: φέρε γάρ, εἴ τις ἐπιὼν τὰ συγγράμματα τῶν παλαιῶν ἐκλαμβάνοι τὰ κάκιστα τῶν ἐν αὐτοῖς καὶ βιβλίον ἔχοι συντεταγμένον οἷον Ὁμηρικῶν στίχων ἀκεφάλων καὶ τραγικῶν σολοικισμῶν καὶ τῶν ὑπ’ Ἀρχιλόχου πρὸς τὰς γυναῖκας ἀπρεπῶς καὶ ἀκολάστως εἰρημένων, ἑαυτὸν παραδειγματίζοντος … (Plut. de cur. 10 = 520 a - b ; „Stell dir vor, jemand würde die Schriften der Alten durchgehen und von ihnen das jeweils Schlechteste herausnehmen und ein Buch zusammenstellen aus den ‘kopflosen Versen’ Homers und den Soloikismen der Tragödiendichter und dem, was Archilochos ungebührlich und frech zu den Frauen gesagt hat, wobei er sich selbst zum Beispiel gab…“). - Nicht unerwähnt bleibt, was bei Beschäftigungen dieser Art auf der Strecke bleibt: … ὥσπερ οἱ τοὺς ἀκεφάλους καὶ μειούρους Ὁμήρου στίχους ἐκλέγοντες τὰ δὲ πολλὰ καὶ μεγάλα τῶν πεποιημένων ὑπέρευ παρορῶντες … (Plut. cons. ad ux. 9 = 611 b ; „… wie diejenigen, welche die ‘kopflosen’ und ‘dünnen’ Verse Homers heraussuchen, die vielen erhabenen Stellen seiner hervorragenden Gedichte aber übersehen …“). An allen drei Stellen wird deutlich, dass Plutarch die pedantische Suche nach metrischen Schwachstellen bei Homer als fehlgeleitete Kritisierlust verwirft. Aus 681 Vgl. Voltz (1889), S. 84-85 und 88. 682 Vgl. Voltz (1889), S. 88. 683 Vgl. Schröder (1990), S. 157-158 zu Plut. de Pyth. or. 7 = 397 d . <?page no="255"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 255 Stellen wie diesen lässt sich ableiten, dass tatsächlich eine entsprechende Strömung in der Homer kritik existierte und wohl auch Sammlungen von metrisch unregelmäßigen Stellen bei Homer vorlagen. Gebildetere Leser wie Plutarch mussten derlei Ansätze vom höheren Standpunkt ästhetischer Kritik verwerfen. In den Homerscholien haben sich einige apologetische Passagen erhalten, die diesen Eindruck bestätigen. Besonderes Gewicht hat eine Notiz zu dem bereits erwähnten Vers Il. 12, 208 (Τρῶες δ’ ἐρρίγησαν, ὅπως ἴδον αἰόλον ὄφιν), wo nach antiker Anschauung ein στίχος μείουρος vorliegt: 684 ὅπως ἴδον αἰόλον ὄφιν] μείουρος ὁ στίχος. ἀκέφαλος < Il. 23, 2> ‘ἐπειδὴ νῆάς τε’, λαγαρὸς < Il. 2, 731> ‘τῶν αὖθ’ ἡγείσθην Ἀσκληπιοῦ δύο παῖδε’. οἱ δὲ ‘ὄ<π>φιν’ φασίν· ἐμφαντικώτερον δὲ ἐχρήσατο τῇ τοῦ στίχου συνθέσει, καίτοι γε ἐγχωροῦν εἰπεῖν ‘ὅπως ὄφιν αἰόλον εἶδον’· τὴν γὰρ κατάπληξιν τῶν Τρώων καὶ τὸν φόβον παρίστησι τῷ τάχει τοῦ στίχου εἰς βραχείας τελευτῶντος συλλαβάς. (schol. T ad Il. 12, 208 c = III 343, 8-14 Erbse) („als sie die ringelnde Schlange sahen] Der Vers ist ‘kurzschwänzig’. ‘Kopflos’ ist ‘ἐπειδὴ νῆάς τε’, ‘schlaff’ ist ‘τῶν αὖθ’ ἡγείσθην Ἀσκληπιοῦ δύο παῖδε’. Manche aber sagen ‘ὄ<π>φιν’; er ordnete die Worte des Verses aber mit eindringlicherem Effekt in der Weise an, obwohl es möglich war zu sagen ‘ὅπως ὄφιν αἰόλον εἶδον’; die Erschütterung der Troer und die Furcht zeigt er durch das schnelle Tempo des Verses, der mit kurzen Silben endet.“) Der Kommentator, der die bekannte Fehlertrias erwähnt, zitiert dieselben Beispielverse, die auch Athenaios aufführt. Bemerkenswert ist, wie das Scholion die Motivation Homers erklärt: Nicht mehr die performativen Bedingungen der homerischen Dichtung, die Athenaios geltend gemacht hatte, werden genannt, sondern Homer wird eine stilistische Absicht unterstellt, wenn er die vorletzte Silbe gegen die Vorgaben des metrischen Schemas kurz wählt. Zwei Rettungsversuche, die einige Philologen wohl als Replik auf eine zuvor explizit geäußerte Kritik unternommen hatten - die Konjektur ὄ<π>φιν und die „Verbesserung“ durch Metathese -, werden vom Scholiasten zurückgewiesen. 685 Gerade dass 684 Vgl. dazu auch die zahlreichen Parallelstellen und weiterführenden bibliographischen Angaben, die Erbse im Apparat z. St. sammelt (Erbse III 342-343). Die jüngste Ausgabe von West (1998), I S. 359 gibt als Versschluss ὄπφιν. 685 Die ältere Kritik greift offenbar auch Demetrios auf, der den metrisch auffälligen Homervers als Beispiel für - aus stilistischen Gründen beabsichtigte - κακοφωνία zitiert; vgl. Demetr. eloc. 255 (ἔστι δ’ ὅπη κακοφωνία δεινότητα ποιεῖ, καὶ μάλιστα, ἐὰν τὸ ὑποκείμενον πρᾶγμα δέηται αὐτῆς, ὥσπερ τὸ Ὁμηρικὸν τὸ < Il. 12, 208> ‘Τρῶες δ’ ἐρρίγησαν, ὅπως ἴδον αἰόλον ὄφιν’· ἦν μὲν γὰρ καὶ εὐφωνοτέρως εἰπόντα σῶσαι τὸ μέτρον, ‘Τρῶες δ’ ἐρρίγησαν, ὅπως ὄφιν αἰόλον εἶδον’· ἀλλ’ οὔτ’ ἂν ὁ λέγων δεινὸς οὕτως ἔδοξεν, οὔτε <ὁ> ὄφις αὐτός [„Es gibt aber auch Stellen, wo die κακοφωνία einen fürchterlichen Eindruck macht, vor allem wenn der dargestellte Gegenstand danach verlangt, wie in dem home- <?page no="256"?> 256 5. Macrobius, Saturnalia Homer die problematische Stelle nicht mit einer geringfügigen Änderung der Wortstellung „entschärft“ hatte, gilt dem Kommentator als Beweis dafür, dass hier ein bewusst gewähltes künstlerisches Gestaltungselement vorliegt. Eine kritische Haltung gewisser Rezipienten gegenüber der Kategorie der στίχοι ἀκέφαλοι geht auch aus zwei Scholiennotizen zu Il. 22, 379 hervor: ἐπειδὴ τόνδ’ ἄνδρα <θεοὶ δαμάσασθαι ἔδωκαν>] … ὁ δὲ Διονύσιος < frg. 50 Schmidt = 13 Linke> διστάζει, μὴ πρὸς τὴν ἀπόλειψιν τοῦ χρόνου· παραβάλλει γὰρ τὸ < Il. 23, 2> ‘ἐπειδὴ νῆάς τε καὶ Ἑλλήσποντον ἵκοντο’ καὶ < Od. 12, 423> ‘ἐπίτονος βέβλητο’· τὰ γὰρ τοιαῦτα ἐσημειοῦντο πρὸς κρίσιν ποιημάτων, ὅτι σπανίως Ὅμηρος κακομέτρους ποιεῖ. (schol. A ad Il. 22, 379 a = V 337, 32-41 Erbse) („Da nun die Götter gegeben, dass dieser Mann bezwungen wurde] … Dionysios äußert den Zweifel, dass damit eine Auslassung in der Quantität verbunden ist; er vergleicht aber den Vers ‘ἐπειδὴ νῆάς τε καὶ Ἑλλήσποντον ἵκοντο’ und ‘ἐπίτονος βέβλητο’; dergleichen wurde zur Beurteilung der Gedichte angemerkt, weil Homer nur selten metrisch schlechte Verse macht.“) 686 ἐπειδὴ τόνδ’ ἄνδρα] σημειῶδες ὅτι καὶ ἀκεφάλοις χρῆται ὁ ποιητής, ὥστε οὐ δεῖ προπερισπᾶν τὸ < Il. 21, 308> ‘φίλε κασίγνητε’. (schol. T ad Il. 22, 379 b = V 338, 1-3 Erbse) („Da nun … dieser Mann] Es ist bemerkenswert, dass Homer auch στίχοι ἀκέφαλοι benutzt, sodass man auch keinen Zirkumflex auf die erste Silbe von ‘φίλε κασίγνητε’ setzen muss.“) Dass sich aus der voreiligen Kritik Konsequenzen für die Textgestalt ergaben, lässt ein Scholion des Didymos zu Il. 19, 189 (μιμνέτω αὖθι τέως ἐπειγόμενός περ Ἄρηος) erkennen, wo der dritte Fuß nur mit einer Länge und einer Kürze gebildet wird (στίχος λαγαρός): 687 <τέως>] … καὶ βραχὺ διασταλτέον ἐπὶ τὸ τέως πρὸς τὸ σαφές, καὶ ἵνα διὰ τῆς σιωπῆς τοῦ χρόνου τὸ μέτρον σώζηται. | ἐν δὲ ταῖς εἰκαιοτέραις μετὰ τοῦ ‘πέρ’. (schol. b ad Il. 19, 189 = IV 613, 11-14 Erbse) („τέως] … Und man muss kurz absetzen nach dem τέως um der Deutlichkeit willen und damit durch die Zeit des Schweigens das Metrum gewahrt wird. In den minderwertigeren <Editionen findet man den Wortlaut> mit πέρ.“) 688 rischen Vers: ‘Τρῶες δ’ ἐρρίγησαν, ὅπως ἴδον αἰόλον ὄφιν’. Es wäre möglich gewesen, das Metrum zu wahren und sich damit klanglich schöner auszudrücken: ‘Τρῶες δ’ ἐρρίγησαν, ὅπως ὄφιν αἰόλον εἶδον’, doch dann hätte weder der Sprecher noch die Schlange fürchterlich gewirkt.“]). 686 Vgl. dazu auch den Kommentar bei Linke (1977), S. 34 z. St. 687 Vgl. Steinrück (2005), S. 484. 688 Von West wird πέρ in den Text aufgenommen; vgl. West (1998), II 206. <?page no="257"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 257 Wie aus einer für Stesichoros überlieferten Stelle 689 hervorgeht, sind diese irregulären Silbenlängen im Versinneren nicht nur bei Homer, sondern auch bei anderen frühgriechischen Dichtern ein nicht seltenes Phänomen. Eine Kommentarnotiz zu Od. 3, 230 (Τηλέμαχε, ποῖόν σε ἔπος φύγεν ἕρκος ὀδόντων) gibt ein weiteres Beispiel für die Bemühung um Normalisierung, zu der sich spätere Philologen veranlasst sahen: Τηλέμαχε] λαγαρός ἐστιν ὁ στίχος· διὸ Ζηνόδοτος ἴσως μετέγραφε ‘Τηλέμαχ’ ὑψαγόρη, μέγα νήπιε, ποῖον ἔειπες;’. τὸν δὲ δεύτερον περιῄρει τελέως διὰ τὸ μαχόμενον αὐτῷ τὸ < Od. 3, 228> ‘εἰ μὴ θεοὶ ὣς ἐθέλοιεν’. (schol. HMP et HM ad Od. 3, 230 a = II 80, 61-64 Pontani) („Τηλέμαχε] Der Vers ist ‘schlaff’; vielleicht deshalb änderte ihn Zenodot zu Τηλέμαχ’ ὑψαγόρη, μέγα νήπιε, ποῖον ἔειπες; [‘Prahlerischer Telemachos, du großer Narr, was hast du gesagt? ’]. Den folgenden <Vers> entfernte er gänzlich, weil εἰ μὴ θεοὶ ὣς ἐθέλοιεν [‘wenn die Götter es so wollten’] im Widerspruch dazu steht.“) Zenodots Textänderung hat, wie gezeigt werden konnte, nicht metrische, sondern inhaltliche Gründe. 690 Der Kommentator hält es aber immerhin für möglich (διὸ … ἴσως), dass Zenodot die Änderung des Wortlauts aus metrischen Erwägungen heraus vorgenommen hat. Die chronologische Folgerung, dass man πάθη-Vorwürfe schon vor Zenodot vorgebracht hatte, wird man aus der abwägenden Formulierung des Scholions allein noch nicht ableiten dürfen; doch zeigt die Stelle immerhin, dass auch die στίχοι λαγαροί als dritte Kategorie aus der kanonischen Trias Zielscheibe der Homerkritiker waren. 691 Was die Stichhaltigkeit derartiger Vorwürfe gegen στίχοι ἀκέφαλοι, λαγαροί und μείουροι betrifft, so genügt in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass man in der Antike den Begriff der metrischen Dehnung, mit dem sich die genannten Phänomene im homerischen Hexameter weitgehend erklären lassen, nicht kannte. 692 Interessanter ist die angesprochene Frage nach der Datierung derartiger Vorwürfe, die relativ weit zurückreicht und wohl schon vor Aristote- 689 Vgl. Steinrück (2005), S. 484 und Pap. Lille 73 + 76 + 111 c = 222( b ) v. 213 Davies (αὐτίκα μοι θανάτου τέλος στυγεροῖο γένοιτο). 690 Vgl. Nickau (1977), S. 214-217. 691 Zu vorsichtig Nickau (1977), S. 214-215. 692 Vgl. allgemein zur productio epica Korzeniewski (1968), S. 23. Dass es sich bei den στίχοι μείουροι bzw. ἀκέφαλοι nahezu immer um Fälle metrischer Dehnung handelt, hat zuerst Danielsson (1897), S. 41-50 bzw. - für die ἀκέφαλοι, allerdings auf etwas schwächerer argumentativer Basis - 25, 39-41 und 50-51 dargelegt. Vgl. zusammenfassend von der Mühll (1920), S. 143. - Athenaios’ oben zitierter Hinweis auf den musikalischen Vortrag der homerischen Epen und die dadurch bedingten metrischen Irregularitäten wirkt vor diesem Hintergrund erstaunlich modern. <?page no="258"?> 258 5. Macrobius, Saturnalia les anzusetzen ist. 693 Wir hätten es demnach mit einem Element traditioneller Homerkritik zu tun, das nicht erst in der kaiserzeitlichen Philologie, sondern schon früh Eingang in den „Kanon“ der Homerkritik gefunden hatte. Eustathius berührt mit seinen metrischen Beobachtungen also offenbar ein wichtiges, als solches auch reflektiertes und - zumindest in der Anfangszeit - kritisch-polemisch bewertetes Spezifikum homerischer Dichtung. Für die Bewertung des Eustathius bei Macrobius ergeben sich aus dem bisher Ausgeführten zwei wichtige Folgerungen: Auffallend ist zunächst der sehr gezwungen wirkende Versuch, die zitierten Beispielverse aus Vergil der homerischen πάθη-Trias unterzuordnen. Um Akephalie bei Vergil zu belegen, führt Eustathius die Versanfänge Aen. 11, 890 ( arietat in portas ) und Aen. 5, 589 ( abietibus textum caecis iter ) 694 an. Dass man in Fällen wie diesen die Anfangssilben positionslang messen muss, ist eine allgemein anerkannte prosodische Regel und auch bei den römischen Grammatikern wohlbekannt. 695 Es liegt demnach kein den homerischen στίχοι ἀκέφαλοι vergleichbares Phänomen vor, das man wie im Falle Homers im Rückgriff auf die productio epica erklären müsste. 696 693 Vgl. insbesondere Arist. rhet. 3, 9 = 1409 b 18 und poet. 26 = 1462 b 6 zur μειουρία sowie von der Mühll (1920), S. 144, der diese frühe πάθη-Lehre ausgehend von diesen Stellen zumindest auf die στίχοι ἀκέφαλοι ausweitet. Irregularitäten am Versanfang und -schluss scheinen also schon relativ früh als solche erkannt und, wie sich folgern lässt, polemisch in der Homerkritik aufgegriffen worden zu sein. - Zu den anderslautenden früheren Forschungsmeinungen vgl. etwa die Spekulationen bei Rauscher (1886), S. 54 und die Literaturverweise bei von der Mühll (1920), S. 143. 694 Die Vergilhandschriften überliefern einheitlich den Versanfang parietibus . 695 Vgl. etwa zusammenfassend Ter. Maur. 514-519 ( I magis Romana lingua non potest praemittere, | edat ut diphthongon ulli nexilis vocalium, | consonans quod semper haec fit ante vocales data. | quippe IAcula quando dico vel IEcur, IOvem an IUbam, | consonans effecta ubique est, quae fuit vocalis; | quae sequuntur, vim tenebunt, quam prius, vocalium ) und Beck (1993), S. 238-245. - Ein diachron differenziertes Bild ergibt sich, wenn man die dichterische Praxis in archaischer Zeit miteinbezieht: Die konsonantische Messung des i in den Formen von aries bzw. arietare ist nämlich ein späteres, erst seit Vergil begegnendes Phänomen; vgl. Ausfeld, Art. aries , TLL II 570, 60-72 und ders., Art. arieto , TLL II 574, 23-25. Dass Vergil aries und die davon abgeleiteten Wörter etymologisch mit ārēre („trocken sein“) in Verbindung gebracht hätte, versucht Adkin (2009), pass. zu erweisen; vgl. auch O’Hara (1996), S. 61 f. Imitationen von Vergils Versanfang arietat finden sich dann bei Val. Fl. 6, 368, Sil. 4, 149 und Prud. Ham. 489. - Genau dieselbe prosodische Divergenz zwischen den archaischen Dichtern und Vergil liegt bei der Messung des i in abies vor; vgl. die Bsp. bei Wölfflin, Art. abiēs , TLL I 93, 22-28. Auch in diesem Fall sind die späteren Dichter Vergils Vorbild gefolgt; vgl. e. g. Val. Fl. 7, 405 ( abietibus tacitis … ). 696 Beim Grammatiker Velius Longus (2. Jhdt. n. Chr.) haben die Wertungen des Eustathius eine auffällige Parallele. Akephalie gilt nämlich auch für den Autor der Schrift De orthographia als zu vermeidende Irregularität: Er hebt hervor, dass binnenvokalisches i eine Doppelkonsonanz vertritt, Versanfänge wie Thyias ( Aen. 4, 302) oder Troiaque ( Aen. 2, 56) demnach regulär gebildet seien (Vel. gramm. = GL VII 55, 17-26 Keil, bes. 18 f.: sic non erit acephalus versus … ). <?page no="259"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 259 Ganz ähnlich liegt der Fall in dem von Eustathius für die versus λαγαροί zitierten Halbvers Aen. 11, 890 ( et duros obice postes ). Zwar gibt es noch in der Kaiserzeit vereinzelte späte Beispiele für die kurze Messung der ersten Silbe bei obex 697 , doch steht die Längung in der Regel - analog zu den anderen Komposita von iacio - außer Frage, zumindest für Vergil. 698 Dass derlei Kenntnisse auch theoretisch reflektiert wurden, zeigt eine grammatische Erörterung des Sulpicius Apollinaris in den Noctes Atticae des Gellius, der sich für die „regelmäßige“ Positionslänge der ersten Silbe bei Beihaltung der kurzen Vokalquantität bei o ausspricht. 699 Allenfalls kann man in der metrischen Verwendung von pater in dem von Eustathius zitierten Vers Aen. 11, 469 ( concilium ipse pater et magna incepta Latinus ) einen „Gräzismus“ - nicht unbedingt einen „Homerismus“ - Vergils erkennen. 700 Im Ganzen erweisen sich die von Eustathius als lateinische Pendants zu den στίχοι ἀκέφαλοι bzw. λαγαροί präsentierten Vergilverse als nicht mit den homerischen Beispielversen der griechischen Metriktraktate vergleichbar. Wie die Äußerungen des Terentianus Maurus oder Sulpicius Apollinaris gezeigt haben, wäre dieser Unterschied auch bereits in der Antike leicht zu erkennen gewesen. Ein wirklicher Grund für prosodische Kritik an den entsprechenden Vergilstellen hat demnach nicht bestanden, und es ist folglich unwahrscheinlich, dass eine solche Kritik überhaupt geäußert wurde. Viel leichter lassen sich die Zusammenhänge so erklären: Eustathius versucht in Sat. 5, 14, 1 ein von der Homerphilologie vorgegebenes kritisches Raster - die kanonische πάθη-Trias - durch Rückgriff auf vermeintliche metrische Irregularitäten bei Vergil auszufüllen, indem er sachlich ganz verschieden gelagerte Fälle in dieses Schema zwängt. Diese metrischen Besonderheiten deklariert er dann als vitia . Diese Tendenz zur bewussten Uminterpretation des metrisch Gegebenen wird deutlich, wenn man eine zweite Besonderheit bei den vitia des Eustathius genauer in den Blick nimmt. Es stellt sich nämlich die Frage, warum Eustathius die 697 Vgl. Sil. 4, 24 und 13, 252. 698 Vgl. Manu Leumann: HLL § 138 b = HdA II.2.1 (1977), S. 128-129 mit georg. 2, 480; 4, 422; Aen. 10, 377; 8, 227 und Lumpe, Art. obiex , TLL IX.2 65, 16-23. 699 Vgl. Gell. 4, 17, 10-12 ( Quaerimus igitur, in ‘obicibus’ ‘o’ littera qua ratione intendatur, cum id vocabulum factum sit a verbo ‘obiicio’ et nequaquam simile sit, quod a verbo ‘moveo’ ‘motus’ ‘o’ littera longa dicitur. Equidem memini Sulpicium Apollinarem, virum praestanti litterarum scientia, ‘obices’ et ‘obicibus’ ‘o’ littera correpta dicere, in Vergilio quoque sic eum legere: < georg. 2, 479-480> ‘qua vi maria alta tumescant | obicibus ruptis’; sed ita, ut diximus, ‘i’ litteram, quae in hoc vocabulo quoque gemina esse debet, paulo uberius largiusque pronuntiabat. ) 700 Das Material ist gesammelt in Nettleships Anhang „On the Lengthening of Short Final Syllables in Virgil“ in Conington / Nettleship III (1963), S. 486-491; vgl. die Bewertung bei Norden (1957), S. 451. <?page no="260"?> 260 5. Macrobius, Saturnalia in der πάθη-Trias an dritter Stelle vorgesehenen στίχοι μείουροι durch die Kategorie der ὑπερκαταληκτικοί ersetzt. Zwei Punkte fallen hier auf: Einmal durchmischt Eustathius die Kategorien des Quantitätsdefizits ( versus ἀκέφαλοι und λαγαροί) und -überschusses ( versus ὑπερκαταληκτικοί), zum anderen benennt er seine dritte Kategorie nicht mit einem der an dieser Stelle vorgesehenen Termini μακροσκελής („langschenklig“) bzw. δολιχόουρος („langschwänzig“), die das mit den στίχοι μείουροι korrelierende Phänomen eines Quantitätsüberschusses im letzten Versfuß bezeichnen (s. o.). Die erste Beobachtung lässt sich damit erklären, dass Vergil gerade seine Versschlüsse prosodisch so sorgfältig baut, dass er Fehler oder Zweideutigkeiten an diesen Stellen nicht zulässt. Entsprechendes Material lässt sich bei Vergil daher schlichtweg nicht finden. Stattdessen greift Eustathius zur Vervollständigung seiner Trias auf eine metrische Besonderheit zurück, die tatsächlich an zahlreichen Stellen bei Vergil begegnet und von den Vergilkommentatoren auch des Öfteren thematisiert wurde, nämlich auf das Phänomen der Hyperkatalexe. 701 Die plausibelste Erklärung für die zweite, terminologische Beobachtung dürfte sein, dass zur Abfassungszeit der Saturnalia die Lehre von den drei πάθη des Überschusses noch nicht entwickelt vorlag (s. o.). Sonst hätte Macrobius auf die Termini, die für diese grundsätzlich mit der Hyperkatalexe übereinstimmenden Phänomene 702 geprägt worden waren, zurückgreifen können. 703 Stattdessen lässt er Eustathius auf ein anderes, älteres Begriffsinstrumentarium ausweichen, um die Anomalie des Überschusses am Versschluss näher zu bezeichnen. 701 Im Griechischen begegnet nur der Terminus ὑπερκατάληκτος (Hephaist. 4, 4; Aristid. Quint. 1, 23), das Lateinische kennt die synonymen Formen hypercatalecticus und - häufiger - hypercatalectus (Rubenbauer, Art. [ h ] ypercatalecticus und hypercatalectus , TLL VI 3150, 11-44). - Vgl. zur Hyperkatalexe bei Vergil Carter (2014), pass. , Goold (2003), pass. und zuletzt Cowen (2011), pass. Das Phänomen begegnet relativ häufig bei Vergil, vgl. Carter (2014, S. 636: „R. A. B. Mynor’s Oxford text prints twenty-three hexameters (G. 1.295, 2.69, 2.344, 2.443, 3.242, 3.377, 3.449; A. 1.332, 1.448, 2.745, 3.684, 4, 558, 4.629, 5.422, 5.753, 6.602, 7.160, 7.470, 8.228, 9.650, 10.781, 10.895, 11.609) whose final syllable is elided in this manner. E. contains no hypermetric hexameters; in G. they occur about once per 300 verses, and in A. they are more than twice as rare (seventeen occurrences in 9, 896 verses).“ 702 Vgl. die Beispielverse zum στίχος μακροσκελής bzw. δολιχόουρος, die in den Traktaten mit sechs πάθη zitiert werden (alle mit vokalisch anlautendem Folgevers): Il. 3, 237 (… ἀγαθὸν Πολυδεύκεα), Od. 3, 278 (… ἄκρον Ἀθηνέων), Od. 9, 347 (… ἀνδρόμεα κρέα); dazu Voltz (1889), S. 84 f. 703 Damit wäre Macrobius noch zu der von Asmonius und Diomedes repräsentierten Gruppe von Grammatikern zu rechnen, die eine Trias von Hexameter-πάθη zugrundelegen. Das passt zu den Datierungshypothesen, die man für Asmonius (ca. 340-360) und Diomedes (ca. 370-380 n. Chr.) vorgebracht hat; vgl. Peter L. Schmidt: „Aelius Festus Asmonius (Apthonius? )“, HLL 5 (1989), § 525.1 und Dammer (2001), S. 21. <?page no="261"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 261 Die antiken Grammatiker bestimmten die Besonderheiten am Versschluss, indem sie ausgehend vom Idealtyp eines vollständigen Metrums verschiedene Deviationen kategorisierten. 704 Man konnte danach, um beim Beispiel des daktylischen Hexameters zu bleiben, grundsätzlich zwischen einem versus acatalectus - ohne Besonderheiten im letzten Metrum -, einem versus catalecticus - bei dem das letzte Metrum aus nur einer langen Silbe gebildet wird -, einem versus brachycatalectum - bei dem das letzte Metrum um zwei Silben gekürzt wird, was beim Hexameter dazu führt, dass dieses Metrum nicht mehr realisiert ist -, und einem versus hypercatalectus unterscheiden, der im letzten Metrum eine überschüssige Silbe aufweist. 705 Um das metrische Schema des Hexameters zu erfüllen, musste beim versus hypercatalecticus der Beginn des Folgeverses in einer bestimmten Weise gestaltet sein. Zu Aen. 1, 332 gibt Servius, der diese Fälle mit dem Terminus versus hypermetrus bzw. ὑπέρμετρος bezeichnet, die allgemeine Regel, dass in diesem Falle der Folgevers vokalisch anlauten oder im Versschluss Synizese vorliegen sollte: hominumque locorumque] ὑπέρμετρος versus, unam enim plus habet syllabam: qui quotiens fit, debet sequens versus a vocali incipere, ut hoc loco, item < Aen. 4, 558-559> ‘omnia Mercurio similis, vocemque coloremque | et crines flavos’; nisi forte synizesis fiat in fine, id est vocalium collisio, ut est < ecl. 1, 32> ‘nec cura peculi’. hic enim non est necesse ut sequens versus a vocali incipiat. (Serv. ad Aen. 1, 332 = I 119, 1-6 Thilo-Hagen) Wichtiger als die diversen Definitionsversuche ist in unserem Zusammenhang die Wertung des Phänomens. Auch dafür ist der Kommentar des Servius von Aufschluss: Dass ein versus hypermetrus vorliegt, wird in seinen Kommentaren zwar gelegentlich einfach ohne weitere Erläuterung registriert. 706 Diesen neutralen Erwähnungen stehen allerdings Stellen gegenüber, an denen Servius das Phänomen als problematisch darstellt. 707 Der versus hypermetrus wird 704 Vgl. zum Folgenden das früheste Beispiel dieser Art, Hephaist. 4, 4 (mit Aristid. Quint. 1, 23). 705 Vgl. Ps. Mar. Victorin. gramm. = GL VI 61, 15-25 Keil und Diom. gramm. III = GL I 502, 7-11 Keil (mit einer abweichenden Definition des versus brachycatalectus ). Weitere Stellen sind gesammelt bei Rubenbauer, Art. hypercatalectus , TLL VI.2 3150, 18-43 und ders., Art. hypermetrus , TLL VI.2 3151, 24-34. 706 Vgl. DServ. ad Aen. 1, 448 = I 146, 21 Thilo-Hagen ( versus sane ipse hypermetros est ); Serv. ad Aen. 7, 160 = II 137, 14 Thilo-Hagen (hypermetrus versus); DServ. ad Aen. 8, 228 = II 230, 16 Thilo-Hagen ( et est versus hypermetrus ) und DServ. ad Aen. 11, 609 = II 551, 8-9 Thilo-Hagen ( et est versus hypermetros ). - In diese Kategorie gehört auch die Erläuterung von (D)Serv. = III.1 311, 12-13 Thilo-Hagen zu dem auch von Macrobius zitierten Vers georg. 3, 449 (vivaque sulpura] dactylicus versus , quod in fine dactylum habeat ). 707 Vgl. (D)Serv. ad Aen. 2, 745 = I 325, 26-27 Thilo-Hagen (deorumque] hypermetrus versus est, ideo, ne si ‘deum’ per genetivum pluralem diceret, ὁμοιοτέλευτον faceret ): Wiegt man <?page no="262"?> 262 5. Macrobius, Saturnalia zwar nicht unumschränkt als vitium abgelehnt, ist aber als metrische Anomalie bedenklich. Zumindest zu dem an zweiter Stelle bei Macrobius genannten Beispiel - Vulcano decoquit umorem ( georg. 1, 295) - lassen sich eindeutige Reflexe antiker metrischer Kritik nachweisen. Servius schreibt nämlich zu dieser Stelle: aut dulcius musti Volcano decoquit umorem] hypermetrus versus: unde et sequens a vocali inchohat. … et aliter: hic versus longior est una syllaba, sed sine vitio, quoniam sequens a vocali incipit. ([D]Serv. ad georg. 1, 295 = III.1 197, 12-13 et 15-16 Thilo-Hagen) Ein vitium läge demnach - ganz entsprechend der oben zitierten Regel - nur vor, wenn durch konsonantischen Anlaut des Folgeverses beim Lesen ein störender Eindruck entstünde. Es liegt nahe, dass hier eine nicht explizit zitierte Kritik an einem vermeintlichen vitium Vergils entkräftet werden soll. 708 Offenbar hatte die Bewertung des Phänomens eine gewisse Entwicklung durchlaufen. Aufschlussreich, was die traditionelle Kritik an den versus hypermetri bzw. hypercatalectici Vergils betrifft, ist nämlich das bei Macrobius zuletzt zitierte Beispiel, georg. 2, 69 ( arbutus horrida ). Servius schreibt dazu: fetu nucis arbutus horrida] versus dactylicus: nam male quidam ‘horrens’ legunt. (Serv. ad georg. 2, 69 = III .1 224, 16-17 Thilo-Hagen) Es handelt sich also wieder um einen abgelehnten Normalisierungsvorschlag. Eine Parallele hat diese Alternative an einer anderen Stelle des Kommentars: Zu georg. 2, 344-345 werden zwei Lesarten des Versschlusses ( frigusque caloremque | Inter bzw. frigusque calorque | Inter ) diskutiert. 709 Bei der genannten Alternative calorque , als prior lectio bezeichnet, liegt trotz der morphologischen Besonderheit - calor als Form für den Akk. Sg., von DS erv. gerechtfertigt mit Verweis auf Plaut. Merc. 860 - ein metrisch tadelloser Vers vor, während die Lesart caloremque nur durch Elision des Schlussvokals durch den Vokal des Folgeverses ohne überschüssigem Vokal bleibt. Wichtig für die Wertung ist der Hinweis aliter hypermetrus versus erit , womit offenkundig eine Rechtfertigung der metrischen Besonderheit gegeben werden soll. Servius entscheidet sich nicht zwischen beiden Varianten, er stellt aber klar, dass auch die spätere Lesdie beiden zu vermeidenden „Stilfehler“ - Homoioteleuton und versus hypermetrus - gegeneinander ab, so ist letzterer leichter zu tolerieren als ersterer (beide Fehler vereint erscheinen in Aen. 4, 558; vgl. dazu DServ. = I 563, 14-15 Thilo-Hagen [ duo ὁμοιοτέλευτα : et est versus hypermetrus ]). In bestimmten Fällen muss man erwägen, ob man einen Silbenüberschuss durch Verweis auf eine synaeresis oder einen versus hypermetrus rechtfertigt; vgl. Serv. ad Aen. 10, 496 = II 442, 16-17 Thilo-Hagen (baltei] potest et synaeresis esse ‘baltei’, potest et hypermetrus vesus; nam sequens a vocali inchoat). 708 Die Stelle ist bei Georgii (1902), S. 272 übergangen. 709 DServ. ad georg. 2, 344-345 = III.1 249, 1-4 Thilo-Hagen. <?page no="263"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 263 art caloremque unter Heranziehung der Kategorie hypermetrus versus und gegen metrisch schlecht informierte Kritiker akzeptabel ist. Mit Homer hat das Phänomen der Hyperkatalexe freilich wenig zu tun. Zwar gibt es in der frühgriechischen Dichtung einige Stellen, an denen man eine überschüssige Schlusssilbe annehmen konnte, z. B.: ἦ φῂς ὣς Τρώεσσιν ἀρηξέμεν εὐρύοπα Ζῆν[α] | ὡς Ἡρακλῆος περιχώσατο … 710 Aristarch, der den archaischen Akkusativ Ζῆν nicht kannte, hat an dieser Stelle irrtümlicherweise an Elision von Ζῆνα über die Versgrenze hinweg gedacht, und man hat vermutet, dass schon die frühen Rhapsoden dieser Auffassung waren, weil sie in allen vergleichbaren Fällen den Folgevers vokalisch anlauten ließen. 711 Das Phänomen der Hyperkatalexe spielte demnach eine gewisse Rolle in der Homerphilologie, doch können die wenigen Stellen kaum darüber hinwegtäuschen, dass das Phänomen quantitativ eng begrenzt gewesen war und keineswegs vergleichbar mit seiner Präsenz in der lateinischen Hexameterdichtung. Wenn Eustathius die Hyperkatalexe also anstelle der στίχοι μείουροι nennt, so ersetzt er ein traditionelles Kritikfeld der Homerphilologie mit einem Phänomen, das zwar bei den Vergilkommentatoren kritische Beanstandungen provoziert hat, für die homerischen Epen allerdings keine bzw. wenig Relevanz hat. - Das Vorgehen des Eustathius zeigt in diesem kurzen Abschnitt also eine erkennbare Tendenz zur Stilisierung, indem nämlich die metrischen Gegebenheiten des vergilischen Hexameters auf traditionelle Fehlerkategorien der Homerkritik übertragen werden, um den Eindruck zu erwecken, Vergil hätte Homers angebliche Fehler im Versbau als Elemente des stilus heroicus nachgeahmt. 5.2.2.2 Die εἴδη des Hexameters ( Sat. 5, 14, 5) In Sat. 5, 14, 5 geht Eustathius zu einer stilistischen Kategorie über, die er nicht wie im vorausgehenden Absatz terminologisch bestimmt, sondern mit einer Metapher umschreibt: Sunt apud Homerum versus vulsis ac rasis similes et nihil differentes ab usu loquendi. Mit dem Hinweis auf den usus loquendi rückt Eustathius das folgende Zitat aus Nestors Erzählung über den nächtlichen Raub 710 Il. 14, 265-266. So auch - jeweils mit vokalischem Beginn des Folgeverses - Il. 8, 206; 24, 331 und Hes. theog. 884. 711 Vgl. ausführlich dazu West (1966), S. 399-400, der das Phänomen auf den Typus εὐρύοπα Ζῆν beschränkt und andere Verse, die eine vergleichbare Struktur aufweisen, als mögliche hyperkatalektische Verse ausschließt. - Zu den sprachgeschichtlichen Hintergründen vgl. Janko (1992), S. 193 zu Il. 14, 265-266: „Aristophanes and Aristarchus (in Choeroboscus on Hephaestion 225.19 Consbruch), unaware that Ζῆν represents Proto- Indo-European *dyēm, thought it stands for Ζῆνα with elision at the end of the hexameter - an improbable procedure emplyed, in what they fancied an imitation of Homer, by Roman poets …“ <?page no="264"?> 264 5. Macrobius, Saturnalia der Rinder des Itymoneus ( Il. 11, 670-684) in die Nähe der Alltagsrede bzw. -prosa ( Il. 11, 680-681 a ): ἵππους δὲ ξανθὰς ἑκατὸν καὶ πεντήκοντα | πάσας θηλείας … („Und falbe Pferde hundert und fünfzig | Alles weibliche“ ÜS Schadewaldt ) Die Bedeutung von versus vulsis ac rasis similes wird klarer, wenn man das Nachleben der zitierten Homerverse in den antiken Traktaten zur Stilistik des epischen Hexameters berücksichtigt. Auf Il. 11, 680-681 a berief man sich als Musterbeispiel einer bestimmten „Gattung“ (εἶδος) des heroischen Verses, d. h. des epischen Hexameters. Der ursprünglichen Lehre kommt hier am nächsten der Abschnitt περὶ εἰδῶν τοῦ ἡρωϊκοῦ im fünften Buch der sog. Scholia B zum Encheiridion des in antoninischer Zeit wirkenden Metrikers Hephaistion. 712 Hier werden sechs εἴδη unterschieden, unter anderem der στίχος λογοειδής, der sich durch seine Nähe zur ungebundenen Rede auszeichnet (ὁ πεζότερος τῇ συνθέσει). 713 Auch in anderen Traktaten findet das εἶδος des λογοειδής Erwähnung, jeweils mit einem Zitat von Il. 11, 680-681 a . 714 Die in den genannten Zusammenstellungen systematisierte λογοείδεια 715 bzw. das damit verbundene Konzept war in der ästhetisch-kritischen Auseinandersetzung der Homerphilologen mit Ilias und Odyssee etabliert. Explizit als λογοειδής bezeichnet freilich erst der byzantinische Homerkommentator Eustathios 712 Vgl. schol. B Hephaest. 18, 1-6 = 292, 4-27 Consbruch. Einen Überblick über diese recht heterogene Scholienmasse gibt Hense (1912), Sp. 301, 9-302, 13; die scholia B stammen aus frühbyzantinischer Zeit. - Zur Entwicklung der Lehre von den εἴδη vgl. Voltz (1893), pass. und insbes. S. 386. 713 Vgl. schol. B Hephaest. 18, 6 = 292, 25-27 Consbruch. Neben diesem werden noch diese Typen genannt: Der στίχος ἰσόχρονος (Kennzeichen: aus Spondeen bestehend [~ σπονδειάζων]; 292, 8-12 Consbruch), ἀπηρτισμένος (Kennzeichen: ein abgeschlossener Gedanke; 292, 13-15 Consbruch), τραχύς (Kennzeichen: Überreichtum an Konsonanten; 292, 16-18 Consbruch), μαλακοειδής (Kennzeichen: Überreichtum an Diphthongen; 292, 19-21 Consbruch) und der κακόφωνος (Kennzeichen: Überreichtum an Vokalen; 292, 25-27 Consbruch). - Im selben Traktat erscheinen die Beispielverse Il. 11, 680-681 a noch unter den διαφοραί des Hexameters; vgl. schol. Hephaest. 19, 7 = 294, 1-4 Consbruch (Πολιτικὸν δέ ἐστιν τὸ ἄνευ πάθους ἢ τρόπου ποποιημένον, οἷον ‘ἵππους δὲ ξανθὰς ἑκατὸν καὶ πεντήκοντα’∙ ὅπερ ταὐτόν ἐστι τῷ λογοειδεῖ. [„Das πολιτικόν verzichtet auf Pathos und Tropos, wie ‘Und falbe Pferde hundert und fünfzig | Alles weibliche’; es entspricht der Prosarede.“]). 714 Vgl. Append. Dionys. 9, 9 = 328, 4-5 Consbruch; Append. Rhetor. 4 = 342, 9-10 Consbruch und Eust. ad Od. 11, 128 = 1676, 15 ff. = I 403, 33-37 Stallbaum = 351, 6-8 Consbruch (λογοειδῆ δὲ … καὶ πολιτικόν). - Als πολιτικόν wird Il. 11, 680-681 a unter den διαφοραί zitiert in Append. Rhetor. 3 = 341, 7-9 Consbruch und Anon. Paris. 7 = 351, 29-30 Consbruch (πολιτικὸν τὸ δημῶδες κατὰ τὴν φράσιν). 715 Als festen Terminus verwendet das Substantiv nur Dion. Hal. comp. 26 = VI 137, 12 Usener-Radermacher (s. u.). <?page no="265"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 265 einzelne Verse. Diese Bemerkungen sind insofern aufschlussreich, als man aus ihnen die verstechnischen Bedingungen rekonstruieren kann, die vorliegen mussten, um einen Vers als „prosaisch“ zu klassifizieren. Es finden sich hier vor allem drei Gruppen von Bemerkungen: Zum einen konnten morphologische Besonderheiten der Dichtersprache dem „gewöhnlichen“ Gebrauch der Prosa gegenübergestellt werden. 716 An anderen Stellen werden schmucklose Reihungen , Aufzählungen etc. als „prosaisch“ qualifiziert. 717 Schließlich äußert Eustathios an einigen Stellen die Beobachtung, dass bestimmte homerische Verse prosaisch klingen, ohne seine Kriterien im Einzelnen offenzulegen. 718 716 Derartige Bemerkungen finden sich in Eust. ad Il. 8, 368 = 718, 23-25 = II 598, 23-26 van der Valk (Τὸ δὲ ‘Ἐρέβευς’ διὰ τὸ ποιητικώτερον ἔφρασεν. ἄλλως γὰρ εἶχε καὶ Ἐρέβους εἰπεῖν. Οὐ γὰρ τὸ κοινὸν τῆς γραφῆς φίλον ὡς ἐπὶ πολὺ ποιηταῖς, ἐξ οὗ οἱ λογοειδεῖς γίνονται στίχοι, ἀλλ’ εἰς πλέον τὸ ἀσύνηθες καὶ σκληρότερον [„‘Ἐρέβευς’ hat er gesagt, weil es dichterischer ist. Er hätte auch Ἐρέβους sagen können. Die Dichter lieben nämlich zumeist die gewöhnliche Schreibung nicht, aufgrund derer die Verse der Prosa ähnlich werden, sondern meistens <lieben sie> das Ungewohnte und Härtere.“]) und Eust. ad Il. 18, 594 = 1166, 45-46 = IV 269, 14-16 van der Valk (Τὸ δὲ ‘ὠρχεῦντο’ ἐτεχνήσατο οὕτως εἰπεῖν Ὅμηρος. εἰ γὰρ ὠρχοῦντο ἔφη, λογοειδὴς ἂν ὁ στίχος ἦν καὶ εὐτελής [„Die Form ‘ὠρχεῦντο’ bildet Homer in künstlicher Weise. Hätte er nämlich ὠρχοῦντο gesagt, dann würde der Vers wie Prosa und einfach klingen.“]). 717 Vgl. Eust. ad Il. 9, 145 = 742, 48-743, 1 = II 683, 21-684, 3 van der Valk (Ὁ δὲ στίχος ὁ τὰ ὀνόματα ἔχων τῶν τοῦ βασιλέως θυγατέρων τὸ ‘Χρυσόθεμις καὶ Λαοδίκη καὶ Ἰφιάνασσα’ λογοειδής ἐστιν ἐξ ἀνάγκης, οὐκ ἔχων δίαρμά τι ποιητικόν, ὡς καὶ ἐν τοῖς ἑξῆς τὸ < Il. 11, 680> ‘ἵππους δὲ ξανθὰς ἑκατὸν καὶ πεντήκοντα’ [„Der Vers mit den Namen der Königstöchter ‘Chrysothemis und Laodike und Iphianassa’ ähnelt zwangsläufig der Prosa, weil er sich stilistisch nicht erhebt, wie es auch in dem weiter unten stehenden Vers ‘Und falbe Pferde hundert und fünfzig’ der Fall ist.“]) und zum klassischen Beispielvers der λογοείδεια Eust. ad Il. 11, 670-682 = 873, 63-874, = III 291, 27-30 van der Valk (Ἐν οἷς ὅρα ὅτι τε λογοειδῶς καὶ σαφῶς τὰ κατὰ τὴν λείαν ἀπαριθμεῖται, καὶ ὡς οὐκ ἂν εἶπέ τις ἄλλως οὐδὲ ἐν λόγῳ πεζῷ, καὶ ὅτι καλλωπίζει δι’ ἐπαναφορᾶς [καὶ παρισώσεως] ἐν τῷ <cf. Il. 11, 678 f.> ‘τόσα πώεα, τόσα συβόσια, τόσα αἰπόλια’, καὶ ὅτι κυριολεκτεῖ … [„Schau, in diesen Versen zählt er prosaisch und klar die Beutestücke auf, und zwar nicht anders, als es jemand in Prosa sagen würde. Und er schmückt seine Rede mit Wiederholung am Satzanfang, wenn er sagt ‘so viele Schafherden, ebenso viele Schweineherden, ebenso viele Ziegenherden’. Und er benutzt die richtigen Worten …“]). 718 Vgl. Eust. ad Il. 21, 526 = 1249, 60-62 = IV 550, 2-5 van der Valk ( Ὅτι λογοειδὲς ἔπος καὶ σαφὲς τὸ ‘εἱστήκει δ’ ὁ γέρων Πρίαμος θείου ἐπὶ πύργου’. καὶ καινὸν οὐδὲν ἐν πολυστίχῳ ποιήματι καὶ τοιαῦτα ἔπη εὑρίσκεσθαι, ὁποῖον σὺν ἄλλοις πολλοῖς καὶ τὸ < Il. 11, 680> ‘ἵππους δὲ ξανθὰς ἑκατὸν καὶ πεντήκοντα’); Eust. ad Il. 22, 157 = 1263, 40-42 = IV 595, 24-596, 2 van der Valk (Ἰστέον δὲ καὶ ὅτι θαυμασία ἐν τοῖς εἰρημένοις καὶ ἡ Ὁμηρικὴ φράσις, οὔτε πάντῃ λογοειδὴς οὖσα, ὡς ψέγεσθαι διὰ τὸ ἀμέγεθες, οὔτε σκληρά, ὥστε φεύγεσθαι εἰς λόγου πεζοῦ παραπλοκήν [„Man muss auch wissen, dass der homerische Ausdruck auch erstaunlich hinsichtlich der Worte ist, und weder im Ganzen prosaisch, sodass man ihn wegen seiner Niedrigkeit tadeln müsste, noch hart, sodass er seine Zuflucht in der Einmengung von prosaischen Ausdrücken nehmen wollte.“]) und Eust. ad Il. 23, 210-211 = 1295, 55-57 = IV 711, 16-17 van der Valk (λογοειδὴς δὲ σχεδὸν καὶ <?page no="266"?> 266 5. Macrobius, Saturnalia Die Homerscholien vermeiden zwar den Begriff λογοειδής, kennen das Negativkriterium der Prosanähe aber sehr wohl. Wie aus einigen Bemerkungen, die man Aristonikos zuweisen kann, hervorgeht, wurde es insbesondere in der Textkritik als Authentizitätskriterium herangezogen. 719 Daneben finden sich zahlreiche weitere Stellen, an denen der mangelnde poetische Charakter einer Stelle hervorgehoben wird. 720 Zu dem erwähnten Vers Il. 11, 680 führt ein Scholion aus: οὐδὲ πεζῷ δὲ λόγῳ τις εἶπεν αὐτὰ ἄλλως. 721 Der Grammatiker Seleukos 722 , dem seine in tiberischer Zeit verfassten Homerschriften den Beinamen Ὁμηρικός eintrugen, hatte eine ganze Sammlung an prosaischen Versen parat: ἔσθων καὶ πίνων] τὸ ἐσθίων < corr. Erbse in annotatione : ἔσθων> οὐχ ὑποπίπτει μέτρῳ ἡρωϊκῷ. φησὶ δὲ καὶ < Od. 5, 197> ‘ἔσθειν καὶ πίνειν’ καὶ < Il. 8, 231> ‘ἔσθοντες κρέα πολλά’. εἰ δὲ εὐτελεῖς οἱ στίχοι, καὶ ἄλλοι· < Il. 18, 385> ‘τίπτε, Θέτι τανύπεπλε, ἱκάνεις ἡμέτερον δῶ;’· < Od. 10, 77> ‘οὐδέ κεν ἀμβαίη βροτὸς ἀνήρ, οὐ καταβαίη’· < Od. 10, 358> ‘ἡ δὲ τετάρτη ὕδωρ ἐφόρει’· < Od. 5, 263> ‘τῷ δ’ ἄρα πέμπτῳ πέμπ’ ἀπὸ νήσου’· < Il. 11, 680> ‘ἵππους δὲ ξανθὰς ἑκατόν’· < Od. 10, 98> ‘ἔνθα μὲν οὔτε βοῶν <οὔτ’ ἀνδρῶν φαίνετο ἔργα>’· οὗτοι γὰρ πάντες, ὡς Σέλευκος ( frg. 18 Müller = frg. 17 Duke), ἔμμετρον λαλιὰν ἔχουσιν. (schol. T ad Il. 24, 476 b = V 599, 35-43 Erbse) („Das ἔσθων passt nicht in ein heroisches Gedicht. Aber er sagt auch ‘zu essen und zu trinken’ und ‘essend viel Fleisch’. Wenn diese Verse aber einfach sind, dann gilt das auch für andere: ‘Warum, langgewandete Thetis! kommst du zu unserem Haus’; ‘Auch könnte kein sterblicher Mann hinaufsteigen noch sie betreten’; ‘Die vierte brachte Wasser’; ‘Am fünften aber entließ ihn … von der Insel’; ‘Und falbe Pferde hundert’; ‘Da zeigten sich weder die Werke von Rindern noch von Menschen’; sie alle haben, wie Seleukos 723 sagt, den Charakter von <Alltags->Rede in Versen.“) οὗτος ὁ στίχος καὶ οὐκ ἔχων δίαρμα ποιητικόν [„Auch dieser Vers ist beinahe wie in Prosa formuliert und hat keine poetische Erhebung.“]). 719 Vgl. schol. A ad Il. 2, 252 a = I 236, 68-69 Erbse (οὐδέ τί πω σάφα ἴδμεν] ἀπὸ τούτου ἕως τοῦ < Il. 2, 256> ‘ἥρωες Δαναοί’ ἀθετοῦνται στίχοι πέντε, ὅτι πεζότεροι τῇ συνθέσει … [„Von hier ab bis ‘Die Helden der Danaer’ werden fünf Verse athetiert, weil ihre Wortfügung zu nahe an der Prosa ist …“]); schol. A ad Il. 3, 432 = I 434, 25-27 Erbse; schol. A ad Il. 9, 688-692 a = II 542, 79-82 Erbse; schol. A ad Il. 11, 767 a 1 = III 277, 28-30 Erbse. 720 Vgl. schol. b (BE 3 E 4 ) ad Il. 11, 1-2 = III 123, 32-34 Erbse. - Neben πεζός verwenden die Homerkommentatoren hier das Adj. εὐτελῆς; vgl. e. g. schol. A ad Il. 2, 314 b = I 253, 2-4 Erbse (weitere Stellen bei VI 357 Erbse = Index III s. v. εὐτελής). 721 Vgl. schol. T il ad Il. 11, 678-681 = III 258, 94-96 Erbse („… und keiner würde dasselbe in Prosa anders sagen“). 722 Vgl. zu ihm Duke (1969), pass. 723 Vgl. frg. 18 Müller = 17 Duke. - Vgl. zu diesem Scholion auch Duke (1969), S. 123-124, die allerdings den Kritikpunkt des Seleukos nicht näher bestimmen kann: „There is however no obvious feature linking these lines, and marking them as different from large tracts of Homer elsewhere.“ <?page no="267"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 267 Lassen sich die Merkmale, die einer Dichterstelle Prosawirkung verleihen, konkreter bestimmen? Die Interferenzen von Dichtung und Prosa wurden insbesondere von zwei Autoren thematisiert, nämlich Cicero und Dionysios von Halikarnassos. Im Zuge der stilistischen Debatten des 1. Jhdt. v. Chr. ergab sich die Notwendigkeit, die Gesetzmäßigkeiten der rhythmisierten Prosa näher zu fassen und ihr Verhältnis zu Dichtung genauer zu bestimmen. Das Aufkommen dieses neuen Interesses der Redner an der Dichtung registriert schon Cicero in seinem 46 v. Chr. entstandenen Orator . 724 Dionysios widmet dem Problem ein ausführliches Kapitel am Ende seiner Schrift Περὶ συνθέσεως ὀνομάτων. Sein besonderes, in den stilkritischen Debatten der augusteischen Zeit angesiedeltes Anliegen, prosanahe Dichtung zu rechtfertigen, muss in unserem Zusammenhang nicht detailliert nachgezeichnet werden. Einleitend gibt Dionysios aber einige konkrete Ratschläge, wie der Dichter - Dionysios hat die epische, jambische und melische Dichtung im Blick - seiner Rede gute Prosawirkungen abgewinnen könne. Der Unterschied von Dichtung und Prosa bleibt dabei hinsichtlich der ἐκλογή τῶν ὀνομάτων unangetastet: Prosanähe entsteht also auf der Ebene der σύνθεσις. Dionysios erteilt seine einzelnen Ratschläge entsprechend der Gliederung seines Stoffes in μόρια bzw. στοιχεῖα τῆς λέξεως, κῶλα und περίοδοι. 725 Hinsichtlich der κῶλα gibt er zu verstehen, dass der Dichter diese nach Möglichkeit nicht mit dem Versende schließen lassen soll (Enjambement), sie hinsichtlich ihrer Länge ungleich bauen und gelegentlich - um Abwechslung zu erreichen - bis hin zu kleinsten κόμματα kürzen soll. 726 All das hat offenkundig den Zweck, dem monotonen akustischen Eindruck v. a. der epischen und jambischen Dichtung abzuhelfen. Wohlgemerkt handelt es sich dabei explizit um die Übertragung ästhetischer Maßstäbe der Kunstprosa auf die Dichtung. Dionysios ersetzt somit die Opposition Dichtung vs. Prosa durch den Gegensatz gelungene σύνθεσις (in Dichtung und anspruchsvoller Prosa verwirklicht) vs. Alltagssprache . 727 Ein Musterbeispiel für eine gelungene Übertragung der Regeln für den Prosarhythmus auf den epischen Hexameter sieht Dionysios in Od. 14, 1-7 verwirklicht, das er wie folgt nach κῶλα, κομμάτια und κόμματα analysiert: 728 724 Vgl. Cic. orat. 66-68 und zuvor schon de orat. 1, 70 sowie 3, 27; auch Quint. inst. 10, 1, 27-30 greift dieses Thema auf. 725 Vgl. Dion. Hal. comp. 26 = VI 136, 4-13 Usener-Radermacher. 726 Vgl. Dion. Hal. comp. 26 = VI 136, 7-10 Usener-Radermacher (… μὴ συναπαρτίζοντα τοῖς στίχοις ἀλλὰ διατέμνοντα τὸ μέτρον, ἄνισά τε ποιεῖν αὐτὰ καὶ ἀνόμοια, πολλάκις δὲ καὶ εἰς κόμματα συνάγειν βραχύτερα κώλων …). 727 Vgl. Dion. Hal. comp. 26 = VI 137, 16-23 Usener-Radermacher. 728 Vgl. Dion. Hal. comp. 26 = VI 138, 12-139, 19 Usener-Radermacher. <?page no="268"?> 268 5. Macrobius, Saturnalia Αὐτὰρ ὁ ἐκ λιμένος προσέβη τρηχεῖαν ἀταρπὸν - | χῶρον ἀν’ ὑλήεντα - δι’ ἄκριας, - ᾗ οἱ Ἀθήνη | πέφραδε δῖον ὑφορβόν, - ὅ οἱ βιότοιο μάλιστα | κήδετο οἰκήων, οὓς κτήσατο δῖος Ὀδυσσεύς. - | τὸν δ’ ἄρ’ ἐνὶ προδόμῳ εὗρ’ ἥμενον, - ἔνθα οἱ αὐλὴ | ὑψηλὴ δέδμητο, - περισκέπτῳ ἐνὶ χώρῳ, | καλή τε μεγάλη τε, - περίδρομος· - … Tatsächlich ändert sich die Länge der einzelnen Glieder in fast jedem Fall: Homer lässt so, folgt man den Ausführungen des Dionysios, durch geschickte Anordnung der einzelnen Elemente den Eindruck entstehen, es handle sich um künstlerisch geformte Prosa. Die gliedernden Abschnitte markieren nicht mehr die Versgrenzen, die in den meisten Fällen durch Enjambement überspielt werden, sondern die rhythmisch variiert aufeinander folgenden Kolongrenzen. All das hat nach Dionysios die Funktion, dem durch das gleichförmige Versmaß entstehenden Eindruck der Monotonie entgegenzusteuern. Dionysios hebt, bevor er seine Differenzierung der beiden Prosaarten macht, selber die von ihm geforderte gute Art der Prosaisierung von Dichtung von deren traditionell getadelten schlechten Form ab: μηδεὶς δὲ ὑπολαμβανέτω με ἀγνοεῖν ὅτι κακία ποιήματος ἡ καλουμένη λογοείδεια δοκεῖ τις εἶναι, μηδὲ καταγιγνωσκέτω μου ταύτην τὴν ἀμαθίαν, ὡς ἄρα ἐγὼ κακίαν τινὰ ἐν ἀρεταῖς τάττω ποιημάτων ἢ λόγων· ὡς δὲ ἀξιῶ διαιρεῖν κἀν τούτοις τὰ σπουδαῖα ἀπὸ τῶν μηδενὸς ἀξίων, ἀκούσας μαθέτω. (Dion. Hal. comp. 26 = VI 137, 11-16 Usener- Radermacher) („Und keiner soll denken, ich wüsste nicht, dass die sogenannte λογοείδεια ein dichterischer Fehler zu sein scheint, auch soll mich keiner der Unwissenheit <auf diesem Gebiet> bezichtigen, so als ob ich einen Fehler unter die Vorzüge bei den Gedichten oder Reden einordne; man soll lieber zuhören und lernen, dass ich auch hier das Ernsthafte vom Unwürdigen unterscheiden will.“) Er bezeugt damit eine kritische Tradition, die bestimmten homerischen Versen Prosanähe vorwarf. Mit seinem anspruchsvollen Konzept der Kunstprosa möchte Dionysios Vorwürfen dieser Art begegnen. Seine Ratschläge können daher auch als Versuche gelten, die negativen stilistischen Züge, die man traditionell an den στίχοι λογοειδεῖς beanstandete, zu umgehen. Ursprünglich dürfte man demnach mit dem Negativetikett λογοείδεια auf der Ebene der σύνθεσις solche Verse gebrandmarkt haben, die sich durch Monotonie der einzelnen κῶλα - negativ - auszeichneten. Dieser Vorwurf lässt sich nun gegen die von Eustathius beigebrachten Beispiele aus Homer und Vergil durchaus erheben. Die Aufzählung des nächtlichen Beuteguts aus Nestors Itymoneuserzählung galt den Homerphilologen wie bereits ausgeführt als Musterbeispiel einer unverbundenen Reihung von κῶλα. Die von Eustathius entsprechend postulierte rhythmische Monotonie der beiden <?page no="269"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 269 Vergilverse ergibt sich allerdings erst, wenn man jeweils die Umgebung der Stellen miteinbezieht. In ecl. 10, 68-69 folgen vier etwa gleichlange κῶλα aufeinander: Aethiopum versemus ovis - sub sidere Cancri. - | Omnia uincit Amor: - et nos cedamus Amori. - Ähnlich liegt der Fall in Aen. 5, 868-871, wo die einzelnen κῶλα zwar länger sind, aber dennoch in entsprechender Monotonie nebeneinander stehen: … - et ipse ratem nocturnis rexit in undis - | multa gemens casuque animum concussus amici: - | ‘o nimium caelo et pelago confise sereno, - | nudus in ignota, Palinure, iacebis harena.’ - Dadurch entsteht der „abgerissene“ und „zurechtgestutzte“ Eindruck, der die Verse der kunstlosen Alltagssprache annähert und - wie man im Anschluss an Dionysios von Halikarnassos sagen kann - den rhythmischen Erfordernissen sowohl von Kunstprosa wie auch von anspruchsvoller Dichtung entgegensteht. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Eustathius kann sich im Falle der εἴδη des Hexameters, von denen er in Sat. 5, 14, 5 exemplarisch die Prosanähe bespricht, zurecht auf Homer und die bei ihm unter diesem Kriterium gerügten Verse berufen. Dionysios von Halikarnassos reagiert mit seinem Konzept der gelungenen Prosaisierung von Dichtung bereits auf eine entsprechende Kritik und gibt damit auch einen Anhaltspunkt für deren Datierung. Die Vergilbeispiele in den Saturnalia sind erst in ihrem jeweiligen Kontext als „prosaisch“ im Sinne des Periodenbaus erkennbar, bedürfen also der Einordnung in ihre unmittelbare Umgebung. Eustathius scheint die Kenntnis dieser Kontexte vorauszusetzen oder mit seinen Einzelversen lediglich Stellenhinweise geben zu wollen - für sich betrachtet sind die Verse nicht als prosanah kenntlich. 5.2.2.3 Epanalepsen und Anaphern ( Sat. 5, 14, 6) Eustathius leitet in Sat. 5, 14, 6 über zu einer Besonderheit des homerischen Stils, für die er ebenfalls ein vergilisches Pendant postuliert: Sunt amoenae repetitiones quas non fugit . Das zitierte Beispiel aus Homer entstammt der Schlusspartie aus Hektors Selbstgespräch ( Il. 22, 99-130) und markiert hier den pathetischen Höhepunkt der Rede: … ἅ τε παρθένος ἠΐθεός τε, |παρθένος ἠΐθεός τ’ ὀαρίζετον ἀλλήλοιιν. 729 („… so wie da Mädchen und Bursche, | Mädchen und Bursche miteinander kosen.“ ÜS Schadewaldt ) 729 Il. 22, 127-128. <?page no="270"?> 270 5. Macrobius, Saturnalia Ps.-Plutarch stellt in seiner Homermonographie die vorliegende Wiederholungsfigur in den Katalog der σχήματα κατὰ πλεονασμόν ( per adiectionem ). 730 Mit diesem Terminus bezeichnet er eine ganze Gruppe von Figuren, bei denen ein „Überschuss“ im Ausdruck vorliegt. 731 Die wörtliche Wiederholung einzelner Wörter oder Satzteile bei Homer nennt er παλιλλογία und definiert sie als ἐπανάληψις … μέρους τινὸς λόγου („Wiederholung eines Teils eines Ausdrucks“). 732 Er unterscheidet zwei Unterkategorien. Bei der ersten folgen die beiden wiederholten Elemente unmittelbar aufeinander, wie etwa an folgender Stelle der Fall: τοῦ δ’ ἐγὼ ἀντίος εἶμι, καὶ εἰ πυρὶ χεῖρας ἔοικεν, | εἰ πυρὶ χεῖρας ἔοικε, μένος δ’ αἴθωνι σιδήρῳ 733 („Diesem gehe ich entgegen, und gliche er dem Feuer an Händen, | Gliche er dem Feuer an Händen und an Kraft dem braunroten Eisen! “ ÜS Schadewaldt ) An anderen Stellen sind die wiederholten Glieder durch eingeschobene Ausdrücke voneinander getrennt: 734 ἀλλ’ ὁ μὲν Αἰθίοπας μετεκίαθε τηλόθ’ ἐόντας, | Αἰθίοπας, τοὶ διχθὰ δεδαίαται, ἔσχατοι ἀνδρῶν. 735 („Doch jener war zu den Aithiopen hingegangen in der Ferne - den Aithiopen, die zwiefach geteilt sind, zuäußerst unter den Menschen …“ ÜS Schadewaldt ) Beide Phänomene bezeichnet Ps.-Plutarch als παλλιλογία, ἐπανάληψις oder ἀναδίπλωσις. 736 Als dritte Kategorie führt er die ἐπαναφορά (Anapher) ein, bei der die wiederholten Elemente am Beginn einzelner κῶλα stehen: 737 730 Vgl. Ps.-Plut. de Hom. B 28 = 327 Kindstrand und zur Sache Hillgruber (1994), S. 143. 731 Für sprachlichen „Überschuss“ bietet Homer reichlich Belegmaterial: Hingewiesen sei nur auf die zahlreichen Scholiennotizen in Fällen von anscheinend funktionslosen „Füllwörtern“ und Tautologien in Ilias und Odyssee , die zu philologischen Erläuterungen herausforderten. - Stellen bei VII 186-187 Erbse (Index V s. v. „Pleonasmus“). Ps.-Plut. de Hom. B 28 = 327-328 und 330 Kindstrand macht für diese Erscheinung metrische und ornamentale Gründe geltend (διὰ τὸ μέτρον … κόσμου χάριν). 732 Vgl. Ps.-Plut. de Hom. B 32 = 363-364 Kindstrand. 733 Il. 20, 371-372. 734 Ihr wird kein eigener Terminus zugewiesen; vgl. Ps.-Plut. de Hom. B 32 = 368-369 Kindstrand. 735 Od. 1, 22-23. - Wie aus einer Scholiennotiz hervorgeht, war dies übrigens das einzige Beispiel für eine ἐπανάληψις, das man aus der Odyssee zu nennen wusste; vgl. schol. A ad Il. 6, 154 = II 158, 76-79 Erbse (Σίσυφος] … καὶ ὅτι ἐν Ἰλιάδι συνεχῶς ταῖς ἐπαναλήψεσι κέχρηται, ἐν δὲ Ὀδυσσείᾳ ἅπαξ κατ’ ἀρχάς, < Od. 1, 23> ‘Αἰθίοπας τοὶ διχθά’ [„… und in der Ilias benutzt er ständig die ἐπανάληψις, in der Odyssee nur einmal am Anfang, nämlich in dem Vers ‘den Aithiopen, die zwiefach’.“]) u. ö. 736 Vgl. Hillgruber (1994). S. 147. 737 Vgl. Ps.-Plut. de Hom. B 33 = 374-375 Kindstrand (Τοῦ αὐτοῦ γένους ἐστὶ καὶ ἡ ἐπαναφορά, ὅταν ἐν ἀρχῇ πλειόνων κώλων ταὐτὸν μόριον ἐπαναλαμβάνηται). - Vgl. zur Anapher <?page no="271"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 271 Νιρεὺς αὖ Σύμηθεν ἄγε τρεῖς νῆας ἐίσας, | Νιρεὺς Ἀγλαΐης υἱὸς Χαρόποιό τ’ ἄνακτος, | Νιρεύς, ὃς κάλλιστος ἀνὴρ ὑπὸ Ἴλιον ἦλθε. 738 („Nireus wieder führte aus Syme drei ebenmäßige Schiffe: | Nireus, der Aglaia Sohn und des Charopos, des Herrschers, | Nireus, der als der schönste Mann nach Ilios gekommen war … “ ÜS Schadewaldt ) Als Wirkung nennt Ps.-Plutarch in den ersten beiden Fällen die emotionale Bewegung (κίνησις) des Hörers bzw. Lesers. Dieser Aspekt werde bei der ἐπαναφορά noch ergänzt durch die Schmuckfunktion (εὐέπεια). 739 Wie die überlieferten Bemerkungen in den antiken Kommentaren zu den zitierten Stellen zeigen, waren die verwendeten Termini, die sich bei Ps.-Plutarch finden, nicht allgemein verbreitet. 740 Dass man aber auch in sachlicher Hinsicht die Kategorien Epanalepse und Anapher nicht immer streng voneinander schied, deutet bereits die Auswahl der Beispiele bei Macrobius an. Das von Eustathius vorgebrachte homerische Verspaar Il. 22, 127-128 rechnet zur ersten bei Ps.-Plutarch genannten Gruppe (ἀναδίπλωσις), die im Anschluss zitierten Vergilverse dagegen zur Anapher (ἐπαναφορά): Pan etiam Arcadia mecum si iudice certet, | Pan etiam Arcadia dicet se iudice victum. 741 Der Grund ist leicht zu ersehen: Bei Vergil findet sich kein vergleichbares Beispiel für die geminatio bzw. ἀναδίπλωσις einer ganzen Wortgruppe, wie sie in Il. 22, 127-128 vorliegt. 742 Zwar werden gelegentlich Einzelworte innerhalb eines insbes. Lausberg (1990), S. 318-320 = §§ 629-630. 738 Il. 2, 671-673. - Zum Fortleben dieser Verse in der antiken Rhetorik vgl. Erbse I 321 ( test. Il. 2, 671-673) und Hillgruber (1994), S. 149. 739 Vgl. Ps.-Plut. de Hom. B 32 = 372-373 Kindstrand (ἔστι δὲ τὸ σχῆμα κίνησιν ἐμφαῖνον τοῦ λέγοντος καὶ ἅμα κινοῦν τὸν ἀκροατήν) und Ps.-Plut. de Hom. B 33 = 380 Kindstrand (καὶ ἔστιν ὁμοίως τὸ σχῆμα οἰκειότατον κινήσεως καὶ εὐεπείας). 740 Vgl. schol. AbT ad Il. 20, 372 a = V 60, 38-41 Erbse (εἰ πυρὶ χεῖρας ἔοικε, <μένος δ’ αἴθωνι σιδήρῳ>] ἀγκύλον τὸ διανόημα καὶ πολὺν ἐν βραχεῖ νοῦν ἔχον καὶ διὰ τῆς ἐπαναλήψεως ἐμφαῖνον ὑπερβολὴν τῆς ἀμφοῖν δυνάμεως, πυρὸς μὲν ὀξύτητα, σιδήρου δὲ καρτερίαν παραλαβόν) und schol. E et DY et e ad Od. 23 b 1 = I 27, 73-74 Pontani (Αἰθίοπας] ἐπαναφορά / ἐπανάληψις / <ἀνα>φορὰ λόγου ἢ ἐπανάληψις κυρίως e). - Der Terminus παλλιλογία wurde jedenfalls schon von Kaikilios von Kaleakte verwendet; vgl. frg. 61 und 61 a Ofenloch. Zu den verschiedenen Begriffsbestimmungen vgl. Lausberg (1990), S. 312-315 = §§ 616-622 und Hillgruber (1994), S. 147. 741 Ecl. 4, 58-59. 742 Marginal unter den ca. 80 Fällen von geminatio bei Vergil ist die Wiederholung von si quis in ecl. 6, 9 ( si quis tamen haec quoque, si quis | captus amore leget ) und von si forte in Aen. 2, 756 ( si forte pedem, si forte tulisset ); vgl. zur Wirkung Serv. ad Aen . 2, 756 = I 326, 16 Thilo-Hagen ( iteratione auxit dubitationem ). - Das Material ist gesammelt bei Facchini Tosi (1985), pass. <?page no="272"?> 272 5. Macrobius, Saturnalia Verses bzw. über die Versgrenze hinaus wiederholt - und zwar entweder ohne 743 oder mit 744 dazwischengeschaltetem Element -, doch lässt sich bei Vergil keine geminatio ganzer Vershälften wie in Il. 20, 371-372 oder in Il. 22, 127-128 ausmachen. 745 Eustathius ersetzt also mangels passender Vergleichsstücke die mit den homerischen Beispielversen eingeführte ἀναδίπλωσις durch die bei Vergil relativ häufig 746 begegnende Anapher und fasst beide Phänomene unter dem Oberbegriff repetitiones zusammen. In anderem Zusammenhang gibt Macrobius freilich zu erkennen, dass er unter repetitio tatsächlich nur die Anapher im engeren Sinne versteht, wenn er nämlich in Sat. 4, 6, 23 Eusebius drei Vergilstellen zitieren lässt, in denen Pathos durch Wortwiederholung am Satzbzw. Kolonbeginn entsteht. Eusebius sagt dabei selbst ausdrücklich, dass er mit repetitio den griechischen Terminus ἐπαναφορά übersetzt, also auch die engere, auf Wiederholung am Kolonbeginn beschränkte Wortbedeutung zugrundelegt. 747 Bei allen drei hier zitierten Beispielen liegt tatsächlich eine Anapher in diesem Sinne vor. 748 Eustathius’ ungenauer Begriffsgebrauch in Sat. 5, 14, 6 dürfte also schwerlich auf der Unkenntnis des Autors beruhen, sondern aus der bewussten Absicht resultieren, einem bekannten homerischen Beispielvers ein passendes lateinisches Pendant zur 743 Vgl. in den Fällen mit Verswechsel ecl. 6, 20-21 ( supervenit Aegle, | Aegle Naiadum ); ecl. 9, 47-48 ( Caesaris astrum, | astrum quo segetes ); ecl. 10, 72-73 ( maxima Gallo, | Gallo, cuius amor ); Aen. 6, 495-496 ( lacerum crudeliter ora, | ora manusque ambas ); Aen. 10, 180-181 ( sequitur pulcherrimus Astur, | Astur equo fidens ); Aen. 10, 821-822 ( morientis et ora | ora modis ). - Quintilian nimmt, wenn damit der Neubeginn eines Satzes verbunden ist, eine besondere dichterische Wirkung wahr; vgl. Quint. inst. 9, 3, 44 ( Prioris etiam sententiae verbum ultimum ac sequentis primum frequenter est idem, quo quidem schemate utuntur poetae saepius: < ecl. 10, 72-73> ‘Pierides, vos haec facietis maxima Gallo, | Gallo, cuius amor tantum mihi crescit in horas’, sed ne oratores quidem raro: <Cic. Cat. 1, 2> ‘hic tamen vivit: vivit? immo vero etiam in senatum venit’ ). 744 Vgl. in den Fällen mit Verswechsel ecl. 9, 27-28 ( nodo Mantua nobis, | Mantua vae miserae ); Aen. 2, 405-406 ( ardentia lumina frustra, | lumina, nam teneras ); Aen. 4, 25-26 ( fulmine ad umbras, | pallentis umbras ). 745 Zur terminologischen Unterscheidung von Einzelwort- und Wortgruppenwiederholung vgl. Lausberg (1990), S. 312 = § 616. 746 Die Anaphern bei Vergil liegen gesammelt vor bei de Rosalia (1984), pass. und Otto (1907), pass. 747 Vgl. Sat. 4, 6, 23 ( Nascitur pathos et de repetitione, quam Graeci ἐπαναφορὰν vocant, cum sententiae ab isdem nominibus incipiunt ). 748 Vgl. georg. 4, 525-527 ( Eurydicen vox ipsa et frigida lingua. | a! miseram Eurydicen anima fugiente vocabat. | Eurydicen toto referebant flumine ripae ); georg. 4, 465-466 ( te, dulcis coniunx, te solo in litore secum, | te veniente die, te decedente canebat ) und Aen. 7, 759-760 ( te nemus Angitiae, vitrea te Fucinus unda, | te liquidi flevere lacus ). <?page no="273"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 273 Seite zu stellen, auch wenn sich bei Vergil nur das verwandte Phänomen der Anapher findet. 749 Ein ähnliches Vorgehen des Eustathius lässt sich vielleicht hinsichtlich der Wirkung des Phänomens beobachten, die mit dem Stichwort amoenus angedeutet wird: Schon die Rhetorica ad Herennium schreibt der Anapher ( repetitio ) eine doppelte Wirkung zu, nämlich eine Steigerung von venustas und gravitas . 750 Ps.-Plutarch macht wie bereits angedeutet einen Unterschied hinsichtlich der Wirkung von Epanalepse und Anapher: Die erste Figur soll den Zuhörer emotional bewegen 751 , bei der zweiten kommt zur κίνησις die Anmut im Ausdruck (εὐέπεια ~ amoenitas ) hinzu. 752 Dass die emotionale Bewegung (κίνησις) die vornehmliche Wirkung der Epanalepse 753 ist, bestätigen auch die einschlägigen Kommentare in den Iliasscholien. 754 Nur gelegentlich wird in diesem Zusam- 749 Die beiden Begriffe wurden allerdings schon von den griechischen Grammatikern nicht immer sauber getrennt: Die unter Herodians Namen überlieferte Schrift Περὶ σχημάτων (zu Autorschaft und Datierung vgl. Hajdú [1998], S. 19-23) zitiert Il. 20, 371-372 und Il. 22, 127-128 - beides im strengen Sinne Epanalepsen - als Beispiel für die Anapher (ἐπαναφορά), hier ganz allgemein als πλάσις ἐκ τοῦ διπλασιάζεσθαι ἐπίτασιν δηλοῦσα („ein durch Verdopplung entstandenes sprachliches Gebilde, das Heftigkeit ausdrückt“) definiert; vgl. Ps.-Herodian. de fig. 39 = 147, 56-62 Hajdú. - Auch in den Homerscholien finden sich Beispiele, wo eindeutig als Anaphern zu klassifizierende Fälle wie Il. 1, 436-439 als ἐπανάληψις bezeichnet werden; vgl. schol. bT ad Il. 1, 436-439 = I 123, 87 Erbse (τὸ δὲ σχῆμα ἐπανάληψις). 750 Vgl. Rhet. Her. 4, 13 = 19 ( Haec exornatio cum multum venustatis habet tum gravitatis et acrimoniae plurimum. Quare videtur esse adhibenda et ad ornandam et ad exaugendam orationem. ). - Der Hinweis auf venustas o. ä. findet sich freilich nicht immer in den Erläuterungen zur Anapher (vgl. Lausberg [1990], S. 318-319 = § 629), bei der Epanalepse fehlt er stets (vgl. Lausberg [1990], S. 312-313 = § 617). 751 Vgl. Ps.-Plut. de Hom. B 32 = 372-373 Kindstrand (ἔστι δὲ τὸ σχῆμα κίνησιν ἐμφαῖνον τοῦ λέγοντος καὶ ἅμα κινοῦν τὸν ἀκροατήν [„die Figur drückt Bewegung aus und setzt zugleich den Zuhörer in Bewegung“]). 752 Vgl. Ps.-Plut. de Hom. B 32 = 372-373 Kindstrand (καὶ ἔστιν ὁμοίως τὸ σχῆμα οἰκειότατον κινήσεως καὶ εὐεπείας [„und diese Figur ist in gleicher Weise geeignet für Bewegung und sprachliche Anmut“]). 753 Als Alternativen zu ἐπανάληψις verwenden die Scholien auch die Termini ἐπαναλαβή, παλι<λ>λογία u. ä.; vgl. schol. AbT ad Il. 5, 31 a = II 7, 40 Erbse; schol. A ad Il. 5, 31 b = II 7, 44 Erbse und V 187 Erbse (= Index V s. v. repetitio ). 754 In Il. 2, 703 und 709 entsprechen sich die beiden jeweils letzten Vershälften (πόθεόν γε μὲν ἀρχόν und πόθεόν γε μὲν ἐσθλὸν ἐόντα): Das Scholion zur Stelle vermerkt eine pathetische Wirkung; vgl. schol. b ad Il. 2, 703 = I 327, 59-60 Erbse (τῇ δὲ ἐπαναλήψει οἰκτρότερον τὸ πάθος ἐποίησεν). - Die αὔξησις steht auch in Il. 5, 800-801 (… γείνατο Τυδεύς. | Τυδεύς τοι μικρὸς …) im Vordergrund; vgl. schol. bT ad Il. 5, 801 = II 107, 46-47 Erbse (τῇ ἐπαναλήψει τοῦ ὀνόματος ηὔξησε τὸν Τυδέα). - Eine pathetische Steigerung erkennt der Kommentator in der Wiederholung in Il. 6, 153-154 (ἔνθα δὲ Σίσυφος ἔσκεν … | Σίσυφος Αἰολίδης); vgl. schol. bT ad Il. 6, 153 c = II 157, 75-76 Erbse (… ἡ δὲ ἐπανάληψις τὸν ἔνδοξον παρίστησιν). - Die emphatische Wirkung der Schlusswendung in den bereits zitierten Versen Il. 20, 371-372 (εἰ πυρὶ χεῖρας ἔοικεν, | εἰ πυρὶ χεῖρας ἔοικε, μένος δ’ <?page no="274"?> 274 5. Macrobius, Saturnalia menhang auf die anmutige Wirkung verwiesen. 755 Eustathius dürfte auch hier bewusst steuern, wenn er den amoenae repetitiones - seinem Verständnis nach Anapher und Epanalepse - eine Wirkung unterstellt, die man traditionell nur mit der Anapher verband. 5.2.2.4 Epitheta ( Sat. 5, 14, 7 - 8) Wenn Eustathius als einen weiteren Bereich, in dem Vergil Homer nachgeeifert habe, die stehenden Beiwörter ( epitheta ) nennt, so überrascht das kaum, zählen diese doch zu den Hauptmerkmalen des epischen Stils - Homer wurde auch in diesem Teilbereich als vorbildlich betrachtet. 756 Nachdem er eine ganze Reihe exemplarischer Epitheta aus der Ilias zitiert hat, deutet Eustathius mit der Metapher von den „strahlenden Sternen“ auch die Funktion an, die er mit dieser stilistischen Erscheinung verbindet: … et mille talium vocabulorum, quibus velut sideribus micat divini carminis variata maiestas . Die Epitheta haben für ihn also vor allem eine schmückende Wirkung ( ornatus ), und damit bewegt sich Eustathius ganz in der rhetorischen Tradition, wie sich aus einem Passus aus Quintilians Institutio oratoria ersehen lässt. Quintilian behandelt das Epitheton (= lat. appositum bzw. sequens ) in inst. 8, 6, 40-43 unter den Tropen und weist ihm als Hauptfunktion eine Steigerung des ornatus αἴθωνι σιδήρῳ) wird auch explizit als solche vermerkt; vgl. schol. AbT ad Il. 372 a = V 60, 38-40 Erbse ( ἀγκύλον τὸ διανόημα καὶ πολὺν ἐν βραχεῖ νοῦν ἔχον καὶ διὰ τῆς ἐπαναλήψεως ἐμφαῖνον ὑπερβολὴν τῆς ἀμφοῖν δυνάμεως, πυρὸς μὲν ὀξύτητα, σιδήρου δὲ καρτερίαν παραλαβόν). Verstärkende Wirkung liegt, wie vom Kommentator vermerkt, in Il. 23, 30-32 vor (πολλοὶ … | … πολλοὶ … | πολλοὶ …); vgl. schol. bT ad Il. 23, 30-32 = V 370, 8-10 Erbse (ἡ ἐπανάληψις τοῦ πολλοί τὸ πλῆθος ἐμφαίνει καὶ τὸ ἀόριστον). - Allgemein benennt die Emphase als Wirkabsicht der Epanalepse das Scholion zu Il. 23, 641-642 (ὃ μὲν ἔμπεδον ἡνιόχευεν, | ἔμπεδον ἡνιόχευ’, ὃ δ’ ἄρα μάστιγι κέλευεν); vgl. schol. b ad Il. 23, 642 b (πολλὴν δὲ ἔχει ἡ ἐπανάληψις ἔμφασιν). 755 Der Wiederholung der Partikel τε in Il. 17, 216-218 (Μέσθλην τε Γλαῦκόν τε Μέδοντά τε Θερσίλοχόν τε | Ἀστεροπαῖόν τε Δεισήνορά θ’ Ἱππόθοόν τε | Φόρκυν τε Χρομίον τε καὶ Ἔννομον οἰωνιστήν) schreibt der Scholiast eine „süße“ Wirkung zu; vgl. schol. bT ad Il. 17, 216-218 = IV 371, 88-90 Erbse (ἡδέως πάνυ καὶ ἀρχαιοπρεπῶς τῇ ἐπαλληλίᾳ τοῦ συνδέσμου ἐχρήσατο). - Eine gleiche Wirkung geht dem anonymen Kommentator zufolge von der Epanalepse in Il. 18, 398-399 (εἰ μή μ’ Εὐρυνόμη τε Θέτις θ’ ὑπεδέξατο κόλπῳ | Εὐρυνόμη θυγάτηρ ἀψορρόου Ὠκεανοῖο) aus; vgl. schol. A ad Il. 18, 398-399 c = IV 513, 85-87 Erbse (τῇ ἐπαναλήψει τοῦ ὀνόματος καὶ ἐπὶ τῆς ἀπουσίας ἐνδεικνύμενος τῇ Θέτιδι ὡς οὐ διὰ παρουσίαν αὐτῆς ἀπομνημονεύει τῆς χάριτος). 756 Vgl. allgemein zu den Epitheta in der rhetorischen Theorie Lausberg (1990), §§ 676-685 = S. 341-344. - Dass Vergil Homer in diesem Bereich rein quantitativ übertrifft, stellt Worstbrock (1963), S. 168-169 mit Anm. 2 heraus. Einschlägig zu Vergils Epitheta und ihrem Verhältnis zum homerischen Vorbild sind die Studien von Krah (1921), pass. , Moseley (1926), pass. und Worstbrock (1963), S. 168-199. Weiterführende Literaturangaben bei Suerbaum (1980), S. 193 und Squillante Saccone (1984), S. 55. <?page no="275"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 275 zu. 757 Als Konsequenz ergibt sich, dass dem Redner im Gebrauch der Epitheta engere Schranken gesetzt sind als dem Dichter. Die Schmuckfunktion wird insbesondere durch solche Beiwörter eingelöst, die den Bildbereich metaphorisch überschreiten, wie Quintilian in inst. 8, 6, 41 anhand der beiden Cicerobeispiele Cat. 1, 10, 25 ( cupiditas effrenata ) und pro Mil. 20, 53 ( insanae substructiones ) verdeutlicht. Durch eine derartige „Hinzufügung von anderem“ ( aliis adiunctis ) wird das Epitheton erst eigentlich zum Tropus, z. B. in Aen. 6, 276 ( turpis egestas ) und 6, 275 ( tristis senectus ). Die beiden Extreme des Zuviel bzw. Zuwenig an Beiwörtern sind gleichermaßen zu meiden. 758 Obwohl diese Extreme bei Vergil gelegentlich begegnen, empfehlen sich Epithetahäufungen unter ästhetischen Gesichtspunkten für Quintilian also nicht. 759 - Quintilians Funktionsbestimmung wurde später über den reinen Redeschmuck hinaus zur Trias erweitert 760 und fand so auch Eingang in die Vergilerklärung; vgl. Serv. ad Aen. 1, 178 = I 71, 4-6 Thilo-Hagen ( epitheta numquam vacant, sed aut ad augmentum aut ad diminutionem aut ad discretionem poni solent ). 761 Grundlegend blieb aber auch bei diesen Versuchen einer feineren Untergliederung die ornative Funktion der Beiwörter. 762 Selbstverständlich schätzten auch die Homerphilologen den Reichtum an Beiwörtern bei ihrem Dichter, doch tritt hier gewöhnlich der explizite Hinweis auf die Schmuckfunktion hinter andere Aspekte zurück. 763 Das hängt damit zusammen, dass im konkreten Fall semantische Probleme und die Frage nach der Angemessenheit eines bestimmten Epithetons im jeweiligen Kontext vordringlicher als seine rhetorische Funktion schienen. Insbesondere den letzteren 757 Quint. inst. 8, 6, 40 ( ornat enim ἐπίθετον …). Vgl. auch die einleitende Unterscheidung in Tropen, die significandi gratia verwendet werden, und solche, die eine reine Schmuckfunktion übernehmen ( inst. 8, 6, 3). 758 Quint. inst . 8, 6, 41 ( Verumtamen talis est ratio huiusce virtutis ut sine adpositis nuda sit et velut incompta oratio, oneretur tamen multis ). 759 Quint. inst. 8, 6, 42-43. 760 Vgl. Charis. gramm. 4 = 360, 24-25 Barwick ( ornandi aut destruendi aut indicandi causa ) mit den Bsp. Aen. 2, 261 ( dirus Ulixes ) bzw. Aen. 2, 164 ( scelerumque inventor Ulixes ) bzw. Aen. 2, 197 ( Larisaeus Achilles ); Sacerd. gramm. 1 = VI 463, 8-9 Keil ( vel demonstrandi vel ornandi vel vituperandi <causa> ); Don. gramm. 3, 6 = IV 400, 23-24 Keil ( … vel vituperamus aliquem vel ostendimus vel ornamus ); Diom. gramm. 2 = I 459, 9 Keil ( aut ornandi aut destruendi aut indicandi causa ). - Lob und Tadel nennt schon Arist. rhet. 1405 b 21-27 als die beiden Hauptkategorien der Beiwörter. 761 Ähnlich mit der Terminologie des Sacerdos DServ. ad Aen. 1, 323 = I 116, 20-21 Thilo- Hagen ( epitheta tribus modis ponuntur, aut laudandi aut demonstrandi aut vituperandi ). 762 Auch hinsichtlich der herangezogenen Sachbereiche bemühte man sich um genauere Klassifikationen; vgl. e. g. Charis. gramm. 4 = 361, 1-2 Barwick ( sumuntur autem aut ab animo aut a corpore aut extrinsecus ) mit weiteren Untergliederungen und Moore (1891), S. 171-172. - Servius lässt gelegentlich ein Bewusstsein für diese Klassifikationsversuche erkennen; vgl. Moore (1891), S. 172-173. 763 Vgl. zu den Bemerkungen über die Epitheta in den Homerscholien Nünlist (2009), S. 299-306. <?page no="276"?> 276 5. Macrobius, Saturnalia Aspekt hebt auch Ps.-Plutarch, gewissermaßen als Bedingung für die ästhetische Qualität eines homerischen Epithetons, hervor: Πολλὴ δέ ἐστιν αὐτῷ καὶ ἡ τῶν ἐπιθέτων εὐπορία, ἅπερ οἰκείως καὶ προσφυῶς τοῖς ὑποκειμένοις ἡρμοσμένα δύναμιν ἴσην ἔχει τοῖς κυρίοις ὀνόμασιν, ὥσπερ τῶν θεῶν ἑκάστῳ ἰδίαν τινὰ προσηγορίαν προστίθησι, τὸν Δία ‘μητιέτην’ καὶ ‘ὑψιβρεμέτην’ καὶ τὸν Ἥλιον ‘Ὑπερίονα’ καὶ τὸν Ἀπόλλωνα ‘Φοῖβον’ καλῶν. (Ps.-Plut. de Hom. B 17 = 204-208 Kindstrand) („Er hat auch einen großen Reichtum an Epitheta, die so passend und organisch mit dem übereinstimmen, was sie näher bestimmen sollen, und die dieselbe Kraft haben wie die eigentlichen Worte. Er gibt jedem Gott sein besonderes Epitheton bei, indem er etwa Zeus ‘weise’ und ‘hochdonnernd’, Helios ‘hochwandelnd’ und Apollo ‘strahlend’ nennt.“) Aristides Quintilianus belegt die Angemessenheit homerischer Epitheta - also ihre auf den jeweiligen Kontext abgestimmte Wahl - an einer Reihe von Einzelbeispielen, und auch in den Homerscholien finden sich zahlreiche Bemerkungen dieser Art. 764 Die knappen Bemerkungen des Eustathius suggerieren, dass sich hinsichtlich des Gebrauchs der Epitheta keine wesentlichen Unterschiede zwischen Homer und Vergil erkennen lassen. Doch zeigen einige Stellen bei Servius, dass man auf diesem Feld durchaus zwischen den beiden Dichtern zu differenzieren wusste.- In Aen. 2, 7, wo Aeneas einleitend davon spricht, dass seine Erzählung auch die Griechen zu Tränen rühren würde, wird Odysseus durus genannt, was Servius wie folgt kommentiert: … ‘duri’ non laboriosi, sed crudelis, ut < Aen. 10, 44> ‘quem dat tua coniunx dura’. nam Vergilius pro negotiorum qualitate dat epitheta, cum Homerus eadem etiam in contrariis servet. sensus autem est ‘sine lacrimis haec nec a quovis hostium dicerentur’. (Serv. ad Aen. 2, 7 = I 213, 16-20 Thilo-Hagen) Vergil vermeide demnach an dieser Stelle eine Stileigentümlichkeit Homers, die übelwollende Kritiker als Fehler ansehen konnten, nämlich die Verwendung eines stehenden Beiworts in einem unpassenden Kontext, er wahrt also die kontextuelle Angemessenheit der Beiwörter. Freilich beansprucht diese Feststellung nicht absolute Allgemeingültigkeit, beobachtet der Kommentator doch an anderen Stellen ein bewusstes „Gräzisieren“ bzw. „Homerisieren“ Vergils in diesem Sinne. 765 764 Vgl. Arist. Quint. de mus. 2, 9 = 69, 9-70, 6 Winnington-Ingram und Hillgruber (1994), S. 129-130 mit weiteren Beispielen. 765 Vgl. (D)Serv. ad Aen. 3, 691 = I 454, 4-8 Thilo-Hagen (infelicis Ulixi] epitheton ad inplendum versum positum more Graeco, sine respectu negotii. nam Aeneas incongrue infelicem <?page no="277"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 277 Auch unter einem anderen Aspekt konstatiert Servius - wohl in Rückgriff auf Quintilian - einen Unterschied in den Beiwörtern bei den griechischen und lateinischen Epikern. Problematisch erscheint ihm nämlich die Epithetahäufung : insigne decorum] ornamentum decorum: non enim sunt duo epitheta, quod apud Latinos vitiosum est. fecit hoc tamen Vergilius in paucis versibus, qui tamen emendati sunt, ut < ecl. 3, 38> ‘lenta quibus torno facili super addita vitis’, cum antea ‘facilis’ fuerit … (Serv. ad Aen. 2, 392 = I 282, 6-10 Thilo-Hagen) An anderer Stelle äußert er sich, auf diese Bemerkung Bezug nehmend, in ähnlichem Sinne: duo epitheta posuit vitiose, ut diximus supra: fecit autem hoc prope in decem versibus . 766 Das vitium der Epithetahäufung wird hier als allgemein bekannt vorausgesetzt, und Vergils zehn „Fehlerstellen“ dürften schon vor Servius - vielleicht von den frühen Vergilkritikern und dann im Vergilkommentar des Cornutus - zusammengetragen worden sein. 767 Auffallend ist nun, dass Eustathius als erstes homerisches Beispiel gerade einen Fall von Epitheta häufung bringt, wenn er nämlich Il. 3, 182 μοιρηγενὲς ὀλβιόδαιμον („zum Glück Geborener! Gesegneter du vom Daimon! “ ÜS Schadewaldt ) zitiert. Die beiden hier in der Apostrophe gebrauchten Epitheta sind gleichwertig auf die Anrede ὦ μάκαρ Ἀτρείδη in der ersten Vershälfte zu be- Ulixen dicit; nisi forte quasi pius etiam hostis miseretur, cum similes errores et ipse patiatur. et notandum conclusam de Achaemenide mentionem. ) und schol. Veron. ad Aen. 3, 691 = 108, 1-3 Baschera (comes infelicis Ulixi] Cornutus: nam indecore hoc dicitur, quum sit Ulixes hostis Aeneae. Asp.: non indecore, sed [poe]tic[e], | magnifice, quoniam eadem erroribus et periculis patiebatur Aeneas) mit Georgii (1891), S. 184 („Homer nennt den Odysseus durch den Mund Athenes α 55 oder des Hermes κ 281 oder von sich aus δύστηνος ε 436; Vergil lässt Achämenides und Äneas das entsprechende infelix gebrauchen: das ist ein Unterschied.“), sowie Serv. ad Aen. 11, 213 = II 500, 22 Thilo-Hagen (praedivitis] more Graeco epitheton incongruum loco posuit). 766 Serv. ad Aen. 3, 70 = I 350, 24-25 Thilo-Hagen. - Zu diesen beiden Stellen lassen sich noch folgende explizite Kommentare rechnen: Serv. ad Aen. 6, 283 = II 49, 16-17 Thilo-Hagen (distinguenda sunt ista propter duo epitheta); Serv. ad Aen. 6, 552 = II 78, 12-13 Thilo-Hagen (distinctione excludendum est vitium de duobus epithetis); DServ. ad Aen. 8, 406 = II 2612-3 Thilo-Hagen ( ne duo epitheta videantur ); Serv. ad Aen. 10, 44 = II 389, 20-22 Thilo-Hagen (hic distinguendum, ne incipiant esse duo epitheta ‘dura fumantia excidia’: quod contra artem fit, nulla interposita coniunctione …); Serv. ad georg. 4, 19 = III.1 322, 9-10 Thilo-Hagen (suspendenum ‘tenuis’, ne incipiant esse duo epitheta; quod apud Latinos constat esse vitiosum); Serv. ad georg. 4, 369 = III.1 348, 5-7 Thilo-Hagen (et ‘saxosum’ legendum, non ‘saxosus’, ne sint duo epitheta: quod apud Latinos vitiosum est); Serv. ad georg. 4, 424 = III.1 352, 22 Thilo-Hagen (hic distinguendum propter duo epitheta). 767 Vgl. den oben zitierten Hinweis auf Cornutus in schol. Veron. ad Aen. 3, 691 = 108, 1-3 Baschera. <?page no="278"?> 278 5. Macrobius, Saturnalia ziehen und bilden damit ein Musterbeispiel für das bei Servius im Falle der lateinischen Epiker gerügte Phänomen. Die Auswahl, die Eustathius unter den vergilischen Epitheta zum Beleg der von ihm behaupteten Homernachahmung trifft, legt noch einen weiteren Gedanken nahe. In keinem der zitierten Homerbeispiele überschreitet das Epitheton den vom Bezugswort vorgegebenen Bildbereich. 768 Anders bei Vergil: Hier ist - zumindest in drei von vier Fällen: Aen. 6, 276 ( malesuada fames ); Aen. 6, 141 ( auricomi rami ) 769 ; Aen. 8, 255 ( fumiferam noctem ) 770 - eine Vermischung verschiedener semantischer Felder festzustellen. 771 Es liegt nahe, diese Beobachtung mit dem zitierten Postulat Quintilians zusammenzubringen, dass sich der Schmuck der Rede durch den Sprung in einen entlegenen Bildbereich erhöht. 772 Wenn Eustathius also gerade diese Beispiele wählt, so erscheint der Anteil der Epitheta mit Wechsel im Bildbereich bei Vergil überproportional hoch. 773 Wie sind diese beiden Beobachtungen zu deuten? Macrobius - bzw. sein Sprecher Eustathius - scheint durch die Auswahl seiner Beispielverse den Hörer bzw. Leser zur Wahrnehmung der Unterschiede anleiten zu wollen, indem er seine Zitate entsprechend den in der Rhetorik vorliegenden - und in der Vergilkommentierung z. T. aufgegriffenen - Regeln zusammenstellt. Die pauschale Behauptung ästhetischer Äquivalenz wird daher bei näherer Betrachtung durch ein differenzierteres Urteil abgelöst, das die Epithetahäufung als eine Besonderheit des homerischen, den Wechsel der Bildebene hingegen als ornatives Spezifikum des vergilischen Stils aufdeckt. Dies alles wird nur andeutungsweise vermittelt: Eustathius beschränkt sich darauf, das für die Erkenntnis der Unterschiede notwendige Beispielmaterial zur Verfügung zu stellen und überlässt dem Leser die differenzierende Beurteilung. 768 Vgl. Il. 3, 182: μοιρηγενὲς ὀλβιόδαιμον („zum Glück Geborener! Gesegneter du vom Daimon! “ ÜS Schadewaldt ); Il. 4, 448 = Il. 8, 62: χαλκεοθωρήκων· ἀτὰρ ἀσπίδες ὀμφαλόεσσαι („der erzgepanzerten, und die gebuckelten Schilde“ ÜS Schadewaldt ); Il. 13, 342: θωρήκων τε νεοσμήκτων („Und Panzern, frisch abgeriebenen“ ÜS Schadewaldt ); Il. 13, 563 = Il. 14, 390: κυανοχαῖτα Ποσειδάων („Der schwarzmähnige Poseidon“ ÜS Schadewaldt ); Il. 5, 631 = Il. 5, 736 = et al.: Διὸς νεφεληγερέταο („des Zeus, des Wolkensammlers“ ÜS Schadewaldt ); Il. 1, 157: οὔρεά τε σκιόεντα θάλασσά τε ἠχήεσσα („Schattige Berge und das Meer, das brausende“ ÜS Schadewaldt ); Il. 13, 589: κύαμοι κυανόχροες („Bohnen …, schwarzschalige“ ÜS Schadewaldt ). 769 Abweichend dazu die Vergilüberlieferung ( auricomos … fetus ). 770 Vgl. dazu DServ. ad Aen. 8, 255 = II 232, 10-11 Thilo-Hagen ( non est noctis epitheton, sed quam Cacus fumum evomens faciebat ). 771 Nur die zitierte Stelle Aen. 6, 287 ( centumgeminus Briareus ) passt hier nicht. 772 Vgl. Quint. inst. 8, 6, 41. 773 Vgl. den Überblick bei Squillante Saccone (1984), pass. <?page no="279"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 279 5.2.2.5 Apostrophen ( Sat. 5, 14, 9 - 10) In Sat. 5, 14, 9-10 wird die Apostrophe als Bereich genannt, in dem sich Vergil an Homer orientiert habe. 774 Eustathius betont, dass sich die Wendung an die zweite Person inter narrandum , also ausgehend vom Erzähler vollzieht. Im Fall des zuerst zitierten Verses trifft das auch zu, weil hier tatsächlich der Erzähler spricht. 775 Die Wahl des zweiten Homerbeispiels überrascht dagegen, weil der Vers der Rede des Antenor ( Il. 3, 204-224) entnommen ist. 776 Auf ihn passt die Bestimmung inter narrandum nicht. Die vier Vergilbeispiele sind wiederum allesamt vom Erzähler gesprochen. 777 Liegt hier Unachtsamkeit oder Absicht vor, und mit welchem Recht zitiert Eustathius Il. 3, 220? Alternative Bedeutungen dieses Verses wurden bereits von den frühen Homerphilologen diskutiert: Ein Scholion des Aristonikos zu Il. 3, 220 benennt die verallgemeinernde Apostrophe an die zweite Person als homerische Stileigentümlichkeit . Antenor spricht demnach an dieser Stelle - ähnlich wie in dem anderen bei Macrobius genannten Homerbeispiel - nicht Helena an: φαίης κεν] ὅτι τὸ φαίης τὴν φαντασίαν ἔχει ὡς πρὸς τὴν Ἑλένην λεγόμενον. κατὰ μέντοι γε Ὁμηρικὴν συνήθειαν ἐκληπτέον ἐν ἴσῳ τῷ ἔφη τις ἄν, ὡς ἔχει τὸ < Il. 4, 223> ‘ἔνθ’ οὐκ ἂν βρίζοντα ἴδοις’ ἀντὶ τοῦ ἴδοι τις ἄν. (schol. A ad Il. 3, 220 a = I 400, 65-68 Erbse) („Du hättest sagen mögen] Das ‘du hättest sagen mögen’ bewirkt die Vorstellung, als wäre es zu Helena gesagt. Man muss es aber entsprechend den Besonderheiten des homerischen Sprachgebrauchs so wie ‘es hätte einer sagen mögen’ auffassen, so wie auch ‘Da hättest du nicht schläfrig gesehen’ anstelle von ‘Da hätte einer nicht schläfrig gesehen’ steht.“) Entsprechend kann Il. 3, 220 dann auch geradezu als Beispiel für eine verallgemeinernde Apostrophe zitiert bzw. mit Il. 4, 223 in diesem Sinne zusammengefasst werden. 778 Übrigens zeigen die Kommentare bei Servius zu zwei von 774 Vgl. allgemein zur Apostrophe in der rhetorischen Theorie Lausberg (1990), §§ 762-765 = S. 377-379 und Halsall (1992), pass. - Die grundlegende Studie zur Apostrophe bei Homer und den jüngeren, insbes. lateinischen Epikern liegt mit Zyroff (1971) vor (S. 4-9: Überblick über die ältere Literatur; S. 9-14: antike Definitionen); vgl. auch jüngst Klooster (2013), pass. Das Material aus den Homerscholien ist gesammelt bei Erbse VII 189 (Index V s. v. Apostrophe ). 775 Vgl. Il. 4, 223 (Ἔνθ’οὐκ ἂν βρίζοντα ἴδοις Ἀγαμέμνονα δῖον [„Da hättest du nicht schläfrig gesehen den göttlichen Agamemnon“ ÜS Schadewaldt ]). 776 Vgl. Il. 3, 220 (φαίης κε ζάκοτόν τέ τιν’ ἔμμεναι ἄφρονά τ’ αὔτως [„Du hättest sagen mögen, dass er stumpf sei und ganz unverständig“ ÜS Schadewaldt ]). 777 Vgl. Aen. 4, 401 ( migrantes cernas totaque ex urbe ruentes ); Aen. 8, 676-677 ( totumque instructo Marte videres | fervere Leucaten ); Aen. 8, 691-692 ( pelago credas innare revulsas | Cycladas ) und georg. 1, 387 ( studio incassum videas gestire lavandi ). 778 Vgl. schol. MTB ad Eur. Or. 314 = I 129, 21-22 Schwartz (δοξάζῃς] ἀντὶ τοῦ δοξάζῃ τις, ὡς τὸ < Il. 3, 220> ‘φαίης κε ζάκοτόν τ<έ τιν’> ἔμμεναι’) und schol. MTAB ad Eur. Or. 128 = I <?page no="280"?> 280 5. Macrobius, Saturnalia Eustathius vorgebrachten Vergilstellen, Aen. 4, 401 und Aen. 8, 691, dass die Vergilkommentatoren den verallgemeinernden Charakter der Apostrophe ganz im Sinne der Homerphilologen erklärt haben. 779 Legt Eustathius also nun einen engen Begriff der Apostrophe zugrunde, wie man unter Berufung auf das eben zitierte Aristonikosscholion annehmen könnte? Immerhin ist zu beachten, dass die antike Homerphilologie ein differenzierteres Bild vom Stilphänomen „Apostrophe“ hatte, wie ein Blick in den einschlägigen Passus der Schrift De Homero zeigt. Ps.-Plutarch behandelt die Apostrophe unter den Figuren, die durch eine Abweichung von der grammatischen Norm (ἀλλοίωσις) entstehen. 780 Unter anderem kann diese Abweichung die Person betreffen, wobei Ps.-Plutarch zwei Fälle unterscheidet: Einmal - wie in Il. 5, 877-878 aus der Rede des Ares vor Zeus der Fall - sind Stellen zusammen- 110, 18-19 Schwartz (εἴδετε παρ’ ἄκρας] τὸ εἴδετε ἀντὶ τοῦ ἴδοι τις ἂν, ὡς τὸ < Il. 3, 220> ‘φαίης κε ζάκοτον’ καὶ < Il. 4, 223> ‘ἔνθ’ οὐκ ἂν βρίζοντα ἴδοις’ …). - Häufiger als Il. 3, 220 wird freilich der reguläre Fall Il. 4, 223 zitiert; vgl. schol. L ad Soph. Trach. 597 = 155 Xenis (πράσσῃς] ἀντὶ τοῦ πράσσῃ τις, ὡς τὸ < Il. 4, 223> ‘ἔνθ’ οὐκ ἂν βρίζοντα ἴδοις’); schol. RE Γ ad Aristoph. Ach. 24 a = 11 Wilson (ὠστιοῦνται] διωθήσονται. ἀπὸ ἐνεστῶτος τοῦ ὠστίζω. ὁ δὲ λόγος ὡς πρός τινά ἐστι λεγόμενος, ὡς καὶ Ὅμηρος· < Il. 15, 697> ‘φαίης κ’ ἀκμῆτας καὶ ἀτειρέας’, καὶ < Il. 4, 223> ‘ἔνθ’ οὐκ ἂν βρίζοντα ἴδοις’.) und schol. M Δ KA ad Arat. 733 = 370, 1-8 Martin (οὐχ ὁράᾳς; ὀλίγη μέν] ἡ δοκοῦσα εἶναι πρός τινα τοῦ λόγου ἀπότασις ἐπλαγίασε πρὸς τὸ [οὐχ ὁρᾴς] ἐνθεῖναι τὸ εἰς Ἀγκλείδην προοίμιον ἀναφερόμενον. ἀλλ’ ἠγνόησαν ὅτι ποιητικόν ἐστιν ἔθος, ὡς καὶ Ὅμηρος· < Il. 4, 223> ‘ἔνθ’ οὐκ ἂν βρίζοντα ἴδοις’ καὶ < Il. 16, 20> ‘Πατρόκλεις ἱππεῦ’ καὶ < Il. 4, 127> ‘οὐδὲ σέθεν, Μενέλαε’. καὶ διὰ τούτων ἦθος ἐγγίνεται τοῖς ὑποκειμένοις.). - Auch die regelmäßig mit der Apostrophe verbundene pathetische Wirkung (vgl. e. g. Quint. inst. 9, 2, 38 aversus quoque a iudice sermo, qui dicitur ἀποστροφή , mire movet … ) wird der Figur im Zusammenhang mit Il. 3, 220 an einer Stelle zugesprochen; vgl. schol. b ( BCE 3 E 4 ) T ad Il. 5, 85 b = II 17, 62-65 Erbse (Τυδεΐδην δ’ οὐκ ἂν γνοίης] ἡδὺ τὸ τῆς ἀποστροφῆς ὡς πρὸς πρόσωπον· < Il. 3, 220> ‘φαίης †κεν† ζάκοτόν τέ τιν’ ἔμμεναι’. ἡ δὲ τῆς ἑρμηνείας θερμότης τὸν βεβακχευμένον Διομήδεα δείκνυσιν [„Den Tydeus-Sohn aber hättest du nicht erkannt] eine angenehme Wirkung hat die Wendung so wie zu einer Person: ‘Du hättest sagen mögen, dass er stumpf sei…’ Die Leidenschaftlichkeit der Erfindung zeigt die Bewegung des Diomedes.“]). 779 Vgl. Serv. ad Aen. 4, 401 = I 535, 22-23 Thilo-Hagen (cernas] honesta figura si rem tertiae personae in secundam referas, hoc est ‘si quis cernat’); (D)Serv. ad Aen. 4, 490 = I 554, 8-9 Thilo-Hagen (mugire videbis] id est videbit quis, ut < Aen. 4, 401> ‘migrantes cernas’) und DServ. ad Aen. 8, 691 = II 301, 22 Thilo-Hagen ( credas ] pro ‘credat quis’ ). - Auch in Donats Terenzkommentar wird Aen. 4, 401 als Beispielvers zitiert; vgl. Don. ad Ter. Andr. 1, 1, 39 ~ 66 = I 62, 7-8 Wessner (invenias] secunda persona pro tertia, ut < Aen. 4, 401> ‘migrantis cernas’); Don. ad Ter. Andr. 3, 1, 2 ~ 460 = I 157, 17-158, 2 Wessner (invenias virum] secundam pro tertia persona posuit, pro inveniat quis vel invenire quis possit, ut Vergilius < Aen. 4, 401> ‘migrantis cernas totaque ex urbe ruentis’) und Don. ad Ter. Eun. 2, 3, 84 ~ 375 = I 352, 4-5 Wessner (probes] ut < Aen. 4, 401> ‘migrantis cernas’). 780 Vgl. Ps.-Plut. de Hom. B 41-64 = 446-676 Kindstrand und zur Einteilung Hillgruber (1994), S. 142 f. und 154 f. - Zu dem im Folgenden zu behandelnden Passus Ps.-Plut. de Hom. B 57, 2-5 = 619-639 Kindstrand ist heranzuziehen Hillgruber (1994), S. 172-174. <?page no="281"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 281 gefasst, in denen sich ein Sprecher in einer Aussage, die er in dritter Person tut, miteinbezogen wissen will, zum anderen kann die direkte Wendung an eine angesprochene Person gemeint sein, was Ps.-Plutarch mit dem engeren Begriff der ἀποστροφή bezeichnet. 781 Wieder sind mehrere Fälle zu unterscheiden, nämlich die Apostrophe des Erzählers an eine seiner Figuren in der Erzählung (ἐν αὐτῷ δὲ τῷ διηγηματικῷ) 782 , die Apostrophe in der Figurenrede (ἐν τῷ μιμητικῷ) 783 , und die Apostrophe des Erzählers an den Hörer bzw. Leser 784 . Die Wirkung der Apostrophe besteht für Ps.-Plutarch - wie bereits für Quintilian vermerkt (s. o.) - in einer Steigerung des Pathos. 785 Mit Ps.-Plutarch könnte man also in Il. 3, 220 durchaus eine Wendung Antenors an Helena sehen und die Stelle mit Il. 4, 223 als Apostrophen - aber unterschiedlichen Typs - zusammenfassen. Die Ausführungen des Eustathius sind zu knapp, um weitere Folgerungen über den Begriff der Apostrophe bei Macrobius zu ziehen. Immerhin ist auffällig, dass er - statt wie im Falle Vergils nur eindeutig verallgemeinernde Wendungen an die zweite Person - für Homer zumindest ein Beispiel ( Il. 3, 220) zitiert, das wohl schon von den hellenistischen Homerphilologen als mehrdeutig empfunden wurde. Aus der lehrbuchartig entwickelten Systematik verschiedener Untergattungen bei Ps.-Plutarch wird deutlich, dass man sich der Unterschiede sehr wohl bewusst war. Die Wahl der Vergilbeispiele bei Macrobius ist jedoch sehr beschränkt; Eustathius hätte viele weitere Typen der Apostrophe bei Vergil zitieren können: Wendungen des Erzählers bzw. einzelner Figuren an Götter 786 , an mythologische 787 und historische 788 Figuren, und zwar im Zusammenhang mit Listen und Katalogen 789 bzw. unter Verweis auf ihren durch die Dichtung verbürgten Nachruhm 790 , sowie solche an Sachen 791 . Stattdessen greift er nur 781 Vgl. Ps.-Plut. de Hom. B 57, 2 = 619-620 Kindstrand (καθ’ ἕτερον δὲ τρόπον, ὅταν τὸ νῦν ἐάσας ἀφ’ ἑτέρου ἐφ’ ἕτερον πρόσωπον μεταβῇ, ὅπερ ἰδίως ἀποστροφὴ καλεῖται [„Auf eine weitere Art <geschieht dies>, wenn er die aktuelle Person beiseite lässt und zu einer anderen Person übergeht, was eigentlich Apostrophe genannt wird.“]). 782 Vgl. Ps.-Plut. de Hom. B 57, 3 = 626-628 Kindstrand. 783 Vgl. Ps.-Plut. de Hom. B 57, 4 = 629-634 Kindstrand. 784 Vgl. Ps.-Plut. de Hom. B 57, 5 = 635-639 Kindstrand. 785 Vgl. Ps.-Plut. de Hom. B 57, 2 = 620-621 Kindstrand (… τῷ δὲ παθητικῷ κινεῖ καὶ ἄγει τὸν ἀκροώμενον … [… weil es sehr leidenschaftlich ist, bewegt es den Hörer sehr …]) mit Ps.-Longin. 27, 1 und den bei Hillgruber (1994), S. 172 angeführten Stellen. 786 Nämlich an die Musen, Apollo, allgemein an die Götter, an Jupiter, Juno, Bacchus, Mars, Saturnus und Proserpina; vgl. die Stellen bei Zyroff (1971), S. 59-70, S. 79-83, S. 88-89, S. 102-103, S. 104-105, S. 109-111 und S. 116-118. 787 Vgl. Zyroff (1971), S. 174-175. 788 Vgl. Zyroff (1971), S. 199-200. 789 Vgl. Zyroff (1971), S. 252-265. 790 Vgl. Zyroff (1971), S. 276-282. 791 Diese Apostrophen richten sich an Orte, Flüsse und abstrakte Ideen wie die Liebe oder das geistige Vermögen der Menschen; vgl. Zyroff (1971), S. 318-320; S. 343-348; S. 368-369; <?page no="282"?> 282 5. Macrobius, Saturnalia die - bei Vergil quantitativ unterrepräsentierte - Teilgruppe der verallgemeinernden Apostrophe an die zweite Person heraus, indem er die entsprechenden Stellen beinahe vollständig verzeichnet. 792 Die Wahl der verallgemeinernden Apostrophen an die zweite Person dürfte also gezielt getroffen sein und der Grund wird darin liegen, dass man gerade in ihnen eine Eigentümlichkeit des homerischen Stils erkannte. Das geht aus dem zitierten Aristonikosscholion hervor, das die einfachere Lesart von Il. 3, 220 (Anrede an eine Figur des Epos) zugunsten einer in der Figurenrede ferner liegenden Auffassung (nämlich eben als verallgemeinernde Apostrophe) mit Verweis auf die Ὁμηρικὴ συνήθεια verwarf. Indem er gerade diese problematische Stelle unter Voranstellung des Hinweises inter narrandum zitiert - und sich damit der Interpretation des Aristonikos anschließt -, rückt Eustathius eine nach Ansicht der antiken Philologen besonders für Homer charakteristische Subkategorie der Apostrophe ins Zentrum: Die Apostrophe ist also nicht nur eine allgemeine Stileigentümlichkeit bei beiden Dichtern, sondern Vergil greift auf einen bestimmten - nämlich einen speziell „homerischen“ - Typus dieser Stilfigur zurück. 5.2.2.6 Erzähltechnik ( Sat. 5, 14, 11 - 16 und Sat. 5, 17, 1 - 4) Die beiden Abschnitte Sat. 5, 14, 11-16 und Sat. 5, 17, 1-4 befassen sich mit dem Thema der Erzähltechnik, wobei zunächst Vergils Orientierung an Homer im Bereich der narrativen Rückwendung (Analepse) positiv vermerkt wird, an der zweiten Stelle hingegen - im kontrastiven Abgleich mit Homer - Kritik an Vergil geübt wird. - Eustathius leitet seine Ausführungen zur Analepse in Sat. 5, 14, 11-16 mit einer allgemeinen Stellungnahme zum Unterschied zwischen historischem und dichterischem bzw. epischem Stil ein. 793 Homer hätte demnach sowohl näher als auch weiter zurückliegende Ereignisse der Erzählvergangenheit ( res vel paulo vel multo ante transactas ) in den Gang seiner Erzählung eingefügt. Dahinter erkennt Eustathius eine doppelte Absicht: Einerseits vermeide es Homer, in die „historische Erzählweise“ (vgl. historicum stilum ) zu verfallen, indem er von der natürlichen Ordnung des erzählten Geschehens abweicht ( non per ordinem digerendo quae gesta sunt ) - Homer etabliere also S. 372-373. 792 Gesammelt bei Zyroff (1971), S. 396-400 („… Vergil ist extremely sparing in his use of this category of apostrophe …“); von den Bsp. aus der Aeneis fehlt bei Macrobius nur Aen. 8, 650. - Auch bei Homer finden sich derartige Anreden an den Hörer nur relativ selten; vgl. neben den bei Macrobius zitierten Bsp. Il. 5, 85; 15, 697 und 17, 366. 793 Vgl. zuvor schon einleitend Sat. 5, 2, 8-11 (9: … Ille enim vitans in poemate historicorum similitudinem, quibus lex est incipere ab initio rerum et continuam narrationem ad finem usque perducere, ipse poetica disciplina rerum medio coepit et ad initium post reversus est ). <?page no="283"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 283 einen für das Epos besonderen Präsentationsmodus. Andererseits erreiche er es auf diese Weise aber auch, dass der Leser wichtige Informationen über die Vorgeschichte des berichteten Geschehens erhält ( ut … nec tamen praeteritorum nobis notitiam subtrahat ). 794 Wenn es Eustathius auch in diesem Abschnitt darum geht, Vergil über den Vergleich mit Homer eine besondere Qualität zuzusprechen, dann ist wieder zu prüfen, ob es sich bei dem angesprochenen Stilphänomen tatsächlich um ein typisches Merkmal homerischer Dichtung handelt, das in der Rezeption der homerischen Gedichte auch als solches definiert und positiv bewertet wurde. Dabei ist die Frage zu stellen, welche ästhetischen Konzepte bei einer solchen Bewertung im Hintergrund stehen, was mit dem angesprochenen stilus historicus genau gemeint ist und welche Stellung Homer in der ästhetischen Diskussion über die erzählerischen Rückblenden einnimmt. Das von Eustathius angesprochene Phänomen lässt sich in der Terminologie der modernen Erzähltheorie mit dem Begriff der Analepse bzw. Retrospektion umschreiben. 795 Der Erzähler nimmt beim zeitlichen Arrangement seiner Geschichte zur Erzählung eine Umstellung vor, indem er - oder eine seiner Figuren - auf vorher Geschehenes zurückgreift. 796 Aus den Beispielen, die Eustathius aus Homer und Vergil zitiert, lässt sich entnehmen, dass er insbesondere solche Fälle im Sinn hat, die über den zeitlichen Rahmen der Geschichte hinausgreifen, also - in der Terminologie Genettes - externe Analepsen . 797 Von internen Analepsen , die den Rahmen der Geschichte nicht überschreiten - wie etwa beim Bericht des Achilles vor Thetis über den vom Erzähler kurz 794 Sat. 5, 14, 11. 795 Eine neuere Gesamtdarstellung zu den Anwendungsgebieten narratologischer Konzepte im Bereich der klassischen Philologie bietet de Jong (2014), pass. ; zur Analepse vgl. insbes. S. 78. Zu den Prolepsen in der Ilias vgl. de Jong (1987), S. 81-90 (interne Analepsen und Prolepsen) und S. 160-168 (externe Analepsen). Literaturhinweise zur früheren Forschung über die zeitliche Struktur der homerischen Epen gibt de Jong (2004), S. 81 und - speziell zu den externen Analepsen - S. 160. Unter dem Aspekt der Entstehungsgeschichte der homerischen Epen untersucht Reichel (1994), pass. auch die internen Analepsen in der Ilias , vgl. die Definition des Untersuchungsgegenstandes bei Reichel (1994), S. 1: „Die Fernbeziehung wird dabei verstanden als eine Bezugnahme von einer Stelle des Textes auf eine andere, durch deutlichen Abstand von ihr getrennte Stelle oder Partie mit dem Zweck, kompositionelle Zusammenhänge im Handlungsgefüge sichtbar zu machen.“ - Die ästhetischen Vorstellungen der antiken Homerphilologen über Handlungsstruktur und zeitliche Organisation der Erzählung behandeln - z. T. mit Verbindungen zu den modernen narratologischen Konzepten - Meijering (1987), S. 134-148 und Nünlist (2009), S. 23-93 ( Lit. : S. 24 Anm. 7); vgl. auch Cardauns (1985), pass. und - insbes. zu den Bemerkungen über οἰκονομία in den Tragikerscholien - Grisolia (2001), S. 9-14. Vgl. zu diesem Thema auch → Kap. 3.2.1-2 mit Cyron (2009), S. 84-117. 796 Genette (1998), S. 32-45. 797 Genette (1998), S. 32-33. <?page no="284"?> 284 5. Macrobius, Saturnalia zuvor geschilderten Streit mit Agamemnon in Il. 1, 370-392 798 der Fall - sieht er also wohl ab, wenn er von res vel paulo vel multo ante transactas spricht. Wie wird die Technik der chronologischen Rückschau nun von den antiken Homerphilologen gewürdigt, und wurde darin eine besondere Qualität der Dichtung Homers erkannt? Der systematische Ort der Analepse in den rhetorischen bzw. literaturkritischen Lehrschriften ist, wie bereits zu Seneca d. Ä. ausgeführt, mit dem Konzept der τάξις (= lat. ordo ) bzw. οἰκονομία (= lat. oeconomia ) benannt. 799 Die unter dem Namen Plutarchs überlieferte Homermonographie enthält einen Passus über Homers Erzähltechnik, der sich in einigen Zügen mit den Ausführungen des Eustathius bei Macrobius deckt. Ps.-Plutarch ordnet seine Ausführungen über Homers Fähigkeit zur geschickten οἰκονομία des Stoffes in die Abhandlung über denjenigen Teilbereich der Erzählgegenstände ein, den er mit πολιτικὸς λόγος bezeichnet. 800 Als ein erstes Element dieses πολιτικὸς λόγος nennt er die erwähnte Fähigkeit zur Stofforganisation: Καὶ πρῶτόν ἐστι τῆς τέχνης ἡ οἰκονομία, ἣν δι’ ὅλης τῆς ποιήσεως παρίστησι, καὶ μάλιστα ἐν ταῖς ἀρχαῖς τῶν πραγμάτων. οὐ γὰρ πόρρωθεν ἐμβαλὼν τὴν ἀρχὴν τῆς Ἰλιάδος ἐποιήσατο, ἀλλὰ καὶ καθ’ ὃν χρόνον αἱ πράξεις ἐνεργότεραι καὶ ἀκμαιότεραι κατέστησαν. τὰ δὲ τούτων ἀργότερα, ὅσα ἐν τῷ παρελθόντι χρόνῳ ἐγένοντο, συντόμως ἐν ἄλλοις τόποις παραδιηγήσατο. τὸ δὲ αὐτὸ καὶ ἐν τῇ Ὀδυσσείᾳ πεποίηκεν, ἀρξάμενος μὲν ἀπὸ τῶν τελευταίων τῆς πλάνης τοῦ Ὀδυσσέως χρόνων, ἐν οἷς καιρὸς ἦν ἤδη καὶ τὸν Τηλέμαχον εἰσάγειν καὶ τὴν τῶν μνηστήρων ὕβριν ἐμφανίζειν. τὰ δὲ πρὸ τούτων, ὅσα τῷ Ὀδυσσεῖ ἀλωμένῳ συνέπεσεν, αὐτὸν παράγει διηγούμενον, ἃ καὶ δεινότερα καὶ πιθανώτερα ἔμελλε φαίνεσθαι ὑπὸ αὐτοῦ τοῦ παθόντος λεγόμενα. (Ps.-Plut. de Hom. B 162 = 1994-2004 Kindstrand) („Und der erste Bereich seiner Fertigkeit ist die Anordnung [οἰκονομία], die er in seiner ganzen Dichtung unter Beweis stellt, und insbesondere an den Anfängen der jeweiligen Handlung. Er dichtete nämlich nicht so, dass er die Ilias an einem weit 798 Vgl. de Jong (1987), S. 87 und 89 sowie de Jong (2014), S. 80. 799 Die Trennung der beiden Begriffe τάξις und οἰκονομία wurde wohl von Theodoros von Gadara, dem Lehrer des nachmaligen Kaisers Tiberius, durchgeführt; vgl. Czapla (2005), Sp. 1415 f. („ taxis …, d. h. Ordnung nach den üblichen Redeteilen, und oikonomia , d. h. dem rhetorischen Nutzen des Einzelfalls folgende Ordnung“). Für die antike Literaturkritik lässt sich diese Scheidung nicht konsequent durchführen; vgl. den Sprachgebrauch bei DServ. ad Aen. 1, 571 = I 173, 9 Thilo-Hagen ( non sine ordine ) und Serv. ad Aen. 12, 266 = II 602, 21-22 Thilo-Hagen (ab Homeri oeconomia recessit) mit Georgii (1891), S. 562 und Nünlist (2009), S. 24. 800 Vgl. die Gliederung in Ps.-Plut. de Hom. B 74, 1 = 762-764 Kindstrand (Ἐπεὶ δὲ παντὸς τοῦ ἀσκουμένου παρὰ ἀνθρώποις λόγου ὁ μέν τίς ἐστιν ἱστορικός, ὁ δὲ θεωρητικός, ὁ δὲ πολιτικός, φέρε θεασώμεθα εἰ καὶ τούτων εἰσὶν αἱ ἀρχαὶ παρ’ αὐτῷ) mit Hillgruber (1999), S. 191. <?page no="285"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 285 entfernten Zeitpunkt beginnen ließ, sondern er begann mit dem Zeitpunkt, an dem die Handlung am intensivsten und an ihrem Höhepunkt war. Was im Vergleich dazu weniger interessant war, in der Zeit vorher geschehen, hat er knapp an anderen Stellen zusammengefasst. So ist er auch in der Odyssee verfahren, indem er mit den letzten Abschnitten der Irrfahrt des Odysseus begann, wo er schon passenderweise Telemachos einführen und den Hochmut der Freier zeigen konnte, was hingegen zuvor geschehen war, die Erlebnisse des Odysseus bei seiner Irrfahrt, ließ er diesen selbst berichten, was auch eindrucksvoller und überzeugender erscheint, weil es von dem, der es erlebt hat, erzählt wird.“) Die Bewertung der homerischen οἰκονομία nimmt ihren Ausgangspunkt von der Wahl des Erzählbeginns in Ilias und Odyssee und der damit jeweils verbundenen zeitlichen Beschränkung der Haupthandlung. 801 Durch sie ist die rückblickende Zusammenfassung der zum Verständnis notwendigen Informationen in Form kleinerer oder umfangreicherer Analepsen bedingt. - Von diesem Zusammenhang zwischen Erzählbeginn bzw. Handlungswahl und Erzähltechnik geht auch der Autor des folgenden Scholions zum ersten Vers der Ilias aus: ζητεῖται, διὰ τί ἀπὸ τῶν τελευταίων ἤρξατο καὶ μὴ ἀπὸ τῶν πρώτων ὁ ποιητής. … λέγουσι δὲ καὶ ἀρετὴν εἶναι ποιητικὴν τὸ τῶν τελευταίων ἐπιλαμβάνεσθαι καὶ περὶ τῶν λοιπῶν ἀνέκαθεν διηγεῖσθαι. (schol. bT ad Il. 1, 1 = I 4, 19-26 Erbse) („Man fragt, warum Homer mit den letzten Dingen begonnen hat und nicht mit den ersten. … Man sagt, dass es ein dichterischer Vorzug sei, das Spätere in Angriff zu nehmen und von dem Übrigen von früher her zu erzählen.“) Wie hängen die beiden Komponenten aber zusammen? Ihre grundlegende Behandlung hat die Frage nach der besonderen Form der homerischen Handlungsgestaltung und den daraus abzuleitenden erzähltechnischen Konsequenzen in der Poetik des Aristoteles erfahren. 802 Indem sich Homer auf die μῆνις Ἀχιλλέως als μῦθος für die Ilias konzentrierte, habe er nach Aristoteles zwei Fehler vermieden: Übergröße (λίαν … μέγας) bzw. Unübersichtlichkeit (οὐκ εὐσύνοπτος) des μῦθος im Falle einer - sonst ja erforderlichen - Vergrößerung des Umfangs, oder eine allzu komplizierte Handlungsstruktur (καταπεπλεγμένον τῇ ποικιλίᾳ) unter Beibehaltung des jetzt vorliegenden Umfangs. Anders als die kyklischen Dichter sei Homer beiden Extremen entgangen, indem er die fehlenden Handlungsteile in eingeschalteten Episoden behandelte und so, wie an anderer Stelle ausgeführt, seiner Dichtung Würde (ὄγκος) verlieh. 803 Diese Erklärung steht 801 Im Fall der Ilias sind das 51, in der Odyssee 40 Tage. 802 Vgl. Arist. poet. 23 = 1459 a 17-1459 b 7. 803 Vgl. Arist. poet. 23 = 1459 a 35-37 (νῦν δ’ ἓν μέρος ἀπολαβὼν ἐπεισοδίοις κέχρηται αὐτῶν πολλοῖς, οἷον νεῶν καταλόγῳ καὶ ἄλλοις ἐπεισοδίοις [δὶς] διαλαμβάνει τὴν ποίησιν [„Er <?page no="286"?> 286 5. Macrobius, Saturnalia unmittelbar nach den Ausführungen über die Einheit der Handlung in poet. 23 = 1459 a 17-30, woraus sich der argumentative Kontext der Einschätzung ergibt: Die Haupthandlung des Epos soll eine geschlossene Einheit darstellen, von der - ähnlich wie bei einem Lebewesen 804 - kein Teil weggenommen werden kann, ohne das organische Ganze zu zerstören. Zum Verständnis notwendige Informationen über die Vorgeschichte werden exkursbzw. episodenhaft eingeblendet und gehören nicht eigentlich zur Handlung im aristotelischen Sinne. 805 Mit welchem Recht nimmt Eustathius nun für den Erzählstil, der ohne zeitliche Umstellungen in der Handlung auskommt, den Begriff stilus historicus in Anspruch? Offenkundig soll mit der Verwendung dieses Adjektivs ein Gegensatz zwischen epischen Texten wie denen von Homer oder Vergil und historischen Texten hinsichtlich ihrer Handlungsstruktur ausgedrückt werden. Dem widerspricht nun allerdings die antike historiographische Praxis zumindest in Teilen, worauf etwa ein Abschnitt aus Theons Progymnasmata hindeutet. Theon stellt im Gegensatz zu Eustathius bei Macrobius keinen prinzipiellen Unterschied im Handlungsaufbau zwischen den Epikern wie Homer und Geschichtsschreibern wie Thukydides und Herodot fest, sondern betont stattdessen die Parallelen: τὴν δὲ ἀναστροφὴν τῆς τάξεως <πενταχῶς> 806 ποιησόμεθα· καὶ γὰρ ἀπὸ τῶν μέσων ἐστὶν ἀρξάμενον ἐπὶ τὴν ἀρχὴν ἀναδραμεῖν, εἶτα ἐπὶ τὰ τελευταῖα καταντῆσαι, ὅπερ ἐν Ὀδυσσείᾳ Ὅμηρος πεποίηκεν· ἤρξατο μὲν γὰρ ἀπὸ τῶν χρόνων, καθ’ οὓς Ὀδυσσεὺς ἦν παρὰ Καλυψοῖ, εἶτα ἀνέδραμεν ἐπὶ τὴν ἀρχὴν μετά τινος οἰκονομίας γλαφυρᾶς· ἐποίει γὰρ τὸν Ὀδυσσέα τοῖς Φαίαξι τὰ καθ’ ἑαυτὸν διηγούμενον, εἶτα συνάψας τὴν λοιπὴν διήγησιν ἔληξεν εἰς τὰ τελευταῖα, μέχρι τοὺς μνηστῆρας ἀπέκτεινεν Ὀδυσσεύς, καὶ πρὸς τοὺς γονέας αὐτῶν φιλίαν ἐποιήσατο. καὶ Θουκυδίδης δὲ ἀπὸ τῶν περὶ Ἐπίδαμνον hat sich daher einen einzigen Teil vorgenommen und die anderen Ereignisse in zahlreichen Episoden behandelt, wie im Schiffskatalog und in den übrigen Episoden, durch die er seine Dichtung auseinanderzieht.“ ÜS Fuhrmann ]) und poet. 24 = 1459 b 26-28 (ἐν δὲ τῇ ἐποποιίᾳ διὰ τὸ διήγησιν εἶναι ἔστι πολλὰ μέρη ἅμα ποιεῖν περαινόμενα, ὑφ’ ὧν οἰκείων ὄντων αὔξεται ὁ τοῦ ποιήματος ὄγκος [„Im Epos hingegen, das ja Erzählung ist, kann man sehr wohl mehrere Handlungsabschnitte bringen, die sich gleichzeitig vollziehen; diese Abschnitte steigern, wenn sie mit der Haupthandlung zusammenhängen, die Feierlichkeit des Gedichts.“ ÜS Fuhrmann ]). 804 Vgl. Arist. poet. 23 = 1459 a 20 (ὥσπερ ζῷον). 805 Als Horaz seine Ars poetica verfasste, war das Lob, das man diesem Aspekt homerischer Erzählkunst zollte, bereits allgemein; vgl. Hor. ars 146-152 ( Nec reditum Diomedis ab interitu Meleagri, | nec gemino bellum Troianum orditur ab ouo; | semper ad euentum festinat et in medias res | non secus ac notas auditorem rapit, et quae | desperat tractata nitescere posse relinquit, | atque ita mentitur, sic ueris falsa remiscet, | primo ne medium, medio ne discrepet imum ) und Brink (1971), S. 220-224 z. St. Anders als Ps.-Plutarch lobt Horaz hier an Homer, dass er die weniger interessanten Handlungsteile in seiner Erzählung übergangen habe; vgl. dazu Hillgruber (1999), S. 350. 806 So Patillon auf Basis der armenischen Sekundärüberlieferung ( codd. : πολλαχῶς). <?page no="287"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 287 ἀρξάμενος ἀνέδραμεν ἐπὶ τὴν πεντηκονταετίαν, ἔπειτα κατῆλθεν ἐπὶ τὸν Πελοποννησιακὸν πόλεμον. ἔξεστι δὲ καὶ ἀπὸ τῶν τελευταίων ἀρξάμενον ἐλθεῖν ἐπὶ τὰ μέσα, καὶ οὕτως ἐπὶ τὴν ἀρχὴν καταντῆσαι, ὅπερ Ἡρόδοτος διὰ τῆς τρίτης ἡμᾶς διδάσκει … ἔτι δὲ καὶ ἀπὸ τῶν μέσων ἀρξάμενον ἐπὶ τὴν τελευτὴν ἐλθεῖν, εἶτα ἐν τούτοις λῆξαι. καὶ πάλιν ἀπὸ τῶν τελευταίων ἀρξάμενον ἀναδραμεῖν ἐπὶ τὴν ἀρχὴν καὶ λῆξαι εἰς τὰ μέσα, καὶ ἔτι ἀπὸ τῶν πρώτων ἀρξάμενον μεταβαίνειν ἐπὶ τὰ τελευταῖα, καὶ ἐν τοῖς μέσοις παύσασθαι. 807 („Umstellungen in der Anordnung werden wir auf fünffache Weise vornehmen: Man kann in der Mitte beginnen und bis zum Anfang zurückgehen, was Homer in der Odyssee getan hat. Er begann mit der Zeit, als sich Odysseus bei Kalypso aufhielt, dann ging er zurück zum Anfang in eleganter Anordnung; er ließ nämlich Odysseus den Phäaken jedes seiner Abenteuer erzählen; dann nahm er den Rest der Erzählung in Angriff und fuhr fort bis zu dem Punkt, wo Odysseus die Freier tötete und sich mit deren Verwandten versöhnte. Auch Thukydides ging, nachdem er mit den Ereignissen über Epidamnos begonnen hatte, zu den fünfzig Jahren vor dem Krieg zurück und behandelte dann den Peloponnesischen Krieg. Doch kann man auch am Ende beginnen und dann zu Ereignissen in der Mitte fortschreiten und dann zum Anfang kommen. Herodot lehrt uns dieses Vorgehen im dritten Buch … Außerdem kann man mit Ereignissen in der Mitte beginnen, dann zum Ende fortschreiten, und zuletzt mit Dingen enden, die zuanfangs vorgefallen waren. Oder man beginnt wiederum am Ende, geht zurück zum Anfang und endet in der Mitte, und man kann auch mit dem Anfang beginnen, dann zum Ende überwechseln und schließlich die mittleren Ereignisse berichten.“) Theon konstatiert also eine strukturelle Parallele zwischen Thukydides - und grundsätzlich auch Herodot - und Homer. 808 Dass es sich im Falle der beiden Historiker um eine Abweichung vom Erwartbaren handle, sagt Theon nicht. An einer Stelle bei Dionysios von Halikarnassos findet sich aber der Hinweis, dass zumindest einige Kritiker gerade das Vorgehen dieser Autoren als für den historischen Stil unpassend betrachtet haben. Dionysios untergliedert seine Ausführungen über die οἰκονομία des Thukydides in die Gesichtspunkte Auf- 807 Theon prog. 5 = II 86, 7-87, 11 Spengel. - Einen aktuellen Überblick (mit weiterführenden Literaturangaben) über Aufbau und Struktur der beiden angesprochenen Geschichtswerke geben die Beiträge von Antonios Rengakos: Art. „Herodot. Das Werk. Struktur“ und „Thukydides. Das Werk. Struktur“, HGL I = HbdA VII.1 (2011), S. 352-364 und S. 391-403. 808 Als Stilvorbild für Thukydides im Bereich der οἰκονομία wird Homer auch in der Vita des Markellinos genannt; vgl. Vita Thuc. 35 = 193, 179-181 Westermann (Ζηλωτὴς δὲ γέγονεν ὁ Θουκυδίδης εἰς μὲν τὴν οἰκονομίαν Ὁμήρου, Πινδάρου δὲ εἰς τὸ μεγαλοφυὲς καὶ ὑψηλὸν τοῦ χαρακτῆρος …). <?page no="288"?> 288 5. Macrobius, Saturnalia teilung (διαίρεσις), Anordnung (τάξις) und Ausarbeitung (ἐξεργασία). 809 Seine Bemerkungen in dieser Schrift sind apologetischer Natur, d. h. Dionysios richtet sich explizit gegen die Kritiker der thukydideischen οἰκονομία. 810 Er grenzt einleitend das Vorgehen des Thukydides von der Methode der Historiker, die ihm zeitlich vorausgingen, ab, weil diese sich entweder einer strengen topographischen - wie etwa bei Herodot oder Hellanikos von Lesbos der Fall - oder chronologischen Ordnung - wie bei der Vielzahl der horographischen Schriften (Lokalgeschichten), die sich linear nach Priesterlisten, Olympiaden oder Amtskalendern gliederten, der Fall - verpflichtet hatten. 811 Es muss hier nicht weiter dargelegt werden, wie Dionysios den „neuartigen und unbetretenen Pfad“ 812 bewertet, den Thukydides mit seiner Gliederung in Sommer- und Winterzeiträume beschritten habe. Am Ende steht für ihn aber eine allgemeine Beobachtung: χρὴ δὲ τὴν ἱστορικὴν πραγματείαν εἰρομένην εἶναι καὶ ἀπερίσπαστον, ἄλλως τε ἐπειδὰν περὶ πολλῶν γίνηται πραγμάτων καὶ δυσκαταμαθήτων. ὅτι δὲ οὐκ ὀρθὸς ὁ κανὼν οὗτος οὐδ’ οἰκεῖος ἱστορίᾳ, δῆλον. οὐδεὶς γὰρ τῶν μεταγενεστέρων συγγραφέων θερείαις καὶ χειμῶσι διεῖλε τὴν ἱστορίαν. ἀλλὰ πάντες τὰς τετριμμένας <ὁδοὺς καὶ δυναμένας> ἄγειν ἐπὶ τὴν σαφήνειαν μετῆλθον. ( Thuc. 9 = 337, 22-338, 3 Usener-Radermacher) („Der historische Stoff muss aber auch ohne Unterbrechung in einem Zug formuliert werden, insbesondere wenn es um viele Ereignisse geht und um solche, die man nur mit Schwierigkeiten aufnehmen kann. Es ist klar, dass diese Maßgabe <des Thukydides> nicht richtig ist und nicht zur Geschichtsschreibung passt. Keiner aber von den späteren Autoren untergliederte sein Geschichtswerk nach Sommern und Wintern. Stattdessen betraten alle die ausgetretenen Pfade, die zur Klarheit führen.“) Im direkten Vergleich von Herodot und Thukydides, den Dionysios im Brief an Pompeius unternimmt, wird er noch deutlicher: 813 Thukydides habe durch seine strenge chronologische Gliederung immer wieder einzelne Erzählstränge abreißen lassen, wohingegen Herodot, der thematisch noch weiter als Thukydides 809 Vgl. zur διαίρεσις Thuc. 9 = VI.1 335, 14-338, 3 Usener-Radermacher; zur τάξις Thuc. 10-12 = 338, 4-341, 23 Usener-Radermacher, und zur ἐξεργασία Thuc. 13-20 = VI.1 341, 23-357, 20 Usener-Radermacher. - Zum Konzept der διαίρεσις und seiner problematischen Übertragung in den Bereich der Redekunst vgl. Meijering (1987), S. 138. 810 Vgl. Thuc. 9 = VI.1 335, 14-16 (ἃ δ’ ἐλλιπέστερον κατεσκεύασε καὶ ἐφ’ οἷς ἐγκαλοῦσιν αὐτῷ τινες, περὶ τὸ τεχνικώτερον μέρος ἐστὶ τοῦ πραγματικοῦ, τὸ λεγόμενον μὲν οἰκονομικόν … [„Was er mangelhafter ausgeführt hat und worin ihm manche einen Vorwurf machen, betrifft den technischeren Teil seiner Stoffbehandlung, der mit der οἰκονομία zusammenhängt …“]). 811 Vgl. Thuc. 9 = VI.1 335, 20-336, 9 Usener-Radermacher. 812 Thuc. 9 = 336, 9-10 Usener-Radermacher (καινὴν δέ τινα καὶ ἀτριβῆ τοῖς ἄλλοις πορευθῆναι βουληθεὶς ὁδὸν). 813 Dion. Hal. Pomp. 3, 13-14 = VI.2 237, 6-238, 11 Usener-Radermacher. <?page no="289"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 289 ausgreift, durch seine Gliederung in topographische Großteile den beiden Forderungen gerecht wird: Er nimmt sich jeweils (1) eine einheitliche, geschlossene Handlung vor - etwa den abgeschlossenen Komplex über Topographie, Sitten und Geschichte der Ägypter im zweiten Buch der Historien -, innerhalb derer er (2) dem natürlichen Gang der Ereignisse folgt. Dadurch macht er aus einem heterogenen Gegenstand eine Einheit. Im Gegensatz dazu zerstückele Thukydides die organische Einheit, die ihm sein Gegenstand eigentlich angeboten hätte, indem er innerhalb der einzelnen Einheiten immer nur unabgeschlossene Handlungen schildert. 814 Die beiden Forderungen sind also in Kombination zu sehen: Die grundsätzliche Gültigkeit des Chronologiepostulats hat ihre Grenze in der Regel, dass nur in sich abgeschlossene Einheiten dargestellt werden dürfen, wodurch ja gewährleistet wird, dass der historische Bericht fasslicher und deutlicher wird (σαφήνεια). Wie aus der zuletzt zitierten Äußerung des Dionysios allerdings hervorgeht, kann man die Forderung nach Wahrung der Chronologie und damit der natürlichen Entwicklung der Dinge als ein ästhetisches Grundpostulat an die antike Historiographie ansehen, das in dieser Strenge nicht an die Dichtung gestellt wurde, sodass die Opposition stilus historicus vs. epischer Stil des Eustathius durchaus berechtigt ist. Dass es sich bei den kunstvollen chronologischen Umstellungen der Ereignisse um eine technische Besonderheit handelt, die man in besonderer Weise mit Homer in Verbindung brachte, zeigt auch eine Stelle bei Quintilian, der - ähnlich wie Theon - in inst. 7, 10, 11 dem Redner zugesteht, die Erzählung more Homerico in der Mitte oder am Ende des Geschehens beginnen zu lassen. 815 Die Gültigkeit der allgemeinen Regel, die narratio der „natürlichen“ Ordnung 814 Vgl. zusammenfassend Pomp. 3, 14 = 238, 8-11 Usener-Radermacher (ἀλλὰ συμβέβηκε τῷ μὲν μίαν ὑπόθεσιν λαβόντι πολλὰ ποιῆσαι μέρη τὸ ἓν σῶμα, τῷ δὲ τὰς πολλὰς καὶ οὐδὲν ἐοικυίας ὑποθέσεις προελομένῳ σύμφωνον ἓν σῶμα πεποιηκέναι). - Ähnlich wie bei Dionysios verbindet Diodor in einer methodischen Reflexion am Beginn des 6. Buches seiner Universalgeschichte die beiden Forderungen; vgl. Diod. 16, 1, 2 (αἱ μὲν γὰρ ἡμιτελεῖς πράξεις οὐκ ἔχουσαι συνεχὲς ταῖς ἀρχαῖς τὸ πέρας μεσολαβοῦσι τὴν ἐπιθυμίαν τῶν φιλαναγνωστούντων, αἱ δὲ τὸ τῆς διηγήσεως συνεχὲς περιλαμβάνουσαι μέχρι τῆς τελευτῆς ἀπηρτισμένην τὴν τῶν πράξεων ἔχουσιν ἀπαγγελίαν. ὅταν δ’ ἡ φύσις αὐτὴ τῶν πραχθέντων συνεργῇ τοῖς συγγραφεῦσι, τότ’ ἤδη παντελῶς οὐκ ἀποστατέον ταύ της τῆς προαιρέσεως. [„Halbvollendete Ereignisse, deren Ausgang mit den Anfängen nicht mehr in Verbindung steht, lenken die Anteilnahme der wissbegierigen Leser ab, wohingegen die bis zum Ende zusammenhängende Erzählung einen erschöpfenden Bericht der Ereignisse entstehen lässt. Wenn aber bereits der natürliche Verlauf des Geschehens den Historikern entgegenkommt, dürfen sie um so weniger von jenem Grundsatz abweichen.“]). 815 Quint. inst. 7, 10, 11 ( … ubi ab initiis incipiendum, ubi more Homerico a mediis vel ultimis ). - Vgl. auch Lausberg (1990), § 317 = S. 177 f. und § 452 = S. 247 über die im Hintergrund stehende Vorstellung vom ordo naturalis bzw. artificialis / artificiosus . <?page no="290"?> 290 5. Macrobius, Saturnalia folgen zu lassen, wird dadurch allerdings nicht angetastet. 816 Stattdessen handelt es sich um eine Abweichung vom natürlichen Gang der Erzählung, die durch das Redeziel begründet sein muss. Die Stelle zeigt wieder, dass Eustathius mit der Wahl seines Sujets ein Standardthema der Homerphilologie anspricht: Im allgemeinen Bewusstsein war der mos Homericus so präsent, dass der Name Homers exemplarisch für die Technik der Anachronie stehen konnte. Die Autoren der zitierten Thukydides- und Homermonographien, Dionysios und Ps.-Plutarch, sowie die Rhetoriker Quintilian und Theon hatten bei ihren pauschal gehaltenen Äußerungen über Homers Erzählweise vor allem die „Makrostruktur“ von Ilias und Odyssee im Blick. Einige Detailbeobachtungen in den Homerscholien zeigen, dass man auch auf der „Mikroebene“, also etwa bei kleineren Rückblicken in einzelnen Reden und Szenen, ein Bewusstsein für erzähltechnische Anachronien hatte. Freilich sind die Bemerkungen über Rückblenden, verglichen mit den zahlreichen Erklärungen zu den Vorausdeutungen (Prolepsen), relativ selten. 817 Vorverweise weckten also größeres Interesse als Rückblenden. Das wirkte sich terminologisch insofern aus, als es anders als im Falle der Prolepse 818 kein festes Begriffsinstrumentarium gab, um Analepsen zu beschreiben. Eine besondere Stellung nimmt aber der Begriff ἀνακεφαλαίωσις ein, mit dem man Verweise des Erzählers bzw. einer Figur auf vorher bereits Erzähltes umschrieb, also interne Analepsen im Sinne Genettes. Das Interesse, das die hellenistischen Gelehrten an diesen Stellen hatten, ist leicht zu erklären: Da es sich um inhaltliche Verdopplungen handelte, lag es nahe, die Authentizität der entsprechenden Verse anzuzweifeln. Wohlgemerkt handelt es sich nur um die internen Analepsen, denen Philologen wie Aristarch mit Misstrauen begegneten, und auch hier fanden sich scharfsinnige Gegenargumente. 819 Die Wahl der Beispiele bei Macrobius lässt erkennen, dass man noch weiter zu differenzieren wusste. Eustathius erwähnt zwei Handlungskomplexe aus der Vorgeschichte der Ilias , die durch Rückverweise thematisiert werden: Achills Taten vor der μῆνις-Handlung ( Sat. 5, 14, 12-13) 820 und Nestors Jugenderzäh- 816 Vgl. Quint. inst. 4, 2, 87. 817 Zu den Kommentarnotizen über Prolepsen vgl. Nünlist (2009), S. 34-45 und bes. S. 45 über die quantitativen Verhältnisse. Zum Folgenden ist neben Nünlist (2009), S. 45-48 auch Roemer (1912), S. 278-304 zu berücksichtigen. 818 Vgl. die Substantive προαναφώνησις, προέκθησις und πρόληψις sowie die Verben προαναφωνεῖν, προλέγειν, προαπαγγέλλειν, προαναφθέγγεσθαι und προλαμβάνειν (Nünlist [2009], S. 35). 819 Etwa in Form einer λύσις ἐκ τοῦ προσώπου; vgl. das Beispiel bei Nünlist (2009), S. 45-47, aus dem auch hervorgeht, dass man durchaus zwischen Analepsen in der Erzähler- und in der Figurenrede unterschied. 820 Vgl. Il. 1, 366-367 und Il. 9, 328-329 (Achills Kriegszüge vor der Zornhandlung; vgl. dazu Roemer [1912], S. 286 und Nünlist [2009], S. 9, 10 [mit Anm. 36], 39, 40, 45, [mit Anm. 76], <?page no="291"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 291 lungen ( Sat. 5, 14, 14) 821 . Es zeigt sich, dass die Beispiele die eingangs erwähnte Distinktion von näher und weiter zurückliegenden Ereignissen ( res vel paulo vel multo ante transactas ) illustrieren sollen. Im Falle des ersteren Handlungskomplexes wird auch explizit herausgestellt, dass die Rückverweise dazu dienen, dem Leser eine relevante Information mitzuteilen. 822 Die Gliederung in näher und weiter zurückliegende Referenzereignisse scheint auch bei der Wahl der Vergilbeispiele aufgegriffen zu sein. In den ersten drei Beispielen berichtet jeweils eine Figur - Euander bzw. Dido - von Ereignissen, an die sie sich selbst noch erinnern können. 823 Auch die Cacuserzählung ( Aen. 8, 185-275), der aitiologische Bericht über den Ursprung der Ara maxima , der mit de furto vel poena Caci tota narratio paraphrasiert wird, wird von Euander so präsentiert, dass der Hörer den Eindruck hat, der Sprecher sei selbst dabei gewesen. 824 Das dann in Sat. 5, 14, 16 genannte letzte Beispiel ( Aen. 10, 189) bringt eine andere Kategorie ins Spiel. Im Etruskerkatalog ( Aen. 10, 163-214) kommt der Erzähler der Aeneis nämlich auf den Ligurerfürsten Cupavus zu sprechen ( Aen. 10, 186-197) und berichtet von der Verwandlung von dessen Vater Cycnus in einen Schwan. In diesem Zusammenhang steht der von Eustathius zitierte Vers. Der chronologische Sprung führt bei diesem Beispiel in die Vorgängergeneration und damit offenbar weit genug zurück, um einen Kategorienwechsel zu markieren. Eustathius fasst das jedenfalls so auf, wenn er sein letztes Beispiel mit der Bemerkung nec vetustissima tacuit einleitet. (Wie Nestors Jugenderzählung in den Homerbeispielen aber zeigt, wendet Eustathius das Generationenprinzip nicht streng als Distinktionsmerkmal zwischen res vel paulo vel multo ante transactas an.) Die Vergil kritik in Sat. 5, 17, 1-4 basiert im Grunde auf denselben dargelegten Vorstellungen über gelungene Erzähltechnik. In diesem Abschnitt, der die Reihe der Homer-Vergil-Vergleiche in den Saturnalia beendet, beanstandet Eustathius eine Passage im siebten Buch der Aeneis , wobei er die Besonderheiten der dispositio , die aus stofflicher Notwendigkeit für Vergil geboten waren, ins Zentrum seiner Beanstandungen rückt. Vergil schildert ja anders als Homer in der 46, 47, 109, 324), Il. 1, 71-72 (Achill lenkt die Schiffe nach Troja) und - ohne wörtliches Zitat - Il. 2, 284-332 (Schlangenprodigium; hier fälschlich dem Kalchas und nicht dem Odysseus in den Mund gelegt). 821 Vgl. Il. 1, 260-261 (dazu Roemer [1912], S. 372-373) und Il. 7, 157. 822 Vgl. Sat. 5, 14, 12 ( Ne igitur ignoraremus quae prius gesta sunt, fit eorum tempestiva narratio ) und 5, 14, 13 ( item ne ignoraremus … ). 823 Vgl. Aen. 8, 157-158 (Euander über den Besuch des Anchises in Pallanteum), Aen. 1, 619 (Dido über Teucers Ankunft in Sidon) und Aen. 8, 561-562 (Euander über seine frühere Kampfkraft). 824 Vgl. nobis … optantibus ( Aen. 8, 200) und - distanzierter - nostri ( Aen. 8, 222). - Dass Euander von Ereignissen spricht, die er selbst erlebt hat, befürworten auch Fowler (1918), S. 59 und Gransden (1976), S. 112 z. St. <?page no="292"?> 292 5. Macrobius, Saturnalia zweiten Aeineishälfte den ganzen Krieg von seinem Ausbruch bis zum finalen Zweikampf. Das Argument vollzieht sich in folgenden Schritten: - These ( Sat. 5, 17, 1): Wie sehr Vergil von der Erfindungsgabe Homers abhängig ist, zeige sich besonders dort, wo er durch die Umstände gezwungen von seinem Vorbild abweichen musste. - Bsp. ( Sat. 5, 17, 1): Als konkretes Beispiel nennt Eustathius die Unterschiede in der dispositio belli inchohandi bei beiden Dichtern, die sich notwendig (vgl. rerum necessitas ) ergeben hätten, weil Homer seine epische Handlung erst im zehnten Kriegsjahr beginnen lässt. Homer wählt dazu den Zorn Achills ( quippe qui Achillis iram exordium sibi fecerit ), Vergil hingegen die Verwundung des Hirschen durch Ascanius ( cervum fortuito saucium fecit causam tumultus ; vgl. Aen. 7, 475-502). - Verbesserungsversuch ( Sat. 5, 17, 2): Vergil hätte nun aber die Unzulänglichkeit dieser Motivation erkannt ( vidit hoc leve nimisque puerile ) und daher die Reaktion der Landleute überzeichnet ( dolorem auxit agrestium ; vgl. Aen. 7, 505-539), um dem Mangel abzuhelfen ( ut impetus eorum sufficeret ad bellum ). - Einwände ( Sat. 5, 17, 2): Die Entrüstung der Landleute für den Kriegsausbruch verantwortlich zu machen ist unplausibel, weil es sich (1) um Knechte ( servi ) des Latinus handle und sie (2) als Arbeiter im königlichen Stall von dem Bündnis der Trojaner mit Latinus hätten wissen müssen. - Weitere Unplausibilitäten ( Sat. 5, 17, 3): Nun werden - eingeleitet durch quid igitur? - weitere, chronologisch vorausliegende Ereignisse aus dem siebten Buch der Aeneis genannt: Juno steigt in die irdische Sphäre herab ( deorum maxima deducitur e caelo ; vgl. Aen. 7, 323); Allecto wird aus der Hölle herbeigerufen ( et maxima Furiarum de Tartaris asciscitur ; vgl. Aen. 7, 324-340); Amata wird durch das Gift von Allectos Schlangen in Wahnsinn versetzt ( sparguntur angues velut in scaena parturientes furorem ; vgl. Aen. 7, 346-353); bacchantisches Rasen Amatas in der Stadt ( regina non solum de penetralibus reverentiae matronalis educitur, sed et per urbem mediam cogitur facere discursus ; vgl. Aen. 7, 373-384) und in den Wäldern ( nec hoc contenta silvas petit ; vgl. Aen. 7, 385-391) gemeinsam mit den anderen Frauen ( accitis reliquis matribus in societatem furoris, bacchatur chorus quondam pudicus et orgia insana celebrantur ; vgl. Aen. 7, 392-396). - Schlussfolgerung ( Sat. 5, 17, 4): Statt selbstständig zu erfinden, hätte sich Vergil wenn nicht Homer, so doch irgendeinen anderen Autor zum Vorbild ( … apud auctorem suum vel apud quemlibet Graecorum alium … ) nehmen sollen. Der Anschluss von Sat. 5, 17, 3 erscheint hart: Die hier erwähnte Amatasequenz liegt vor der problematischen Tötung des Hirschen. Doch soll der mit <?page no="293"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 293 quid igitur? eingeleitete Passus offensichtlich den Gedanken von Sat. 5, 17, 1-2 steigernd fortführen, wobei noch ein anderer Aspekt ins Spiel gebracht wird: Bezweifelte Eustathius im ersten Passus die Stringenz der kausalen Verknüpfung von Hirschtötung und Kriegsausbruch, so rückt er bei seiner Auswahl in Sat. 5, 17, 3 den übernatürlich-märchenhaften Charakter der Szenen selbst in den Vordergrund. In beiden Fällen leidet die Plausibilität (πιθανότης) der Darstellung, einmal wegen des mangelnden Bezugs von Ursache und Wirkung, im anderen Fall wegen der fehlenden realistischen Evidenz der berichteten Ereignisse. Die Kritik betrifft im Grunde also nicht nur die Hirschtötung, sondern das gesamte Motivationsgefüge im siebten Buch der Aeneis , das gerade unter der Perspektive des aristotelischen Postulats von der Handlungseinheit und seiner enormen Wirkungsgeschichte unzureichend und unplausibel erscheinen musste. 825 Die Vergilkommentatoren 826 stellten noch weitere unplausible Stellen im siebten Buch zusammen: Eine von Eustathius nicht erwähnte Episode wurde, wie aus zwei Stellen in den Vergilscholien ersichtlich wird, ebenfalls aus Gründen der Handlungslogik kritisiert. Vergil schildert in Aen. 7, 503-508, wie die Scharen der Bauern auf das Rufen der Silvia hin bewaffnet herbeieilen. Ein anonymer Scholiast äußert dazu folgende Kritik: [Cur] ita armati veniunt, antequam sciant, quid propter armentur? An quia auxilium Silvia vocat | [inte]llexerunt se armari debere? (schol. Ver. ad Aen. 7, 506 = 115, 32-33 Baschera) Warum wusste die Bauern schon vorab, dass sie sich bewaffnen mussten? Vergil hätte diesen Umstand nach Meinung des Kommentators eigens motivieren müssen; in der vorliegenden Form wirkt ihr Verhalten unplausibel. - Der Umstand, dass Vergil in dieser handlungsentscheidenden Szene die emotionale Reaktion eines Mädchens zum kriegsauslösenden Moment macht, konnte Zweifel daran erwecken, ob an dieser Stelle das epische aptum gewahrt war, was zwar nicht im strengen Sinne unplausibel ist, den Erwartungen an eine epische Handlung aber eindeutig widerspricht. Servius bringt zu Vergils Verteidigung ein psychologisches Argument: Silvia prima soror] bene puellae dat doloris inpatientiam (Serv. ad Aen. 7, 503 = II 163, 1 Thilo-Hagen). Das bene dürfte in diesem Fall darauf hinweisen, dass es sich hier um eine apologetische Replik gegen einen früheren Kritiker handelt. 827 825 Die Relevanz der aristotelischen Kategorie von der Handlungseinheit für die Vergilkommentatoren wird etwa deutlich in einem Kommentar des Servius zum Aeneis beginn ; vgl. (D)Serv. ad Aen. 1, 34 = I 25, 20-22 Thilo-Hagen (e conspectu] ut adhuc de Sicilia possent videri. et ut Homerus omisit initia belli Troiani, sic hic non ab initio coepit erroris. ). Dazu Scaffai (2006), S. 332. 826 Weitere Hinweise zur Präsenz derartiger Kritik an der vergilischen οἰκονομία in den Vergilkommentaren bei Georgii (1891), S. 562-563. 827 Vgl. auch Georgii (1891), S. 328 z. St. <?page no="294"?> 294 5. Macrobius, Saturnalia Die beiden Abschnitte Sat. 5, 14, 11-16 und Sat. 5, 17, 1-4 zeigen also einerseits die Gültigkeit des Postulats von der „epischen Erzähltechnik“ - stilus epicus : beschränkte Handlungssequenz mit zeitlichen Vor- und Rückblenden - für Vergil, weisen andererseits aber nach, welche Folgen es hat, wenn er sich nicht an das homerische Vorbild hält. Das konkrete Beispiel von Aen. 7 soll dabei auch den Zusammenhang zwischen falscher, nämlich „historischer“ τάξις bzw. οἰκονομία und mangelhafter Handlungsmotivation verdeutlichen. 5.2.2.7 Kataloge ( Sat. 5, 15, 1 - 16, 5) Der Komplex, auf den Eustathius in Sat. 5, 15, 1-16, 5 zu sprechen kommt, schließt insofern an das Thema der Erzähltechnik in Sat. 5, 14, 11-16 an, als die epischen Kataloge als größere Erzähleinheiten gerade auch unter Aspekten der Narratologie - Funktion der zeitlichen Rückblende, Verknüpfung mit der Erzählumgebung etc. - betrachtet wurden. Eustathius kommt hier auf eine Reihe von Einzelaspekten zu sprechen, die ein differenziertes Spektrum ästhetischer Wertungskriterien liefern. Er definiert den Terminus catalogus eingangs als „Aufzählung von Hilfstruppen“ ( ubi vero enumerantur auxilia … ), geht also von einem engeren Katalogbegriff aus. 828 Auch die Auswahl der herangezogenen Stellen entspricht dieser Definition: Von Vergil werden der Latiner- und Etruskerkatalog berücksichtigt 829 , von den homerischen Katalogen zitiert Eustathius ausschließlich aus dem Schiffskatalog. - Das Katalogkapitel gliedert sich in fünf Abschnitte: 830 Sat. 5, 15, 1 Einleitung Sat. 5, 15, 2-5 I. Katalogbeginn und -aufbau Sat. 5, 15, 2-3 Homer Sat. 5, 15, 4-5 Vergil 828 Nicht alle Kataloge bei Homer und Vergil listen Truppen auf: Katalogartiger Reihenstil ist ein wesentliches Element der homerischen Poetik und weist auch thematisch über den Schiffskatalog ( Il. 2, 484-760) und den Trojanerkatalog ( Il. 2, 816-877) hinaus; vgl. etwa den Nereidenenkatalog in Il. 18, 39-49 und zusammenfassend Kühlmann (1973), S. 23-95. Ähnliches lässt sich im Falle Vergils feststellen; vgl. neben den Latiner- ( Aen. 7, 641-817) und Etruskerkatalogen ( Aen. 10, 163-214) den Nymphenkatalog ( georg. 4, 334-344) und den Flusskatalog ( georg. 4, 366-373); vgl. zu den Katalogen bei Vergil Scarcia (1984), pass. und speziell zur Aeneis Basson (1975), pass. - In einem gewissen Widerspruch zu dieser Definition steht der diesen Abschnitt abschließende Ausblick auf Kataloge in den Georgica ( Sat. 5, 16, 5; s. u.). 829 Vgl. Sat. 5, 16, 4 ( in priore catalogo … in secundo … ) und die Gliederung von Sat. 5, 15, 4 (Etruskerkatalog) und Sat. 5, 15, 5 (Latinerkatalog). 830 Eustathius markiert die Gliederung seines Vortrags selbst mit den Einleitungspartikeln primum … deinde … deinde … deinde am Beginn der ersten vier Hauptteile. <?page no="295"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 295 Sat. 5, 15, 6-9 II . Verhältnis von Erzählung und Katalog Sat. 5, 15, 6 Homer Sat. 5, 15, 7-9 Vergil Sat. 5, 15, 10-13 III . Widersprüche und Verwechslungen bei Personennamen Sat. 5, 15, 10-12 Vergil Sat. 5, 15, 13 Homer Sat. 5, 15, 14-19 IV . Abwechslung und Monotonie Sat. 5, 15, 14 Homer Sat. 5, 15, 15 Vergil Sat. 5, 15, 16-17 Erläuterung und Einschränkung der zuvor gegebenen Charakterisierung Homers Sat. 5, 15, 18-19 Vergils größere Eleganz Sat. 5, 16, 1-5 V. Eingeschobene Erzählungen Sat. 5, 16, 1-3 Homer Sat. 5, 16, 4-5 Vergil Der Schiffskatalog im zweiten Buch der Ilias hatte seit jeher das Interesse der Homerleser 831 geweckt, zumal in der hellenistischen Philologie. 832 Aus dieser Zeit sind die Titel zweier Monographien (συγγράμματα) aus der Feder des Aristarch (Περὶ τοῦ ναυστάθμου) 833 und des Apollodoros von Athen (Περὶ τοῦ τῶν νεῶν καταλόγου) 834 bekannt. Letzterer benutzte auch den kurz zuvor entstandenen Kommentar des Demetrios von Skepsis, dessen Τρωïκὸς διάκοσμος („Trojanische Schlachtordnung“) überschriebene Erläuterungsschrift (ἐξήγησις) in 30 Büchern die Aufstellung der trojanischen Kontingente im Trojanerkatalog ( Il. 2, 816-877) zum Thema hatte. 835 Allen diesen Schriften war gemeinsam, dass sie die Ilias als realienkundliche Quelle für ein historisches Ereignis be- 831 Vgl. den Überblick bei Visser (1997), S. 16-48, bes. S. 17-21 zur voralexandrinischen Periode. 832 Vgl. Visser (1997), S. 29-36. 833 Entstanden um die Mitte des 3. Jahrhunderts; vgl. dazu Pfeiffer (1978), S. 262 und Lehrs (1882), S. 221-224. 834 FGrHist 244 F 154-207. - Die Schrift umfasste zwölf Bücher und entstand wohl zwischen 150 und 133 v. Chr; vgl. Niese (1877), S. 307 und Pfeiffer (1978), S. 312-316. 835 Vgl. Pfeiffer (1978), S. 304-305. <?page no="296"?> 296 5. Macrobius, Saturnalia trachteten und sich intensiv um die Frage einer genauen Lokalisierung der in den Katalogen genannten Orte kümmerten. Fragen der Ästhetik und des Stils fanden in derlei Schriften wohl höchstens am Rande Erwähnung. Allerdings ist festzuhalten, dass entgegen zahlreicher moderner Stimmen Homers Kataloge auch als künstlerische Leistungen bei den antiken Lesern Beifall fanden. 836 Das lässt sich etwa in einem Abschnitt aus der Schrift Περὶ συνθέσεως ὀνομάτων des Dionysios von Halikarnassos erkennen. 837 Dionysios beruft sich auf das Beispiel des homerischen Schiffskatalogs, um die Wirkung geschickter Wortanordnung (σύνθεσις) zu verdeutlichen: Städtenamen wie Hyria, Mykalessos, Graia, Eteonos, Skolos, Thisbe, Onchestus oder Eutresis seien ihrer klanglichen Gestalt nach an sich nicht geeignet, um eine erhabene oder schöne Wirkung (σεμνότης bzw. καλλιλογία) zu erreichen. Homer verbinde sie aber so geschickt mit wohlklingenden Füllwörtern, dass ihre natürliche Sprödigkeit nicht mehr zu bemerken sei und die genannten Wirkungen erzielen würden. 838 Dionysios geht es in diesem Abschnitt darum, die Bedeutung seines Gegenstands, der Wortfügungslehre, zu betonen. Er geht dabei aber von der allgemein akzeptierten Auffassung aus, dass den homerischen Katalogen eine erhabene und wohlklingende Wirkung eigne. 839 Wenn Eustathius seine Ausführungen zum Katalog als Teilgebiet der Erzähltechnik präsentiert, so trifft er sich mit den Anschauungen der antiken Homerphilologen, die den Katalogen ebenfalls eine entsprechende Funktion zuwiesen. Ein einleitendes Scholion zum Schiffskatalog der Ilias stellt heraus, dass in den Katalogen wichtige, zum Verständnis der Handlung notwendige Informationen enthalten sind: θαυμάσιος ὁ ποιητὴς μηδ’ ὁτιοῦν παραλιμπάνων τῆς ὑποθέσεως, πάντα δ’ ἐξ ἀναστροφῆς κατὰ τὸν ἐπιβάλλοντα καιρὸν διηγούμενος, τὴν τῶν θεῶν ἔριν, τὴν τῆς Ἑλένης ἁρπαγήν, τὸν Ἀχιλλέως θάνατον· ἡ γὰρ κατὰ τάξιν διήγησις νεωτερικὸν καὶ συγγραφικὸν καὶ τῆς ποιητικῆς ἄπο σεμνότητος. εὔκαιρον τοίνυν ἐπιθεὶς Νέστορι ῥητορείαν (vgl. Il. 2, 362-368) τὸν Κατάλογον ἐμνηστεύσατο, ὅπως μὴ ἐν τῷ αὐτῷ λόγῳ λέγων τὰ πρακτικὰ καὶ γενεαλογικὰ τὴν ἀκοὴν ἐπιταράσσοι· τὸ γὰρ μὴ γνωρίζεσθαι τοὺς ἥρωας ζήτησιν ἐποίει. τρεῖς δέ φησιν ὁ Πλάτων (vgl. Plat. rep. 393 d -394 d ) λόγων ἰδέας, δραματικήν, ἔνθα ὁ ποιητὴς συνεχῶς εὐδοκιμεῖ τοῖς ἤθεσι τῶν ὑποκειμένων προσώπων, ἀμίμητον, 836 So auch Visser (1997), S. 1 Anm. 1 mit negativen Stellungnahmen moderner Interpreten. 837 Vgl. Dion. Hal. comp. 16 = VI 67, 5-68, 6 Usener-Radermacher. 838 Vgl. Dion. Hal. comp. 16 = VI 67, 11-14 Usener-Radermacher (ἀλλ’ οὕτως αὐτὰ καλῶς ἐκεῖνος συνύφαγκεν καὶ παραπληρώμασιν εὐφώνοις διείληφεν ὥςτε μεγαλοπρεπέστατα φαίνεσθαι πάντων ὀνομάτων). 839 Die Stilqualität der gravitas wird übrigens auch im Referat des Eustathius bei Macrobius für die homerischen Kataloge uneingeschränkt in Anspruch genommen ( Sat. 5, 15, 1: a gravitate Homerica ). <?page no="297"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 297 ὡς τὴν Φωκυλίδου, †μιμητικήν†, ὡς τὴν Ἡσιόδου. (schol. b ad Il. 2, 494-877 = I 288, 93-289, 8 Erbse) („Der bewundernswerte Dichter lässt nicht das Geringste von seinem Stoff beiseite, sondern berichtet alles, wenn sich ein günstiger Moment ergibt, durch Rückblenden, nämlich den Streit der Götter, den Raub Helenas, den Tod des Achilleus; die Erzählung gemäß der Reihenfolge aber ist ein jüngeres [= nachhomerisches] Phänomen, gehört der historischen Darstellungsweise an und entfernt sich von der Feierlichkeit der Dichtung. Während er nun also dem Nestor an passender Stelle eine Rede in den Mund legte, wollte er schon auf den Katalog hinaus, um nicht das Ohr zu verwirren, indem er in derselben Rede über Handlungen und Abstammung spricht; die Unkenntnis der Helden warf nämlich überhaupt erst die Frage auf. Platon aber sagt, dass es drei Arten der Rede gibt, die dramatische , wo der Dichter sich durch die durchgehende Darstellung der vorliegenden Charaktere auszeichnet, die amimetische , wie sie bei Phokylides vorliegt, und die mimetische , wie bei Hesiod der Fall.“) Die besondere Herausforderung, vor die sich der Dichter in dem von Platon als mimetisch bezeichneten Genre gestellt sieht, liegt darin, einer drohenden Ermüdung des Lesers entgegenzusteuern. Um diesen Zweck zu erreichen, identifiziert der Scholiast zunächst vier Strategien bei Homer, von denen auch Eustathius einige erwähnen wird: ἐν τῇ οὖν ἀμιμήτῳ καὶ ψιλῇ τοῖς κεφαλαίοις ἀνάγκη τὸν ποιητὴν ἐπαγωνίζεσθαι, τοῖς σχήμασι καὶ ταῖς ἐναλλαγαῖς ἐπικαλλύνοντα τὴν φράσιν, [1] ὅπερ ἐποίησε πρῶτα μὲν ἐν τοῖς τῶν πόλεων ἐπιθέτοις καὶ τούτοις ἠκριβωμένοις· οὐ γὰρ ἀνεξέλεγκτος ἦν περὶ χωρίων Ἑλληνικῶν διεξιών. [2] καί ποτε μὲν τῷ ‘ἔναιον’ (vgl. Il. 2, 511 u. ö.), ἄλλοτε δὲ τῷ ‘εἶχον’ (vgl. Il. 2, 500 u. ö.), ποτὲ δὲ τῷ ‘ἐνέμοντο’ (vgl. Il. 2, 496 u. ö.) χρῆται. [3] καί ποτε μὲν τοὺς ἄρχοντας προλέγων ἐπιφέρει τὰς πόλεις (vgl. Il. 2, 494-510 u. ö.), ποτὲ δὲ τοὐναντίον (vgl. Il. 2, 511-2 u. ö.). [4] καί ποτε μὲν διὰ τέλους ἐξαριθμεῖ τὰς πόλεις (vgl. Il. 2, 496-508 u. ö.), ποτὲ δὲ κατ’ ἐπιτομήν (vgl. Il. 2, 645-649 u. ö.). (schol. b ad Il. 2, 494-877 = I 289, 8-17 Erbse) („Im amimetischen und schlichten <Genre> hat der Dichter die schwersten Auseinandersetzungen zu führen, indem er nämlich seine Rede mit Figuren und Veränderungen schöner machen muss, was er zunächst [1] bei den Beiwörtern der Städte umgesetzt hat, die er in vollendeter Weise gebraucht; nicht wahllos ist er nämlich die griechischen Städte durchgegangen. [2] Und einmal benutzt er ‘sie bewohnten’, ein andermal ‘sie hatten inne’, wieder ein andermal verwendet er ‘sie siedelten auf ’. [3] Und manchmal nennt er zuerst die Herrscher und trägt dann die Städte nach, manchmal macht er das Gegenteil. [4] Und manchmal zählt er die Städte vollständig auf, manchmal nur verkürzt.“) <?page no="298"?> 298 5. Macrobius, Saturnalia Die beiden ersten Punkte betreffen Abwechslung im Ausdruck , der dritte Punkt Struktur und Aufbau der einzelnen Abschnitte , der letzte Punkt schließlich Unterschiede in der Auswahl der genannten Städte . Eustathius geht in seinen Ausführungen zu diesem Thema speziell auf den Punkt (2) ein - mit welcher Berechtigung, wird im Folgenden zu prüfen sein. Eustathius behandelt das Thema Abwechslung und Monotonie an vierter Stelle in Sat. 5, 15, 14-19. Er vergleicht in diesem Abschnitt Homers Schiffskatalog mit Vergils Latinerkatalog und stellt fest, dass beide Dichter je unterschiedliche Absichten verfolgt hätten: Vergil wollte Überdruss beim Leser vermeiden 840 , Homer hingegen sei einer „anderen Überlegung“ 841 gefolgt. Diese etwas undeutliche Charakterisierung klärt sich in Sat. 5, 15, 16 auf: Homers divina simplicitas wird hier gegen mögliche Kritik mit dem Hinweis in Schutz genommen, dass es für den genius eines altertümlichen Dichters und außerdem gerade für die Erzählform des Katalogs passend sei, wenn nicht beständig Veränderungen vorgenommen würden: has copias fortasse putat aliquis divinae illi simplicitati praeferendas, sed nescioquomodo Homerum repetitio illa unice decet, et est genio antiqui poetae digna enumerationique conveniens quod in loco mera nomina relaturus non incurvavit se neque minute torsit deducendo stilum per singulorum varietates, sed stat in consuetudine percensentium tamquam per aciem dispositos enumerans, quod non aliis quam numerorum fit vocabulis. ( Sat. 5, 15, 16) Eustathius zufolge soll also für Homer eine besondere Lizenz gelten, die sich aus seiner literaturgeschichtlichen Stellung als archaischer Dichter ergibt. Diese Einschätzung steht im Widerspruch zu dem oben zitierten Scholiasten, der ja gerade Homers Kunst der ἐναλλαγή herausgestellt hat - über die Bewertung der homerischen Monotonie konnte man also durchaus unterschiedlicher Meinung sein. Doch stellt sich weiter die Frage, ob Eustathius mit seiner Behauptung eines entsprechenden stilistischen Unterschieds zwischen Homer und Vergil überhaupt Recht hat und woran er Monotonie und Abwechslung genau festmacht. Wenn Eustathius im Fall Homers von „derselben, oft wiederholten Figur“ spricht, so zitiert er Anfangsverse einzelner Abschnitte : οἳ δ’ Ἀσπληδόν’ ἔναιον ( Il. 2, 511) οἳ δ’ Εὔβοιαν ἔχον ( Il. 2, 536) οἳ δ’ Ἄργός τ’ εἶχον Τίρυνθά τε ( Il. 2, 559) 840 Vgl. Sat. 5, 15, 14 ( … curavit Vergilius vitare fastidium … ) und Sat. 5, 15, 15 ( hic autem variat velut dedecus aut crimen vitans repetitionem ). 841 Vgl. Sat. 5, 15, 14 ( Homerus aliam rationem non cavit eadem figura saepe repetita ). <?page no="299"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 299 οἳ δ’ εἶχον κοίλην Λακεδαίμονα κητώεσσαν ( Il. 2, 581). Die gewählten Beispiele weisen allesamt die Struktur „οἳ δέ + Name + Verb des Inhalts ‘sie bewohnten’“ auf. 842 Im Schiffskatalog entsprechen diesem Typus 37 Verse. 843 Bei den vier Versanfängen handelt es sich wie erwähnt jeweils um den Anfangsvers eines neuen Kontingents an Kriegern (minyisches Kontingent [ Il. 2, 511-516]; euboiisches Kontingent [ Il. 2, 536-545]; südargolisches Kontingent [ Il. 2, 559-568]; lakonisches Kontingent [ Il. 2, 581-590]). 844 Bei Homer werden 16 der 29 Truppenkontingente von einem Vers dieses Typus eingeleitet. 845 Mit Monotonie kann Eustathius aber noch einen anderen Aspekt meinen. Der zweite im Scholion gemachte Punkt betrifft ja die Abwechslung in der Wahl der Verben . Es ist kaum zu entscheiden, ob sich der Scholiast, der mit dem Hinweis auf die Benutzung von ἔναιον, εἶχον und ἐνέμοντο Homers Abwechslungsreichtum herauszustellen versucht, auf die Anfangsverse der einzelnen Kontingente beschränkt - diese sind in der Wahl des Prädikates (in elf der 16 Fälle ἔχον bzw. εἶχον [= 69 %], wobei ἐνέμοντο dreimal [= 19 %], ἔναιον nur zweimal [= 12 %] begegnet) relativ stereotyp -, oder ob er auch die in den einzelnen Kontingenten stehenden Formelverse bzw. -halbverse einbezieht. 846 Im letzteren Fall würde sich zwar das Spektrum der verwendeten Verben um die Nebenformen ἀμφενέμοντο und ναιετάασκον erweitern, der Gesamteindruck relativer Stereotypie bleibt aber bei Homer erhalten. 847 Im Kontrast dazu zitiert Eustathius dann zehn der 13 Anfangsverse aus den Abschnitten in Vergils Latinerkatalog. 848 Tatsächlich ergibt sich hier ein ganz anderes Bild als bei Homer. Geflissentlich ist jede Wiederholung eines einheitlichen Musters vermieden. (Dasselbe hätte übrigens für die entsprechenden 842 Vgl. zum Folgenden insbesondere Visser (1997), S. 53-58. 843 Vgl. die Übersichten bei Visser (1997), S. 54-55 und 56-57 („Typus IIa“). 844 Zur Gliederung des Katalogs vgl. die Übersicht bei Latacz (2003), S. 146. - Daneben bestehen zwei weitere Formen des Einleitungsverses; vgl. Edwards (1980), pass. und Visser (1997), S. 54 Anm. 4 („A: ‘Ethnikon + Name des Anführers’; […]; C: ‘Name des Anführers + Name einer Polis oder Landschaft in der Form: von … her + Anzahl der Schiffe’“). 845 Il. 2, 511; 536; 546; 559; 569; 581; 591; 603; 615; 676; 695: 711; 716; 729; 734; 738. 846 Das betrifft dann die Typen IIa („Verse mit anaphorischem Relativum und mit Prädikatform“) und IIc („Verse ohne anaphorisches Relativum und mit Prädikatform“) bei Visser (1997), S. 55-57. 847 Im Einzelnen steht dann 28-mal ἔχον bzw. εἶχον (= 60 %), 14-mal ἐνέμοντο bzw. ἀμφενέμοντο (= 30 %) und fünfmal ἔναιον bzw. ναιετάασκον (= 10 %). 848 Das Zitat von Aen. 7, 647 ( primus init bellum Tyrrhenis asper ab oris ) und 649 ( filius huic iuxta Lausus ) über Mezzentius und Lausus ist bei dieser Zählung zusammengefasst. - Genannt werden außer diesen beiden jeweils die Einleitungsverse zu den Kontingenten von Aventinus (7, 655-669), Catillus und Coras (7, 670-677), Caeculus (7, 678-690), Messapus (7, 691-705), Clausus (7, 706-722), Halaesus (7, 723-732), Ufens (7, 744-749), Umbro (7, 750-760) und Virbius (7, 761-782). <?page no="300"?> 300 5. Macrobius, Saturnalia Verse im Etruskerkatalog des zehnten Buches gegolten. 849 ) Zwar greift Vergil an einigen Stellen seiner Aufzählungen homerische Katalogformeln 850 auf, in den Einleitungsversen der einzelnen Kontingente ist er aber, wie die Beispiele zeigen, um die Vermeidung von strukturellen Wiederholungen bemüht. Damit imitiert er eine Besonderheit der Katalogtechnik des Apollonios, dem es in seinem Argonautenkatalog 851 in den einzelnen Abschnitten in vergleichbarer Weise um Variation der Anfangsverse zu tun war. 852 Tatsächlich lässt sich also der von Eustathius behauptete Unterschied nachweisen. Das Scholion zeigt aber, dass es über die angebliche homerische Monotonie unterschiedliche Stimmen gab. Vergil ersetzt die homerische Einheitlichkeit durch formale Vielfalt und folgt damit nicht zuletzt dem Beispiel des Apollonios. Die Abwertung Vergils durch Eustathius erfolgt vor der Folie einer idealisierten archaischen simplicitas . Die philologische Diskussion über den homerischen Schiffskatalog, wie sie das erwähnte Scholion bewahrt, führt auf eine weitere Kategorie, nach der Eustathius Vergils imitatio bewertet. Im Anschluss an den zitierten Abschnitt kommt der anonyme Scholiast nämlich auf das Thema des Katalogbeginns zu sprechen: … ἦρκται δὲ ἀπὸ Βοιωτῶν κατὰ μὲν Ἀρίσταρχον οὐκ ἔκ τινος παρατηρήσεως, κατὰ δὲ ἐνίους, ἐπεὶ †μεσαιτάτῳ† τῆς Ἑλλάδος ἡ Βοιωτία· ἔστι δ’ αὐτῆς ἐξ ἀνατολῶν μὲν Εὔριπος, ἐκ δυσμῶν δὲ Φωκίς, βορείων δὲ Λοκρίς, ἀπὸ δὲ μεσημβρίας Ἀττική. ἢ ὅτι μέγιστον εἶχε ναυτικὸν ὡς Φοινίκων ἄποικος. ἢ ὅτι ἐν Αὐλίδι συνήχθη τὸ ναυτικόν. ἢ ὅτι Ἕλλην ὁ Δευκαλίωνος ἐν Βοιωτίᾳ ᾤκησεν. (schol. b ad Il. 2, 494-877 = I 289, 18-24 Erbse) („[1] Aristarch zufolge begann er aber mit den Boiotiern ohne irgendeine besondere Überlegung, [2] anderen zufolge, weil Boiotien in der Mitte Griechenlands liegt; im Osten grenzt nämlich der Euripos an Boiotien, im Westen Phokis, im Norden Lokris, 849 Vgl. Aen. 10, 166 ( Massicus aerata princeps secat aequora Tigri ); 170 ( una torvos Abas ); 175 ( tertius ille hominum divumque interpres Asilas ); 180 ( sequitur pulcherrimus Astur ); 185-186 ( Non ego te, Ligurum ductor fortissime bello, | transierim, Cinyra et paucis comitate, Cupavo ); 198 ( Ille etiam patriis agmen ciet Ocnus ab oris ); 207 ( It gravis Aulestes ). 850 Vgl. insbesondere Aen. 7, 682-685 ( quique altum Praeneste viri quique arva Gabinae | Iunonis gelidumque Anienem et roscida rivis | Hernica saxa colunt, quos dives Anagnia pascis, | quos Amasene pater ); 712-717; 725-728; 739-740; 797-799; 10, 167-168; 183 in Anlehnung an die erwähnte οἳ-Formel. 851 Apoll. Rhod. 1, 20-233. 852 Vgl. zusammenfassend Nelis (2001), S. 305-310 (305: „Vergil clearly studied with care Apollonius’ imitation of the Homeric catalogue and followed his lead in several ways. Both poets strive to vary the repetitive Homeric pattern of introduction and to include a greater variety of information.“). - Zum Einfluss weiterer Kataloge auf Vergil vgl. Courtney (1988) und Boyd (1992). <?page no="301"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 301 und im Süden Attika. [3] Oder er hielt sie für die größte Flotte, weil es eine Kolonie der Phoinikier war. [4] Oder weil die Flotte in Aulis versammelt wurde. [5] Oder weil Hellen, der Sohn des Deukalion, in Boiotien lebte.“) Die D -Scholien erweitern das Spektrum antiker Erklärungsversuche noch um einige Stimmen: Ἄρξασθαι δέ φασί τινες ἀπὸ Βοιωτῶν τὸν Ὅμηρον τοῦ καταλόγου, χαριζόμενον ταῖς Μούσαις ἃς ἐπεκαλέσατο. Αὐτόθι γὰρ ἐν Βοιωτίᾳ εἶναι τὸν Ἑλικῶνα τὸ ὄρος, ὅπου σύνηθες αὐταῖς διατρίβειν. Οἱ δὲ, τῆς Φωκίδος, λέγουσιν, εἶναι τὸν Ἑλικῶνα. μὴ οὖν ἀπὸ Βοιωτῶν τὴν ἀρχὴν διὰ τοῦτο γεγενῆσθαι. Τινὲς δὲ, ἀνθ’ ὧν οὗτοι μόνοι πέντε εἶχον ἡγεμόνας. Ἄλλοι δέ φασιν, οὐ διὰ τοῦτο· ἀλλ’ ἐπεὶ πολλὰς πόλεις εἶχεν ἡ Βοιωτία, διὰ τοῦτο ἐντεῦθεν ἄρξασθαι αὐτὸν τοῦ καταλόγου. Οὐκ ἔστι δὲ οὐδὲ τοῦτο ὑγιές. Οὐ γὰρ ἀπὸ πλήθους πόλεων ὁ κατάλογος παραμεμέτρηται. Ἤρξατο γὰρ ἂν μᾶλλον ἀπὸ Κρητῶν, ἐχόντων ἑκατὸν πόλεις. Βέλτιον δὲ, λέγειν, αὐτὸν ἀπὸ Βοιωτῶν ἦρχθαι, ἐπείπερ ἐν Αὐλίδι, πόλει τῆς Βοιωτίας, συνήχθη ἅπαν τὸ πλῆθος, τὸ ἐπὶ τὴν Ἴλιον μέλλον στρατεύειν. Ἔχει δὲ αὕτη ἡ πόλις λιμένας, τοὺς μὲν βλέποντας ἐπὶ τὴν Ἴλιον, τοὺς δὲ καταγωγεῖς ἀπὸ τῆς Ἑλλάδος πάσης. Δι’ ἣν αἰτίαν συνηθροίσθησαν αὐτόθι, καὶ ἐντεῦθεν ἀπέπλευσαν. Ὁ δὲ Ἀρίσταρχός φησι, κατὰ ἐπιφορὰν αὐτὸν ἀπὸ Βοιωτῶν τὴν ἀρχὴν πεποιῆσθαι. Εἰ γὰρ καὶ ἀπ’ ἄλλου ἔθνους ἤρξατο, ἐζητοῦμεν ἂν τὴν αἰτίαν τῆς ἀρχῆς. … (schol. D ad Il. 2, 494) („[6] Einige aber sagen, dass Homer seinen Katalog mit den Boiotiern begonnen habe, um damit den Musen zu gefallen, die er angerufen hat. Eben dort in Boiotien liege nämlich auch der Berg Helikon, wo sie ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort hätten. Andere aber sagen, dass der Helikon zu Phokis gehöre. Das könne demnach nicht der Grund sein, dass er mit den Boiotiern begonnen habe. [7] Andere aber sagen stattdessen, dass nur diese [d. h. die Boiotier] fünf Anführer gehabt hätten. [8] Andere aber sagen, das sei nicht der Grund; sondern weil es in Boiotien viele Städte gebe, habe er dort den Katalog begonnen. Das macht aber keinen Sinn. Der Katalog richtet sich nämlich nicht nach der Zahl der Städte. Sonst hätte er eher mit den Kretern begonnen, die hundert Städte haben. [~ 4] Besser ist es zu sagen, dass er mit den Boiotiern begonnen habe, weil die ganze Menge <an Schiffen>, die nach Troja aufbrechen wollte, in Aulis, einer Stadt in Boiotien, versammelt war. Diese Stadt nämlich hat Strände, die in Richtung Troja liegen und von ganz Griechenland angefahren werden. Aus diesem Grund wurden sie dort versammelt und segelten von dort ab. [~ 1] Aristarch aber sagt, dass er ohne zu überlegen mit den Boiotiern begonnen habe. Hätte er aber mit einem anderen Volk begonnen, so würden wir nach dem Grund dieses Beginns fragen. …“) Die Erklärungsversuche gehen also in unterschiedliche Richtungen und selbst Aristarchs Autorität konnte der einfachen These, Homer sei keiner bestimmten <?page no="302"?> 302 5. Macrobius, Saturnalia Überlegung am Katalogbeginn gefolgt, nicht zum Durchschlag verhelfen. 853 Wo ordnet sich Eustathius in dem entsprechenden Abschnitt ( Sat. 5, 15, 2) ein? Er verweist darauf, dass Boiotien ein notissimum promuntorium sei, bringt also die Aspekte Bekanntheit und geographische Lage zur Sprache. Das erkläre die Bevorzugung dieser Gegend vor Athen, Sparta oder Mykene (das mit seinem Bezug auf Agamemnon ein geeigneterer Kandidat für die Anfangsposition gewesen wäre). Eustathius schlägt sich also auf die Seite der in den D -Scholien präferierten Erklärer (Typus 4). Auffallenderweise spielt der Gesichtspunkt des Katalogbeginns nun aber bei der Bewertung Vergils in Sat. 5, 15, 4-5 keine Rolle mehr. Mit dem für Homer zurückgewiesenen Argument, dass die Heimat ranghoher Anführer an erster Stelle stehen müsste, hätte Eustathius nämlich durchaus die Erstpositionierung von Mezentius und Lausus - nach Aen. 7, 649-650 stehen sie nur dem Turnus an Pracht nach - im Latinerkatalog lobend erwähnen können. Vergils Entscheidung, die Kontingente des Turnus ( Aen. 7, 783-802) und der Camilla ( Aen. 7, 80-811) an die ebenso prominente Schlussposition zu rücken, dürfte ebenfalls der Bedeutung dieser Figuren Rechnung tragen. Statt diese Änderung bei Vergil nun lobend herauszustellen, spielt Eustathius einen Gesichtspunkt in den Vordergrund, der für Homer spricht, nämlich den der geographischen Kohärenz . Diese sieht er in der Ilias vorbildlich verwirklicht, wobei er die Dinge freilich in ein etwas harmonisierendes Licht rückt. Nach seiner Einschätzung habe der Dichter die aufgelisteten Örtlichkeiten im Binnenland ( mediterranea ) und im Meer, d. h. in Küstengegenden und auf Inseln ( maritima ), in zusammenhängender Folge abgeschritten, ohne dabei jemals zwischen den Orten zu springen ( nec ullo saltu cohaerentiam regionum in libro suo hiare permittit ). Am Ende langt er wieder dort an, wo er mit seiner Aufzählung begonnen hat ( redit unde progressus est ). Damit gibt Eustathius die homerische Abfolge nur grob vereinfacht wieder und ignoriert, dass der Schiffskatalog zwar einem ähnlichen Schema folgt, allerdings aufgeteilt in mindestens drei relativ separate Zyklen: Mittel- und Südgriechenland ( Il. 2, 494-644 mit 16 Kontingenten), Kreta und Dodekanes ( Il. 2, 645-680 mit vier Kontingenten) und Thessalien ( Il. 2, 681-759 mit neun Kontingenten). Die Absicht Homers dürfte von Eustathius aber annähernd getroffen sein 854 und sie wurde in diesem Sinne auch bereits von dem Geographen Strabo erkannt: 853 Die beiden sich ergänzenden Referate bilden wohl den Hauptteil der in der Antike vorgebrachten Meinungen ab; der byzantinische Kommentator Eustathios jedenfalls geht in seinem Kommentar nicht über sie hinaus (vgl. Eust. ad Il. 2, 494-498 = 262, 27-41 = I 399, 17-400, 5 van der Valk). 854 Vgl. zusammenfassend Latacz (2003), S. 154 unter Zurückweisungen früherer komplizierterer Erklärungsmodelle: „Man kommt allerdings ohne solche Konstruktionen aus, wenn <?page no="303"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 303 Τὸ δ’ ὅλον οὐκ εὖ τὸ τὴν Ὁμήρου ποίησιν εἰς ἓν συνάγειν τῇ τῶν ἄλλων ποιητῶν εἴς τε τἆλλα καὶ εἰς αὐτὰ τὰ νῦν προκείμενα τὰ τῆς γεωγραφίας καὶ μηδὲν αὐτῷ πρεσβεῖον ἀπονέμειν. καὶ γὰρ εἰ μηδὲν ἄλλο, τόν γε Τριπτόλεμον τὸν Σοφοκλέους ἢ τὸν ἐν ταῖς Βάκχαις ταῖς Εὐριπίδου πρόλογον ἐπελθόντα καὶ παραβαλόντα τὴν Ὁμήρου περὶ τὰ τοιαῦτα ἐπιμέλειαν, ῥᾷον ἦν αἰσθέσθαι τὴν ὑπερβολὴν ἢ τὴν διαφοράν· ὅπου γὰρ χρεία τάξεως ὧν μέμνηται τόπων, φυλάττει τὴν τάξιν ὁμοίως μὲν τῶν Ἑλληνικῶν, ὁμοίως δὲ τῶν ἄπωθεν· … καὶ ἐν τῷ καταλόγῳ τὰς μὲν πόλεις οὐκ ἐφεξῆς λέγει· οὐ γὰρ ἀναγκαῖον· τὰ δὲ ἔθνη ἐφεξῆς. … οἱ δ’ ἐφ’ ὧν τάξεως χρεία, ὁ μὲν τὸν Διόνυσον ἐπιόντα τὰ ἔθνη φράζων, ὁ δὲ τὸν Τριπτόλεμον τὴν κατασπειρομένην γῆν, τὰ μὲν πολὺ διεστῶτα συνάπτουσιν ἐγγύς, τὰ δὲ συνεχῆ διασπῶσι· … (Strab. geogr. 1, 2, 20) („Überhaupt ist es nicht richtig, Homers Dichtung mit der der übrigen Dichter auf eine Stufe zu stellen - das gilt auch sonst, besonders aber für eben das was uns hier beschäftigt: das Geographische - und ihm keinen Ehrenplatz zuzuweisen. Hätte man doch, wenn aus nichts Anderem, so jedenfalls aus der Lektüre des sophokleischen Triptolemos … oder des Prologs in Euripides’ Bakchen … und dem Vergleich mit Homers Sorgfalt in dergleichen leicht den Unterschied des Vorgehens ersehen können. Wo es nämlich auf die Reihenfolge der von ihm erwähnten Orte ankommt, behält er die Reihenfolge bei, sowohl bei den griechischen als bei den entfernteren … Und im Katalog nennt er zwar die Städte nicht der Reihe nach [weil es nicht nötig ist], wohl aber die Völker. … Jene dagegen - der eine, wenn er Dionysos’ Zug durch die Völker, der andere, wenn er Triptolemos’ Gang über die zu besäende Erde beschreibt - verknüpfen bei den Gegenden, die eine Reihenfolge verlangen, die weit voneinander liegenden eng miteinander und reißen die benachbarten auseinander …“ ÜS Radt ) Eustathius legt auch an Vergils Kataloge den schrittweisen Fortgang ohne Sprünge als Kriterium des gelungenen Aufbaus an und kommt - nach einer knappen Analyse des Etruskerkatalogs, der Latinerkatalog wird nur pauschal charakterisiert - zu dem Schluss, dass die Kataloge der Aeneis den homerischen Standard nicht erreichen. Tatsächlich ist dieser Schluss richtig, wenn man die geographische Kohärenz der genannten Orte überprüft: Weder im Etruskernoch im Latinerkatalog lässt sich ein geographisches Gliederungskonzept, man lediglich eine Intention zugrunde legt, Griechenland vom östlichen Ende Boiotiens aus (Aulis) möglichst vollständig und in einer möglichst nahtlosen Abfolge zu erfassen … In diesem Prinzip des unmittelbaren geographischen Anschlusses hat bereits Strabon das entscheidende Auswahlkriterium gesehen …“ - Streng genommen lassen sich an fünf Stellen Sprünge in der Aufzählung ausmachen, nämlich zwischen dem aitolischen (2, 638-644) und dem kretischen (2, 645-652), dem kretischen (2, 645-652) und dem rhodischen (2, 653-670), dem koischen (2, 676-680) und dem pelasgiotischen (2, 681-694), dem magnesischen (2, 716-728) und dem hestiaiotischen (2, 729-733), sowie dem ainiënisch-peraibischen (2, 748-755) und dem peleisch-peneischen Kontingent (2, 756-759); vgl. die Kartenübersicht bei Latacz (2003), S. 145. <?page no="304"?> 304 5. Macrobius, Saturnalia allenfalls eine alphabetische Ordnung bei der Auflistung der Anführer erkennen. 855 Ein Grund dafür ist kaum zu ersehen; offenbar war es Vergil nicht darum zu tun, Homer in dieser Hinsicht zu überbieten. 856 - Was den Katalogbeginn betrifft, so verschleiert Eustathius aber die Leistung Vergils wie bereits dargelegt, wenn er nämlich ein notorisches Interpretationsproblem an der entsprechenden Homerstelle nur streift und Vergil, der dieses Problem durch eine Änderung der Vorlage ja „gelöst“ hat, gerade in diesem Punkt nicht mit Homer vergleicht. Stattdessen schwenkt er über zur geographischen Kohärenz der erwähnten Orte, wo Vergil tatsächlich die unbefriedigendere Lösung bot, was als Mangel im ordo dann auch entsprechend von Eustathius gerügt wird. Eustathius behandelt außer diesen im Scholion genannten Punkten noch drei weitere Qualitätsmerkmale des epischen Katalogs. Eines davon betrifft die Verknüpfung von Katalog und nachfolgender Erzählung , näherhin die Übereinstimmung des in den Katalogen und den nachfolgenden Kampfschilderungen genannten Personals ( Sat. 5, 15, 6-9). Für Homer stellt Eustathios eine recht weitreichende Behauptung auf, wenn er nämlich sowohl feststellt, dass alle im Katalog genannten Personen später als Kämpfer wieder auftauchen 857 , Homer aber in den Fällen, wo in den Kämpfen von einer Menge von Gefallenen die Rede ist, die im Katalog noch nicht genannt wurden, auf eine Metapher (Ernte) ausweiche. 858 Beispiele werden nicht gegeben - anders als bei Vergil, der aber nach Einschätzung des Eustathius die gegebene Regel missachtet habe. 859 855 Vgl. zusammenfassend Harrison (1991), S. 108: „Like the contingents of the Latin Catalogue, those here appear to exhibit no particular geographical sequence in their order of appearance …, and as in the Latin Catalogue some sort of alphabetical grouping of their leaders seems apparant - Massicus, Abas , Asilas , Astur , Cunerus , Cupavo , Ocnus, Aulestes - … Such an alphabetical order is possibly but not necessarily derived from a prose source; two of the heroes in the sequence (Abas and Cunerus) look like the poet’s own inventions, and the poet may simply have liked groups of heroes beginning with the same letter.“ - Kritisch dazu Horsfall (2000), S. 415-416 mit weiterführender Literatur. 856 Ob Vergils antiquarische Quellen für beide Kataloge - in Frage kommen vor allem Cato und Varro - einen Einfluss auf die Anordnung nahmen, lässt sich kaum erweisen. Vgl. zur Quellenfrage des Latinerkatalogs Horsfall (2000), S. 417-421, des Etruskerkatalogs Harrison (1991), S. 109-111. 857 Vgl. Sat. 5, 15, 6 ( … omnes quos in catalogo enumerat etiam pugnantes vel prospera vel sinistra sorte commemorat … ). 858 Vgl. Sat. 5, 15, 6 ( … et, cum vult dicere occisos quos catalogo non inseruit, non hominis sed multitudinis nomen inducit et quotiens multam necem significare vult, ‘messem’ hominum factam dicit … ). - Konkret ist an das Schnittergleichnis Il. 11, 67-69 gedacht (vgl. auch die Schildbeschreibung Il. 18, 550-556). Anders als von Eustathius suggeriert, handelt es sich bei der Schnittermetapher allerdings keineswegs um ein weitverbreitetes Bild; vgl. noch Il. 19, 221-224 und Hainsworth (1993), S. 228 („The metaphor of ‘mowing down’ an enemy is surprisingly rare in Greek“). 859 Vgl. Sat. 5, 15, 7 ( nam et in catalogo nominatos praeterit in bello et alios nominat ante non dictos ). <?page no="305"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 305 Eustathius verweist auf die Kontingente aus Clusium und Cosa: In Aen. 10, 167-168 wird nämlich ein Massicus als Anführer genannt, während im darauffolgenden Etruskerkatalog ( Aen. 10, 655) von einem rex … Osinius die Rede ist, worin ein eindeutiger Widerspruch liege, da dieser rex doch kaum in der zuvor genannten Truppe unter dem Befehl des Massicus kämpfen dürfte, sondern im Etruskerkatalog selbst als Anführer genannt sei. In Sat. 5, 15, 8 herrscht einige Unklarheit. Eustathius verweist in diesem Abschnitt auf vier Aeneisverse mit insgesamt sechs Personennamen, die jeweils nur an dieser Stelle genannt werden, ohne im weiteren Gedicht eine Rolle zu spielen: • Die erste Stelle entstammt keinem der beiden Kataloge in der Aeneis und ist zudem textkritisch problematisch. Aen. 1, 610-612 lautet in unseren Ausgaben: sic fatus amicum | Ilionea petit dextra laevaque Serestum, | post alios fortemque Gyan fortemque Cloanthum . Eustathius - bzw. Macrobius -, der den Vers mit fortemque Gyam fortemque Serestum zitiert, setzt damit das Schlusswort aus 611 nach 612. 860 Für unsere Frage ist dieser Umstand nur von geringer Relevanz, da beide Versionen kaum dazu geeignet sind, um als Beispiel im o. g. Sinn herangezogen zu werden: Cloanthus wird nur in der ersten Aeneishälfte, also außerhalb des eigentlichen Kampfgeschehens in Latium, genannt ( Aen. 1, 222; 510; 5, 122; 152; 167; 225; 233; 245), Serestus hingegen erscheint an mehreren Stellen unter den Kämpfenden ( Aen. 9, 171; 779; 10, 541; 12, 549; vgl. außerdem Aen. 4, 288 und 5, 487). Mit Gyan ist in Aen. 1, 611 der auch an neun weiteren Stellen ( Aen. 1, 222; 5, 118, 152, 160, 167, 169, 184, 223; 12, 460) genannte Trojaner Gyas gemeint; ein Latiner gleichen Namens begegnet in 10, 318. - Zu berücksichtigen ist außerdem, dass es sich bei Aen. 1, 612 nicht um eine Katalogstelle handelt. • Im zweiten Beispiel sind zwar zwei Namen ( pulcher … Aquiculus … et Mavortius Haemon ) genannt, die nur an dieser Stelle erscheinen, aber wieder nicht in den Katalogen, sondern im Kampfbericht ( Aen. 9, 684-685). • Der in Aen. 7, 752 genannte Umbro steht an dieser Stelle zwar im Latinerkatalog, doch wird er - anders als von Eustathius behauptet - noch einmal in den Kämpfen des zehnten Buches ( Aen. 10, 544) genannt. • Eigentlich passt nur der in Aen. 7, 761 genannte Virbius zu der von Eustathius formulierten Einschätzung: Er steht im Latinerkatalog und begegnet an späterer Stelle nicht mehr. Nur die folgende Trias ist ohne sachliche Unstimmigkeiten charakterisiert: Die ersten drei in Aen. 5, 15, 9 genannten Kämpfer - Astur ( Aen. 10, 180 und 181), Cupavo 860 Wohl aus Aen. 12, 561 ( Mnesthea Sergestumque vocat fortemque Serestum ) übernommen. - Die Variante fortemque Serestum fand auch Eingang in den Kommentar des Tiberius Donatus; vgl. Tib. Don. ad Aen. 4, 288 = I 392, 5 Georgii. <?page no="306"?> 306 5. Macrobius, Saturnalia und Cinirus (beide Aen. 10, 186) - tauchen wie von Eustathius bemerkt allesamt im Etruskerkatalog auf, ohne später eine weitere Erwähnung zu finden. Von den letzten drei Namen, die den umgekehrten Fall - Erwähnung innerhalb der Kämpfe ohne Aufnahme in einen Katalog - exemplifizieren sollen, ist immerhin der erste fehl am Platz: Halaesus, fünfmal in den Kämpfen des zehnten Buches 861 erwähnt, hatte schon einen Platz im Latinerkatalog ( Aen. 7, 724) bekommen. Immerhin trifft die Einschätzung des Eustathius auf Sacrator (nur erwähnt in Aen. 10, 747) und Atinas ( Aen. 11, 869; 12, 661) zu. In der Wahl der Beispiele unglücklich, hat Eustathius freilich durchaus einen richtigen Punkt getroffen. Vergils Kataloge erscheinen von den eigentlichen narrativen Partien des Epos relativ losgelöst, zumindest was die Wahl des Personals betrifft. Freilich gilt es hier zwischen den beiden größeren Katalogen zu differenzieren: Im Latinerkatalog, wo nur drei der Anführer, nämlich Aventinus, Oebalus und Virbius, ohne Entsprechung im weiteren Erzählverlauf bleiben, trifft sein Urteil weniger zu als im Etruskerkatalog. 862 Eustathius verallgemeinert also, wenn er Vergil mangelnde Sorgfalt unterstellt ( Sat. 5, 15, 7: sed Maro vester anxietatem huius observationis omisit ). In der vergilischen Katalogtechnik wie Eustathius einen scharfen Kontrast zu Homer zu sehen, ist aber schon deshalb verfehlt, weil auch bei Homer Anführer im Katalog stehen, ohne dass diese später noch einmal erwähnt würden, und dasselbe gilt auch für den umgekehrten Fall, wenn nämlich Namen in den Kämpfen genannt werden, ohne dass sie vorbereitend in den Katalogen verzeichnet wurden. 863 In der Regel werden die im Katalog genannten Anführer nur einmal wieder genannt bzw. spielen im weiteren Erzählverlauf nur unbedeutende Rollen. 864 Immerhin geben die relativen numerischen Verhältnisse Eustathius im Großen und Ganzen Recht. 865 Seine scharfe Gegenüberstellung der beiden Dichter und das damit verbundene Qualitätsurteil bedürfen aber der Relativierung. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass auch die antiken Vergilkommentatoren diesen Kritikpunkt vorgebracht haben. In Aen. 10, 561-564 werden in rascher Folge vier Krieger - Antaeus, Lucas, Numa und Camers - genannt, denen Aeneas kämpfend 861 Vgl. Aen. 10, 352, 411, 417, 422, 424. 862 Vgl. Horsfall (2000), S. 414 f. - Im Etruskerkatalog stehen nur drei Namen, die später noch einmal aufgegriffen werden; vgl. Harrison (1991), S. 106. 863 Mit Burr (1961), S. 134 Anm. 3 sind für den letzteren Fall zu nennen: Promachos, Oresbios, Menesthios, Stichios, Pheidas und Bias. 864 Beispiele bei Burr (1961), S. 134 Anm. 4 und 135 Anm. 1. 865 Vgl. die Angabe zu Homer bei Harrison (1991), S. 106: „… 125 of the 140 named in the two catalogues of Iliad 2 reappear in the poem“. <?page no="307"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 307 nachsetzt. Ein Veroneser Scholion bemerkt hierzu: [ta]citis regnavit Amyclis] adnotandum, quod in catalogo huius non meminit (schol. Veron. ad Aen. 10, 564 = III .2 447, 12-13 Thilo-Hagen = 124, 27-28 Baschera). Ein Vergleich mit den im Latinerkatalog genannten Kriegern bestätigt diese Einschätzung. Folglich ist auch ein diesbezüglicher Kommentar bei Servius textkritisch zu ändern: 866 fortemque Numam fulvumque Camertem ] … horum in catalogo < non Halfpap> meminit . ( DS erv. ad Aen. 10, 562 = II 449, 10-11 Thilo-Hagen) Obwohl quantitativ überschaubar, lassen solche Äußerungen doch erkennen, dass die Forderung nach gleichem Personal in den Katalogen und in der epischen Erzählung allgemein anerkannt war, auch wenn die in den Saturnalia vorgebrachten Beispiele nicht immer schlagend sind. Ähnliches gilt auch für den Punkt, den Eustathius in Sat. 5, 15, 10-13 macht, nämlich die sachlichen Widersprüche zwischen Katalog und Erzählung ( in his quos nominat … incauta confusio ). Für Vergil bringt Eustathius sechs Beispiele vor: Bsp. 1: Corynaeus C. von Asilas getötet ( Aen. 9, 571) C. tötet Ebusus ( Aen. 12, 298-300) 867 Bsp. 2: Numa N. von Nisus getötet (vgl. Aen. 9, 454) N. von Aeneas „getötet“ bzw. verfolgt ( Aen. 10, 562) 868 Bsp. 3: Camers C. von Aeneas „getötet“ (vgl. Aen. 10, 562) Iuturna nimmt die Gestalt des C. an ( Aen. 12, 224) Bsp. 4: Chloreus C. von Camilla „getötet“ bzw. als Opfer ausersehen (vgl. Aen. 11, 768-782) V. von Turnus getötet (vgl. Aen. 12, 363) Bsp. 5: Iasides Palinurus Iasides (vgl. Aen. 5, 843) Iapyx Iasides (vgl. Aen. 12, 391-392) Bsp. 6: Hyrtacides Hippocoon Hyrtacides (vgl. Aen. 5, 492; 5, 503) Nisus Hyrtacides ( Aen. 9, 177; vgl. auch 9, 234 und 9, 319) 866 Vgl. dazu auch Georgii (1891), S. 461. 867 Vgl. Georgii (1891), S. 533, der ausgehend von Macrobius auf eine - heute verlorene - frühere Kritik an dieser Stelle schließt, die dann auch Servius zu seinem verteidigenden Kommentar angeregt habe. 868 Vgl. DServ. ad Aen. 10, 562 = II 449, 10-11 Thilo-Hagen ( … horum in catalogo < non Georgii> meminit ) und Georgii (1891), S. 461. Vgl. dazu auch schol. Veron. ad Aen. 10, 564 = 124 27-28 Baschera ([ta]citis regnavit Amyclis] Adnotandum, quod in catalogo huius non meminit. …) <?page no="308"?> 308 5. Macrobius, Saturnalia Von diesen sechs Beispielen sind wieder einige anfechtbar bzw. unpassend: In Aen. 10, 562 ist lediglich davon die Rede, dass Aeneas seinen Gegner Camers verfolgt 869 , während Chloreus von Camilla zwar als Opfer ausersehen wird, jedoch selbst am Leben bleibt, weil Arruns seine Gegnerin tötet, bevor sie Chloreus zur Strecke bringen kann. 870 Aus den beiden letzten Fällen lässt sich ebenfalls kaum ein belastbarer Vorwurf gegen Vergil ableiten, handelt es sich in beiden Fällen doch um Patronyme. 871 Nur die ersten beiden Fälle sind demnach tatsächlich aussagekräftig. 872 Immerhin räumt Eustathius in Sat. 5, 15, 13 ein, dass die in seinen Augen fehlerhaften Benennungen mit dem Hinweis auf Homonymie gerechtfertigt werden können ( sed potuerunt duo unum nomen habuisse ). Der vergilischen Praxis hält Eustathius entgegen, dass Homer selbst bei homonymen Kämpfern wie Ajas immer darauf geachtet habe, die Identität im jeweiligen Fall klarzustellen. 873 Sein Urteil ist aber auch hier wieder pauschalisierend, wie sich zumindest an einem Beispiel zeigen lässt. Im Schiffskatalog führt Homer den Phyleussohn Meges als Anführer der Dulichier ein. 874 Derselbe Name begegnet in Il. 13, 691-692 wieder und bezeichnet hier den Anführer der Epeier: … αὐτὰρ Ἐπειῶν | Φυλείδης τε Μέγης Ἀμφίων τε Δρακίος τε, … („… doch bei den Epeiern | Der Phyleus-Sohn Meges und Amphion und Drakios“ ÜS Schadewaldt ). Man kann diese auf den ersten Blick widersprüchlichen An- 869 Vgl. zu Aen. 10, 562 ( persequitur fortemque Numam fulvumque Camertem ) Georgii (1891), S. 528 und Fo (1984 a ), pass. 870 Ähnliche Einschätzung bei Georgii (1891), S. 536; vgl. auch Fo (1984 b ), pass. 871 Die modernen Interpreten sehen an dieser Stelle kein Problem; vgl. Lossau (1987), S. 937 zu Palinurus und Stok (1985), S. 883 zu Iapyx sowie Polverini (1987), S. 17, die annimmt, dass es sich bei Hippocoon um einen Bruder des Nisus handle (dagegen Dingel [1997], S. 22-23). 872 Im Fall des in Aen. 12, 298-300 genannten Corynaeus - neben den beiden bei Macrobius genannten Stellen noch genannt in Aen. 6, 228 - gehen die modernen Interpreten von einem Latiner bzw. einem Trojaner aus, der von dem in Aen. 9, 571 getöteten Corynaeus zu unterscheiden ist; vgl. Garbugino (1984), pass. mit älterer Literatur. Tarrant (2012), S. 163 z. St. übergeht das Problem. - Den von Nisus getöteten Numa ( Aen. 9, 454) trennt Harrison (1991), S. 214 z. St. von dem in Aen. 10, 562 genannten Gegner des Aeneas; vgl. aber Scarsi (1987), pass. , die wie auch Eustathius bei Macrobius zur Ansicht tendiert, dass Vergil hier ein Fehler unterlaufen sei. 873 Diese Einschätzung trifft in der Regel zu; vgl. die Stellen in der Konkordanz von Tebben I (1998), S. 32-35. 874 Vgl. Il. 2, 625-630 (Οἳ δ’ ἐκ Δουλιχίοιο Ἐχινάων θ’ ἱεράων | νήσων, αἳ ναίουσι πέρην ἁλὸς Ἤλιδος ἄντα, | τῶν αὖθ’ ἡγεμόνευε Μέγης ἀτάλαντος Ἄρηι | Φυλείδης, ὃν τίκτε Διὶ φίλος ἱππότα Φυλεύς, | ψορρ. ὅς ποτε Δουλίχιον δ’ ἀπενάσσατο πατρὶ χολωθείς· | τῷ δ’ ἅμα τεσσαράκοντα μέλαιναι νῆες ἕποντο. [„Und die von Dulichion und von den heiligen Echinaden, | Den Inseln, die jenseits des Meeres liegen, gegenüber von Elis, | Von denen wieder war Anführer Meges, gleichwiegend dem Ares, | Der Phyleus-Sohn, den gezeugt hatte der zeusgeliebte Rosselenker Phyleus, | Der einst nach Dulichion fortgezogen war, dem Vater zürnend, | Und dem folgten vierzig schwarze Schiffe.“ ÜS Schadewaldt ]). <?page no="309"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 309 gaben mit dem Hinweis harmonisieren, dass der Vater des Meges, der Epeier Phyleus, Dulichion gegründet habe und sein Sohn in Il. 13, 691-692 demnach an der Spitze der ehemaligen Truppen seines Vaters stehe. 875 Der Text der Ilias klärt den Widerspruch jedenfalls nicht auf; die Stelle wäre demnach einem Angriff nach der Art des Eustathius leicht auszusetzen gewesen. Erklärungsbedarf sah auch der Autor eines anonymen Scholions zur Stelle, der die πιθανότης der Stelle zu verteidigen sucht: αὐτὰρ Ἐπειῶν | Φυλείδης <τε Μέγης>] καὶ μὴν Ἀμφίμαχος καὶ Θάλπιος Ἠλείων ἦσαν ἡγεμόνες. Ἀρίσταρχος δὲ καὶ τοὺς ἐκ Δουλιχίου Ἐπειοὺς καλεῖ· ὡς γὰρ ἐξ Ἤλιδος φυγόντος Φυλέως, εἰκὸς ἦν αὐτῷ συναίρεσθαί τινας, ὧν ἦρχε Μέγης. εἰ δὲ ἐκείνων νῦν μέμνηται Ἐπειῶν τῶν ἐξ Ἤλιδος, πιθανὸν ἂν εἴη †ἂν† ἡγεῖσθαι αὐτῶν Μέγητα ὡς ὁμοεθνῆ· Ἀμφίμαχος γὰρ καὶ Διώρης οἱ τῶν Ἠλείων δυνάσται ἀνῄρηνται, Θάλπιος δὲ καὶ Πολύξενος τραυματίζονται. (schol. T ad Il. 13, 691-692 = III 531, 12-19 Erbse) („Nun waren auch Amphimachos und Thalpios Anführer der Eleier [vgl. Il. 2, 620]. Aristarch nennt auch die, die aus Dulichion stammen, Epeier; da ja Phyleus aus Elis floh, war es wahrscheinlich, dass einige die Gefahr mit ihm teilten, über die <dann> Meges herrschte. Wenn er nun <d. h. in Il. 13, 691-692> aber jene Epeier aus Elis erwähnt, so wird es wohl glaubhaft sein, dass sie ihr Landsmann Meges anführt; Amphimachos aber und Diores, die Herren der Eleier, sind schon getötet worden [vgl. Il. 13, 185-186 und Il. 4, 517-526], Thalpios und Polyxenos werden verwundet.“) Von einer Verwundung der beiden elischen Anführer Thalpios und Polyxenos war in der vorangegangenen Erzählung freilich keine Rede gewesen: Der Kommentator hat sichtliche Mühe, die neue Zuständigkeit des Meges zu erklären. 876 Der letzte, von Eustathius in Sat. 5, 16, 1-5 formulierte Gesichtspunkt betrifft die eingeschobenen Erzählungen . Eustathius bestimmt deren Funktion einleitend dahingehend, dass sie nach der trockenen Aufzählung von Dingen und Namen entspannend auf den Leser wirken sollen ( post difficilium rerum vel nominum narrationem infert fabulam cum versibus amoenioribus, ut lectoris animus recreetur ). Hier wird also - in einem gewissen Widerspruch zu der eingangs gelobten archaischen Monotonie Homers - die iucunditas der eingeschalteten Erzählungen - beispielhaft werden die Erzählungen von Thamyris ( Il. 2, 594-600) und Tlepolemos ( Il. 2, 657-662) zitiert - gelobt. Aus der Aeneis nennt Eustathius drei Erzählungen: Aventinus ( Aen. 7, 657-663) und Hippolytus ( Aen. 7, 765-780) aus dem Latinerkatalog sowie Cycnus aus dem Etruskerkatalog ( Aen. 10, 189-193). Eustathius verzichtet in diesem Abschnitt darauf, beide Dichter hinsichtlich des genannten Kriteriums synkritisch zu vergleichen, sondern konstatiert bei 875 Vgl. Richmond (1968), pass. und Latacz (2003), S. 203 z. St. 876 Vgl. auch den Kommentar Erbses z. St.: „explicatio ex tempore facta (ut vid.)“. <?page no="310"?> 310 5. Macrobius, Saturnalia beiden einfach die Verwendung von unterhaltsamen narrativen Einschaltungen und suggeriert damit, dass beide Dichter dieses Mittel in gleicher Weise einsetzen. Die Unterschiede werden allerdings erst im quantitativen Vergleich deutlich: Von den 29 von Homer im Schiffskatalog genannten Kontingenten geben immerhin acht Anlass zu mehr oder weniger ausführlichen erzählenden Einlassungen. 877 Der Troerkatalog verzichtet hingegen - sieht man von den wenigen Versen über die Genealogie des Aineias ( Il. 2, 820-823) ab - vollständig auf derartige Erzählungen. Vergil geht, vergleicht man etwa den Latinerkatalog mit dem homerischen Schiffskatalog, wesentlich sparsamer mit diesem Stilmittel um: Hier finden sich in den dreizehn Abschnitten nur die beiden von Eustathius genannten. Noch geringer ist der relative Anteil im Etruskerkatalog, wo ebenfalls nur die in den Saturnalia erwähnte Cycnusepisode zu nennen ist. Eustathius behauptet an dieser Stelle also eine Äquivalenz, ohne dass die relative Gleichheit tatsächlich gegeben wäre. Immerhin bringt er aber davon ausgehend einen Gesichtspunkt ins Spiel, der für seine Einschätzung von Vergils Erzählkunst aufschlussreich ist. Er macht die als homerisch qualifizierte Stileigenschaft auch für die anderen Werke Vergils geltend, wenn er nämlich den Erzählungen, die den Abschluss der vier Bücher der Georgica bilden 878 , eine analoge Funktion - Entspannung für den Leser - zuschreibt. Ihr Stoff liegt eigentlich außerhalb des Hauptarguments ( singulos libros acciti extrinsecus argumenti interpositione conclusit ), wirkt aber nach der Reihung einzelner praecepta in gattungstypischer Monotonie entspannend auf den Leser. Damit erweitert Eustathius am Ende seiner Ausführungen über den Katalog die Perspektive auch auf andere Gattungen wie das Lehrgedicht. 879 Insgesamt wird Eustathius in Sat. 5, 15, 1-16, 5 also nicht allen Aspekten vergilischer Kataloggestaltung gerecht. Wegen der großen Zahl an entsprechenden Scholien lässt sich in diesem Fall besonders gut nachvollziehen, wie er die traditionelle Kritik - etwa gegen den Beginn des Schiffskatalogs - gegen Homer zwar erwähnt, bei seiner Bewertung aber in den Fällen, wo Vergil diese Kritik verbessernd aufgegriffen hat, nicht zu dessen Gunsten heranzieht. Die Beurteilung geht von einem unter dem Schlagwort der simplicitas legitimierten homerischen Katalogstil aus, nimmt diesen als Muster und wertet konsequent die Änderungen Vergils ab. Nur beim letzten Punkt, den eingeschobenen Er- 877 Im Einzelnen sind dies die Erzählungen von Astyoche ( Il. 2, 513-515), Thamyris ( Il. 2, 594-600), Phyleus ( Il. 2, 628-629), Tlepolemos ( Il. 2, 657-670), Achilleus ( Il. 2, 686-694), Protesilaos ( Il. 2, 700-702), Philoktetes ( Il. 2, 721-725) sowie von Polypoites und Leonteus ( Il. 2, 742-746). 878 Vgl. georg. 1, 351-468 (Wetterzeichen), 2, 458-540 (Lob des Landlebens), 3, 478-566 (Pest) und 4, 315-558 (Orpheus und Aristaeus). 879 Vgl. Sat. 5, 16, 5 ( ita in omni opere Maronis Homerica lucet imitatio ). <?page no="311"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 311 zählungen, wird keine Kritik gegen Vergil erhoben, dessen Kataloge aber in der Gesamtschau von Sat. 5, 15, 1-16, 5 vor dem Urteil des Eustathius dennoch nicht bestehen können. 5.2.2.8 Sentenzen ( Sat. 5, 16, 6 - 8) Seinen Abschnitt über die Sentenzen 880 leitet Eustathius mit dem Hinweis auf den Sentenzenreichtum bei Homer ein: Homerus omnem poesin suam ita sententiis farsit ut singula eius ἀποφθέγματα vice proverbiorum in omnium ore fungantur … Die sechs Beispiele, mit denen er diese These zu belegen versucht, sind in der Art, wie Eustathius sie präsentiert, suggestiv: Nach dem Einleitungssatz glaubt man, es handle sich ausnahmslos um homerische Sentenzen. Tatsächlich zitiert Eustathius aber zwei Verse bzw. Halbverse, die nicht aus Ilias oder Odyssee stammen, sondern aus anderen, - vermeintlich oder tatsächlich - frühgriechischen Texten, nämlich dem ps.-pythagoreischen Carmen aureum 881 und den Erga Hesiods: μέτρον δ᾽ ἐπὶ πᾶσιν ἄριστον (Ps.-Pyth. Carmen aureum 38; Ps.-Theano 198, 27; Stob. 3, 15, 7; „Maß ist bei allem das Beste“; ) ἀφρὼν θ᾽ ὅς κ᾽ ἐθέλῃ πρὸς κρείσσονας ἀντιφερίζειν (Hes. op. 210; „Nur ein Narr aber will gegen Stärkere kämpfen“ ÜS Schönberger ) Die übrigen vier Sentenzen entstammen in einem Fall der Ilias , in drei Fällen der Odyssee : ἀλλ᾽ οὔ πως ἅμα πάντα θεοὶ δόσαν ἀνθρώποισιν ( Il. 4, 320; „Aber niemals geben alles zugleich die Götter den Menschen“ ÜS Schadewaldt ) 882 χρὴ ξεῖνον παρεόντα φιλεῖν, ἐθέλοντα δὲ πέμπειν ( Od. 15, 74; „Man soll den Gast, wenn er da ist, Freundlichkeit erweisen, wenn er aber will, ihn fortlassen“ ÜS Schadewaldt ) 883 880 An neuerer Literatur zu den Sentenzen bei Homer sei auf Lardinois (1997) hingewiesen; vgl. auch die Sammlung der sentenzartigen Verse bei Ahrens (1937), S. 12-38 ( Ilias ) und S. 92 ( Odyssee ) sowie Teufer (1890), Stickney (1903) und die allgemeineren Literaturhinweise bei Görler (1963), S. 7 Anm. 2. - Einen Überblick zum Sentenzengebrauch bei Vergil gibt Polara (1988), pass. ; weitere Arbeiten zu diesem Thema stammen von Collart (1974) und Dinter (2011). 881 Vgl. zu dieser Schrift einleitend Thom (1995), S. 31-92. 882 Die Sentenz wurde häufiger zitiert; vgl. z. B. Dion. Hal. Dem. 54 = V 247, 18-19 Usener- Radermacher, Lib. epist. 338, 3 = X 319, 5 Foerster, 516, 1 = X 492, 1 Foerster und 1431, 4 = XI 470, 14 Foerster. 883 In dem anonymen Traktat Περὶ τῶν τοῦ λόγου σχημάτων (III 155, 7 Spengel) wird die Sentenz als Bsp. für das Isokolon geführt. Ein auf Aristonikos zurückzuführendes Scholion weist der Sentenz eine Nähe zu Hesiod zu (ἐν πολλοῖς οὐκ ἐφέρετο. καὶ ἔστιν Ἡσιόδειος τῆς φράσεως ὁ χαρακτήρ). Vgl. dazu schol. A ad Il. 18, 39 = IV 443, 19-21 Erbse und schol. A ad Il. 24, 614 = V 622, 13-14 Erbse. <?page no="312"?> 312 5. Macrobius, Saturnalia <παῦροι γάρ τοι παῖδες ὁμοῖοι πατρὶ πέλονται, | > οἱ πλέονες κακίους <, παῦροι δέ τε πατρὸς ἀρείους> ( Od. 2, 276-277; „Werden doch wenige Söhne dem Vater ähnlich, die meisten schlechter; wenige besser als der Vater“ ÜS Schadewaldt ) 884 δειλαί τοι δειλῶν γε καὶ ἐγγύαι ἐγγυάασθαι ( Od. 8, 351; „Übel sind auch die Bürgschaften, die für Üble übernommen werden“ ÜS Schadewaldt ) 885 Wie erklärt sich die Einschaltung der nichthomerischen Zitate? Es geht, wie in dem anfangs zitierten Einleitungssatz schon angedeutet, Eustathius nicht allein darum, sprichwörtliche Redensarten anzuführen, die in ihrem originalen homerischen Wortlaut im Umlauf waren, sondern auch um den Nachweis über das Fortwirken homerischer Gedanken bei anderen Autoren. Deshalb mischt er ohne besondere Kennzeichnung sprachliche Variationen homerischen Gedankenguts unter die Beispiele aus Ilias und Odyssee (s. u.). Mit diesem weiten Sentenzbegriff, der auch das Nachleben der einzelnen Gedanken bei späteren Autoren einschließt, die Sentenz also weniger als fixes sprachliches denn als gedankliches Gebilde auffasst, folgt Eustathius wohl wieder den Homerphilologen, für die das Thema schon allein wegen der Bekanntheit Homers und der sprichwörtlichen Verbreitung einzelner Verse zentral war. Eine Parallele hat sein Vorgehen nämlich in einem Abschnitt bei Ps.-Plutarch (Ps.-Plut. de Hom. B 153-160 = 1916-1988 Kindstrand), wo zu neun homerischen Sentenzen jeweils ein bis zwei Rezeptionszeugnisse bzw. Umformulierungen in Vers oder Prosa zitiert werden. Einleitend stellt Ps.-Plutarch allgemein fest: Πολλὰς δὲ γνώμας καὶ παραινέσεις ἀγαθὰς Ὁμήρου ἐξενεγκόντος, παρέφρασαν οὐκ ὀλίγοι τῶν μετ’ αὐτόν („Nicht wenige haben viele von den Sentenzen und Ermahnungen, die Homer vorgebracht hatte, später mit anderen Worten aufgegriffen.“). 886 Nach einem ähnlichem Prinzip wie in de Hom. B 153-160 geht Ps.-Plutarch vor, wenn er in de Hom. B 151 = 1894-1905 Kindstrand fünf Maximen der sieben Weisen auf homerische Vorbildverse zurückführt. 884 Als Sentenz zitiert bei Aristid. or. 46 = 226, 20-21 Jebb. 885 Diese Sentenz wird auch von Ps.-Plut. ( de Hom. B 151 = 1902 Kindstrand), Plutarch ( conv. sept. sap. 21 = 164 c ) und Clemens von Alexandrien ( strom. 1, 14, 61, 2) zitiert. 886 Vgl. Hillgruber (1999), S. 341-342 zu dieser Art von Sammlung: „Benutzt ist dabei offensichtlich eine Schrift, wie sie auch Theon in den Progymnasmata (I 62, 21-64, 27 Spengel / Patillon) ausgeschrieben hat … Dort soll der Nutzen der παράφρασις … durch Beispiele aus den alten Dichtern und Prosaikern verdeutlicht werden … Kennzeichnend für beide Texte [ scil. Ps.-Plutarchos und Theon] ist das Fehlen jeglicher Polemik, wodurch sie sich wohltuend von der Plagiatsliteratur unterscheiden, die uns z. B. bei Clemens von Alexandria fassbar ist … Vergleichen lassen sich sonst nur noch die nach Sachaussagen geordneten Florilegien nach Art des Stobaios. Was dort allerdings wiederum fehlt, ist der Hinweis auf gegenseitige Abhängigkeiten.“ - Einmal wird der Ausspruch auch in den unter dem Namen der pythagoreischen Philosophin Theano überlieferten Briefen erwähnt; vgl. 198, 27 Thesleff. <?page no="313"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 313 Drei der im Abschnitt de Hom. B 151-160 genannten Maximen werden mit dem Namen des Pythagoras in Verbindung gebracht: Die pythagoreische Maxime ἕπου θεῷ (vgl. insbes. Stob. 2, 7, 3 f = II 49, 8-16 Wachsmuth / Hense mit demselben Homerbezug) habe angeblich seinen Ursprung in Il. 1, 218 (ὅς κε θεοῖς ἐπιπείθηται μάλα τ’ ἔκλυον αὐτοῦ [„Wer den Göttern gehorcht, sehr hören sie auch auf diesen.“ ÜS Schadewaldt ]); vgl. Ps.-Plut. de Hom. B 151 = 1895-1897 Kindstrand und Hillgruber (1999), S. 337-338 z. St. - Zu Il. 15, 104-109 werden in de Hom. B 153 = 1925-1927 Kindstrand Verse aus dem ps.-pythagoreischen Carmen aureum (17-18) zitiert; vgl. Hillgruber (1999), S. 342. - Im folgenden Kapitel de Hom. B 154 = 1932-1936 Kindstrand finden wir dann Il. 24, 128-129 mit einem Pythagorasfragment ( frg. 16 Nauck) verbunden; vgl Hillgruber (1999), S. 342-343. Dem auch bei Ps.-Plutarch berücksichtigten ps.-pythagoerischen Carmen aureum entstammt das zweite bei Macrobius angeführte Zitat (μέτρον δ᾽ ἐπὶ πᾶσιν ἄριστον). 887 Dieser Halbvers war verbreitet und fand auch Eingang in Spruchsammlungen: Bei Stobaios ist er eines von dreizehn Beispielen, die das Thema ἀσωτία („Verschwendung“; vgl. Stob. 3, 15, 7 = III 477, 12-14 Wachsmuth / Hense) illustrieren sollen. Zwar findet sich bei Stobaios kein analoges Homerbeispiel zum selben Thema, doch lassen sich unschwer Stellen bei Homer finden, die ähnlichen Inhalts sind und daher als mögliche „Quellen“ des ps.pythagoreischen Ausspruchs angesehen werden konnten. Der Halbvers könnte etwa mit den bei Ps.-Plut. de Hom. B 151, 1 = 1899-1900 Kindstrand zur Devise μηδὲν ἄγαν zitierten Versen καὶ δ’ ἄλλῳ νεμεσῶ, ὅς κ’ ἔξοχα μὲν φιλέῃσιν, | ἔξοχα δ’ ἐχθαίρῃσιν· ἀμείνω δ’ αἴσιμα πάντα in Zusammenhang gebracht werden (nach Od. 15, 70-71; [„Und ich verarge es einem anderen, der übermäßig Freundlichkeit erweist und übermäßig mit seinem Hass verfolgt. Alles Gebührliche ist besser! “ ÜS nach Schadewaldt ]); vgl. auch Hillgruber (1999), S. 338, wo auf Il. 10, 249 als weitere mögliche Parallele verwiesen wird. (Auf die Formulierung bei Ps.-Pythagoras hat sicherlich auch Hes. op. 694 eingewirkt [μέτρα φυλάσσεσθαι· καιρὸς δ’ ἐπὶ πᾶσιν ἄριστος]; vgl. auch Nauck [1965], S. 222-223). - Auch zu dem zweiten nicht von Homer stammenden Vers, den Eustathius zitiert (Hes. op. 210), lässt sich mit Ps.-Plutarch (vgl. de Hom. B 152, 2 = 1910 Kindstrand) eine homerische Parallele namhaft machen, nämlich Il. 1, 80 (κρείσσων γὰρ βασιλεὺς ὅτε χώσεται ἀνδρὶ χέρηι [„Denn mächtiger ist ein König, wenn er zürnt einem geringeren Mann“ ÜS Schadewaldt ]). Eustathius dürfte demnach bei der Auswahl der beiden nichthomerischen Verse nicht einfach ein Fehler unterlaufen sein, sondern er mischt echte Homerzitate und spätere Abwandlungen homerischen Gedankenguts im Stile der Homer- 887 Vgl. dazu auch Thom (1995), S. 162. <?page no="314"?> 314 5. Macrobius, Saturnalia philologie. - Ganz anders liegen die Dinge nun im Fall Vergils. Hier zitiert Eustathius nur Originalstellen, wobei die Auswahl im Proporz zum jeweiligen Werkumfang relativ ausgewogen die ganze Werktrias - bis auf eine Ausnahme in chronologischer Reihenfolge - berücksichtigt: non omnia possumus omnes ( ecl. 8, 63) 888 omnia vincit Amor ( ecl. 10, 69) 889 labor omnia vincit | improbus ( georg. 1, 145-146) usque adeone mori miserum est? ( Aen. 12, 646) 890 stat sua cuique dies ( Aen. 10, 467) 891 dolus an virtus, quis in hoste requirit? ( Aen. 2, 390) 892 et quid quaeque ferat regio et quid quaeque recuset ( georg. 1, 53) 893 auri sacra fames ( Aen. 3, 57) 894 888 Nach Sat. 6, 1, 35 auf Lucilius ( frg. 224 Krenkel = frg. 218 Marx) zurückgehend; sonst nur noch bei Serv. ad ecl. 7, 23 = III.1 85, 21 Thilo-Hagen als Vorbild für si non possumus omnes zitiert. 889 Zitate dieses berühmten Halbverses sind nur aus grammatischen Texten bekannt. In der Regel interessierte die Autoren die metrische Dehnung von amor vor der Penthemimeres, vgl. Mar. Victorin. VI 30, 5 Keil; Char. gramm. I 13, 5 und 15, 31 Keil; Diom. gramm. I 429, 25 Keil; Mall. Theod. VI 587, 14 Keil; Serv. ad Aen. 3, 464 = I 423, 1 Thilo-Hagen; Serg. gramm. IV 479, 9 Keil; Beda gramm. VII 231, 6 Keil; Max. Victorin. VI 219, 13 Keil und ult. syll. gramm. IV 257, 10 Keil. Andere grammatische Aspekte stehen bei Non. 446, 6 (Semantik von totum in Abgrenzung von omne ) bzw. bei Audax gramm. VII 340, 1 Keil und Victorin. gramm. VI 213, 4 Keil (metrische Qualität von omnia als ein Versfuss) im Vordergrund. Sat. 5, 14, 5 zitiert ecl. 10, 69 als Beispiel für die versus vulsis ac rasis similes . - Inhaltliche Aspekte behandelt Serv. ad ecl. 2, 31 = III.1 23, 25 Thilo-Hagen und Serv. ad Aen. 4, 697 = I 584, 23-27 Thilo-Hagen; bei Non. 526, 33 und im comment. Lucan. 3, 402 (~ Serv. ad ecl. 2, 31 = III.1 23, 25 Thilo-Hagen) wird ecl. 10, 69 schließlich als allgemein bekannte vergilische Sentenz zitiert. 890 Als Sentenz zitiert bei Sen. epist. 101, 13; Quint. inst. 8, 5, 6 (als Beispiel für den Typus der Sentenz, der die einfache Form [ recta sententia ] unter Verwendung einer rhetorischen Figur, d. h. hier durch eine rhetorische Frage, abwandelt [ mutatio figurae ]) und Suet. Ner. 47. 891 Der Halbvers wird in der Regel nur in grammatischer Fachliteratur zitiert: Non. 391, 32; Serv. ad Aen. 4, 696 und 697 = I 582, 20-584, 26 Thilo-Hagen; Sat. 1, 16, 43 und 5, 10, 4; schol. ad Stat. Theb. 3, 205-206 = 189, 422-423 Sweeney; schol. ad Hor. carm. 1, 13, 17 = I 29, 9 Keller; vgl. aber Hos. Geta Med. 74. 892 Als prägnante sentenzenhafte Charakterisierung nur zitiert bei Serv. ad Aen. 2, 341 = I 276, 9-10 Thilo-Hagen. 893 Die Sentenz wurde gelegentlich zitiert: Colum. 1, 4, 4; 5, 5, 7 und 8, 17, 8 und Sen. epist. 87, 20; vgl. Plin. nat. 18, 206. Im grammatischen Kontext begegnet sie bei Ter. Maur. 1150; vgl. auch schol. Bern. ad georg. 2, 49 und 2, 109 = 220, 13 und 225, 12-13 Hagen. 894 Der Vers wurde in der Regel herangezogen, um die verschiedenen Bedeutungen von sacer zu erläutern; vgl. Non. 397, 26; Diom. gramm. I 437 Keil; Serv. ad georg. 2, 395 = III.1 255, 5 Thilo-Hagen; Serv. ad Aen. 11, 721 = II 559, 24 Thilo-Hagen; Agroec. gramm. VII 119, 14-15 Keil; Beda de orthogr. VII 292 Keil und schol. ad Lucan. 10, 334. - Bei Diom. <?page no="315"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 315 Eine Verbreitung als Sentenz über den Horizont der grammatischen Fachliteratur hinaus lässt sich nur im Falle von georg. 1, 53 und Aen. 12, 646 belegen. 895 Der Gesichtspunkt der Bekanntheit kann daher bei der Auswahl der Sentenzen kaum ausschlaggebend gewesen sein. Auch beschränkt Eustathius sich nicht auf den engeren Sentenzbegriff der Rhetoriker, der stets abgeschlossene Sätze unter diesem Begriff fasst, sondern reiht unter seine Beispiele auch prägnante Nominalphrasen ( auri sacra fames ) bzw. Relativsätze ( et quid quaeque ferat regio et quid quaeque recuset ) ein. Ebenso wenig folgt er bei seiner Auswahl einem der diversen Klassifikationsvorschläge, die man für die genera bzw. εἴδη der Sentenz in Vorschlag gebracht hat. 896 Dass es ihm darum geht, eine gewisse formale Vielfalt vorzuführen, ist jedoch kaum zu verkennen. Legt man etwa die Einteilung in fünf genera zugrunde, die Quintilian in inst. 8, 5, 5 vorschlägt, so lassen sich unter den Vergilversen Beispiele für die Sentenzen per interrogationem ( Aen. 12, 646; Aen. 2, 390), per comparationem ( Aen. 3, 57) und per infitiationem ( ecl. 8, 63) finden; auch das genus ex diversis ist mit georg. 1, 53 vertreten. - Die von Ps.-Plut. de Hom. B 152, 2 = 1911-1915 gemachte Unterscheidung zwischen deskriptiven und adhortativen Sentenzen könnte bei der Auswahl der Homerbeispiele eine Rolle gespielt haben; vgl. unter den bei Macrobius in Sat. 5, 16, 6 zitierten echten Homerbeispielen Il. 4, 320, Od. 2, 276-277 und Od. 8, 351 für den Typus der deskriptiven, Od. 15, 74 für den Typus der adhortativen Sentenz. Die fehlende Systematik soll vielleicht die unübersichtliche Menge der Sentenzen veranschaulichen, die Vergil und Homer in ihren Werken formuliert haben. Dass dieser Eindruck jedenfalls der bestimmende bei der Beschäftigung mit den Sentenzen beider Autoren ist, hält Eustathius im Schlusssatz fest: … mille sententiarum talium aut in ore sunt singulorum aut obviae intentioni legentis occurrunt . 897 5.2.2.9 Sachliche Abweichungen ( Sat. 5, 16, 8 - 11) Im Abschnitt Sat. 5, 16, 8-10 verweist Eustathius auf mehrere Stellen, an denen Vergil von seinem Vorbild Homer in sachlicher Hinsicht abgewichen ist. Dabei geht er davon aus, dass es sich jeweils um eine bewusste Abweichung von der gramm. I 310 Keil wird Aen. 3, 57 als - allgemein bekannter - Beispielvers für eine Deklinationsübung zitiert. Als allgemeine Sentenz beruft sich auch Serv. ad Aen. 4, 412 = I 538, 12-13 Thilo-Hagen auf diesen Vers. 895 Auch in den epigraphisch überlieferten Gedichten lässt sich kein nennenswerter Einfluss gerade der von Eustathius zitierten Verse nachweisen; vgl. die Übersicht bei Hoogma (1959), S. 222‒343 über die Entlehnungen aus der Aeneis . 896 Vgl. wieder die Übersicht bei Kirchner (2001), S. 21‒43 und ergänzend Ps.-Plut. de Hom. B 152 = 1906‒1915 Kindstrand. 897 Sat. 5, 16, 8. <?page no="316"?> 316 5. Macrobius, Saturnalia konkreten Modellstelle handelt. Die Änderungen an den Vorlagen, die Vergil vorgenommen hat, werden von Eustathius pauschal negativ bewertet. Thematisch betreffen die einzelnen Abweichungen Philosophie, Mythologie sowie Figuren- und Göttercharakteristik. Eine erste Änderung des homerischen Vorbilds erkennt Eustathius in der Verwendung der Begriffe μοῖρα (~ decretum 898 ) und τύχη bzw. Fortuna ( Sat. 5, 16, 8). 899 Homer kenne eine der lateinische Fortuna vergleichbare göttliche Macht nicht; bei ihm herrsche allein die μοῖρα ( soli decreto, quam μοῖραν vocat, omnia regenda committit ). Folglich verwende er die Vokabel τύχη an keiner Stelle, was sachlich richtig ist 900 und auch von den antiken Homerexegeten wiederholt vermerkt wurde: Beiläufig verweist ein Kommentator im Anschluss an eine morphologische Erklärung zur Form τυχήσας darauf hin, dass Homer das Konzept der τύχη nicht kenne; vgl. schol. T ad Il. 4, 106 b = I 466, 42 Erbse (οὐκ οἶδεν Ὅμηρος ὄνομα τῆς τύχης). - An anderer Stelle wird vermerkt, dass der Dichter wohl die Sache bzw. ihre Wirkungen, aber nicht die Bezeichnung kenne; vgl. schol. T ad Il. 11, 684 a = III 258, 11-12 Erbse (τὸ γὰρ τῆς τύχης ὄνομα οὐκ οἶδεν ὁ ποιητής, τὰ δὲ ἀπ’ αὐτοῦ ῥήματα). Ähnlich schol. bT ad Il. 20, 127 = V 25, 26-27 Erbse (τύχην γὰρ οὐκ οἶδεν, ἀλλὰ τὸ ἀπ’ αὐτῆς· ‘οὕνεκα μοι τύχε πολλά’). Dieses Scholion ist auch deshalb interessant, weil der Kommentator hier verschiedene konkurrierende Ausdrücke zum Begriffsfeld „Schicksal, Vorsehung“ - jeweils mit etymologischer Erklärung - sammelt, u. a. μοῖρα (vgl. V 24, 22 Erbse). Bei Vergil hingegen begegnet Fortuna sehr wohl. Ausgehend von Aen. 8, 334 ( Fortuna omnipotens et ineluctabile fatum ) - ohne den Bezug freilich explizit herzustellen - nimmt Eustathius daran Anstoß, dass Vergil seiner Glücksgöttin einen umfassenden Einflussbereich zuschreibt und sich damit in Widerspruch zu den Anschauungen der Philosophen bringe, die Fortuna immer als eine dem fatum untergeordnete Gewalt aufgefasst hätten: omnipotentiam quoque eidem tribuit, quam et philosophi, qui eam nominant nihil sua vi posse, sed decreti sive providentiae ministram esse voluerunt ( Sat. 5, 16, 8). Die Kritik gründet also auf einem Widerspruch zur philosophischen communis opinio - ohne dass die betreffenden philosophi genauer bestimmt würden (s. u.). Mit der Einführung der 898 Diese Übersetzung von μοῖρα mit decretum ist singulär, doch findet sich eine Umschreibung mit Formen von decerno im Schicksalskontext häufiger; vgl. TLL V.1 156, 30-51. - Eustathius hat mit seiner μοῖρα eher ein abstraktes Konzept im Sinn, wie die Übersetzung nahelegt. Bei Homer gibt es bereits Hinweise, nach denen man μοῖρα als personifizierte Schicksalsgöttin auffassen kann (vgl. Il. 24, 209-210). 899 Vgl. auch → Kap. 5.2.1.2 zu Sat. 5, 13, 39. 900 Vgl. V. Langholf: Art. „τύχη, Τύχη“, LfgrE IV (2010), Sp. 683, 3-7 mit dem frühesten Beleg Hom. h. 11, 5. <?page no="317"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 317 Fortuna bringt sich Vergil Eustathius zufolge in Schwierigkeiten, weil sich der in ihr verkörperte Zufall in einem latenten Widerspruch zu dem hier decretum bzw. providentia genannten Konzept - womit nichts anderes als das unveränderliche fatum , d. h. die bei Homer als μοῖρα bezeichnete Vorbestimmung gemeint ist - befinde. Bei Homer gebe es hingegen nur ein Konzept; ein Widerspruch in der Schicksalskonzeption besteht hier nicht. Der behauptete Fehler Vergils liegt nicht darin, dass er zwei Einflusskräfte annimmt, sondern dass er den Einflussbereich der Fortuna , indem er sie als omnipotens bezeichnet, über Gebühr ausweite. Auf welche philosophi bezieht sich Eustathius dabei und lassen sich daraus Parallelen zu bestimmten Deutungsansätzen der Homerphilologen ableiten? Eine mögliche Lösung halten womöglich die Vergilexegeten bereit. Das Nebeneinander der zwei auf den ersten Blick widersprüchlichen Konzepte Zufall und schicksalhafte Vorbestimmung erschien nämlich auch Servius erklärungsbedürftig, der Vergils Doppelkonzeption als stoisch erklärt: Fortuna omnipotens et ineluctabile fatum] secundum stoicos locutus est, qui nasci et mori fatis dant, media omnia fortunae: nam vitae humanae incerta sunt omnia. unde et miscuit, ut quasi plenum ostenderet dogma: nam nihil tam contrarium est fato quam casus; sed secundum stoicos dixit. … (Serv. ad Aen. 8, 334 = II 248, 5-9 Thilo-Hagen) Servius erklärt die Juxtaposition von Fortuna und fatum also mit dem Hinweis, Vergil sei hier der stoischen Doktrin gefolgt. 901 Seine Interpretation modifiziert die stoische Schicksalskonzeption jedoch erheblich, wenn er nämlich anstelle der Gleichzeitigkeit von kausaler Determination im Kosmos und Kontingenzbzw. Zufallserfahrung des immanenten Betrachters eine diachrone Abfolge der Zuständigkeiten - Geburt und Tod unter der Herrschaft des fatum , Leben unter der Macht der Fortuna - postuliert. Das hat offenbar den Zweck, Vergils Adjektiv omnipotens - demnach also: „allmächtig <in der Zeit zwischen Leben und Tod>“ - zu rechtfertigen. Konnte er omnipotens auf diese Weise erklären, 901 Einen knappen Überblick über die beiden Konzepte in der stoischen Doktrin gibt - mit Bezug auf Seneca - Wildberger (2006), I S. 47-48 und II S. 550-552 (I S. 47-48: „Einen Zufall gibt es im stoischen System nicht. … Nichts geschieht ohne Ursache ; und die einzige Ursache von allem, die allen einzelnen Ursachen zugrunde liegt, ist Gott. … Den Menschen aber kommen die Handlungen Gottes zufällig und regellos vor, weil der Kosmos zu komplex ist, als dass Menschen alle Zusammenhänge erkennen könnten …, die notwendig und vernünftigerweise zu eben dem kausal exakt determinierten Ereignis geführt haben, das die Menschen jeweils gerade überrascht. … Nur aus dieser begrenzten, subjektiven Perspektive der Menschen wird Gott in seiner Eigenschaft als ‘für menschliche Überlegung nicht klar erkennbare Ursache ’ auch Zufall oder Fortuna [τύχη / fortuna ] genannt.“). Es läuft also letztlich auf die Frage nach der Perspektive auf das kosmische Geschehen hinaus. - Zur Frage nach den Quellen (Seneca bzw. Cornutus) der stoischen Vergilinterpretamente bei Servius vgl. Setaioli (2008), S. 165-173. <?page no="318"?> 318 5. Macrobius, Saturnalia so ergibt sich nach Servius aber ein zweites Problem: Euander verweist nämlich an der fraglichen Stelle im selben Vers auf Fortuna und fatum , um seine Vertreibung und Ankunft in Latium zu erklären. Wenn die „stoische“ Erklärung des Servius stimmt, so ist ein gleichzeitiger Einfluss beider Kräfte auf Euander aber prinzipiell unmöglich. Daher der etwas hilflose Hinweis des Kommentators, Vergil habe beide Wirkungsfaktoren „vermischt“, um die „ganze Lehre“ ( plenum … dogma ) wiederzugeben. Der Verweis auf die Stoiker führt Servius also in eine doppelte Aporie, dass er nämlich die stoische Doktrin einerseits durch Annahme eines diachronen Aufeinanderfolgens von fatum und Fortuna modifizieren muss, um omnipotens zu erklären, dann aber wiederum nicht erklären kann, warum Euander beide Konzepte ins Spiel bringt, um eine Episode seines Lebens zu erklären. Die Kritik des Eustathius geht vom selben Problem aus, hat aber eine etwas andere Nuance. Eustathius stößt sich ebenfalls an omnipotens und dem daraus resultierenden Widerspruch zur Allmacht des fatum . Um ihn aufzulösen, geht er zunächst von einem hierarchischen Verhältnis der beiden Konzepte aus, wonach Fortuna als ministra fati fungiere. Damit geht er nun ganz in die Richtung, die auch Ps.-Plutarch in seinem Traktat De Homero zur Erklärung der homerischen Schicksalskonzeption einschlägt - obwohl Homer wie eingangs erwähnt keine der vergilischen Fortuna entsprechende Macht kennt. 902 In einem Abschnitt über die εἱμαρμένη zitiert der anonyme Autor die Verse Il. 6, 488-489: μοῖραν δ’ οὔ τινά φημι πεφυγμένον ἔμμεναι ἀνδρῶν, | οὐ κακὸν οὐδὲ μὲν ἐσθλόν, ἐπὴν τὰ πρῶτα γένηται. („Aber dem Schicksal, sage ich, ist keiner entronnen von den Männern, | Nicht gering noch edel, nachdem er einmal geboren.“ ÜS Schadewaldt ) Dann schränkt er den Wirkungsbereich der μοῖρα gleich ein, wenn er erläutert: ἡγεῖται μέντοι καὶ αὐτός, ὥσπερ καὶ μετ’ αὐτὸν οἱ δοκιμώτατοι τῶν φιλοσόφων, Πλάτων καὶ Ἀριστοτέλης καὶ Θεόφραστος, οὐ πάντα καθ’ εἱμαρμένην παραγίνεσθαι ἀλλά τι καὶ ἐπὶ τοῖς ἀνθρώποις εἶναι. ᾧ ὑπάρχει μὲν τὸ ἑκούσιον, τούτῳ δέ πως συνάπτει τὸ κατηναγκασμένον, ὅταν τις, πράξας ὃ βούλεται, εἰς ὃ μὴ βούλεται ἐμπέσῃ. (Ps.-Plut. de Hom. B 120, 2 = 1312-1317 Kindstrand) („Trotzdem ist er der gleichen Ansicht wie die angesehensten Philosophen nach ihm, Plato, Aristoteles und Theophrast, dass nicht alles durch Schicksal zustande komme, sondern dass auch manches bei den Menschen liege, die über einen freien Willen verfügen, obwohl auch hier eine gewisse Notwendigkeit waltet, wenn immer einer das tut, was er will, aber in Situationen gerät, die er nicht will.“) 902 Vgl. Ps.-Plut. de Hom. B 120 = 1309-1328 Kindstrand. <?page no="319"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 319 Dass Ps.-Plutarch hier ohne sachliche Notwendigkeit auf die Philosophen Platon, Aristoteles und Theophrast zu sprechen kommt, erklärt sich auch aus dem enzyklopädischen Ansatz seiner Schrift, der es nicht nur darum geht, Homer zu erklären, sondern Homer auch als Ursprung aller Philosophie zu erweisen. Das Schicksalskonzept unterscheidet sich jedenfalls von dem von Servius ausgeführten „stoischen“ erheblich. Hier kommt mit der Eigenverantwortlichkeit des Menschen ein Bereich ins Spiel, der zwar der μοῖρα bzw. der εἱμαρμένη nicht eigentlich entgegensteht, aber doch ein eigenes Recht behauptet. 903 Bei Macrobius geht es nicht um die Willensfreiheit, sondern um den Aspekt des Zufalls, der in der Welt waltet - auch wenn zwischen beiden Sachverhalten eine gewisse Beziehung, nämlich eine Einschränkung des Schicksalsprinzips, besteht. Doch zeigt Ps.-Plutarch den Lösungsweg an, der nicht in der stoischen, sondern in der platonischen Philosophie zu suchen ist. Platon hatte nämlich in den Nomoi versucht, die τύχη als Instrument des göttlichen Willens mit der Vorsehung zu verbinden. Ihr kommt dabei eine Hilfsfunktion für die lenkende Gottheit zu, sie kann deshalb zurecht als „Dienerin Gottes“ bzw. „der Vorsehung“ bezeichnet werden. 904 Mit den von Eustathius erwähnten philosophi dürften also nicht wie bei Servius die Stoiker, sondern Platon und seine Nachfolger gemeint sein. 905 Vor dem Hintergrund der platonischen Schicksalskonzeption erklärt sich das Nebeneinander von Fortuna und fatum , das bei Servius noch problematisch war, und auch die Rede von der ministra fati fügt sich genau in die von Platon begründete Lehrtradition über ein hierarchisches Verhältnis der beiden Konzepte ein. In seiner platonisierenden Vergilinterpretation schließt Eustathius also an einen u. a. bei Ps.-Plutarch belegten Strang der Homerrezeption an - ohne dass er damit freilich eine Erklärung für die Schwierigkeiten bei omnipotens liefern könnte. Zwei sachliche Widersprüche werden im Anschluss für den Bereich fabula bzw. historia geltend gemacht: Aegaeons Verhältnis zu Jupiter und die Charakterisierung von Dolon bzw. Eumedes als tapferer Kämpfer. Die erste Schwierigkeit ergibt sich aus einem Vergleich der Schilderung Aigaions bei Homer ( Il. 1, 903 Ps.-Plutarch folgt an dieser Stelle wohl mittelplatonischen Vorstellungen, die keinen Widerspruch zwischen Willensfreiheit und Schicksal sahen; vgl. Hillgruber (1994), S. 51-52 und Hillgruber (1999), S. 261-264. 904 Vgl. Plat. leg. 709 b 4-8 (Ὡς θεὸς μὲν πάντα, καὶ μετὰ θεοῦ τύχη καὶ καιρός, τἀνθρώπινα διακυβερνῶσι σύμπαντα. [„Dass Gott alles und mit Gott zusammen der Zufall und der rechte Augenblick die menschlichen Verhältnisse insgesamt lenken.“ ÜS Schöpsdau ]). Bei Platon tritt an dieser Stelle noch die τέχνη hinzu, mithilfe derer man den von der τύχη bereiteten günstigen Moment nutzen kann. - Vgl. dazu Schöpsdau (2003), S. 153-158 und zusammenfassend Zimmermann (1966), S. 103-114. 905 Vgl. auch die platonische Interpretation der zitierten Homerverse Il. 6, 488-489 bei Porph. frg. 271, 105-126 Smith. <?page no="320"?> 320 5. Macrobius, Saturnalia 401-406) und dem korrespondierenden Aegaeongleichnis bei Vergil ( Aen. 10, 565-568). Kämpft der hundertarmige Riese bei Homer an der Seite des Zeus, so lehnt er sich bei Vergil gegen Jupiter auf. 906 Die traditionelle Lösung dieses Problems ist in einem Abschnitt bei Servius greifbar, der zu Aen. 6, 287 ausführt: centumgeminus Briareus] … secundum fabulas ipse etiam dictus est Aegaeon. qui, ut non nulli tradunt, pro diis adversus Gigantes bella gessit, ut vero alii adfirmant, contra deos pugnavit eo maxime tempore quo inter Iovem et Saturnum de caelesti regno certamen fuit: unde eum a Iove fulmine ad inferos tradunt esse trusum. alii dicunt, cum Iuno et Minerva et Neptunus ceterique dii Iovem ligare vellent, a Thetide Briareum adhibitum Iovem vinculis exemisse . ([D]Serv. ad Aen. 6, 287 = II 50, 18-25 Thilo-Hagen) Servius beruft sich an dieser Stelle also auf eine Doppelüberlieferung, die den Widerspruch zwischen beiden Passagen erklärt. In eine ganz ähnliche Richtung geht ein Veroneser Scholion zu der bei Macrobius genannten Stelle: [Aegaeon] Homerus amicum Aegaeona dicit Iovis, sed Antimachus in III Thebaidos dicit: ‘Adversum eum armatum’. (schol. Veron. ad Aen. 10, 565 = III .2 447, 16-17 Hagen = 125, 1-3 Baschera) Gemeint ist der ins vierte Jhdt. v. Chr. zu datierende Epiker Antimachos von Kolophon. 907 Antimachos bezog sich in seiner der homerischen Version gegenläufigen Darstellung wohl auf den Epiker Eumelos von Korinth (8. Jhd. v. Chr.? ), dem Verfasser einer Titanomachie , wie aus folgendem Scholion zu entnehmen: … Εὔμηλος δὲ ἐν τῇ Τιτανομαχίᾳ τὸν Αἰγαίωνα Γῆς καὶ Πόντου φησὶ παῖδα, κατοικοῦντα δὲ ἐν τῇ θαλάσσῃ τοῖς Τιτᾶσι συμμαχεῖν. (schol. ad Apoll. Rhod. 1, 1165 c = 106, 1-3 Wendel) („Eumelos sagt in der Titanomachie, dass Aigaion der Sohn von Erde und Meer war, im Meer lebte und gemeinsam mit den Titanen kämpfte.“) Die antike mythographische Forschung hätte also gute Gründe bereitgehalten, Vergils Aegaeongleichnis zu rechtfertigen. 908 - Außerdem finden sich noch zwei 906 Vgl. zu diesem Problem auch Georgii (1891), S. 462. 907 Vgl. frg. 14 Wyss. - Falsch ist demnach der Bezug auf Antimachos von Teos, den Baschera (1999), S. 125 herstellt. 908 Dass Aegaeon gegen Jupiter kämpft, findet sich neben Vergil noch häufiger in der zeitgenössischen und späteren Literatur: Auch Horaz bezog sich in seiner etwa zeitgleich zur Aeneis entstandenen Odensammlung auf diese Version des Mythos; vgl. carm. 3, 4, 49-52 ( Magnum illa terrorem intulerat Iovi | fidens iuventus horrida bracchiis | fratresque tendentes opaco | Pelion imposuisse Olympo ). Wie Stellen bei Ovid und Seneca zeigen, fanden Horaz und Vergil weitere Nachfolger; vgl. Ov. met. 1, 182-184 und Sen. Herc. O. 167-170. Statius lässt Aegaeon in Theb. 2, 595-596, einer Vergilimitation, ebenfalls gegen die Götter kämpfen ( non aliter - Geticae si fas est credere Phlegrae - | armatum inmensus <?page no="321"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 321 weitere Erklärungsmöglichkeiten bei den antiken Kommentatoren. Ein Veroneser Scholion bringt eine Änderung der Interpunktion in die Diskussion ein: [Arsisse Iovis cum. Amb]igua hic distinctio. Potest enim sic legi: ‘Quinquaginta oribus ignem pectoribusque arsisse Iovis’, | [idest ‘i]gnem Iovis’, ut ποιητικῶς ‘ignem Iovis’ dixerit fulmen, ut < Aen. 1, 42>: ‘Ipsa Iovis rapidum iaculata e nubibus | [igne]m.’ Potest et sic distingui: ‘Quinquaginta oribus ignem pectoribusque arsisse’, ut hic sit mora, dein|[de infe]ratur: ‘Iovis cum fulmina contra tot paribus streperet clypeis’. (schol. Veron. ad Aen. 10, 567 = III .2 447, 18-448, 4 Hagen = 125, 4-12 Baschera) Bei der ersten Variante hätte Aegaeon auf der Seite des Göttervaters das „Feuer Jupiters“, d. h. Blitze, ausgeatmet, nur im zweiten Falle wäre von einem Kampf zwischen Jupiter und Aegaeon auszugehen. Schließlich lässt sich mit Servius noch über die genaue Bedeutung von contra diskutieren: Iovis cum fulmina contra] quia dicitur flammam emisisse oribus suis contra Iovis fulmen. Homerus nihil dicit aliud, quam centum manus eum habuisse et auxilio eum Iovi adversus Neptunum, Iunonem et Minervam fuisse. et forte aut suum ignem, aut Iovis, acceptum spirasse pro eo, ut sit ‘contra’ non adversus Iovem, sed similiter, a pari, ut Terentius in Adelphis in capite comoediae <Ter. Ad. 50> ‘ille ut item contra me habeat facio sedulo’ . ( DS erv. ad Aen. 10, 567 = II 450, 17-23 Thilo-Hagen) Es fehlte also nicht an Versuchen, den Widerspruch zwischen Homer und Vergil zu erklären. Von diesen Interpretationsvorschlägen macht sich Eustathius bei Macrobius jedoch keinen zu Eigen. Ein weiterer angeblicher Widerspruch betrifft die Feigheit Dolons, die bei Homer bekanntlich eingehend gezeichnet wird ( Il. 10, 374-376): … ὃ δ’ ἄρ’ ἔστη τάρβησέν τε | βαμβαίνων· ἄραβος δὲ διὰ στόμα γίγνετ’ ὀδόντων· | χλωρὸς ὑπαὶ δείους· … („… Und er blieb stehen und erschrak, | Schlotternd, und aus dem Mund kam ein Klappern der Zähne, | Blaß vor Furcht. …“ ÜS Schadewaldt ) Die antiken Homerkommentatoren stellten die Drastik der Schilderung heraus: ἄκρως ἐδήλωσε πάθος δυσερμήνευτον, τοῖς δειλοῖς παρακολουθοῦν, τὸν θρασύδειλον Δόλωνα ὑπογράφων καὶ τοῖς ἐσχάτοις ὀνόμασιν ἐξευτελίζων (schol. bT ad Il. 10, 375 a = III 81, 87-90 Erbse) Briareus stetit aethera contra ). Der Kommentator Lactantius Placidus sieht hier einen ähnlichen Widerspruch zu Homer wie bei Vergil und wendet die aus Servius bekannte Lösungsstrategie (s. u.) an: Briareum bello Gigantum constat cum Iove sensisse. sed hic ‘contra’ sic posuit, quemadmodum Vergilius: ‘Iovis cum fulmina contra’ et ut Terentius: ‘ille item ut contra me habeat’ . <?page no="322"?> 322 5. Macrobius, Saturnalia Man konnte demnach in Homers Dolonfigur den prototypischen Feigling sehen, und für diese Auffassung gibt es in der Antike auch außerhalb der Spezialschriften zu Homer Belege. 909 Vergils Schilderung - Dolon wird als Vater des Eumedes erwähnt und kurz charakterisiert - wirft vor diesem Hintergrund tatsächlich Fragen auf ( Aen. 12, 346-352): Parte alia media Eumedes in proelia fertur, | antiqui proles bello praeclara Dolonis, | nomine avum referens, animo manibusque parentem, | qui quondam, castra ut Danaum speculator adiret, | ausus Pelidae pretium sibi poscere currus; | illum Tydides alio pro talibus ausis | adfecit pretio nec equis aspirat Achilli. Man könnte mit Homers Versen im Gedächtnis bei den Worten animo manibusque parentem < scil. referens > eine ironische Wendung annehmen, doch passt dies kaum in den von Vergil eröffneten Kontext. Vergil geht es an dieser Stelle ja darum, Dolon, den Vater des Eumedes, als vorbildlichen Krieger und würdigen Vorfahren seines Helden darzustellen. Damit ergibt sich nur dann eine Unstimmigkeit, wenn man wie Eustathius Homers Schilderung als maßgeblich betrachtet. Berücksichtigt man hingegen die Zeichnung der Dolonfigur in der nichthomerischen Literatur, so steht die Berechtigung einer solchen Kritik dahin: Zwar kennzeichnet Dolon auch hier List und Verschlagenheit - auch der Hinweis auf die Etymologie seines Namens bleibt nicht aus 910 -, doch erweist sich die Feigheit als eine spezifisch homerische Zutat. (Ps.-)Euripides konzipiert die Figur im Rhesos unter diesem Aspekt sogar kontrastiv zu Homer, nämlich als zwar durchtriebenen, aber durchaus tapferen Trojaner. 911 Auch bei anderen Gelegenheiten, wo Dolon genannt wird, steht für gewöhnlich nicht das Negativum seiner Feigheit im Vordergrund. 912 Es hätte auch kaum in die trojanische Perspektive der Aeneis gepasst, hätte ihn Vergil - dessen Absicht es war, den Trojaner Eumedes zu verherrlichen - mit den aus dem Blickwinkel der Ilias ver- 909 Vgl. Plut. profect. in virt. 2 und Dio Chrys. 55 (= 561 M.). 910 Vgl. Eur. Rhes. 158-159 (ἐπώνυμος μὲν κάρτα καὶ φιλόπτολις | Δόλων [„Du wirst deinem Namen tatsächlich gerecht und liebst deine Stadt, Dolon“]) und schol. A ad loc. = II 331, 18 Schwartz (ἐτυμολογεῖται τὸ ὄνομα). 911 Vgl. den Überblick bei Liapis (2012), S. * 49-50 mit genauen Stellenverweisen. 912 Zu den antiken Quellen, in denen Dolons Feigheit nicht erwähnt wird, vgl. Arist. pepl. 51 = frg. 641 (56) Rose; Apollod. epit. 4, 4; Athen. deipn. 13, 563 f ; Dict. Cret. 2, 37; Dar. 22 (mit abweichendem Handlungsverlauf) und 39; Verg. Cul. 328; Ov. epist. 1, 39 und ars 2, 135-136; Hyg. fab. 113. In met. 13, 98 ( imbellemque Dolona ) und 244 (Odysseus’ Prahlrede) erscheint er immerhin als unkriegerisch. - Mit einem Einfluss der Nyctegresia des Accius auf Vergil ist vielleicht zu rechnen, doch lässt sich die Konzeption der Dolonfigur nicht mehr rekonstruieren: frg . 8 Ribbeck muss kein Ausdruck von Feigheit sein, sondern kann Dolon auch als listigen Verhandler zeigen; vgl. Ribbeck (1968), S. 365. <?page no="323"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 323 ständlichen Zügen des Feiglings ausgestattet. Wir greifen bei Vergil also eine Umdeutung bzw. Anpassung an die Gegebenheiten der Aeneis , wie wir sie auch bei anderen homerischen Figuren - etwa bei Odysseus 913 - beobachten können. Die von Eustathius geäußerte Kritik ignoriert dies, sie geht ganz von Homer aus und vernachlässigt die besondere Perspektive der Aeneis . 914 Eine letzte sachliche Abweichung Vergils von Homer betrifft zwei Episoden aus der Vorgeschichte des Trojanischen Krieges, nämlich das Urteil des Paris und den Raub des trojanischen Königssohnes Ganymedes. Eustathius hebt in Sat. 5, 16, 10 lobend an Homer hervor, dass er auf eine Erwähnung des Parisurteils ganz verzichte ( nullam commemorationem de iudicio Paridis … admittit ) und auch Ganymedes nicht als einen von Zeus geraubten Nebenbuhler der Hera ( non ut Iunonis paelicem a Iove raptum ), sondern als Mundschenk darstelle, den nicht Zeus, sondern die anderen Götter in den Himmel geholt hätten ( Iovialium poculorum ministrum in caelum a dis ascitum ). Damit werde seine Darstellung der Würde der Götter gerecht ( refert velut θεοπρεπῶς). Anders liegen die Dinge in der Aeneis : Eustathius kritisiert, dass Vergil Parisurteil und Raub des Ganymedes als Motivationen für Junos Handeln nennt: Vergilius tantam deam, quod cuivis de honestis feminae deforme est, velut specie victam Paride iudicante doluisse, et propter Catamiti (scil. = Ganymedis) paelicatum totam gentem eius vexasse commemorat . Vergil hatte bekanntlich im Proöm der Aeneis beide Episoden unter die causae für die ira Iunonis gerechnet ( Aen. 1, 25-28): necdum etiam causae irarum saevique dolores | exciderant animo; manet alta mente repostum | iudicium Paridis spretaeque iniuria formae | et genus invisum et rapti Ganymedis honores … Die Erwähnung des Ganymedes macht hier nur Sinn, wenn man Jupiters „Ehrerweisungen“ ( honores ) als erotisch motiviert begreift: Bei Vergil ist Juno eifersüchtig auf den Knaben, weil ihr Gatte ihn bevorzugt. Was dieser Kritik ihren besonderen Akzent verleiht ist der Umstand, dass Parisurteil und Ganymedesraub durchaus in der Ilias Erwähnung finden, ihre Deutung aber bei den Homerphilologen intensive Diskussionen provozierte. Ganz auf der Linie des Eustathius liegen dabei die Interpreten von Il. 20, 233-235, wo Aineias vor Achilles einen Abriss der Geschichte Trojas gibt und dabei auf Ganymedes zu sprechen kommt: 913 Vgl. zusammenfassend Uccellini (2014), pass. 914 Für die Einschätzung, dass die Kritik an Vergils Schilderung unberechtigt ist, lässt sich als argumentum ex silentio außerdem noch der Umstand anführen, dass Servius und die anderen Vergilkommentatoren den angeblichen Widerspruch in Aen. 12, 346-352 nicht thematisieren; vgl. insbesondere das mythographische Referat bei DServ. ad Aen. 12, 347 = II 607, 22-608, 10 Thilo-Hagen. <?page no="324"?> 324 5. Macrobius, Saturnalia ὃς δὴ κάλλιστος γένετο θνητῶν ἀνθρώπων· | τὸν καὶ ἀνηρείψαντο θεοὶ Διὶ οἰνοχοεύειν | κάλλεος εἵνεκα οἷο ἵν’ ἀθανάτοισι μετείη. („Der als der Schönste geboren war der sterblichen Menschen; | Den rafften auch die Götter empor, dem Zeus den Wein zu schenken, | Um seiner Schönheit willen, dass er unter den Unsterblichen wäre.“ ÜS Schadewaldt ) Das Scholion z. St. erläutert: ἡ διπλῆ, ὅτι ἐναντιοῦται τοῖς νεωτέροις· οὐ γὰρ δι’ ἔρωτα τὸν Γανυμήδην ὑπὸ Διὸς ἀνηρπάσθαι, ἀλλ’ ὑπὸ τῶν θεῶν, ἵνα οἰνοχοῇ τῷ Διῒ διὰ τὸ κάλλος. … (schol. ad Il. 20, 234 a = V 39, 28-31 Erbse) („Die diplē steht, weil er im Widerspruch zu den jüngeren Dichtern steht: Ganymedes sei nämlich nicht aus Liebe von Zeus geraubt worden, sondern von den Göttern, damit er wegen seiner Schönheit das Amt des Weinschenken ausübe. …“) 915 Hinter dem Hinweis, dass nicht Zeus, sondern die Götter Ganymedes geraubt hätten - die Tat also keinem spontanen erotischen Begehren entsprang -, steht die Vorstellung vom πρέπον: Götter dürfen nicht in einer ihrer unwürdigen Situation gezeigt werden. Spätere Dichter (νεώτεροι), die von dieser Version des Mythos abweichen 916 und von der Liebe des Zeus zu Ganymedes berichten - wie etwa Vergil -, verstoßen demnach gegen das πρέπον. War Homer wegen der Wahrung des πρέπον beim Raub des Ganymedes seitens der Kommentatoren noch zu loben gewesen, so fand er mit folgenden Versen heftigen Widerspruch ( Il. 24, 25-30): ἔνθ’ ἄλλοις μὲν πᾶσιν ἑήνδανεν, οὐδέ ποθ’ Ἥρῃ | οὐδὲ Ποσειδάων’ οὐδὲ γλαυκώπιδι κούρῃ, | ἀλλ’ ἔχον ὥς σφιν πρῶτον ἀπήχθετο Ἴλιος ἱρὴ | καὶ Πρίαμος καὶ λαὸς Ἀλεξάνδρου ἕνεκ’ ἄτης, | ὃς νείκεσσε θεὰς ὅτε οἱ μέσσαυλον ἵκοντο, | τὴν δ’ ᾔνησ’ ἥ οἱ πόρε μαχλοσύνην ἀλεγεινήν. („Da gefiel es den anderen allen, aber niemals der Here | Noch dem Poseidon noch auch der helläugigen Jungfrau, | Sondern so wie zuerst blieb ihnen verhasst die heilige Ilios | Und Priamos und das Volk, wegen des Alexandros Verblendung, | Der die Göttinnen kränkte, als sie zu ihm ins Gehöft gekommen, | Die aber pries, die ihm die leidige Wollust brachte.“ ÜS Schadewaldt ) Dies ist die einzige Erwähnung des für Hera doch so beleidigenden Parisurteils in der ganzen Ilias . An den anderen Stellen, an denen in der Ilias die Rede auf die Vorgeschichte des Trojanischen Krieges kommt, übergeht Homer das Parisurteil. Die Kommentatoren vermerken das regelmäßig: 915 Dasselbe Argument auch in schol. ad Apoll. Rhod. 3, 114-117 a = 220, 14-17 Wendel. 916 Erbse führt Pind. Ol. 10, 104 als Bsp. an. <?page no="325"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 325 Von den Gründen für Heras Hass gegen Troja weiß Zeus in Il. 4, 31-33 nichts; vgl. dazu schol. T ad Il. 4, 32 = I 450, 17-18 Erbse (ἀγνοεῖ δὲ τὴν κρίσιν). - Auch Heras Parteinahme für Argos, Sparta und Mykene in Il. 4, 51-52 erfolgt ohne Erwähnung des Parisurteils; vgl. schol. T ad Il. 4, 51 = 453, 84-85 Erbse (ἐκτίθεται τὴν αἰτίαν τῆς περὶ τοὺς Ἕλληνας σπουδῆς· ἀγνοεῖ οὖν τὴν κρίσιν). Das Stichwort πρέπον fällt dann in schol. bT ad Il. 4, 51-52 = 453, 89-94 Erbse (ῥητέον δὲ ὅτι εὐπρεπῆ βουλόμενος περιθεῖναι αὐτῇ τὴν αἰτίαν τῆς ὀργῆς ὁ ποιητής, καὶ οὐχ ἣν ὁ μῦθος ἀναπλάττει, ὡς ἄρα διὰ τὸ μὴ προτιμηθῆναι τῆς Ἀφροδίτης ἐπὶ τῇ κρίσει τοῦ κάλλους τοῖς Τρωσὶν ἐχαλέπαινεν, ἐπίτηδες ταύτας φησὶν αὐτὴν τὰς πόλεις φιλεῖν, περὶ ἃς τὸ ἀδίκημα τὸ κατὰ τὴν Ἑλένην γέγονεν). Ein auf Aristonikos zurückgehendes Scholion zur selben Stelle ist gleichen Inhalts; vgl. schol. A ad Il. 4, 52 = I 454, 9-12 Erbse. - Zu Il. 14, 194 wird pauschal vermerkt: νεωτερικὴ οὖν ἡ κρίσις (schol. T ad Il. 14, 194 = III 604, 6 Erbse). Es ist also ganz folgerichtig, wenn in einem Scholion erwähnt wird, dass man die fraglichen Verse Il. 24, 25-30 athetieren wollte, auch wenn an dieser Stelle das πρέπον nicht ausdrücklich als Begründung genannt wird. 917 Doch bringt immerhin Ps.-Plutarch das Thema der Schicklichkeit im Zusammenhang mit dieser Stelle ins Spiel: In Ps.-Plut. de Hom. A 6 = 93-95 Kindstrand werden die Verse Il. 24, 29-30 in ihrer Echtheit angezweifelt mit ausdrücklichem Bezug auf die Kategorie des πρέπον (ἀλλ’ οὐ πρέπον ὑπολαμβάνειν θεοὺς ὑπὸ ἀνθρώπων κεκρίσθαι, οὔτε ὑπὸ Ὁμήρου δι’ ἄλλων παρίσταται τοῦτο· ὅθεν εὐλόγως ἠθέτηνται οἱ προκείμενοι στίχοι [„Doch ist es unpassend zu glauben, dass Götter von Menschen beurteilt werden, und Homer erwähnt dies an keiner anderen Stelle; daher tilgt man vernünftigerweise die eben zitierten Verse.“]). Vergil ist also von seinem Vorbild abgewichen, wenn er zwei aus der mythischen Tradition bekannte, von Homer aber nicht erwähnte Episoden am Beginn seines Werks als ursächlich für Junos Zorn nennt. Dass Eustathius ihm hier wie auch im Fall des Ganymedes einen Vorwurf macht, gründet auf der Vorstellung, dass auch im Bereich der Götter das decorum gewahrt sein muss - ein Aspekt, der schon in der Kritik des Probus am Dianagleichnis eine Rolle gespielt hatte und auf den auch in der Vergilkommentierung immer wieder hingewiesen wird. 918 917 Vgl. schol. ad Il. 24, 25-30 = V 521, 41-522, 45 Erbse (ἀθετοῦνται στίχοι ἕξ … τήν τε περὶ τοῦ κάλλους κρίσιν οὐκ οἶδεν …) und schol. ad Il. 24, 23 = V 521, 19-22 (τήν τε ἔριν τοῦ κάλλους οὐκ οἶδεν ὁ ποιητής· εἰ γὰρ ᾔδει τὴν κρίσιν, οὐκ ἂν εἶπε Ζεὺς < Il. 4, 31-32> ‘τί νύ σε Πρίαμος Πριάμοιό τε παῖδες | τόσσα κακὰ ῥέζουσιν;’, φανερᾶς οὔσης τῆς αἰτίας. ἀλλὰ καὶ ὁ Πρίαμος θεοῖς ἀναφέρει τὴν αἰτίαν τοῦ πολέμου, ἀλλ’ οὐ τῇ κρίσει). - Aristarch hatte wohl nur sprachliche Beanstandungen gegen Il. 24, 30 vorzubringen; vgl. Erbse V 522 im Apparat. 918 Vgl. → Kap. 4.3 und die Zusammenstellung bei Georgii (1891), S. 565. <?page no="326"?> 326 5. Macrobius, Saturnalia 5.2. 2. 10 Unmerkliche Entlehnungen ( Sat. 5, 16, 12 - 14) Eustathius kommt in dem kurzen Abschnitt Sat. 5, 16, 12-14 noch auf das Thema der „unmerklichen Entlehnung“ zu sprechen. Vergil habe Homer demnach gelegentlich in der Weise imitiert, dass seine Anleihen für den Rezipienten nicht mehr kenntlich waren: Interdum sic auctorem suum dissimulanter imitatur, ut loci inde descripti solam dispositionem mutet et faciat velut aliud videri . Terminologisch schließt Eustathius sich hier an die aus der Frühphase der Vergilphilologie bekannten Plagiatsvorwürfe an (vgl. ut aliud esse videretur, dissimulando subripuit und occultissime ). 919 Einen Plagiats vorwurf formuliert er freilich nicht, obwohl es natürlich naheliegt, dass er seine beiden Beispiele aus einer der frühen polemischen Plagiatsschriften bezieht. Aufschlussreich sind diese Beispiele aber, weil sie eine Vorstellung davon vermitteln, was als Strategie „heimlicher Entlehnung“ gelten konnte. Im ersten Beispiel transponiert Vergil einen Passus aus Homers epischer Erzählung in ein Gleichnis. In Il. 20, 56-66 wird geschildert, wie Zeus und Poseidon - der eine vom Olymp, der andere aus den Tiefen der Erde her donnernd - die Truppen der Achaier und der Trojaner zum Kampf antreiben. Eustathius zitiert daraus die Verse Il. 20, 61-65: ἔδεισεν δ’ ὑπένερθεν ἄναξ ἐνέρων Ἀϊδωνεύς, | δείσας δ’ ἐκ θρόνου ἆλτο καὶ ἴαχε, μή οἱ ἔνερθεν | γαῖαν ἀναρρήξειε Ποσειδάων ἐνοσίχθων, | οἰκία δὲ θνητοῖσι καὶ ἀθανάτοισι φανείη | σμερδαλέ’ εὐρώεντα, τά τε στυγέουσι θεοί περ· … („Und es fürchtete sich drunten der Herr der Unteren Aïdoneus, | Und in Furcht sprang er auf vom Sitz und schrie, dass ihm von unten | Nicht die Erde aufreiße Poseidon, der Erderschütterer, | Und die Häuser der Sterblichen und Unsterblichen erschienen, | Die schrecklichen, modrigen, die verabscheuen sogar die Götter. …“ ÜS nach Schadewaldt ) Eustathius registriert das Pathos der Szene ( ingenti spiritu ) und hebt bei seiner Zusammenfassung die szenische Evidenz des Geschehens hervor ( … ex perturbatione terrae ipsum Ditem patrem territum prosilire et exclamare quodammodo facit ). 920 - Vergils Schilderung ist dagegen etwas zurückgenommener. 921 Der Aeneisdichter übernimmt die Vorstellung von der Öffnung der Unterwelt, 919 Vgl. → Kap. 5.1.2. 920 Das Aufspringen vom Thron hebt auch das Scholion z. St. als besonders pathetisch hervor; vgl. schol. T ad Il. 20, 62 a = V 14, 2-4 Erbse (ἐκπληκτικὸν τοῦτο, μὴ μόνον δεῖσαι, ἀλλὰ καὶ ἀναθορεῖν <ἐκ> τοῦ θρόνου. εἶτα καὶ τὸ ἴαχε κινητικὸν τῆς διανοίας τοῦ δείσαντος). 921 Ob im klanglichen Bereich eine beabsichtigte Nachahmung des Vorbilds durch Vergil vorliegt, ist unklar; vgl. die Dopplungen ἔδεισεν … δείσας und ὑπένερθεν … ἐνέρων bei Homer und immane … Manes bei Vergil und entsprechend Edwards (1991), S. 295 z. St. sowie Fordyce (1977), S. 233 z. St. (letzterer ablehnend: „The juxtaposition … is a curious accident“). <?page no="327"?> 5.2 Homer und Vergil in Sat . 5: Synkrisis und struktureller Vergleich 327 deren Anblick selbst den Göttern verhasst ist, in sein Unterweltsgleichnis Aen. 8, 243-246, mit dem er die Höhle des Cacus schildert: non secus ac si qua penitus vi terra dehiscens | infernas reseret sedes et regna recludat | pallida, dis invisa, superque immane barathrum | cernatur, trepident immisso lumine Manes. In Vergils Gleichnis öffnet sich die Erdoberfläche aber nicht wie bei Homer durch das Einwirken einer bestimmten Gewalt - hier Poseidons -, sondern durch eine unbestimmte Kraft ( qua … vi ). Die unmittelbare Reaktion des Unterweltgottes Hades bzw. Aïdoneus hat bei Vergil keine Entsprechung; an die Stelle der epische Narration mit göttlichem Protagonisten tritt in der Aeneis ein Naturgleichnis. 922 Im zweiten Beispiel habe Vergil den insgesamt dreimal bei Homer ( Il. 6, 138 sowie Od. 4, 805 und 5, 122) verwendeten Halbvers θεοὶ ῥεῖα ζώοντες mit folgenden Worten wiedergegeben ( Aen. 10, 758-759): di Iovis in tectis casum miserantur inanem | amborum et tantos mortalibus esse labores; Diese Übertragung sei occultissime erfolgt, weil Vergil anstelle der auf die Götter bezogenen Charakterisierung in der Ilias gewissermaßen ex negativo das Mitleid der Götter für die von Mühsal geplagten Menschen beschreibe. 923 Ein umgekehrtes Pendant hat diese Beobachtung in einer Scholiennotiz, die aus der zitierten Homerstelle über die Götter ableitet, dass die Menschen im Gegensatz zu diesen ein schweres Los zu erdulden haben. 924 Eustathius identifiziert damit exemplarisch zwei Strategien zur Verschleierung einer Entlehnung bzw. imitatio , nämlich die Transposition vom narrativen Erzählmodus ins Gleichnis ( parabola ) und, bei polaren Sachverhalten, die vom Gegenteil ausgehende Umformulierung. Mit Nennung dieser beiden Strategien soll das Thema der „unmerklichen Entlehnung“ sicherlich nicht erschöpfend behandelt werden, vielmehr werden dem Leser Spielräume vor Augen geführt, die Vergil in seiner Bearbeitung der Modellstellen hatte. Eine konkrete Absicht, Vergil Plagiate mit Täuschungsabsicht nachzuweisen, ist damit nicht verbunden. Die Beispiele illustrieren stattdessen eine weitere Dim