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Machtästhetik in Molières Ballettkomödien

0515
2017
978-3-8233-9115-9
978-3-8233-8115-0
Gunter Narr Verlag 
Stefan Wasserbäch

Mit seinen Ballettkomödien gelingt es Molière, ein Theater der Superlative zu schaffen, das aufgrund seiner künstlerischen Vollkommenheit wie auch seiner machtpolitischen Wirksamkeit die absolutistische Kulturpolitik Ludwigs XIV. über viele Jahre bestimmt. Die vorliegende Studie beleuchtet die politischen und gesellschaftlichen Machtstrukturen sowie deren artistische Repräsentation und Funktion in Molières Ballettkomödien. Sie rekonstruiert die Gattungspoetik der Ballettkomödie und gelangt zu einer kulturhistorischen Neubewertung dieses Totaltheaters.

<?page no="0"?> Mit seinen Ballettkomödien gelingt es Molière, ein Theater der Superlative zu schaffen, das aufgrund seiner künstlerischen Vollkommenheit wie auch seiner machtpolitischen Wirksamkeit die absolutistische Kulturpolitik Ludwigs XIV. über viele Jahre bestimmt. Die vorliegende Studie beleuchtet die politischen und gesellschaftlichen Machtstrukturen sowie deren artistische Repräsentation und Funktion in Molières Ballettkomödien. Sie rekonstruiert die Gattungspoetik der Ballettkomödie und gelangt zu einer kulturhistorischen Neubewertung dieses Totaltheaters. BIBLIO 17 Suppléments aux Papers on French Seventeenth Century Literature Directeur de la publication: Rainer Zaiser www.narr.de Machtästhetik in Molières Ballettkomödien Stefan Wasserbäch BIBLIO 17 215 Wasserbäch Molières Ballettkomödien <?page no="2"?> Machtästhetik in Molières Ballettkomödien <?page no="3"?> BIBLIO 17 Volume 215 ∙ 2017 Suppléments aux Papers on French Seventeenth Century Literature Biblio 17 est une série évaluée par un comité de lecture. Biblio 17 is a peer-reviewed series. Collection fondée par Wolfgang Leiner Directeur: Rainer Zaiser <?page no="4"?> Stefan Wasserbäch Machtästhetik in Molières Ballettkomödien <?page no="5"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb. dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1434-6397 ISBN 978-3-8233-9115-9 Umschlagabbildung: © Yury Vorobyev, Molière´s Comedy-Ballet <?page no="6"?> Nach vielen Jahren intensiver Forschung liegt sie nun vor: meine Dissertation. Damit ist es an der Zeit, mich bei all denjenigen zu bedanken, die mich in dieser Phase begleiteten. Zu besonderem Dank bin ich meinen Bertreuerinnen verpflichtet. Ulrike Sprenger weckte in mir das Interesse an der französischen Klassik und unterstützte mich stets in vielerlei Hinsicht auf höchst konstruktive Art und Weise. Juliane Vogel möchte ich herzlich für ihre äußerst hilfreichen Anmerkungen und nicht zuletzt die anregenden Gespräche danken. Ebenso geht mein Dank an Miriam Lay Brander, die mich mit bereichernden Ratschlägen in meinem Vorhaben unterstützte. Carmen Heck und Marlene Teetz danke ich für ihre wertvolle Hilfe bei der Literaturverwaltung. Eine weitere große Hilfe war Rainer Rutz, der mein Manuskript lektorierte. Für das originelle Cover danke ich herzlich Yury Vorobyev. Bedanken möchte ich mich bei meiner Familie und Freunden, die mich auf meinem akademischen Weg begleiteten und unterstützten. Ihnen allen gilt mein besonderer Dank. <?page no="8"?> Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.1 Auftakt und Selbstverständnis einer neuen Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.2 Antike und frühneuzeitliche Quellen der Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.3 Vorklassische und klassische Einflüsse auf die Gattung . . . . . . . . . . . . . 28 1.3.1 Das Französische Ballett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.3.2 Ballettmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1.3.3 Barocke Dramentypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1.4 Die Herausbildung einer neuen Intermedialität - der nouveau langage théâtral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1.5 Zeitgenössische Reaktionen auf und poetologische Reflexionen über die Ballettkomödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1.6 Ein Schauspiel als politischer art de plaire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1.7 Ein Multimediaspektakel und seine Verortung in der Gattungslandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie . . . . . . . . . . . . . 56 2.1 Dramenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.1.1 Die dramatische Kommunikationsebene - die figurale Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.1.2 Die theatralische Kommunikationsebene - die Interdependenz von Spielen und Schauen . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.1.3 Die lebensweltliche Kommunikationsebene - die gesellschaftliche Kommunikation über das Fiktionale . . . . . 60 2.1.4 Die metadramatische Kommunikationsebene - die intermediale figurale Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.2 Sujetstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.2.1 Handlungsaspekte und Sujetstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.2.2 Raison und déraison . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2.2.3 Ruse und bêtise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2.2.4 Réalité und fiction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.1 Die moralische Weltanschauung der wahren Helden . . . . . . . . . . . . . . . 84 <?page no="9"?> 8 Inhaltsverzeichnis 3.1.1 Le Bourgeois gentilhomme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.1.2 Les Fâcheux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.1.3 Les Amants magnifiques . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.2 Die unmoralische Weltanschauung der Narren und Schelme . . . . . . . 96 3.2.1 … in der Komödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.2.2 … im Intermezzo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.3 Die amoralische Weltanschauung der komischen Helden und Harlekin-Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3.3.1 Le Mariage forcé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3.3.2 Le Bourgeois gentilhomme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3.3.3 Le Malade imaginaire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3.3.4 La Princesse d’Élide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3.4 Komische Agonik und Zuschauerlachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 4 Der komische Charakter oder die idée fixe als intérêt des amour-propre . . . 156 4.1 La Rochefoucauld und Molière - eine Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4.2 La Rochefoucauld - Anthropologie und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 158 4.2.1 La Rochefoucaulds anthropologisches Verständnis . . . . . . . . . . . 158 4.2.2 La Rochefoucaulds gesellschaftliches Verständnis . . . . . . . . . . . . 162 4.3 Amour-propre und Individuum - Querschnitt einer Charakterstudie der komischen Helden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4.3.1 La folie, c’est moi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 4.3.2 Moi, je m’aime infiniment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4.3.3 Je suis un autre que moi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 4.3.4 Je ne t’aime que pour m’aimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 4.4 Amour-propre und Kollektiv - Intriganten, Helden, Nutznießer und Betrüger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 4.4.1 Affirmierende Intrigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4.4.2 Negierende Intrigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 4.4.3 Überzeugende Heldentaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 4.4.4 Nutznießer und Betrüger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 4.5 Molières Anthropologie im Spiegel von Fiktion und Realität . . . . . . 185 4.6 Anthropologie und Dramenstruktur - eine Zusammenführung . . . 188 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 5.1 Freie Komik - Artistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 5.1.1 Performance und performative Ästhetik in der Ballettkomödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 5.1.2 Freie Performance des sprechenden Mimen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 5.1.3 Freie Performance des tanzenden Mimen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 <?page no="10"?> Inhaltsverzeichnis 9 5.1.4 Freie Performance des singenden Mimen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 5.2 Sozialkritische Komik - Satire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 5.2.1 Die Aristokraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 5.2.2 Die Bourgeoisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 5.2.3 Die Fremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 5.3 Moralistische Komik - Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 5.3.1 Dorimènes makabres Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 5.3.2 Die Doppelzüngigkeiten der Angélique . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 5.3.3 Argans fausse mort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 5.4 Zur Ästhetik multidimensionaler Komik der Repräsentation . . . . . . 274 6 Absolutistische Kulturpolitik-- zwischen puissance und plaisir . . . . . . . . . . . . . 276 6.1 Machtostentation - zur Politisierung der absolutistischen Festkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 6.2 Agenda-Setting - des Sonnenkönigs Wunschkonzert . . . . . . . . . . . . . . 277 6.2.1 Die Grands Divertissements von Versailles und die comédies-ballets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 6.2.2 Enge Zeitraster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 6.2.3 Geschickte Themenwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 6.2.4 Tanzender König . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 6.3 Prologe und Finale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 6.3.1 Prologe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 6.3.2 Finale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 6.4 Die Ballettkomödie als ‚Schule der Schicklichkeit‘ im Spiegel des absolutistischen Machtdiskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 6.5 Machtästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Ausleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Partituren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 <?page no="12"?> „Quels Spectacles charmants, quels plaisirs goûtons-nous, Les Dieux mêmes, les Dieux, n’en ont point de plus doux.“ Molière <?page no="14"?> Einleitung Die Blütezeit der Ballettkomödie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Frankreich erklärt sich durch die kulturelle und politische Funktion, die diesem Unterhaltungsmedium zuteilwird. Die Ballettkomödie entspricht dem Wunsch der Zeit nach einem Universaltheater, das heißt nach einer Theatergattung, die sowohl tänzerische als auch musikalische Elemente in den Rahmen einer Komödie integriert und alle drei Kunstarten zu einem Gesamtkunstwerk vereinheitlicht: „Comme nous sommes dans un siécle“, so Donneau de Vizé, „où la Musique & les Balets ont des charmes pour tout le monde, & que les spectacles qui en sont remplis sont beaucoup plus suivis que les autres“ 1 . Diesem Verlangen kommt Molière mit seinen Ballettkomödien nach, die einen Großteil (ca. 40 Prozent) am Gesamtwerk des Dramatikers ausmachen. 2 Das Innovative an diesem hybriden Genre ist, dass Molière gewillt ist „de ne faire qu’une seule chose du Ballet, et de la Comédie“ ( LF 3 , 150), wie er im Vorwort zu Les Fâcheux , seiner ersten comédie-ballet , programmatisch erläutert. Er verwirklicht damit das antike Ideal der Künstefusion in seinem klassischen Gesamtkunstwerk. Es ist letztlich der multimediale Charakter, der maßgeblich zur Lebhaftigkeit der Ballettkomödie beiträgt und für einen hohen Unterhaltungswert am königlichen Hof sorgt. Ferner ist im Zuge der Etablierung des absolutistischen Staates eine zunehmende Monopolisierung der Kultur zu konstatieren, infolgedessen den eingesetzten Künsten eine unmissverständliche politische Funktion zugesprochen wird. Vor dem Hintergrund dieser, bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Kardinal Richelieu etablierten Kulturpolitik repräsentiert die Geschlossenheit der Ballettkomödie die absolutistische Herrschaftsform und verhilft ihr zu einem national-einheitlichen Kulturbild Frankreichs. Molières Ballettkomödien sind nunmehr Teil der absolutistischen Machtostentation und tragen zur Kulturpolitik Ludwigs XIV . bei. Die Korrelation von Staatsführung und Kunst soll als Leitgedanke der vorliegenden Studie dienen und unter dem Begriff der ‚Machtästhetik‘ zusammengefasst werden. Dieses duale Konzept subsumiert die machtverklärenden wie auch ästhetischen Ansprüche der Ballettkomödie; 1 Donneau de Vizé (1672), 1. 2 Vgl. Mazouer (1993b), 12. 3 Am Ende der Arbeit befindet sich ein Siglenverzeichnis. Die Primärtexte sind folgender Ausgabe entnommen: Molière, Jean-Baptiste Poquelin de (2010): Œuvres complètes , herausgeg. von Georges Forestier. Vol. I und II, Bibliothèque de la Pléiade. Paris: Gallimard. Die Formalitäten sind der Pléiadeausgabe entsprechend wiedergegeben. <?page no="15"?> 14 Einleitung es ermöglicht eine interdisziplinär ausgerichtete, dem Untersuchungsgegenstand angemessene Betrachtung mithilfe literatur-, theaterwie auch kulturwissenschaftlicher Methoden: Die Studie beleuchtet im Kontext absolutistischer Kulturpolitik eingehend die politischen Machtdiskurse und gesellschaftlichen Machtstrukturen sowie deren artistische Repräsentation und Funktion in Molières Ballettkomödien. Sie ist gewillt, ein neues Verständnis von Molières Kunst unter der Prämisse eines aktiven Beitrags zum System der absolutistischen Repräsentation Ludwigs XIV. - einer Ästhetisierung der Macht - aufzuzeigen. Obschon des Öfteren in der traditionsreichen Molière-Forschung versucht wurde, die klassische Gesellschaft mithilfe von Molières Komödien zu rekonstruieren, wurde lediglich bei gelungenen Interpretationen der Hintergrund der klassischen Kultur respektive Politik miteinbezogen. Jedoch wurde bislang eine soziokulturelle Lesart speziell der Ballettkomödie, ihre genrebedingte Performance wie auch ihr politisches Wirkungsspektrum im Sinne einer auf dem Phänomen der Komik sich konstituierenden Machtästhetik nicht ins Zentrum der Analysen gerückt. Diese Desiderate sollen mit vorliegender Studie erschlossen werden. Molières hybrides Genre fordert seit jeher - und bis heute - Philologen heraus, wenn es darum geht, dieses zu definieren beziehungsweise eine Gattungspoetik für dieses zu verfassen. Der Grund hierfür ist im Mangel einer Poetik zu finden; es existiert kein von Molière geschaffenes literaturtheoretisches Regelwerk, sodass sich die Poetik der Ballettkomödie aus der Gesamtheit aller aus dem Dramentext selbst und aus dessen Paratexten erschließbaren Spezifika herleiten muss. In der aktuellen Ausgabe des Dictionnaire de l’Académie Française von 2005 erscheint die comédie-ballet als Untereintrag zu comédie mit einer ungenauen Definition und einem falschen Beispiel: „ Comédie-ballet, comédie entremêlée de danses. Psyché est une comédie-ballet.“ 4 Die Ballettkomödie ist weit mehr als eine Komödie mit Tanzeinlagen und Psyché ist eine tragédieballet . Diese stiefmütterliche Betrachtung der Ballettkomödie schlägt sich auch in der Tatsache nieder, dass erst in jüngster Zeit 5 die umfangreichen Texte der Tanz- und Musikeinlagen in den Molière-Editionen erscheinen. Trotz einiger Schriften zur Gattung der Ballettkomödie - hierzu zählen insbesondere diverse Publikationen von Maurice Pellison 6 , Charles Mazouer 7 und Stephen H. Fleck 8 - liegt eine umfassende Gattungspoetik bis heute nicht vor. Hinsichtlich dieses Desideratums schickt sich die vorliegende Studie an, eine Gattungspoetik der 4 Vgl. ‚comédie-ballet‘ in Le Dictionnaire de l’Académie Française (2005), 911. 5 In der Pléiade-Ausgabe von 2010 erscheinen die Ballettkomödien zum ersten Mal als Ganzes. 6 Vgl. Pellisson (1914), Les comédies-ballets de Molière. 7 Vgl. Mazouer (2005), „La comédie-ballet: un genre improbable? “ 8 Vgl. Fleck (2007), „Modernité de la comédie-ballet“. <?page no="16"?> Einleitung 15 molièreschen Ballettkomödie zum ersten Mal in umfassender Weise zu erstellen, mit dem Ziel einer Präzisierung der Definition wie auch einer Verortung des Genres in der aktuellen Gattungslandschaft. Dabei wird ein Hauptaugenmerk auf der Verzahnung der diversen Kunstsprachen liegen, die in ihrem Zusammenwirken zu einem facettenreichen Darstellungsrepertoire führen und eine neue Theatersprache im klassischen Theater herausbilden. Zudem interessiert in diesem Kontext die Intermedialität, der Homogenisierungsprozess von Komödie und Intermedium, die Dramatisierung und Theatralisierung von Musik- und Tanzeinlagen. Nach Bestimmung des Forschungsgegenstandes wird zu klären sein, was die Machtästhetik konstituiert und wie sie sich auszeichnet. Hinsichtlich des eben Erwähnten spielt das der Komödie inhärente komische Moment eine Schlüsselrolle, wenn ich davon ausgehe, dass Komik als eine Schnittstelle zwischen Macht und Ästhetik fungiert. Ein fundamentaler Gedanke zu dieser These, der die Komikforschung von der Antike bis in die Neuzeit trotz sämtlicher Differenziertheit der Ansätze leitmotivartig durchdringt, lässt sich als ‚Theorie einer Normabweichung, des Fehlerhaften‘ im Sinne von etwas in verschiedengestaltiger Art und Weise ‚Atypischem‘ resümieren. 9 Sonach ist das Komische Ausdruck einer Normabweichung, die sich in den Ballettkomödien im nichtkonformen Betragen einiger Figuren manifestiert. Diese opponieren mit den gültigen bienséance -Vorstellungen des Hofes und liefern sich untereinander wie auch mit den Vertretern der sozialen Schicklichkeit komische Agone. In einem der Gattungstypologie Rechnung tragenden Strukturmodell, bei dem die Assoziation von Sprache, Gesang und Tanz als Grundlage dient, werden die agonalen Strukturen hinsichtlich der Dramenrespektive Sujetstruktur aufgezeigt und das Möglichkeitsspektrum des komischen Agons festgelegt. Zudem soll das Wesen der klassischen Komik anhand dieses theoretischen Konzepts bestimmt und die lebensweltliche Reaktion des Lachens im funktionsgeschichtlichen Kontext von la cour et la ville eruiert werden. Diese strukturalistische Herangehensweise wird sodann mit einer anthropologischen Perspektivierung vertieft und komplettiert. Hierzu bedarf es einer detaillierten Analyse der komischen Helden mittels der Ideen zeitgenössischer französischer Moralisten, da ich davon ausgehe, dass der entfesselte amour-propre dieser Protagonisten als Urheber der konfliktreichen Intrigen bestimmt werden kann, ergo das zentrale komische Moment generiert, das sich in Form einer Normdivergenz in der Handlungswelt manifestiert. Das Etappenziel dieser Studie ist schließlich die Bestimmung der Komik in den Ballettkomödien anhand sozialanthropologischer Hintergründe und deren Verquickung mit der generischen Struktur der 9 Vgl. Sander-Pieper (2007), 35. <?page no="17"?> 16 Einleitung Ballettkomödie. Diese Ausführungen fügen sich unter nachstehender Prämisse in den Leitgedanken der Studie ein: Wenn die comédie-ballet für ideologische Zwecke eingesetzt wurde, dann müssen im Dramentext gewisse Strukturen insbesondere in der Konstitution der Komik - dem zentralen Phänomen dieser Ballettkomödien - auffindbar sein, welche die Instrumentalisierung der Ballettkomödien zur Machtostentation und -konsolidierung sicherstellen. Auf diesen gewonnenen Erkenntnissen aufbauend wird eine gattungsspezifische Komikästhetik anhand des Dualismus von Ästhetik und Ethos unter Berücksichtigung artistisch-performativer, satirischer als auch anthropologischer Aspekte herausgearbeitet, womit die Überlegungen zur Machtästhetik fortgesetzt werden. Funktion und Wirkungsweise der Komik werden unter der Hypothese betrachtet, dass Molières Komik ein ästhetisches Konstrukt klassischer Ganzheit im Spannungsverhältnis von niederer und hoher Kunst widerspiegelt, von reinem Divertissement und tiefsinniger Belehrung - wie die divergenten Haltungen in der Molière-Forschung immer wieder erkennen lassen. Zum Schluss der Studie werden die Überlegungen zur Komikästhetik in den Ballettkomödien fortgeführt, indem sie in den Kontext absolutistischer Kulturpolitik gesetzt werden. Die Ausführungen orientieren sich hierbei an Michel Foucaults Analytik der Macht 10 wie auch an den Forschungsarbeiten zu den absolutistischen Repräsentationstechniken von Jean-Marie Apostolidès 11 , Peter Burke 12 und Louis Marin 13 und eruieren die machtpolitische Bedeutung im gattungspoetologischen Spektrum der Ballettkomödien. Diese Abschlussbetrachtung liefert letztlich ein Verständnis zur Machtästhetik in den Ballettkomödien. 10 Vgl. Foucault (2005), Analytik der Macht . 11 Vgl. Apostolidès (1981), Le roi-machine. Spectacle et politique au temps de Louis XIV . 12 Vgl. Burke (1993), Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs . 13 Vgl. Marin (2005), Politiques de la représentation . <?page no="18"?> 1.1 Auftakt und Selbstverständnis einer neuen Gattung 17 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie 1.1 Auftakt und Selbstverständnis einer neuen Gattung Das 17. Jahrhundert gilt als das goldene Zeitalter des Theaters und des Balletts in Frankreich. Diese Blütezeit erklärt sich mit der gesellschaftlichen und politischen Funktion, die diesen Unterhaltungsmedien zuteilwird. Es ist sicherlich kein Zufall, dass mit dem Beginn der Selbstregierung Ludwigs XIV . im Jahre 1661 nicht nur ein politischer, sondern auch ein gattungstypologischer Umbruch zu verzeichnen ist. Molière läutet am 17. August desselben Jahres im Park des Château de Vaux-le-Vicomte mit Les Fâcheux die Geburtsstunde einer neuen Theaterära ein. Paul Pellissons Prolog zu besagter Ballettkomödie apostrophiert in panegyrischem Gestus die Exklusivität dieser Komposition „[pour] le plus grand Roi du Monde“ ( LF , 151): Faut-il en sa faveur, que la Terre ou que l’Eau Produisent à vos yeux un spectacle nouveau ? Qu’il parle, ou qu’il souhaite: Il n’est rien d’impossible: Lui-même n’est-il pas un miracle visible? […] Je vous montre l’exemple, il s’agit de lui plaire , Quittez pour quelque temps votre forme ordinaire, Et paraissons ensemble aux yeux des spectateurs, Pour ce nouveau Théâtre, autant de vrais Acteurs. 1 ( LF , 151 f.) Diese programmatische Ouvertüre seiner neuen Kulturschöpfung inszeniert Molière archetypisch sowohl mit der Figur des Satyrn, der literaturgeschichtlich als Kulturbringer und Erfinder der Musik gilt, als auch mit der Figur der Najade, die nicht nur als Fruchtbarkeitsgöttin, sondern vor allem aufgrund ihrer prophetischen Kräfte geschätzt wird. Molière sollte diese prophetische Gabe im Sinne seiner artistischen Ausrichtung ebenfalls vergönnt sein. Er wird mit der prunkvollen Inszenierung seiner Ballettkomödie dem Zeitgeist des plaire wie auch dem königlichen Anspruch eines exklusiven Grand Divertissement gerecht, denn bis zu seinem Tode im Jahr 1673 sollte dieser spectacle nouveau zu den 1 Meine Hervorhebung. <?page no="19"?> 18 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie beliebtesten Kulturereignissen am französischen Hof werden und maßgeblich die absolutistische Kulturpolitik prägen. 2 Doch worin besteht die poetologische und gattungstypologische Neuheit dieser inszenierten Kunstform? Einen zunächst pragmatischen Hinweis scheint der Avertissement zu Les Fâcheux zu geben, in welchem Molière erläutert, wie aus einer Not heraus, die Idee einer Kombination von Komödie und Ballett entstand: Le dessein était de donner un Ballet aussi; et comme il n’y avait qu’un petit nombre choisi de Danseurs excellents, on fut contraint de séparer les Entrées de ce Ballet, et l’avis fut de les jeter dans les Entractes de la Comédie, afin que ces intervalles donnassent temps aux mêmes Baladins de revenir sous d’autres habits. ( LF , 150) Das schlichte Dazwischenreihen des Balletts stellt den Künstler nicht zufrieden; er erkennt schon frühzeitig, dass die Zusammenfügung verschiedener künstlerischer Ausdrucksformen nur gelingen kann, wenn der Verlauf der Komödie nicht gestört wird und Ballett und Komödie miteinander verschmelzen: „De sorte que pour ne point rompre aussi le fil de la Pièce, par ces manières d’intermèdes, on s’avisa de les coudre au sujet du mieux que l’on put, et de ne faire qu’une seule chose du Ballet, et de la Comédie.“ ( LF , 150) Die Herausforderung dieses Arrangements besteht darin, sowohl die Dramenals auch die Sujetstruktur so anzulegen, dass die zwischen den Akten sich ereignenden Intermezzi oder ornements - wie sie Molière zunächst nennt - 3 möglichst eng mit der Komödie verbunden werden können, womit ihnen selbst ein Aktionsmoment zugesprochen wird. Obschon die Intermedien für die dramatischen Vorgänge nicht immer zwingend von Belang sind, sind sie dramaturgisch dadurch zu rechtfertigen, dass sie die Komödienhandlung wirkungsvoll vertiefen und akzentuieren. Eine weitere ästhetische Anforderung resultiert aus dem inhärenten Anspruch, die drei Künste sowie deren Sprachen im Sinne eines Gesamtkunstwerks zu harmonisieren. Es handelt sich hierbei nicht nur um die Synchronisierung der Dialogsprache der gespielten Komödie mit der Sprache des Tanzes, sondern auch um die Integration musikalischer Ausdrucksweisen, die häufig Teile der Komödie samt Intermezzi instrumentell unterlegen. Die hohe Einbettung 2 Alle Ballettkomödien nach 1664 wurden ausschließlich für die königlichen Feste und Divertissements geschrieben und aufgeführt. Molières letztes Werk, Le Malade imaginaire , wurde - wie der Prolog zeigt - in dieser Gesinnung verfasst, aber nicht beim königlichen Spektakel des Karnevals von 1673 aufgeführt, weil Lully bereits zum Unterhaltungsdirektor avanciert war. Erst ein Jahr nach Molières Tod wurde diese Ballettkomödie in Versailles aufgeführt. 3 Molière verwendet die Bezeichnung intermède zum ersten Mal in La Princesse d’Élide. Anhand dieser Benennung zeigt sich, dass der einstige kleine Zierrat zum festen Bestandteil der Gattung wurde. <?page no="20"?> 1.1 Auftakt und Selbstverständnis einer neuen Gattung 19 künstlerischer Darstellungen in Form von Gedichtrezitativen, von Gesang- und Tanzepisoden sowie lazzi in die Mikrodramenstruktur 4 der Komödie hebt die Ballettkomödie zusätzlich von herkömmlichen Komödien ab. Dieser Sachverhalt lässt erkennen, dass die Mikrostruktur die Makrostruktur des Genres widerspiegelt. Es ist von einer mise-en-abyme -Struktur der Ballettkomödie zu sprechen: Die comédie-ballet definiert sich durch sich selbst. Die Heterogenität dieser Kunstwerke zeigt sich ebenso in der Problematik ihrer Bezeichnung, in ihrer Klassifikation, die schon zu Molières Zeiten Schwierigkeiten bereitete. So sind zunächst folgende Werkbetitelungen gewählt worden: comédie , comédie mêlée de danses et de musique , comédie mêlée avec une espèce de comédie en musique et ballet , comédie mêlée de musique et d’entrées de ballet , comédie galante mêlée de musique et d’entrées de ballet , ballet et comédie . Unter dem Terminus comédie-ballet lässt Molière nur das Lustspiel Le Bourgeois gentilhomme erscheinen, das in den Literaturkritiken als die Vollendung dieses Komödientypus Beifall findet und dessen Namenskompositum die Einheit der beiden Kunstformen zu erkennen gibt. Der Begriff sollte jedoch erst im frühen 18. Jahrhundert in der von Marc-Antoine Jolly zusammengestellten Werkedition adaptiert und definitiv für diesen Komödientypus festgelegt werden. 5 Es dauert ein weiteres Jahrhundert bis der Begriff in den Dictionnaire de l’Académie française Eingang findet. Die Ballettkomödie wird 1832-1835 in der sechsten Edition des Nachschlagewerkes als Untereintrag zur Komödie angeführt und äußerst rudimentär, ohne Nennung eines repräsentativen Beispiels und Genrevertreters, definiert: „ [C]omédie-ballet , se disait autrefois de Certaines comédies dont chaque acte se terminait par un divertissement de danse.“ 6 Anhand der Vielfältigkeit der ursprünglichen Komödienuntertitel, die unbestritten einen ersichtlicheren Hinweis auf die Spezifität des Genres geben als der Eintrag des Akademiediktionärs, lässt sich die von Molière intendierte Wesensart dieser Kunstwerke herauslesen: Sind es doch Musik, Tanz und Komödie, die das Genre bestimmen und es zugleich als solches definieren - drei Kunstarten verschmolzen zu einer. Hierbei gibt sich das absolutistische Prinzip der discordia concors der Zeit zu erkennen, welches sowohl auf das politische als auch das künstlerische Feld einwirkt. Strukturell gesehen besteht die Ballettkomödie aus einer binären Anordnung von Komödie und Intermezzo. Alle Einlagen werden in die Komödienhandlung miteinbezogen, worin sich die Ballettkomödie vom einfachen Zwischenspiel un- 4 Unter Mikrodramenstruktur ist die Hauptkomödie zu verstehen - der Kern der Ballettkomödie ohne Intermezzi. Makrostruktur hingegen bezieht sich auf das gesamte Schauspiel. 5 Vgl. Canova-Green (2007), 12. 6 Vgl. ‚comédie-ballet‘ in Le Dictionnaire de l’Académie française. Analyse et traitement informatique de la Langue Française (1832-1835), 345. <?page no="21"?> 20 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie terscheidet. 7 Während die Komödie das Ballett integriert, kann die Ballettkomödie als Ganzes selbst im Rahmen der absolutistischen Divertissements überdies in den ballet de cour integriert sein, wie zum Beispiel der Ballet des Muses belegt. Die Intermezzi reichen in der Ballettkomödie von kleinen Sketch-Einlagen, einfachen Tänzen, Pantomimen, Chören, Musikstücken und Rezitationen über Singspiele mythologischen und surrealistischen Charakters, pompös ausgestattete Balletttänze, burleske Typenstücke, fantasievolle und exotische Aufzüge sowie Pastoralen bis hin zu den großen karnevalesken Zeremonien der letzten beiden Werke dieses Genres, Le Bourgeois gentilhomme und Le Malade imaginaire . Die Tänzer der Hofballette sind in diesen Zwischenspielen allegorische und mythische Figuren, Schäfer in den Pastoralen, Menschen aus dem täglichen Leben und Leute aus den Provinzen oder gar aus exotischem Raum. Das Herausstreichen dieser Episoden - aufgrund aufführungstechnischer Engpässe des Theaters in Paris - 8 führte zu einer Deformierung der gesamten Ästhetik und entsprach keineswegs der Absicht des Erfinders: „Ce que je vous dirai, c’est qu’il serait à souhaiter que ces sortes d’ouvrages pussent toujours se montrer à vous [les spectateurs, Anm. S. W.] avec les ornements qui les accompagnent chez le Roi“ ( AM , 603), wie Molière im Vorwort zu L’Amour médecin für seine Reprisen ausdrücklich wünscht. Die verkürzten Versionen der comédies-ballets wurden von den Theatergängern nicht immer so euphorisch rezipiert wie die Uraufführungen, da die für den spektakulären Charakter der Ballettkomödien sorgenden Intermezzi fehlten. Zudem widersprechen die modifizierten Komödien ob ihrer defizitären Gestaltung dem Zeitgeist der Klassik, der Unterordnung der Teile unter ein harmonisches Ganzes. 9 Anhand der negativen Publikumsreaktionen zu den prunklosen Ersatzvarianten lässt sich der kulturell datierte goût mondain 10 rekonstruieren. Jenen trifft Molière nicht nur durch das harmonische Arrangement von Dramen- und Sujetstruktur beider Teile, sondern auch durch die Reichhaltigkeit der szenischen Gesamtrepräsentation, die sich am aufwendigen Bühnenbild, an 7 Vgl. Hess (2003), 47. 8 Besonders der Mangel an Schauspielern, Tänzern und Musikern aufgrund finanzieller Missstände ändert die Aufführungsbedingungen und damit auch die Ballettkomödien, welche oft zu einer ‚einfachen‘ Komödie reduziert oder mit anderen Komödien für die Aufführungen im Palais-Royal kombiniert werden. La Pastorale comique und Les Amants magnifiques werden hingegen nur am Hof, nie in der Stadt aufgeführt. Zur Aufführungspraxis der comédie-ballet im Palais-Royal empfiehlt sich: Canova-Green (2007), „La comédie-ballet au Palais-Royal“, 79-106. Eine detaillierte und tabellarische Auswertung sogenannter Doppelaufführungen wurde von Jan Clarke herausgearbeitet: Clarke (1998), 29-44. 9 Vgl. Grimm (1999), 137. 10 Der goût mondain umfasst in diesem Kontext eine weltläufige Beurteilung sowie das damit verbundene Ausdrucksverhalten, das sich zuvorderst in Wort und Gestik äußert. <?page no="22"?> 1.1 Auftakt und Selbstverständnis einer neuen Gattung 21 der opulenten Kostümierung und der hohen Anzahl an Schauspielern, Tänzern und Musikern ablesen lässt. Zudem liegt das Novum des spectacle gerade in der selektiven Rollenbesetzung. Den im Eingangszitat erwähnten „vrais Acteurs“ ist eine doppelte Bedeutung zuzusprechen: Mit der Attribuierung „vrais“ wird nicht nur auf die Professionalität der Berufsschauspieler des Illustre Théâtre angespielt, sondern auch auf den Auftritt einer Gesellschaftselite, die sich in den Ballettkomödien lebensecht als Tänzer und Sänger in Szene setzt. Die großzügige Ausstattung für einen einzigen Festtag steigert neben der Tatsache, dass der König sowie ranghohe Adelige bei der Aufführung als Tänzer mitwirken, den Exklusivitätswert der Uraufführungen ins Unermessliche. 11 Diese voropernhafte Inszenierung bedarf zur professionellen Umsetzung eines Expertenteams, das sich aus Jean-Baptiste Lully für die Musik, Pierre Beauchamp für das Ballett, Carlo Vigarani für die Bühnentechnik und Molière als Dramaturg, Regisseur, Schauspieler und Hauptkoordinator zusammensetzt. 12 Dieses Künstlerquartett arbeitet in den 1660er Jahren Hand in Hand. 13 Molières Dramentexte bilden die Grundlage der Spektakel und bestimmen die thematische Realisierung wie auch den Charakter der Veranstaltungen. Die Beiträge der anderen Künstler komplettieren, bereichern und nuancieren die Theaterstücke mit ihrem jeweiligen Kunsthandwerk. Lullys und Beauchamps künstlerische Individualität und Kreativität beeinflussen die musikalischen und choreografischen Stilmittel - den Einsatz von Ton- und Bewegungssemantik - und prägen in signifikanter Weise die Ästhetik der Zwischenspiele. Ihre Beiträge werden indes in die allgemeine Ökonomie des Schauspiels eingeschrieben und tragen 11 Hierzu ein Zitat des gazetier Jean Loret, der die gelungene Uraufführung von Les Fâcheux euphorisch lobt und die in dieser Hinsicht verständliche Ungeduld des Volkes schildert, auch in den Genuss des molièreschen Werkes kommen zu wollen: „La Piéce, tant et tant loüée, / Qui fut derniérement joüée / Avec ses agrèmens nouveaux, / Dans la belle Maizon de Vaux, / Divertit si bien nôtre Sire, / Et fit la Cour tellement rire, / Qu’avec les mesmes beaux apréts, / Et par commandement exprés, / La Troupe Comique excellente/ Qui cette Piéce reprézente […] / O Citadins de cette Ville, / En Curieux toûjours fertile, / Gens de diverses Nations, / Gens de toutes Conditions, / Gens du commun, Gens de science, / Donnez-vous un peu patience; / Aprés le Monarque et sa Cour / Vous la verrez à vôtre tour […].“ Loret (1857-1891), 396. 12 Die genannten Kunsthandwerker stellen die Stammtruppe. Es gibt allerdings innerhalb der Gruppe Fluktuationen, die zu unterschiedlichen Besetzungen führen. So arbeiten der Bühnentechniker Giacomo Torelli sowie der Maler Charles Le Brun bei Les Fâcheux und der Musiker Marc-Antoine Charpentier bei Le Malade imaginaire mit. Noch ein Wort zur Quellenlage: Die unzureichenden Überlieferungstechniken im Bereich des Tanztheaters bewirken, dass die Balletteinlagen in weit geringerem Umfang erhalten sind als die Musikeinlagen. Dieser Sachverhalt ist für die Interpretation der Ballettkomödien zu berücksichtigen. 13 Leider weiß man wenig über die komplexe Zusammenarbeit der einzelnen Künstler, insbesondere über die von Musiker und Poet. Vgl. Hourcade (2002), 128. <?page no="23"?> 22 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie zur Konstruktion der Gesamtbedeutung bei, deren Direktive das Privileg des Bühnenautors ist: Molière erdenkt sich die Totalität des Spektakels und die Integration der Ornamentik entsprechend der dramatischen Progression. Er war bei alldem nicht nur Initiator und Urheber der Ballettkomödie, sein Ableben besiegelt zudem das fast gänzliche Ende der Gattung. 14 In diesem Sinne gehört die comédie-ballet zuerst und von Grund auf Molière. 15 Bereits vor der Zusammenarbeit mit den genannten Künstlern sammelt Molière in seinem wenig bekanntem Ballett Les Incompatibles 16 (1655) erste Erfahrungen in der Koordination von diversen Theatersprachen. Dieses Ballett verfasst und leitet er für den Prince de Conti in Montpellier - noch vor den Aufführungen seiner ersten Komödien in Paris. Das Werk ist in zwei Akte gegliedert, die inhaltlich jeweils mit einer Serie von gegeneinander agierenden Oppositionsfiguren versehen sind; zum Beispiel Un vieillard et deux jeunes hommes im vierten Entree des ersten Aktes oder L’Éloquence et une Harengère im dritten Entree des zweiten Aktes. Die Einheit des Balletts besteht im Sinne der im Titel erwähnten Programmatik im Zusammenbringen von Gegensätzen, um deren Kontrastwirkung theatralisch eindrucksvoll entfalten zu können. Es manifestiert sich schon in diesem simplen Ballett das für Molières Dramaturgie fundamentale Prinzip der komischen Agonik, das er in seinen Ballettkomödien weiter verfeinern und ausbauen wird. Zudem verweist das poetologische Konzept auf die komische Gesinnung seines Tanztheaters: „There are moments of comedy which point to the formidable talent to be displayed in later plays of 14 Posthum werden einige Ballettkomödien nicht nur in abgeänderter Weise in Paris aufgeführt, sondern ab den 1680er Jahren auch wieder in Versailles. Vgl. zur detaillierten Auflistung des Ballettkomödienrevivals Canova-Green (2007), 36. 15 Vgl. Mazouer (1993b), 10. 16 Die mangelnde Kenntnis des Ballet des Incompatibles ist nicht nur der allgemein defizitären Kenntnis von Molières außerhalb seiner großen Komödien existierenden Stücken zuzuschreiben, sondern auch aufgrund der unsicheren Quellenlage. McBride argumentiert überzeugend für Molières Autorenschaft: „Il est tout à fait raisonnable de supposer que Molière en est l’auteur. En tant que chef de la troupe de Conti, c’est à lui et non pas à un autre que le patron aurait confié la conduite des fêtes. […] Molière est sans conteste le mieux qualifié des comédiens aux Etats, et l’on s’imagine mal Conti ou Cosnac s’adressant à un autre.“ McBride (1980), 133 f. Auch Lacroix vertritt diese Position: „[M]ais ceux [les vers de ballet, Anm. S. W.] du programme des Incompatibles sont assez bien tournés en général et souvent assez heureux pour qu’on y reconnaisse une main de maître. […] Le style de cette pièce est, en général, net, précis, clair, élégant et simple, disant bien ce qu’il veut dire et se prêtant sans effort au rhythme et à la prosodie. Il a presque toutes les qualités ordinaires de la langue de Molière. […] Il est donc impossible de reconnaître, dans la langue facile, naturelle, souvent ferme et vive des Incompatibles , la phraséologie verbeuse et incolore de Guillerague, la versification rocailleuse et pénible de Beys, le jargon burlesque et familier de d’Assoucy, les seuls poëtes qui fussent en ce moment auprès du prince de Conti.“ Lacroix (1969), 6-12. <?page no="24"?> 1.1 Auftakt und Selbstverständnis einer neuen Gattung 23 Molière’s career.“ 17 Les Incompatibles ist ein experimentierfreudiges Frühwerk des Künstlers, das auf seine weitere Schaffensphase und auf seine späteren Ballettkomödien einen wichtigen Einfluss haben wird. Aufgrund der von Molière nicht eindeutig mit comédie-ballet etikettierten Theaterstücke ist man sich über die Gesamtzahl der Ballettkomödien bis heute uneinig. In der Regel ergeben sich Probleme bei der Zuordnung der beiden Theaterstücke Mélicerte und Psyché : Es existieren keine genauen Daten hinsichtlich der Uraufführung von Mélicerte , ja es gilt nicht einmal als gesichert, ob dieses Theaterstück überhaupt aufgeführt wurde. Weitere Zweifel ergeben sich dadurch, dass es ein unvollendetes Werk ist, das aus zwei Akten besteht. 18 Psyché ist als tragédie-ballet bezeichnet und sollte auch eher als eine Untergattung der Tragödie verstanden werden, weil sich die Balletttragödie sowohl thematisch als auch in ihrer tragischen Ausrichtung strukturell von den anderen Ballettkomödien unterscheidet. Des Weiteren ist anzuführen, dass es sich bei diesem tragédie-ballet um ein dramaturgisches Gemeinschaftswerk von Pierre Corneille, Philippe de Quinault und Molière handelt. 19 Demzufolge kann derzeit unter Ausschluss der beiden angeführten Stücke von zwölf molièreschen Ballettkomödien im engeren Sinn ausgegangen werden. Den zwölf Ballettkomödien entsprechen zwölf Aufführungstage für die jeweiligen Premieren, an denen sie so exklusiv erscheinen, dass ihre Reprisen fast immer Abstriche hinnehmen müssen. Zur Differenzierung werden die Erstaufführungen der zwölf comédies-ballets moliéresques am Hof in ihrer Gesamtheit unter dem Begriff ‚Dodekameron‘ zusammengefasst. Es handelt sich hierbei um eine Kongruenz von Aufführungstagen und der Anzahl literarischer Werke. Für die anstehende Analyse der Theaterstücke ist es dienlich, sich dem idealen Aufführungsgeschehen weitestgehend anzunähern und dieses erscheint mir in den Aufführungsbedingungen des Dodekamerons am besten verwirklicht zu sein. Schließlich die Ballettkomödien in chronologischer Reihenfolge: Les Fâcheux (1661), Le Mariage forcé (1664), La Princesse d’Élide (1664), L’Amour médecin (1665), La Pastorale Comique (1667), Le Sicilien, ou l’Amour peintre (1667), George Dandin ou le Mari confondu (1668), Monsieur de Pourceaugnac (1669), Les Amants magnifiques (1670), Le Bourgeois gentilhomme (1670), La Comtesse d’Escarbagnas (1671) und Le Malade imaginaire (1674 20 ). 17 Sharkey (1973), 537. 18 Vgl. Riffaud (2010), 1666-1668. 19 Friedrich Böttger merkt untermauernd an, dass Molière die Formgebung der Intermezzi anders gestaltet sowie dem Geist der comédie-ballet mehr Nachdruck verliehen hätte, wenn er sie allein komponiert hätte. Vgl. Böttger (1979 [1930]), 139. 20 Molière komponiert die Ballettkomödie für den Karneval von 1673 und führt sie auch im selben Jahr auf. Sie wird aus politischen Gründen jedoch erst 1674 nach Molières Tod vor <?page no="25"?> 24 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie 1.2 Antike und frühneuzeitliche Quellen der Gattung Die historische Fragestellung darf bei einer Gattungspoetik nicht fehlen, denn sie eruiert die kulturellen Wurzeln und gattungshistorischen Traditionen, die unter dem Gesichtspunkt einer Gattungsfusion 21 entscheidend für den Stellenwert der Innovation sind: Die Ballettkomödie stellt im Zeitalter der Querelle des Anciens et des Modernes die aristotelische Mimesis im Sinne einer auf Imitation basierenden Dichtkunst infrage, wenn sie mit einer selbstbewussten aemulatio antwortet. Die Neuartigkeit der Gattung für das französische Theater der Klassik betont Molière im Avertissement von 1661 explizit. Zugleich schränkt er seine Entdeckung ein, wenn er sich im Konjunktiv vage auf mögliche antike Autoritäten beruft: „[C]’est un mélange qui est nouveau pour nos Théâtres, et dont on pourrait chercher quelques autorités dans l’Antiquité […].“ ( LF , 150) Charles Mazouer sieht in den fehlenden Angaben etwaiger antiker Autoritäten eine Witzelei Molières. Für ihn handelt es sich um den Spott eines Autors, der selbstbewusst der Regelbesessenheit der gelehrten Pedanten trotzt: „Ce genre tout moderne, apparu dans un contexte bien particulier et bien daté, n’a pas de référence dans l’Antiquité.“ 22 Wenn Molière tatsächlich eine Witzelei im Sinn gehabt hätte, so ist Mazouer darin zuzustimmen, dass diese auf die Pedanterie der Regelvertreter abzielen wollte. Jedoch schließt das Vorwortzitat mögliche Vorformen der Ballettkomödie nicht aus. Dass Molière selbstsicher die Innovation seines geschaffenen Genres nach außen tragen kann und nicht explizit auf antike Autoritäten zurückgreifen muss, um jenes als ‚neu‘ zu rechtfertigen, liegt unter anderem daran, dass bei aller Neuheit gewisse ästhetische, poetologische und gattungstypologische Regeln der gängigen doctrine classique im weitesten Sinne nicht verletzt werden. 23 Ferner bekräftigt er stets die vernünftige Seite seiner Komödien, wie beispielsweise im Premier Placet au Roi von Le Tartuffe : „Le Devoir de la Comédie étant de corriger les Hommes, en les divertissant.“ ( LT , 191) Doch wo liegen die antiken Wurzeln, die Molière in konjunktivischer Form andeutet? In welche literaturgeschichtliche Gattungstradition ließe sich die Ballettkomödie einordnen? Antworten auf diese Fragen findet man zunächst dem König aufgeführt. 21 Das Tanztheater verschmilzt mit dem Sprechtheater. Beide Theatergattungen vereint ihr live -Charakter, weswegen sie sich günstig kombinieren lassen und eine gleichzeitige raumzeitliche Präsentation und Rezeption möglich ist. 22 Mazouer (2005), 18. 23 Da die doctrine in erster Linie für die hohe Tragödie galt, konnte sie nur mit Einschränkungen auf die Komödie übertragen werden, weshalb ihre Regelstrenge nicht immer in Gänze in den Lustspielen umgesetzt wurde. <?page no="26"?> 1.2 Antike und frühneuzeitliche Quellen der Gattung 25 im Ursprung der Komödie, bei den Feierlichkeiten um den Dionysos-Kult in der Stadt Megara im 6. und 5. Jahrhundert vor Christus. 24 Der Gott des Weines und der Fruchtbarkeit wurde in den nach ihm benannten Dionysien mehrere Tage lang mit burlesken Prozessionen gefeiert, die mitunter Phallusdarstellungen, tanzende und singende Chöre, Satire- und Sketchspiele enthielten. Die Etymologie des griechischen Wortes κωμῳδία (kômôidia) bestätigt diesen Ursprung: Die kômôidoi sind ursprünglich die „Sänger des kômos “, das heißt der dionysischen Prozession, jene, die einen Text - Vorläufer des Komödientextes - interpretierten und improvisierten. 25 Man erkennt in dieser vorliterarischen Form Elemente, die an die Ballettkomödien erinnern: Zu nennen sind Tanz, Musik, Satire, bacchantische Einlagen in den Zwischenspielen, der Improvisationscharakter der Situationskomik, das apotheotische Moment wie auch die kulturelle Funktion eines Festspiels. Letzteres dient am Hof von Ludwig XIV . dessen Repräsentationskultur mit größter Schauwirkung. Diese zunächst noch autonomen Bestandteile der Dionysien bestimmen das Wesen der Ballettkomödie, jedoch in einer in erheblichem Maße verfeinerten und strukturierteren Darstellung. Die dramatische Struktur wird in der Alten Komödie besonders unter Aristophanes elaboriert und gefestigt. 26 Es ist interessant und hinweisgebend für das Verständnis der Intermedientradition zugleich, dass die in der Alten Komödie integrierte Parabase 27 bereits die Idee einer Intervention in die Hauptkomödienhandlung erkennen lässt. Die Chorinterventionen sind fester Bestandteil des attischen Theaters mit unterschiedlichen Funktionen: Der Chor ist Betrachter und Kommentator des Geschehens, an welchem er sich zugleich als Akteur beteiligt, indem sein Agieren oftmals eine Art Parallelhandlung zur Haupthandlung darstellt. 28 Er interveniert ungleichmäßig in die Handlungsphasen des Dramas, das bis dato noch nicht in Akte unterteilt ist. Im Verlauf der Dramenentwicklung verringert sich seine dramatische und thematische Bedeutung, bis er in der Neuen Komödie auf Zwischenaktmusik reduziert wird. Zu Beginn der hellenistischen Epoche erschließt sich aus der Alten Komödie eine weitere antike Quelle für die Ballettkomödie, die Neue Komödie von Menander. Sie überzeugt das zeitgenössische Publikum mit ihrem politiklosen Sujet, aber auch mit ihrer Struktur, wodurch sie sich von der Alten Komödie 24 Vgl. Gilot und Serroy (1997), 18. 25 Vgl. ebd., 18. 26 Vgl. ebd., 20. 27 Die Parabase ist ein dramatischer und thematischer, mit der Komödienhandlung in losem Zusammenhang stehender Einschub in Gestalt einer poetisch-kritischen und politischsatirischen Ansprache. Bei der Aufführung der zweiteiligen Komposition legt der Chor Maske wie auch Kostüm ab und wendet sich bei leerer Bühne mit Gesang und Rezitationen direkt an die Zuschauer. Vgl. Brauneck (2001), 773. 28 Vgl. ebd., 246. <?page no="27"?> 26 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie absetzt und eine neue Etappe in der europäischen Komödienentwicklung markiert. Die Neue Komödie charakterisiert sich durch das Verschwinden der Wettkämpfe und der Parabase sowie durch die Reduzierung der Chorinterventionen, die fortan nur noch aus kurzen gesungenen und getanzten Intermezzi zwischen den Akten bestehen und nicht mit der Komödienhandlung verbunden sind. 29 Als Ausgangspunkt für das Intermedientheater kann das antike Theater aufgefasst werden. Die molièreschen Intermezzi lassen traditionelle Strukturen des antiken Chors erkennen, da jene ebenfalls eine dramatische und thematische Bedeutung haben und ein Aktionsmoment beinhalten. Dennoch unterscheiden sich die klassischen Intermedien von den antiken Chorinterventionen dahingehend, dass sie keine Reflexionsinstanz im Sinne der Parabase verkörpern und keine die Komödienfiktion sistierenden Interventionen darstellen. Sie bereichern durch Spiegelung, Parodierung, Kontrastierung und Weiterführung die Komödienhandlung. Darüber hinaus stellen sie unter formalem Aspekt eine Aktmarkierung dar. Das verbindende Moment zum antiken Chor muss sonach in einer ästhetischen Verschiebung der dramen- und sujetstrukturellen Relevanz der Intermedien gesucht werden. Molières Einheitsstreben führt insgesamt zu einem Gewinn an neuer dramatischer und thematischer Kontinuität und Konformität, 30 womit er sich auch von der Neuen Komödie distanziert. Obschon Menander bereits Musik- und Tanzeinlagen als Bereicherung in seine Neue Komödie aufnimmt, erhebt dieser keineswegs den künstlerischen Anspruch Molières, die Dramen- und Sujetstruktur der Zwischenspiele mit der Komödienstruktur ästhetisch harmonisieren zu wollen. Dies hat zur Folge, dass sich die Ballettkomödie im Hinblick auf ihre Komikästhetik von den beiden antiken Komödientypen unterscheiden wird. Das Aktionspotenzial der Intermedien fließt sonach in die Komödienhandlung mit ein und führt zu einer dynamischen Gesamtdarstellung, die aus Ballett und Komödie synergetisch zusammengefügt ist. Die antiken Maßgeblichkeiten - wie man „autorités“ ebenfalls lesen kann - können aufgrund ihrer hybriden Struktur sowie ihrer inspirierenden Künstefusion für Molière als Referenzpunkt gegolten haben. 31 29 Vgl. Gilot und Serroy (1997), 22. 30 Lediglich die aristophanischen Parallelhandlungen des Chors zur Komödienhandlung erfüllen das Kriterium eines dramatischen und thematischen Zusammenhangs. 31 Dieser Exkurs zu den Ursprüngen des europäischen Dramas erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit hinsichtlich der musikalischen und tänzerischen Intermedienkultur. Es wurde nur nach möglichen Quellen und Wurzeln gesucht, die bedeutsam für das Wesen und die Struktur der Ballettkomödie sind. Ferner ist erwähnenswert, dass das römische Drama, das mittelalterliche Theater und die frühneuzeitlichen Theateraufführungen in Spanien und Italien ebenfalls weitere Repräsentationsformen aufweisen, die sich nicht nur auf sprachliche Darstellungen beschränken lassen. <?page no="28"?> 1.2 Antike und frühneuzeitliche Quellen der Gattung 27 Mit der commedia dell’arte wird die neue Ästhetik des französischen Autors überdies durch eine frühneuzeitliche Quelle inspiriert. Abgesehen davon, dass Molière von Tiberio Fiorelli, dem bekannten Schauspieler dieses auch in Frankreich praktizierten Theaters, einiges über seine später verwendete gestische Ästhetik lernt, interessieren im Zusammenhang mit der binären Struktur der Ballettkomödie vordergründig die lazzi . Die komischen Einlagen, die zum festen Bestandteil dieses Theatertypus gehören, werden immer dann ausgespielt, wenn der improvisierte Spielfluss zu stocken droht und das Hauptspiel neu organisiert werden muss. 32 Angesichts des Umstandes, dass den Schauspielern der commedia kein vollständiger Rollentext zur Verfügung steht, sondern nur ein grobes Handlungsschema, ein canavaccio oder scenario , ist die Beherrschung der lazzi ein wichtiges Element des Schauspielerrepertoires. Die Akteure vermögen innerhalb ihrer Typenrolle die komischen Gags situationsbezogen einzusetzen wie auch zu variieren und können damit über Engpässe in der Haupthandlung hinwegtäuschen. Die Schlüsselidee liegt in der situationsbezogenen Integration theatralischer Elemente in den Handlungsverlauf des Hauptspiels, wodurch der Eindruck erweckt werden soll, dass sie tatsächlich dazugehören. Die zunächst unfreiwilligen lazzi erfreuen sich großer Beliebtheit und tragen maßgeblich zur Gattungsspezifik bei. In der commedia dell’arte findet man daher eine weitere Spielart von Handlungsinterventionen, die eher zufällig während der Aufführung entstehen und anders motiviert sind als bei Aristophanes und Menander, denn sie geben nicht Musik- und Tanzeinlagen Priorität, sondern Einlagen schauspielerischen Agierens. Molière kombiniert die aus der antiken und frühneuzeitlichen Interludientradition der Komödie stammende Trias Musik, Tanz und schauspielerisches Agieren in seinen Interludien. Er verschafft ihnen ein starkes Aktionspotenzial, indem er die Musik- und Tanzeinlagen durch die Einbindung in die Dramen- und Sujetstruktur der Komödie dramatisiert wie auch theatralisiert und über das mimische Moment komisiert. 32 Vgl. Hess (2003), 51. <?page no="29"?> 28 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie 1.3 Vorklassische und klassische Einflüsse auf die Gattung 1.3.1 Das Französische Ballett Ein weiterer kultureller wie auch struktureller Einfluss, der die Entstehung der Ballettkomödie begünstigt, ist im ballet de cour 33 zu finden, der sich durch seine Mischung aus Musik und Gesang, Rezitativen und Tanz sowie spektakulären Umzügen am Hof auszeichnet: Les ballets de cour se composaient d’entrées, de vers et de récits. Les entrées étaient muettes; on voyait s’avancer sur le théâtre des personnages dont le poëte avait disposé les caractères, les costumes et les mouvements, en leur donnant à figurer par la danse une espèce d’action. Le programme ou livre distribué aux spectateurs les mettait au fait de ce qu’étaient les danseurs et de ce qu’ils voulaient exprimer. De tout temps on y avait joint quelques madrigaux à la louange des personnes qui devaient paraître dans les divers rôles, et c’était là ce qu’on appelait les vers , qui ne se débitaient pas sur la scène, qui n’entraient pas dans l’action, qu’on lisait, ou des yeux ou à voix basse, dans l’assemblée, sans que les figurants y eussent part, sinon pour en avoir fourni la matière. Les récits , enfin, étaient des tirades débitées ou des couplets chantés par des personnages qui ne dansaient pas, le plus souvent des comédiens, et qui se rapportaient au sujet de chaque entrée. 34 Gemäß Anaïs Bazins Definition ist dem ballet de cour nicht der Charakter eines dramatischen Werkes zuzuschreiben; häufig ist er lediglich ein Spektakel, das mit den diversen Künsten zu improvisieren scheint. Das Hofballett wird mit dem Ballet Comique de la Reine (1581) von Balthasar de Beaujoyeulx im 16. Jahrhundert etabliert. Dieses Ballett dient der monarchischen Propaganda, denn der darin evozierte Aktualitätsbezug zur politischen Lage ist evident: Die Götter überwinden die Zauberin Circe ebenso glorios wie der französische König die Religionskriege. Die im 17. Jahrhundert verstärkte Weiterentwicklung des französischen Tanzspiels ist auf das politische Ereignis der Fronde (1648-1653) zurückzuführen. Inmitten der Regierungskrise repräsentiert der tanzende Dauphin - zum Beispiel im Ballet de la nuit (1653) als mächtiger Apollo - 33 Das höfische Tanzspiel im neoplatonischen Geiste stammt aus Italien und taucht dort erstmals 1533 bei der Hochzeit von Catherine de Médicis und Henri II auf. Vgl. Lyonnet (1921), 126. Zur Quellenlage des Französischen Hofballetts empfiehlt sich das Buchkapitel „À la recherche du ballet de Louis XIV“ in Hourcade (2002), 11-36. Einen guten Überblick über die Entwicklung des Hofballetts anhand einer differenzierten Zusammenschau der unterschiedlichen Subgenera des ballet de cour - wie Le ballet dramatique , Le ballet-mascarade , Le ballet mélodramatique und auch des ballet à entrées - geben Béhar und Watanabe-O’Kelly (1999), „Le ballet de cour en France“, 485-521. 34 Bazin (1851), 164 f. <?page no="30"?> 1.3 Vorklassische und klassische Einflüsse auf die Gattung 29 Stärke, Ordnung und Stabilität des monarchischen Systems, das den politischen Unruhen Einhalt gebieten sollte. 35 Er gibt den Tanzrhythmus vor und weiß großmächtige Höflinge im Gesellschaftstanz wie auch auf der Bühne zu bändigen. Besonders begnadete Tänzer der Oberschicht haben die Ehre, aktiv auf der Bühne mitzuwirken. Die adeligen Tänzer sind der Inbegriff von Disziplin und dienen mit ihren Auftritten als Paradebeispiel einer vollendeten Systemanpassung und -unterwerfung: „Die Domestizierung und Unterwerfung des gesamten französischen Adels wird im ‚grand bal du roi‘ durch das Zeremoniell stets von neuem sichtbar gemacht und bestätigt.“ 36 In dieser Zeit setzt sich die Politisierung des Balletts in Frankreich zunehmend durch, 37 symbolisiert es doch kulturpolitische Ansichten und legitimiert diese zugleich in ihrer Repräsentation. 38 Die machtverklärende Funktion des ballet de cour ist in den comédies-ballets erhalten geblieben, sodass das Erbe der politischen Funktion im neuen Genre fortleben kann. Zur Ausbildung einer edlen Bewegungsästhetik wird Ludwig XIV . bereits im Kindesalter in seiner, wie sich später zeigen wird, großen Passion für den klassischen Tanz gefördert. Es handelt sich um eine Leidenschaft machtverklärenden Ursprungs, die durch die Gründung der wissenschaftlichen Académie royale de danse im ersten Jahr seiner Selbstregierung institutionell ihren Ausdruck findet. Damit liegt der kulturellen Tanzpraxis erstmals eine wissenschaftlich abgestützte Organisation zugrunde. Die staatliche Verankerung der Tanzeinrichtung fordert die Professionalisierung des Tanztheaters und verstärkt die gesellschaftliche Bedeutung des Tanzes. Das Bestreben und die Entwicklung einer glorreichen Tanzkultur, „die stufenweise Wandlung des Tanzes von höfischer Unterhaltung und Vergnügung zu theatralischer Darstellung “ 39 unter Ludwig XIV ., erklären die tiefe Verankerung des Balletts in der französischen Kulturgeschichte. Der Tanzlehrer Pierre Rameau hebt zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Alleinstellungsmerkmal des schönen Tanzes der Franzosen im Vergleich zu den übrigen Europäern hervor: Nous pouvons dire à la gloire de notre Nation, qu’elle a le veritable goût de la belle Danse. Presque tous les Etrangers loin d’en disconvenir, viennent depuis près d’un siécle admirer nos Danses, se former dans nos Spectacles & dans nos Ecoles; même il n’y a point de Cour dans l’Europe qui n’ait un Maître à danser de notre Nation. 40 35 Vgl. Christout (2002), 156. Die Wichtigkeit königlicher Präsenz für das Bestehen des ballet de cour macht der Umstand deutlich, dass im Zuge zunehmender Absenz des Königs auch das Hofballett verschwindet. Vgl. Naudeix und Piéjus (2010), 1680. Vgl. Kapitel 6.2.4. 36 Braun und Gugerli (1993), 152. 37 Vgl. Weickmann (2002), 33. 38 Vgl. Braun und Gugerli (1993), 102. 39 Clarke und Crisp (1985), 12. Meine Hervorhebung. 40 Rameau (2013 [1725]), Vorwort, 9. <?page no="31"?> 30 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie Im Zuge der Entwicklung des Tanztheaters ändert sich der Austragungsort der Ballette, die Bühne. Ab 1641 werden sie auf einer erhöhten Bühne aufgeführt, womit ein Perspektivenwechsel der Zuschauer einhergeht. 41 Diese neue Bühnenkonstruktion sorgt für eine frontal und fluchtpunktartig auf den Herrscher ausgerichtete Choreografie, die den Tanz aristokratischer und pompöser wirken lässt. 42 Dem Ballett wird auf diese Weise die gleiche Bühne wie dem Theater zuteil, eine Veränderung, die eine Kombination der beiden Gattungen im Sinne der Ballettkomödie favorisiert. Da für die beiden Dynastien - Valois und Bourbonen - höfische Feste ein Kernpunkt ihrer politischen Strategie sind, wird die Beherrschung des Tanzes zu einem wichtigen Bestandteil des neuen Adelsideals. Der Tanz steigt zu einem signifikanten Element im System der repräsentativen Öffentlichkeit des Adels und der Selbstrepräsentation der Monarchie auf. Vermittels der Festchoreografie werden die soziale Rangordnung der Höflinge repräsentiert und die aristokratischen Zuschauer ihrerseits in das ideologische System integriert. 43 Zudem wird die Tanzfertigkeit in der Ständegesellschaft als Mittel zur Distinktion gegenüber der avancierenden Bürgerschicht eingesetzt. Tanz zählt nach Nicolas Farets L’Honnête homme ou l’Art de plaire à la cour (1630) nebst anderen Bildungsidealen in allen Erziehungslehren zu den „exercices de galanterie“ der Höflinge, ebenso wie die musikalische Betätigung. 44 Dergestalt stiftet das Ballett eine soziale und kulturelle Identität im 17. Jahrhundert. Ferner lassen tanztheoretische Schriften 45 aus der Zeit erkennen, dass der Tanz von gesellschaftlichem Vorteil ist, wenn die Tänzer die Harmonie und die Proportionen des Universums nachempfinden und ein Gefühl für Maß und Anstand entwickeln, wovon das soziale Gefüge profitiert. 46 Die Ballettertüchtigung als Instrument zur Wesensverfeinerung begünstigt die Zurschaustellung der honnêtes gens am Hof in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die Art der 41 Vgl. Garstka (2006), 45. 42 Vgl. ebd., 45. 43 Vgl. Strong (1991), 112. 44 Das klassische Erziehungsideal erinnert an das griechische, das dem Tanz im Sinne Platons ein stark ästhetisches wie auch ethisches Ideal zumisst. Vgl. zur platonischen Tanzlehre Pont (2008), 267-281. 45 Hierzu zählen zum Beispiel die Schriften Idée des spectacles anciens et nouveaux (1668) von Michel de Pure, Des ballets anciens et modernes selon les règles du théâtre (1682) von Claude-François Ménestrier und die anonym erschienenen Règles pour faire des Ballets . Vgl. Hourcade (2002), 156. 46 Norbert Elias macht auf einen unterschiedlichen Körperkult zwischen Mittelalter und Klassik in Frankreich aufmerksam. Während im Mittelalter die Freiheit des Körperlichen das soziale Gefüge prägt, wird das klassische Zeitalter von einer extrem codierten Körpersprache dominiert, die zudem eine stratifikatorische Distinktion im Sinne des Savoirvivre zum Ausdruck bringt. Vgl. Serroy (1993), 89. <?page no="32"?> 1.3 Vorklassische und klassische Einflüsse auf die Gattung 31 Selbstpräsentation, der Bewegung, der Gestik und Körperhaltung der honnêtes gens ist nur zu deuten, wenn man versteht, dass ihre Körper durch tägliche Tanzübungen geformt werden. Die daraus resultierende Eleganz trägt zu einem Prestigefetisch der verlorenen politischen Macht bei. Ziel dieser Tanzübungen ist es, die menschliche Natur zur vollkommenen Entfaltung zu bringen. Im damaligen Verständnis ist der Körper eine mechanisch-physikalische Substanz, die es zu modellieren gilt. Im Sinne dieser auf Descartes beruhenden rationalen Funktionalisierung des Körpers muss alles beseitigt werden, was sich dieser entgegensetzt. 47 Für den Tanz bedeutet dies, dass Ordnung in die kleinsten motorischen Einheiten und die immer komplizierter werdenden Tanzschritte gebracht werden muss. Die Tanzkunst unterweist die Tanzschüler, eine artifizielle Bewegung so auszuführen, dass sie natürlich erscheint. Die Bewegungsästhetik des 17. Jahrhunderts versteht sich als eine natürliche, als eine der menschlichen Natur angemessene; 48 sie wirkt im heutigen somästhetischen Empfinden beinahe paradox. Aufgrund dieses Ausdrucksempfindens ist es für die physische Präsenz in der Gesellschaft von äußerster Wichtigkeit, dass man nicht den Eindruck einer affectation entstehen lässt, 49 einer verkrampften Geziertheit, sondern den einer natürlichen Perfektion des Körpers, die auf dem absolutistischen Ordnungsprinzip fußt. Das Ballett ist für seine strenge Formeinhaltung bekannt und spiegelt die strengen gesellschaftlichen Konventionen der Zeit in seinem künstlerischen Ausdruck wider. Es ist das ideale Medium von Herrschafts- und Selbstdarstellung, denn der Tänzer verinnerlicht die Gesellschaftsordnung und kehrt diese aus seinem individuellen Inneren als Selbstdarstellung erneut nach außen. 50 Es ist an dieser Stelle festzuhalten, dass der ballet de cour im Komplex von künstlerischem Ausdruck und soziopolitischer Absicht die Funktion erfüllt, den Hof und die höfische Kultur in der Zeit Ludwigs XIV . zu definieren und dem europäischen Ausland Hochschätzung abzunötigen. 51 Als bevorzugtes Genre dominiert der ballet de cour bis ins Jahr 1661 die Unterhaltung am Hof. Mit dem Antritt der Alleinregierung sollte sich zusätzlich die comédie-ballet etablieren und mit dem französischen Hofballett koexistieren. 52 Der ballet de cour wirkt 47 Vgl. Weickmann (2002), 34. 48 Vgl. Saftien (1994), 300. 49 Vgl. ebd., 288. 50 Vgl. Lippe (1974), 9. 51 Vgl. Hill (2005), 238. 52 In der Blütezeit der comédie-ballet wird zeitgleich der ballet de cour aufgeführt, wie die Tanzspektakel beispielhaft belegen: „ballet de l’ Impatience et ballet des Saisons en juillet 1661, ballet des Arts en janvier 1663, ballets de la Naissance de Vénus en janvier 1665, et des Muses en novembre 1666, le Grand Porte-Diadème en janvier 1668 […], le ballet de Flore en février 1669 […].“ Adam (1962), 191. <?page no="33"?> 32 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie hinsichtlich seiner soziokulturellen Relevanz auf das Schaffen Molières und damit auf die Ballettkomödien ein. Dieser Einfluss zeichnet sich außerdem durch eine strukturelle Prägung ab, die sich in der hybriden Struktur der Ballettkomödie zu erkennen gibt. Molière gelingt es, im Gegensatz zu den - in Anbetracht mangelnder Synchronisierung von Ballett und Musik - bis dato oft inhaltslosen, unstrukturierten Aufführungen, eine ästhetisch fein abgestimmte Inszenierung zu geben. Die Ballettkomödien schreiben sich somit in die vierte Etappe der Entwicklung des ballet de cour ein, dem Ballett von Isaac de Benserade. 53 In der Tat eröffnen Les Fâcheux eine Periode der Koexistenz und bisweilen auch Kooperation zwischen dem inhaltlich und strukturell kohärenteren Ballett von Benserade und den molièreschen Ballettkomödien, die vorherige Tanzkompositionen auf Dauer ersetzen. Dieses Hofballett sticht durch einen dreigliedrigen Aufbau hervor, eine Struktur, die auch in Molières Werken deutlich zu erkennen ist. Nobuko Akiyama fasst sie wie folgt zusammen: „un ou plusieurs récits (partie chantée pour servir à l’intelligence du sujet du ballet), plusieurs entrées (succession de défilés de personnages richement costumés), et le grand ballet final (réunion des personnages des entrées précédentes)“ 54 . Eine ähnliche Beobachtung macht bereits 1641 ein anonymer Zeitgenosse, der in seiner Aussage eine Engführung von Ballett- und Komödienstruktur antizipiert: „Les ballets sont des comédies muettes; les récits séparent les actes, et les entrées des danseurs sont autant de scènes.“ 55 Über diese strukturelle Verwandtschaft hinaus macht er durch die Gleichsetzung des Balletts mit dem komischen Genre deutlich, dass das Ballett eine verstärkt komisch ausgerichtete Gesinnung haben kann. Neben diesen etablierten Aufführungsstrukturen des Hofballetts finden sich sowohl in den Komödien als auch in den Intermedien des Gesamtkunstwerkes Figuren und Themen des ballet de cour wieder. 56 Gemäß der Klassifizierung des Hofballetts in den anonym erschienenen Règles pour faire des Ballets kommen für die Ballettkomödie insbesondere jene Figuren und Themen des galanten ( style médiocre ) wie auch burlesken ( style bas ) Stils infrage. 57 Das Ballett bekommt in der Ballettkomödie die Funktion einer nonverbalen Sprache innerhalb des Dramentextes zugeschrieben. Man kann mitunter von einer Dramatisierung des Balletts sprechen, von einer Adaptierung des Tanzes an die Gesetzmäßigkeiten der dramatischen Gattung. Dieser Integrationsprozess bringt gleichzeitig eine Theatralisierung des Balletts mit sich, da durch diesen Zusammenschluss eine Vielfalt unterschiedlicher Zeichensysteme ent- 53 Vgl. Akiyama (1996), 19. 54 Vgl. ebd., 19. 55 Zitat nach Marcel Paquot in Mazouer (1993b), 82. 56 Vgl. Akiyama (1996), 26. 57 Vgl. Hourcade (2002), 142. <?page no="34"?> 1.3 Vorklassische und klassische Einflüsse auf die Gattung 33 steht. Im Zuge der Umfunktionalisierung musikalisch begleiteter Balletttänze räumt Molière mit dem zeitgenössischen Dogma auf, dass Musik nur Affekte auszudrücken, aber keine essenziellen dramatischen und theatralischen Bindungen herzustellen vermöge. 58 Die dramatische Theatralisierung von Tanz und Musik erzeugt einen semiotischen Mehrwert im Vergleich zum hauptsächlich auf Kostümierung und Bühnenbild ausgelegten frühen Hofballett, das zwar wirkungsvoll und artistisch glänzt, im Grunde aber ohne Handlung ist. 59 Unter strukturellem Gesichtspunkt existiert das molièresche Ballett nicht nur im Sinne einer ars gratia artis , sondern ist fester Bestandteil der Komödienhandlung. Eine zusätzliche Hervorhebung nonverbaler Ausdrucksweise gelingt Molière durch die Integration der in der italienischen Tradition der commedia dell’arte stehenden Pantomimen in den Tanz, womit er eine innovative Richtung in der Tanzkunst einschlägt. 60 Der unverkennbare Charakter der Masken generiert ein hohes Maß an allgemeiner Verständlichkeit und zudem eine gewisse Formneutralität, die sich Molière geschickt zunutze macht, indem er das dramaturgische Gerüst des italienischen Erbes mit französischem Eigenleben besetzt. 61 Wie bereits an anderer Stelle aufgezeigt, wird der Tanz nicht nur durch die Integration in die Dramen- und Sujetstruktur dramatisiert respektive theatralisiert, sondern insbesondere über das schauspielerische Moment des Agierens komisiert, woraus ein semiotischer und zugleich semantischer Mehrwert für die histoire der Komödie resultiert. 1.3.2 Ballettmusik Im 17. Jahrhundert wird Musik in drei unterschiedliche Stile klassifiziert - ecclesiasticus , cubicularius und theatralis . 62 Letzterer bedarf - da für diese Arbeit besonders von Belang - einer genaueren Erfassung. Musik ist, wie Friedrich Böttger feststellt, zu Zeiten Molières fast immer in Verbindung mit Tanz aufgeführt worden. 63 Auf diese Weise hält mit dem Aufkommen des Tanzes auch ein musikalisches Moment Einzug in die französische Kultur. Hans Hahnl drückt das komplexe Verhältnis von Ballett und Musik mit der Leidenschaftsmetaphorik zweier Liebender aus und akzentuiert damit die Tragweite ihrer symbiotischen Verbindung: 58 Vgl. Böttger (1979 [1930]), 62. 59 Einen Einblick über die reziproke Beeinflussung von comédie-ballet und ballet de cour ab 1661 bietet Akiyama (1996), 17-30. 60 Vgl. Coe (1988), 110. 61 Vgl. Moraud (1981), 7. 62 Vgl. Morelli (2012), 309. 63 Vgl. Böttger (1979 [1930]), 74. <?page no="35"?> 34 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie Die Musik befreit den Tanz zu sich selbst, sie entfesselt und sie bändigt ihn, sie gibt ihm Gesetze, mit denen er nach Belieben verfahren kann. Sie überwältigt ihn, um von ihm überwältigt zu werden […]; ein lebenslanger Kampf mit Vereinigungen [und] Versöhnungen. 64 Die Beziehung zwischen den beiden Künsten manifestiert sich darin, dass musikalische Strukturen wie Rhythmik, Klangfarbe und Dynamik choreografisch materialisiert und vice versa choreografische Bewegungsformen akustisch realisiert werden können; Musik im Ballett kann eine stimulierende Funktion für die Bewegungsaktion, aber auch eine begleitende Funktion haben. 65 Ferner korrespondiert jeder Balletttanz mit einem spezifischen Musikstück: „[T]he tempo and meter of the music determine the number of step-units per measure of dance, and the affect of the music by and large determines the affect of the dance.“ 66 Dieses Zusammenspiel ist von der neoplatonischen Lehre der Universumsharmonie bestimmt, die Musik und Tanz eine wohltuende Wirkung auf die Seele der Zuhörer oder Zuschauer zuspricht und trotz des zunehmend ästhetischen Anspruchs der Hoffeste und der damit verbundenen Ästhetisierung des ballet de cour noch bis ins 18. Jahrhundert Gültigkeit hat. 67 Da Musik Leidenschaften auszudrücken vermag, kann sie auch die Seele von diesen reinigen. 68 Jean Boiseul schildert die ethische Wirkung von Musik im Jahre 1606 wie folgt: [L]a musique est un excellent don de Dieu, elle recrée, remet les esprits, chasse la melancholie, appaise la colere, arreste la fureur, esmeut les plus stupides, resveille les abestis, esleve à Dieu, esmerveille les hommes de sa beauté & exellence diverse en toutes sortes, & sa gravité & douceur retire du propos de mal faire, esteint les mauvaises conceptions, incite à la vertu. 69 Sichtbar wird Musik in den Ballettbewegungen und kann sonach über zwei Vermittlungskanäle, durch das Ohr und das Auge, auf die Seele einwirken. 70 Ihr Ziel ist, so Pierre Bardin 1638, „la continuité de l’harmonie“ 71 , die allumfassende Eintracht. Der philosophischen Gesinnung der Musik geschuldet, wirkt sich diese positiv auf eine konfliktfreie staatliche Organisation aus, die den hohen Stellenwert der Musik dadurch legitimiert sieht, denn, wie der Musiklehrer in Le Bourgeois gentilhomme verkündet: „Sans la Musique, un État ne peut subsister […].“ 64 Hahnl (1980), 645. 65 Vgl. Vill (1980), 533. 66 Pierce (2008), 202. 67 Vgl. Schneider (1986), 450. 68 Vgl. Mazouer (1993b), 160. 69 Boiseul (1606), 17. 70 Vgl. Schneider (1986), 434. 71 Zitat von Pierre Bardin in Schneider (1986), 435. <?page no="36"?> 1.3 Vorklassische und klassische Einflüsse auf die Gattung 35 (BG, 270) Mit der starren Ordnung des Kosmos und der daraus abgeleiteten Ordnung der Musik korrespondiert die statische Anschauung vom Menschen in der Gesellschaft, 72 die sich in der absolutistischen Ständegesellschaft widerspiegelt. Der positive Einfluss der Musik auf die Gemütszustände der Rezipienten kann vom Staat als Machtmittel genutzt werden, um die Aspirationen seiner Mitglieder auf den richtigen Weg zu bringen. Über die enge Verbindung zum Tanz hinaus ist Musik auch in eine nahe Beziehung zur Sprache zu setzen. Im Zuge der Bestrebungen nach Reinheit der französischen Sprache, die das Ziel haben, jeden Gedanken und jedes Gefühl in klarster und subtilster Form wiederzugeben, nähert sich die Musikästhetik den Prinzipien der literarischen Klassik jener Zeit an, denn der klare Ausdruck wird auch zu einem ihrer Grundprinzipien: „kein Klang ohne Sinn […], klare Linien, symmetrische Fakturen, echte Kontraste aus [sic] Ausdruck gegensätzlicher Gedanken oder Gefühle“ 73 . Diese Eigenschaften perfektioniert Lully in seinen Kompositionen für das komische Genre, indem er die französischen Qualitäten des Rhythmus und der buffonesken Fantasie mit den musikalischen Qualitäten der Italiener kombiniert. 74 Damit bereitet er die französische Barockmusik mit ihrer Formschönheit und ihrem erhabenen Klang für seine Opern vor, deren dichter Instrumentalsatz ein Spiegel des kompakten, aber dennoch klaren Satzbaus der französischen Sprache ist. 75 Bevor Lully diese Symbiose zwischen Sprache und Musik umzusetzen vermag, die Einheit von Text und Ton für seine Musik beansprucht, scheint er zunächst noch den Ansichten der Theoretiker seiner Zeit unterworfen zu sein - insbesondere Bénigne de Bacilly -, die postulieren, dass die Musik keine Prosodie-, Rhythmus- und Akzentfehler in der Sprache hervorrufen dürfe. 76 Diese Forderungen zeigen, wie Molière den maître de musique in Le Bourgeois gentilhomme sagen lässt - „Il faut […] que l’Air soit accommodé aux Paroles“ ( BG , 269) -, dass sich die Musik den sprachlichen Besonderheiten fügen muss, der Musiker dem Poeten letztlich untergeordnet ist. Diese gattungsgeschichtlich begründete Hierarchie manifestiert die Vorrangstellung der Sprache in den Ballettkomödien und lässt nachvollziehbar werden, warum sich Lully künstlerisch weiterentwickeln wird. 77 72 Vgl. Grimm (2002), 164. 73 Baumgartner (1981), 334. 74 Vgl. Davies (1991), 68. 75 Vgl. Baumgartner (1981), 339. 76 Vgl. Beaussant (1992), 755. 77 Nach dem Zerwürfnis mit Lully schreibt Charpentier die Musik für Le Malade imaginaire . Somit sei an dieser Stelle aus Gründen der Vollständigkeit ein Vermerk zu Charpentiers Kompositionsweise im Vergleich zu der von Lully gestattet: „La musique de Charpentier est moins exubérante, moins profuse, moins éclatante, mais non moins forte; séduisent souvent sa finesse expressive, ses harmonies plus pleines, plus équilibrées, plus chatoyan- <?page no="37"?> 36 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie Darüber hinaus zeugen Molières prosaische Passagen in den Ballettkomödien von einem stark musikalischen Moment: Elle [la prose, Anm. S. W.] a un caractère particulier, que c’est une prose presque toujours chantante et même, en certains passages, mesurée et rythmée. […] [I]l ne lui suffisait pas que sa prose eût la sonorité du verbe; il voulait qu’elle fût propre à faciliter et à soutenir le débit de l’acteur, qu’elle eût du ton d’une façon générale et continue. […] [I]l mêla à sa prose des vers isolés; c’était comme des clous brillants où s’accrochait le souvenir, comme des points lumineux […]. [U]n vers isolé au milieu de la prose frappe l’oreille du spectateur, réveille son attention et saisit son esprit. 78 Molière integriert immer wieder isolierte Verse, zumeist Blankverse, in seine Prosa und verstärkt damit das lyrisch-musikalische Element seiner Texte. Dies hat den Effekt, dass der Wechsel des Schreibstils zwischen den dominant lyrischen Intermedien und der dominant prosaischen Komödie harmonischer, weil kohärenter wirkt. Molière appliziert dieses Kompositionsphänomen weitgehend auf seine Ballettkomödien und etabliert derart einen ästhetischen Übergang zwischen dem gesprochenen und dem gesungenen Wort, den der Zuschauer wohlwollend wahrnimmt: „[L]’oreille est surprise de trouver de la musique où elle n’en attendait pas, et du coup elle en met elle-même plus qu’il n’y en a …“ 79 Die ‚lyrische Klangprosa‘ bedingt nicht nur den einzigartigen Charakter der comédie-ballet , sondern bestimmt Molières ästhetisches Schaffen im Allgemeinen. 1.3.3 Barocke Dramentypen Richelieus Umgestaltung Frankreichs in einen absolutistischen Staat bahnt dem neuen Genre frühzeitig den Weg. Seine Reformen beeinflussen insbesondere die Kulturpolitik, ist er sich doch der Wirkungsmöglichkeiten des Sprechtheaters bewusst. Er errichtet im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts das schönste und größte Theater in Paris, den Palais Royal, und hebt per Dekret im Jahre 1641 die soziale Diskriminierung von Schauspielern auf. 80 Bereits elf Jahre zuvor wurde eine institutionelle Voraussetzung geschaffen, die Richelieus Wirken begünstigte: Im Jahre 1630 etablieren sich mit dem Hôtel de Bourgogne, dessen Schauspieler sich auch comédiens du Roi nennen, und dem Théâtre du Marais zwei feste Bühnen in Paris, die der Wanderbühnentradition ein Ende setzen sollten. Im tes, plus hardies.“ Mazouer (1993b), 164. Letztlich verfügt Charpentier in ähnlicher Weise wie Lully über eine besondere musikalische Effektivität, die Molière für seine Dramatik benötigt. 78 Pellisson (1914), 142-146. 79 Beaussant (1992), 323. 80 Vgl. Grimm (1999), 158. <?page no="38"?> 1.3 Vorklassische und klassische Einflüsse auf die Gattung 37 Zuge dieser Institutionalisierung des Theaters wandelt sich das Publikum von ungebildeten Provinzzuschauern zu einem sozial höhergestellten Publikum, zur literarisch-gesellschaftlichen Öffentlichkeit der Hochklassik, 81 die sich ungefähr ab der Mitte des Jahrhunderts herauskristallisiert und mit la cour et la ville zusammenfällt. Unter diesem Begriff versteht man nach Erich Auerbach allgemein die aus etwa 6.000 Personen bestehende noblesse d’épée , noblesse de robe sowie einige Angehörige des Großbürgertums, welche die gesellschaftliche Elite und kulturtragende Schicht des 17. Jahrhunderts stellen. 82 Das Publikum, an welches sich Molière primär mit seinem Dodekameron richtet, ist la cour . Das erwerbslose Bürgertum gleicht dem adligen Publikum im Bildungsideal und in seiner Funktionslosigkeit, sodass la cour et la ville zu einer geschlossenen Schicht verschmelzen. 83 Daher kann davon ausgegangen werden, dass auch Vertreter der haute bourgeoisie den Erstaufführungen der Ballettkomödien beiwohnen. Angesichts des neuen Publikums halten es Richelieu und gelehrte Autoritäten wie Jean de La Bruyère und Jacques Bénigne Bossuet für unumgänglich, das Ende der Farce in Paris zu forcieren, da „bassesse et immoralité des sujets, grossièreté des gestes, saleté des propos“ 84 der honnêtes gens unwürdig seien. Die traditionelle Farce wird in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts allmählich durch die Komödie ersetzt, wobei gerade in Molières Gesamtwerk farceske Elemente unverkennbar weiterleben. 85 Auf diesem neuen kulturellen Boden gedeiht das Sprechtheater. Es etabliert sich dabei eine klassische Theaterkultur und den Höhepunkt komischer Dramatik bilden hier zweifelsohne Molières Komödien. Die aus Italien stammende Oper, die Mazarin bereits in den 1650er Jahren in Frankreich einführt, existiert in der Gründungszeit des neuen Genres und beeinflusst es in dem Unterfangen, unterschiedliche Künste miteinander kombinieren zu wollen. Im Gegensatz zur comédie-ballet sind die Opern aber in der Tradition der Tragödie geschrieben und unterscheiden sich von ihr durch eine stärkere Betonung der gesungenen Partien. Quinault und Lully experimentieren in die- 81 Vgl. Grimm (2002), 39. 82 Jürgen Grimm differenziert diesen Begriff weiter aus: La cour meint „die königliche Familie und all jene, die, einschließlich der Mätressen, in unmittelbarer Beziehung zu ihr stehen“. Hierzu ist auch der domestizierte Hochadel zu zählen, der am Hof lebt. La ville meint jenen Teil des Großbürgertums und des oberen Bürgertums, „der dem Erwerbsbürgertum bereits entwachsen ist oder zu entwachsen im Begriff ist; ‚la ville‘ bezeichnet die zunehmend parasitär werdende Schicht eines ehemals erwerbstätigen Bürgertums, das jetzt von seinen Vermögenseinkünften leben kann“. Grimm (2002), 39-44. 83 Vgl. Auerbach (1951), 50. 84 Mazouer (2004), 165. 85 Als Molière 1659 nach seinen Wanderjahren wieder nach Paris zurückkehrt, schreibt er zunächst hauptsächlich Farcen wie Le Médecin volant und La Jalousie du barbouillé . Er ist darin so ausgezeichnet, dass er „premier farceur de France“ genannt wird. Vgl. Mazouer (2004), 168. <?page no="39"?> 38 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie ser Zeit mit diversen Künsten unter den Bezeichnungen tragédie en musique und tragédie lyrique , 86 die als erste Versuche einer französischen Oper zu betrachten sind: „[Ils] voulaient ‚marier‘ la poésie et la musique, reconnaissant entre ces deux arts une correspondance fondée sur une métrique commune.“ 87 Sie setzt sich noch nicht durch, da die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verliehenen Theaterprivilegien diesen Versuchen ein Ende setzen sollten. Außerdem erlischt mit Mazarins Tod 1661 auch das Interesse an der italienischen Kultur in Frankreich. 88 Somit kann mit dem politischen Umbruch im selben Jahr, der mit dem Regierungsantritt Ludwigs XIV . einhergeht, auch ein Umbruch in der dramatischen Kunst die Ära der Ballettkomödie einläuten, die nun bis zum Jahre 1672 unter der Direktive Molières aufblühen wird. Die politischen und kulturellen Umstände führen dazu, dass Molière zum offiziellen Repräsentanten der Ballettkomödie avanciert. Danach sollte sich das Blatt wenden und Lully das Kunstpatent der Académie royale de Musique zuteilwerden und die französische Oper die Ballettkomödie substituieren. 89 Neben den rein tragischen Genres entwickelt sich zeitgleich die barocke Komödie, die sich stark an spanischen Vorbildern orientiert und sich wie diese für Musik- und Tanzeinlagen öffnet. In diesem Zusammenhang sind es Sallebray und Jean de Rotrou, die mit ihren Theaterstücken auf sich aufmerksam machen. Georges Forestier analysiert einige ihrer Werke als „comédie[s]-ballet[s] avant la lettre“ 90 und postuliert mit seiner These ein enges Verwandtschaftsverhältnis zu Molières Ballettkomödien, das hier genauer zu eruieren ist. Während sich Sallebray in der Tragikomödie La Belle Égyptienne (1642) damit begnügt, das Ballett ans Ende seiner Komödie zu setzen, um damit die anstehende Hochzeit der Heldin zu feiern, experimentiert Rotrou beispielsweise in La Belle Alphrède (1637) mit der Integration von Balletteinlagen innerhalb der Geschichte. Leider sind diese Versuche in La Belle Alphrède nicht immer geglückt, wie Jacques Scherer in 86 Eine aus musikwissenschaftlicher Sicht detaillierte Ausführung über den Einfluss des italienischen Musikdramas auf den ballet de cour hinsichtlich historischer Entwicklungslinien und Charakteristika liefert Böttger (1979 [1930]), 10-25. 87 Béhar und Watanabe-O’Kelly (1999), 488. 88 Die enormen Kosten, die Mazarins kulturpolitische Bemühungen um die Etablierung der italienischen Oper in Frankreich verursachen, sind einer der Gründe für die Frondeaufstände in den Jahren zwischen 1648 und 1653. Vgl. Leopold (2004), 177. 89 Das Privilegiensystem ist so konstituiert, dass beim Errichten einer Akademie - die für die Kreation von Unterhaltungsspektakeln für den König verantwortlich ist - selbst Ludwig XIV. gezwungen ist, wie in diesem Fall, zukünftige Musikinszenierungen allein in die Hände von Lully zu geben. Es steht daher außer Frage, jemand anderen mit den musikalischen Auftragsarbeiten zu betrauen. Zudem bekommt Lully die Autorenrechte für alle Stücke zugesprochen, die er ganz oder teilweise musikalisch untermalte; dazu gehören die meisten Ballettkomödien. Vgl. Forestier, Riffaud und Piéjus (2010), 1546. 90 Forestier (1981), 127. <?page no="40"?> 1.4 Die Herausbildung einer neuen Intermedialität 39 Bezug auf die inkohärente Integration der zweiten Tanzeinlage (Akt V, Szene VI ) in die Komödie konstatiert: „[Elle est] inadmissible si l’on prenait au sérieux la fiction théâtrale […].“ 91 Die thematische Untragbarkeit, die hier angeprangert wird, zeugt von einer dramatischen Autonomie, die auch in weiteren Handlungsepisoden dieser barocken Komödie zutage tritt. 92 Selbst die Tatsache, dass die spärlich und zufällig eingestreuten Balletteinlagen nicht zwangsläufig zwischen den Akten erscheinen, unterscheidet diese barocken Vorläufer von der strukturierten klassischen Ballettkomödie, die auf eine Werkkohärenz hin komponiert ist. Des Weiteren integriert Molières Neuschöpfung unter dem klassischen Duktus der Schauspieleintracht anspruchsvollere wie auch umfangreichere Balletteinlagen. Dieses Alleinstellungsmerkmal weist den Intermedien ein zusätzliches Aktionspotenzial zu, das einen semantischen Mehrwert für die Gesamtdarstellung einbringt, wohingegen sich die barocken Zwischenspielkompositionen auf einen ornement zur Komödienhandlung beschränken, auf eine semiotische Bereicherung. Gemein ist den beiden Komödientypen des 17. Jahrhunderts der spektakuläre Charakter ihrer Balletteinlagen, den Molière aber durch den festlichen Aufführungskontext seiner Werke noch übertrumpfen wird. Trotz ihrer ästhetischen Unvollkommenheit sind sie Wegbereiter für Molières comédie-ballet und setzen ein erstes Zeichen in der französischen Kunst der Komödienkomposition. 1.4 Die Herausbildung einer neuen Intermedialität-- der nouveau langage théâtral Antike Strömungen, frühneuzeitlicher italienischer Einfluss, das französische Hofballett und barocke Dramentypen bestimmen in Abstimmung mit dem Zeitgeist der französischen Klassik das strukturelle Wesen der Gattung. Die meisten Mischgattungen entwickeln sich zur französischen Oper und forcieren die Musikalität, während sich Molières Hauptaugenmerk auf das Sprechtheater richtet - an erster Stelle steht bei ihm immer noch die Komödie - und er die beiden anderen Theaterformen als artistische Bereicherung integriert. Dieser Fokus initiiert eine noch nie zuvor dagewesene Ausdrucksform der französischen Komödie, letztlich eine neue Theatersprache: Nous avons donc très clairement des éléments des trois domaines majeurs de toute langue, intégrés dans une fonction poétique qui trace de nouvelles dimensions . Tout ceci forme ce que je crois valoir le nom d’ un nouveau langage théâtral . 93 91 Zitat von Jacques Scherer in Rotrou (2007), 474. 92 Vgl. ebd., 474. 93 Fleck (2007), 107. Meine Hervorhebung. <?page no="41"?> 40 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie Dieser nouveau langage théâtral bildet sich durch die Integration der Intermezzi in die Dramen- und Sujetstruktur der Komödie heraus, sodass Musik und Tanz dramatisiert und theatralisiert werden können. Die beiden hauptsächlich in den Interludien eingesetzten Künste übersetzen das Darzustellende in die Semantik ihrer jeweiligen Sprachen; die Musik in Klänge, der Tanz in Bewegung. 94 Dieser semiotische wie auch semantische Mehrwert des nouveau langage théâtral lässt ein gesteigertes Aktionspotenzial auf der französischen Bühne des 17. Jahrhunderts aufkommen, das eine neue, komische Lesart dieser nonverbalen Handlungselemente ermöglicht: Die für die Ballettkomödie spezifische Dramenstruktur weist in Richtung eines neuen ontologischen Komikverständnisses, denn zusätzlich können Musiker und Tänzer zu komischen Effekten beisteuern und neue Kommunikationsprozesse generieren. Patrick Dandrey spricht in diesem Zusammenhang von einem Wendepunkt in der Komödienentwicklung in der französischen Klassik: Le genre de la comédie-ballet se serait […] offert opportunément pour incarner cette conception nouvelle du rôle de la dramaturgie comique, qui aurait à partir de là tourné le dos à l’esthétique du ridicule pour s’accommoder de la folie des hommes et la transcender en fantaisie débridée à la faveur des divertissements fantasques du ballet de cour. 95 1.5 Zeitgenössische Reaktionen auf und poetologische Reflexionen über die Ballettkomödie Zeitgenössische Äußerungen zum Fortschrittscharakter der Ballettkomödie sind im Gegensatz zu den meisten Lobeshymnen der Literaturkritiker heutigen Datums eher rar, weil noch wenig Sensibilität und Bewusstsein im Hinblick auf die Anerkennung der Ballettkomödie als eigenes Genre herrschte. Die Berichterstattungen des königlichen Sekretärs André Félibien sprechen neben diversen Artikeln zeitgenössischer gazettes in der Regel jedoch positiv von diesem Gesamtkunstwerk. Dementsprechend wurde beispielsweise die nach heutigem Empfinden schwierig zu erfassende Handlungseinheit der Ballettkomödie George Dandin von Félibien begeistert aufgenommen, obschon sie eine eigenständige Pastorale enthält: [I]l est certain qu’elle [la pièce, Anm. S. W.] est composée de parties si diversifiées & si agreables qu’on peut dire qu’il n’en a guere paru sur le Theatre de plus capable de 94 Vgl. Lamerz (1987), 22. 95 Dandrey (2002), 282. <?page no="42"?> 1.5 Zeitgenössische Reaktionen und poetologische Reflexionen 41 satisfaire tout ensemble l’oreille & les yeux des spectateurs. […] Quoy qu’il semble que ce soit deux Comedies que l’on jouë en mesme temps, dont l’une soit en prose & l’autre en vers, elles sont pourtant si bien unies à un mesme sujet qu’elles ne font qu’une mesme piece & ne representent qu’une seule action. 96 Die Kombination aus Prosa- und Versdichtung scheint keinen negativen Einfluss auf die Wahrnehmung der Aufführung als Gesamtkunstwerk zu haben, denn das Zitat zeugt von einer empfundenen Eintracht seitens des Hofsekretärs. Ferner liest man in der gazette vom 12. Oktober 1669 einen Kommentar zur Premiere von Monsieur de Pourceaugnac , welcher bereits eine Sensibilität für die gattungstypologischen Eigenarten erkennen lässt, allerdings weder den Autor noch den Komödientitel erwähnt: [Leurs Majestez] eurent celui d’une nouvelle Comédie, par la Troupe du Roy, entremeslée d’Entrées de Balet, & de Musique, le tout si bien concerté, qu’il ne se peut rien voir de plus agréable. L’Ouverture s’en fit par un délicieux Concert, suivi d’une Sérénade, de Voix, d’Instrumens, & de Danses: & dans le 4 e Intermède, il parut grand nombre de Masques, qui par leurs Chansons, & leurs Danses, plurent grandement aux Spectateurs. La Décoration de la Scène, estoit, pareillement, si superbe, que la magnificence n’éclata pas moins en ce Divertissement, que la galanterie. 97 Die Zeichenpluralität höfischer Feste, die mit Blick auf den Aufführungskontext der Ballettkomödie eine zentrale Rolle spielt, erschwert die Destillierung und Abgrenzung des Genres von rein karnevalesken Veranstaltungen. Das Zitat erweckt eher den Eindruck einer heterogenen Darbietung als einer durchstrukturierten Ballettkomödie. Die zeitgenössischen Unsicherheiten bei der Bewertung der Gattung rühren überwiegend daher, dass dem existierenden Signifikat kein entsprechender, offiziell gültiger Signifikant zuzuordnen ist; überdies sind Unsicherheiten bezüglich der Autorenschaft gegeben, die sich aus dem Zusammenwirken der unterschiedlichen Künstler ergeben. Die Beschreibung verweist des Weiteren ausschließlich auf die Intermezzi, die Komödienhandlung bleibt unerwähnt. So vage das zeitgenössische Empfinden für die Kennzeichnung des Gattungsgefüges ist, so einmütig zeigt sich die Begeisterung für die künstlerische Performance sowie die Wahrnehmung der Einträchtigkeit. Das Streben nach Einheit entspricht der poetologischen Intention des molièreschen Dodekamerons, das den goût der Zeit trifft und über den plaire seitens der Zuschauer als willkommenes Echo auf den Autor zurückstrahlt. Neben Zeitzeugenberichten interessieren unter gattungspoetologischem Aspekt gängige Wörterbücher und Regelpoetiken des 17. Jahrhunderts, die im 96 Félibien (1668), 16. Meine Hervorhebung. 97 Zitat in Canova-Green (2007), 29. <?page no="43"?> 42 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie besten Fall Definitionen und ästhetisches Verstehen der Zeit liefern oder auch aufgrund von Desiderata aufschlussreich sein können. Allgemein lässt sich zu den theoretischen Abhandlungen der Komödie anführen, dass sie in jener Zeit lediglich peripher betrachtet werden. 98 Von Molière gibt es überdies, wie erwähnt, keine ausgeführte Poetik zu seinem dramatischen Werk, ja er belustigt sich sogar in der préface zu Les Précieuses ridicules über die poetologischen Bestrebungen seiner Zeitgenossen: [S]i l’on m’avait donné du temps, […] j’aurais pris toutes les précautions, que Messieurs les Auteurs, à présent mes confrères, ont coutume de prendre en semblables occasions. […] [ J]’aurais tâché de faire une belle et docte Préface, et je ne manque point de Livres, qui m’auraient fourni tout ce qu’on peut dire de savant sur la Tragédie, et la Comédie, l’Étymologie de toutes deux, leur origine, leur définition, et le reste. ( PR , 4) Molières poetologische Intentionen sind meist nur kurzen Widmungsbriefen zu einzelnen Stücken, knappen Vorwörtern zu seinen Komödien oder metapoetischen Zitaten in seinem Primärwerk zu entnehmen. Unter Berücksichtigung der fehlenden Gattungsbezeichnung verwundert es zudem nicht, wenn Theoretiker und Kritiker in ihren Traktaten, im Gegensatz zu seinen anderen Komödien, den Ballettkomödien per definitionem keine Existenz einräumen. Es gibt diverse Gründe, der Ballettkomödie die Anerkennung als eigenständige Gattung ab ovo streitig zu machen. Da wären die Bezeichnungsproblematik aufgrund der Hybridität der Gattung, die oft dazu führte, die Komödie ohne die Intermezzi zu beurteilen oder vice versa , der Auftragscharakter und die damit verbundene Institutionalisierung der Stücke, die häufig durch ihre vorgegebenen Rahmenbedingungen die Originalität der Künstler infrage stellte, das Zusammenwirken verschiedener Künstler und Kunstformen wie auch die damit einhergehende Autorenschaftsfrage, die Sujetheterogenität der Ballettkomödien sowie der Rahmen der königlichen Feste, in denen sie zwar eine Glanznummer waren, aber nicht alleinig für das Divertissement sorgten. Demgemäß lassen sich in den federführenden Wörterbüchern von César P. Richelet und Antoine Furetière aus jener Zeit keine Einträge zu den comédies-ballets oder zu anderen vergleichbaren, sich auf diese Kreation beziehenden Bezeichnungen finden. 99 Dieser Mangel ist selbstverständlich hinderlich für die Erforschung einer Gattungsrezeption durch zeitgenössische Kritiker, sodass man nach weniger expliziten, aber trotzdem verbindlichen Hinweisen zur Eigentümlichkeit der Gattung suchen muss. Zu diesem Zweck können Abbé d’Aubignacs La prati- 98 Vgl. Floeck (1973), Einleitung, 20. 99 Lediglich der Ballettkritiker Ménestrier erwähnt Le Mariage forcé in seiner Sammlung Des ballets anciens et modernes von 1682. Vgl. Ménestrier (1682), 265. <?page no="44"?> 1.5 Zeitgenössische Reaktionen und poetologische Reflexionen 43 que du théâtre von 1657 und Nicolas Boileau Despréaux’ Art poétique von 1674 herangezogen werden, spiegeln diese theoretischen Schriften doch wie keine anderen Werke das poetologische Verständnis des classicisme français wider. In diesen Traktaten können Hinweise auf geltende Regeln für die Komödie gesucht werden, die auch für die Ballettkomödie von Bedeutung sind. Die klassische Ästhetik ist von einem „caractère anti-baroque“ 100 beeinflusst und setzt sich aus Rationalismus 101 , Harmoniebestrebungen durch Maßhaltung und Symmetrie, Schönheit sowie der Imitation der menschlichen Natur und antiker Vorbilder zusammen. Als Regelwerk der klassischen Literatur fasst die doctrine classique diese Ästhetik konkret zusammen. Sie beinhaltet für die Dramatik die Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung sowie die beiden Kriterien vraisemblance und bienséance . Die vraisemblance orientiert sich am aristotelischen Mimesis-Begriff. Roger de Piles sieht in der vraisemblance ein starkes Wirklichkeitsprinzip gegeben, ja spricht er diesem Konzept sogar eine Übersteigerung des Wahrheitsanspruches zu, denn: „[C]e beau vraisemblable […] paroît souvent plus vrai que la vérité-même […].“ 102 Der Begriff zeugt zudem von einem strukturellen Anspruch, indem er eine Kohärenz zwischen den unterschiedlichen, das Theater konstituierenden Elementen einfordert - die einträchtige Trias von Raum, Zeit und Handlung - und das Arbiträre ausschließt. 103 Die vraisemblance -Forderungen bilden mit der Ergänzung und Modifizierung seitens der bienséance -Forderungen, welche eine Klassifizierung in die ästhetischen, moralischen und politischen Normen der Zeit beinhalten, die Basis für die nachgeordneten Regeln der drei Einheiten. Das poetologische Regelsystem des 17. Jahrhunderts zielt daraus resultierend auf eine sich an der aristotelischen Poetik orientierende Dichtungskonzeption ab - gegründet auf Ordnung und Vernunft -, welche die Dichtung so versteht, dass sie durch ästhetisches Vergnügen und emotionale Rührung zur sittlichen Besserung und Erziehung des Menschen beiträgt: 104 „[L]e théâtre est aujourd’hui devenu une école de vertu et une censure du ridicule des hommes […].“ 105 Die aristotelische Poetik bildet die poetologische Basis für das gesamte klassische Theater in Frankreich. In La pratique du théâtre widmet sich d’Aubignac in seinem dritten Buch im vierten Kapitel Des Chœurs dem strukturellen Element des Chors im antiken Theater. Hinsichtlich der Gattungsspezifik interessiert hierbei weniger dessen 100 Baader (1973), 13. 101 Dieser bezieht sich auf die Vernunftprinzipien clarté , netteté , pureté und ordre . Vgl. Hess (2003), 138. 102 Piles (1766), 27. 103 Vgl. Scherer (1959), 383. 104 Vgl. Grimm (1999), 145 und Schoell (1983), 72. 105 Le Noble (1969 [1696]), 34. <?page no="45"?> 44 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie Funktion, sondern vielmehr seine inhaltliche wie auch strukturelle Verbundenheit mit der Komödie und deren Einschätzung durch den Theoretiker, um daraus eine hypothetische poetologische Legitimation für Molières neue Gattung ableiten zu können. Am Beispiel des antiken Komödiendichters Aristophanes lobt der Abbé die sujetkonforme Integration des Chors in die Komödienhandlung, da sie das Prinzip der vraisemblance aufs Höchste erfülle: S’il [le chœur, Anm. S. W.] le faillait inventer, ils [les principaux acteurs, Anm. S. W.] le cherchaient toujours conforme à la nature du Sujet, et selon que plus vraisemblablement qu’il pouvait être. Ce qu’Aristophane a très ingénieusement observé dans la Comédie, ayant fait un Chœur de Grenouilles qui chantent, tandis que Bacchus passe le Styx dans la barque de Caron; un autre de Frelons, ou Mouches guêpes dans la maison de Philocleon, dont son fils le veut empêcher de sortir: Imaginations certes très ridicules, mais Comiques , et où la vraisemblance est bien gardée; il invente fort bien pour faire rire, et ne contrevient point aux maximes de son Art. 106 Zugleich verweist der Abbé auf die aus den musikalischen Interventionen resultierende komische Wirkung und definiert somit indirekt die besondere Komikästhetik, die aus der Verbindung von musikalischen und sprachlichen Elementen hervorgeht und für die Interpretation von Molières Intermedialitätskonzept entscheidend ist. D’Aubignac scheint keinen Anstoß an der Parallelität von Chornebenhandlung und Komödienhaupthandlung zu nehmen, solange das Wahrscheinlichkeitsprinzip gewahrt bleibt. Er geht außerdem davon aus, dass es möglich sei, den Chor - „le plus superbe ornement du Théâtre“ - 107 im Theater der Klassik wiederzubeleben, merkt aber an: Il serait nécessaire d’avoir des Musiciens et des Danseurs capables d’exécuter les inventions des Poètes, à la façon de ses Danses parlantes et ingénieuses des Anciens; ce que j’estime presque impossible à nos Français, et très difficile aux Italiens. 108 Schon vier Jahre nach der Publikation seiner Theaterfibel zeigt sich, dass d’Aubignac mit seiner Einschätzung daneben lag, weil das französisch-italienische Duo Molière und Lully diese alte Tradition im französischen Theater wieder etabliert, sie zu einer kulturspezifischen Dramenästhetik umformt und perfektioniert. Es wäre zu spekulativ, sich über d’Aubignacs Ansichten zur Ballettkomödie zu äußern, aber bezüglich der poetologisch für die Klassik verbindlichen Einheitsregel bleibt festzuhalten, dass Molière diese sowohl strukturell als auch im Sinne der vraisemblance weitestgehend erfüllt. Er lässt sich aber nicht 106 Aubignac (2001 [1657]), 309. Meine Hervorhebung. 107 Ebd., 320. 108 Ebd., 321. <?page no="46"?> 1.5 Zeitgenössische Reaktionen und poetologische Reflexionen 45 zum Knecht der Regeln machen und entscheidet sich in seinen Ballettkomödien zugunsten der innovatio , die für das Publikum überraschende variatio . Auch in Boileaus als Versepistel verfasster Poetik Art poétique ist ein zur Norm gewordener Hinweis auf die Komödienstruktur zu finden: „Les scènes toûjours l’une à l’autre liées [pour avoir, Anm. S. W.] son nœud bien formé.“ 109 Diese verpflichtende Regel, eingeleitet durch ein obligatorisches „il faut“ 110 , lässt sich auf das neue Genre applizieren, denn sie kongruiert mit derselben Anforderung, die Molière in Anbetracht der dramatischen Verflechtung von Zwischenspiel und Komödie an sich selbst stellt; dahinter steckt das Prinzip der trois unités der doctrine classique . Trotz dieser die Dramenstruktur betreffenden Leitprinzipienkonkordanz ist es erstaunlich, dass Boileau Molière nicht nur aufgrund seiner menschlichen, sondern auch aufgrund seiner ästhetischen Qualitäten die freundschaftliche Treue hält. 111 Er konfrontiert seinen Freund zwar öfters mit dem Vorwurf, zu sehr „ami du peuple“ 112 zu sein, also den demotischen Elementen der Farce und der commedia dell’arte zu große Spielräume in seinen Theaterstücken einzuräumen, mithin der ästhetischen wie auch moralischen bienséance nicht gänzlich nachzukommen. Gleichzeitig scheut Boileau nicht davor zurück, Molières Genie ausgiebig zu würdigen. So bekundet er in seinen Versen bewunderungsvoll: Rare et fameux Esprit, dont la fertile veine Ignore en écrivant le travail et la peine; Pour qui tient Apollon tous ses trésors ouverts, Et qui sçais à quel coin se marquent les bons vers. Dans les combats d’esprit sçavant Maistre d’escrime, Enseigne-moi, Molière, où tu trouves la rime. On diroit, quand tu veux, qu’elle te vient chercher. 113 Des Weiteren steht in Boileaus erstem Gesang das Stilprinzip der varietas an exponierter Stelle. Schließlich sei dies geeignet, die Kunst durch eine glückliche Mischung an Stilen zu bereichern, um somit dem literaturästhetischen ennui entgegenzuwirken: Voulez-vous du public mériter les amours? Sans cesse en écrivant variez vos discours. Un stile trop égal et toûjours uniforme, En vain brille à nos yeux, il faut qu’il nous endorme. 114 109 Boileau Despréaux (1966 [1674]), 179 / 178. 110 Ebd., 178. 111 Vgl. Köhler (2006), 123. 112 Boileau Despréaux (1966 [1674]), 178. 113 Ebd., 17. 114 Ebd., 158. <?page no="47"?> 46 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie Diesen Ratschlag richtet er an die Dichter seiner Zeit. Molière scheint die Publikumsliebe verdient zu haben, treffen doch der gemischte Charakter seines nouveau spectacle und die diesen charakterisierende Lebhaftigkeit den goût mondain der Zuschauer in einer durch die zeitgenössischen Uniformitätsbemühungen der Künstler immer eintöniger werdenden Kunstlandschaft. Zugleich zeigt sich hierbei implizit das ästhetische Prinzip der aemulatio , welches les modernes an Molière wertschätzen. Als Hintergrund und Quintessenz dieser poetologischen Emanzipation der Modernen kann folgendes Zitat Saint-Evremonds gelten: „Il faut convenir que la Poetique d’Aristote est un excellent ouvrage: cependant il n’y a rien d’assez parfait pour régler toutes les Nations & tous les siécles.“ 115 In diesem Zusammenhang ist auf das ebenfalls 1674 erschienene Werk Le théâtre français von Samuel Chappuzeau zu verweisen. Jean-Baptiste Poquelin erscheint darin kurz nach seinem Tod als Genie der Komödie, als ein Autor, dessen Werke innovative Maßstäbe setzen und der auf seinem Gebiet die sich bereits andeutende Querelle des Anciens et des Modernes gegenstandslos macht: „[L]’esthétique de Molière est révolutionnaire, à notre sens, pour avoir, la première, pleinement satisfait à l’esprit de la doctrine classique du genre comique, par delà ses règles et ses dogmes mêmes.“ 116 Molières Innovation ist zu einem Großteil seinen Ballettkomödien zuzuschreiben, denn dort scheint er die neoaristotelischen Regeln zu überwinden. Die hier nur in knappen Auszügen dargestellten, aber dennoch aussagekräftigen Regeln und Prinzipien der beiden Regelpoetiken tragen indirekt Elemente zur Gattungspoetik der Ballettkomödie bei und heben einstimmig ihre innovativen Aspekte hervor. Demnach ist die Gattungsfusion poetologisch legitimiert, da Molière die Künstekombination, die Sujetkonformität und das Wahrscheinlichkeitsprinzip seiner Intermedien im Sinne d’Aubignacs weitgehend respektiert und auch Boileaus Forderungen nach Dramenstrukturkohärenz und variatio nachkommt; das Kohärenzprinzip impliziert die Einheitsregel der Werke. Bezüglich der von Boileau bisweilen angeprangerten bienséance- Vorstellungen Molières ist zu erwähnen, dass sich diese nicht im Sinne des Gelehrten auf die antiken, sondern auf die zeitgenössischen Normen beziehen, die vom goût mondain geprägt sind, und von der antikisierten Ansicht Boileaus divergieren . Molière lässt sich nicht in seiner künstlerischen Freiheit beschneiden und triumphiert mit seinen Innovationen jenseits der neuaristotelischen Regelpoetik. Ferner untermauert die 1673 im Mercure galant erschienene Beurteilung durch den Schriftsteller Jean Donneau de Vizé die Legitimation der jüngst geborenen Gattung aus Sicht der Akademien. Es handelt sich um eine der genauesten De- 115 Saint-Evremond (1753), 297. 116 Dandrey (2002), 10. <?page no="48"?> 1.6 Ein Schauspiel als politischer „art de plaire“ 47 finitionen und Einschätzungen in puncto Ballettkomödie seiner Zeit: „Il [Molière, Anm. S. W.] a, le premier, inventé la manière de mêler des scènes de musique et des ballets dans ses comédies et trouvé par là un nouveau secret de plaire qui avait été jusqu’alors inconnu.“ 117 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die aufgezählten Äußerungen zu Molières Meisterleistung bei zeitgenössischen Kritikern den Eindruck einer innovatio erwecken , verstanden als Steigerung zur aemulatio , aber gleichwohl im Sinne einer autonomen Schöpfung, welche nicht mehr ausschließlich auf das Prinzip der Nachahmung baut, sondern bereits auf eine Vorform des ingenium . Die comédie-ballet reflektiert eine wichtige Schaffensphase im Werk von Molière, die sich einem erschließt, wenn man diesen großen Dichter nicht nur als den genialen Menschenkenner, Charakteristiker, Moralisten und Satyriker anzusehen [gewillt ist], sondern ihn ebenso in seiner gewaltigen künstlerischen Bedeutung als Meister der Form, der Theatralik und reinen bühnenmäßigen Bewegungskunst zu verstehen versucht. 118 1.6 Ein Schauspiel als politischer art de plaire Donneau de Vizé zufolge gelingt es Molière mit der Ballettkomödie, einen „nouveau secret de plaire“ zu schaffen, ein Unterfangen, das in der Kombination der drei Künste Musik, Tanz und Komödie gründet. Auch Pellisson intendiert in seinem Prolog zu Les Fâcheux, dass es bei dem Spektakel darum gehe, dem König zu gefallen: „Il s’agit de lui plaire […].“ 119 Der art de plaire ist einer der Hauptstreitpunkte in den Kritiken von 1660 bis 1680, denn daran ist der goût gekoppelt. Die Rezeption der Werke sorgt nicht selten für Zündstoff bei den doctes , den Schiedsrichtern des bon goût : Eine Querelle entfacht, wenn Werke, die gegen die strengen Prinzipien der doctrine verstoßen, dennoch sowohl dem goût der Zeit entsprechen als auch mit dem plaire des Herrschers und mit dem des Publikums korrespondieren. Der Wunsch zu gefallen wird fast in jedem Vorwort großer literarischer Werke angeführt, sodass er zu Zeiten Molières zum erschöpften Topos, zur leeren Formel mutiert. Bei einer epideiktischen Rhetorik besteht der Prolog aus einer Lobrede auf den König oder einer taktvollen Emp- 117 Zitat von Jean Donneau de Vizé in Conesa (1995), 106. Meine Hervorhebung. 118 Böttger (1979 [1930]), 69. 119 In diesem Zusammenhang ist Pierre Rameaus Einschätzung des Tanzes hinsichtlich des unterhaltenden Beitrags zur absolutistischen Festkultur zu nennen: „[E]lle [la Danse, Anm. S. W.] contribuë à la pompe & à la magnificence des Spectacles qui font les délices des Peuples, & quelquefois les amusemens des plus grands Princes.“ Rameau (2013 [1725]), Vorwort, 4. <?page no="49"?> 48 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie fehlung des Herrschers, mit der Absicht des Künstlers, sich der Gunst und dem Wohlwollen des Souveräns für die Aufführung gewiss sein zu können. Molière rekonstruiert diesen Gemeinplatz und besetzt ihn neu, wodurch er seine Glaubwürdigkeit als Komödienautor bekräftigt und etwaigen Anfeindungen geschickt vorbeugt. In seiner poetologischen Komödie La Critique de l’École des Femmes lässt er Dorante diesbezüglich sagen: Je voudrais bien savoir si la grande règle de toutes les règles n’est pas de plaire ; et si une pièce de Théâtre qui a attrapé son but n’a pas suivi un bon chemin. Veut-on que tout un public s’abuse sur ces sortes de choses, et que chacun n’y soit pas juge du plaisir qu’il y prend? ( CEF , 507) 120 Uranies Antwort führt Dorantes Gedanken zum plaire weiter. Sie stimmt ihrem Vorredner zu und merkt ergänzend ein allgemeines Missfallen der zu sehr auf Regelhaftigkeit hin komponierten Komödien an: „J’ai remarqué une chose de ces Messieurs-là; c’est que ceux qui parlent le plus des règles, et qui les savent mieux que les autres, font des Comédies que personne ne trouve belles.“ ( CEF , 507) Indem Molière den plaire zur Kardinalsregel erklärt, wertet er das Vorhaben auf, seinem Publikum zu gefallen, und legitimiert zugleich den goût , denn es kann nur gefallen, was dem Kunstgeschmack entspricht. Damit vereint er die Gegensätze miteinander, erklärt er doch den zeitgenössischen Kunstgeschmack der Rezipienten über den intendierten plaire zur poetologischen Regel. Da der plaire in jener Zeit zum fundamentalen Gesetz der galanten Ethik wird, stellt dessen Erfüllung die wichtigste Aufgabe eines modernen Autors dar, der die Instruktionen den Pedanten von früher überlässt und sich kaum darum kümmert, jene anzunehmen. 121 Molière würdigt seine literaturästhetischen Aspirationen hier, indem er anführt, dass das Leben im Umfeld höfischer Kreise „une manière d’esprit, qui, sans comparaison, juge plus finement des choses, que tout le savoir enrouillé des Pédants“ ( CEF , 506) entwickele. 122 Dieser Gedanke ist gar nicht so fremd, wenn man bedenkt, dass das Publikum la cour et la ville ist, eine dem kulturellen Ideal der honnêteté zugewandte Gesellschaftsschicht, die auf dem Prinzip der raison fußt, also auf jenem Prinzip, nach welchem die doctrine classique aufgebaut ist. Im Grunde existiert daher keine große Opposition 120 Meine Hervorhebung. Bemerkung: Die suggestiv auf eine verneinende Antwort abzielende Frage Dorantes ist im kollektiven Gesellschaftsverständnis der Zeit zu deuten und nicht als moderne freie Meinungsbekundung eines einzelnen Individuums, denn die Subjekte sind so sehr an den König gebunden, dass sie zumindest offiziell ihren goût dem des Herrschers anpassen respektive an denjenigen einflussreicher Höflinge. 121 Vgl. Dandrey (2002), 39. 122 Ariste spricht in der École des maris von „École du monde“ (EdM, 94) und zeigt damit ein Merkmal der mondänen Literatur auf, denn sie disqualifiziert die Schulkritiker. <?page no="50"?> 1.6 Ein Schauspiel als politischer „art de plaire“ 49 zwischen doctrine und goût , denn beide literaturästhetischen Bewertungskriterien orientieren sich an der großen literarischen Tradition der Antike, die im 16. Jahrhundert durch den Humanismus wiederentdeckt wurde. 123 Sonach wird dem Dodekameron über den Aspekt der raison implizit eine Regelaffinität attribuiert, eine Art reglementierte Pseudo-Regellosigkeit des guten Geschmacks. Die Tatsache, dass es sich nicht immer vorrangig um ästhetische Differenzen bei den Bewertungsprinzipien handelt, zeigen die immer wieder aufkommenden Querelles in dieser Epoche, die von persönlichen respektive politischen Machtkämpfen gezeichnet sind. Molière widmet seine Ballettkomödien in erster Linie dem Sonnenkönig und zielt primär auf dessen Geneigtheit ab. Die fehlende Poetik und die daraus nicht ableitbaren Regeln für das neue Genre werden durch die Regel des plaire substituiert, der zum obersten Gestaltungsprinzip avanciert. Somit ermöglicht Molière eine exklusive Beurteilung seiner Werke durch den König und nicht durch die Theoretiker - ein Rezeptionsvorgang, der den Monarchen zum kulturellen Alleinherrscher macht und ihn zum Schiedsrichter des bon goût erhebt. Der königliche Kunstgeschmack infiltriert das Publikum, welches seinerseits bestrebt ist, dem Souverän den art de plaire entgegenzubringen, sodass dabei ein Rückkoppelungseffekt entsteht, den der Sonnenkönig selbst wie folgt beschreibt: Les peuples, d’un autre côté, se plaisent au spectacle, où, au fond, on a toujours pour but de leur plaire; et tous nos sujets, en général, sont ravis de voir que nous aimons ce qu’ils aiment, ou à quoi ils réussissent le mieux. Par là nous tenons leur esprit et leur cœur, quelquefois plus fortement, peut-être, que par les récompenses et les bienfaits. 124 Die Untergebenen gefallen sich in der Rolle der wohlwollenden Rezipienten, weil sie dadurch, dass sie Gefallen signalisieren, dem König huldigen, über ihre stilbildende Funktion ihre Zugehörigkeit zur elitären Gesellschaft bestärken und sich zugleich in der reziproken Spiegelung selbst zum Glanz der Feste machen. Für les classiques ist der art de plaire „un art de vivre et de se rendre heureux en se faisant aimer des autres, au bonheur desquels on a soi-même contribué“ 125 . Daher kann im einzigartigen Charakter der comédie-ballet - sowohl hinsichtlich ihrer künstlerischen Vollkommenheit als auch ihrer machtpolitischen Wirksamkeit - der „nouveau secret de plaire“ liegen. Es ist an dieser Stelle festzuhalten, dass der nouveau spectacle aufgrund seiner Konstitution ein nouvel art de plaire absolutistischer Kulturpolitik ist. 123 Vgl. Zuber und Cuénin (1998), 108. 124 Louis XIV (1997 [1661-1715]), 97. 125 Zitat nach Robert Mauzi in Emelina (2000), 1492. <?page no="51"?> 50 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie Die im Vergleich zu heute spärlich erscheinende Mediatisierung im siècle classique erklärt die Relevanz höfischer Divertissements unter dem Aspekt politisch-strategischer Motive: Die Ballettkomödie repräsentiert die absolutistische Herrschaftsform und trägt im Gegensatz zu Italien, das seine kulturelle Einheit eher über die Oper definiert, zu einem national-einheitlichen Kulturbild Frankreichs, dem neuen Machtzentrum Europas, bei. Die kulturelle Blütezeit, die auf eine lange Tradition des Sprechtheaters in Frankreich aufbaut, wird zum größten Teil durch Farce-, Komödien- und auch Tragödienautoren wie Corneille, Rotrou, Paul Scarron und Jean Mairet bestimmt, die das nationale Theatererbe für Molière liefern. Ebenso spielt der Tanz in der französischen Klassik eine große Rolle, wenn man von einem kulturspezifischen Referenzpunkt des Landes spricht. Die Gattungsfusion aus Sprech- und Tanztheater hat folglich starke nationale Wurzeln, die in ihrem Zusammenschluss eine kulturelle und auch politische Stärke Frankreichs verkörpern. Zudem war diese Fusion im Zuge des Einheitsstrebens zum absoluten Staat nicht nur innenpolitisch, sondern auch außenpolitisch dienlich, ließ sich doch so der kulturelle Bereich und die damit verbundene Überlegenheit der Nation auch international demonstrieren. Aleida Assmanns Lichtmetaphorik bezüglich der Konstitution kultureller Machtzentren untermauert den stark auf Visualität hin angelegten Aspekt der klassischen Regierungsform. Zudem verdeutlicht sie den translatio -Charakter der Kulturen, welcher bei der Ballettkomödie gattungstypologisch zum Tragen kommt: Durch Anschluß an das Alte sollte dem Neuen Macht und Geltung verliehen werden. Diese Reihe besteht aus unterschiedlichen Machtzentren, die nacheinander die Fackel eines einzigen universalen Kulturlichts halten; eine gleichzeitige Blüte mehrerer Kulturen ist ebenso undenkbar wie unabhängige Neuentfaltungen. Das bedeutet, daß sich jede neue Kultur als Fortsetzung und Reinkarnation der einen Kultur versteht. 126 Die Ballettkomödie schließt explizit an antike und frühneuzeitliche Traditionen an - verbindet Altes mit Neuem - und entfaltet selbstbewusst eine Bühne zur Selbstdarstellung für das neue europäische Machtzentrum. Auf dieser Bühne kann der Sonnenkönig glänzen, mit seinem apollinischen Licht andere Kulturen überstrahlen und in den Schatten seiner kulturellen und politischen Größe stellen, getreu dem Motto „gouverner c’est paraître“ 127 . Auf die gleiche Art und Weise wie der neue Regierungsstil des Sonnenkönigs als Neugestaltung des normativen politischen Systems im Frankreich des 17. Jahrhunderts empfunden wurde, ist die Ballettkomödie als Neugestaltung des normativen Gattungssystems zu sehen - kulturhistorische Ereignis- 126 Assmann (1999), 112. 127 Christout (2002), 155. <?page no="52"?> 1.6 Ein Schauspiel als politischer „art de plaire“ 51 se, welche sich berechtigterweise auf beiden Ebenen als Umbruch bezeichnen und sich unter diesem Gesichtspunkt synergetisch harmonisieren lassen: Vom gönnerhaften Mäzenatentum profitieren die Künstler des Gesamtkunstwerkes, wie auch der Monarch jenes zur Stärkung seiner Kulturpolitik einsetzt. Die Ornamentik qua gattungsspezifisches Charakteristikum trägt maßgeblich zur Institutionalisierung der Ballettkomödie bei, mit der Folge, dass sie zum zentralen Angelpunkt der höfischen Festkultur des Roi Soleil wird. Ferner lässt sich der ephemere Charakter der Theateraufführungen auf die Lebenszeit des Genres übertragen, denn bereits nach nur zehn Jahren ändert sich der königliche goût . Der Herrscher wendet sich fortan vermehrt der Oper und anderen musikalischen Divertissements zu, die durch die Gründung der Académie royale de Musique im Jahre 1672 endgültig privilegiert werden. Dadurch werden die Ballettkomödien immer mehr verdrängt. Ein Jahr später sollte Molière beim vierten Auftritt des Malade imaginaire am 17. Februar 1673 das Zeitliche segnen, während zeitgleich - so die Legende - Lully seine erste französische Oper Cadmus et Hermione aufführte. 128 Dieser fast schon symbolische Tod Molières wird kulturpolitisch dadurch besiegelt, dass der Italiener mit dieser Aufführung den Geschmack des Herrschers trifft, ihm daher der Palais Royal zur Verfügung gestellt wird und die Theatertruppe weichen muss. Nach diesen Ereignissen verschwindet die Gattung im Wesentlichen von der Bühne. Einige spätere Imitationen von Thomas Corneille wie L’inconnu 129 (1675) erinnern an das Genre, werden jedoch nicht für das große höfische Divertissement, sondern für das Theater Guénégaud komponiert. Auch Autoren wie Florent Dancourt, Jean-François Regnard oder Charles Dufresny, deren Werke 130 an das molièresche Modell der hybriden Komödie erinnern, erreichen nie dieselbe Aufmerksamkeit wie sie Molière zuteilwurde. Diese Theaterstücke können nur im weiten Sinne als Fortsetzung der Gattung verstanden werden, weil sich Molières Ballettkomödien gerade auch über das Exklusivitätsmerkmal der Einbettung in die höfischen Feste definieren. Aus ästhetischer Sicht ist die Tatsache, dass Molière die Möglichkeiten der Gattungshybridität gänzlich ausschöpft und perfektioniert für den Niedergang der Ballettkomödie verantwortlich: [B]ien que les dramaturges cherchent souvent à lier les agréments à la comédie, à son sujet et à son intrigue, ils ne parviennent jamais ni à cette nécessité profonde de 128 Vgl. Sammler (2009), 83. 129 Die Komödie ordnet sich aufgrund ihrer Unterüberschrift, die in diesem Fall gattungstypologisch zu deuten ist, in die Tradition der Ballettkomödie ein: comédie mêlée d’ornements et de musique . 130 Zum Beispiel: Florent Dancourts Les Fées (1699), Jean-François Regnards La Sérénade (1694) und Charles Dufresnys Le double Veuvage (1701). <?page no="53"?> 52 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie l’union des arts, ni à cette unité qui embrassaient chez Molière les contrastes pour produire une signification originale. 131 Eine erfolgreiche Weiterentwicklung dieses Komödientypus führte zwangsweise zur opéra im Musiktheater und zum ballet d’action 132 im Tanztheater beziehungsweise zur opéra-ballet 133 . Wenngleich der Prunk der Ballettkomödie nicht lange glänzt, so ist das Dodekameron doch ein Markstein in der Entwicklung des lyrischen Theaters. Guy Spielmann erscheint es daher unmöglich, die Komödie am Ende der Regierungszeit Ludwigs XIV . ohne ihre Orientierung am théâtre lyrique zu verstehen: „[D]ans les années 1690, […] la grande majorité des comédies comportait alors des éléments musicaux.“ 134 Ferner wird Molières Totaltheater über das klassische Zeitalter hinaus kleinere Hybridgattungen wie das Vaudeville, das Singspiel, die Operette und das Musical beeinflussen - alle streben nach einer Verbindung und einem Kompromiss von gesprochenen und gesungenen Textpartien. 135 1.7 Ein Multimediaspektakel und seine Verortung in der Gattungslandschaft Die aus einer Gattungsfusion entstehende neue Gattung charakterisiert sich aufgrund ihrer diversen Einflüsse durch ihr hybrides Substrat. An dieser Stelle stellt sich nun die Frage, wo die Ballettkomödie innerhalb der Gattungslandschaft zu situieren ist. Die neue Künstepluralität bringt die Theaterinszenierungen der damaligen Zeit an ihre Gattungsgrenzen, was sich im dargestellten Denominationschaos teilweise noch heute reflektiert; sie durchbricht habitualisierte Wahrnehmungsformen und Gattungsschemata. Aufgrund dieser Grenzsituation ist der Übergang zur Oper sicherlich fließend und die Ballettkomödie wird unter diachronem Gattungsaspekt als Vorform der französischen Oper bezeichnet. 136 131 Mazouer (2010), 649. 132 Jean Georges Noverre ist im 18. Jahrhundert einer der Hauptrepräsentanten des ballet d’action und prägt dieses Gesamtartefakt aus Tanz, Musik, Dekor und Kostüm maßgeblich. Vgl. Brauneck (2001), 119. Im 17. Jahrhundert gibt es bereits Vorläufer des Handlungsballetts, wie Les Rieurs du Beau Richard (1659) von Jean de La Fontaine, wobei der Tanz nicht das privilegierte Handlungsinstrument ist. Vgl. Hourcade (2002), 66. 133 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts kristallisiert sich mit Pascal Collasses Ballet des Saisons (1695) die opéra-ballet heraus, eine Mischform aus Gesangswie auch Tanzeinlagen. 134 Spielmann (2002), 27. 135 Vgl. Mazouer (2005), 20. 136 Böttger geht einen Schritt weiter, wenn er die comédie-ballet als „eine wichtige Entwicklungsstufe der allgemeinen Operngeschichte“ und nicht nur der französischen bewertet. Vgl. Böttger (1979 [1930]), 8. <?page no="54"?> 1.7 Ein Multimediaspektakel und seine Verortung in der Gattungslandschaft 53 Obschon sich die Oper durch eine Multimedialität definiert, erscheint es sinnvoll, die comédie-ballet der Dramatik und damit dem Sprechtheater zuzuordnen. Diese Klassifikation begründet sich nicht nur ob ihrer historischen Tradition, sondern auch ob der Einteilung der unterschiedlichen Theatergattungen nach der Repräsentationsart des zentralen Trägers, dem überwiegend sprechenden, singenden oder tanzenden Darsteller. Demzufolge gehört die Ballettkomödie zum Sprechtheater und die Oper zum Musiktheater. Das Kriterium der Hauptrepräsentationsart zeigt zudem, dass die Verortung der Ballettkomödie innerhalb des Tanztheaters auszuschließen ist, wobei die Balletteinlagen allein betrachtet ausschließlich diesem Theatertypus zuzuordnen wären. Molières Bezeichnung seiner Intermedien als ornements verrät in gleichem Maße, dass das Wesentliche der Ballettkomödie die Komödie bleibt, der dramatische Dialog. Die zeitgenössische Aufführungspraxis zeigt darüber hinaus, dass die musikalischen und tänzerischen Intermedien häufig gestrichen wurden. Der zentrale Angelpunkt des Multimediaspektakels ist sonach die Komödie, die im Gegensatz zu den Intermedien immer inszeniert wurde. Der Hybridität der comédie-ballet geschuldet handelt es sich nicht um die reinste Form des Sprechtheaters, da die Künstepluralität die Klassifizierung der Ballettkomödie als einfaches Sprechtheater ebendieses an seine Einteilungsgemarkung stoßen lässt und es in die Nähe von Musik- oder auch Tanztheater bringt. Die mediale Trias ermöglicht eine individuelle Mischung, die die einzelnen Ballettkomödien zu autonomen Unikaten künstlerischen Ausdrucks macht; die Ballettkomödie definiert sich als Gattung durch die Mischung ihrer Repräsentationsarten. An dieser Stelle ist noch explizit auf die hierarchische Verortung der Ballettkomödie innerhalb der Gattung der Dramatik einzugehen. Diese literarische Hauptgattung verzweigt sich in der französischen Klassik grundlegend in Tragödie und Komödie, 137 eine Differenzierung, die ihrerseits variable Gestaltungsmöglichkeiten in sich birgt. Die herausgearbeiteten Elemente zur Gattungspoetik lassen erkennen, dass sich die Ballettkomödie als Subgattung der Komödie verstehen lässt. Die paradigmatische, serielle Struktur der Komödie erleichtert die Einbindung der Intermedien. Weitere Probleme bei der Klassifizierung des Genres ergeben sich aus seiner Thematik, da die Untergattungen zumeist am Komödiensujet und nicht an ihrer medialen Struktur gemessen werden. Streng genommen müsste man deshalb die meisten Ballettkomödien ebenso als Charakterkomödien bezeichnen, um ihre Sujetstruktur entsprechend zu respektieren, wenn eine comédie de carac- 137 Es existiert auch eine barocke Mischform der beiden Genres, die tragicomédie , eine Erfolgsgattung bis zur Mitte des Jahrhunderts, deren Perfektionierung Pierre Corneilles Verdienst ist. <?page no="55"?> 54 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie tère folgendermaßen zu definieren ist: „Pièce, genre, où l’auteur met en lumière en les exagérant certains travers de ses personnages et, à partir d’eux, de la société.“ 138 Die komischen Helden der Komödien sind sozial besetzt und daher keine Typen, da sie dank einer Fülle von Details in ihrer Zeit verwurzelt sind. Vor dem Hintergrund des Gesagten scheint es angebracht, beim Dodekameron vorrangig von Ballettkomödien zu sprechen und erst an zweiter Stelle von Charakterkomödien, da es sich bei beiden Subgattungen der Komödie um unterschiedliche Komikästhetiken und mediale Strukturen handelt, die selbst dann nicht pauschalisiert werden sollten, wenn sie inhaltlich ähnlich strukturiert sind. Ferner ist die Entwicklung von der Komödie zur Ballettkomödie im Rahmen von Molières Gesamtwerk als eine Reflexion über die Grenzen der klassischen Komödie im normativen und unangreifbaren Regeldiskurs des zeitgenössischen Gattungsspektrums zu verstehen. Die heutzutage als große Leistungen des 17. Jahrhunderts erscheinenden Sprachkunstwerke, zu denen Molières Ballettkomödien unzweifelhaft hinzuzuzählen sind, entstanden gerade durch eine Transgression der engen Gattungsgrenzen, wie Reinhard Krüger feststellt. 139 Die französische Bezeichnung comédie-ballet spiegelt die Zugehörigkeit und Spezifität der Untergattung stärker wider als das deutsche Kompositum. Diese Zuordnung wertet den Dramentext in seiner Gesamtheit auf und somit auch die schriftstellerischen Qualitäten Molières, die teils in den Schatten der Gesamtdarstellung rücken, weil man bei den Ballettkomödien den Eventmanager gern vor dem Poeten sieht: Toute la richesse de ce genre de spectacle tient dans sa représentation. [L]a comédie de Molière est d’une autre essence. Le poète y domine, il n’est jamais à ce point assujetti au peintre, au machiniste, au danseur ou au musicien. Et si sur la fin de sa carrière il songe davantage à satisfaire la vue et l’ouïe de son public, cette promotion du spectaculaire, accomplie dans un esprit de recherche et dans l’espoir de parvenir à un art total et multidimensionnel, ne nuit en rien à la suprématie de son texte . 140 Zusammenfassend kann am Ende dieses Kapitels eine Gattungsdefinition der comédie-ballet von Molière gegeben werden. Die Ballettkomödie ist zunächst und vor allem ein fester Bestandteil absolutistischer Kulturpolitik und reflektiert in ihrer Eigentümlichkeit den goût mondain . Die Originalität der Subgattung der Komödie zeigt sich überdies darin, dass in den Verlauf der Geschichte musikalische und tänzerische Intermedien eingearbeitet sind. Sie sind kunstvoll mit 138 Definition zur ‚comédie de caractère‘ aus: Le Trésor de la Langue Française informatisé (2012). 139 Vgl. Krüger (2001), 14. 140 Defaux (1980), 223 f. Meine Hervorhebung. <?page no="56"?> 1.7 Ein Multimediaspektakel und seine Verortung in der Gattungslandschaft 55 der Komödie sowohl über die Dramenals auch die Sujetstruktur verzahnt und treten in der Regel um die Akte herum auf, sodass sie als dramatisierte und theatralisierte ornements satellites essentiels der Komödie zu begreifen sind. Hierzu zählen kleine Sketch-Einlagen, einfache Tänze, Pantomimen, Chöre, Musikstücke, Rezitationen / Allegorien, Singspiele mythologischen und surrealistischen Charakters, pompös ausgestattete Balletttänze, burleske Typenstücke, fantasievolle und exotische Aufzüge, bukolische Pastoralen und große karnevaleske Zeremonien. Das szenische Bühnenbild der comédie-ballet ist äußerst dynamisch und alterniert zwischen Komödie und Ballett. Das Totaltheater zeichnet sich durch einen nouveau langage théâtral aus, der eine gattungsspezifische Organisationsform von Kommunikationsprozessen generiert. Dieses neue Intermedialitätskonzept umfasst die drei Ausdrucksformen Sprache, Musik und Tanz und evoziert eine innovative Komikästhetik im klassischen Theater. Aufgrund ihrer Familienähnlichkeit sind Molières zwölf Ballettkomödien unter dem Begriff des Dodekamerons zusammenzufassen. <?page no="57"?> 56 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie Im Hinblick auf eine differenzierte Komikanalyse der Ballettkomödie ist es unentbehrlich, ihre Dramen- und Sujetstruktur zu untersuchen, da diese beiden Strukturen das funktionale Möglichkeitsspektrum der Gattung abstecken und den Rahmen des komischen Agons setzen. Hierzu verlangt die Ballettkomödie in Anbetracht ihres besonderen strukturellen Aufbaus ein Modell, das versuchen sollte, das Gesamtkunstwerk als solches zu betrachten, mithin Komödie und Intermedien gleichermaßen miteinzubeziehen. Es ist neben der Analyse der Ballettkomödie als Ganzes entscheidend, die Dramen- und Sujetstruktur der Aktendwie auch der Aktanfangsszenen der Komödie in den Fokus der Analyse zu stellen. Diese fungieren als mediale Schnittstellen und tragen zum Verständnis des unitären Charakters der Werke bei: Die Ballettkomödie zeichnet sich durch eine zum poetologischen Programm gewordene Integration der Intermedien in die Komödie aus. Diese Zusammenführung bedarf einer reziproken Verankerung von Dramenwie auch Sujetstruktur, um dem Anspruch auf Geschlossenheit nachzukommen. Es ist davon auszugehen, dass die Annabelung der Intermedien an die Komödie über eine dramatische Notwendigkeit und / oder eine thematische Ähnlichkeit erfolgt. Sie können die Komödienhandlung durch Weiterführung, Spiegelung, Parodierung und thematische Kontrastierung bereichern sowie selbst zu einer Modifikation der histoire beitragen. Ziel dieses Modells ist es, das strukturelle Wesen des komischen Agons in der Ballettkomödie aufzuspüren. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass der komische Agon über gattungsspezifische Kommunikationsebenen vermittelt wird und sich aus diversen Sujetschichten speist. Wie der Akt der Homogenisierung von Komödie und Intermedium im Einzelnen geartet ist und welche Akzente Molière mit seinen Intermedien für die Komödienhandlung setzt, soll nach Vorstellung des Strukturmodells am Korpus der Ballettkomödien aufgezeigt werden. 2.1 Dramenstruktur Mein Entwurf einer Dramenstruktur für die Ballettkomödie orientiert sich zunächst an einem allgemeinen Strukturmodell für das Theater der französischen Klassik, das Wolfgang Matzat in den 1980er Jahren entwickelte. Die Grund- <?page no="58"?> 2.1 Dramenstruktur 57 überlegung seiner rezeptionsästhetischen Theorie besteht darin, die Dramenstruktur aus der Kommunikationssituation des Theaters und den Prozessen der Transmission abzuleiten. Er geht davon aus, dass der geschriebene Text nicht als eine von der Aufführung unabhängige Strukturebene angesehen werden könne, denn das Aufführungsgeschehen sei bereits im dramatischen Text angelegt. 1 Diese Ausgangslage erfordert ein Kommunikationsmodell, das die Zuschauerrolle fokussiert, den Zuschauer ins Zentrum aller Vermittlungsvorgänge stellt. Das Artefakt und sein Sinngehalt konkretisieren sich erst in der Verschmelzung mit dem Erwartungs-, Verständnis- und Bildungshorizont der Rezipienten, die durch rezeptive Codes psychologischer, ideologischer und ästhetischer Art beeinflusst werden. 2 Somit sind die vermittelnden Kommunikationsebenen immer auch Rezeptionsperspektiven des Dramas. Daran anknüpfend lassen sich aus Eric Bentleys Theaterformel zur Kommunikationssituation im Drama - „The theatrical situation, reduced to a minimum, is that A impersonates B while C looks on“ - 3 folgende Erkenntnisse ziehen: Es gibt ein äußeres (A-C) sowie ein inneres (B1-B2) Kommunikationssystem und beide überlagern sich; die Inhaltsdarstellung findet über die interne fiktive Rede der Figuren statt und die inszenatorische Realisierung setzt sie in externes wirkliches Spiel um; 4 auf dieser Grundlage ergibt sich die Kommunikationssituation von drei sich überlagernden Kommunikationsebenen - einer dramatischen (B), einer theatralischen (A) und einer lebensweltlichen (C) -, deren kommunikative Transmission aus ihrer dynamischen Interaktion resultiert. Es wird zu zeigen sein, wie dieses Konzept auf die Ballettkomödien mit ihrer komplexen Kommunikationssituation abgestimmt werden kann. 2.1.1 Die dramatische Kommunikationsebene-- die figurale Interaktion Die dramatische Kommunikation findet im inneren Kommunikationssystem statt und setzt den Fokus auf die Interaktion der Figuren auf der Bühne. Zu ihr gehören die Intrige und die Handlungswelt. Die Einzelintrigen konstituieren die Gesamtintrige, die ihre Kohärenz durch das übergeordnete Ereignis des die Handlungen bündelnden Sujets zugesprochen bekommt. 5 Die Gesamtintrige beruht auf der Gesamtheit erwartungsstiftender Elemente, sodass die Intrige auch als Mittel der Sympathielenkung des Zuschauers fungieren kann. Diese 1 Vgl. Matzat (1982), 9. 2 Vgl. Balme (2008), 139. 3 Bentley (1965), 150. 4 Vgl. Mahler (2004), 71. 5 Vgl. Matzat (1982), 30. <?page no="59"?> 58 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie Intention gelingt, wenn er Akzeptanz und Bereitschaft zeigt, eine personengebundene Perspektive einzunehmen. Dieser Aspekt der Intrige macht deutlich, dass sie nicht mit der Ebene des Sujets gleichzusetzen, sondern ihr ein vermittelnder Charakter zuzusprechen ist, besteht ihre Funktion doch darin, das Sujet in dramatischer Weise zu beleben. Die zweite Konstituente der dramatischen Ebene besteht aus der Handlungswelt. Sie etabliert aus den figuralen Handlungswie auch Sprechsituationen ein illusionistisches Raum-Zeit-Kontinuum, indem sie aus den dargestellten Räumen eine Raumstruktur aufbaut, aus den dargestellten Zeitabschnitten eine Zeitstruktur errichtet und durch die auftretenden Personen eine soziale Welt entstehen lässt. 6 Die Flexibilität des dramatischen Dialoges ermöglicht es zusätzlich, nicht dargestellte Lokalitäten, Zeiträume und Personen mittels sprachlicher Verweise in die Handlungswelt zu inkorporieren. Die Funktion der dramatischen Ebene erschöpft sich darin, das Sujet zu aktualisieren. Sie erreicht dies durch eine Dramatisierung der Sujetbewegung in Gestalt der Intrige und durch die Dramatisierung des Sujetfeldes in der entworfenen Handlungswelt. 7 Die beiden Konstituenten der dramatischen Kommunikationsebene bilden gemeinsam ein binnenfiktionales Bezugssystem, auf das die jeweiligen Handlungssituationen übertragen werden können und das den Zuschauer durch Identifikation wie auch Illusion dazu einlädt, an der fiktionalen Welt zu partizipieren. 2.1.2 Die theatralische Kommunikationsebene-- die Interdependenz von Spielen und Schauen Die theatralische Kommunikation findet im äußeren Kommunikationssystem statt und setzt den Fokus auf die Kommunikation zwischen Schauspieler und Zuschauer. Durch die Teilhabe des Zuschauers an der theatralischen Interaktion bekommt er seine Rolle verliehen, die sich darin erschöpft, durch das Zusehen dem mimischen Agieren einen Sinn zu verleihen: 8 Theater ist nur und nur das ist Theater, wenn in einer symbolischen Interaktion ein rollenausdrückendes Verhalten von einem rollenunterstützenden Verhalten beantwortet wird, das auf der gemeinsamen Verabredung des ‚als-ob‘ beruht. 9 Die Veranstaltungssituation ist demnach wirklich, jedoch ist das, was dort dargeboten wird, unwirklich; unwirklich deshalb, weil das dargestellte Spiel in den 6 Vgl. ebd., 34. 7 Vgl. ebd., 65. 8 Vgl. ebd., 40. 9 Paul (1975), 186. <?page no="60"?> 2.1 Dramenstruktur 59 Zusammenhang mit der Theatersituation gebracht wird und einer lebensweltlich-basierten Lesart entzogen werden kann. Des Weiteren verdrängt ein gesteigertes Rollenspielbewusstsein die auf Identifikation und Illusion hin angelegte dramatische Perspektive. Das hat zur Folge, dass ein Rivalitätsverhältnis zwischen den Kommunikationsebenen zu konzedieren ist. Es stellt sich somit beim Betrachter immer dann eine theatralische Sichtweise ein, wenn er weder zu sehr die Fiktion absorbiert, noch durch die Thematisierung eines lebensweltlichen Sachverhaltes aus der Theatersituation herausgerissen wird. 10 Eine Aktualisierung dieser Perspektive tritt immer dann zutage, wenn das Spiel explizit auf seinen Darstellungs- oder Veranstaltungscharakter verweist, etwa durch musikalische und tänzerische Einlagen sowie Publikumsapostrophen. Weitere Belebungen der Theatersituation erzeugt der Schauspieler, wenn er als Darsteller wahrgenommen wird und sich sein Rollenspiel als solches zeigt. Dazu eignen sich Geschicklichkeitsspiele, artistische Einlagen, Kampfszenen, Rededuelle, Streitszenen und die Zwischenspiele der Ballettkomödien, die durch die Erweiterung der Darstellerriege mit Musikern und Tänzern eine erhöhte Darstellungsartifizialität erzeugen und die Theatersituation nachdrücklich zu erkennen geben. Die Schauspielerakzentuierung zeigt zudem, dass sich der Mime nicht als vergegenständlichter Teil des Schauspiels sieht, sondern willentlich und bestimmt in die Produktion eingreift und diese individuiert. 11 Ferner kann sich die bewusste Korrespondenz zwischen Spielen und Schauen auf der Bühne etablieren, und zwar stets dann, wenn es sich um ein Spiel im Spiel handelt, wobei sich das Prinzip des externen Kommunikationssystems auf das interne projiziert. Es handelt sich um ein Prinzip, das Bernhard Greiner „transzendental aussagekräftig“ 12 nennt, weil die Spiel-im-Spiel-Strukturen zugleich die Regeln vorgeben, die den jeweiligen Diskurs ‚Komödie‘ bestimmen. 13 Diese Struktur offenbart sich konkret auf der Bühne, wenn eine theatralische Einlage in die Bühnenhandlung eingefasst wird und das Theaterspiel nicht nur vor Zuschauern, sondern auch unmittelbar vor Bühnenfiguren gespielt wird und die Darsteller zugleich zu Schauspielern und Zuschauern werden: Der Schauspieler verbirgt in der Potenzierung des dargestellten Rollenspiels seine eigentliche Person, die eine theatralische Doppelung erfährt und seine Rolle im Stück ambiguiert, sodass diese Pluralisierung für einen semantischen Mehrwert der sprachlichen Zeichen auf der Bühne sorgt. 10 Matzat (1982), 47. 11 Vgl. Jeschke (1991), 206. 12 Greiner (1992), 7. 13 Vgl. ebd., 7. <?page no="61"?> 60 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie Das Theater auf dem Theater - wie das dramaturgische Gestaltungsmittel des Spiels im Spiel ebenfalls genannt wird - zeichnet sich demnach durch eine simultan dargestellte primäre und sekundäre Fiktionsebene aus, durch ein inneres und äußeres Rollenspiel, wobei die Rahmenhandlung temporär in den Hintergrund tritt und der eingerahmten Handlung gewissermaßen den ‚Spielball‘ zuwirft; diese mise-en-abyme- Struktur erzeugt ein räumliches und temporäres Nebeneinander von Rahmen- und Kleinform. 14 Der Spiel-im-Spiel-Situation kann in dieser Hinsicht eine handlungsunterbrechende wie auch eine handlungstreibende Funktion zukommen. In diesem Kontext ist von einer illusionsmindernden und illusionsfördernden Wirkung des Spiels im Spiel für die Zuschauer zu sprechen. 15 Diese Gegenläufigkeit resultiert aus der Engführung von dramatischer und theatralischer Kommunikationsebene, da neben dem Rollenspiel der Dramenpersonen zugleich das eigentliche Spiel des Mimen in den Vordergrund tritt. 2.1.3 Die lebensweltliche Kommunikationsebene-- die gesellschaftliche Kommunikation über das Fiktionale Die lebensweltliche Kommunikationsebene umfasst das innere wie auch das äußere Kommunikationssystem und fokussiert die gesellschaftliche Kommunikation über die Inszenierung und deren Bezug auf lebensweltliche Normen. Sie ist das Wirkliche im Unwirklichen oder die realitätsbezogene Kommunikationsebene im Gegensatz zu den beiden angeführten fiktionalen Ebenen. Die lebensweltliche Perspektive wird aus einem Zusammenspiel zwischen dem lebensweltlichen Kontext und dem Sujet vermittelt; sie macht das Handlungsthema zum Angelpunkt einer Interaktion, bei der Autor, Regisseur und Schauspieler mit dem Publikum über die Brücke der sie verbindenden sozialen Realität miteinander kommunizieren: Durch eine solche Aktualisierung wird einerseits das immer schon mitgegebene und mitgewußte lebensweltliche Sinnpotential des Sujets thematisch, andererseits werden gleichzeitig bestimmte Ausschnitte des lebensweltlichen Kontexts als Bezugsmomente hervorgehoben, womit sich dieser zunächst diffuse Kontext verdichtet und zur Situation konkretisiert. 16 Diese Annahme Matzats leitet sich von Bertolt Brechts Begriff des Verfremdungseffekts (V-Effekt) ab, von einem künstlerischen Verfahren der Illusions- 14 Vgl. Kokott (1968), 23a. 15 Vgl. Voigt (1954), 44. 16 Matzat (1982), 56 f. <?page no="62"?> 2.1 Dramenstruktur 61 durchbrechung in der Darstellung. Diese Kommunikationsebene tritt bei Referenz auf lebensweltlich existierende Personen, Ereignisse, Situationen, Normen und Gesetze im kulturellen Kontext in Erscheinung. Der Zuschauer gewinnt aus der Verfremdung eine neue Sichtweise auf Vertrautes, sodass der V-Effekt auch als Enthüllungseffekt bezeichnet werden kann, da er der Aufdeckung gesellschaftlicher Inkonsistenzen und Paradoxa dient. Ihm ist ein gesellschaftskritisches Moment inhärent, das sich bei der zeitgenössischen Molière-Rezeption mitunter in heftigen Kontroversen zeigte. Gemäß der Verfremdung ermöglicht die lebensweltliche Perspektive dem Rezipienten eine kritische Betrachtung des Geschehens vom gesellschaftlichen, außerästhetischen Standpunkt aus. Sie kommt immer dann zum Vorschein, wenn die beiden fiktionalen Ebenen ausgeblendet werden und eine Thematisierung der implizierten Handlungsnormen einsetzt, die über den Bezugsrahmen des Bühnengeschehens und die Veranstaltungssituation hinausweisen. 17 Die Normen- und Sinnsysteme der Wirklichkeit bilden den primären Kontext, in den sich die Fiktion einbetten lässt, sodass er die Sujethaftigkeit des Dramentextes immer mitbestimmt. 2.1.4 Die metadramatische Kommunikationsebene-- die intermediale figurale Interaktion Die von Matzat vorgeschlagenen Rezeptionsperspektiven für die Komödie sind sinnfällig, funktionieren aber nur eingeschränkt für die Ballettkomödie. Für sie bedarf es einer weiteren Komponente innerhalb der für die Theaterrezeption signifikanten Kommunikationsebenen, um ihrer strukturellen Eigentümlichkeit Rechnung zu tragen: die metadramatische Ebene (B-B’). Ihre Berechtigung im Kommunikationsmodell erhält sie dadurch, dass sie eine von den anderen Kommunikationsebenen divergierende Weltsicht beinhaltet, der gewisse Gesetzmäßigkeiten eigen sind, die auf das Bühnengeschehen projiziert werden. Die metadramatische Perspektive stellt sich ein, wenn es zu einer Erweiterung des inneren Kommunikationssystems kommt. Dieser Fall tritt dann ein, wenn eine Verständigung zwischen den Dramenpersonen aus der Handlungswelt der Komödie und denen aus den Intermedien stattfindet. 18 Generell kann von solch einer Ebene gesprochen werden, sofern der Zuschauer sich dieser Erweiterung bewusst wird, weil sich sonst keine Differenz zur dramatischen Perspektive aufzeigen lässt. Erst über einen Sujetrealitätenwechsel in Kombination mit einem Medienwechsel stellt sich beim Zuschauer diese Rezeptionsperspektive ein: In 17 Vgl. ebd., 59. 18 Es sind oft aus der Handlungswelt der Komödie entsprungene oder verkleidete Figuren, sodass es mitunter zu figuralen Konstellationsüberschneidungen in den Ballettkomödien kommt. <?page no="63"?> 62 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie diesem Fall impliziert der Wechsel der Sujetrealitäten einen merklichen Übergang von der Komödie zum Zwischenspiel, der über die Opposition von Fiktion und Metafiktion erfahrbar gemacht wird. Dieser komödieninterne Realitätsbruch gestaltet sich über zwei Arten von Unwirklichkeit. Zum einen kann eine soziale Unwirklichkeit ausfindig gemacht werden, die gesellschaftlich Unmögliches ermöglicht. Zum anderen kann eine empirische Unwirklichkeit ausfindig gemacht werden, die Übernatürliches natürlich erscheinen lässt. Die soziale Unwirklichkeit taucht dann auf, wenn eine Transformationszeremonie den sozialen Status einer Figur verändert. Die Ermöglichung des gesellschaftlich Unmöglichen wird mit dem die Komödie und das Zwischenspiel verbindenden Spiel-im-Spiel-Prinzip etabliert und geschieht in Absprache mit den Zuschauern im Sinne einer Komplizenschaft, wobei die Drahtzieher des Ränkespiels die vorgetäuschte soziale Unwirklichkeit bis zum Komödienende aufrechterhalten und nicht beenden. Dabei wird das Dargestellte nicht als selbstzweckhafter Spielimpuls verstanden, denn dadurch, dass die sekundäre Fiktionsebene zur primären wird, handelt es sich um den tatsächlichen Handlungsrahmen der Komödie. Das unverbrüchliche Ränkespiel ist aufgrund der fehlenden Endbereinigung zum Spiel des Spiels geworden, zum Spiel des Schauspiels ; ihm ist ausschließlich eine handlungstreibende Funktion zuzusprechen. Dieser Vorgang erzeugt über seine doppelseitige mise-en-abyme -Struktur einerseits eine illusionsfördernde, andererseits eine illusionsmindernde Wirkung beim Publikum. Der Zuschauer kann die innerfiktional dargestellte Mischung aus Realismus und Fiktion in der Spiel-des-Spiels-Situation als Mitwisser genießen, weil die von ihm eingenommene Sichtweise eines internen Zuschauers das letzte Band zur sozialen Normalität darstellt, das ihn davon abhält, dem Unmöglichen anheimzufallen. 19 Die empirische Unwirklichkeit kommt über fiktive Fantasiewesen oder mythologische Wesen zum Vorschein, die in der Handlungswelt der Komödienfiguren inexistent sind, aber über die intermediäre Korrespondenz der Figuren darin Einzug halten. Sie zeigt sich dem Zuschauer als willkommene Überraschung und wird mittels Komödienfiguren umgesetzt, die kurzzeitig mit dem Übernatürlichen in Kontakt treten und hiernach wieder ungezwungen realitätsbezogen agieren. Hierbei kann es zu einer Weiterführung der Intrige kommen, allerdings wird diese ohne eine Spiel-im-Spiel-Situation dargestellt. Diese Szenen sind von einem episodenhaften Charakter geprägt und zumeist auf Nebenhandlungen limitiert. Während die in der ersten Kategorie erwähnten Transformationszeremonien die typische, im Zentrum höfischer Feste stehende Alltagsverwandlung szenisch explizit thematisieren, mithin die soziale Alltags- 19 Vgl. Forestier (1981), 136. <?page no="64"?> 2.1 Dramenstruktur 63 verfremdung aktiv vorantreiben, akzentuiert die zweite Kategorie durch ihre empirische Unwirklichkeit eher eine transzendente Verzauberung der Lebenserfahrung. Die soziale wie auch empirische Unwirklichkeit spiegeln den absolutistischen Festcharakter in ganz besonderer Weise wider. Dieser ist mit einer lebensweltlichen Grenzerfahrung der Besucher konnotiert, mit einem realen Erlebnis fiktionaler Unwirklichkeit unter den Augen des Sonnenkönigs. Ferner verweist die erhöhte Anzahl an ausführlicheren Regieanweisungen in den Aktendbeziehungsweise Zwischenspielanfangsszenen des Dramentextes auf einen aufführungstechnischen Umbruch, der sich in einem Medienwechsel zeigt. Diese mediale Verschiebung wird als Ausdehnung binnenfiktionaler Kommunikation verstanden und als Illusionsbruch wahrgenommen, wenn die präsentierte Sujetrealität der Komödie von der des Intermediums divergiert. Die ‚Als-ob‘-Wirklichkeit der Komödie projiziert aus ihrem Wirklichkeitsgestus eine Unwirklichkeit auf die Bühne, die zu einer potenzierten Verfremdung des gesamten Bühnengeschehens beiträgt, da das illusionsbrechende Moment an die Komödienhandlung rückgekoppelt ist. Diese Erfahrung kann der Zuschauer weder allein über die dramatische noch über die theatralische Perspektive machen, sodass dieses für die Geschichte wichtige Element über die metadramatische Ebene kommuniziert wird. Darüber hinaus ereignet sich im Fall einer Weiterführung der Intrige ein Kollaps von Komödie und Intermedium in puncto Dramen- und Sujetstruktur, was mit einem Zusammenfall von ‚Als-ob‘-Wirklichkeit und sich daraus abzeichnender Unwirklichkeit einhergeht. Eine Aktualisierung der metadramatischen Kommunikationsebene führt nicht nur zu einer einfachen Überlagerung dieser mit der dramatischen, theatralischen und lebensweltlichen Kommunikationsebene, sondern zu einem krassen Illusions- und Identifikationsbruch auf allen Ebenen: Das Infragestellen der Handlungswelt durch die Dramenfiguren löst den Zuschauer von der dramatischen Perspektive los. Obendrein vergegenwärtigt ihm die Ungewissheit über das störende Moment der dargestellten Wirklichkeitsinkohärenz die Fiktionalität der Theatersituation, die er aber zugleich unter dem Aspekt des ‚Als-ob‘ hinterfragt und ihn ebenfalls aus der theatralischen Perspektive ausschließt. Schließlich unterzieht er das Geschehen einer metaphysischen Infragestellung hinsichtlich dessen, was der Realitätscharakter der Lebenswelt ist. Der Zuschauer verweilt nicht in dieser philosophischen Haltung, denn diese dynamische Zersplitterung der Rezeptionsperspektiven verstärkt eine simultane Interaktion zwischen allen Kommunikationsebenen, die in der erstarkten multimedialen Darstellung die größte Publikumsaffizierung erzielt. Es kommt zu einer Aktualisierung der Aufführungssituation und sonach wird die Perspektivenverwirrung in einer theatralischen Perspektive gebündelt. Diese dominiert letztlich sowohl die dramatische respektive metadramatische als auch <?page no="65"?> 64 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie die lebensweltliche Perspektive. Das dynamische Moment der Theatralik setzt sich aus der Verbindung von schauspielerischem Agieren, musikalischer Untermalung und tänzerischer Darbietung im Modus des sozial beziehungsweise empirisch Unwirklichen zusammen. Sie erzeugt eine starke Performance, die in gesteigertem Maße publikumswirksam ist, da sie einen multimedialen Unterhaltungswert fernab der Realität garantiert und zugleich ein Bewusstwerden von Irrealem in einer rein rationalen Weltanschauung ermöglicht. Die theatralische Kommunikationsebene evoziert daher eine aus der Alltagswelt enthobene Sinnenklave, die sich als utopischer Fluchtraum zeigt, als komisches Refugium. Letzteres konstituiert sich aus der Dialektik von Schein und Sein und sorgt für eine ambige Haltung der Zuschauer zum Dargestellten. Einerseits unterhält und erfreut es sie in der poetologischen Gesinnung des horazischen delectare , andererseits erzeugt es im höfischen Kontext eine einschüchternde Wirkung im Sinne des horazischen prodesse , ist es doch vehement mit dem unschicklichen Unvernünftigen semantisiert, das mit dem Preis einer gesellschaftlichen Stigmatisierung zum Verrückten korreliert. Es ist festzuhalten, dass der Zuschauer das Geschehen aus einer metadramatischen Perspektive betrachtet, wenn er den Wirklichkeitsbruch und die medialen Bereicherungen als binnenfiktionale Realitätsverfremdung des gesamten Bühnengeschehens ins soziale oder empirische Unwirkliche wahrnimmt. Den Wirklichkeitsbruch innerhalb der Fiktion empfindet der Zuschauer jedoch nicht als besonders störend, sodass es ihm gelingt, die verstärkt mediale Theatralik auf die figurale Interaktion zu beziehen, und er sich daher dem Sog der Theaterfiktion nicht widersetzen muss. Die Wahrnehmung der Realität ist für einzelne Figuren auf der Bühne gestört und auch der Zuschauer wird mit dem Problem konventioneller Sichtweisen bei der Aufführung über die binnenfiktionale metadramatische Perspektive konfrontiert. Diese erweitert sich aufgrund ihres intermediären Charakters, nähert sich der theatralischen Perspektive an und wird letztlich von jener absorbiert. Diese Perspektive ist auch als Brückenperspektive zwischen der dramatischen und theatralischen zu betrachten, da soziale wie auch empirische Fiktionalitätsprobleme in eine theatralische Perspektive hinübergespielt werden und sich in der Heiterkeit des Spiels auflösen, sodass bei der Ballettkomödie von einem dominant theatralischen Theater zu sprechen ist. Die metadramatische Perspektive enthält folglich ein potenziell störendes Moment, das aus dem Spannungsverhältnis zwischen Realität und Fiktion resultiert - zwischen Fiktion und Metafiktion oder, wie Georges Forestier konstatiert, zwischen „la fiction et le merveilleux“ 20 - und den Zuschauer in eine verzerrte Traumwelt hineinmanövriert. 20 Ebd., 136. <?page no="66"?> 2.2 Sujetstruktur 65 Wenn man Gattungen als fundierte Organisationsformen von Kommunikationsprozessen versteht, dann bestärkt die für die Ballettkomödie spezifische Kommunikationssituation, die sich aus der zusätzlichen metadramatischen Perspektive ergibt, die Originalität des Genres. Dies gilt auch dann, wenn diese Metaebene nicht in allen Ballettkomödien in vollem Umfang auftaucht, weil die figurale Korrespondenz zwischen Komödie und Intermedium genauso gut ohne Wirklichkeitsbruch vonstattengehen kann und sich somit nur ein medialer Kommunikationswechsel innerhalb einer Sujetwirklichkeit vollzieht. In diesem Fall sind Fiktion und Metafiktion realitätsgleichwertig im Sinne einer einheitlichen Theaterfiktion und über die dramatische, theatralische oder lebensweltliche Perspektive erfahrbar. Fazit Zusammenfassend lässt sich für die Dramenstruktur in Molières Ballettkomödie anführen, dass es drei fiktionale und eine realitätsbezogene Kommunikationsperspektive gibt. Der Zuschauer verfolgt bei der Wahl der dramatischen Perspektive das Geschehen aus der Sicht der daran beteiligten Figuren. Er nimmt aus der metadramatischen Perspektive die binnenfiktionale Realitätsverfremdung wahr, die von einem medialen Umschwung begleitet ist. Aus der theatralischen Perspektive betrachtet er die Entfaltung der Geschichte als Spiel. Er konfrontiert auf der lebensweltlichen Perspektive die auf der Bühne dargestellten Normen mit seinen eigenen Verhaltenserwartungen respektive mit seinem Erwartungshorizont. Die zugrunde liegende Geschichte fungiert dabei als Referenzpunkt für die einzelnen Perspektiven. 21 Daraus lässt sich konkludieren, dass sich die Dramenstruktur der Ballettkomödie aus den vier vermittelnden Kommunikationsebenen und der Ebene der Geschichte zusammensetzt. Wie das Weltmodell strukturell im Sujet angelegt ist und wie die Sujethaftigkeit der Texte bestimmt werden kann, wird im Folgenden mit einer gattungstypologisch adaptierten Version des lotmanschen Sujet-Modells erläutert. 2.2 Sujetstruktur Die Ebene der Geschichte spielt im Hinblick auf die Dramenstruktur eine entscheidende Rolle, da sie als Bezugspunkt für die einzelnen Kommunikationsebenen gilt. Vor dem Hintergrund eines Sinngehalts der Geschichte lässt sich das Ereignis beziehungsweise Sujet als ihr thematischer Kern verstehen. Sein Gerüst wird aus dem kulturellen System, aus welchem der literarische Text entspringt, 21 Vgl. Matzat (1982), 17. <?page no="67"?> 66 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie zusammengesetzt und künstlerisch verdichtet respektive modelliert. Der Kultursemiotiker Jurij Lotman geht davon aus, dass das Sujet ein semantisches Feld ist, das in zwei komplementäre Teilmengen gegliedert ist und die binäre Struktur von Kulturmodellen reflektiert. 22 Die Sujethaftigkeit in künstlerischen Texten substanziiert sich immer in ihrem Verhältnis zum kulturellen Leitbild der Norm. Einerseits kann die klassifikatorische Grenzlinie zwischen den beiden Bereichen überschritten werden, sodass Texte als revolutionär bezeichnet werden können, sofern die Grenzziehung missachtet wird und der Held sich im neu betretenen Teilbereich etabliert. Andererseits kann die Grenzlinie respektiert werden, sodass Texte als restitutiv bezeichnet werden können, sofern der Held innerhalb eines Teilbereichs verweilt. 23 Dergestalt stellt die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes ein Ereignis innerhalb der Geschichte dar. 24 Die Anordnung von Ereignissen bildet die übergeordnete Handlungsstruktur, also das Sujet, sodass das Ereignis im Umkehrschluss „die kleinste unzerlegbare Einheit des Sujetaufbaus“ 25 darstellt. Die Entfaltung eines Ereignisses respektive der Übergang über eine semantische Grenzlinie ist somit als Sujet zu bezeichnen. 26 Das Sujet kann entweder assimilierend in Bezug auf die Kohärenz einer alten Ordnung oder akkommodierend in Bezug auf eine neue, noch vage Kohärenz wirken. 27 Daraus ergibt sich, dass die Sujethaftigkeit in verschiedene Abstufungen einzuteilen ist. Die verschiedenen Grade der Sujethaftigkeit sind nach Lotman mit den Termini ‚Ereignis‘ und ‚Metaereignis‘ zu fassen und hängen davon ab, ob das Ereignis reversibel oder irreversibel ist: 28 Der Begriff ‚Ereignis‘ ist hierarchisch als Oberbegriff einzelner Ereignisse zu verstehen und impliziert auf dieser Ebene eine Aktion, die eintritt, wenn eine Figur die Grenze zweier semantischer Räume 29 übertritt, allerdings das System dieser semantischen Räume in der dargestellten Welt dabei „in der Zeit invariant“ 30 bleibt und sich nur der Zustand der Figur verändert, die Weltordnung aber in ihrer Konstanz erhalten bleibt. Für ein Ereignis ist es irrelevant, ob es sich physisch konkret oder innerhalb der Psyche der Figuren zuträgt. Es restituiert folglich die Ausgangssituation 22 Vgl. Lotman (1993), 313. 23 Vgl. Martinez und Scheffel (2009), 142. 24 Vgl. Pfister (2001), 269. 25 Lotman (1993), 330. 26 Vgl. ebd., 332 f. 27 Vgl. Mahler (1998), 3. 28 Vgl. Titzmann (1992), 250. 29 Der semantische Raum ist als „ein semantisch-ideologisches Teilsystem einer dargestellten Welt“ zu verstehen, das durch eine Anzahl von Normen und Werten charakterisiert ist. Vgl. Posner (2003), 3077. 30 Titzmann (1992), 250. <?page no="68"?> 2.2 Sujetstruktur 67 der Handlungswelt in der Komödie. Dagegen liegt ein Metaereignis dann vor, wenn eine Figur die Grenze zweier semantischer Räume überschreitet, allerdings infolgedessen das System dieser semantischen Räume in der dargestellten Welt „selbst in der Zeit transformiert wird“ 31 und sich nicht nur der Zustand der Figur verändert, sondern auch die Weltordnung modifiziert wird. Es revolutioniert folglich die Ausgangssituation der Handlungswelt in der Komödie. In letzter Konsequenz verlieren etablierte Ordnungsgrundsätze der Handlungswelt ihre semantischen Räume. Die in Molières Ballettkomödien existierenden Metaereignisse bedürfen einer weiteren Erklärung. Obschon sich das Weltbild tatsächlich ändert, sind die Reichweite und deren revolutionäre Wirkung beschränkt, fehlt doch das ästhetische Handlungskohärenzkriterium der innerfiktionalen vraisemblance , die in der Klassik auf dem Kompositionsprinzip der raison fußt. So kann beispielsweise die Rechtfertigung für die gezogene semantische Grenzlinie innerhalb der Fiktion fehlen und die Fiktion dennoch sinnfällig erscheinen. Außerdem kann die Handlungswelt verfremdet in einem exotischen respektive märchenhaften Raum-Zeit-Universum dargestellt werden und die schicksalhaften, übermenschlichen Fügungen können nur indirekt mit der höfischen Weltordnung korrespondieren. Es fehlt ein apodiktischer, lebensweltlich legitimierter Maßstab innerhalb der Fiktion, der diese Metaereignisse bedingt mit dem zeitgenössischkulturellen Kontext in Einklang bringen lässt. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen ist hinsichtlich des Grenzgängertums von einem limitierten Metaereignis zu sprechen. Der von Andreas Mahler eruierte frühneuzeitliche Sujetwandel 32 impliziert verschiedene Grade der Sujethaftigkeit literarischer Texte, die zu Molières Zeiten vorwiegend im Theater ausgedrückt werden. Transformation gestaltet sich in der Tragödie weitaus stärker als in der Komödie, da in Letzterer das Konstruktionsprinzip in Zusammenhang mit dem Auftreten des Komischen und seiner Aufhebung steht. 33 In Molières Ballettkomödien greift dieses Restitutionsprinzip nicht mehr ganz. Das dynamische Moment des Sujetumbruchs gibt sich darin deutlich zu erkennen, dass die Aufhebung des Komischen an manchen Stellen nicht mehr stattfindet. Die konfliktive Situation wird einfach überspielt, hinweggespielt. Es manifestieren sich neue Strukturen, die unterschwellig auf ein Metaereignis hinweisen, da der Konflikt am Ende der Komödie nicht aufgelöst, sondern mittels musikalischer und tänzerischer Einlagen fortgetragen wird. Das moralische Substrat wird ästhetisch neutralisiert, seinem moralischen 31 Ebd., 250. 32 Vgl. Mahler (1998), 6. 33 Vgl. Stierle (1976c), 373. <?page no="69"?> 68 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie Duktus enthoben. Die transformierte Handlungswelt besteht weiterhin ohne die Restitution der alten Ordnung fort, allerdings unter dem Deckmantel einer List, die den subversiven Charakter des Sujets maßgeblich mitprägt. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es notwendig, eine dritte Abstufung der Sujethaftigkeit zu etablieren, das Pseudo-Metaereignis, das - so meine Definition - dann vorliegt, wenn eine Figur die Grenze zweier semantischer Räume konspirativ übergeht, allerdings infolgedessen das System dieser semantischen Räume in der dargestellten Welt hypothetisch im Sinne eines metafiktionalen ‚Als-ob‘ „selbst in der Zeit transformiert wird“ und sich der Zustand der Figur verändert. Die Weltordnung wird mit einer List modifiziert und es findet keine heldenhafte Konfliktaustragung, keine Endbereinigung statt. Das Pseudo-Metaereignis revolutioniert folglich die Ausgangssituation der Handlungswelt in der Komödie, obgleich die Reaktion auf die Grenzüberschreitung ausbleibt, da die Geschichte vorzeitig endet und mit Balletttänzen ausklingt. Da die Endsituation im Einklang mit den Intentionen der vermeintlich reüssierenden Figur steht, zeigt dieses Schauspiel ein Potenzial an subversiven Elementen auf. Das Theaterstück divergiert sowohl vom eigentlich herrschenden Weltbild der Handlungswelt in der Komödie als auch von der tatsächlichen Wirklichkeitserfahrung der Zuschauer, sodass ein komplexer Grenzraum zwischen gesellschaftlicher Referenzialität und (meta-)theatraler Fiktion entsteht. Diese Komödien enden im Zeichen des Scheins eines Metaereignisses, sind aber aufgrund der inszenierten Täuschung in ihrer Sujethaftigkeit als Pseudo-Metaereignisse zu bezeichnen. Ein limitiertes Metaereignis grenzt sich schließlich von einem Pseudo-Metaereignis dadurch ab, dass hier eine objektive Weltbildtransformation gelingt und sonach ein höheres revolutionäres Potenzial impliziert ist. In Anbetracht der Tatsache einer Koexistenz von Pseudo-Metaereignissen und limitierten Metaereignissen spiegeln Molières Ballettkomödien gesellschaftliche Umbrüche in ihren Sujethaftigkeitsgraden wider. Für die Erfassung der Sujethaftigkeit der Komödien spielt die Struktur der einzelnen Sujetschichten eine wichtige Rolle, die wiederum im Hinblick auf die Bestimmung der komischen Agone relevant sind. Die erläuterten Zusammenhänge lassen erkennen, dass sich das künstlerische Sujet in verschiedene Schichten unterteilen lässt, da die sujetkonstitutiven Ereignisse einen Knotenpunkt von textexternen und -internen Weltsystemen bilden. Sie werden sowohl auf den lebensweltlichen Kontext hin zugeschrieben als auch bedeutsam im Hinblick auf ihren binnenfiktionalen Handlungsweltkontext. Die Hauptsujetschicht orientiert sich am kulturellen System, da dieses den Maßstab für die Sujethaftigkeit literarischer Texte bildet; sie ist als Grundstruktur zu bezeichnen. Ergänzend treten textspezifische Nebensujetschichten hinzu, die auf dieser Grundstruktur beruhen, sich aber aus dem textinternen Normenverständnis <?page no="70"?> 2.2 Sujetstruktur 69 ergeben, welches sich in Molières Ballettkomödien aufgrund unmoralischer wie auch amoralischer Verhaltensweisen der Figuren in der Handlungswelt konstituiert. Es ist davon auszugehen, dass beide Schichten in einem Interdependenzverhältnis zu den genannten Kommunikationsebenen stehen. 34 Daraus folgt, dass die Sujetebenen als „Ermöglichungsmomente für bestimmte Vermittlungsformen“ 35 begriffen werden. Der thematische Kern der Ballettkomödie entfaltet sich über die verschiedenen Sujetschichten und die Kommunikationsebenen. Doch worin besteht dieser thematische Kern in Molières Ballettkomödien? 2.2.1 Handlungsaspekte und Sujetstruktur Jacques Truchet leitet das Vorwort seines Sammelbandes Thématique de Molière mit einem Wort ein, das die thematische Dimension der Komödien repräsentiert: ‚Polyphonie‘. Es demonstriert die Themenvielfalt sowohl innerhalb eines Theaterstücks als auch in der Werksgänze. Um die Gesamtheit des Komödienuniversums überblicken zu können, sind die Sujetstrukturen der Stücke im Einzelnen zu betrachten. Hierzu erleichtert ein Zitat von Truchet den Einstieg: La thématique moliéresque est toujours strictement hiérarchisée: en chaque pièce, en chaque scène, en chaque tirade, un thème majeur et central draine tous les autres et assure l’unité ; les autres lui sont subordonnés et n’apparaissent qu’en passant, quitte à ce qu’en une autre pièce la hiérarchie se trouve inversée […]. 36 Es handelt sich um eine hierarchisierte Polyphonie und nicht um eine gleichrangige. Diese Erkenntnis lässt sich für mich gemäß den obigen Ausführungen mit den Begriffen ‚Hauptsujetschicht‘ und ‚Nebensujetschichten‘ fassen. Der Terminus ‚Sujet‘ ist dem der ‚Handlung‘ vorzuziehen, da ersterer im Unterschied zur rein dramenstrukturierenden Handlung wegen seiner Korrespondenz mit dem kulturellen System in Bezug zu zeitgenössischen Moral- und Wertevorstellungen steht. Dennoch erscheint es an einigen Stellen der Analyse zum Zwecke einer differenzierten Betrachtung von Belang, beide Begriffe zu verwenden. Eine Engführung der Termini bestimmt den Begriff der ‚Sujetstruktur‘. Manfred Pfister spricht von einer triadischen Struktur der Handlung im Drama, die aus einer Ausgangssituation, dem Veränderungsversuch und der veränderten Situation besteht. 37 Dieser Vorgang ist als Sujetbewegung zu bezeichnen, da sich der thematische Kern unter dramentextstrukturierenden Konditionen ‚bewegt‘. Die Handlungsstruktur lässt sich folglich aus der Sujetstruktur ableiten und 34 Vgl. Matzat (1982), 21. 35 Ebd., 21. 36 Truchet (1985), 8. Meine Hervorhebung. 37 Vgl. Pfister (2001), 269. <?page no="71"?> 70 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie über den Sujetbegriff lassen sich lebensweltliche Moralkonzeptionen auf den Dramentext applizieren. Der Handlungsbegriff zentriert sich auf eine Figur, die in der Haupthandlung der Komödie der komische Held ist. Von ihm und seiner Motivation wird die Handlung in Gang gebracht. Diese Motivation wird mit dem von Henri Bergson geprägten Begriff der idée fixe näher beschrieben. Es handelt sich um eine eigensinnige Idee, die von einer Hauptbühnenfigur unnachgiebig verfolgt wird; selbst wenn deren Ausführung ständig unterbrochen wird, kommt die von ihr besessene Figur immer wieder auf sie zurück. 38 Das handlungsmächtige Subjekt ist der komische Held in Molières Komödien, der seine Ideologie verabsolutiert und maßgeblich das Handlungsgerüst beeinflusst. Das Initiationsereignis des Umschlagens von einer vernünftigen zu einer unvernünftigen Figur wird in den Komödien impliziert, nicht aber thematisiert; eine Thematisierung erfährt lediglich das Ausleben der transformierten Persönlichkeit. Die anderen Bühnenfiguren widersetzen sich der Entfaltung dieser idée fixe und sorgen für einen Konflikt. Besondere Brisanz erhält dieser Konflikt dadurch, dass die komischen Helden Autoritätsfiguren in den Handlungswelten verkörpern, sodass sich die Auseinandersetzung mit den anderen Bühnenfiguren bis zu einer hochgradigen Sujethaftigkeit im Spiel hochschaukeln kann. Aus dieser Konstellation ergibt sich eine Dynamik, anhand derer sich die Komödienhandlung im Sinne eines abstrakten Strukturprinzips als dominant paradigmatische Reihung von ridicula charakterisieren lässt. 39 Ein Moment der Unordnung dient als Ausgangspunkt für die Intrige, die letzten Endes ein Tauziehen um die Macht thematisiert. Molières Komödiensujets stehen im Zeichen eines Machtkampfes, denn dort wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. 40 Bevor es jedoch zu einer Auseinandersetzung zwischen dem komischen Helden und den anderen Figuren kommt, fand bereits eine psychische Konfliktsituation im Inneren des komischen Helden statt, die von einer Grenzüberschreitung gezeichnet ist und deren Resultat in seinem Agieren exteriorisiert wird. Dieses präkomödiale Dilemma prägt die Ausgangslage der Komödienintrige. Der komische Konflikt ist auf die idée fixe zurückzuführen, die wiederum innerpsychisch im komischen Helden verwurzelt ist und ihre Motivation im amourpropre hat. Der Begriff der Eigenliebe ist im Diskursfeld der französischen Moralistik zu verorten, die den interêt als symptomatisch für das menschliche Handeln begreift. Die Eigenliebe steht vor dem gesellschaftlichen Interagieren des Individuums, vor der sozialen Rolle. 41 38 Vgl. Bergson (1983), 142. 39 Vgl. Warning (1976), 302. 40 Vgl. Foucault (1976), 125. 41 Im weiteren Verlauf dieser Untersuchung wird gezielt auf das moralistische Substrat in Molières Ballettkomödien eingegangen und der Charakter der komischen Helden da- <?page no="72"?> 2.2 Sujetstruktur 71 Diese konfliktive Situation im Innern des komischen Helden lässt sich mit Lotmans Sujetmodell erfassen, weil der komische Held innerhalb der Gesellschaft lebt und sich die Konsequenzen seines vom amour-propre gesteuerten Lebens im sozialen Umfeld niederschlagen. Es existieren in diesem Fall zwei semantische Teilräume: Ein Teil ist mit dem Begriff der bienséance , der andere mit seiner Aufhebung, der malséance , zu besetzen. Das Konzept der bienséance ist äußerst vielschichtig, wie Abbé de Bellegarde durch die Pluralisierung des Begriffs kenntlich macht: Les bienséances sont d’une étendue infinie: Le sexe, l’âge, la profession, le caractère, le tems, le lieu, imposent des devoirs differens: Il faut connoître ces differences, & s’y assujettir, si l’on veut se faire au goût du monde: Quelque mérite que vous ayez, si vous vous dispensez d’observer les bienséances, vous passerez pour un homme impoli qui ne sait pas vivre, & qui n’a nul discernement de ce qui peut plaire. 42 In diesem Zusammenhang umfasst der Begriff der bienséance in der französischen Klassik die gesellschaftliche Schicklichkeit, ein Diskurs, der sich aus Liberalität und Weltgewandtheit zusammensetzt und das soziale Wohlverhalten zum Ziel hat; 43 malséance umfasst das Gegenteil, die gesellschaftliche Unschicklichkeit. Die bienséance ist nicht immer von einem moralischen Duktus beherrscht, sondern auch von einem gesellschaftsästhetischen, der an die Vernunft gekoppelt ist: „La bienseance est la raison apparente, & […] la convenance est la raison essentielle. La raison consiste à respecter les bienséances.“ 44 Dadurch, dass der komische Held aus dem Teilbereich der bienséance heraustritt, substituiert er die sozialen Konventionen durch seine Eigensinnigkeiten. Er überschreitet die Grenze der gesellschaftlichen Schicklichkeit und begibt sich in das Feld der malséance . Sein Verhalten charakterisiert ihn in unklassischer Manier als unangepasst, antisozial und arrogant, weil er einzig seiner idée fixe frönt und sich selbst zu einer herausragenden Persönlichkeit macht. Dieses störende Moment wird im fünften Kapitel der aristotelischen Poetik als nichtige Fehlhaltung definiert und gilt als Hauptmerkmal der Komödie: „Das Lächerliche ist nämlich ein mit Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht“ 45 , da der Spleen des komischen Helden nicht zu einer tatsächlichen Weltbildtransformation beiträgt. Selbst wenn die Konsequenzlosigkeit der komischen Handlung betont wird, bleibt oft ein bitterer Nachgeschmack im Handlungsresultat, wird das soziale Gefüge doch empfindraufhin beleuchtet. 42 Bellegarde (1729), 363. 43 Vgl. Matzat (1982), 213. 44 Pauly (1669), 178 und Defaux (1980), 84. 45 Aristoteles (2003), 17. <?page no="73"?> 72 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie lich beeinträchtigt: Die komischen Helden missachten jeglichen Aspekt des art de plaire , der ihnen nicht zum eigenen Vorteil gereicht. Sie sind jene lästigen Zeitgenossen, die Molière in seiner ersten Ballettkomödie Les Fâcheux in den mannigfaltigsten Erscheinungen auf der Bühne vorbeiziehen lässt und zugleich programmatisch für seine weiteren Werke einführt. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das Ausleben der jeweiligen idée fixe in Le Bourgeois gentilhomme und Le Malade imaginaire , zwei Ballettkomödien, in denen die eigentliche Intrige erst in der zweiten Hälfte der Komödie richtig beginnt. Davor versucht Monsieur Jourdain aus dem Bürgerstand hinauszutanzen und Argan sich seiner nicht vorhandenen Krankheiten zu entledigen. Durch die mentale Grenzüberschreitung von einem gesellschaftlich akzeptablen zu einem gesellschaftlich inakzeptablen Verhalten verleiht sich der Held das Attribut ‚komisch‘, denn er lebt nach seiner Verwandlung fortan in dem Irrglauben, dass seine Maßstäbe auch für die Figuren in seiner Umgebung gelten. Die Helden sind lächerlich, weil sie komisch sind. Ihre Naivität macht sie zu komischen Figuren und zum potenziellen Spielball der anderen. 46 Diese innerpsychische Ausfechtung des Helden ist als innerer Agon zu bezeichnen. Da der komische Held den zentralen Handlungsträger in der Ballettkomödie darstellt, baut sich die Intrige auf der Schieflage des von ihm ausgehenden, störenden Moments auf. Letzteres hallt als bedrohliche Resonanz in der Handlungswelt wider und kann eine weitere ereignishafte Handlung generieren, da sein Egoismus und seine Selbstverblendetheit zu einem obstacle für die ihn umgebenden Figuren werden können. Diese müssen die vom komischen Helden verschobene, semantische Grenze überschreiten, wenn sie nicht in ihrer Lebensfreiheit eingeschränkt werden wollen. Besonders wenn es um einen Interessenskonflikt in puncto Liebe geht, kann dieser schnell eskalieren, ist die Liebe doch „die intensivste, den ganzen Menschen mit Leib und Seele und Geist betreffende Erfahrung zwischenmenschlicher Abhängigkeit“ 47 , der Inbegriff des irrationalen Affekts, der sich im rebellischen Verhalten gegen die Autoritätspersonen zeigt und das psychologische Movens der Liebenden ist. Ihre Rebellion ist nicht gegen die Autorität per se gerichtet, sondern gegen das despotische Verhalten dieser. Der irrationale Affekt der Liebenden ist Auslöser und zugleich Wegbereiter für die vernünftige und moralische Leidenschaft. Diese propagiert das molièresche Liebesverständnis, bei welchem jeder Konflikt zwischen Liebe und Moral ausgeschlossen ist und das Handeln der Liebenden nicht grundsätzlich deren Moralität infrage stellt. 48 Dies wird in den Komödien damit begründet, 46 Vgl. Stierle (1976b), 241. 47 Balmer (1981), 93. 48 Vgl. Ansmann (1972), 107. <?page no="74"?> 2.2 Sujetstruktur 73 dass die wahre Liebe durch eine freie Willensentscheidung evoziert wird, die von Geliebtem und Geliebter gefällt wird. Dieses Liebesverständnis zeigt die Vorstellung des mondänen Milieus, das sich von einer antiquierten Liebes- und Ehenorm distanziert, wie Madame de Villedieu diese kritisch in ihrem Schäferroman Carmante hinterfragt: Qu’ai-je affaire de sçavoir comme les anciens faisoient l’amour, quand je veux le faire dans ce siecle ici? Et dequoi me guerit la citation de cinq ou six autheurs qui me sont inconnus, quand il s’agit d’une affaire dont mon cœur seul doit decider? 49 Molière verschreibt sich dem Liebeskonzept der bukolisch-galanten Literatur seines Jahrhunderts, in welcher der voluntative Charakter der Liebe immer wieder betont, die freie Liebe gar als Tugend gefeiert wird. 50 Sein Theater reflektiert eine progressive Ideologie der Zeit, in der die freie Entscheidung zur Liebesheirat eher als ein „commitment to collective goals“ 51 Gehör findet, als im Sinne einer egoistischen Selbsterfüllung zu bewerten ist. In diesem Sinne reüssieren die anderen Figuren, weil sie das Machtverhältnis vorübergehend invertieren und den komischen Helden in ihre Abhängigkeit bringen, ihn unterwerfen oder ihn aus ihrem Leben verbannen. Dieses Unterfangen lässt die Lustspiele unterschiedlich ausgehen, da einerseits beide Parteien verlieren können, wie in George Dandin , oder andererseits die List nicht aufgelöst wird. Diese offene Form impliziert, dass der Kampf nach dem Komödienende weitergehen müsste. Demgemäß kann nur ein Teilerfolg für die Untergebenen verbucht werden, wie in L’Amour médecin. In der Abstraktheit der jeweiligen idée fixe steckt also das Sujetpotenzial, das sich als polyphones manifestiert; das bedeutet, dass das zentrale Komödienthema die fixe Idee des komischen Helden ist, dem weitere textspezifische Themen untergeordnet sind. Für die Bemessung der Sujethaftigkeit der einzelnen Komödien ist Nachstehendes zu beachten: Da der intersubjektive Konflikt der Dramenfiguren den innerpsychischen Konflikt des komischen Helden - der das Weltmodell nicht transformiert - exteriorisiert, ist das Handlungsresultat des komischen Helden auf den Sujethaftigkeitsgrad des Ereignisses beschränkt und ein Metaereignis kann nur von den anderen Dramenfiguren erreicht werden. Wenn diese Figuren durch Tugenden wie Mut und Tatkraft ohne eigennützige Listigkeiten oder arbiträre Machtausübung den obstacle überwinden, können sie das Weltbild positiv modifizieren und sich selbst zu wahrhaften Helden machen. 49 Villedieu (1720 [1668]), 346. 50 „L’Amour, quoy que le commun die, / N’a rien qu’on ne doiue estimer, / Ce n’est pas une maladie, / C’est une vertu que d’aimer; / Ce feu n’est point illegitime, / Il se peut allumer sans crime, / Et ne doit estre condamné/ Que quand on le voit prophané.“ Sercy (1660), 147. 51 Gaines (1984), 189. <?page no="75"?> 74 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie Zudem reüssieren sie mit einer metafiktionalen ‚Als-ob‘-Weltbildtransformation nach den Wünschen ihrer Opponenten weniger heldenhaft, wobei in diesem Zusammenhang von einem Pseudo-Metaereignis zu sprechen ist. Aus dem Gesagten folgt, dass der Hauptsujetschicht eine Protosujetschicht vorangeht, die einen Sachverhalt vertritt, der sich vor der eigentlichen Komödiengeschichte ereignet; zu Letzterer ist nur das Ausleben der idée fixe und die sich daraus ergebende Intrige zu zählen. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird daher die den inneren Agon konstituierende Protosujetschicht mit der eingeführten Opposition bienséance - malséance erfasst. Gemäß Alphonse Paulys Definition „la bienseance est la raison apparente“ 52 kann die bienséance die raison sichtbar machen. Mit anderen Worten ausgedrückt: Der innere Agon kann nach außen getragen werden und die Hauptsujetschicht als Opposition zwischen raison - déraison bestimmt werden. Diese tiefenpsychologische 53 Lesart hat zur Folge, dass innerer und äußerer Agon miteinander übereinstimmen und eine Koinzidenz zwischen Signifikat und Signifikant im Handeln des komischen Helden ausfindig zu machen ist. Diese uneingeschränkte Kongruenz von Innen und Außen entspricht nicht den klassischen Umgangsformen, die im Zeichen einer Intransparenz der Zeichen stehen, einer Dissimulation der Handlungsabsicht, sodass in Molières Ballettkomödien in der agonalen Struktur das gesellschaftliche Stigma des Außenseiters erfahrbar gemacht wird. Die Sujetstruktur in Molières Dramentexten ist schließlich von einer prototypischen Folie bestimmt, welche die textinternen Normen in ihrer von der zeitgenössischen Norm abweichenden Gesinnung erklärt und mal direkter, mal indirekter zum Vorschein kommen kann. Die Protosujetschicht manifestiert sich in der Komödiengeschichte in der sich auf den kulturell-zeitgenössischen Kontext beziehenden Hauptsujetschicht raison - déraison , die aufgrund ihrer lebensweltlichen Kontextsensitivität auch als textextern zu bezeichnen ist. Auf der Hauptsujetschicht basiert die textinterne Nebensujetschicht, die innerhalb der déraison anzusiedeln ist und durch das Oppositionspaar ruse - bêtise bestimmt wird . Für die ballettkomödientypische Intermedienstruktur ergibt sich eine weitere textinterne Sujetschicht, die innerhalb der folie stattfindet. Diese ist als Erweiterung der Ebene raison - déraison zu begreifen und fasst die Oppositionspaare réalité - fiction zusammen. 52 Pauly (1669), 178. 53 Der Begriff ‚tiefenpsychologisch‘ ist im moralistischen Wissensfeld zu verorten. Eine begriffliche Schnittstelle mit der Psychologie ist sinnvoll, da Tiefenpsychologie in der Regel in zuletzt genannter Disziplin auch versucht, über die seelischen Vorgänge eine Erklärung für das Betragen und Erleben der Menschen zu erlangen. Ferner sehen Josef Rattner und Gerhard Danzer im Moralisten La Rochefoucauld den Ahnherren der Tiefenpsychologie. Vgl. Rattner und Danzer (2006), 7. <?page no="76"?> 2.2 Sujetstruktur 75 2.2.2 Raison und déraison An der Auseinandersetzung zwischen dem komischen Helden und den anderen Figuren offenbaren sich die unterschiedlichen moralischen und sozialen Weltanschauungen innerhalb der Handlungswelt, die auf die Opposition von raison und déraison zurückzuführen sind. Molière definiert in Le Misanthrope sein Verständnis einer vollkommenen Vernunft, die sich durch eine aurea mediocritas auszeichnet, durch eine kompromissbereite Mäßigung des Subjekts, das, im Sinne der gesellschaftlichen Ausrichtung des Begriffs, jegliche Extreme meiden sollte. So sagt hier Philinte: „La parfaite Raison fuit toute extrémité, / Et veut que l’on soit sage avec sobriété.“ ( LM , 653) Die raison ist einer der höchsten Werte der französischen Gesellschaft der Klassik, Gradmesser und Garant sozialen Anstandes und respektablen Geschmacks. Der positiv besetzte Wert orientiert sich an den Wertvorstellungen von la cour et la ville , also am Wertesystem der führenden Gesellschaftsschicht, den honnêtes gens : Die Sittenvorschrift für den honnête homme schrieb vor, sich den bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Mächten zu unterwerfen; im Bestehenden und Gefügten seinen richtigen Platz zu erkennen, seine Haltung mit diesem Platz in volle Übereinstimmung zu bringen ist das ethisch-ästhetische Ideal , das sich gerade damals bildet […]. 54 Dieses ethisch-ästhetische Ideal korreliert mit der bienséance , der Sittlichkeit und Weltgewandtheit, sodass der Begriff der raison den vernünftigen Figuren aufgrund ihres gesellschaftsangepassten Verhaltens in der Komödie zugeschrieben werden muss. Dieser vernunftbetonten Seite lassen sich die Räsoneure zuordnen, die zumeist Figuren in den Handlungswelten sind und häufig in direkter Beziehung zum komischen Helden stehen. Zu ihnen zählen beispielsweise Cléante in Le Bourgeois gentilhomme und Béralde in Le Malade imaginaire . 55 Sie können zwischen der gelegentlichen Partizipation an der Intrige um den Querdenker und der Rolle eines externen Kommentators oszillieren, 56 wie Cléante Hauptbestandteil des Konflikts sein oder wie Béralde von außen das Treiben beurteilen. Im Allgemeinen repräsentieren die Räsoneure die gültigen 54 Auerbach (1967), 213. Meine Hervorhebung. 55 Roger W. Herzel spricht von weiteren Räsoneuren, die jedoch weniger stark im Sinne des Begriffs als solche entwickelt sind. Hierzu zählen in den Ballettkomödien zum Beispiel Géronimo in Le Mariage forcé und Madame Jourdain in Le Bourgeois gentilhomme. Beide ähneln in ihrem Betragen diesem Archetyp, aber sie unterscheiden sich in der Tatsache, dass sie eine soziale Gruppe repräsentieren, mit welcher sich das Publikum nicht identifizieren konnte. Vgl. Herzel (1975), 564-575. 56 Vgl. Dandrey (2002), 204. <?page no="77"?> 76 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie Zivilisationsregeln und die Werte der Zeit; sie etablieren „the play’s system of values“ 57 , sodass sich das Publikum mit ihnen identifizieren kann und sich eine starke Relation zwischen ihm und ihnen herauskristallisiert. Ferner tragen sie in ihrer dramenästhetischen Funktion als Kontrastfigur zum komischen Helden auch zu einer den Dramentext strukturierenden Symmetrie bei. Sie kontrastieren mit ihrem Diskurs der Mäßigung mit den verrückten Machtinstanzen und schmälern deren Autorität, die im Zeichen der déraison steht. Ihre Rollengesinnung spiegelt Molières Ethik wider, die vom folgenden triadischen Werteideal bestimmt ist: la probité - die exzellente Moral -, le bon sens naturel - der exzellente Intellekt - und l’honnêteté - die exzellente Soziabilität. 58 Die exzellente Moral impliziert ein an der bienséance orientiertes Verhalten, das in einer korrekten Erfüllung des gängigen mondänen Moralverständnisses liegt. Der exzellente Intellekt reflektiert das Urteil des Hofes wie auch der Stadt und erklärt das Bündnis dieser beiden Zuschauergruppen. Ferner legitimiert er den Erfolg Molières durch die Referenz auf die „esthétique galante“ 59 , die im Zeichen des zeitgenössischen Ratio- Verständnisses steht. Der exzellenten Soziabilität werden häufig die Attribute überständisch, apolitisch, areligiös und unheroisch angehängt. Ihre Vertreter sollen sich ihres Standes bewusst, gesellig und allseitig gebildet sein, aber keine fachspezialisierten Experten verkörpern. 60 Der Räsoneur ist vordergründig der vernünftigste Handlungsträger in seiner ideologischen Grundausrichtung, die er aber im Kontakt mit dem komischen Helden wiederholt modifiziert, da er mit den Schwächeren sympathisiert und sich nicht selten mit ihnen gegen die Autoritäten verbündet. Dies passiert, wenn er sich dem Ränkespiel um den komischen Helden anschließt und ihn mit der gleichen Waffe, der der déraison , unschädlich macht. Mit diesem Verhalten gestaltet Molière die Beurteilung der raisonneurs vonseiten des Publikums eher komplexer als einfacher. Ist keine Figur mit dieser speziellen Funktion binnenfiktional ausfindig zu machen, tritt der Zuschauer in Erscheinung. In diesem Fall findet das Bühnenspektakel sein vernunftbehaftetes Gegengewicht im Publikum, das sodann als Räsoneurinstanz in die Fiktion eingebunden wird. Dies ist möglich, weil es eine Adressateninstanz bildet. In diesem Kontext unterscheidet sie sich allerdings insofern von der lebensweltlichen Einstellung zum Geschehen, als sie das ‚Als-ob‘ des Rollenspiels der Schauspieler akzeptiert. 61 Sie kann dem Anspruch des Theaters im Sinne einer Identifikation mit den Figuren nur unter negativen Vorzeichen nachkommen. 57 Herzel (1975), 564. 58 Vgl. Dandrey (2002), 146. 59 Ebd., 40. 60 Vgl. Auerbach (1951), 12-50. 61 Vgl. Matzat (1982), 15. <?page no="78"?> 2.2 Sujetstruktur 77 Der komische Held hingegen vertritt eine altmodische Weltsicht, die gegen die honnêteté verstößt und ihn zum gesellschaftlichen Außenseiter degradiert. Er positioniert sich diametral zur molièreschen Ethik, zieht er doch ein autokratisches, egomanisches Verhalten dem sozialen vor. Im Grunde scheitert er, weil sich sein imaginiertes Wertesystem zwar auf die Handlungswelt projizieren lässt, diese aber nicht grundlegend verändert. In den Ballettkomödien zählen zu diesen peripheren Gesellschaftsgruppen neben den komischen Helden Vertreter des Schwertadels und der altfeudalen Aristokratie, Bürger, Preziöse, Künstler, Ärzte, Astrologen, Juristen, Philosophen, Parasiten, Pedanten und Fremde. Die weiter gespannte déraison umfasst alle Vertreter, die sich nicht zur Elitegesellschaft von la cour et la ville zählen oder ihr kritisch gesinnt sind. Sie alle wirken lächerlich im Kontrast zu den Vertretern der raison . Ferner spiegelt die gewählte Opposition den Zeitgeist der klassischen Epoche wider, welche im Gegensatz zur Renaissance eine strenge Grenzziehung zwischen Vernunft und Unvernunft prägt: „Une ligne de partage est tracée qui va bientôt rendre impossible l’expérience si familière à la Renaissance d’une Raison déraisonnable, d’une raisonnable Déraison.“ 62 Die Nähe dieser Sujetschicht zum zeitgenössischen Weltbild lässt es angemessen erscheinen, die Weltanschauungen auf die mores der Epoche zu beziehen. Von dieser Warte aus gesehen erhält die raison das Attribut ‚moralisch‘, weil sich ihre Vertreter an die gängige Moral der sozialen Elite halten. 63 Im Umkehrschluss handeln die Opponenten unmoralisch, also nicht so, wie es gängige Sitte und Moral fordern. Matzat sieht einerseits - aufgrund der moralischen Dimension dieser Opposition - eine Kongruenz mit der dramatischen Rezeptionsperspektive, weil sie die Zuschauer veranlasst, durch Illusion und Identifikation das dargestellte Geschehen ernst zu nehmen, und andererseits - aufgrund der sozialen Dimension - eine Kongruenz mit der lebensweltlichen Perspektive, da sie die Zuschauer veranlasst, einen lebensweltlichen Bezug herzustellen, woraus letztlich das sozialkritische Moment der Ballettkomödien generiert wird. 64 62 Foucault (1964), 58. 63 Da Moral in der klassischen Epoche an der gesellschaftlichen Schicklichkeit gemessen wird, die nicht immer christlichen und humanistischen Tugenden entspricht, bietet sie eine satirische Angriffsfläche für Molière, dessen ethische Vorstellungen nicht immer mit der zeitgenössische Moral koinzidieren. 64 Vgl. Matzat (1982), 219 f. <?page no="79"?> 78 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie 2.2.3 Ruse und bêtise Es gibt auch Handlungsschemata, die außerhalb gesellschaftlicher Normen stehen und daher zur textinternen Sujetschicht gezählt werden. Sie treten auf, wenn beide Parteien unvernünftig handeln und sich jenseits der Wertmaßstäbe von la cour et la ville befinden. Im Gegensatz zur Hauptsujetschicht ist eine gewisse Gleichwertigkeit zwischen den Kontrahenten auszumachen, denn beide besitzen aufgrund ihrer Flegelhaftigkeit, Kurzsichtigkeit und Einfältigkeit das Attribut ‚unvernünftig‘ und sind innerhalb der Gruppe der déraison zu situieren. Die farceske 65 Opposition zwischen ruse und bêtise 66 stellt eine unmoralische Infragestellung der betroffenen Normen dar; sie enthält keine moralische Legitimation, die einer Partei recht gibt. Unmoralisch ist sie deshalb, weil sich beide Parteien entgegen der gängigen Sitten und Moral verhalten. Dennoch bewegt sich dieser Agon zwischen Schelm und Narr auch immer auf der Achse von raison und déraison , die ein gewisses Normensubstrat liefert, das nie ganz ausgeblendet werden kann. Diese Szenen zeichnen sich über ihre Sujetsimilarität zur Hauptsujetschicht aus, indem sie zumeist den thematischen Kern der Komödie in ein Milieu der Unvernunft versetzen und in einem parodistischen Wechselspiel von ruse und bêtise entfalten. Der Schelm versucht durch seine List, die Norm mit der Anti-Norm zu verbinden, was ihm nur deshalb gelingt, weil der Unsinn des Narren, der an der Norm festhält, der komischen Normaufhebung selbst zum Opfer fällt. 67 Dem Begriff der ruse entspricht der listige Angreifer, dem der bêtise die angegriffene Autoritätsperson. Besonders deutlich wird diese zweite Sujetschicht im Wettstreit der Dienerfiguren untereinander wahrgenommen. Hierbei wird die Nichtzugehörigkeit zu den honnêtes gens zum Maßstab für die moralische Dimension, denn sie können nicht mit den gleichen moralischen Maßstäben wie ihre Herren gemessen werden. Sie repräsentieren häufig eine hypertrophe Komisierung und Pluralisierung des Rollenspiels. Zur textinternen Sujetschicht sind nicht nur die unteren sozialen Schichten wie Diener, Zigeuner, Spieler, Fremdlinge, Schäfer und Sklaven zu zählen, sondern auch ehemalige Räsoneure, die im Kontakt mit den Autoritäten eine komische Läuterung erfuhren und sich in ihrer neuen Gesinnung ebenfalls dem unvernünftigen Treiben verschreiben. Diese Sujetschicht ist durch Wortgefechte, Quiproquo, Pantomimen, Spiel im Spiel, Karneval, Musik- und Tanzdarstellungen strukturiert, die das Bühnengeschehen im dynamischen Spiel über den Code der theatralischen Kommunikationsebene kommuniziert. Der Schauspie- 65 Der Begriff ‚farcesk‘ bietet sich für diesen Agon an, denn traditionell konstituiert eine einfache Intrige die Farce, wobei einer lächerlichen Figur ein Streich gespielt wird. 66 Vgl. Matzat (1982), 215. 67 Vgl. ebd., 239. <?page no="80"?> 2.2 Sujetstruktur 79 ler spielt sich in der Improvisation des Spiels häufig aus seiner Rolle und stellt sein berufliches Können unter Beweis. Die textinterne Sujetschicht sorgt für einen hohen Unterhaltungswert, weil sie dem Zuschauer das Spiel als solches zu erkennen gibt. Sie forciert die theatralische Perspektive und aktualisiert die Theatersituation. Gemäß dieser Klassifikation gilt es zwischen den beiden sich überlagernden Sujetschichten zu differenzieren, welche die Komödienhandlung bereits äußerst komplex erscheinen lassen. Der satirische Gestus der Ballettkomödie entspringt der moralisch besetzten Opposition von raison und déraison . Das dramatische Substrat der déraison wird in der theatralischen Darstellung vom unmoralischen Gegensatzkonstrukt ruse - bêtise bestimmt und generiert auf der textinternen Sujetschicht einen farcesken Agon. Während die textexterne Sujetschicht dazu beiträgt, die moralische Dimension der Handlungswelt zu erfahren, lädt die betonte Indirektheit zum kulturellen Kontext der textinternen Sujetschicht den Zuschauer dazu ein, die Leichtigkeit des Spiels zu genießen. Demnach hängt die Bedeutsamkeit des Konfliktes gemeinhin von der Zuschauerhaltung gegenüber dem repräsentierten Geschehen ab. 68 2.2.4 Réalité und fiction Die zweite textinterne Sujetschicht ist als Erweiterung zur déraison zu fassen und subsumiert die Komponenten réalité - fiction . Zur Sujetschicht der folie sind Betroffene zu zählen, die im Vergleich zur Sujetschicht der déraison eine gesteigerte Konventionendivergenz und einen gesteigerten Verlust des Realitätssinns aufweisen. Die Übergänge zwischen déraison und folie sind fließend, denn: „[L]a folie commence là où se trouble et s’obscurcit le rapport de l’homme à la vérité […].“ 69 Die folie -Sujetschicht nähert sich am stärksten von allen Sujetschichten der Protosujetschicht an und tritt nur in den Intermedien auf. Der komische Held rückt mithin ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sein interner Konflikt zwischen Sein und Sein-Wollen wird in diesen Intermezzi amoralisch exteriorisiert, seine Schimären zur Theaterrealität erhoben, sodass im Zwischenspiel kein Realitätsbezug zur Sujetrealität der Komödie und somit auch zum lebensweltlichen Kontext mehr hergestellt werden kann. Das Brisante daran ist, dass das Interludium aber als solches angelegt ist, also eine an die Komödienstruktur gebundene Sujetstruktur hat. Das häufig von den Nebenfiguren inszenierte Intrigenspiel versteht der komische Held als Bestätigung seiner idée fixe , sodass er innerhalb dieser 68 Vgl. ebd., 219. 69 Foucault (1964), 259. <?page no="81"?> 80 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie Enthebung Zuspruch in seiner Handlungsmotivation erfährt. Die Sujetrealität der Handlungswelt der Komödie tritt in Opposition zur Sujetrealität des Interludiums, was dazu führt, dass das Intermedium als Metafiktion vom Zuschauer wahrgenommen wird. Diese Enthebung epistemologischer Gesetze in der Metafiktion der Fiktion impliziert eine Loslösung von der Moral, da in dieser Transzendierung ins Unwirkliche keine Relation mehr zum Moralbegriff erwägenswert ist. Die Betroffenen sind aus der Mitte ihrer sozialen Umwelt im buchstäblichen Sinne ‚ver-rückt‘; sie können nicht mehr zwischen der inneren und äußeren Wirklichkeit unterscheiden. Damit steht nicht nur die Sujetschicht im Zeichen einer extrarationalen folie , sondern das gesamte Zwischenspiel . Diese Sujetschicht ist binär verzweigt, wobei die Seite der réalité den realitätsbezogenen Figuren zugesprochen wird (respektive der realistischen Ausrichtung der Handlungswelt in der Komödie) und die der fiction dem komischen Helden entspricht (respektive der potenzierten Fiktionalität der Handlungswelt im Interludium). Handelt es sich dabei um ein transzendierendes Spiel im Spiel im Sinne einer Realitätsenthebung, impliziert der Begriff réalité eine unvernünftige Handlungsweise der Handelnden, die aber den Realitätsbezug zur Handlungswelt im Sinne eines Spaßes um die Autoritätsfigur als solchen noch erkennen lässt. Dahingegen ist die Verhaltensweise des komischen Helden über den Begriff der fiction zu erfassen, zielt seine Handlungsmotivation doch auf das Ausleben seiner idée fixe ab, die nur im Modus der Fiktion in die Handlungswelt der Komödie Einzug halten kann. Mithin impliziert der Terminus einen Moment der Unwirklichkeit, dem der komische Held zum Opfer fällt. Die Nebenfiguren überblicken die unrealistischen Elemente ihres Intrigenspiels um den komischen Helden, indem sie seine Illusion durch Transformationsszenen, begleitet von Musik und Tanz, inszenieren. Ihr Wissen um das arrangierte Unwahre legitimiert den Ausdruck réalité , obzwar diese im Spiel kaum erkennbar ist und abgesehen vom spärlichen Getuschel der Drahtzieher komplett beseitigt sowie im Sinne des merveilleux zu verstehen ist. Da aber die Idee der Ränkeschmiede ebenfalls auf einem amoralischen und somit unrealistischen Boden fußt, wird die fiction erst im Kontakt mit der wohlwollenden réalité zur folie subsumiert und ermöglicht . Diese Opposition kann ebenfalls einen Agon generieren, den Intermezzo-Agon, der indirekt zustande kommt: Obschon die réalité -Fraktion immer im Wissen um ihre figurale Stellvertreterfunktion ist, wird der aggressive Charakter dieses Agons nivelliert, indem die beiden Entitäten zusammenschmelzen und die Verrücktheit des Spiels amoralisch transzendiert wird. Die folie entsteht in diesem Kontext also, wenn das Imaginäre Fiktives auf die Realität projiziert, diese vom Haupthandlungsträger durch die Brille seiner Fiktion als die tatsächliche Realität angesehen wird und diese scheinbar <?page no="82"?> 2.2 Sujetstruktur 81 modifiziert werden kann; 70 sie stellt einen Endpunkt dar, ein „déréglement entier de l’imagination“ 71 , eine vollständige Verzerrung der Repräsentation: „[P]rendre sérieusement le jeu pour la réalité est le signale de la déraison. […] Elle s’appelle […] folie lorsqu’elle est totalement incontrôlée […].“ 72 Das kulturhistorische Substrat dieser Opposition liefert Foucault, wenn er den Wahnsinn als eines der konstanten Themen des klassischen Zeitalters in Frankreich bezeichnet und ihn aufgrund seiner onirischen Eigenschaft als Delirium spezifiziert. 73 Unter dem Begriff der folie werden bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestimmte Verhaltensweisen und Denkmuster festgelegt, die nicht mit der akzeptierten moralischen und sozialen Norm koinzidieren und somit unvernünftig sind. Die Wurzel dieses Zustandes liegt in der idée fixe des komischen Helden, denn seine Individualideologie weist ihm den Weg zum Wahnsinn. Das Scheitern an der Wirklichkeit treibt ihn in die folie , sodass man bei dieser Exteriorisierungswirkung rückkoppelnd auch von einer idée folle sprechen kann, einem Wahnverständnis, das sich als Kontrapunkt zur Eintrachtsideologie des vergesellschafteten Menschen in seiner Außenseiterrolle manifestiert. Die Koinzidenz von Realität und Fiktion geht im Fall einer Intrigenweiterführung mit einem Zusammenfall von Komödie und Intermezzo in puncto Dramen- und Sujetstruktur einher, sodass der anfängliche Sujetrealitätsbruch nicht mehr wahrgenommen wird und sich die metadramatische Perspektive in Auflösung befindet und auf eine theatralische Finalaktwahrnehmung zusteuert: Die folie - Sujetschicht ruft eine dominant metadramatische Perspektive beim Zuschauer hervor, geht aber nach der schelmischen Homogenisierung der unterschiedlichen Weltauffassungen und der Zunahme außersprachlicher Mediatisierung des Geschehens in eine theatralische Perspektive über. Bisweilen können auch Nebenfiguren in den Zwischenspielen der folie anheimfallen, wenn sie in den Intermezzi mit Fabelwesen oder anthropomorphisierten Gegenständen kommunizieren. Sie werden nicht zu sozialen Außenseitern, da alle Figuren der Szenen im Einklang mit dem Empirisch-Anormalen stehen. Diese Zwischenspiele sind immer von einem übernatürlichen Aspekt geprägt, worin sie sich von den sozial unrealistischen Transformationsszenen der komischen Helden unterscheiden und dergestalt auch nicht mehr den Kriterien der vraisemblance entsprechen. Dennoch sorgen sie für einen hohen Unterhaltungswert, denn: 70 Der mögliche Modifikationsaspekt der Realität trifft nur für die komischen Helden zu, nicht für die Nebenfiguren in den Zwischenspielen, da diese nur temporär der folie erliegen. 71 Nicole (1970 [1671]), 90. 72 Forestier (1981), 274. 73 Vgl. Foucault (1964), 255-258. <?page no="83"?> 82 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie Si l’on court à tous les ouvrages Comiques, ce pour ce que l’on y trouve tousiours quelque chose qui fait rire, & que ce qui en est meschant, & mesme hors de la vrayesemblance, est quelquefois ce qui divertit le plus […]. 74 Den involvierten Nebenfiguren ist in Anbetracht des Intermezzo-Agons das Attribut réalité zu verleihen, weil sie im Gegensatz zu ihren Gesprächspartnern - denen die fiction zuteilwird - in der Realität der Handlungswelt der Komödie existieren und sich dort realitätskonform betragen. Sie handeln in den Begegnungsszenen ähnlich wie der komische Held, indem sie mit einer Natürlichkeit wider den Duktus der Komödienwirklichkeit agieren; gleichwohl wird ihnen keine Intrige gespielt, da sie nur kleinere Nebenhandlungen hervorbringen, die ein temporäres Aussetzen der Sujetrealität der Komödie im Sinne einer episodischen Interruption ohne dauerhaften Modifikationsanspruch induzieren. Der Intermezzo-Agon erfährt in diesen Szenen im Gegensatz zu den auf soziale Unwirklichkeit angelegten Zwischenspielen eine unmittelbare Austragung, die an den farcesken Agon erinnert, jedoch im Modus des Übernatürlichen realisiert wird. Die Zuschauer empfinden diesen Ausbruch aus der Handlungswelt als irritierend, nicht aber als störend, weil es sich dabei um Harlekin - Figuren handelt, die in der Handlungswelt den Narren vertreten und außerdem keine Autoritätspersonen darstellen. 75 Dennoch heben sich solche Zwischenspiele über ihre Fiktion bewusst von der auf Empirie angelegten Handlungswelt ab, obschon eine enge Anbindung beispielsweise über das gleiche Figurenpersonal oder die Sujetsimilarität erfolgt. Hierbei dominiert die metadramatische Kommunikationsebene, welche die Zuschauer in eine Traumwelt hineinmanövriert. Fazit Die Sujetstruktur der Ballettkomödie ist wie folgt beschaffen: Sie ist von einer prototypischen Folie bestimmt, die sich in der Komödiengeschichte auf der Ebene der textexternen Hauptsujetschicht raison - déraison äußert. Auf ihr basieren zwei textinterne Nebensujetschichten. Erstere ist innerhalb der déraison anzusiedeln und durch das Oppositionspaar ruse - bêtise determiniert . Für die ballettkomödientypische Intermedienstruktur ergibt sich eine weitere textinterne Sujetschicht, die innerhalb der folie stattfindet. Letztere ist als Erweiterung der Ebene raison - déraison zu begreifen und fasst die Oppositionspaare réalité - fic- 74 Donneau de Vizé (1665), 70. 75 Einen Sonderfall stellt Sganarelle in Le Mariage forcé dar, da er als einziger komischer Held mit Übernatürlichem in Kontakt kommt, welches sich nicht wie in Les Amants magnifiques als inszeniertes Trugspiel entlarvt. Dies ist damit erklärbar, dass er wie die Harlekin-Figuren den Narren in der Komödie vertritt und keine Metamorphose wie Monsieur Jourdain und Argan durchlebt. <?page no="84"?> 2.2 Sujetstruktur 83 tion zusammen. Die einzelnen Oppositionspaare generieren spezifische Agone, die begrifflich wie folgt klassifiziert wurden: komischer Agon, farcesker Agon und Intermezzo-Agon. Diese prägen die Sujetstruktur der Ballettkomödien, sodass ihnen allgemein eine agonale Struktur beizumessen ist. Grafische Darstellung der Sujetstrukturen <?page no="85"?> 84 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien Das sich aus der Dramen- und Sujetstruktur konstituierende Strukturmodell versucht, die diversen Sujetschichten des Dodekamerons aufzuzeigen und so die Wesensart des Phänomens Komik im soziokulturellen Verständnis der Klassik in einer textnahen Lektüre darzulegen. Zudem soll der Rezeption der komischen Agonik im Zuschauerlachen nachgegangen werden, indem die komischen Divergenzen im Zerrspiegel der Fiktion auf ihr lebenswirkliches Substrat in einem funktionshistorischen Ausblick analysiert werden. 3.1 Die moralische Weltanschauung der wahren Helden 3.1.1 Le Bourgeois gentilhomme In Le Bourgeois gentilhomme konstituiert sich die fixe Idee aus dem von Monsieur Jourdain absolut gesetzten Wunsch, ein gentilhomme zu werden. 1 Im Zuge dieser Bemühungen widerstrebt es dem Bourgeois, einen Schwiegersohn aus unadeligen Kreisen zu akzeptieren, sodass er den Anwärter Cléonte trotz seiner hervorragenden menschlichen Qualitäten, die auf die exzellente Erfüllung des Wertekatalogs der honnêteté zurückzuführen sind, zurückweist: M onsieur J ourdain : Avant que de vous rendre réponse, Monsieur, je vous prie de me dire si vous êtes Gentilhomme. C léonte : Monsieur, la plupart des Gens sur cette question n’hésitent pas beaucoup. On tranche le mot aisément. Ce nom ne fait aucun scrupule à prendre, et l’usage aujourd’hui semble en autoriser le vol. Pour moi, je vous l’avoue, j’ai les sentiments sur cette manière un peu plus délicats. Je trouve que toute imposture est indigne d’un honnête Homme, et qu’il y a de la lâcheté à déguiser ce que le Ciel nous a fait naître; à se parer aux yeux du monde d’un Titre dérobé; à se vouloir donner pour ce qu’on n’est pas. Je suis né de Parents, sans doute, qui ont tenu des Charges honorables. Je me suis acquis dans les Armes l’honneur de six ans de services, et je me trouve assez de bien pour tenir dans le Monde un rang assez passable: mais avec tout cela je ne veux 1 Dieser Wunsch ist vor dem historischen Hintergrund der Ballettkomödie unerreichbar, da man als Edelmann geboren wird und dies nicht ohne Weiteres werden kann, denn: „Il n’était pas imaginable que, par un coup de baguette magique, le roi transformât un bourgeois en gentilhomme […].“ Constant (1994), 100. Monsieur Jourdain könnte höchstens geadelt oder der noblesse de robe angehörig werden. <?page no="86"?> 3.1 Die moralische Weltanschauung 85 point me donner un nom où d’autres en ma place croiraient pouvoir prétendre; et je vous dirai franchement que je ne suis point Gentilhomme. M onsieur J ourdain : Touchez là, Monsieur. Ma Fille n’est pas pour vous. C léonte : Comment? M onsieur J ourdain : Vous n’êtes point Gentilhomme, vous n’aurez pas ma fille. (BG, 308) Mit seinen lapidaren und ungeschliffenen Erwiderungen degradiert sich Monsieur Jourdain selbst, was sich in der quantitativen Asymmetrie des Dialoges manifestiert; er zeigt mit diesem Verhalten, dass er höflichen Umgangsformen und kultivierter Konversationskunst entsagt und mittels seiner Unbeholfenheit weit vom Adelstand entfernt ist. Mit Ironie invertiert er den sonst zur Besiegelung einer Übereinkunft zweier Parteien gebräuchlichen Ausdruck „Touchez là“ und macht in unflätiger Art und Weise seine Aversion gegenüber Cléontes Ersuchen deutlich. Im Gegensatz zu Monsieur Jourdains Schroffheit beeindruckt Cléonte sowohl inhaltlich als auch formal mit seinem Diskurs, der ihn zum honnête homme stilisiert: Er ist ein homme qui se connaît , der sehr wohl zwischen Herkunft - „ce que le Ciel nous a fait naître“ - und sozialer Stellung - „un rang assez passable“ - differenzieren kann und der klassischen Ständesicherung im Sinne einer hierarchischen Subjetdisziplinierung nachkommt. Er bezieht sein Selbstbewusstsein aus der Zugehörigkeit zum überständisch anerkannten Persönlichkeitsideal der honnêteté und akzeptiert seinen gesellschaftlichen Stand. Der junge Mann zeigt, dass man auch ohne blaublütige Herkunft eine gewisse Ehrenhaftigkeit und soziale Stellung erwerben kann, wenn man willens ist, auf seine innere und äußere Kultiviertheit zu achten; 2 er aktualisiert damit die lebensweltliche Kommunikationsebene. Das Bekenntnis Cléontes, kein gentilhomme zu sein, gibt Aufschluss über das Verständnis seiner selbst empfundenen Wertigkeit, die im Einklang mit der kollektiven bienséance und damit auch mit der raison steht. Neben dem inhaltlichen Gehalt seiner Aussage überzeugt der junge Mann auch auf rhetorischer Ebene, die ebenso zur Beherrschung der sozialen Schicklichkeit gehört: Cléonte beweist das Vermögen, sich in dieser unangenehmen Situation angemessen und räsoniert auszudrücken. Er demonstriert seinen art de conversation , da er Form und Respekt vor seinem Kontrahenten wahrt, zugleich aber geradsinnig Stellung gegen jede Art von Hochstapelei und Unaufrichtigkeit bezieht. Er greift seinen Schwiegervater in spe mit unpersönlichen Formulierungen wie „la plupart des Gens“ gekonnt an, weil jener diesen schändlichen „usage“ verkörpert. Seine Antwort ist eine zeitgemäße Definition der honnêteté und verkörpert die Ideale der jungen Generation, die mit den altmodischen An- 2 Vgl. Auerbach (1951), 38. <?page no="87"?> 86 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien sichten Monsieur Jourdains kollidieren und schließlich dazu führen, dass sich der Räsoneur im Laufe der Handlung dem unvernünftigen Handeln der übrigen Figuren anschließt und mit einer List Lucile heiratet. Diese Szene erlaubt eine metapoetische Lesart, die programmatisch für alle Ballettkomödien Gültigkeit beansprucht, denn sie verdeutlicht grundsätzliche Rückschlüsse auf die Opposition von raison und déraison , die den komischen Agon bestimmt: „L’univers de [la] comédie a pour norme l’ art de plaire . Tous les personnages se définissent en fonction de cette norme […].“ 3 In diesem Sinne definiert sich Cléonte als gesellschaftskonform und der pater familias stellt die negative Abweichung vom gesellschaftlichen Lot dar, denn er verstößt gegen den herrschenden Wertekanon seiner Zeit. 4 Das komische Moment entspringt dem abstrakten Kontrast zwischen einem unangepassten Außenseiter und einem angepassten Mustermann. Diese sozialen Gegenpole erfahren durch ihre Eingliederung in das enge soziale Gefüge, die Familie, eine Konkretisierung: Die Situation wird bedrohlich, denn Cléonte mag zwar gesellschaftliche Anerkennung für seine Person erlangen, doch interessiert das den autoritären Vater wenig. Da sich Lucile den Forderungen ihres Vaters unterwerfen muss, wie es im 17. Jahrhundert den gängigen Sitten entspricht, entsteht eine beunruhigende Situation für das verliebte Paar. Molière entschärft diesen Konflikt schon etwas während der Diskussion, indem er die Tiefenstruktur des Sujets seines komischen Helden in dessen Agieren aktualisiert, das simultan den tatsächlichen Konflikt unterlegt. Somit ist das eigentlich Komische an dieser Szene, dass Monsieur Jourdain glaubt, in der Abweisung eines nichtadeligen Schwiegersohns seinem Traum vom Edelmann näherzukommen - hält er sich doch die Option einer besseren Partie für seine Tochter weiterhin offen. Er stellt in dieser Aktion aber seinen plumpen, großbürgerlichen Charakter zur Schau und entfernt sich unwissentlich von seinem Ziel; er handelt gegen sich selbst, ohne sich dessen bewusst zu werden. Das jeweils in der Proto- und der Hauptsujetschicht inhärente Spannungsverhältnis potenziert sich in dieser Szene zu einem Spannungsverhältnis zwischen den beiden Sujetschichten, welche im komischen Agon kulminieren, da dieser die innere Zerrissenheit Monsieur Jourdains wie auch seine soziopathische Ader erkennen lässt. Die idée fixe des komischen Helden offenbart sich im Konflikt mit dem Liebespaar, wobei der Heiratskonflikt lediglich eine Spielart der déraison des Familienvaters abbildet und sich in seine Adelsstreberei integrieren lässt. 3 Mesnard (1999), 218. 4 Vgl. Wasserbäch (2014): „Les pères de famille dans les comédies-ballets de Molière“. <?page no="88"?> 3.1 Die moralische Weltanschauung 87 3.1.2 Les Fâcheux Die für Molières Ballettkomödien repräsentative Zentriertheit auf eine einzige komische Figur fehlt in Les Fâcheux. Hier sind es verschiedene Typenfiguren, die Molière lebensecht auf der Bühne vorbeiziehen lässt: ein Theaterstörenfried, ein untalentierter Komponist, ein duellwütiger Vicomte, Mailspieler, ein verzweifelter Kartenspieler, streitende Preziöse, ein Jäger 5 , ein Pedant und ein merkantilistischer Projektemacher. Alle haben eine Sache gemein, sie sind, wie der Titel programmatisch antizipiert, Störenfriede des höfischen Lebens, der societas : Fâcheux en effet est celui qui, faute d’en percevoir les règles, perturbe le jeu mondain, se rendant importun par des interventions intempestives comme par des propos déplacés en contradiction avec l’esprit galant. 6 Sie deklassieren sich durch ihr eigenes Fehlverhalten zu gesellschaftlichen Außenseitern. Durch ihre Aufdringlichkeit erscheinen sie dominant, denn sie entziehen ihren Mitmenschen mit ihren lästigen Selbstinszenierungen die gesellschaftliche Daseinsberechtigung. Sie versuchen ihre soziale Funktionslosigkeit durch ihre nichtigen Aktionen zu kompensieren, indem sie sich selbst eine Funktion innerhalb ihrer gesellschaftlichen Destinationsleere zuschreiben. Das Komödiensujet besteht darin, dass der Marquis Éraste auf dem Weg zu seiner Geliebten von dieser oben erwähnten Vielzahl an Störenfrieden aufgehalten wird. Sie stellen Hindernisse für den Geliebten dar, denen er gekonnt wie honnête trotzt. Mit ihren Interventionen lähmen die fâcheux die dramatische Handlung und betonen die theatralischen Aspekte des Spiels. Am Ende der Komödie trifft Éraste gewissermaßen auf den großen Endgegner, den Vormund von Orphise, der sich gegen eine Heirat ausspricht und den für die Handlung eigentlichen obstacle für das junge Paar ausmacht. Der Held triumphiert über alle Störenfriede, indem er sich an den Wertekanon von la cour et la ville hält und sich geschickt gegen alle Widrigkeiten zur Wehr setzt. So lässt sich Éraste beispielsweise von dem duellierfreudigen Alcandre keineswegs zu einem Duell überreden, um dessen verletzte Ehre wiederherzustellen, sondern antwortet im Sinne seiner honnêteté und Königstreue: Je ne veux point ici faire le Capitan; Mais on m’a vu soldat, avant que Courtisan. J’ai servi quatorze ans, et je crois être en passe, De pouvoir d’un tel pas me tirer avec grâce, 5 Die Jägerszene wurde im Nachhinein auf Wunsch des Königs eingearbeitet. 6 Riffaud, Caldicott und Piéjus (2010), 1267 f. <?page no="89"?> 88 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien Et de ne craindre point, qu’à quelque lâcheté Le refus de mon bras me puisse être imputé. Un duel met les gens en mauvaise posture, Et notre Roi n’est pas un Monarque en peinture. Il sait faire obéir les plus grands de l’État, Et je trouve qu’il fait en digne Potentat. Quand il faut le servir, j’ai du cœur, pour le faire: Mais je ne m’en sens point, quand il faut lui déplaire. Je me fais de son ordre une suprême Loi. Pour lui désobéir, cherche un autre que moi. Je te parle, Vicomte, avec franchise entière, Et suis ton serviteur en toute autre matière […]. ( LF , 165) Éraste gilt als Musterbeispiel der domestizierten noblesse d’épée . Während er in der Zeit vor Ludwig XIV . noch ein ehrenvoller Militarist war, wendet er sich nun dem Hofleben zu und zeigt sich als angepasster Höfling, der sich seiner Rollenhaftigkeit bewusst ist und sich der königlichen Ordnung unterstellt. Éraste kontert als Räsoneur im Sinne der bienséance dem zum Gesetzesbruch willigen Alcandre, der seine Ehre über den königlichen Gehorsam stellt. Die Belehrung „un duel met les gens en mauvaise posture“ zeigt einen konkreten Bezug zum zeitgenössischen Kontext auf, womit eine lebensweltliche Perspektive exponiert wird: Seit 1651 war das Duellieren in Frankreich verboten und wurde äußerst streng mit dem Tod und der Konfiszierung von Hab und Gut bestraft. 7 Es handelt sich folglich um eine ernste Angelegenheit, die zwischen den beiden Männern verbal ausgefochten wird. Während es Éraste gelingt, sich dem Verhofungsprozess der Gesellschaft zu fügen, scheitert Alcandre an der honnêteté und bleibt mit seinem verletzten Ehrgefühl sowie seinem feudalen Weltverständnis allein zurück. Die neuen Zivilisationsregeln am Hof von Ludwig XIV . sind kontrollierte, ästhetische und geistreiche Umgangsformen, welche die rüden Rittergepflogenheiten strikt ausschließen. Vor diesem kulturellen Hintergrund erscheint das komische Moment des Schlagabtausches einsichtig: Alcandre scheitert nämlich in doppelter Hinsicht; zum einen daran, dass Éraste nicht auf seinen Vorschlag eingeht und zum anderen hypothetisch daran, dass selbst wenn er Unterstützung in seinem Unterfangen bekommen hätte - er seine Ehre nicht hätte retten können, sondern sein Betragen unehrenhaft mit dem Tode durch die königliche Hand hätte bezahlen müssen. Der Duellwütige handelt in diesem Sinne wie Monsieur Jourdain, denn auch er erkennt nicht, dass er gegen die Gesellschaft und als Teil der Gesellschaft auch gegen sich selbst agiert 7 Vgl. ebd., 1283. <?page no="90"?> 3.1 Die moralische Weltanschauung 89 und scheitern wird; sein unschickliches Betragen fördert die Tiefenstruktur des Sujets zutage. Betrachtet man diesen Textauszug als repräsentatives Beispiel für die ganze Ballettkomödie, kann der komische Agon in Les Fâcheux folgendergestalt festgesetzt werden: Er entsteht, wenn ein Vertreter der raison auf verschiedene Vertreter der déraison trifft und mit ihnen moralisch kontrastiert, sodass sich der komische Agon aus diesen ständig sich erneuernden Konfliktsituationen gestaltet. Dadurch, dass sich Éraste von ihnen aufhalten lässt und sich über sie erregt - folglich auf ihr Spiel eingeht -, handelt er ebenfalls unvernünftig; daher etabliert sich hier ein textinterner Agon zwischen ruse und bêtise . Diese Zusatzbemerkung ist wichtig, zeigt sie doch, dass sich der komische Agon von einem farcesken Agon nährt und ernsthafte Situationen, wie die Duellierszene, im farcesken Schabernack oder sprachlichen Eskapaden Zerstreuung finden: „Adieu. Cinquante fois au Diable les Fâcheux […].“ (LF, 166) Neben diesen kleinen Querulanten, die Éraste zwar verärgern, ihn aber nicht existenziell bedrohen, steht Damis, der Lästigste von allen, der sich ohne Nennung von Gründen gegen die Heirat stellt: Er hat in seiner Funktion als Tutor Macht über Orphise und deren Schicksal, die er willkürlich auslebt. Man kann aufgrund dieser egoistischen Beliebigkeit wiederum von der gleichen Handlungsmotivation gegen die Sittlichkeit wie bei Monsieur Jourdain sprechen und ihn in die Reihe der Unvernünftigen stellen. Mit Mut und Tatkraft ändert Éraste aber die Meinung von Orphises Tutor, indem er ihn von Angreifern befreit und ihm das Leben rettet. Durch diese schicksalhafte Fügung findet keine direkte Konfrontation mit der Autoritätsfigur auf der Ebene der Hauptsujetschicht statt. Da der Konflikt anderweitig ausgetragen wird, ist der Angriff auf Damis auch nicht komisch. Auf den ersten Blick erscheint die ritterliche Tugend des Marquis nicht mit der honnêteté zu vereinbaren, erinnert sie doch eher an den corneilleschen Helden, der sein Glück in heroischer Ruhmsucht findet. Da seine Handlungsmotivation jedoch aus dem Ehrgefühl resultiert, den königlichen Gesetzen zu dienen, erscheint die altfeudale Verhaltensweise in diesem Lichte betrachtet legitimiert: Durch sein Eingreifen ist allen geholfen und das soziale Leben nicht mehr gefährdet. Es ist ihm geglückt, das Hindernis aus dem Weg zu räumen, denn fortan steht der Liebesheirat nichts mehr im Weg. Sein moralisches Unterfangen hat ihn über den komischen Lästigen triumphieren lassen und ihn zum wahren Helden gemacht, sodass in Les Fâcheux von einem Metaereignis zu sprechen ist. Aufgrund der fehlenden Begründung für die von Damis gezogene semantische Grenze - das Verbot der Heirat - bleibt ein lebensweltlich legitimierter Maßstab innerhalb der Fiktion aus, infolgedessen ist die Tragweite des Metaereignisses als limitiert zu deuten. <?page no="91"?> 90 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien Alcandre und Damis - stellvertretend für die anderen Typen der Lästigen - verkörpern keine Charakterfiguren wie Monsieur Jourdain. Man kann bezüglich der nur kurz auftretenden Typen in Les Fâcheux nur schwerlich von einer im Einzelnen tiefenpsychologisch angelegten idée fixe sprechen; es handelt sich dabei eher um eine idée fixe spontanée , die frei von jeder repetitiven Persistenz ist und nur einmalig auf der Bühne zur Geltung gelangt. Dieser Figurentyp steht den Charakterfiguren in puncto Komikwirkung in nichts nach, denn beide Figurenkonstrukte handeln in den dargestellten Szenen nach der déraison. Alle Typen in Les Fâcheux lassen sich auf einen Nenner bringen, der übergeordnet die jeweils unterschiedlichen idées fixes spontanées in einer Paradigmatisierung zu einer idée fixe subsumiert: Die Störenfriede handeln gegen den höfischen Ethos und machen sich sowohl binnenfiktional als auch außerhalb der Fiktion vor dem zeitgenössischen Publikum lächerlich. Der Archetyp der fixen Idee spiegelt sich als eine abstrakt gedachte Charakterfigur in seinen unterschiedlichsten Vertretern und deren jeweiligen spontanen Ideen wider, im Verständnis eines Prototyps der verrückten Ideen. Ferner lässt die Paradigmatisierung der idées fixes spontanées die fragmentarische Struktur des ballet de cour noch deutlich erkennen. Die in dieser ersten Ballettkomödie angelegten komischen Typen sind programmatisch für Molières gesamtes Dodekameron zu deuten, denn die Handlungsmotivation der Figuren, gegen die bienséance zu agieren, findet sich in allen idées fixes der komischen Helden wieder. Oder wie Anne-Marie Desfougères meint: „[L]e thème du fâcheux illustre brillamment l’admirable cohérence de la création moliéresque.“ 8 3.1.3 Les Amants magnifiques Der Schauplatz von Les Amants magnifiques ist das Tal Tempe in Thessalien. Einen Zugang zur exotisch Handlungswelt verschafft Molière dem lebensweltlichen Frankreich, indem er die Interaktion der Figuren dem gültigen Wertekanon des siècle classique anpasst und dementsprechend einen antiken Schauplatz mit französischem Moralkodex kreiert. In der entrückten Handlungswelt lässt sich die Opposition von raison und déraison ausfindig machen und auf den zeitgenössischen Lebenskontext des Publikums beziehen. Diesen Verfremdungseffekt findet man auch in den Ballettkomödien La Princesse d’Élide und La Pastorale comique wieder, in denen das griechische Arkadien als Handlungsort zu erkennen ist. Im Zuge dieser Verfremdung findet ein Entidealisierungsprozess der bukolischen Idylle statt, der in den agonalen Strukturen dieser Ballettkomödien evident wird. 8 Desfougères (1985), 104. <?page no="92"?> 3.1 Die moralische Weltanschauung 91 In Les Amants magnifiques muss sich der ehrenwerte Feldherr Sostrate, nichtaristokratischer Herkunft, mit seinem sittlichen Betragen gegen die aristokratischen Freier Iphicrate und Timoclès behaupten, die um die Gunst Ériphiles in unlauterem Wettbewerb buhlen. Schon zu Beginn der Handlung, unmittelbar vor Sostrates eigentlicher Heldentat, erkennt die Fürstin Aristione in ihm den verdienstvollen Menschen, der ganz im Zeichen der molièreschen Ethik steht und in der Komödie die Rolle des Räsoneurs zugeschrieben bekommt: „a ris tione : Votre mérite, Sostrate, n’est point borné aux seuls emplois de la guerre, vous avez de l’esprit, de la conduite, de l’adresse, et ma Fille fait cas de vous.“ ( AM s, 959) Abgesehen vom militärischen Verdienst und seiner gloire , der Haupttugend des corneilleschen Helden, überzeugt Sostrate vielmehr mit der Trias Intellekt „esprit“, Moral „conduite“ und Soziabilität „adresse“, die ihn zum Garanten sozialen Wohlwollens erhebt. Des Weiteren ist er sich seines sozialen Standes bewusst und kann seine Aufstiegspotenziale wie Cléonte in Le Bourgeois gentilhomme realistisch einschätzen: s ostrate : Ne cherchez point, de grâce, à me rendre odieux aux personnes qui vous écoutent; je sais me connaître, Seigneur, et les malheureux comme moi n’ignorent pas jusques où leur fortune leur permet d’aspirer. ( AM s, 979) Während die selbstverliebten Freier mit gefälligen Divertissements nach Ériphiles Liebe trachten, entzieht sich Sostrate demutsvoll dem Werbespiel, da gegenseitig erwiderte passion und tugendhafter mérite in dem bisher bestehenden Weltsystem keine überständische Hochzeit legitimieren und er dieses soziale Gesetz akzeptiert: s ostrate : Si elles [les destinées, Anm. S. W.] m’ont fait naître dans un rang beaucoup moins élevé que mes désirs, elles m’ont fait naître assez heureux pour attirer quelque pitié du cœur d’une grande Princesse; et cette pitié glorieuse vaut des Sceptres et des Couronnes, vaut la fortune des plus grands Princes de la terre. ( AM s, 987) Diese zunächst spezifisch für den Komödientypus erscheinende Problematik der Figurenkonstellation birgt eine Besonderheit bezüglich der Sujetstruktur: Der obstacle besteht nicht in Form einer autoritären Figur, sondern in Form sozialer Hierarchievorstellungen der Ständegesellschaft. Unter Wahrung des Anstandes untersagen diese Ériphile eine Mesalliance einzugehen, obschon ihre modern eingestellte Mutter Aristione - die eigentliche Autoritätsperson - diesbezüglich keine Einwände bekundet und sie frei entscheiden lässt. 9 Folglich ent- 9 Aristione stellt eine bemerkenswerte Ausnahme dar. Im 17. Jahrhundert ist die Verheiratung der Kinder die Angelegenheit der Eltern, die sich im Allgemeinen kaum um die <?page no="93"?> 92 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien steht kein autoritär oktroyiertes Hindernis, denn sie wurde vom devoir ihres Standes freigesprochen, sondern ein soziales, das weiterhin als äußere Beeinträchtigung bezeichnet werden sollte: 10 Ériphile hält in diesem Punkt an den altaristokratischen Ehevorstellungen fest, bei denen die naissance nach wie vor über dem mérite steht. Die Besessenheit, den Erwartungen ihres Standes zu entsprechen, führt sie in ein doppeltes Dilemma: Sie kann sich einerseits nicht zwischen den ihrem Stand entsprechenden Anwärtern entscheiden, da sie deren Gefühle nicht erwidert, andererseits zwingt sie ihre passion zu Sostrate in das Korsett einer unglücklichen Affektkontrolle, die sie durch ihr ständiges Alleinsein aufrechterhalten möchte. Die temporären Ausbrüche aus der Gesellschaft spiegeln ihre Realitätsflüchtigkeit wider, wodurch sie sich selbst kurzfristig zur sozialen Außenseiterin macht. Ihr Verhalten ist von einer Moralperfektion geprägt, einem Weltbild, das in der Handlungswelt noch Gültigkeit, längst aber nicht mehr zwingend Bestand hat. Der komische Agon entsteht aus der Inversion der sonst üblichen Konstellation: Die Mutter ist hier die progressive Figur, sie ist in diesem Punkt der räsonierten Fraktion, die Tochter mit ihrer idée fixe dagegen der déraison hinzuzurechnen, handelt diese doch im Sinne einer Normübererfüllung, welche die Maßhaltung nicht respektiert. Das Pendel der Abweichung von der Norm schlägt in diesem Fall also nicht in Richtung Normuntererfüllung aus, sondern in genau die entgegengesetzte Richtung. Der komische Agon funktioniert demnach nach dem gleichen Prinzip, jedoch in anderer Ausführung. Da die Prinzessin das Werbespiel der Freier keineswegs unterbindet, greifen diese zu immer aufdringlicheren Mitteln, um ihr Herz zu erobern. Ihr fortlaufend inszeniertes Blendwerk in Form galanter Divertissements spitzt sich in dem egoistischen wie auch hochmütigen Wunsch zu, das Schicksal manipulieren zu wollen. Die beiden suchen Beistand beim Astrologen Anaxarque und erhoffen sich von seiner Zunft eine für sie günstige Prognose für den Ausgang des Liebeswettstreits, denn sie wissen um die im antiken Staat anerkannte Kunst: „[L]’Astrologie est une affaire d’État […].“ ( AM s, 957) Im Lichte des Gesagten ist die nachfolgende Szene zu deuten, die ein Streitgespräch um die Glaubwürdigkeit der Astrologie thematisiert und die Weichen für den Ausgang des Intrigenspiels stellt, das indirekt aus dem unvernünftigen Verhalten der Prinzessin resultiert. Freiheit und die Wünsche der jungen Generation scheren. Dieses großmütige Betragen ist außerdem in La Princesse d’Élide zu finden, wo Iphitas seiner Tochter die gleiche Freiheit gewährt. Vgl. Mazouer (1993b), 201. 10 Jacques Scherer definiert die äußeren Hindernisse wie folgt: „Ils seront extérieurs si la volonté du héros se heurte à celle d’un autre personnage ou à un état de fait contre lequel il ne peut rien.“ Scherer (1959), 63. <?page no="94"?> 3.1 Die moralische Weltanschauung 93 Sostrate zweifelt mit seinem bon sens die Sterndeutung generell an und beweist damit Größe, denn, so der Marquis d’Argens in seinem Werk La philosophie du bon sens von 1737: „Les Grands-Hommes se sont plaints dans tous les Tems de la Crédulité des Peuples & de la Fourberie des Astrologues.“ 11 Auch Ériphile äußert sich im Disput um die Glaubwürdigkeit der Astrologie skeptisch. Derart weicht die komische Heldin ein wenig von ihrer regressiven Fixiertheit ab, was das für sie günstig ausfallende Komödienende hinsichtlich eines läuternden Aspekts etwas relativiert. Die beiden Jungen verkörpern eine Minderheit und ihnen kann innerhalb der Handlungswelt aus der Perspektive der sie dominierenden, astrophilen Figuren zunächst ein unvernünftiges Verhalten zuerkannt werden. Gemessen am Wertekanon des Publikums ist den beiden Verliebten allerdings eindeutig die raison zuzuweisen, da sie ihrer Gesinnung nach mit dem astrologiefeindlichen klassischen Zeitgeist kongruieren und bereits vor der beginnenden Intrige die Sterndeutung infrage stellen. 12 Im Streitgespräch mit dem Astrologen Anaxarque sowie den beiden Liebesanwärtern prangern sie geschickt die Scharlatanerie dieser Kunst an: é riphile : Mais, Seigneur Anaxarque, voyez-vous si clair dans les destinées, que vous ne vous trompiez jamais, et ces prospérités, et cette gloire que vous dites que le Ciel nous promet, qui en sera caution, je vous prie? […] i phiCrate : La vérité de l’Astrologie est une chose incontestable, et il n’y a personne qui puisse disputer contre la certitude de ses prédictions. t iMoClès : Je suis assez incrédule pour quantité de choses, mais pour ce qui est de l’Astrologie, il n’y a rien de plus sûr et de plus constant, que le succès des Horoscopes qu’elle tire. […] s ostrate : […] [ J]e vous avoue que mon esprit grossier a quelque peine à le comprendre, et à le croire, et j’ai toujours trouvé cela trop beau pour être véritable. […] Quel rapport, quel commerce, quelle correspondance peut-il y avoir entre nous et des Globes, éloignés de notre terre d’une distance si effroyable, et d’où cette belle Science, enfin, peut être venue aux hommes? Quel Dieu l’a révélée, ou quelle expérience l’a pu former, de l’observation de ce grand nombre d’Astres qu’on n’a pu voir encore deux fois dans la même disposition? ( AM s, 979-981) Es handelt sich in dieser Szene um einen doppelten Schlagabtausch, besteht das Quartett doch aus zwei Repräsentanten der raison und aus zwei der déraison. 11 Boyer d’Argens (1737), 428. 12 In der mondänen Literatur lassen sich diverse Schriften finden, die Argumente gegen jegliches übernatürliches Denken liefern und vornehmlich die Sterndeutung anprangern. So karikiert auch Jean de La Fontaine die Astrologie in seiner Fabel L’Astrologue qui se laisse tomber dans un puits . Des Weiteren ist bekannt, dass Ludwig XIV. der Astrologie misstraute. <?page no="95"?> 94 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien Diese Doppelbesetzung hat für den komischen Agon die Folge, dass er aus einer stichomythischen Struktur erwächst. Im weiteren Verlauf des Streits schalten sich immer mehr Figuren zugunsten der Astrologie ein und Sostrate muss allein gegen sie bestehen. Iphicrates und Timoclès’ Befürworten ist aus schierem Eigennutz motiviert. Im Gegensatz zu ihnen ist Sostrate in den Augen des französischen Publikums ein Räsoneur, der in perfekter Ausführung des art de conversation das Wesen der Astrologie denunziert und somit der honnêteté entspricht, denn der Glaube an Übernatürliches kann bei den mondänen Zuschauern kaum noch verfangen. Zu dieser Erkenntnis kommen auch die anderen Figuren am Ende des Stücks. Im Ergebnis steht der geänderte Wertekanon der Handlungswelt so wieder im Einklang mit der klassischen Weltsicht. Der komische Agon entwickelt sich in aufgezeigter Szene folglich aus einer Divergenz zwischen den Normen der Handlungswelt und denen der Lebenswelt. Zusätzlich zur ideologischen Opposition der einzelnen Figuren ist auch die gesamte Weltsicht der Fiktion zunächst diametral zwischen raison und déraison in den Augen des zeitgenössischen Betrachters vertauscht. Im weiteren Verlauf der Ballettkomödie startet die Intrige mithilfe der Astrologie, die von den Prinzen zur Erfüllung ihrer eigenen Wünsche instrumentalisiert wird. Da Iphicrate Anaxarque in finanzieller Hinsicht großzügiger gesinnt ist, soll die von Anaxarque arrangierte sprechende Venus die Fürstin Aristione davon überzeugen, dass er der Auserkorene für ihre Tochter ist. Die vom Sterndeuter geplante List könnte Iphicrate zum Retter der Königin machen und dadurch das manipulierte Orakel erfüllen. Doch das Schicksal lässt sich nicht bezwingen und so will es der Zufall oder jenes selbst, dass Sostrate der Monarchin als Erster zu Hilfe eilt, sie von einem gefährlichen Eber befreit und durch seine Heldentat mit einem sozialen Aufstieg geehrt wird. Dies nun legitimiert die Liebesheirat mit und für Ériphile, da damit auch dem extrarationalen Wunsch der Götter Rechnung getragen wird. Diese soziale Würdigung spricht die Fürstin gegenüber den beiden doppelt gekränkten Freiern aus, haben diese doch zum einen ihr Ziel verfehlt und wurden zum anderen von einem rangniedrigen Kontrahenten besiegt: [ J]e vous prie avec toute l’honnêteté qu’il m’est possible, de donner à votre chagrin un fondement plus raisonnable; de vous souvenir, s’il vous plaît, que Sostrate est revêtu d’un mérite, qui s’est fait connaître à toute la Grèce, et que le rang où le Ciel l’élève aujourd’hui, va remplir toute la distance qui était entre lui et vous. ( AM s, 992) Das Agieren Sostrates gipfelt in einem triadischen Triumph: Er rettet das Leben der Fürstin, deckt Anaxarques Scharlatanerie auf und befreit Ériphile von der Angst einer Mesalliance, indem er „toute la distance [d’état, Anm. S. W.]“ aufhebt. Das Schicksal ist dem Feldherrn zwar wohlgesonnen, aber er stellte sich <?page no="96"?> 3.1 Die moralische Weltanschauung 95 auch mit Courage der Herausforderung und entledigte sich mit dem Besiegen des wilden Tiers seines obstacle , ganz ohne Angriff auf eine Autoritätsfigur. Sostrate gelingt es, ähnlich wie Éraste, das Weltbild zu transformieren. Sie sind beide wahre Helden, die mit ihrer moralischen Weltsicht gegen die komischen Helden bestehen und den obstacle mithilfe des mérite übergehen können. Aber auch in dieser Ballettkomödie kommt das Metaereignis nicht in seiner vollen Dimension zur Entfaltung. Da Fortuna ebenfalls ihre Hände mit im Spiel hat, ermangelt es binnenfiktional eines lebensweltlichen Bewertungsmaßstabes. Beiden Metaereignissen geht die lebensweltlich verstandene vraisemblance ab, sie divergieren mithin vom ontologischen Kontext, sodass sich die Ballettkomödien zwar in ihrer Sujethaftigkeit als Metaereignisse klassifizieren lassen, jedoch mit dem Attribut ‚limitiert‘ zu versehen sind. Fazit Die aufgezeigten Textbeispiele erklären diverse Spielarten der Hauptsujetschicht und favorisieren die binnenfiktional angelegte dramatische Perspektive beim Zuschauer, da die ideologischen Diskurse einen minimalen theatralischen und nur bedingt lebensweltlichen Charakter haben. Geprägt sind diese Passagen von den komischen Helden und deren jeweiliger idée fixe , die vom art de plaire abweicht und nicht der erforderlichen Norm entspricht. Dies kann sowohl in einer Normuntererfüllung als auch in einer Normübererfüllung durch den komischen Helden präsentiert werden. Die Deviation von der sozialen Rolle macht lächerlich und festigt die Außenseitersituation der komischen Helden. Darüber hinaus stabilisiert sie im Kenntlichmachen ihres Wirkungsbereichs indirekt das erstrebenswerte Gesellschaftsmodell. 13 Die Gegenspieler der komischen Figuren sind die wahren Helden, welche dank Molières Ethikverständnisses für das Publikum zu Sympathieträgern werden und die jeweiligen Hindernisse überwinden. In Les Fâcheux und Les Amants magnifiques gelingt es den Vernünftigen sogar, das Weltbild zugunsten ihrer moralischeren Weltanschauung zu verändern. Rainer Warning fasst diesen Sachverhalt über die komische Handlung pointiert zusammen: Die eigentlich komische Handlung […] ist die in ihrer ursprünglichen Intention scheiternde Handlung des Opponenten […]. Und zwar ist sie komisch eben darin, daß sie scheitert, daß der Opponent sein Wertsystem nicht durchsetzen kann, daß ihm keine Grenzüberschreitung gelingt, kraft derer die Opposition in seinem Sinne aufgehoben wäre. 14 13 Vgl. Matzat (1982), 264. 14 Warning (1976), 285. <?page no="97"?> 96 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien Aus eben diesem Scheitern generiert sich der komische Agon. Matzat begreift ihn als Angriff auf Autoritäten und als einengendes Richtmaß, wobei die Textbeispiele aufzeigten, dass dieser auch zufallsgelenkt und daher indirekt erfolgen kann. Er tritt immer mit der sozial und moralisch urteilenden Opposition von raison und déraison in Interaktion. 15 Seine lebensweltliche Resonanz offenbart sich im Zuschauerlachen, denn die Texte entstammen dem kulturellen System der französischen Klassik, das die Grundstruktur des Sujets bildet. Dennoch wird das Dargestellte auch als ludische Tätigkeit begriffen, worin der Reiz des gewünschten und erlaubten Verlachens seitens der Zuschauer besteht. Daraus lässt sich verallgemeinern: Lachen im klassischen Theater impliziert Weltverständnis und fördert den sozialen Ausleseprozess, der mit der kulturellen Vorprägung des Moralischen zu tun hat. 3.2 Die unmoralische Weltanschauung der Narren und Schelme 3.2.1 …-in der Komödie 3.2.1.1 La Comtesse d’Escarbagnas Die Komödienhandlung in La Comtesse d’Escarbagnas wird vom Kampf zwischen ruse und bêtise dominiert, während der gefährliche Konflikt in seiner Bedrohlichkeit nicht auf der Bühne zum Tragen kommt. Er bietet lediglich Anlass für das Aufzeigen der idée fixe der komischen Heldin und wird daher auch nicht von dieser determiniert. Das Sujet der Ballettkomödie ist relativ simpel verfasst und erinnert zunächst an Shakespeares Romeo and Juliet : Hier ist es das Liebespaar Cléante und Julie, dessen Familien untereinander verfeindet sind. Um seine Geliebte sehen zu können, täuscht Cléante Julies Freundin, der Comtesse d’Escarbagnas, bei der Julie häufig Gast ist, den galanten Liebhaber vor. Der Familienkonflikt wird während des ganzen Stücks nicht weiter thematisiert, sondern nur am Ende durch das Eingreifen eines deus ex machina in Form eines Briefes für gelöst erklärt. Mit dem Verlesen des Briefes geht die Intrige um die Gräfin zu Ende und der Heirat des jungen Paares steht nichts mehr im Wege. Durch den Verzicht der theatralen Ausführung des Konflikts auf der Hauptsujetschicht ist die von Cléante und Julie gespielte Intrige auf die textinterne Nebensujetschicht beschränkt, die dadurch zum theatralischen Hauptgeschehen erhoben wird und die Hauptsujetschicht verdrängt. Dieses besondere Arrangement der Sujetschichten fokussiert die idée fixe der komischen Heldin, die für 15 Vgl. Matzat (1982), 245. <?page no="98"?> 3.2. Die unmoralische Weltanschauung 97 die kleineren und unbedeutenden interfiguralen Konflikte verantwortlich ist. Die Nebensujetschicht postuliert ein Komödienuniversum der déraison und korrespondiert über die diametrale Verbindung zur raison indirekt mit dem gesellschaftlichen Normensystem; sie ist somit auch auf dieses beziehbar. Demzufolge verschiebt sich der Fokus auf die räsonierte Instanz, denn die binnenfiktionale Rolle des Räsoneurs nehmen die idealen Zuschauer ein, die im Verlachen der unvernünftigen Figuren die lebensweltliche Resonanz auf das Dargestellte aufzeigen. Die Ballettkomödie La Comtesse d’Escarbagnas führt mit ihrer gleichnamigen Titelheldin eine komische Heldin aus der Provinz in Molières Gesamtwerk ein, die ihrer Herkunft wegen in Les Fâcheux von La Montagne als „aux personnes de Cour fâcheuses animales“ ( LF , 170) bezeichnet werden würde. Diese weitverbreitete soziale Stigmatisierung seitens des Hofes hält sie nicht davon ab, ihren niederen aristokratischen Comtessetitel obsessiv nach außen zu tragen und durch ihr mondänes Bestreben ihre Zugehörigkeit zur feinen französischen Hofgesellschaft zu demonstrieren, wie sie jene bei einem kurzen Aufenthalt in der Hauptstadt erleben durfte. Sie ist ähnlich wie Monsieur Jourdain bestrebt, stilvollen weltmännischen Glanz und Schöngeist in ihrer Umgebung zu verbreiten, in dem Glauben, dass sie die höfische Hochkultur auch in der niederen Provinz, in Angoulême, etablieren könne. Sie lebt zudem in dem Irrglauben, dass sie mit ihrem Verhalten den Erwartungen der Hocharistokratie vollends entspreche. Aber an genau diesem Trugbild scheitert sie, denn ihr entgeht, dass sie einer ganz anderen Schicht angehört, nämlich der des Provinzadels, und daher auch die Erwartungshaltung, die sie an ihre Diener stellt, noch nicht einmal selbst erfüllen kann. Ihre idée fixe kann man Julies publikumszugewandter Einführungsaussage zu Beginn des Stücks entnehmen, welche die Gräfin mit einem „perpétuel entêtement de qualité“ (CdE, 1021) charakterisiert. Wie sich diese in Wirklichkeit kulturabträgliche Vernarrtheit äußert, soll folgende Szene exemplarisch sichtbar machen, die zugleich programmatische Gültigkeit für die gesamte Dramenstruktur dieser Ballettkomödie hat. Die Situation entfaltet sich im Feld der déraison , da sowohl das Dienstmädchen Andrée als auch die Comtesse unmoralisch gegen die gängige Sitte von la cour et la ville agieren: l a C oMtesse : Ôtez-moi mes coiffes. Doucement donc maladroite, comme vous me saboulez la tête avec vos mains pesantes. a ndreé : Je fais, Madame, le plus doucement que je puis. l a C oMtesse : Oui, mais le plus doucement que vous pouvez, est fort rudement pour ma tête, et vous me l’avez déboîtée. Tenez encore ce manchon, ne laissez point traîner tout cela, et portez-le dans ma garde-robe. Hé bien, où va-t-elle, où va-t-elle, que veut-elle faire, cet oison bridé? <?page no="99"?> 98 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien a ndrée : Je veux, Madame, comme vous m’avez dit, porter cela aux garde-robes. l a CoMtesse : Ah! mon Dieu, l’impertinente. Je vous demande pardon, Madame. Je vous ai dit ma garde-robe, grosse bête, c’est-à-dire où sont mes habits. a ndrée : Est-ce, Madame, qu’à la Cour une armoire s’appelle une garde-robe? l a C oMtesse : Oui, butorde, on appelle ainsi le lieu où l’on met les habits. (CdE, 1023 f.) Die Szene spielt sich im Beisein der befreundeten Marquise ab, die durch ihr stillschweigendes Beiwohnen die Zuschauerrolle auf der Bühne aktualisiert, womit sich eine dominant theatralische Perspektive beim Publikum einstellt. Hinzukommt das verstärkt gestische Moment der Aktanten, da das Abnehmen der Haube Anlass zum improvisierten Spiel gibt und der artistischen Entfaltung des individuellen Könnens der Schauspieler Rechnung trägt. Die Gräfin macht sich mehrfach zur lächerlichen Person. Zum einen schickt es sich nicht, in Anwesenheit einer ranghöheren Person die Haube aufzulassen, 16 zum anderen neigt sie mit ihren umgangssprachlichen Beschimpfungen zu einem äußerst populären Sprachregister, das kaum einer honnête femme des 17. Jahrhunderts geziemt. Der Höhepunkt der Streitszene gipfelt in der Komik um die verschiedenen Signifikate des Wortes „garde-robe“. Die von Andrée falsch wiederaufgenommene ungebräuchliche Pluralform trägt die Bedeutung ‚Latrine‘, wohin sie auch gewillt ist zu gehen, um die Kleider der Hausdame aufzubewahren. Hätte die Gräfin in einer ihr verständlichen Sprache gesprochen, also das Wort „armoire“ benutzt, wäre es zu keinem Missverständnis gekommen. Da sie aber eine preziöse Ausdrucksweise favorisiert, für die es keinen qualifizierten Adressaten in der Dienerschaft des provinziellen Angoulêmes gibt, handelt sie gegen die lokalen Sprachkonventionen und macht sich dadurch vor der Marquise erst recht lächerlich, denn beeindrucken kann sie jene mit ihrem unhöfischen Auftreten nicht. Andrées Schlusskommentar spitzt in seiner Naivität die gesamte Absurdität dieses hyperbolischen Betragens der Comtesse zu: „Je m’en ressouviendrai, Madame, aussi bien que de votre grenier, qu’il faut appeler garde-meuble.“ (CdE, 1024) Diese Aussage verweist auch darauf, dass das Dienstmädchen bereits instruiert wurde. Sie kommt ihrer gesellschaftlichen Rolle nicht vernünftig nach, denn sie hätte wissen müssen, wie man sich in dieser Situation angemessen verhält. Zudem erweist sie ihrer Herrin durch ihr ungeschicktes Abnehmen der Haube ebenfalls wenig Respekt. Das Duo lässt sich mit der Begrifflichkeit ruse und bêtise näher analysieren. Während sich die Gräfin in der Rolle der mondänen Gastgeberin profilieren möchte, scheitert sie an Andrées ruse , die in unmoralischer Weise versucht, sich über die bereits erlernten Normen hinwegzusetzen. Dies zwingt die komische 16 Vgl. Naudeix und Piéjus (2010), 1706. <?page no="100"?> 3.2. Die unmoralische Weltanschauung 99 Heldin zu unschicklichen Belehrungen vor ihrem Gast, womit ihr die Rolle der bêtise zukommt, stellt sie doch die angegriffene Autoritätsfigur dar. Die Haube wird im unmoralischen Feld symbolisch zur Narrenkappe umfunktionalisiert und krönt die Gräfin zur Närrin. Sie wird mit der störenden Norm konfrontiert, was nur gelingen kann, weil ihre bêtise , die Ausdruck ihrer idée fixe ist, einen Angriff auf die von ihr etablierten unmoralischen Normen erlaubt. Das auf der Bühne dargestellte komische Moment körperlicher wie auch verbaler Aggression lässt die von der komischen Heldin für sich selbst, und die für ihre Entourage intendierte Vornehmheit in den Augen der Marquise gegenteilig erscheinen. Dies bestätigt die Marquise in ihrer Meinung über die Freundin, die sie als „un aussi bon personnage qu’on puisse mettre sur le Théâtre“ (CdE, 1021) bezeichnet. In dieser metapoetischen und zugleich sozial diskriminierenden Aussage wird einerseits die sich auf der idée fixe begründende Theatralik als wichtiges Attribut für die Komposition des komischen Helden im Allgemeinen evoziert und andererseits dem Dünkel der Hofgesellschaft Tribut gezollt. Dieser wird auf der Bühne durch das Zuschauen der Marquise impliziert und gibt, übertragen auf die externe Kommunikationssituation, Anlass für eine Konfrontation zwischen Bühne und Publikum, die sich im Zuschauerlachen offenbart. 17 Das Verlachen der komischen Heldin ist auf ihr Scheitern zurückzuführen, das von dem Versuch motiviert ist, die Ordnung der sozialen Welt zu verändern. Ihr fortwährendes Misslingen erzeugt einen farcesken Agon und forciert die sich über die Opposition von ruse und bêtise erstreckende textinterne Sujetschicht. Aus diesem Grund bleibt der Grad der Sujethaftigkeit in der Ballettkomödie auf das Ereignis beschränkt. 3.2.1.2 George Dandin Die Ballettkomödie George Dandin, ou le Mari confondu weist im Vergleich zu den bereits analysierten Werken eine Besonderheit bezüglich der Sujetstruktur auf. Während sich in La Comtesse d’Escarbagnas noch zumindest eine stark verdrängte Hauptsujetschicht aufzeigen lässt, ist diese in George Dandin gänzlich aufgehoben. Dies liegt zum einen daran, dass jegliche Räsoneurfigur auf der Bühne fehlt und zum anderen daran, dass die Rahmenbedingungen der Handlung nicht mit geschichtlichen Gegebenheiten korrelieren. Eine lebensweltliche Resonanz kann lediglich im Zeichen eines ‚Als-ob‘ gesucht werden, mithin weicht das Sujet der Ballettkomödie ob seiner Kontrafaktizität vom ontologischen Kontext ab: Historisch ist keine Mesalliance zwischen einem Großbauern und einer Aristokratin belegt. Trat der Fall ein, dass es zu einer überständischen Heirat kam, war dies nur gangbar, wenn die nichtadelige Partei schon seit mehreren Generationen einen aristokratischen Lebensstil führte. Allerdings 17 Vgl. Matzat (1982), 241. <?page no="101"?> 100 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien ist anzumerken, dass selbst in diesem Fall die Heirat nur zwischen einem Aristokraten und einer Bürgerlichen denkbar war, nie andersherum; 18 er brachte den Titel, sie das Vermögen in die Allianz. Die Figurenkonstellation in der Ballettkomödie konditioniert eine Herabsetzung des Konflikts auf die textinterne Sujetschicht, die im Spiel zwischen ruse und bêtise den komischen Agon konstituiert. Diese Dramenstruktur entspricht dem Typus der farce paysanne ; alle Handlungsschemata sind aufgrund der fehlenden geschichtlichen Dimension außerhalb des gültigen Normenkatalogs angelegt, sodass dem Angriff auf die Autoritätsfigur eine moralische Legitimation ab ovo abgeht. In der Ballettkomödie ist Dandin das angegriffene Oberhaupt, versucht seine Frau doch ständig, sich mit ihrem Liebhaber zu treffen und ihren Mann beim Versuch ihrer Entlarvung vor ihren Eltern bloßzustellen, um ihnen ihren schlechten Ehehandel aufzuzeigen. Die Norm, um deren Aufrechterhaltung dabei gerungen wird, ist die eheliche Treue. Die Ballettkomödie zeigt den Kampf zwischen ruse und bêtise , der im dreimaligen Scheitern der Autoritätsfigur Dandin beim Versuch, Angélique der Untreue zu überführen, endet, da sie jedes Mal vor den Eltern ihre Normverletzung als Normerfüllung ausgeben kann. Diese triadische Struktur korreliert dabei mit den drei Akten der Komödie und schreibt der Ballettkomödie den Sujetgrad eines Ereignisses zu. Da beide Eheleute unzufrieden mit der Mesalliance sind und am Ende der Komödie als Verlierer dastehen, weil sich nichts an der Gesamtsituation ändert, ist die komische Normaufhebung als Zeichen einer gesellschaftlichen déraison jenseits von la cour et la ville aufzufassen. Somit ergibt sich für die Sujetstruktur, dass sie über das textinterne Weltsystem konstituiert ist und die Nebensujetschicht zur ‚Hauptsujetschicht‘ der Ballettkomödie ohne Referenz zum Maßstab des Hofes wird. Von einer lebensweltlichen Perspektive aus betrachtet, legitimiert die Nichtzugehörigkeit zur sozialen Oberschicht das unmoralische Verhalten beider Figuren. Da die textinterne Sujetstruktur die Dramenstruktur der Ballettkomödie dominiert, erschließt sich der farceske Agon auch über die Ebene der Dienerschaft, stellvertretend für die Ebene der Herren. Das Gesinde ist zur Bestimmung des komischen Wettstreits besonders prädestiniert, weil es - wie so häufig in der klassischen Komödie - den thematischen Kernkonflikt der Protagonisten spiegelt und ihn in ein flegelhaftes Milieu potenziert, im theatralischen Spiel pluralisiert und damit den Konflikt der Eheleute Dandin parodiert. Diese komische imitatio ist möglich, weil für die Diener andere Normen verbindlich sind und sie nicht wie George Dandin bemüht sind, sich den Gepflogenheiten des Provinzadels anzupassen. 18 Vgl. Riffaud und Piéjus (2010), 1563. <?page no="102"?> 3.2. Die unmoralische Weltanschauung 101 In folgender Szene wird das Thema der ehelichen Treue zwischen Claudine und Lubin thematisiert, wobei die Dienstmagd die Repräsentantin dieser Norm darstellt: C laudine : C’est la plus sotte chose du monde que de se défier d’une femme, et de la tourmenter. La vérité de l’affaire est qu’on n’y gagne rien de bon. Cela nous fait songer à mal, et ce sont souvent les maris qui avec leurs vacarmes se font eux-mêmes ce qu’ils sont. l ubin : Hé bien, je te donnerai la liberté de faire tout ce qu’il te plaira. C laudine : Voilà comme il faut faire pour n’être point trompé. Lorsqu’un mari se met à notre discrétion, nous ne prenons de liberté que ce qu’il nous en faut, et il en est comme avec ceux qui nous ouvrent leur bourse et nous disent, prenez. Nous en usons honnêtement, et nous nous contentons de la raison. Mais ceux qui nous chicanent, nous nous efforçons de les tondre, et nous ne les épargnons point. l ubin : Va. Je serai de ceux qui ouvrent leur bourse, et tu n’as qu’à te marier avec moi. C laudine : Hé bien bien nous verrons. ( GD , 989 f.) Obgleich Claudine allein den Männern die Schuld am Fremdgehen der Frauen gibt, stimmt der fintenreiche Lubin uneingeschränkt zu, denn durch seine vorschützenden Affirmationsrepliken kann er Claudines Gunst für sich gewinnen. Wie sich im weiteren Verlauf der Szene herausstellt, verfolgt er indes andere Pläne, sodass der oben dargestellte Dialog rückwirkend auf die sich darin ausdrückende Angriffslustigkeit Lubins verweist. Diese legt es nahe, von einer zunächst kaschierten Agonik zu sprechen, die im Folgenden umso heftiger eskaliert: Lubin erhofft sich nämlich seitens Claudines ebenfalls eine affirmative Gesinnung, wenn er körperliche Nähe von ihr einfordert. Die Dienstmagd widersetzt sich aber den aufdringlichen Zärtlichkeiten, sodass sich ein derbes Gerangel samt obszönen Berührungen entwickelt und den Bühnenraum mit einem großen theatralischen Moment erfüllt: l ubin : Ah! que tu es rude à pauvres gens. Fi, que cela est malhonnête de refuser les personnes. N’as-tu point de honte d’être belle, et de ne vouloir pas qu’on te caresse? Eh là. C laudine : Je te donnerai sur le nez. l ubin : Oh la farouche. La sauvage. Fi poua la vilaine qui est cruelle. C laudine : Tu t’émancipes trop. ( GD , 990) Die in argotischer Sprache verfassten Repliken haben einen hohen performativen Wert. Gleichwohl geht der verbale Agon in dieser Szene trotz seiner starken Performance zugunsten der theatralischen Wirkung des körperlichen Agons unter, der nicht nur aufgrund seiner stärkeren Zeichenhaftigkeit auf sich aufmerksam macht, sondern, der Obszönität der Situation geschuldet, der Repräsentation eine Vehemenz verleiht: Der Körper wird zum artistischen <?page no="103"?> 102 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien Zeichen des Unmoralischen stilisiert. Nach diesem Vorgang verlagert sich der agonale Fokus wieder auf die verbale Ebene und findet schließlich in Claudines Abgang von der Bühne sein Ende. Die lächerlichen Nachrufe Lubins „Adieu rocher, caillou, pierre de taille, et tout ce qu’il y a de plus dur au monde“ ( GD , 991) erinnern den höfischen Zuschauer, in Anlehnung an den zeitgenössischen Bildungskanon, an einen parodierten, petrarkistisch gemimten Liebesdiskurs; ferner überspielen die schiefen Äußerungen des Dieners mit ihrem komischen Potenzial die Brutalität der Szene. Auch die Tatsache, dass Claudine die Bezeichnung „rude ânière“ (GD, 991) als nettes Kosewort abtut - „Le mot est amoureux“ ( GD , 991) - nimmt der Szene ihr bedrohliches Potenzial und legitimiert den folgenlosen physischen Übergriff für die Vertreter der Unterschicht im Sinne einer unterklassenspezifischen bienséance . Zudem bleibt hinzuzufügen, dass sich Claudine selbst inkorrekt verhält, wenn sie sich als unverheiratete Frau allein mit einem Freier trifft. Sie kann in dieser prekären Situation ihren Anspruch als Tugendwächterin nicht aufrechterhalten und wird selbst zum „Einfallstor des Ausgesperrten“ 19 . Den Konflikt zwischen den Herren lässt Molière über die Diener auf vulgäre Art und Weise austragen. So versinnbildlicht Lubin durch den körperlichen Überfall auf Claudine konkret die besitzergreifende Haltung Dandins zu Angélique, obschon in dieser Konstellation ein diametraler Geschlechtertausch in puncto Normenvertreter ausfindig zu machen ist, der Molières kreativen Umgang mit der Thematik illustriert und die Moral nicht grundsätzlich an ein Geschlecht knüpft. Durch seine Zudringlichkeit beweist der Diener, dass er die Abweisungen seiner Geliebten nicht respektiert und sie selbst als seinen Besitz betrachtet. Sonach ist die Geldbörse-Metapher wörtlich zu nehmen, sodass über dieses Denotat die Beziehung zwischen George und Angélique aufgerufen wird, denn im Grunde ist ihre Beziehung eine monetäre und keine affektive. Der komische Agon wird auf Dienerebene potenziert und dort weit frenetischer ausgefochten als auf der Ebene der Herren, wodurch der männliche Besitzanspruch auf die Frauen umso publikumswirksamer, weil komisch, angeprangert wird. Diese Art der Inszenierung ist durch die Zugehörigkeit der Figuren zur Unterschicht möglich, da ihr unmoralisches Verhalten der Schicklichkeit ihres Standes entspricht. Das unmoralische Agieren bekommt eine betont körperliche Note und spielt den dramatischen Konflikt in einen theatralischen hinüber, sodass der Zuschauer das unschön Dargestellte als Spiel versteht und die Distanz zur lebensweltlichen Dimension des Spiels weiter bestehen kann. 19 Preisendanz (1970), 30. <?page no="104"?> 3.2. Die unmoralische Weltanschauung 103 3.2.2 …-im Intermezzo 3.2.2.1 Monsieur de Pourceaugnac Mit der Ballettkomödie Monsieur de Pourceaugnac von 1669 entwirft Molière eine Vorform des Bourgeois gentilhomme (1670), da der titelgebende Anwalt aus dem Limousin nicht minder gewillt ist, seine bürgerliche Herkunft zu verleugnen. Er sieht sich selbst als „Gentilhomme Limosin“ (MdP, 207) - ein sozialer Widerspruch in sich, mit dem er zugleich in die Farcentradition des lächerlichen Provinzbewohners eingereiht wird; in dieser Hinsicht antizipiert er ebenso die Figur der Madame d’Escarbagnas (1671). Pourceaugnac ist der Prototyp des lächerlichen Provinzmannes, der sogar im Dictionnaire comique (1750) von Le Roux einen eigenen Eintrag erhält: POURCEAUGNAC . C’est le titre d’une des Comédies de Molière, où un Gentilhomme Limousin portant ce nom est tourné en ridicule, à cause de ses extravagances, tant dans ses maniéres d’agir que dans la bizarrerie de ses habits grotesquement assortis. Molière a si bien représenté le caractére sot & ridicule des Provinciaux dans la personne de Mr. de Pourceaugnac, & la piéce qu’on représente encore tous les jours à Paris a été si généralement applaudie, & trouvée si agréable & si divertissante, que pour éterniser la mémoire de son auteur, on appelle encore aujourd’hui Pourceaugnacs toutes les personnes ridicules, & qui sont habillées sans art & grotesquement, comme ce Gentilhomme Limousin nouvellement débarqué l’étoit à Paris. 20 Sein Name ist Programm, erinnert er den Zuschauer doch wie kein zweiter an einen typischen Limousiner. 21 Ausgestattet mit dem offenkundigen Stigma des prätentiösen Provinzbürgers verwundert es nicht, dass der Protagonist seine bürgerlichen Ursprünge zu leugnen versucht, strebt er doch den Lebensstil eines Pariser Edelmannes an. Seine idée fixe besteht darin, die junge Pariserin Julie zu ehelichen und seine vermeintliche gentilhommerie in der Hauptstadt zur Schau zu stellen. Rückhalt für die geplante Heirat erhält er von Julies Vater Oronte, welcher in der Rolle der aufbrausenden Autoritätsperson diesem „dessein ridicule“ (MdP, 203) aus finanziellen wie auch sozialen Gründen beipflichtet; beide Herren sind ver- 20 Le Roux (1750), 206 f. 21 Das Namenssuffix ‚-ac‘ ist sehr präsent in der limousinischen Toponymie. Zudem erinnert der erste Teil des Namens an ‚porc‘, der mit der regionaltypischen Schweinezucht in Zusammenhang zu bringen ist und ihn ein Stück weit komisch entmenschlicht. Abgerundet wird die Namensetymologie durch den Vornamen Léonard, welcher einer der häufigsten Namen im Limousin ist und sich aus dem lokalen Kult um St. Léonard speist. So verwundert es den Zuschauer wenig, dass der komische Held nicht in der Hauptstadt Fuß fassen kann und am Ende wieder in seine Heimat abfährt. Vgl. Riffaud und Piéjus (2010), 1425. <?page no="105"?> 104 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien nunftwidrige Figuren, wobei die idée fixe des Limousiners die Dramenstruktur der Ballettkomödie bestimmt. Gegen diese beiden Alten müssen die verliebten Jungen Éraste und Julie agieren, um ihr gemeinsames Glück nicht zu gefährden. Zu diesem Zweck spinnen sie diverse, nach dem dramaturgischen Gestaltungsmittel des ‚Theater auf dem Theater‘ inszenierte Intrigen, um so Pourceaugnac aus Paris zurück in die Provinz zu treiben. Die eingebildete Vornehmheit Pourceaugnacs dient ihnen und den anderen Ränkeschmieden als Angriffspunkt und reglementiert zugleich signifikant die Sujetstruktur: Seine fixe Idee wird ihm daher stets zum Verhängnis, wie auch im zweiten Intermezzo der Ballettkomödie begreifbar wird. Die darin inszenierte Gesangseinlage zweier Advokaten motiviert sich sujetbedingt dadurch, dass Monsieur de Pourceaugnac der Polygamie bezichtigt wird und eine juristische Konsultation wünscht. Obgleich er sich zunächst von den Anschuldigungen nicht einschüchtern und sein fachkundiges Berufswissen in Sachen Jurisprudenz detailliert verlauten lässt, lenkt er alsbald ein und distanziert sich von seiner Kenntnis, indem er angibt, „[c]e sont quelques mots que j’ai retenus en lisant les Romans“ (MdP, 239), „je suis Gentilhomme“ (MdP, 238), um die fast schon vorwurfsvoll empfundene Erkenntnis des Ränkespielers Sbrigani „vous êtes du métier“ (MdP, 238) geschickt abzuwenden. Eine Affirmation seinerseits hätte seine Rotüre bestätigt: Ce n’est pas qu’un galant homme ne doive rien dire de la plus-part des Arts, pourvû qu’il en parle en homme du monde, plutôt qu’en artisan: mais c’est un malheur aux honnêtes-gens, que d’être pris à leur mine, ou à leur procédé, pour des gens de métier, & quand on a cette disgrace il s’en faut défaire, à quelque prix que ce soit. 22 Ein gentilhomme zeichnet sich nicht durch einen fachmännischen Jargon aus, sondern weiß nur oberflächlich über die juristischen Prozesse Bescheid, da er sich bei Bedarf an einen Advokaten wendet, der Anhänger der noblesse de robe oder der roture ist und ihm zu Diensten steht. Peinlich berührt sucht Pourceaugnac das Gespräch mit der von Sbrigani empfohlenen Anwaltschaft und schreckt auch vor dem Hinweis „ils chantent, et vous prendrez pour Musique tout ce qu’ils vous diront“ (MdP, 239) nicht zurück - eine Aktion, mit der er von seinem nicht standesgemäßen Metier abzulenken hofft. Molière kündigt mittels Sbriganis Bemerkung das Ende des zweiten Akts und das für die Ballettkomödie typische Zwischenspiel an, das in die Dramen- und Sujetstruktur der Komödie integriert ist. Diese Szene ernüchtert den komischen Helden und generiert eine definitive Abkehr von seiner idée fixe , denn er ist nach diesem Ereignis gewillt, von seinen Heiratsplänen abzulassen. Somit erweist sie 22 Zitat nach Méré in Canova-Green (2007), 180. Meine Hervorhebung. <?page no="106"?> 3.2. Die unmoralische Weltanschauung 105 sich als relevantes Intrigenelement, das zu einem Handlungsumschwung führt. Dadurch, dass das Intermezzo die Weiterführung der Intrige in gleicher Handlungswelt zeigt, weist es die gleiche Sujetstruktur auf und kann mit den für die Komödie gültigen Sujetschichten analysiert werden. Das Intermedium ist im selben Maße wie die Komödie von der Opposition ruse - bêtise bestimmt, da beide Parteien der Moral zuwiderhandeln. Der Limousiner führt seine Profession nicht selbst aus, sondern lässt sich auf singende Anwälte ein, und die Vertreter der Jurisprudenz verhalten sich auch ihrem Amt nicht entsprechend: l’a voCat , traînant ses paroles . La polygamie est un cas, Est un cas pendable . l’a voCat bredouilleur Votre fait Est clair et net; Et tout le droit Sur cet endroit Conclut tout droit. Si vous consultez nos Auteurs, Législateurs et Glossateurs, […] Jason, Alciat et Cujas, Ce grand Homme si capable; La Polygamie est un cas Est un cas pendable . Tous les Peuples policés, Et bien sensés; Les Français, Anglais, Hollandais, […] Sur ce fait tiennent loi semblable, Et l’affaire est sans embarras; La polygamie est un cas, Est un cas pendable. (MdP, 239-240) Die von Pourceaugnac als gewitzt empfundene Einwilligung in das Treffen mit den Anwälten entpuppt sich für ihn als Reinfall, denn seine Hoffnungen werden von den singenden Roben zunichtegemacht, wollen diese doch den Unschuldigen verurteilen ohne die von ihm aufgezeigten und geltenden Vorschriften <?page no="107"?> 106 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien des Prozessablaufes einzuhalten. Zudem behandeln sie Pourceaugnac wie einen Bürgerlichen, wodurch sie ihn noch mehr verärgern, denn: „La pendaison marque le roturier, à l’inverse de la décapitation, réservée à la noblesse.“ 23 Sie erdreisten sich einzig und allein aufgrund ihrer Autorität und ihrer lebensweltlichen Referenzen auf große Juristen, über den komischen Helden zu urteilen, und verzichten dabei auf jegliche juristische Formalität, die besonders in der klassischen Epoche bedeutsam für die Ausübung eines gesellschaftlich ehrbaren Berufs ist. Die lebensweltliche Perspektive, konditioniert durch die kurzzeitige Aktualisierung des lebensweltlichen Sinnpotenzials, 24 wird unverzüglich durch den Normverstoß aufgehoben, welcher die Juristen zu angreifbaren Autoritäten macht. Die Szene klingt lazzi -haft mit einem körperlichen Angriff des Limousiners auf die Anwälte aus, begleitet von zwei tanzenden und dadurch diskreditierten Staatsanwälten und Unteroffizieren; die Jurisdiktion ist hier lediglich Rhetorik beziehungsweise Gesang. Beide Parteien sind am Ende Verlierer und mit dem Attribut bêtise zu versehen, weil es sich um einen farcesken Agon handelt, der mit einer starken Aktualisierung der Theatersituation einhergeht. Das fehlende Maß bezeugen die Advokaten nicht nur in ihrer schnellen und unkonventionellen Urteilsfindung, sondern auch im Modus ihrer Repräsentation, in ihrer Gesangskunst, denn, so der Nebentext: „ [U]n parle fort lentement, et l’autre fort vite. “ (MdP, 239) Der sich dabei abzeichnende Gegensatz im Tempo wird durch die unterschiedlichen Tonhöhen und Klangfarben der Stimmen verstärkt, da das erste Solo von einer Bassstimme, das zweite von einer Tenorstimme gesungen wird. 25 Es ist davon auszugehen, dass die beiden Stimmen die letzte Strophe zusammen anstimmen, 26 allerdings sprachlich disparat, da jeder der beiden in Manier der italienischen Oper à la Rossini sein Tempo beibehält. 27 Die Figuren sind durch ihre Zugehörigkeit zum Sujet nicht nur als Sänger, sondern in erster Linie als Schauspieler rezipierbar, als „un mime, maître de son visage, un acteur maître de son corps“ 28 . In dieser Hinsicht bereichern sie ihren musikalischen Ausdruck durch ihren mimenhaften Auftritt und verleihen ihrer 23 Riffaud und Piéjus (2010), 1435. 24 Die Polygamie wird in Frankreich noch bis ins Jahr 1684 mit der Todesstrafe geahndet. Danach wird sie folgendermaßen sanktioniert: „La polygamie est deffenduë par le Droit Divin, erunt duo in carne una , dit Dieu en la Genese cap. 4. & comme dit S. Mathieu, cap. 9. quod Deus conjunxit, nemo separet ; elle est contre les Loix generales de la France, elle étoit autrefois punie du dernier supplice dans le Parlement, mais à present l’exil, le bannissement, ou les Galeres font la peine de ce crime.“ Ferrière (1684), 589. 25 Bei der Uraufführung werden die beiden Rollen von Guillaume d’Estival (Bass) und Jean Gaye (Tenor) vorgetragen. Vgl. Riffaud und Piéjus (2010), 1434. 26 Vgl. ebd., 1435. 27 Vgl. Mazouer (1993b), 134. 28 Ebd., 131. <?page no="108"?> 3.2. Die unmoralische Weltanschauung 107 Darbietung eine semiotische Polysemie. Es entsteht ein Agon im Zeichen der déraison auf musikalischer Ebene, der im Gesangsduett ausgefochten wird und zusätzlich im Sinne des nouveau langage théâtral für einen komischen Mehrwert sorgt, spaltet er doch die gegnerische Partei des komischen Helden formal auf und stellt deren Urteilsfähigkeit inhaltlich infrage; die artistische Darbietung zerpflückt auf spielerische Art in der Fiktion die in der Lebenswelt postulierte Kohärenz und Sinnhaftigkeit der Normen. Dieser musikalische Agon ist - ohne Einbettung in das Konzept des nouveau langage théâtral betrachtet - fernab jeder moralischen Norm zu verstehen und hat eine rein ästhetische Qualität in seiner Darstellung, welche dem Zuschauer über die theatralische Kommunikationsebene erfahrbar gemacht wird. Letztere markiert in gesteigertem Umfang einen expliziten Verweis auf den Veranstaltungscharakter und favorisiert das äußere Kommunikationssystem auf Kosten des inneren. Erst die simultane Darstellung von farceskem Agon - der sich indirekt durch sein unmoralisches Substrat auf die lebensweltlichen Sitten bezieht - und musikalischem Agon sowie die damit einhergehende Einbettung musikalischer Darstellung in die Sujetstruktur ermöglicht eine lebensweltliche Ausrichtung des Spiels. Dadurch ist auch das Hinwegspielen des evozierten Normverfalls der repräsentierten Autoritäten prinzipiell möglich. Trotz aller Differenzen verbindet die singenden Anwälte ein harmonisierendes musikalisches Moment, das dadurch erzeugt wird, dass die Bassstimme eine Art Orgelpunkt singt, auf dem die achtmal schnellere Tenorstimme konsonant aufgebaut ist. 29 Diese harmonische Ausrichtung des Gesangs akzentuiert die Ästhetisierung des Signifikanten der Sprache und verdrängt das lebensweltlich implizierte Bedeutungspotenzial des Signifikats. So setzt sich der in Einklang gebrachte musikalische Agon durch und transponiert den farcesken in ein moralisches Nirwana. In diesem Sinne bringt die hinweisende Aussage des metteur en scène Sbrigani - „ils chantent, et vous prendrez pour Musique tout ce qu’ils vous diront“ (MdP, 239) - nicht nur einen aufführungstechnischen Umbruch zum Ausdruck, sondern auch ein poetologisches Konzept, das sich programmatisch in allen Ballettkomödien offenbart: Die sprachliche Dissonanz weicht einer musikalischen Konsonanz. Die Musik harmonisiert und ordnet das sprachliche Chaos, das ein lebensweltliches ist. Unterstützung findet sie durch die den Akt besiegelnde Balletteinlage, da die geordnete Performance der Tanzschritte der sie ausführenden Figuren ( deux Procureurs et deux Sergents ) zu einer Entsemantisierung ihrer Rollen führt und sie zu Tänzern werden lässt. Die unter Ausschluss der Sprache zustande kommende Symbiose von Musik und Tanz 29 Obgleich die unterschiedlichen Tempi einen sprachlichen Wirrwarr erzeugen, harmonisieren sie musikalisch miteinander. Vgl. Partitur: Lully (1700 / 10 [1669]), 71-73. <?page no="109"?> 108 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien enthebt das Aktende in einer autoreferenziellen Aktion aus der Handlungswelt der Ballettkomödie und kennzeichnet das Intermezzo als sujetloses Spiel. 3.2.2.2 La Princesse d’Élide Das Sujet der Ballettkomödie La Princesse d’Élide entnimmt Molière der Komödie El desdén con el desdén (1652) des Spaniers Agustín Moreto y Cabaña. Die thematische Einfachheit der Intrige spiegelt sich im spanischen Originaltitel wider und ist sicherlich auch ein Grund, weswegen Molière sich dieser Komödie als Vorlage bedient, gewährleistet das Sujet doch genügend Spielraum für eine umfangreichere Überarbeitung zu einer anspruchsvollen Ballettkomödie. Die Namensgeberin und komische Heldin dieser „comédie espagnole à la mode pastorale“ 30 hat nur Verachtung für ihre prachtliebenden Anwärter übrig und weist sie mit einer selbstverliebten, preziösen Gleichgültigkeit zurück. Erst als einer dieser Freier, Euryale, der Fürst von Ithaka, seinerseits Desinteresse vortäuscht, wendet sich das Blatt beziehungsweise ändert sich ihr Verhalten, denn fortan treibt sie ihre verletzte Eitelkeit dazu, Euryales Gunst gewinnen zu wollen: „[ J]e prendrais plaisir à triompher pleinement de sa vanité, à punir son mépris par mes froideurs, et exercer sur lui toutes les cruautés que je pourrais imaginer.“ (PdE, 572) Dieses Zitat belegt, dass ihre Verhaltensänderung nicht minder Ausdruck ihrer idée fixe ist, weil sie weiterhin motiviert ist, ihren Stolz aufrechtzuerhalten und nichts unversucht lässt, um ihr gekränktes Ego zu rehabilitieren: „Il n’y a rien que je ne fasse, pour le soumettre comme il faut.“ (PdE, 570) Dieses Unterfangen misslingt jedoch, da Euryale sein Spiel weitertreibt und einen Heiratswunsch mit ihrer Cousine Aglante vorschützt, der die Fürstin zu einem indirekten Liebesgeständnis vor ihrem Vater bewegt, von dem sie vehement einfordert, die angesetzte Heirat der beiden zu unterbinden. Nachdem das Ränkespiel aufgeflogen ist, zeigt sich die komische Heldin versöhnlich gegenüber Euryale, fordert aber infolge innerer Verwirrtheit einen zeitlichen Aufschub der Hochzeit. Die Eigentümlichkeit des Sujets liegt in der Konstitution des obstacle. Im Gegensatz zu den anderen Ballettkomödien ist dieser ein innerlicher und kein äußerlicher, da weder soziale Konventionen, noch die väterliche Autorität die Fürstin zu einer Hochzeit zwingen und mithin auch die Wahl des zukünftigen Gatten nicht problematisiert wird: l e p rinCe : Si tu trouves où attacher tes vœux, ton choix sera le mien, et je ne considérerai ni intérêts d’État, ni avantage d’Alliance. Si ton cœur demeure insensible, je n’entreprendrai point de le forcer. (PdE, 562) 30 Riffaud, Caldicott und Piéjus (2010), 1396. <?page no="110"?> 3.2. Die unmoralische Weltanschauung 109 Iphitas ist, wie Aristione in Les Amants magnifiques , kein autoritärer Erzieher mehr, sondern bereits ein empfindsamer, schließlich stellt er die Belange der Herzensangelegenheit seiner Tochter über das staatliche Interesse und spricht sich gegen ein ökonomisch-dynastisch besetztes Allianzdispositiv aus. Das Schlüssellexem für diesen Sachverhalt ist „(in)sensible“, nimmt es doch einen Empfindsamkeitsdiskurs vorweg, der in Frankreich zu Beginn des 18. Jahrhunderts als sensibilité erstarken wird. Darüber hinaus zeigen sich auch frühaufklärerische Dramenstrukturen in der Ballettkomödie, wie im Folgenden erläutert wird. Das Hindernis der Handlung bildet die passionierte Eigenliebe der Fürstin, sodass sich das Handlungsprinzip durch die Opposition selbstverliebt versus verliebt etabliert, welches auf der textinternen Sujetebene der déraison ausgetragen wird und sich zwischen der komischen Heldin und Euryale ereignet. Erst nach Ausschaltung dieses gefühlsbasierten obstacle intérieur 31 gelingt die Annäherung der beiden. Herbeigeführt wird dieses Ereignis durch den Hofnarren Moron, der sich die ganze Zeit über als kluger Intrigant zum Wohle Euryales und der Fürstin erweist. Und schließlich ist es auch sein Verdienst, dass die beiden Liebenden am Ende zusammenfinden. Diese Dramenstruktur erinnert bereits an Marivaux’ Komödien, die Jean Roussets Formel des double registre aufzeigt: 32 Bestimmt ist seine Theorie von der Dualität cœur und regard ; dabei ist es den Nebenfiguren erlaubt, das wirre Gefühlsleben der Helden zu durchschauen und zu kommentieren, derweil diese diesbezüglich noch im Dunkeln tappen. Das Stück ist als ein „organisme à double palier“ 33 organisiert und zu Ende, sobald diese beiden Perspektiven einträchtig werden, das heißt, sobald sich die Helden genauso sehen wie die Zuschauerfiguren. Dies geschieht, wenn sie ihre Gefühle erkennen und zu ihnen stehen, was oftmals in der das Ränkespiel beendenden Geständnisszene passiert, in der cœur und regard aufeinandertreffen; sie stellt zugleich die Lösung des Konflikts dar. Im Sinne dieser Dramenstruktur ist La Princesse d’Élide eine empfindsame Komödie avant la lettre , obgleich einschränkend hinzugefügt werden sollte, dass die von Marivaux beabsichtigte emotive Funktion der Einsichtsrepliken bei Molière fehlen, 34 da lediglich eine affektkontrollierte Erleichterung bei der Fürstin offenkundig wird: 31 Scherer definiert die inneren Hindernisse wie folgt: „Ils seront intérieurs si le malheur du héros vient d’un sentiment, d’une tendance ou d’une passion qui est en lui.“ Scherer (1959), 63. 32 Vgl. Rousset (1967), 45-64. 33 Ebd., 58. 34 Zum Vergleich hierzu dient Marivaux’ Komödie Le Jeu de l’amour et du hasard , in der Silvia auf Dorantes Geständnis mit den Worten reagiert: „Ah! je vois clair dans mon cœur.“ (JAH, 641) Diese Replik im Aparte ist dadurch zu erklären, dass es sich lediglich <?page no="111"?> 110 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien l a p rinCesse : Non, non, Prince, je ne vous sais pas mauvais gré de m’avoir abusée, et tout ce que vous m’avez dit, je l’aime bien mieux une feinte, que non pas une vérité. (PdE, 586) Der zwischen den komischen Helden ausgetragene Konflikt spiegelt sich in ähnlichster Weise auf der Dienerebene wider. Auch hier ist ein farcesker Agon zu attestieren ist, wenn der Hofnarr Moron das Herz von Philis, der eitlen Zofe der Fürstin, erobern möchte. Dabei fehlen lediglich die Zuschauerfiguren, weshalb auch keine Struktur des double registre auf dieser sekundären Ebene ausfindig zu machen ist. Das vierte Intermedium veranschaulicht das Liebeswerben des Hofnarren, der sich mit seinem Nebenbuhler Tircis ein schelmisches Gesangsduell liefert. Es ist als Parodie auf die Pastorale zu lesen und steht in enger Verbindung zu den übrigen Zwischenspielen, die über die komische Figur Moron binnenstrukturell zusammengehalten werden und einen episodischen Charakter besitzen. Diese Einlage ist sowohl über die Sujetals auch die Dramenstruktur an die Komödie angebunden, da nicht nur das Liebeswerben, sondern auch die pastorale Handlungswelt mit der Komödie koinzidiert und der Hofnarr durch seine beidseitige Präsenz als dramenstrukturierendes Verbindungselement fungiert. Überdies verstärkt sein koexistentes Auftreten bei den Zuschauern unter Einwirken des medialen Umschwungs vom Sprechzum Musiktheater den Eindruck einer gemischten Komödie, wie schon der Untertitel der Komödie, „comédie mêlée de Danse et de Musique“, programmatisch verspricht. 35 Im Unterschied zur analysierten Textstelle zu Monsieur de Pourceaugnac handelt es sich bei folgender Szene um keine Weiterführung der Komödienintrige, sondern um eine parodistisch potenzierte, abgekapselte Episode vom Komödiensujet, die mittels Philis’ Überleitung „laissons-les aller“ (PdE, 573) - in der sie den Abgang der Figuren der vorausgehenden Aktendszene beschreibt - situativ an die Haupthandlung anknüpft. Dieser Sachverhalt belegt, dass das musikalische lazzo keinen Einfluss auf die Intrige der Komödie hat, infolgedessen auch der farceske Agon zwischen ruse und bêtise nur innerhalb des Zwischenspiels und nicht grenzüberschreitend zwischen Aktendszene und Intermediumsanfangsszene zu finden ist. Die erste Szene des Zwischenspiels zeigt die eitle Philis, die ihren Verehrer, den Schäfer Tircis, anspornt, von seinem Liebesschmerz zu singen, den sie ihm um ein Geständnis seitens Dorantes handelt und Silvia ihre Dienerrolle zu diesem Zeitpunkt der Geschichte noch weiterspielt. 35 In diesem Zwischenspiel ist kein Tanz vorhanden. Im dritten und fünften Zwischenspiel werden allerdings Tänze aufgeführt, sodass die Ballettkomödie wiederum als titelkonform zu betrachten ist. <?page no="112"?> 3.2. Die unmoralische Weltanschauung 111 zufügt: „t irCis : […] Et je touche ton oreille, / Sans que je touche ton cœur. “ (PdE, 573) Dieser kurze Ausschnitt ist geprägt von einer das klassische Zeitalter dominierenden Leidenschaftstheorie, die seit der Antike tradiert wird und auf der Idee fußt, dass Musik direkt das Herz der geliebten Person berührt und ihr Urteilsvermögen komplett ausschaltet; 36 Musik kann sie mittels ihrer melodischen Lieblichkeit bezirzen und den Wünschen des Anwärters gefügig machen. Ganz im Sinne einer Parodie gelingen Tircis’ Bemühungen leider nicht, wie Philis erkennt: „Va, va, c’est déjà quelque chose que de toucher l’oreille, et le temps amène tout. Chante-moi cependant quelque plainte nouvelle que tu aies composée pour moi.“ (PdE, 573) Trotz mangelnder Begeisterung ihrerseits, die topisch auf den Rollenentwurf der unnahbaren Geliebten zurückzuführen ist, ist sie von dem singenden Verehrer angetan und wünscht eine Fortsetzung des Liebesdienstes, der jedoch durch Morons Auftritt gestört wird. Er möchte es mit dem Gesang des Schäfers aufnehmen und einen Sechszeiler für die Zofe zum Besten geben: M oron , chante. Ton extrême rigueur S’acharne sur mon cœur, Ah! Philis je trépasse! Daigne me secourir: En seras-tu plus grasse De m’avoir fait mourir? Vivat Moron. (PdE, 574) Während Tircis sich müht, der Mode der Schäfer zu entsprechen, indem er sich nur singend an seine Herzensdame wendet, bricht Moron mit dieser Konvention und ergänzt seinen Gesang mit einem selbstreflexiven Lebensappell, der gegen die pastorale Liebeskonvention des zum Sterben bereiten Liebhabers verstößt. Nachdem Philis ihn darauf aufmerksam gemacht hat, schützt er einen Suizid vor, zu dem ihn Tircis singend ermutigt: „ Courage Moron! meurs promptement / En généreux Amant. “ (PdE, 575) Seine Bereitschaft, am Spiel teilzunehmen, beweist der Schäfer dadurch, dass auch er mit den Konventionen bricht, indem er nicht mehr seine Angebetete besingt, sondern sich im medialen Modus der Liebesklage direkt an seinen Nebenbuhler wendet. Durch seinen perfiden Appell, den er in Form eines semantischen Antagonismus zu Morons Vitalitätsbekundung verkündet, erhofft er sich eine 36 Vgl. Riffaud, Caldicott und Piéjus (2010), 1410. <?page no="113"?> 112 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien Selbstauslöschung des Querulanten, um wieder die alleinige Aufmerksamkeit von Philis zu bekommen. Doch der Hofnarr fingiert nur eine Befolgung seines Ratschlags, da er einen Suizid vorschützt und folgendergestalt kommentiert: „Je suis votre serviteur, quelque niais.“ (PdE, 575) Mit diesem Kunstgriff aus der Farce erfährt die Bedrohlichkeit der Situation eine komische Aufhebung und wird im Zuschauerlachen gebrochen, da sowohl Tircis als auch die bukolische Welt samt ihrer Konventionen dem Verlachen preisgegeben werden. Moron ist in dieser Szene der Schelm, der durch sein Verhalten die Norm des Liebeswerbens angreift, an welcher Tircis weitestgehend festhält, wenn er singt: „ Ah! quelle douceur extrême, / De mourir pour ce qu’on aime. “ (PdE, 575) Der Hofnarr degradiert den amourösen Pastoraldiskurs und macht sich zum Antihelden; er verwandelt das Arkadien in ein Antiarkadien: The language of Moron […] in the versified part, is positively burlesque. But it is more: it is mock heroic and parodic in effect. […] In short, it is a constant reminder of the interplay between reality and illusion and, by extension, between the various levels of illusion involved in this complex royal entertainment. 37 Claude Abraham betont die Aktualisierung der theatralischen Zuschauerperspektive und hebt außerdem das parodistische Moment des Intermediums hervor, das ein lebensweltliches Substrat hat: Wie so oft verkündet der Narr die Weisheiten respektive Wahrheiten der sozialen Lebenswelt. In diesem Beispiel entspricht Morons Betragen einem Liebhaber à la mode , der mit der in der pastoralen Welt noch Gültigkeit habenden, traditionellen Liebeskonzeption „l’homme propose, la femme dispose“ 38 bricht. Dieses zu Beginn der 1660er Jahre angezweifelte Liebesmodell wurde durch ein neues abgelöst, das auf eine reziproke Anerkennungsdialektik der Liebenden abzielt und Morons Gesinnung entspricht. 39 Vor diesem Hintergrund sind die Zofe und der Schäfer die angegriffenen Autoritätspersonen, da sie auf den in ihrer Handlungswelt entsprechenden Normen insistieren und nach Abgang des Querulanten ihren alten Liebesdiskurs wieder aufnehmen. Moron verbindet in seinem komischen Betragen die Norm mit dem Ausgegrenzten. Er reüssiert, weil der Unsinn seiner verzweifelt an der alten Norm festhaltenden Opponenten der komischen Normaufhebung zum Opfer fällt. 40 Denn selbst wenn der Angreifer unmoralisch ist, ermöglicht erst die erschöpfte Moral - in diesem Fall die absolut gesetzte Autorität der Geliebten - den Angriff. Die Szene ist somit auch als Abgesang auf die Pastoraltradition zu lesen; sie hat eine metapoetische Funktion. 37 Abraham (1984), 27. 38 Riffaud, Caldicott und Piéjus (2010), 1411. 39 Vgl. ebd., 1411. 40 Vgl. Matzat (1982), 239. <?page no="114"?> 3.2. Die unmoralische Weltanschauung 113 Wie bereits im Intermediumbeispiel zu Monsieur de Pourceaugnac aufgezeigt wurde, wird auch in diesem Zwischenspiel der Kontrast der Duellanten musikalisch inszeniert. Moron versucht sich ungeschickt an der gefühlvollen Arie und kontrastiert so mit der elaborierten und gekonnt gesungenen Melodie von Tircis. Seine fragmentarisch vorgetragene Melodie wird mittels vermehrter Tonrepetitionen umgesetzt. 41 Das Gestotter der komischen Figur gleicht einer Stagnation, die auf den bereits ermüdeten pastoralen Liebesdiskurs hin interpretiert werden kann, den es durch einen zeitgemäßen, galanteren zu ersetzen gilt. Neben den unterschiedlich artikulierten Gefühlsempfindungen tragen auch die divergierenden Tonhöhenregister der Sänger zum musikalischen Kontrast bei; die Partie von Moron ist für eine helle Baritonstimme geschrieben, für eine basse-taille , derweil Tircis’ Arie eine Bassstimme verlangt. Der musikalische Kontrast erzeugt ein komisches Moment, das die Pastoraltradition musikalisch degradiert, charakterisiert sie sich doch gerade über die melodisch-harmonische Ausdrucksweise der Protagonisten. In diesem Fall hat die Musik keine einträchtige Harmonisierungsfunktion, sondern ein störendes, disharmonisches Moment, das mit dem unmoralischen Betragen im Sinne des farcesken Agons der Figuren koinzidiert und dieses in seiner Publikumswirkung unterstützt. Die Musik des Intermediums hat infolgedessen die Aufgabe, die moralische Dimension des Sujets auf die musikalische Ebene zu transponieren und auditiv transparent zu machen, ohne die Absicht, dieses musisch harmonisieren zu wollen, denn der musikalische Agon wird nicht in Eintracht aufgelöst. Die Unmoral wird dem Zuschauer über die Musik kommuniziert und festigt zugleich die Theaterkommunikation zum Publikum, das in eine dominant-theatralische Perspektive hineinmanövriert wird. Die beiden oben ausgeführten Textbeispiele zur Genese des komischen Agons in den Intermezzi zeichnen sich durch einen direkten komischen beziehungsweise farcesken Agon aus; der komische Wettstreit wird dabei interpersonell und unmittelbar ausgetragen. Daneben bietet die Gattungsbeschaffenheit der comédie-ballet ein weiteres Komikpotenzial, dem im Folgenden nachgegangen wird. 3.2.2.3 Le Malade imaginaire 42 und George Dandin Agonale Strukturen können in den Ballettkomödien auch aus der kontrastiven Gemütslage zwischen dem melancholischen Komödienhelden und den heiteren Figuren der Zwischenspiele entstehen, wobei in der Gesamtwahrnehmung der 41 Vgl. Partitur: Lully (1690 [1664]), 119-126. 42 Das Vorhandensein diverser Texteditionen hat schon immer Anlass zu Spekulationen in der Molière-Forschung gegeben. Ich habe mich entschieden, den Text aus der Edition von Denis Thierry und Claude Barbin aus dem Jahre 1675 zu analysieren, der einzige Text, <?page no="115"?> 114 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien Zuschauer die Leichtigkeit der Zwischenspiele mit der sozialen Härte der Komödie konkurriert. Bei der Austragung des Agons liefern sich beide Parteien keinen direkten Disput, weil sie nur in eine unmittelbare kommunikative Interaktion geraten. Da die Figuren die jeweiligen Spieleinheiten mit ihrer Gemütslage atmosphärisch prägen, nimmt der Zuschauer kontrastive Effekte wahr, die ein simultanes Rivalitätsverhältnis der dramatischen und theatralischen Kommunikationsebene offenbaren. Dabei steht die Komödie grosso modo für die Dramatik und das Interludium für die Theatralik. Es geht um einen indirekten figuralen Effektwettstreit, der sich auf der Makrostrukturebene reflektiert und vom Zuschauer über den Kontrast der unterschiedlichen Ambiente von Komödie und Ballett wahrgenommen wird, die im Zuge einer einträchtigen Ballettkomödie indirekt in Konkurrenz zueinander zu treten scheinen. Mithin kann von einem indirekten Effektagon gesprochen werden. Verstärkt wird diese Bipolarität durch den Medienwechsel von Sprechzu Musikbeziehungsweise Tanztheater, wobei dem Aspekt der Redegebundenheit in diesem Kontext eine zentrale Funktion für die Stimmungslage zukommt: Mittels Prosa wird die nüchterne, lebensweltliche Komödienwelt, mittels Versen die liebliche, exotische Welt des Intermediums von ihren zentralen Trägern zum Ausdruck gebracht. Charles Mazouer spricht angesichts des Expressionscharakters der Zwischenspiele von einem climat de joie 43 , der von der harten Realität der Komödie wie auch von deren ‚harter‘ Agonik abweicht und eine stark emotive Funktion erfüllt. In Le Malade imaginaire versucht der Räsoneur Béralde, seinem hypochondrischen Bruder angesichts dessen Neigung, den eigenen Gesundheitszustand peinlichst genau zu eruieren, etwas Zerstreuung zu verschaffen, indem er ihm im Glauben der Zeit, dass Musik eine kurative Wirkung entfalten könne, 44 ein Divertissement zur Genesung schenkt: b éralde : […] Je suis bien aise que la force vous revienne un peu, et que ma visite vous fasse du bien. Oh çà, nous parlerons d’affaires tantôt. Je vous amène ici un divertissement que j’ai rencontré, qui dissipera votre chagrin, et vous rendra l’âme mieux disposée aux choses que nous avons à dire. Ce sont des Égyptiens vêtus en Maures, qui font des danses mêlées de chansons, où je suis sûr que vous prendrez plaisir, et cela vaudra bien une Ordonnance de Monsieur Purgon. Allons. ( MI , 689) Die freudige und farbenfrohe Gesangs- und Tanzeinlage wird vom kränkelnden Argan und dem besorgten Béralde betrachtet, sodass sich eine Theater-auf-dem- Theater-Situation einstellt. Dem Zuschauer breitet sich ein doppeltes Bild der der gewiss von Molière ist. Vgl. „Les deux textes du ‚Malade imaginaire‘“ in Forestier, Riffaud und Piéjus (2010), 1561-1566. 43 Mazouer (1993a), 36. 44 Vgl. Riffaud, Caldicott und Piéjus (2010), 1412. <?page no="116"?> 3.2. Die unmoralische Weltanschauung 115 Darstellung auf der Bühne aus: Zum einen sieht er die Figuren der Komödie - im Mittelpunkt den alten, im weißen Nachthemd gekleideten, 45 imaginären Kranken - und zum anderen betrachtet er das bunte Treiben der karnevalesken Inszenierung. Die unterschiedlichen Effekte werden simultan über die theatralische Kommunikationsebene an den Zuschauer vermittelt und generieren eine rivalisierende Kontrastwirkung zwischen Komödie und Intermedium, die zu einem komischen Moment auf der Ebene der Ballettkomödienstruktur führt. Dieser Wettstreit ist ein indirekter farcesker Effektagon, da die beiden Darstellungsebenen nicht interagieren, aber eine gemeinsame Bühnenpräsenz haben und zur Fiktion gehören. Da beide Figurengruppen nicht la cour et la ville angehören, verweist die Inszenierung deutlich auf die textinterne Sujetschicht und akzentuiert deren farceskes Substrat . Die simultan dargestellten Bilder stehen in einer Aktiv-Passiv-Opposition. Soll heißen: Die Komödienfiguren pausieren, während die Intermezzo-Darsteller aktiv das Theatergeschehen steuern und eine asymmetrische Raumverteilung bedingen. Mithin nimmt der frohmütige Gesang der Mauren den Hauptbühnenraum ein. Diese repetieren refrainartig den carpe-diem- Topos: Profitez du Printemps De vos beaux ans, Aimable jeunesse; Profitez du Printemps, De vos beaux ans, Donnez-vous à la tendresse. ( MI , 690) In komischem Kontrast zum lebensbejahenden Tenor der Mauren, der am Ende des Intermediums musikalisch und choreografisch in einer lebendigen Gigue und in einem leichtfüßigen Passepied, „[pour faire] sauter des Singes qu’ils [les Maures, Anm. S. W.] ont amenés avec eux“ ( MI , 692), umgesetzt wird, 46 steht der verschrobene Argan mit seinem Krankheitshabitus und seiner körperlichen Steifheit in seinem Sessel. Die ruse Béraldes, ihn mittels dieser kleinen Aufmerksamkeit von seiner idée fixe abzubringen und gefügiger in der geplanten Diskussion um Angéliques 45 Obgleich Molière die Beschreibung von Argans Kleidung weitgehend ausspart, kann dennoch präsupponiert werden, dass der kranke Körper in ein weißes Nachthemd gehüllt und mit einer Schlafmütze inszeniert werden sollte, wie es der damaligen Schlafmode entspricht. Die Schlafkappe krönt Argan in ähnlicher Weise wie die Comtesse d’Escarbagnas zum Narren in der Handlungswelt. 46 Eine detaillierte Zusammenschau der musikalischen und choreografischen Strukturen zum zweiten Intermedium des Malade imaginaire findet sich bei Powell (1992), 242. <?page no="117"?> 116 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien zukünftigen Ehemann zu machen, verfehlt ihr Ziel. Argan zeigt sich nicht beeindruckt vom insistierenden Liebesrespektive Lebensappell der Sänger an die frei gelebte, junge Liebe. Er entzieht sich zunächst der anstehenden Diskussion, springt stocklos ins Nebenzimmer, wo sich seine chaise percée befindet, und beweist einmal mehr, dass er nicht kuriert ist, dass er sich seinen kranken Zustand nur einbildet. Als ihn Toinette daran erinnert, dass er ohne Stock nicht laufen könne, geht er prompt darauf ein und agiert entgegen seines tatsächlichen physischen Gesundheitszustandes mit den Worten: „Tu as raison, donne vite.“ ( MI , 692) Argan greift zu seinem Stock wie der Narr zu seinem Stab. Durch diese analoge Tat ergreift er erneut theatralisch Partei für seine Narrheit. Seine idée fixe bleibt unverändert, was zudem bedeutet, dass er keine Änderung in der Wahl seines Schwiegersohns akzeptieren wird. Das Maurentanzintermedium hebt sich durch eine besondere Art der Integration ab, denn es ist nur über die Dramenstruktur an die Komödie angebunden und zeichnet sich durch eine vom Sujet der Komödie divergierende Thematik aus. Der komische Agon konstituiert sich in diesem Fall sowohl auf der Makroals auch auf der Mikrostruktur: Er agiert nicht nur auf der Ebene der Ballettkomödienstruktur als Effektagon, sondern bekommt eine weitere Dimension, die über die Sujetstruktur der Komödie ausgedrückt wird. Dieser agonale Mehrwert wird durch die mise-en-abyme- Struktur des Interludiums konditioniert, das von Béraldes ruse beeinflusst ist. Der indirekte Angriff des Bruders auf die Autoritätsperson Argan vollzieht sich dadurch, dass er ihm sein Fehlverhalten über das Divertissement aufzuzeigen gewillt ist. Dies gelingt ihm während der Maurentänze, aber nicht darüber hinaus. Beide sind Verlierer, da die komische Normaufhebung - die in der wechselseitigen Korrumpierung des geschwisterlichen Respekts vorliegt - als Zeichen einer gesellschaftlichen Unvernunft jenseits von la cour et la ville aufzufassen ist. In dieser Situation wird die Sujetstruktur der Komödie von Argans bêtise dominiert, die das Intermedium aussetzt und neuen Raum für die ruse schafft, die im Zeichen eines Inversionsversuches des komischen Helden steht. Der Figurenkontrast der beiden Brüder bezüglich ihrer moralischen Vorstellungen 47 wird auf die Makrostrukturebene projiziert und präsentiert sich in einem indirekten farcesken Effektagon, der beim Zuschauer über kontrapunktische Effekte für Heiterkeit sorgt und die interpersonalen Dissonanzen der beiden temporär im Zwischenspiel pausieren lässt. Im Gegensatz zur geschilderten Szene in Le Malade imaginaire erfüllen die pastoralen Interventionen in George Dandin - da nicht in die Komödienhand- 47 Béraldes Räsoneurposition ist hier bereits in Ansätzen brüchig, da er sich auf ein Spiel mit dem komischen Helden einlässt und mittels seiner List auch manipulative Intentionen hegt, welche ihn nicht mehr ganz honnête erscheinen lassen, sondern seine spätere Intrigenführung antizipieren. <?page no="118"?> 3.2. Die unmoralische Weltanschauung 117 lung integriert - innerhalb der Komödienhandlungswelt keine handlungssteuernde, sondern eine handlungsbrechende beziehungsweise handlungssistierende Funktion. Die Pastorale besitzt eine eigene Handlungswelt, die keinen expliziten Einfluss auf das Komödiensujet hat und nicht an die Intrige von George Dandin angeknüpft ist. Sie schließt mittels anderer Korrespondenzbezüge an. Zu nennen wäre das ländliche Ambiente, das mit dem der Komödie korrespondiert, 48 das Liebessujet, wie auch der figurale Korrespondenzbezug am Ende der einzelnen Komödienakte, der über den komischen Helden in seiner dramenstrukturierenden Funktion etabliert wird und ihn als Verbindungselement zwischen Komödie und Pastorale fungieren lässt: 49 Alle drei Akte enden damit, dass Dandin in monologischer Form seinen Kummer über die selbst verschuldete Situation zum Ausdruck bringt, wodurch ein melancholischer, zugleich ironischer Unterton das Ende der jeweiligen Akte besiegelt. Der Bauer wird stets von heiteren Schäfern in seinen Seufzertiraden unterbrochen und von der Bühne vertrieben, sodass sich der Genrewechsel unmittelbar nach Auftritt der bukolischen Figuren vollzieht und ein freudiges Effektdispositiv das melancholische ersetzt. Ausschließlich im Finale lässt sich Dandin auf den Ratschlag eines Freundes ein, seinen Kummer im Wein zu ertränken, und nimmt am karnevalesken Bacchusfest der Schäfer teil. 50 Als Schlüssellexem der Überleitungspassagen kann das in den drei Interludien wiederkehrende Verb ‚interrompre‘ angesehen werden, das den medialen Aufführungswechsel einleitet und den Handlungsbruch in der Komödie aufzeigt, denn Dandins idée fixe wird während der Pastorale ausgesetzt. Ähnlich wie Béralde versuchen die Schäfer, den komischen Helden von seiner ‚Ver-rücktheit‘ abzubringen und ihm mit ihrem wohlgemuten Verhalten Lebensfreude abzugewinnen. Allerdings müssen sie wie der Räsoneur ein ablehnendes Betragen seitens des komischen Helden hinnehmen, das sich im vergrämten Abgang Dandins zeigt. Da die Pastorale einem selbstzweckhaften Spielimpuls folgt und sequenziell angelegt ist, kann von einem figuralen Wettstreit wie in Le Malade imaginaire 48 In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, dass das höfische Divertissement von 1668 im Park von Versailles stattfindet und speziell für die Inszenierung ein Theater mit großem Garten errichtet wird. Das gleiche Bühnenbild der beiden Handlungswelten dient als räumlicher Angelpunkt zwischen Komödie und Pastorale und verbindet diese vorzüglich miteinander. 49 Vgl. Mazouer (2007), 24. 50 Mazouer problematisiert die ambige Lesart einer tragikomischen Pastorale, die sich daraus ergibt, dass sie sowohl freudige als auch tragische Elemente enthält: „De toutes les manières, qu’elle soit prise au sérieux ou non, la souffrance n’a jamais le dernier mot dans la pastorale: les bergères accueillent finalement l’amour et acceptent les amoureux transis. La pastorale invite inlassablement à l’amour, au plaisir et chante la joie de l’amour. La leçon hédoniste est universelle.“ Mazouer (1993b), 126. <?page no="119"?> 118 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien nicht gesprochen werden. Pastorale und Komödie kommunizieren über den komischen Helden miteinander und stehen in einem dialogischen Verhältnis zueinander, das von einer Bipolarität geprägt ist: Die Härte der realen Welt der Komödie trifft auf die gefühlsbetonte und glücklich ausgehende Pastorale, die dem komischen Helden am Ende einen Zufluchtsort bietet. 51 Sonach ergibt sich ein indirekter Effektagon auf der Makrostrukturebene, der dem Zuschauer über die kontrapunktischen Effektdispositive kommuniziert wird, wenn beide Handlungswelten um den komischen Helden ringen. In diesem Fall wird die agonale Struktur lediglich über die Makrostrukturebene vermittelt, da das Intermedium keine Auswirkung auf die Komödienintrige hat, kein Agon über die Ebene der Figuren ausgefochten wird. 52 3.2.2.4 Le Bourgeois gentilhomme Zu Beginn der Ballettkomödie skizzieren Musik- und Tanzlehrer den komischen Helden aufgrund seines goût populaire als lächerlichen Bürger, als „un Homme à la vérité dont les lumières sont petites, qui parle à tort et à travers de toutes choses et n’applaudit qu’à contresens“ ( BG , 266). Er stört mit seinem Benehmen die Gesangseinlage des Kunstlieds „Je languis nuit et jour“ seines Musikers - das als archétyp de l’air galant zu verstehen ist - und erinnert an jenen fâcheux , der als Theaterstörenfried in gleichnamiger Ballettkomödie die Aufführung durch sein unschickliches Verhalten beeinträchtigt: „M onsieur J ourdain : Donnez-moi ma Robe pour mieux entendre … Attendez, je crois que je serai mieux sans Robe … Non, redonnez-la-moi, cela ira mieux.“ ( BG , 268) Das Kunstlied bereitet dem Bürger keine Freude, er findet es langweilig und trübsinnig. Ihn überzeugt das Volkslied „Je croyais Janneton“, das er im Anschluss an den professionellen Gesangsvortrag selbst anstimmt. Dem Volkslied dient das Kunstlied als Kontrastfolie, die des Bürgers Unkenntnis und dessen schlechten Geschmack herauszustellen sucht. So findet eine Agonik zwischen bêtise und ruse statt, die auf dem Prinzip dieser Kontrastwirkung fußt: Der Musiker repräsentiert die höfische Norm mit seiner air galant , sein parasitäres Wesen entfernt ihn aber von der raison und nähert ihn der déraison Monsieur Jourdains an, dessen Versuch, sich dem Kunstlied mittels seiner Volksweise zu entziehen, daran scheitert, dass er Position für das Populäre und nicht das Noble bezieht. Der Musiker erträgt die geschmacklichen Entgleisungen des Bürgers, denn „son argent redresse les jugements de son Esprit“ ( BG , 266). 51 Vgl. Mazouer (2007), 24. 52 Das flüchtige Gerangel zwischen Dandin und den Schäfern ließe sich als farcesker Agon beschreiben, weil dadurch ebenfalls ein Angriff auf den komischen Helden stattfindet, der allerdings fernab jeglichen Bezugs zur Komödienintrige, mithin rein theatralisch gedeutet werden müsste. <?page no="120"?> 3.2. Die unmoralische Weltanschauung 119 Henry Prunières sieht das komische Moment dieses Volkslieds darüber hinaus in der Verbindung von Musik und Poesie begründet, womit er der Erklärung des Musiklehrers nachzugehen scheint, der Monsieur Jourdain das Kompositionsprinzip des Kunstlieds erläutert: „Il faut, Monsieur, que l’Air soit accommodé aux Paroles.“ (BG, 269) Diese Aussage hebt eines der Grundprinzipien von Lullys Musik hervor, das besagt, dass kein Klang ohne Sinn zu verstehen ist. Prunières spricht hinsichtlich der Chanson von einer ‚verletzten Prosodie‘ - „la manière dont la musique et la poésie sont accouplées“ 53 - und akzentuiert damit den alten, vor Lully gebräuchlichen Kompositionsstil, der sich durch eine Spannung zwischen den prosodischen Effekten des Textes und den musikalischen Effekten der Melodie auszeichnet. 54 Sonach verstößt das Volkslied gegen die aktuelle Norm und prangert indirekt die Kunstfertigkeit des Liedverfassers Pierre Perrin an. 55 Das lebensweltliche Rivalitätsverhältnis zwischen Molière und Perrin spielt eine Schlüsselrolle für die Textgestaltung und überschattet die fiktionale Agonik der Figuren. Mit Monsieur Jourdains Gesang karikiert Molière den Künstler, der ihm mit seiner comédie en musique Konkurrenz macht. Er verhöhnt mit der kleinen pastorale comique Perrins Kunst und zeigt, dass er dessen Verse zu einem satirischen Genre umzufunktionalisieren versteht. Er stellt unverkennbar die comédie-ballet als Genre über das der comédie en musique . Vielleicht sind die Angriffe bereits als angsterfüllte Vorahnungen Molières zu lesen, dass sich das musikalische Genre in den nächsten Jahren durchsetzen und die comédie-ballet verdrängen wird. 56 Die Idee des Kontrasts zwischen hohem und niedrigem Stil ist ein beliebtes Unterfangen in den Ballettkomödien und wird in Analogie zu diesem Beispiel in der Tanzeinlage des ersten Interludiums fortgeführt. Dort kontrastiert die Eleganz der professionellen Balletttänzer mit den plumpen Tanzversuchen 53 Prunières (1921), 154. 54 Vgl. Auld (1991), 126. 55 In Le Malade imaginaire verspottet Molière Pierre Perrin erneut hinsichtlich seines art lyrique , hier verpackt er den Spott in Cléantes Rechtfertigung zur petit Opéra : „Est-ce que vous ne savez pas, Monsieur [Argan, Anm. S. W.], qu’on a trouvé depuis peu l’invention d’écrire les paroles avec les notes même? “ (MI, 681) Diese Anspielung auf die Entstehung der Oper ist unübersehbar und steht im Einklang mit dem Unmut einiger Zeitgenossen bezüglich des neuen Genres, wie dem von Charles de Saint-Évremond geäußerten: „Une sottise chargée de musique, de danses, de décorations, de machines, est une sottise magnifique, mais toujours sottise. C’est un vilain fond sous de beaux dehors, où je pénètre avec beaucoup de désagrément.“ Zitat in Forestier, Riffaud und Piéjus (2010), 1577. 56 Henry Prunières schreibt dazu: „Il est impossible que Molière ait vu d’un bon œil la création à Paris d’un théâtre d’opéra. […] Qu’il ait cherché à égayer les spectateurs aux dépens de Pierre Perrin, en faisant vanter par M. Jourdain la chanson assez ridicule dont le détenteur du privilège de l’Opéra s’était rendu coupable et qui sans doute alors courait les rues, cela me semble certain.“ Prunières (1921), 153. <?page no="121"?> 120 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien Monsieur Jourdains. Er bleibt in all seinen Versuchen immer nur eine schlechte Kopie dessen, was er sein will, und scheitert am goût mondain von la cour et la ville . Monsieur Jourdains Wille, ein französischer Edelmann zu werden, bedingt im Geiste des zeitgenössischen aristokratischen Lebensstils, die Kenntnis der Tanzkunst. In dieser Absicht engagiert er einen Maître à Danser , der ihm diese Fähigkeit näherbringen soll. Just bevor Molière den Bürger tanzen lässt, inszeniert er ein Intermezzo, in welchem fortgeschrittene Tanzschüler ihr Können demonstrieren. Im Nebentext heißt es: „ Quatre Danseurs exécutent tous les mouvements différents, et toutes les sortes de pas que le Maître à Danser leur commande; Et cette Danse fait le premier Intermède. “ ( BG , 273) Die vom Tanzlehrer angeleitete Balletteinlage zu Beginn des zweiten Aktes basiert auf dem Prinzip der scène de fragments , das durch eine Aneinanderreihung kurzer, verschiedenartiger Tanzsätze mit unterschiedlichen Rhythmen die Virtuosität der Interpreten zur Geltung bringt. 57 Diesen Aufzügen folgt ein italienischer Canario-Tanz, ein Sprungtanz, der durch Leichtigkeit und Lebhaftigkeit reglementiert wird und die meisterhafte Beherrschung der Tanzschüler zur Schau stellt. Der bürgerliche Edelmann drückt diesmal seine Begeisterung für die hohe Kunst aus. Die Tanzeinlage beschreibt er in seiner ihn charakterisierenden kulturabträglichen Art: „Voilà qui n’est point sot, et ces Gens-là se trémoussent bien.“ ( BG , 273) Im weiteren Verlauf der Szene verlangt er von seinem Tanzlehrer eine Tanzunterweisung: „[ J]e veux que vous me les [les Menuets, Anm. S. W.] voyiez danser. Allons, mon Maître.“ ( BG , 274). Das Menuett gilt als französischer Tanz par excellence , der von den anderen Tanzschülern würdig hätte aufgeführt werden können. Aber Monsieur Jourdains Ungeschicklichkeit lässt die Tanzübungen ‚unfranzösisch‘ in wildem Gezappel enden: M aître à d anser : Un Chapeau, Monsieur, s’il vous plaît. La, la, la; La, la, la, la, la, la; La, la, la, bis ; La, la, la; La, la. En cadence, s’il vous plaît. La, la, la, la. La jambe droite. La, la, la. Ne remuez point tant les épaules. La, la, la, la, la; La, la, la, la, la. Vos deux bras sont estropiés. La, la, la, la, la. Haussez la tête. Tournez la pointe du pied en dehors. La, la, la. Dressez votre corps. M onsieur J ourdain : Euh? (BG, 274) Die ausgesparten Regieanweisungen, die bei Molière selbst in einer verstärkt gestischen beziehungsweise choreografischen Szene nicht untypisch sind, werden durch die Kommandos und Korrekturen des Tanzlehrers im Haupttext ersetzt, wodurch sich das Bild eines verdrehten und ungelenken bürgerlichen Körpers 57 Vgl. Conesa, Piéjus und Riffaud (2010), 1455. <?page no="122"?> 3.2. Die unmoralische Weltanschauung 121 auf der Bühne einstellt. Monsieur Jourdains Choreografie kontrastiert mit der leichtfüßigen Tanzeinlage der Intermedientänzer, die ihn ob ihrer Virtuosität herauszufordern scheinen. Die parallele Ausrichtung der Komödien- und Zwischenspielszene generiert über ihre situative Analogie einen ästhetischen Kontrast, der als indirekter choreografischer Agon zu verstehen ist. Auch dieser Agon trägt sich auf der Ebene der déraison aus, da die parasitären Tanzschüler eine vom Erwerbsleben gestaltete Lebensform als professionelle Tänzer oder Tanzlehrer anstreben und nicht zur elitären Gesellschaftsschicht gehören, wie auch Monsieur Jourdain die Geschicklichkeit dieser trotz aller Bemühungen nicht erreicht. Das Attribut ‚indirekt‘ ist der Tatsache geschuldet, dass es vonseiten des Sujets keine Auseinandersetzung in Form eines Tanzduells zwischen Monsieur Jourdain und den Tänzern gibt, sondern zeitlich verschobene Choreografieeinsätze. Dabei ist der erste dem zweiten thematisch in puncto Tanzbeherrschung diametral entgegengesetzt. Die divergierenden Choreografien sind einzeln betrachtet anlässlich ihres indirekten Bezugs als rein ästhetische Darbietungen wahrnehmbar; der choreografische Agon weist eine ästhetische Eigenschaft auf. In der Ballettkomödie ist er im Zuge der Dramatisierung des Intermediumstanzes - die Rückkoppelung des Zwischenspiels an die Komödie - im Hinblick auf das Komödiensujet zu interpretieren. So sieht der Zuschauer aus dem indirekten choreografischen Agon das Scheitern des komischen Helden an seiner idée fixe , in seinem Bestreben, aus der Bürgerlichkeit ‚hinaustanzen‘ zu wollen. Monsieur Jourdains ungefüge Bewegungen reflektieren eine conduite malhonnête , einen Mangel an Gefühl für die Werte Maß und Anstand. Der Choreografiekontrast zeigt den sozialen Wettkampf zwischen Bürgerlichkeit und Adeligkeit auf, der Jourdain seine Tanzeignung und sinnbildlich seine Adelseignung abspricht. Fazit Die Textbeispiele lassen erkennen, dass die idée fixe der komischen Helden Handlungsschemata außerhalb gesellschaftlicher Normen begünstigt und ein Komödienuniversum der déraison kreiert, in dem es törichten Narren und gewitzten Schelmen ermöglicht wird, ihr unmoralisches Agieren auszuleben; dabei kann der komische Held selbst zum Narren respektive Schelm werden, wenn er wegen seiner Starrheit unmoralisch angegriffen wird: Für denjenigen, der die Waffe der Komik schelmisch einsetzt, kann sie zum Bumerang und er selbst zum Narren werden. 58 Auch Figuren der Nebenhandlungen können ihre Unvernunft im komischen Wettstreit untereinander ausstellen. Sie entfalten häufig die fixe Idee der Hauptfigur im Dienermilieu und generieren einen farcesken Agon, der 58 Vgl. Matzat (1982), 246. <?page no="123"?> 122 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien die textinterne Sujetschicht aktualisiert. Dies hat zur Folge, dass diese Nebenszenen das Sujet parodieren, den komischen Helden als lächerlich stigmatisieren und die Dramenstruktur in einer mise-en-abyme- Struktur potenzieren. Der farceske Wettstreit zeichnet sich durch eine gesteigerte Darstellungsartifizialität aus, die auf eine betonte Körperlichkeit in Form großer Gesten, Gesang und Tanz setzt, und schafft eine stark theatralische Situation. Die idée fixe bestimmt das theatralische Hauptgeschehen und macht die Widersprüchlichkeit der sozialen Existenz zum Schauspiel. 59 Dieser dominant vergnügliche Spielcharakter ist es, der den analysierten Ballettkomödien den Sujethaftigkeitsgrad eines Ereignisses zuschreibt und keine ernsthafte Weltbildmodifikation nach sich zieht. 60 Weiterhin wurden agonale Strukturen ermittelt, die spezifisch für die Intermedien der Ballettkomödien sind. Verallgemeinert kann diesbezüglich für das Dodekameron konkludiert werden, dass die Zwischenspiele sowohl in die Dramenals auch in die Sujetstruktur der Komödie integriert sind, wobei einzelne Schwerpunkte möglich sind. Die enge Verzahnung ist eine wesentliche Komponente für die Konstitution des komischen Agons und dokumentiert die Affinität zwischen Spiel und Komik. Dies hat zur Folge, dass Tanz und Musik maßgeblich den komischen Agon regeln. Die Musik kann eine harmonisierende Funktion haben - denn: [L]a musique et le chant ont des effets physiologiques si puissants et si agréables qu’ils recouvrent et métamorphosent le pathétique effectif du texte. La mélodie transforme l’expression de la douleur en harmonie. 61 Der Musik gelingt es darüber hinaus, den Normenkonflikt in ein moralisches Nirwana zu transponieren sowie eine Leichtigkeit des Seins zu postulieren. Sie kann durch Bewegungen des Tanzes unterstützt werden, indem beide in eine Symbiose treten, in dieser Performance kurzzeitig die Figuren aus ihrer Handlungswelt entheben und das Zwischenspiel als sujetloses Spiel präsentieren. Musik und Tanz können den figuralen Wettstreit forcieren und das unmoralische Moment musikalisch wie auch choreografisch akzentuieren und die Szene burlesk ausklingen lassen. 62 Das Spiel mit der Norm gestaltet sich in der Ballettkomödie im Vergleich zu anderen Komödien über eine Interaktion der diversen 59 Vgl. ebd., 264. 60 Eine Ausnahme zu den genannten Textbeispielen bilden Le Malade imaginaire und Le Bourgeois gentilhomme , da es sich in diesen Komödien um ein Pseudo-Metaereignis handelt. Die Intermezzo-Szene mit den Mauren wie auch die Szene mit den Liedern entspricht einem farcesken Agon und die Balletteinlage der Tanzschüler einem indirekten choreografischen Agon, sodass diese Darstellungen ihre Berechtigung in diesem Kapitel finden, unabhängig vom Grad der Sujethaftigkeit der Ballettkomödie. 61 Emelina (2000), 1494. 62 Vgl. Mazouer (1993a), 44. <?page no="124"?> 3.3 Die amoralische Weltanschauung 123 Kunstsprachen, die voneinander divergieren oder miteinander konvergieren können und so eine zusätzliche Komikdimension im Sinne eines multimedialen Agons offerieren. Musik- und Tanzeinlagen vermögen in einen ästhetischen Kontrast zum Sprechtheater zu treten, der durch ihre Dramatisierung zu einem kunstspezifischen Agon erweitert wird und direkt oder indirekt ausgerichtet ist. Dieser ästhetische Kontrast äußert sich auf der Ebene der Makrostruktur als Effektagon. Ferner erfüllen die Interludien durch die Theatralisierung von Musik und Tanz eine metapoetische, programmatische wie auch selbstreferenzielle Funktion in der Ballettkomödie. Im höfischen Kontext betrachtet fungieren diese Zwischenspiele als auflebendes Abbild der absolutistischen Festkultur. Der farceske und der multimediale Agon erzeugen ob ihrer textinternen Ausrichtung ein Lachen, das etwas Spielerisches impliziert, etwas Freudiges freisetzt: Sozialen Ordnungen, Grenzen und Hierarchien werden hinwegfegt, die Moral wird unkenntlich gemacht, paradoxerweise aber zugleich konstituiert: „[L]a norme elle-même peut devenir ridicule quand elle est déplacée. Cela prouve quand même que ce qui fait la norme, c’est le déplacement.“ 63 Das dargestellte Figurenarsenal setzt sich in unbedenklicher Weise über die bienséance hinweg, zum großen Gefallen des Publikums, das sich über die verzerrte Realitätsdarstellung des sozialen Lebens bewusst ist. 64 Daraus lässt sich verallgemeinert schlussfolgern: Lachen im klassischen Theater impliziert das Sich-Einlassen auf ein umgekehrtes Weltverständnis, welches einen Loslösungsprozess von Etabliertem in Gang setzt und eine Freisetzung des Unmoralischen mit sich bringt. 3.3 Die amoralische Weltanschauung der komischen Helden und Harlekin-Figuren 3.3.1 Le Mariage forcé Mit Le Mariage forcé kreiert Molière ein Sujet, das an die französische Farcentradition anknüpft, zugleich aber auch einen stark lebensweltlichen Bezug etabliert: Die Missgeschicke Sganarelles erinnerten das Hofpublikum an das in der Öffentlichkeit durchaus präsente Unglück des Grafen Philibert de Gramont, der von den beiden Brüdern der Mademoiselle Hamilton gezwungen wurde, sie zu heiraten. 65 Dieser lebensweltliche Bezug stellt beim Zuschauer im Verlauf der Ballettkomödie ein stets wiederkehrendes Aufleben der lebensweltlichen Rezeptionsperspektive ein, die mit der fiktionalen metadramatischen konkurriert. 63 Dandrey (1993), 21. 64 Vgl. Mazouer (2004), 159. 65 Vgl. Canova-Green (2007), 113. <?page no="125"?> 124 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien Der über 50-jährige Sganarelle ist besessen von der Idee, die junge Dorimène zu heiraten. Er ist ein Großbürger, der aus geschäftlichen Gründen viel in Europa umherreiste, allerdings wenig vom mondänen Geist inspiriert wurde. Er bleibt ein Bürger in all seinen Bestrebungen, die sich in seinen Geldsorgen, seiner Feigheit, seiner Contenancelosigkeit sowie seinem mangelnden Feinsinn für die soziale Schicklichkeit äußern. Dieser letzte Gesichtspunkt gipfelt in seinem Heiratswunsch, einer „Affaire, que j’ai en tête“ ( MF , 939), wie er sagt, die von Géronimo als „la plus grande de toutes les folies“ ( MF , 941) kommentiert wird und ihn in dessen Augen zu „le plus ridicule du Monde“ ( MF , 941) degradiert. Diese drei Attribuierungen zeichnen in der ersten Szene das abstrakte Gerüst des Sujets der Ballettkomödie vor, das auch in Anbetracht der Ganzheit des Dodekamerons verstanden werden sollte, da es das in allen Lustspielen vorhandene Handlungsprinzip aufzeigt: Die mentale Existenz der idée fixe , ihre extravagante Entfaltung in der Handlungswelt und die damit einhergehende Resonanz, die das Scheitern des sozialen Außenseiters demonstriert. Sganarelle, der komische Held, lässt sich nicht von seinem Unsinn abbringen und verteidigt sein Anliegen folgendermaßen: Outre la joie que j’aurai de posséder une belle Femme, qui me fera mille caresses; qui me dorlotera, et me viendra frotter, lorsque je serai las: outre cette joie, dis-je, je considère, qu’en demeurant comme je suis, je laisse périr dans le Monde la race des Sganarelles; et qu’en me mariant, je pourrai me voir revivre en d’autres moi-mêmes. ( MF , 942) Diese egoistischen Beweggründe für die angestrebte Vermählung schmälern Sganarelles zuvor verkündete Liebesbeteuerungen und offenbaren sein altpatriarchalisches Eheverständnis - eine überkommene, dem Mittelalter entstammende Weltanschauung -, 66 das gegen die progressiven Ideen mondäner Gesellschaftskreise opponiert: s ganarelle : […] Vous ne serez plus en droit de me rien refuser; et je pourrai faire avec vous tout ce qu’il me plaira, sans que personne s’en scandalise. Vous allez être à moi depuis la tête jusqu’aux pieds; et je serai Maître de tout […]. ( MF , 943) Sganarelles Forderungen an Dorimène, die sowohl in physischer als auch psychischer Hinsicht für sich erwünschte Verfügungsgewalt über das junge Mädchen, kommentiert sie zunächst mit: „Tout à fait aise, je vous jure.“ ( MF , 944) Es offenbaren sich aber alsbald ihre eigentlichen Absichten: Sie möchte den strengen Auffassungen und unerträglichen Zwängen ihres Vaters entkommen 66 Sganarelles Liebeskonzeption erinnert sehr an die seines Namensbruders in L’École des maris . <?page no="126"?> 3.3 Die amoralische Weltanschauung 125 und erhofft sich, mit Sganarelle an ihrer Seite die ersehnte Freiheit ausleben zu können, die sie im gesellschaftlichen Leben in Spielen, Bällen, Festessen und Promenaden meint finden zu können. Dessen ungeachtet entspricht sie kaum einer honnête femme und auch an der Adeligkeit ihrer Familie kann gezweifelt werden, versucht diese doch durch die Allianz mit dem vermögenden Bürger (wieder) reich zu werden. 67 Wie so oft bei Molière ist auch hier der Name Programm, denn das griechische Etymon ‚dorôn‘ , von welchem sich der Name Dorimène ableitet, bedeutet ‚Geschenk‘. 68 Er ist traditionell Frauen attribuiert, die einen freizügigen Umgang mit der Moral pflegen und für materielle Vorzüge empfänglich sind. 69 Dies trifft auch auf Dorimène zu und äußert sich, wenn sie ihrem Geliebten Lycaste ihre Heiratspläne schildert: „C’est un homme que je n’épouse point par amour; et sa seule richesse me fait résoudre à l’accepter. Je n’ai point de bien. Vous n’en avez point aussi; et vous savez que sans cela on passe mal le temps au Monde.“ ( MF , 954 f.) Obschon dieses Betragen unmoralisch ist - plant sie doch, in Bälde eine reiche Witwe zu sein und anschließend ihr Liebesglück mit Lycaste erleben zu können -, pflegt das junge Mädchen zugleich eine moderne Eheauffassung, die den Geist mondäner Kreise, wie jenen der Preziösen, erkennen lässt, etwa wenn sie von gegenseitiger Zuneigung spricht: [ J]e tiens qu’il faut avoir une complaisance mutuelle; et qu’on ne se doit point marier, pour se faire enrager l’un l’autre. Enfin nous vivrons, étant mariés, comme deux Personnes qui savent leur monde. Aucun soupçon jaloux ne nous troublera la cervelle; et c’est assez que vous serez assuré de ma fidélité, comme je serai persuadée de la vôtre. ( MF , 944) Der Konflikt zwischen den beiden Verlobten resultiert aus unterschiedlichen Ehekonzeptionen, einer konservativen und einer modernen. Die Freizügigkeit Dorimènes schürt Sganarelles Zweifel an seinen Heiratsplänen, die bereits im Gespräch mit Géronimo anklingen und die er vor der anstehenden Trauung aus dem Weg räumen will. Zu diesem Zweck zieht er professionelle und freundschaftliche Berater heran, die ihm allerdings ausweichen oder ihn in seiner Vorsicht bestätigen. Anders als erhofft, findet er jedenfalls keinen Zuspruch für seine geplante Ehe. Ähnlich wie bei Dandin zeigt sich bei Sganarelle ein 67 Vgl. Mazouer (1993b), 183. 68 Vgl. Riffaud, Forestier und Piéjus (2010), 1553. 69 Molière nennt die Geliebte Jourdains in Le Bourgeois gentilhomme ebenfalls Dorimène, die im Sinne ihres Etymons ein Geschenk vom Bürger erhält. Diese Schenkung stellt einen zentralen Aspekt in der Ballettkomödie dar, da hieran Dorantes Hypokrisie zum Ausdruck gebracht wird, der ihr diesen Diamanten arglistig, weil nur in seinem Namen, zum Geschenk macht. Vgl. BG, Akt III, Szenen XV und XVI. <?page no="127"?> 126 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien komischer Leidensweg, ausgelöst durch den Eigennutz der idée fixe , die von einer anfänglichen Heiratsbesessenheit in die Sorge um den cocuage mündet. Dem komischen Helden vernebelt dieser Umstand Sinn und Verstand, mit der Folge, dass er sich am Ende des ersten Aktes mit den Worten, „Ce sont quelques vapeurs, qui me viennent de monter à la tête“ ( MF , 944), an den Bühnenrand legt, einschläft und die Bühne für die Figuren des ersten Intermezzos freigibt. Dieses Zwischenspiel stellt Sganarelles Traum im Spiel-im-Spiel-Modus szenisch dar und ermöglicht dem Zuschauer einen Einblick in die Psyche des komischen Helden. Seine innersten Besorgnisse werden über tanzende Allegorien wie la Jalousie , les Chagrins und les Soupçons materialisiert und zur Theaterrealität erhoben. Diese Albtraumszene evoziert ein temporäres Aussetzen der Komödienhandlung und dient Sganarelles psychologischer Charakterisierung; 70 die extrarationale Darbietung ersetzt das Reale durch das Surreale. Der Zuschauer kann die Fantasiefiguren im Hinblick auf den Schlafmodus in sein Weltbild einordnen und im Sinne einer Innensicht Sganarelles deuten. Der Aspekt der unwirklichen Darstellung ist in diesem Fall mit einer empirischen Ordnung erklärbar, da das Medium Theater dem Publikum über dieses künstlerische Verfahren eine tiefenpsychologische Einsicht offeriert, die auch in der Handlungswelt der Komödie lediglich als Traum verstanden wird. Es zeichnet sich aber zudem ein crescendo von surrealer, aber empirisch erklärbarer Darstellung hin zur Inszenierung von Übernatürlichem in den Intermedien ab, womit das erste Zwischenspiel als Vorstufe einer Realitätsdiskrepanz anzusehen ist, die im nächsten noch weiter vom Realitätsanspruch der Komödie divergiert. Hier versagt die Empirie innerhalb der Fiktion, wenn der komische Held mit übernatürlichen Wesen in Form von Dämonen kommuniziert und nicht im Schlafmodus inszenatorisch realisiert wird. Im Übergang zwischen den Akten II und III wird das empirisch Unwirkliche ohne Sistierung der Komödienhandlung mit großem theatralischem Fokus umgesetzt. Das übernatürliche Moment tritt in die Handlungswelt der Komödie ein, wobei es zu einem Kollaps der Sujetrealitäten innerhalb der Ballettkomödie kommt. Das zweite Intermedium steht unter dem Einfluss der Opposition réalité - fiction und ist in die Dramen- und Sujetstruktur der Komödie integriert. Es ist ihm eine handlungstreibende Funktion zuzusprechen, da sich die Magierszene in die bereits in der Komödie aufgezeigten Konsultationsepisoden einreihen lässt und den komischen Helden ins Zentrum des Geschehens stellt. Das Zwischenspiel ist pro primo mit einem medial divergierenden Dialog zwischen Sganarelle und 70 Sie hat zudem einen direkten Einfluss auf das folgende Handlungsgeschehen, indem die Traumthematik zu Beginn des zweiten Aktes im Gespräch zwischen Sganarelle und Géronimo Widerhall in der Komödie findet. Ihr kann mithin eine handlungssteuernde Funktion beigemessen werden. <?page no="128"?> 3.3 Die amoralische Weltanschauung 127 dem Magier strukturiert, wobei der komische Held spricht, während ihm der Zauberer singend antwortet. Sein großes Vertrauen in die Kunst des Magiers - „rien n’est impossible à votre art“ ( MF , 967) - ermöglicht es Sganarelle, sich auf das Übernatürliche einzulassen. Um dessen Schicksal erfahren zu können, ruft der Magier vier Dämonen zu Rate: Des puissances invincibles Rendent depuis longtemps tous les Démons muets Mais par signes intelligibles Ils répondront à tes souhaits. ( MF , 964) Das geheime Wissen um die Zukunft wird dem komischen Helden über die nonverbalen „signes intelligibles“ vermittelt und nicht über den verbalen Code, der konventionell für eine Kommunikationsform innerhalb der realitätsbezogenen Handlungswelt steht, in dieser fiktionalen Welt des Interludiums aber keine Wirkung erzielen kann. Die Enthebung der Realität geht mit einer Enthebung der vertrauten Kommunikationsform einher. Die surreale Welt benötigt eine von der Lebenswelt abweichende Kommunikationskonvention, um das Unwirkliche zu verkünden. Somit verwundert es nicht, dass bei dieser Szene der szenische Ablauf nur im Nebentext kurz skizziert, das Spiel also weitgehend improvisiert werden kann. Begleitet wird das Ganze - dem unwägbaren Naturell der Dämonen entsprechend - von einer rhythmisch ungleichförmig betonten Musik: 71 „ Sganarelle les interroge, ils répondent par signes, et sortent en lui faisant les cornes. “ ( MF , 964) Der Einleitungsszene mit dem singenden Magier ist ein farcesker Agon zwischen ruse und bêtise zuzusprechen, weil zu Beginn der Szene noch kein Einbruch des Übernatürlichen stattfindet. Auf diesen sprachlich-musikalischen Dialog, bei dem Sganarelles Fragen mit den sibyllinisch gesungenen Antworten des Magiers in heterogener Eigenart repräsentiert werden, folgt eine mit fallenden Arpeggien begleitete Bass-Arie des Zauberers, die musikgeschichtlich charakteristisch für surreale Rollen ist. 72 Die Dämonen werden über die ihrem Naturell entsprechende sinistre Melodie herbeigerufen. Mit dem Auftritt dieser Fabelwesen 73 kommt ein übernatürliches Moment ins Spiel, denn sie stehen 71 Vgl. Partitur: Lully (1690 [1664]), 62. 72 Vgl. Riffaud, Forestier und Piéjus (2010), 1557. 73 Ein kleiner kulturgeschichtlicher Exkurs zur Bewandtnis dieser Fabelwesen soll ihre Existenz im Interludium und im Hinblick auf die Werkkohärenz erklären: Als Dämonen wurden Götter bezeichnet, die menschliche Schicksale zum Guten oder Bösen lenken konnten. Vielfach wurden sie aber für alles Unheilvolle verantwortlich gemacht und nähern sich in diesem Sinne semantisch dem Begriff ‚Schicksal‘ an. Sie wurden von <?page no="129"?> 128 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien nicht im Einklang mit der bisherigen Sujetrealität der Komödie, sodass ihnen das Attribut der fiction zuzuordnen ist, Sganarelle hingegen das der réalité . Aufgrund der freien Gestaltung der Szene kann über die figurale Konfiguration nur gemutmaßt werden. Es ist denkbar, dass ein lebhafter Tanz um den komischen Helden herum stattfindet. Sganarelle möchte sich gestikulierend den Dämonen entwinden und stiehlt sich dann ängstlich von der Bühne. 74 Der komische Angriff kann nicht mehr moralisch gedeutet werden, weil die Inexistenz der Figuren der Szene den Duktus einer Amoralität verleiht, womit schlussendlich auch kein moralischer Verlierer beziehungsweise Gewinner ausfindig gemacht werden kann. Die Magierszene bedingt ein temporäres Aussetzen der Moral, ein Aussetzen der Sujetrealität der Komödie. Dennoch steht die Botschaft der Dämonen im Einklang mit den Befürchtungen des komischen Helden, sodass auch hier, wie bei den anderen agonal angelegten Szenen, eine direkte nonverbale Auseinandersetzung stattfindet. Ferner ist es denkbar, dass der Intermezzo-Agon auch über die Makrostrukturebene vom Zuschauer verstanden wird. Hierbei steht die Komödie für die réalité und das darin eingeflochtene Zwischenspiel im Zeichen einer extrarationalen fiction . Der Agon wird indirekt durch den Kontrast der Sujetrealitäten im Sinne zweier Wirklichkeitsdispositive ausgetragen und dem Zuschauer in dieser Ambiguität kommuniziert. Die übernatürlichen Vermittlungsinstanzen verkörpern aufgrund ihres theriokephalen Erscheinungsbildes eine fremde, bedrohliche Gegenwelt. Sie sind als extrarationaler Ausdruck des Dunklen und Unheimlichen im Intermezzo zu verstehen. In dieser letzten Lesart sind sie zudem als personifizierte Angstchimären des komischen Helden zu lesen. Eine etymologische Untermauerung dieser Interpretation gelingt über den Begriff ‚Chimäre‘, womit im 17. Jahrhundert im Allgemeinen Mischwesen wie auch lächerliche Imaginationen bezeichnet werden. Zu Letzteren ist eindeutig Sganarelles idée fixe zu zählen - seine Absicht, Dorimène zu ehelichen, wie auch die dazugehörigen Bedenken. Lächerlich griechischen Philosophen für die göttliche Stimme im Menschen gehalten. Unter diesem Aspekt ist ersichtlich, dass sie als mahnende Stimme des Gewissens verstanden und ihnen eine Orakelfunktion attribuiert wurde. Vgl. Herder Lexikon: Griechische und römische Mythologie. Götter, Helden, Ereignisse, Schauplätze (2006), 52. Molière verwendet diese Fabelwesen in der Gesinnung ihrer traditionellen Vorprägung, wenn sie Sganarelle Hörnerzeichen aufzeigen und ihm damit eine gestische Prophezeiung in der Bedeutung eines betrogenen Ehemanns vermitteln. Selbst wenn Le Mariage forcé mit der Hochzeitsfeier vor solch einem Betrug endet, gibt es klare Vorzeichen, die ihn vorwegnehmen. 74 Sganarelles folgende Replik im Gespräch mit dem Magier über die Zuhilfenahme der Dämonen könnte einen Hinweis für diese angedachte Inszenierung geben: „Mais surtout qu’ils ne s’approchent point de moi que d’une distance raisonnable. Écoutez, chacun a ses raisons. Ah! je tremble déjà; au nom de Dieu, ne m’effrayez pas.“ (MF, 968) Darüber hinaus enden weitere Intermedien damit, dass der komische Held von der Bühnenfläche vertrieben wird, wie in George Dandin aufgezeigt . <?page no="130"?> 3.3 Die amoralische Weltanschauung 129 an diesem Vorhaben ist neben den ungleichen Ehepartnern der Sachverhalt, dass Sganarelle Zweifel an der Treue seiner Verlobten hat, diese aber nicht beseitigen kann und bis zum Ende daran festhält; zudem die Tatsache, dass er nicht mehr vom mündlichen Ehevertrag zurücktreten kann und in das von ihm selbst verschuldete Unglück der mariage forcé steuert. Die Dämonen versinnbildlichen den abstrakten Begriff der fixen Idee des komischen Helden, sie repräsentieren topisch seinen Argwohn und lassen seine Visionen plastisch zur Theaterrealität werden, indem sie dem Zuschauer sein Innerpsychisches sichtbar machen. Die Botschafter werden dabei selbst zur Botschaft, der Signifikant koinzidiert mit dem Signifikat, sodass im Umkehrschluss Sganarelles Inneres mit dem Äußeren korrespondiert und er diesmal seinen Albtraum wahrhaftig durchlebt und nicht nur träumt. Es verwundert den Zuschauer nicht, dass im Modus des Übernatürlichen die Konsultation - im Gegensatz zu den vorherigen Beratungsersuchen - nun reüssiert, da die Szene auch eine ernüchternde Konfrontation des komischen Hauptakteurs mit sich selbst darstellt. Die folie -Sujetschicht aktualisiert die Protosujetschicht, indem sie den inneren Agon des komischen Helden nach außen projiziert, das Geistliche materialisiert und die lebensweltliche Resonanz dieser Extravaganz in einer parallelen Handlungswelt zu der in der Komödie etablierten in einem moralischen Vakuum antizipiert. Molière beschränkt seine histoire auf eine Andeutung des cocuage , der im letzten Entree des Finales wiederum gestisch ausgedrückt wird, wie dem Nebentext zu entnehmen ist: „ Quatre Galants cajolant la femme de Sganarelle. “ ( MF , 966) 3.3.2 Le Bourgeois gentilhomme In Le Bourgeois gentilhomme zeigt sich die flagranteste Entfaltung der idée fixe Monsieur Jourdains in der Cérémonie Turque 75 zwischen Akt IV und V des Lustspiels, in der die Taufe zum Mamamouchi des Bürgers kühnste Träume übersteigt, da er nicht nur zu einem einfachen gentilhomme , sondern zu einem Paladin geadelt wird. „Il n’a y rien de plus noble que cela dans le Monde“ ( BG , 322), so der verkleidete Covielle, der den Familienvater für die geplante Intrige 75 Es existieren zwei Textfassungen der Cérémonie Turque , eine von 1671 und eine von 1682. Da keine Originalmanuskripte Molières auffindbar sind, kann sowohl über die Fassung von 1671 als auch über diejenige von 1682 bezüglich der für die Uraufführung verwendeten Textfassung nur spekuliert werden. Die neuere Textfassung ist jedoch in puncto Regieanweisungen und Ausführlichkeit des Haupttextes detailgetreuer und könnte der szenischen Realität sehr wohl entsprochen haben, denn eine anonyme Gravur von 1801 illustriert die im Nebentext angeführten Details zum Turban des Muftis - „garni de bougies allumées“ (BG, 365) -, die in der Textversion von 1671 fehlen. Daher beziehe ich mich bei der Analyse auf die Version von 1682. Vgl. Nédélec (2007), 6. <?page no="131"?> 130 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien gefügig macht, indem er ihm seine „visions de Noblesse et de Galanterie“ ( BG , 265) zu erfüllen verspricht. Die Intrigenlist besteht darin, dass ihm vorgeschützt wird, der Sohn der Altesse Turque wolle seine Tochter ehelichen; dabei mimt Cléonte, mit türkischer Kleiderpracht kostümiert, den osmanischen Schwiegersohn in spe und bleibt in seiner eigentlichen Identität von Monsieur Jourdain unerkannt - ein Umstand, der bereits die Verrücktheit des komischen Helden im Verkennen der Realität betont. Er sieht ausschließlich das, was er zu sehen gewillt ist, nicht das, was der Realität entspricht. Das Ziel der Ränkespieler ist es, mittels der Maskerade eine Liebesheirat zwischen Lucile und Cléonte mit Zustimmung des Familienoberhauptes herbeizuführen. Um der Glaubwürdigkeit der intendierten Heirat Nachdruck zu verleihen, soll Monsieur Jourdain nobilitiert werden, damit er dem großen Türken rangwürdiger erscheint und zugleich sein soziales Aufwärtsstreben befriedigen kann. Da dieses Unterfangen seiner Adelsstreberei entspricht, stimmt er dem Vorhaben der Intriganten zu, wodurch sich die Spiel-des-Spiels-Situation einstellt. Aus dieser innerhalb der Fiktion organisierten Figurenkonstellation entsteht eine mise-en-abyme -Struktur, die Komödie und Intermezzo miteinander verbindet und eine metadramatische Kommunikationsebene fokussiert, da eine Kommunikationssituation zwischen den Figuren aus der Komödie und denen aus dem Intermezzo entsteht. „Quand il aurait appris son rôle par cœur, il ne pourrait pas le mieux jouer.“ ( BG , 323) Diese an Dorante gerichtete Aussage des Dieners Covielle zeigt neben dem expliziten Verweis auf die Spielsituation die Authentizität Jourdains auf, denn er ist er selbst und braucht sich nicht zu verstellen. Der Protagonist unterzieht sich bereitwillig der angesetzten Metamorphose, da ihm diese die widerstandslose Erfüllung seiner Wünsche verspricht. Diese Veränderung beinhaltet einen Namens-, einen Identitäts- und einen Sprachwechsel im Einklang mit seiner idée fixe , seinem inneren Movens, seinem Ich. Sein Ich hat in der türkischen Zeremonie den passenden Rahmen, um sich in der sozialen Welt zu entfalten, infolgedessen sich eine Konkordanz von Innen und Außen für den komischen Helden offenbart. Die theatralische Rolle und die dramatische Identität finden dabei zusammen. Diese Einheit bedingt für ihn und die ganze Szene, dass die Fiktion als Wahrheit und die Wahrheit als Fiktion gelebt wird, 76 denn die vermeintliche gesellschaftliche Anerkennung der fixen Idee führt bei Monsieur Jourdain zu einer Transparenz von Signifikat und Signifikanten, zu einem gelebten rôle du cœur , der über seinen Körper im sozialen Gefüge konkretisiert wird. Individuelles Sein-Wollen und gesellschaftliches Sein-Sollen sind in der Utopie des Zwischenspiels harmonisch ineinander übergegangen, Monsieur Jourdains Körper ist zu einem Zeichen geworden, zu einem „signe 76 „La fiction est vécue comme vérité, la vérité se déploie en fiction.“ Starobinski (1961), 219. <?page no="132"?> 3.3 Die amoralische Weltanschauung 131 d’un degré zéro du paraître “ 77 . Demnach offenbart sich jedwede Anwandlung seines Verhaltens als prunkvoller Aufmarsch eines Narzissten und zugleich als infantiler Exhibitionismus. 78 In entgegengesetzter Position befinden sich die Ränkeschmiede, welche die väterliche Autorität nur mittels einer Intransparenz der Zeichen umgehen können und die Kluft zwischen Sein und Schein aufrechterhalten müssen, was sich plastisch in der Verkleidung ihrer Körper zeigt. Die Verschleierung der realen Welt lässt eine Matrix zum Vorschein kommen, die auf die Protosujetschicht der Komödie verweist, auf den präkomödialen Kontext, der nun aktualisiert und im Rahmen einer sozialen Unwirklichkeit ausgespielt wird. Es handelt sich dabei um eine amoralische Exteriorisierung des inneren Agons, der durch das Spannungsverhältnis zwischen bienséance und malséance geregelt ist. In diesem Fall können diese den gesellschaftlichen Maßstab auslotenden Begriffe auf den oxymoralen Titel der Ballettkomödie übertragen werden. Dieser spiegelt programmatisch das soziale Dilemma der komischen Hauptfigur wider, zeigt er doch zum einen in seiner Linearität den Werdegang Monsieur Jourdains grafisch auf, vom bourgeois zum gentilhomme . Zum anderen drückt er in seiner semantischen Gesamtheit dessen Entscheid gegen moralisch verbindliche Normen im Sinne einer malséance aus, da ein bourgeois gentilhomme ein zeitgenössisches Unding ist . Der innere Agon überträgt sich im Zuge seiner Veräußerung auf den friedfertigen - weil nur indirekt ausgetragenen - äußeren Agon. Eine direkte körperliche Austragung, beispielsweise die vom Mufti angeordnete Bastonade, findet im Modus des Scheins statt. In diesem Kontext bedeutet das, dass das Schlagen mit den Stöcken auf den Mamamouchi von diesem in Zusammenhang mit den türkischen Bräuchen gebracht wird und er daher keinen Verdacht hegt, eine angegriffene Autoritätsperson zu sein. Die agonale Opposition in der türkischen Zeremonie wird mit den Begriffen réalité für die wirklichkeitsbezogenen Intrigenspinner und fiction für den von der sozialen Wirklichkeit losgelösten komischen Helden erfasst, die in ihrer Interaktion die folie -Sujetschicht zum Vorschein bringen, da sie den Wahnsinn gemeinsam auf der Bühne feiern. Der Intermezzo-Agon hat in dieser Gestaltung eine philosophische Tiefendimension, die an Platons Höhlengleichnis erinnert, denn in der geschaffenen Scheinwelt wird das abstrakte Urbild konkretisiert und innerhalb einer potenzierten ‚Als-ob‘-Wirklichkeit theatralisch realisiert. Im Delirium des komischen Helden korrespondiert hier das Abbild unverzerrt mit dem Urbild. Die imaginäre Welt wird zu einer sublimen Apotheose seines Ich gemacht. 77 Met (1993), 46. 78 Vgl. ebd., 47. <?page no="133"?> 132 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien Während der Inthronisationszeremonie erscheint Monsieur Jourdain recht passiv, wenn er sich von seiner Entourage feiern und in der Zeremonie leiten lässt. Er wird zum Mittelpunkt des Geschehens auserkoren, zum passiven Akteur, zum Stativ der Szene. Dies kann in der Tat wörtlich ausgedeutet werden, denn Monsieur Jourdain dient dem Mufti als Stehpult, wenn dieser ihm den Koran auf den gekrümmten Rücken legt. Dieses symbolträchtige Bild veranschaulicht die Konsequenz seiner idée fixe auf sein Leben; es kann generell als Unterjochung des Menschen durch seinen amour-propre gedeutet werden. Der pater familias setzt seine Statistenrolle bei der Ausstaffierung mit Turban und Säbel fort, die ihn auch äußerlich zum „paladin“ machen oder eben, wie Madame Jourdain im weiteren Verlauf der Ballettkomödie missversteht, zum „baladin“. 79 Er kann fortan durch die empfangenen Prestigesymbole seine vermeintliche soziale Zugehörigkeit repräsentieren, weil er dem optischen Anspruch des vivre noblement entspricht - eine wichtige Prämisse für das Avancement zum Adel im 17. Jahrhundert. 80 Seine Aufgabe in diesem Spiel ist lediglich das Sein, seine physische Existenz. Der Wachtraum bedingt eine Enthebung der Sujetrealität im Zwischenspiel, die Kreation einer Parallelwelt zur Handlungswelt der Komödie, wobei Erstere Letztere allmählich substituiert. Ganz konkret kann der Zuschauer den Wechsel über das veränderte bürgerliche Interieur wahrnehmen, das sich in einen Palast aus Tausendundeiner Nacht verändert und in diesem Zuge den neuen Habitus seines Besitzers reflektiert. Hierbei spielt nicht nur die karnevaleske Verkleidung der Figuren eine Rolle, sondern in wichtiger Weise Musik, Tanz und Sprache, also die essenzielle Künstetrias der Ballettkomödie: Musikalisch schafft Lully hinsichtlich der organischen Verbindung zwischen Vokal- und Instrumentalpartien „das Fortschrittlichste, was [es] in diesem Genre gegeben hat“ 81 . Er kreiert ein exotisch-orientalisches Ambiente mit fingierten Sprachrepliken und den „Instruments à la Turque“ ( BG , 324). 82 Zu diesen zählen die große Trommel (Türkentrommel), Zimbeln und diverse Triangeln. 83 Die Klangfarben dieses Orchesters werden für die Cérémonie Turque gänzlich ausgeschöpft, sodass die Musik als ‚exotische Klangrede‘ wahrgenommen wird. Auch die Tempusvariationen tragen zu einer Entfremdung respektive zu einem komischen Effekt bei. 79 Vgl. BG, Akt V, Szene I. 80 Vgl. Canova-Green (1994), 82. 81 Böttger (1979 [1930]), 217. 82 Die türkische Musik steht lange Zeit repräsentativ für die orientalische Musik; ihre Rezeption setzt sich jedoch erst im 18. Jahrhundert weitestgehend durch. Vgl. Betzwieser (1990), 51. 83 Vgl. Mazouer (1993b), 130. Das Fehlen jeglicher Regieanweisungen lässt jedoch nur eine vage Spekulation bezüglich des Instrumentariums zu, die auf dem Instrumentarium der Janitscharenmusik des 18. Jahrhunderts gründet. Vgl. Betzwieser (1990), 59. <?page no="134"?> 3.3 Die amoralische Weltanschauung 133 Die strikt homophon und monoton angelegte Partitur 84 schafft eine einträchtige und feierliche Atmosphäre, die durch den Dialog zwischen dem Türkenchor und dem skandierten Rezitativ des Muftis immer wieder responsorisch durchbrochen wird und die Ambiguität der Szene musikalisch untermalt. Darüber hinaus verfremden Chromatik und Hemiolen den typisch barocken Kompositionsstil, indem sie für einen „grand bruit confus“ 85 und einen dynamischen Effekt sorgen, der choreografisch im Tanz der Derwische Gestalt annimmt und mit Monsieur Jourdains Steifheit kontrastiert. Der rhythmische Drehtanz der islamischen Mönche, ausgestattet mit ihren farbenprächtigen Kostümen, wirbelt symbolisch die Normen der Handlungswelt der Komödie auf und versinnbildlicht im kaleidoskopartig erzeugten und bewegten Bühnenbild die Metamorphose Monsieur Jourdains. Der freie Ausdruckstanz unterscheidet sich von den strikten Ballettkonventionen der Epoche und verkörpert mit seiner Darstellung das Wunderlich-Fremdartige der Cérémonie Turque . Dieser Kontrast bestärkt bei den Zuschauern den Eindruck einer ‚ver-rückten‘, einer sich im Trancezustand befindlichen Welt und entfesselt ein zusätzliches Komikpotenzial. Aus religiöser Sicht hat der traditionelle Derwischtanz die Aufgabe, den Tänzer in Ekstase zu versetzen und ihn in Verbindung zu den himmlischen Mächten treten zu lassen. Den Zuschauern dürfte vor diesem Hintergrund nicht entgangen sein, dass Molière diesen religiösen Ritus profaniert, indem er den implizierten spirituellen Diskurs der Transzendenz durch einen innerweltlich gesellschaftlichen Diskurs ersetzt, der im sozial unwirklichen Aufstieg Monsieur Jourdains besteht; mithin instrumentalisiert Molière die sakrale Grenzüberschreitung zu einer weltlichen, indem er den komischen Helden in Ekstase seiner selbst versetzt. Ferner kommt der Sprache eine wichtige Rolle bei der Enthebung der Sujetrealität zu, denn die Poetisierung der Sprache dient nicht nur der Etablierung eines verrückten Universums, sie unterstützt auch die absolute Entbindung vom normalen lebensweltlichen Kontext. Die Sprache wird selbst zum Spektakel, 86 denn Molière lässt die Wörter ‚tanzen‘. Er schafft in Analogie zu Pierre Beauchamps Ballettchoreografie und Lullys musikalischer Virtuosität ein „ballet de 84 Vgl. Partitutur: Lully (1690 [1670]), 76-90. 85 „En Turquie il y a aussi plusieurs sortes d’instruments, avec lesquels ils iouent le plus souvent avec confusion, sans user de consonnantes, sino de celles qui viennent accidentallement, & se contentent seulement d’ouir un grand bruit confus.“ Dieses von Salomon de Caus angeführte Zitat zeigt laut Thomas Betzwieser exemplarisch die Rezeption der orientalischen Musik im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich auf, der ihr einen geringschätzenden Grundtenor unterstellt. Diese Haltung ist auch in der von Lully komponierten Türkenszene deutlich spürbar und deckt sich mit der von Molière gewollten Verhöhnung des komischen Helden. Vgl. Betzwieser (1990), 51. 86 Vgl. Fleck (2007), 103. <?page no="135"?> 134 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien paroles“ 87 , das Robert Garapon als „la reprise des mêmes phrases ou, à tout le moins, des mêmes constructions de phrases entre deux ou plusieurs interlocuteurs“ 88 definiert: l e M ufti Ussita? Morista? Fronista? l es t urCs Ioc. Ioc. Ioc. l e M ufti , répète. Ioc. Ioc. Ioc. Star Pagana? l es t urCs Ioc . ( BG , 363) Die Entfremdung der Sprache wird neben der Wiederaufnahme von Wörtern respektive Sätzen durch das Pseudo-Türkische vorangetrieben. Die Dialoge in der türkischen Zeremonie sind in einer Fantasiesprache verfasst, in einem Kauderwelsch, das der lingua franca ähnlich ist. Die Text-Ton-Relation gestaltet Lully, indem er die Primitivität des Textes durch das geltende Verdikt über die orientalische Musik, die Monotonie, musikalisch mitkomponiert. 89 Die Einwürfe des Chores sind auf Tonika- und Dominantakkorde gesetzt, die durch ihre dauernde Repetition einen tranceartigen Zustand des Hin-und-her-Schaukelns zum Ausdruck bringen, wie er auch für den Derwischtanz charakteristisch ist. 90 Ferner ist dieses Sprachartefakt ein Kunstgriff Molières, der es ermöglicht, dass die Zuschauer die Wörter verstehen, gleichzeitig aber den Eindruck haben, dass die Schauspieler in einer exotisch-orientalischen Sprache kommunizieren. 91 Somit spiegelt sich das fremde Ambiente auch sprachlich wider. Die Kunstsprache generiert diverse Wortbildungen wie die vom Signifikat entbundene Onomatopoesie, die ein ansteigendes Realitätsdefizit der Szene in Richtung einer burlesken Darstellung markiert und nicht nur die Repräsentationsform des Tanzes, sondern auch die Signifikanten zu Lullys Musik ‚tanzen‘ lässt: 87 Garapon (1957), 238. 88 Ebd., 240. 89 Vgl. Betzwieser (1993), 123. 90 Vgl. ebd., 129. 91 Vgl. Rebuffat (2008), 95. <?page no="136"?> 3.3 Die amoralische Weltanschauung 135 l e M ufti , danse et chante ces mots. Hu la ba ba la chou ba la ba ba la da. ( BG , 325) Die imaginäre Intermediumswelt ist eine poetische, die über die reale Komödienwelt der Prosa triumphiert und Monsieur Jourdains Verrücktheit auch in den sprachlichen Äußerungen zum Ausdruck kommen lässt. Das perfekt aufeinander abgestimmte Zusammenspiel der drei Ausdrucksformen sorgt für eine Dynamisierung der Darstellung - für einen „effet de crescendo interne“ 92 -, da es einer Zunahme an Schauspielern bedarf, um die unterschiedlichen Botschaften vermitteln zu können. Das Anschwellen der Ausdrucksmodi führt zu einer gesteigerten Realitätsverfremdung, mithin zu einer Verdrängung der in der Komödie etablierten Sujetrealität. Musik, Tanz und Sprache erzeugen eine Parallelwelt, die im Zeichen der fiction steht. Diese konkurriert ob ihres Scheincharakters indirekt mit der eigentlichen Lebenswelt der Komödie, sodass sich hier ein Agon zwischen réalité und fiction entfaltet. So freudig wie das Zwischenspiel ausklingt, so hart ertönen Madame Jourdains Worte, die ihren Mann mit der bürgerlichen Realität des bon sens konfrontiert: M adaMe J ourdain : Ah mon Dieu, miséricorde! Qu’est-ce que c’est donc que cela? Quelle figure! Est-ce un Momon que vous allez porter; et est-il temps d’aller en Masque? Parlez donc, qu’est que c’est que ceci? Qui vous a fagoté comme cela? M onsieur J ourdain : Voyez l’impertinente, de parler de la sorte à un Mamamouchi ! ( BG , 327) M onsieur J ourdain , danse et chante : Hou la ba ba la chou ba la ba ba la da. M adaMe J ourdain : Hélas, mon Dieu, mon mari est devenu fou. ( BG , 328) M onsieur J ourdain : Voulez-vous vous taire, impertinente? Vous venez toujours mêler vos extravagances à toutes choses, et il n’y a pas moyen de vous apprendre à être raisonnable. M adaMe J ourdain : C’est vous qu’il n’y a pas moyen de rendre sage, et vous allez de folie en folie. ( BG , 332) Zu diesem Zeitpunkt der Intrige ist Madame Jourdain noch nicht in die Verschwörung eingeweiht und betrachtet das bunte Treiben in ihrem Haus mit großem Argwohn. Ihr Gatte hingegen änderte zwischenzeitig seinen Namen, seine Identität und seine Sprache; er entfremdete sich von seiner bisherigen 92 Vgl. Conesa, Piéjus und Riffaud (2010), 1441. <?page no="137"?> 136 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien sozialen Rolle, die nicht mit seinem inneren Rollenentwurf in Einklang stand. Diese postintermedialen Szenenausschnitte sind von einem direkten Agon zwischen raison und folie bestimmt, die sich die Eheleute Jourdain leisten. Er währt jedoch nur kurzfristig, weil Covielle Madame Jourdain im Aparte brevi manu einweiht und sie als Verbündete der Intriganten gewinnen kann. Nach der Zeremonie nennt sich der bürgerliche Edelmann Jordina beziehungsweise Mamamouchi , er bemüht sich um den Habitus eines Osmanen, indem er etwa Dorimène nun mit einer türkischen Reverenz ehrt, 93 und türkisch respektive français à la turc spricht . Das Besondere an diesem Ränkespiel ist die Tatsache, dass es keine Auflösung erfährt und somit zum zentralen Handlungsmoment avanciert, zum Spiel des Spiels. Diese Intrigenweiterführung generiert eine Koinzidenz von Realität und Fiktion, welche zugleich mit einem Zusammenfall von Komödie und Intermezzo in puncto Dramen- und Sujetstruktur einhergeht. Mithin verliert das Stück unter dieser Dekonstruktion jeglichen Realitätsanspruch, weil die mit allgemeiner Zustimmung besiegelten Heiratspläne weiterhin auf einer List basieren. Durch die Steigerung der Komik ins Absurde wird verhindert, dass sich die bürgerliche Familie durch eine soziale Mesalliance auflöst. 94 In diesem Fall entspringt das komische Moment nach Henri Bergson „au moment précis où la société [les intrigants, Anm. S. W.] et la personne [le héros comique, Anm. S. W.], délivrés du souci de leur conservation, commencent à se traiter elles-mêmes comme des œuvres d’art“ 95 . Das Aufgeben ihrer dramatischen Sittlichkeit fällt zusammen mit einer Ästhetisierung ihrer theatralischen Rollen und stilisiert sie zu Artefakten. Die binnenfiktionale Realitätsverfremdung des gesamten Bühnengeschehens ins sozial Unwirkliche beschränkt den Grad der Sujethaftigkeit auf ein Pseudo- Metaereignis, da der eigentliche Konflikt mit der väterlichen Autorität nicht aufgelöst, sondern im Ballet des Nations hinweggespielt wird. Das Komödienende zelebriert eine amoralische Weltanschauung, weil sich die dargestellten Handlungen nicht mehr mit dem Maßstab der Moral von la cour et la ville messen lassen; sie wurde in der Handlungswelt verabschiedet. Der Zuschauer nimmt den anfänglichen Sujetrealitätsbruch nicht mehr wahr, da sich der unwirkliche Duktus der Parallelwelt über die ursprünglich wirkliche Komödienwelt legt. Daher befindet sich die als Brückenperspektive zwischen der dramatischen und der 93 Als Teil der Tanzprosa ist die Reverenz Inbegriff für die Körperbeherrschung in guter Gesellschaft. Vgl. zum kulturhistorischen Ausblick hierzu Saftien (1994), 301-310. In Akt III, Szene XVI scheitert der bürgerliche Ehemann an einer Reverenz für eine Dame, sodass die Reprise à la turc einen Hinweis auf eine Parallelwelt gibt, in der das Agieren des komischen Helden allerdings gelingt. 94 Vgl. Robra (1969), 69. 95 Bergson (1983), 16. Meine Hervorhebung. <?page no="138"?> 3.3 Die amoralische Weltanschauung 137 theatralischen Perspektive verstandene metadramatische Perspektive bereits in ihrer Auflösung und steuert auf eine theatralische Finalaktwahrnehmung seitens der Zuschauer zu. Das soziale Fiktionalitätsproblem, dem ein lebensweltliches zugrunde liegt, löst sich in der Fröhlichkeit des Spiels auf, die im Ballet des Nations gipfelt. Offenbar versucht Molière hier, so Jules Brody, „de résoudre sur le plan de l’esthétique, dans un monde fictif et imaginaire, des problèmes devenus désormais trop complexes et trop pénibles pour être résolus dans la vie réelle.“ 96 Kurz: Es ist von einem dominant theatralischen Ende des Lustspiels auszugehen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich Le Bourgeois gentilhomme als ein Lustspiel des 17. Jahrhunderts entpuppt, ein Jahrhundert, das von einer enormen Unsicherheit der Zeichen geprägt ist, wo „le signe cesse d’être une figure du monde; et il cesse d’être lié à ce qu’il marque par les liens solides et secrets de la ressemblance ou de l’affinité“ 97 , und sich so vom barocken Zeitalter der Transparenz der Zeichen unterscheidet, wo „on considérait bien que les signes avaient été déposés sur les choses pour que les hommes puissent mettre au jour leurs secrets, leur nature ou leurs vertus“ 98 . Damit hängt die Passion der Zeit für das Theater konsequent zusammen, die am besten geeignete literarische Gattung um das Spiel zwischen Ver- und Enthüllung live zu offenbaren, 99 was sich in der Ballettkomödie in einem Tanz von Signifikaten und Signifikanten zeigt. Diese entsicherte Zeichenambiguität, resultierend aus der enigmatischen Repräsentation, führt zu einer Unmöglichkeit, zwischen Spiel und Leben unterscheiden zu können: „[P]ar tout ce qu’il y a en lui d’artifice et de gratuité, par la place qu’il fait à l’illusion, le jeu n’est qu’un masque à travers lequel la vie s’exalte.“ 100 Daraus ist zu schlussfolgern, dass der im Zeichen der Komik stehende figurale Agon letztlich ein semiotischer Agon ist, ein komischer Kampf zwischen Signifikat und Signifikant, eine vehemente Präsentation eines entdifferenzierten Zeichenkonglomerats. 3.3.3 Le Malade imaginaire Die agonalen Strukturen der Cérémonie Turque finden sich in ähnlicher Weise in der Cérémonie Burlesque in Le Malade imaginaire wieder, denn die väterliche Autorität kann auch hier nur mit einer List der Familie umgangen werden, woraus der Handlungskonflikt der Ballettkomödie entsteht. Vergleichbar mit 96 Brody (1968), 316. 97 Foucault (1966), 72. 98 Ebd., 73. 99 Vgl. Merlin-Kajman (2004), 331. 100 Moraud (1977), 134. <?page no="139"?> 138 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien Monsieur Jourdain ist auch Argan von der Idee besessen, den Schwiegersohn nach seinen Bedürfnissen auszuwählen, ohne Rücksicht auf die Herzensbelange seiner Tochter Angélique. Mit der Figur des Argan erreicht das Ausmaß der idée fixe eine neue Dimension, da sie den komischen Helden mit seinen somatoformen Störungen zum Hypochonder werden lässt, zum Geisteskranken. Anhand Argans mélancolie hypocondriaque 101 kann die Normabweichung im Sinne einer déraison respektive folie aufgezeigt werden. Argan organisiert sein Leben um seine körperlichen Bedürfnisse herum, indem er auf systematische Art und Weise seine soziale und moralische Existenz der physischen unterordnet. 102 Da sein Leben aus einer ständigen Sorge um die perfekte medizinische Versorgung besteht, verwundert es nicht, wenn er sich einen Arzt in die Familie holen möchte, den tölpelhaften Thomas Diafoirus, der Neffe seines Arztes Monsieur Purgon. Die idée fixe des komischen Helden wird zu einer Bedrohung für die jungen Liebenden Cléante und Angélique, denn die Tochter zieht den galanten Cléante dem unbeholfenen Arztanwärter Thomas vor. Die Dominanz der väterlichen Autorität können die Verliebten nur mittels einer List umgehen, wobei sie der Hilfe von Adjuvanten bedürfen, die sie in Béralde und Toinette finden. Es beginnt ein Kampf, der die unterschiedlichen Weltanschauungen offenbart und in der Cérémonie Burlesque indirekt zwischen den Parteien ausgefochten wird. Ein signifikanter Unterschied zu Le Bourgeois gentilhomme besteht in der Figurenkonstellation, die auch eine andere Sujetbewegung zur Folge hat, denn es müssen mehrere Listen von den Intriganten begangen werden, wenn sie dem Liebespaar eine Chance einräumen und den familiären Frieden restituieren wollen. Während Madame Jourdain immer zu ihrer Tochter hält und sie leidenschaftlich gegen die Heiratspläne ihres Gatten verteidigt, intrigiert Béline gegen ihre Stieftochter Angélique, möchte sie diese doch in ein Kloster schicken, um von Argan selbst als Alleinerbin eingesetzt zu werden. Madame Jourdains Mutterrolle nimmt in Le Malade imaginaire das Dienstmädchen Toinette ein. Toinette gibt den Jungen Hoffnung und ist ihnen moralische Stütze. Um Angélique vor einem Leben im Kloster zu bewahren, versucht Toinette, Argan dazu zu bewegen, seinen Tod zu fingieren, um an Bélines Reaktion die Falschheit seiner Frau erkennen zu können, die er bisher nicht wahrnahm, da sie seinem Fürsorgeanspruch übertrieben nachkam und auf die Entfaltung seiner idée fixe überaus begünstigend einwirkte: b éline : Bon, et je voudrais bien savoir pour quelle raison ai-je fait une si grande perte: quoi? pleurer un homme mal bâti, mal fait, sans esprit, de mauvaise humeur, fort âgé, 101 Vgl. Dandrey (1998): Molière et la maladie imaginaire ou De la mélancolie hypocondriaque . 102 Vgl. Brody (1968), 318. <?page no="140"?> 3.3 Die amoralische Weltanschauung 139 toujours toussant, mouchant, crachant, reniflant, fâcheux, ennuyeux, incommode à tout le monde, grondant sans cesse et sans raison, toujours un Lavement ou une Médecine dans le corps, de méchante odeur: il faudrait que je n’eusse pas le sens commun. ( MI , 707) Mit dieser in doppelter Hinsicht wahren Aussage kennzeichnet sie Argan einerseits als sozialen Außenseiter, denn seine auf der Bühne exponierte Körperfäulnis ist mit einem symbolischen Bruch zwischen ihm und der Gesellschaft konnotiert, 103 in der eine diskrete Kontrolle von Körperfunktionen den Maßstab des gesellschaftlichen Verkehrs bestimmt und keine skatologische Zurschaustellung eines alternden Körpers stattfindet. Andererseits entlarvt sie selbst ihren skrupellosen Charakter. Ihre Entlarvung bedarf aus dramenstruktureller wie auch moralischer Sicht des Abgangs der Figur von der Bühne. Es findet keine weitere Thematisierung dieses Konflikts mehr statt, denn Molière führt die Szene sogleich mit dem traditionellen Farcenmotiv der fausse mort fort, indem er seinen komischen Helden in Folge abermals ‚sterben‘ lässt. In Analogie zu Béline soll Angélique ihre Gefühle über Argans Ableben äußern. Es verwundert ob des repetitiven Täuschungsschemas nicht, dass Molière hierbei eine Kontrastreaktion evozieren will: „a ngélique : [ J]e veux exécuter votre dernière volonté, et je vais me retirer dans un Convent pour y pleurer votre mort pendant tout le reste de ma vie.“ ( MI , 709) Die Tochter trifft mit ihrem respektvollen Verhalten und der beabsichtigten Erfüllung des väterlichen Wunsches den Kerngedanken der von Toinette veranlassten List, den Vater empfänglicher für die Herzensangelegenheiten seiner Tochter zu machen. Dies ist nun nicht nur in Anbetracht der erwiesenen Loyalität möglich, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass der von Béralde verdrossene Monsieur Purgon die Heirat abgeblasen und die medizinische Pflege eingestellt hat und Argan gewillt ist, schleunigst Ersatz für seinen medizinischen Berater zu finden. Überwältigt von den verbalen Zärtlichkeiten seiner Tochter stimmt Argan der Heirat mit Cléante zu, unter der Bedingung, dass dieser Arzt werde. Diese Erwartungshaltung beendet der zweifelhaft gewordene Räsoneur Béralde, indem er seinem Bruder vorschlägt, selbst Arzt zu werden: „Mais, mon Frère, il me vient une pensée; faites-vous Médecin vous-même plutôt que Monsieur. […] [E]t, il n’y a aucune Maladie, si redoutable qu’elle soit, qui ait l’audace de s’attaquer à un Médecin.“ ( MI , 709) Der Räsoneur hat das letzte Wort im Streit, er folgt der folie des komischen Helden - und zwar in jeder Hinsicht. Diese Stelle markiert den Beginn der folie , den Beginn des indirekten Agons zwischen réalité und fiction . Sie zeigt 103 Vgl. Muir (2005), 125. <?page no="141"?> 140 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien die Spielbereitschaft der Ränkeschmiede, ihre Bereitschaft, die Verrücktheit des komischen Helden zugunsten der jungen Liebenden einzusetzen und ihn in eine soziale Unwirklichkeit hineinzuspielen. Mittels dieser List gelingt es ihnen, ihr Abhängigkeitsverhältnis zum komischen Helden umzukehren, da sie nun das Regiment führen. Nach kurzem Zögern willigt Argan in die angedachte Zeremonie ein, denn er sieht einer Zukunft mit medizinischer Versorgung in optima forma entgegen. Da Argan seine Spielbereitschaft durch seinen fingierten Tod bereits zweimal unter Beweis gestellt hat, erstaunt seine aktive Teilnahme an der Zeremonie nicht sonderlich. Zudem kommt den Intriganten des Vaters Verblendung für ihre Abschlusslist zugute, denn Argan meint, mit seiner theatralischen Einlage Béline und Angélique düpiert zu haben, verkennt aber, dass diese List Teil einer anderen um ihn ist, mit der ihn Molière auf die Transformation zum Arzt vorbereitet. Die Nähe der Cérémonie Burlesque zur Cérémonie Turque in Le Bourgeois gentilhomme ist, wie bereits erwähnt, sinnfällig. Dennoch ist die Sujetstruktur in Le Malade imaginaire komplexer, was an der idée fixe Argans liegt. Während Monsieur Jourdain augenblicklich der Zeremonie zustimmt, äußert Argan ad interim Zweifel an seinen für die Ausübung des Ärzteberufes erforderlichen Lateinkenntnissen, die aber von Béralde mittels des Verweises auf die viel bedeutsamere Leibestransformation entkräftet werden: „[L]orsque vous aurez la robe et le bonnet, vous en saurez plus qu’il ne vous en faut.“ ( MI , 710) Dieses Zaudern erklärt sich damit, dass Argan nie gewillt war, Arzt zu werden, da seine Besessenheit und die damit einhergehende geistige Verwirrtheit in der Sorge um seine medizinische Versorgung gründen - eine eher rezeptive, passive Lebenshaltung -, nicht in einer beruflichen Selbstverwirklichung - eine eher aktive Lebens(er)haltung. Da seine idée fixe von einem starken Narzissmus geprägt ist, ist deren Erfüllung über die Metamorphose zum Mediziner möglich. Unter diesem Aspekt ist von einem Sichtbarwerden der Protosujetschicht zu sprechen - und zwar im Hinblick auf sein gesellschaftlich unschickliches Verhalten, das ein prominent-narzisstisches und kein konformes ist. Es ist nicht seine medizinische Vernarrtheit, sondern seine Eitelkeit, die ihn letztlich an die Wirksamkeit einer Transformation zum Arzt ohne weitere Umschweife glauben lässt. 104 Der Grund für die Cérémonie Burlesque liegt in der idée fixe , die im dritten Intermedium gefeiert wird und die Dramenrespektive die Sujetstruktur festlegt: Argan ist krank, zwar nur imaginär, dafür unheilbar. 105 Man kann seinen Körper weder mit Aderlässen noch mit Klistieren reinigen und heilen; man kann nur die seine folie auslösenden humeurs besänftigen und ihn unschädlich für 104 Vgl. Forestier, Riffaud und Piéjus (2010), 1549. 105 Vgl. Gheeraert (2009), 76. <?page no="142"?> 3.3 Die amoralische Weltanschauung 141 sein Umfeld machen. 106 Dies gelingt, indem man sich an seine humeurs anpasst, also das überpersönliche kollektive Prinzip des Äußeren dem persönlichen individuellen Prinzip des Inneren assimiliert, ihn selbst zum Arzt macht und sein Verlangen nach Fürsorge stillt: b éralde : Ce n’est pas tant se railler que de s’accommoder à son humeur, outre que pour lui ôter tout sujet de se fâcher quand il aura reconnu la pièce que nous lui jouons, nous pouvons y prendre chacun un rôle, et jouer en même temps que lui. Allons donc nous habiller. ( MI , 710) Diese Aussage beinhaltet eine Theatermetapher, die nicht nur binnenfiktional zu deuten ist, sondern auch den Diskurs ‚Komödie‘ aktualisiert und damit die dramatische wie auch die theatralische Kommunikationsebene simultan à jour bringt und schließlich die metadramatische Kommunikationsebene vorbereitet. Die Theatermetapher verweist explizit auf die Dramenstruktur, da sie die bevorstehende Spiel-im-Spiel-Situation antizipiert und die Botschaft selbst zum Thema macht, ergo eine poetische Funktion erfüllt, und das Intermedium inhaltlich wie auch strukturell einleitet. Im Zuge des dritten Interludiums zeigt sich eine binnenfiktionale Realitätsverfremdung, die einerseits mit dem Wechsel von Sprechzu Musik- und Tanztheater, andererseits mit der Feier einer gesellschaftlichen Unwirklichkeit einhergeht. Auf diese Weise stellt sich beim Zuschauer eine dominant metadramatische Perspektive ein. Abermals verändert sich das bürgerliche Interieur; diesmal schmücken tanzende Tapezierer im Takt den Raum aus und bereiten die karnevaleske Zeremonie vor, wie in den Regieanweisungen zu Beginn des Zwischenspiels angeführt ist: Der majestätische Einzug des Ärztekorps, bestehend aus acht Klistierspritzenträgern, sechs Apothekern, 22 Doktoren, acht tanzenden und singenden Chirurgen und in der Mitte der Bakkalaureus Argan, wird musikalisch von einem Marsch mit binärer Metrik und gemäßigtem Tempo begleitet, der die skurrile Prozession gravitätisch akzentuiert. 107 Die in makkaronischen Versen vorgetragene Eröffnungslaudatio zu Ehren der Medizin durch den Präsidenten der Ärzteschaft leitet das Prüfungsritual komisch ein. Die mit Tautologien und pathetischen Floskeln ausgestattete Kunstsprache weist auf eine Fantasiewelt hin, in welcher andere Normen gelten und sozial Unwirkliches Wirklichkeit wird. Ferner dient die makkaronische Dichtung traditionell als Täuschungsinstrument für leichtgläubige Leute wie Argan, attribuieren die- 106 Der medizinische Diskurs der Zeit liefert eine somatopsychische Erklärung für Argans folie : „[U]n mal qui, né d’un désordre physique, physiologique même, dans l’économie des viscères inférieurs, atteint les facultés mentales les plus nobles, et jusqu’à la ‚faculté princesse‘ de l’individu, autrement dit sa raison […].“ Vgl. Dandrey (1998), 110. 107 Vgl. Forestier, Riffaud und Piéjus (2010), 1581. <?page no="143"?> 142 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien se den Sprechern doch Professionalität und Gelehrsamkeit. Solch spielerische Sprach- und Formauflösung, die an Molières Pseudo-Türkisch in Le Bourgeois gentilhomme erinnert, beinhaltet eine parodistische Dimension, die, wie bei François Rabelais, im Sinne einer Gelehrtensatire zu interpretieren ist. Die Begutachtungsszene des Bakkalaureus ist konsequent triadisch strukturiert und besteht aus einer Fragestellung mehrerer Ärzte und der Antwort Argans, gefolgt von einer Chorintervention, die dem Prüfling Zuspruch bei seinen Antworten erteilt. Dabei spiegelt die gebetsmühlenartig rezitierte Ritornelle des Ärztechors die Dreierstruktur der Prüfungsszene durch die ihr inhärente Replikstruktur wider. Der Trialog besteht nicht aus einem agonalen Rede-Gegenrede-Schema, sondern - sowohl formal als auch inhaltlich - aus einer einträchtigen Konkordanz des Sprachcodes aller Konversationsbeteiligten. Argan gibt auf die gestellten Fragen fast immer die gleiche, zyklisch wiederkehrende Antwort. Diese beschreibt das von den Ärzten erfragte Behandlungsprozedere, das er am eigenen Leib mehrfach erfuhr und außerdem den lebensweltlichen Heilmethoden entspricht: b aChelierus Clisterium donare, Postea seignare, Ensuitta purgare . ( MI , 714) Argans Hypochondrie erlaubte ihm, in der Handlungswelt der Komödie aus seinem kranken Körper ein Ausstellungsobjekt zu machen, ihn zum Spektakel zu erheben und dem sozialen Verhaltenskodex zu entfliehen. 108 Dieser „culte de ses entrailles“ 109 verliert in der imaginären Welt progressiv an Bedeutung und wird durch die Verschleierung des kranken Körpers mit Mantel und Doktorbarett schließlich aufgehoben; die körperliche Enthebung geht mit einer sozialen Erhebung einher: b aChelierus Vobis, vobis debeo Bien plus qu’à naturae, et qu’à patri meo, Natura et pater meus Hominem me habent factum: Mais vos me, ce qui est bien plus, Avetis factum Medicum, Honor, favor, et gratia, 108 Vgl. Höfer (2007), 177. 109 Gutwirth (1966), 117. <?page no="144"?> 3.3 Die amoralische Weltanschauung 143 Qui in hoc corde que voilà, Imprimant ressentimenta Qui dureront in secula . ( MI , 717) Am Ende des Stücks existiert keine körperliche Dysfunktion mehr, nur noch eine mentale, die in Argans Apotheose gefeiert wird, eingerahmt in einen indirekten Agon zwischen dem komischen Helden und den Intrigenspinnern. Argan ist an seinem Ziel angekommen, sein Inneres findet im sozialen Gefüge vermeintlichen Anklang. Diese ethische Authentizität des komischen Helden ist mit der Entsagung des Körperlichen möglich, da es sein Denken ist, das krank ist, eine idée fixe , die in einer ästhetischen Transparenz dank der Spiel-des- Spiels-Struktur zur Schau gestellt wird. Mit dem Abzug der Ärztegefolgschaft fällt der Abgang des Protagonisten zusammen, eine karnevaleske Parade, die das Ende des Prunkspiels choreografisch aufzeigt. In diesem Auszug wird dem Ballett eine besondere Stellung zuteil, denn die dressierten Leiber der Tänzer bringen eine Künstlichkeit zum Ausdruck, die jegliche körperliche Natürlichkeit ausblendet. Diese Körperkonformität spiegelt die Institutionalisierung von Argans Körper wider und untermalt den burlesken Charakter der Zeremonie. Zudem verweist der letzte Ballettauftritt der tanzenden Heiler nicht nur auf die lebensweltliche Karnevalszeit, er trägt auch symbolisch en cadence die Realität der Komödie hinweg, die sich in der Dramenstruktur durch die fehlende Auflösung der Intrige um den komischen Helden zeigt: „Là où la raison et la médecine ont échoué, l’imagination a réussi.“ 110 In diesem Sinne integriert die Komödie, ähnlich wie in Le Bourgeois gentilhomme , den unheilbaren sozialen Außenseiter in die Gemeinschaft, ohne ihn seines falschen Verhaltens wegen zur Rechenschaft zu ziehen. 111 Der Konflikt wird nicht ausgetragen, nur hinweggesungen respektive -getanzt und in ein moralisches Nirwana transzendiert. Mit der Institutionalisierung von Argans Körper geht die Repräsentation seiner natürlichen Körperlichkeit zugunsten einer artifiziellen Körperlichkeit verloren, mithin seine Individualität, die im sozialen Konformismus aufgelöst wird. Letztlich kann also lediglich bedingt von einem Triumph über die Autoritätsperson gesprochen werden; es ist ein Frieden auf Zeit, denn das Weltbild ändert sich nur aus deren Sicht. Es ändert sich hingegen nur hypothetisch für das gesamte Figurenpersonal. Demnach ist der Ballettkomödie ein Pseudo-Metaereignis zuzuteilen. Der Zuschauer kann die traurige soziale Wirklichkeit in einem freudigen Finale vergessen, obgleich es von einem bitteren Nachgeschmack 110 Canova-Green (2007), 196. 111 Vgl. Met (1993), 52. <?page no="145"?> 144 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien zeugt: Der Mensch des siècle classique ist ein entindividualisiertes Instrument der Gesellschaft beziehungsweise des absoluten Staates. Nur in der sozialen Ausrichtung kann das Individuum glücklich werden - und diese ist mehr Schein als Sein. Das erste Intermedium in Le Malade imaginaire zeugt ebenfalls von einer inszenierten Unwirklichkeit, diesmal aber nicht von einer sozialen, sondern von einer empirischen, wenn der alte Wucherer Polichinelle mit anthropomorphisierten Violinen streitet: „Molière nous donne un personnage italien qui parle le langage artificiel d’un donneur de sérénade, et Charpentier nous offre de la musique qui parle avec une voix humaine et qui joue le rôle d’un personnage.“ 112 Das Intermedium ist über die Dramen- und die Sujetstruktur an die Komödienhandlung angeschlossen. Wenngleich Polichinelle als Figur selbst in der Handlungswelt nicht persönlich in Erscheinung tritt, wird er doch von Toinette als ihr Geliebter bezeichnet, womit er Teil der Handlungswelt der Komödie ist und daher zu den Figuren der fiktiven Lebenswelt zählen kann: „Il est assez difficile, et je ne trouve personne plus propre à s’en acquitter que le vieux Usurier Polichinelle mon Amant, il m’en coûtera pour cela quelques faveurs, et quelques baisers que je veux bien dépenser pour vous.“ ( MI , 657) Diese letzte Replik des ersten Aktes stellt die Überleitung zum Zwischenspiel dar und rechtfertigt den Auftritt des Freiers, denn ihm soll der Auftrag erteilt werden, Cléante von der geplanten Heirat Angéliques mit Thomas in Kenntnis zu setzen. Diese dramenstrukturelle Einbindung Polichinelles gibt Anlass für das in der Tradition der commedia dell’arte geschriebene Interludium. Der Fokus der Inszenierung liegt dabei auf Polichinelles parodistischem Liebeswerben, die Nachrichtenübergabe wird jedenfalls an keiner Stelle thematisiert. Lediglich zu Beginn des zweiten Aktes erfährt der Zuschauer von Cléante, dass dieser über die fatalen Hochzeitspläne informiert worden sei. Das Liebeswerben wird im folgenden Akt zwischen Angélique und Cléante unter dem Deckmantel einer Gesangstunde in einem improvisierten Duett fortgeführt und behält dabei seine parodistische Färbung. Zudem hallt Argans Hypochonderklagetenor in Polichinelles Liebeskummerlamentationen wider, sodass auch hierbei von einer Parodie auf das Verhalten des eingebildeten Kranken gesprochen werden kann; 113 beide Protagonisten finden einen Ausweg aus ihrer psychischen Notlage über Musik und Tanz. Das Zwischenspiel liefert im Liebeswerben eine Handlungsantizipation und eine Sujetsimilarität zur Komödie. Der Verfremdungsprozess des Zwischenspiels ist präzise vorbereitet und vollzieht sich sukzessiv. Der Zuschauer wird ad interim durch einen Kulissenwech- 112 Powell (1994), 162. 113 Vgl. Powell (1992), 234 f. <?page no="146"?> 3.3 Die amoralische Weltanschauung 145 sel vom bürgerlichen Interieur in ein städtisches Nachtmilieu versetzt. Dort trägt die italienische Typenfigur Polichinelle seiner Geliebten eine Serenade in italienischer Sprache vor. Unterbrochen wird er von einer Alten, die seine Liebesschwüre als verlogene Albernheiten abtut, dazu Violinen, mit denen er sich im Folgenden streitet. Dieser in Dialogform angelegte Disput zwischen Polichinelle und den Musikinstrumenten vermittelt dem Zuschauer den Eindruck einer von der Handlungswelt der Komödie sich absetzenden Welt, die das Intermedium beherrscht. Der verbal ausgefochtene Kampf zwischen réalité und fiction sorgt nicht nur für eine metadramatische Perspektive beim Publikum, sondern auch für eine lebensweltliche, denn der Wettstreit zwischen Sprache und Musik, also Sprech- und Musiktheater, zeugt von einer thematischen Aktualität und hat daher eine selbstreflexive Theatralik: die unmittelbare Geburt der tragédie en musique , die mit Philippe Quinaults und Lullys Gemeinschaftsproduktion Cadmus et Hermione drei Monate nach der Uraufführung von Le Malade imaginaire ihre Premiere haben sollte. 114 Die Zwietracht zwischen Molière und Lully während der Entstehungszeit der letzten Ballettkomödie ist bekannt und so thematisiert Polichinelles Ärger über die nervenden Musikinterventionen auch den Wandel des Theaters: „La musique est accoutumée à ne point faire ce qu’on veut. […] Qui diable est-ce là, est-ce que c’est la mode de parler en Musique? “ ( MI , 662) Die Tatsache, dass die Violinen - die lediglich backstage operieren - auf der Bühne nur auditiv und nicht visuell vom Publikum wahrgenommen werden, 115 verstärkt den Fokus auf Polichinelles Aktionspotenzial und lässt die Auseinandersetzung wie eine Art verrückten Monolog mit großer theatralischer Wirkung erscheinen. Dies hat zur Folge, dass er eine Figur im Zeichen der folie ist und mithin eine temporäre Realitätsenthebung auf der Makrostrukturebene bedingt, da er der zentrale Handlungsträger des Zwischenspiels ist und dessen Sujetrealität maßgeblich beeinflusst. Ferner verweist sein Name explizit auf eine Kunstfigur aus der commedia dell’arte ; auch das hebt seinen von der Dramenstruktur intendierten Empirieanspruch auf. Musikalisch wird der direkt ausgetragene Agon über einen stark punktierten Rhythmus mit einer sich über zwei Takte erstreckenden Melodie gestaltet, die in regelmäßigen Abständen von Pausen unterbrochen und durch Polichinelles Sprachrepliken substituiert wird. 116 Die musikalischen Interruptionen der Sprachäußerungen verweisen auf den Diskurs ‚Ballettkomödie‘, aktualisieren sie doch sinnfällig die Hybridität des Genres. Polichinelles Sprache ist von einer 114 Vgl. Forestier, Riffaud und Piéjus (2010), 1574. 115 Vgl. Powell (1992), 235. 116 Partitur in Powell (1992), 236-238. <?page no="147"?> 146 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien melodischen Intonation über seine proklamierten Interrogativ- und Exklamativsätze geprägt und fügt sich harmonisch in den musikalischen Duktus der Szene. Dieses Kompositionsprinzip der Sprecheralternation beherrscht auch die Cérémonie Burlesque und lässt auf eine hohe Kohärenz innerhalb der Intermedien schließen. Die organophonen Laute „ La, la, la, la, la, la “ ( MI , 661) und „ Plan, plan, plan. Plin, plin, plin “ ( MI , 662) verstärken die Musikalität der Sprache. Mit den zuletzt genannten Lauten imitiert Polichinelle seine ihm traditionell attribuierte colascione , die nur eine dekorative Funktion erfüllt. 117 Dabei wird der linguistische Ausdruck zu einem musikalischen. Die Sprache wird mit dem Verzicht auf Semanteme primitivisiert und über die lautliche Akzentuierung zum konkurrenzfähigen Musikinstrument erhoben. Dies bewirkt, dass der Dialog zwischen der leiblichen Virtuosität Polichinelles und dem rhythmischen Moment der Violinen eine Überwindung der Realität im lazzo evoziert, eine amoralische Weltanschauung der Harlekin-Figur. Der nächtliche Lärm des Streits erregt das Aufsehen der Nachtwächter, die sich daraufhin einen farcesken Agon mit Polichinelle liefern, der strukturell vom ballet-de-paroles- Stil dominiert und von einem traditionellen körperlichen Gerangel gekennzeichnet ist. Der Tanz der Häscher nimmt das Kompositionsprinzip der Unterbrechungen der musikalischen Fantasie wieder auf, die weiterhin offstage vom Orchester gespielt wird. Die gesprochenen Interventionen Polichinelles setzen die mit Pausen komponierte Musik aus und - wahrscheinlich damit verbunden - die Tanzbewegungen der Nachtwächter; 118 infolgedessen kann eine gesamtinszenatorische Eintracht der drei Künste konstatiert werden. Dieses choreografische Highlight veranschaulicht das für die Ballettkomödie typische, szenische Bühnenbild auf dichtestem Raum, das äußerst dynamisch ist und zwischen Ballett und Komödie, Tanz- und Sprechtheater alterniert. Das Intermedium klingt mit einem Freudentanz aus. Auslöser ist das von Polichinelle an die Häscher bezahlte Bestechungsgeld, mit welchem er sich von der drohenden Gefängnisstrafe ob seiner nächtlichen Ruhestörung freikauft. Die folie des Verrückten wird damit geduldet. Dieses Moment öffnet in Analogie zu den komischen Helden eine neue Perspektive: Sie müssen sich ihre folie auch finanziell leisten können, wie Monsieur Jourdain und Argan. Über die monetäre Thematik gelingt die Überleitung zur Komödie, zur bürgerlichen Handlungswelt, die mit der komisch surrealen Welt des Zwischenspiels bricht und die metadramatische Kommunikationsebene außer Kraft setzt. 117 Vgl. Forestier, Riffaud und Piéjus (2010), 1573. 118 Vgl. ebd., 1575. <?page no="148"?> 3.3 Die amoralische Weltanschauung 147 3.3.4 La Princesse d’Élide In La Princesse d’Élide stellt das dritte Intermedium den Mittelpunkt der Pastoralparodie dar. 119 Es bildet mit dem zweiten und vierten Zwischenspiel nicht nur thematisch eine Einheit, sondern auch strukturell über die periodisch auftretende Figur des Moron, die das Gefüge binnenfiktional zusammenhält und mit der Handlungswelt der Komödie verbindet. In Letzterer sorgt der königliche Narr für Schabernack. Die Integration in die Komödie ist über die Dramen- und Sujetstruktur des Intermezzos garantiert, sodass der Zuschauer zunächst keinen Bruch in der Realitätswahrnehmung der Handlungswelt erkennt. Erst in der zweiten Szene des Zwischenspiels findet durch den Auftritt eines Satyrs das unwirkliche Moment statt, das mit einem medialen Wechsel der Repräsentationsart einhergeht. Mithin etabliert sich ein Intermezzo-Agon zwischen réalité und fiction , durch die Erweiterung des inneren Kommunikationssystems drängt sich mit dieser textinternen Dominanz eine metadramatische Perspektive in den Vordergrund. Die Lebenswelt der mythologischen Figur entspricht traditionell dem bukolischen Ambiente der Pastorale, weswegen sich der Zuschauer über die physische Verortung des Walddämons in der evozierten Handlungswelt nicht wundert. Bedeutsam für die Realitätsverfremdung ist erst die Gegebenheit, dass die aus der lebensweltlich orientierten Komödienwelt entstammende Dramenfigur Moron auf natürlichste Weise mit diesem, ihr bereits bekannten Satyr kommuniziert: „Ah! Satyre mon ami, tu sais bien ce que tu m’as promis il y a longtemps, apprends-moi à chanter, je te prie.“ (PdE, 565) Dem Bildungskanon der Zeit entsprechend lässt Molière dem Satyr die Rolle des Gesanglehrers zukommen, denn er gilt in der Mythologie als Kulturbringer und Erfinder der Musik, dessen Ausdrucksweise der Gesang ist. Dieses kulturgeschichtliche Substrat fundiert und motiviert den aufführungstechnischen Modus der Szene: „M oron : Il est si accoutumé à chanter qu’il ne saurait parler d’autre façon.“ (PdE, 565) Diese aparteartige Zuschaueransprache Morons aktualisiert den allegorisch dargestellten Topos des Satyrs, der in typischer ithyphallischer Gestalt einen hohen Wiedererkennungswert aufweist, und erklärt die Dialogstruktur zwischen den beiden, die sich zunächst aus verschiedenen Modi zusammensetzt: Der Hofnarr unterbricht stets den singenden Satyr und es realisiert sich ein Agon zwischen Sprache und Musik. Die inhärente Interruptionsstruktur dieses Intermezzos hebt zudem über seinen hybriden Charakter den Diskurs ‚Ballett- 119 Eine eingehende Analyse des parodistischen Aspekts wurde bereits in Kapitel 3.2.2.2 für das vierte Intermedium ausgeführt, sodass dieser Aspekt hier nur marginal beleuchtet und bezüglich des Intermezzo-Agons von Belang sein wird. <?page no="149"?> 148 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien komödie‘ hervor. Die explizite Reprise des antiken Erbes - das komische Satyrspiel - akzentuiert über den sensus allegoricus der grotesken Satyrfigur den kulturellen Wert des Komischen. Dieser ist seit der Antike zu einer kulturellen Grundlage europäischer Unterhaltungsformen geworden und findet im Frankreich der Klassik seinen besonderen Platz im molièreschen Dodekameron, das nun einmal Kunst, Politik, Geschichte und Gesellschaft in sich vereint. Nach der binären Gesprächssituation dominiert nun der Satyr mit seinen beiden Sologesangseinlagen den weiteren Verlauf der Szene. Beide Zehnzeiler weisen thematische Züge des petrarkistischen Kompositionsstils auf, jedoch nicht in der deiktischen Ausrichtung, wenn sich der Sprecher an die Vögel als Adressaten richtet und die Geliebte nur zum Sprechgegenstand seiner Klage ernennt. Demzufolge ist ein Antipetrarkismus zu konstatieren, der motivisch im Stil der Pastoralparodie angelegt ist. Im ersten Abschnitt erzählt das lyrische Ich in einer Helldunkel-Bildlichkeit von der zufälligen Begegnung mit der schönen Cloris, deren leuchtende Schönheit es im dunklen Bocage verzaubert. Es ist wie gebannt von ihrem Blick und wird zum petrarkistischen Liebessklaven, wie durch die Metaphorik der eingesperrten Spatzen illustriert wird: s atyre Je portais dans une cage Deux moineaux que j’avais pris, Lorsque la jeune Cloris Fit dans un sombre bocage Briller, à mes yeux surpris, Les fleurs de son beau visage: Hélas! dis-je aux moineaux, en recevant les coups De ses yeux si savants à faire des conquêtes, Consolez-vous, pauvres petites bêtes, Celui qui vous a pris est bien plus pris que vous. (PdE, 565 f.) Mit großer Gestik zeigt Moron seine Unzufriedenheit über das Lied, 120 dem es nach seinem Dafürhalten an Leidenschaft mangelt. Daraufhin stimmt sein Freund ein passionierteres Lied an, das Moron so sehr entzückt, dass er es lernen 120 Der im Nebentext knapp gehaltene Handlungsablauf erhält mit Blick auf die vorherige Szene eine indirekte Vorgabe. Morons Schweigen während des Gesangs des Satyrs ist im Hinblick auf die erste Szene des Zwischenspiels als zweites leises lazzo zu verstehen. In dieser Szene wird er von Philis aufgrund seiner unschönen Stimme ebenfalls zum Schweigen veranlasst und nützt diese sprachliche Sendepause für ein nonverbales lazzo mit großer Gestik: „M oron , il fait une scène de gestes : Soit. Ah! Philis … Eh … […].“ (PdE, 565). Vgl. Kapitel 5.1.2.1. <?page no="150"?> 3.3 Die amoralische Weltanschauung 149 möchte. Das erste Gesangsstück ist in G-Dur geschrieben und kontrastiert mit dem zweiten Zehnzeiler, den Lully in g-Moll komponierte. 121 Mit dieser eher düsteren Tonlage bringt Lully die verzweifeltere Stimmungslage des lyrischen Ich zum Ausdruck, denn während der coup de foudre im ersten Lied die Hoffnung auf die Vereinigung mit der Geliebten noch offenhält, steigert sich im zweiten Lied die Skepsis und die damit einhergehende Verzweiflung des lyrischen Ich. Der äußere locus amoenus tritt in Opposition zum inneren locus horribilis des Sprechers, der sich aus der potenziellen Unerreichbarkeit der amante cruelle ergibt: s atyre Dans vos chants si doux, Chantez à ma belle, Oiseaux, chantez tous Ma peine mortelle: Mais si la cruelle Se met en courroux Au récit fidèle Des maux que je sens pour elle; Oiseaux, taisez-vous. Oiseaux, taisez-vous. (PdE, 566) Die Liebesklage des lyrischen Ich und der Appell an die Vögel, diesen Kummer der grausamen Geliebten als Botschafter mitzuteilen, deuten auf eine traditionelle Selbstreferenzialität des Singaktes und auf die poetische Funktion des Zwischenspiels hin. Dieser Eindruck verstärkt sich im weiteren Verlauf, wenn Moron seine Gesangsversuche demonstriert, dabei der Lautlichkeit der Stimmübung indes einen Sinn gibt und den musikalischen Diskurs mit dem sprachlichen Diskurs semantisiert: M oron : Ah qu’elle [la chanson, Anm. S. W.] est belle, apprends-la-moi! s atyre : La, la, la, la. M oron : La, la, la, la. s atyre : Fa, fa, fa, fa. M oron : Fa[t], toi-même. (PdE, 566) Die Homophone „fa“ und „fat“ ermöglichen das auf einem komischen Missverständnis beruhende paronomastische Wortspiel und charakterisieren Moron im Verkennen des musikalischen Diskurses als Kunstbanausen, der Musik aus- 121 Vgl. Partitur: Lully (1690 [1664]), 99-106. <?page no="151"?> 150 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien schließlich zur Eroberung seiner geliebten Philis instrumentalisieren will, nicht aber an Kunst per se interessiert ist. Wütend schickt sich der Lehrer an, seinen Schüler mit Faustschlägen zur Räson zu bringen. Diese gewaltsame, physische Dynamik generiert eine körperliche Verzerrtheit der Mimen auf der Bühne, welche beim Erklingen einer Violinarie entzerrt wird und sich in einem harmonischen Tanz der beiden völlig auflöst. Morons Tonsemantisierung veranschaulicht die Nähe der unterschiedlichen Kunstrichtungen, sogleich aber auch das ästhetische Konfliktpotenzial ihrer Kombinierbarkeit, das im komischen Figurenspiel transparent gemacht wird. Diese Szene lässt darüber hinaus den im Zuge der Gründung von Akademien verstärkt aufkeimenden Künstestreit erkennen, 122 der in der Fiktion im amoralischen Raum der empirischen Unwirklichkeit ausgesöhnt wird. Symbolisch werden die Querulanten im friedlichen Tanz am Zwischenspielende zusammengeführt. Dem Zuschauer wird so der Eindruck einer wunderlich komischen Welt vermittelt, getragen und verklärt vom harmonischen Klang der Streicher. Fazit Die zweite textinterne Nebensujetschicht ist auf die Intermedien limitiert und charakteristisch für das Dodekameron. Der hohe Anteil an selbstreflexiven Strukturen manifestiert den Diskurs ‚Ballettkomödie‘ in den Interludien, die von einer Melange aus Sprech-, Tanz- und Musiktheater bestimmt sind und einen absoluten Repräsentationsanspruch haben. Dieser geht mit einer starken Zuschauerwirkung einher und erklärt die Beliebtheit des Genres. Darüber hinaus zeichnen sich die Zwischenspiele durch eine empirische respektive soziale Unwirklichkeit aus, die eine oppositive Sujetrealität zur Handlungswelt in der Komödie generiert. Während das surreale Moment in den von den Harlekin-Figuren gestalteten Szenen für einen wunderlichen Effekt beim Zuschauer sorgt, verweist es bei den komischen Helden auf deren mentale Dysfunktionalität, die auf ihrer extrarationalen idée fixe fußt. Diese entfaltet sich im Modus des Unwirklichen ohne gesellschaftliche Vorbehalte und Restriktionen in ihrer Extravaganz und macht das tiefenpsychologische Movens der komischen Helden sichtbar. Die folie- Sujetschicht ermöglicht diese Einsicht ins Innere, weil sie die Protosujetschicht zum Vorschein bringt. Sie exteriorisiert den inneren Agon, der 122 Besonders deutlich wird der Streit um die Superiorität einer Kunstrichtung in Akt II, Szene III von Le Bourgeois gentilhomme aufgezeigt. In dieser Szene streiten sich der Musik-, Tanz-, Fecht- und Philosophielehrer über die Wichtigkeit ihrer Wissenschaften, indem die einzelnen Vertreter jeweils die nützlichen wie auch ästhetischen Vorzüge ihrer Disziplin erläutern. Ferner versuchen die drei allegorisch dargestellten Künste - die Komödie, die Musik und das Ballett - im Prolog zu L’Amour médecin , ihre vaine querelle zugunsten des königlichen Pläsiers beizulegen. <?page no="152"?> 3.4 Komische Agonik und Zuschauerlachen 151 sich im amoralischen Möglichkeitsspektrum der fiktionalen Ränkespielsituation zu einem inneren und äußeren Frieden transformiert. Das Friedensmoment prägt das Spiel des Spiels. Diese Metatheater-Szenen illustrieren eine Zeichenkonkordanz von Innen und Außen und zeigen im gesamten Mikrokosmos Theater eine Zeichenambiguität auf, die im Hinblick auf den lebensweltlichen höfischen Kontext die Intransparenz zwischen wahrem Leben und falschem Spiel verdeutlicht. Im Pseudo-Metaereignis der Fiktion spiegelt sich ein lebensweltliches Sehnsuchtspotenzial wider, eine Sehnsucht, die im Prestigefetisch der honnêteté erstickt wird, weil Letztere keinen Rückzug in die individuelle Intimität zulässt. Dieses Verlangen kann von der klassischen Elitegesellschaft in der dargebotenen Fremderfahrung des merveilleux gestillt werden. Nur im Schein der institutionalisierten Wirklichkeit - der theatralischen Repräsentation - kann der libertine Antipode des vergesellschafteten Individuums temporär im Modus des Komischen als Teil des politischen Systems reüssieren. Das unvernünftige Irreale entspringt im klassischen Zeitalter demnach immer der vernünftigen Realität. In diesem Zusammenhang ist von einem klassischen Surrealismus zu sprechen, der durch sein Extrarationalitätsmoment geprägt ist. Die sozialen und empirischen Divergenzen bringen in diesen Szenen eine dominant metadramatische Perspektive ein. Sie sorgen für einen komischen Verblüffungseffekt bei den Zuschauern, der ein staunendes Lachen effiziert. Daraus lässt sich verallgemeinern: Lachen im klassischen Theater impliziert den Glauben an Wunderliches, an eine amoralische Traumwelt, die in der Realität erfahrbar gemacht werden kann. 3.4 Komische Agonik und Zuschauerlachen „Rien n’est si plaisant que de rire, quand on rit aux dépens d’autrui.“ La Comtesse d’Escarbagnas Die Spezifika komischer Agonik in Molières Dodekameron und deren Zuschauerresonanz, die im Strukturmodell aufgezeigt wurden, sollen zuletzt in einem funktionshistorischen Ausblick resümiert und abstrahiert werden. Komik steht dabei im Zusammenhang mit einer Transgressionen zwischen Kontexten, wobei einer plötzlich aufgehoben und angezweifelt wird; 123 das Komische dekonstruiert die Erwartungsmuster der Zuschauer. Dieser Mechanismus zeigt sich innerhalb aller Sujetschichten in der Darstellung des jeweiligen 123 Vgl. Henrich (1976), 385. <?page no="153"?> 152 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien Agons: Die zweite textinterne Sujetschicht existiert nur in den Intermedien, die textexterne Sujetschicht nur in den Komödien. Dies unterstreicht den vergnüglichen Charakter der Intermedien, welche die soziale Härte der Komödienwelt besänftigen und sozialkritische Aspekte neutralisieren und hinwegspielen. Während die Intermedien „l’espace de la fantaisie poétique du fou“ 124 darbieten können, sind die Finale der Ballettkomödien „d’élégants rideaux de fumée qui enveloppent l’intrusion bouffonne des héros comiques“ 125 . Es wäre indes zu pauschal, den Intermedien allein die Funktion einer substanzlosen Erheiterung in den Komödien zuzusprechen und daran rückkoppelnd die Ballettkomödie als despektierliches Lustspiel zu denunzieren. Denn erst die Integration von Intermedien ermöglicht neue Strukturen, die unterschwellig auf ein Metaereignis hinweisen, weil der Konflikt am Ende der Ballettkomödien nicht aufgelöst, dessen Fortbestand im Off trotz seiner musikalischen und / oder tänzerischen Überspielung aber gewährleistet bleibt. Zudem dominiert die erste textinterne Sujetschicht sowohl in der Komödie als auch in den Intermedien. Dies veranschaulicht, dass der Komödienkonflikt zumeist indirekt in der marginalen Aktualisierung der textexternen Sujetschicht ausgetragen wird; das komische Betragen der Hauptfiguren überspielt ihn. Diese Tatsache erklärt die erhöhte Frequenz von indirekten Agonen in der Ballettkomödie in toto . Die erste textinterne Sujetschicht verbindet über ihre Mittelstellung die beiden Extreme raison und folie , sodass unter Hinzunahme der déraison eine Mischung aus Moral, Unmoral und Amoral dem Gesamtkunstwerk seine Prägung verleiht. Demnach überwiegt in den comédies-ballets ein farcesker Agon, der die schauspielerische Repräsentation hervorhebt, das Rollensubstrat von seiner lebensweltlichen Negativität befreit und in die Positivität der Theatersituation einbringt. 126 Es handelt sich um ein theatralisches Multimediatheater, das ob seiner plurimedialen Zusammensetzung das Ausspielen der Radikalität des komischen Agons ermöglicht. Die Etablierung des nouveau langage théâtral führt in seiner spezifischen Konstitution nicht nur zu neuen Formen der komischen Repräsentation, sondern auch zu einem gesteigerten semiotischen und semantischen Mehrwert des Komischen hinsichtlich des Komödiensujets in der Ballettkomödie. Der komische Agon präsentiert einen Machtkampf. Er kann verbal als Rede- Gegenrede-Schema zwischen den Kontrahenten ausgefochten werden, aber auch nonverbal über körperliche Akrobatik sowie die Inszenierung von Tanz und Musik. Die Einbindung der beiden Künste effiziert eine Dramatisierung und Theatralisierung von Tanz und Musik und konstituiert den intermedialen nou- 124 Sternberg (2002), 214. 125 Brody (1968), 325. 126 Vgl. Warning (1976), 322. <?page no="154"?> 3.4 Komische Agonik und Zuschauerlachen 153 veau langage théâtral . Neben der rein figuralen Agonik wurde eine Effektagonik zwischen Komödie und Intermedium ausfindig gemacht, die ebenfalls ob ihrer Kontrastwirkung für eine weitere komische Dimension sorgt. Infolgedessen ist die kontrastive Operation des Komischen als „Kipp-Phänomen“ 127 zu verstehen, als dynamisches Geschehen, das sich im Kollaps von Werten, Normen, Wahrnehmungs- und Erkenntnisweisen einstellt. 128 Dieser Mechanismus kann über den medialen Umbruch von Sprechzu Musikrespektive Tanztheater besonders publikumswirksam illustriert werden und das künstlerische, sozialkritische wie auch anthropologische Potenzial der Komik aktualisieren und über die unterschiedlichen Kommunikationsebenen transparent machen. Das Spiel mit der Norm ist ein Angriff auf die zeitgenössische bienséance , die dazu dient, jegliche Unsicherheit im sozialen Zusammenleben auszuschalten, sei sie sozial oder individuell motiviert. Dieses Normenspiel ist in kalmierter Form fernab des Theaters in der höfischen Gesellschaft möglich, weil in dieser die ästhetischen Prinzipien die moralischen dominieren; 129 diese Verhältnisse implizieren eine gewisse Moralneutralität der Norm. Im Grunde rekurriert die moralische Indifferenz des Spiels auf das gesellschaftliche Substrat, das Molières Ballettkomödien zu eigen ist; die moralische Indifferenz ermöglicht erst das komische Lustspiel. Die klassische Komik hat in ihrer sozialen Dimension einen antinomischen Wesenszug. Sie macht das Wahre im Unwahren sichtbar, das Natürliche im Künstlichen. Die Repräsentation der Ballettkomödie ist von einer kontrastreichen Dualität bestimmt: Die zeitgenössische ‚Ideologie der natürlichen Artifizialität‘ kontrolliert die Natur und reglementiert das soziale System. Sie verliert aber im Auftreten der wahren Natürlichkeit ihren Repressionsaspekt. Mithin ist das Komische das, was das höfische System bedroht, 130 aber nicht zum Scheitern bringt. Kein komischer Held kann das Weltbild ändern, da die Liebe über ihn triumphiert, die im Endeffekt eine theatrale Hommage an den Sonnenkönig ist: Die Liebe triumphiert über die unberechenbare Passion, die Liebenden über den komischen Helden, Ludwig XIV . über das bedrohliche Moment, das ein Defizit im sozialen Arrangement verkörpert. Die Bedrohlichkeit besteht in der Unfähigkeit des Individuums, sich in extenso dem absolutistischen System anzupassen. Das Individuelle ist dabei nur als Anwendungsfall des Allgemeinen zugegen. 131 Das Individuelle wird in der Prominenz von Molières autoritären Außenseiterfiguren übersteigert exemplifiziert und durch deren Scheitern sank- 127 Vgl. Iser (1976), 398-402. 128 Vgl. Schrödl (2006), 31. 129 Vgl. Warning (1976), 306. 130 Vgl. Stierle (1976b), 260. 131 Vgl. Luhmann (1994), 65. <?page no="155"?> 154 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien tioniert. Der erfolgreiche Annulierungsversuch des Grenzgängertums macht die Resonanzkraft des Querulanten nichtig und restituiert die alte Ordnung. Gleichwohl ist im molièreschen Theater aber auch der von Andreas Mahler für das englische Drama der Frühen Neuzeit herausgearbeitete Sujetwandel spürbar. 132 Er zeigt sich als dynamischer Prozess, der gleichzeitig von zwei gegenläufigen Tendenzen bestimmt ist: einerseits dem in Richtung auf die Kohärenz der Weltordnung assimilierenden Ereignis und andererseits den im Hinblick auf eine neue Kohärenz der Weltordnung tentativen Akkommodationsbestrebungen des Pseudo-Metaereignisses und des limitierten Metaereignisses. 133 Diese Kopräsenz von Assimilations- und Akkommodationssujets impliziert eine Sinnoffenheit, die sich darin manifestiert, dass die Sujets weder als eine holotische Verkörperung der dominanten Werte und Normen der Gesellschaft noch als deren Subversion zu verstehen sind. 134 Das Wesen der Komik korrespondiert vorrangig mit den Paradigmen dieser Umbruchphase und erklärt im Ansatz die Beliebtheit des Genres in der französischen Klassik. Das Komische ist bestrebt, eine Einheit zwischen dem Ausgegrenzten und dem Ausgrenzenden, zwischen Assimilation und Akkommodation zu etablieren - eine paradoxe Eintracht, die vom absolutistischen Machtdiskurs angestrebt wird. Die Niederlage des komischen Helden löst ein Verlachen bei den anderen Figuren der Handlungswelt aus; übertragen auf den lebensweltlichen Kontext von la cour et la ville stellt das lächerliche In-Erscheinung-Treten das schlimmste Vergehen dar, das mit dem sozialen Tod gerügt wurde. „Le ridicule déshonore plus que le déshonneur“ (M, 326), wie der Moralist François de La Rochefoucauld konstatiert. In diesem klassischen Kontext soll Bergsons Verständnis der sozialen Bedeutung des Lachens als Erklärung der Maxime gelten. Für den französischen Philosophen ist Lachen ein Korrektiv, „une correction […] fait pour humilier, il [le rire, Anm. S. W.] doit donner à la personne qui en est l’objet une impression pénible. La société se venge par lui des libertés qu’on a prises avec elle.“ 135 Die mondäne Höflichkeit schätzt dezente Formen der Spottlust, lehnt aber einen exzessiven Gebrauch kategorisch ab. 136 Exzessives Lachen ist nur im komischen Theater erlaubt. Das Zuschauerlachen fungiert als ein Rezeptionsphänomen der Ballettkomödie, das sich während des Aufführungskontextes als Bewusstwerdungsprozess des Fiktions-Komischen zeigt und im soziohistorischen Kontext folgendergestalt konstituiert beziehungsweise konditioniert ist: Lachen im klassischen Totaltheater impliziert Weltverständnis und 132 Vgl. Mahler (1998), 1-45. 133 Vgl. ebd., 42. 134 Vgl. ebd., 4. 135 Bergson (1983), 150. 136 Vgl. Bertrand (1995), 135 f. <?page no="156"?> 3.4 Komische Agonik und Zuschauerlachen 155 fördert den sozialen Ausleseprozess, der mit der kulturellen Vorprägung des Moralischen zu tun hat. Es impliziert das Sich-Einlassen auf ein umgekehrtes Weltverständnis, das einen Loslösungsprozess von Etabliertem in Gang setzt und eine Freisetzung des Unmoralischen mit sich bringt. Es impliziert letztlich den Glauben an Wunderliches, an eine amoralische Traumwelt, welche in der Realität erfahrbar gemacht werden kann. Das Theater bietet den Zuschauern sonach die Erfahrung, sich mit der Wirklichkeit im Sinne eines perspektivisch urteilenden Betrachters auseinanderzusetzen. <?page no="157"?> 156 4 Der komische Charakter 4 Der komische Charakter oder die idée fixe als intérêt des amour-propre Die bisherigen Ausführungen zeigen die agonalen Strukturen der Ballettkomödie, die ihren gemeinsamen Ursprung in der idée fixe des komischen Helden haben. Diese Tiefendimension soll im Folgenden unter anthropologischen und sozialanthropologischen Aspekten im Kontext der klassischen Moralistik betrachtet werden: Die Sujetstrukturanalyse legt es nahe, von einer comédie de caractère zu sprechen, weil die fixe Idee des Haupthandlungsträgers den Themenkomplex liefert und den komischen Charakter des Helden ins Zentrum der Dramenstruktur rückt. Die idée fixe hat ihren Ursprung im amour-propre , dem psychologischen Movens des komischen Helden, das seine Gedanken, seine Sprache, seine Handlungen, seine Gewohnheiten, seinen Charakter und schließlich sein Schicksal bestimmt. 1 Die idée fixe ist unter dieser moralistischen Betrachtungsweise ein individuell ausgeprägtes Interesse menschlichen Egoismus. Da der komische Held in einer semantisch besetzten Handlungswelt inszeniert wird, kann sein Charakter im lebensweltlichen Bezug zur klassischen Anthropologie beleuchtet und gedeutet werden. Die nachstehende Analyse verfolgt das Ziel, den auf den amour-propre zurückgehenden intérêt der idée fixe offenzulegen. Dabei soll der amour-propre anhand von François de La Rochefoucaulds Maximen im Individuellen - also im Sinne einer Charakterstudie - wie auch im Kollektiven - im Umgang einzelner mit der Gesellschaft - herausgearbeitet werden. La Rochefoucaulds Maximen sind für das Verständnis des komischen Helden und der gesellschaftlichen Resonanz hinsichtlich seiner idée fixe geeignet, weil der Schriftsteller die Wirkungsmechanismen des amour-propre in seinem Werk en détail ergründet. Diese Differenzierung in Tiefen- und Oberflächenstruktur erklärt sich daraus, dass der amour-propre in einem innerpsychischen Bereich zu situieren ist, dessen Wirkungsweise zunächst ‚vor‘ dem - dadurch ja beeinflussten - gesellschaftlichen Interagieren der Personen eruiert werden sollte. Schließlich wird Molières anthropologisches respektive sozialanthropologisches Verständnis im Spiegel von Fiktion und Realität reflektiert. Das Dodekameron wird vor diesem moralistischen Hintergrund sowohl als comédie de caractère als auch als comédie de mœurs verstanden. 1 „ἦθος ἀνθρώπωι δαίμων.“ Frei nach Heraklit übersetzt: Der Charakter des Menschen ist sein Schicksal. Heraklit (1983), 36. <?page no="158"?> 4.1 La Rochefoucauld und Molière-- eine Annäherung 157 4.1 La Rochefoucauld und Molière-- eine Annäherung La Rochefoucauld reiht sich mit seinen Maximen in die sich aus philosophischen wie auch theologischen Traditionen konstituierende Liga der französischen Moralisten ein. In seinen in kurzer Reflexionsprosa verfassten Schriften analysiert er sowohl das Individuum im Einzelnen als auch im gesellschaftsbezogenen Zusammenhang. Man ist sich in der Forschung weitestgehend einig, in La Rochefoucauld einen der ersten „explorateurs de l’inconscient“ 2 zu sehen, mithin den Ahnherrn der Tiefenpsychologie. 3 Mit La Rochefoucaulds Réflexions ou Sentences et Maximes morales (1665) beginnen daher fast immer die modernen Anthologien der französischen Moralistik. 4 Sein kontrovers diskutiertes Werk fällt in den siècle louisquatorzien und beeinflusst - ebenso wie das molièresche Œuvre - die intellektuellen Dispute der Salon- und Hofkultur. Es ist bekannt, dass La Rochefoucauld und Molière in den 1660er Jahren häufiger an den jours der Salonière Ninon de Lenclos in Paris teilnehmen. Die Intensität ihrer persönlichen Kontakte wird in den jeweiligen Biografien jedoch kaum näher ausgeführt. Nichtsdestoweniger lassen sich neben diesen örtlichen Berührungspunkten beider Künstler auch geistige ausfindig machen, beschäftigen sich doch beide Autoren von einer profanen Warte aus mit der Diskrepanz von Schein und Sein. Sonach lässt sich im Werk des Komödiendichters neben der reinen Freude am Spiel auch der moralistische Gestus des Dekuvrierens verborgener egoistischer Eitelkeiten und Interessen des Menschen erkennen, Laster, die der Tugendhaftigkeit menschlicher Gesinnung widersprechen. Exemplarisch für diese moralistische Lesart steht Don Juans Aussage in der Komödie Le Festin de Pierre (1665): „[T]ous les vices à la mode passent pour des vertus.“ 5 (FdP, 897) Sie verweist auf einen, wenn nicht sogar auf den ideologischen Berührungspunkt mit La Rochefoucauld, denn der Wortlaut Don Juans reflektiert in aller Deutlichkeit die Programmatik seiner im selben Jahr erschienenen Erstausgabe 2 Van Delft (1993), 131. 3 Vgl. Rattner und Danzer (2006), 36. 4 Vgl. Kruse (2003), 1. 5 Don Juans längerer Monolog kann in seiner Gänze nicht wiedergegeben werden, weil das Hauptaugenmerk des zitierten Ausschnitts auf die universale Maxime Molières gerichtet ist, die die ideologische Nähe zu La Rochefoucauld reflektieren möchte. Dennoch sei aufgrund der zeitgenössischen Partikularität des Passus ein kleiner Einblick in den Fortgang des Zitates gewährt: „[…] le personnage d’homme de bien est le meilleur de tous les personnages qu’on puisse jouer, aujourd’hui la profession d’hypocrite a de merveilleux avantages, c’est un art de qui l’imposture est toujours respectée, et quoiqu’on la découvre on n’ose rien dire contre elle, tous les autres vices des hommes sont exposés à la censure, et chacun a la liberté de les attaquer hautement, mais l’hypocrisie est un vice privilégié qui de sa main ferme la bouche à tout le monde, et jouit en repos d’une impunité souveraine; […].“ (FdP, 897) <?page no="159"?> 158 4 Der komische Charakter der Maximen. In seinem Epigraf heißt es: 6 „Nos vertus ne sont le plus souvent que des vices déguisés.“ 7 Beide Autoren stehen im Dienst einer negativen Anthropologie und demaskieren die Grundzüge der menschlichen Natur. Molières Ethik speist sich aus den Beobachtungen seiner selbst wie auch seines Umfeldes und zeichnet ihn als moralistischen Freidenker, nicht aber als einen Moralapostel aus. Sein Freund Nicolas Boileau nennt ihn dementsprechend den „Contemplateur“, wie Charles Augustin Sainte-Beuve erzählt. 8 Er enthält sich, gleich dem Maximenverfasser, moralischer Urteile und zeigt soziale und moralische Missstände zeitgenössischer mores auf. In Analogie zu La Rochefoucauld, der im Verständnis seiner Maxime - „Il est plus nécessaire d’étudier les hommes que les livres“ (M, 550) - auf die Welt blickt, erklärt auch Molière die lebenswirklichen Kommunikations- und Umgangsformen zu seinem Forschungsfeld, wie er in seiner poetologischen Komödie La Critique de l’École des Femmes durch Dorante verkünden lässt: „[Q]ue […] du commerce de tout le beau monde, on s’y fait une manière d’esprit, qui, sans comparaison, juge plus finement des choses, que tout le savoir enrouillé des Pédants.“ ( CEF , 506) Molières moralistische Vorprägung dürfte ihm sein Lehrer Pierre Gassendi mit auf den Weg gegeben haben, der ihn nicht nur mit eigenen Gedanken und Schriften beeinflusst, sondern ihn auch mit der Gedankenwelt Montaignes, des ersten Moralisten der Neuzeit, in Kontakt bringt. 9 Das Aufspüren menschlicher Schwächen, die im Charakter seiner komischen Helden hypertroph dargestellt werden, begünstigt vornehmlich das von Molière gewollte Zuschauerlachen. 4.2 La Rochefoucauld-- Anthropologie und Gesellschaft 4.2.1 La Rochefoucaulds anthropologisches Verständnis Mit seinen weit über 600 Maximen handelt La Rochefoucauld vielerlei Bereiche der conditio humana ab und skizziert dem Leser ein ernüchterndes Porträt des Menschen. Er konstatiert, dass dessen Körper und Geist von dunklen Mächten gelenkt wird, deren Übermacht er sich nicht eingestehen kann oder will. 10 Dieses „ineradicable malfunctioning of human nature“ 11 kann zwar mit der 6 La Rochefoucaulds Maximen kursieren bereits seit 1663 in Manuskriptform in den gesellschaftlichen Kreisen, in denen auch Molière zugegen ist. Vgl. Forestier und Riffaud (2010), 1665. 7 La Rochefoucauld (1964 [1678]), 385. 8 Vgl. Molière (1853), 23. 9 Vgl. Rattner und Danzer (2006), 57 f. 10 Vgl. Scholl (2011), 571. 11 Calder (1993), 48. <?page no="160"?> 4.2 La Rochefoucauld-- Anthropologie und Gesellschaft 159 durch den zeitgenössischen Jansenismus und dessen Aktualisierung der augustinischen These von der radikalisierten Erbsünde wie auch der damit einhergehenden Prädestinationslehre in Relation gesetzt werden. 12 Seinem mondänen Umfeld geschuldet distanziert sich seine Anthropologie indes entschieden vom religiösen Einfluss, wie dem Primat seiner psychologischen Argumentation zu entnehmen ist. Deshalb verwundert es nicht, dass La Rochefoucauld in seinem Werk die Auswirkungen der Eigenliebe auf die Herausbildung von Affekten und das zwischenmenschliche Verhalten aufzeigt. 13 Ferner kann die Maximensammlung als eine kritische Auseinandersetzung mit der stoischen Tugend- und Affektenlehre Senecas aufgefasst werden, 14 dessen Büste das Frontispiz 15 seiner Erstausgabe ziert. Dieses ist im Sinne Gérard Genettes als Paratext zu verstehen und kann als Lektüreschlüssel dienen: 16 Die Zeichnung zeigt Seneca, Sinnbild des Stoizismus und Verfechter der menschlichen Stärke, die auf eine vernunftbedingte Affektkontrolle zurückzuführen ist. Diese wird über die schelmische Enthüllungsgeste Amors, der Seneca die stoische Maske abnimmt, ironisch illustriert und entwertet. Die Maske steht für das dialektische Verhältnis von Fremd- und Selbsttäuschung. Sie kündigt den moralistischen und zugleich ironischen Diskurs des Werkes an, der nicht nur eine theoretisch fundierte, anthropologische und sozialanthropologische wie auch rhetorische Reichweite aufzeigt, sondern auch über den der Maske traditionell attribuierten Wert des Spielens auf eine säkulare Auslegung der theatrummundi -Metapher hinweist. Im Frontispiz wird die Maske zum Symbol der Lüge und zum Symbol allgegenwärtiger Dissimulation menschlicher Natur erhoben: [M]asques est [sic] là [à la cour, Anm. S. W.] dans un sens figuré, et se prend pour personnes dissimulées , pour ceux qui cachent leurs véritables sentimens, qui se démontent, pour ainsi dire, le visage, et prènent des mines propres à marquer une situation d’esprit et de cœur toute autre que celle où ils sont éfectivement. 17 12 Augustins Vision einer korrupten und schuldigen menschlichen Natur ist auch in La Rochefoucaulds Maximen erkennbar. Louis van Delft hebt die Wertegleichheit zwischen Weltlichkeit und Geistlichkeit bei La Rochefoucauld hervor: „Les valeurs auxquelles cet auteur se réfère sont pour le moins autant celles du ‚monde‘ que celles de l’ Augustinus. “ Van Delft (1982), 161. 13 Vgl. Ansmann (1972), 149. 14 Vgl. Kruse (2003), 6. 15 Siehe Abbildung 1. Kupferstich von Stéphane Picart: Frontispice. Réflexions ou Sentences et Maximes morales . 16 Isabelle Chariatte liefert in ihrem chapitre prélimiaire „Sur le ‚seuil‘ des Maximes: le frontispice, une clé de lecture“ eine detaillierte und prolixe Analyse zum ikonografischen und polysemantischen Wert des Frontispiz der Maximen. Vgl. Chariatte (2011), 17-64. 17 Dieses Zitat entstammt einer Reflexion des Enzyklopädisten César Chesneau Du Marsais über den sens propre und den sens figuré des Begriffs ‚masque‘. Chesneau Du Marsais <?page no="161"?> 160 4 Der komische Charakter La Rochefoucaulds kritische Haltung gegenüber dem Stoizismus respektive Neostoizismus gestaltet den seuil , gewissermaßen das Eintrittstor zu den Maximen, und führt an exponierter Stelle in seine Entlarvungspsychologie ein. Diese ist von einem skeptischen Tugendbegriff bestimmt, da er jedwedem tugendhaften Bestreben des Menschen seine Lasterhaftigkeit entgegenhält. Im Gegensatz zu seinem antiken Vorgänger Seneca, der die Vernunft als unbeirrbaren Naturtrieb versteht, die zur Tugend 18 führe, distanziert sich La Rochefoucauld in seinen Maximen vom stoischen Tugendideal, indem er anführt: „Nous n’avons pas assez de force pour suivre toute notre raison.“ (M, 42) Sonach ist jeglicher Rationalismus letztlich Selbsttäuschung. Die fehlende Stärke sieht er in der wesenskonstituierenden Eigenliebe des Menschen, der irrigen Triebfeder seines Handelns, in deren Lichte jede Tugendhaftigkeit argwöhnisch zu betrachten ist, orientiert sie sich doch an der Ratio. Das Ziel seiner Enthüllungspsychologie ist es, zu zeigen, wie der amour-propre das grundsätzliche Verhalten des Menschen bedingt. In seiner ersten, recht ausschweifenden maxime supprimée stellt der Moralist sein Konzept zur Natur des amour-propre vor. Hier heißt es: L’ AMOUR - PROPRE est l’amour de soi-même, […] il rend les hommes idolâtres d’euxmêmes, […] il est souvent invisible à lui-même, […] il est tous les contraires: il est impérieux et obéissant, sincère et dissimulé, miséricordieux et cruel, timide et audacieux, […] il est inconstant d’inconstance, de légèreté, d’amour, de nouveauté, de lassitude et de dégoût; il est capricieux, et on le voit quelquefois travailler avec le dernier empressement, et avec des travaux incroyables, à obtenir des choses qui ne lui sont point avantageuses, et qui même lui sont nuisibles, mais qu’il poursuit parce qu’il les veut. […] [I]l passe même dans le parti des gens qui lui font la guerre, il entre dans leurs desseins, et ce qui est admirable, il se hait lui-même avec eux, il conjure sa perte, il travaille même à sa ruine. […] Voilà la peinture de l’amour-propre, dont toute la vie n’est qu’une grande et longue agitation; la mer en est une image sensible, et l’amour-propre trouve dans le flux et le reflux de ses vagues continuelles une fidèle expression de la succession turbulente de ses pensées et de ses éternels mouvements. (M, 563) La Rochefoucauld resümiert mittels gnomischem Präsens seine Reflexion über die undurchdringliche Natur des amour-propre im Gleichnis des abgründigen Meeres, denn der ungestüme und zeitlose Zyklus seiner Bewegungen - „le flux et le reflux de ses vagues“ - findet einen adäquaten schriftlichen Ausdruck in (1818 [1730]), 27 f. 18 Die Tugend, virtus , wird bei Seneca mitunter als „moralische Vollkommenheit“ übersetzt und verstanden. Vgl. Seneca (2012), 25. <?page no="162"?> 4.2 La Rochefoucauld-- Anthropologie und Gesellschaft 161 Ebbe und Flut. 19 Die in parataktischer Manier aufgelistete, fragmentarische Charakterisierung der Eigenliebe zeichnet nicht nur ein facettenreiches Bild menschlicher Eitelkeit, sondern auch ein paradoxes Porträt ihrer Wirkungsweisen im Sinne des „flux et reflux“. Denn die Eigenliebe oszilliert zwischen verschiedenen ihr attribuierten Wesensmerkmalen und bleibt schwer fassbar („il est tous les contraires“). Sie kann zu höchstem und niedrigstem Handeln verführen, wenn das Subjekt seinem Selbsterhaltungs- und Geltungsdrang kompromisslos nachgeht. Erfassbar wird der amour-propre für den Maximenverfasser hingegen in der ästhetischen Verschriftlichung des Textes über das gleichbleibende und omnipräsente Subjektpronomen ‚il‘. Dieses hält die kontradiktorische barocke Motivik - wie „Duplizität, Inkonsistenz, Verwandlung, Ubiquität, Verkleidung [und] Täuschung“ 20 - im Sinne des klassischen Einheitsstrebens formal zusammen. Ferner vermittelt es inhaltlich über die gemeinhin dem Menschen zuerkannten Adjektive den Eindruck eines ausdifferenzierten Personenporträts. Diese in anthropomorphischer Bildlichkeit geschilderte Charakteristik des amour-propre behält La Rochefoucauld in seinen weiteren Ausführungen bei. Er beseelt den amour-propre und haucht ihm im Zuge seiner negativen Anthropologie mit dem intérêt , der Eigennützigkeit, Leben ein. Im Konzept des intérêt lassen sich seine Erscheinungen in einem egoistischen Nexus menschlicher Abgründigkeit erfassen: L’intérêt est l’âme de l’amour-propre, de sorte que comme le corps, privé de son âme, est sans vue, sans ouïe, sans connaissance, sans sentiment et sans mouvement, de même, l’amour-propre séparé, s’il le faut dire ainsi, de son intérêt, ne voit, n’entend, ne sent et ne se remue plus […]. (M, 510) Ferner macht sich der amour-propre im Medium der Sprache bemerkbar, denn nur die Beschaffenheit der Sprache reicht an seine Verwandlungskraft heran, sodass er sich darin verwirklichen und zeigen kann. 21 Sein „intérêt parle toutes sortes de langues, et joue toutes sortes de personnages, même celui de désintéressé“ (M, 39). Wenn die Sprache eine erste Materialisierung der Gedanken ermöglicht, dann impliziert dies, dass sie sowohl als Instrument der Wahrheit als auch der Täuschung eingesetzt werden kann, den intérêt im gesellschaftlichen Kontext je nach Situation offenlegen oder verbergen kann. Ferner ist der amour-propre als Schauspieler zu verstehen, sodass per definitionem eine Verbindung zwischen Theater und moralistischer Literatur, zwischen Komödie und Moralistik zu konstatieren ist. Dieser Verbindung ist ein reziprokes Imi- 19 Vgl. Balmer (1981), 90. 20 Roth (1981), 287. 21 Vgl. Stierle (1985), 95. <?page no="163"?> 162 4 Der komische Charakter tationsverhältnis zuzuschreiben: „La comédie imite la littérature moraliste; la littérature moraliste imite la comédie.“ 22 Der Mensch ist also im moralistischen Sinne als ein dezentriertes, fremdbestimmtes Subjekt zu verstehen, da er in ständiger Bewegung im Sinne der „inconstance“ die eigene Identität im Spiegel der Dialektik von Schein und Sein wechselt. Er trägt gemäß La Rochefoucauld das Etikett eines Fluchtwesens, da er nie vollständig erfassbar ist: 23 „Quelque découverte que l’on ait faite dans le pays de l’amour-propre, il y reste encore bien des terres inconnues.“ (M, 3) 4.2.2 La Rochefoucaulds gesellschaftliches Verständnis La Rochefoucauld betrachtet die soziale Interaktion auf der Grundlage seiner negativen Anthropologie. Er ergründet, wie sich die Bestrebungen des amourpropre auf die zwischenmenschliche Interaktion im Rahmen der modifizierten Gesellschaftsstruktur des 17. Jahrhunderts auswirken: Im Zuge der sukzessiven Entwicklung vom Schwertzum Hofadel, von der „noblesse d’utilité“ zur „noblesse d’ornement“, 24 agglomerieren sich die einzelnen horizontalen Machtzentren zu einem vertikal ausgerichteten Machtzentrum. Robert Muchembled beschreibt diesen sozialen Strukturwandel in nuce : [L]e mouvement d’ensemble correspond au passage d’un monde médiéval parcellisé à une société plus structurée par les autorités centrales, en prélude à la concentration des pouvoirs réalisée dans l’univers capitaliste du XIX e siècle. 25 Diese neue soziale Struktur ist, in Anlehnung an das Grundverständnis des amour-propre , von einem reziproken und perpetuellen Machtkampf der Höflinge untereinander geprägt, vom egoistischen Willen, den intérêt auf Kosten anderer durchzusetzen: „Chacun veut trouver son plaisir et ses avantages aux dépens des autres.“ 26 Da ein exzessives Vorteilsstreben die Gesellschafts- und Staatsordnung gefährden würde, muss der Monopolherr den Egoismus des Einzelnen zum Wohle aller zu zügeln wissen. Er fungiert als Garant für das sittliche Zusammenleben von la cour et la ville . Diese Funktion ist von großer Tragweite für den absolutistischen Staat, da dieser elitäre soziale Mikrokosmos die Ordnung des Staates und die Vormachtstellung Frankreichs in Europa repräsentiert. Der Umstand, dass mit der Alleinherrschaft Ludwigs XIV . die Staatsmacht in einer Person zentriert ist, führt dazu, dass die einzelnen Höflinge ihren feudalen 22 Force (1994), 125. 23 Vgl. Stierle (1985), 92. 24 Bénéton (1978), 115. 25 Muchembled (1990), 122. Meine Hervorhebung. 26 La Rochefoucauld (1964 [1678]), 504. <?page no="164"?> 4.2 La Rochefoucauld-- Anthropologie und Gesellschaft 163 Machttrieb auf den souveränen Herrscher projizieren müssen. Er ist „after all, the paradigm of amour-propre“ 27 und repräsentiert die höchste Macht im Sinne einer Staatsräson, die er mit dosiertem Kalkül in Form von Gunstbezeigungen an seine Höflinge zurückzugeben vermag, sodass sie ihren amour-propre in dem des Sonnenkönigs spiegeln können. Das Erheischen dieser Anerkennungsgeste ist ihre Grundmotivation, am gesellschaftlichen Spiel zu partizipieren. Der König kann mit diesem Einverständnis den Auf- und Abstieg mittels der Etikette steuern, mithin den gesellschaftlichen Wert eines Höflings festlegen. Er verstrickt seine Untertanen in ein Abhängigkeitsgeflecht und bringt sie dazu, so zu denken, „comme il veut“ 28 . Ignoriert das Subjekt diese Funktionsweise des sozialen Gefüges verliert es schnell seinen Platz in der höfischen Hierarchie und wird zum sozialen Außenseiter degradiert. Die gesellschaftliche Meinung adaptiert die königliche Vorstellung von der Wertigkeit eines Menschen und appliziert diese im gesellschaftlichen Verbund. 29 Dies tut sie, wie der Duc de Saint-Simon schreibt, unter folgender Prämisse: „[O]n ne juge jamais des choses par ce qu’elles sont, mais par les personnes qu’elles regardent.“ 30 Im Zuge des gesellschaftlichen Wandels kommt der Etikette in der höfischen Gesellschaft die wesentliche Bedeutung zu, nicht mehr ausschließlich Titel, Rang und Ethos. 31 Dass die Adeligen untereinander wetteifern, ist bei diesem Herrschaftsprinzip beabsichtigt. Der honnête homme bildet hierzu die folgenden gesellschaftlichästhetischen Qualitäten aus: „Höflichkeit, Kunst der Konversation, gepflegter Umgang mit Damen, Bildung des Geschmacks, Flucht vor Affektiertheit, Anpassungsbereitschaft“ 32 und Modebewusstsein. Es handelt sich um einen Menschen, [qui] est maître de son geste, de ses yeux, et de son visage; il est profond, impénétrable; il dissimule les mauvais offices, sourit à ses ennemis, contraint son humeur, déguise ses passions, dément son cœur, parle, agit contre ses sentiments 33 . Norbert Elias stellt fest, dass diese Affektbändigung im Konkurrenzkampf am Hof existenziell ist, 34 da jegliche direkte und unkontrollierte Botschaft eines individuellen intérêt die höfische Norm stören würde, die vom königlichen intérêt gezeichnet ist. Diese Handlungsmaxime lässt auch Molière in Le Bourgeois 27 Riggs (2002), 28. 28 Zitat nach Montesquieu in Elias (2002), 124. 29 Vgl. Schneider (1983), 15. 30 Saint-Simon (1840), 219. 31 Vgl. Bergner (1988), 101 f. 32 Roth (1981), 239. 33 Bruyère (1975 [1696]), 157. 34 Vgl. Elias (2002). Hier auch soziologische Hintergründe für die zwanghafte Affektkontrolle am Hof von Versailles. <?page no="165"?> 164 4 Der komische Charakter gentilhomme in den Worten des Tanzlehrers anklingen, der die Offenlegung des intérêt als malhonnête bezeichnet: „[E]t l’intérêt est quelque chose de si bas, qu’il ne faut jamais qu’un honnête Homme montre pour lui de l’attachement.“ ( BG , 266) Um in der Gesellschaft bestehen zu können, bildet der honnête homme ein konventionalisiertes Persönlichkeitsideal aus, das durch übersteigerte Tugendhaftigkeit und Anerkennungsdialektik gekennzeichnet ist. Der Chevalier de Méré animiert in seiner Abhandlung Suite du commerce du monde die Höflinge diesbezüglich, ihr Betragen zu einem Maskenspiel werden zu lassen, ja, er empfiehlt ihnen als Mittel zum Selbstschutz, zum Schauspieler auf dem gesellschaftlichen Parkett zu werden: Je suis persuadé qu’en beaucoup d’occasions il n’est pas inutile de regarder ce qu’on fait comme une Comedie, & de s’imaginer qu’on joüe un personnage de theatre . Cette pensée empêche d’avoir rien trop à coeur, & donne ensuite une liberté de langage & d’action, qu’on n’a point, quand on est troublé de crainte & d’inquiétude. 35 Eine Legitimation für die Theatralisierung der sozialen Rollen sieht er im Prinzip der höfischen Rationalität, der honnêteté , begründet. Sonach ist Dissimulation amour-propre -gesteuerte Ratio und die honnêteté die Verwirklichung des Menschen in der Klassik. Die Umgangsformen des Höflings reflektieren die Aufstiegsstrategie im absolutistischen System und charakterisieren die honnêteté zugleich als ein diskursives Regulationssystem, das bedrückende Wahrheiten und bedrohliche Affekte niederhält. 36 Sie ist nach La Rochefoucauld ein kontradiktorisches Gebilde, das lediglich dadurch existieren kann, dass sich seine antagonistischen Kräfte reziprok dominieren: Die zentrifugalen Kräfte zeigen die mondänen Tendenzen auf und drängen zugleich auf eine gesellschaftliche Anpassung des Individuums, während die zentripetalen Gegenkräfte die Koinzidenz von être und paraître forcieren und zugleich eine nach innen gerichtete Steuerung des Verhaltens intendieren. 37 Im Sinne der aus diesem Antagonismus resultierenden Hypokrisie, die auf der simulatio und der dissimulatio gründet, urteilt Karlheinz Stierle, dass „die Sprache des Scheins die Sprache der Gesellschaft selbst [ist], deren Vollkommenheit nichts anderes als schöner Schein ist“ 38 . Die Diskurspraxis der Gesellschaft zeichnet sich durch eine Polysemie sprachlicher Zeichen aus, durch eine semantische Verarmung aufgrund der semiotischen Intransparenz von Schein und Sein: „Le signe n’attend pas silencieusement la venue de celui qui peut le reconnaître: il ne se constitue jamais que par un acte de connais- 35 Méré (1712), 146. Meine Hervorhebung. 36 Vgl. Roth (1981), 385. 37 Vgl. ebd., 220 f. 38 Stierle (1985), 94. <?page no="166"?> 4.2 La Rochefoucauld-- Anthropologie und Gesellschaft 165 sance.“ 39 Das höfische Subjekt gewährleistet keine authentische Koinzidenz von Sprache und Gedanken mehr. Für die Gesellschaft der Klassik bedeutet dies, dass sie „in einem höchste Fiktion und höchste Realität [ist], da sie den einzelnen zwingt, sich ihrer Norm zu unterwerfen“ 40 . Die dargebotene Engführung von soziohistorischem und moralistischem Diskurs in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts führt zu folgendem sozialanthropologischen Fazit: Ein impulsives Handeln ist in der Welt des Hofes nicht möglich, da jede spontan-individuelle Äußerung des Lebenswillens von sich überlagernden Lebensinteressen anderer unterdrückt wird. 41 Die Informationsgewinnung erhält das Subjekt durch seine Wahrnehmung, die gleichermaßen wahrgenommen werden kann, sodass in dieser Artikulation doppelter Kontingenz der psychische Prozess zu einem sozialen Phänomen wird. 42 Im Kollektiven facettiert sich sonach das Persönliche. Die höfische Gesellschaft steht im Zeichen einer affektkontrollierten Entindividualisierung ihrer Höflinge. Die individuelle Verstellung ist von hohem gesellschaftlichen Wert, weil die Offenbarung intimster Gefühlsregungen als Verstoß gegen die bienséance gilt: „[D]as Formale [wird] in der Hofgesellschaft zum exzessiv gepflegten Kult, der über jeden moralischen Zweifel erhaben sein soll“ 43 - „l’éthique devient étiquette“ 44 . Die Formbeherrschung fungiert in diesem Kontext als Ersatzmoral, denn ein Abweichen von dieser entblößt den „abîme sous-jacent“ 45 und enthüllt die moralischen Defizite des Subjekts. Man lebt von gegenseitiger Akzeptanz und ist bemüht, seine gesellschaftliche Rolle nach besten Kräften zu spielen , denn nur so kann man sich im königlichen Licht der Macht widerspiegeln. Die daraus entstehende Kluft zwischen tatsächlicher Moral und gesellschaftlicher Schicklichkeit ergründet La Rochefoucauld in seinen Maximen. Der Moralist dekuvriert die Grundlage des höfischen Zusammenlebens: den institutionalisierten Schein. Mit seinen Maximen schreibt er den moralistischen Diskurs in den soziohistorischen ein. Dieser ist in seiner lebensweltlichen Reichweite nicht wie ein poetischer Konterdiskurs zu lesen, denn nur Literatur ist ein „discours sur le non-discours de tout langage“ 46 , so Rainer Warning nach Michel Foucault. Er ist wie ein tabuierter, aber dennoch transparenter Bereich innerhalb des gesell- 39 Foucault (1966), 73. 40 Stierle (1985), 94. 41 Vgl. Steland (1984), 72. 42 Vgl. Luhmann (1984), 560. 43 Bergner (1988), 102. 44 Starobinski (1966), 217. 45 Ebd., 219. 46 Zitat von Michel Foucault in Warning (1999), 317. Rainer Warning setzt den Begriff der poetischen Nicht-Diskursivität mit dem der poetischen Konterdiskursivität gleich. <?page no="167"?> 166 4 Der komische Charakter schaftlichen Diskurses zu verstehen, der Letzteren konstituiert und als solchen bekräftigt. 4.3 Amour-propre und Individuum-- Querschnitt einer Charakterstudie der komischen Helden Die vorliegende Studie versucht, anhand von Einzelbeispielen die Grundprinzipien des komischen Charakters aus moralistischer Perspektive zu eruieren und zugleich einen Überblick über spezifische Charaktereigenschaften der komischen Helden in Molières Ballettkomödien zu geben. Die Auswahl folgender Textbeispiele steht dabei programmatisch in der Intention von La Rochefoucaulds Maxime: „Il est plus aisé de connaître l’homme en général, que de connaître un homme en particulier.“ (M, 436) Molières komische Helden sind prädestiniert dafür, Einblicke in den menschlichen amour-propre zu gewähren. Da sie im Ausleben ihrer hypertrophen idée fixe gegen die bienséance verstoßen und ihr psychologisches Movens auf der Bühne unmaskiert exteriorisieren, ermöglichen sie dem Zuschauer eine tiefenpsychologische Sicht auf ihren Charakter. Sie sind „blinded by self-love“, wie Andrew Calder für „all Molière’s comic heroes“ konstatiert. 47 Dieser Verdacht erhärtet sich beim Betrachten ihrer jeweiligen idée fixe , durch die sie sich zu lächerlichen Personen machen ohne sich grosso modo darüber bewusst zu sein. Die Helden wirken lächerlich, weil sie komisch sind. Diese Wirkung resultiert daraus, dass ihre Suche nach dem eigenen Vorteil ihnen zum Nachteil gereicht. Ihre Hartnäckigkeit und die Strenge, mit der sie ihre Ziele verfolgen, lässt sie fremdbestimmt erscheinen, da sie sich immer wieder auf ihre fixe Idee berufen, auf „ cette erreur constante de l’ame qui se manifeste dans [ses] imagination[s], dans ses jugemens & dans ses désirs, qui constitue le caractere de cette classe“ 48 . Die Fremdbestimmheit illustriert mit aller Anschaulichkeit, dass ihre Triebregungen weder von einem dominierenden Lustprinzip noch von einem konsequenten Realitätsprinzip gelenkt werden. 49 Die Eigenliebe schafft sonach ein Trugbild, „a reflex of the imaginaire , the shifting mental pictures that determine how we act and thus how we represent ourselves to ourselves and others as a function of what we and they imagine us to be“ 50 . 47 Calder (1993), 54. 48 Boissier de Sauvages de la Croix (1772), 33. Meine Hervorhebung. 49 Vgl. Dietrich (1968), 24. 50 Zitat nach Jacques Lacan in Braider (2002), 1154. <?page no="168"?> 4.3. „Amour-propre“ und Individuum 167 4.3.1 La folie, c’est moi In Le Bourgeois gentilhomme wird Monsieur Jourdain zum Spielball seiner Lehrer, die ihn in seiner Adelsstreberei unterstützen. Dieses Einwirken wirkt stimulierend auf die Eigenliebe Monsieur Jourdains, er frönt damit seinem narzisstischen Ich, seinem intérêt . Demnach kann die Fremdgesteuertheit des Ich durch den ungezügelten amour-propre in der Beziehung der Ausbilder zu Monsieur Jourdain aufgezeigt werden. Besonders absurd wirkt in dieser moralistischen Lesart die Philosophielehrstunde, in der dem Bürger die Orthografie beigebracht wird, da die geistreichen Künste wie Logik und Morallehre wenig Anklang beim unkultivierten Bourgeois finden. Fasziniert von seinem neuen Wissen bemerkt er nicht, dass er die Praxis bereits beherrscht, ohne eine theoretische Kenntnis darüber erlernt zu haben: M aître de p hilosophie : […] La consonne, D, par exemple, se prononce en donnant du bout de la langue au-dessus des dents d’en haut: DA . M onsieur J ourdain : DA , DA . Oui. Ah les belles choses! les belles choses! ( BG , 282) Monsieur Jourdain ist sich der primitiven Situation keineswegs bewusst, ihm fehlt jeglicher Scharfblick dafür, dass er sich durch sein infantiles Benehmen eher wieder zum natürlichen menschlichen Ursprung zurückentwickelt, als sich der kultivierten Adelsetikette anzunähern und daher in seinem Starrsinn gegen sich selbst handelt. Er liefert sich der Kompetenz seines Lehrers aus und lässt sich manipulieren, einzig und allein, weil dieser ihn bei der Erfüllung seiner idée fixe unterstützt. Sein amour-propre erniedrigt ihn zum lächerlichen bourgeois in den Augen der anderen, während er sich selbst zum gentilhomme erhöht meint. Schließlich wird seine ständige, von Unsicherheit geprägte Rückversicherung „Est-ce que les Gens de Qualité apprennent aussi [cela]? “ ( BG , 269) von seinen Lehrern aus Eigennutz immer wieder bejaht. Diesen paradoxen Wesenszug der Eigenliebe zeigt auch La Rochefoucauld auf, wenn er konstatiert, dass „il [l’amour-propre, Anm. S. W.] travaille même à sa ruine“ (M, 563). Die Diskrepanz zwischen Fremd- und Eigenwahrnehmung, zwischen „représentation réelle [du moi, Anm. S. W.]“ und „représentation identifiante [du moi, Anm. S. W.]“, 51 erfährt Monsieur Jourdain zu Beginn von Akt III , nachdem Musik-, Tanz-, Fecht- und Philosophielehrer ihn im höfischen Lebensstil unterwiesen haben und ein Schneider ihm ein lächerliches pseudo-aristokratisches 52 Gewand verpasst hat: Die Haushälterin Nicole verlacht ihn bei diesem Anblick in einem nicht enden wollenden Lachanfall und stellt über diese nonverbale 51 Marin (1981), 125. 52 Der Schneider hat die Blumenmuster verkehrt auf den Anzug genäht, sodass er wie ein Narrenkostüm erscheint. Vgl. BG, Akt II, Szene V. <?page no="169"?> 168 4 Der komische Charakter Reaktion nicht nur sein Betragen, sondern seine ganze Person infrage, stellvertretend für die räsonierten Figuren der Handlungswelt, die ihren amour-propre mit ihrem bon sens zu zügeln wissen. Dieser Charakterzug Monsieur Jourdains lässt sich bei allen komischen Helden finden. Um mit Bergson zu sprechen: Lächerlich ist an einem Menschen nur das, was sich seinem Bewusstsein entzieht. 53 Der Bourgeois kontert auf Nicoles Anfeindung unreflektiert und sich selbst schützend, indem er sich restlos seinen Humoren hingibt, ganz im Sinne seines egomanischen Aufschreis: „Je suis bilieux comme tous les Diables; et il n’y a Morale qui tienne, je me veux mettre en colère tout mon soûl, quand il m’en prend envie.“ ( BG , 280 f.) Das kapriziöse Verhalten Monsieur Jourdains spiegelt seine Selbstsüchtigkeit und Eitelkeit wider, seine deutliche Ablehnung und Missachtung sozialer Umgangsformen, wie sie auch insbesondere bei der Comtesse d’Escarbagnas und Monsieur de Pourceaugnac zu finden sind. Sein Betragen verkörpert die abgründige Stimme des amour-propre , die dazu aufruft, ein schmeichelhaftes Ich zu kreieren, das sich der imago veritatis entgegensetzt. Die komischen Helden lassen keine Kritik gelten, sondern werten ihre unkontrollierten Affekte auf, da diese ihnen den Eindruck vermitteln, sich selbst im sozialen Dasein zu gefallen: „Ce sont […] de véritables folies que tous les travers de notre esprit, toutes les illusions de l’ amour-propre , et toutes nos passions quand elles sont portées jusqu’à l’aveuglement.“ 54 Die Hauptfiguren passen die Dingwelt ihrer vorgeformten Gedankenwelt an und lassen sich nicht auf die lebensweltlichen Prinzipien ihrer Umwelt ein. Sie zwingen Letzterer ihre imaginären Prinzipien auf, indem sie die „représentation réelle [du moi, Anm. S. W.]“ durch die „représentation identifiante [du moi, Anm. S. W.]“ substituieren und müssen mit den Konsequenzen ihrer selbst gewählten ontologischen Dualität leben: Jede komische Gestalt bewegt sich somit auf dem Weg der Selbsttäuschung. 55 Die Hypertrophie ihres Ich ist ihr Wegweiser. Die komischen Helden sind von ihren anankastischen Impulsen getrieben. In der Besessenheit ihrer eigenen bienséance verlieren sie jegliches Taktgefühl für das soziale Gefüge und entziehen sich ihrer sozialen Wahrnehmung durch ihre eigene Weltsicht. Die Unersättlichkeit ihrer Leidenschaften fordert eine immerwährende Steigerung und neue Variationen des Auslebens, die sich bei Argan in Le Malade imaginaire in gesteigertem Medikamentenkonsum, immer weiteren Kuren und ärztlichen Untersuchungen zeigt und schließlich in seiner Metamorphose zum Arzt gipfelt. Die Cérémonie Burlesque vermittelt dem Zuschauer das gesamte Ausmaß der folie Argans und präsentiert eine Zelebrierung seiner 53 Vgl. Bergson (1983), 129. 54 Zitat in Foucault (1964), 260. Meine Hervorhebung. 55 Vgl. Bergson (1983), 142. <?page no="170"?> 4.3. „Amour-propre“ und Individuum 169 grenzenlosen Idolatrie, seiner mentalen Dysfunktionalität, die sich in einem übererfüllten Körperbewusstsein ausdrückt und Sinnbild eines unersättlichen Geltungsdranges ist. Argan ist sich dieser Wirkung auf sein Umfeld, ähnlich wie Monsieur Jourdain in der Cérémonie Turque , nicht bewusst, „parcequ’il ne voit au-lieu de lui-même que le vain fantôme qu’il s’en est formé“ 56 . In beiden Fällen ist der Begriff der idée fixe ab der Zeremonieszene zu erweitern, da die sozial unwirkliche Realitätsmodifikation der verrückten Helden eher dem Begriff der idée folle gerecht zu werden scheint, der ob des ihren Metamorphosen zugrunde liegenden „déréglement entier de l’imagination“ 57 am geeignetsten erscheint. Die freizügigen Leidenschaften erheben die Autonomie des Ich zum Lebensprinzip der komischen Helden. Es handelt sich um eine moderne Auffassung persönlicher Autonomie, für die das soziale Gefüge des 17. Jahrhunderts noch nicht bereit ist und Störenfrieden mit Ausschluss und Stigmatisierung zum Wahnsinnigen begegnet. 4.3.2 Moi, je m’aime infiniment In La Princesse d’Élide scheint die komische Heldin zunächst der irrationalen Lebensauffassung von Argan und Monsieur Jourdain zu widersprechen, wenn sie auf die Forderung Aglantes „il est nécessaire d’aimer pour vivre heureusement“ (PdE, 559) antwortet, dass das Verlangen [d’]une passion […] n’est qu’erreur, que faiblesse et qu’emportement, […] j’ai une horreur trop invincible pour ces sortes d’abaissements, et si jamais j’étais capable d’y descendre, je serais personne sans doute à ne me le point pardonner. (PdE, 560) Ihr Stolz und ihr Hochmut erheben sie über die Liebesverfallenen, die sich ihrer Meinung nach mit der Niedrigkeit der Lust abgeben. Dieses geradezu übermenschliche Diktum, dem sie sich in ähnlicher Weise wie Ériphile in Les Amants magnifiques unterwirft, zeugt aber aufgrund der angestrebten Normübererfüllung von einer passionierten Eigenliebe, denn das Zurschaustellen einer perfekten Dämpfung der Leidenschaften soll eine unnachahmliche Stärke verkörpern, eine extraordinäre royale Charakterstärke. Ihr Betragen ist symptomatisch für den narzisstischen Stolz des amour-propre : „C’est plus souvent par orgueil que par défaut de lumières qu’on s’oppose avec tant d’opiniâtreté aux opinions les plus suivies […].“ (M, 234) Dass ihr die so fest von ihr geglaubte Ansicht einer Unempfänglichkeit für Liebe zu ihrem eigenen Verhängnis wird, verweist wie bei den anderen komischen Helden auf ihre hypertrophe Eigenliebe, die sie als 56 Nicole (1733), 7. 57 Nicole (1970 [1671]), 90. <?page no="171"?> 170 4 Der komische Charakter selbstblindes Individuum entlarvt. Ihr unreflektierter Blick auf ihr eigenes Verhalten zeigt sich in ihrem unerschütterlichen Glauben, Herrin ihrer Gefühle zu sein, während sie doch eigentlich von diesen unsanft gelenkt wird. Oder mit den Worten La Rochefoucaulds: „L’homme croit souvent se conduire lorsqu’il est conduit; et pendant que par son esprit il tend à un but, son cœur l’entraîne insensiblement à un autre.“ (M, 43) Die Tatsache, dass Euryale vorschützt, keine Gefühle für die Prinzessin von Elis zu hegen, verletzt ihr übersteigertes Ichgefühl. Dieses speist sich daraus, dass sie von allen Männern im Königreich begehrt wird. Sie schürt das männliche Verlangen zusätzlich dadurch, dass sie sich ausschließlich für die Jagd interessiert und nicht für die Heirat, wodurch sie als unerreichbare Begehrte von ihren Anwärtern wahrgenommen wird und deren amour-propre herausfordert, sie zu erobern. Euryale mimt den Uninteressierten und schlägt sie mit ihren eigenen Waffen, ganz im Sinne des spanischen Originaltitels der Komödie El desdén con el desdén . Er entfesselt das Aktionspotenzial ihres amour-propre , denn dieser duldet keine Kränkung durch Herabsetzung und veranlasst die Prinzessin „de châtier cette hauteur“ (PdE, 563) Euryales. Sie versucht, „de l’engager pour rabattre un peu son orgueil“ (PdE, 569). Ihr intérêt zeigt sich in ihrem Racheunterfangen, den mépris zu vergelten, wodurch sie sich noch mehr erniedrigt, auch ganz konkret: „[ J]e me jette à vos pieds […].“ (PdE, 584) Schließlich tritt sie emotional erschöpft in Erscheinung, wenn sie ausruft: „Ah! Moron, je n’en puis plus.“ (PdE 578). Doch der amour-propre gibt sich nicht geschlagen, wenn er etwas erreichen will. So mobilisiert die Prinzessin ihre letzten Kräfte als sie durch die Heiratspläne von Euryale und ihrer Cousine Aglante erneut provoziert wird, und bittet ihren Vater, die geplante Ehe zu unterbinden. Dieses von Eifersucht gelenkte Verhalten zeigt im moralistischen Sinne weniger die Liebe zu Euryale als vielmehr die Liebe zu sich selbst auf, wie La Rochefoucauld feststellt: „Il y a dans la jalousie plus d’amour-propre que d’amour.“ (M, 324) Diese Maxime lässt sich auch auf den intérêt von George Dandin und Don Pèdre projizieren, da deren eifersüchtiges Verhalten im Zeichen ihrer Eigenliebe steht und sie dabei selbst das Wohlergehen der Geliebten ignorieren. Erst nachdem ihr Euryale sein falsches Spiel in einer hofierten Liebeserklärung offenbarte, sieht sie ihren verletzen amour-propre restituiert, ihre „aliénation intérieure“ 58 beendet, und verfällt unverzüglich in ihr distanziertes Verhalten zurück, indem sie sich einer baldigen Heirat zunächst entzieht und um Bedenkzeit bittet; die Eigenliebe behält die Vorherrschaft in der menschlichen Seele. Die Prinzessin vermag mithilfe ihrer starken Egomanie, ihre Schuldgefühle und 58 Canova-Green (2007), 170. <?page no="172"?> 4.3. „Amour-propre“ und Individuum 171 Reue zu verdrängen und reiht sich mit ihrem soziopathischen Charakter in die Riege von Molières komischen Helden und Heldinnen ein. 4.3.3 Je suis un autre que moi Die Versklavung durch den amour-propre respektive die Leidenschaften führt trotz aller Selbstblindheit vorübergehend zur Bewusstwerdung der Realität, zur Erkenntnis der „nature vraie cachée“ 59 . Dies passiert dann, wenn der Leidensdruck zu groß wird, wenn die gelebte Antinomie zwischen „représentation réelle [du moi, Anm. S. W.]“ und „représentation identifiante [du moi, Anm. S. W.]“ unerträglich wird, die Lebensillusion nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Für die komischen Helden bedingt diese Erkenntnis eine Konfrontation mit der ungeschönten Realität, die sie bereitwillig auszublenden gewillt sind, korreliert diese doch mit dem Eingeständnis des eigenen Scheiterns, mit dem Misslingen ihrer idée fixe . Besonders schmerzlich erfährt George Dandin diese Realität in seinen am Aktende zum Ausdruck gebrachten, einsamen Seufzertiraden: „Ah que je … Vous l’avez voulu, vous l’avez voulu, George Dandin, vous l’avez voulu, cela vous sied fort bien, et vous voilà ajusté comme il faut, vous avez justement ce que vous méritez.“ ( GD , 988) Dieses Erkenntnismoment ist so sehr von Selbsthass erfüllt, dass George Dandin die direkte Ich-Bezogenheit in der 1. Person Singular durch die distanzierte Anrede in der 2. Person Plural „vous“ ersetzt. Er spricht von sich selbst und mit sich selbst, so, als würde es sich um eine andere Person, ein anderes Ich handeln. Dieser ‚Vous-ismus‘ verschafft ihm einen nüchternen Blick auf sich, der dadurch gelingt, dass er sich im Sinne einer Ich-Spaltung aus einer Distanz reflektiert und den sozialen Blick der anderen Mitmenschen imitiert. Er legt seine neue soziale Identität des Monsieur de la Dandinière ab und betrachtet sich angesichts seines Scheiterns vorwurfsvoll einfach als George Dandin, der Bauer mit dem einstigen bon sens , der es dank seiner Bauernschläue zu etwas brachte, bevor er der Adelssucht verfiel. Dabei ‚kollaboriert‘ er mit seinem Umfeld, das ihn von seiner idée fixe - seine Ehefrau der Untreue zu überführen - abbringen möchte, wenn er sich im Modus der Distanz sein Scheitern eingesteht. Bei La Rochefoucauld heißt es: „[I]l [l’amour-propre, Anm. S. W.] passe même dans le parti des gens qui lui font la guerre, il entre dans leurs desseins, et ce qui est admirable, il se hait lui-même avec eux […].“ (M, 563) Der Verzicht auf das Personalpronomen ‚je‘ ist im moralistischen Sinne von Eigensucht bestimmt, denn das eigene Verhalten wird erst in der Indirektheit und Nihilierung des das gesamte Persönlichkeitsspektrum umfassenden ‚je‘ und der Projektion auf einen 59 Ebd., 184. <?page no="173"?> 172 4 Der komische Charakter reduzierten Ableger des Ich ertragbar. Das eigentliche Ich verflüchtigt sich vor dem introspektiven Blick. Zudem erinnert die deiktische Distanz formal an die unpersönliche Form der Maximen. Es ist letztlich Dandins Depersonalisation zuzuschreiben, dass ihm jegliche intrinsische Modifikation, die ihn vor weiteren Fehlern bewahren hätte können, verwehrt bleibt. Diese Meinung vertritt auch der englische Dichter Samuel Taylor Coleridge, der tiefenpsychologisch annimmt: It has ever been my opinion, that an excessive solicitude to avoid the use of our first personal pronoun more often has its’ source in conscious selfishness than in true selfoblivion. A quiet observer of human Follies may often amuse or sadden his thoughts by detecting the perpetual feeling of purest Egotism through a long masquerade of Tu-isms and Ille-isms. 60 Des Weiteren nimmt sich Dandin mit seinem Selbsttadel aus der Pflicht, dem Tadel seiner Schwiegereltern oder dem seiner Frau Folge zu leisten, da er sich selbst vormacht, ausreichend über seine Schwächen Bescheid zu wissen. Das oben angeführte Seufzerzitat Dandins bestätigt in seiner Weiterführung diese These: „Allons il s’agit seulement de désabuser le père et la mère.“ ( GD , 988) Der Dialog zwischen ‚je‘ und ‚vous‘, die Alternation zwischen Täuschung und Enttäuschung, 61 kann als Dandins Kenntnisnahme seiner eigenen Situation gelesen werden, nicht aber als wahre Erkenntnis. Ansonsten würde er nicht weiterhin seiner idée fixe nachgehen, sondern das Vorhaben, seinen Schwiegereltern die Illusion zu nehmen, auf sich anwenden und die Konsequenzen daraus ziehen. Der quasi ‚dialogische Monolog‘ konkretisiert die Selbstverliebtheit Dandins, die sich trotz aller Härte im ewigen Selbstmitleid enthüllen lässt, gepaart mit mangelnder Selbstkritik und der Weigerung, dem Ich übergeordnete Wahrheiten rational in seine Gedanken miteinzubeziehen. Dandins Selbstsucht spiegelt exemplarisch für die anderen Titelhelden einen soziopathischen Wesenszug wider, die Unfähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen. Eine korrekte Beurteilung seiner Umwelt und seiner selbst im Geiste der bienséance hätte eine Abkehr von seinen eigensüchtigen Zielen ausgelöst. Die Realitätsprüfung misslingt aufgrund der vom amour-propre beseelten egomanischen Denkstruktur, dem intérêt . Dieser unterwandert fortwährend das menschliche Agieren, selbst im einsamen Moment vermeintlicher Ich-Erkenntnis und Demutsgeste, und kann ausschließlich eine Teilerkenntnis liefern, denn: „[N]ous 60 Coleridge (1812), 24. 61 In diesem Zusammenhang scheint die Etymologie des Namens merklich hindurch, denn dieser lässt sich von ‚dandiner‘ ableiten, was so viel wie ‚sich hin- und herwiegen‘ heißt. Außerdem kennt das Lexem ‚dandin‘ im 16. Jahrhundert auch die Bedeutung von ‚clochette‘. Vgl. Godefroy (1883), 418. <?page no="174"?> 4.3. „Amour-propre“ und Individuum 173 sommes plusieurs dans ‚Moi‘.“ 62 Im moralistischen Verständnis der selbstschützenden Verblendung verlagert der komische Held seinen Selbsthass am Ende der Komödie. Er projiziert diesen nicht mehr auf sein Alter Ego, sondern auf seine „méchante femme“ ( GD , 1013) und macht sie für sein Scheitern verantwortlich. Somit kann er weiterhin Distanz zu seinem eigentlichen Ich wahren, allerdings gelingt es ihm deshalb auch nie, sich ganz zu sehen. Er bleibt ob seiner Depersonalisation bis zum Ende blind. 4.3.4 Je ne t’aime que pour m’aimer Eine besonders komische Tragik illustriert Molière in La Pastorale comique . Hier werden gleich zwei komische Helden eingeführt, die sich im Kontrast zur tragischen Liebessemantik ihrer Diskurse mit einer Neigung zu körperlich-aggressivem Verhalten auszeichnen. Die Liebe zu Iris veranlasst Filène, seinem Konkurrenten Lycas mit dem Tode zu drohen, wenn er der Geliebten zu nahe treten sollte: Je t’étranglerai, mangerai, Si tu nommes jamais ma belle: Ce que je dis je le ferai, Je t’étranglerai, mangerai, Il suffit que j’en ai juré: Quand les Dieux prendraient ta querelle Je t’étranglerai, mangerai, Si tu nommes jamais ma belle. ( PC , 777 f.) Die im Stil klassischer Trias gereimte Strophe repetiert in dreimaliger Ausführung die Drohungen Filènes, die von starker Eifersucht und Verlustangst motiviert sind. Während die beiden disputieren und körperlich aneinandergeraten, entscheidet sich die Schäferin Iris für den armen Coridon, mit der Folge, dass die von Eifersucht Geplagten als Verlierer aus dem Liebeswerben abtreten müssen. Das aggressive Verhalten der Schäfer hat sie von ihrem Ziel - Iris’ Herz zu erobern - abkommen lassen, da sie sich nur noch ihrer Rivalität hingeben und sich durch ihr eigennütziges Verhalten als zornmütige Gestalten zur Schau stellen und nicht als träumerische Verliebte. Sie wirken weniger in Iris als in den Akt ihrer Eroberung verliebt, denn der anfängliche Liebesdiskurs wird durch einen Eifersuchtsdiskurs ersetzt, die Fremddurch die Eigenliebe. Der Eifersuchtsdiskurs wurzelt vor allem in der Gewinnsucht des amour-propre . Für eine 62 Bobin (1997), 164. <?page no="175"?> 174 4 Der komische Charakter Liebesbeziehung reicht das nicht aus. Nach Iris’ Wahl folgt auf das Liebeslob die Liebesklage der beiden sich selbst bemitleidenden Rivalen, gezeichnet von ihrer verletzten Eigenliebe, die in petrarkistischer Tradition das Unmenschliche der unerreichbaren Grausamen besingen. Dieser Umschwung entspricht dem Prinzip La Rochefoucaulds: „Il y a dans le cœur humain une génération perpétuelle de passions, en sorte que la ruine de l’une est presque toujours l’établissement d’une autre.“ (M, 10) Auf die Eifersucht folgt der Liebesschmerz und das eifersüchtige Aktionskonzept der idée fixe wird in ein selbstmitleidiges transformiert. Das komische Potenzial dieses Wandels spitzt sich in Filènes friedfertigen Abschlussworten an Lycas zu: Puisqu’un même malheur aujourd’hui nous assemble, Allons partons ensemble. ( PC , 781) Fazit Es ist festzuhalten, dass sich die aufgezeigten Beobachtungen im Kontext der klassischen Anthropologie respektive in deren Überlegungen zur menschlichen Natur, zur Schwäche des Ich und der Selbsttäuschung verorten lassen. In diesem Zusammenhang entsteht das komische Handlungsmoment des Helden - und zwar genau dann, wenn er sich von der Vernunft entfernt, in tiefer Überzeugung, dass er ihr folgt. Seine Selbstblindheit bedingt das Unvermögen, aus eigenen Fehlern zu lernen. Daraus resultiert das paradigmatische Handlungsprinzip der Ballettkomödie, das auf dem Prinzip der Repetition basiert. Der intérêt entzieht den komischen Helden die Basis eines adäquaten moralischen und sozialen Aktionsdispositivs. Sein ungeselliger Charakter steht im Zeichen einer malséance ; er verkörpert gewissermaßen einen Antipoden zur honnêteté , der das Leitprinzip des Sich-Erkennens invertiert und dieses Gegenprinzip zu seinem eigenen gesellschaftlichen Diskurs innerhalb der Fiktion erklärt. In seiner Welt sind die anderen Mitmenschen nur dann willkommen, wenn sie den gültigen, sich auf die Lebenswelt beziehenden Diskurs verleugnen und sich an seine deformierte Scheinwirklichkeit adaptieren. Das entlarvende Moment des amour-propre stellt Molière immer in der ausgeprägten Abweichung von moralischen und sozialen Normen dar, in der komischen Inszenierung seiner dissozialen Persönlichkeiten. Diese dekuvriert den „image de ses réelles insuffisances“ 63 . Folgerichtig ist Molières Theater - aus anthropologischer Perspektive betrachtet - ein Theater moralischer und sozialer Extravaganzen. 64 Dies bedeutet, dass sich innerhalb der Fiktion ein Dependenzverhältnis zwischen 63 Canova-Green (2007), 176. 64 Vgl. Dandrey (2002), 69. <?page no="176"?> 4.4 „Amour-propre“ und Kollektiv 175 der bienséance und der malséance abzeichnet, eine Koexistenz, die sich am Hof ausschließt. Lediglich in der Theatersituation hat die in die Fiktion verdrängte Unschicklichkeit ein Existenzrecht im lebensweltlichen Raum. Komik ist hierbei die Form, welche die Negativität des amour-propre ertragbar macht, eine „ restauration esthétique de la nature humaine“ 65 . Die Untersuchung legt Molières Qualitäten eines echten moraliste offen, der über „une connaissance des cœurs, une intuition des sensibilités et des affections“ 66 verfügt und den „diamant noir de l’erreur humaine“ 67 seiner komischen Helden in deren idées fixes aufleuchten lässt. Die Illusionen dieser Figuren entstehen „ par l’amour-propre, et pour l’amour-propre“ 68 . Die aufgeführten Beispiele legen letztlich vier Grundzüge der komischen Helden offen: den Wahnsinn, die Hybris, die innere Gespaltenheit und den Egoismus. Ihre soziopathischen Eigenschaften werden mit moralischer Schwäche gleichgesetzt. Molière beweist bei der Umsetzung des castigare ridendo mores äußerste Sensibilität, denn er bestraft seine Helden nicht für ihre Deformationen der Wirklichkeit, sondern lässt sie selbst an der Wirklichkeit scheitern, an ihrem eigenen Ich. Ihre Affektbasiertheit divergiert von der kollektiven Rationalität und führt zu einer sozialen Niederlage. Das komische Potenzial der Figuren hat seinen wahren Ursprung demnach nicht in den Normverfehlungen oder der menschlichen Natur selbst. Es resultiert vielmehr aus der scharf gezeichneten ontologischen Antinomie zwischen individuellem Sein-Wollen und gesellschaftlichem Sein-Sollen. 4.4 Amour-propre und Kollektiv-- Intriganten, Helden, Nutznießer und Betrüger Die komischen Helden widersetzen sich den gültigen Gesellschaftsregeln und leben ihre Individualität auf Kosten anderer Mitmenschen aus. Ihre Egomanie erzeugt starke Ressentiments in ihrem sozialen Umfeld, da sie durch ihr eigensinniges Betragen die Freiheit der anderen beschneiden und deren amourpropre unterdrücken und verletzen. Beispielhaft für dieses expandierende Verhalten der komischen Helden im sozialen Raum ist die erste Ballettkomödie Molières, Les Fâcheux . Schon ihr Titel hebt den dissozialen Charakter dieser narzisstischen Störenfriede aus der Sichtweise der anderen Figuren hervor. Der Held Éraste wird auf dem Weg zu einem Rendezvous mit seiner Geliebten ständig von diversen fâcheux aufgehalten und in seinen Plänen ausgebremst. 65 Starobinski (1966), 225. 66 Dandrey (2002), 161. 67 Ebd., 69. 68 Starobinski (1971), 136. <?page no="177"?> 176 4 Der komische Charakter Sie dringen mit ihren Interessen und Angelegenheiten in das Leben des Marquis ein und verärgern den Verliebten dadurch, dass sie nicht nur kein Interesse an seinen Angelegenheiten äußern, sondern vor allem dadurch, dass sie ihn davon abhalten, sein Ziel zügig zu erreichen. Sie tun dies in der gleichen Art und Weise, wie es die komischen Helden zu tun pflegen, die sich lästig in das Leben anderer drängen und ihnen ihren Willen oktroyieren. In seiner ersten Ballettkomödie stellt Molière so denn auch die programmatische Konfliktsituation des Dodekamerons vor: Das Sujet präsentiert das gesellschaftliche Phänomen des zügellosen amour-propre eines Individuums und den Umgang des Kollektivs mit ihm. Doch wie sehen die moralistischen Regulationsmechanismen des gesellschaftlichen Diskurses im Hinblick auf das Betragen des komischen Helden in der fiktiven Handlungswelt aus? 4.4.1 Affirmierende Intrigen Das Ränkespiel der Schwächeren reglementiert die Strategie des zielgerichteten Zusammenschlusses aller intérêts , um gemeinsam das Machtverhältnis invertieren zu können. 69 Sie leisten dem intérêt der Autoritätsperson Widerstand und können im besten Fall ein friedlicheres Leben ohne obstacle retablieren. Die Ballettkomödie L’Amour médecin soll hier als Beispiel dienen, da dieses Lustspiel im Zeichen einer Intrige um den komischen Helden steht und eine Art Pentalogie 70 einleitet: Der verwitwete Sganarelle möchte nach dem Tod seiner Frau nicht auch noch seine Tochter Lucinde an einen Ehemann verlieren und verwehrt ihr sämtliche Heiratspläne. Er rebelliert gegen den gesellschaftlichen usage und versteift sich auf seine idée fixe - „je veux garder mon bien [la dot, Anm. S. W.] et ma fille pour moi“ ( AM , 615) -, die leitmotivartig das Komödiensujet bestimmt. Wie so oft in Molières Komödien nimmt sich eine weibliche Dienerfigur der jungen Liebe an und tritt als Drahtzieherin des Intrigenspiels auf. Als „[femme] de tête et de cœur“ 71 handelt sie zum Wohle der Familie und der Gerechtigkeit. In dieser Ballettkomödie bemächtigt sich die Haushälterin Lisette Sganarelles, indem sie „ses intérêts“ ( AM , 614) zu erfüllen sucht um ihn manipulieren zu können. Sie täuscht ihm in ihren Handlungen einen kongruenten 69 Die intrigante Figur ist im Drama des 17. Jahrhunderts keine Seltenheit, vergegenwärtigt und repräsentiert sie doch stets das heuchlerische Verhalten im gesellschaftlichen Verkehr und eignet sich sonach besonders für eine moralistische Lesart. Vgl. Memmolo (1995), 78. 70 Zu dieser Pentalogie sind folgende Lustspiele hinzuzuzählen: Le Médecin malgré lui , Le Sicilien ou l’Amour peintre , Le Bourgeois gentilhomme und Le Malade imaginaire. In allen fünf Komödien greift der Liebhaber auf eine Verkleidung als Apotheker, Kunstmaler, türkischer Edelmann oder Musiklehrer zurück, die ihm Zutritt zur Geliebten ermöglicht. 71 Moraud (1981), 37. <?page no="178"?> 4.4 „Amour-propre“ und Kollektiv 177 intérêt vor, strebt jedoch mit der Heirat zwischen Lucinde und Clitandre etwas Gegenteiliges an. In ihrem Verhalten zeigt sich das Ambige des amour-propre , das erst dann zutage tritt, wenn Sganarelles arbiträr ausgelebte Macht die Grenze des Schicklichen überschreitet und er den amour-propre seiner Tochter missachtet, für die sich Lisette seit dem Tod der Mutter verantwortlich fühlt. Durch diese Grenzüberschreitung sieht sie ihr hypokritisches und in Anbetracht ihres Dienstverhältnisses ebenfalls inadäquates Verhalten gegenüber ihrem Herrn legitimiert. Sie ignoriert in Eintracht mit dem komischen Helden den wahren Grund für Lucindes Melancholie 72 - das väterliche Heiratsverbot - und gibt Sganarelle zu verstehen, dass die nach ihrem zentralen Disput 73 heftiger gewordene Melancholie seine Tochter das Leben kosten werde, woraufhin dieser mehrere Ärzte zurate zieht, um sie vor dem angeblichen Tod zu retten. Der letzte Vertreter der Ärzteschaft ist der verkleidete Clitandre, der Lucindes Willen zur Heirat als Grund für ihren maladen Zustand diagnostiziert. Zur Heilung „[de la] plus extravagant[e] et […] plus ridicule […] envie […] du mariage“ (AM, 629), wie er seine Formulierung dem Intrigendiskurs entsprechend assimiliert, empfiehlt er, genau diesem Wunsch nachzukommen, denn: „[I]l faut flatter l’imagination des malades […].“ ( AM , 629) Diese Aussage legt einen Kerngedanken gleichwie eine Strategie der Ränkespieler im Allgemeinen dar, um die Autoritätsfiguren in ihrem Sinne lenken zu können: „[L]es flatteurs […] cherchent à profiter de l’amour que les hommes ont pour les louanges, en leur donnant tout le vain encens qu’ils souhaitent […].“ ( AM , 625) Das ironische Potenzial von Clitandres Maxime liegt in der Natur der Sache, ist sie doch ein deutlicher Hinweis für Sganarelles eigene Täuschung, die er aufgrund seiner Weltsicht nicht erkennt: C litandre : […] [C]et habit n’est qu’un pur prétexte inventé, et je n’ai fait le Médecin que pour m’approcher de vous, et obtenir ce que je souhaite. l uCinde : C’est me donner des marques d’un amour bien tendre, et j’y suis sensible autant que je puis. s ganarelle : Oh! la folle! Oh! la folle! Oh! la folle! ( AM , 630) Unter dem Deckmantel einer Therapieform überzeugt Clitandre den mehr um sich selbst als um das Wohl seiner Tochter besorgten Vater, dass sie durch eine notarielle Eheschließung mit ihm geheilt werden könne. Mit Sganarelles Unter- 72 Die Melancholie als Ausdruck einer körperlichen Krankheit ist ein Gemeinplatz der spanischen comedia und wird traditionell in der littérature galante als Ausdruck der Liebe, des unglücklichen Verliebtseins, verstanden. Das Thema findet unter anderem in Molières Les Précieuses ridicules , La Princesse d’Élide , Les Amants magnifiques und Le Malade imaginaire Verwendung, wenn auch insbesondere in Letzterer die grenzenlose Eigenliebe für das melancholische Betragen Auslöser ist. 73 Vgl. AM, Akt I, Szene III. <?page no="179"?> 178 4 Der komische Charakter schrift endet die Intrige. Die endgültige Niederlage des tyrannischen Vaters ist besiegelt. Die Intriganten räumen den obstacle aus dem Weg und erlangen ihre Autonomie zurück, während sie ihren Widersacher mittels seiner „aliénation d’esprit“ ( AM , 629) sozial isolieren, indem sie ihn aus ihrem Bündnis ausschließen, und am Ende der Einsamkeit seines Scheiterns überlassen. Sie haben die dissoziale Persönlichkeit mit deren Zustimmung zum Eingeschlossenen ihres Spiels gemacht und sie sich selbst entmachten lassen. Die Konfrontation mit der Wahrheit über den Wunderarzt ernüchtert Sganarelle ähnlich wie George Dandin, sodass er am Komödienende nur ein misanthropisches Urteil über die Gesellschaft fällen kann: „Peste des gens“ ( AM , 632) - eine in der negativen Anthropologie der Moralistik stehende Ansicht. In dieser unbewusst selbstbezüglichen Aussage Sganarelles liegt das ironische Moment des Schlusssatzes. 4.4.2 Negierende Intrigen Im Unterschied zum Intrigenspiel, bei dem es sich um eine die idée fixe des komischen Tyrannen affirmierende Intrige handelt, existieren auch solche, bei denen es darum geht, dass der komische Held endlich von seiner fixen Idee abkommt. Sie sind ebenfalls als Spiel konzipiert und spielen mit den Gegebenheiten der Realität im kollektiven intérêt , allerdings führen sie dem komischen Helden die Absurdität seiner Pläne vor Augen. Nicht weniger berechnend und vermehrt auf eine Konfrontation aus beabsichtigen die Ränkeschmiede das schonungslose Peinigen der komischen Autoritäten, das mehr einem offensiven Vergeltungsanschlag gleichkommt als einer Provokation 74 und einen weiteren Sanktionsmechanismus des Kollektivs aufzeigt. Dieser Umgang legt den komischen Helden schon während des Intrigenspiels bewusst das unvermeidbare Scheitern ihres Betragens dar und versetzt sie in eine direkte Beziehung zur sozialen Realität, die ihre idée fixe ablehnt. In der Ballettkomödie George Dandin versucht der Titelheld seine Schwiegereltern von der Untreue ihrer Tochter Angélique zu überzeugen. Sie ist von dem Ehehandel zwischen ihren Eltern und Dandin tief getroffen und lehnt ihren Ehemann ab. Ihrer Rebellion verleiht sie durch ihre galante Liaison mit dem adeligen Clitandre Ausdruck sowie durch ihre damit verbundene Bekundung: „Je me moque de cela [de la fidélité conjugale, Anm. S. W.], et ne veux point mourir si jeune.“ ( GD , 993) Sie droht Dandin und erklärt ihm den Kampf, der 74 Meist ist zu Beginn der affirmierenden Intrigen ein herausforderndes Verhalten der Intriganten gegenüber den Autoritäten festzustellen. Das temporäre Scheitern Ersterer, das von der höheren Machtposition der komischen Helden herrührt, veranlasst sie zum Intrigenspiel. <?page no="180"?> 4.4 „Amour-propre“ und Kollektiv 179 sich in Form eines eklatanten Widerstands zu seiner idée fixe zeigt: „Préparezvous-y pour votre punition, et rendez grâces au Ciel de ce que je ne suis pas capable de quelque chose de pis.“ ( GD , 993) Angélique gelingt es stets, mit Hilfe ihrer Adjuvanten, ehebrecherische Situationen zu ihren Gunsten auszulegen, sodass Dandin vor den herbeigerufenen Eltern zu einer Entschuldigung für seine verleumderischen Anschuldigungen gezwungen wird. Die kollektive Pein ist überdies von körperlicher Gewalt gekennzeichnet, denn Angélique schreckt nicht davor zurück, ihren Gatten mit Stockschlägen zu martern. Am Ende der Komödie gibt es keine Gewinner, denn Monsieur de Sotenville weist das Gesuch seiner Tochter, der Aufhebung der Ehe zuzustimmen, zurück, um keinen Skandal herbeizuführen: „Ma fille, de semblables séparations ne se font point sans grand scandale, et vous devez vous montrer plus sage que lui, et patienter encore cette fois.“ ( GD , 1012) Sie fügt sich der „puissance absolue“ ( GD , 1012) ihres Vaters und muss sich ebenfalls eine Niederlage eingestehen, obschon sie für sich einen Teilerfolg verbuchen kann, der die Freiheitsberaubung etwas mindert. Es ist ihr gelungen, Dandin von seiner idée fixe abzubringen: g eorge d andin : Ah! je le quitte maintenant, et je n’y vois plus de remède, lorsqu’on a comme moi épousé une méchante femme, le meilleur parti qu’on puisse prendre, c’est de s’aller jeter dans l’eau la tête la première. ( GD , 1013) Dandins Treueforderung an seine Ehefrau ist nicht abwegig und daher nicht komisch. Da ihn aber seine Adelssucht in diese Mesalliance brachte, entzieht er sich jeglicher Grundlage des kollektiven intérêt , der das soziale Wohlwollen aller anstrebt. Ferner fordert auch Euryale in La Princesse d’Élide die komische Heldin direkt heraus, indem er sie durch seinen „stratagème amoureux“ (PdE, 584) aus der Reserve lockt. Dieser besteht darin, dass er sich ihr gegenüber uninteressiert verhält und äußert und spitzt sich in dem Vorwand zu, ihre Cousine Aglante ehelichen zu wollen. Anhand dieses Vorgehens veranlasst er sie, ihre eitle Selbstliebe zu verwerfen und eine Ehe mit ihm einzugehen. Mit der Komplizenschaft Morons und Iphitas’ kann Euryale sie von ihrer Heiratsphobie etwas abbringen. Er schafft es, sinngemäß seinen Wunsch als den ihrigen öffentlich auszusprechen, wiewohl mit Vorbehalten: „[D]onnez-moi le temps d’y songer, je vous prie, et m’épargnez un peu la confusion où je suis.“ (PdE, 586) Der durch ihre idée fixe ausgelöste Ärger und der damit verbundene Leidensdruck, brachte sie im Laufe der Intrige dazu, immer mehr von ihr abzulassen. In der Ballettkomödie Monsieur de Pourceaugnac treten beide vorgestellten Intrigenformen in Erscheinung, die Intrige im affirmierenden und negierenden Sinne der idée fixe . Diese Doppelintrige erklärt sich aus den zwei komischen Autoritäten, gegen die die von ihrem Freiheitsrecht bedrohten Jungen ankämp- <?page no="181"?> 180 4 Der komische Charakter fen müssen. Der erste Intrigentypus gestaltet sich wie folgt: Julie spielt ihrem Vater im Modus der Normübererfüllung die hörige Tochter vor, die ein übertriebenes Liebesinteresse an Monsieur de Pourceaugnac vorschützt. Die zweite, komplexere Intrige spinnt sich um den komischen Helden Pourceaugnac selbst. Sbrigani - der von sich behauptet: „[ J]e me connais en Gens“ (MdP, 205) - versucht mit seinem manipulativen Verhalten den Limousiner von der Heirat mit Julie abzubringen, und zwar dadurch, dass er ihm den Aufenthalt in Paris zu einem unerträglichen Erlebnis macht: Pourceaugnac wird einer unfreiwilligen Ärztebehandlung unterzogen, er wird in der Öffentlichkeit als Heiratsschwindler denunziert, dem frivolen Verhalten seiner Zukünftigen ausgesetzt und letztlich der Polygamie bezichtigt, die nach gängigem Recht mit der Todesstrafe geahndet wird. Das ihm Widerfahrene lässt ihn von seiner idée fixe abkommen, denn aus dieser „maudite Ville“ (MdP, 245) will er niemanden mehr heiraten. Bei seiner Abreise bedankt er sich beim Hauptintriganten der Komödie, Sbrigani, „le seul honnête Homme que j’ai trouvé en cette Ville“ (MdP, 246), und vermittelt dem Zuschauer das ganze Ausmaß seiner Selbstblindheit, der er letztlich auch im Intrigenspiel zum Opfer gefallen ist. Während die die idée fixe affirmierende Intrige dominant das Prinzip der simulatio verdeutlicht, verweist die die idée fixe negierende Intrige dominant auf das Prinzip der dissimulatio . Die Doppelintrige in Monsieur de Pourceaugnac vereint diese beiden Prinzipien in einem Diskurs der Hypokrisie der Ränkespieler, ihre Hauptwaffe gegen die komischen Autoritäten. Zudem lässt die perpetuelle, implizite wie auch explizite Thematisierung des Spiels Rückschlüsse auf soziale Umgangsformen mit den fâcheux erkennen: Das Gesellschaftsspiel von la cour et la ville ist im Zeichen des Diskurses ‚Komödie‘ zu lesen, in dem es keine Spontaneität gibt und das von simulatio und dissimulatio beherrscht ist. Es ist ein fortwährender ‚Maskenball‘, bei dem nach den Regeln der bienséance die kalkulierte Attitüde der Selbstinszenierung mit der Dialektik von Sein und Schein einhergeht. Fehlerhaftes Verhalten wird mit Ausgrenzung aus dem sozialen Wirkungsbereich bestraft, mit der kollektiven Isolation der Störenfriede. 4.4.3 Überzeugende Heldentaten In Les Fâcheux spinnen die Geplagten kein Intrigennetz um die komische Autorität Damis, den Onkel Orphises, der sich der Heirat seiner Nichte mit dem Marquis Éraste widersetzt. Getrieben vom intérêt seines amour-propre versucht er, das heimliche Rendezvous der beiden Verliebten zu stören, um seine Ehre zu rächen „que ses feux [les feux d’Éraste, Anm. S. W.] ont l’orgueil d’outrager“ ( LF , 189) „[e]t noyer dans son sang sa flamme criminelle“ ( LF , 190). Bevor es <?page no="182"?> 4.4 „Amour-propre“ und Kollektiv 181 zu einem Duell zwischen Damis und Éraste kommt, befreit Éraste Damis von Angreifern, rettet ihm das Leben und schafft es durch diesen „acte de justice“ ( LF , 190), Damis’ idée fixe auszutreiben: d aMis : Ce trait si surprenant de générosité, Doit étouffer en moi toute animosité. Je rougis de ma faute, et blâme mon caprice. Ma haine, trop longtemps, vous a fait injustice; Et pour la condamner par un éclat fameux, Je vous joins, dès ce soir, à l’objet de vos vœux. […] ( LF , 190) Éraste beweist durch sein an der honnêteté orientiertes Verhalten, dass er den ihm auferlegten Ehrenkodex lebt. „[D]e prendre, quand nous le pouvons, la défense de ceux qui nous touchent: J’entens nostre Prince, nostre Patrie, nos proches, nos alliez, nos bien facteurs, les opprimez“ 75 , heißt es dazu in Antoine de Courtins Traité du Point-d’Honneur (1680). Éraste wird von Damis als homme de cœur erkannt, dessen Heldentat ihm seine eigene Nichtigkeit offenbart. Durch seine Zustimmung zur Heirat kann er ebenfalls seine générosité demonstrieren und vor dem Hintergrund des Ehrverständnisses seinen amour-propre revalorisieren. Angesichts der heroischen Gunstbezeigung Érastes gerät Damis in Zugzwang, denn eine Aufrechterhaltung seines Vetos hätte den Heldenakt geschmälert und somit auch den Wert seines Lebens, ergo seine Liebe zu sich selbst, sodass ein Einlenken zum Selbstschutz vonnöten ist. In Analogie zu Érastes Heldentat ist die von Sostrate zu sehen. Obschon sie nur indirekt mit der komischen Autorität in Zusammenhang zu bringen ist und kein eigentliches Abbringen von der Grundeinstellung der idée fixe bewirkt, bedingt sie dennoch, dass der die Liebesheirat zwischen Ériphile und Sostrate störende obstacle aufgelöst wird. Dieser besteht im Standesunterschied zwischen dem Feldherrn Sostrate und der Prinzessin Ériphile, den Ériphile zum Problem ihrer gegenseitigen Liebe werden lässt, obzwar sie von ihrer Mutter die Freiheit zur Partnerwahl zugesprochen bekommt. Erst nachdem Sostrate die Fürstin Aristione von einem wilden Eber befreit und ihr das Leben rettet, ändern sich die Umstände zugunsten des Helden, denn durch seine Heldentat erfüllt er nicht nur das göttliche Venusorakel, das den Retter Aristiones zum Ehegemahl ihrer Tochter auserkoren hat, sondern wird zudem von der Königin in den Adelsstand erhoben. Diese Veränderungen haben zur Folge, dass der Heirat weder überirdische noch irdische Hindernisse im Weg stehen und sich Ériphile von ihren Bedenken verabschiedet: „Et de la main des Dieux, et de la vôtre, Madame, je ne puis rien recevoir qui ne me soit fort agréable.“ ( AM s, 991) 75 Courtin (1680), 103. <?page no="183"?> 182 4 Der komische Charakter Der Zufall wie auch die Heldentat haben die beiden Liebenden vereint, sie haben die äußeren Umstände modifiziert und die inneren gleichermaßen. Die Helden bezwingen die idée fixe ihrer Opponenten und führen sie durch ihre Heldentaten zurück zu einem gesitteten Verhalten. Selbst wenn der Zufall sie zu Helden werden lässt, beweisen sie doch mit ihrem spontan richtigen Wagestück ihren Edelmut, der sie als Garanten der kollektiven und individuellen Schicklichkeit Respekt ernten lässt, wodurch sich selbst die komischen Helden verändern können - ein Verdienst, das den Ränkespielern verwehrt bleibt. 4.4.4 Nutznießer und Betrüger Es gibt Figuren in der Ballettkomödie, die sich an die idée fixe der komischen Helden anpassen und sehr gut mit deren abnormen Verhaltensweisen leben. Diese Dramatis personae hegen kein Interesse daran, die Störenfriede von ihrem seltsamen Verhalten abzubringen, sondern leisten ihnen Vorschub. Ihre Strategie ist die des klugen Lavierens, ein Verhalten, mit dem man sich an der Schwäche des komischen Helden, seiner Eitelkeit, parasitär bereichern will. Der eigene intérêt tritt in eine Symbiose mit dem des komischen Helden. In Le Malade imaginaire zeigt sich diese Taktik in der Profitgier des Arztes Monsieur Purgon und des Apothekers Monsieur Fleurant, die Argans geistige Krankheit zu ihrem Vorteil ausnützen. Sie machen ihn zu einer „bonne Vache à lait“ ( MI , 644), wie Toinette weitsichtig in ihrer trivialen Metapher erkennen lässt, und kaschieren ihren medizinischen Misserfolg mit autoritärem Auftreten. Sie machen dem Kranken mit ihren dubiosen Behandlungsmethoden stets neue Hoffnungen auf eine baldige körperliche Genesung, die jedoch zum Scheitern verurteilt ist, weil sie den Körper, nicht aber den Geist zu heilen gewillt sind. Ironischerweise hat Argan sogar eine gute physiologische Konstitution: „[O]therwise he would be unable to withstand the taxing and absurdly frequent treatments prescribed by his doctor, Monsieur Purgon.“ 76 Molière bedient sich dem literarischen Topos der Ärztefeindlichkeit, um einerseits die medizinische Besessenheit Argans offenzulegen und andererseits den großen Eigennutz der medizinischen Betreuer aufzuzeigen. Der Austausch Geld gegen Gesundheit lässt eine negative Anerkennungsdialektik erkennen, die nicht auf gegenseitiger Wertschätzung basiert, sondern beiderseits auf rein egoistischen Motiven fußt, denn das Abkommen zwischen den Parteien gefährdet das familiäre Zusammenleben. Argans ausschweifender Eröffnungsmonolog veranschaulicht das Ausmaß seiner idée fixe ; mit der Begleichung seiner Behandlungskosten zeigt er auf, dass er sich seine folie leisten kann. Die Größenordnung von Argans 76 Powell (1992), 228. <?page no="184"?> 4.4 „Amour-propre“ und Kollektiv 183 Wahnsinn ist mit derjenigen der materiellen Bereicherung Monsieur Fleurants gleichzusetzen: a rgan , seul dans une chambre, assis, une table devant lui, compte des Parties d’Apothicaire avec des jetons; il fait parlant à soi-même les Dialogues suivants : Trois et deux font cinq, et cinq font dix, et dix font vingt. Trois et deux font cinq. Plus, du vingt-quatrième, un petit Clystère insinuatif, préparatif, et rémollient, pour amollir, humecter, et rafraîchir les entrailles de Monsieur, trente sols. ( MI , 641) 77 Messieurs Purgon und Fleurant bringen den komischen Helden in ein Abhängigkeitsverhältnis, um aus Argans exzessiver Eigenliebe Profit zu schlagen und ihre Macht über ihn auszuleben. Dieser Sachverhalt taucht auch in Le Bourgeois gentilhomme auf, sogar in einer noch offensichtlicheren Darstellung, und zwar in der zu Beginn der Ballettkomödie inszenierten Schneiderszene. Die Schneidergesellen versuchen ein großzügiges Trinkgeld bei Monsieur Jourdain zu erringen, indem sie ihm zunehmend schmeichlerischere Titel wie „Mon gentilhomme“, „Monseigneur“ und „Votre Grandeur“ ( BG , 286 f.) zurufen, die er geneigt entgegennimmt, wobei er diesen Lobgesang kurzzeitig durch die Erhöhung seines Trinkgelds unterstützt. Monsieur Jourdain kann sich dem Possenspiel nicht entziehen. Im Aparte kommentiert er aber das Treiben und signalisiert, wie die meisten komischen Helden, dass er zuweilen noch Einblick in die Realität hat: „Ma foi, s’il va jusqu’à l’Altesse, il aura toute la bourse. Tenez, voilà pour ma Grandeur.“ ( BG , 287) Dieser Kommentar enthüllt, dass er das Spiel der Schneidergesellen durchschaut, diesem aber wehrlos gegenübersteht, weil es ihm die Erfüllung seiner Träume ermöglicht und seinem amour-propre guttut. Zudem scheint er keine finanziellen Nöte zu kennen, weswegen er dieses kleine Capriccio gerne in Kauf nimmt. Die Nutznießer in Le Bourgeois gentilhomme - hierzu zählen die verschiedenen Lehrer und vornehmlich der verarmte Graf Dorante, der Monsieur Jourdain den adeligen Savoir-vivre näherbringt und sich im Gegenzug Geld für seine Dienste leiht - haben es verstanden, seine Schwäche aufzuspüren. Dieses Wissen können sie gewinnbringend für ihre Belange nutzen, für die Aufwertung ihres eigenen amour-propre . Sie bilden mit dem Bourgeois eine Symbiose, die nach dem Prinzip ‚Gunst gegen Geld‘ funktioniert. 77 Ähnlich wie George Dandin bedient sich auch Argan des Illeismus, und zwar in der Bedeutung, wie ihn Samuel Taylor Coleridge definiert. Vgl. Kapitel 4, Fußnote 60. Seine „selfishness“ und „purest Egotism“ machen sich in der symbiotischen Beziehung zu Monsieur Fleurant darin bemerkbar, dass er mehr an seiner medizinischen Versorgung als an deren Entlohnung interessiert ist. Die willkürlichen Behandlungsmethoden schlagen sich in ihrer arbiträren Entlohnung nieder und spiegeln die auf der Basis der déraison fundierte Symbiose der beiden wider. <?page no="185"?> 184 4 Der komische Charakter Zu diesen Nutznießerfiguren zählt auch das verliebte Pärchen Julie und Cléante in La Comtesse d’Escarbagnas , die dahingehend von der Adelssucht der komischen Heldin profitieren, dass sie in deren Haus einen Zufluchtsort vor ihren zerstrittenen Familien finden, ist die Marquise Julie doch eine gute Freundin der Comtesse und der Vicomte Cléante ihr angeblicher Verehrer. Beide Nutznießer bringen soziale Qualitäten mit, die in ihre Idee eines adeligen Lebensstils hineinspielen und ihrem amour-propre schmeicheln, sodass ihnen freigebig Aufenthalt in der Residenz d’Escarbagnas gewährt wird. Im Unterschied zu den anderen Parasiten sind sie aber keine Betrüger oder Personen, die der komischen Heldin in irgendeiner Weise Schaden zufügen wollen. Nachdem der Familienstreit beigelegt ist, lösen sie sogleich das Spiel auf und stehen zu ihrer Liebe. Die komische Heldin nimmt die Offenbarung der Liebesfarce mit leicht gekränktem Humor, wenn sie daraufhin einem weiteren Verehrer, Monsieur Tibaudier, wenig honorabel - und auf metafiktionaler Ebene das klassische Komödienende verspottend - verkündet: „Oui, Monsieur Tibaudier, je vous épouse, pour faire enrager tout le monde.“ (CdE, 1038) Die Schmeichelei ist das Aushängeschild der Parasiten und Betrüger und ihre Umgangsform mit den komischen Helden. Ihr art de plaire ist von einer Hypokrisie geprägt, von einer vorgespielten Tugendhaftigkeit, da sie ihre wahren Absichten geschickt in einer ‚Sprache des Scheins‘ dissimulieren. Sie verfügen über gute Menschenkenntnis und erkennen die Schwäche der komischen Helden, sie wissen um das psychologische Movens des amour-propre Bescheid, sie agieren im Wissen der Maxime „La faiblesse est le seul défaut que l’on ne saurait corriger“ (M, 130) und können diese Erkenntnis gewinnbringend für ihre Zwecke im sozialen Gefüge einsetzen. Das bedrohende Moment des Fremdnutzens wird in ein gefügiges Moment des Eigennutzens umgemünzt, der komische Tyrann teildominiert und domestiziert. Für sie sind die moralischen und sozialen Verfehlungen der komischen Helden keine Bedrohung, da sie selbst nicht immer im Sinne der bienséance agieren. Die Schmeichler stellen ihr eigenes Verlangen vor das soziale Allgemeinwohl, indem sie das kranke Verhalten der komischen Außenseiter unterstützen, und kommen rückgekoppelt an das Scheitern ihrer Opfer über kurz oder lang ebenfalls zu Fall. Fazit Die moralistischen Regulationsmechanismen des gesellschaftlichen Diskurses hinsichtlich des Betragens des komischen Helden in der Fiktion sind vielfältig und konnten anhand der vorgeschlagenen Klassifizierung in affirmierende und negierende Intriganten wie auch in Helden- und Nutznießerfiguren aufgezeigt werden. Ihnen allen ist gemein, dass sie sich der individuellen Schwäche der komischen Helden gewiss sind, sodass sie ihre sozialen Interaktionen dement- <?page no="186"?> 4.5 Molières Anthropologie im Spiegel von Fiktion und Realität 185 sprechend anpassen und das störende Moment beeinflussen können. In ihrem Betragen offenbart sich immer auch ein Entlarvungsmoment des amour-propre der komischen Helden, wenn sie gegen deren moralische und soziale Extravaganzen agieren und ihren eigenen amour-propre wiederherzustellen versuchen. 4.5 Molières Anthropologie im Spiegel von Fiktion und Realität Die Charakterstudie entlarvt im Querschnitt die idée fixe als hypertrophen intérêt des amour-propre , der mit dem Ich der Helden identisch ist und diese im zeitgenössischen Gesellschaftskontext zu komischen Helden werden lässt. Sichtbar wird die Eigenliebe anhand moralischer Verfehlungen, die ein lachendes Echo beim Publikum heraufbeschwören. Diese Fehlgriffe thematisieren ein defizitäres selbstreflexives Denken, einen Mangel des bon sens naturel , der sich als eine Diskrepanz von Fremd- und Eigenwahrnehmung darstellt und die komischen Helden im sozialen Umfeld soziopathisch agieren lässt. Die moralischen und sozialen Vergehen resultieren aus dem psychologischen Movens, aus dem allen komischen Helden gemeinsamen Verlangen, ein herrlicheres Ich ihrer selbst zu entwerfen. Psychologische Dissonanzen hallen in Form von sozialen wider, ergo ist die Komödie von Molière „une description des effets de l’amour-propre.“ 78 Der Mangel einer modération des intérêt und der Fähigkeit zur gegenseitigen Anerkennung verdeutlichen einmal mehr, dass das oberflächlich wahrnehmbare komische Moment der exzentrischen Prominenzen - verstanden als hervorragende Persönlichkeiten innerhalb einer Gruppe - letztlich Ausdruck einer unüberwindbaren Eigenliebe ist und so ein starkes moralistisches Substrat aufweist. In der Komödie ist komisches Betragen zumeist moralistisches, eine komische Enthüllung des allzu Menschlichen, ganz im Sinne von Patrick Dandreys Formulierung: „[L]’homme est par essence ridicule […].“ 79 Komik ist hierbei ästhetische Perfektion, die die Negativität des moralistischen Gehaltes ertragbar macht. Molières Komödien wirken im Spiegel moralistischen Gedankenguts wie eine unsystematische Erfassung und Analyse der menschlichen Natur, der menschlichen Psyche. Diese diskontinuierliche Form der Darstellung wie auch rhetorische Spitzfindigkeiten finden sich in ähnlicher Form bei La Rochefoucauld, sodass nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine formale Analogie zu seiner ästhetischen Ausgestaltung der unendlichen Vielfalt moralischen Selbstbetruges erkennbar ist. 78 Force (1994), 129. 79 Dandrey (2002), 21. <?page no="187"?> 186 4 Der komische Charakter In Molières Charakterkomödien ist der komische Diskurs unter anthropologischen Gesichtspunkten als moralistischer Diskurs zu lesen, als poetische Konterdiskursivität der komischen Helden. In seiner lebensweltlichen Reichweite ist der moralistische Diskurs als Teil des gesellschaftlichen zu begreifen, wie in Analogie dazu der dissoziale komische Held Teil der fiktionalisierten Gesellschaft ist. Das Ausgegrenzte - der Träger der malseánce - bildet mit dem Ausgrenzenden - dem Träger der bienséance - eine antinomische Eintracht, die sich im traditionellen Sinne mit der Gattungskonstitution der Komödie deckt, denn sie lebt aus dieser Diskurspluralität zwischen dem Anspruch einer vis comica und einem sermo moratus. 80 Komik und Moralistik etablieren in Molières fiktionaler Diskurswelt von der Norm abweichende Diskurse, die menschliche Abgründe im sozialen Kontext der Lebenswelt erfahrbar machen und dabei unterschiedlich stark ausgeprägt sind: Seine Nähe zur negativen Anthropologie ist ein essenzielles Merkmal seiner Klassizität. 81 Dieser Sachverhalt verdeutlicht die dichte Verzahnung von Leben und Kunst im 17. Jahrhundert und zeigt die enge Verflechtung von Komik, Gesellschaft und Anthropologie auf. Das kollektive Echo auf das egomanische Verhalten der autoritären Instanzen äußert sich im Autonomiestreben der anderen Figuren, das ein Wechselspiel von Affirmation und Provokation aufzeigt und über die inszenierten Intrigen den institutionalisierten Schein der Gesellschaft vergegenwärtigt. Ihr Befreiungsvorhaben ist von einer ebenso starken Hartnäckigkeit bestimmt wie das in der idée fixe angelegte Geltungsstreben der komischen Autoritäten. Es demonstriert, dass jeder Mensch unter dem Einfluss des amour-propre steht und sich hinter altruistischem Verhalten ein eigennütziger Narzissmus verbirgt. Dennoch beabsichtigen sie keine arbiträr moralischen und sozialen Zuwiderhandlungen - und wenn, dann nur temporär und in der Überzeugung des klassischen Paradoxons einer „passion aussi sérieuse“ (CdE, 1021) -, da sie ihre übertriebenen Handlungen an die der komischen Helden anpassen und durch ihre Realitätsdeformation die Konventionen in der Handlungswelt im Sinne der bienséance wieder in ein vernünftiges Lot bringen. Sie handeln nach dem Prinzip des zeitgenössischen Vernunftverständnisses und reüssieren. Der komische Agon besteht unter moralistischen Gesichtspunkten aus einem übersteigerten intérêt des amour-propre einer Figur, durch den die Mitfiguren in ihrer Freiheit beschnitten werden. Die Komödienordnung ist erst dann restituiert, wenn der Urheber des individuellen Willens zur Macht unschädlich gemacht ist und das Kollektiv die Macht zurückerlangt. 80 Vgl. ebd., 76. 81 Vgl. Stierle (1985), 127. <?page no="188"?> 4.5 Molières Anthropologie im Spiegel von Fiktion und Realität 187 In der Fiktion des komischen Spiels offenbart sich die lebensweltliche Dimension von la cour et la ville , die sich in einer starken Korrelation von Freiheits- und Machtbefugnis manifestiert. Der Anspruch auf Individualität summiert diese beiden Begriffe. Individualität kann in der Gesellschaft von Ludwig XIV . mit einer absoluten Zentralmacht als Konsequenz des Verhofungsprozesses und der damit einhergehenden Domestizierung der Subjekte nicht verwirklicht werden. Dies hat zur Folge, dass der komische Agon als diskursregulierendes Plädoyer für die honnêteté und gegen die unvernünftigen Affekte in den Ballettkomödien zu verstehen ist. Dieses Persönlichkeitsideal, das sein oberstes Prinzip in einer reibungslosen sozialen Interaktion erfüllt sieht, ist von einem affektkontrollierten „ménagement réciproque d’intérêts“ (M, 83) bestimmt, einem „échange de bons offices“ (M, 83). Das gesunde Bewusstsein ist bemüht, eine in diesen Ordnungsrahmen passende Persona herauszubilden und eine kontextsensitive Relation zwischen dem individuellen Bewusstsein und der Gesellschaft zu entwickeln. 82 La cour et la ville sind im klassischen Sinne der Moralistik auch soziale Umschlagplätze, „où l’amour-propre se propose toujours quelque chose à gagner“ (M, 83) oder „a warre […] of every man, against every man“ 83 vorherrscht, um diese Maxime mit Thomas Hobbes zuzuspitzen. Die Auseinandersetzung zwischen den Individuen wird nicht mehr direkt auf dem Feld ausgetragen, sondern indirekt auf dem gesellschaftlichen Parkett. Letzteres fungiert als Bühne, auf der der Mensch Schauspieler, Zuschauer und bisweilen Regisseur ist. Auf dieser spielen sich, um in der Theatermetaphorik zu bleiben, die ‚wahren‘ Tragödien und Komödien der Menschen in der Klassik ab. Die klassische honnêteté ist letztlich eine Art impliziter Gesellschaftsvertrag, „der dem potentiellen Chaos eines nicht disziplinierten amour-propre wehren soll“ 84 und mittels deren Ästhetik der bellum omnium contra omnes zivilisiert ausgetragen werden soll. Die Ballettkomödien lassen diesen Gesellschaftsvertrag temporär unwirksam werden, weil Molière die Konterdiskursivität der komischen Charaktere ins Zentrum der Inszenierung rückt. Dennoch reflektiert sein Theater eine Gesellschaft, in deren Wertehierarchie die Werte und Normen des Lebens von la cour et la ville an vorderster Stelle stehen. Diese Gesellschaft wollte aber nicht für so unkritisch gehalten werden, dass man ihr verhehlen hätte können, dass sich hinter der gesellschaftlichen Maske der Mensch mit seiner Eigensucht und seinem Dünkel verbirgt. 85 Auf diese Weise ergötzt sie sich mit ihrer Pseudo-Menschlichkeit an diesen Lustspielen. 82 Vgl. Jung (1973), 12. 83 Hobbes (2012 [1651]), 192. 84 Warning (1999), 334. 85 Vgl. Brauneck (2001), 535. <?page no="189"?> 188 4 Der komische Charakter 4.6 Anthropologie und Dramenstruktur-- eine Zusammenführung Die sich in den Ballettkomödien abzeichnende Dominanz des unvernünftigen Spiels ist vornehmlich auf den komischen Charakter der Helden zurückzuführen, die mit ihrer jeweiligen idée fixe die Sujetstrukturen bestimmen; während die Dramenbeziehungsweise Sujetstruktur den Rahmen für den komischen Agon setzt, wird dieser durch den Charakter bestimmt. Diesem Charakter liegt der auf Überlebenskampf geeichte menscheninhärente amour-propre als Handlungsmotivation zugrunde, dessen Überlebenswille sich im komödialen Agon zu erkennen gibt. Dieser Sachverhalt kann abstrakt zusammengeführt werden, indem man das auf der Dramenstruktur gründende Komödiensujet mit der auf dem amour-propre gründenden idée fixe gleichsetzt. Die paradigmatische Struktur der Ballettkomödie lässt sich folglich nicht nur aus der Neigung des Komischen zur Serialisierung herleiten, sondern ist auch als moralistisches défliée wahrnehmbar. Die Weiterentwicklung dieser zwei relevanten Theorieansätze aus der aktuellen Molière-Forschung führt zu diesem Zusammenschluss, der eine ausdifferenziertere und erschöpfendere Analyse von Molières Ballettkomödien insbesondere auch unter erwähnten gattungsspezifischen Aspekten ermöglicht. Er hebt die Relevanz der zentralen Figur für die Dramenstruktur hervor und signalisiert zugleich, dass Letztere ihrerseits das psychologische Movens der komischen Figur reflektiert. Dieser Synkretismus führt zu einer eingehenden Betrachtung des Phänomens Komik speziell im klassischen Totaltheater. Er zeigt, wie Komik die vom amour-propre ausgehende Negativität ertragbar macht, wie die ästhetische Form den unästhetischen Inhalt ästhetisiert und ein amüsantes Lustspiel konstituiert. Ferner fokussiert der Synkretismus nicht nur die agonalen Strukturen in Bezug auf den zeitgenössischen gesellschaftlichen Kontext, mittels des anthropologischen Ansatzes kommt auch immer eine allgemeinmenschliche Betrachtungsweise zum Tragen, die insbesondere Molières Komödienverständnis und Beliebtheit in ganz Europa über die Jahrhunderte hinweg erklären könnte. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird zu zeigen sein, welche Konsequenzen dieser Zusammenschluss für die ästhetischen Dispositionen der Ballettkomödie hat, wie sich Ästhetik und Ethos in der Performance bedingen und letztlich die Repräsentationsstruktur der Ballettkomödie beeinflussen. Anschließend wird das Zusammenwirken von moralistischem Menschenbild und Repräsentationsstruktur eruiert: Die Darstellung des moralistischen Denkens ist dort anzusetzen, wo es sich in Formen des Zusammenspiels manifestiert. <?page no="190"?> 4.6 Anthropologie und Dramenstruktur-- eine Zusammenführung 189 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien „Der Mensch als die Verkörperung des höchsten, vollkommensten Lebens ist der absolute ästhetische Gegenstand.“ A. Burow Im Folgenden wird nun auf bereits dargelegte Definitionen und Erkenntnisse zum klassischen Komikverständnis im Spektrum einer theatralen Lesart von Komik angeknüpft, um diese Überlegungen fortzuführen. Es soll eine der Eigentümlichkeit der Gattung entsprechende Komikästhetik erarbeitet werden, die nicht nur die soziale Dimension von Komik im satirischen Spiegel einzelner sozialer Typen in der Gesamtschau des Dodekamerons zu erweitern und komplettieren gewillt ist, sondern zudem die artistische wie auch anthropologische Dimension von Komik aufzeigen möchte. Diese Idee einer gattungsspezifischen Komikästhetik stützt sich theoretisch auf den Dualismus des sokratischen Verständnisses des Schönen: Das Schöne ist für ihn gleich dem Nützlichen und in der Umkehr ist das Nützliche schön. 1 Die Analyse steht unter der Leitfrage der soziokulturellen Funktion und Aufgabe des Phänomens Komik in der Ballettkomödie, die anhand von zwei Antithesen eruiert wird: Sind kritischer Geist und satirische Intention in diesem vom absolutistischen Regime streng überwachten Theater ausgeschlossen wie Michel de Pure in seinem Werk Idée des spectacles anciens et nouveaux 2 (1668) behauptet, ist es ob der kulturpolitischen Ausrichtung der Ballettkomödie realiter ausgeschlossen, eine kritische Dimension auf der Bühne zu entfalten oder beinhaltet sie nicht eine institutionalisierte und damit bereits entschärfte Kritik, die ihr neben einer rein künstlerischen Wesensart auch eine satirische zuspräche? Wenn dem so wäre, wie wäre dann in diesen obrigkeitsverklärenden Veranstaltungen mit den kritischen Intentionen inszenatorisch umzugehen, ohne den vergnüglichen Festcharakter zu gefährden? 1 Vgl. Borew (1960), 28. 2 Hierzu ein exemplarischer Auszug: „Il [le poète, Anm. S. W.] doit faire son principal soin de rendre le total, & le detail de son ouvrage si évident & si aisé, que les sens ne s’y attachent point vainement, & qu’il ne faille aucun effort d’esprit pour se saisir du dessein & pour penetrer le mystere. Car c’est une consequence indubitable, que le Poëte manque de lumiere, s’il laisse de l’obscurité en ce qu’il produit & en ce qu’il veut faire paroistre.“ Pure (1668), 218 f. <?page no="191"?> 190 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Die erste These spricht den Ballettkomödien respektive ihrer Komik eine spektakuläre Unterhaltungsfunktion zu und wurde lange Zeit in der Molière- Forschung vertreten. In jüngster Zeit wurde der Kunstcharakter der Ballettkomödien hervorgehoben und dergestalt das Genre über die ästhetische Blickrichtung aufgewertet. In dieser neueren Lesart kann ihre Komik meiner Meinung nach als frei verstanden werden, das heißt als eine ästhetische Komikform, die aufgrund ihrer Formen und Gestaltungen verstanden werden will. Sie wird als unabhängig, als vom spezifischen sozialen und moralischen Kontext enthoben begriffen und fokussiert in ihrem zentrovertierten Verständnis die ästhetische Funktion der Darbietung, die künstlerisch-komische Performance. Diese Idee gründet auf der Vorstellung von Aristoteles, nach der Patrick Dandrey anführt: „[L]’essence du geste artistique réside […] dans l’imitation de la réalité, sans préoccupation de morale.“ 3 Der Begriff ‚Ästhetik‘ rekurriert in diesem Kontext auf Molières neue Theatersprache, den nouveau langage théâtral. Die zweite These spricht der Komik eine sozialkritische Funktion zu und orientiert sich an der Molière-Forschung, die sich insbesondere mit Molières ‚großen Charakterkomödien‘ beschäftigt. Komik wird hierbei zumeist als Satire verstanden, das heißt als eine Komikform, die als Aufdeckung von soziohistorischen Lastern verstanden werden will. Sie kann meiner Meinung nach als sozial gebunden, als sich auf den sozialen Kontext beziehend begriffen werden und somit Sozialkritik generieren. Es stellt sich von dieser Warte aus die Frage, ob Sozialkritik wirklich eine so zurückgedrängte Rolle in den Ballettkomödien spielt oder ob sie nicht gerade durch die ästhetische Konzeption der Ballettkomödie Komik, letztlich Unterhaltung erzeugt. Vertieft wird dieser Ansatz im anschließenden Kapitel zur historischen Anthropologie, das versuchen wird, Komik als ein Medium zu verstehen, das die Funktion hat, im Sinne der Moralistik gedachte Laster - sogenannte moralistische Laster - aufzuzeigen, indem dem Komischen ein Entlarvungseffekt 4 des allzu Menschlichen zuzuschreiben ist. Sonach können nicht nur soziale Missstände, sondern auch allgemein die Schattenseiten der menschlichen Natur offengelegt werden. In diesem zweiten Teil rekurrieren die Analysen auf die vom klassischen Bewusstsein sittlicher Werte geprägte Gesinnung, das Ethos der bienséance respektive der honnêteté. 3 Dandrey (2002), 25. 4 Vgl. Iser (1976), 399. <?page no="192"?> 5.1 Freie Komik-- Artistik 191 5.1 Freie Komik-- Artistik „Ces gens-là se trémoussent bien …“ Monsieur Jourdain in Le Bourgeois gentilhomme Molières Dodekameron widmet sich der Machtverklärung des Sonnenkönigs und hat die Aufgabe, dem goût der Zuschauer zu gefallen. Diese Bedingungen veranlassen den Dramatiker, von einem amüsant mit Komik in Szene gesetzten Sujet Gebrauch zu machen und dieses mit Tanz- und Musikdarstellungen zu bereichern. Dem Anlass der auf den esprit mondain der Zuschauer ausgerichteten Festkultur geschuldet, stehen Wertevermittlung und Belehrung nicht explizit im Zentrum dieses Theaters, sondern vielmehr die performativen Effekte. In diesem Sinne wird der größte Anteil des komischen Spiels über die theatralische und nicht über die dramatische Kommunikationsebene vermittelt; es fokussiert das künstlerische Gesamtkunstwerk, den multimedialen nouvel art théâtral Molières, der formal von Prolog, Lustspiel wie Finale geprägt ist. Dieser Aufbau sorgt für eine gattungskonstituierende Dominanz des showing , eine Unmittelbarkeit der Performance. Der Begriff des theatralischen Spiels, der bisher zur Eruierung diverser Sujetschichten in Abgrenzung zum dramatischen Spiel einen wertvollen Dienst erwies, wird im Folgenden aufgrund der ästhetischen Fokussierung des Spiels semantisch erweitert und zusätzlich unter dem Begriff der artistischen Performance, neben dem des musikalischen und choreografischen Spiels, subsumiert. In diesem Kontext bezieht er sich auf die im Sprechtheater aufkommenden artistischen Darstellungen. Performance meint sonach nicht die Darstellung als Ganzes, sondern die künstlerische Aktion des Mimen. Da dieses Kapitel im Zeichen einer Komikästhetik steht, gilt es, auf den Grundüberlegungen zum vorgestellten Strukturmodell aufbauend, ein Komiktheorem zu entwickeln, das dem skizzierten performativen Schwerpunkt der Ballettkomödie gerecht wird und insbesondere die erste These zum vergnüglichen Charakter des Dodekamerons miteinbezieht. Hierfür sind die dramatisierten und theatralisierten Performances von Musik und Tanz unter dem Aspekt eines artistischen Divertissements zu betrachten und als freie Komik zu verstehen, wobei die künstlerische Performance - sei sie theatralisch, musikalisch oder choreografisch motiviert - ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Dieter Henrich prägt den Begriff der freien Komik und definiert sie als eine Komikform, „die in aller anderen Komik stets vorausgesetzt ist“ 5 . Es handelt sich um eine Art Urform von Komik, die fernab eines spezifischen sozialen und mora- 5 Henrich (1976), 385. <?page no="193"?> 192 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien lischen Kontextes verstanden werden kann. Ihr rudimentärer Charakter ergibt sich daraus, dass vor allem die Geste und nicht das Wort Träger dieser Komik ist. Somit sind ihre Formen und Erscheinungen im Sinne eines überzeitlichen komischen Guts interpretierbar, das sich aus der europäischen Komiktradition von der Antike an speist. Alle künstlerischen Performances der freien Komik zeichnen sich durch eine überraschende Plötzlichkeit aus, die im Umschlagen von einem dramatischen in einen theatralischen Kontext besteht - „ein Hinüberspielen von der moralischen auf die ästhetische Ebene“ 6 . Dieser Übergang bewirkt einen spontanen Rezeptionswechsel der Darbietung, da die Aufhebung des vorhergehenden dramatischen Kontextes beim Zuschauer eine theatralische Perspektive einstellt. Henrich differenziert diesen Prozess weiter aus: In der freien Komik erfolgt der Umschlag aber nicht zugunsten eines der Kontexte und zuungunsten eines anderen. […] Die Befreiung, die statthat, ist […] allenfalls eine Befreiung von Normalität, aber nicht von irgendeiner bestimmten Norm und Gebundenheit. Ist die Komik die der Befreiung, so bleibt sie auch auf das, was sie auflöst, notwendigerweise bezogen und gewinnt ihre Lust stets nur aus dem Bewußtsein dessen, was nicht mehr gilt. Die freie Komik ist aber auf sich als Bewegung bezogen und insofern von dem, woraus sie sich ergibt, auch unabhängig. 7 Die freie Komik entsteht in einem spannungsgeladenen Schwebebereich über dem moralischen Bereich, in dem die Normalität zwar schon durch das Hinüberspielen auf die ästhetische Ebene auf unerwartete Weise suspendiert wird, ihre semantische Infragestellung allerdings nicht zum Tragen kommt, sondern durch die semiotische Extravaganz der ‚Zwischenkunst‘ verdrängt wird, da ihr moralischer Fokus aus Zuschauersicht angesichts der die Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Kunstperformance schwindet. In der Abstraktheit ihrer Reinheit und Autonomie betrachtet, ist jede Performance frei von sozialen wie auch moralischen Wertungen, sodass sich ihr selbstreferenzieller Wesenszug auf der ästhetischen Ebene einstellt, der sie nicht komisch erscheinen lässt, sondern eine Art ‚leere Gestik‘ darstellt. Das ihr ebenfalls innewohnende Potenzial einer Wirklichkeitskonstitution, das durch ihre Einbindung in die Handlungswelt gegeben ist, lässt sie jedoch eine soziale Wirklichkeit generieren, wodurch sie ein moralisches Bedeutungspotenzial suggeriert. Durch diese Eigenschaft kann die ‚leere Gestik‘ eine Komisierung erfahren, die aber das moralische Substrat aus dem Betrachtungsfokus der Rezipienten spielt und den Zuschauer schwerpunktartig den komischen Effekt ohne das sozialkritische Moment perzipieren 6 Stierle (1976b), 251. 7 Henrich (1976), 385-389. <?page no="194"?> 5.1 Freie Komik-- Artistik 193 lässt. Die semantische Spannung zwischen Normerfüllung und Normabweichung wird im fokussierten Schwebebereich reduziert, weil sie zu einem semiotischen Ausdruck künstlerisch-komischer Performance transformiert wird. Beim Betrachter erzeugt diese Performanceart einen Augenblick des lustvollen Innehaltens zum Wohle artistischer Komikästhetik. Der soziale Kontext wird demnach ausgeblendet und das Agieren auf der Bühne künstlerisch verklärt. Dies bedingt eine Schwerpunktverlagerung, die das performative Moment in den Mittelpunkt der Inszenierung rückt, in das Zentrum der Zuschauerrezeption. Hat sich die Spannung zwischen Norm und Normdivergenz im artistischen Kulminationspunkt entladen, so ist die Performance ebenso wie der Wechsel der Rezeptionsperspektiven beendet. Das Theorem zur freien Komik lässt sich in das aufgezeigte Theorieverständnis zur klassischen Komik integrieren und ist in dieser Hinsicht im Kontext der malséance zu situieren . Die Entbindung von Normalität impliziert zwar ein gewisses Normensubstrat, aber durch die Enthebung vom sozialen Kontext und ihrem sie bestimmenden moralischen Substrat gewinnt die freie Komik an künstlerischem Ausdruck, der in diesem dargestellten Entsagungsprozess akzentuiert wird. 5.1.1 Performance und performative Ästhetik in der Ballettkomödie „On sait bien que les Comédies ne sont faites que pour être jouées, et je ne conseille de lire celle-ci qu’aux personnes qui ont des yeux pour découvrir dans la lecture tout le jeu du Théâtre“ ( AM , 603): Molières Hinweis im Vorwort zu L’Amour médecin konkretisiert den hohen Stellenwert des theatralischen Spiels in seinen Komödien und vornehmlich in seinen Ballettkomödien. Er verweist auf die artistische Performance, die bei der Interpretation seiner Theaterstücke miteinzubeziehen ist. In diesem Sinne versteht er die Inszenierung eines Dramas, theaterwissenschaftlich formuliert als einen semiotischen Prozess, „in dem ein Text, der aus sprachlichen Zeichen besteht, in einen Text aus theatralischen Zeichen transformiert wird“ 8 . Die Ästhetik der komischen Darstellung orientiert sich am Gesetz der vraisemblance , die dem Darsteller ein realistischeres Spiel als das der italienischen commedia dell’arte abverlangt, müssen die Feinheiten und das tiefste Innere der Menschen doch bei der Darstellung mitberücksichtigt werden. 9 In der me- 8 Fischer-Lichte (1990), 251. 9 Vgl. Mazouer (2007), 158 f. <?page no="195"?> 194 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien tatheatralen und -poetischen Komödie L’Impromptu de Versailles 10 empfiehlt Molière seinen Schauspielkollegen, „tâchez donc de bien prendre tous le caractère de vos rôles, et de vous figurer que vous êtes ce que vous représentez“ (IdV, 828). Die Angleichung des Schauspielers an seine Rolle ermöglicht es, eine Illusion der lebensweltlichen Realität in der Theaterfiktion darzustellen. 11 Gabriel Guéret macht 1669 bezüglich des professionellen Schauspiels von Molières Truppe folgende Beobachtung: Le spectateur est tellement frappé de la correspondance entre le comédien et le personnage que, renversant le processus, il croit le premier fait pour le second et non le second pour le premier. […] Cette illusion a pour fondement la profession de Molière: l’imagination du poète comédien s’inscrit directement dans l’espace fictif de la scène hanté par les fantômes des interprètes. 12 Die Kunst, seinen Körper als multifunktionales somästhetisches Ausdrucksmittel beherrschen und einsetzen zu können, ist signifikant für die Darsteller der Ballettkomödie. Sie inszenieren den Körper im Einklang mit den dramatischen und theatralischen Anforderungen an das zeitgenössische Theater als „objet du comique“ 13 . Eine soziokulturelle Begründung zur somästhetischen Relevanz im Theater der Zeit liefert Eva Erdmann: „Le XVII e siècle est prédestiné à une représentation complexe et polyvalente du comique corporel […] par la représentation spécifique de la corporalité en général de l’époque […].“ 14 Der zur Komik Anlass gebende Körper wird zu einem bewegungswie auch lautästhetischen Kommunikationsinstrument, zu einem multidimensionalen Zeichen der komischen Performance: Ein Körper, der gänzlich auf das Lachen ausgerichtet und von ihm abhängig ist, und der durch das Lachen der anderen erst zum komischen Körper wird, ist in dem Maße als performativ zu kennzeichnen, als er nicht konstativ Bedeutungen aussagt, sondern in der Interaktion mit anderen Wirklichkeit in actu konstituiert. 15 Hans Velten lässt in seiner These die Sprechakttheorie von John Austin aufleuchten, der in seiner Performativitätstheorie einen Zusammenhang zwischen 10 Die Komödie gibt einen Einblick in Molières Arbeit als Regisseur und Akteur wie auch in sein Verständnis zum Stegreifschauspiel. 11 Die Identifikation des Schauspielers mit seiner Rolle ist im 17. Jahrhunderts noch eine fremde Vorstellung. Sie ist bei Molière im Ansatz spürbar. Vgl. Forestier, Bourqui und Riffaud (2010), 1616. 12 Zitat nach Gabriel Guéret in Bray (1954), 222. 13 Erdmann (2006), 161. 14 Ebd., 165. Meine Hervorhebung. Die politische Bedeutung des komischen Körpers als Inszenierungsobjekt für die royalen Veranstaltungen wird im nächsten Kapitel eruiert. 15 Velten (2003), 149. <?page no="196"?> 5.1 Freie Komik-- Artistik 195 Tun und Sagen konstatiert. Demnach konkretisiert der komische Körper in seinem Agieren das gesprochene Wort, wobei dieser auch verstummen und lediglich seine Bewegungsästhetik herausstellen kann. Im bewegungsästhetischen Tun wird der komische Körper vor dem Publikum zum komischen Objekt stilisiert und ästhetisiert. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird die freie Komik an Beispielen aufgezeigt, die eine stark theatralische Performance aufweisen. Dem Theorieentwurf folgend ist diese Artistik unter der Annahme eines moralischen Vakuums zu betrachten, sodass sich in Anlehnung an den Begriff der freien Komik der Begriff der freien Performance anbietet, die weiterhin im Zeichen des Komischen steht. Eine differenzierte Zusammenschau dieser Performances gelingt unter der Voraussetzung, dass der medialen Pluralität des Dodekamerons Folge geleistet wird. Demzufolge gliedert sich die Untersuchung nach dem zentralen Performancemedium der Mimen, nach der spezifischen Beschaffenheit des Sprech-, Tanzwie auch Musiktheaters der französischen Klassik. 5.1.2 Freie Performance des sprechenden Mimen Das Sprechtheater mit komischer Prägung verfügt über Körper- und Sprachartistik, über gleichwertige optische wie auch akustische Ausdrucksformen. In beiden Bereichen können freie Performances auftreten. Zumeist werden optische und akustische Ausdrucksformen zusammen in Szene gesetzt, wobei die Inszenierung auch eine von beiden herauszustellen vermag. Diese zeichnen sich im Sprechtheater durch eine alltägliche , aus dem Handlungsrepertoire des Alltags entstammende, natürlich wirkende Performance aus, die verbale samt nonverbale Zeichen miteinbezieht und ihren improvisierten Charakter im Spiel zur Schau stellt. Es ist dem Improvisationscharakter der theatralischen Performance geschuldet, dem Zuschauer ein Exklusivitätsmoment zu verschaffen, denn die Stegreifschöpfung verweist auf das Unwägbare in der offiziellen Repräsentation der Ballettkomödie und lässt den Zuschauer an der Entstehung einer ephemeren Kunst live teilhaben. Sie bildet einen Kontrapunkt zur Formstrenge des ballet de cour , sowohl in choreografischer als auch in musikalischer Hinsicht . Im Gegensatz zum Sprechtheater zeichnen sich die Ausdrucksformen im Tanz- und Musiktheater ob ihres jeweiligen zentralen Performancemediums durch eine nicht-alltägliche , eine aus dem Handlungsrepertoire des Alltags enthobene, artifizieller wirkende Performance aus, die ihren inszenierten Charakter im Spiel zur Schau stellt. Hierbei ist dem Aspekt der Improvisation aufgrund des jeweiligen theatertypischen Performancemodus ein deutlich geringeres Wirkungsspektrum beizumessen. Für alle Theatertypen gilt jedoch - sofern die Inszenierungen ein Handlungsschema erkennen lassen - die Besonderheit der <?page no="197"?> 196 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Theatersituation, in der die Zuschauer das fiktionsimmanente mimetische Prinzip der Inszenierung akzeptieren und die Darstellungsartifizialität der Schauspieler nicht prinzipiell infrage stellen. 5.1.2.1 Morons scène de geste in La Princesse d’Élide Motivgeschichtlich erinnert der Hofnarr Moron an den aus der commedia dell’arte stammenden Arlecchino. Anhand von Morons burlesken Gesten ist das theatralische Performanceerbe auch in Molières Ballettkomödie erkennbar. Diese sind trotz ihrer Nähe zur Farce nicht mit der dem Possenspiel zugeschriebenen Derbheit gleichzusetzen. Sie verlangen dem Mimen eine elaboriertere Gestaltung ab, mithin vermögen sie eine alltägliche Performance mit artistischer Note darzustellen. Szenen der Improvisation wie die scène de geste im dritten Intermedium von La Princesse d’Élide sind es, in denen die Schauspieler mit ihrer Körperartistik glänzen können, da diese Einlagen den nonverbalen Codes verschrieben sind und das Visuelle der Darstellung betonen. Das gestische Moment führt die theatralische Performance in der ersten Szene des dritten Intermediums zu Ende. Die Schäferin Philis fühlt sich von Morons Liebeswerben gestört, da sie dieser nicht wie der Schäfer Tircis mit seiner Stimme erheitert, sondern mit seinem ermüdenden caquet bedrängt. Sie gewährt ihm schließlich, in ihrer Nähe zu bleiben - unter der Bedingung: „De ne me point parler du tout.“ (PdE, 564) Der schelmische Moron versucht die untersagten verbalen Mitteilungen durch nonverbale zu substituieren, um sich weiterhin der Aufmerksamkeit seiner Dame gewiss sein zu können. Jedoch währt sein Pantomimenspiel nicht lange, und so muss er mit der angedrohten Konsequenz vorlieb nehmen, dem Abgang Philis’: M oron : Eh bien, oui, demeure: je ne te dirai mot. p hilis : Prends-y bien garde au moins; car à la moindre parole je prends la fuite. M oron . Il fait une scène de gestes : Soit. Ah! Philis … Eh … Elle s’enfuit, et je ne saurais l’attraper. (PdE, 564 f.) Die allgemein gehaltene Regieanweisung im Nebentext zielt auf die Interpretation wie auch auf die Gestaltungskraft des Schauspielers ab, der unter Einsatz seiner gesamten Motorik die pantomimische Szene darzustellen und dabei das Publikum über längere Zeit in Atem zu halten hat. Das Gesten- und Mimikspiel hebt aufgrund der optischen Gestaltungsweise den bewegungsästhetischen Kommunikationsaspekt hervor und erfüllt eine handlungsinszenierende wie auch -treibende Funktion. Es wäre im Kontext der Szene denkbar, dass Moron seiner empfundenen Zuneigung für die Schäferin gestisch Ausdruck verleiht, das ästhetische Erleben also auf eine Emotionsbewältigung ausrichtet, und sein Liebeswerben von einer verbalen auf eine nonverbale Ebene transponiert. Die <?page no="198"?> 5.1 Freie Komik-- Artistik 197 semiotische Transformation parodiert das Liebeswerben, das in der Schäferwelt gewöhnlich mit Komplimenten und Gesang erfolgt. Morons zu Kompensationszwecken des sprachlichen Codes erforderliche hyperbolische Performance der großen komischen Geste lässt seinen Körper bizarr und grotesk erscheinen. Der seinem Sprachverbot geschuldete Ausbruch aus der dramatischen Kommunikationsebene betont den spielerischen Charakter der Szene und stilisiert Moron zu einem theatralischen „objet du comique“, der ob seiner Vielgestaltigkeit den Hauptträger der freien Komik verkörpert. 5.1.2.2 Das Fechtspiel in Le Bourgeois gentilhomme In Le Bourgeois gentilhomme findet in Akt III eine alltägliche Performance Ausdruck, die eine bewegungsästhetische Artistik mit Improvisationscharakter exponiert. Die Szene zeigt Monsieur Jourdain in seinem fehlerhaft geschneiderten Kostüm 16 eines Edelmanns, das dem Dienstmädchen Nicole bereits in vorherigen Szenen Anlass für eine theatralische Lachtirade gibt. Er duldet ihrerseits keine weiteren Provokationen mehr und ist - moralisch blind - willens, sie von ihrer ‚Unwissenheit‘ in Bezug auf sein adeliges Savoir-vivre zu befreien. Er möchte sich mit ihr ‚duellieren‘, um über seinen geschickten Umgang mit dem Florett seine Adelstugenden zu demonstrieren. Der Vorwand seiner Rüge dient nur als Legitimationsgrund für das Waffenspiel, für seine Inszenierung als vermeintlicher gentilhomme . Die folgende Situation korrespondiert mit Akt II , Szene II , in welcher der Maître d’Armes Monsieur Jourdain in die Fechtkunst einführt. Die erneute Aufnahme dieser fechtspezifischen Körperakrobatik verdeutlicht, dass der Schauspielkörper hier als „objet du comique“ zu lesen ist, als zentraler Komikgenerator, der mehrmals in anderen Konfigurationen requisitenartig eingesetzt werden kann und keine handlungstreibende, sondern eine handlungsinszenierende Funktion beinhaltet. Diese Annahme bestätigt sich insbesondere im Geschicklichkeitsspiel mit dem Florett zwischen dem komischen Helden und der Nebenfigur Nicole. Der Auseinandersetzung wohnen weiterer Diener bei, sodass die Performance eine selbstreflexive Wesenheit im Sinne einer mise-en-abyme -Struktur aufweist: M onsieur J ourdain : […] Je te veux faire voir ton impertinence tout à l’heure. Il fait apporter les Fleurets, et en donne un à Nicole. Tiens; Raison démonstrative, La ligne 16 Die Kostümierung spielt in Molières Ballettkomödien eine wichtige Rolle. Sie reicht über die lächerliche Verkleidung der komischen Helden weit hinaus, wenn man beispielsweise an die aufwendigen Inszenierungen der mythologischen Wesen im Prolog zu Les Amants magnifiques oder auch an das Bärenkostüm in La Princesse d’Élide denkt. Die Kostüme sind ein beliebtes Theatermittel in Molières Theater, um einzelne Figuren als „objet du comique“ auszuweisen. Sie stützen die künstlerische Komikperformance. Zur Vertiefung des Verkleidungsaspektes empfiehlt sich Stephen Varick Docks Arbeit Costume & Fashion in the Plays of Jean-Baptiste Poquelin Molière: A Seventeenth-Century Perspective . <?page no="199"?> 198 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien du corps. Quand on pousse en quarte, on n’a qu’à faire cela; et quand on pousse en tierce, on n’a qu’à faire cela. Voilà le moyen de n’être jamais tué; et cela n’est-il pas beau, d’être assuré de son fait, quand on se bat contre quelqu’un? Là, pousse-moi un peu pour voir. n iCole : Hé bien, quoi? Nicole lui pousse plusieurs coups. M onsieur J ourdain : Tout beau. Holà, oh, doucement. Diantre soit la Coquine. n iCole : Vous me dites de pousser. M onsieur J ourdain : Oui; mais tu me pousses en tierce, avant que de pousser en quarte, et tu n’as pas la patience que je pare. ( BG , 292 f.) Die spärlichen Regieanweisungen werden durch performative Lokutionen wie auch Interjektionen vervollständigt und stützen als vages canevas die somästhetische Performance. Der dramatische Text wird durch seinen performativen Duktus exhibitioniert und zum gestischen Spiel metamorphosiert; das Florett akzentuiert Monsieur Jourdains Fechterklärungen und setzt diese gestisch um. Das in diesem Passus vorhandene familiäre Schimpfwortrepertoire dient der weiteren Manifestation des komischen Körpers und setzt diesen situationskomisch - mit den höfischen Höflichkeitsfloskeln aufs Äußerste kontrastierend - im bürgerlichen Raum in Szene. Die Inszenierung des Duells zielt auf optische Reize ab, wobei akustische Elemente wie das klirrende Metall beim Florettieren und die verbale Kommentierung der ausführenden Aktion hilfreich zur Seite stehen und die Szene zu einer optisch-akustischen ausweiten. Die nonverbale Komik der beiden Darsteller ergibt sich aus ihrem Zusammenspiel in Form von Mienen- und Körperspiel. Ersteres zeichnet ein von Anstrengung und Empörung geprägtes Gesicht Monsieur Jourdains, das mit dem von Leichtigkeit und Keckheit geprägten Gesicht Nicoles kontrastiert. Das Mienenspiel ist auf das Körperspiel abgestimmt, das aus dem Kontrast zwischen der agilen Nicole, die ihren Herren mehrmals in Manier der robusten Haushälterin attackiert, und dem plumpen, sich verkrampft an die erlernten Regeln der Fechtkunst haltenden Monsieur Jourdain entsteht; Gesicht und Geste reflektieren sich im künstlerischen Ausdruck. Der Hausherr steht als komischer Held im Mittelpunkt des Theaterstücks wie auch im Zentrum dieser bagarre farcesque . Sein Florett ist motivgeschichtlich mit der batte des Harlekins aus der commedia dell’arte verbunden und dient als Hauptrequisite dieses lazzo. Dergleichen ist die traditionelle Hahnenfeder des Narren in Gestalt von „Perruque et […] Plumes“ ( BG , 286) in die Kostümierung Monsieur Jourdains eingegangen; 17 dem zeitgenössischen Zuschauer dürfte 17 Auch in Monsieur de Pourceaugnac wird der komische Held durch seine Kleidung als anti-mondän charakterisiert: „un haut-de-chausses de damas rouge garni de dentelle, un justaucorps de velours bleu, garni d’or faux, un ceinturon à frange, des jarretières vertes, <?page no="200"?> 5.1 Freie Komik-- Artistik 199 diese Analogie vertraut gewesen sein. Der Ausdruck seiner physischen Unbeholfenheit spiegelt sich in seiner verqueren Kostümierung wider, sodass sein Körper als Ausdrucksform der somatischen Semiotik im Sinne eines ganzheitlichen „objet du comique“ fungiert. Eine Nebenbemerkung zum satirischen Unterton der Szene: Das Spiel mit dem Florett kann als brisantes Spiel mit den Standesgrenzen aufgefasst werden, wenn die Dienerin ihren Herren schubst und ihn ‚im Gefecht‘ besiegt. Der Kampf beider Figuren zeugt von einem Ringen zwischen Realität und Illusion, denn die bodenständige Nicole lässt den komischen Helden mit seiner Adelsstreberei als Wichtigtuer dastehen, der sein eigenes Wohl über das der Allgemeinheit stellt, indem er seine Schimären egomanisch zum Leidwesen seiner Umwelt auslebt. Nicole sanktioniert sein lächerliches Unterfangen auf körperlicher Ebene mit „ plusieurs coups “ in der Tradition der Farce. Die Fechtszene illustriert aber nicht nur eine Auslotung der Ständehierarchie nach oben, sondern durch Nicoles Mitwirken an dem Spiel auch nach unten hin: Nicole kann ihren Herrn nur temporär im Spiel besiegen, das sinnbildlich einen ‚Klassenkampf ‘ darzustellen vermag, und ihn vor der Dienerschaft bloßstellen. Sie bleibt trotz ihres bon sens eine Dienerin des bourgeois . In diesem komischen Ringen um Macht und gesellschaftliche Anerkennung zeigt sich Monsieur Jourdains generelles Scheitern an der Gesellschaft, das ihn zum Außenseiter, zum komischen Helden, und in der Performance zum „objet du comique“ macht. Die Satire auf die Adelskonventionen wird in der doppelten Ständeauslotung gemindert und das kritische Potenzial in der komischen mise-en-abyme- Performance der Theater-auf-dem- Theater-Situation ex aequo neutralisiert. 5.1.2.3 Das nächtliche Quiproquo in George Dandin Ein weiteres Körperlazzo, das im Gegensatz zu Morons scène de geste und der Fechtszene überwiegend akustische Ausdrucksformen der alltäglichen Performance herausstellt, ist die nachtdunkle Quiproquo-Szene in Akt III von George Dandin . Sie rekurriert auf eine in der commedia dell’arte typische Performance, die Molière auch in Le Sicilien ou l’Amour peintre einzusetzen weiß. Die bühnentechnisch hervorgebrachte Nacht schärft durch die Ausblendung von Kulissen, Kostümen und Körpergesten der Mimen den Gehörsinn des Publikums und lenkt dessen Aufmerksamkeit auf die akustischen Ausdrucksformen, die als lautliches canevas für die Zuhörer fungieren und deren Fantasie anregen, sich un chapeau gris garni d’une plume verte, l’écharpe de taffetas vert, une paire de gants, une jupe de taffetas vert garnie de dentelle et un manteau de taffetas aurore, une paire de souliers, prisé trente livres […].“ Molière (2010), 1149. Die Farben gelb und grün sind archetypische Farben der Hofnarren, welche die Tollheit des Limousiners optisch sichtbar machen. <?page no="201"?> 200 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien das Zusammenstoßen der Figuren bildhaft vorzustellen. Die flinken Schritte und das Rascheln der Kostüme der Darsteller verursachen eine unruhige Geräuschkulisse, die mithilfe sachter Orientierungsrufe ein theatralisches Klangbild in der Finsternis entstehen lassen: C litandre : Ce sont elles. St. a ngélique : St. l ubin : St. C laudine : St. C litandre , à Claudine: Madame. a ngélique , à Lubin: Quoi? l ubin , à Angélique: Claudine. C laudine , à Clitandre : Qu’est-ce? C litandre , à Claudine: Ah! Madame, que j’ai de joie! l ubin , à Angélique : Claudine, ma pauvre Claudine. C laudine , à Clitandre : Doucement, Monsieur. a ngélique , à Lubin : Tout beau, Lubin. C litandre : Est-ce toi, Claudine? C laudine : Oui. l ubin : Est-ce vous, Madame? a ngélique : Oui. C laudine : Vous avez pris l’une pour l’autre. l ubin : Ma foi la nuit on n’y voit goutte. ( GD , 1002) Die bruchstückhaften Sprachäußerungen der Schauspieler dienen in diesem Spiel vorrangig der Stimmzuordnung und Lokalisierung der Figuren im Dunkeln, damit der Zuschauer trotz seines beeinträchtigten Sehvermögens dem Verwechslungsspiel folgen kann. Der echoartig auftretende Zischlaut „St“, in den alle Figuren einstimmen, leitet die Konversation zwischen den vier Figuren in der nächtlichen Ruhe ein. Die Multiplikation des Klesiphones kehrt das Silentium der sich heimlich treffenden Figuren in eine hektische Unruhe um und bereitet den lebhaften Wortwechsel vor. Neben diesen Appellinterjektionen zeichnet sich die Szene gleichfalls durch ein im Modus des Flüstertons realisiertes melodisches Frage-Antwort-Spiel aus, das den Mimen durch die Interrogationen und Exklamationen ein breites Tonhöhen- und Klangspektrum abverlangt. Die dargestellte Unsicherheit des Tappens in der Dunkelheit wie auch die Verwunderung über die Verwechslungen kann der Mime nur mithilfe der am Körper produzierten Töne repräsentieren. Er muss für diese Art der Darstellung seine ansonsten zur Verfügung stehenden optischen Gestaltungsmittel akustisch kompensieren, indem er auf verbale und nonverbale Geräusche setzt. Er gestaltet diese akustische Performance durch eine gesteigerte Vokalität, <?page no="202"?> 5.1 Freie Komik-- Artistik 201 die seinem Körper eine hörbare Expressivität abfordert und ihn zu einem komischen Klangkörper im Rahmen der alltäglichen Performance werden lässt. Die gegenseitige Verwechslung der beiden Paare ist von Molière systematisch angelegt und könnte theoretisch ad absurdum geführt werden. In diesem Passus ist eine parallel verlaufende Struktur erkennbar, die zu vermehrten Quiproquos führt und aus der sich zwei Oppositionspaare herauskristallisieren: Clitandre und Claudine versus Angélique und Lubin; Clitandre hält Claudine für seine Angélique, Claudine Clitandre für ihren Lubin. Der missverständliche Dialog des ersten Paars wird durch den analog dazu aufgebauten zweiten Dialog zwischen Angélique und Lubin chiastisch durchbrochen. Lubin sucht Claudine und trifft immer wieder auf Angélique, während jene Clitandre finden möchte, aber immer über Lubin stolpert. Das Scheitern enthält Züge eines Perpetuum mobile, das sich dadurch einstellt, dass sich ausgerechnet die Figuren finden, die sich nicht suchen. So muss die Suche erneut gestartet werden, was zu einer Aufrechterhaltung des schnellen Spielrhythmus und zu erneuten komischen Effekten beiträgt. Die Szene endet mit der Auflösung des Verwirrspiels, nachdem die ungleichen Paare sich erkannt haben, also Claudine Clitandre und Angélique Lubin und vice versa , womit dann auch die komische Akustikperformance endet. Die Heiterkeit des Spiels wird in Lubins Aussage am Ende der Szene zugespitzt. Sie bekommt eine nicht ernst zu nehmende Funktion innerhalb der Handlung der Komödie zugewiesen, wenn er nach dem kurzweiligen Hin und Her trotz der bereits erfolgten Auflösung der Verwechslungen noch immer keinen Überblick über die Situation erlangt hat und ausruft: „Claudine, où est-ce que tu es? “ ( GD , 1002) Damit bestimmt er den Endpunkt der Szene zugleich als ihren Ausgangspunkt, sodass diesem zyklischen lazzo keine handlungstreibende, sondern eine handlungsinszenierende Funktion zukommt, die aufgrund ihrer Konstitution als ars gratia artis eine Berechtigung hat. Die nächtliche Situation generiert eine Intransparenz des verbalen Codes. Sie dekonstruiert die weltordnende Funktion der Sprache, was sich in der Diskrepanz von Signifikant und Signifikat manifestiert. Somit mutiert die Sprache im Spiel zu einem defizitären Medium, das keinen schicklichen Umgang der Figuren mehr gewährleistet. Der Zusammenbruch der Sprachkonvention spiegelt letztlich einen Zusammenbruch der Moral wider. Konkret äußert sich die Brüchigkeit des sprachlichen Codes in einem die Ständeordnung durcheinanderbringenden Zerwürfnis, das sich darin zeigt, dass die Dienerfiguren mit einer ihrem Stand inadäquaten Anrede angesprochen werden, während die Vertreter des Adels auf sprachlicher Ebene temporär zu Dienern degradiert werden. Der unfreiwillige Partnertausch ist ein Spiel mit sozialen Rollen. Die nächtliche Situationskomik ermöglicht die Bildung dieser sozialen Heterogenität und impliziert eine latent satirische Gesinnung, welche die sozialen Ehenormen spielerisch torpediert und <?page no="203"?> 202 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien das Sujet der Ballettkomödie aktualisiert. Ferner wird das Spiel vor dem Hintergrund einer weiteren moralischen Dimension inszeniert. Es zeigt ein im Zeichen des Ehebruchs stehendes klandestines Treffen zwischen den Geliebten, wobei unschickliche wie auch unwahrscheinliche Vergehen im Sinne der bienséance respektive vraisemblance aufgrund der nächtlichen Lichtverhältnisse nicht aufgezeigt werden müssen. Alle moralischen Zuwiderhandlungen werden im erheiternden Verwirrspiel zwischen Herren und Dienern überspielt. 5.1.2.4 Sprachartistik in Monsieur de Pourceaugnac Während die analysierten Körperlazzi durch das Mienenspiel und die Geste primär den Körper zum „objet du comique“ machen, ist bei den Sprachlazzi die Gewichtung eine andere: Der Schwerpunkt ihrer Performance liegt nicht auf dem somästhetischen Agieren, sondern auf dem sprachästhetischen, dem akustischen Spiel mit Sprachlauten. Molières Theater zeichnet sich durch eine immense Vielfalt an Sprachen, Dialekten oder Akzenten aus, die prädestiniert für Sprachspiele und Lautartistik sind. Bereits in einer seiner ersten Farcen, L’Étourdi , demonstriert Molière seinen geschickten Umgang mit der komischen Imitation des schweizerdeutschen Akzents und lässt eine spezifische Sprachkomik erkennen, die im Laufe seines Werkes einen immer größeren Raum einzunehmen scheint. 18 Bezüglich der großen Dichte an Sprachen, Dialekten und Akzenten stellt Monsieur de Pourceaugnac eine Neuheit dar, welche die Ballettkomödie zu einem concert des langues werden lässt. 19 Das Ränkespiel um Monsieur de Pourceaugnac gibt Anlass für eine theatralische Performance mit der Gestaltungskraft einer alltäglichen Sprachartistik. Um den Heiratsanwärter vor dem Brautvater Oronte zu diskreditieren, rufen die Intriganten zwei vermeintliche Ehefrauen aus niederem Milieu auf den Plan, die den Limousiner auf offener Straße lauthals der Polygamie bezichtigen und ihn vor Oronte desavouieren. Dem inszenierten Sprachlazzo kommt eine handlungsinszenierende wie auch -treibende Funktion zu, denn es entzweit die Eintracht zwischen den Autoritätsfiguren und führt durch Pourceaugnacs Flucht vor der Todesstrafe zur endgültigen Auflösung der Heiratspläne. Die Anschuldigungen der beiden Frauen haben den gleichen Tenor, doch unterscheiden sie sich ob ihrer Herkunft: Nérine spricht picardisch und kommt aus dem nördlichen Saint- Quentin, während Lucette okzitanisch spricht und aus dem südlichen Pézenas kommt. Die weit auseinanderklaffende Provenienz der beiden hat zwar auf dra- 18 Insbesondere in der Cérémonie Turque in Le Bourgeois gentilhomme und in der Cérémonie Burlesque in Le Malade imaginaire zeigt Molière sein ganzes Können in puncto Sprachartistik auf. 19 In der Ballettkomödie finden sich Elemente der Sprachen Latein, Italienisch, Okzitanisch und Picardisch, des flämischen wie auch des schweizerdeutschen Akzents. <?page no="204"?> 5.1 Freie Komik-- Artistik 203 matischer Ebene die Aufgabe, Pourceaugnac aufgrund seines vermeintlichen Frevels als flüchtigen Polygamisten zu charakterisieren, die Zurschaustellung der unterschiedlichen, in Paris inexistenten Sprachen bietet aber Gelegenheit zum komischen Sprachenspiel, das in einer Streitszene aufgrund der emotionalen Vehemenz der Kontrahentinnen theatralisch ausgespielt werden kann: n érine : Oui, Medeme, et je sis sa Femme. l uCette : Aquo es faus, aquos yeu que soun sa Fenno; et se deû estre pendut, aquo sera yeu que lou faray penda. n érine : Je n’entains mie che baragoin-là. l uCette : Yeu bous disy que yeu soun sa Fenno. n érine : Sa Femme? l uCette : Oy. n érine : Je vous dis que chest my, encore in coup, qui le sis. l uCette : Et yeu bous sousteni yeu, qu’aquos yeu. (MdP, 235 f.) Die von der hochsprachlichen Folie divergierenden diatopischen Äußerungen sorgen vor dem standardsprachigen Publikum für einen exotischen Klangeffekt, der zudem dadurch weiter entfremdet wird, dass die beiden Sprachen in den stichomythisch angelegten Repliken zu einem schiefen Klangkonzert verdichtet werden: Der schnelle Sprecherwechsel erhöht das Sprechtempo und lässt die beiden Disputantinnen zu einer sich unablässig steigernden Lautstärke hinreißen, sodass ihr farceskes Wortgefecht nur noch als nebulöse Klangwolke zu registrieren ist, als Sprachgewirr, das den phonischen Ausdruck über den semantischen stellt. Diese Signifikantenartikulation fordert den Schauspieler heraus, muss er doch die regionaltypische sprachliche Färbung geschickt ausdrücken können und zugleich natürlich bleiben, um die Einfachheit der gemimten Figur authentisch wiederzugeben. Unterstützt wird das klangauditive Spiel durch zornerfüllte Gesten und eine dem Körperausdruck entsprechende Gesichtsmimik. Das Sprachgewirr akkumuliert im Geschrei der von den beiden Frauen herbeigerufenen Kinder, deren Präsenz - „ tous ensemble “ (MdP, 237) - Pourceaugnacs Polygamie bestätigen soll. Die nach ihrem vermeintlichen Vater rufenden Kinder fungieren als theatralische Verkörperung des in der Sprachwirrnis untergegangenen dramatischen Textes. Sie materialisieren den für die Zuschauer in Auszügen unverständlichen Dialog der Mütter und machen ihn transparent, indem sie die Intransparenz der Zeichen aufheben und den Inhalt des Gesprächs durch sich selbst im Sinne apodiktischer Zeichen sichtbar machen. Sie verschieben die alltägliche Performance von einer akustischen in eine akustischoptische Ausrichtung und transponieren den dialogischen ‚Signifikantentanz‘ zu einem Reigen um den komischen Helden. <?page no="205"?> 204 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Das aufgezeigte Sprachgewirr löst einen der ausdrucksstarken akustischen Theatereffekte in Monsieur de Pourceaugnac aus. Es steht stellvertretend für die anderen Sprachspiele, die aus den Abweichungen vom Normfranzösischen entspringen. Die interpretierte Szene ergänzend, listet Robert Kenny diese Sprachdivergenzen konzise auf: Sbrigani has kept his Neapolitan accent; Pourceaugnac’s French is richly spiced with ‚l’accent du Midi‘; the doctors’ Parisian French is incomprehensible thanks to their subject matter and their Latin interpolations; the matassins sing in Italian; the ‚marchand flamand‘ speaks double-Dutch […]. 20 Dieser diatopische concert des langues ist mit Blick auf die sprachliche Normierung, das Streben nach einer pureté de la langue française zu Zeiten des Hochabsolutismus satirisch zu verstehen, denn es stigmatisiert die Provinzbürger nicht nur sprachlich zu Außenseitern von la cour et la ville . Die Unkenntnis der Hochsprache impliziert zugleich die der sozialen und kulturellen Umgangsformen, 21 wie die natürliche Unschicklichkeit der Frauen demonstriert und Pourceaugnac im selben sozialen Lichte erscheinen lässt. Die Textbeispiele lassen diverse Schwerpunktsetzungen in der alltäglichen Performance erkennen. Diese können rein optische oder rein akustische wie auch gemischte Ausdrucksformen mit Fokus auf das Optische oder das Akustische hervorheben und eine handlungsinszenierende wie auch handlungstreibende Funktion haben. Die ‚performativ‘ konnotierten Lexeme der Beispielszenen eignen sich besonders für eine somästhetische Darstellung. Sie machen klar, dass das schauspielerische Talent in signifikanter Weise über das Gelingen oder Misslingen der Performance wie auch ihrer komischen Wirkung entscheidet. Es ist die variationsreiche Sprache des Körpers und der Mimik, welche die Dramensprache semantisch komplettiert und präzisiert: Les gestes forment un véritable langage; ils ne peignent pas seulement les sentiments, les besoins, les passions, mais ils expriment jusqu’aux moindres nuances de la faculté de penser. On dirait que celui qui a recours aux gestes veut peindre par ses mouvements les choses mêmes qu’il dit, et les faire entrer par tous les sens dans l’esprit de ceux auxquels il s’adresse. 22 Zudem trägt die rollenspezifische Kostümierung zur Stilisierung des Figurenkörpers zu einem „objet du comique“ bei. Die Unvorhersehbarkeit während der Improvisation generiert eine reizvolle Anziehungskraft auf die Zuschauer, 20 Kenny (1994), 67. 21 Vgl. Riffaud und Piéjus (2010), 1421. 22 Levasseur (1826), 179. <?page no="206"?> 5.1 Freie Komik-- Artistik 205 weil die Schauspieler hierbei über ihre zu spielende Rolle hinauswachsen und sich selbst - mehr als im festgelegten Rollenspiel - mittels ihrer artistischen Fähigkeiten im Rampenlicht zelebrieren können. Bei dieser intensiven Thematisierung des Spielcharakters stellt sich ein illusionsmindernder Effekt ein. 23 Das in diesen Improvisationsszenen angelegte Oszillieren zwischen Figur und Akteur ist vom Dramatiker intendiert, da diese Doppelung einen maximalen showing- Effekt auslöst. 5.1.3 Freie Performance des tanzenden Mimen Das Tanztheater verfügt über dominant optische Ausdrucksformen, wobei auch akustische mit von der Partie sind - erstgenannte fallen in den Fokus des Betrachters. Es können freie Komikformen in diesem Bereich auftreten. Die optischen Ausdrucksformen zeichnen sich im Tanzrespektive Körpertheater durch eine nicht-alltägliche Performance aus, die von nonverbalen und dominant proxemischen Zeichen geprägt ist. Im Dodekameron setzen die choreografischen Darbietungen den Körper in einem musikalischen Korsett in Szene und verzichten bei einer reinen Choreografie auf das gesprochene und gesungene Wort; sie können aber von Sängern begleitet werden. Darüber hinaus können Tänzer als Sänger fungieren. Lullys performative Musik „ne prend sa force et sa qualité expressive que lorsqu’elle est interprétée par un musicien qui pense les notes en terme d’action dramatique“ 24 . Sie bildet in den meisten Ballettkomödien die Grundlage des Tanzes und gibt den Takt, das heißt den Rhythmus des Tanzes, vor. 25 Alle Tanzformationen sind en cadence realisiert und zeugen von einer theatralischen Darstellung. 26 23 Vgl. Voigt (1954), 43 f. 24 Beaussant (1992), 714. 25 Friedrich Böttger zufolge kann Lullys Musik hinsichtlich ihrer Harmonik vereinfacht für die Ballettkomödie wiedergegeben werden: „Die meist zweiteilig gehaltenen Kompositionen bewegen sich, mit geringen Ausnahmen, gleichviel ob sie in Dur oder Moll stehen, von der Tonika zur Dominante und wieder zurück zur Tonika. In diesem Rahmen finden sich Doppeldominanten, Parallelklänge, Vorhalte und sonstige harmoniefremde Töne vor, die vollkommen glatt im Sinne eines logisch geordneten musikalischen Organismusses aneinandergereiht werden. […] Bezüglich der harmoniefremden Töne, die Lully sehr häufig in seine Tanzkompositionen einführt, muß aber als ein besonderes Charakteristikum dieses Stiles betont werden, daß der florentinische Meister niemals die musikalische Linienführung irgendeiner Unterstimme zu Gunsten eines vertikal aufzufassenden Akkordverhältnisses knickt. […] Dabei wird für die getragenen ernsten, aber auch für die grotesk-ernsten Tänze und für die Einleitungen ganzer Entrées das Moll bevorzugt. Demgegenüber stehen ungefähr alle bewegten, komischen bzw. auch dämonisch bewegten Tanzkompositionen in Dur.“ Böttger (1979 [1930]), 154. Vgl. Kapitel 1, Fußnote 77. 26 Vgl. Mazouer (1993b), 102. <?page no="207"?> 206 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Die Körperlichkeit der Tänzer wird in der Performance in eine Kunstmaterie transformiert, deren Bedeutung der Zuschauer nur dann vollständig erfassen kann, wenn er in dieser Sprache zu Hause ist. 27 Die Zuschauerschaft von la cour et la ville ist mit der Ästhetik des ballet de cour bestens vertraut, zelebriert doch ein großer Teil selbst regelmäßig die Tanzkunst gemäß dem adeligen Bildungskanon. Sie kennen die Merkmale des klassischen Tanzes und die von de Pure verfasste Kardinalsregel des Tanzes: „[L]a principale & la plus importante regle est, de rendre le pas expressif, que la teste, les espaules, les bras, les mains facent entendre ce que le danceur ne dit point.“ 28 Diese Feinmechanik des französischen Tanzes der Klassik zeugt von einem starken Reglement wie auch einer steten Verfeinerung und Präzisierung der gesamten Organisation aller Bewegungsabläufe. 29 Der ballet de cour des 17. Jahrhunderts ist ein einzigartiges Kunstwerk, dessen Interpretation für den Tanzenden das immer wieder neu faszinierende Erlebnis bildet, die vital-künstlerischen Kräfte der vergangenen Jahrhunderte in ihrer besonderen Einheit von Bewegung und Musik durch eigene Verkörperung nachschöpferisch erstehen zu lassen. 30 Er beeinflusste mit seinen multiplen und fantasiereichen Erscheinungsformen die Tanzperformances der comédie-ballet . Für die Ballettkomödie sind zwei Tanzarten aus dem Hofballett, der ballet comique wie auch der ballet grotesque , ob ihrer Konzeptionen und Tendenzen hinsichtlich ihrer Komikästhetik von Belang. Die im Zuge des Verschmelzungsprozesses häufig synonym verwendeten, 31 dem Ballett attribuierten Adjektive ‚comique‘ und ‚grotesque‘ verbergen ursprünglich unterschiedliche Konzepte: Ein Markstein in der Entwicklung des ballet comique ist der Ballet Comique de la Reine (1581) von Balthasar de Beaujoyeulx. Das Attribut ‚comique‘ steht hierbei in der Bedeutung von ‚neuartig‘ und ist weniger in Opposition zu ‚tragique‘ zu verstehen. Es meint die Innovation eines einheitsstiftenden Handlungsverlaufes der verschiedenen Entrees, die durch das Auftreten von allegorischen, mythologischen wie auch heroischen Gestalten bestimmt waren, wobei auch komische Figuren mitwirkten. 32 Der Einfluss der von den comici der commedia dell’arte geprägten Bewegungsgestal- 27 Vgl. Weickmann (2002), 91. 28 Pure (1668), 249. 29 Vgl. Braun und Gugerli (1993), 153. 30 Taubert (1986), 99. 31 Stephanie Schroedters Artikel zum barocken Bühnentanz zeigt die Extreme des Verschmelzungsprozesses bereits im Titel fassbar auf: „‚Ballet comique et crotesque‘ - ‚Ballet comique ou crotesque‘? ‚Barocker‘ Bühnentanz zwischen bewegter Plastik und choreografischem Schauspiel“. Vgl. Schroedter (2006), 377-391. 32 Vgl. ebd., 378. <?page no="208"?> 5.1 Freie Komik-- Artistik 207 tungen (Akrobatik, Schauspiel, Pantomime) auf den ballet comique dynamisiert und erweitert das dramatische Prinzip der nicht nur auf Ästhetik ausgerichteten Virtuosität des Ballettkodexes. 33 Infolgedessen führt der italienische Einfluss zu einer vermehrt ‚komischen‘ Orientierung wie auch theatralischen Darstellung des Genres, die sich in akzentuierten Bewegungsvariationen fernab kodifizierter Bewegungskonventionen zeigt. Der Komik ist in diesem Kontext eine artistische Innovationskraft beizumessen, die sich in einem handlungsorientierten, imitativen Darstellungsmodus präsentiert. Aufgrund der Nähe des Tanzzum Sprechtheater lässt sich das Genre mit dem Etikett ‚stumme Komödie‘ versehen, da der Wegfall der Choreografie den Sachverhalt als Pantomimenspiel darstellen würde. Der ballet grotesque charakterisiert sich hingegen durch Spielarten mit einer betont fantastischen, bizarren samt exotischen Natur in Form bewegter Plastiken, die mit prunkvollen Ausstattungseffekten im Sinne einer peinture in Szene gesetzt werden. 34 Das eher statische, auf Prunk ausgelegte Ballett lässt Einflüsse aus der bildenden Kunst erkennen, 35 die den Begriff der Groteske in engem Zusammenhang zum Ornament erscheinen lässt. Dieser Ornamentcharakter des Tanzes wird größtenteils durch die luxuriösen Kostüme erzeugt, die bei der Performance nicht fehlen dürfen, da sie das fehlende theatralische Moment kompensieren. Sie fungieren als optische Zeichen und geben dem Zuschauer den Typus der dargestellten Figuren erst als solchen zu erkennen. Des Weiteren ermöglichen sie Hinweise auf die Relationen der einzelnen Figuren zueinander. Die ‚komische‘ Grundausrichtung des grotesken Balletts generiert eine defilierte Bilderschau, die von Figuren repräsentiert wird, die sich nicht unbedingt ‚komisch‘ zu betragen haben. 36 Die Bewegung der Tänzer gelangt vor der handlungsorientierten Geste ins Zentrum dieser freien Performance, das Repräsentieren vor dem Agieren. Im Gegensatz zum komischen Ballett, das eine dynamische Schauspielsemantik besitzt, verfügt das groteske Ballett über eine statische Bildsemantik. Obschon der performative Schwerpunkt der unterschiedlichen Tanzgenera unterschiedliche Darstellungsmodi hervortreten lässt, wird der tanzende Körper doch im Sinne eines „objet du comique“ als ikonisches Zeichen inszeniert. 33 Vgl. ebd., 391. 34 Ebd., 384. 35 Die Mimen nahmen die bildende Kunst oft als Modell, von dem sie Emotionen, Situationen, die Komposition der Gesten und weitere Informationen für ihre Kunst ableiten konnten. Vgl. Verschaeve (1990), 298. 36 Vgl. Schroedter (2006), 384. <?page no="209"?> 208 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien 5.1.3.1 Ballet comique Die 1667 zum Ende der Trauerzeit um die Königinmutter inszenierte, in den Aufführungskontext des Ballet des Muses eingegliederte Pastorale comique ist Thalia, der Muse der komischen Dichtung und Unterhaltung, gewidmet. Dem Rahmenthema des Festtages geschuldet, lässt die Ballettkomödie durch ihren hohen Anteil an Balletteinlagen das Erbe des komischen Hofballetts durchscheinen und spiegelt zudem im Kleinen den gewünschten Tanztheaterschwerpunkt der Aufführung wider. In Szene VIII der komischen Pastorale intervenieren acht Landarbeiter in die Auseinandersetzung zwischen den Schäfern Lycas und Filène, die sich um die charmante Schäferin Iris zanken. Doch anstatt den Streit zu schlichten, geraten sie untereinander in Streit; dieser wird in einem lebhaften Tanz ausgetragen: „La huitième Scène est de huit Paysans, qui venant pour séparer Filène et Lycas, prennent querelle et dansent en se battant.“ ( PC , 778) Choreografische Kämpfe dieser Art sind in den Hofballetten nicht selten anzutreffen, im Ballet des Muses treten sie gleich in dreimaliger Ausführung auf. 37 Die danse querelleuse der paysans steht im Zeichen einer Dramatisierung des Tanzes, da der Tanz den Handlungsverlauf des Sujets aktiv steuert. Das Handlungspotenzial zeigt sich zudem in der urtheatralischen Gestik des Stockschlagens, 38 die in ihrer rhythmischen Umsetzung Einzug in die zweiteilige Choreografie hält, sodass diese ob ihrer Komisierung ein symbiotischkomisches Tanzschauspiel darstellt. Die somästhetische Darbietung setzt sich dominant aus optischen Ausdrucksmitteln zusammen, aus pantomimischen und choreografischen Bewegungsmomenten, die nach dem imitativen Darstellungsmodus des ballet comique eine Übereinstimmung zwischen ausgeführter Bewegung und dargestellter Handlung erkennen lassen. 39 Das Geräusch der aufeinanderprallenden Stöcke akzentuiert den Tanzrhythmus und unterstützt die die Performance begleitende Musik, die mit einer schnellen tonleiterartigen Melodieführung ihren Teil zur Lebhaftigkeit der Szene beiträgt. 40 Es entsteht im Zuge der Kombination der Künste ein Performancekonglomerat, das sich aus improvisatorischen wie auch inszenierten Elementen zusammenfügt, und ein Bühnenbild schafft, in dem alltägliche mit nicht-alltäglichen Darstellungsformen verbunden werden. Das eher frei gehaltene komische Körper- und Mienenspiel wird im Rahmen der organisierten Schrittfolge der Choreografie zusammen- 37 Vgl. Louvat-Molozay und Piéjus (2010), 1494. 38 Den paysans wird traditionell der bâton attribuiert, sodass man hier auch von einer danse de bâtons sprechen kann. Diese ist beispielsweise auch im zweiten Intermedium in La Princesse d’Élide zu sehen: „[H]uit Paysans armés de bâtons à deux bouts et d’épieux […].“ (PdE, 556) 39 Vgl. Balme (2008), 117. 40 Vgl. Partitur: Lully (1690 [1666]), 36. <?page no="210"?> 5.1 Freie Komik-- Artistik 209 gehalten, denn der Oberkörper bringt Gefühle und Handlung zum Ausdruck, wohingegen die Beine davon unbeirrt komplexe Muster auf dem Boden abbilden. 41 In Szene IX wird das komische Gerangel durch den edlen Schäfer Coridon aufgelöst, der die Landarbeiter wieder zu versöhnen vermag. Dem euphorischen Charakter der Pastorale angemessen tanzen sie daraufhin vereint einen Reigen mit markierter Rhythmik ohne augenfälliges theatralisches Supplement. 42 Dieser einheitsstiftende Tanz entspricht einer rein nicht-alltäglichen , einer künstlichen Performance, da er sich durch einen inszenierten Charakter ohne improvisatorisches Moment auszeichnet. Die Performance wird schließlich enttheatralisiert und gewinnt an tänzerischem Ausdruck. Sonach kontrastieren die beiden aufeinanderfolgenden Choreografien semantisch wie auch inszenatorisch miteinander. Sie konturieren die stärker akzentuierte Gestik der danse querelleuse , mit der Folge, dass ihr komischer Gehalt rückwirkend zur Geltung kommt und das unzivilisierte Buhlen der beiden Schäfer in der irenischen Aktion Coridons ironisiert und neutralisiert wird. 5.1.3.2 Ballet grotesque In Le Mariage forcé manifestiert sich in der première et deuxième entrée im ersten Intermedium das Substrat des ballet grotesque . Diese Szenen sind als inneres Rollenspiel in einem äußeren Rollenspiel eingerahmt, wobei der schlafende Sganarelle am Bühnenrand letzteres repräsentiert. Aufgrund dieser Struktur erfahren die Tänze eine Dramatisierung, wobei sie kein das äußere Rollenspiel vorantreibendes Handlungsmoment haben. Ihnen ist keine imitative, sondern eine selbstreflexive Funktion zuzuschreiben. Deshalb sind auch die Regieanweisungen spärlicher gehalten als sonst üblich, reflektieren sie doch in ihrer Kürze das ausgesparte Handlungspotenzial wie auch den ostentativen Charakter der bildhaften Darstellung, der den malerischen Einfluss der bildenden Kunst aufzeigt: p reMière e ntrée La Jalousie, les Chagrins, et les Soupçons. d euxièMe e ntrée Quatre Plaisants, ou Goguenards. ( MF , 962 f.) 41 Vgl. Weickmann (2002), 30. 42 Vgl. Louvat-Molozay und Piéjus (2010), 1494. <?page no="211"?> 210 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Die tanzenden Allegorien des ersten Entrees 43 machen das Unsichtbare sichtbar. Sie personifizieren Sganarelles Heiratszweifel und setzen diese in einem ruckartigen Tanz, der musikalisch von Achtel- und Sechzehntelfiguren wie auch von Tempowechseln begleitet wird, als beunruhigenden Traum respektive Albtraum um. 44 Das fehlende Handlungsgefüge lenkt den Fokus auf den Präsenzeffekt, der durch eine die abstrakten Begriffe begreifbar machende kostümbildnerische Gestaltung ebenso wie durch eine eindeutige Mimik der Tänzer gestützt wird. Die Affekte werden mit ihrer Ornamentik zu einem prächtigen Bühnenbild menschlicher Ängste stilisiert und repräsentieren unmittelbar die seelischen Vorgänge Sganarelles. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Allegorien mit den streng geometrischen Prinzipien der Bewegungs- und Raumgestaltungen der barocken Tanzkunst inszeniert wurden. 45 Diesem bildhaften ‚Allegorientanz‘ fiktiver Plastiken in Moll folgt ein lebhafter Tanz in Dur mit vier Witzfiguren oder Spöttern, 46 der durch die punktierte Musik groteske Bewegungen bedingt, 47 dabei aber die vorherrschenden Symmetrien nicht unbedingt durchbricht und die Heiterkeit seiner Figuren spielerisch-komisch aufnimmt. Zudem fokussiert die Tanzeinlage die lächerliche idée fixe Sganarelles, die die Zweifel heraufbeschwört und deren Bedeutung sich späterhin im äußeren Rollenspiel zeigt. Die dargestellten Figuren sind der fragmentarischen Bildlichkeit der Traumwelt entnommen und weisen keine kohärenten Handlungsmomente auf; ihre lebhafte Repräsentation kommt ohne theatralische Gestik aus. Der Kontrast zwischen der traurig-grotesken Balletteinlage der Allegorien und der fröhlichgrotesken Balletteinlage der Spötter zeigt sich zudem kostümbildnerisch. Die Wechselwirkung schafft eine Abwechslung und steigert in ihrer Kontrastierung die komische Wirkung in der Gesamtheit des Intermediums. Neben dieser auf affektive Wechselwirkung bedachten Tanzformation verschiedener Entrees innerhalb eines Intermediums kann der ballet grotesque auch ohne diese sukzessiven Interdependenzen innerhalb einer Kunstrichtung inszeniert werden, und zwar simultan mit verschiedenen Künsten wie in der Cérémonie Burlesque 48 in Le Malade imaginaire . Trotz der dramatischen Rele- 43 Vgl. Partitur: Lully (1690 [1664]), 23. 44 Vgl. Mazouer (1993b), 107. 45 Vgl. Schroedter (2006), 378. 46 Diese komischen Figuren gehören zum Repertoire der Ballettkomödie. Häufig sind sie ob ihres italienischen Erbes auch dieser Tradition nach benannt. Dies zeigt sich zum Beispiel in L’Amour médecin in Akt II, Szene VII: Plusieurs Trivelins et plusieurs Scaramouches, valets de l’Opérateur, se réjouissent en dansant. (AM, 624). 47 Vgl. Partitur: Lully (1690 [1664]), 24. 48 Der Begriff ‚burlesque‘ wurde im frühen 17. Jahrhundert häufig als Synonym für ‚grotesque‘ verwendet, jedoch im fortschreitenden Jahrhundert immer mehr durch letzteren ersetzt. Vgl. Schroedter (2006), 384. <?page no="212"?> 5.1 Freie Komik-- Artistik 211 vanz dieser Zeremonie beinhaltet sie immerfort Tänze, die keine explizite Handlungsintention implizieren und als selbstreflexive Elemente innerhalb Argans Krönung zum Arzt den zeremoniellen Charakter derselben hervorheben und durch das Zusammenspiel mit Musik und Sprache als totales Theaterbild inszeniert werden. Nachdem der eingebildete Kranke sein Rigorosum bestanden hat, endet auch das Frage-Antwort-Spiel des ersten Teils des Finales und mithin die Gesamtintrige der Ballettkomödie. Im zweiten Teil findet nur eine Huldigung des Gekürten statt; dafür werden Tanz, Musik und Sprache inszeniert und das Ende der Ballettkomödie in einem grotesken Abgesang besiegelt: e ntrée de b allet Tous les Chirurgiens et les Apothicaires dansent au son des Instruments et des Voix, et des battements de mains et des Mortiers d’Apothicaires. ( MI , 718) Die 14 Tänzer (sechs Apotheker und acht Chirurgen) nehmen mit ihrem Händeklatschen den feierlichen Rhythmus der Musik auf und setzten mit ihren lebhaften Bewegungen das vom Chor repetitiv vorgetragene Leitmotiv „ vivat Novus Doctor “ ( MI , 718) somästhetisch um. Festzuhalten ist hierbei eine deutliche Materialisierung von musikalischen Strukturen im Tanz. 49 Ausgestattet mit ihren dunklen Roben und ihren klirrenden Mörsergefäßen, die zudem als Perkussionsinstrumente dienen, erzeugen sie tanzend ein unterhaltsames optisches wie auch akustisches Spektakel, 50 das sie mit ihrem Sprechgesang in makkaronischem Latein verbal vervollkommnen. Die finale Szene feiert die Eintracht der Künste und lässt den selbstreflexiven wie auch repräsentativen Charakter des ballet grotesque erkennen. Dadurch rückt die Frage nach der Sujethaftigkeit der histoire aus dem Fokus der Darstellung und der Zuschauer versucht die Choreografie im Sinne eines L’art pour l’art zu deuten: Just as they [the dances, Anm. S. W.] reflect themselves, however, they also inevitably reflect the viewers in the process of searching for and producing meaning for the dances. As part of that search, viewers may begin to examine more closely the dance’s frame - its architectural context and the dancers’ focus - and also conventions that have yet to be considered: the style of the dance, its vocabulary, and its syntax. 51 49 Vgl. Köllinger (1975), 70. 50 Die dialogisch aufgebaute Partitur der mortiers stellt einen durch Achtelnoten evozierten Rhythmus hervor, der das chorische „ Vivat “ begleitet. Vgl. Partitur: Charpentier (1990 [1682]), 194. 51 Foster (1986), 76. <?page no="213"?> 212 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Die das Finale auszeichnende Künstefusion ist ein häufig auftretendes Performancemerkmal der Ballettkomödie, die den Körper der Darsteller zu einem multimedialen „objet du comique“ werden lässt. Es ist letztlich festzuhalten, dass die Gestaltungsmöglichkeiten von ‚getanzter Komik‘ in der Ballettkomödie auf die beiden Tanzgenres, den ballet comique und den ballet grotesque , zurückgehen . Dieser hybriden Quelle zufolge zeichnet sich das choreografische Schauspiel durch einen Variationsreichtum der Performances aus, die stärker das theatralische Bewegungsvokabular der commedia dell’arte akzentuieren oder, nicht minder, mit ihren malerischen Plastiken für eine komische Choreografie sorgen. Dennoch lässt sich eine Tendenz zu den eher handlungsorientierten Einheiten erkennen, die Jean Georges Noverre im 18. Jahrhundert in seinem ballet d’action weiter ausbauen und das Ballett der Komödie unter diesem Gesichtspunkt angleichen wird. Der komische beziehungsweise groteske Tanz verlangt dem Darsteller eine große körperliche Geschicklichkeit ab, um der Idee des bisweilen multimedial einzusetzenden Körpers in vollem Umfang gerecht zu werden. Für eine Ausführung dieser Tanzgenres ist sonach schauspielerisches, musikalisches und rhythmisches Empfinden von Belang. 5.1.4 Freie Performance des singenden Mimen Das Musiktheater verfügt über dominant akustische Ausdrucksformen. Es können freie Komikformen in diesem Bereich auftreten. Die akustischen Ausdrucksformen zeichnen sich im Musiktheater durch eine nicht-alltägliche Performance aus, die von verbalen wie auch nonverbalen Zeichen geprägt ist. Erstere werden durch Sänger auf der Bühne vorgeführt, während letztere von Musikern instrumentell hervorgebracht werden, die sich sowohl auf der Bühne als Teil der Inszenierung als auch vor dieser im vom Publikum sichtbaren Präszenarium befinden. 52 Demnach ist das spielende Orchester durch die prozessbedingten Aufführungsanforderungen an das nonverbale Aufeinanderabstimmen zwischen Dirigent und Musiker sowie zwischen Dirigent und Tänzer respektive Schauspieler Teil der Performance, 53 obgleich es in einem nicht der Illusion zugehörigen Raum sitzt. 52 Siehe Abbildung 2. Kupferstich von Jean le Pautre: Troisième journée, Les Divertissements de Versailles donnez par le Roy à toute sa Cour au retour de la conqueste de la Franche- Comté en l’année MDCLXXIV . 53 Die Koordination gelingt über Gestik (z. B. Einsätze des Dirigenten), Mimik (z. B. Blickkontakt) und Körperbewegungen (z. B. Kopfnicken als Impuls für einen Einsatz). Vgl. Boerner (2002), 265. <?page no="214"?> 5.1 Freie Komik-- Artistik 213 Das Besondere an Musik ist, dass sie keine mimetische Kunst ist und eine spezifische musikdramatische Verstehensweise voraussetzt. 54 Musik konturiert in diesem Kontext den Bedeutungsgehalt der gesungenen Wörter und beeinflusst die darzustellende Situation sowie die Charakterisierung der Figuren entscheidend. All diese Nuancierungen sind sorgfältig im Notentext der Ballettkomödien angelegt: On vérifierait alors l’extrême attention des musiciens [Lully et Charpentier, Anm. S. W.] à la prosodie et à la versification (accents, coupes, pauses, utilisation des e muets, qui ne sont rien moins que muets pour le musicien, respect des enjambements), à la syntaxe du discours, à sa signification, aux sentiments, à la personnalité fictive du personnage incarné par le chanteur et au contexte de son chant. 55 Im Musiktheater wird das rein akustische Moment der Musik durch einen optischen Träger, den singenden Schauspieler, inszeniert, der durch seine Verwicklung in die histoire der Musik ein schauspielerisches Moment hinzufügt und sie dem Zuschauer im Zuge dieser optischen Konkretisierung zugänglich macht: Vokal- und Instrumentalmusik werden in theatralischen und choreografischen Bewegungen materialisiert und sichtbar gemacht; sie übersetzen Töne in die Semantik ihrer jeweiligen Sprachen. Der expressive Charakter von Lullys Musik eignet sich besonders für eine theatralische Umsetzung. Neben dieser für die Bewegungsaktion stimulierenden Funktion kann Musik auch eine begleitende Funktion haben, die nicht primär auf eine Synchronisierung von Ton und Geste abzielt. Die reduzierte Umsetzung musikalischer Ausdrucksfähigkeit gerade bei Hintergrundmusik spiegelt das unbeugsame Dogma der Zeit wider, dass Musik lediglich Affekte ausdrücken, nicht aber für essenzielle dramatische Bindungen sorgen könne, wie Friedrich Böttger feststellt. 56 In diesem Verständnis der Zeit sind Letztere erst in einträchtiger Kombination mit dem optischen Träger möglich. Dieser kann selbst ein Sänger sein oder in einer anderweitigen dramatischen Funktion als Sprechschauspieler wie auch als Tänzer in der Handlungswelt der Ballettkomödie in Erscheinung treten. Dennoch lässt sich Musik sowohl in ihrer stimulierenden als auch in ihrer begleitenden Funktion als 54 Vgl. Schläder (1990), 129. Bei einer musikdramaturgischen Analyse kann die bedeutungstragende Funktion von Musik bezüglich der dramatischen Handlung untersucht werden oder Musik aus einer musiktheoretischen Perspektive betrachtet werden, die ihre Unsemantisierbarkeit betont. Vgl. Balme (2008), 104. Dem eher literatur- und kulturwissenschaftlichen Schwerpunkt der Arbeit geschuldet wird einer musikdramaturgischen Analyse der Vorzug gegeben, die den Fokus auf die Musik im Bedeutungsradius der dramatischen Handlung richtet. 55 Mazouer (1993b), 112. 56 Vgl. Böttger (1979 [1930]), 62. <?page no="215"?> 214 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien übergeordnetes Prinzip der Performance verstehen: Die immanente Ordnung der Musik gibt die choreografische Ordnung wieder. 57 Ferner ist die Synchronisierung von Musik und Bewegung in der Eigenschaft eines einheitlichen nouveau langage théâtral zu verstehen, der als ästhetisches Leitprinzip der Ballettkomödie fungiert: Der art du geste gilt im 17. Jahrhundert als ebenso wichtig wie der art du chant . 58 Gemäß diesem ästhetischen Empfinden fusioniert auch der optische mit dem akustischen Ausdruck im siècle classique . 5.1.4.1 „Un petit Opéra impromptu“ In Le Malade imaginaire werden die dramatischen Figuren Angélique und Cléante zeitweise selbst zu Sängern in der Handlungswelt; sie werden von sprechenden zu singenden Darstellern und aktualisieren den akustischen Ausdruck in ihrem komischen pastoralen Duett, das aufgrund seiner Plötzlichkeit etwas vom Charakter einer Gesangseinlage einbüßt. Der Darstellungscharakter der Szene bleibt aber ob der Schäferthematik wie auch ob des Spiels im Spiel dominant erhalten. Die Intrigenspinnerin Toinette führt Cléante als Vertretung von Angéliques unpässlichem Musiklehrer bei dem von den verheiratungswütigen Eltern veranlassten Kennenlernen von Angélique und Thomas ein. Argan bittet den falschen Maître de Musique seine Tochter zum Vorsingen vor den Anwesenden zu animieren und verschafft den beiden Liebenden unverhofft eine Plattform für ein reziprokes Liebesgeständnis, denn: „ [S]ous le nom d’un Berger, [Cléante, Anm. S. W.] explique à sa Maîtresse [Angélique, Anm. S. W.] son amour depuis leur rencontre; et ensuite ils s’expliquent leurs pensées l’un à l’autre en chantant […].“ ( MI , 678) In seiner Funktion als Gesangslehrer erklärt Cléante Argan den Sachverhalt der zum Stegreifspiel geeigneten Gesangseinlage: C’est proprement ici un petit Opéra impromptu, et vous n’allez entendre chanter, que de la Prose cadencée, ou des manières de Vers libres, tels que la passion et la nécessité peuvent faire trouver à deux personnes qui disent les choses d’eux-mêmes, et parlent sur-le-champ. ( MI , 677 f.) Die musikalische Kommunikation ist eine Art Geheimsprache zwischen den Liebenden, die trotz ihrer transparenten Botschaft von den anderen nicht verstanden wird: „a rgan en colère : Voilà un sot Père que ce Père-là, de souffrir toutes ces sottises-là, sans rien dire.“ ( MI , 681) Der pater familias verkennt den in der Metafiktion dargestellten Bezug zu seiner Lebenswelt, den die Liebenden in der sozialen Utopie der Pastorale evozieren; sie personalisieren die stereo- 57 Vgl. Schläder (1990), 139. 58 Vgl. Verschaeve (1990), 293. <?page no="216"?> 5.1 Freie Komik-- Artistik 215 typen Schäferfiguren mit sich selbst. 59 Musik und Text gestalten zusammen eine metafiktionale Handlungswelt, die den Liebenden als gemeinsamer Fluchtraum dient. Sie drücken ihre Gefühle über das Medium des Gesangs unter dem Deckmantel einer petite Opéra im gesellschaftlich akzeptierten Raum aus. Der ebenso im Diskurs thematisierten Traurigkeit über die Unerreichbarkeit der Liebe zu Beginn der Arie begegnet Charpentier musikalisch mit einer gebrochenen Rhythmik und einer hohen Zahl an Versetzungszeichen, die vermehrt die traditionell den Liebesschmerz ausdrückende, fallende kleine Sekunde, die ‚Seufzersekunde‘, erzeugen. Zugleich setzt er die Freude über die Zuversicht der erwiderten Liebe musikalisch um, indem er in der Mitte des Singspiels mit einem ausgewogenen Rhythmus im 3 / 4-Takt und einer harmonischen Tonalität der Traurigkeit zu trotzen scheint. Die rhythmische Unruhe kehrt beim Gedanken an den Rivalen wieder, die sich in einem abrupten Taktwechsel zeigt, 60 der den Liebesgesang jäh unterbricht und einen hektischen und aufgrund seiner Plötzlichkeit komisch wirkenden Rhythmus zum Vorschein bringt und die verzweifelte Stimmung der Liebesklage akzentuiert; das Duett schließt klassisch auf der Tonika mit der dreifachen Aussage „ plutôt mourir “ (MI, 681), 61 womit der musikalische Endpunkt auch den semantischen der Aussage hervorhebt. 62 Dem Repetitionsmoment ist wie dem Kontrastierungsmoment eine karikaturistische 59 Der Einsatz einer Gesangseinlage mit semantischer Ambiguität um jemanden zu täuschen ist ein beliebtes lazzo in der spanischen comedia , das bevorzugt von den französischen Dramatikern der Zeit übernommen wurde. Vgl. Forestier, Riffaud und Piéjus (2010), 1576. 60 An der Stelle im Notentext, an der der Rivale (MI, 680) im Gesangstext thematisiert wird, drängen sich zwei 3 / 4-Takte zwischen die 4 / 4-Takte und stören auf diese Weise die Rhythmik der Passage, wie sich gleichermaßen der Rivale störend zwischen die Liebenden Tircis und Philis drängt. Vgl. Partitur: Charpentier (1990 [1682]), 121. 61 Vgl. Mazouer (1993b), 124. 62 John S. Powell liefert eine sich auf Marc-Antoine Charpentiers Règles de composition stützende Analyse der Szene, die komplementär zu meiner zu verstehen ist: „Charpentier’s music is particularly effective in depicting the quicksilver changes of emotion that typify young people in love. Cléante (Tircis), in a short-breathed recitative, implores Angélique (Philis) to break her harsh silence. Her response takes the form of a contoured arioso line with ports de voix , whereby she describes the visible signs of her turmoil: her line rises as she describes lifting her eyes to the heavens, descends as she looks upon her earthly beloved, and settles on a drawn-out cadence in B minor (a key that Charpentier described as ‚solitary and melancholic‘) as she heaves a sigh. When Angélique finally confesses her love, Cléante expresses his delight by modulation to A major (a ‚joyous and rustic‘ key, according to Charpentier). The stately descent of Cléante’s strutting apostrophe […] mirrors the powerful surveying their subjects from on high. Catching sight of Thomas Diafoirus, Angélique’s fiancé, momentarily interrupts Cléante’s ecstasy, but Angélique quickly assures him that she would rather die than consent to such a mismatch. A sobbing rest breaks her phrase ‚plutôt mourir‘, and her music moves through the ‚tender and plaintive‘ key of A minor before coming to a cadence in D.“ Powell (2000), 117 ff. <?page no="217"?> 216 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Übertreibung inhärent, die der Performance eine ironische Grundhaltung zugesteht. Die performative Herausforderung an die Schauspieler ist in opernhaften Szenen wie dieser eine doppelte: Einerseits müssen sie sich gesanglich beweisen und mit der Virtuosität ihrer Stimme überzeugen, andererseits ist die theatralische Performance ebenso von Belang für eine erfolgreiche Darstellung der Szene, denn Mimik und Gestik geben dem akustischen Ausdruck des Gesangs eine optische Form. Dieser duale Performancemodus ist durch die verstärkt auf Performativität abzielende Spiel-im-Spiel-Situation bedingt, die das tragische Moment durch die Situationskomik nivelliert. Die durch den Medienwechsel markierte Metaebene reflektiert das Konzept der Ballettkomödie, denn sie zeigt auf harmonische Weise die neue Melange der Künste auf. Komisch ist das Hinüberspielen nicht nur aufgrund der semantischen respektive pragmatischen Ambiguität der petite Opéra , sondern auch durch die die Pastorale parodierende Einfachheit der ‚spontan‘ gewählten Worte, die im Sinne der Improvisation mit einer teils plumpen Direktheit adressiert werden und von Redundanzen geprägt sind. Diese ‚Natürlichkeit‘ scheint den nicht-alltäglichen Inszenierungsaspekt der musikalischen Performance abzumildern. Der nicht mehr zeitgemäße Pastoralenstil wirkt so, als wäre er nur noch im Modus der Parodie für das Publikum der Klassik erträglich, denn dieses sucht nicht mehr den Ausdruck eines amour simple , sondern den eines amour galant . Die musikalische Tragik wird im schauspielerischen ‚Improvisationsspiel‘ reflektiert, durch die Parodie aber komisch abgeschwächt. Zugleich ist diese improvisierte petite Opéra als Kritik an dem zeitgenössischen Aufkommen der Oper zu lesen. 5.1.4.2 „Ô! grande puissance de l’Orviétan! “ Schauspieler aktualisieren in ihrer dramatischen Funktion als Sänger mit Nachdruck den Darstellungsmodus des Musiktheaters. In Molières Ballettkomödien treten sie gleichfalls als singende Mimen ohne expliziten Bezug auf ihren Darstellungsmodus auf; sie verzichten auf ein inneres Rollenspiel und nehmen eine dramatische Rolle ein, die nur durch ihre musikalische Performance vom modus operandi der sprechenden Mimen divergiert. Diese Szenen sind von einer starken Theatralität geprägt, die auf den inszenatorischen Effekt des Code-Switching von einer sprechenden zu einer singenden Performance zurückzuführen ist, wie man sie in L’Amour médecin vorfindet: s ganarelle : Holà. Monsieur, je vous prie de me donner une boîte de votre Orviétan, que je m’en vais vous payer. <?page no="218"?> 5.1 Freie Komik-- Artistik 217 l’o pérateur chantant. L’or de tous les climats qu’entoure l’Océan Peut-il jamais payer ce secret d’importance? Mon remède guérit par sa rare excellence, Plus de maux qu’on n’en peut nombrer dans tout un an. La Gale, La Rogne, La Tigne, La Fièvre, La Peste, La Goutte, Vérole, Descente, Rougeole, Ô! grande puissance de l’Orviétan! ( AM , 623) Diese Szene ist von einer binären Struktur bestimmt, wobei die hier nicht angeführte zweite Strophe die Musik der dargestellten ersten Strophe wieder aufnimmt und auch inhaltlich gleich arrangiert ist: Der erste Teil der Arie besteht aus einem in Alexandrinern verfassten Lobgesang auf das Universalheilmittel Orvietan, auf den ein detaillierter Krankheitskatalog in rhythmischen Dreisilbern folgt, dem dieses Antidot überlegen sein soll. Die Aufzählung der Krankheiten deckt sich aufgrund der gleichen Silbenstruktur der einzelnen Wörter musikalisch mit den durch eine Anakrusis leicht versetzten, dreifachen Tonrepetitionen, die terrassenartig arrangiert sind. 63 Das repetitive Moment der Indispositionen lässt den Gesang wie einen komisch gearteten monotonen Orakelspruch wirken, der sich beim Kaufverzicht zu erfüllen vermag. Der Wundermittelverkäufer wird als singender Mime eingeführt, womit die der Figur traditionell attribuierte Marktschreierei und Possenreißerei ästhetisch entfremdet und zu einem mit Musik untermalten Gesang transformiert wird. Durch die Enthebung zu einer mystischen Singfigur wird die Glaubwürdigkeit des Scharlatans bereits durch seinen Performancemodus infrage gestellt. Der gravitätische basso cantante der Figur verstärkt ihren delphischen Charakter musikalisch, den Lully in Anlehnung an die italienische Oper Autoritätsfiguren zuteilt oder, wie hier, auch komischen Rollen. 64 Ferner ist die Figur optisch als Magier gewandet, und auch der Schauspieler richtet seine Mimik dem Archetyp dieser magischen Figur nahe aus, wobei laut Text auch seine Geldgier hyperbolisch darzustellen ist. 65 Letztendlich ist die freie Performance des singenden Mimen von einer Dualität bestimmt, die Akustisches und Optisches miteinander verbindet. Dies ist 63 Vgl. Partitur: Lully (1690 [1665]), 49 f. 64 Vgl. Louvat-Molozay, Bourqui und Piéjus (2010), 1431. 65 Die dritte Performancemöglichkeit des singenden Mimen ist in der Kombination von Musik und Tanz zu finden, im singenden und zugleich tanzenden Darsteller. Ein Beispiel ist im Kapitel zum tanzenden Mimen am Beispiel des Malade imaginaire gegeben, wo die beiden Künste mit ihren jeweiligen Performances einträchtig miteinander zu einer finalen Gesamtperformance verschmelzen. <?page no="219"?> 218 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien der Tatsache geschuldet, dass das Theater ein optisches Medium ist, das seinem altgriechischen Etymon θέατρον (Schaustätte) zufolge etwas zeigen möchte. 66 Die akustischen Aspekte der musikalischen Performance sind auf einen optischen Träger angewiesen, der sie theatralisch umsetzt. Dies führt zu einer in der Zeit typischen Parallelität beziehungsweise Spiegelung von Musik und Bühnenaktion im Sinne des einträchtigen nouveau langage théâtral : Die musikalischen Elemente spiegeln sich in der theatralischen Performance wider und vice versa . Zudem existieren im Bereich des Tanzes auch musikalische Einlagen, die ausschließlich eine begleitende Funktion haben und weniger die theatralische Darstellung ihrer Musikmerkmale einfordern, aber für die Choreografie einen kreativen und stützenden Rahmen schaffen. Fazit Die freie Komik wird dem Zuschauer durch die unterschiedlichen Hauptrepräsentationsarten wie auch deren vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten dargeboten und über die theatralische Kommunikationsebene vermittelt. In dieser Schwerpunktverlagerung innerhalb des Kommunikationssystems liegt der Schlüssel für die moralische Indifferenz des hier vorgeschlagenen Komiktheorems. Die optischen wie auch akustischen Ausdrucksformen der Performances des sprechenden, tanzenden und singenden Mimen können handlungsinszenierend und -treibend sein. Dabei sind sie „situationsgebunden und okkasionell, flüchtig und kontingent, erlebnishaft und innovativ“ 67 . Im Changieren zwischen alltäglicher und nicht-alltäglicher Performance liegt der ästhetische Reiz des theatralischen Spiels der freien Komik. Die freien Performances evozieren ein lebendiges und variationsreiches theatralisches Spiel mit expressivem Charakter, welches das vom höfischen ennui konsternierte Publikum komisch erheitert und in ein rire d’accueil , um es mit Eugène Dupréels Worten zu sagen, 68 einstimmen lässt. Es ist ein unbeschwertes Lachen, „ein Lachen vitaler Zustimmung zu unerwarteten Möglichkeiten, ein Lachen der Ausschweifung, der emotionalen Abreaktion, das sich von keiner Moral regieren läßt“ 69 . In diesem Sinne ist das Komische, verstanden als ästhetischer Wert, das Konträre zum Lächerlichen. Seine Essenz besteht aus einer artistischen Magie, die den Dämon des Hohnlachens zu verzaubern weiß und ihn unschädlich macht: 70 66 Vgl. Brauneck (2001), 1019. 67 Velten (2003), 151. 68 Vgl. Thiele (2007), 46. 69 Wellershoff (1976), 425. 70 Vgl. Souriau (1948), 148. <?page no="220"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 219 u ne é gyptienne Sortez, sortez de ces lieux, Soucis, chagrins et tristesse, Venez, venez, ris et jeux, Plaisirs, amour et tendresse, Ne songeons qu’à nous réjouir, La grande affaire est le plaisir. (MdP, 249) Die einzigartige Komikästhetik des Dodekamerons entsteht im Bereich der freien Performance aus der Künstepluralität dieses Totaltheaters, welches sich als „un cabinet de Tableaux de tous genres“ 71 repräsentiert. Die Vereinigung der Künste erzeugt eine Überschreitung der Gattungsgrenzen innerhalb der Künste. Im Zuge des Einheitsstrebens der Darbietung vermengen sich die Performances, die die einzelnen Subgattungen des Theaters repräsentieren: Each genre […] has inherent within it the qualities of the others. Music can speak, and ballet can express comedy. There is „correspondance” between the genres, and it is this correspondence, explored and developed by Molière and his contemporaries […]. 72 Der Prunk der Kostüme und die formvollendeten theatralischen, musikalischen sowie choreografischen Einlagen ziehen die Zuschauer in ihren Bann und überblenden die sozialen Makel in der Ballettkomödie, die dessen ungeachtet latent erkennbar bleiben: Vous les [comédies, Anm. S. W.] verriez dans un état beaucoup plus supportable, et les Airs, et les Symphonies de l’incomparable Monsieur Lully, mêlés à la beauté des Voix et à l’adresse de Danseurs, leur donnent, sans doute, des grâces, dont ils ont toutes les peines du monde à se passer. ( AM , 603) 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire „Was hindert mich, lachend die Wahrheit zu sagen? “ Horaz Die Darstellung der zeitgenössischen Gesellschaft im Hinblick auf la connaissance de l’homme ist das bevorzugte Thema der Literatur des 17. Jahrhunderts. Jean de La Fontaine, Jean de La Bruyère und François de La Rochefoucauld zeichnen 71 Verschaeve (1990), 298. 72 Coe (1988), 119. <?page no="221"?> 220 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien neben anderen Schriftstellern mit ihren unterschiedlichen literarischen Genres ein negatives Bild vom Menschen. Auch Molière geht mit dieser sozialkritischen Geistesströmung sehr wohl mit. Der Anspruch einer „peinture de leurs défauts [des hommes, Anm. S. W.]“ ( LT , 93) weist dem molièreschen Œuvre die Lesart einer comédie de mœurs zu, eines „comique significatif “ 73 . Dahinter steckt das Prinzip der doctrine classique , die der französischen Komödie eine ‚Ästhetik der Bedeutung‘ abverlangt. Die Darstellung menschlicher Makel im Theater lässt ein Grundprinzip erkennen: Das Moralische beziehungsweise Moralistische wird demnach im Modus der Komik im Sozialen sichtbar; in dieser Hinsicht zielt die sozialkritische Komik auf die moralischen und sozialen Abgründe der Menschheit im siècle classique ab: „[L]’affaire de la Comédie est de représenter en général tous les défauts des hommes, et principalement des hommes de notre siècle“ (IdV, 833), wie Molière Brécourt, homme de qualité , in L’Impromptu de Versailles verlautbaren lässt. Neben dem Aufzeigen menschlicher Schwächen fügt Molière im Premier Placet seines Tartuffe überdies hinzu, dass er - indem er sie in seinen Theaterstücken der Lächerlichkeit preisgibt - jene zu korrigieren gewillt ist. So zumindest kündigt er es hier als Grundmaxime für sein komisches Theater an: „Le Devoir de la Comédie étant de corriger [les vices, Anm. S. W.] des Hommes, en les divertissant […].“ ( LT , 191). Er spricht dem Theater „une grande vertu pour la correction“ ( LT , 93) zu. Die Idee der Belehrung, die dazu dienen soll, „von Fehlern durch die Stachel des Tadels abzuschrecken - die [der Satiriker], damit man es ruhiger aufnimmt, mit Scherz und Lachen überdeckt“ 74 , ist in der Antike verwurzelt. Sie erinnert an die aristotelische Katharsis, die eine Läuterung der Seele proklamiert, die im Zuschauerlachen stattfinden soll. Die satirische Katharsis ist mit dem Postulat der Besserung konnotiert, das im Gegensatz zur Katharsis des antiken Trauerspiels vor der Affektbereinigung steht. Darüber hinaus weist Molières Programmatik den Kerngedanken eines weiteren antiken Denkers auf: Horaz. Die horazische Formel des ridendo dicere verum galt den Satirikern der Klassik als poetologisches Leitmotiv, das ihnen einen vernünftigen Ansatz zur Wahrheitsfindung bot. Dieser Auftrag von Horaz an die Kunst stellt zusammen mit Aristoteles’ Anspruch implizit ein Korrekturdispositiv dar; zugleich liefern beide Forderungen einen Rechtfertigungsgrund für die teils vehementen satirischen Attacken auf einzelne oder ganze soziale Gruppen. Das Hauptaugenmerk soll sich im Folgenden auf die moralische Ebene in den Ballettkomödien richten, auf die Darstellung des Betragens der Figuren im hypertrophen Gesellschaftsmodell der Fiktion. Molière wird dabei als Satiriker 73 Bertrand (1995), 216. 74 Zitat von Giovanni Antonio Viperano in Brummack (1971), 303. <?page no="222"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 221 betrachtet, der durch komische Imitation des gesellschaftlich Inakzeptablen Spott generiert und eine Darstellung des Normwidrigen zu sozialem Zweck intendiert. Die satirische Gesinnung der Ballettkomödie macht deutlich, dass der Adressat, also das höfische Publikum, bewusst in die Vorüberlegungen zu den Stücken miteinbezogen ist, denn es wird zum Verlachen derjenigen genötigt, die auf der Bühne als Satireopfer dargestellt werden, und kann nicht selbst Zielscheibe des spöttischen Angriffs sein. Dieser Sachverhalt macht eine weitere Grundkonstante einer für die Bühne verfassten, satirischen Dichtung deutlich, nämlich die der ‚expliziten Implizitheit‘, die der Satiriker dadurch gewährleistet, dass er ob der Aufführungssituation explizit das Absente vor dem Präsenten - die Absenten vor den Präsenten - und im anthropologischen Spektrum implizit das Absente im Präsenten - das Verdrängte im Präsenten - anprangert. Die ‚Ästhetik der Bedeutung‘ ist ausschließlich im Darstellungsmodus einer ‚expliziten Implizitheit‘ geduldet. In diesem sozialen Spektrum beleuchtet Molière moralische und soziale Phänomene der Zeit unter sozialkritischen Gesichtspunkten und entwirft ein kritisches Gesellschaftsporträt allgemeiner sozialer Typen, von denen sich die Zuschauerschaft von la cour et la ville nach außen hin mit moralischem Dünkel selbstbewusst distanziert und sich in ihrer Abgrenzung zugleich selbst als vorbildliche Gruppe definiert. Um jegliche direkte Bezüglichkeit zwischen Fiktion und Realität auszuschließen und dem Gebot eines einträchtigen plaire zu entsprechen, zielt Molières Hohn nicht auf individuelle Persönlichkeiten aus dem Umfeld der höfischen Gesellschaft ab, sondern auf allgemeine Personengruppen, die als fâcheux das soziale Zusammenleben am Hof mit ihren défauts und vices stören und von den Zuschauern als Randgruppen beziehungsweise Außenseiterfiguren wahrgenommen werden. Freilich sind gewisse Übereinstimmungen zwischen den fiktionalen Figuren und realen Personen nicht immer gänzlich zu vermeiden, schließlich spiegelt sich das Allgemeine nicht nur im Persönlichen wider, sondern zielt bisweilen auch auf das allzu Persönliche ab. Molière bekräftigt jedenfalls unermüdlich, auch innerhalb der Fiktion seiner Werke, dass er nicht beabsichtige, einzelne Personen des öffentlichen Lebens mithilfe seiner komischen Dramatis personae an den Pranger zu stellen, und weist jeden Vorwurf als üble Nachrede seiner Feinde von sich: b réCourt : [Molière, Anm. S. W.] disait que rien ne lui donnait du déplaisir, comme d’être accusé de regarder quelqu’un dans les portraits qu’il fait. Que son dessein est de peindre les mœurs sans vouloir toucher aux personnes; et que tous les personnages qu’il représente sont des personnages en l’air, et des fantômes proprement qu’il habille à sa fantaisie pour réjouir les spectateurs. Qu’il serait bien fâché d’y avoir jamais marqué qui que ce soit; et que si quelque chose était capable de le dégoûter de faire des Comédies, c’était les ressemblances qu’on y voulait toujours trouver, et <?page no="223"?> 222 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien dont ses ennemis tâchaient malicieusement d’appuyer la pensée pour lui rendre de mauvais offices auprès de certaines personnes à qui il n’a jamais pensé. […] Comme l’affaire de la Comédie est de représenter en général tous les défauts des hommes, et principalement des hommes de notre siècle; il est impossible à Molière de faire aucun caractère qui ne rencontre quelqu’un dans le monde. (IdV, 833) Die Waffe der satirischen Komik zielt in Molières Ballettkomödien explizit auf die historisch-gesellschaftlichen vices und implizit auf die im Sinne der Moralisten gedachten, allzu menschlichen vices der „personnages en l’air“ ab, 75 die in einer ästhetisch zugespitzten Imitation auf der Bühne verspottet werden. So stellt der Komödiendichter geschickt ein artistisches Prinzip über das lebensweltliche, seinen künstlerischen Ausdruck über die ihm unterstellte Rache gegen Einzelne und entgegnet mit einem modernen Kunstverständnis, der künstlerischen Freiheit. 76 Dennoch wäre es zu idealistisch und in Anbetracht von Molières Vita und Charakter naiv, seine zahlreichen Feinde nicht in der einen oder anderen Karikatur wiedererkennen und dem Autor rein artistische Interessen bezüglich seiner Persiflage zuschreiben zu wollen. Der letzte Satz der angeführten Rede Brécourts kann sonach als Wink mit dem Zaunpfahl verstanden werden. 77 Die Analyse einer sozialkritischen Komik beleuchtet die historisch-gesellschaftlichen vices der Figuren des dramatischen Spiels, das im Sinne von Mo- 75 Die moralistischen vices werden im nächsten Unterkapitel aufgezeigt. 76 Zum Vorwurf personenbezogener Schmähungen ist zu erwähnen, dass diese stets vage und spekulativ bleiben. Hierzu ein kommentiertes Fallbeispiel: Mit Les Précieux ridicules (1659) wird das Pariser Publikum erstmals mit der molièreschen Satire eines sozialen Typs konfrontiert, worauf es heftig reagiert. Noch während der Aufführung wird in den Logen heftig getuschelt und das Gerücht verbreitet, dass mit Cathos zweifellos Cathérine de Rambouillet und mit Magdelon Madeleine de Scudéry gemeint sei. Skandale von diesem Format tauchen stets in Molières Karriere auf, ebben aber in ihrer Heftigkeit kontinuierlich ab, wobei sich vermehrter karikierte Gruppen als Einzelne zu Wort melden. Dies liegt weniger daran, dass Molière seine Satire auf Personen fernab der höfischen Gesellschaft verlagert, als vielmehr daran, dass er sein Publikum über die Jahre mit seinen poetologischen Komödien ‚erzieht‘ und bei dem Vorwurf einer Ähnlichkeit zwischen fiktionalen Figuren und lebensweltlichen Personen die bienséance als Rückenwind hat. Denn es schickt sich nicht, sich durch einen selbst heraufbeschworenen Skandal in Szene zu setzen und ob der eigenen Wichtigtuerei selbst zu einem fâcheux zu werden. Zudem will sich niemand öffentlich einer Similarität mit einem Satireopfer bezichtigen. Deshalb schweigt man zusehends und revanchiert sich mit Intrigen gegen Molière, die aber kaum Wirkung zeigen, da hinter dem Dramatiker immer der Schatten des Königs vermutet wird. 77 Trotz dieses Hinweises steht Molière im Folgenden nicht als verbitterter Satiriker im Fokus, der persönliche Verletzungen in aggressiver Satire vergelten möchte, sondern als ein für moralische und soziale Vergehen empfindsamer Künstler, der diese mit seiner Gabe darzustellen vermochte. <?page no="224"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 223 lières poetologischen Äußerungen als eine durch die Fiktion verzerrte imitatio vitae lesbar ist: „[I]l faudrait donc transformer en miroir déformant le scrupuleux et élégant speculum vitae , la reproduction fidèle de la vie, source du plaisir immédiat, ‚immanent‘, de ressemblance.“ 78 Die Nachahmung der Lebenswelt realisiert er in seinen Ballettkomödien „dans les bornes de la satire honnête […]“ ( PR , 4), indem er der bienséance Folge leistet und im Zerrspiegel der Satire eine fiktive imago veritatis der Gesellschaft kreiert. Welche sozialen Typen diesen microcosme social mit ihren ausgeprägten historisch-gesellschaftlichen vices gestalten und satirisch in Szene gesetzt werden, wird nachfolgend unter dem Aspekt einer sozialkritischen Komik eruiert; anders ausgedrückt: Wie manifestiert sich das Moralische in komischer Brechung im sozialen Resonanzfeld der Fiktion? Der Aufbau der Analyse ist der Hierarchie der société d’états geschuldet und betrachtet die einzelnen sozialen Gruppen in vertikaler Ausrichtung von oben nach unten. Es werden der zweite und dritte Stand untersucht, da der erste in den Ballettkomödien aus Gründen der bienséance ausgespart ist. Zudem wird ein kritischer Blick auf andere Nationen geworfen, die auch vor Molières Hohn nicht gefeit sind. 5.2.1 Die Aristokraten Im späten Mittelalter und in der Renaissance büßte der französische Adel seine Position als Schutz- und Herrschaftsmacht zunehmend ein und litt schließlich an seiner politischen Funktionslosigkeit unter der absolutistischen Alleinherrschaft des Sonnenkönigs. Mit dem Verlust seiner politischen Ämter und dem damit einhergehenden Machtdefizit waren ebenso die Stützpfeiler seines Reichtums geschwunden. 79 Dies hatte eine weitreichende Verschuldung zur Folge, die vereinzelt zur Verarmung dieser Gesellschaftsschicht führte. Zur Kompensation der Handlungsbeeinträchtigung und der finanziellen Einbußen wurde dem Hofadel ein hohes Maß an sozialem Prestige zuerkannt, denn er galt ob seiner Nähe zur absolutistischen Macht des Staates als privilegiert. Aufgrund seiner Repräsentationsaufgaben nahm er - zumindest wirkte es so nach außen hin - die Stelle ein, an der man die wirkliche Macht des Staates vermutete. Dank seines sozialen Ranges konnte er sich immer wieder Geld leihen; auch schreckte der Adel nicht vor Mesalliancen zurück, um weiterhin Teil des höfischen Zirkels zu sein. 80 In Molières Dodekameron sind zunächst zwei größere Adelsklassen zu unterscheiden, der Hof- und der Provinzadel, die insbesondere 78 Dandrey (2002), 19. 79 Vgl. Elias (2002), 306 f. 80 Vgl. Auerbach (1951), 35. <?page no="225"?> 224 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien ob ihrer horizontalen Lage divergieren und deshalb auch in der sozialen Vertikalen verschiedene Positionen besetzen. 5.2.1.1 Der Hofadel Die Marquis du bel air treten in Molières Gesamtwerk als beliebte Figuren des Spottes auf. Diese Prominenz akzentuiert der Dramatiker in L’Impromptu de Versailles selbst, wenn er in der Figur des Marquis ein modernes Substitut für den „Valet bouffon“ (IdV, 827) sieht, der in der antiken Komödie die Zuschauerschaft zum Lachen brachte. Dennoch sollte die Präsenz der Figur in der Ballettkomödie nicht überbewertet werden, da die Marquis proportional zu anderen sozialen Typen eher weniger frequent auf der Bühne erscheinen, was sicherlich damit zu tun hat, dass sie als unterste Stufe in der Adelshierarchie bei den Aufführungen des Dodekamerons zugegen waren. Die Marquis rekrutieren sich zumeist aus den Nachkommen der zu Reichtum gekommenen Vertreter der noblesse de robe - ehemalige Bürger, die durch militärisches Verdienst, eine universitäre Qualifikation oder Wohlstand nobilitiert wurden und die funktionale Elite der Zeit bestimmten. Sie sind Parvenügestalten, viele unter ihnen zeichnen sich durch Snobismus und Müßiggang aus. Insgesamt besitzen sie ein starkes Abgrenzungsbedürfnis nach unten hin, zur Bourgeoisie, während sie sich nach oben hin, zum ranghöheren Hofadel, öffnen. 81 Diese Tendenzen sind im Lichte der Ämterkäuflichkeit näher zu betrachten: Die ursprünglich dem Titel des Marquis zugeschriebene politische Befugnis wurde im Zuge der politischen Entfunktionalisierung des Adels aufgehoben und der Titel zum Ornament reicher Nichtadeliger degradiert, die durch den erworbenen Titel eine Chance zum sozialen Aufstieg sahen. Da das Brevet ohne aristokratische Privilegien verliehen wurde, nannten sich viele Emporkömmlinge inflationär selbst Marquis, wie Frédéric Godefroy den Dichter Paul Scarron zitiert, der diese gesellschaftliche Gepflogenheit mit dem Neologismus ‚s’emmarquiser‘ parodiert: „Depuis que dans l’Estat en s’est Emmarquisé, / On trouve à chaque pas un Marquis supposé.“ 82 Die Selbstadelung hatte zur Folge, dass schon aufgrund der schieren Masse an Neuadeligen die Bedeutung des Titels zu Staub zerfiel. 83 Der titre de fonction entwickelte sich zunehmend zu einem titre de prestige , obgleich er seitens des Altadels als geringschätzig betrachtet wurde . Diese Entwicklung machte den sozialen Typus des Marquis wie geschaffen für eine satirische Betrachtung, da er bei Karriereabsichten am Hof häufig unter dem Generalverdacht der Usurpation 81 Vgl. Grimm (2002), 162. 82 Godefroy (1682), 32. 83 Vgl. Couprie (1985), 52 f. <?page no="226"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 225 stand, sich aber auch in seinem unschicklichen, weil teils hoffremden Betragen selbst degradierte. Neben dem Marquis sind weitere Vertreter der unteren Adelshierarchie in den Ballettkomödien zu finden, die in ihrem Betragen den Marquis ähneln. In Le Bourgeois gentilhomme tritt etwa der verarmte Comte Dorante auf, der sich ob seiner Hochstaplermentalität in die Liga der lächerlichen Marquis reiht. Er ist ein kaltblütiger Parasit, der den Aufstiegswünschen von Monsieur Jourdain unter der schmeichelnden Maske eines freundschaftlichen Beraters und Einführers in das mondäne Leben entgegenkommt und ihn finanziell auszunehmen versteht. Bereits sein erster Satz im Stück, „Mon cher Ami, Monsieur Jourdain, comment vous portez-vous? “ ( BG , 294), zeigt durch die unhöfliche Nennung des Bürgers Namens seine überlegene Haltung auf, da dieser despektierliche Konventionsbruch von Monsieur Jourdain unerkannt bleibt. Die Szene endet damit, dass Monsieur Jourdain dem Adeligen in bürgerlicher Manier einen detaillierten Blick auf seine bei ihm gemachten Schulden gewährt - Schulden, die den teuren Lebensstil am Hof widerspiegeln, den Dorante sich nur mithilfe des finanzkräftigen Bürgers leisten kann: M onsieur J ourdain : Mille huit cent trente-deux livres à votre Plumassier. d orante : Justement. M onsieur J ourdain : Deux mille sept cent quatre-vingts livres à votre Tailleur. d orante : Il est vrai. M onsieur J ourdain : Quatre mille trois cent septante-neuf livres douze sols huit deniers à votre Marchand. d orante : Fort bien. Douze sols huit deniers; Le compte est juste. M onsieur J ourdain : Et mille sept cent quarante-huit livres sept sols quatre deniers, à votre Sellier. ( BG , 296) Sein einziger Trumpf ist seine Adeligkeit, denn sein mondänes Auftreten gewährt ihm die finanzielle Unterstützung durch Monsieur Jourdain: „Que faire? Voulez-vous que je refuse un Homme de cette condition-là, qui a parlé de moi ce matin dans la Chambre du Roi? “ ( BG , 297). So rechtfertigt er sich vor seiner Frau, die das parasitäre Spiel dank ihres bon sens durchschaut. Dorante kann nur mit der Kenntnis seines höfischen Savoir-vivre und dem Prestige seines sozialen Rangs überzeugen und das erworbene Geld für seinen eigenen sozialen Aufstieg einsetzen. Seine Chance sieht er in der Heirat mit der wohlhabenden Witwe Dorimène, um deren Gunst er mit dem Geld des Bürgers wirbt: d oriMène : Enfin j’en reviens toujours là. Les dépenses que je vous vois faire pour moi, m’inquiètent par deux raisons; l’une, qu’elles m’engagent plus que je ne voudrais; et <?page no="227"?> 226 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien l’autre, que je suis sûre, sans vous déplaire, que vous ne les faites point, que vous ne vous incommodiez; et je ne veux point cela. d orante : Ah, Madame, ce sont des bagatelles, et ce n’est pas par là … ( BG , 313) Die preziöse Marquise Dorimène ziert sich zunächst, willigt aber alsbald in eine Heirat mit dem rangniedrigeren Comte ein, „pour rompre le cours à toutes les dépenses“ (BG, 329). Sie sieht die Gefahren der finanziellen Erschöpfung des Liebenden durch die Erfüllung der Konventionen des höfischen Liebeswerbens - „vous n’auriez pas un sou“ ( BG , 329) -, verkennt aber in ihrer Zugeneigtheit die Tatsache, dass sie auf eine Ehe mit einem Hochstapler zusteuert. Dorante gelingt es mit seiner geschickt eingefädelten Allianz weiterhin, ein respektables Mitglied von la cour et la ville zu bleiben, da er dem finanziellen Ruin, der aus seinen Repräsentationspflichten am Hof resultiert, noch einmal entgangen ist. Er musste sich also nicht zu einer Mesalliance herablassen, um weiterhin seinen sozialen Stand wahren zu können. Der Umstand, dass er sich materiell beim Bürgertum zu salvieren sucht, ist problematisch, weil er sich damit nach unten orientiert dabei auch Madame Jourdains Anfeindungen ertragen wie auch an der Cérémonie Turque mitwirken muss. Diese Ereignisse sind eines wahren Adeligen unwürdig und geben ihn der Lächerlichkeit preis; er muss diese Schmach erdulden, um weiterhin als Adeliger in seinen Kreisen bestehen zu können. Er lebt in zwei Welten, wobei die Exkursion in den bürgerlichen Raum die finanzielle Existenzgrundlage für die Daseinsberechtigung im höfischen Raum liefert. In Dorantes ambigem Betragen thematisiert Molière die sonst verborgene Schattenseite der kontradiktorischen honnêteté . Da der Comte jedoch in ästhetischer Hinsicht sensibel ist, scheint sein hypokritisches Spiel entschuldigt zu sein, richtet er doch im Grunde keinen wirklichen Schaden mit seinen Intrigen an. Dorante vergeht sich nicht an der Schicklichkeit, sondern wahrt diese meisterhaft in Anwesenheit der adeligen Marquise Dorimène. Im Rahmen dieses zeitgenössischen Verständnisses betrachtet, ist also nicht das Unmoralische per se das Skandalöse, sondern das Aufdecken des Unmoralischen, denn die Moralverfehlung gehört in den sozialen Bereich einer erlaubten, nicht aber artikulierten Repräsentation am Hof, die notwendig für eine funktionierende Soziabilität ist. Der Marquis ist sicherlich kein Mustermann der honnêtes gens , aber er gehört zu ihnen, hält er sich doch an die kulturellen wie auch sozialen Gesetze dieser Klasse, sodass er in der Fiktion auch nicht scheitern muss. Molière verweigert, die Konsequenzen dieses ambigen Betragens aufzuzeigen und überspielt den im Persönlichkeitsideal der honnêteté enthaltenen Moralkonflikt mit der Krönung Monsieur Jourdains zum Mamamouchi . Das Komödienende thematisiert anhand der Figur des Dorante die Problematik einer Gesellschaft, in der eine moralische Grauskalierung undenkbar war, da der hö- <?page no="228"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 227 fische Mensch der Klassik nur die Antinomie von bienséance und malséance billigte . Erst wenn der Schein wiederhergestellt ist, scheint das Moralische obsolet zu werden, obgleich es im Trug paradoxerweise seine Bestätigung findet. Eine entwicklungspsychologische Deutung für dieses Phänomen könnte im Bereich der rapiden Domestizierung des Adels gefunden werden. Die rasante gesellschaftliche Entwicklung ging schließlich mit einer verlangsamten emotionalen einher, sodass in der verabsolutierten Differenzierung entwicklungsgeschichtlich eine menschliche Unreife zum Tragen kommt, die sich in einer besessenen Formfixierung äußert und in ihrer äußeren Normerfüllung den Anschein einer perfekten Moral reflektiert. Ein breites Panoptikum der Marquis stellt Molière auch in der Ballettkomödie Les Fâcheux zur Schau, aus der ein paar Vertreter hier näher in Augenschein genommen werden. In diesem Lustspiel eint die Marquis die bereits im Titel erkenntliche Eigenschaft eines Störenfrieds. Mit ihrer Hartnäckigkeit bedrängen sie Éraste, den einzigen seriösen Marquis in der Ballettkomödie. Zu Beginn schildert er seinem Diener La Montagne einen unschönen Theaterbesuch, der dies aufgrund eines lästigen Preziösen wurde, der seine Eitelkeit und privilegierte Stellung in übertriebener Art auf der Bühne zur Schau stellte und das Spiel störte. Die Lächerlichkeit dieses Höflings ist der Tatsache geschuldet, dass er die Feinheiten des höfischen Lebensstils hinsichtlich Kleidung und Betragen übertreibt, was Éraste am Beispiel seiner Begrüßung mit einem Bekannten als „les convulsions de leurs civilités“ ( LF , 155) anschaulich schildert. Weitere Gestalten dieses Typs sind Climène und Orante, die über die in den salons heftig diskutierte Frage nach dem véritable amour debattieren und Éraste als Schiedsrichter ihrer querelle bestimmen. Er soll entscheiden, ob wahre Liebe ohne Eifersüchteleien existieren könne oder nicht. Mit salomonischer Weisheit - „Le jaloux aime plus, et l’autre aime bien mieux“ ( LF , 174) - beendet Éraste den Streit, schafft sich die Lästigen vom Leibe und beweist damit die Nichtigkeit dieser Diskussion. In Les Précieuses ridicules karikiert Molière bereits ausführlich diese hyperaffektierten Höflinge. Sie sind die letzten Relikte der Generation des Hôtel de Rambouillet, die mit Recht den einst rohen Hof mit ihren Subtilitäten maßregelten, jetzt aber anerkennen müssen, dass dieser sich zum Zentrum der wahren Sachverständigen des Savoir-vivre entwickelt hat. 84 Der leibhaftig zuerst auftretende Marquis in Les Fâcheux ist Lysandre, der „la naissance, et quelque emploi passable“ (LF, 160) besitzt und der Komposition seiner Courante - Archetyp der belle danse - den größten persönlichen Wert beimisst, „[q]ui de toute la Cour contente les experts“ ( LF , 160), wie er behauptet. Auch Éraste gegenüber ist er geneigt, sein Können unter Beweis zu stellen, und 84 Vgl. Auerbach (1951), 19. <?page no="229"?> 228 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien so singt er ihm „ quatre ou cinq fois de suite “ ( LF , 161) das Ende seiner Courante vor. Aus Respekt vor seinem ranggleichen Gegenüber toleriert Éraste die Performance, die der snobistische Störenfried noch steigern will: „ Il chante, parle et danse tout ensemble, et fait faire à Éraste les figures de la femme .“ ( LF , 161) Mit seiner Performance macht er sich nicht zum kundigen Künstler, sondern zum blamablen bouffon . Neben dem auf Anpassung an den esprit mondain bedachten Lysandre kreuzt auch der an den Gepflogenheiten des alten Feudaladels festhaltende Vicomte Alcandre Érastes Weg und will sich dessen Komplizenschaft in einer Fehde sichern. Noch bevor es zu einer Auseinandersetzung kommt, belehrt ihn Éraste als Räsoneur über das im neuen Staat des Sonnenkönigs geltende Duellierverbot 85 und befreit sich von dem Querulanten. Auch der angebotene Freundschaftsdienst des Marquis Filinte, Éraste bei einem angeblichen Duell zur Seite zu stehen, steht im Zeichen des Fechtens um die Ehre und erinnert an altaristokratische Tugenden der Feudalzeit, die im Zeitalter von Ludwig XIV . keine Geltung mehr haben und karikaturistisch dargestellt werden. Letzten Endes fällt Éraste ein ernüchterndes Urteil über die lästigen Höflinge: Ciel! faut-il que le rang, dont on veut tout couvrir, De cent sots, tous les jours, nous oblige à souffrir; Et nous fasse abaisser jusques aux complaisances, D’applaudir bien souvent à leurs impertinences? ( LF , 162) In George Dandin - um an dieser Stelle auf ein letztes Stück einzugehen - tritt schließlich ein weiterer Höfling auf: der junge Clitandre, ein „Seigneur de notre pays, Monsieur le Vicomte de chose …“ ( GD , 977), wie ihn der Diener Lubin beschreibt. Wohlhabend und mit dem Habitus eines Höflings ausgestattet, ist er ob seines donjuanesken Temperaments als libertiner Ehebrecher zu charakterisieren, der sich über die Normen seiner Zeit hinwegsetzt: Clitandre versucht fernab des Hofes die verheiratete Dame Angélique zu verführen. Antoine Adam skizziert ihn als „un galant sans moralité qui ment sans scrupule et qui séduit à froid une petite sotte“ 86 . Mit seinem galanten Auftreten gelingt es ihm, Angéliques Bedürfnis zu befriedigen, sich wie eine begehrte Frau von Welt zu fühlen, sodass sie auf seine Avancen standesbewusst und kokett eingeht. Er spricht „the language of hollow politeness“ 87 und kann auf diese Weise nicht nur Angélique für sich gewinnen, sondern auch ihre wenig mondänen Eltern blenden und sich damit immer wieder aus der Affäre ziehen. Er versteht es, 85 Vgl. Kapitel 3.1.2. 86 Adam (1962), 369. 87 Gaines (2002), 91. <?page no="230"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 229 George Dandin für seine Zwecke als Lügner vor dessen Schwiegereltern zu kompromittieren. Clitandre gehört wie Dorante zu den hypokritischen Höflingen, die es mit ihrem höfischen Habitus und dem art de conversation verstehen, andere für ihren Vorteil zu manipulieren. Das lächerliche Moment an seiner Figur ist, dass er sich qua Höfling mit unkultivierten Provinzadeligen abgibt, dazu noch mit verarmten. Der Grund hierfür reflektiert sich in seinem Verhalten, denn der aristokratische Libertinismus scheitert am Hof, verlangen die herrschenden Ideen doch Einfügung und Moderation, 88 Werte, die dem freien, weil systemfernen Provinzadel fremd erscheinen. Als Verführer ist er freilich erfolgreich. Obgleich er im eigentlichen Sinne nicht komisch ist, führt er durch seine Präsenz doch verschiedenste komische Szenen herbei, die über seine unschickliche, geradezu skrupellose Intention hinwegtäuschen, das sozialkritische Moment aber deutlich aufleuchten lassen. Die Höflinge der Ballettkomödien sind, so ließe sich zusammenfassen, unangenehme Witzfiguren von la cour et la ville , snobistisch, lächerlich, libertinistisch, intrigant und ohne jegliches Verdienst. Sie leben von ihrer sozialen Stellung und stellen diese unermüdlich zur Schau. Einige sind bisweilen noch nicht vollständig domestiziert, andere suchen nach einer neuen, nicht am bürgerlichen Erwerbsleben orientierten Aufgabe, die ihnen einen Sinn und eine Daseinsberechtigung am Ende der Adelshierarchie geben und sie zugleich vom Bürgertum abheben soll. Das Betragen des Hofadels ist sowohl Ausdruck einer vom höfischen ennui geprägten Funktionslosigkeit als auch einer ständigen Abstiegssorge. Diese Funktionslosigkeit wird zumeist durch eine nichtige, ihnen aber sinnstiftende Aktion kompensiert und stellt einen Versuch dar, Prestige und Respekt zu vergrößern oder einfach Raum für das Ausleben ihrer libertinistischen Züge zu schaffen. Die Verachtung gegen diese Nestbeschmutzer war bei la cour et la ville groß: „C’est à une douzaine de Messieurs qui déshonorent les gens de Cour par leurs manières extravagantes, et font croire parmi le peuple que nous nous ressemblons tous“ ( CEF , 498), so Dorante in La Critique de l’École des Femmes als Sprachrohr der leiderfüllten honnêtes gens . Eine Schelte gegen diese fâcheux , die beim Publikum mit Sicherheit auf großen Zuspruch stieß. 5.2.1.2 Der Provinzadel Die soziale Gruppe der hobereaux wird in The Molière Encyclopedia von James Gaines als „a provincial noble with limited resources who is unable to maintain an expensive lifestyle suitable for the court“ 89 beschrieben. Es handelt sich um eine Klasse, die aus finanzieller Not und dem damit verbundenen unhöfischen 88 Vgl. Roth (1981), 418. 89 Gaines (2002), 218. <?page no="231"?> 230 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Lebensstil in einer Art unfreiwilligem Exil in der französischen Provinz lebt und aufgrund der topografischen Distanz zu la cour et la ville zwangsläufig ins Lächerliche fällt. Die hobereaux galten als gescheiterte, finanziell meist verarmte Persönlichkeiten, die obendrein auch nur zweitklassige Adelstitel wie Comte / Comtesse , Vicomte / Vicomtesse und Monsieur de / Madame de trugen, sich gerade aber dadurch legitimiert fühlten, die höfischen Konventionen zu imitieren. Ihr Status untersagte es ihnen, einer gewerblichen Tätigkeit nachzugehen, verdammte sie aber dennoch zu einem dekadenten Lebensstil mit den dazugehörigen Kosten. Zudem lebten sie aufgrund der Tatsache, dass sie keinerlei Repräsentationspflichten hatten, in absoluter Funktionslosigkeit. Sie gehörten häufig zum alten Schwertadel und schmückten sich mit dem militärischen Verdienst ihrer Vorfahren. In ihren Kreisen prahlten sie mit der Nobilität ihres Hauses, dem einzigen Trumpf, den sie noch gewinnbringend im Gesellschaftsspiel ausspielen konnten, in der Hoffnung auf eine reüssierende Allianz mit einem wohlhabenderen Haus. Auch die Comtesse d’Escarbagnas beruft sich stolz auf ihre adelige Herkunft, wenn sie ihrer Freundin, der Marquise Julie, mitteilt, dass sich ihr verstorbener Mann mit „la qualité de Comte dans tous les Contrats qu’il passait“ (CdE, 1027) schmückte. Diese Aussage verfehlt jedoch ihre positive Wirkung, da sie ihn als Geschäftsmann schildert - ein dem aristokratischen Lebensstil ferner Profilierungszug. Die Unkenntnis der Comtesse hinsichtlich der höfischen Lebensart spiegelt sich auch im Umgang mit ihren Bediensteten wider, die ihre Unkultiviertheit herausstellen und ihr Haus zu einem bürgerlichen deklassieren. Der soziale Abwärtstrend wird am Ende der Ballettkomödie durch das Monsieur Tibaudier gegebene Eheversprechen besiegelt, da sie bei ihrer Reise nach Paris offensichtlich keinen Erfolg hatte, eine lukrative Allianz mit „les galants de la Cour“ (CdE, 1027) einzugehen. Die Heirat mit dem clerc de tribunal beschließt ihr soziales Scheitern, bietet ihr aber die Möglichkeit, zukünftig ihre „flambeaux d’argent“ (CdE, 1025) im Sinne ihrer Imitation des Königshofes mit richtigen Wachskerzen auszustatten. 90 Zumindest vorübergehend wird sie diesem kopierten Lebensstil weiterhin frönen können, wenn sie ihm auch nie gerecht werden kann, denn: „[L]e ridicule réside dans la méconnaissance du modèle de la Cour, et il englobe tout ce qui s’en éloigne.“ 91 Sie trägt das Stigma der hobereaux , sie bleibt die komische Außenseiterin. In George Dandin zeichnet Molière ein diskreditierendes Bild der Sotenvilles. Ihrem Spottnamen ‚Sot-en-ville‘ entsprechend gehören sie keinesfalls dem Adel 90 Im Gespräch mit Andrée wird der Zuschauer darüber informiert, dass „bougies de suif “ im Haushalt vorzufinden seien, ein Zeichen für die fortgeschrittene Verarmung der Comtesse. Vgl. CdE, Szene II. 91 Bertrand (1995), 289. <?page no="232"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 231 von la cour et la ville an, sondern den nobles campagnards , was sich nicht nur anhand ihres unhöflichen Auftretens zeigt, sondern auch anhand der Tatsache, dass sie der unbedachten Mesalliance mit einem Nichtadeligen zustimmen. 92 Der finanziell abgewirtschaftete Baron de Sotenville hält stolz am zweifelhaften militärischen Verdienst seines Adelsgeschlechtes fest, aus dem sich sein gegenwärtiger Adelsdünkel nährt: M onsieur de s otenville : Mon nom est connu à la cour, et j’eus l’honneur dans ma jeunesse de me signaler des premiers à l’arrière-ban de Nancy. C litandre : À la bonne heure. M onsieur de s otenville : Monsieur, mon père Jean-Gilles de Sotenville eut la gloire d’assister en personne au grand siège de Montauban. C litandre : J’en suis ravi. ( GD , 983) Die Referenz auf das militärische Verdienst seines Vaters und im Verlauf des Dialogs auf weitere Vorfahren seines Geschlechts veranschaulicht die Lächerlichkeit und Mittelmäßigkeit der Familie, denn der Heerbann von Nancy im Jahre 1635 beorderte nur Adelige zweiten Rangs für die Unterstützung der Garnison. Zudem ist bekannt, dass der mangelnde Eifer der Aristokraten zu wenig glorreichen Ergebnissen führte, womit sie Ludwig XIII . tief enttäuschten. Die Anspielung auf Montauban verweist auf die aus Gründen mangelnder Armeedisziplin beendete Belagerung der protestantischen Stadt im Jahre 1621. 93 Insgesamt rekurrieren die Beispiele auf zwei eher schmähliche militärische Interventionen in der vorklassischen Zeit. Die Fehldeutungen der militärischen Erfolge seitens des Barons werden durch Clitandres affirmierende Kommentare komisch akzentuiert, weil sie die Scheinwelt mit Beifall aufrechterhalten. Monsieur de Sotenville grenzt sich mit seinem Baron-Titel vom höfischen Adel ab, denn: [L]a qualité de Baron éstoit devenuë si communne, qu’il n’y avoit pas un Gentilhomme qui ne s’en fit honneur. Aujourd’huy elle est entierement bannie de la Cour; & l’on regarde un Baron comme un homme nouvellement débarqué des terres Australes & inconnües […].“ 94 92 Mesalliancen sind bei finanziell angeschlagenen Adelsgeschlechtern in jener Zeit zu verzeichnen. Allerdings wurden die Rotüriers sorgsam ausgewählt; sie sollten mindestens der bonne bourgeoisie angehören: „Les élus sont […] distingués par la possession d’un office, royal ou seigneurial, ou à tout le moins par un statut de bonne bourgeoisie, qui suppose une vie rentière aucunement souillée par un travail ‚mécanique‘ ou une activité économique.“ Chartier (1999), 164. 93 Vgl. Riffaud und Piéjus (2010), 1575. 94 Godefroy (1682), 47 f. <?page no="233"?> 232 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Sein Name ist sicherlich nicht „connu à la cour“, wie er hoffärtig verkündet. An dieser Stelle sei an seine Gemahlin Madame de Sotenville erinnert, die aus dem kaum schmeichelhaften Hause der Prudoterie stammt, aber stolz auf die ihrer Namensetymologie zuwiderlaufende Fruchtbarkeit ihres Hauses ist - „Maison où le ventre s’anoblit“ ( GD , 981) - und ihre Adeligkeit stolzer Hand nach unten an die Rotüre weitergibt, 95 worin sich der soziale Abwärtstrend auch auf ihrer Seite aufzeigt. Die Tradition ihrer wenig heldenhaften Ahnen führen die Sotenvilles mit der herbeigeführten Mesalliance ihrer Tochter mit dem Bauern Dandin weiter und bestimmen so den endgültigen Niedergang ihres Geschlechts. Ferner kontrastiert das Paar scharf aufgrund seines „mamour“-Gehabes, das von Antoine de Courtin als „tout à fait ridicule“ 96 bewertet wird, mit dem hohen art de conversation des Hofes. Molière karikiert den Provinzadel aufs Schärfste, in den mechanischen Paraphrasen des einen durch den anderen, im unschicklichen Erscheinen im Nachtgewand auf der Bühne im letzten Akt, im Verkennen des beabsichtigten Ehebruchs der eigenen Tochter und letztlich in der aus finanziellen Motiven veranlassten Verheiratung Angéliques. Das fehlerhafte Verhalten der Sotenvilles wird im Scheitern am Maßstab von la cour et la ville demonstriert und legitimiert zugleich ihre Karikatur. Die junge hoberelle Angélique ist die Leidtragende des elterlichen Stolzes. Mittels des erwiderten Getändels mit Clitandre scheint sie sich unter anderem an ihnen zu rächen, denn sie musste die Vernunftehe mit George Dandin ihretwillen eingehen, da der Familie ansonsten der finanzielle und der damit verbundene soziale Niedergang gedroht hätte. Angélique bricht aus dem Ehevertrag aus, als sie sich auf eine ehebrecherische Liaison mit dem adeligen Clitandre einlässt. Dieses Verhalten zeugt davon, dass sie von korrumpierten Gefühlen umgeben ist und in dieser Welt nur überleben kann, wenn sie ihre gefühlsbasierten Normabweichungen kaschiert. Ihre Eltern sind den sozialen Zwängen verpflichtet und respektieren diese mehr als die Wünsche ihrer Tochter. Es sind im Grunde Monsieur und Madame de Sotenville, die durch den Ehehandel mit einem Nichtadeligen ihre Adeligkeit selbst denunzieren. Sie sind genauso Geschäftsleute wie ihr Schwiegersohn, denn sie ‚verkaufen‘ Angélique an ihn. Ihre Wortwahl bestätigt diesen Verdacht, da sie ihre Tochter wie ein Warenstück mit 95 Die Aussage erinnert an die alte Sitte aus dem Burgund des 12. Jahrhunderts, die den Frauen zum Erhalt des Adelsgeschlechts das Privileg einräumte, ihren Titel selbst dann, wenn sie mit einem Bürgerlichen wiederverheiratet waren, weiterzugeben. Diese Ausnahmeregelung wurde im Zuge der Titelinflation im siècle classique heftig diskutiert und die „nobles de mère“ wurden schließlich als „roturiers usurpateurs de noblesse“ bezichtigt. Vgl. Riffaud und Piéjus (2010), 1575. 96 „Au reste un mari est tout à fait ridicule de caresser sa femme devant le monde.“ Courtin (1998 [1671]), 73. <?page no="234"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 233 Garantie anpreisen. „[N]ous l’avons élevée dans toute la sévérité possible“ ( GD , 981), versichert Madame de Sotenville als Reaktion auf Dandins Beschwerden über seine Frau. Angélique ist für ihre Eltern ein Objekt und auch Dandin behandelt sie dementsprechend. Dies ist der Grund, warum sie sich in Ablehnung der elterlichen Moral mit Clitandre zusammentut, ohne jegliches Schuldgefühl für die Verletzung der sittlichen Treue aufkommen zu lassen: „[P]ensez-vous qu’on soit capable d’aimer de certains maris qu’il y a. On les prend, parce qu’on ne s’en peut défendre, et que l’on dépend de parents qui n’ont des yeux que pour le bien […].“ ( GD , 1005) Die Unpersönlichkeit ihrer Aussage lässt Angélique einerseits zum allgemeinen Sprachrohr vieler Mädchen ihrer Zeit werden, andererseits distanziert sie sich auch von dieser Aussage, wenn sie gegen das obligate Allianzdispositiv rebelliert. Das Spiel mit der Familienehre gelingt, weil diese von ihren Eltern durch die Mesalliance ebenfalls befleckt wurde. Obschon sie sich am Ende der Ballettkomödie dem elterlichen Machtwort und damit in die Ehe fügt, gibt sie selbstbewusst und libertinistisch von sich: „Tout ce que vous me faites faire ne servira de rien, et vous verrez que ce sera dès demain à recommencer.“ (GD, 1013) Sie prognostiziert den nächsten „grand scandale“ (GD, 1012), den ihr Vater mit der von ihr geforderten Eheannullierung zu vermeiden sucht. Mit diesem fast schon tragikomischen Ende übt Molière eine besonders harte Sozialkritik, die er im lächerlich-farcesken Verhalten der Protagonisten und den Pastoralinterventionen erträglich zu machen scheint. Als Letzter im Bunde soll der wohlhabende Monsieur de Pourceaugnac im Lichte sozialkritischer Komik analysiert werden. 97 Ähnlich wie die Comtesse d’Escarbagnas strebt er einen aristokratischen Lebensstil an. Mit seinem Titel Monsieur de ist er der Bourgeoisie noch näher als die Gräfin, sodass er sich noch mehr abmüht, sich vom dritten Stand abzugrenzen. Aufgrund dessen erscheint er zwangsläufig lächerlicher, was sich in Akt III zuspitzt, wenn der selbst ernannte „Gentilhomme Limousin“ (MdP, 207) als cross-dresser enttäuscht aus Paris zurück in seine Provinz flieht. Sein wahrer sozialer Status bleibt weitgehend ungewiss: Es ist davon auszugehen, dass er entweder über den gebräuchlichen Ämterkauf nobilitiert wurde oder sich einfach selbst adelte. 98 Um die Fassade eines gentilhomme aufrechtzuerhalten, verleugnet er seinen Beruf als Anwalt und konsultiert bei Bedarf lieber Pariser Anwälte. Sein Vorhaben, eine junge Pariser Dame zu ehelichen, motiviert sich für ihn aus zwei Gründen: Einerseits 97 Die Analyse wird jedoch in kleinerem Umfang ausfallen, da einige Aspekte diesbezüglich bereits in Kapitel 3.2.2.1 zur Sujetstruktur angeklungen sind. 98 Da in Pourceaugnacs Familie weitere Anwälte und Amtspersonen vorkommen, könnte seine Familie bereits die begehrte Steuerfreiheit erlangt haben, die den Limousiner zumindest steuerlich mit der wahren Aristokratie gleichstellen würde. Vgl. Gaines (1984), 67 f. <?page no="235"?> 234 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien kann er so seine affektiven Bedürfnisse stillen, andererseits räumt er sich durch die Nähe zum Hof weitere Aufstiegschancen ein. 99 Seine Eitelkeit verhilft den Ränkeschmieden dazu, ihn für ihre Belange gefügig zu machen, bis er letztlich selbst die Stadt verlässt. Dass er dauerhaft nicht Fuß fassen kann in la ville , 100 diese sogar als „maudite Ville! “ (MdP, 245) bezeichnet, hat symbolischen Charakter, demonstriert es doch, dass hier für stumpfe Hochstapler und lästige Renommisten kein Platz ist: ‚Il faut se connaître‘ - jeder muss seinen Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie kennen und akzeptieren, eine Grundmaxime der klassischen Gesellschaft, die Monsieur de Pourceaugnac ignoriert und an der er schließlich scheitert. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Nachahmung höfischer Werte, neuaristokratischer Gebräuche und mondäner Geselligkeit wird den hobereaux in ihrem Betragen zum Verhängnis, weil sie die Realität ausblenden beziehungsweise mit einer übersteigerten Selbstüberschätzung verzweifelt überspielen. Aufgrund ihrer Ignoranz verfehlt ihr Verhalten konsequent das angestrebte Ideal, die politesse mondaine der honnêtes gens. Sie kreieren und etablieren eine Art Gegenmodell zu dem von Antoine de Courtin 1671 aufgestellten Verhaltenskodex, dem Nouveau traité de la civilité qui se pratique en France parmi les honnêtes gens , der zum Knigge seiner Zeit wurde. Ähnlich wie der skizzierte Hofadel üben sie dank ihrer Zugehörigkeit zu einer privilegierteren sozialen Schicht Macht auf die in der sozialen Hierarchie niedriger stehenden Bourgeois aus, um sich weiterhin dieses gesellschaftliche Vorrecht sichern zu können. Sie scheuen nicht davor zurück, unschickliche Mesalliancen einzugehen, um ihren Status zu erhalten. Diese Initiative zeugt von einer Hilflosigkeit, die auf einen Mangel an „know-how to manage their own lands“ 101 zurückzuführen ist. Zurückhaltung, Selbstkritik und Selbstreflexion sind ihnen fremde Begriffe, allerdings sind es genau diese Eigenschaften, die in der feinen Gesellschaft am Hof von entscheidender Bedeutung für Erfolg sind. Die Provinzadeligen sind jenes Hochadels nicht würdig und müssen fernab des Hofes ihr Dasein als minderwertige Kopie jener leben, so der Eindruck des satirischen Blicks. Lediglich in der Fiktion sind sie für die ethische und soziale Elitegesellschaft im Sinne 99 Pourceaugnac könnte mit der Vereinigung der beiden Vermögen weiter sozial aufsteigen, indem er höhere Ämter erwirbt, und dank seiner Jurakenntnisse zur noblesse de robe avancieren, was seiner komischen gentilhommerie jedoch zuwiderliefe. 100 Paris wurde in der Zeit als progressiv und einladend gefeiert, wie in der Komödie L’École des Femmes dargelegt, in der Enrique nach längerem Aufenthalt in Amerika in die Hauptstadt zurückkehrt und Agnès von Arnolphes Heiratszwängen befreit. M. de Pourceaugnac beweist aber auch, dass nicht jeder willkommen war, sondern nur diejenigen, die dem mondänen Lebensstil entsprechend agierten. Vgl. L’École des Femmes , Akt V, Szene VII. 101 Gaines (2002), 195. <?page no="236"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 235 eines Lachobjektes erträglich; dies gelingt, weil die malséance der hobereaux die honnêtes gens in ihrer Modellfunktion bestärkt. Fazit Molière karikiert letztlich Adelstypen, die nicht dem reformierten Adelsideal des Hofes entsprechen; darunter fallen der verrohte Schwertadel, die dandyhaften beziehungsweise preziösen und libertinistischen Hofadeligen wie auch der verarmte und ungeschliffene Provinzadel. In der Karikatur dieser sozialen Typen illustriert sich „the natural reflection of the contradictions of a society which values the possession of prestige but ridicules the desire to obtain it“ 102 . Ein Urteil, das freilich auch auf einige Bourgeoise zutrifft. 5.2.2 Die Bourgeoisen Den dritten Stand macht eine heterogene Gruppe im Ancien régime aus, die Bourgeoisen. Sie umfassen ein breites Spektrum, das alle Menschen nichtadeliger Herkunft einschließt und in den Ballettkomödien durch folgende Untergruppen repräsentiert ist: das finanzstarke Bürgertum, das gebildete Bürgertum und das einfache Volk. Die hierarchische Anordnung innerhalb dieser Klasse war durch finanziellen Wohlstand bestimmt, aber auch Bildung bestimmte zunehmend die sozialen Hierarchiewerte. Die soziale Ausrichtung auf Vermögen und Ausbildung findet ihre Ursache in diesen vom Staat erwünschten Vorbedingungen der Parvenüs, die sowohl für die finanzielle Konsolidierung als auch die administrative Ausweitung des Staatsapparates von großer Bedeutung waren und zur Machtostentation Ludwigs XIV . beitrugen. Jean Le Marchand schildert diesen Gesellschaftszustand wie folgt: Sous le règne de Louis XIV , les bourgeois sont partout . C’est à eux que le roi s’adresse pour ses affaires publiques ou privées, ils construisent ses palais, dessinent ses jardins, peignent ses tableaux, le divertissent. Leur fortune récemment acquise leur donne le goût de paraître, de rivaliser avec les bénéficiaires héréditaires des privilèges. Ils ont la conviction que tout s’achète, le goût, le luxe, l’élégance, l’esprit. 103 Dieser Umstand führte seinerzeit zu einem wachsenden Prestige und Selbstbewusstsein der Bourgeoisen. So übernahm auch der Adel die am Besitz orientierte Werteskala und näherte sich den wohlhabenden Bürgerfamilien an, um Mitgift zu erheiraten; dadurch erkannte er die hierarchieschaffende Kraft des 102 Herzel (1975), 575. 103 Marchand (1976), 194. Meine Hervorhebung. <?page no="237"?> 236 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Geldes an. 104 Diese Klassenflucht führte im Laufe der Zeit zu einer Verschmelzung von Adel und Großbürgertum (finanzstarkes Bürgertum), zu einer geschlossenen Schicht, zur Staatselite: la cour et la ville . Dem ‚einfachen Volk‘ blieb dieser soziale Aufstieg verwehrt, da es zum Nährstand des Staates erklärt wurde und bei militärischen Unternehmungen zum Einsatz kam. Das fehlende Prestige dieses Standes ist in Molières Ballettkomödien in der plebejischen Art und Weise einiger Diener und Dienerinnen dokumentiert, die aus Gründen der bienséance in der Regel in domestizierter Manier auf der Bühne auftreten. Neben diesen Figuren niederen Naturells sind auch Bedienstete zu vermerken, die zwar einfach in ihrer Art, aber dem bon sens du peuple entsprechen und häufig ihre Überlegenheit zu ihren Herren belegen, mithin eine interne Klassenflucht im Kleinen andeuten. Mehr als Anerkennung und Respekt wird ihnen aber nicht entgegengebracht, der große Sprung nach oben bleibt aus und wird von ihnen, zumindest in der molièreschen Fiktion, auch nicht angestrebt. Ein erfolgsgekrönter sozialer Aufstieg ist für diese Schicht aussichtslos und wird erst im nächsten Jahrhundert interessant werden. 5.2.2.1 Das finanzstarke Bürgertum Die bonne bourgeoisie ist in weiten Teilen wohlhabend ohne einer gewerbetreibenden Tätigkeit nachzugehen. 105 Sie passt sich den Gepflogenheiten des Adels an und ist als zunehmend parasitär werdende Schicht zu charakterisieren. 106 Es handelt sich um altbürgerliche Familien, die sich aus dem produktiven Erwerbsleben zurückziehen können, da sie von ihren Erträgen oder denen ihrer Vorfahren leben und sich vom Nährstand abheben können. Sie streben danach, ihren Kindern einen höheren sozialen Rang durch Heirat mit einem Adeligen oder eine vornehme Tätigkeit verschaffen zu können, denn sie wollen verhindern, dass das Familienvermögen in spekulativen Geschäften abhanden kommt, was zu einer Destabilisierung ihrer sozialen Position beitrüge. 107 Diesen Wunsch hegt auch Monsieur Jourdain, der darauf erpicht ist, seine Tochter Lucile mit dem Sohn eines gentilhomme zu vermählen. Er selbst entspricht jenem Großbürger, der ohne Arbeit existieren und einem kostspieligen Lebensstil frönen kann, der dem eines Aristokraten in nichts nachsteht. 108 Dieses privilegierte Leben verdankt er seinen Eltern, erfolgreiche Tuchhändler, deren Profession er vehement verleugnet, weil sie in Opposition zu seinen Adelsprätentionen 104 Vgl. Hochgeschwender (1980), 190. 105 Vgl. Auerbach (1951), 40. 106 Vgl. Grimm (2002), 40. 107 Vgl. Auerbach (1951), 44. 108 Die Flucht aus dem Wirtschaftsleben ist auch bei Argan in Le Malade imaginaire zu konstatieren, obgleich er keine Klassenflucht wie Monsieur Jourdain anstrebt. <?page no="238"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 237 steht. In La Bruyères Caractères findet man diesen sozialen Typen, den Molière so treffend Bourgeois gentilhomme nannte, wieder: Quel est l’égarement de certains particuliers qui, riches du négoce de leurs pères, dont ils viennent de recueillir la succession, se moulent sur les princes pour leur garde-robe et pour leur équipage, excitent, par une dépense excessive et par un faste ridicule, les traits et la raillerie de toute une ville, qu’ils croient éblouir, et se ruinent ainsi à se faire moquer de soi! 109 Seiner Herkunft zum Trotz will der großbürgerliche Dekadent durch eine Allianz nach oben zur alten Aristokratie aufschließen. In seinem Nobilitierungswahn verfehlt er jedoch sein Ziel, wenn er am Ende nicht zu einem französischen gentilhomme , sondern zu einem ottomanischen Mamamouchi nobilitiert wird. Die Satire um Monsieur Jourdain zielt auf seine nicht vorhandenen Adelstugenden der honnêteté ab, auf seinen unschicklichen Charakter, der den Bürger getreu dem Titel der Ballettkomödie in Erscheinung treten lässt. Durch die gezielte Imitation seiner Lehrer versucht er, die höfische Feinheit zu erlernen und seine bürgerliche Umwelt zu beeindrucken: M onsieur J ourdain : C’est de la Prose, ignorante. M adaMe J ourdain : De la Prose? M onsieur J ourdain : Oui, de la Prose. Tout ce qui est Prose, n’est point Vers; et tout ce qui n’est point Vers, n’est point Prose. Heu! voilà ce que c’est d’étudier. ( BG , 291 f.) Die Dekontextualisierung aristokratischen Wissens im bürgerlichen Raum wie auch das sprachliche Verhaspeln Monsieur Jourdains, die doppelte Verneinung, versetzen sein Unterfangen mit einer spöttischen Note und degradieren ihn selbst zum „ignorant“. Da unterschiedliche Sprachstile divergierende Bildungsebenen darzustellen pflegen, wird in dieser Szene seine vorgeschützte Adelsrolle entkräftet, sogar negiert. Selbst vor seiner Frau reüssiert er nicht mit der Anwendung blaublütiger Benimmregeln, sodass er zum Kontrapunkt des adeligen Persönlichkeitsideals wird. Einfaches Imitieren des Verhaltenskodexes, eine dilettantische Ausbildung und Vermögen reichen nicht aus, um im 17. Jahrhundert als gentilhomme auftreten zu können; es ist nach wie vor die hohe Geburt vonnöten. Zudem ist sein Wohlstand kein Garant für weltmännisches Auftreten, denn ihm fehlt jegliches Taktgefühl für die Umsetzung des erlernten Savoir-vivre dieser Schicht. Er ist der lächerliche Gernegroß, der zu la cour et la ville gehören möchte, dies aber nur als anonymer Geldgeber schafft, indem er mit verarmten Adeligen wie Dorante paktiert und fernab des Hofes residieren bleibt. 109 Bruyère (1975 [1696]), 149. <?page no="239"?> 238 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien In Monsieur de Pourceaugnac ist es der in Paris lebende Oronte, der sich in ähnlicher Weise in das Liebesleben seiner Tochter Julie einmischt, die er aus finanziellen Gründen mit seinem provinzialen Anwalt Monsieur de Pourceaugnac verheiraten möchte. Obgleich die wirtschaftliche Situation des Vaters gut und die des Anwärters nur geringfügig besser ist, „trois ou quatre mille écus de plus“ (MdP, 204), lässt sich sein Wunsch eines ökonomisch begründeten Allianzdispositivs darin begründen, dass er seiner Tochter den sozialen Aufstieg sichern und seine eigene finanzielle Lage stabilisieren möchte. Zudem wäre mit der Heirat auch der Einstieg in den niederen Adel verbunden, ein Aufstieg, der aus bürgerlicher Sicht vielversprechend erscheint. Aus Sicht des Publikums bestätigt aber der Wunsch, seine Tochter mit einem aufschneiderischen Provinzadeligen verheiraten zu wollen, die Mediokrität des Bürgers. Sie zeigt sich zudem darin auf, dass er auf die um ihn gespielte Intrige hereinfällt und nicht bemerkt, dass er von Julie und ihrem Freund Éraste düpiert wird und letztlich einer Liebesheirat zustimmt. Anhand seines Verhaltens wird die väterliche Autorität und die absolut gesetzte patriarchale Herrschaftsstruktur im Lichte des klassischen Aufstiegsmotivs kritisch porträtiert. Ein weniger glücklich endendes Heiratsengagement, das sowohl einen ökonomischen als auch einen sozialen Vorteil anstrebt, wird in George Dandin dargeboten. Die Mesalliance zwischen dem reichen Bauern, der zur bourgeoisie rurale zu zählen ist, und der aus dem Hause eines verarmten Landadels stammenden jungen Adeligen zeugt von einer symbiotischen Motivation beider Seiten: Das Vermögen des Bauern saniert die prekäre finanzielle Lage der hobereaux , im Umkehrschluss wird der Bauer durch die Heirat geadelt. Neben den Privilegien, welche die höhere soziale Schicht mit sich bringt, gilt auch das Credo noblesse oblige , das der unbeholfene Bauer nicht zu kennen scheint: g eorge d andin : La noblesse de soi est bonne: c’est une chose considérable assurément, mais elle est accompagnée de tant de mauvaises circonstances, qu’il est très bon de ne s’y point frotter. Je suis devenu là-dessus savant à mes dépens, et connais le style des Nobles lorsqu’ils nous font nous autres entrer dans leur famille. L’alliance qu’ils font est petite avec nos personnes. C’est notre bien seul qu’ils épousent, et j’aurais bien mieux fait, tout riche que je suis […]. ( GD , 975) Dem Anspruch seiner neuen sozialen Stellung kann der Bauer nicht entsprechen, wie kontinuierlich in der Ballettkomödie sichtbar wird. Dies liegt daran, dass Dandin weder Zugang zur Sprache noch zu den Umgangsregeln und Gebräuchen seiner angeheirateten Familie aufweist. Selbst die demütigen Höflichkeitslektionen seiner Schwiegereltern, in denen sie ihn unaufhörlich zurechtweisen und anleiten, wie er sich zu betragen habe, stellen sich als unfruchtbar heraus. Er lernt nichts hinzu, wie sein stetes Scheitern demonstriert, <?page no="240"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 239 zum großen Missfallen seiner Schwiegermutter: „Encore! Est-il possible, notre gendre, que vous sachiez si peu votre monde, et qu’il n’y ait pas moyen de vous instruire de la manière qu’il faut vivre parmi les personnes de qualité? “ ( GD , 979) Monsieur de la Dandinière - wie der Bauer nach seiner Nobilitierung genannt wird - verkennt seine Welt und sich selbst; er bleibt ob seiner einfachen Kleidung, seines einfältigen Titels und seines unflätigen Naturells unadelig. 110 Ein neuer Name macht noch lange keinen Adeligen aus ihm, wie er in naiver Weise glaubte, und so wäre es für ihn - rückwirkend betrachtet - wohl besser gewesen, „de [s]’allier en bonne et franche paysannerie“ ( GD , 975), so lautet seine bittere Erkenntnis. Das reiche Bürgertum ist nicht nur bei den Adeligen aufgrund seines Wohlstandes favorisiert, sondern auch innerhalb des dritten Standes, wie in Le Mariage forcé aufgezeigt wird. Der viel gereiste Geschäftsmann Sganarelle ist selbst zu Reichtum gelangt und scheint nun als Privatier - ebenso wie die archetypische Bühnengestalt des bürgerlichen Geizes Harpagon - darum äußerst besorgt zu sein: Je suis de retour dans un moment. Que l’on ait bien soin du Logis; et que tout aille comme il faut. Si l’on m’apporte de l’argent, que l’on me vienne quérir vite chez le Seigneur Géronimo; et si l’on vient m’en demander, qu’on dise que je suis sorti, et que je ne dois revenir de toute la journée. ( MF , 939) Seine gewerbliche Funktionslosigkeit und die damit Einzug haltende Leere will er durch die Heirat mit einem jungen Mädchen kompensieren, das ihm eine Familie schenken soll. Auch die junge Dorimène ist der Heirat aus wirtschaftlichen Gründen zugeneigt, denn sie spekuliert auf das frühzeitige Ableben des gealterten Sganarelle und auf eine großzügige Erbschaft, die ihr und ihrem mittellosen Geliebten eine Zukunft sichern soll: „C’est un Homme que je n’épouse point par amour; et sa seule richesse me fait résoudre à l’accepter. Je n’ai point de bien. Vous n’en avez point aussi; et vous savez que sans cela on passe mal le temps au Monde […].“ ( MF , 954 f.) Dorimène möchte von ihrer Jugend profitieren und fügt sich taktisch in die von ihrem Vater und Sganarelle geschlossene Abmachung. Die junge Frau liebt den im Zeichen des mondänen plaisir stehenden Lebensstil - „le Jeu; les Visites; les Assemblées; les Cadeaux, et les Promenades“ ( MF , 944) -, der nur mit Geld- und Zeitressourcen ausgelebt werden kann. Sie spricht sich damit implizit gegen ein Erwerbsleben aus und reiht sich in die Liga der reichen Bürger ein, die in aristokratischer Haltung Arbeit als etwas Niederes betrachten. Dorimène stimmt in dieser Gesinnung mit dem Mustermann Cléonte aus Le Bourgeois gen- 110 Vgl. Chartier (1999), 163. <?page no="241"?> 240 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien tilhomme überein, denn auch dieser scheint sich dank seines von seinen Eltern geerbten Reichtums nicht mehr zum Nährstand hinzuzuzählen. Dennoch hat er sich durch seinen sechsjährigen Militärdienst in der Gesellschaft bewiesen und kann nicht nur aufgrund des Erbes, sondern auch aus eigenem Engagement eine ansehnliche Stellung in le monde vertreten. Die Beispiele zeigen, dass die wohlhabenden Großbürger ihre Funktionslosigkeit im Erwerbsleben mit anderen Tätigkeiten zu kompensieren vermögen, die Molière als lächerlich karikiert, weil sie ihrem Stand nicht entsprechen. Im Umkehrschluss können sie mit ihrem air bourgeois nicht am Hof mithalten, wie La Rochefoucauld konstatiert: „L’air bourgeois se perd quelquefois à l’armée, mais il ne se perd jamais à la cour.“ (M, 393) Eine ‚geglückte Funktionslosigkeit‘ ist nur dann möglich, wenn man durch seine Präsenz im sozialen Gefüge für das Prestige des Staates sorgt. Das Scheitern der wohlhabenden Bürger an einer reüssierenden Klassenflucht ist in ihren bis ins Unrealistische übersteigerten Wünschen angelegt: Monsieur Jourdains Ziel, zum Geburtsadel zu gehören, ist im 17. Jahrhundert genauso utopisch wie die in George Dandin geschilderte Mesalliance. Trotz dieser satirischen Überspitzung ist das Kernproblem zeitgenössischer Adelsprätentionen von Molière realistisch herausgearbeitet und ohne Indulgenz offengelegt: Il ne se peut rien voir de plus ressemblant que ce qu’il [Molière, Anm. S. W.] a fait pour montrer la peine & les chagrins où se trouvent souvent ceux qui s’allient au dessus de leur condition.“ 111 Die eigenbestimmte Ständemobilität wurde in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts von ehrenwerten Vertretern von la cour et la ville wie auch dem Sonnenkönig mit einem usurpatorischen „désordre qui bouscule les hiérarchies naturelles“ gleichgesetzt, die die soziale und auch politische Ordnung gefährdete. 112 Die bourgeois gentilhommes wurden im Theater als egoistisch, geizig, naiv und eifersüchtig verlacht und ohne Zuspruch einer valeur morale degradiert, weil sie die Ständeordnung durch „den Ankauf adliger Herrschaften, durch Heirat, durch königliche Nobilitierung [und] Usurpation“ 113 torpedierten und sich nicht selten über die Auflagen, die den sozialen Aufstieg ermöglichten, großmütig hinwegsetzten. Auch die wohlhabenden jeunes bourgeois , wie Dorimène, werden aufgrund ihres preziösen Lebensstils, der sich an den dekadenten Lebensidealen der Marquis orientiert und sich im Interesse an Mode, an galanten Versen und an 111 Félibien (1668), 21. 112 Vgl. Chartier (1999), 167. 113 Auerbach (1951), 35. <?page no="242"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 241 der Liebe im Stil der preziösen Romane äußert, sozialkritisch gezeichnet. 114 Sie wollen den jungen Adeligen nacheifern und distanzieren sich entschieden vom Nährstand: Que de jeunes bourgeois, suivant la mode, prennent pour modèles des Acaste et des Clitandre, n’a rien d’étonnant. L’on sait combien les roturiers les plus fortunés cherchaient à s’allier à la noblesse et, à défaut, à en imiter les mœurs et les habitudes. Les édits contre le luxe de 1660, 1661, 1663 … visaient non seulement à interdire les étoffes d’or et d’argent, mais aussi à éliminer cette ‚incongruité‘ de ‚voir des gens de la ville habillés aussi richement que la noblesse de cour‘. 115 Molière zeichnet anhand dieses Typs die Anomalie der Gesellschaft, in der die sichtbaren und symbolischen Insignien der Macht nicht mehr dem Rang entsprechen. 116 Es gibt aber auch Mustermänner wie Cléonte, die der honnêteté entsprechend ihren Stand wie auch ihren sozialen Aktionsradius abschätzen und ihre civilité noble solide vertreten können. Des Weiteren zeigt sich am Beispiel von Oronte ein gut situierter Bürger, der an der Stabilisierung seines Vermögens durch eine finanzkräftige Partie für seine Tochter interessiert ist. Er ist ein auf finanzielle Sicherheit bedachter Großbürger, der weniger an Klassenflucht als vielmehr an den Erhalt seines Ranges denkt. 5.2.2.2 Das gebildete Bürgertum Zu den Gebildeten zählen in der Klassik Menschen mit folgenden Attributen: poli , galant , bel-esprit , honnête , habile , savant . Es sind im engeren Sinne Humanisten, Philosophen, Astrologen, Lehrer, Rechtsvertreter und Mediziner. 117 Sie repräsentieren die sogenannten doctes und verfügen aufgrund ihrer Bildung, ihres Wissens wie auch ihres Prestiges über nicht wenig Macht und Einfluss im Staat. Deshalb war es dem König im machtpolitischen Sinne ein wichtiges Bedürfnis, dass sich diese Gruppe trotz ihrer eher freigeistigen, bisweilen auch kritischen Haltung konform an den esprit mondain anpasst und in dessen Anerkennung als oberste Autorität der bienséance nachkommt. Die Macht des Geldes und ihre Bildung brachte die Bourgeoisie in eine privilegierte soziale Stellung. Ihr großer gesellschaftlicher Einfluss gründete in ihren Aufstiegsmöglichkeiten, denn mit Bildung samt Vermögen konnten sie im Idealfall zur noblesse de robe avancieren und ein respektables Amt bekleiden. Diese Nobilitierung ermöglichte Ludwig XIV . eine Kontrolle über die Intellektuellen im 114 Vgl. ebd., 70. 115 Couprie (1985), 69. 116 Vgl. Gerhardi (1991), 26. 117 Vgl. Auerbach (1951), 31. <?page no="243"?> 242 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Staat, denn sie erhielten im Gegenzug für ihre Dienste soziale Anerkennung und finanzielle Entlohnung. Allerdings entzogen sich nicht wenige Gelehrte dieser Kontrolle und traten selbstbewusst als Freidenker auf, die sich nicht immer dem allgemeinen Anpassungsgebot verschrieben, Kritik äußerten und in Opposition zu den königstreuen mondains standen. Jene ‚Störenfriede‘ sind auch in den Ballettkomödien reichlich zu finden; sie ernennen sich selbst zu mächtigen Autoritäten innerhalb der Gesellschaftshierarchie. Mit diesen Gelehrten karikiert Molière ein Phänomen der Zeit, das dem der Selbstadelung in puncto eigenmächtiger Erhöhung in der Gesellschaft ähnelt. Die Philosophen und Lehrer Der im Defilee der fâcheux auftretende Caritidès ist Molières erster komischer savant in den Ballettkomödien. Er ist ein Typ, der aus der Farcentradition stammt. Bereits aufgrund seines Habitus kann Éraste ihn als solchen identifizieren: „Je vois assez, Monsieur, ce que vous pouvez être, / Et votre seul abord le peut faire connaître.“ ( LF , 181) Er möchte dem Marquis eine Bittschrift für den König überreichen, in der er eine Kontrollinstanz einfordert, die mit philologischer Expertise die von Unwissenden verunglimpften Inschriften und Schilder in Paris korrigieren soll. Die Pedanterie des Gelehrten Caritidès offenbart sich in seinen detaillierten Aufzählungen: „ une Charge de Contrôleur, Intendant, Correcteur, Réviseur, et Restaurateur général […] en Français, Latin, Grec, Hébreu, Syriaque, Chaldéen, Arabe … “ ( LF , 183 f.). Seine fachkundige „déluge de paroles“ 118 belegt ihn mit dem Stigma des gebildeten Pedanten, ein sozialer Typ, der bei den Zuschauern unbeliebt war, denn die Kenntnis alter Sprachen wurde von ihnen als unnützes Wissen bewertet. Die société mondaine , vornehmlich der bildungsferne Adel, fürchtete eine Bedrohung ihres art de conversation durch eine Rechtschreibreform 119 , die nach den Kriterien der gelehrten Philologie erfolgen sollte. Zugleich dient diese Karikatur der Verspottung königlicher Bittschriften, die zum Unmut des Königs in großem Maße vorkamen. 120 Weitere Gelehrte in den Ballettkomödien sind die Philosophen Pancrace und Marphurius, die in Le Mariage forcé in Szene IV und V nacheinander auftreten . Der unglücklich verliebte Sganarelle sucht die Experten auf, weil er einen professionellen Rat bezüglich seines Liebeskummers haben möchte. Dieses Unterfangen misslingt aufgrund der Verbildung und Weltfremdheit dieser Phi- 118 Gutwirth (1966), 144. 119 Ludwig XIV. ließ im Laufe seiner Regentschaft die Académie des Inscriptions et Belles-Lettres (1663) von Jean-Baptiste Colbert gründen, die gewissermaßen Caritidès’ Pläne umsetzte. Nach der Errichtung einer solchen Akademie wäre Caritidès’ Vorschlag sicherlich nicht Opfer der Satire geworden. 120 Vgl. Forestier, Bourqui und Piéjus (2010), 1287. <?page no="244"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 243 losophen. Das Konsultationsspiel mit den Gelehrten ist in diesen beiden Szenen der Tradition des dottore in der commedia dell’arte wie auch der comédie érudite italienne / française nachempfunden . 121 Der Aristoteliker Pancrace beklagt sich traditionell im Modus der Invektive über die Ignoranz seiner Mitmenschen. Er reflektiert pedantisch ihr Nicht-Wissen an einer Bagatelle, die ihn zu einem cholerischen Anfall veranlasst: p anCraCe : N’est-ce pas une chose horrible; une chose qui crie vengeance au Ciel, que d’endurer qu’on dise publiquement la forme d’un Chapeau! s ganarelle : Comment? p anCraCe : Je soutiens qu’il faut dire la Figure d’un Chapeau, et non pas la Forme. D’autant qu’il y a cette différence entre la Forme, et la Figure; que la Forme est la disposition extérieure des corps qui sont animés; et la Figure, la disposition extérieure des corps qui sont inanimés: et puisque le Chapeau est un Corps inanimé, il faut dire la Figure d’un Chapeau, et non pas la Forme. Oui, Ignorant que vous êtes, c’est comme il faut parler; et ce sont les termes exprès d’Aristote dans le Chapitre De la Qualité . ( MF , 947) Der sich mit seinem unnützen Wissen selbst erhöhende Pancrace zieht aus dieser Unangepasstheit seine Verdienste. 122 Er belegt die Beweggründe seines Ärgernisses mit der Bezugnahme auf das achte Kapitel der Kategorienschrift von Aristoteles, worin die Ambiguität der Begriffe ‚figure‘ und ‚forme‘ auftaucht. Diese bedingte lange Debatten in der scholastischen Tradition, 123 die der Philosoph hartnäckig weiterführt und die von seinem Meister verfasste Theorie zur Qualität auf einen Hut anwendet. Seinen Unmut verstärkt er mit makkaronischen Lateinfloskeln, die er apophthegmatisch in seinen Diskurs streut und damit seine antike Bildung unklassisch zur Schau stellt. Nachdem er sich etwas beruhigt hat, widmet er Sganarelle seine Aufmerksamkeit, bevor er mit einer ausschweifenden Aufzählung aller möglichen Sprachen beginnt, um das passende Idiom für die anstehende Konversation festzulegen, wobei Sganarelle die Tirade nur mit Negationspartikeln kontrastreich unterbrechen kann. Die an dieses Szenenspiel sich anschließende erneute Aufzählung, diesmal von acht philosophischen Fragen, die die Debatten der Aristoteliker im 17. Jahrhundert aufzeigen, laufen nach dem gleichen Unterbrechungsraster ab, wobei der Ratbedürftige einsieht, dass Pancrace nicht imstande ist, ihm weiterzuhelfen. Sganarelle ist denn auch verärgert über das unschickliche Verhalten des Philosophen: „ Il repousse le Docteur dans sa Maison, et tire la Porte pour l’empêcher 121 Vgl. Riffaud, Forestier und Piéjus (2010), 1555. 122 Vgl. Gaines (2002), 144. 123 Vgl. Riffaud, Forestier und Piéjus (2010), 1555. <?page no="245"?> 244 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien de sortir : Au Diable les Savants, qui ne veulent point écouter les Gens. On me l’avait bien dit, que son Maître Aristote n’était qu’un Bavard.“ ( MF , 950) Sein Urteil über den Aristoteliker stützt sich auf die Meinung der gens du monde , die sich von den Ideen der Alten abgrenzen: Der Chevalier de Méré kritisierte in seiner Conversation (1669) den antiken Philosophen. Im gleichen Werk zeigt sich eine skeptische Haltung gegenüber den Gelehrten im Allgemeinen: „[I]ls [les savants, Anm. S. W.] ne prennent jamais bien les choses qu’on leur dit: celles qui n’ont point de sens, ne laissent pas d’en avoir pour eux, & tout ce qu’on leur propose de bien clair, leur paroit obscur.“ 124 Der dem Pyrrhonismus und dem damit einhergehenden Skeptizismus verfallene Marphurius ist der zweite Philosoph, den Sganarelle in seiner Not konsultiert . Er gibt sich nicht wie sein Kollege damit zufrieden, Sganarelle das Wort abzuschneiden, er untergräbt ihm sämtliches Sprachfundament und beweist in dieser zweifelnden Grundhaltung das ganze Ausmaß seiner Pedanterie: Seigneur Sganarelle, changez, s’il vous plaît, cette façon de parler. Notre Philosophie ordonne de ne point énoncer de Proposition décisive; de parler de tout avec incertitude; de suspendre toujours son jugement: et par cette raison vous ne devez pas dire je suis venu ; mais il me semble que je suis venu . ( MF , 950 f.) Der bereits über seine erste gescheiterte Konsultation indignierte Sganarelle lässt sich nicht lange auf eine Diskussion mit dem Pyrrhoneer ein. Da dieser ihm nur noch die nonverbale Kommunikationsart zu gewähren scheint, bedient sich Sganarelle dieser erneut: „Corrigez, s’il vous plaît, cette manière de parler. Il faut douter de toutes choses; et vous ne devez pas dire que je vous ai battu; mais qu’il vous semble que je vous ai battu.“ ( MF , 952) Er mokiert sich über jegliche Skepsis, wenn er Marphurius einen zweifelsfreien Beweis am eigenen Körper in Form von Stockschlägen demonstriert, der dem Gelehrten jeden Zweifel aufgrund physischer Schmerzen nimmt. Dadurch, dass der Philosoph daraufhin beim Bezirkskommissar Anzeige erstatten will, verrät er das fundamentale Prinzip der skeptischen Mäßigung, womit er selbst die Nichtigkeit des dogmatischen Skeptizismus infrage stellt. 125 Der topische Gelehrtenstreit findet in Le Bourgeois gentilhomme seinen Höhepunkt, als Monsieur Jourdains Lehrer über die Nützlichkeit ihrer einzelnen Disziplinen disputieren. Dieser Streit ist im Zuge der Institutionalisierung von Wissen durch die aufkommenden Akademien von hoher Aktualität. Neben der Besserwisserei der Gelehrten ist die Diskussion über die Nützlichkeit und Vormachtstellung ihrer jeweiligen Kunst ebenso charakteristisch für diese. Der 124 Méré (1687), 253 f. 125 Vgl. Riffaud, Forestier und Piéjus (2010), 1556 f. <?page no="246"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 245 ohne Unterlass von den doctes geplagte Molière karikiert sie sicherlich nicht völlig frei von persönlichen Motiven: M aître à d anser : Je lui soutiens que la Danse est une Science à laquelle on ne peut faire assez d’honneur. M aître de M usique : Et moi, que la Musique en est une que tous les Siècles ont révérée. M aître d ’a rMes : Et moi, je leur soutiens à tous deux, que la Science de tirer des Armes, est la plus belle et la plus nécessaire de toutes les Sciences. M aître de p hilosophie : Et que sera donc la Philosophie? Je vous trouve tous trois bien impertinents, de parler devant moi avec cette arrogance; et de donner impudemment le nom de Science à des choses que l’on ne doit pas même honorer du nom d’Art, et qui ne peuvent être comprises que sous le nom de Métier misérable de Gladiateur, de Chanteur, et de Baladin! ( BG , 278) Diese vehemente Auseinandersetzung widerspricht jeglicher bienséance und schließt die savants aus dem Kreis der mondains aus, womit auch eine Aberkennung ihrer Autorität einhergeht. Der Verlust gesellschaftlicher Anerkennung einzelner Experten wird durch das Prestige staatlicher Akademien aufgefangen und kompensiert; erst dadurch ist eine epistemische Pluralität möglich, da sie dem staatlichen Einheitsduktus unterstellt ist und institutionell kontrolliert werden kann. Im Sinne des Einheitscharakters der Klassik sind die Künste als gleichwertig zu betrachten. Alles hat sich diesem absolutistischen Duktus zu fügen, auch die Gelehrten und ihre Disziplinen, wie Molière mustergültig im Tanz der Allegorien in L’Amour médecin verkünden lässt: l a C oMédie Quittons, quittons notre vaine querelle, Ne nous disputons point nos talents tour à tour. Et d’une gloire plus belle, Piquons-nous en ce jour. Unissons-nous tous trois [Comédie, Musique et Ballet, Anm. S. W.] d’une ardeur sans seconde, Pour donner du plaisir au plus grand Roi du monde . ( AM , 607) Auch der am Hof der Fürstin Aristione verkehrende Astrologe Anaxarque in Les Amants magnifiques ist dieser Personengruppe zuzuordnen. Mit dem Auffliegen seiner falschen Orakel-Venus zieht er nicht nur seine Glaubwürdigkeit als königlicher Berater in Zweifel, sondern auch die der Astrologie . Seine Kunst, die das Übernatürliche deuten und das Schicksal manipulieren will, konkurriert in ironischer Weise mit dem wahren Schicksal, das seine Scharlatanerie offenlegt und ihn als korrupten Unhold entlarvt. Sanktioniert wird er von den <?page no="247"?> 246 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien beiden Prinzen Iphicrate und Timoclès, die ihn für seine Aktion bezahlen, aber keinen Erfolg bei der Eroberung von Ériphile haben: C leoniCe : Madame, je viens vous dire qu’Anaxarque a jusqu’ici abusé, l’un et l’autre Prince, par l’espérance de ce choix qu’ils poursuivent depuis longtemps, et qu’au bruit qui s’est répandu de votre aventure, ils ont fait éclater tous deux leur ressentiment contre lui, jusque-là, que de paroles en paroles, les choses se sont échauffées, et il en a reçu quelques blessures dont on ne sait pas bien ce qui arrivera. ( AM s, 991) Mit seiner Kunst erreicht Anaxarque nur eine vorübergehende Augenwischerei, keine zu seinen Gunsten ausfallende Veränderung des Heiratsarrangements, die nur Sostrate durch seine Heldentat und seine Schicksalsgunst gelingt. Sostrate setzt auf den rationalen bon sens und reiht sich damit in die Liga der mondains ein, die den Glauben an Übernatürliches als unschicklich von sich weisen und mit Scharlatanerie gleichsetzen. 126 Auch diese Parodie ist auf eine historische Bewandtnis zurückzuführen, die trotz des Filters der griechischen Handlungswelt erkennbar ist. Geschickte Astrologen der Zeit nutzten häufig die Gutgläubigkeit mächtiger Herren aus, um ihre Ziele zu erreichen, die zumeist finanzieller und machtverklärender Natur waren, wie beispielsweise der Mathematiker und Horoskopersteller Jean-Baptiste Morin, der vor dem Regierungsantritt des Sonnenkönigs einen Lehrstuhl in Mathematik am Collège de France für seine Dienste zugesprochen bekam. 127 Dieser gesamten Untergruppe des gebildeten Bürgertums ist in der Parodie letztlich die Überschrift Les Pédants zu geben, denn sie sind durch weltfremdes Expertentum charakterisiert, wodurch sich die funktionslosen Adeligen bedroht sahen, konnten Letztere doch zum Teil nicht einmal lesen und schreiben. Gleichermaßen barg ihr esprit libre eine potenzielle Gefahr für den Monarchen, da sie das absolutistische System und die damit korrelierenden Staatsaktionen kritisch-distanziert beurteilten und schwer zu kontrollieren waren. Mit dem Stigma der Pedanterie und Ignoranz, in alter Farcentradition als weltfremd persifliert, wurden die Gelehrten im Dodekameron institutionell zur Zielscheibe des Spotts und zu Außenseitern diskreditiert. Expertentum honorierte man nur an den staatlichen Akademien oder bei der Ausführung bestimmter Ämter, da diese unter royaler Kontrolle standen und ihre Amtsträger zum Wohle des Staates arbeiteten. 126 Vgl. Kapitel 3, Fußnote 12. 127 Vgl. Canova-Green (2007), 313. <?page no="248"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 247 Die Rechtsvertreter Die Vertreter des Gesetzes besitzen eine große Macht im absolutistischen Staat, da sie dessen juristische Normen repräsentieren und die staatliche Ordnung durchsetzen. In Molières Ballettkomödien treten rangniedere Repräsentanten dieses Berufsstandes auf, also keine Anhänger der noblesse de robe . Zu jenen gehören beispielsweise seriöse Staatsdiener, darunter die Notare. Sie erscheinen am Komödienende auf der Bühne, können aber auch nur rhetorisch Erwähnung finden. Ihre Aufgabe besteht in der notariellen Beglaubigung der Eheschließungen. Molières Einsatz dieser Juristen ist eine symbolische Konvention, die er - ob des Verbotes einer kirchlichen Heiratszeremonie - aus Gründen der bienséance befolgt. 128 Die weniger artigen Vertreter dieser Berufsgruppe, die aus diversen Motiven die ihrem Berufsstand zugesprochene Macht unehrenhaft ausspielen, fielen Molières Satire zum Opfer. 129 Zu diesen zählt etwa Monsieur Bonnefoy in Le Malade imaginaire . In seiner Eigenschaft als Notar kennt er die Paragrafen des Landes und weiß auch über die geschickte Umgehung dieser Bescheid. Dem von Béline zum Verfassen seines Testamentes gedrängten Argan empfiehlt er nach einer Schelte gegen die ehrbaren Vertreter seiner Zunft das geltende Erbrecht - das Argans Ehefrau aufgrund seiner Kinder aus erster Ehe keine direkte Vererbung seines Vermögens gestattet - zu umgehen: Ce n’est pas aux Avocats à qui il faut s’adresser, ce sont gens fort scrupuleux sur cette matière, qui ne savent pas disposer en fraude de la Loi, et qui sont ignorants des tours de la conscience, c’est notre affaire à nous autres, et je suis venu à bout de bien plus grandes difficultés; il vous faut pour cela auparavant que de mourir donner à votre femme tout votre argent comptant, et des billets payables au Porteur si vous en avez; il vous faut outre ce, contracter quantité de bonnes Obligations sous-main avec de vos intimes amis, qui après votre mort les remettront entre les mains de votre femme sans lui rien demander, qui prendra ensuite le soin de s’en faire payer. ( MI , 655) Bonnefoys Betragen, das dem Etymon seines Namens diametral entgegengesetzt ist, zeugt von krimineller Energie. Er lässt sich den juristischen Betrug bezahlen und bereichert sich somit unehrenhaft an seinem finanzstarken, aber naiven Klienten. Zudem steht der Verdacht einer Liaison mit Béline im Raum, 130 wodurch er mit der Enterbung von Argans Kindern in doppelter Weise finanziell 128 Vgl. Gaines (1984), 85. 129 Mit seiner Juristensatire schließt Molière traditionell an François Rabelais an, der in seinem dritten Buch, Le tiers livre , spitzfindig Kritik an der Justiz übt. 130 Diese Interpretation gründet auf impliziten Hinweisen im Text: „Bonnefoy may well have been flirting with Béline during this interview, since Argan is almost cocooned in pillows and can’t see most of the room. […] Furthermore, he may be the business she is <?page no="249"?> 248 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien profitieren hätte können. Doch die kundige Toinette durchschaut das finanzielle Interesse der Stiefmutter und entlarvt ihren Frevel, mit der Folge, dass sie sich nur noch wort- und vermögenslos in Akt III von der Bühne verabschieden kann. Mit ihrem Abgang endet die Intrige gegen ihren Ehemann unmittelbar, womit auch ihr Komplize das Nachsehen hat. Bestraft wird der Notar interessanterweise nur dadurch, dass er von dem ihm sowieso nicht zustehenden Erbe nichts abbekommt. Zuschauerspott kann er lediglich durch das Fehlschlagen seiner Pläne und seine Nichtzugehörigkeit zur noblesse de robe ernten, die für Werte wie Gesetzestreue und Monarchieloyalität bürgt. Bis auf seinen Namen wird er nicht lächerlich, sondern als berechnender Rebell in Szene gesetzt, denn er weiß die ihm übertragene Verfügungsgewalt für seine Belange zu instrumentalisieren, indem er mit seiner Expertise den Bürger betrügt. Zudem schadet er dem Staat mit seiner Insubordination und dem Renommee seiner Profession. Eine angemessene Sanktionierung fehlt in der Komödie. Sie macht dem ersten Interludium Platz, das dieses subversive Moment zerspielt und in Tanz und Musik vergessen macht. Mit den singenden Anwälten in Monsieur de Pourceaugnac karikiert Molière die Juristen auf eine besonders kreative Art und Weise, indem er sie als Sänger und Tänzer in Erscheinung treten lässt und die bittere Wahrheit ihres Machtmissbrauchs durch Musik und Tanz ästhetisiert. 131 Im Zuge der Ästhetisierung funktionalisiert Molière die Advokaten zu Künstlern um und entzieht ihnen ihre juristische Autorität, die sie auch nicht durch pedantische Verweise auf bekannte Rechtsvertreter in ihren Gesängen zurückerlangen können. Mit ihrem Urteilsspruch deklassieren sie Pourceaugnac zum Nichtadeligen, wodurch sie den Adelssüchtigen provozieren, der sie denn auch körperlich angreift. Die Parodie hebt die Arbitrarität der Rechtsvertreter hervor, die sich über jegliche juristischen Formalitäten hinwegsetzen, sofort zu einem Urteil kommen und ihrem Klienten nicht die übliche prozessuale Verfahrensweise anbieten, wie sie Monsieur de Pourceaugnac - sachkundig wie er ist - selbst zu skizzieren weiß: [Q]uand il y aurait Information [enquête faite par la justice, qui comprend notamment une déposition des témoins], Ajournement [assignation à comparaître], Décret [ordonnance portant généralement saisie de la personne ou des biens] et Jugement obtenu par surprise, Défaut et Contumace [manquement à l’assignation], j’ai la voie de Conflit de Juridiction, pour temporiser et venir aux Moyens de nullité qui seront dans les Procédures. (MdP, 238) about to attend to when she leaves the house in Act II; unknowingly, Argan reminds his wife to consult Bonnefoy about the papers.“ Gaines (2002), 56 f. 131 Vgl. Kapitel 3.2.2.1. <?page no="250"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 249 Die rasante Verurteilung des komischen Helden karikiert mittels satirischer Inversion die langsamen Mühlen der Justiz und die Schwierigkeiten der Gerichtsverfahren der Zeit und zugleich den leichtfertigen Umgang mit der potenten Jurisdiktion, wie sie von einigen dem Staat bedrohlich gewordenen Zeitgenossen gehandhabt wurde. Molières persiflierte Antwort auf den Machtmissbrauch der Rechtswissenschaften findet sich in der Transformation der Juristen zu Sängern. Zwei tanzende Staatsanwälte und Unteroffiziere besiegeln die juristische Entgleisung mit ihrer Wandlung zu burlesken Tänzern. Des Weiteren wird diesem sozialen Stereotyp auch Korruption vorgeworfen, wie der Unteroffizier in Monsieur de Pourceaugnac und die Häscher in Le Malade imaginaire in ihrem Umgang mit den Gesetzesbrechern Pourceaugnac und Polichinelle demonstrieren. Ihr niederer Rang wie auch der Sachverhalt, dass sie Paris von dem Limousiner befreien und Polichinelle für seine nächtliche Ruhestörung verprügeln, legitimiert noch nicht ihre Bestechlichkeit. Ihre Eigennützigkeit und Trunksucht offenbaren sich darin, dass sie ihre Kollegen von dem Deal mit den Gesetzesbrechern entbinden oder Münzen „pour boire“ (MI, 667) einfordern. Die mit Gesetzeshütern gemeinhin verbundenen Tugenden wie Loyalität und Ehrenhaftigkeit machen sie jedenfalls vergessen. In Molières Karikatur spiegelt sich die Polizeisituation der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wider: Es gab zwei Polizeiinstitutionen, die monarchische und die städtische, die miteinander um die städtische Macht konkurrierten. Die doppelte Funktionsbelegung innerhalb des Staates hatte zur Folge, dass es zu einem „sur-encadrement de l’espace parisien“ 132 kam. Die Konkurrenzsituation führte ob des Mangels einer institutionellen Organisation zu einer exekutiven Unbestimmtheit, sodass die Korruption in dieser Zeit begünstigt wurde. 133 Sonach karikiert Molière die lebensweltliche Problematik des korrumpierbaren und inkompetenten Polizeiapparats. 134 Die fehlende Bestrafung dieser lächerlichen 132 Vidoni (2009), 118. 133 Vgl. ebd., 97-118. 134 Ein Entscheid des Conseil d’État vom 25. August 1668 bestätigt die Brisanz dieser Problematik: „Portant que le Roy ayant été informé du desordre qui se trouvoit dans les Compagnies établies pour la sûreté de Paris, & que quelques-uns des Payeurs de ces Compagnies, pour s’appliquer la plus grande partie du fond employé dans les Etats de Sa Majesté, avoient trouvé moyen d’acquerir plusieurs Charges qu’ils faisoient exercer par commission par des gens mal famez, ou de mauvaise vie, ausquels ils donnoient ce que bon leur sembloit, & qui d’ordinaire sous prétexte de ces commissions, & sous le titre d’Avoüez, commettoient des abus & violences extraordinaires […]. Sa Majesté ordonne que dans quinzaine du jour de la publication du present Arrêt, tous les Officiers subalternes, & Archers des Compagnies, tant du Lieutenant Criminel de Robe-courte, que celles du Chevalier du Guet, & du Prevôt de l’Ile, seront tenus de représenter leurs provisions & actes de reception pardevant les sieurs Colbert & de la Reynie, Commissaires à ce députez par Sa Majesté […].“ Delamare (1729), 229. <?page no="251"?> 250 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Repräsentanten ist durch ihre Rangniedrigkeit zu erklären, denn ihr moralisches Betragen spiegelt sich in ihrer sozialen Stellung wider, die im unteren Drittel der Gesellschaftshierarchie anzusiedeln ist - aus Zuschauersicht bereits Strafe genug. Generell kann für die unmoralischen Rechtsvertreter in den Ballettkomödien konstatiert werden, dass sie die Wahrung der Rechtsnormen nicht gewährleisten, weil ihre auf Gemeinwohl hin ausgelegte und ihnen vom Staat zugesprochene Autorität missbräuchlich zum Eigennutz eingesetzt wird und diesen Repräsentanten die moralische Selbstkontrolle abgeht. Molière verzichtet weitestgehend auf die Bestrafung der gesetzeswidrigen Beamten und scheint sich mit ihrer Persiflage zufriedenzugeben. Er reiht sich damit in die europäische Satiretradition ein, in welcher die korrupten Beamten zum komischen Topos gehören und prangert zugleich den sozialen Missstand an, dass die bewusste Missachtung der Gesetze durch diese Rechtsvertreter nicht immer geahndet werden konnte. Mit der Aktualisierung jener Tradition und dem kritischen Blick auf die gegenwärtigen Verhältnisse bestätigt Molière ihr dubioses Renommee und kommuniziert es den Zuschauern auf denunziatorische Art und Weise. Die Mediziner Molières Bekanntheitsgrad als Satiriker beruht unter anderem auf seiner Ärzteschelte, die mit der Wandlung des geisteskranken Argan zum Arzt in Le Malade imaginaire ihren Höhepunkt findet. Bereits in L’Amour médecin führt Molière die Mediziner ‚tanzend‘ in das Dodekameron ein und lässt darin die Figur des dottore aus der commedia dell’arte zeitgenössisch aktualisiert auftreten. Als Vertreter der Gelehrten zeichnen sie sich als pedantisch, vergeistigt und den antiken doctes hörig aus. Der Gelehrtenstreit zwischen den Ärzten Tomès (griech. ‚Blutzapfer‘) und Des Fonandrès (griech. ‚Menschenschlächter‘) um die richtige Diagnose und die adäquate Behandlungsmethode offenbart das Ausmaß ihrer Pedanterie, die die Heilung der Patientin unmöglich werden lässt. Zudem hindert sie ihr Expertenwissen daran, die simpelsten empirischen Tatsachen anzuerkennen, wenngleich sie mehr als evident sind und sogar von Dilettanten gedeutet werden können, wie der Disput über den Tod eines Klienten zwischen dem Dienstmädchen Lisette und Tomès persifliert: l isette : Et moi je vous dis qu’il est mort, et enterré. M onsieur t oMès : Vous vous trompez. l isette : Je l’ai vu. M onsieur t oMès : Cela est impossible. Hippocrate dit, que ces sortes de maladies ne se terminent qu’au quatorze, ou au vingt-un, et il n’y a que six jours qu’il est tombé malade. <?page no="252"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 251 l isette : Hippocrate dira ce qu’il lui plaira: mais le Cocher est mort. […] M onsieur t oMès : Un homme mort, n’est qu’un homme mort, et ne fait point de conséquence; Mais une formalité négligée, porte un notable préjudice à tout le Corps des Médecins. ( AM , 618 f.) Die lebenspraktische Lisette lässt sich nicht von dem Gelehrten einschüchtern, sondern vertraut ihren Sinnen und hinterfragt kritisch-direkt den Gründungsvater der Medizin als Wissenschaft, Hippokrates von Kos. 135 Diese skeptische Grundhaltung ist von ihrem bon sens gelenkt, den sie trotz ihrer fehlenden Fachkenntnis unbefangen in vorlauter Manier der Dienerschaft verkündet. Sie entkräftet den medizinischen Diskurs antiker Autoritäten als lebensfremde Theorie, deren anorganische Prinzipien dem organischen Körper nicht gerecht werden, und deren oberstes Ziel die dogmatische Ausführung von Behandlungsmethoden und nicht die Genesung des Patienten zu sein scheint. So proklamiert Monsieur Bahys: „Il vaut mieux mourir selon les règles, que de réchapper contre les règles.“ ( AM , 622) Die Überzeichnung des bedingungslosen Gehorsams und Respekts der Formalitäten ist eine Neuheit Molières, die in der europäischen antimedizinischen Satire zuvor nicht zu finden ist und die Schattenseite der klassischen Regelbesessenheit anprangert. 136 Der medizinische Diskurs gleicht einem Diskurs der Macht und ist mit ihm engzuführen. Dem Arzt wird die Macht über Körper, Gesundheit und Krankheit wie auch über Leben und Tod des Subjektes gesellschaftlich beziehungsweise institutionell zugeschrieben. Im Sinne von Medizin als Machtdiskurs verurteilt die Ärzteschaft die Geringschätzung oder gar Ablehnung medizinischer Gesetze und Therapieformen seitens der Patienten auf das Schärfste: In Monsieur de Pourceaugnac wird der komische Held aufgrund seines Widerstands als hypocondriaque 137 zwangsdiagnostiziert sowie -behandelt; in Le Malade imaginaire wird Argan mit dem Entzug der Betreuung durch seinen Arzt sanktioniert. Der medizinische Diskurs scheint seine gesellschaftliche Relevanz aus der menschlichen Urangst vor dem Tode zu beziehen, die die Ärzte geradezu zu Göttern erklärt: 135 Lisette distanziert sich im progressiven Geist der Zeit von der ‚alten‘ Medizin. Das Streitgespräch reflektiert und problematisiert im Modus der Parodie die lebensweltliche Situation der Medizin im 17. Jahrhundert, die von einem Diskrepanzverhältnis zwischen ‚alter‘ und ‚neuer‘ Medizin bestimmt ist. 136 Vgl. Louvat-Molozay, Bourqui und Piéjus (2010), 1430. 137 ‚Hypocondriaque‘ ist im heutigen Sinne als ‚psychopathisch‘ zu verstehen, damals als ‚melancholisch‘ und im Kontext der Humoralpathologie zu deuten. In dieser medizinischen Theorie ist Krankheit auf die pathogenen Dämpfe des melancholischen Saftes der schwarzen Galle zurückzuführen und kann im 17. Jahrhundert als Modekrankheit bezeichnet werden. <?page no="253"?> 252 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Totus mundus currens ad nostros remedios, Nos regardat sicut Deos, Et nostris Ordannanciis Principes et Reges soumissos videtis. ( MI , 712) Der hohe Status des akademisch gebildeten Arztes wird durch das Medizinstudium und die strenge Fakultätshierarchie institutionell aufrechterhalten. Letztere manifestiert sich in Monsieur de Pourceaugnac , wenn der Apotheker dem ersten Arzt großen Respekt zollt und dieser dem zweiten, seinem Lehrer. 138 Molières Ärzte leben ihr Hierarchieverständnis auch im sozialen Kontext aus, denn sie sind nicht bestrebt, höherständische Patienten am Hof zu betreuen, sondern bleiben lieber selbst an der Spitze gutgläubiger wie auch zahlungskräftiger Großbürger: a rgan : N’est-ce pas votre intention, Monsieur, de le [Thomas, Anm. S. W.] pousser à la Cour, et d’y ménager pour lui une Charge de Médecin? M onsieur d iafoirus : À vous en parler franchement, notre métier auprès des Grands ne m’a jamais paru agréable, et j’ai toujours trouvé qu’il valait mieux pour nous autres, demeurer au public. Le public est commode; vous n’avez à répondre de vos actions à personne, et pourvu que l’on suive le courant des règles de l’Art, on ne se met point en peine de tout ce qui peut arriver. Mais ce qu’il y a de fâcheux auprès des Grands, c’est que quand ils viennent à être malades, ils veulent absolument que leurs Médecins les guérissent. ( MI , 677) Der wirtschaftliche Aspekt darf bei den Heilversuchen nicht missachtet werden, spielt er doch eine zentrale Rolle für das Verhältnis von Arzt und Patient und stützt den Machtdiskurs der Medizin. Das parasitäre Profitieren der Ärzte torpediert die humane Grundgesinnung ihres Berufes, da sie mit den (Todes-) Ängsten der Menschen spielen und sich daran bereichern: M onsieur f ilerin : […] [L]e plus grand faible des hommes, c’est l’amour qu’ils ont pour la vie, et nous en profitons nous autres, par notre pompeux galimatias; et savons prendre nos avantages de cette vénération, que la peur de mourir, leur donne pour notre métier. ( AM , 625) Demnach ist das Desinteresse der Ärzte an der Heilung ihrer Patienten sinnfällig. 138 Gemäß dem strengen Reglement der Zeit präsentierte zuerst der jüngste Arzt seine Diagnose, danach der nächstältere. Die Mitteilung der endgültigen Diagnose überbrachte der dienstälteste Arzt dem Kranken und den Angehörigen. Vgl. Appelt (2000), 28. <?page no="254"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 253 In L’Amour médecin bekundet der besorgte Sganarelle sein Vertrauen in die Heilkunst seiner Ärzte dadurch, dass er bereits vor der Konsultation bezahlt. Diese Entlohnungsszene karikiert Molière mit einem variationsreichen Spiel körperlicher Gesten auf Seiten der Empfänger, 139 die allein bei ihrer Bezahlung ihren pedantischen Fachjargon einzustellen vermögen. Von Sganarelles Glauben an die Käuflichkeit der Gesundheit profitiert auch der Orvietanverkäufer, der in seinem Gesang nicht nur den medizinischen, sondern zugleich auch den materiellen Wert seiner Wunderdroge anpreist und den komischen Helden in seinem Aberglauben bestätigt: „Monsieur, je crois que tout l’or du monde n’est pas capable de payer votre remède […].“ ( AM , 623) 140 Mit dem repräsentativen Auftritt dieses Scharlatans karikiert Molière die Zunft der Laienbehandler wie Heiler, Exorzisten und Kräuterfrauen, die für den zeitgenössischen Pluralismus alternativer Heilangebote verantwortlich und gleichermaßen am Geld und weniger an der Gesundheit ihrer Patienten interessiert waren. Des Weiteren thematisiert er mittels der Figur des Argan die Korrelation zwischen Gesundheit und Portemonnaie, die der eingebildete Kranke in einem langen Monolog über die Kosten seiner Medikamente zu Beginn des Lustspiels darlegt: 141 Si bien donc que de ce mois j’ai pris une, deux, trois, quatre, cinq, six, sept et huit Médecines; et un, deux trois, quatre, cinq, six, sept, huit, neuf, dix, onze, et douze Lavements; et l’autre mois il y avait douze Médecines et vingt Lavements. Je ne m’étonne pas si je ne me porte pas si bien ce mois-ci que l’autre. Je le dirai à Monsieur Purgon, afin qu’il mette ordre à cela. ( MI , 642) Molières Zeit war eine finstere Zeit für die Medizin und so bot sie denn auch eine dankbar große Angriffsfläche für satirischen Spott. Die Ärzte in seinen Ballettkomödien reduzieren den Arztberuf auf Wahrung ihrer archaischen Theorien und ignorieren die nötige Praxis: Sie verzichten auf eine gründliche Untersuchung ihrer Patienten; allein über das Fühlen des Pulses und Erzählungen der Kranken beziehungsweise der Angehörigen bestimmen sie deren Therapieformen, sodass es nicht verwundert, wenn der Heilungserfolg ausbleibt und das ärztliche Wissen daran rückgekoppelt in der Praxis unbrauchbar 139 Dieses Spiel erinnert an die Schneidergesellen in Le Bourgeois gentilhomme , die den Großbürger gleichermaßen ausnehmen. Vgl. BG, Akt II, Szene V. 140 Bereits in Molières weitgehend unbekanntem Ballett Les Incompatibles (1655) verweist der Dramaturg auf das geldliche Interesse des Wunderheilers im siebten Entree. Hier tritt ein Scharlatan auf, der das Wundermittel Orvietan personifiziert darstellt und werbend anpreist. 141 Im 17. Jahrhundert hat es den Anschein, dass der medizinische Diskurs den religiösen Diskurs ersetzte und die Menschen ihr Heil im Medikamentenkauf und nicht mehr über den Kauf von Ablassbriefen zu erreichen gewillt waren. <?page no="255"?> 254 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien erscheint. 142 Auf diese Weise ist erklärt, warum sie nur gesunde Menschen wie Pourceaugnac und Lucinde therapieren, indes Argans Hypochondrie nicht diagnostizieren können; die Ärzte beschränken sich bei Argans Diagnose auf das Physische und vernachlässigen das Psychische. Ihre Behandlungsmethoden unterstehen der von Hippokrates und Galen entwickelten antiken Lehre der Humoralpathologie und wenden folgendes dogmatische Prozedere an, das nach der klassischen Maxime contraria contrariis curantur auf eine Wiederherstellung des Säftegleichgewichts abzielt, indem der Körper von unreinen Schlackenstoffen entgiftet werden soll: 143 „ Clisterium donare / Postea seignare/ Ensuitta purgare .“ ( MI , 714) Mit dieser triadischen Behandlungsformel, die in der Cérémonie Burlesque von Argan als Heilungsformel verschiedenster Krankheiten angepriesen wird, karikiert Molière die für ihre inflationäre Verschreibung von Aderlässen bekannte Pariser Fakultät. 144 Ansonsten erscheint das medizinische Personal ausschließlich in Form von zeremonialisierten Wissensbekundungen und Verkleidung, so der entlarvende Blick des Räsoneurs Béralde: „[L]a plupart d’entre eux sont de très bons Humanistes qui parlent fort bien Latin, qui savent nommer en Grec toutes les maladies, les définir; mais pour les guérir, c’est ce qu’il [sic] ne savent pas.“ ( MI , 695) Dass Molières Ärzte weder heilen können noch über besondere Fähigkeiten verfügen, wird am jüngst examinierten Thomas Diafoirus deutlich, dessen Vater ihn stolz als Tölpel ohne jegliche intellektuellen Fähigkeiten porträtiert, der jedoch mit seinem blinden Vertrauen in die alte medizinische Dogmatik punkten kann: M onsieur d iafoirus : […] [C]e qui me plaît en lui, et en quoi il suit mon exemple, c’est qu’il s’attache aveuglément aux Opinions de nos Anciens; et que jamais il n’a voulu comprendre ni écouter les raisons et les expériences des prétendues découvertes de notre siècle, touchant la Circulation du sang et autres opinions de même farine. ( MI , 676) Thomas Diafoirus’ unreflektierte Wiedergabe längst überholter medizinischer Weisheiten, wie die Ignoranz des bereits im 16. Jahrhundert von dem Engländer William Harvey entdeckten Blutkreislaufs, spiegelt seine bornierte und zugleich preziöse Art wider. Er repräsentiert eine regressive Medizin, die sich nur aufgrund autoritärer Namen behaupten kann und der Medizin durch die 142 Dieses Verhalten ist der Tatsache geschuldet, dass Ärzte als Gelehrte galten. Sie verweigerten jegliche manuelle Intervention, getreu dem Prinzip „le cerveau est noble et non la main“. Vgl. Meyer (1973), 107. 143 Vgl. Louvat-Molozay, Bourqui und Piéjus (2010), 1429. Weitere therapeutische Maßnahmen sind diverse Diäten, physische Betätigung wie auch Bäder. 144 Vgl. Meyer (1973), 106. <?page no="256"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 255 Ablehnung einer Progression jegliche Wissenschaftlichkeit abzusprechen droht. Die falschen Diagnosen der Ärzte zeugen von auswendig gelernten und unreflektierten nosologischen und ätiologischen Kenntnissen, die sie in schlechtem Latein rezitieren und in pedantischen Disputen zur Schau stellen. Diese stehen im Zeichen eines Machtdiskurses und werden durch Toinettes und Clitandres Verwandlung zu Ärzten zum rhetorischen Diskurs erniedrigt. Toinette karikiert beispielsweise die Medizinerfloskeln, indem sie ihre Diagnose von Argans diversen Krankheitsbildern ausschließlich auf ein Problem mit „le Poumon“ 145 reduziert. Diese Szene korrespondiert mit jener, in der Purgon und Diafoirus unterschiedliche Organe für Argans kranken Zustand verantwortlich machen: Purgon diagnostiziert ein Leberleiden, Diafoirus ein Problem mit der Milz. Diafoirus redet sich daraufhin ungeniert mit einem Erguss an Fachbegriffen aus der Affäre: „Eh oui, qui dit parenchyme dit l’un et l’autre, à cause de l’étroite sympathie qu’ils ont ensemble par le moyen du vas breve du pylore, et souvent des méats cholidoques.“ ( MI , 685) Der medizinische Diskurs wird in satirischer Manier zu einem leeren Formdiskurs degradiert, dessen Repräsentanten sich mit makkaronischem Latein, vorgefassten Krankheitsbildern und berufstypischer Kleidung schmücken. Der parodistische Höhepunkt der Ärztesatire findet in der Cérémonie Burlesque 146 seinen Ausdruck, in der der geisteskranke Argan als vollwertiges Mitglied im Ärztecorps akzeptiert wird, in dem die Werte „ Salus, honor et argentum “ ( MI , 711) vorherrschen: C horus Vivat, vivat, vivat, vivat, cent fois vivat Novus Doctor, qui tam bene parlat […] ( MI , 718) 145 Vgl. MI, Akt III, Szene IX. 146 Die Cérémonie Burlesque stellt eine Karikatur auf die Feierlichkeiten der medizinischen Fakultät dar. Der englische Philosoph John Locke wohnte solch einer Feier bei und schilderte die Eindrücke in seinem Tagebuch mit englischem Humor: „Recette pour faire un docteur en médecine: grande procession de docteurs habillés de rouge, avec des toques noires; dix violons jouant des airs de Lulli. Le professeur s’assied, fait signe aux violons qu’il veut parler, commence son discours par l’éloge de ses confrères, et le termine par une diatribe contre les innovations et la circulation du sang. Il se rassied, les violons recommencent. Le récipiendaire prend la parole, complimente le chancelier, complimente les professeurs, complimente l’Académie. Encore des violons. Le président saisit un bonnet qu’un huissier porte au bout d’un bâton, et qui a suivi processionnellement la cérémonie, coiffe le nouveau docteur, lui met au doigt un anneau, lui serre les reins d’une chaîne d’or et le prie poliment de s’asseoir. Tout cela m’a fort édifié.“ Zitat in Millepierres (1964), 33. <?page no="257"?> 256 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Die in L’Amour médecin erstmals auftauchenden Ärzte verlassen die Bühne des Dodekamerons in dieser Schlussszene in gleicher Darbietung, nämlich tanzend. Am Ende seiner Ärzteschelte lässt es sich Molière nicht nehmen, im Sinne einer Metasatire folgende Worte in den Mund seines Räsoneurs Béralde zu legen, die die Mediziner und Apotheker in einem metatheatralischen Diskurs zu Schauspielern transformiert: „Soit, je le veux bien, mais je souhaiterais seulement pour vous désennuyer vous mener voir un de ces jours représenter une des Comédies de Molière sur ce sujet.“ ( MI , 696) Zusammenfassend lässt sich für Molières Ärztekarikatur anmerken, dass sie im Sinne seiner Satire-Innovation allgemein Kritik an einer abgelebten und impraktikablen Wissenschaftsauffassung übt, die sich nur auf das Urteil alter Autoritäten stützt und jedwede neueren Entwicklungen und Erkenntnisse mit der regressiven und reaktionären Grundhaltung ihrer Repräsentanten verbannt. 147 Das kränkelnde medizinische System des 17. Jahrhunderts kann den Krankheiten der Patienten nicht mehr gerecht werden, sodass diese nach alternativen Heilern suchen. Die wiederum sind nicht erfolgreicher, unterscheiden sich aber von der Ärzteschaft dadurch, dass sie sich der Wirkungslosigkeit ihrer Methoden bewusst sind. Fazit Tanzende Ärzte, singende Anwälte und quasselnde Gelehrte präsentiert Molière in diesem satirischen Kuriosenkabinett des gebildeten Bürgertums. Sein Hohn resultiert aus der zeitgenössischen Dialektik zwischen „le savoir obscur de la Pédanterie“ und „l’Esprit du Monde“ ( FS , 605). Der weltmännische Geist, der sens commun der honnêtes hommes opponiert gegen das Spezialwissen einiger Experten, die sich mit ihrem Fachdiskurs vom gesellschaftlichen Diskurs abkapseln und selbst zu Gefangenen ihres eigenen Diskurses werden. 148 Die Unfähigkeit, ihr abstraktes Wissen mit dem praxisorientierten von le monde zu verbinden, lässt sie eigenbrötlerisch und zugleich hochmütig erscheinen. Ihr Stolz, den sie aus ihrem geistigen Kapital ziehen, lässt sie in diesem Gesellschaftskontext lächerlich in Erscheinung treten und etikettiert sie als „ânes bien faits“ ( LF , 184); der sachverständige Mensch, sei es ein Humanist, Jurist oder Arzt, wirkt in diesem höfischen Mikrokosmos als närrisch und der Verachtung würdig. Es war ausreichend, den Geist der Zeit zu besitzen, um Urteilskraft und damit einhergehend soziale Autorität zu erlangen. Jenen Geist schulte man im sozialen Gefüge und auch das relevante Wissen selbst, das als modern und zeitgemäß 147 Vgl. Grimm (2002), 170. 148 Vgl. Emelina (1993), 81. <?page no="258"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 257 galt, wurde dort erlernt. 149 Darüber hinaus assoziierte man das Sachlich-Tätige immer mit dem Berufsleben, das sich für la cour et la ville nicht schickte, denn métier und honnêteté sind unvereinbare Begriffe, wie der Chevalier de Méré erklärt. 150 Im Verlauf dieser Analyse kristallisierte sich für diese soziale Gruppe heraus, dass ihre Angehörigen allein auf ihre finanzielle Entlohnung aus sind und in diesem Zuge mit Parasiten und Betrügern enggeführt werden. Ferner stehen Molières Figuren des Bildungsbürgertums im Zeichen einer doppelten Natur, einer lebensweltlichen und einer künstlerischen: Einerseits verkörpern sie „le désaveu de la société mondaine“ 151 , indem sie sich durch sozial unverträgliche Umgangsformen auszeichnen; sie büßen durch eine normdivergente Missachtung sozialer Gesetze ihre Autoritätsposition ein und werden Spott und Hohn preisgegeben. Andererseits stehen sie als Pedanten in der Fortführung der französischen Farcentradition und müssen qua Kunstfiguren gelesen werden, die als komische Figuren ob ihrer Pedanterie das Lustspiel bereichern. 5.2.2.3 Das einfache Volk Das Schlusslicht des dritten Standes bildet das einfache Volk, das Publikum des Parterre im Palais Royal, das bei den Uraufführungen nur in Form von Dienern vertreten war. Die Repräsentanten des einfachen Volkes treten in den Ballettkomödien zumeist als Dienstpersonal des finanzstarken Bürgertums auf und werden in der Analyse fokussiert. 152 Vertreter sind zudem Handwerker wie Schneider und ihre Gesellen, Zigeuner, Hofnarren, Tänzer, Künstler, Spieler, Scharlatane, Schäfer und Provinzbewohner. Das einfache Volk verfügt weder über Vermögen noch Bildung, sodass ihm auch kein Prestigefaktor im gesellschaftlichen Wertekatalog zugeschrieben werden kann. Es verdingt sich als Diener bei wohlhabenden Bourgeoisen oder sogar am Hof, arbeitet im Handwerk oder in der Landwirtschaft. Aufstiegsbewusstsein ist dieser Schicht im 17. Jahrhundert noch fremd, einige Gedanken, die später in die französische Revolution münden sollten, machen sich zwar bereits im Ansatz bemerkbar, sind aber noch nicht ernst zu nehmen. Bisweilen tritt das einfache Volk als unkultiviert, einfältig und derb in Erscheinung, wobei manierliche Bemühungen zu fehlen scheinen. Zu dieser Gruppe gehören beispielsweise die serviteurs paysans Andrée und Criquet aus La Comtesse 149 Vgl. Auerbach (1951), 32. 150 Vgl. ebd., 45. 151 Sternberg (2002), 211. 152 Die Diener repräsentieren in den Ballettkomödien in auffällig hoher Frequenz die Eigenschaften des einfachen Volkes, sodass eine Fokussierung auf diese soziale Gruppe nicht nur aus argumentationsökonomischen Gründen legitimiert erscheint. <?page no="259"?> 258 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien d’Escarbagnas und der von Clitandre als Informant angeheuerte Bauernbursche Lubin aus der Ballettkomödie George Dandin . Letzterer kommt seiner Aufgabe trotz der generösen Entlohnung seitens des Adeligen nur schwerlich nach, denn er setzt das Intrigenopfer Dandin unentwegt - naiv wie er ist - über Clitandres ehebrecherische Pläne in Kenntnis: „Point d’affaire. Vous voudriez que je vous disse que Monsieur le Vicomte vient de donner de l’argent à Claudine, et qu’elle l’a mené chez sa Maîtresse. Mais je ne suis pas si bête.“ ( GD , 995) Seine Geldgier überzeichnet Molière in der Szene, in der Clitandre Lubins zukünftige Frau für ihre ihm zuträglichen Dienste entlohnt, der Bursche ihren Verdienst aber für sich veranschlagt: „Puisque nous serons mariés, donne-moi cela que je le mette avec le mien.“ (GD, 994) Dieser chauvinistische Übergriff wird im unsittlichen Berühren von Claudine auch körperlich umgesetzt. Er akzentuiert den unmoralischen Aspekt seines derben Naturells, das ihn zum Opponenten des höfischen Prinzips der Affektkontrolle werden lässt und seine niedrige soziale Stellung mit der Niedrigkeit seines Charakters in Einklang bringt. Lubins fehlende Weitsicht offenbart sich in seiner Einschätzung von Claudine, denn obgleich er ihre Gerissenheit schätzt, verkennt er die Tatsache, dass sie diese zugunsten eines Ehebruchs einsetzt und er ihr selbst zum Opfer fallen könnte. Sein flegelhaftes Betragen zeugt von einer sittlichen Minderwertigkeit, die sich in seinem von niedrigstem Vokabular und primitiven Interjektionen gespickten sprachlichen Ausdruck manifestiert. Molière karikiert mit der Figur des Lubin das Bild eines unzivilisierten Bauernburschen, der seine niedrigen Triebe ohne Rücksicht auf seine Mitmenschen auslebt. Mit seinem Betragen spiegelt er den komischen Helden Dandin wider, den ungalanten Tölpel. Er ist als eine fiktionsinhärente Parodie auf diesen zu lesen; beide sind lächerliche Figuren der société rurale . Auch die den komischen Helden der Polygamie bezichtigenden Provinzbewohnerinnen in Monsieur de Pourceaugnac entsprechen der société rurale . Im Vordergrund dieser Parodie steht weniger die Moralfrage bezüglich ihrer Hypokrisie, als vielmehr die Karikatur ihrer Dialekte, die sie als unkultivierte Dorfbewohnerinnen stigmatisieren und sie zu „deux carognes de baragouineuses“ (MdP, 238) degradieren, da sie nicht über das prestigeträchtige Standardfranzösisch verfügen, sondern ein minderwertiges Kauderwelsch lautstark zum Besten geben. Die Dialekte werden von Molière mittels ‚Hyperpicardismen‘ und der Inkorporation spanischen Vokabulars samt Morphologie überzeichnet dargestellt. Die beiden Frauen entstammen traditionell den Dienerfiguren der Farce, die aufgrund ihres barbarischen und rustikalen Auftretens der unteren sozialen Schicht zuzuordnen sind. In einem positiveren Licht erscheinen die Volksvertreter durch die Diener und Intrigenspanner Hali ( Le Sicilien ou l’Amour peintre ) und Sbrigani ( Mon- <?page no="260"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 259 sieur de Pourceaugnac ), die nicht mehr allein dem Bild von einer törichten und derben Dienerschaft nachkommen, sondern eher an die Figur des gracioso aus der spanischen comedia erinnern und mit klugen Kommentaren - „Monsieur, je tiens pour le Bécarre: Vous savez que je m’y connais. Le Bécarre me charme“ ( LS , 808) - wie auch raffinierten Intrigen - „Je conduis de l’œil toutes choses, et tout ceci ne va pas mal“ (MdP, 238) - zum Wohle der Gemeinschaft auf sich aufmerksam machen. Mazouer konstatiert „un effacement de la balourdise, chez les valets, au profit de la fourberie“ 153 und untermauert diese Beobachtung. Die geistige Regheit der Diener äußerst sich in „l’extravagance et la fantaisie verbale“ 154 , eine essenzielle Voraussetzung für ihre Intrigenkunst. Sie sind unbestechlich, handeln uneigennützig und zeigen sich loyal ihren Herren gegenüber. Aufgrund von Halis Feigheit und Sbriganis hinterlistiger Bösartigkeit haftet den beiden aber immer noch das Stigma des lustigen Arlecchino beziehungsweise verschlagenen Brighella an, wodurch sie nur bedingt als charakterfest wahrgenommen werden. Diese Figuren zeichnen sich durch einen hybriden Charakter aus, der sie einerseits topisch als feige und gemein kennzeichnet und andererseits gleichzeitig ihre Philanthropie dadurch zum Ausdruck bringt, dass sie sich für eine cause noble mit ihrem Einsatz gegen die alten Tyrannen engagieren. Sie spielen eine hilfreiche Rolle für die Persiflage der komischen Helden, da ihr Aktionspotenzial Aspekte der Fremdkarikatur und weniger der Selbstkarikatur fokussiert. Diese positive Eigenschaft wird immer mehr zum Wesenszug der Diener, den Molière mit seinen Dienstmädchen der Pariser Großbürger weiter ausbauen wird. Mit verbaler Virtuosität und geistreichen Kommentaren nehmen sie eine Zwischenstellung zwischen den tölpelhaften Landbediensteten und Molières schlauen Dienerinnen ein, denen das Substrat der Kunstfigur aus dem italienischen Stegreiftheater fast gänzlich abhandengekommen und durch ein lebensweltliches substituiert ist. Neben diesen stereotypen, aus der Farce und der commedia dell’arte entlehnten Figuren des unteren Milieus, treten mit den weiblichen Dienerinnen Lisette ( L’Amour médecin ), Nicole ( Le Bourgeois gentilhomme ) und Toinette ( Le Malade imaginaire ) erstmals das Spiel dominierende Charakterfiguren in der Ballettkomödie auf, die sich deutlich von den Vorgängerinnen abheben; sie haben sich aus der aus dem italienischen Stegreifspiel stammenden Figur der Colombina entwickelt, die sich dadurch auszeichnet, dass sie ob ihrer Selbstsicherheit und ihrer Lebenslust kein Blatt vor den Mund zu nehmen scheint - das Hauptcharakteristikum dieser drei Dienerfiguren. Molière zeichnet ein naturalistisches, von tiefer Menschlichkeit zeugendes Bild der Angestellten, im Sinne seiner 153 Mazouer (1979), 149. 154 Ebd., 140. <?page no="261"?> 260 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Maxime „[de] peindre d’après Nature“ ( CEF , 505). Er perfektioniert die traditionellen Dienerfiguren in einer Zeit, in der die meisten Dramenschreiber die abgedroschenen, stereotypisierten Figuren weiterführen. Sie fungieren in den Ballettkomödien als Dreh- und Angelpunkt und verhelfen den Liebenden zu ihrem Glück, indem sie mit diesen zum Wohle der Familie, letztlich auch zu dem ihrer Herren, gegen Letztere intrigieren. So verkündet Toinette: „Il est de mon devoir de m’opposer aux choses qui vous peuvent déshonorer.“ ( MI , 651). Ihr Betragen basiert auf dem bon sens , der ihnen einen nüchternen Blick auf das verrückte Verhalten ihrer Herren gewährt und es verspotten lässt. Das gesunde Volksempfinden lässt sich mit dem sens commun der Gesellschaft in Einklang bringen und erkennen, dass man auch im unteren Drittel des dritten Standes Würde und Anerkennung von der Gemeinschaft zugesprochen bekommt, wenn man sich an der Vernunft orientiert, die gleichzeitig die Akzeptanz sozialer mores einfordert. So höhlt Lisette in L’Amour médecin geschickt den Ärztediskurs mit ihren lebensweltlichen Beobachtungen aus und antizipiert mit dieser Verachtung bereits Toinettes Ärzteparodie als médecin volant . Argans Dienstmädchen liefert in der Verkleidung als Arzt einen medizinischen Konterdiskurs zu dem von den Ärzten vertretenen und potenziert die Ärztesatire mittels Inversion. Auch Nicole beweist im Fechtduell mit Monsieur Jourdain ihr wahres Talent, denn trotz fehlender Ausbildung gewinnt sie gegen ihren geschulten Herrn. Molière demonstriert im Sinne einer sozialen Revanche, dass keine Bildung das zu kompensieren vermag, was die Natur dem Schüler verwehrte. Sie kann nur die Talente wecken, die von Natur aus vorhanden sind. 155 Er relativiert den geringfügigen Einfluss von Talent auf Status und Stand dahingehend, dass er die Dienerinnen als geistreiche und respektierte ‚Satirikerinnen‘ einsetzt, die ihren Herren gewieft die Lächerlichkeit deren idées fixes vor Augen führen, wie etwa Toinette: „Quand un Maître ne songe pas à ce qu’il fait, une Servante bien sensée est en droit de le redresser.“ ( MI , 651) Molière wertet die Figur der Dienerin mit der Gabe des bon sens im Vergleich zu den törichten Dienern auf, denen die intelligence rationnelle et relationnelle abgeht. Sie substituieren die fehlenden Familienmütter und unterstützen ihre ‚Adoptivkinder‘ loyal und freundschaftlich, sodass sie auf diese Weise moralisch und intellektuell mit den Bourgeoisen zu messen sind. Der durch ihr ständeuntypisches Betragen herbeigeführte Bruch mit den sozialen Normen erscheint damit legitimiert. Respekt ernten sie durch ihr zielorientiertes auf eine Wiederherstellung des familiären Friedens abzielendes Handeln, das die verschobene Ordnung wieder ins Lot bringt: „Leur bon sens populaire, leur liberté d’esprit et une fidélité à toute épreuve font d’elles les plus précieux défenseurs 155 Vgl. Gaines (2002), 342. <?page no="262"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 261 d’un ordre qui s’identifie à leurs yeux avec la vérité , la raison , la nature , les convenances .“ 156 Die rebellischen Auseinandersetzungen mit ihren Herren sind im Sinne dieser Restitutionsmotivation zu lesen, die nicht auf einen Machtwechsel oder einen Aufstieg ihrerseits abzielt; sie begnügen sich mit ihrem sozialen Status und dem herbeigeführten Eheglück der Jungen und werden vereinzelt durch das Finden ihres eigenen Glücks mit einem Diener für ihr Verhalten belohnt. Molières Dienerinnen fordern in ihrem Einsatz für die von ihren Vätern tyrannisierten Töchter den Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben ein. Da sie dies als ernst zu nehmende Instanzen postulieren, fungieren sie gewissermaßen als Frauenrechtlerinnen des 17. Jahrhunderts avant la lettre . Obschon das Publikum weniger über sie als vielmehr mit ihnen über die komischen Figuren lacht, sind sie durch ihre Bodenständigkeit und Direktheit nicht gerade mondän, sondern empfindungsunfähig für Eleganz, intellektuelle Kultur und Träumerei. 157 Generell kann konstatiert werden, dass das einfache Volk nicht primär Zielscheibe des Komödienspottes wird, weil es zu dieser Zeit nur eine geringfügige Macht im Staat hatte und von keiner unmittelbaren Gefahr dieser Gruppe auszugehen war. Das zumeist in Form von Bediensteten verkörperte Volk erfüllt bezüglich einer sozialkritischen Lesart daher zwei Funktionen: Einerseits bedienen sie die gängigen Stereotypen, die dem Stand traditionell zugesprochen und durch ihre Ähnlichkeit mit den Typenfiguren aus Farce und commedia dell’arte verstärkt werden, andererseits treten sie als innovative Räsoneurfiguren in Erscheinung. 158 Molière ist eine Veredelung der Figuren in dem Sinne zuzuschreiben, als er „sur les squelettes de types immémoriaux la chair de son époque“ 159 stülpt. Das ambivalente moralische Bild dieser Gruppe, die zwischen den Polen des mauvais sens und des bon sens oszilliert, lässt die Angehörigen nicht pauschal zu lächerlichen Figuren werden, da sie nicht nur aus Eigennützigkeit agieren, sondern auch zum solidarischen Wohlbefinden der Gemeinschaft beitragen. Je mehr das Pendel zugunsten des bon sens ausschlägt, desto mehr kontrastieren sie mit den komischen Figuren. Daraus resultiert, dass sie weniger selbst zur 156 Moraud (1981), 37. Meine Hervorhebung. 157 Es gibt auch Diener, die in der Handlungswelt existieren, jedoch nicht figural in Szene gesetzt werden. Diese ‚imaginären Diener‘ werden häufig nach ihrer geografischen Herkunft benannt, sie haben keine Individualität, sondern finden nur im Kollektiv Erwähnung, als Sinnbild des gemeinen Volkes: „ Champagne, Poitevin, Picard, Basque, Breton “ (MI, 664). 158 Laut Charles Mazouer zeichnet sich in Molières Gesamtwerk eine Entwicklung hinsichtlich der Dienerfiguren im Sinne einer tradition du naïf ab: „[Elle] se trouve variée, approfondie, s’épanouissant même dans des personnages aux traits nouveaux.“ Mazouer (1979), 213. 159 Moraud (1981), 7. <?page no="263"?> 262 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Karikatur werden, als vielmehr als Satirekatalysatoren fungieren. Schlägt das Pendel in die andere Richtung aus, fungiert die Karikatur des einfachen Volkes als Distinktionsfolie zu den Werten und Normen von la cour et la ville und dient dazu, die hierarchische Weite zwischen der Elitegesellschaft und dem untersten Rand der Gesellschaft aufzuzeigen und eine moralische Legitimation für den Status quo des Ständeprinzips zu postulieren. 5.2.3 Die Fremden Molières satirische Aspekte beschränken sich nicht nur auf nationale Gruppen, sondern erstrecken sich ebenso auf internationale. So gibt es in seinen Ballettkomödien einen nicht unbeträchtlichen Anteil fremdländischer Eindrücke, die die in Europa traditionell vorherrschenden Stereotypen der einzelnen Nationen wiedergeben: Es werden griechische Prinzen und Prinzessinnen, Hirten und Schäfer aus dem fernen Arkadien, türkische Gesandte, Mauren, ägyptische Zigeunerinnen, Italiener, Spanier wie auch Schweizer repräsentiert und hinsichtlich ihrer Divergenz vom französischen Gesellschaftsverständnis karikiert. Repräsentanten der Hocharistokratie sind in den Ballettkomödien nur in einer antik-griechischen Handlungswelt ( La Princesse d’Élide und Les Amants magnifiques ) zu finden. Diese koinzidiert mit dem gültigen Wertekanon von la cour et la ville , erlaubt jedoch durch ihre räumliche und zeitliche Verfremdung nur einen mittelbaren Bezug zum französischen Hof und macht einen satirischen Angriff auf das obere Drittel der Oberschicht möglich. In diesen Lustspielen finden sich zwielichtige Prinzen und launische Prinzessinnen, ungebührliche Repräsentanten oberster Noblesse, an denen es in den Lustspielen mit französischer Handlungswelt hapert. In Les Amants magnifiques verkörpern die Freier Iphicrate und Timoclès mit ihren den Staat gefährdenden Intrigen eine zweifelhafte Moral und scheitern unwürdig, wenn der jüngst nobilitierte, ehrenhafte Sostrate Ériphile zur Frau bekommt. Jene Adelssprösslinge gehen trotz ihres kostspieligen Hofierens wie auch ihrer Manipulation Aristiones leer aus und verleihen ihrem Unmut im Verlust ihrer Affektkontrolle physisch Ausdruck. Diese Persiflage auf die griechische Hocharistokratie valorisiert auf implizite Art und Weise die französische Eliteschicht, da sie sich mit dem Persönlichkeitsideal der honnêteté von jener antiken abhebt und auch symbolisch die Vormachtstellung der griechischen Kultur als beendet postuliert. In dieser Hinsicht sind auch die streitenden Schäfer in La Pastorale comique zu interpretieren. Sie entzaubern mit ihrem ‚un-höflichen‘ Betragen die Vorstellung eines glücklichen griechischen Arkadiens; der irenische locus amoenus und die ihn widerspiegelnden friedlichen Schäfer gehören der Vergangenheit an. Frieden und Glück findet <?page no="264"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 263 man nicht mehr fernab der Zivilisation, sondern in der kultivierten Lebensart am französischen Hof. Auf die Spitze treibt Molière die Parodie fremdländischer Kulturen indes mit der Cérémonie Turque . Das türkische Sujet ist in den Hofballetten und Maskeraden der Zeit aufgrund seiner Exotik gern und häufig zu sehen und somit auch nicht als Molières originellste Karikatur zu betrachten; 160 ferner spiegeln die tanzenden Mauren in Le Mariage forcé und Le Malade imaginaire diesen Trend wider. Der Auftritt Ludwigs XIV . als tanzender Maure demonstriert in erstgenannter Ballettkomödie ein eindrückliches Moment der Ottomanensatire, denn es erklärt den Nationenhohn zur royalen Aufgabe. Auch in der Dienerfigur des Hali ( Le Sicilien ou l’Amour peintre ) finden sich Züge des aus dieser Tradition stammenden Topos des falschen Türken wieder. Die als derb empfundenen türkischen Sitten und Gebräuche waren in den feinen Kreisen der höfischen Gesellschaft verpönt und so entsprach Molières Karikatur von türkischer Kleidung, Sprache und Sitten dem Ächtungs- und Überlegenheitsbedürfnis von la cour et la ville . Die ausländische Aristokratie hatte keine wirkliche Vorbildfunktion im Frankreich des 17. Jahrhunderts, 161 sodass die Parodie der Türken auch und vor allem als Herabwürdigung des ottomanischen Imperiums zu verstehen ist. Auch die von Eifersucht geplagten Südländer entsprechen mit ihrem Naturell nicht den mores der französischen honnêtes gens . Die temperamentvollen Spanier und Italiener wurden ihrer Affekteskalationen wegen zur Zielscheibe des französischen Hohnes. Mit der Figur des gentilhomme sicilien Don Pèdre zeichnet Molière in Le Sicilien ou l’Amour peintre den Prototypen des südeuropäischen Mannes, so wie ihn sein Ruf überzeichnet stereotypisiert, als „jaloux comme un Tigre […] comme un Diable“ ( LS , 814), „un Monstre haï de tout le Monde“ ( LS , 826). Sein besitzergreifendes Liebesverständnis äußert sich darin, dass er der griechischen Sklavin Isidore jeden „accès aux Galants“ (LS, 814) energisch untersagt. Er setzt sie unter permanente Beobachtung und braust bei jeder Annäherung des männlichen Geschlechts echauffiert auf. Sein brutales Wesen äußert sich ebenso in seiner Waffenbesessenheit, denn er schläft nicht nur mit seiner Waffe, er lässt auch bei den nächtlichen Unruhen, ausgelöst von Hali und Adraste, die Diener sein Waffenarsenal herbeibringen: „[A]llons, promptement, mon Épée, ma Rondache, ma Hallebarde, mes Pistolets, mes Mousquetons, mes Fusils; vite, dépêchez; allons, tue, point de quartier.“ ( LS , 811) Dieses possessivmartialische Liebesverständnis kontert der gentilhomme français Adraste mit seiner galanterie . Um seine Geliebte zu befreien, scheut er nicht davor zurück, 160 Das Türkensujet ist auch in anderen Theaterstücken der Zeit - zum Beispiel Perside ou la Suite d’Ibrahim Bassa (1644) von Nicolas Desfontaines und Osman (1656) von Tristan L’Hermite - präsent. 161 Vgl. Gaines (2002), 463. <?page no="265"?> 264 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien sich als Porträtkünstler zu verkleiden und gegen die Hofetikette zu verstoßen: „[ J]e manie le Pinceau, contre la coutume de France, qui ne veut pas qu’un Gentilhomme sache rien faire.“ ( LS , 818) Der Zweck heiligt in diesem Fall die Mittel, denn Adraste befreit mit einer List die schöne Griechin und karikiert mit seinem zivilisierten Auftreten die südländischen Gepflogenheiten in Sachen Liebe: i sidore : Ce Gentilhomme me paraît le plus civil du Monde; et l’on doit demeurer d’accord, que les Français ont quelque chose, en eux, de poli, de galant, que n’ont point les autres Nations. ( LS , 823) Don Pèdres Bittgesuch beim Sénateur , er möge die Entführung Isidores durch Adraste maßregeln, scheitert, denn dieser ist lediglich an einer Maskerade interessiert und nicht an seinen Amtsverpflichtungen: „Diantre soit le Fâcheux, avec son Affaire.“ ( LS , 827) Dergestalt karikiert Molière nicht nur des Sizilianers Hilflosigkeit, die seinem selbstbestimmten Auftritt zu Beginn der Ballettkomödie diametral entgegensteht, sondern auch die italienische Justiz. Die in der société mondaine Frankreichs selbstverständliche Höflichkeit und Zurückhaltung seitens der Männer gewährt den an dépense und plaisir gewohnten Frauen ein gewisses Maß an Autonomie, die in anderen archaischeren Hofgesellschaften noch nicht Einzug gehalten hatte. Adraste veranschaulicht die moderne bienséance der französischen Elitegesellschaft anhand seines art de plaire , seiner galanterie wie auch seiner honnêteté und tritt als Vertreter dieser Werte in Erscheinung. Die auf den mœurs françaises beruhende kulturelle Superiorität verkündet Adraste nicht ohne Stolz, zugleich aber mit feiner Ironie, in der Manier des selbstgefälligen art de conversation : „Les Français excellent, toujours, dans toutes les choses qu’ils font; et quand nous nous mêlons d’être jaloux, nous le sommes vingt fois plus qu’un Sicilien.“ ( LS , 824) Die Überlegenheit der mœurs françaises manifestiert sich zudem in der erfolgreichen Liebespraxis der Franzosen im Ballet des Nations . Im Abschlussballett des Bourgeois gentilhomme treten klischeehafte Spanier, Italiener und letztlich Franzosen als verliebte Sänger auf. 162 Der style amoureux der Franzosen ist harmonisch und edel, weit entfernt von der unglücklichen Schmerzliebe der Spanier und Italiener, welche die Franzosen mit ihrem ton élevé in harmonischer Eintracht der Liebenden übersteigern und die Liebe im Sinne des galanten Liebesdiskurses Adrastes zu ihrer Sache erheben. Im Liebesdiskurs repräsentiert sich die Überlegenheit der französischen Kultur. 162 Es war im siècle classique üblich, nach der ausführlichen Darstellung einer fremden Nation eine Rückbesinnung auf die eigenen nationalen Werte zu geben, um eine Affirmation der eigenen Überlegenheit im öffentlichen Rahmen zu gewährleisten. Vgl. Conesa, Piéjus und Riffaud (2010), 1444. <?page no="266"?> 5.2 Sozialkritische Komik-- Satire 265 Die Devalorisierung der griechischen, türkischen, italienischen wie auch spanischen Kultur geht also letztlich mit einer Valorisierung der französischen einher, die über Abgrenzung den politischen Geltungsanspruch und den Eintrachtsgedanken der Nation aufzeigt. Molière erweitert die internationalen Typenfiguren der Farce und lässt diese am französischen Gesellschaftsideal scheitern. In der abgrenzenden Karikatur und Stigmatisierung anderer europäischer Hochkulturen kristallisiert sich die nationale Einheit als überlegen heraus. Da im klassischen Gesellschaftsverständnis die moralische Schicklichkeit immer mit der ästhetischen korreliert, sind nicht nur die sozialen, sondern auch die ästhetischen Verfehlungen der Fremden immer mit moralischen begründet. Fazit In Molières Komik ist neben der freien eine stark sozialgebundene Seite ausfindig zu machen, die auf soziale respektive moralische Missstände aufmerksam macht, auf Normdivergenzen, die dem absoluten Staat schaden beziehungsweise ihn in seinem Absolutheitsanspruch einschränken. Die sozialkritische Komik wird dem Zuschauer über den dramatischen wie auch theatralischen Kommunikationskanal vermittelt. Das Komödiensujet bietet mit seinen unterschiedlichen Sujetschichten die Struktur, auf deren Basis sich die soziale Kritik entfalten kann. Sie stellen das strukturelle Gerüst der Satire dar. Die sozialen ridicula werden im Lichte der irrealisierenden Brechung des komödiantischen Spiels über die Indirektheit der satirischen Darstellung von der Zuschauerschaft verstanden. 163 Dieses ist ein Spiel mit Transgressionen zwischen Normkontexten, eine auf Zusammenbruch ausgelegte Darstellung von Wahrnehmungswie auch Erkenntnisweisen, und wird als zeitgenössische Karikatur dargeboten. Molières Satire versieht die zu karikierenden sozialen Typen mit einer parodistischen Namensetymologie, lässt sie makkaronisches Latein oder unkultivierten Dialekt sprechen, führt sie mit Typen aus der commedia dell’arte eng , degradiert sie zu Sängern und Tänzern und zeichnet sie mit einer scheinbar unüberwindbaren Lebensfremdheit und Tölpelhaftigkeit aus. Da in dieser Betrachtung dem Komischen ein satirischer Wert beigemessen wird, wird es als Äquivalent zum Lächerlichen verstanden und mit einem höhnischen rire d’exclusion seitens des Publikums quittiert und sanktioniert. Die Satire ist neben der freien Performance ein wichtiges Instrument zur Machtverklärung, denn sie semantisiert die performativen Zeichen. Die satirische Wirkungsintention des Komischen begründet sich im Dodekameron damit, dass die soziale Hierarchie wesentlich zur Aufrechterhaltung und Stärkung der Monarchie beiträgt, bildet jene doch die Keimzelle der Nation. 163 Vgl. Warning (1976), 324. <?page no="267"?> 266 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Die aufgezeigten Karikaturen verkörpern überzeichnet die Feinde der Ordnung. Sie destabilisieren den Staat, sonach die Alleinherrschaft und Macht des Königs, da sie die Ordnung durch ihre unmoralische Autoritätsausübung in Zweifel ziehen und das hierarchische Machtspektrum invertieren. Die fâcheux verhalten sich nicht dem gültigen Ethos ihres Standes entsprechend und kehren diverse Diskurse durch falsche Adelsprätentionen, zwielichtige Klassenflucht, pedantisches Expertenwissen und Zwangsheiraten um; sie üben ihre soziale Macht missbräuchlich aus und werden zu personae non gratae degradiert. Ihr Mangel an erforderlichen sozialen Qualitäten und Kompetenzen lässt sie nicht in die Kreise von la cour et la ville Einzug halten. Molière persifliert die Normdivergenten in der Gänze ihres vertikalen Spektrums ohne zum Sprachrohr einer bestimmten Gruppe zu werden: „Il se fait ainsi l’avocat de la sagesse ordinaire contre les ridicules les plus divers.“ 164 Seine Kritik macht selbst vor fremden Kulturen und deren Sitten nicht halt und misst der französischen Kultur der Klassik wenig Toleranz gegenüber dem Fremden im Allgemeinen bei. Molières Satire ist demnach, so Jurij Borew, eine brandmarkende Entlarvung alles dessen, was den fortschrittlichen politischen, ästhetischen und sittlichen Idealen nicht entspricht, ist die zornige Verspottung alles dessen, was ihnen bei ihrer vollen Verwirklichung im Wege steht. [Sie] verneint die verspottete Erscheinung vollständig und stellt ihr ein außerhalb der gegebenen Erscheinung existierendes Ideal gegenüber. 165 Gemeint ist das Ideal der honnêteté , die mustergültig von den raisonneurs in der Fiktion und von la cour et la ville in der Realität repräsentiert wird. Das Dodekameron ist als eine diskursregulierende Kontrollinstanz im absolutistischen Staat zu verstehen, die zur Bildung und Affirmation absolutistischer Diskurse der Zeit beiträgt; es dient als Medium zum Ideologietransfer im Absolutismus. Der Anspruch klassischer Satire, die beabsichtigte Besserung, zielt bei dieser Theaterform mehr auf eine Affirmation der Moral der Zuschauer ab als auf eine Infragestellung ihres Betragens. Dieses Dafürhalten stärkt die Gruppenidentität, denn jene Elite sieht in der Absenz der Satireopfer in der lebensweltlichen Zuschauerschaft eine Bestätigung ihrer eigenen Schicklichkeit, die sie legitimiert, bei der exklusiven Uraufführung dabei zu sein. In diesem Sinne propagieren die Ballettkomödien über die sozialkritischen Aspekte eine ethische Selektion zur Wahrung der Staatsräson und fungieren qua kulturelle Institution als fundamentale Stützpfeiler des absolutistischen Systems. Molières Lustspiele verkünden keine Systemkritik, sie kritisieren diejenigen, die sich nicht system- 164 Bénichou (1948), 156. 165 Borew (1960), 193. <?page no="268"?> 5.3 Moralistische Komik-- Anthropologie 267 konform verhalten und dienen als ‚Schule der Schicklichkeit‘. Dadurch, dass die Normbrecher aber Teil des Systems sind, legt Molière indirekt die Defekte des absolutistischen Gesellschaftssystems offen. Konkreten Einzug in das außerfiktionale Leben hält das karnevaleske Moment der Narren im Moment der live- Inszenierung, denn die Aufführung vor den Zuschauern gewährt ihm den Einzug in die Wirklichkeit der absolutistischen Festkultur: Der fiktionale Konterdiskurs wird temporär zum dominanten Diskurs der Lebenswelt erhoben. Das Tabuisierte wird transparent gemacht und in einer Fiktionsgebundenheit im sozialen Raum artikuliert. Das System der Macht stellt also - so lässt sich zusammenfassen - die Allgemeinheit der dargestellten Kämpfe selbst her, all die Formen einer Ausübung und Anwendung der Macht. 166 Den überständischen sozialen vices liegen moralistische zugrunde, die auf die allgemeine menschliche Natur abzielen und das breite Spektrum ersterer begründen. Diese werden im Folgenden im Licht einer auf der negativen Anthropologie der Klassik basierenden Komik betrachtet. 5.3 Moralistische Komik-- Anthropologie „An der Tugend stirbt man, an der Wahrheit ohnehin.“ Alexander Kluge Während die sozialkritische Komik auf das Moralische im sozialen Resonanzfeld abzielt, soll anhand der moralistischen Komik das Moralistische sichtbar gemacht werden, mithin die anthropologische Tiefenstruktur der Normdivergenten im Spektrum der Komik aufgezeigt werden. Da davon auszugehen ist, dass sich die anthropologische Dimension von Komik immer im Sozialen manifestiert, ist sie transmoralisch zu verstehen: Das Wesen des Menschen spiegelt sich im moralischen Betragen der Figuren wider. Sonach versucht dieses Unterkapitel nicht die spezifischen Normverfehlungen der sozialen Typen aufzuzeigen, sondern universelle menschliche Züge ohne Fokussierung auf die spezifischen gesellschaftlichen Laster zu eruieren. Von dieser moralistischen Warte aus betrachtet, resultiert die Heftigkeit der Komödien Molières letztlich aus einer ‚Komik der Misanthropie‘, da sie nicht nur moralische respektive soziale Ableger der menschlichen Natur infrage stellt, sondern das menschliche Wesen mit seinem „germe de cruauté“: 166 Vgl. Foucault (2005), 62. <?page no="269"?> 268 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien Il semble que, dans le cœur du satyrique, il y ait un certain germe de cruauté enveloppé, qui se couvre de l’intérêt de la vertu pour avoir le plaisir de déchirer au-moins le vice. Il entre dans ce sentiment de la vertu & de la méchanceté, de la haine pour le vice, & au-moins du mépris pour les hommes, du desir pour se venger, & une sorte de dépit de ne pouvoir le faire que par des paroles: & si par hasard les satyres rendoient meilleurs les hommes, il semble que tout ce que pourroit faire alors le satyrique, ce seroit de n’en être [f]âché. 167 Während eine moralische Lesart Mustermänner wie die honnêtes gens billigt, die in den Komödien als Räsoneur- und Modellfiguren eingesetzt sind , zweifelt die moralistische den Wahrheitsgehalt jeglicher Tugend an. Diese Skepsis etabliert einen Dualismus von Ideal und Realität und legitimiert die Frage nach dem wahren Kern des Menschen. 5.3.1 Dorimènes makabres Spiel In Le Mariage forcé belauscht der von seinen Heiratsplänen geplagte Sganarelle heimlich ein Gespräch zwischen seiner zukünftigen Braut Dorimène und deren Liebhaber Lycaste, woraufhin er sich in seinem Zweifel an der Treue der Geliebten bestätigt sieht und Einblicke in ihre menschlichen Abgründe erhält, wenn er ihre wahren Pläne erfährt: d oriMène : […] C’est un Homme que je n’épouse point par amour; et sa seule richesse me fait résoudre à l’accepter. Je n’ai point de bien. Vous n’en avez point aussi; et vous savez que sans cela on passe mal le temps au Monde; et qu’à quelque prix que ce soit, il faut tâcher d’en avoir. J’ai embrassé cette occasion-ci de me mettre à mon aise; et je l’ai fait sur l’espérance de me voir bientôt délivrée du Barbon, que je prends. C’est un Homme, qui mourra avant qu’il soit peu; et qui n’a tout au plus que six mois dans le ventre. Je vous le garantis défunt dans le temps que je dis; et je n’aurai pas longuement à demander pour moi au Ciel, l’heureux état de Veuve. Ah! nous parlions de vous, et nous en disions tout le bien qu’on en saurait dire. ( MF , 954 f.) An ihrer Enthüllung schockieren weniger ihre prostitutiven Absichten als vielmehr ihr Kalkül, der Tod ihres zukünftigen Mannes. Dieses ist von ihrem finanziellen intérêt gezeichnet, der Sganarelle jeglichen menschlichen Wert abspricht und ihn zum unfreiwilligen Mäzen für das von Dorimène erwünschte Hofleben degradiert. Mit dem Auftreten des komischen Helden verfallen die 167 Zitat des Enzyklopädisten Louis de Joucourt in Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Siences, des Arts et des Métiers. Analyse et traitement informatique de la Langue Française (2001). <?page no="270"?> 5.3 Moralistische Komik-- Anthropologie 269 beiden Liebenden wieder in den Diskurs der Hypokrisie, unwissend, dass Sganarelle Kenntnis von ihrem falschen Spiel erlangte. Lycaste treibt in einem zynischen Satz den Gehalt dieser moralistischen Komik auf die Spitze: „Je vous assure que vous épousez là une très honnête Personne.“ ( MF , 955) Der amourpropre der jungen Frau verleitet sie zu niedrigstem Handeln, ist er doch von grenzenloser Egomanie beseelt. Der nahtlose Übergang in Dorimènes Replik von einem wahren zu einem falschen Diskurs verdeutlicht die paradoxe, den amour-propre bestimmende Eigenschaft des „flux et […] reflux“ (M, 563), die ein abruptes Verwandlungsmoment aufzeigt und das Ich zwischen authentischem und inauthentischem Verhalten oszillieren lässt. Dieser plötzliche Umschwung generiert eine Überraschung, die ein komisches Moment erzeugt und vom Komischen nicht wegzudenken ist. 168 Die Komik hat einen moralistischen Enthüllungseffekt, da der makabre Sachverhalt im Modus der Komik kommuniziert wird und durch die Enthüllungsgeste des amour-propre die Misanthropie offenlegt. Das komische Moment der Szene kann sich vor dem Hintergrund der histoire deshalb entfalten, weil die idée fixe des komischen Helden ihn selbst in diese unschöne Situation brachte und er mit den Konsequenzen seiner Egomanie leben muss; er wird zum Opfer seiner eigenen Selbsttäuschung. Auf der Ebene der gesellschaftlichen vices manifestiert sich diese negative Anthropologie transmoralisch in der Unschicklichkeit der mariage forcé . 5.3.2 Die Doppelzüngigkeiten der Angélique Ein weiteres Beispiel zur Entlarvung des amour-propre findet sich in George Dandin . Hier versucht Angélique ihren durch die Zwangsheirat mit Dandin verletzten amour-propre mit Autonomiebewusstsein wiederherzustellen. Dies gelingt ihr, indem sie einerseits Dandins Eitelkeit, die sich in seiner Eifersucht manifestiert, gegen ihn ausspielt, und dafür sorgt, dass er sich vor ihren Eltern die moralische Blöße gibt. Andererseits richtet sie durch das Vorführen des moralisch fragwürdigen Schwiegersohns implizit den Vorwurf einer Fehlentscheidung bezüglich der Ehegattenwahl an ihre Eltern. In Berufung auf ihre Tugenden bedient sich die Tochter der Heuchelei und reüssiert mit geschickter Selbstinszenierung ihres art de plaire vor ihren Eltern. Im Folgenden wird sie mit ihrem Liebhaber Clitandre von Dandin und ihren Eltern überrascht. Angélique dazu: Ne faites pas semblant de rien, et me laissez faire tous deux. […] De me dire que vous m’aimez, et de me faire cent sots contes pour me persuader de répondre à vos 168 Vgl. Stierle (1976a), 373 f. <?page no="271"?> 270 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien extravagances; comme si j’étais femme à violer la foi que j’ai donnée à un mari, et m’éloigner jamais de la vertu que mes parents m’ont enseignée. Si mon père savait cela, il vous apprendrait bien à tenter de ces entreprises. Mais une honnête femme n’aime point les éclats. […] L’action que vous avez faite n’est pas d’un Gentilhomme, et ce n’est pas en Gentilhomme aussi que je veux vous traiter. ( GD , 998 f.) Angélique weiht Clitandre und Claudine im ersten Aparte-Satz in ihre spontane ‚Theatereinlage‘ ein, sodass jene mitspielen und sie in ihrer Hypokrisie unterstützen. In ihrer eloquenten Rede appelliert sie an ihre ‚vererbten‘ Tugenden, die jede üble Nachrede ihres Gatten im Keim ersticken lassen und ihren Eltern dessen ungalantes und eifersüchtiges Wesen offenbaren sollen. Die Ambiguität ihrer improvisierten Rede resultiert aus der doppelten Adressateninstanz, die ihrer Eltern und die ihres Mannes. Die Doppeldeutigkeit dieses Sprachcodes entspricht der Pluralität des moralistischen Ich. Somit generiert Angélique eine Komik, die aus der Diskrepanz des Scheins ihrer christlichen Tugenden und des Seins ihres moralischen Werteverlustes entspringt, die sich aus dem vom amour-propre gelenkten Verhalten ergibt. Molière entlarvt an dieser Stelle im übertragenen, sich auf den lebensweltlichen Kontext beziehenden Sinn den klassischen Konversationsdiskurs des Hofes als „la grande utopie d’un langage parfaitement transparent où les choses elles-mêmes seraient nommées sans brouillage“ 169 . Der Triumph über ihren Ehemann zeigt sich nicht nur auf verbaler, sondern auch auf nonverbaler Ebene, indem sie vorschützt, ihn mit Clitandre zu verwechseln, zum Stock greift und ihn mit Hieben vor den Anwesenden demütigt; sie gibt den ihr zugefügten seelischen Schmerz auf körperlicher Ebene an ihn weiter und macht ihn zum Sündenbock für ihre missliche Situation. Die theatralische Geste demaskiert Angéliques Bosheit gleichermaßen wie ihren hypokritischen Diskurs und charakterisiert sie als malhonnête. Ihre Entlarvung geschieht nur vor der Zuschauerschaft und Dandin, mit dem Resultat einer Aufrechterhaltung ihrer Tugendhaftigkeit in den Augen ihrer Eltern, womit deren lobende Kommentare als bittere Ironie auf ihren aristokratischen Moralkodex erscheinen: M onsieur de s otenville : […] [T]u te montres un digne rejeton de la maison de Sotenville. ( GD , 999) M adaMe de s otenville : […] [C]’est une jeune fille élevée à la vertu, et qui n’est point accoutumée à se voir soupçonner d’aucune vilaine action. ( GD , 1000) Angéliques Aktionen sind Vergeltungsschläge gegen Dandin und ihre Eltern, von ihrer unliebsamen Ehe befreien sie sie indes nicht. Dieser Unentrinnbarkeit 169 Foucault (1966), 133. <?page no="272"?> 5.3 Moralistische Komik-- Anthropologie 271 ist sie sich bewusst, und sie verzichtet mit aristokratischem Stolz auf die von ihrem Vater eingeforderte Entschuldigung von Dandin: „Il ne m’a aucune obligation de ce qu’il vient de voir, et tout ce que j’en fais n’est que pour l’amour de moi-même.“ ( GD , 999) Am Ende der Szene triumphiert die Hypokrisie über die Wahrheit, „reality passes for appearance and appearance for reality“ 170 . Um diese Szene mit den Worten von La Rochefoucauld zusammenzufassen, soll folgende Maxime behilflich sein: „L’hypocrisie est un hommage que le vice rend à la vertu.“ (M, 218). Das Laster wird als Tugend gelobt. Auf der Ebene der gesellschaftlichen vices manifestiert sich Angéliques amour-propre transmoralisch als Ehebruch, dessen Konsequenzen sie sich aufgrund ihrer Doppelzüngigkeiten zu entziehen weiß. 5.3.3 Argans fausse mort „N’y a-t-il point quelque danger à contrefaire le mort? “ 171 ( MI , 737). Diese Frage des eingebildeten Kranken zeigt dessen große Angst vor dem Tod, die er durch die von Toinette und Béralde eingefädelte Miniintrige zu überwinden scheint und schließlich in der Cérémonie Burlesque beseitigt. Die geäußerten Zweifel können im Zuge der Intrige ausgeräumt werden, denn durch die List eines Scheintods entledigt sich Argan des wahren „danger“, seiner Gattin, die sich auf Kosten seiner Tochter die Erbschaft allein vermachen möchte. Die Machenschaften der skrupellosen Intrigantin und klugen Pharisäerin Béline werden von Argans Freunden erkannt. Folglich beschließen sie, den pater familias selbst von Bélines Falschheit in Kenntnis zu setzen, indem sie anhand der Reaktion auf den Tod ihres vermeintlich geliebten Ehemannes ihr wahres Gesicht, ihre vraie nature , enthüllen wollen: b éline , t oinette , a rgan contrefaisant le mort, b éralde caché dans un coin du Théâtre. t oinette feignant d’être fort attristée, s’écrie : Ah Ciel! quelle cruelle aventure! […] b éline : Bon, et je voudrais bien savoir pour quelle raison ai-je fait une si grande perte[.] […] Je ne prétends pas avoir passé la plus grande partie de ma jeunesse avec lui sans y profiter de quelque chose […]. ( MI , 706 f.) Das trügerische Bild des toten Argan entlarvt den trügerischen Schein Bélines. Sobald Argan „ se lève tout à coup “ ( MI , 707), tritt mit gleicher Plötzlichkeit Béli- 170 Gossman (1969), 160. 171 Dieses Zitat findet sich in der Edition von 1682, während es in der von 1675 nur von Toinette in paraphrasierter Form erscheint. Deshalb bietet es sich ob des gleichen Sinngehaltes der Aussage an, im moralistischen Kontext der Arbeit das Zitat aus der Edition von 1682 zu verwenden, auch wenn die ältere Version aus den in Kapitel 3 angeführten Gründen vorzuziehen ist. Vgl. Kapitel 3, Fußnote 42. <?page no="273"?> 272 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien nes Einsicht in ihre unfreiwillige Demaskierung ein; sie hat sich vor den Augen aller dekuvriert, da sie unvorsichtig wurde und der Hybris ihres amour-propre verfiel. In ihrem authentischen Dialog mit Toinette gesteht sie ihren intérêt , „[de] profiter de quelque chose“, der sie - ähnlich wie Argan - egomanisch handeln lässt und ihre menschlichen Abgründe ans Tageslicht befördert. In ihrem Verhalten wird die Gegenläufigkeit des amour-propre exemplifiziert, denn dieser arbeitet selbst am Niedergang des eigenen Ich, wie das Beispiel demonstriert. Dieses Paradoxon lässt Béline zur komischen Figur werden und gibt der Szene eine fröhliche Wendung durch das Auffliegen ihres Schwindels. Ferner ist es Toinettes komischer Schauspieleinlage zu verdanken, dass die Situation nicht ins Tragische driftet. Auf der Ebene gesellschaftlicher vices ist Bélines amourpropre transmoralisch im Heiratsschwindel sichtbar. Fazit Die konzisen, aber repräsentativen Textbeispiele aus den Ballettkomödien explizieren das Konzept der moralistischen Komik. Diese legt nicht nur des Menschen psychologisches Movens, den intérêt , offen, sondern dringt bis zum Ursprung aller Handlungsmotivation vor, dem amour-propre . Sie wird vom Publikum sowohl über die dramatische als auch die theatralische Perzeptionsperspektive aufgenommen und zeichnet sich durch eine starke Situationsgebundenheit aus. Der amour-propre leuchtet im sozialen Dickicht der Maske und Hypokrisie auf und wird bei seiner Entlarvung dem tugendhaften Benehmen entledigt. Eine Enthüllung ist im Prinzip des Maskenspiels bereits intendiert, denn dieses ermöglicht es einerseits, ein anderer zu werden wie auch die eigene Schwäche zu verstecken, andererseits können eigene Falschheit und skrupellose Eigennützigkeit deutlich gemacht werden, wenn man gewillt ist, sein Gesicht zu zeigen, was im Intrigenspiel ob der Zweiparteilichkeit und der damit verbundenen doppelten Adressateninstanz unabdingbar ist. Das komische Spiel als Spiel der Demaskierung zeigt eine Grundintention der Moralisten auf. In dieser Lesart von Komik kann komisches Betragen daher mit moralistischem gleichgesetzt werden, ist das Ziel beider Phänomene doch die Enthüllung des allzu menschlichen Scheiterns und das Porträtieren menschlicher Essenz als lächerlich. Mit der ‚Komik der Misanthropie‘ geht ein Aufklärungsmoment einher, sodass die Szenen in den Ballettkomödien zugleich als Schlüsselszenen zu betrachten sind, die - nach Aufspüren und Auffliegen der Falschspieler - zu einem Wendepunkt in der Geschichte beitragen können. Diese Szenen werden in der Regel, sowohl im Hauptals auch Nebentext, mit sogenannten ‚Entlarvungslexemen‘ wie „sembler“, „feigner“ und „contrefaire“ ausgestattet, die im topischen Isotopiefeld der Moralistik zu verorten sind. Zugleich ist mit der Thematisierung der Maske der autoreferenzielle Bereich des Theaters akzentuiert, wenn der Komö- <?page no="274"?> 5.3 Moralistische Komik-- Anthropologie 273 diant das Illusionäre und Artifizielle in Szene setzt. 172 Molière zeigt die moralistischen vices seiner Zeit im Modus der Komik auf. Dabei geht es ihm weniger darum, die Heuchler in ihrer sozialen Rolle zu diskreditieren, vielmehr sollen die misanthropischen Regungen des Menschen im moralistischen Zeigegestus sichtbar gemacht werden. Der Moralist demonstriert die Kluft zwischen Moralischem und Schicklichem. In dieser Gesinnung verzichtet er weitestgehend auf eine Belehrung, denn obschon die Maske gefallen ist, werden ihre Träger nicht immer zur Rechenschaft für ihr falsches Spiel gezogen. Im Gegensatz zur sozialen Ebene wertet Molière auf dieser Ebene nicht; er zeigt, dekuvriert und erhellt die Verfallenheit des Ich an sich selbst. Im anthropologischen Spektrum seiner Komik verweist er auf das Verdrängte im Präsenten, das in jedem Menschen existiert und ihn nach seinem intérêt agieren lässt, das aber durch den Zivilisationsprozess domestiziert wird und in der honnêteté ein diskursives Regulationssystem findet. Dieses kontradiktorische System gibt zu erkennen, dass Betrüger zugleich Betrogene sein können und vice versa . Deshalb ist eine Demaskierung nicht immer mit einem sozialen Nachteil in Verbindung zu bringen; sie entmachtet lediglich das Tugendideal, mit dem die Alt-Aristokraten ihre Vorherrschaft begründeten, die sich durch ihr exzellentes moralisches Betragen von der Rotüre abgrenzen wollten. Mit der Demaskierung der Tugend ist diese Vormachtstellung des Adels obsolet geworden, was sich in der zeitgenössischen Ständemobilität abzeichnet, wie auch in der überständischen honnêteté . Der Tugend wird im moralistischen Sinne ihre Macht entzogen. Lediglich im Konzept der honnêteté kann ‚Tugend‘ in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts fortbestehen: Im sozialanthropologischen Verständnis der Zeit wird das moralische Manko durch das ästhetische Primat kompensiert und das defizitäre Ich damit komplettiert. Der Überlebenskampf des Menschen findet im sozialen Kampf seinen Ausdruck und hallt im sozialen Gefüge wider. Im fiktiven Spiel der Ballettkomödie kann die Domestizierung des amour-propre temporär aufgehoben und das Intransparente transparent gemacht, das Böse im Menschen zur Schau gestellt werden. Mit der verzerrten, der irrealisierenden Brechung des komödiantischen Spiels geschuldeten Bezugnahme auf soziale samt kulturelle Ordnungen und gültige Denkweisen stellt Molière die bittere Wahrheit menschlichen Versagens transmoralisch heraus; weiter gedacht: Da das absolutistische System seine Macht zum Großteil aus der Rigidität des sozialen Systems bezieht, sind die innenpolitischen Defekte des Systems auf dessen menschliche Träger zurückzuführen, letztlich auf das defektive menschliche Wesen, das dem absoluten Assimilationsanspruch des Staates nur mit dem ideellen bienséance- Postulat 172 Vgl. Baschera (1998), 151. <?page no="275"?> 274 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien gerecht wird. Auf diese Weise findet eine staatliche Legitimation menschlicher vices statt, die solange geduldet werden, wie sie nicht zu gesellschaftlichen vices mutieren und das kollektive Zusammenleben schädigen. Der vom System zugeteilte ‚Freiraum‘ kann sich demnach nur im Verborgenen, in der sozialen Marginalie entfalten, nicht aber in dem vom Kollektiv Wahrnehmbaren. In der komischen Offenlegung dieser menschlichen Defekte artikuliert sich kein machtpolitisches Versagen, sondern die souveräne Überlegenheit des Systems im Umgang mit dem Defektiven. Die honnêteté ist in dieser Hinsicht eine Art Sicherheit gebendes Apotropaion, das die Stabilität des Staates propagieren und die Zerbrechlichkeit des Systems bekämpfen soll. 5.4 Zur Ästhetik multidimensionaler Komik der Repräsentation „Ta Muse avec utilité Dit plaisamment la verité; Chacun proffite à ton Ecole, Tout en est beau, tout en est bon, Et ta plus burlesque parole Est souvent un docte sermon.“ Boileau Molière entwickelt aus der Perspektive eines Somästhetikers, eines Satirikers und eines Moralisten eine neue Ästhetik des Komischen für seine Ballettkomödien. Seine Komik ist ein ästhetisches Konstrukt klassischer Ganzheit. Die multiple Perspektivierung des Phänomens Komik spiegelt seine Formel ‚corriger les vices des hommes, en les divertissant‘ wider, die Ethos und Ästhetik nur in Kombination erscheinen lässt. Dieser zum Inbegriff seines Schaffens gewordene Anspruch an sein Werk respektive seine Komikästhetik verweist auf die kulturelle Funktion des Dodekamerons. Die Behandlung des Ästhetischen als eine Erscheinung mit großer sozialer Bedeutung hebt das soziale wie auch anthropologische Wesen des Ästhetischen hervor; 173 die ästhetischen Qualitäten liegen folglich in der sozialen Relevanz der Karikatur und ihrer Darbietung. Das ästhetische Ideal wird zum Maß der sozialen Bedeutung von Erscheinungen der Realität, 174 wenn Satire ästhetisch sozialisierte Aggression verkörpert. 175 Dem- 173 Vgl. Borew (1960), 35. 174 Vgl. ebd., 38 f. 175 Vgl. Brummack (1971), 282. <?page no="276"?> 5.4 Zur Ästhetik multidimensionaler Komik der Repräsentation 275 nach kann der Aggression der diversen Agone im Umkehrschluss eine Affinität zum Ästhetischen zugeschrieben werden. Im Vergleich zu Molières anderen Komödien kommt dieses Leitprinzip in der Ballettkomödie durch ihr Darstellungsrepertoire des nouveau langage théâtral besonders stark zur Geltung und scheint den ästhetischen Aspekt zu sehr herauszustellen. Diese Idee spiegelt eine Haltung der älteren Molière-Forschung wider, die sich damit begründete, dass bei der Ballettkomödie leicht der Eindruck entsteht, dass Satire im Korsett zwischen panegyrischem Prolog und euphorischem Finale fest eingeschlossen ist und Sozialkritischem beziehungsweise Moralistischem lediglich eine untergeordnete Rolle beizumessen ist. Dies würde indes dem symbiotischen Gedanken der Konstitution von Komik nicht gerecht werden, denn letztlich ist es die Komplementarität von Ethos und Ästhetik, die das Komische in der Ballettkomödie konstituiert und auch dem klassischen Einheitsgedanken entspricht: Ethos ist in der komischen Fiktion nicht ohne Ästhetik möglich und vice versa , denn Ersteres bedingt Letzteres, derweil Letzteres Ersteres schicklich ertragbar macht. Dergestalt tritt zudem die sokratische Vorstellung von der Nützlichkeit des Schönen beziehungsweise von der Schönheit des Nützlichen zutage, die sich in der ästhetischen Propagierung des Ethos-Ideals von la cour et la ville manifestiert. Die im zweiten und dritten Kapitel der vorliegenden Untersuchung entwickelte Sujetstruktur lässt erkennen, dass sozialkritische Aspekte mit dem freudigen Charakter der Zwischenspiele neutralisiert und hinweggespielt werden. Dies bedeutet für die Ballettkomödie, dass sie mehr als andere Komödien auf sich selbst verweist, auf ihr artistisches Gerüst. Auf diese Weise können die Intermedien hinsichtlich der Gesamtwirkung der Ballettkomödie ästhetisiert werden: „[L]a danse met à l’abri des faux pas, […] la musique adoucit les mœurs, et […] ces deux arts constituent ‚le moyen de s’accorder ensemble, et de voir dans le monde la paix universelle‘.“ 176 Die Gattungskonstitution der Ballettkomödie bedingt mit ihrem freudigen Finale eine Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Ethos von la cour et la ville , denn die Form rettet die Moral. Ferner determinieren die die Komikästhetik konstituierenden Komponenten wie das Ästhetische und das Ethische das Dodekameron als strategisches Instrument zur Machtverklärung: Alle funktionalen Elemente des Komischen werden im Dodekameron zusammengeschmolzen, sodass sich das Konzept einer Machtästhetik herauskristallisiert, das im Sinne eines inszenierten Machtdiskurses absolutistischer Kulturpolitik verstanden werden will. Dieser wird im folgenden Kapitel unter dem Aspekt einer Politisierung der absolutistischen Festkultur betrachtet. Ferner werden die Ballettkomödien aus gattungspoetologischer Sicht im kulturpolitischen Kontext beleuchtet. 176 Defaux (1980), 277 f. <?page no="277"?> 276 6 Absolutistische Kulturpolitik-- zwischen puissance und plaisir 6 Absolutistische Kulturpolitik-- zwischen puissance und plaisir „C’est un ouvrage de Molière, Cet écrivain par sa manière, Charme à présent toute la Cour.“ La Fontaine 6.1 Machtostentation-- zur Politisierung der absolutistischen Festkultur Mit der verstärkten Verabsolutierung des Staates unter Ludwig XIV . findet eine zunehmende Politisierung der Kultur statt. Ludwigs Festkultur bietet einen pazifistischen Gegenpol zu den zahlreichen Kriegen 1 im In- und Ausland und trägt primär zum nationalen Frieden wie auch zur Konstituierung und Konsolidierung seiner Macht bei. In dieser scheinbar politiklosen Zeit der großen Feste, in der das Vergnügen Vorrang hat, füllt der König mit seiner Apotheose die vermeintlich politische Leerstelle und proklamiert seine Herrschaftsmacht. Das Fest hat dabei die Funktion, den nationalen Frieden zu stiften, 2 auf dem sich der Machtapparat aufbauen kann beziehungsweise durch den sich die absolutistische Macht konstituiert. In dieser machtvollen Festkultur figuriert der absolute Herrscher sowohl als tanzender König in Molières Dodekameron als auch als prominenter Zuschauer, der das Festgelage durch den Repräsentationswie auch Präsenzanspruch seiner Macht zu einer Metamorphose von Fiktion und Realität werden lässt. Ihm gelingt es, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zu überschreiten und zu einer Einheit zu transformieren. Theaterinszenierung und Wirklichkeit greifen ineinander. 3 Die eigens für den König geschaffene Plattform im Schlosspark ist im Sinne einer mise en abyme zu verstehen. 4 Dieser Mikrokosmos setzt die Höflinge einer permanenten Verwirrung zwischen l’artificiel und le naturel aus. Molières Totaltheater reflektiert die beiden Entitäten und führt das miseen-abyme -Prinzip in der Aufführung der Fiktion, die dabei selbst zu Realität 1 Vgl. Malettke (1976), 320 f. 2 Vgl. Schultz (2006), 179. 3 Vgl. Kolesch (2006), 112. 4 Vgl. Canova-Green (2007), 54-76. <?page no="278"?> 6.2 „Agenda-Setting“-- des Sonnenkönigs Wunschkonzert 277 erstarkt, ad absurdum . Die Bühne mit ihren perspektivisch gemalten Bühnenbildern verschmilzt mit der Dekoration des Zuschauerraums. 5 Sie konkretisiert einen Eindruck der Unendlichkeit, die des Königs Universalität und Äon in Form einer Koexistenz von Repräsentation und Präsenz - seiner Performance - aufzeigt. Sonach bezieht die absolutistische Festkultur zwischen 1661 und 1674 ihre politische Wirkung einerseits durch eine unmittelbare Machtostentation in Form einer Koexistenz von Repräsentation und Präsenz des Königs. Andererseits bezieht sie eine mittelbare Machtostentation in Form einer verheißungsvollen Postexistenz, die sich durch die Dokumentation des Festes mittels Gravur, Protokoll und Dramentext gestaltet und zur Verewigung des Souveräns beiträgt. Mikro- und Makrokosmos bestimmen gleichzeitig den Machtdiskurs dieser Feste, der ästhetisch in der Hybridität der Ballettkomödie umgesetzt ist. Die Ballettkomödie bildet das Herz dieser kulturellen puissance-et-plaisir -Maschinerie. Auf ihrer Bühne konnte sich der Machtdiskurs etablieren und sich seiner Resonanz im In- und Ausland gewiss sein, wie La Fontaine konstatiert: Tout le monde a ouï parler des merveilles de cette fête [Le Grand Divertissement de 1668, Anm. S. W.], des palais devenus jardins, et des jardins devenus palais; de la soudaineté avec laquelle on a créé, s’il faut ainsi dire, ces choses, et qui rendra les enchantements croyables à l’avenir. 6 6.2 Agenda-Setting-- des Sonnenkönigs Wunschkonzert Im Zuge der Politisierung der absolutistischen Festkultur gehört es mit zur königlichen Selbstinszenierung, dass der Alleinherrscher für das Setzen konkreter Aufführungsanlässe, -zeiten und Themenschwerpunkte verantwortlich ist. Außerdem wirkt der König selbst als Darsteller in den Intermedien einzelner Ballettkomödien mit. In Molières avant-propos und anderweitigen kulturhistorischen Quellen liest man des Öfteren vom königlichen Agenda-Setting dieser Auftragsarbeiten. Sie belegen die Interventionen des Königs in die Kunstproduktion, die seinen Macht- und Kontrollanspruch bis in die Fiktion hinein manifestieren und ihn zum Urheber und Zentrum seiner Kulturpolitik machen. Sein Einflussbereich erstreckt sich von der Planung bis zur Ausführung, sodass er als ständige Kontrollinstanz den Werkprozess überwachen und direkt eingreifen kann: Es wird das repräsentiert, was aus machtpolitischen Gründen für wichtig erachtet 5 Siehe Abbildung 3. Kupferstich von Israel Sylvestre: La Princesse d’Élide, seconde journée des Plaisirs de l’île enchantée (1664). 6 Zitat von La Fontaine in Riffaud und Piéjus (2010), 1560. <?page no="279"?> 278 6 Absolutistische Kulturpolitik wird. Dieses Engagement unterstreicht die Relevanz, die Ludwig XIV . diesen Festen respektive Ballettkomödien beimisst, wie auch deren Stellenwert im Staat. Vor dem Hintergrund absolutistischer Machtverklärung verwundert es wenig, dass Molière nicht immer frei in seinen Kompositionen für die Ballettkomödien ist. Nicht selten existieren strukturelle und inhaltliche Zwänge seitens des Monarchen, sodass dieser Auftragscharakter Spuren in seinem Dramentext hinterlässt. Die Interventionen des Souveräns fallen höchst unterschiedlich aus, sie scheinen sich nicht nur am Bedarf politischer Notwendigkeit zu orientieren, sondern lassen auch persönliche Vorlieben erkennen. Im Folgenden nun sollen die diversen Einflüsse des Monarchen anhand der genannten Parameter des Agenda-Settings vorgestellt werden. 6.2.1 Die Grands Divertissements von Versailles und die comédies-ballets 6.2.1.1 Les Plaisirs de l’Ile enchantée (1664) Zu den exklusiven Festivitäten zählen Les Plaisirs de l’Ile enchantée , das erste große Hoffest in Versailles, das vom 7. bis zum 13. Mai 1664 dauerte und der jungen Königin Marie-Thérèse wie auch der Königinmutter Anne d’Autriche gewidmet ist. Ludwig XIV . und die Maîtres de plaisir des Festes - François-Honorat de Beauvilliers, Herzog von Saint-Aignan, und Jean-Baptiste Colbert - arrangieren mit Molière, Lully und Benserade das große Spektakel. Es stellt nicht nur ob seiner Dauer, sondern auch ob seines kaum zu überbietenden Unterhaltungsangebots in Form von Ringelstechen, Lotterien, Banketten, Feuerwerken, Promenaden, Prozessionen und natürlich Theaterstücken das opulente Fest von Fouquet 7 in Vaux-le-Vicomte in den Schatten und setzt ein politisches Zeichen. Diese Diversität royaler Vergnügungen wird thematisch mit dem im romanesken Hauptwerk von Ludovico Ariosto, Orlando furioso , geschilderten Sujet zusammengehalten, das sich leitmotivartig durch die Festwoche zieht und für ein fabelhaftes Ambiente sorgt. Dem märchenhaften Charakter dieses Werkes geschuldet wird das Schloss samt seiner Gärten in eine nie zuvor dagewesene, inselhafte Kunstwelt mitten in der Versailler Sumpflandschaft verwandelt: Le Roi voulant donner aux Reines, et à toute sa Cour le plaisir de quelques Fêtes peu communes, dans un lieu orné de tous les agréments […]. C’est un Château [le Château de Versailles, Anm. S. W.] qu’on peut nommer un Palais Enchanté, tant les ajustements de l’art ont bien secondé les soins que la Nature a pris pour le rendre parfait: Il charme 7 Die Affäre Fouquet wird im Folgenden ausführlicher nachgezeichnet. <?page no="280"?> 6.2 „Agenda-Setting“-- des Sonnenkönigs Wunschkonzert 279 en toutes manières, tout y rit dehors et dedans, l’or et le marbre y disputent de beauté et d’éclat. (PdE, 521) Inmitten dieser berauschenden Atmosphäre führen Molière und seine Truppe vier Komödien auf, darunter drei Ballettkomödien, wobei insbesondere diese als nouveau spectacle dem Anspruch des Extraordinären bevorzugt nachkommen. La Princesse d’Élide spiegelt mit ihrer exotischen Handlungswelt das verzauberte Ambiente des zum Festprogramm ausgewählten italienischen Sujets im Vergleich zu den anderen Theaterstücken am merklichsten wider. Die Absicht, La Princesse d’Élide in das Sujet des Festes zu integrieren, wird in der Einleitung zum Prolog dieser Ballettkomödie explizit formuliert: Le dessein de cette seconde Fête, était que Roger [le Roi, Anm. S. W.] et les Chevaliers de sa Quadrille, après avoir fait des merveilles aux Courses, que par l’ordre de la belle Magicienne ils avaient faites en faveur de la Reine, continuaient en ce même dessein pour le divertissement suivant; et que l’Île flottante n’ayant point éloigné le rivage de la France, ils donnaient à Sa Majesté le plaisir d’une Comédie, dont la scène était en Élide. (PdE, 535 f.) Der Dramaturg berücksichtigt bei der Konzeption dieses Theaterstücks auch die Tatsache, dass die Festivitäten den beiden aus Spanien stammenden Königinnen gewidmet sind. Er bedient sich sonach des Repertoires der spanischen comedia und überarbeitet das Lustspiel El Desdén con el desdén von Agustín Moreto zu Ehren der beiden Damen. Der italienische Bühnenexperte Vigarani konstruiert das Freilichttheater so, dass die Ballettkomödie auch bei Nacht aufgeführt werden kann und mithin in der Transformation von Nacht zu Tag mittels künstlichen Kerzenlichts erneut das Leitmotiv der Verzauberung in den Fokus der Repräsentation rückt. Die Kreation artifizieller Tageszeiten zeigt den Allmachtsanspruch des Herrschers und ist in diesem absolutistischen Kontext als Symbol der Naturbändigung zu lesen. Ähnlich wie der literarische Ruhm Ariostos überdauert auch der Glanz der Festivitäten die Aufführungswoche, indem sie zum Vorbild für sämtliche Feste in Europa werden. Des Sonnenkönigs Repräsentation und Präsentation manifestieren sich hierbei in der dialektischen Alternation von abstrakter Dramatis personae wie auch konkreter persona . Dieses Wechselspiel macht ihn im Schein der Kunst zum Autor seines Divertissements, genauso wie die Reise des Ritters Orlando sich als Symbol für das Schaffen des Poeten zeigt, spielt Letzterer doch mit der Fiktion. 6.2.1.2 Le Grand Divertissement royal (1668) Ein weiterer Grand Divertissement findet am 18. Juli 1668 zur Feier des Friedens von Aix-la-Chapelle und der Annexion von Flandern statt, bei dem zu Ehren von Madame de Montespan die Ballettkomödie George Dandin zur Urauffüh- <?page no="281"?> 280 6 Absolutistische Kulturpolitik rung kommt. Der Monarch verdeutlicht allein mit diesem außerordentlichen Festtermin seinen Allmachtanspruch, da er sich über die üblichen Jahreszeiten und den daran gebundenen Festkalender hinwegsetzt. Im Unterschied zu 1664 wird das Fest ohne ein bestimmtes Thema an nur einem Tag aufgeführt. Der Ablauf ist wie eine große Promenade durch die Versailler Gärten organisiert, ein feierlicher Aufzug, der an bestimmten Plätzen haltmacht und dort die Mitwirkenden an vorbereiteten Vergnügungen teilhaben lässt; er erinnert seines Prunkes wegen an eine katholische Prozession mit profanen Vorzeichen, an deren Spitze der friedensstiftende König ist. Laut Zeitzeugen soll dieser Festtag der Höhepunkt klassischer Feste sein, wobei Molières Ballettkomödie nicht unwesentlich an diesem Erfolg beteiligt ist, wie Félibien schildert: [I]l est certain qu’elle [la comédie-ballet, Anm. S. W.] est composée de parties si diversifiées & si agreables qu’on peut dire qu’il n’en a guere paru sur le Theatre de plus capable de satisfaire tout ensemble l’oreille & les yeux des spectateurs. La prose dont on s’est servy est un langage tres-propre pour l’action qu’on represente; & les vers qui se chantent entre les actes de la Comedie conviennent si bien au sujet & expriment si tendrement les passions dont ceux qui les recitent doivent estre émus, qu’il n’y a jamais rien eu de plus touchant. 8 Molière stattet seine Ballettkomödie mit einer Pastorale aus, die Benserade mit über 100 Tänzern zu einem fulminanten Tanzspektakel werden lässt. Sie füllt die Interludien und ist über die Sujetähnlichkeit mit der Komödie verbunden. Zudem nimmt das bukolische Moment der Fiktion, das sowohl in der Handlungswelt der Pastorale als auch in der Handlungswelt der Komödie das Ambiente festlegt, das Idyll der Versailler Gärten auf. Die Verschmelzung von Fiktion und Realität wird auch binnenfiktional realisiert, wenn sich die beiden Chöre, der des Bacchus und der des Amor, am Ende vereinigen und den komischen Helden aus der Komödie in ihren Reigen aufnehmen. Das Theaterspektakel endet mit der Schlusszeile „ Qu’il n’est rien de plus doux que Bacchus et l’Amour “ (GD, 1025), die zugleich als Überleitung zum nächsten Highlight zu verstehen ist. Wein und Liebe, die beiden Konnotate zu Bacchus und Amor, verweisen auf den darauffolgenden Programmpunkt des Festes, ein üppiges Bankett. Obgleich der Festtag Liebe und Frieden nicht explizit zum Leitthema hat, inszeniert sich der Souverän doch eindeutig als göttlicher Friedensüberbringer, der nicht nur die Streitigkeiten in der Ballettkomödie im Bacchusfest fiktional beenden lässt, sondern auch den politischen Unruhen im europäischen Machtspiel überlegen ist: 8 Félibien (1668), 16. <?page no="282"?> 6.2 „Agenda-Setting“-- des Sonnenkönigs Wunschkonzert 281 Et tous ces fameux demi-dieux Dont fait bruit l’Histoire passée, Ne sont point à notre pensée Ce que LOUIS est à nos yeux. ( GD , 1015) 6.2.1.3 Les Divertissements de Versailles (1674) und andere Die Divertissements von 1674 werden anlässlich der Rückeroberung von Franche-Comté zelebriert und erstrecken sich vom 4. Juli bis zum 31. August. Am 19. Juli, dem dritten Festtag, wird Molières Le Malade imaginaire posthum aufgeführt. Sonach verfasste der Komödienschreiber seine letzte Ballettkomödie nicht für dieses Event, sondern für den Karneval von 1673, was sich anhand seines Prologes belegen lässt. Darin widmet Molière dem Souverän in Art der Enkomiastik seine Kunst, die auf den militärischen Sieg über die Niederlande im Jahr 1672 anspielt: APRÈS les glorieuses fatigues, et les Exploits victorieux de notre Auguste Monarque; il est bien juste que tous ceux qui se mêlent d’écrire, travaillent ou à ses louanges, ou à son divertissement. C’est ce qu’ici l’on a voulu faire, et ce Prologue est un essai des Louanges de ce grand Prince, qui donne Entrée à la Comédie du Malade imaginaire , dont le projet a été fait pour le délasser de ses nobles travaux. ( MI , 631) Da diese Ballettkomödie keine Auftragsarbeit war, kann sie der Sonnenkönig zu Ehren seines treuen Autors - trotz Lullys Privilegien - bei den Festivitäten von 1674 aufführen. Die Ära großer monarchischer Spektakel endet mit diesem Festexzess und der Aufführung Molières letzter comédie-ballet : „[E]lles [les grandes fêtes, Anm. S. W.] n’apportent rien de nouveau, comme si l’essentiel était dit et qu’il suffise de le représenter […].“ 9 Neben diesen großen Divertissements gibt es auch kleinere, die nicht weniger wichtig für die Festkultur der königlichen Macht sind. Sie finden im Gegensatz zu den erwähnten zumeist zur Karnevalszeit statt, wie Le mariage forcé , La Pastorale Comique , Le Sicilien und Les Amants Magnifiques , oder zur Jagdsaison wie L’Amour Médecin , Monsieur de Pourceaugnac und Le Bourgeois gentilhomme . Diese beiden Jahreszeiten stehen bei den Bourbonen traditionell im Zeichen des plaisir , sodass sich diese Feierlichkeiten von den Grands Divertissements dahingehend unterscheiden, dass sie zum festen Festkalender gehören und in der Regel nicht so kostspielig sind, da die Ballettkomödien allein aufgeführt werden und weitgehend auf weitere Attraktionen um diese herum verzichtet wird. Dass 9 Apostolidès (1981), 128. <?page no="283"?> 282 6 Absolutistische Kulturpolitik diese ‚im Kleinen‘ aufgeführten comédies-ballets nicht weniger prunkvoll sind, zeigen die vorangehenden Untersuchungen. Infolgedessen ist ihnen mit den großen Feierlichkeiten gemein, dass sie ein wichtiges Medium im politischen System sind: Der nouveau spectacle Molières verhilft in außerordentlichem Umfang zur Etablierung eines absolutistischen Kulturstaates, der im Zeichen von puissance und plaisir steht. 6.2.2 Enge Zeitraster Im Rahmen der Festorganisation ist ein streng gesetztes Zeitfenster für die Vorbereitungen vorgegeben. Komödien wie auch Ballettkomödien werden häufig ohne große Vorlaufzeiten in Auftrag gegeben, was sich aufgrund von unvorhersehbaren politischen Ereignissen ergibt, zu deren Anlässen der König seine Feste feiert. Der Herrscher demonstriert in der Kurzfristigkeit der gesamten Festorganisation seine Allmacht, die auf der Maxime gründet, dass nichts in seinem Staat unmöglich erscheint: Er kann alles vollbringen, was er sich vornimmt, denn er ist der Staat. Selbst über normale zeitliche Bestimmungen setzt er sich großmütig hinweg. Den zeitlichen Ablaufplan im Staat bestimmt er, wie zum Beispiel der königliche lever und coucher versinnbildlichen. Er selbst ist die Zeit, wie er sie 1653 allegorisch im Ballet de la Nuit als Uhr-Figur tanzend repräsentiert. 10 Somit wird bereits die rapide Planung der Feste in den absolutistischen Machtdiskurs eingeschrieben. Dies hat für die Künstler zur Folge, dass sie sich dem Zeitplan des Herrschers unterwerfen und ihren Arbeitsprozess in hohem Maße beschleunigen müssen, wenn sie ihrer Aufgabe als Künstler im Dienste Ludwigs XIV. gerecht werden wollen, wie Molière in der fiktionalen Spiegelung seiner selbst in L’Impromptu de Versailles programmatisch verkündet: M olière : [L]es Rois n’aiment rien tant qu’une prompte obéissance, et ne se plaisent point du tout à trouver des obstacles. Les choses ne sont bonnes que dans le temps qu’ils les souhaitent; et leur en vouloir reculer le divertissement est en ôter pour eux toute la grâce. Ils veulent des plaisirs qui ne se fassent point attendre, et les moins préparés leur sont toujours les plus agréables […] et si l’on a la honte de n’avoir pas bien réussi, on a toujours la gloire d’avoir obéi vite à leurs commandements. (IdV, 823) Die Einhaltung gesetzter Fristen geht mit einem loyalen Gehorsam des Künstlers einher, der den „divertissement“ für den Hof respektive den Staat garantiert und den „plaisirs“ unverzüglich nachkommt. Der enorme Zeitdruck hinsichtlich 10 Der Sonnenkönig stellt die ranghöchste Stunde, die Zwölf, im Ballett dar: „VOici [sic] la plus belle Heure, & dans tous les Cadrans / La premiere dessus les rangs[.] […] Mais c’est l’Heure du Monde où toutes les Vertus / Et les Graces brillent le plus […].“ Bensérade (1697), 16. <?page no="284"?> 6.2 „Agenda-Setting“-- des Sonnenkönigs Wunschkonzert 283 der Auftragsarbeiten ist in zahlreichen historischen Quellen belegt, sodass es nicht verwundert, dass dieser topisch in den meisten avant-propos erscheint und zu einem Charakteristikum der culture mondaine avanciert. 11 Dieser Passus zeigt zudem das allgemeine Rollenverständnis der Künstler der Zeit: Unter Ludwig XIV . war kein artistischer Selbstentwurf außerhalb des Dienstes für den Staat denkbar. 12 Im Lichte des Gesagten rühmt sich Molière nicht nur explizit mit seinem außerordentlichen Pflichtbewusstsein, sondern implizit auch mit seiner besonderen artistischen Gabe, die er durch seinen herausragenden Status im Staat bestätigt bekommt. Ferner können diese Aussagen als Rechtfertigungsbeziehungsweise Bescheidenheitstopoi gedeutet werden. Hierbei zeigt sich Molières Absicht, gegen jedwede ästhetischen und ethischen Anfeindungen seitens der doctes gewappnet zu sein, da er den Anforderungen des Königs entsprechen möchte: Ce n’est ici qu’un simple crayon; un petit impromptu, dont le Roi a voulu se faire un divertissement. Il est le plus précipité de tous ceux que Sa Majesté m’ait commandés; Et lorsque je dirai qu’il a été proposé, fait, appris, et représenté en cinq jours, je ne dirai que ce qui est vrai. ( AM , 603) Der parallele Wortlaut zum Avertissement von Les Fâcheux ist unübersehbar und untermauert die These zur Formelhaftigkeit des Zeitproblems: „[ J]e crois, toute nouvelle, qu’une Comédie ait été conçue, faite, apprise, et représentée en quinze jours. Je ne dis pas cela pour me piquer de l’ impromptu […].“ ( LF , 149) Molière professionalisiert in den letzten Jahren seine Dramenkonzeption, ebenso wie seine Zusammenarbeit mit Lully, sodass er in Rekordzeit von fünf Tagen L’Amour médecin zur Aufführung bringen kann und des Königs künstlerischem Ruhmanspruch, der sich eben auch in einer anderen Zeitbemessung als gewöhnlich artikuliert, nachkommt; dabei muss er nicht auf seinen artistischen Anspruch verzichten. Der Dramentext dient lediglich als Vorlage zur Aufführung, wohingegen die Inszenierung die wahre Kunst zu sein scheint: Il n’est pas nécessaire de vous avertir qu’il y a beaucoup de choses qui dépendent de l’action; On sait bien que les Comédies ne sont faites que pour être jouées, et je ne conseille de lire celle-ci qu’aux personnes qui ont des yeux pour découvrir dans la lecture tout le jeu du Théâtre. ( AM , 603) Das Spiel zwischen Rechtfertigung und Bescheidenheit ist opak und in dieser Ambiguität bewusst propagiert, um keine Schmähung gegen Molières Kunst aufkommen zu lassen, denn dies wäre zugleich eine Schmähung der Macht des 11 Vgl. Louvat-Molozay, Bourqui und Piéjus (2010), 1427. 12 Vgl. Apostolidès (1981), 24. <?page no="285"?> 284 6 Absolutistische Kulturpolitik Königs, seines Mäzens. Dass Molière souverän mit dem Fertigstellungsdruck umgeht, beweist er nicht nur mit der Idee, das enge Zeitfenster zur Vorbereitung der Lustspiele als Sujet in L’Impromptu de Versailles zu verarbeiten , sondern auch in La Princesse d’Élide . Auf Ersuchen des Königs, La Princesse d’Élide so schnell wie möglich fertigzustellen, ändert Molière brevi manu den Schreibstil seines Werkes von Vers zu Prosa, denn eine weitere Versifikation hätte die letzten drei Akte verlängert, wie der folgende avis im Dramentext deutlich macht: Le dessein de l’Auteur était de traiter ainsi [en vers, Anm. S. W.] la Comédie; mais un commandement du Roi qui pressa cette affaire, l’obligea d’achever tout le reste en prose, et de passer légèrement sur plusieurs Scènes, qu’il aurait étendus davantage, s’il avait eu plus de loisir. (PdE, 559) Der plötzliche Wechsel von Alexandrinern zu Prosa manifestiert erneut des Königs Interventionsmacht, die sogar in den Schreibstil während der Textproduktion eingreift. Molière vermeidet eine ästhetische Disharmonie ex abrupto zwischen Vers und Prosa, indem er den Übergang nivelliert. Er dichtet in ‚lyrischer Klangprosa‘ weiter und schreibt einen musikalischen Effekt in die Prosa ein. 13 Trotz aller Improvisationskunst des Dramatikers dürfte dem aufmerksamen Zuschauer diese ästhetische Zäsur mitten in Akt II , Szene I nicht entgangen sein. Da diese jedoch den Mangel an Zeit aufgrund einer königlichen Order offenkundig markiert und nicht auf das artistische Unvermögen Molières hindeutet, bestätigt sie die Obrigkeitstreue des Künstlers. Dies hat zur Folge, dass die ästhetische Zäsur als Zeichen königlicher Macht zu lesen ist, die ihn gegen jegliche Angriffspunkte seiner Feinde immun macht. Aufgrund seiner Improvisationskraft zeigt Molière einmal mehr, dass er trotz äußerster Zeitnot gegen eine allzu große ästhetische Einbuße gefeit ist. Durch die explizite Erwähnung der königlichen Order im Dramentext schreibt Molière die royale Signatur seiner Ästhetik ein, wenngleich diese Textmodifikation gewiss nicht seine ursprüngliche Absicht beim Verfassen dieser Ballettkomödie war. 6.2.3 Geschickte Themenwahl In der ersten Ballettkomödie, Les Fâcheux , zu welcher der mächtige und wohlhabende Finanzminister Nicolas Fouquet in sein Schloss in Vaux-le-Vicomte einlädt, erfolgt das Eingreifen des Königs in das Artefakt erst im Nachhinein. Der Amphitryon verletzt mit dem bis dato inexistenten Ausmaß eines klassischen Prunkfestes und der damit verbundenen Zurschaustellung seiner selbst 13 Vgl. Beaussant (1992), 323. <?page no="286"?> 6.2 „Agenda-Setting“-- des Sonnenkönigs Wunschkonzert 285 die Regeln der absolutistischen Repräsentation, 14 da er es sich anmaßt, dem König und dem Hof dieses cadeau zukommen zu lassen. Philippe Beaussant beurteilt diese Aktion als Majestätsbeleidigung und Machtveruntreuung: C’est un crime de lèse-magnificence royale, c’est une atteinte à la splendeur du Soleil […]. Il y avait malversation en ce sens que la fête est chose royale, que c’est au roi de l’offrir à sa cour et à ses sujets, non à un sujet d’en éblouir son roi. 15 Dieser Insubordinationsakt wird mit Fouquets Verhaftung und lebenslanger Festungshaft quittiert, da dem König sein Machtanspruch schon im Zuge seiner Tätigkeit als surintendant des finances negativ auffiel. Der junge König statuiert nicht nur ein politisches Exempel mit der Herabsetzung des hohen Beamten, sondern macht von nun an die comédie-ballet zu seinem Genre, zum genre louisquatorzien , der ihm für das nächste Jahrzehnt zu seiner Selbstfeier und zur Feier seines Staates dienen sollte. Die Affäre um Fouquet demonstriert eindrücklich die wechselseitige Abhängigkeit von Politik und Kultur. Vor diesem historischen Hintergrund betrachtet, ist der Wunsch Ludwigs XIV. nach einer zusätzlichen Szene als machtinszenierende Intervention zu deuten. Sie steht im Zeichen einer Herrschergeste, einer offenkundigen Aneignung dieser außergewöhnlichen Kunstform. Molière hebt in der Königswidmung seiner Ballettkomödie den Vorschlag des Königs hervor, ja, er schreibt ihm sogar den Erfolg seines Stücks zu: Je le dois, SIRE , ce succès, qui a passé mon attente, non seulement à cette glorieuse approbation, dont VOTRE MAJESTÉ honora d’abord la Pièce, et qui a entraîné si hautement celle de tout le monde; mais encore à l’ordre qu’elle me donna d’y ajouter un caractère de Fâcheux, 16 dont elle eut la bonté de m’ouvrir les idées elle-même, et qui a été trouvé partout le plus beau morceau de l’Ouvrage. […] [E]t je crois qu’en quelque façon ce n’est pas être inutile à la France, que de contribuer quelque chose au divertissement de son Roi. ( LF , 147 f.) Molières Talent und Status können im Gegensatz zu Fouquets Machtallüren aus zwei Gründen von Ludwig XIV . geduldet werden. Einerseits zeigt der Künstler mit seiner Respektbezeugung, dass er seine Kunst in den Dienst des Königs respektive des Staates stellt, andererseits verhilft er dem König, die Kunst nicht nur als Mäzen von außen zu fördern, sondern lässt ihn selbst als Künstler in Erscheinung treten, lässt ihn Teil der Kunst werden. Die royale Signatur in Les Fâcheux ist als Initiationsmoment zu lesen. Mit dem Akt ihres Eindringens 14 Vgl. Garstka (2006), 89. 15 Beaussant (1992), 310. 16 Vgl. Kapitel 3, Fußnote 5. <?page no="287"?> 286 6 Absolutistische Kulturpolitik in den Dramentext betraut sie das Dodekameron symbolisch als zukünftiges Medium mit der Politisierung der absolutistischen Festkultur. Auch für La Cérémonie Turque in Le Bourgeois gentilhomme gibt es einen Auslöser: die politische Affäre um den osmanischen Diplomaten Soliman Aga. Sonach ist die Cérémonie Turque als machtästhetischer Vergeltungsschlag zu lesen, womit der König das ihm unwürdig erscheinende Verhalten des türkischen Gesandten zu sühnen gedachte. Er beauftragt den Orientkenner Laurent d’Arvieux, Molière und Lully für die Produktion des Bourgeois gentilhomme als Berater zur Seite zu stehen: [C]omme l’idée des Turcs qu’on venoit de voir à Paris étoit encore toute recente, il [le Roi, Anm. S. W.] crût qu’il seroit bon de les faire paroître sur la scêne. Sa Majesté m’ordonna de me joindre à Messieurs Molière & de Lulli, pour composer une piece de Théâtre où l’on pût faire entrer quelque chose des habillemens & des manieres des Turcs. 17 Der Dramatisierung beziehungsweise Theatralisierung türkischer Riten liegt demnach ein interkulturelles Missverständnis in der Außenpolitik von Ludwig XIV . zugrunde. Der Reiz des Fremden, des Exotischen, die Tatsache, dass das Sujet in dieser Zeit en vogue ist, kommt dem König sicherlich auch für sein neues Divertissement gelegen, sodass sich eine Symbiose von puissance und plaisir für Le Bourgeois gentilhomme konstatieren lässt, wobei das bedrohlich Fremde ins Komische gekehrt wird. Auch die Ballettkomödie Les Amants magnifiques steht unter dem thematischen Einfluss des Sonnenkönigs. Der avant-propos bezeugt ein ehrgeiziges Projekt, bei dem am Ende mehr als 160 Darsteller auf der Bühne erscheinen. Die Ballettkomödie wird erneut in ein Fest-Setting eingebunden, wobei die Plaisirs de l’Ile enchantée als Modell fungieren. Mit der Einschränkung auf einen Tag soll dieses Fest zwar kleiner ausfallen, jedoch nicht weniger pompös: LE ROI , qui ne veut que des choses extraordinaires dans tout ce qu’il entreprend, s’est proposé de donner à sa Cour un Divertissement qui fût composé de tous ceux que le Théâtre peut fournir; et pour embrasser cette vaste Idée, et enchaîner ensemble tant de choses diverses, SA MAJESTÉ a choisi pour sujet deux Princes Rivaux, qui dans le champêtre séjour de la Vallée de Tempé, où l’on doit célébrer la Fête des Jeux Pythiens, régalent à l’envi une jeune Princesse et sa Mère, de toutes les galanteries dont ils se peuvent aviser. ( AM s, 946) Der Sujetvorschlag des Königs legitimiert aus dramenwie auch sujetstruktureller Perspektive die das Spektakel beendende „Fête des Jeux Pythiens“, die den 17 Arvieux (1735), 252. <?page no="288"?> 6.2 „Agenda-Setting“-- des Sonnenkönigs Wunschkonzert 287 Höhepunkt der Ballettkomödie darstellt und seinem Verlangen nach Außergewöhnlichem, nach Glanz und Gloria nachkommt. Mit dieser thematischen Intervention organisiert der französische Monarch auch über die Ballettkomödie hinaus seinen Divertissement royal , denn der Übergang zwischen Fiktion und Realität ist fließend, wenn das Finale in einer schier endlosen Apotheose und einem schier endlosen Enkomion auf den Souverän endet. Er schafft sich ein Fest im Feste, das er zum Fest des Festes werden lässt, indem er die gesamte mise-en-abyme- Struktur nach seinen Wünschen formt und sich selbst zum eigentlichen Thema der Darstellung macht. Als letztes Beispiel für die inhaltliche Intervention des Königs soll La Comtesse d’Escarbagnas dienen. Hierbei handelt es sich im Gegensatz zu den anderen, zuvorderst thematischen Ansprüchen des Souveräns streng genommen eher um ein formales Anliegen, wie La Grange im avant-propos der Ballettkomödie erklärt: SA MAJESTÉ a choisi tous les plus beaux Endroits des Divertissements qui se sont représentés devant Elle depuis plusieurs années; et ordonné à Molière de faire une Comédie qui enchaînât tous ces beaux morceaux de Musique et de Danse, afin que ce Pompeux et Magnifique assemblage de tant de choses différentes, puisse fournir le plus beau Spectacle qui se soit encore vu pour la Salle, et le Théâtre de Saint-Germainen-Laye. (CdE, 1039) In dieser Forderung zeigt sich der ungebrochene Wille des Sonnenkönigs nach immer pompöseren Inszenierungen seiner Macht. Molière entschließt sich, seine ornements mit dem in Mode gekommenen Sujet des Provinzadeligen zu kombinieren, wobei er durch die Heterogenität seiner vorhandenen Kompositionen nur das mythologische Finale sinnvoll in die Dramenstruktur zu integrieren versteht. Die restlichen Musik- und Tanzeinlagen präsentiert er aufgrund der königlichen Order als Ostentation seiner Kunst, quasi als ‚Bilder einer Ausstellung‘ seines Ballettkomödienschaffens. Unter diesem Aspekt ist auch die Kohärenz dieser Ballettkomödie zu verstehen. Sie wird primär nicht syntagmatisch, sondern verstärkt paradigmatisch über die Partikularitäten der Gattung geleistet. Letztlich ist diese spezielle Ballettkomödie im Sinne einer übergeordneten mise-en-abyme- Struktur des Dodekamerons zu lesen. La Comtesse d’Escarbagnas kann vor diesem Hintergrund als artistisches Panoptikum des molièreschen Totaltheaters begriffen werden. Als „beaux morceaux de Musique et de Danse“ wählte Molière folgende Interludien aus seinem Theaterrepertoire aus: La Plainte Italienne ( Psyché ), Cérémonie Magique de Chanteurs et de Danseurs ( PC ), Combat de L’Amour et de Bacchus ( GD ), Les Bohémiens ( PC ), Cérémonie Turque ( BG ), Les Italiens et Les Espagnols ( BG ), Finale mythologique ( Psyché ). Molière bettet seine Comtesse d’Escarbagnas in eine exotische, vom Hof entrück- <?page no="289"?> 288 6 Absolutistische Kulturpolitik te Handlungswelt ein, die mit der der Komödie kontrastiert, wie die Wahl der Interludien zeigt. Dies scheint das korrelierende Element der Zwischenspiele zu sein, das eine Art Leitmotiv stellt und für eine übergeordnete Kohärenz sorgt. Diesem Einheitsgedanken geschuldet, scheut Molière auch nicht davor zurück, Elemente aus seiner einzigen tragédie-ballet , Psyché , in diese comédie-ballet zu integrieren, bietet sie doch mit ihrem mythologischen Sujet eine Auswahl an geeigneten Versatzstücken für das exotische Ambiente. Sicherlich hätte Molière diese Ballettkomödie ohne die explizite Order des Königs wie seine anderen komponiert und die Intermedien sowohl über die Dramenals auch die Sujetstruktur mit der Komödie kohärenter verbunden. In diesem Stück erklärt er aber gerade die Inkompatibilität zu seinem Kompositionsprinzip, das er stringent durchhält und auf diesem Weg eine Pluralität der Darstellung erzeugt. Trotz dieser Heterogenität zeigt sich am Ende der Ballettkomödie ein Grundprinzip klassischer Ästhetik: das die Pluralität zu bündeln gewillte Eintrachtprinzip. Aus metapoetischer Perspektive äußert sich dieser Gedanke topisch zu Beginn des Finales, wenn die Götter des Himmels einträchtig auf den Appell von Apollo, „ Unissons-Nous, Troupe immortelle “ (CdE, 1063), singen: C hœur des divinités Célestes Célébrons ce grand Jour; Célébrons tous une Fête si belle: Que nos Chants en tous lieux en portent la nouvelle; Qu’ils fassent retentir le céleste séjour […] . (CdE, 1063) Die in der Fiktion postulierte Eintracht steht symbolisch für Harmonie wie auch Frieden und letztlich für die Souveränität des Herrschers. Sie ist die lebensweltliche Grundlage der Festkultur und die Voraussetzung dafür, dass sich seine Apotheose in der Kunst entfalten kann. Infolgedessen manifestiert sich die Allmacht des Souveräns im selbstreflexiven Lobgesang des „ grand Jour “ und der „ Fête si belle “. Dieses Ballettkomödienfeuerwerk ist an Opulenz nicht mehr zu überbieten und die Balletteinlagen tragen denn auch symptomatisch den Titel Ballet des ballets : [L]e Divertissement […] est composé de ce qui s’est trouvé de plus beau, dans tous les autres Divertissemens que Sa Majesté a pris depuis plusieurs années, & accompagné de toute la pompe, & la magnificence ordinaire dans les Spectacles […]. 18 18 Gazette Paris (1671), 1168. <?page no="290"?> 6.2 „Agenda-Setting“-- des Sonnenkönigs Wunschkonzert 289 Der prunkvollen Ausreizung der Ballettkomödienkunst scheint sich der Sonnenkönig gewiss zu sein, denn die Comtesse d’Escarbagnas ist die letzte Ballettkomödie, die er in Auftrag gibt. Zukünftig wird die opulentere Oper den königlichen goût zufriedenstellen; sie wird zum ersten Hofspektakel avancieren und das hybride Genre Ballettkomödie ablösen. 6.2.4 Tanzender König Der König beteiligt sich nicht nur an einer sorgfältigen Projektierung der Ballettkomödien, er ist bei einigen auch selbst als Darsteller involviert. Im Zuge der Expansion des Absolutismus professionalisiert und erweitert Ludwig XIV . das symbolisch-zeremonielle Tanzschauspiel der Monarchie, 19 indem er dieses kulturelle Gut Frankreichs als tanzender König majestätisch und formvollendet repräsentiert: Ce Prince qui avoit reçû des mains de la Nature une figure noble & majestueuse, avoit aimé dès son enfance tous les exercices du corps, & avoit ajoûté aux dons naturels toutes les graces qui peuvent s’acquerir. Le goût qu’il avoit pour la Danse l’engageoit dans les momens paisibles de son Regne, à donner de ces Ballets magnifiques, où ce Souverain ne dedaignoit pas de paroître lui-même avec les Princes & les Seigneurs de son Roïaume. 20 Bereits als Zwölfjähriger steht Ludwig XIV . zum ersten Mal als Tänzer auf der ‚politischen Bühne‘ und behält diesen Performance-Stil noch bis zu seinem 31. Lebensjahr im Ballet de Cour bei. 21 Seine Tanzkünste sind in einem kritischen Licht zu betrachten, werden sie in zeitgenössischen Quellen doch aus machtpolitischen Gründen in den höchsten Tönen gelobt, da seine Performance für die Souveränität des Staates steht - seine Tanzkraft symbolisch mit seiner Regierungskraft gleichgesetzt wird - und Teil der absolutistischen Propaganda ist. Die Tatsache, dass er als Solotänzer auftritt, gibt diesen Aussagen jedoch eine gewisse Glaubwürdigkeit, denn ein untalentierter Tänzer wäre dieser Aufgabe nicht gewachsen gewesen. Die Zeit des Dodekamerons fällt in die Zeit, in der Ludwig XIV . als aktiver Tänzer bei den Hofspektakeln auftritt. In ungefähr einem Viertel der Ballettkomödien wirkt der Souverän als tanzende Dramenfigur mit. In Le Mariage forcé debütiert er mit der kleinen Rolle eines männlichen Ägypters im dritten Entree, 19 Vgl. Braun und Gugerli (1993), 96. 20 Rameau (2013 [1725]), Vorwort, 10. 21 Seine erste Tanzrolle erhielt Ludwig XIV. im Ballet de Cassandre im Jahre 1651, seine letzte entweder im Ballet de Flore im Jahre 1669 oder in Les Amants magnifiques im Jahre 1670. <?page no="291"?> 290 6 Absolutistische Kulturpolitik begleitet von zwei Edelmännern, Le Marquis de Villeroy und Le Marquis de Rassan, wie auch von zwei professionellen Tänzern, die ebenfalls die Ägypter tanzend spielen. Der unkomplizierte Rhythmus und die einfache Harmonie der Sarabande evozieren eine Musik der Erhabenheit, die den Auftritt des Monarchen musikalisch einrahmt; die feierliche Musik entspricht dabei weniger der dramatischen Figur als vielmehr dem lebensweltlichen König. 22 Daraus lässt sich verallgemeinern, dass die Realpräsenz des Königs prioritär vor der Darstellung der Dramatis personae kommt, obschon das exotische Moment auch durch die Kostümierung des Tänzers wie auch den Tanz in g-Moll im 2 / 2-Takt Einzug in die Inszenierung hält. 23 Durch seine Verkleidung tritt der König selbst in Erscheinung. Diese interessante Mischung lässt den Zuschauer zwischen der dramatischen und theatralischen Perspektive alternieren, sodass der tanzende König die für diese Feste typische Ambiguität selbst erzeugt, ein verwirrendes Wechselspiel zwischen Fiktion und Realität, zwischen dramatischer Figur und politischem Akteur. Drei Jahre später mimt der König im Finale zu Le Sicilien einen Maure de qualité , wobei er wieder von Les Marquis de Villeroy und de Rassan begleitet wird. Da die Ballettkomödie als vierzehnte Entree in Le Ballet des muses integriert ist, orientiert sich ihre Sujetwahl auch am thematisch abgesteckten Rahmen dieses Balletts: „Après tant de Nations différentes que les Muses ont fait paraître dans les assemblages divers dont elles avaient composé le divertissement qu’elles donnent au Roi, il manquait à faire voir des Turcs et des Maures […].“ ( LS , 831) Der Maurentanz stellt Höhepunkt und Ende des Spektakels dar. Er ist über die Dramen- und Sujetstruktur mit der Komödie verbunden, fügt sich in den Rahmen des Ballet des muses ein und aktualisiert die lebensweltliche Karnevalszeit. An dieser Schnittstelle zwischen fiktionalem und realistischem Bezugspunkt tritt der König als tanzender Maure auf, womit er dieser Dualität in seiner Repräsentation höchstpersönlich Ausdruck verleiht. Der Monarch wird zum Bindeglied zwischen Kunst und sich selbst, sodass die politische Intention seines Auftritts unverkennbar ist: Er ist die Quelle der Inspiration, die Muse der Kunst und diese performt er selbst, weil er in seinem Allmachtsanspruch die Kunst selbst ist. Seine Verwandlungskünste in diversen Tanzrollen werden nach seiner Tanzeinlage epideiktisch besungen: Lorsqu’il fait le Berger il est incomparable, Représentant Cyrus il prend un plus haut vol, Qu’il se déguise en Nymphe il a l’air admirable, C’est la même fierté s’il danse en Espagnol, 22 Vgl. Prest (2001), 286. 23 Vgl. ebd., 286. <?page no="292"?> 6.2 „Agenda-Setting“-- des Sonnenkönigs Wunschkonzert 291 Sous l’habit Africain lui-même il se surmonte, Mais de ces jeux divers quand il faut qu’il remonte, À son vrai, naturel et sérieux emploi Où pas un ne l’égale, où Nul ne le seconde, Personne dans le Monde Ne fait si bien le ROI . ( LS , 837) Die Mannigfaltigkeit einiger seiner Rollen, die hier nur summarisch aufgeführt werden, zeigen die noble Persönlichkeit und Grazie auf, die dem König als Tänzer und Schauspieler stets zugesprochen werden: Egal wen oder was er spielt, sei es eine komische Figur oder eine seriöse, er ist trotz Kostümierung immer ob seiner royalen Qualitäten erkennbar, so die propagandistische Idee dieses Lobgesanges. In optima forma überzeugt er aber in der Rolle als König, die nicht explizit in der Fiktion als solche repräsentiert werden muss: „[…] Louis the king was as much a creative and created performance as Louis playing a Moor or Louis playing an Egyptian.“ 24 Ferner sind die Maurenrollen des Königs aber auch als Zeichen der Disziplinierung der Menschen aus dem Nahen Osten und als Zeichen der Durchsetzung des Monarchen gegenüber diesen zu lesen, denn sie galten als wilde, nur schwer zu beherrschende Völker. 25 Über den Auftritt des Königs in der Ballettkomödie Les Amants magnifiques wird bis heute spekuliert. 26 In der zwölf Jahre später von La Grange publizierten ersten Werkedition Molières werden dem König im Dramentext unzweifelhaft nach wie vor die Rollen des Neptuns und des Apollos zugeordnet. Wie dem letztlich auch sei, als sicher gilt die Tatsache, dass der Sonnenkönig plante, die Tanzrollen auszuführen. In dieser Absicht sind die Rollen konzipiert worden und daher als Beispiele des tanzenden Königs zu analysieren: Das Stück beginnt mit dem Auftritt Neptuns und endet mit dem Apollos, sodass der König die Ballettkomödie über den mythologischen Kontext dieser Gottheiten thematisch einrahmt und seine Kunst symbolisch über das zyklische 24 Ebd., 289. 25 Vgl. Lippe (1974), 75. 26 Wenn man den zeitgenössischen Schilderungen in La Gazette von 1670 Glauben schenkt, wird die Wahrheitsfindung nicht einfacher. So steht in der Ausgabe vom 7. Februar: „une Dance, qui est suivie de celle du Dieu Neptune, representé par le Roy, avec cette grace, & cette Majesté qui brillent dans toutes ses Actions […] & dans le dernier, Apollon, encor, representé par le Roy […]“ und in der Ausgabe vom 14. Februar: „le Comte d’Armagnac, & le Marquis de Villeroy, représentent Neptune, & Apollon, en la place du Roy, qui n’y danse pas“. Gazette Paris (1670), 143 / 168. Aufgrund dieser kontroversen Quellenangaben existiert zudem die Hypothese, dass der König erst bei der zweiten Aufführung durch die Hochadeligen ersetzt wurde, die Premiere jedoch selbst tanzte. Vgl. Garstka (2006), 91. <?page no="293"?> 292 6 Absolutistische Kulturpolitik Moment seiner dramatischen Präsenz zusammenhält. Der Chor verkündet die Ankunft des Meeresgottes, während dieser mit seinem Gefolge zu feierlicher Musik tanzt. Der punktierte Rhythmus gilt im Frankreich der Klassik als musikalische Repräsentation eines ethischen Ideals: 27 Er steht für die Erhabenheit und Anmut des Sonnenkönigs. Zudem verleiht der selbstreflexive Lobgesang der fiktiven Figur Neptun in der Ambiguität der Rollen seiner Souveränität Ausdruck: p our l e r oi , représentan t NEPTUNE Le Ciel entre les Dieux les plus considérés Me donne pour partage un rang considérable, Et me faisant régner sur les flots azurés, Rend à tout l’Univers mon pouvoir redoutable. […] On trouve des Écueils parfois dans mes États, On voit quelques Vaisseaux y périr par l’orage: Mais contre ma puissance on n’en murmure pas, Et chez moi la Vertu ne fait jamais naufrage. ( AM s, 949) Sein Auftritt am Ende der Ballettkomödie ist - der starken Finalwirkung des Genres geschuldet - noch spektakulärer als die Neptuneinlage, wie den Regieanweisungen im vierten Entree zu entnehmen ist: „Apollon au bruit des Trompettes et des Violons entre par le Portique, précédé de six jeunes gens, qui portent des Lauriers entrelacés autour d’un bâton, et un Soleil d’or au-dessus avec la devise Royale en manière de trophée.“ ( AM s, 994) Trompeten werden traditionell für königliche Auftritte eingesetzt, da ihr lauter und strahlender Ton eine starke Signalwirkung hat und sie die solare Kraft des Monarchen in ihrem majestätischen Klang musikalisch versinnbildlichen. Unterstützt wird das Klangkonzert durch Pauken, die als kräftige Rhythmusgeber zusammen mit den Trompeten eine feierliche Atmosphäre schaffen und Apollo / Ludwig XIV . am Ende der Fête des Jeux Pythiens als Sieger inszenieren. Sein Auftritt geht mit einem Wechsel von D-Dur - „ton réputé gai et guerrier“ - zum sanfteren d-Moll einher. 28 Der Höhepunkt der Abschlusszeremonie bildet „une danse héroïque“ (AMs, 994), begleitet von „six Trompettes et un Timbalier“ ( AM s, 994), zu der folgende Worte erklingen: 27 Vgl. Beaussant (1992), 168. 28 Vgl. Naudeix und Piéjus (2010), 1697. D-Dur / d-Moll gelten als royale Tonarten, was in der französischen Notationsbezeichnung ré majeur / ré mineur ob der Nähe zum lateinischen Wort ‚rex‘ ersichtlich wird. <?page no="294"?> 6.2 „Agenda-Setting“-- des Sonnenkönigs Wunschkonzert 293 p our le roi , représentant le s oleil Je suis la source des Clartés, Et les Astres les plus vantés Dont le beau Cercle m’environne, Ne sont brillants et respectés Que par l’éclat que je leur donne. Du Char où je me puis asseoir Je vois le désir de me voir Posséder la Nature entière, Et le Monde n’a son espoir Qu’aux seuls bienfaits de ma lumière. Bienheureuses de toutes parts, Et pleines d’exquises richesses Les Terres, où de mes regards J’arrête les douces caresses. ( AM s, 994 f.) Bei seinem letzten Tanz tritt der König als Apollo auf, als Gott des Lichtes und der Künste, womit sich ein weiterer Kreis schließt: Bei einem seiner ersten Tänze als Vierzehnjähriger im Ballet de la Nuit - der zum Modell zukünftiger Hofballette werden sollte - triumphiert er ebenfalls mit der Darstellung dieser Gottheit über die Finsternis der Nacht und erhält daraufhin den Beinamen ‚Sonnenkönig‘. 29 Im Laufe seiner unermüdlichen Selbstinszenierung als tanzender Monarch wird Ludwig XIV . selbst zu Apollo, zur überwältigenden Lichtinstanz seines Imperiums. Seine repraesentatio maiestatis ist eine Selbstdarstellung der Monarchie, die bewusst mit dem doppelten Rollenparadigma - der Überlagerung des Königs als politische und dramatische Figur - spielt und den Körper des Monarchen über die Mythologisierung zum allmächtigen Zeichen sakralisiert und glorifiziert; der private Körper wird zum symbolischen erhöht. Auf diese Weise verdoppelt sich seine Geltung ins Überwirkliche. Auch in anderen Rollenentwürfen, die keine Darstellung antiker Gottheiten erfordern, manifestiert sich die königliche Autorität in den diversen Repräsentationen. Diese 29 Hierbei ist besonders seine Kostümierung dem Ideologieprogramm unterworfen. Sie verweist auf die Herrschaftssymbolik des Absolutismus, die als politische Strategie zu verstehen ist: „[L]e jeune Louis XIV […] y apparut pour la première fois sous les traits d’Apollon, dans un fabuleux costume en toile d’or, avec une chevelure dorée figurant les rayons solaires, et un masque irradié qui symbolisait le soleil levant.“ Moine (1984), 35. Siehe Abbildung 4. Aquarell: Costumes du Ballet intitulé: „ La Nuit, “ représenté à la Cour en 1653, dans lequel Louis XIV figura habillé en soleil . <?page no="295"?> 294 6 Absolutistische Kulturpolitik vervielfachen seine Gegenwärtigkeit und propagieren seine Macht. Das dialektische Königsbild ist Ausdruck seiner Einzigartigkeit und Aushängeschild der absolutistischen Körperkultur. Es ist festzuhalten, dass die königlichen Auftritte in den Ballettkomödien eher seltener Natur sind, dafür sorgfältig geplant und aufwendig inszeniert werden. Sie kennzeichnen sich durch eine nicht-alltägliche Performance, sodass mit dem tanzenden König eine Sublimierung der Alltagsrealität einhergeht. Zudem erhöhen seine Auftritte die Exklusivität des Dodekamerons wie auch das soziale Prestige der anwesenden Zuschauer. Sie hinterlassen aufgrund ihrer ästhetisierten Machtperformance sowohl einen denkwürdigen Eindruck in der französischen Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts als auch in der europäischen Theatergeschichte. Nach 1670 tanzt der König nur noch auf dem Parkett, nicht mehr auf der Bühne. 30 Sein Verschwinden von der Tanzfläche bedeutet nicht das Verschwinden des Tanzes in seinem Reich, der Tanz wird lediglich professionalisiert und an neue Kunstentwicklungen adaptiert. Die in Mode gekommenen Ballettopern fordern von den Tänzern sportliche Höchstleistungen ab, denen die adligen Amateurtänzer nicht mehr gewachsen sind. Sie folgen ihrem Vorbild und treten gegen Ende des Jahrhunderts allmählich von der Bühne ab. 31 Das Repräsentationsspiel des Sonnenkönigs zwischen Fiktion und Realität endet hier nicht, denn die Präsenz des Souveräns im fiktionalisierten Festkosmos ermöglicht weiterhin einen ambigen Auftritt: Mit seinen Festen erzeugt er die Illusion, dass unter seiner Führung das Unmögliche möglich werden kann. Diesem Anspruch kommt er bei den Premieren erwähnter Ballettkomödien selbst durch ein ständiges Wechselspiel zwischen Fiktion und Realität nach, sei es mittels Repräsentanz multipler Dramatis personae oder mittels Präsenz als schillernde persona . Somit wird sein Auftritt zum ontologischen Spiel mit diesen Entitäten, durch die Grenzüberschreitung stilisiert er sich selbst zum Übermenschen; dieser Schwellenbereich wird zum ostentativen Raum königlicher Macht semantisiert: „L’acte du Roi est un miracle, à la fois absolument opaque dans sa source (le mystère de l’État) et parfaitement transparent […] dans sa théâtralisation politique.“ 32 Fazit Das Wunschkonzert des Sonnenkönigs wurde in seinem Agenda-Setting vielfältig dokumentiert. Ludwig XIV . und seine Maîtres de plaisir versuchen, die Aufmerksamkeit und das Bewusstsein des Publikums auf bestimmte Themen zu lenken, 30 Vgl. Garstka (2006), 49. 31 Vgl. ebd., 92. 32 Marin (2005), 292. <?page no="296"?> 6.3 Prologe und Finale 295 um daraus einen Nutzen für ihre Politik zu ziehen beziehungsweise gewisse Themen außer Acht zu lassen, wenn deren Aktualisierung politischen Schaden anrichten würde. So wird beispielsweise dem bellizistischen Verdienst des Monarchen mittels euphemistischer Superlative ausgiebig gehuldigt, Kriegsleiden und -niederlagen werden hingegen ausgeblendet. Gleichermaßen wird der Prunk der Spiele als Herrschergunst und Wohlstand des Staates inszeniert, wohingegen die stetige Staatsverschuldung verschwiegen wird. Das Agenda-Setting steht folglich eindeutig im Zeichen der Macht des absolutistischen Monarchen, denn der Aspekt einer autonomen Entscheidungsfindung ist wichtigste Quelle wie auch Indikator der politischen Macht. Der Politologe Robert A. Dahl untermauert diese Beobachtung, er betrachtet „the Criterion of Personal Choice as the proper basis for authority“ 33 . Die Autorität des Herrschers evoziert einen von ihm ausgehenden Multiplikationsprozess seiner Macht, die in Form der zahlreichen Schauspieler, Tänzer und Musiker verkörpert wird. Des Weiteren erscheint die Fähigkeit, das Verhalten anderer nach eigenem Gutdünken beeinflussen zu können als Eigenschaft der Macht. Der Einfluss des Königs auf den Dramentext und auf dessen Darbietung ist ein wichtiges Moment für die gattungspoetologische Konzeption der Ballettkomödien. Dieser erzeugt nachhaltig die große Heterogenität des Dodekamerons, sowohl hinsichtlich Dramenals auch Sujetstruktur, wobei zwei Konstanten bei allen Interventionsmotiven ausfindig zu machen sind: die der Politik und die der Kunst, Macht und Ästhetik. Unter diesem politischen Einfluss ist das Dodekameron als Medium zur Machtexpansion zu lesen, als Kunstwerk mit royaler Signatur. Es repräsentiert die Kunstprägung des Monarchen bei der ephemeren Aufführung und memoriert sie im permanenten Dramentext. Letzterer verstetigt das flüchtige Moment. Das molièresche Dodekameron liefert mithin einen erheblichen Beitrag zur Etablierung einer absolutistischen Kulturpolitik, einer Festkultur der Macht im siècle classique . 6.3 Prologe und Finale Prologe und Finale sind nicht nur Anfang und Ende der Ballettkomödien, sie sind Schnittstellen zwischen Realität und Fiktion. Demnach gestalten sie einen feierlichen Übergang zwischen diesen beiden Entitäten und kommen in ihrer zyklischen Anordnung wie auch mit ihrer Thematik dem Absolutheitsanspruch machtverklärender Repräsentationen des Königs nach. Ihre diversen Funktionen werden im Folgenden hinsichtlich machtpolitischer und gattungspoetologischer Aspekte eruiert. 33 Dahl (1990 [1915]), 19. <?page no="297"?> 296 6 Absolutistische Kulturpolitik 6.3.1 Prologe Die Prologe fungieren in der Ballettkomödie primär als Captatio benevolentiae , als Überleitung zum dramatischen Spiel wie auch als Lobpreisung des Sonnenkönigs. Hier sind insbesondere diejenigen Prologe von Interesse, die eine stark epideiktische Ausrichtung haben, da sich darin der machtrepräsentative Aspekt manifestiert. Der conventio geschuldet ist den Dichtern der panegyrische Gestus beim Verfassen dieser Darbietungen auferlegt, mit der Folge, dass sie gezielt die Darstellung des Königs gestalten und den Machtdiskurs aktiv postulieren. Die Prologe aktualisieren des Königs Präsenz in ihrer Aufführung und repräsentieren in ihrem Panegyrikos seine Qualitäten. Als Beispiel hierfür lässt sich der allegorische Prolog von L’Amour médecin anführen, in dem die personifizierte comédie ein Enkomium auf den Herrscher rezitiert: l a C oMédie Unissons-nous tous trois [Comédie, Musique et Ballet, Anm. S. W.] d’une ardeur sans seconde, Pour donner du plaisir au plus grand Roi du monde. ( AM , 607) Zu Ehren des Königs anempfiehlt sie selbstreferenziell in programmatischem Gestus die Ballettkomödie, die diesem Übermenschen eine ihm angemessene Unterhaltung bietet. Sie stellt mit ihrem Eintrachtsgedanken die Kunst in den Dienst des Herrschers und bewirbt den genre louisquatorzien , der wegen seiner eigenen Außergewöhnlichkeit derjenigen des Herrschers wie kein anderer entspricht. Die Selbstfeier des Genres respektive der Künstler stört hierbei nicht, denn die Ballettkomödie wird als geeignetes Medium absolutistischer Propaganda eingesetzt, die Kunst zur Grundlage des Machtdiskurses bei den Festlichkeiten erhoben. Im Prolog zur Pastorale comique besingt Mnémosyne den Universalitätsanspruch des Königs. Sie appelliert an die Musen, sich dem König zu unterwerfen und dessen Taten zu lobpreisen, sodass diese nicht nur in Frankreich, sondern auf der ganzen Welt bewundert werden und ihn zum Vorbild anderer Könige werden lassen: M néMosyne Vivant sous sa conduite, Muses, dans vos Concerts Chantez ce qu’il a fait, chantez ce qu’il médite, Et portez-en le bruit au bout de l’Univers. Dans ce récit charmant faites sans cesse entendre À l’Empire Français ce qu’il doit espérer, <?page no="298"?> 6.3 Prologe und Finale 297 Au monde entier ce qu’il doit admirer, Aux Rois ce qu’ils doivent apprendre. ( PC , 769 f.) In der Zeit der französischen Klassik assoziiert man antike Götter, Heroen und mythologische Figuren mit moralischen Tugenden. 34 Dies hat zur Folge, dass der Aussagegehalt des Kunstwerkes auch ohne den unmissverständlichen Text mittels der mythologischen Darstellung leicht zu entschlüsseln ist: Die bukolische Handlungswelt, in welcher der Lobgesang dargeboten wird, wird zum Raum der Apotheose des Sonnenkönigs, steht sie doch sinnbildlich als locus amoenus für Frieden, Liebe und Harmonie, für all jene paradiesischen Zustände also, die seinem Reich zugeschrieben werden. Als Göttin der Erinnerung symbolisiert Mnémosyne die Ewigkeit, die weise Verkünderin der ewigen Glorie des Herrschers, der die ephemeren Feste überdauern und in der Kunst weiterleben wird. Sie personifiziert das kulturelle Gedächtnis der absolutistischen Kunst. Neben dieser allgemein-abstrakten Lobrhetorik auf den Herrscher findet sich im Prolog zu Le Malade imaginaire eine nationalistische Enkomiastik auf Ludwig XIV., die als Anspielung auf ein konkretes Ereignis der zeitgenössischen Geschichte lesbar ist: der Sieg Frankreichs über Holland im Jahr 1672, der als politisches Großereignis in vielen Gedichten der Zeit bejubelt wird. Im Prolog spricht Flore - die Göttin der Jugend und des Lebensgenusses - zu den Schäfern; sie heroisiert Ludwig und feiert ihn in religiöser Rhetorik und Metaphorik als Erlöser und Friedensfürst: f lore La voici, silence, silence. Vos vœux sont exaucés, LOUIS est de retour, Il ramène en ces lieux les Plaisirs et l’Amour. Et vous voyez finir vos mortelles alarmes, Par ses vastes Exploits son bras voit tout soumis, Il quitte les armes Faute d’ennemis. ( MI , 633) Die Epiphanie wird mit dem Verstummen der Schäfer stark theatralisch inszeniert, denn vor der Allmacht des Souveräns ersterben ihre Klagen. Musikalisch setzt der Lobgesang mit einem Tonartenwechsel von D-Dur nach d-Moll ein; 35 Letzteres charakterisiert Marc-Antoine Charpentier in seinen Règles de 34 Vgl. Burke (1993), 39. 35 Vgl. Kapitel 6, Fußnote 28. <?page no="299"?> 298 6 Absolutistische Kulturpolitik composition (1690) als „grave et dévot“, 36 sodass die Musik den semantischen Gehalt des Textes mit dem Repertoire ihrer Ausdrucksweise widerspiegelt: Der König sieht seinen Beruf als göttliche Berufung an und lässt sich einer Gottheit gleich zelebrieren; er untersteht direkt der Schirmherrschaft Gottes und gilt als „image de Dieu“. 37 Diese Beobachtung teilt auch Jacques-Bénigne Bossuet: „[L]e trône royal n’est pas le trône d’un homme; mais le trône de Dieu même.“ 38 Nach Bossuet ist die gotthafte Autorität das handelnde Subjekt selbst, das sich im Bilde des Monarchen verkörpert, 39 wenn er theologisch argumentiert: „[I]l [le Seigneur, Anm. S. W.] a fait dans le prince une image mortelle de son immortelle autorité.“ 40 In diesem Sinne erscheint das Bild Gottes im König nicht blasphemisch, denn es wurde von Gott selbst erschaffen. 41 Somit ist es der König, der dem Bangen um die Zukunft ein Ende setzt und seinen Segen auf Frankreich verteilt. Im weiteren Verlauf des Prologs werden Ludwigs Heldentaten noch über die der Antike gestellt, womit er sich und sein Königreich nicht nur als Nachfolger der griechischen Hochkultur feiert, sondern als deren Überbieter: t irCis Des fabuleux Exploits que la Grèce a chantés, Par un brillant amas de belles vérités Nous voyons la gloire effacée, Et tous ces fameux demi-dieux, Que vante l’Histoire passée, Ne sont point à notre pensée, Ce que LOUIS est à nos yeux. ( MI , 635) Im Prolog des Malade imaginaire erscheint das Bild des Herrschers im sprachlichen Gewand einer Triumphmetaphorik, die sich aus dem religiösen Erlöser- und dem mythologischen Heldendiskurs speist; es findet eine Überhöhung des Königs aus sakraler wie auch säkularer Sicht statt, die dem Allmachtsanspruch des Ausnahmemonarchen gerecht wird. Dabei artikuliert der politische Diskurs mittels des antiken Codes das, was er im christlichen nicht ohne eine Transgression oder eine missverständliche Aussage sagen kann. Beide Codes sind 36 Vgl. Marc-Antoine Charpentiers Energie des modes in Cessac (1988), 456. 37 Vgl. hierzu das Kapitel „Mythistoire et Religion“ in Apostolidès (1981), 82-86. 38 Bossuet (1709), 82. 39 Vgl. Braun und Gugerli (1993), 112. 40 Bossuet (1840), 104. 41 Vgl. Braun und Gugerli (1993), 112. <?page no="300"?> 6.3 Prologe und Finale 299 als komplementär zu verstehen. 42 Diese ideologischen Doppelbezüglichkeiten rechtfertigen die absolutistische Herrschaftspraxis und stärken den Machtdiskurs im kulturellen Bereich. Sie bilden die soziopolitische Struktur der sich im Werden befindenden Nation. Die Prologe stehen letztendlich im Zeichen einer epideiktischen Kunst und manifestieren explizit, dass Machtausübung und Unterhaltung Hand in Hand gehen. Sie bringen folgende Essenz der Absolutismus-Doktrin zur Geltung: Das Gottesgnadentum des gesalbten Königs, seine ungeteilte und uneingeschränkte Gewalt, die Rivalität der Staaten und Völker untereinander, Krieg als unentbehrliches Mittel, die Beziehungen von Staaten machtpolitisch zu regeln, Frieden als Resultat kriegerischer Anstrengungen, der wiederum militärisch gesichert werden muß, Vergrößerung des Staates durch Eroberung als legitimes Mittel, Kontrolle und Einschüchterung im Innern, um Bürgerkriege zu unterbinden. 43 In der Schnittstelle zwischen Realität und Fiktion verklären die Prologe als dramenstrukturelles Eröffnungselement der Ballettkomödie das Königsbild. Sie überhöhen in aufwendigen Darstellungen die positiven Eigenschaften der Politik von Ludwig XIV. und lassen den politischen Schattenseiten seiner Politik keinen Raum. Das Sichtbarwerden der Macht wird artistisch zu einer Triumphmetaphorik stilisiert, die absolute Macht des Monarchen zur absoluten Rhetorik erklärt. 6.3.2 Finale Die Finale der Ballettkomödien fungieren primär als theatralischer Höhepunkt, als Lob auf den Monarchen wie auch als Überleitung zum Fest. Musik und Tanz dominieren die Schlussszenen und besiegeln das spektakuläre Ende der Komödie. Wiederum stehen in diesem Kapitel diejenigen Szenen im Fokus der Analyse, die eine machtverklärende Repräsentation darzustellen vermögen. So ist der Ballet des Nations in Le Bourgeois gentilhomme als Allegorie der Reichsprovinzen zu lesen. Er ist über die Dramenstruktur als Theater-auf-dem-Theater mit der Komödie verbunden und endet im sechsten Entree wie folgt: Tout cela finit par le mélange des trois Nations, et les applaudissements en Danse et en Musique de toute l’assistance, qui chante les deux Vers qui suivent: Quels Spectacles charmants, quels plaisirs goûtons-nous, Les Dieux mêmes, les Dieux, n’en ont point de plus doux. ( BG , 343) 42 Vgl. Apostolidès (1981), 84. 43 Sammler (2009), 65. <?page no="301"?> 300 6 Absolutistische Kulturpolitik In Harmonie vereint, preisen die Figuren mit Musik und Tanz die Ballettkomödie als extraordinäres Kunstwerk. Diese wird musikalisch durch eine streng homophone wie auch syllabische Partitur erzeugt und ist eindeutig hörbar. 44 Der positive Einfluss der Musik auf die Gemütszustände der Zuschauer wird dabei als Machtmittel eingesetzt, weil Musik im neoplatonischen Sinne die Bestrebungen, die Untertanen auf den richtigen Weg zu bringen, begünstigt. Das Spektakel endet und hinterlässt den Eindruck einer Welt perfekter Eintracht, Harmonie, Ordnung und Stabilität, die in anderen Finalen noch durch eine wohlgeformte Tanzästhetik unterstützt wird. Die Abschlussformation der Tänzer, wie zum Beispiel der Schäfertanz in George Dandin , unterstreicht mit der Eleganz und Mühelosigkeit der Tänzer die erwähnten Eigenschaften, wenn die Darsteller mit geordneten Tanzschritten imaginäre Muster auf die Bühne zeichnen: Tous les danseurs se mêlent ensemble à l’exemple des autres, et avec cette pleine réjouissance de tous les Bergers et Bergères finira le divertissement de la Comédie d’où l’on passera aux autres merveilles, dont vous aurez la Relation. ( GD , 1025) Es entsteht ein überzeugendes Bild öffentlicher Ordnung, das die von den komischen Helden durcheinandergebrachte Ordnung letztlich restituiert und überspielt. Dadurch wird Ordnung im Spiel performativ in Unordnung versetzt und wiederhergestellt. Diese Performance verbindet dabei ästhetische mit moralischen Absichten und zeigt die königliche Macht in ihrem Zusammenspiel. Sie vermittelt eine Ideologie der Liebe und des Vergnügens, wie mit Hinweis auf den cadeau- Charakter der Stücke zu konstatieren ist, und aktualisiert Ludwig als Gönner und Urheber höchsten Glücks für seine Untertanen. Die Nähe zwischen machtpolitischer und metapoetischer respektive programmatischer Thematik konnte bereits in den Prologen aufgezeigt werden. Auch im Finale von La Comtesse d’Escarbagnas ist eine Engführung von Machtpolitik- und Metapoetizitätsdiskurs unmissverständlich gegeben: C hanson de M oMe Folâtrons, divertissons-Nous, Raillons, Nous ne saurons mieux faire, La Raillerie est nécessaire Dans les Jeux les plus doux. Sans la douceur que l’on goûte à médire, On trouve peu de plaisir sans ennui; Rien n’est si plaisant que de rire, Quand on rit aux dépens d’autrui. (CdE, 1068) 44 Vgl. Conesa, Piéjus und Riffaud (2010), 1465. <?page no="302"?> 6.3 Prologe und Finale 301 Die beiden letzten Verse des Monologs lassen auf ein Vergnügungsprogramm schließen, das auf Kosten derjenigen gelebt wird, die nicht zur Zuschauerschicht zählen. Jene Abwesenden dienen zur Belustigung und lassen die soziale Schärfe im Gespött des Lachens erkennen. Dies ist das Ziel der komischen Unterhaltung und steht, wie erläutert, im Einklang mit dem absolutistischen Machtdiskurs. Fazit Prologe und Finale sind ein machtpolitisches Ornament der Ballettkomödien und stecken explizit den ideologischen Rahmen dieses Totaltheaters ab. Sie markieren einen Schwellenbereich zwischen Fiktion und Realität, worin sie den König als gotthaftes Ausnahmewesen heroisieren und zelebrieren: Louis XIV n’est pas la réincarnation d’Auguste; il n’est pas non plus le roi de France voulant imiter l’empereur romain; il devient Louis-Auguste, un nouveau personnage projeté dans une dimension autre, qui associe le présent au passé, le mythe à l’histoire. 45 Jean-Marie Apostolidès fasst dieses Konglomerat aus tradierten Versatzstücken und gegenwartsnahen Bedeutungen zur Inszenierung des Monarchen unter dem Begriff der mythistoire 46 zusammen, die ein Kernelement der Propaganda zu Beginn der Alleinherrschaft Ludwigs XIV . darstellt. Die mythistoire ist eine „Umformung des allegorischen, mythologischen und historischen Repertoires nach den Erfordernissen der Gegenwart“ 47 . Es handelt sich dabei um eine taktische Analogiebildung zwischen historischen Persönlichkeiten sowie mythologischen Figuren und dem Souverän in nonverbaler als auch verbaler Gestalt. Die Mythistorie ist neuer Ausdruck und alte Konvention zugleich, weil sie auf die Historie einer konvenierten Bedeutsamkeit zurückverweist und ausdrückt, dass dieser Verweis in der Modifikation noch wirkungsvoll ist. Durch die beständige Inbezugsetzung zum König wird die Bedeutungsvielfalt gebündelt und unzweifelhaft semantisiert: „Die Variation des Selben ersetzt die Vielfalt der Bedeutungen.“ 48 Diese Sprache der Macht zeigt hierbei absolutistische Herrscherverhältnisse auf. Vor dem Hintergrund dieses politisierten Kulturprogramms können Prolog und Finale samt ihrer dramenstrukturellen Funktionen im Sinne des absolutistischen Machtdiskurses verstanden werden. Ihre seriöse Intention kontrastiert mit der komischen Ausrichtung der Komödien, mit der Folge, dass die komische Heroisierung der Protagonisten sich von der nicht-komischen des Souveräns stark unterscheidet und gleicher Hand mit der Überlegenheit 45 Apostolidès (1981), 67. 46 Vgl. Kapitel 6, Fußnote 37. 47 Germer (1997), 146. 48 Ebd., 197. <?page no="303"?> 302 6 Absolutistische Kulturpolitik Letzterer eine klare Botschaft vermittelt. Eine emphatischere Staatspropaganda als die in den Prologen und Finalen konnte es für den König bei den höfischen Festen nicht geben. 6.4 Die Ballettkomödie als ‚Schule der Schicklichkeit‘ im Spiegel des absolutistischen Machtdiskurses Die Ausführungen zur absolutistischen Kulturpolitik zeigen, dass die Ballettkomödien nicht frei von ideologischem Gehalt sind. Die Feierlichkeiten bieten eine Plattform, auf der nicht nur die Machtverklärung des Monarchen zelebriert wird, sondern auch moralisch Abtrünnige und ihr Verhalten der malséance angeprangert werden. Die Diffamierung gesellschaftlicher Gruppen in den Ballettkomödien ist im Kontext der Alleinherrschaft Ludwig XIV. als eine affaire d’État zu deuten, 49 denn sie geschieht in einem kontrollierten öffentlichen Raum, der durch die Präsenz des Königs und von la cour et la ville die Schauspielbühne zum öffentlichen Pranger werden lässt. Auf diese Weise wird jegliches, der bienséance zuwiderlaufende Verhalten im kollektiven Verlachen des Publikums sanktioniert. Im selben Zuge wird in der Negation der Norm implizit die erwünschte moralische und soziale Weltanschauung propagiert. In Michel Foucaults Analytik der Macht bedeutet Machtausübung allgemein gefasst „un mode d’action de certains sur certains autres“ 50 , denn „le pouvoir n’existe qu’en acte“ 51 . Im politischen Kontext meint Regieren im performativen Verständnis „structurer le champ d’action éventuel des autres“ 52 . Auf das soziale Leben übertragen bedeutet diese zentrale These, dass die einen imstande sind, aktiv auf das Handeln anderer hierarchisch einzuwirken, weil sie über ein freies Handlungsfeld verfügen; vor diesem Hintergrund ist eine Gesellschaft „sans relations de pouvoir“ nur als abstraktes Modell zu verstehen. 53 Mit Ersteren sind im Kontext der klassischen Gesellschaft die honnêtes gens gemeint, die mit ihrem konformistischen Betragen die Ideale des Königs vorbildhaft leben und einen aktiven Beitrag zur Prestigekultur leisten, denn sie performen in der Wahrung der Etikette und dem damit einhergehenden Gehorsam seine Macht. Dergestalt dringt die absolute Machtstruktur in die kleinsten Verästelungen der Gesellschaft ein, was sich im Konzept der bienséance manifestiert, dem streng codierten Gradmesser der sozialen Schicklichkeit. Eine offizielle Propagierung 49 Vgl. Defaux (1980), 69. 50 Foucault (1994), 235 f. 51 Ebd., 236. 52 Ebd., 237. 53 Vgl. ebd., 239. <?page no="304"?> 6.4 Die Ballettkomödie als ‚Schule der Schicklichkeit’ 303 dieses Ideals findet im Zeremoniell der Feste statt, das die strenge Strukturierung des Handlungsfelds von la cour et la ville illustrativ zu erkennen gibt. In dieser soziopolitischen Hinsicht sind die Ballettkomödien durch ihre Einbettung in das Festzeremoniell als ‚Schule der Schicklichkeit‘ zu lesen, „as a ‚model of ‘ society, that is a representation of existing arrangements, and a ‚model for‘ society, a kind of instruction booklet for how the state ought to be put together“ 54 . Im Sinne eines Gesellschaftsmodells ist zunächst der lebensweltliche Charakter dieser Werke zu nennen, der die fiktive Handlungswelt zu einem Identifikationsmodell für das Publikum werden lässt, denn Molières Stücke kreisen um das in allen Gesellschaftsschichten brisante Thema der Liebe. Diese Thematik steht im klassischen Spannungsverhältnis der Dichotomie ‚frei‘ und ‚unfrei‘ und repräsentiert das lebensweltliche Dilemma der Höflinge. Die Stücke feiern, abgesehen von Le Mariage forcé und George Dandin , 55 mit ihrem happy end die freie Liebe, sodass das anhand der reüssierenden Liebe der Jungen veranschaulichte persönliche Glück trotz aller Domestizierung und Anpassung an die bienséance in der Fiktion postuliert wird. Letztlich, so der Tenor der Ballettkomödien, ermöglicht erst schickliches Betragen das absolute Glück. Diese Zufriedenheit bleibt den komischen Autoritätsfiguren verwehrt, den Verfechtern einer von ihrem ungezügelten amour-propre geleiteten malséance , da sie mit ihrem rebellischen Verhalten die soziale und moralische Ordnung stören. Die komischen Helden handeln nie aus gemeinnütziger Fremdliebe, sondern stets aus eigennütziger Eigenliebe. Sie stehen für ein obsolet gewordenes Individualitätsempfinden, das aufgrund ihres Scheiterns das Publikum vom Verlangen nach einer gelebten Individualität abbringen und ihm aufzeigen soll, dass diese im neuen Staat des Alleinherrschers nur als Belustigungsmoment, nur in der Fiktion ihre Berechtigung findet. Jegliches individuelle Gebaren distanziert die Höflinge von der absoluten Macht und gefährdet ihren sozialen Stand, ihre soziale Existenz. Das rebellische Moment der Querulanten ist als Zeichen eines gesellschaftlichen Umbruchs zu lesen, als Gradmesser einer Gesellschaft auf dem Weg zum konformen Hochabsolutismus. Wie an anderer Stelle bereits hervorgehoben, begegnet der Dramatiker diesem Aufbegehren in seiner Fiktion mit differenzierten Sujethaftigkeitsgraden. Die jeweilige Graduierung hängt vom Rebellionspotenzial der unter der arbiträren Autorität lebenden Dramenfiguren ab und ist als eine Art klassische Dämpfung zu verstehen. Die verschiedenartigen Sujets bringen Textwelten hervor, die von der tatsächlichen Lebenswelt im Sinne einer übergeordneten Konvergenz abweichen: Die nicht zu verkennende Transgressi- 54 Paraphrase nach Clifford Geertz in Muir (2005), 253. 55 In der Ballettkomödie Le Mariage forcé kann die Liebe erst nach dem Tod von Sganarelle triumphieren. In George Dandin kann sie nur durch einen Ehebruch realisiert werden. In beiden Ballettkomödien ist die Erfüllung der Ehe mit normwidrigem Verhalten besetzt. <?page no="305"?> 304 6 Absolutistische Kulturpolitik on, wie sie sich in den Pseudo-Metaereignissen und limitierten Metaereignissen zeigt, ist nicht ernst zu nehmen. Dies begründet sich darin, dass die Transgression das System lediglich hypothetisch transformiert und ihr die vraisemblance abgeht. Das rebellische Moment der Unterdrückten stellt folglich nicht das Autoritätskonzept infrage, sondern die Arbitrarität der sich komisch benehmenden Autoritäten, die das soziale Gefüge und das daran geknüpfte individuelle Glück der anderen mit ihrer idée fixe gefährden. Dieses Moment ist primär als ein mit der Lebenswelt konvergierendes Aufbegehren gegen das davon divergierende Aufbegehren der komischen Helden zu deuten. Sonach erfährt das rebellische Moment der Unterdrückten durch das übergeordnete Ziel - die Restitution der Schicklichkeit - seine Legitimation in der Fiktion und trägt mehr zu einer Deeskalation als zu einem Skandalon bei. Im lebensweltlichen Kontext erweckt die komische Fiktionalisierung der Egozentriker den Eindruck, als seien sie in keiner Art und Weise eine Bedrohung für den Staat, da sie im Sinne einer Selbstregulierung als scheiternde Figuren zum höfischen Divertissement beitragen. In dieser Lesart unterscheidet sich der komische Körper der Helden aus der Fiktion vom sakralen Körper des Herrschers aus der Realität; die komische Handlungswelt der Ballettkomödie kontrastiert mit der nicht-komischen Lebenswelt der Feste, die malséance mit der bienséance . Ferner stehen Molières Komödiensujets im Zeichen eines Machtkampfes, denn „là où il y a pouvoir, il y a résistance“ 56 . So gesehen fungieren die Ballettkomödien als wichtiger Bestandteil des absolutistischen Machtdiskurses, der sich gerade aus diesem Widerstand konstituiert und via negationis seine Macht entfaltet, schließlich erlaubt die Inversion der Werte und Normen gerade das Herausstellen derselben. Das komische Moment dieser Spiele ist bestrebt, eine Einheit zwischen dem Ausgegrenzten und dem Ausgrenzenden zu etablieren, eine paradoxe Eintracht, die strategisch vom Absolutismus in seinem Totalitätsanspruch angestrebt wird. Das Ausgegrenzte wird nach dem Motto „représenter pour mieux contrôler“ 57 in den Machtdiskurs eingeschrieben, wenngleich dem Ausgegrenzten die soziale Isolation droht. Wie an anderer Stelle bereits erwähnt, kann der libertine Antipode des vergesellschafteten Individuums als Teil des politischen respektive sozialen Systems nur temporär im Schein der institutionalisierten Wirklichkeit im Modus des Komischen seine Legitimation finden. Dergestalt findet eine gesittete Integration der moralisch diskreditierten passion in den absolutistischen Machtraum statt. In der komischen Offenlegung sozialer und menschlicher Defekte artikuliert sich demnach kein machtpoliti- 56 Foucault (1976), 125. 57 Dieses Zitat entstammt dem Untertitel des Buches Dire le rire à l’âge classique von Dominique Bertrand. <?page no="306"?> 6.4 Die Ballettkomödie als ‚Schule der Schicklichkeit’ 305 sches Versagen, sondern die souveräne Überlegenheit des Systems im selbstbewussten Umgang mit dem Defektiven: Unordnung ist nicht der Wirklichkeit, sondern dem komischen Spiel zuzurechnen. Dabei werden die moralistischen vices in der Fiktion solange geduldet, wie sie nicht zu sozialen mutieren. Sollte sich jedoch der amour-propre als soziales Laster niederschlagen, so wird es im eigenen Scheitern durch die sozialen Mechanismen spielerisch unschädlich gemacht oder aber gattungstypologisch durch Musik- und Tanzeinlagen ästhetisch entmoralisiert und aufgelöst. Diese Transformation von dramatischem zu theatralischem Moment geht mit einem Zuschauerlachen der Freude einher, das über die satirische Bitternis erhaben ist. Übertragen auf den soziokulturellen Kontext bedeutet dies, dass Affekthandlungen und Chaos im Regelkorsett des gesellschaftlichen Zeremoniells domestiziert werden. Daher ist zu konstatieren, dass der absolutistische Machtdiskurs die agonalen Strukturen in den Ballettkomödien selbst produziert, um damit all die Formen der Ausübung und Anwendung der Macht zu demonstrieren und sich zugleich in diesem Akt eo ipso zu reproduzieren: Jede Regimekritik basiert auf der menschlichen Schwäche, dem ungezügelten, sich dem absolutistischen Ethos entgegensetzenden individuellen amour-propre , der im Festzeremoniell gebändigt sowie zu einem machtverklärenden Moment umfunktionalisiert wird und Letzteres via negationis potenziert. Das Bändigungsmoment geht dabei von der höchsten Macht des Staates aus, dem Sonnenkönig, der das überindividuelle Paradigma des amour-propre verkörpert, dem sich die anderen unterzuordnen haben. Der absolutistische Machtdiskurs schreibt sich also implizit mittels Komik in den poetischen Konterdiskurs der Fiktion ein, denn „the supreme ruse of power is to allow itself to be contested ritually in order to consolidate itself more effectively“ 58 . Die sozialkritische Äußerung ist im absolutistischen Kontext schließlich an eine vom Machtdiskurs ausgehende, berechenbare, genormte und institutionalisierte Kritik gebunden, die primär auf eine Machtsicherung und -verklärung abzielt, getarnt im überschwänglichen Divertissement der Ballettkomödien, die dem Adel in dankender Anerkennung für seine Monarchietreue geschenkt werden. Die Erlaubnis des raumeinnehmenden kritischen Moments bei der Inszenierung, das eine unzivilisierte Natur versinnbildlicht, konsolidiert die Herrschaftsform und damit die absolutistischen Herrschaftsprinzipien: Macht ist Liebe, wohingegen Widerstand und Rebellion auf ungezügelte, nichtige Leidenschaften zurückzuführen sind. Der Souverän repräsentiert hingegen die stabile Ordnung, die zivilisierte menschliche Natur und den ewigen Frieden, 59 so der Tenor der Festivitäten. Vor diesem Hintergrund scheint die 58 Zitat von Georges Balandier in Muir (2005), 253 f. Meine Hervorhebung. 59 Vgl. Strong (1991), 281. <?page no="307"?> 306 6 Absolutistische Kulturpolitik negative Anthropologie der Klassik ein apodiktisches soziales Reglement einzufordern und zugleich zu legitimieren, um einen gut funktionierenden Staat für alle zu ermöglichen. Letztlich geht es darum, mit dem Medium der zivilisierten Kunst die menschliche Natur zu beherrschen, denn diese ist dort beherrschbar, wo ihr Regeln auferlegt werden: 60 Im französischen Absolutismus entspricht Naturbeherrschung kulturpolitischer Herrschaft. Für die Ballettkomödien bedeutet dies, dass ihrer Repräsentationsstruktur ein moralistisches Menschenbild zugrunde liegt. Der absolutistische Machtdiskurs wird durch einen Akt der zeremoniellen Performance politisch etabliert, denn dieser kreiert eine Staatsstruktur und -ideologie in einer Zeit ohne geschriebene Verfassung: „The state is invisible; it must be personified before it can be seen, symbolized before it can be loved, imagined before it can be conceived.“ 61 Die Visualisierung des Staates gelingt im Rahmen der absolutistischen Kulturpolitik hervorragend, da diese der Sichtbarkeit der Macht gerecht wird. Diese Ostentation ist das fundamentale Moment der absolutistischen Kulturperformance, die das Selbstverständnis und das Selbstbild des Staates ausstellt. Die starke Selbstreferenzialität der Ballettkomödie - die Rückbezüglichkeit auf ihr artistisches Gerüst - gewährleistet in persistenter Art und Weise eine Fokussierung der Darbietung, sodass ihre ästhetische Autonomie paradoxerweise eine Verstärkung des Machtmoments erzielt und zu einer Wirklichkeitskonstitution beiträgt. Das Dodekameron schafft es, der Verfassungsmaxime des Souveräns - „L’État, c’est moi“ - machtästhetisch Ausdruck zu verleihen, indem er als zentraler Angelpunkt dieser ritualisierten Festkultur in Erscheinung tritt und als âme du spectacle den Staat symbolisch konstituiert und zusammenhält, wie auch via Iteration der Spektakel die Kraft seiner Autorität akkumuliert und konserviert wird. 6.5 Machtästhetik Die Ausprägungen der Machtästhetik sind in Molières Dodekameron äußerst komplex und werden wie folgt konkretisiert. Die Schnittstelle zwischen Macht und Ästhetik verfügt über zwei im Dramentext angelegte Spielarten: eine implizite, die über komische Momente vermittelt wird, und eine explizite, die über nicht-komische Momente vermittelt wird. Beide bedingen sich gegenseitig und spielen in nonverbaler wie auch in verbaler Gestalt in den sich in der absolutistischen Kulturpolitik entfaltenden Machtdiskurs hinein. Die Manifestatio- 60 Vgl. Braun und Gugerli (1993), 164. 61 Walzer (1967), 194. <?page no="308"?> 6.5 Machtästhetik 307 nen dieses gattungstypologischen Konzepts erstrecken sich vom Rahmen der Festkultur bis in die Strukturen des Dramentextes und umfassen dabei Realität und Fiktion. Jeder Ausdruck ist ideologiegeladen und die „Repräsentation hat in diesem Sinn politisch konstituierende Wirkung“ 62 für die expandierende absolutistische Ordnung. Das Repräsentationsdispositiv des Dodekamerons konstituiert die politische Macht und bildet die Grundlage der Performance, sodass dieses klassische Theater als performative Kunst mit einer stark theatralischen Kommunikationsperspektivierung zu begreifen ist. Das Ästhetische ist fester Bestandteil der Machtkultur des Sonnenkönigs. Im Kontext der politischen Funktionalisierung des künstlerischen Feldes ist die Machtästhetik in der Ballettkomödie eine selbstreferenzielle und wirklichkeitskonstituierende Ausdrucksästhetik mit stark rezeptionsästhetischer Wirkungskraft. Sie hat sowohl eine rhetorische als auch eine wahrnehmungsbezogene Dimension. Die Wirksamkeit einer Repräsentation von Macht basiert letztlich auf der Macht der Repräsentation, denn „l’effet-pouvoir de la représentation, c’est la représentation même“ 63 . Ein interaktiver und in dieser Hinsicht äußerst wirksamer Brückenschlag zwischen Fiktion und Realität, zwischen Theater- und Zuschauerwelt, gestaltet sich über das Phänomen Komik. Sie bringt im performativen Zusammenspiel von Ethos und Ästhetik ein Zuschauerlachen hervor, das den Machtdiskurs im Verlachen der Darbietung bestätigt und die politische Wirksamkeit wie auch die ästhetische Qualität des Dodekamerons lebensweltlich dokumentiert. Die Machtästhetik der Ballettkomödie resultiert letztlich aus der Interaktion von Ethos und Ästhetik, was sich mittels einer mise en abyme von Realität und Fiktion zeigt und auf diese Weise die potenzielle Ordnungskraft der Repräsentation ins Unendliche projiziert. Ferner ist der Schwellenbereich zwischen Realität und Fiktion der bevorzugte Raum des Königs, sei er durch seine textuelle Vergegenwärtigung in Prolog und Finale fremd- oder durch seine tatsächliche Gegenwärtigkeit in den Interludien selbstkonstituiert und performt. Letztere generiert in der oszillierenden Wahrnehmung zwischen Ein- und Ausbettung, zwischen abstrakter Dramatis personae und konkreter persona , in expliziterer Art und Weise einen ambig besetzten Grenzraum zwischen Realität und Fiktion. Die damit verbundene Fiktionalisierung der Realität geht mit einer Konfusion der Ebenen einher, die Versailles für die Zuschauer auch im Sinne der mythistoire zu einem modernen Olymp werden lässt, zu einem lichterfüllten Ort sozialer Elite. Denn die artifizialisierten Festörtlichkeiten wie auch die darin eingebettete Ballettkomödie 62 Braun und Gugerli (1993), 118. 63 Marin (2005), 75. <?page no="309"?> 308 6 Absolutistische Kulturpolitik repräsentieren einen Effekt absoluter Kontrolle und können als Geste größter Herrschaftsmacht gelesen werden. Im Hinblick auf das allgemeine Konzept der Herrschaftskultur Ludwigs XVI . ist von einer Symbiose aus Politik und Kultur zu sprechen. Die entsicherte, aber zugleich kontrollierte Zeichenambiguität verhindert es, zwischen Leben und Spiel unterscheiden zu können. Das Spiel ist hierbei eine Maske, durch welche sich das Leben verherrlicht. Das Lob des Artefakts ist als Lob auf den Herrscher zu verstehen, denn er stilisiert sich in der Ballettkomödie selbst zum Kunstobjekt. Die Ballettkomödie ist folglich nicht nur ein instrumentum regni , sondern zugleich Modell für das Funktionieren der monarchischen Macht, 64 da sie die absolutistische Macht vergegenwärtigt und vervielfältigt. Letztlich ist die absolute Macht als ein Akt absoluter Performance zu lesen. Vor diesem Hintergrund betrachtet, ist die Selbstdarstellung der Monarchie lediglich über eine performte ‚Machtästhetik des Extraordinären‘ denkbar, um des Herrschers übermenschliche Großmacht im verabsolutierten Regelwerk seiner Kulturpolitik zu repräsentieren, und diese bietet mit seinem nouveau langage théâtral das Spektakel der Superlative - Molières Ballettkomödie. Je vous montre l’exemple, il s’agit de lui plaire, Quittez pour quelque temps votre forme ordinaire, Et paraissons ensemble aux yeux des spectateurs, Pour ce nouveau Théâtre, autant de vrais Acteurs. ( LF , 151 f.) 64 Vgl. Apostolidès (1981), 125. <?page no="310"?> Ausleitung Das Gesagte soll zum Schluss in nuce dargestellt werden. In einem ersten Schritt wurde eine Gattungspoetik verfasst, die sich zum Ziel setzte, Genese, Struktur und Funktion der molièreschen Ballettkomödie herauszuarbeiten. Zudem wurde eine Klassifizierung der Ballettkomödie in der Gattungslandschaft unternommen wie auch eine Definition jener gegeben. Die Entwicklung von der Komödie zur Ballettkomödie ist aufgrund des innovativen Charakters der Ballettkomödien im Rahmen von Molières Gesamtwerk als eine Reflexion über die Grenzen der klassischen Komödie im normativen und unanfechtbaren Regeldiskurs des zeitgenössischen Gattungsspektrums zu interpretieren. Derzeit ist von zwölf Ballettkomödien auszugehen, die ob ihrer inhaltlichen wie auch formalen Familienähnlichkeit unter dem Begriff des Dodekamerons zusammengefasst wurden. Von einer strukturalistischen Warte aus betrachtet besteht die neue Konzeption des molièreschen Schauspiels aus einer Integration der Intermedien in die Komödie, eine Verbindung, die einer reziproken Verankerung von Dramenwie auch Sujetstruktur bedarf. Demnach erfolgt dieser Einheitsgedanke mittels der Annabelung der Intermedien an die Komödie über eine thematische Ähnlichkeit und / oder eine dramatische Notwendigkeit. Ferner konnten mithilfe des Strukturmodells die agonalen Strukturen und Sujetschichten in den Ballettkomödien differenziert eruiert und die intermediale Verquickung des hybriden Genres aufgezeigt werden. Die agonalen Strukturen wurden im Zusammenspiel des nouveau langage théâtral verortet, sodass von einer Dramatisierung respektive Theatralisierung der Musik- und Tanzeinlagen auszugehen ist, die für einen semantischen Mehrwert für das Komödiensujet insbesondere über ihre Komisierung sorgen. Anhand dieses neuen Intermedialitätskonzepts wurden Grundzüge des klassischen Komikverständnisses an Beispielen sowohl aus den Sprechals auch den Tanz- und Musikeinheiten aufgezeigt. Die Dramenbeziehungsweise Sujetstruktur lässt erkennen, dass der Ausgangspunkt der molièreschen Ballettkomödie ein Moment der Unordnung ist, das durch die idée fixe des komischen Helden entsteht. Diese ist im moralistischen Zeitgeist als ungezügelter intérêt des amour-propre näherhin bestimmt worden. Mithin manifestieren sich in der Handlungswelt der Ballettkomödie psychologische Dissonanzen in Form von sozialen. Letztere werden insbesondere durch die Tanz- und Musikeinlagen der Finale weitestgehend entmoralisiert und hinweggespielt, wobei sie zugleich Raum für die Darstellung der komischen Helden bieten. Die Zusammenführung der beiden Konzepte, das der idée fixe mit dem des amour-propre , zeigte, dass sich die paradigmatische Struktur der <?page no="311"?> 310 Ausleitung Ballettkomödie nicht nur aus der Neigung des Komischen zur Serialisierung herleiten lässt, sondern auch als moralistisches défliée wahrnehmbar ist, welches die vices in einen harmonischen, vom König beaufsichtigten Tanz zwingt. Dieser gattungstypologische Synkretismus fokussiert die agonalen Strukturen mit Bezug auf den zeitgenössischen soziokulturellen Kontext, wobei mittels des anthropologischen Ansatzes immer auch eine allgemeinmenschliche Betrachtungsweise zum Tragen kommt. Aus dieser Sicht ist der komische Komödiendiskurs mit dem moralistischen Diskurs gleichzusetzen. Ferner scheitert der komische Held an seinen sozialen und moralischen Grenzgängerversuchen und degradiert sich zum lächerlichen Objekt in der Fiktion. Die Reaktion auf sein Scheitern, wie auch auf das anderer moralischer Übeltäter, resoniert im Zuschauerlachen, das als Rezeptionsphänomen Rückschlüsse auf das Welt- und Werteverständnis der Rezipienten liefert, sodass die komische Agonik in einem funktionshistorischen Ausblick beleuchtet werden konnte. Die Weltanschauung der Rezipienten orientiert sich an der bienséance respektive honnêteté , mit der Folge, dass die komische malséance in ihrer defizitären Sozialkompatibilität vom Publikum abgelehnt wird und aufgrund ihrer ontologischen Divergenz via negationis als diskursregulierendes Plädoyer mit wertestabilisierender Funktion zu verstehen ist. Vor diesem Hintergrund ist eine Diskursdialektik zu konstatieren, die den Anspruch einer vis comica und eines sermo moratus in sich vereint. Molières Komik ist ein ästhetisches Konstrukt klassischer Ganzheit, eine „culture comique“ 1 , die sich aus einer Komplementarität von Ethos und Ästhetik konstituiert. Ethos ist nicht ohne Ästhetik möglich und umgekehrt, weil Ersteres Letzteres bedingt, derweil Letzteres Ersteres schicklich ertragbar macht. Der Repräsentationsstruktur der Ballettkomödien liegt ein moralistisches Menschenbild zugrunde. In Molières Komikästhetik manifestiert sich die enge Fusion von Kunst und Leben im 17. Jahrhundert, womit die Ballettkomödie die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Ethos von la cour et la ville postuliert: Der fiktionale Konterdiskurs wird lediglich temporär zum dominanten Diskurs der Lebenswelt erhoben. Das Tabuisierte wird transparent gemacht, in einer Fiktionsgebundenheit im sozialen Rahmen artikuliert und vorübergehend als Amüsement geduldet. In dieser Hinsicht dient das komische Moment nicht wie im Karneval der Herabsetzung bestehender Machtverhältnisse, sondern der Bestätigung der Macht. Das Komische ist bestrebt, eine paradoxale Einheit zwischen dem Ausgegrenzten und dem Ausgrenzenden zu etablieren, die strategisch vom politischen System des Absolutismus angestrebt wird; die komischen Handlungen stehen in einem Wechselspiel von Provokation und Affirmation. Am Ende des Spiels triumphiert 1 Adam (1962), 403. <?page no="312"?> Ausleitung 311 die Liebe über die unberechenbare Passion, die Liebenden über die komischen Autoritäten, Ludwig XIV . über das bedrohende Moment. Eingefasst wird dieses Spiel zwischen den multimedialen Prologen und Finalen, die der royalen Überlegenheit mit ihrem panegyrischen Gestus verstärkt Ausdruck verleihen. Letztlich wird jegliche Form von Kritik am Regime zu einem machtverklärenden Moment umfunktionalisiert; der Komik kommt hierbei eine Katalysatorfunktion zu. Im Zuge der politischen Funktionalisierung des künstlerischen Feldes zu Zeiten der Alleinregierung Ludwigs XIV . ist die Ballettkomödie als Pfeiler der absolutistischen Kulturpolitik zu verstehen. Mittels Komik, deren Urheber der entfesselte amour-propre ist, schreibt sich die Ideologie des Absolutismus implizit in die Fiktion ein, sodass von einer Machtästhetik im Sinne eines grundlegenden Gestaltungsprinzips der Ballettkomödien zu sprechen ist: In der Komik konzentrieren sich Macht und Ästhetik. Darüber hinaus ergab die vorliegende Analyse, dass soziokulturelle, anthropologische und die die Performance betreffenden Variablen in die Machtästhetik hineinspielen, da sie das Komikkonzept der Ballettkomödie stellen und zugleich dieser Komik eine innovative Sprengkraft geben. Diese Sprengkraft führt zu einer Neuerung in der Gattungslandschaft des Theaters und bereichert obendrein die politische Landschaft im 17. Jahrhundert; schließlich kann die comédie-ballet ob der aufgezeigten Interventionen Ludwigs XIV . zu seinem Genre erklärt werden. So ist auch sein machtvoller Auftritt in den Ballettkomödien zu deuten. Dieser ist von einem dialektischen Königsbild bestimmt, das in Repräsentation und Präsentation, Mimesis und Performance bruchlos zur Deckung kommt und in den Machtdiskurs hineinspielt. Mithin ist die Machtästhetik, sei sie implizit über die komischen Momente oder explizit über die nicht-komischen Momente repräsentiert und performt, eine stark selbstreferenzielle und wirklichkeitskonstituierende Ausdrucksästhetik. Sie ist das erfolgreiche Konzept der ostentativen Herrschaftskultur Ludwigs XIV ., eine extraordinäre Fusion aus Politik und Kultur mit stark rezeptionsästhetischer Wirkungskraft. Ferner ist die Machtästhetik als klassische Episteme zu verstehen, da sie die Denkstruktur des siècle classique umfasst. Schlussendlich lässt sich das Gesagte mittels der für die absolutistische Kultur signifikanten Sonnenemblematik natürlich auch noch abstrahieren: Theaterkunst fungiert in der absolutistischen Festkultur als instrumentum regni und Modell für das Funktionieren der Allmacht des Roi-Soleil ; sie ist der Repräsentationsapparat der Macht und generiert vergnügliches Divertissement. Diese thesenhafte Engführung von machtpolitischem und metapoetischem Diskurs bedingt zweierlei: Einerseits zeigt sie das symbiotische Moment zwischen Macht und Ästhetik auf, andererseits verdeutlicht sie, dass Politik über theatralische Performance artikuliert wird. Es kommt sonach zu einer Fiktionalisierung der Realität respektive zu einer Realisierung des Fiktionalen bei den selbst- <?page no="313"?> 312 Ausleitung referenziellen Aufführungen. In dieser Hinsicht ist das französische Kultur- und Staatssystem des Absolutismus im Wesentlichen als visuell, als bildbasiert zu denken. 2 Sein wirkungsmächtigstes Symbol ist die Sonne, allgemeiner Inbegriff von Stabilität, Dauerhaftigkeit und Prosperität: On choisit pour corps le soleil, qui, dans les règles de cet art, est le plus noble de tous, et qui, par la qualité d’unique, par l’éclat qui l’environne, par la lumière qu’il communique aux astres qui lui composent comme une espèce de cour, par le partage égal et juste qu’il fait de cette même lumière à tous les divers climats du monde, par le bien qu’il fait en tous lieux, produisant sans cesse de tous côtés la vie, la joie et l’action, par son mouvement sans relâche, où il paraît néanmoins toujours tranquille, par cette course constante et invariable dont il ne s’écarte et ne se détourne jamais, est assurément la plus vive et la plus belle image d’un grand monarque. 3 Die ideologische Gleichsetzung von Souverän und Sonne verleiht der Alleinherrschaft Ludwigs XIV . eine kosmische Aura der Macht. Die Sonne bildet des Königs Universalität nicht nur ab, sondern sie repräsentiert ihn in ihrer Symbolik im Sinne einer solaren Fototropie 4 des Staatswesens. 5 Sie ist Urheber jeglicher Glückseligkeit im Staat. Ihr Licht schafft sinnbildlich Frieden, Ordnung und lässt die Kultur aufblühen, denn sie ist „le bien“. Zudem eignet sich die Sonne aufgrund ihrer geometrischen Vollkommenheit als bedeutungsvolles Emblem einer absolut gedachten Ära. 6 Anhand dieser zentralen Symbolik der Zeit lässt sich das grundlegende Prinzip der absolutistischen Kulturpolitik ablesen: Die ästhetische Repräsentation basiert auf der Ideologie einer ethischen Perfektion. Letztere kennzeichnet und legitimiert eine Festkultur der Macht, die das Sonnenkonzept durch Dichter, Tänzer, Musiker und letztlich durch den Sonnenkönig selbst systematisch propagiert; die absolutistische Suprematie wird in der artistischen Glorifikation des Monarchen vergegenwärtigt und multipliziert. In Analogie zur Sonne steht die Ballettkomödie mit ihrer ‚Machtästhetik des Extraordinären‘ im Zentrum genannter Solennitäten als Animationsquelle des in ein säkulares Licht gerückten Universums. Ihre Geschlossenheit repräsentiert die absolutistische Herrschaftsform und trägt zu einem national-einheitlichen Kulturbild Frankreichs bei, sodass sie qua einer ästhetischpropagandistischen Offensive einer ganzheitlichen politischen Strategie in Erscheinung treten kann, als strahlendes kulturpolitisches Gesamtpaket. 2 Vgl. Schneider (2011), 246. 3 Louis XIV (1997 [1661-1715]), 98. 4 Vgl. Apostolidès (1981), 152. 5 Zur weiteren Lektüre empfiehlt sich Vogel (2015), „Solare Orientierung. Heliotropismus in Tragödie und Tragédie en musique“. 6 Vgl. Strong (1991), 276. <?page no="314"?> Ausleitung 313 Literaturverzeichnis Übersicht über die zur Kurzzitation verwendeten Siglen: AM Molière: L’Amour médecin AM s Molière: Les Amants magnifiques BG Molière: Le Bourgeois gentilhomme CdE Molière: La Comtesse d’Escarbagnas CEF Molière: La Critique de l’École des femmes EdM Molière: L’École des maris FdP Molière: Le Festin de Pierre FS Molière: Les Femmes savantes GD Molière: George Dandin, ou le Mari confondu JAH Marivaux: Le Jeu de l’amour et du hasard LF Molière: Les Fâcheux LM Molière: Le Misanthrope LS Molière: Le Sicilien ou l’Amour peintre LT Molière: Le Tartuffe, ou l’imposteur M La Rochefoucauld: Les maximes morales; Édition V MdP Molière: Monsieur de Pourceaugnac MF Molière: Le Mariage forcé MI Molière: Le Malade imaginaire PC Molière: Pastorale comique PdE Molière: La Princesse d’Élide PR Molière: Les Précieuses ridicules <?page no="315"?> 314 Literaturverzeichnis Primärliteratur Aristoteles (2003): Poetik , herausgeg. von Manfred Fuhrmann. 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Internetquelle: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France (23. 09. 14). <?page no="334"?> Mit seinen Ballettkomödien gelingt es Molière, ein Theater der Superlative zu schaffen, das aufgrund seiner künstlerischen Vollkommenheit wie auch seiner machtpolitischen Wirksamkeit die absolutistische Kulturpolitik Ludwigs XIV. über viele Jahre bestimmt. Die vorliegende Studie beleuchtet die politischen und gesellschaftlichen Machtstrukturen sowie deren artistische Repräsentation und Funktion in Molières Ballettkomödien. Sie rekonstruiert die Gattungspoetik der Ballettkomödie und gelangt zu einer kulturhistorischen Neubewertung dieses Totaltheaters. BIBLIO 17 Suppléments aux Papers on French Seventeenth Century Literature Directeur de la publication: Rainer Zaiser www.narr.de Machtästhetik in Molières Ballettkomödien Stefan Wasserbäch BIBLIO 17 215 Wasserbäch Molières Ballettkomödien