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Identitäten - Dialoge im Deutschunterricht

Schreiben - Lesen - Lernen - Lehren

0814
2017
978-3-8233-9139-5
Gunter Narr Verlag 
Jörg Roche
Gesine Lenore Schiewer

Spracharbeit im Deutschunterricht unter Anleitung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern - darum geht es in diesem literaturdidaktischen Lehr- und Lesebuch. Es unterstützt die Förderung von Grundlagen für ein methodisch und theoretisch anspruchsvolles Verständnis interkultureller Kommunikations- und Dialogfähigkeit, die sich auch in schwierigen Konfliktsituationen bewährt. Im Mittelpunkt dieses Bandes steht ein zentrales Thema jedes interkulturellen Dialogs: Identitäten. Die persönliche Präsenz von Autorinnen und Autoren im Klassenraum erlaubt, zusammen mit entsprechenden Arbeitsmaterialien, die sinnvolle und gezielte Einbindung von Literatur in den Deutschunterricht aller Schularten und Altersstufen. Beiträge von Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträgern sind genau dafür hervorragend geeignet. Der Band enthält Texte von José F.A. Oliver, Zehra Cirak, Akos Doma, Michael Stavaric, Yoko Tawada, Ilija Trojanow und Feridun Zaimoglu. Dieses Lehr- und Lesebuch wendet sich nicht nur an Lehrkräfte, sondern auch an Schülerinnen und Schüler mit ihren Freundinnen und Freunden, Eltern und anderen Bezugspersonen. Damit werden die üblichen Grenzziehungen des Unterrichts aufgehoben und die oft zu engen Textsorten-Grenzen bisheriger Lehrwerke und Lehrerhandreichungen erweitert. Dies bildet sich bewusst auch in der grafischen Gestaltung der Materialien ab. Klar und anschaulich wird verdeutlicht, wie sich unsere Wahrnehmungen der Welt durch Neues, Anderes und Fremdes ständig verändern und zu permanenten Assimilations- und Akkommodationsprozessen des Wissens führen.

<?page no="0"?> Jörg Roche / Gesine Lenore Schiewer (Hrsg.) ISBN 978-3-8233-8139-6 www.narr.de Spracharbeit im Deutschunterricht unter Anleitung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern - darum geht es in diesem literaturdidaktischen Lehr- und Lesebuch. Es unterstützt die Förderung von Grundlagen für ein methodisch und theoretisch anspruchsvolles Verständnis interkultureller Kommunikations- und Dialogfähigkeit, die sich auch in schwierigen Konfliktsituationen bewährt. Im Mittelpunkt dieses Bandes steht ein zentrales Thema jedes interkulturellen Dialogs: Identitäten. Die persönliche Präsenz von Autorinnen und Autoren im Klassenraum erlaubt, zusammen mit entsprechenden Arbeitsmaterialien, die sinnvolle und gezielte Einbindung von Literatur in den Deutschunterricht aller Schularten und Altersstufen. Beiträge von Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträgern sind genau dafür hervorragend geeignet. Der Band ist inhaltlich und didaktisch konzipiert von Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer, José F.A. Oliver, Zehra Çirak, Akos Doma und Michael Stavarič, mit Gastbeiträgen von Yoko Tawada, Ilija Trojanow und Feridun Zaimoglu. Dieses Lehr- und Lesebuch wendet sich nicht nur an Lehrkräfte, sondern auch an Schülerinnen und Schüler mit ihren Freundinnen und Freunden, Eltern und anderen Bezugspersonen. Damit werden die üblichen Grenzziehungen des Unterrichts aufgehoben und die oft zu engen Textsorten-Grenzen bisheriger Lehrwerke und Lehrerhandreichungen erweitert. Dies bildet sich bewusst auch in der grafischen Gestaltung der Materialien ab. Klar und anschaulich wird verdeutlicht, wie sich unsere Wahrnehmungen der Welt durch Neues, Anderes und Fremdes ständig verändern und zu permanenten Assimilations- und Akkommodationsprozessen des Wissens führen. Es folgen weitere Bände zu den Themen Emotionen und Lebenswelten. Identitäten - Dialoge im Deutschunterricht Jörg Roche / Gesine Lenore Schiewer (Hrsg.) Identitäten - Dialoge im Deutschunterricht unter konzeptueller Assistenz und mit Originalbeiträgen von José F.A. Oliver/ Zehra Çirak/ Akos Doma/ Michael Stavarič S c h r e i b e n - L e s e n - L e r n e n - L e h r e n <?page no="1"?> Identitäten-- Dialoge im Deutschunterricht <?page no="3"?> Jörg Roche/ Gesine Lenore Schiewer (Hrsg.) Identitäten - Dialoge im Deutschunterricht Schreiben - Lesen - Lernen - Lehren unter konzeptueller Assistenz und mit Originalbeiträgen von José F. A. Oliver, Zehra Çirak, Akos Doma und Michael Stavari ˇ c <?page no="4"?> Die Erarbeitung dieses Bandes wurde aus Mitteln der Robert Bosch Stiftung gefördert Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISBN 978-3-8233-9139-5 <?page no="5"?> 5 Inhalt I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs Didaktik des Dialogs: Einführung (Jörg Roche/ Gesine Lenore Schiewer) . . . . . . . 7 FAILURE IS NOT AN OPTION. Oder: Von Anfang an auf Scheitern eingestellt (Ilija Trojanow) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Schüler schreiben in einer Schreibwerkstatt eigene Texte. Eine Betrachtung (Zehra Çirak) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Wort-Teppich, Ge: schichten. Kurzbericht aus einer Schreibwerkstatt mit Flüchtlingen in Stuttgart (José F.A. Oliver) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 II. Identität(en). AnSätze Ein ungeladener Gast. Text und Identität/ Fremde (Yoko Tawada) . . . . . . . . . . . . . 47 „Identität“ (Akos Doma) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Einige praktische Gedanken zur Didaktik unter dem Augenmerk der Literaturvermittlung an Schulen (Michael Stavarič) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Familie. Textintermezzi I (Zehra Çirak) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Familie. Textintermezzi II (José F.A. Oliver) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Erinnerung, Alltag, Hoffnung: Die Familie (Akos Doma) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 „Heimat sind W: orte und verb: leiben f: ort“ (Michael Stavarič) . . . . . . . . . . . . . . . . 87 „Ein Freund, ein guter Freund …“ (Akos Doma) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Freundschaft (Zehra Çirak) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Identität. Eine Annäherung in drei Unterrichtseinheiten (José F.A. Oliver) . . . . . . 123 Gewalt (Zehra Çirak) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 III. Anhänge Das Wort im verstörten Fleisch (Feridun Zaimoglu) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Vorstellungsrunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 <?page no="7"?> 7 I. VORW : ORTE Zur Bedeutung des Dialogs Didaktik des Dialogs: Einführung Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer 1. Was ist unter ‚Dialog’ zu verstehen? Begriff, Theorien, Konzepte Diesem Begriff haftet in der alltäglichen Wahrnehmung häufig etwas Abgehobenes an. Denn wer führt schon einen ‚Dialog’ innerhalb der Familie, mit Freunden, Nachbarn, Verkaufspersonal, Behörden oder im Berufsleben? Eher sind in alltäglichen und beruflichen Kommunikationssituationen das ‚Gespräch’, die ‚Besprechung’, das ‚Meeting’, die ‚Diskussion’, der ‚Small Talk’, allenfalls die inzwischen etwas altmodisch anmutende ‚Konversation’ als typische Textsorten anzutreffen. In politischen Kontexten, in Forschung und Wissenschaft ist ‚Dialog’ ein Begriff, der mit einer Reihe von ▶ unterschiedlichen, unter Umständen konträren theoretischen Positionen (zum Beispiel als politisches Instrument der Konfliktlösung oder als Mittel in der Wissensvermittlung) ▶ variablen Auffassungen von universellen Aspekten und von kultureller Vielfalt („Dialog der Kulturen“) ▶ differierenden praktischen Anwendungsfeldern der Verständigung und Mediation verbunden sein kann. Über Jahrhunderte war es die Philosophie, in der der ‚Dialog’ seine grundlegende wissenschaftliche Verortung fand. Dabei verdeutlicht schon ein kursorischer Blick auf die Begriffsgeschichte die Breite seines Spektrums unterschiedlicher Auffassungen. So ist in der Antike und im Mittelalter ‚Dialog’ in erster Linie eine wichtige Form des mündlichen und schriftlichen Erkenntnisgewinns, das heißt eine dialogisch ausgestaltete Textgattung, in der Erkenntnis im Austausch erzielt wurde. Sie erlaubte es, unterschiedliche Positionen gegeneinander abzuwägen. Der sokratisch-philosophische Dialog etwa kann als „praktizierte Form der Wahrheitssuche und Wissensbildung“ beschrieben werden (Schlaeger 1996: 21 ff.). Ganz anders wird demgegenüber im 17. Jahrhundert mit René Descartes’ prinzipieller Unterscheidung zwischen der ‚denkenden’ und der ‚ausgedehnten’ Substanz (oder auch zwischen ‚Geist’ und ‚Körper’) und mit seiner Auffassung des ‚cogito ergo sum’ (‚ich denke, also bin ich’) das Denken im für sich raisonnierenden Subjekt begründet. Damit wird der andere Mensch „als Redepartner allenfalls in rhetorischer, für die Wahrheitssuche subsidiären Form“ benötigt (Schlaeger 1996: 21 ff.). Ja, sogar die Erkenntnis eines anderen Menschen überhaupt-- im äußerlich wahrnehmbaren Körper-- als „ein anderes denkendes Ich“ wird auf einen <?page no="8"?> 8 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs Analogieschluss gegründet, also der Annahme des Bestehens von Ähnlichkeiten von eigenem und fremdem Ich (vgl. Heinrichs 1972: 226). Nur aufgrund der hypothetischen Unterstellung, der Andere denke wie man selbst, kann man ihn Descartes zufolge überhaupt erkennen und sich mit ihm verständigen. Der Dialog tritt hier in seiner Bedeutung also in den Hintergrund beziehungsweise wird als „ein stiller Dialog der Seele mit sich selbst“ verstanden. Dies ist eine Auffassung, die aber auch schon in der Antike bei Platon anzutreffen war (vgl. Meyer 2006: 8). Für die Dialogphilosophie des 20. Jahrhunderts geht es in Anlehnung an Martin Buber um „ein Gespräch, das durch wechselseitige Mitteilung zu einem interpersonalen ‚Zwischen’, das heißt zu einem den Partnern gemeinsamen Sinnbestand führt“ (Heinrichs 1972: 226). Hier wird von einer Form gesprochen, „die das Miteinander der Wahrheitssuche vor die Vernunft des Einzel-Ichs stellt, für die Wissensbildung ein unabschließbarer kommunikativer Vollzug und nicht die Entfaltung eines Denksystems nach ehernen logischen Gesetzen“ ist. (Schlaeger 1996: 21 ff.) In der Tradition von Bubers Grundausrichtung der Dialogphilosophie steht im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts die dialogische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers mit der besonderen Berücksichtigung von Prozessen des Verstehens und angemessenen Deutens. Später nimmt sich, vor allem in Bezug auf die Interkulturelle Kommunikation, die Interkulturelle Literaturwissenschaft und die Interkulturelle Sprachdidaktik, auch die Interkulturelle Hermeneutik, dieser Problematik an, indem sie das „Fremdverstehen“ als einen dialektischen Prozess zwischen Kulturen zu fassen versucht, statt ihn als historischen Prozess wie in der Hermeneutik zu betrachten. Es geht dabei, wie Charles Taylor (1992) es im Anschluss an Gadamer nennt, um eine Horizontverschmelzung („fusion of horizons“) aus eigenen und fremden Horizontkomponenten. In diesem Prozess bilden sich modifizierte Positionen der Wahrnehmung des Eigenen durch das Fremde und der Wahrnehmung des Fremden durch das Eigene. Die daraus entstehenden Positionen sind gesellschaftlichen Normen, individuellen Dispositionen und der Interaktion aus beiden geschuldet. Begriffe wie „Perspektivenwechsel“, „das Eigene und das Fremde“, „interkulturell“ oder auch „der dritte Raum“ (Bhabha 199) sind diesem Ansatz verpflichtet. In den letzten Jahrzehnten wurden insbesondere zwei Positionen prominent: eine „optimistische“ mit der Diskursethik von Jürgen Habermas und der dialogischen Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer, und eine entgegengesetzte von Samuel P. Huntington mit der Auffassung eines zu erwartenden „Kampfes der Kulturen“. Die Diskursethik hat die Orientierung auf den so genannten „Dialog der Kulturen“ maßgeblich beeinflusst. Auf Initiative des damaligen iranischen Präsidenten Mohammad Chatami wurde für das Jahr 2001 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen das „Jahr des Dialogs der Kulturen“ beschlossen. Unter anderem erschien daraufhin im Oktober 2001 der vom Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan initiierte Band: Crossing the Divide. Dialogue among Civilizations. In deutscher Übersetzung wurde er unter dem Titel Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen noch im selben Jahr publiziert. Vorgestellt wird in dem prominent präsentierten Band ein Rahmenkonzept, das für die Praxis des interkulturellen Dialogs auf sämtlichen politischen, institutionellen und gesellschaftlichen Ebenen geeignet sein soll (vgl. Schiewer 2010). <?page no="9"?> 9 Didaktik des Dialogs: Einführung Auch vom Auswärtigen Amt in Deutschland wurde der Ansatz aufgegriffen. Dabei wird davon ausgegangen, dass z. B. Probleme des Schutzes der natürlichen Umwelt und ihrer Erhaltung für zukünftige Generationen nicht mehr allein auf nationaler Ebene gelöst werden können. Daher werden die zwischenstaatliche Zusammenarbeit und gemeinsame internationale Bemühungen als unabdingbar erachtet. Es geht somit um Dialog zwischen Regierungen und Zivilgesellschaften, das heißt zwischen staatlichen Akteuren und nichtstaatlichen Organisationen, Stiftungen, Kirchen, Wirtschaftsverbänden und Unternehmen. Der zentrale Ansatzpunkt ist darauf fokussiert, eine Gegenposition zu Samuel Huntingtons These vom „Kampf der Kulturen“ einzunehmen und im Dialog der Kulturen- - als kultureller Idee der globalen Verständigung-- die Chance für eine friedliche Zukunft zu sehen. Grundlegend soll dabei die Auseinandersetzung mit einer neuen Auffassung von Vielfalt sein. Anlässlich eines Runden Tisches am Sitz der Vereinten Nationen im September 2000 erklärten der Generalsekretär, zwölf Staats- und Regierungschefs sowie die Außenminister verschiedener Länder übereinstimmend, dass mit Hilfe eines solchen Dialogs zwischen den Kulturen alle Nationen in der Lage seien, Feindschaft und Konfrontation durch Gespräch und Verständnis zu ersetzen. Es knüpfen sich also sehr weit reichende Hoffnungen an das Projekt. Worauf aber gründet sich die Hoffnung, dass das vorgestellte Konzept diese umfassenden Erwartungen erfüllen kann? Wie also wird hier der ‚Dialog’-Begriff bestimmt? Im Vorwort erklärt Kofi Annan seine Überzeugung, „dass Dialog über Streit obsiegen kann“ (Annan 2001: 11), womit Dialog und Streit hier in Opposition zueinander gesetzt werden. Der Persönliche Beauftragte Annans, Giandomenico Picco, betont in der anschließenden Danksagung (Annan 2001: 13): „Vielleicht wird die Brutalität derjenigen, die nicht an einen Dialog der Kulturen glauben, andere-- wie uns-- ermutigen, die Aufgabe [eines Dialogs der Kulturen, Verf.] ernster zu nehmen.“ Selbstverständlich bezieht sich diese Äußerung auf das Attentat in New York vom 11. September 2001. Wörtlich genommen wird hier allerdings denjenigen Brutalität unterstellt, die- - aus welchen Gründen auch immer- - nicht an einen, an diesen Dialog der Kulturen glauben. Der ‚Dialog’-Begriff wird in diesem Band weiterhin an die Hoffnung gebunden, eine- - wie vermutet wird- - bestehende Furcht vor Vielfalt zu überbrücken. Der Dialog der Kulturen solle der Vielfalt die angenommene Angstbesetztheit nehmen und sie in einen positiv empfundenen Wert verwandeln. Die Voraussetzungen werden dabei auf das Individuum projiziert: Es nehme Vielfalt gelegentlich als Bedrohung wahr, gleichzeitig fühle es jedoch auch die verbindende Gemeinschaftlichkeit zwischen den Menschen. Daher beginne der Dialog „in unserem Inneren“ (Annan 2001: 35). Dementsprechend wird wiederholt an die Verantwortlichkeit des Einzelnen appelliert (Annan 2001: 0). Als zentrale Charakteristika dieses Dialogs werden genannt: respektvolle Kommunikation, gegenseitiges Verständnis, Gerechtigkeit und die Goldene Regel der Gegenseitigkeit. Er müsse offen geführt werden und auf Sachkenntnisse gegründet sein. Wichtig sei insbesondere, weder überreden noch bekehren zu wollen (vgl. Annan 2001: 68), sondern zuzuhören und zu lernen (vgl. Annan 2001: 82). Unter dem Stichwort „Weisheit“ werden Geduld und Aufnahmebereitschaft als entscheidende Aspekte des Zuhörens betont: Inhalt und subtile Bedeutungsnuancen seien sowohl rational als auch emotional zu erfassen (vgl. Annan 2001: 103). <?page no="10"?> 10 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs Auf der Basis eines solchen Dialogs werde die Würdigung unterschiedlicher Auffassungen und Perspektiven möglich (vgl. Annan 2001: 68 f.). Der Dialog der Kulturen solle von der Vielfalt menschlicher Kulturen und der Anerkennung von Gleichheiten und Unterschieden ausgehen. Der Dialog erlaube durchaus Skepsis und eine kritische Haltung-- ein Aspekt, der wohl als Absicherung gegen den eventuellen Vorwurf, es werde hier stark harmonisierend argumentiert, zu werten ist. Die rationale Entscheidung für Vertrauen, so heißt es weiterhin, sei jedoch zur Überwindung der Angst vor der Vielfalt unabdingbar (vgl. Annan 2001: 83). Nicht zu übersehen ist hier die Anlehnung an andere Konzepte Interkulturellen Verstehens, die auf Perspektivenwechseln und idealisierend kommunikationstheoretischen Vorannahmen basieren (vgl. etwa die Kommunikationsmaxime von Grice 1975). Es handelt sich also auch hier um einen normativ-programmatischen Ansatz, der dazu tendiert, faktisch in aller Regel gegebene Asymmetrien, Macht- und Interessenlagen zu verschleiern und die Konfliktlösung als rationalen Automatismus eines Austauschs von klar definierbaren und offenen Positionen zu präsentieren. Wenn schon 2001 durchaus berechtigte Zweifel geäußert werden konnten, ob die hohen Erwartungen tatsächlich zu erfüllen seien, dann kann kaum geleugnet werden, dass es inzwischen hierzu noch weitaus mehr Anlass gibt. Stimmen, die von einem „Kampf der Kulturen“ sprechen, sind, trotz aller mit oft guten Argumenten vorgetragenen Kritik an den Begründungen Samuel P. Huntingtons, eher noch lauter geworden. In Anbetracht der Dringlichkeit, auf internationalen wie nationalen Ebenen in politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen, religiösen Umfeldern und insbesondere in allen Bereichen des Schul- und Bildungswesens realistische Dialogpraxen vermitteln und einzusetzen zu können, besteht ein großer Bedarf an theoretisch-konzeptuellen Grundlagen, bei denen auf den idealistischen Impetus interkultureller Verständigung vielleicht nicht ganz verzichtet werden muss, die aber den erwähnten faktisch existierenden Asymmetrien, Machtungleichheiten und divergierenden Interessenlagen nolens volens Rechnung tragen. Es ist, mit anderen Worten, nach einem Ansatz zu suchen, der den tatsächlichen Dialogbedingungen Rechnung trägt und real erfahrbare Probleme der Kommunikation nicht übergeht oder minimiert. Denn ein „wirklicher, echter, wahrer“ Dialog, der immer wieder beschworen wird, kann nur gefördert werden, wenn bestehende Asymmetrien und Machtstrukturen greifbar werden, die in nahezu jeder Auseinandersetzung-- wenn nicht sogar in überhaupt jedem und auch dem privaten menschlichen Austausch- - unvermeidlich sein dürften. Ein politisch, gesellschaftlich und ökonomisch relevanter, effektiver Dialog der Kulturen wird daher darum bemüht sein müssen, die Einseitigkeit rational-diskursiver Kommunikationstheorien zu vermeiden. Vielmehr sind gegenüber letztlich ethnologisch gegebenen Verhaltensfacetten des Menschen, welche mit Fragen von Identität, Interesse, Macht, Status und Emotionalität einhergehen, die Augen und Ohren nicht zu verschließen. Aus diesem Grund bietet es sich an, nicht nur im politischen Dialog, sondern gerade auch im Alltag solche Dialogbedingungen zu unterstützen, die Asymmetrien nicht zu überdecken suchen, sondern möglichst offenkundig werden lassen, damit sie behandelt werden können. Es gilt demnach, die unhintergehbare Perspektivik jedes Teilnehmers mit ihren lebensweltlichen und historischen Bedingungen sowie die Schwierigkeit ernst zu nehmen, das Gelingen <?page no="11"?> 11 Didaktik des Dialogs: Einführung von Verständigung zu überprüfen. Auch das Wissen um ein potentielles Misslingen von Kommunikation ist daher konstruktiv zu nutzen, trägt es doch zu einer Sensibilisierung in Bezug auf die Vielfalt möglicher Ursachen von Missverständnissen und das Scheitern von Verständigung bei, unter anderem infolge von semantischen Divergenzen zwischen den Sprachen. Wenn diese potentiellen Hindernisse als möglich akzeptiert werden, kann erkennbar werden, ob Verständigung überhaupt angestrebt wird und wo ihre jeweiligen Schwierigkeiten liegen, oder ob es nur um Scheingefechte geht, die der verdeckten Ausnutzung von Machtverhältnissen und der indirekten Durchsetzung von Interessen dienen. Die Rahmenbedingungen eines Dialogformats, das die skizzierte Offenheit akzeptiert, sind durch zumindest folgende Aspekte gekennzeichnet: ▶ Es sollte eine grundsätzliche freiwillige Gesprächsbereitschaft auf allen Seiten vorhanden sein, die auch für alle Beteiligten erkennbar sein sollte. ▶ Vor diesem Hintergrund muss es in einem Dialog Optionen und Mechanismen nicht nur für Konsens geben, sondern auch für Dissens, Vertagung und nicht zuletzt einen Abbruch. Konsens ist dabei nicht mit Freundschaft zu verwechseln, Dissens nicht mit Feindbildern zu identifizieren. ▶ Erforderlich sind fundierte Kenntnisse verschiedener Gesprächsstile und kulturell geprägter Dialogformen und -typen, um über Kriterien zu verfügen, die es erlauben, sowohl das Bestehen kulturell bedingter Wissensasymmetrien als auch Formen der verdeckten Kooperationsverweigerung zu erkennen und zu unterscheiden. Diese Bedingungen können jedoch nicht als vorhanden vorausgesetzt werden. Vielmehr bedarf es ihrer Entwicklung, Erprobung und Verfeinerung. Mit anderen Worten: Die Entwicklung einer Dialogkultur hat didaktische Implikationen. 2. Was sind die Grundlagen einer Didaktik des Dialogs? Der Transdifferenzansatz Trotz der oben skizzierten Voraussetzungen für einen politischen Dialog haben sich auf breiter Ebene im Bereich der Dialog-Konzepte konsensorientierte Ansätze etabliert, die im Wesentlichen auf der von Jürgen Habermas begründeten rationalen Diskursethik fußen. Zumindest im Hinblick auf eine Dialogdidaktik, die Relevanz für die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern haben soll, ist dies jedoch als ein reduktionistisches Konzept zu betrachten, das mit zu starken programmatisch-normativen Vorannahmen bezüglich kommunikativer Prozesse und Dialogsituationen einhergeht. Eine hierfür angemessene Dialogdidaktik verlangt in jedem Fall nach Ergänzungen dieses konsensorientierten Ansatzes und nach alternativen Konzepten. Hierfür geeignet ist der Ansatz der Transdifferenz. Die Entwicklung des Transdifferenzansatzes geht auf ein Graduiertenkolleg zurück (vgl. Breinig / Lösch 2002). Dialog wird hier auf die Prozesse der Kommunikation, des Verstehens und der Verständigung, also die Sprachverwendung, gegründet. Damit setzt auch die Dialogdidaktik bei der erst-, zweit- und fremdsprachlichen Spracharbeit an, die im Unterricht erfolgen muss. <?page no="12"?> 12 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs In knapper Skizze geht es bei dem Transdifferenzansatz um Folgendes: ▶ Zu Beginn der Entwicklung des Ansatzes der Transdifferenz lag der Fokus noch auf der unhinterfragten Annahme gelingenden Verstehens. ▶ Nach einer ersten kritischen Auseinandersetzung rückten auch das Nicht-Verstehen und Missverstehen in den Blick. ▶ Um eine krude und unrealistische Binarität zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen zu vermeiden, wurde die Aufmerksamkeit auf Differenzen gelegt, und darauf, was sie jeweils ausmachen. Auf diese Weise können Gesprächspartner dafür sensibilisiert werden, dass sie Äußerungen ihres Gegenübers kaum jemals zu 100 % oder zu 0 % so verstehen, wie er sie gemeint haben mag, sondern dass es Übergänge zwischen Verstehen und Nicht- Verstehen gibt, die graduell sind. ▶ Die Auseinandersetzung mit Differenzen ist die Voraussetzung für den Zugang zu einer „positiven Transdifferenz“. ▶ Dem Transdifferenzansatz geht es also darum, Differenzen anders zu denken, sie auszuhandeln und nicht in Verstehen / Nicht-Verstehen-- vollkommene Nachvollziehbarkeit oder komplette Unzugänglichkeit-- auflösen zu müssen. Klaus Lösch beschreibt dies so: In einem allgemeinen Sinn- - und im Anschluss an die Bedeutung ‚quer hindurch‘ der Vorsilbe ‚trans‘- - bezeichnet Transdifferenz all das Widerspenstige, das sich gegen die Einordnung in die Polarität binärer Differenzen sperrt, weil es gleichsam quer durch die Grenzlinien hindurch geht und die ursprüngliche eingeschriebene Differenz ins Oszillieren bringt, ohne sie jedoch aufzulösen. (Lösch 2005: 27) Der Konstanzer Soziologe Ilja Srubar kommentiert dies in seinem Beitrag Transdifferenz, Kulturhermeneutik und alltägliches Übersetzen: Die soziologische Perspektive so: Die Reflexion der Relativität von „Weltanschauungen“, die an unterschiedliche soziale Standorte gebunden sind, die ein Individuum in seiner Biografie durchläuft, dient ebenso bereits Karl Mannheim 1929 zur Illustration der Auflösung der vermeintlichen Homogenität individuellen Wissensvorrats in eine zeitliche Sequenz von ungewissen Wahlen und Entscheidungen-[…]. Viel wichtiger ist jedoch, dass die wissenssoziologische Arbeit Mannheims paradigmatisch „die Gesellschaft“ in eine Vielfalt von Denkstandorten verwandelt, die sich durch eine beschreibbare Eigenlogik auszeichnen und zwischen welchen Übersetzungsprozesse stattfinden müssen, sollen Gesellschaftssysteme nicht zusammenbrechen. (Srubar 2009: 131 f.) Handlungen erscheinen vor diesem Hintergrund prinzipiell als Zeichen, die anderen zur Deutung auferlegt sind. Die Ungewissheit der Referenz kennzeichnet auch die Zeichensysteme selbst. Aus dem Phänomen der unaufhebbaren kommunikativen Unschärfe resultiert die Erfahrung der Differenz, auf die auch der Begriff der Transdifferenz zielt. Denn binäre Systeme aus „Eigenem“ und „Fremdem“ sind nur begrenzt wirksam. Ein Perspektivenwechsel unterstellt, dass es sich um klar definierbare Perspektiven und nicht um offene Wahrnehmungen handelt. Der zugrundeliegende Kulturbegriff geht von trennbaren, <?page no="13"?> 13 Didaktik des Dialogs: Einführung eigenständig existierenden Systemen mehr oder weniger stark ausgeprägter Homogenität aus. Unberücksichtigt bleiben dabei kognitive Aspekte der Wahrnehmung: Wie sollen Perspektivwechsel stattfinden, wenn der kognitive Apparat des Betrachters / Lerners derselbe bleibt? Wenn zu unterstellen ist, dass der gleiche kognitive Apparat Eigenes und Fremdes getrennt voneinander wahrnehmen kann, dann wäre er nicht lernfähig, und damit wäre das Ziel interkulturellen Verstehens apriori unrealistisch. Anleihen fand der Transdifferenzansatz in dem Konzept der „Transkulturation“, das zuvor von dem kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz (197) formuliert wurde. Es betont den Prozesscharakter der Kulturentwicklung und -konstruktion. Anders als der Begriff ‚Transkulturalität’, der das (statische) Ergebnis von oft nicht genauer bestimmten Transkulturationsprozessen bezeichnet, wird unter ‚Transkulturation’ der Prozess der Konstruktion und Aushandlung individueller Bedeutungen von Kulturen verstanden. Nach Atsuko Onuki und Thomas Pekar (2006) können Kulturen somit als Figurationen und Defigurationen von sich prozessual konstituierenden (figurierenden) Einheiten gefasst werden, die sich zugleich in einer ständigen Veränderungsbewegung befinden. Diese Veränderbarkeit und Dynamik sprengt die Grenzen gängiger, auch verbreiteter transkultureller Kulturkonzepte und ist Grundlage des Transdifferenzkonzeptes. Und weil sich zum anderen, in Hinsicht auf unsere eigene kulturelle ‚Verortung‘ (oder auch ‚Ortlosigkeit‘), jede spezifische Kultur selbst als eine ‚Figuration‘ begreifen lässt, d. h. als eine prozessual sich konstituierende Einheit, die sich jedoch in einer ständigen Veränderungsbewegung befindet. Die Rede von ‚Figuration‘ (kultureller Figuration) soll darauf aufmerksam machen, daß sich jede Kultur in einem permanenten und unaufhebbaren Spannungsfeld von De- und Refiguration befindet. Dieser besondere zeitlich-dynamische Aspekt unterscheidet im übrigen ‚Figuration‘ am klarsten von Begriffen wie Struktur, Gestalt, Form etc. (Onuki / Pekar 2006: 9) Im Sinne von Lösch (2005: 33) ist Kultur damit kein abgeschlossenes, auf sich selbst bezogenes System: Kultur ist kein autopoietisches System, das in ausschließlicher Selbstbezüglichkeit die eigenen Elemente selbst produziert und in diesem Prozessieren die konstitutive System- / Umweltgrenze affirmiert und perpetuiert, sondern ein prozessuales Produkt der Interaktion von Systemen, deren Grenzen freilich erst in diesem Austauschvorgang gezogen und beständig revidiert werden. Kultur ist demzufolge als die denotative Bedeutungsebene von sozialer und sprachlicher Interaktion zu definieren. Sozialisations-, Akkulturations-, und Integrationsprozesse sowie letztlich auch Individuationsprozesse im Sinne soziokultureller Selbstwahrnehmung beruhen auf der Viabilisierung konnotativer Bedeutungen in gesellschaftlichen Kontexten. (Wendt 2002: 2) Mit der Begrifflichkeit von Transdifferenz und Differenz soll also die Unbestimmbarkeit und Veränderbarkeit kultureller Erscheinungen so gefasst werden, dass es weder zu einer normierenden Synthese noch zu einer Auflösung von Differenzen kommt. Der Transdifferenzansatz löst das Problem der kognitiven Dissonanz also durch ein dynamisches Nebeneinander mehr oder weniger interagierender und temporärer Positionen und Einstellungen. Differenzen komplementieren die binäre Ordnung. Durch die dynamische Integration des Fremden in <?page no="14"?> 14 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs bestehende und sich verändernde Wissensbestände wird die binäre Trennung in Eigenes und Fremdes obsolet. Mit diesem Verstehensmodell einher geht eine Umstellung auf ein dynamisches Identitätskonzept. Nicht die Frage „Wer bin ich? “, sondern die Frage: „Wer werde ich? “ steht im Mittelpunkt der Identitätskonstitution (vgl. Allolio-Näcke / Kalscheuer 2005: 18). Die vielfältigen Austausch- und Veränderungsprozesse von Kulturen im Kontakt beziehungsweise im Zeitalter der Globalisierung können zu einer Komplexitätssteigerung von Identitäten führen, die als postnational bezeichnet werden können. Bei einer gewissen Fragmentarisierung des Selbst findet, so wird angenommen, eine „Teilhabe an mehreren Kollektiv-Intersubjektivitäten“ statt (vgl. Hildebrandt 2005: 351). Wie aber werden die Kompetenzen erworben, die für den Umgang mit solcher Komplexität nötig sind? Es ist davon auszugehen, dass sich die transdifferente Qualität der Wissensorganisation am besten selektiv nach Bedarf und Disposition in bestimmten thematischen Domänen entwickelt, die für ein Individuum relevant sind. Die Themenauswahl und die Zugänge zu den Themen in diesem Buch sind dieser selektiven, individuellen Vorgehensweise verpflichtet. 3. Wie wird gearbeitet? Der Ansatz sprach- und dialogdidaktischer Arbeit mit literarischen Autorinnen und Autoren Die in diesem Band versammelten Autorinnen und Autoren sind vorwiegend Preisträgerinnen und Preisträger des Adelbert-von-Chamisso-Preises, der-- von dem Romanisten Harald Weinrich begründet- - von 1985 bis 2017 vergeben wurde. Sie sind besonders sensibilisiert für Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität (vgl. Schiewer 2017, Internationales Forschungszentrum Chamisso-Literatur: http: / / www.chamisso.daf.uni-muenchen.de/ bibliographie_autoren/ index.html, Robert Bosch Stiftung: http: / / www.bosch-stiftung.de/ content/ language1/ html/ 595.asp). Darüber hinaus ist zu betonen, dass bereits didaktische Konzepte für die Arbeit mit interkultureller Literatur verfügbar sind, die mit den skizzierten Grundlagen des Transdifferenzansatzes kompatibel sind. Besonders hervorzuheben ist hier vor allem der Band des Chamisso-Preisträgers José F. A. Oliver, der 2013 im Verlag Klett / Kallmeyer unter dem Titel Lyrisches Schreiben im Unterricht. Vom Wort in die Verdichtung erschienen ist und dessen Autor auch am vorliegenden Band federführend mitgewirkt hat. Wichtig ist, sich hier zunächst mit einigen Grundauffassungen José F. A. Olivers vertraut zu machen, der 2013 keineswegs eine Standarddidaktik für kreatives Schreiben vorlegte. Vielmehr überträgt er seine Einsichten in sprachlich-linguistische Prinzipien in die gezielte Förderung des Umgangs von Schülerinnen und Schülern mit Sprache. Literatur ist für Oliver erst einmal so etwas wie eine allgemein menschliche Anlage oder eine anthropologische Gegebenheit: „[…]-ich will behaupten, dass jeder Mensch Poetisches und dessen Gesten in sich birgt. Die beste Voraussetzung, sich einem unbeschriebenen Blatt Papier anheim zu geben. Sich zuzutrauen.“ (Oliver 2013: 11 f.) Im Zentrum steht für ihn die Arbeit am Wort und am individuellen Wortschatz: <?page no="15"?> 15 Didaktik des Dialogs: Einführung Das Vermögen, zu sagen, was der Einzelne erlebt, fühlt und denkt, hängt unmittelbar mit dem Wortmaterial zusammen, das ihm zur Verfügung steht. Oft wird-- wenn es um die (deutsche) Sprache geht-- bei Schülern das ‚Defizitäre‘ im Umgang mit ihr hervorgehoben. Ich stelle mich in meinen Schreib- und Textwerkstätten lieber auf eine bejahende Art und Weise den Gegebenheiten: Jede scheinbar noch ‚mangelhaft‘ wahrgenommene und als solche sanktionierte Sprache birgt Schönheit und die Qualität des Abenteuers. Wie schön, dass der Ausdruck ‚Wortschatz‘ auch andere Blickweisen zulässt als lediglich die der rohen Quantität der Fehler. Ein einzelner Wortfund kann ein Schatz sein. (Oliver 2013: 12) Angestrebt wird ein verfeinertes Bewusstsein für den Umgang mit Sprache und auf diese Weise eine Fortentwicklung des Bewusstseins für sich selbst, für die eigene Person: Ausgangspunkt meiner Anregungen für Schüler ist immer das Wort und die wahr: nehmungen, ihre wahr: nehmungen, die das Wort begleiten. Das eigene Wort und das andere. Das fremde, das fremdgebliebene, das fremdgemachte, das fremdgewordene. Wird das Wort hernach bedachter vernommen, erfahren und gewählt, schenkt Sprache dem Menschen eine simultane Beziehung zu den Wörtern und eine bewusstere Identität, so meine Hoffnung. (Oliver 2013: 12 f.) Die sprachtheoretische Basis der Arbeit Olivers konzentriert sich auf die Sensibilisierung für Konnotationen, Bedeutungen neben der eigentlichen Wörterbuchbedeutung, beziehungsweise „Bedeutungshöfe“. Er geht von dem Beispiel des Wortes „Tafelsüße“ aus, einer Form des Zuckerersatzes, und beschreibt seine persönlichen Assoziationen: der Schultafel, die ihm näherliegt als der ihm ebenfalls in den Sinn kommende Tafelspitz. Da in seinem Buch das lyrische Schreiben im Schulunterricht beschrieben wird, stellt er in den Raum, ob „Tafelsüße“ in diesem Zusammenhang eine mögliche Metapher sei. Dies lässt er zunächst offen, sieht darin aber durchaus eine Option (vgl. Oliver 2013: 11). Hieran schließt er folgende Reflexion an: Zumindest steht die eigenwillige Konnotation [der Schultafel] gleichnishaft vor einer offenen Tür. Ein Zugang in die erste flüchtige Draufschau dessen, wie inspirierend Bedeutungshöfe sind, wenn sich Wörter aufs Unerwartete mit den ungestümen oder selbstverständlichen Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Alltagsrealien verbinden. In meinem Fall „Frühstück“ und „Tafelsüße“ oder „Zuckerersatz“ und „Schule“. Seien die Wörter nun aus dem Alltäglichen entnommen, quasi eins zu eins abgebildet, oder auf eine scheinbar rätselhafte Weise sprachlich aus ihnen ins Entlegene verschoben. Das Ziel seiner Arbeit im Unterricht besteht hierin: Seit Jahren versuche ich bei Schülern aller Schularten, den feinsinnigen und experimentierfreudigen Umgang mit Sprache zu fördern, und nehme deshalb die jungen Menschen beim Wort.-[…] Deshalb wäre mein Vorschlag, die Sprache jedes Einzelnen im Deutschunterricht mit einfachen Übungen und Methoden nicht ‚abzurufen’, sondern zu erkunden: Vom w: ort in den Satz. Vom Satz in die Verdichtung. Aus der Verdichtung in den Vers. Vom Vers vielleicht in ein Gedicht. (Oliver 2013: 12 f.) <?page no="16"?> 16 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs Im hier Folgenden werden die fachübergreifenden und gesellschaftlichen Dimensionen von José F. A. Olivers eigener Arbeit im Unterricht und seine Anregungen für Lehrkräfte für das lyrische Schreiben dargestellt. Worin bestehen die fachübergreifenden und gesellschaftlichen Dimensionen einer solchen Einübung in das lyrische Schreiben mit der Ausbildung eines vertieften Bewusstseins für Konnotationen und Bedeutungshöfe? Die Erklärung dieses Punktes verlangt, an dieser Stelle ein wenig auszugreifen und dabei auch nochmals auf einige theoretische Fragen zu verweisen. Es geht-- in aller Kürze zusammengefasst-- um das Vermögen, sich in unterschiedlichen Situationen und verschiedenen thematischen Zusammenhängen differenziert auszudrücken, Stellung zu nehmen und zum Beispiel in Argumentationen seinen Standpunkt deutlich zu machen, ohne sich durch rhetorische Winkelzüge des Gegenübers irritieren zu lassen, unter Umständen sich auch öffentlich zu äußern und gegebenenfalls an gesellschaftlich relevanten Diskursen zu beteiligen. Mit anderen Worten: eine ausgesprochene Dialogfähigkeit auszubilden. All dies erfordert ein entwickeltes Bewusstsein für semantische „Feinarbeit“, das heißt für Konnotationen und Bedeutungshöfe. Man spricht unter anderem in der Diskursanalyse und Diskurslinguistik in diesem Zusammenhang auch von „Deutungshoheit“ (vgl. hierzu zum Beispiel Spitzmüller / Warnke 2011; Kuße 2012). Darunter versteht man das erfolgreiche Besetzen von Semantiken. Auch der sowohl soziologisch als auch kommunikationswissenschaftlich bestimmte Begriff der „Macht“ ist in diesem Zusammenhang sehr präsent- - so spricht man auch von „Kommunikationsmacht“ (Reichertz 2009). Besonders anschauliche Beispiele findet man dafür im Zusammenhang von Translationen, seien es Übersetzungen oder gedolmetschte Texte: die Entscheidung etwa, die baskische ETA entweder als „Befreiungsorganisation“ oder als „Unabhängigkeitsorganisation“ oder als „Terrororganisation“ zu bezeichnen, geht mit dem einher, was man als Ausübung von „Deutungshoheit“ bezeichnet (vgl. Valdeón 2007). Es kommt mit anderen Worten darauf an, in alltäglichen und anderen Situationen, in Zweiergesprächen (in der Soziologie als Mikro-Ebene bezeichnet) oder auch in Unterrichtsgesprächen (die der soziologischen Meso-Ebene angehören) ▶ solche Deutungshoheiten zu erkennen und benennen, ▶ sich gegebenenfalls mittels semantischer Differenzierung dagegen wehren zu können und ▶ eigene Positionen zu vertreten. Konkret erfolgt dies in kommunikativen Prozessen. Einseitiger „semantischer Bedeutungshoheit“, das heißt, einseitiger Weltdeutungshoheit soll entgegengewirkt werden durch kommunikative Arbeit im Sinn dessen, was als „Aushandlung von Bedeutungen“ bezeichnet wird. Dies ist auch die Basis kommunikationstheoretisch und interkulturell anspruchsvoll fundierter Modelle des Dialogs der Kulturen. Kaum jemals werden dabei reine Informationen „verschoben“; auch wenn geläufige Kommunikationsmodelle dieser Auffassung dadurch Vorschub leisten, dass sie in technizistischem Duktus von Sendern und Empfängern, Kanälen und Störquellen etc. sprechen. Vielmehr handelt es sich um Bemühungen darum, sich verständlich <?page no="17"?> 17 Didaktik des Dialogs: Einführung zu machen, zu angemessenen Deutungen zu gelangen, sich durch Rückfragen zu vergewissern, mittels Paraphrasen das bereits Gesagte in anderer Formulierung des gemeinten beziehungsweise aufgefassten Inhalts erneut begreiflich zu machen und dergleichen mehr. Den hier skizzierten Grundlagen der interkulturellen Kommunikation, des Transdifferenzansatzes und der Didaktik des Dialogs sind der vorliegende Band und die folgenden Bände der Reihe verpflichtet. 1 Die Didaktik speist sich zudem aus den Konzepten und Erfahrungen vieler Chamisso-Autorinnen und -Autoren in Schulwerkstätten, Meisterklassen und Workshops. Die Eignung von Spracharbeit unter Anleitung von literarischen Autorinnen und Autoren im Deutschunterricht wird hier hinsichtlich ihrer spezifischen sprachlichen Merkmale aufgezeigt. Die entsprechende Kompetenzförderung im Deutschunterricht ist Grundlage für ein methodisch und theoretisch anspruchsvolles Verständnis interkultureller Kommunikations- und Dialogfähigkeit, die sich auch in schwierigen Situationen mit Konfliktpotential bewährt. Die didaktisch orientierte Arbeit schließt eng an die gezielte Förderung des Bewusstseins für semantische Differenzierungen an, das insbesondere von José F. A. Oliver akzentuiert wird. Formen sprachlicher Verfremdung sind dabei besonders geeignet, den Umgang mit semantischer Differenzierung zu schulen, indem ein ‚Denken wie üblich’ hinterfragt wird 1 Diese Didaktik hat Parallelen mit der Interkulturellen Sprachdidaktik (Roche 2001), wenn diese auch noch stärker den Begriffen und Verfahren der interkulturellen Hermeneutik verpflichtet ist, und der skeptischen Hermeneutik von Hans Hunfeld (200, Roche 2013). Anders als es Lehrpläne oft vorsehen, weist der Ansatz der skeptischen Hermeneutik alle Versuche zurück, Fremdheit zu verharmlosen, zu verwaschen oder auflösbar zu machen. Hunfeld bezeichnet diese Einstellung der Interkulturellen Hermeneutik als „optimistische Verstehenslehre“ (Hunfeld 200: 87). Er plädiert dagegen für ein Konzept der Affirmation und des Erhalts (der Normalität) des Fremden. Die Schwierigkeiten des Fremd-Verstehens führt Hunfeld unter anderem auf historische und weiter in die Gegenwart wirkende gesellschaftliche und bildungspolitische Tendenzen zurück. Zu diesen Tendenzen, die das Fremdverstehen erschweren, gehören nach Hunfeld 200 die folgenden: ▶ die Inbesitznahme des Fremden aus der eigenen Interessensperspektive ▶ die Neigung, Fremdes in die je eigenen Verstehensbegriffe überzuführen ▶ die Fiktion, das Fremde vom Eigenen her abzubilden ▶ die Befangenheit im a priori als richtig verstandenen Urteil über den Anderen ▶ die Eingeschränktheit in der eigenen Wahrnehmung ▶ die Unfähigkeit, das Andere als Anderes gelten zu lassen ▶ das autoritäre Sprechen mit dem Fremden, das zu seiner Verstummung führt. Die Skeptische Hermeneutik betont dagegen die nicht auflösbare Begrenztheit des Verstehens. Verstehen erfordert demnach eine mühsame Verstehensübung, die diese Begrenztheit beachtet, denn das Nichtverstehen ist konstitutiver Bestandteil jeder Anstrengung des Verstehens (Hunfeld 200: 5). Der Fokus der Skeptischen Hermeneutik auf die Wahrung des Rechts und die Betonung der Notwendigkeit von Differenz und Dissens decken sich damit mit dem bereits skizzierten Transdifferenzansatz. Die Skeptische Hermeneutik versteht sich wie die Interkulturelle Sprachdidaktik als Grundlage einer neuen Sprach- und Literaturdidaktik mit der Forderung, Fremdheit als Lernimpuls aktiv nutzen, statt sie auflösen zu wollen. Ein anderes Verständnis von Verstehen führt nicht wirklich zu einer Anerkennung der Andersartigkeit. Will man diesen Ansatz im Fremdsprachenunterricht produktiv umsetzen, genügt es folglich nicht mehr, in der Landeskunde fixierte Normen für das richtige Verstehen der fremden Kultur vorzugeben, nachzustellen oder zu deuten, schon gar nicht mittels autostereotyper Vorgaben. <?page no="18"?> 18 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs und eindimensionale Sprachformen aufgebrochen werden. Auf diese Weise kann ein Beitrag zur Befähigung zum multiperspektivischen Denken geleistet werden, das ein ‚Durchspielen von Optionen’ erlaubt und somit reflektierte Haltungen fördert, die differenziert geäußert und vertreten werden können. Solche Formen der Spracharbeit können-- auch fachlich institutionalisiert-- in der internationalen Germanistik und dem Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache fruchtbar gemacht werden. Sowohl die persönliche Präsenz der Autorinnen und Autoren im Deutschunterricht als auch die entsprechenden in diesem Band erstmals vorgelegten Arbeitsmaterialien erlauben die sinnvolle und gezielte Einbindung dieser Literatur in den Unterricht. Dabei geht es über Sprechanlässe hinaus um ein umfassenderes Verständnis von Literatur und ihres kulturvermittelnden Potentials. Das können interkulturelle Literatur und Texte der Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträger in besonderer Weise leisten, unter anderem weil hier ein spezifisches poetisches Programm wichtig ist, in dem die Sprache mit Aspekten wie der Schaffung von „Bedeutungshöfen“ kontinuierlich fortentwickelt wird. 4. Wie verhält sich die Didaktik des Dialogs zu bildungspolitischen Zielsetzungen? Zur Reichweite des Dialogprinzips Der hier verfolgte Ansatz ist verbunden mit den Zielsetzungen der Interkulturellen Bildungsforschung-- die damit zugleich auch fortentwickelt werden, indem Komponenten der Mehrsprachigkeitsforschung, der Kommunikations- und Dialogforschung, der Interkulturellen Literaturwissenschaft mit und in der Spracharbeit verbunden werden. Auf diese Weise kann zugleich möglichen Formen struktureller Benachteiligung im Bildungssystem direkt entgegengewirkt (vgl. Auernheimer 200, Wintersteiner 2007) und der Blick auf die Förderung individueller Talente und Stärken gerichtet werden. Der Transdifferenzansatz bringt mit sich, dass Bildungssysteme von authentischer Multikulturalität und natürlicher Mehrsprachigkeit ausgehen sollten. Interkulturelle Bildung und damit auch Dialogfähigkeit wird oft unter der Annahme behandelt, dass Lerner fremdsprachen- und fremdkulturunerfahren seien, was aber heute so nicht mehr zutrifft (vgl. die demographische Entwicklung zu wachsenden Anteilen von Menschen mit Migrationshintergrund, Globalisierung der Medien). Lerner und Lehrkräfte leben heute zunehmend unter interkulturellen und multikollektiven und daher mehrsprachigen Bedingungen, die allerdings von den Betroffenen wohl der Tendenz nach ebenso oft positiv wie negativ bewertet werden. Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit sollten daher als konstitutive Grundbedingungen der Lehrpläne behandelt werden und auf Einsprachigkeit ausgerichtete Bildungsnormen ablösen. Wenn Vielfalt mit anderen Worten konstitutiv ist für Gesellschaften, dann ist sie in den Bildungssystemen zu berücksichtigen und kann zu einem Motor des Lernens werden. Ausdrücklich ist der Band für mehrere Adressaten konzipiert, namentlich für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler mit ihren Freundinnen und Freunden, Eltern und anderen Bezugspersonen. Damit werden übliche Grenzziehungen des Unterrichts und entsprechende Textsorten der Lehrwerke und Lehrerhandreichungen aufgehoben. Dies bildet sich bewusst auch in der grafischen Gestaltung des vorliegenden Bandes ab. <?page no="19"?> 19 Didaktik des Dialogs: Einführung Dialogfähigkeit kann nicht abstrakt vermittelt werden, ohne sie zugleich zu praktizieren. Es handelt sich daher nicht allein um einen Lerninhalt, sondern auch um eine Lernform, die sich damit selbstverständlich zugleich auf die verschiedenen Kommunikationsdomänen in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen beziehen muss. Das betrifft insbesondere ▶ den Austausch unter Schülerinnen und Schülern im Unterricht und außerhalb des Klassenraums, ▶ das Unterrichtsgespräch zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern, ▶ die Kommunikation außerhalb des Unterrichts zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern, ▶ die Kommunikation zwischen Lehrkraft und Eltern beziehungsweise Bezugspersonen, ▶ die Kommunikation mit den Institutionen (Schulleitungen, Lehrplänen, Bildungsbehörden, Verlagen) und ▶ die Verständigung in der Gesellschaft. Es geht in diesem Buch deswegen darum, zu ergründen, darzustellen und zu praktizieren, wie sich unsere Wahrnehmungen der Welt durch Neues, Anderes und Fremdes ständig verändern und damit zu ständigen Assimilations- und Akkommodationsprozessen des Wissens im Sinn von Jean Piaget führen, in dem auch „alte“ Wissensbestände neben neuen bestehen und mit diesen interagieren können. Eigentlich handelt es sich dabei gar nicht um ungewöhnliche Prozesse, nur werden sie bisher wenig berücksichtigt. Dass wir lernen, zeigt, wie die Prozesse funktionieren. Dass wir alle zumindest in einer Sprache mehrsprachig sind, zeigt, dass wir unterschiedliche Weltsichten und Linguakulturen nebeneinander organisieren können und dass zwischen ihnen Verbindungen bestehen (vgl. Roche 2013). Diese ‚innere Mehrsprachigkeit’ des Menschen (vgl. Wandruszka 1979) ist oft behandelt worden. Sie setzt sich fort und potenziert sich, wenn wir fremde Sprachen und ihre dialektalen, diastratischen, diachronen und andere Varietäten lernen. In den folgenden Kapiteln und den weiteren Bänden sind also Texte versammelt, die diese Mehrsprachigkeit in besonderer Weise, manchmal auch auf biografische Ursachen zurückführend, thematisieren, ausdrücken und damit zur Verständigung, zum Dialog, darüber einladen. 5. Regieanweisung in eine mögliche Anwendung Schreiben--Lesen-- Lernen-- Lehren. Dieses Lese-Buch ist ein Lern-Buch ist ein Lese-Buch. Denken Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, an die berühmten Zeilen von Gertrude Stein: A rose is a rose is a rose is-… Der Vers könnte mit seinem so eigenen Wortrhythmus ins Unendliche fortgesagt werden. Auf diese Art und Weise darf dieses Buch gehandhabt werden: Ein Buch und Ihr Lesen, Ihre Textarbeit auf Entdeckungsreise. Identitäten-- Dialoge im Deutschunterricht soll zur Lektüre und ins Experimentieren anregen. Eine unorthodoxe Symbiose aus Lesen und Schreiben, die konkret wird. Auch dort, wo es keine direkt vorformulierten Schreibaufgaben gibt, die Sie in Ihre Arbeits- oder Tätigkeits- <?page no="20"?> 20 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs bereiche übersetzen können. Mögen Ihnen dabei die Essays weitere Aspekte einer hoffentlich inspirierenden Wahrnehmung eröffnen. Es hat etwas im besten Sinne des Wortes Anarchisches, sich auf die Freiheiten dieser Veröffentlichung einzulassen, die den Regeln literarischen Schreibens folgt. Aus der jeweiligen Schreiberfahrung heraus entstehen Schreibaufgaben, die gleichzeitig auch immer reflektiert werden. Das ist eine Chance, Literatur über die Texte von Autorinnen und Autoren kennenzulernen, die sich allesamt mit der Vermittlung ihrer Werke-- nicht zuletzt an Schulen-- auseinandersetzen. Deshalb finden sich auch immer wieder eingestreute Nachdenksätze und didaktische wie methodische Überlegungen, denen ein eigenes Schreibleben und Leben als Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu Grunde liegt. Gestalten Sie aus den zusammenhängenden Fragmenten dieses Buches eine Landkarte des Lesens, des Lehrens und des gemeinsamen Lernens, indem das Wagnis eigenen Schreibens Motiv und Ziel in einem wird. 6. Literatur Allolio-Näcke, Lars / Kalscheuer, Britta (2005), Wege der Transdifferenz. In: Lars Allolio-Näcke / Britta Kalscheuer / Arne Manzeschke (Hrsg.), 15-25. Allolio-Näcke, Lars / Kalscheuer, Britta / Manzeschke, Arne (Hrsg.) (2005), Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt am Main / New York: Campus. Annan, Kofi A. (Hrsg.) (2001), Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen. Frankfurt am Main: S. Fischer. Auernheimer, Georg (200), Interkulturelle Bildung als politische Bildung. In: Hamid Reza Yousefi / Klaus Fischer (Hrsg.), Interkulturelle Orientierung. Grundlegung des Toleranz-Dialogs, Teil II : Angewandte Interkulturalität. Nordhausen: Traugott Bautz, 383-389. Bhabha, Homi K. (199), The Location of Culture. London / New York: Routledge. Breinig, Helmbrecht / Lösch, Klaus (2002), Introduction. Difference and Transdifference. In: Helmbrecht Breinig / Jürgen Gebhard / Klaus Lösch (Hrsg.), Multiculturalism in Contemporary Societies Perspectives on Difference and Transdifference. 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Meyer, Martin F. (2006), Zur Geschichte des Dialogs. Philosophische Positionen von Sokrates bis Habermas. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. <?page no="21"?> 21 Didaktik des Dialogs: Einführung Oliver, José F. A. (2013), Lyrisches Schreiben im Unterricht. Vom Wort in die Verdichtung (1. Aufl.). Seelze: Klett / Kallmeyer. Onuki, Atsuko / Pekar, Thomas (2006), Einführung. In: Atsuko Onuki / Thomas Pekar (Hrsg.), Figuration-- Defiguration. Beiträge zur transkulturellen Forschung. München: Iudicium, 7-13. Ortiz, Fernando (197), Cuban counterpoint. Tobacco and sugar. New York: Knopf. Reichertz, Jo (2009), Kommunikationsmacht. Was ist Kommunikation und was vermag sie? Und weshalb vermag sie das? Wiesbaden: VS Verlag. Roche, Jörg (2001), Interkulturelle Sprachdidaktik. Eine Einführung. Tübingen: Narr. Roche, Jörg (2013), Mehrsprachigkeitstheorie. Erwerb-- Kognition-- Transkulturation-- Ökologie. Tübingen: Narr. Schiewer, Gesine L. 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Ihnen fehlt nur noch eine letzte Nummer, ein Schlager, ein Lied, das um die Welt gehen könnte. Die meisten Projekte zerschellen an den Herkulessäulen des Anfangs. Bevor der erste Satz, die erste Skizze, der erste Entwurf hingekritzelt worden ist, thront eine Neontafel mit dem Spruch QUO VADIS über allen Absichten. Kaum ist der Anfang gemacht, schon nach dem ersten Augenaufschlagen der Geschichte, spürt man ihren Wellengang. Hinter den entzifferbaren Wellen erscheint der Ozean endlos und ewiggleich. Genau das verunsichert uns. Der Komponist hat sich in den Librettisten verliebt. Er bildet sich ein, seine Frau ahne nichts davon. Sie haben bislang eine glückliche Weltreise verlebt. Auf dem Kreuzfahrtschiff toben sich Sehnsüchte aus. Er hat sich in die zartgliedrigen Finger verliebt. Der Librettist verfasst immerfort Entwürfe. Sein Füllfederhalter streicht mit grüner Tinte über das Papier. Wenn sie zu dritt im Salon sitzen, drängt es den Komponisten, den Librettisten zum Tanz einzuladen. Der Beginn ist die Hälfte des Ganzen. Pythagoras paukte diesen Sinnspruch seinen Schülern ein. Aristoteles wiederholte die Weisheit. Platon suchte sie zu variieren: Der Beginn ist der wichtigste Teil der Arbeit. Horaz schliff den Edelstein um: Wer beginnt, der hat schon halbvollendet. Dichter und Denker sind sich über Epochen hinweg einig, unabhängig von ihrer Weltanschauung: Aller Anfang ist schwer, aber hat man ihn vollbracht, ist der Rest reine Beharrlichkeit. Allein Geheimrat Goethe opponierte: Aller Anfang ist leicht und die letzten Stufen werden am seltensten erstiegen. Mit dem Anfang haben wir uns festgelegt (und damit dem Scheitern Tür und Tor geöffnet), der Verdacht nagt an uns, ob diese Entscheidung die richtige war. Wäre ein Tag früher nicht der bessere Einstieg gewesen? In der Kajüte statt auf dem Außendeck? Ist die Liebe zwischen ihm und ihr wirklich schon erloschen? Fliegen <?page no="24"?> 24 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs Sturmvögel vorbei oder ein einzelner Albatros? Wer seinen eigenen Beginn übermäßig unter die Lupe nimmt, verunsichert sich heillos. Wir müssen losgehen, müssen abbiegen, umdrehen, aufsteigen und hinabrutschen, und doch sehnen wir uns bei jeder Entscheidung nach der Freiheit der unbeschränkten Wahl. Die Erregung ist spürbar. Wellen walzen heran, alles Wasser ist in Bewegung. Die Gischt spritzt hoch, bis zur Brücke hinauf. Das Schiff fällt in tiefe Täler, richtet sich ächzend auf. Fall um Fall. Auf dem rutschigen Außendeck stehen zwei einsame Gestalten. Der eine ist der Librettist, der andere der Komponist. Sie berühren sich an Schultern und Hüften, der schneidende Wind rechtfertigt es. Der Komponist hat seine Hände in den Seitentaschen seiner Felljacke vergraben. Wie wäre es hiermit, sagt der Librettist und drückt ihm eine beschriftete Serviette in die Hand. „Weit ist der Weg nach Montevideo niemals hätt’ ich dort Halt gemacht, wenn nicht ein Mädchen in Rio, oder war’s in Santiago, mir zum Lohne einen zweiten Kuss versprochen hätt’.“ Das Schiff stürzt in die nächste Tiefe und arbeitet sich mühsam wieder empor. Der Komponist zündet sich eine Zigarette an und wirft das erloschene Streichholz weg. Ein Satz geht ihm durch den Kopf, den er nicht zuordnen kann: In jedem Anfang liegt die Ewigkeit. Er spricht ihn aus, zweimal, um sich gegen den Wind verständlich zu machen. Das ist alles, was wir tun können, erwidert der Librettist, immer wieder von Neuem anfangen, immer und immer wieder. Die ersten Blutspritzer auf der Leinwand. Das klingt nicht nach viel und ist doch beachtlich, denn wir könnten auch schweigen. Das Verstummen wird gemeinhin als das größte Scheitern eines Schriftstellers angesehen („er hat nur diesen einen Roman verfasst“; „nach diesem Meisterwerk hatte er sein Pulver verschossen“). Anders betrachtet könnte das Schweigen als höchste Ebene einer geistigen Entwicklung gelten. Als Weisheitsakt. Der Autor hat das Recht, würdevoll zu verstummen, ohne dass ihm dies einen negativen Eintrag ins Zeugnis einbringt. Anders gesagt: Hölderlin und Rimbaud haben sich von den prometheischen Fesseln ins Schweigen befreit. Und dafür (zumindest im Falle Hölderlins) mit dem Verstand bezahlt. Trotzdem, seitdem müssen wir beim Schreiben immer wieder die Alternative des Verzichts mitdenken. Am nächsten Abend stellt der Bandleader den Passagieren einen unbekannten Tanz vor, einen  / -Takt, der schwingt, aber nicht hechelt. Der Fagottist führt den Tanz vor, mit der Sängerin des Orchesters. Das Publikum applaudiert, als wäre das Pferd, auf das sie alle gesetzt haben, soeben als Sieger durchs Ziel gelaufen. Dieser Tanz stammt von den Kleinen Antillen, erklärt der Bandleader. Stellen Sie sich vor, Afrika wirbelt mit Frankreich über die Tanzfläche. Ein großer Hit in Paris, neulich, bei der Kolonialausstellung.-- Und der Name, woher kommt dieser merkwürdige Name, fragt der Komponist in Tischlautstärke. Aus dem Französischen, s’ embéguiner, antwortet der Librettist. Was das wohl bedeuten mag? -- Flirten, um jemanden werben.- - Mein Lieber, der Komponist legt seine Hand augenfällig auf die elegante Hand <?page no="25"?> 25 FAILURE IS NOT AN OPTION des Librettisten, Du bist so umwerfend bewandert.- - Und nun, ruft der Bandleader aus, beginnen wir den Beguine.-- Ich glaube, ich bin entflammt, sagt der Komponist, ohne seine Hand zurückzuziehen, für diesen Beguine.- - Und ich fürchte, sagt der Librettist, seinen Stuhl zurückschiebend, dass du den Text zu diesem Lied leider selbst schreiben musst. Das Orchester spielt einen zweiten Beguine, als sich die Ehefrau des Komponisten über den Tisch beugt: Es wäre mir lieber, ich wäre nicht anwesend, wenn du dich verliebst. Wovon handelt alle Literatur, wenn nicht vom Scheitern? Erlebtes, Erfahrenes, beobachtetes Scheitern lässt einen zur Feder greifen. Was bedeutet es für einen Autor, für die Literatur, dass er beim Abbilden von Scheitern zu scheitern fürchten muss-- was ist das für eine Achterbahnfahrt von Einbrüchen und Ermutigungen, von Ekstasen und Untergängen? Das Scheitern auf dem Papier und das Scheitern im Leben-- viele verworrene und verwirrende Zusammenhänge. Irgendwann steht etwas auf dem Papier, man glaubt sich am Ende, und doch ist dies nur ein Anfang unter vielen weiteren Anfängen: Premieren, Uraufführungen, Vernissagen; die ersten Zuhörer, die ersten Leser, die ersten Kritiker; der erste Wettbewerb, das erste Mal im Fernsehen, die erste öffentliche Schelte; der erste Nachdruck, die erste Wiederaufnahme, die erste Übersetzung. Und bei jedem dieser Anfänge gehen die Keime der eigenen Ängste auf, weil man sich unvollständig verstanden oder völlig missverstanden wähnt, und so sehr man das Versäumnis dem Lesenden und Urteilenden in die Schuhe schieben mag, so sehr richtet sich der ehrliche Finger der einsamen Selbstbetrachtung vorwurfsvoll auf einen selbst. Denn seit Anbeginn der Moderne bewohnt der Autor die Grauzone zwischen Allgemeinplatz und Noch-Nie-Gesagtem, und in diesem beworteten Erewhon sind Wetterumschläge gang und gebe. Man muss scheitern, solange man sich einredet, einen Text schreiben zu können, der nicht im Sumpf des beliebigen Verstehens versinkt. Ohne diese Ambition lässt sich aber schwer schreiben. Wenige Wochen später, am Broadway, wird unter Hochdruck geprobt. Der Librettist, zusammengesunken auf einem Sitz in der achten Reihe des leeren Auditoriums, kaut unentwegt Kaugummi; er kommt gegen seine Sorgen nicht an. Er ist um zehn Kilo leichter geworden. Gleich ist die Tanznummer dran. Das Lied, das um die Welt gehen soll. 108 traurig-fröhliche Takte. Es muss in Dur sein, hat ihm der Komponist ungefragt erklärt, trotz des sehnsuchtsvollen Textes. Die Struktur ist komplex-- AA ‘ BA “ CC ‘ mit einer achttaktigen Coda. Die Worte sind gelungen, eine kleine Erzählung aus Licht und Schatten. Doch am besten gefällt dem Librettisten der verblüffende Titel. Allemal besser als der einfallslose Name ihres Musicals: Jubilee. Es kommt, wie er es befürchtet hat: Die Kritiker rümpfen die Nase. Die bebrillte Languste vom TIME Magazine schreibt: „Wenn ‚Jubilee‘ sich abmüht, ohrgefällig zu sein oder gar Lachen herauszukitzeln, vermag es nicht zu überzeugen.“ Diese und andere launige Kritiken leisten dem Komponisten, dem Librettisten und dem Produzenten am Sonntagmorgen Gesellschaft. Du denkst, es sei einfach, aber nichts ist einfach, bemerkt der Produzent, und sie wissen nicht, worauf er sich bezieht. Never matter, sagt der Librettist und zitiert einen irischen Freund: try again, fail again, fail better. Und der Komponist? Er schenkt sich Orangensaft nach. Als hätte er geahnt, dass dreißig Jahre nachdem dieses Lied bei der Premiere sang- und klanglos untergegangen ist, die Amerikanische Gesellschaft der Komponisten, Autoren und <?page no="26"?> 26 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs Verleger Begin the Beguine zu einem der 16 bedeutendsten Songs aller Zeiten wählen wird. Mit über tausend Coverfassungen zählt er zu den meistgespielten Evergreens. Um Scheitern zu beweisen, benötigt man Scheinwerfer, grelle Lichter aus dem Stadion des Gelingens, der eines Tages zu einer Ruine verfallen sein wird, anstelle der einstigen Kategorien nur noch Maulwurfhügel. Das ist eine unangenehme Vorstellung, nicht zuletzt für die Literaturwissenschaftler, weshalb dem Scheitern, obwohl als literarisches Phänomen so zentral, in Sekundärbetrachtungen so wenig Beachtung geschenkt wird. Das Scheitern als immanentes Bestandteil aller Kreativität zu akzeptieren heißt auch, die Dogmen des Zeitgeistes in Frage zu stellen, die Vergänglichkeit des eigenen Urteils anzuerkennen. Dieser Text ist ein Versuch, ein Essay. Wieso lieben Autoren Versuche, auch wenn die meisten Leser sie verschmähen? Weil sie das Abtasten zum erzählerischen Prinzip erheben und die eigene Unsicherheit als Lupe einsetzen; mit anderen Worten, weil sie sich im Flatterlicht des Scheiterns vollziehen. Es gibt kein Gelingen und kein Scheitern, es gibt nur ein Werden. <?page no="27"?> 27 Schüler schreiben in einer Schreibwerkstatt eigene Texte. Eine Betrachtung Schüler schreiben in einer Schreibwerkstatt eigene Texte. Eine Betrachtung Zehra Çirak Zu Beginn der Schreibwerkstätten erzähle ich den Schülern über mich selbst und mein eigenes Schreiben. In den meisten Fällen sind sie zwischen 1 und 16 in dem Alter, in dem ich selbst einmal mit meinen ersten Schreibversuchen anfing. Wenn ich sehr offen über mein Leben und meinen Werdegang als Autorin berichte, sind die Schüler gleich besser zugänglich. Nachdem ich den Schülern einige meiner eigenen Gedichte oder eine sehr kurze Prosa vorlese, können sie sich ein Bild davon machen, wie ich selbst schreibe und vortrage. Da ich über drei Jahrzehnte gemeinsam mit dem Bildenden Künstler Jürgen Walter zusammenarbeitete, wobei Texte zu seinen Objekten und Skulpturen entstanden, zeige ich diese den Schülern in meinen Büchern oder über einen Laptop auf Leinwand. Texte zu Gemälden oder Skulpturen zu schreiben ist eine gute Möglichkeit, die eigene Phantasie zu üben. Die Schüler können sich ein Bild aussuchen und (sich in das Bild hineinversetzend) eine Geschichte schreiben oder ein Gedicht. Etwa zu dem Bild „Die kleine Blonde im Park der Attraktionen“ von Joan Miró oder zu Picassos Portrait-Gemälden könnte ich mir sehr gut vorstellen, dass die unterschiedlichsten und seltsamsten Texte entstehen. Die Fülle der Auswahl aus der Bildenden Kunst ist so groß, dass sicherlich für jeden Geschmack etwas dabei wäre, um dazu einen Text zu verfassen. Beispiele meiner Texte zu Jürgen Walters Kunstobjekten können auf der Homepage www. juergen-walter.com gelesen oder gehört werden. Ich frage die Schüler in der Klasse, ob es einige gibt, die sich schon einmal im Schreiben versucht haben. Oft sind welche dabei, die Gedichte oder eine Geschichte geschrieben haben. Meistens zeigen sie mir später unter vier Augen diese Texte, und ich äußere mich dazu und mache Vorschläge zum Verbessern oder Verfeinern der Sprache. Die Texte, die in der Schreibwerkstatt geschrieben werden, handeln oft vom Alltag in der Familie und in der Schule. Oder von erfundenen Familien und Personen, von Wunschträumen und Phantasiewelten. Sie erstaunten immer wieder in ihrer sehr emotionsreichen Darstellung. Allein die Tatsache, den Schülern das Gefühl zu geben, sie seien in der Schreibwerkstatt nicht nur Schüler, sondern „Autoren“ oder „Dichter“, facht die Kreativität und die Ernsthaftigkeit ihres Schreibens an. <?page no="28"?> 28 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs Die Themen werden gemeinsam gesucht und ausgewählt, an die Tafel geschrieben, und jeder kann wählen, worüber er schreiben will. Glück- - Unglück- - Liebe- - Freundschaft- - Familie und Schule sind die häufigsten Themen, aber auch über Gewalt in der Gesellschaft oder im eigenen Umfeld wird oft geschrieben. Natürlich sind besonders Liebesgeschichten sehr beliebt. Worüber soll geschrieben werden? Das ist immer die erste Frage der Schüler. Der erste Satz ist das Schwierigste für die Meisten. Also biete ich Anfangssätze an. So gebe ich jedem, der es will, einen ersten Satz. Ich schaue mir den Schüler an, stelle ihm einige persönliche Fragen, und dann können die ersten Sätze etwa so lauten: „Von einem Tag auf den anderen war ich ein ganz anderer Mensch“ oder „Ich habe den ersten Preis gewonnen und darf jemanden mitnehmen“ oder „Das geheimnisvolle Paket kam heute an, und ich weiß nicht, von wem es ist und was sich darin befindet; soll ich es öffnen? “ oder „Das Wunder geschah an einem Montag“ oder „Mein Traumberuf “ Unter dem Titel: „Mein Leben in Postkartenformat“ regte ich die Schüler einmal dazu an, aufzuschreiben, wie sie sich ihr künftiges Leben, ihre Zukunft vorstellen. Eine halbe Seite lang. Diese Texte können auf der Rückseite einer Postkarte Platz finden, wobei auf der Vorderseite von den Schülern ausgesuchte Motive wie Fotos, selbst Gemaltes oder Collagen angebracht werden. Besonders interessant sind die Texte der Schüler oft dann, wenn ich ihnen vorschlage, sie mögen sich in den Zustand eines Gegenstandes hineinversetzen und aus dieser Perspektive heraus berichten oder erzählen. Ein Schüler schrieb einen Text, in dem er eine Schultafel war, die sich Luft machte und von den ärgerlichen und unschönen Dingen, die ihr als Tafel geschehen waren, erzählte. Oder eine andere Schülerin, die sich in eine Schildkröte als Haustier versetzte, die über ihre Menschenmitbewohner berichtete. Bei den Schreibwerkstattstunden werden aber auch angefangene oder bereits fertige Texte gegenseitig vorgelesen und Meinungen darüber ausgetauscht. Mir ist es auch sehr wichtig, den Vortrag des Textes zu üben, die Artikulation und Vortragsweisen zu trainieren und mit den Schülern ein sicheres und selbstbewusstes Auftreten zu erarbeiten. Nicht nur für die Schüler mit Migrationshintergrund ist dies eine gute Übung, die deutsche Sprache gut und klar auszusprechen. Sich in selbst geschriebenen Texten anders als auf dem Schulhof oder zu Hause auszudrücken, macht den Schülern sichtlich Freude. Sie spüren, dass es darum geht, etwas gut, anders oder schön zu erzählen. Wobei die Frage der Phantasiefreiheit beim Schreiben oft diskutiert wird. Dichtung und Wahrheit-- häufig der wichtigste Aspekt. Und die Tatsache, dass alles möglich, <?page no="29"?> 29 Schüler schreiben in einer Schreibwerkstatt eigene Texte. Eine Betrachtung fast alles erlaubt ist beim Schreiben und nichts schulisch bewertet oder benotet wird, macht die Schreibenden freier und offener. Selbst das gegenseitige Loben oder Kritisieren ermuntert die Schüler zu Gesprächen und zum Überdenken und Verbessern der eigenen Texte. Die Schüler lernen sich selbst besser kennen; die Möglichkeit des Erfindens im eigenen Kopf wird erkannt. Spannend ist auch das „Ich“ im Text. Offensichtlich ist es Vielen ein Bedürfnis-- und eine bessere Möglichkeit, über die Vorgänge in ihrem Leben oder aus der Phantasie zu berichten--, wenn das „Ich“ nicht als erkennbares Selbst zu identifizieren ist. Dies in den Gesichtern und in den Geschichten der Schüler wieder zu finden ist ein erfreulich überraschendes Erlebnis. Immer wieder gibt es Schüler, die zu zweit oder zu dritt an einem Text schreiben wollen. Manchmal schreibt die ganze Klasse gemeinsam an einer Geschichte. Auch über Gewalt und Unglück in der eigenen Umgebung zu erzählen ist oft ein Anliegen. Das Thema Vorurteile gegenüber Andersartigen, ob kultureller, religiöser oder sexueller Prägung, bewegt die Schüler und eröffnet gerne Diskussionen oder Streitereien in der Klasse. Auch darüber wünsche ich mir Texte von den Schülern. Homosexualität ist leider in vielen Köpfen der Schüler mit großen Vorurteilen und negativen Ansichten geprägt. So ist zum Beispiel nach meinem Vorschlag in einer Schreibwerkstatt eine erstaunlich gute Geschichte entstanden. Sie wurde geschrieben gemeinsam von der ganzen Klasse und handelt davon, dass ein fiktiver neuer Schüler in die Klasse kommt und sich von Anfang an als schwul zu erkennen gibt. Jener Schüler, der die meisten Vorurteile gegen Schwule zu erkennen gab, hat bei der gemeinsamen öffentlichen Lesung dieser Geschichte den Part des Schwulen übernommen. Dieser Gruppentext befindet sich unter dem Titel ‚Der neue Schüler’ in der von der Robert Bosch Stiftung veröffentlichten Reihe über die Schreibwerkstätten im Ruhrgebiet 2013 an der GBR Realschule Dortmund-- Klasse 8e. Das gemeinsame Schreiben und Erzählen über das eigene oder erfundene Leben von Menschen oder Tieren, aus der Realität oder in der Märchenwelt, ermöglicht den Schreibwerkstättlern jedes Mal eine neue Gelegenheit, auch das nicht so einfach Aussprechbare aufzuschreiben und das zu erzählen, was im Innersten verborgen oder verdrängt schlummert. Über Vorurteile oder Tabuthemen zu schreiben scheint ein großes Anliegen bei den Schülern zu sein, was in den häufigen Zwischengesprächen herauszuhören ist. Zu den Aktivitäten während der Schreibwerkstatt gehören auch Partnergespräche, in denen die Schüler zum Beispiel besprechen, warum sie Vorurteile haben und woher diese stammen, von wem sie übernommen wurden und wie die Gesellschaft damit umgeht. Eigene Erlebnisse werden erzählt und in eine Geschichte eingearbeitet. Die Schüler sollen ihre Texte gegenseitig austauschen und lesen und diskutieren. Inhalt und Erzählform werden beurteilt, Grammatik und Aussprache korrigiert. Schüler schreiben in der Regel ihre Texte handschriftlich (wenn möglich, können sie gleich mit dem Computer geschrieben werden). Diese werden später in den Computer getippt. Die fertigen Texte erhalte ich und lektoriere sie und schicke sie zurück an die Schüler. <?page no="30"?> 30 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs Eine Lesung der Texte aus der Schreibwerkstatt in der Schule oder extern, zum Beispiel in einer Bücherei, zu organisieren ist sehr wichtig. Die Schüler haben somit die Gelegenheit, ihre Ergebnisse der Schreibwerkstatt anderen Schülern und den Eltern und Lehrern vorzustellen. Die Möglichkeit, literarisches Schreiben in den Schulen zu realisieren, findet bei den Schülern große Aufmerksamkeit, Begeisterung und Dankbarkeit. Weil sie wissen, es ist ein wunderbarer Ausnahmezustand, der leider nur selten vorkommt und nicht jedem vergönnt ist. Eigenes Schreiben und das auch dadurch erweckte Interesse am Lesen von Büchern ist sichtlich ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung der Schüler. Wortbilder Unzählige Möglichkeiten und Varianten des Zusammenspieles verschiedener Kunstrichtungen haben uns bisher allzeit und weltweit wunderbare Ergebnisse erleben, genießen und bestaunen lassen. Literatur und Bildende Kunst Es war ein glückliches Schicksal, dass ich Anfang der achtziger Jahre als junge Frau und Autorin mit einem Bildenden Künstler zusammenkam. Natürlich lag es da nahe, nicht nur die Liebe und das Leben miteinander zu teilen und zu verbinden, sondern auch in unseren künstlerischen Arbeiten gemeinsam zu wirken und diese Arbeiten miteinander zu präsentieren. Wir waren schon ein besonderes Paar. Nicht nur, dass wir aus unterschiedlichen Generationen stammten, 20 Jahre Altersunterschied lagen zwischen uns, auch kamen wir aus verschiedenen Kulturkreisen und trugen die Prägungen unserer Herkünfte mit uns. 1960 in Istanbul geboren, mit drei Jahren nach Deutschland gekommen, wuchs ich selbst in zwei Kulturen auf. Doch hatte ich mich schon seit Beginn meines Schreibens für die deutsche Sprache entschieden. Jürgen Walter, 190 in Frankfurt am Main geboren, war ein Kriegskind und geprägt von der Nachkriegszeit. All dies hatten wir in unserem glücklich gefüllten gemeinsamen Lebenskoffer. Eine lange, aufregende und wunderbare Lebensreise hatte begonnen. Neben unserer großen Liebe zueinander war die gemeinsame Arbeit in der Kunst uns immer ein starkes verbindendes Band. Über dreißig Jahre lang habe ich Texte zu Bildern und Skulpturen von Jürgen Walter geschrieben. Gedichte und Prosaminiaturen. Das fertige Objekt betrachtend, habe ich mir ein eigenes Bild zum Thema oder zum Inhalt des Kunstwerkes gemacht. So dachte ich mir eine Geschichte dazu aus, ein Gedicht oder eine Art WORTBILD entstand dazu. Das Bild oder die Skulptur für sich betrachtend erzählte etwas Eigenes. Der Text dazu war alleine gelesen ebenfalls eine eigene Geschichte. Doch beides zusammengetan erschuf eine neue, nochmals ganz besondere andere Welt. <?page no="31"?> 31 Schüler schreiben in einer Schreibwerkstatt eigene Texte. Eine Betrachtung Sich in ein Bild zu vertiefen und hinein zu geraten, um darin mitzuspielen oder in der Phantasie und gedanklich um es herum zu spazieren. Geistig darin herumzuwühlen und etwas ausgraben, was gar nicht vordergründig zu sehen ist. Das ist eine ganz andere Art, sich der Bildenden Kunst anzunähern: eine Weile darin mitzuleben. Dem Bild eine eigene Geschichte zu geben. Einen Text zu schreiben. Diese wertvolle und schöne Erfahrung möchte ich in Schreibwerkstätten an den Schulen weitergeben. Die Schüler können mit diesem anderen Zugang zur internationalen Bildenden Kunst und mit ihren Schreibversuchen dazu ein Experiment begehen. Sie haben somit die Möglichkeit, mit ihren aus der eigenen Phantasie heraus in eigene Worte gepackten Texten sich selbst als Autor zu erfahren. Die Schüler erhalten und verwenden für die Schreibwerkstattarbeit entweder vom Lehrer ausgesuchte Postkarten oder aus dem Internet selbst herausgesuchte und ausgedruckte Abbildungen von Malern oder Bildhauern aus möglichst unterschiedlichen Zeiten und mit verschiedenen Stilrichtungen. Diese Motive sollen die Phantasie anregen, um eine Geschichte dazu zu erfinden oder ein Gedicht zu schreiben. Der Text darf eine, aber sollte keine pure Bildbeschreibung sein. Das Bild dient als Tür und Fensteröffner in die eigene Phantasiewelt. Die Schüler können auch in kleinen Zweier- oder Dreiergruppen gemeinsam an einem Text arbeiten. 1. Stunde: Auswahl der Bildmotive Beispiel 1: Abbildung des Gemäldes von Edward Hopper mit dem Titel „Morning sun“ von 1952. Das Bild betrachten Zu sehen ist die Seitenansicht einer Frau. Sie sitzt auf einem Bett vor einem großen Fenster. Draußen ist ein Teil des letzten Stockwerkes und des Daches eines ziegelroten Gebäudes und blauer Himmel zu sehen. Das Bild zeigt einen Ausschnitt eines kargen Raumes. Schlafzimmer, Hotelzimmer? Viel Licht viel Schatten. Die Frau schaut traurig, nachdenklich hinaus. Sie sitzt, ihre Arme um die aufgesetzten Beine geschlungen, mitten im Sonnenlicht. Sie trägt ein ärmelloses leichtes rosa Kleid oder Nachthemd. Das strahlend weiße glatt bezogene Bett, das Kissen und die Frisur der Frau sehen nicht so aus, als hätte sie darauf geschlafen. Überwiegend Pastelltöne. Wir dürfen phantasieren Was könnte geschehen sein? Was hat diese Frau gerade gemacht, bevor sie sich auf das Bett in die Morgensonne setzte? Was denkt sie gerade? Was hat sie erlebt? Etwas Trauriges wie eine Trennung? Oder ist sie nur noch nicht müde von einer langen erlebnisreichen Nacht? Kam sie gerade von einer Nachtschicht nach Hause? Wartet sie auf jemanden? Oder hat sie soeben jemanden weggeschickt? Sitzt sie etwa verzweifelt schlaflos in einem Hotelzimmer? So viel kann geschehen sein, vielleicht ist es aber auch nur ein sonniger Morgen und sie hat für sich eine wichtige Entscheidung getroffen. Alle möglichen Situationen dürfen durchgedacht, durchgespielt und geschrieben werden. <?page no="32"?> 32 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs Beispiel 1 Ein Gedicht von Zehra Çirak zum Bild: „Morning sun“ von Edward Hopper Entscheidung in der Morgensonne Mit diesem neuen grellen Tag will mir ein helleres Leben beginnen zuerst lass ich scheinen die Sonne auf mein Morgengesicht damit sie das wegflutet was mich so düster gemacht damit sie aufbricht worin ich mich verschlossen von meinen Füßen bis in mein Haar werde ich mit der Sonnenkraft bestärkt auf diesem Bette Wache sitzen damit der Mut mich nicht verlässt den ich doch gerade erst gefunden Heute noch werde ich mich trennen von diesem unheilvollen Mann mit seinen blendenden Lügen traurig daran ist nur ich hatte ihm vertraut so wie der Sonne jetzt blank und hell und wie fast blind Ein Prosatext zu diesem Bild könnte etwa so anfangen: Glückliche Entscheidung Endlich hatte sie die Nacht hinter sich, sie war glücklich und unglaublich erschöpft. Ihre Beine und ihr Rücken schmerzten zwar ein wenig, doch sie hatte die schwierige Tanzprobe im Theater gut vorbereitet und mit Erfolg bestanden. Unglaublich, sie hatte sofort ein Engagement vom Direktor angeboten bekommen. Danach feierte sie die ganze Nacht mit ihren Freunden dieses Ereignis, und sie konnte danach nicht einschlafen, hier in diesem Hotelzimmer in der Stadt, in der sie nun ab jetzt ihr Leben neu gestalten wird. Sie schaut erleichtert in die Morgensonne und freut sich über diese glückliche Entscheidung. Wie könnte der Text weitergehen, oder ganz anders geschrieben sein? ▶ Die Schüler könnten ihre Ideen austauschen und sich miteinander beraten. In den weiteren Schreibwerkstattstunden sollen die Texte geschrieben und gegenseitig vorgelesen werden. ▶ Gegenseitige Kritik und Verbesserungsvorschläge können erfolgen. ▶ Die Texte werden auf Schreibfehler und bessere Wortwahl durchgeschaut. ▶ Die Schüler müssen die fertigen Textarbeiten zu Hause oder in der Schule am PC abschreiben und ausdrucken. ▶ Die Schüler üben sich im Vortrag ihrer eigenen Texte oder auch im Austausch, indem sie Texte von anderen Schülern vortragen. <?page no="33"?> 33 Schüler schreiben in einer Schreibwerkstatt eigene Texte. Eine Betrachtung ▶ Die korrigierten fertigen Texte sollten mit den dazugehörigen Abbildungen der Bildmotive, zu denen der Text entstand, an die Wände des Klassenzimmers angebracht werden. Eine Mappe aller Texte und Bilder könnte angebracht werden, auch die Veröffentlichung in der Schülerzeitung wäre eine Möglichkeit der Präsentation. Beispiel 2 Ein Gedicht von Zehra Çirak zu einer Skulptur von Jürgen Walter (Schlafwandler 1993) Foto: Jürgen Walter Fremde Flügel auf eigener Schulter Du bist Rechtshänder ich bin Linkshändin wie selbstverständlich träumen wir vom Fliegen du hast einen Flügel auf deiner linken Schulter und ich natürlich einen auf meiner rechten so beim gemeinsamen Schwingen wünschen wir Schulter an Schulter verwachsen abzuheben <?page no="34"?> 34 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs Auf festem Boden hier sind wir schon lange uns einig aber wehe in den Lüften dort könnten wir uns zerreißen also halten wir verlässlich die Hände meine linke in deiner rechten und kratzen uns allabendlich gegenseitig die juckenden Schulterblätter <?page no="35"?> 35 Wort-Teppich, Ge: schichten Wort-Teppich, Ge: schichten Kurzbericht aus einer Schreibwerkstatt mit Flüchtlingen in Stuttgart José F.A. Oliver 1. Die Vorgeschichte(n) „Roma-problem-- viel, viel, viel! “, sagt einer der acht Teilnehmerinnen und Teilnehmer, hält inne und-- wiederholt ein viertes Mal, beiläufig schier und doch von weit hergeholt, als müsste er es nicht nur mir, sondern auch sich selber mit dem Nachdruck derjenigen beschwören, denen man nicht glaubt: „viel“. Dann ist Schweigen. Und dann ist dem Gesagten nichts mehr hinzuzufügen. Oder doch? Vielleicht noch dieser Satz: „Was ich vermisse“, sagt er, „ich fühle mich wie ein Bettler. Mein Land, wo ist mein Land? “ Dann ist wieder Schweigen. Ein Drama. Es ist bekannt, was nicht nur im Augenblick passiert, sondern was seit Generationen die Tragödie eines ganzen Volkes bedeutet: Ausgrenzung, (historisches) Nicht-Willkommen-Sein. Als ich im Spätherbst 201 meine Zusage gegeben hatte, mit Flüchtlingen, die in Stuttgart „gestrandet“ waren, eine Schreibwerkstatt durchzuführen, war mir von vornherein eines klar: Ich würde mich auf ein folgenreiches Abenteuer einlassen. Menschlich und sprachlich. Menschlich, weil mir als Andalusier, der ich auch bin und dessen Familie von der südostspanischen Costa del Sol herstammt, el Mediterráneo, das Mittelmeer, nicht mehr geheuer ist. Das Meer meiner Kindheit existiert nicht mehr. Genauer gesagt, seit das mare nostrum, „unser Meer“, erneut zu einem verhängnisvollen Massengrab geworden ist, zum „Grauen des Ertrinkens“, zur „Agonie der schwarzen Einsamkeit der Fluten“, wie der Schriftsteller Mathias Énard in seinem Roman Straße der Diebe schreibt. Von der „Costa del Sol“ ist wenig geblieben. Man müsste sie umtaufen in die „Costa del Sol Negro.“ Sprachlich deshalb, weil ich wusste, dass das Unterfangen Mehrsprachigkeit verlangte angesichts der unterschiedlichen Kulturregionen, die sich in den Räumen des „Hauses der Kirche“ in Stuttgart zu dieser Werkstatt treffen würden. Dem war ich gewachsen, auch das wusste ich. Zumindest was die Standard-Kommunikationssprachen in unseren Breitengraden angeht: Englisch, Spanisch, Französisch und natürlich Deutsch-- ein wenig Italienisch, ein paar Brocken Arabisch. Ich hoffte dennoch auf Quer-, wenn nicht gar Hilfsverbindungen, denn eine übliche mitteleuropäische Fremdsprachenbildung würde nicht ausreichen, den Herausforderungen entgegenzukommen. Ich hoffte also auf den Algerier, der auch Französisch sprach; auf den Inder, der Hindi als Muttersprache hätte, nicht ein Angehöriger der anderen 100 Sprachen Indiens wäre und sich auch auf Englisch verständigen könnte; auf den Pakistani hoffte ich als Intermediator, falls der Inder doch nicht Englisch-… dann wäre immerhin eine Verständigung möglich aus dem Urdu ins Hindi und umgekehrt, und dass ich dann aus dem Französischen des Algeriers ins Englische des Pakistani, der dann auf Urdu, und natürlich dazwischen Deutsch für den Kurden, und dass die Männer ihren Frauen übersetzten und sich so oder noch komplexer verwoben Sprache um Sprache ergäbe. Ich stellte mir also vor, dass es <?page no="36"?> 36 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs klappen könnte: Was nicht auf Deutsch möglich wäre, müsste auf Englisch oder Französisch „funktionieren“, von letzterem aus dann die Brücke ins Arabische, von dort über das Französische wieder ins Englische, Urdu, Romanes, usw.-- und, wenn alle verbalen Stricke reißen würden, dann wäre da ja noch die altbewährte Verständigungsmöglichkeit „mit Händen und Füßen“ und / oder mit einer gehörigen Portion Leidenschaft in die Wissbegier, in jener Körper- und Gestensprache, von der meine Mutter immer erzählt hatte, wenn sie aus den Anfängen in Deutschland, aus ihrem Gastarbeiteralltag Anfang der sechziger Jahre sprach-… Wo es in der Dynamik der Werkstatt folglich um Sprache(n) in all ihren Facetten ging, war die Aufmerksamkeit der Beteiligten groß. Denn alle waren involviert und: Man traf sich (irgendwann und irgendwie) im Deutschen. Bildhaft. Konkret. Die Männer sprachen mehr als die Frauen. Auch das war eine Erkenntnis. Dreimal haben wir uns getroffen, um zu sprechen, zu schreiben. Zunächst wurde erzählt. Von sich, von den Gründen der Flucht. Ohne ins Detail zu gehen. Die Details, die genauen Umstände, die die Einzelnen bewogen und gezwungen hatten zu flüchten, sind eine Frage von beidseitigem Vertrauen und der „Offenheit“ desjenigen, der zuhört. Das Vertrauen muss wachsen, die Offenheit will erlernt sein (Vor allem, was die Herkunftskulturen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer betraf). Deshalb entschied ich mich zunächst nicht für die Thematisierung der Lebensumstände ihrer Herkunftswirklichkeiten und die jeweiligen Fluchtgeschichten, über die sie erst später schreiben sollten, sondern wollte etwas aus ihrem Alltag in Deutschland erfahren, ihrem Leben als Flüchtling in ihrem „Flüchtlingsheim“, dem Status der Anerkennung, dem „Wartemodus“ der Geduld, der Befristetheit ihres Aufenthaltes, der Duldung und den Alltäglichkeiten ihres Daseins im fremden Land-… Die Erzählungen ihrer jeweiligen Flucht und der unterschiedlichen Gründe, ihre „Heimaten“ zu verlassen (verlassen zu müssen), würde sich fügen. Irgendwann. Das brauchte Zeit. Wir waren in Stuttgart. Wir waren in Deutschland. Also sollte das Schreiben auch hier beginnen. 2. Die Schreibübung(en) Es sei vorausgeschickt, dass ich zu Beginn der Werkstatt nicht wusste, wie der „Bildungsstand“ der einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer war. Welche Schulen hatten sie besucht? Waren sie in ihrem Ländern Berufen nachgegangen oder hatten sie studiert bzw. waren sie noch Studenten, als sie ihr Land verließen? Aus welcher Bevölkerungsschicht kamen sie und wie sah es überhaupt mit der „Fähigkeit“ aus-- „fähig“ im Sinne einer wie auch immer gearteten Schreibkultur- -, sich schriftlich auszudrücken? Auch hier zunächst Fragen über Fragen, die sich aber im Verlauf der Werkstatt klären sollten. <?page no="37"?> 37 Wort-Teppich, Ge: schichten Erste Schreibübung: Erzählen Eine wesentliche Möglichkeit ins Schreiben zu kommen ist das Erzählen: von sich, vom jeweiligen Zuhause, von den Vorstellungen, den Träumen, vielleicht von der Flucht, dem Leben in Deutschland schließlich, dann wieder (vergleichend) aus dem Land und dessen Kultur und deren Ritualen und Gewohnheiten, die jedEr „mitgebracht“ hat. Dies Mitteilen stellte eine erste, sprachliche Hürde dar: Wie aus dem Lebensalltag aus der Zeit vor der Ankunft in Deutschland berichten? Wie kann ein Hindu beispielsweise seine Gebete beschreiben, die Bedeutung seines Glaubens überhaupt, wenn ihm die Wörter in deutscher Sprache fehlen? Wie ein Moslem, der sich gerne mitteilen würde, ihm aber klar ist, dass jedes Gespräch über seinen Glauben nur eine Annäherung sein kann, weil der Koran (und damit die Gebete für ihn) ausschließlich in arabischer Sprache eine wahre Gültigkeit hat-…? Das Sprechen über das, was war, und das, was ist-- fand dennoch statt und war spannend. Mehrsprachig. Der Algerier, der etwas über eine Liebesbeziehung in Indien erfuhr; ein Rom, der von Schüssen in Pakistan hörte; ein kurdischer „Georgier“, der nickte, wenn ein Berber den Namen Allah erwähnte. Ganz nebenbei wurden auch, so hatte ich den Eindruck, die geografischen Kenntnisse aufgefrischt, wenn nicht gar erweitert. Zweite Schreibübung: Aus dem Erzählen in einen Text Beispieltext 1: Brief an die Mutter Dieser Brief ist an Dich gerichtet, geliebte Mutter. Du fehlst mir, weil ich Dich in dieser Lebensphase nicht sehen kann. Wie geht es Dir, Mutter? Ich hoffe, Du bist gesund. Wie geht es zu Hause? Was machen mein Vater, meine Brüder? Es fehlt mir, bei Euch zu sitzen, mit Euch zu sprechen, gemeinsam zu lachen. Ich schreibe Dir diese Zeilen, weil ich mir vorstellen kann, wie schwer es auch für Dich ist, mich nicht zu sehen. Wenn eine Mutter ihre Kinder nicht sieht, dann wird das Leben wertlos für sie-- das weiß ich. Aber mir geht es gut, Mutter. Beunruhige Dich nicht, ich bin gesund. Der Tag wird kommen, an dem Du mich sehen und mich in Deine Arme schließen und an Deine empfindsame Brust drücken kannst. Dann wirst Du glücklich und stolz auf mich sein. Ich danke Dir für alles, Mutter. 1 Beispieltext 2: Brief über das Leben Das Leben ist schön und birgt viele Unwägbarkeiten. Die guten und die schlechten. Es gibt Erinnerungen, die furchtbar sind, aber auch andere, die glücklich machen. Das Leben ist ein kurzes Wort, aber so lang an Erfahrungen. Es muss immer der Liebe gewidmet sein und schreibt sich in die Arbeit und den Glauben ein. Das macht es so schwer. Aber umso schöner, 1 Auf Arabisch geschrieben, ins Französische übersetzt und aus dem Französischen ins Deutsche übertragen. <?page no="38"?> 38 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs wenn der Mensch es zu meistern weiß, denn das Leben liebt den Menschen, und für den Menschen ist das Leben das größte Bedürfnis. 2 Dritte Schreibübung: Wortspiel und gemeinsamer Text Jeder, der an der Werkstatt teilnahm, durfte sich ein Wort (in deutscher oder der jeweiligen Herkunftssprache) aussuchen und einen Satz dazu bilden. 3 Es entstand ein erster gemeinsamer Text: Ich kämpfe für meine Freiheit. Zusammenbleiben! Om! Ich liebe es, weiterzukommen. Ich will leben. Ich bete. Tolerant sein ist gut. Meine Familie braucht Gottes Hilfe. Nicht ohne meine Familie. Vierte Schreibübung: Texte, die mit den ausgewählten Wörtern oder den Sätzen, die daraus entstanden sind, geschrieben wurden Beispieltext 3: Freiheit Ich brauche Freiheit für alles, was ich schreibe. Ich brauche Freiheit für meine Religion. Ich brauche Freiheit für mein Leben. Ich brauche Freiheit für meine Familie. Ich brauche Freiheit für die Liebe. Ich brauche Freiheit, um sagen zu können, was ich denke. Ich brauche Freiheit, um spazieren gehen zu können ohne Angst. Ich brauche Freiheit, um mit meiner Familie zusammen bleiben zu können. Ich brauche Freiheit, damit ich keine Angst mehr haben muss. Ich werde immer für die Freiheit kämpfen. 2 Auf Arabisch geschrieben, ins Französische übersetzt und aus dem Französischen ins Deutsche übertragen. 3 Hat jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer ein Wort gefunden, wird das Wort „in den Raum entlassen“, indem es reihum laut gesagt wird (Bereits bei dieser Übung wird es schon Einzelne geben, die das Wort doch noch wechseln wollen, weil sie, über das Hören der Wörter der Anderen, auf sich selber zurückgeworfen werden und das von ihnen ausgewählte Wort in einer Art innerem Dialog „überprüfen“. Sie kommen sich durch das Zuhören also selber näher, kommen ihrem Wort in sich selber näher). Allein die Tatsache, dass die TeilnehmerInnen im Kreis stehen, ändert die Perspektive und damit die Sprechhaltung. Das Wort erfährt eine erste Bewegung. <?page no="39"?> 39 Wort-Teppich, Ge: schichten Beispieltext : Beten Ich bete Für einen Gott Ich liebe Religion Ich liebe Gott Ich lese den Koran Ich bete danach erneut Ich lerne Wieder und wieder Ich bin Muslim Beispieltext 5: Zusammenbleiben I love my husband. Wenn wir nicht zusammen sind, ist das Leben nicht gut. Es wäre furchtbar, wenn wir nicht zusammen wären. Beispieltext 6: om  om ist einer der namen gottes om ist die zeit om ist die zeit gottes om ist in dir om ist in jedem vogel, in jedem tier om ist in jedem menschen om ist in deinem herzen schließe die augen und sage om… dann nimmt gott jegliche last von deinem leben und du fühlst dich besser sage dann om… om… om… Beispieltext 7: Ein Ruf an die ganze Welt 5 Ich rufe alle Nationen der Welt auf, die Not der Roma zu hören. Hat sie jemand irgendwann gefragt, was ist das Roma? Wo sind die Roma? Welche Probleme haben sie? Wie leben sie überhaupt? Roma sind in der ganzen Welt verstreut, weil sie ihr Land nicht kennen. Sie haben keine Schule, keinen Präsidenten und und und-- UND : Kein Recht auf ein normales Leben. Sie müssen von Land zu Land ziehen und überall viele Probleme ertragen und erleben. Ihre Kinder sind in vielen Ländern geboren und dennoch müssen sie von einem Land ins andere gehen und so weiter, immer weiter.  Orignaltext auf Englisch und auf Hindi, dann ins Deutsche übertragen. 5 Teilweise auf Deutsch geschrieben, teilweise auf Serbisch, teilweise auf Romani, danach komplett ins Deutsche übertragen. <?page no="40"?> 40 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs Immer wieder. Es ist ein großes Problem, wenn man sein Land verlassen muss, um in einem anderen Land für „kurze“ Zeit zu leben (ohne Geld), um dann wieder in ein weiteres Land zu ziehen, und so weiter und so weiter. Glauben Sie mir, es ist sehr schwer, wenn man sein Haus und ALLES verlassen und in ein anderes Land gehen muss und darum bitten muss, normal leben zu dürfen. Wie ein PROSAJAK . 6 Roma-Leute Probleme sind VIEL , VIEL , VIEL , VIEL , VIEL , VIEL GROSS und ihr Leben ist SEHR , SEHR , SEHR , SEHR SCHWER und sie haben keine Freiheit und keine Perspektive. Ich rufe jetzt die ganze Welt zur Hilfe auf und die Behörden und Beamten zum Verständnis. Fünfte Schreibübung: Tagesabläufe in Deutschland Tagesablauf 1: 08: 5 Ich stehe auf 08: 5-08: 50 Ich trinke Tee 09: 00 Ich gehe arbeiten 1: 00 bis 16: 00 Ich gehe einkaufen 16: 00 Ich bin zu Hause. Das ist alles. Und: Jeden Tag fünfmal beten. Ich bin Muslim. Erstes Gebet: 05: 00 Zweites Gebet: 12: 00 Drittes Gebet: 1: 00 Viertes Gebet: 16: 00 Abendgebet: 18: 00 Ich esse dreimal und abends einmal. Tagesablauf 2: 08: 30 Ich stehe auf 08: 30 Ich gehe duschen 08: 5 bis 09: 15 Ich bete zu meinem Gott 09: 30 bis 12: 30 Ich suche nach einer Arbeit 13: 00 Ich koche zusammen mit meiner Frau 13: 30 Ich bin fertig mit dem Essen 1: 00 bis 15: 00 Ich arbeite in meiner Unterkunft 15: 00 Ich putze die Küchen (3. und 1. Stock) 16: 15 Ich schlafe ein bisschen 16: 30 bis 17: 30 Ich schaue Fernsehen 18: 00 bis 18: 10 Ich bete zu meinem Gott 18: 15 bis 20: 15 Ich lerne Deutsch mit einem Buch und einem Handyprogramm 21: 00 Schlafen 6 Bettler <?page no="41"?> 41 Wort-Teppich, Ge: schichten Tagesablauf 3: 09: 00 Ich stehe auf und nehme ein Bad 10: 00 Ich mache Frühstück 10: 30 Ich höre ein bisschen Musik 11: 30 Ich gehe ein bisschen spazieren und suche Arbeit 13: 00 Ich koche mit meinem Mann 1: 00 Ich schlafe ein bisschen 15: 00 Ich putze mein Zimmer 16: 00 Ich wasche meine Kleidung 16: 30 Ich schaue Fernsehen 18: 00 Ich bete zu Gott 18: 30 Ich spiele Handy 21: 00 Schlafen Tagesablauf : 08: 00 Ich stehe auf und nehme erst einmal ein Bad 09: 00 Ich mache Frühstück 09: 30 Ich höre ein bisschen Musik 10: 30 Ich gehe spazieren 12: 00 Ich komme zurück ins Zimmer 13: 00 Ich liege für eine Stunde auf meinem Bett 1: 00 Ich sehe Fernsehen 16: 00 Ich lese ein bisschen Deutsch 17: 00 Ich treffe mich mit meinem Freund S. 18: 00 Ich spiele mit meinem Handy 19: 00 Ich koche das Abendessen, esse mit meinen Freunde, und wir reden 21: 00 Ich gehe ins Bett, um zu schlafen Tagesablauf 5: 07: 00 Aufstehen 07: 30 Medikamente einnehmen 07: 0 Kaffee machen und Fernsehen 08: 00 Bett machen 09: 30 Frühstück 10: 30 Medikamente 11: 30 Zimmer putzen, Geschirr spülen, über das Mittagessen nachdenken, Brot backen 12: 30-13: 00 Mittagessen kochen 1: 00 Bügeln, Waschen 15: 00 Kaffee trinken mit Nachbarn oder Tochter oder Sohn <?page no="42"?> 42 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs 16: 00 Mittagessen (alle zusammen) 17: 00 Teller waschen 18: 00 Fernsehen 22: 00 Schlafen Tagesablauf 6: 08: 00 Aufstehen 08: 00 Kaffee trinken und mit meiner Frau reden, was erledigt werden muss 08: 30 Termine abmachen und mit dem Handy spielen 09: 30 Ich gehe auf die Toilette 09: 15 Müllcontainer kontrollieren (mein Job) 09: 0 Einen kleinen Kaffee trinken 10: 00 bis 12: 00 Einen kleinen Spaziergang machen in Stuttgart. In der Tafel Lebensmittel kaufen, dort sind sie billiger. Ich fahre mit dem Fahrrad dorthin. 12: 00 Besuch bei Nachbarn (30 Minuten) 12: 30 Mit dem Laptop und dem Handy beschäftigen 1: 00 Ich esse ein Frühstück 15: 00 Ich besuche meine Kinder oder sie kommen uns besuchen 18: 00 Wir essen alle zusammen 19: 00 Meine Kinder gehen wieder 19: 30 bis 21: 30 Ich spiele Karten bei meinen Nachbarn 22.30 Ich gehe schlafen Tagesablauf 7 08: 30 Ich stehe auf 08: 5 Ich trinke Milch 09: 5 Ich gehe in die Schule 11: 00 Ich habe jetzt Pause 13: 00 Ich habe jetzt Pause mit meinen Kollegen 13: 5 Ich esse jetzt ein Croissant 13: 30 Ich beginne einen neuen Kurs 15: 00 Die Schule ist zu Ende 15: 30 Ich komme nach Hause 16: 00 Ich schlafe ein bisschen 17: 00 Ich stehe auf 17: 30 Ich esse jetzt Kartoffeln mit Soße 18: 00 Ich höre Musik 18: 30 Ich dusche 19: 00 Ich gehe spazieren 21: 00 Ich komme nach Hause 21: 30 Ich koche <?page no="43"?> 43 Wort-Teppich, Ge: schichten 22: 00 Ich esse 23: 00 Ich sehe fern 2: 00 Ich schlafe Tagesablauf 8: 08: 00 muss ich aufstehen, mache mein erstes Gebet, frühstücke und ziehe meine Kleidung an 09: 00 draußen eine Zigarette rauchen und langsam in die Schule gehen (marschieren) 09: 5 muss ich in der Schule sein 15: 00 ich mache von der Schule Feierabend 15: 20 ich bin zu Hause, mache erst mein Gebet, koche, danach lege ich mich mit einem Getränk auf mein Bett und sehe fern 18: 00 ich gehe draußen, treffe Freunde, um spazieren zu gehen (manchmal gucke ich Fußball) 20: 30 ich gehe ins Fitness-Studio trainieren 22: 00 wieder zu Hause, danach was essen, danach mache ich meine Hausaufgaben und danach sehe ich ein bisschen fern 23: 30 Schlafen Sechste (gemeinsame) Schreibübung: Exemplarische Arbeit an einem Text / Variationen Satzvariationen zu einer Verdichtung am Beispiel eines Satzes aus einem der Texte, die entstanden sind. 7 1 Leben ist ein kurzes Wort aber schwer zu leben 2 Leben ist ein kurzes Wort aber schwer zu leben 3Leben ist ein kurzes Wort aber schwer zu leben  Leben ist ein kurzes Wort aber schwer zu leben 7 Mit diesen Variationen konnten Zeilenbrüche diskutiert und die Bedeutungsverschiebungen erörtert werden. <?page no="44"?> 44 I. VORW: ORTE Zur Bedeutung des Dialogs 5Leben ist ein kurzes Wort aber schwer zu leben 6Leben ist ein kurzes Wort aber schwer zu leben 7Leben ist ein kurzes Wort, aber schwer zu leben Erste Spielszene: nachdem sich jeder ein Wort ausgesucht hat, das ihn berührt, das ihm wichtig ist. Direkte Spielanweisung. Die Schüler stellen sich in einem Kreis auf und sagen das Wort reihum laut in den Raum: „Stellt euch vor, es ist ein wunderschöner Frühlingstag. Die Sonne scheint, die Bäume blühen - ihr seid verdammt gut gelaunt, geht spazieren und trefft auf einen Freund, eine Freundin. Ihr freut euch riesig, bringt diese Freude auch zum Ausdruck und fangt gleich an zu erzählen. Aber: Ihr habt nur dieses eine Wort zur Verfügung, das jeder von euch vorher ausgesucht hat. Nur dieses eine Wort. Verlasst jetzt den Kreis und geht einfach herum, auf jemanden zu, versucht miteinander ins Gespräch zu kommen.“ Nach einer ersten „Schüchternheit“, die sich sofort bei einigen einstellen wird, ist ein heilloses Durcheinander an Wörtern und Bewegungen zu hören und zu sehen. Mimik und Gestik unterstützen, unterstreichen das Wort, da kein anderes zur Verfügung steht. Der Lehrer hat darauf zu achten, dass keiner der Schüler mehr Wörter als dieses von ihm ausgesuchte eine Wort benutzt, und muss gegebenenfalls die Einzelsituationen im Gesamten unterbrechen, um auf diese Vorgaben erneut hinzuweisen. Dieses erste Spiel sollte um die fünf Minuten dauern. Die Schüler, die jetzt körperlich gelöster sein werden, erhalten nach diesem sprachspielerischen Entrée die zweite Aufgabe: die Verhältnisse kehren sich mit der nächsten Spielphase in ihr Gegenteil und werden deshalb um ein Wesentliches schwieriger für alle Beteiligten. Zweite Spielszene: Direkte Spielanweisung, wieder in einem Kreis: „Stellt euch vor, es ist ein verregneter Tag im Herbst. Wolkenbehangen, düster. Ihr seid verdammt schlecht gelaunt, geht durch die Stadt und trefft auf einen Menschen, auf den ihr eine Stinkwut habt. Ihr geht auf ihn zu, bringt diese Wut zum Ausdruck und fangt gleich an, eurem Gegenüber die Meinung zu stoßen. Aber: Ihr habt wiederum nur dieses eine Wort zur Verfügung, das jeder von euch vorher ausgesucht hat. Nur dieses eine Wort. Verlasst jetzt den Kreis und geht herum, auf jemanden zu, und kommt miteinander ins Wut-Gespräch.“ Auch dieses ergänzende, zweite Spiel sollte um die fünf Minuten dauern. Die Schüler werden nun körperlich verkrampfter reagieren und feststellen, dass es viel schwieriger ist, einen „negativen“ Tonfall zu finden und in eine ablehnende oder „aggressive“ Haltung zu gelangen. <?page no="45"?> 45 Wort-Teppich, Ge: schichten Danach werden beide Spielszenen mit den Schülern besprochen, um ihnen zu verdeutlichen, dass ein und dasselbe Wort verschieden, gar gegensätzlich im Raum stehen kann. Das wird kaum schwerfallen, da sie es selber gerade erlebt haben. Dritter Schritt: Ist diese Phase abgeschlossen, erhalten die Schüler die Aufgabe, mit diesem Wort einen kurzen Satz zu bilden. Dieser darf nun jedoch nicht wie bei der Wort-Findung laut gesagt werden, sondern sollte lediglich gedacht sein. Auch bei dieser Übung werden den Schülern fünf Minuten „Bedenkzeit“ eingeräumt. Haben alle Beteiligten einen Satz gefunden, geht der Lehrer mit Block und Bleistift reihum, lässt sich von jedEm den Satz ins Ohr flüstern und schreibt ihn auf. Es entsteht ein erster Text, den der Lehrer zum Schluss vorliest. <?page no="47"?> II. Identität(en). AnSätze Ein ungeladener Gast. Text und Identität / Fremde Yoko Tawada Gäste aus fernen Ländern werden hierzulande sehr freundlich empfangen. Mit ihnen redet man Englisch, und manche Deutsche machen einen fröhlichen Eindruck, wenn sie Englisch reden dürfen, als könnten sie sich dadurch von Leistungsdruck und Kontrollwahn, die in die deutsche Sprache hineingewachsen sind, befreien. Ein tschechischer Nachbar meiner japanischen Bekannten in Kalifornien erzählte mir einmal, dass er in Deutschland viel lieber Englisch spreche als Deutsch. Er wird als Gast aus Amerika freundlich behandelt, solange er Englisch spricht. Wechsele er aber zu Deutsch, werde er wegen seines leichten Akzents sofort zur Kategorie Mitteleuropa (was viele Deutsche insgeheim „Osteuropa“ nennen) zugeordnet, und damit verliert er den Status des Gastes, aber er wird auch nicht ins Wohnzimmer der deutschen Sprache eingelassen, obwohl jeder weiß, dass ein wichtiger Teil der deutschsprachigen Literatur an Orten, die heute zu Tschechien, Rumänien oder Polen gehören, entstanden ist. Der Tscheche aus Kalifornien fragte mich nach meiner Erfahrung in Deutschland. In meinem Fall, musste ich zugeben, ist der „Akzent“ in meinem Gesicht noch größer als der in meiner Aussprache, sodass ich sofort anhand meiner äußeren Erscheinung kategorisiert werde. Dabei spielt es keine Rolle, welche Sprache ich spreche. Ich werde auch freundlich ins familiäre Wohnzimmer eingeladen, weil bei mir nicht die Gefahr besteht, eine innere Fremde zu werden, die man nicht sofort als solche erkennen kann. Aber es gibt doch Bildungsbürger, die mich mit Bemerkungen wie „Es ist erstaunlich, wie gut Sie Deutsch sprechen! “ so oft unterbrechen, dass ich mich ausgegrenzt fühle und nicht weiterreden kann. Oder sie fragen mich ständig, ob ich dieses und jenes deutsche Wort kennen würde. Die Auswahl dieser Wörter verrät meistens, dass sie sich selber nie mit einer Fremdsprache intensiv beschäftigt haben. Anscheinend ist es für sie unheimlich, dass jemand weder dazugehört noch fremd ist. Manche glauben, das Erlernen einer Fremdsprache sei Leistungssport, und jeder Muttersprachler könne die Leistung messen. Dabei benutzen sie ihren bürgerlichen Geschmack als Messgerät. Wer den besitzt, kann sofort die genaue Zahl vom Gerät ablesen und sagen, wie gut ein Satz formuliert ist. Der eigene Geschmackssinn kann aber auch zum Verhängnis werden. Es hat lange gedauert, bis ich mich gegenüber meiner Muttersprache Japanisch so weit öffnen konnte, dass ich die Sätze, über die die meisten Japaner stolpern würden, schätzen lernte. Ernst Jandl war einer, der hemmungslos auf die deutsche Grammatik hämmerte und aus ihr eine Musik machte, eine Art Schlagzeugmusik. Hier ein Beispiel: <?page no="48"?> 48 II. Identität(en). AnSätze schreiben und reden in einen heruntergekommenen sprachen sein ein demonstrieren, sein ein es zeigen, wie weit es gekommen sein mit einen solchenen: seinen mistigen leben er nun nehmen auf den schaufeln von worten und es demonstrieren als einen den stinkigen haufen denen es seien. es nicht mehr geben einen beschönigen nichts mehr verstellungen. oder sein worten, auch stinkigen auch heruntergekommenen sprachen-- worten in jedenen fallen einen masken vor den wahren gesichten denen zerfressenen haben den aussatz. das sein ein fragen, einen tötenen. (Ernst Jandl, von einen sprachen) Die Muttersprache auseinanderzunehmen und daraus eine neue Baustelle zu machen, ist eine Knochenarbeit. Eine andere, aber genauso spannende Arbeit besteht darin, mit einer Fremdsprache, die mit einer ewigen Baustelle vergleichbar ist, literarisch umzugehen. Beim Schreiben fallen mir viele Fragen ein, in der die linguistischen Themen poetologische Bedeutung bekommen. Zum Beispiel: Warum gibt es die Singular- und die Pluralform? Warum nimmt man den Unterschied zwischen einem Apfel und zwei Äpfeln so ernst, dass man sogar die Form des Apfels ändern muss, wenn der Unterschied zwischen zwei Äpfeln und drei Äpfeln egal ist? Wie kann man den Sonderstatus der Singularität begründen? Sollte jemand, der nicht monotheistisch eingestellt ist, trotzdem diese grammatikalische Regel akzeptieren? In der russischen Sprache gibt es eine Form zwischen Singular und Plural, die für die Menge zwischen zwei und vier zuständig ist. Das sind die Heiligen, die zwischen dem einen Gott und dem Volk der Pluralität stehen. Als ich in München zum ersten Mal die Begrüßung „Grüß Gott! “ hörte, fragte ich mich spontan: „Welchen Gott soll ich grüßen? “ Es gibt ungefähr acht Milliarden Götter in Japan, aber keinen einzigen Artikel. All diese Gedanken, die mir einfallen, haben sicher damit zu tun, dass ich Japanisch kann. Aber meine Gedanken kann man nicht ins Asylheim einsperren, das man japanische Herkunft nennt. Die Kritiker, die glauben, sie könnten wie Schullehrer jeder literarischen Arbeit eine Note geben, können keinen Text unbenotet behalten. Was sie nicht sofort beurteilen können, können sie nicht in ihrem monokulturell sauber aufgeräumten Denkraum dulden. Entweder landet die unbenotete Arbeit im Papierkorb oder sie wird auf einen fernen Ort, auf die „Herkunft“, abgeschoben. Weil sie sich auf ihren bürgerlichen Geschmack blind verlassen, können sie oft das Fremdartige nur als das Minderwertige wahrnehmen. So können sie das Fremdartige entweder als negativ benoten oder auf seine „fremde Herkunft“ verweisen, um es aus der „eigenen“ Gegenwart auszusperren. Die letztere Methode ist sicherer, wenn man auf keinen Fall als fremdenfeindlich, islamfeindlich, antisemitisch oder eurozentristisch gelten will. Die „Herkunft“ ist die Insel für den Vollstreckungsaufschub. Manche Autoren sind froh darüber, dass sie nicht sofort umgebracht worden sind. Andere sterben in Einsamkeit. Die <?page no="49"?> 49 Ein ungeladener Gast. Text und Identität / Fremde Verbannungsinsel liegt so weit weg, dass ihre Existenz ohne Probleme vergessen werden kann. Einmal traf mich der Begriff der Herkunft wie ein Blitz, der die dunkle Verbindung zwischen Celans Zeit und meiner Zeit beleuchtete und mich mit seinem Schlag verletzte. Es passierte in einer Rezension über Paul Celan, die ich in seinem Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann las. Celan hat der deutschen Sprache gegenüber eine größere Freiheit als die meisten seiner dichtenden Kollegen. Das mag an seiner Herkunft liegen. Der Kommunikationscharakter der Sprache hemmt und belastet ihn weniger als andere. Freilich wird er gerade dadurch oftmals dazu verführt, im Leeren zu agieren. 1 Nachdem ich diese Stelle der Rezension einige Male gelesen hatte, waren meine Körperzellen vor Angst und Wut wie gelähmt. Ich war schockiert, weil mir das Ablehnungsmuster vom Kritiker Günter Blöcker bekannt vorkam. Man findet es heutzutage nicht nur in einer offensichtlichen Ablehnung wieder, sondern auch in einer Befürwortung. Ich höre immer wieder, ich würde wegen meiner „Herkunft“ der deutschen Sprache gegenüber eine große „Freiheit“ besitzen und deshalb neue Blicke in die deutsche Kultur „hineinbringen“, so lange, wie ich nicht „im Leeren“ agiere. Die Dichtung versucht stets, die Sprache von der kommunikativen Kompromissform zu befreien, und die Herkunft der Freiheit befindet sich für jeden dichtenden Kollegen hier und jetzt. In den fünfziger Jahren bestand für Celan keine konkrete Gefahr, wegen seines Judentums umgebracht zu werden, und die meisten Intellektuellen wollten auf keinen Fall als antisemitisch gelten. Celans Zeitgenossen dachten, dass er in Bezug auf die Rezension überreagiert habe, weil er krank oder, wie man heute gerne sagt, durch seine Vergangenheit „traumatisiert“ war, das heißt, wegen der Vergangenheit sich kein „realistisches“ Bild von der Gegenwart machen könne. Der Gegenwart wird ein realistischer Charakter zugeschrieben, während aus der Vergangenheit ein Fälscher gemacht wird. In Celans Poesie gibt es keine „Vergangenheit“, die vergangen ist, sondern das Gedächtnis, das im Rausch funktioniert. Celan thematisiert in seinem Brief an die Feuilleton-Redaktion den Begriff der Herkunft, der eigentlich eine „grafische“ (und nicht geografische oder topografische) Umstrukturierung der Gegenwart bedeuten könnte, aber in diesem Fall als Verbannungsort, als Alternative zur Vernichtung angeboten wurde. Im heutigen Deutschland ist es kein Tabu, ein Tabu zu brechen. Wer das bewusst tut, kann stolz auf sich sein. Ein Provokant bekommt, wenn er Glück hat, eine Kritik zurück, aber sie verletzt ihn nicht. Celan schrieb seine Gedichte nicht als Provokation. Als er abgelehnt wurde, bemerkte er, dass er genau den wunden Punkt derjenigen getroffen hatte, die ihn aggressiv ablehnen mussten. Seinen Kollegen fehlte das Gespür dafür, wie eng und provinziell der Geschmack der Zeit war, nach dem die Literatur beurteilt wurde. Das Wort „Geschmack“ klingt harmlos, ist es aber nicht, denn der Geschmackssinn kann das Leben retten oder ver- 1 Ingeborg Bachmann / Paul Celan: »Herzzeit. Briefwechsel« Frankfurt / M. 2008, S. 12-125. <?page no="50"?> 50 II. Identität(en). AnSätze nichten. Wenn ein Körper kein anspruchsvolles Nahrungsmittel akzeptiert, das exotisch, neu, alternativ oder ungewöhnlich schmeckt, kann das eventuell daran liegen, dass er geschwächt oder krank ist. Celan war ungeschützt und verletzlich, weil er keine Provokation beabsichtigte. Ihm wird der fehlende Kommunikationswille vorgeworfen, was absurd ist, denn er war mehr als kommunikativ: Er hatte sich selbst schonungslos der Sprache gegenüber geöffnet, ohne seine Dichterperson durch ein Manifest zu schützen. Damit hat er auch diese eine Sprache, Deutsch, so weit geöffnet, dass sie aufhörte, eine Sprache zu sein. <?page no="51"?> 51 „Identität“ „Identität“ Akos Doma 1. Gedanken zur Identität. Eine Annäherung Werde, der du bist. Pindar Die Identität Die meisten von uns tragen sie in der Gesäßtasche, der Jackentasche, der Handtasche. Im Portemonnaie, eingebettet zwischen Geldscheinen und Kreditkarten. Auf eine vermeintlich fälschungssichere Plastikkarte gedruckt, mit enigmatischen Kennnummern versehen und einem Foto, das schon im Moment seiner Aufnahme Vergangenheit ist, reduziert auf ein paar Fakten und Daten: Name, Geburtsort, Geburtsdatum, Staatsangehörigkeit, Augenfarbe, Größe, Anschrift, Unterschrift. In Deutschland Personalausweis, in den meisten anderen Ländern Identitätskarte genannt: identity card, carte d’identité, carta d’identità, documento de identidad. Die Identität, auf den kleinsten bürokratischen Nenner gebracht. Der komplexere Versuch einer Definition ist die menschliche Kultur selbst. Körper und Geist Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich? Seit der Mensch Mensch ist, stellt er die Frage nach seiner Identität, und ebenso lange schon findet er keine befriedigende, abschließende Antwort darauf. Keine, für deren Gegenteil nicht ebenso viel spräche. Allzu gegensätzlich muten die beiden Welten an, die in ihm zusammentreffen: sein Körper, Fleisch, im Hier und Jetzt, sichtbar, hörbar, riechbar, fühlbar, geboren und sterblich, unverkennbar tierischer Natur. Und sein Verstand, Geist, unfassbar, grenzenlos, überall nur nicht unbedingt hier und jetzt, begabt mit der Fähigkeit zu denken, zu erfinden, zu sprechen, zu reflektieren, nicht zuletzt auch über sich selbst. Frei und allmächtig-- und doch an eine vergängliche Existenz gebunden. Die menschliche Identität: philosophisch betrachtet ein Oszillieren zwischen den Polen Geist und Materie, Bewusstsein und Sein. Zwischen der Sphäre der Notwendigkeit, des Gegebenen und Unabänderlichen, und der der Freiheit, des Möglichen, vielleicht Machbaren. „Werde, der du bist“ heißt es beim griechischen Dichter Pindar, der den fundamentalen Zwiespalt der menschlichen Identität, das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit („werde“) und Notwendigkeit („bist“) damit auf die knappste aller Formeln bringt. „Wie man wird, was man ist“ wird es später bei Nietzsche heißen-- doch das Dilemma der beiden möglichen <?page no="52"?> 52 II. Identität(en). AnSätze Leseweisen bleibt dasselbe: Strebe, damit du das in dir angelegte Potential ausschöpfst und dich vervollkommnest. Oder: Jedes Streben ist vergeblich, denn was du auch tust, stets bleibst du (nur) der, der du immer schon warst. Revolte, Hybris, Emanzipation Das Aufbegehren des Menschen gegen seine natürlichen Grenzen, seine Emanzipation zu einer vermeintlich freien, selbstbestimmten Identität, ist eines der großen Themen vor allem der westlichen Kultur. In der Antike galt das Aufbegehren gegen die Ordnung der Götter als Frevel-- Hybris-- und zog unausweichlich den Zorn der Götter nach sich. Prometheus’ Diebstahl des Feuers von den Göttern wurde genauso grausam bestraft wie Ikarus’ Versuch, der Sonne entgegenzufliegen. Bis ins Mittelalter-- im Nachhinein prompt als „dunkel“ und „finster“ apostrophiert („Dark Ages“)-- blieb die Stellung des Menschen in der geistlichen und weltlichen Hierarchie weitgehend unverändert. Erst mit der Heraufkunft von Rationalismus und Aufklärung entstand das Ideal des freien, selbstbestimmten Menschen. Galt das Wissen („Licht“) bis dahin als göttliches beziehungsweise kirchliches Privileg und seine Aneignung durch den Menschen als Übermut (Luzifer, der „Lichtträger“, wurde zu einem Synonym für Teufel), wird die „Aufklärung“ nun zur Leitidee. Begünstigt durch den technischen Fortschritt, durch neue Entdeckungen und Erfindungen, werden Metaphysik, Transzendenz und die Vorstellung Gottes immer mehr durch das Ideal der menschlichen Vernunft und der Ratio verdrängt. Objekt der Anbetung ist nicht mehr Gott, sondern die Werke des menschlichen Verstandes: Technik und Wissenschaft. „Ich denke, also bin ich“, verkündet Descartes die Vorrangstellung der Ratio. Hatte die Revolte des Menschen angesichts der Übermacht der Götter (Gottes, der Natur) früher noch etwas Befreiendes, Heroisches, mutet der scheinbar unaufhaltsame Siegeszug der Wissenschaft und Technik über die Natur heute immer bedrohlicher an. Lag die Tragik früher im Scheitern, erscheint heute zunehmend das Gelingen als Schreckensvision: der Kollaps der Natur unter dem zerstörerischen Einfluss der Produkte des menschlichen Verstandes. Musste Faust, der Wissenschaftler an der Schwelle zur Neuzeit, bei Goethe noch die Vergeblichkeit seines Wissensdranges beklagen, kann Victor Frankenstein, der moderne Wissenschaftler, in Mary Shelleys nur zehn Jahre später (1818) erschienenem Roman Frankenstein oder der moderne Prometheus bereits Vollzug melden. Doch die Schöpfung des menschlichen Verstandes missrät, das Monster gerät außer Kontrolle- - und gilt seitdem als Symbol für die verheerenden Folgen menschlicher Allmachtphantasien. Die Seele Körper und Geist. Doch wo zwischen diesen vermeintlichen Gegenpolen ist der Platz jener unbewussten, emotionalen Seite der menschlichen Identität, die als Seele bezeichnet wird, und die die Welt des Unbewussten, der Empfindungen, der Gefühle, des Gemüts umfasst? Liebe und Hass, Glück und Unglück, Sehnsucht und Leidenschaft, Angst und Abscheu-- im- <?page no="53"?> 53 „Identität“ mer wieder schreibt die Literatur Geschichten, die die seelische Befindlichkeit der Menschen zum Thema haben. Ist die unfassbare, „unsterbliche“ Seele-- wie im traditionellen christlich-westlichen Denken-- tatsächlich identisch mit dem Geist? Oder ist der Geist-- als rationales, intellektuelles Denken-- doch jener trennende „Widersacher der Seele“, als den ihn Ludwig Klages ausmacht, und ist die Seele als „Sinn des Leibes“ mit dem Körper eins? Persönliche Identität, Gruppenidentität Die Frage nach der Identität ist aber nicht nur eine anthropologische, sondern vor allem auch eine individuelle. Die persönliche Identität ist ein Mosaik aus vielen Steinchen: Geschlecht, Nationalität, ethnischer Herkunft, kultureller Prägung, sozialer Klasse, Familie, Freunde, Sprache, Arbeit, Wohnort, Klima. Eine starke Identität, die Verwurzelung im Eigenen und Vertrauten, das Wissen um die eigene Stellung in der Welt führt bei den meisten Menschen zu Selbstbewusstsein, psychischer Stabilität und innerer Zufriedenheit, zu einem Gefühl des Beheimatetseins. Der Verlust oder die Erschütterung der Identität hingegen löst ein Gefühl der Verunsicherung, Entfremdung und Desorientierung aus. Die vor allem seit der Postmoderne zu beobachtende Erosion traditioneller Identitäten und Gemeinschaften fördert die Entstehung alternativer Gruppenidentitäten etwa in Fußballvereinen, Sekten, subkulturellen Gruppen, Internetgemeinschaften. Unternehmen fordern von ihren Mitarbeitern eine totale Identifikation mit der Firma und ihren Zielen, ihrer Hausphilosophie („Corporate Identity“). Welche Folgen hat es für den Einzelnen und für die Gesellschaft, wenn natürliche Identitäten wie die Zugehörigkeit zu einer Familie durch künstliche-- oft ökonomisch motivierte-- Identitäten ersetzt werden? Die Identität und das Fremde Infolge von Internet, wachsender Mobilität und des Schwindens räumlicher und zeitlicher Entfernungen kommt der Begegnung mit dem sogenannten Fremden eine immer größere Rolle zu. Wie kann diese Begegnung auf Augenhöhe gelingen, wenn die Augenhöhe in der politisch-ökonomischen Wirklichkeit immer mehr verloren geht, sich die Schere zwischen Arm und Reich, Abhängig und Unabhängig immer weiter öffnet? Kann Multikulturalität angesichts des katastrophalen sozialen Ungleichgewichts überhaupt mehr als nur eine oberflächliche Geste sein? Und ist eine fundierte Annahme und Aufnahme des Fremden überhaupt möglich ohne Kenntnis des Eigenen, ohne die Liebe zur eigenen Identität? Identität und Literatur Die Frage nach der Identität beschäftigt seit jeher auch die Literatur. Wer bin ich? Wo ist mein Platz in der Welt? Und wenn ich nicht der bin, der ich bin, wer dann? Und wenn mein Platz nicht dort ist, wo ich bin, wo dann? , fragen sich die Protagonisten zahlloser Romane <?page no="54"?> 54 II. Identität(en). AnSätze und Dramen. Das Verkennen der eigenen Identität kann, wie schon in Sophokles’ Tragödie König Ödipus, verhängnisvolle Folgen zeitigen. Das Spiel mit Verkleidungen und wechselnden Identitäten kann aber, wie in vielen Lustspielen Shakespeares, auch ein Mittel der Komik und der komischen Entlarvung sein. Seit der Romantik und vor allem im zwanzigsten Jahrhundert rückt die wachsende Diskrepanz zwischen dem Selbst und der sozialen Rolle, den Bedürfnissen des Ichs und den Forderungen der Gesellschaft, immer mehr in den Mittelpunkt der Literatur. Mit dem Bildungsroman entstand gerade in der deutschen Literatur eine Romangattung, die die Möglichkeit der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit im Rahmen der Gesellschaft (und oft in Opposition zu ihr) thematisiert. Eine existentielle Dimension erhält das Problem der modernen Identität vor allem in den Theaterstücken Samuel Becketts (Warten auf Godot, Endspiel) oder den Romanen Max Frischs (Stiller, Mein Name sei Gantenbein). Ein beliebter Topos ist auch das Spiel mit falschen Identitäten. In Luigi Pirandellos Roman Mattia Pascal nutzt der Protagonist, der versehentlich für tot erklärt wurde, die Gelegenheit, eine neue Identität anzunehmen und ein neues Leben zu beginnen. In Patricia Highsmiths Kriminalroman Der talentierte Mr. Ripley wird der Identitätswechsel erst durch einen Mord möglich. Die archetypische Erzählung des unter falscher Identität zurückkehrenden Rächers hat seine Ursprünge in Homers Odyssee. Odysseus kehrt nach zwanzigjähriger Abwesenheit nach Hause zurück und tötet als Bettler verkleidet die Freier, die seine ihm immer noch treue Frau Penelope seit langem belagern. Beliebt ist das Motiv auch in der Jugend- und Abenteuerliteratur: Alexandre Dumas läßt den zu Unrecht verurteilten Seemann Edmond Dantès als reichen, geheimnisumwitterten Graf von Monte Christo zurückkehren und Rache an seinen Verrätern nehmen. Jules Verne erzählt die gleiche Geschichte vor politischem Hintergrund in Mathias Sandorf. 2. Didaktik und Schreibaufgaben Zu Beginn wird die etymologische Bedeutung des Begriffs Identität geklärt. Das Wort Identität geht auf das lateinische „idem“-- „derselbe“, „dasselbe“-- zurück und bedeutet Gleichheit, Übereinstimmung, Eins-Sein. Identität kann Eins-Sein mit sich selbst oder einer Gruppe (Gruppen-Identität) bezeichnen. Der Begriff wird in den unterschiedlichen Wissenschaften, der Philosophie, der Psychologie, der Pädagogik oder der Soziologie, in je eigener Weise verwendet. <?page no="55"?> 55 „Identität“ Aufgabenstellung 1 (5 Minuten) Die Schüler überlegen sich, welche Faktoren wesentlich zur Identität eines Menschen beitragen können. Mögliche Antworten lauten: Geschlecht, ethnische, nationale Zugehörigkeit, Herkunft, Familie, Freunde, kulturelle Prägung, Sprache, Gesellschaftsschicht, Arbeit, Wohnort (großstädtisch, kleinstädtisch, ländlich), geografische Einflüsse, Klima. Fragen zu den einzelnen Antworten können als eine erste Annäherung an das Thema dienen. Aufgabenstellung 2 (20-30 Minuten) Die Schüler schreiben eine Geschichte, in der ein religiöser, ethnischer, kultureller oder anderer Brauch - ein Ritual, ein Fest, eine Tradition - eine zentrale Rolle spielt. Sie können sowohl aus dem eigenen Erfahrungsschatz schöpfen als auch ihrer Phantasie freien Lauf lassen. Als mögliche Themen bieten sich Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen oder andere religiöse oder kulturelle Feste, Freundschaftsrituale, Initiationszeremonien an. Wie bei allen Aufgaben ist Wert darauf zu legen, dass die Erzählung keinen Essaycharakter hat, dass die Schüler ihre Gedanken und Empfindungen zum jeweiligen Thema nicht nur sachlich ausführen, sondern in eine fiktive Handlung einbetten (und in deren Rahmen kommentieren). Aufgabenstellung 3 (30-45 Minuten) Die Schüler schreiben in Form eines Briefes oder mehrerer Briefe an Eltern, Freunde oder Verwandte zu Hause die Geschichte eines Auslandsaufenthalts. Wie empfindet der Verfasser des Briefes die Fremde? Welche Unterschiede fallen ihm im Vergleich zur Heimat auf? Was gefällt ihm besser in der Fremde, was fehlt ihm dort? Trotz der Briefform sollte nach Möglichkeit auch hier eine Handlung im Mittelpunkt stehen. Aufgabenstellung 4 (45-60 Minuten) Die Schüler erfinden eine Geschichte, in der es um einen Menschen geht, der unter Gedächtnisverlust (Amnesie) leidet. Die Geschichte soll eine spannende Handlung beinhalten und Fragen umkreisen wie: Was geschieht mit jemandem, der seine Identität nicht mehr kennt? Wie wirkt sich die Identitätslosigkeit auf den Betroffenen selbst und seine Umgebung aus? Welche tragischen oder komischen Momente können sich daraus ergeben? <?page no="56"?> 56 II. Identität(en). AnSätze Aufgabenstellung 5 (45-60 Minuten) Die Schüler schreiben eine Erzählung oder ein kleines Dialogstück über die Begegnung zweier Personen oder Gruppen (Familien, Cliquen, Schulklassen, Anhänger eines Sportvereins) mit unterschiedlichen Identitäten, Ansichten, Wertvorstellungen. Hier böte sich vor allem eine humorvoll-komische Behandlung des Themas an, etwa wenn sich die beiden Personen oder Gruppen gegenseitig von der Richtigkeit ihrer eigenen Vorstellungen überzeugen wollen. Aufgabenstellung 6 (45-60 Minuten) Die Schüler schreiben die Geschichte einer Begegnung mit einem UFO oder mit Außerirdischen. Was unterscheidet die fremden Wesen von den Menschen, was haben sie miteinander gemeinsam? Wie gelingt die Kommunikation miteinander? Wie kann es zur Freundschaft mit den Außerirdischen kommen? Die Schüler können das Thema völlig frei gestalten, auf der Erde oder auf einem anderen Planeten, in einer anderen Welt spielen lassen. <?page no="57"?> 57 Einige praktische Gedanken zur Didaktik unter dem Augenmerk der Literaturvermittlung an Schulen Einige praktische Gedanken zur Didaktik unter dem Augenmerk der Literaturvermittlung an Schulen Michael Stavaricˇ Ausgehend von zahlreichen Unterrichtseinheiten in diversen Schulen (alle Schultypen, alle Altersstufen) möchte ich einige Erfahrungen notieren, die meinen persönlichen Unterricht (Lesungen / Workshops) in Schulen geprägt haben, die nicht zuletzt immer auch auf Beobachtungen und Erfahrungen vor Ort beruhen. Inwiefern dies für eine didaktische Auseinandersetzung relevant ist, vermag ich nicht zu beurteilen, mir selbst schien es im Unterricht ein relevanter Faktor zu sein. Ich möchte mit der Erwartungshaltung von Schülerinnen und Schülern beginnen (in allen Altersstufen)- - das Bild des Autors / Autorin ist seltsamerweise ein recht deutliches. Tendenziell männlich, älter (graue Haare), man muss still sein und zuhören, bestenfalls wie beim Großvater oder der Großmutter. Ich mag jetzt ein wenig übertreiben, doch hat der Autor immer etwas „Professorales“, „Erwachsenes“, etwas, das sich abhebt und einen auf einen Sockel bzw. eine Bühne stellt. Die Lehrer und Lehrerinnen tragen oft genug dazu bei, indem sie Einleitungen zu Autoren abgeben, die entweder ziemlich belanglos sind (Auflisten von Preisen und Auszeichnungen) oder absolut „bedeutungsschwanger“. Wenn man dann eine Klasse betritt und Literaturvermittlung im Sinn hat, muss man die gesamte Erwartungshaltung verändern. Das Ändern der Erwartungshaltung kann man schon in der persönlichen Vorstellung angehen, die ich im Idealfall thematisch mit der Literatur verknüpfe. Onomatopoesie ist hier gut geeignet (in meinem Falle und bei meiner persönlichen Geschichte, Stichwort: Mehrsprachigkeit), um Spiel, Spaß und Wissen miteinander zu kombinieren. Es hängt natürlich immer konkret davon ab, wie alt die Schüler und Schülerinnen sind, dementsprechend muss man seine Wortwahl und sein Auftreten anpassen. Erwartungshaltungen lassen sich durch die optische Erscheinung verändern (Kleidung, Schmuck), ein Autor, der nicht wie ein Autor aussieht, erweckt Interesse. Und wie man sich einen Autor vorstellt, nun ja, wie gesagt, wie einen Lehrer, Professor, Großvater etc. Dem kann und muss man entgegenwirken. Ebenso sind die Schülerinnen und Schüler überrascht, wenn man z. B. erwähnt, dass man Sport macht. Sport und Bücher scheinen eine Kombination zu sein, die bestehende Erwartungshaltungen torpedieren. Insofern kann man möglicherweise jene Schüler, die sich so gar nicht für die Literatur interessieren, über diesen Faktor ins Boot holen. Man muss als Autor in Schulen seine Biografie für sich arbeiten lassen und mal dieses, mal jenes mehr betonen; ich bin davon überzeugt, dass nahezu eine jede Biografie die geeigneten Mittel hierfür bereitstellt. Es gibt im Idealfall auch kein fixes Programm, das man umzusetzen gedenkt, jede Klasse, jede Schule sind anders; wenn ich eines gelernt habe, dann ist es die Notwendigkeit, erst vor Ort zu entscheiden, was ich wie angehe-… und wenn das nicht funktioniert, andere Möglich- <?page no="58"?> 58 II. Identität(en). AnSätze keiten direkt vor Ort zu finden und auszuprobieren. Schafft man es, die Schülerinnen und Schüler neugierig zu machen, auf einen selbst, auf das, was man sagt, auf die Bücher, die man mitgebracht hat etc., dann hat man gute Karten. Das ist auch alles andere als „planlos“, es ist eine bewusste Entscheidung, sich jedes Mal neu zu erfinden, basierend auf seiner Erfahrung und den Arbeitsmitteln und Unterlagen, die sich im Allgemeinem bewährt haben, die allerdings stets eine Adaption erfordern. Mal abgesehen von der Erwartungshaltung-- auch der Ort selbst spielt natürlich eine Rolle. Damit meine ich nicht unbedingt die technischen Möglichkeiten vor Ort (Beamer etc.), vielmehr den Raum selbst. Ich habe immer wieder Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt bekommen, die für jedwede Vermittlung von sonstwas völlig ungeeignet waren. Zu groß, zu dunkel, zu heiß, zu kalt, ungeeignete Akustik (kein Mikro! ), es passte einfach vieles nicht zusammen. Darauf hat man in der Regel keinen Einfluss, es ist allerdings mit ein Faktor, wie aufmerksam die Schüler sind und wie man selbst agieren kann. Ebenso ist auch die Zeit nicht unwesentlich, wann man seine Einheiten in der Schule (aber auch auf Universitäten) absolviert. Je länger der Tag für die Schülerinnen und Schüler, umso schwieriger wird die Aufgabe. bzw. umso origineller und knapper sollte man sich fassen, die Schüler auch ruhig schon vor Ablauf der Einheit in ihre Freizeit entlassen. Grundsätzlich empfehle ich stets, alle technischen Möglichkeiten, die es vor Ort gibt, auch bereitstellen zu lassen: Projektion von Büchern, Verweise aus dem Internet auf literarische Themen (die man z. B. im Workshop anzugehen gedenkt), Youtube-Videos, Fotografien, Text- Bild-Ton-Bild-Scheren, Soundfiles etc. Literatur ist heutzutage nicht einfach nur die Lektüre eines Buches, sondern viel mehr. Literarische Prinzipien (Tropen, Duktus etc.) lassen sich auf alles umlegen, das nur im entferntesten mit Sprache, Verhalten und Kultur zu tun hat. Um etwa zu zeigen, was eine gute Metapher ist, kann man erfolgreiche Werbekampagnen als Bezugspunkt nehmen. Um Lyrik zu vermitteln, kann man auf bekannte Songtexte zurückgreifen. Literaturverfilmungen, diverse Parodien, Pointen, Sketches, alles lässt sich adaptieren. Wenn man z. B. über Metaphern spricht, oder die Wirkung von Sprache oder die Bedeutung des Buches im Allgemeinen-- es gilt ein breites „crossover“ zu schaffen. Literatur muss als etwas Lebendiges, Praktisches und Zeitgemäßes vermittelt werden, als etwas Identitätsstiftendes und Lebensbejahendes, keinesfalls als „irgendein Stoff“, etwas aus einem Lehrplan oder etwas Wissenschaftlich-Akademisches. Dabei sollte immer die Sprache selbst im Vordergrund stehen, denn nur anhand ihrer kann man auch die unterschiedlichsten Herangehensweisen an Buchprojekte vor Augen führen. Insofern ist die Auseinandersetzung mit Fremdsprachen unweigerlich ein Thema, die Pluralität gilt es abzubilden. Literatur ist vor allem auch die Vermittlung der Kultur der Anderen; die Übersetzung von Literatur ist ein Mittel, um gegenseitiges Verständnis für die Befindlichkeiten anderer Nationalitäten zu erwecken. Ohne die Bereitstellung von Literatur aus aller Welt ist kein Gespräch mit der Welt möglich. Ich versuche gleich zu Beginn Szenarien wie „Fragen im Anschluss“ etc. zu vermeiden. Vielmehr schaffe ich eine Atmosphäre, in der ich jederzeit unterbrochen werden kann, <?page no="59"?> 59 Einige praktische Gedanken zur Didaktik unter dem Augenmerk der Literaturvermittlung an Schulen gerade jüngere Zuhörer sollten sofort „drankommen“, wenn sie was zu sagen haben, ebenso natürlich alle älteren. Das gibt einem die Gelegenheit, seine Ausführungen und Übungen anzupassen. Hat man erst eine Gesprächssituation geschaffen, in der das Fragen etwas Selbstverständliches ist, bestimmen die Schüler indirekt den Ablauf der Lesung, der Diskussion oder des Workshops. Im Idealfall ist man keine „Lehrperson“, vielmehr, falls ich das so pathetisch formulieren darf, ein „Erster unter Gleichen“. Meiner Erfahrung nach interessieren sich zunächst mal sehr viele Schüler dafür, wie Bücher überhaupt entstehen, was so alles dahintersteckt, wie das Zusammenspiel von Verlagen und Autoren ist, wie Illustrationen entstehen, wie viel der Autor an Büchern verdient, wie Bücher in Buchhandlungen kommen, etc. Bei jüngerem Publikum kann man unbekannte Wörter wie „Illustrator“ als Rätselaufgabe stellen; man sollte sich immer vor Augen führen, wie hoch das jeweilige Sprachniveau in der Klasse ist, und es immer wieder anpassen. Es gibt Klassen, wo ich sehr bald beim Sprechen jegliche Fremdwörter vermeide und diesbezüglich gefordert bin. Grundsätzlich kann man aber alles, jedes noch so „komplizierte“ Wort „übersetzen“ bzw. den Kontext so beschreiben, dass man es versteht. Spricht man nicht die Sprache seiner Zuhörer, so ist die Vermittlungen von inhaltlichen und formalen literarischen Kontexten ungleich schwerer. Ich habe ebenfalls die Erfahrung gemacht, dass Kinder und Jugendliche die Herkunft von Wörtern als etwas Faszinierendes empfinden, man muss das nur als Geschichte erzählen können. Die Etymologie sollte also ein fixer Bestandteil einer jeden Präsentation sein. Sofern die Sprache darauf kommt, weise ich meine Schüler darauf hin, welche Lehnwörter aus anderen Sprachen sie etwa verwenden, von denen sie gar nicht wissen. Alles, was vermeintlich Deutsch ist und sich dann doch als etwas anderes entpuppt, dient der Anschaulichkeit. Englische und französische Ausdrücke werden natürlich als solche erkannt, aber dass das Wort „Anorak“ aus der Inuitsprache stammt und „etwas gegen den Wind“ bedeutet, oder das Wort „Schmetterling“ eigentlich aus dem slawischen Umfeld stammt, wo eine ganze Sagenwelt daran hängt, dies sorgt dann doch schnell für Erstaunen und Verwunderung. Und schafft Lust auf Sprachen und Geschichten. Gerade Jugendliche und Kinder lassen sich des Öfteren für „Rückübersetzungen“ von Worten begeistern; „Schimpanse“ bedeutet eigentlich „Schein-Mensch“ (aus einem afrikanischen Dialekt), ein „Orang-Utan“ ist ein „Wald-Mensch“ (aus dem Indonesischen), ich habe immer wieder bemerkt, wie man sich gerade diese Sachen aufnotiert und mehr dazu erfahren möchte. Wenn man sich nur ein wenig mit der Linguistik der jeweiligen Sprache beschäftigt, kann man auch Grammatikalisches verständlich erklären, dass etwa die Verdopplung des Wortes „Utan“ einen „dichten, großen Wald“ entstehen lässt, während „Utan“ selbst einen „normalen“ Wald darstellt. Man kann davon erzählen, wie viele Worte unterschiedliche im Wald lebende Kulturen für die Farbe „grün“ entwickelt haben, oder wie viele Ausdrücke die Inuit für das Wort „Schnee“ haben etc. Im Unterricht geht es vorwiegend um das Geschichtenerzählen. Man erzählt von sich, um seine Zuhörer spüren zu lassen, wer man ist, und anhand dessen wird dann schon klarer, warum man dieses oder jenes Buch geschrieben hat (ich versuche auch dementsprechend die Leseproben aus eigenen Werken so auszuwählen, dass sie pars pro toto mich und meine <?page no="60"?> 60 II. Identität(en). AnSätze Arbeitsweise porträtieren bzw. Lebenssituationen zeigen, die möglicherweise für die Schüler thematisch spannend sind). Man erzählt Geschichten, die mit der Entstehung von Sprachen und Kulturen zu tun haben, man erzählt Geschichten von Büchern, die man irgendwann gelesen hat und die einen geprägt haben, man erzählt von Mythen und erklärt, was ein „Narrativ“ ist, man erzählt davon, wie man einst um das Feuer saß, als die Lust auf Zuhören und Geschichten-Erzählen geboren wurde. Ich bin jedenfalls davon überzeugt (und konnte mich davon auch immer wieder überzeugen), dass Schülerinnen und Schüler große Lust darauf haben, Geschichten zuzuhören. In diese sollte man dann alles verpacken, was einem auf einer inhaltlichen oder didaktischen Ebene wichtig und richtig scheint. Ich erinnere mich dabei oft an die eigene Schulzeit und all das, was ich bei meinen Lehrern vermisst habe, vor allem in Fächern, die vielleicht grundsätzlich als weniger „erzählträchtig“ gelten mögen. Mathematik etwa-… dabei ist Mathematik eine wunderbare Sprache, um das Universum zu beschreiben, allein im Physik-Unterricht hätte es sich angeboten, tausende Geschichten über die Sterne zu erzählen, gehört haben wir davon nichts. Oder letztlich bei allen mathematischen Themengebieten, Trigonometrie etwa-… wie gut es sich doch angeboten hätte, hier etwa über Schatten in Fotografien zu sprechen, weil sich anhand dieser (und dem Stand der Sonne) berechnen lässt, wie groß etwas tatsächlich ist, wie eine Person, die gar nicht zu sehen ist, nur anhand ihres Schattens physiognomisch beschrieben werden kann-- dazu gäbe es in der Kriminalistik gute, praktische Beispiele, die sich im Unterricht verwenden ließen. Aber um nicht vollends abzuschweifen: Ich hätte mich einfach gefreut, wenn ich Geschichten (ob erfunden oder nicht) aus dem Leben gehört hätte, möglicherweise hätte ich dann auch Mathematik oder Physik als etwas Spannendes empfunden. Und ich meine, dass Literatur viel zu oft in Schulen als eine Form von „Sprachmathematik“ vermittelt wird, tendenziell langweilig, langwierig und so abstrakt, dass sich der Nutzen nicht mehr erschließt, geschweige denn eine Freude aufkommen kann, sich weiter damit zu beschäftigen. Ich glaube, bei allem, was man mit Schülerinnen und Schülern tut, sollte man sich vor Augen halten, dass man „fächerübergreifend“ agieren muss, erst dann erschließen sich den Teilnehmern Geschichten und Zusammenhänge, die ihnen sonst entgangen wären. Für mich war zudem ein guter Lehrer immer jemand, der selbst noch Lust hatte, etwas Neues zu erkennen und kennenzulernen. Das Verwalten von Wissen, dass einem seit langem gut bekannt ist, kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Hinzu kommt, dass in vielen Bereichen die Entwicklung rasch voranschreitet, dies hat unweigerlich Auswirkung auf andere Disziplinen. Gerade jüngere Menschen fragen mich im Unterricht immer wieder danach, ob man vom Schreiben und Publizieren leben kann, und ich versuche ihnen die Perspektiven aufzuzeigen, die mit freiberuflichen Tätigkeiten verbunden sind, bemühe mich, die Vor- und Nachteile zu benennen. Letztlich wäre es mir ein großes Anliegen, den einen oder anderen später für das Schreiben, Zeichnen, Erfinden etc. zu begeistern. Das Potential und Interesse, sich mit kreativen Dingen auseinanderzusetzen, scheint mir unglaublich groß, jedenfalls bis zum <?page no="61"?> 61 Einige praktische Gedanken zur Didaktik unter dem Augenmerk der Literaturvermittlung an Schulen zehnten, zwölften Lebensjahr. Kam man bis dahin gar nicht z. B. mit Literatur in Berührung, so wird es später immer schwerer, ein Interesse dafür zu wecken. Ich erinnere mich an eine Klasse, die etwa das Wort „Collage“ nicht kannte. Also erklärte ich die Bedeutung und zeigte anhand von praktischen Beispielen, wie man selbst eine Collage kreieren kann: dass ein gute Collage auch selbst gezeichnete Dinge beinhalten darf, dass es die Kombination ausmacht (Zeitungsschnipsel und organisches Material, Blätter etc.), dass es im Endeffekt nichts gibt, was man nicht in einer Art Collage verarbeiten kann (Stichwort Daniel Spoeri). Es war eine Klasse, die danach selbst nach Ablauf der Workshopzeit nicht damit aufhören wollte, Collagen zu kreieren, und es sind dabei tatsächlich ganz wunderbare und ironische Werke entstanden-… ich erinnere mich etwa an die Arbeit eines siebenjährigen Mädchens, die einen weißen Hai Auto fahren ließ, oder an einen Regenbogen, der aus ausgeschnittenen Augenpaaren bestand bzw. auch an die Arbeit eines ebenso alten Jungen, der Menschen mit Tierköpfen kreierte (ein Prozess, der mich an die Arbeiten von Deborah Sengl erinnerte) etc. etc. Wenn ich mit jüngerem Publikum arbeite, versuche ich mich immer daran zu erinnern, wie im besagten Alter Literatur und Kunst auf mich gewirkt haben, was möglicherweise später auf meine eigenen Arbeiten Einfluss nahm. Und ich bemühe mich nie zu vergessen, dass (Kinder-)Literatur einer Zauberformel gleicht, sie ist eine Reise in Gedanken- und Phantasiewelten, ein einziges, großes Abenteuer. Und darum geht es mir nicht zuletzt in den eigenen Werken, die im Unterricht zumeist als Vorlagen dienen, aktuell etwa Gloria nach Adam Riese: Kinder werden bei dieser Lektüre auf eine abenteuerliche Fahrt in einer Badewanne mitgenommen. Und die Reise beginnt vor Ort am besten mit Seifenblasen-… man bringt demnach Seifenlauge mit und verwandelt den Workshop-Raum kurz in ein „Badewannenwunderland“. Und praktischerweise bringt man den Kindern auch gleich bei, wie man sich selbst Seifenlauge kreiert (wenn diese im Buch schon so eine große Rolle spielt). Und dabei erzählt man davon, wer die Seifenblasen erfunden hat, oder verblüfft damit, dass man diese sogar gefrieren lassen kann-… Ich erinnere mich an eine ältere Klasse, wo ich mich nicht zuletzt mit vielen Werken anderen Autoren beschäftigte, da diesbezüglich etliche Impulse hierzu von den Schülern kamen- - die Workshopaufgaben spiegelten diese dann wieder- … so wurden etwa Phantasiecocktails kreiert, nachdem sich herausstellte, dass viele der jungen Frauen erst unlängst den Film Cocktail (mit Tom Cruise) gesehen hatten. Ich las ihnen hierzu eine Passage aus dem systemkritischen Buch Die Reise nach Petuschki vor, wo der Hauptprotagonist viel seiner Zeit damit verbringt, Cocktails zu mischen. Basierend darauf entstanden einige wagemutige neue Drinks-… Ich versuche zudem immer beiläufig zu erklären, was man in Büchern (auch meinen eigenen) bestimmt nicht auf den ersten Blick erkennt, was allerdings konzeptuell eine große Rolle spielt, es gilt, die Ideen dahinter zu vermitteln. Bei Gloria nach Adam Riese ist es z. B. das Bewusstsein für Perspektiven. Denn eine jede Seite zeigt zwar stets das Badezimmer, in dem beide Kinder (Gloria und Adam) in der Badewanne sitzen, allerdings-… die Perspektiven und die damit verbundene Wahrnehmung des Raumes verändert sich. <?page no="62"?> 62 II. Identität(en). AnSätze Einmal sieht man das Badezimmer von oben, ein anderes Mal von unten, dann wieder durchs Schlüsselloch etc. etc. In weiterer Folge kann man mit den Kindern diese „Wahrnehmungen“ diskutieren und erklären, wie wer einen Raum wahrnimmt- - dass etwa die Größe eine Rolle spielt. Und wie sieht eigentlich ein Hund die Welt? Oder eine Biene? Am Besten kommt man vom Hundertsten ins Tausendste, omnia in omnibus. Dass man sich auf diese oder jene Aspekte vorbereiten muss, liegt auf der Hand-- erfahrungsgemäß genügen aber kurze Recherchen im Internet, um sich einen Grundstock an erforderlichem Wissen anzueignen. Sollte man Fragen des Publikums mal nicht beantworten können, so empfehle ich dieses unumwunden zuzugeben bzw. selbst mit den Schülern vor Ort eine Recherche durchzuführen. Ich versuche allen Schülerinnen und Schülern jeden Alters zu vermitteln, wie wichtig das Lesen und ein gewisser Wortschatz an sich sind, erzähle gern davon, dass ich meine Bücher mit der Hand schreibe, weil ich mir dann sorgfältiger überlege, was ich da aufnotiere. Mit jüngeren Schülern kann man dann etwa über Handschriften plaudern oder gar im Rahmen eines Workshops als Intermezzo die „spannendste Handschrift des Tages“ küren etc. Bei älteren Schülern, wenn genug Zeit dafür bleibt und die Kommunikation mit den Lehrern vor Ort reibungslos funktioniert hatte, bitte ich gern darum, das jeweilige Lieblingsbuch mitzunehmen. Darüber lässt sich eine ganze Weile diskutieren, und die Schüler lernen Bücher-- so überhaupt möglich-- zusammenzufassen. Ich nenne diesen Programmpunkt „Klappentext“. Und erzähle dann davon, wie problematisch Klappentexte eigentlich für Autoren sind, obgleich das Kürzen und Zusammenfassen an sich eine Grundbedingung guter Literatur ist. Nach und nach bemühe ich mich, die zentralen Punkte anzusprechen, die Autoren beim Schreiben handhaben müssen: Das Kürzen, die Wiederholung (als gutes und schlechtes Stilmittel), die Metapher, den Duktus, den Wortschatz, formale (Satzbau) und inhaltliche (Dramaturgie) Kriterien im Allgemeinen etc. Grundsätzlich bleibt aber immer die Spontanität das Allerwichtigste- - nur dann kann man Impulse der Schüler in seinem Unterricht und seinen Performances inkludieren. Da ich viel mit Ironie arbeite, ist mir diese ein Anliegen-… man kann- - literarisch gesehen- - mit Schülern bzw. Studenten anhand von Textbeispielen den Unterschied zum Zynismus herausarbeiten. Bei jüngerem Publikum bin ich stets für eine kalkulierte Überforderung (auch wenn es die Lehrer mitunter nicht gern sehen- - manchmal ist es sowieso ratsam, die Lehrer nicht am Unterricht, Workshop etc. teilnehmen zu lassen. Dann verhalten sich die Teilnehmer in der Regel ganz anders, allerdings muss man dann selbst eine gewisse Disziplin einfordern). Überforderung regt grundsätzlich Phantasie und Neugier an-- sie ist ein Rätsel, eine Herausforderung, eine Spielwiese. Man muss nur dafür sorgen, dass diese nicht in Frustration umschlägt, was generell ein Problem sein kann, vor allem bei sehr heterogenen Gruppen. Ich bemühe mich bei meinen jüngeren Zuhörern darum, eine gewisse Sensibilität bestimmten Themen gegenüber aufzubringen: Anatomie des menschlichen Körpers, Bienensterben, Tod etc. So entstehen nicht zuletzt die Ideen für meine Kinderliteratur, die allerdings immer für ein älteres Publikum interessant bleiben müssen. Selbst die einfachsten Textteile lassen <?page no="63"?> 63 Einige praktische Gedanken zur Didaktik unter dem Augenmerk der Literaturvermittlung an Schulen sich für Ältere adaptieren-… und sei es auch nur, um etwa über die Entstehung des Alphabets oder des Buchstabens zu sprechen. Dass Letzterer etwa auf die Kelten zurückgeht und dass diese früher auf Holzstäben aus Buchenbäumen ihre Symbole (Runen) kritzelten, und dass ein „Buchstabe“ zunächst nichts anderes als ein Stab von einer Buche war. Und hätten die Kelten früher lieber Birken verwendet, dann würde unser heutiges Wort für Buchstabe wohl „Birkstabe“ oder „Eichstabe“ etc. heißen. Es sind oft die einfachsten Geschichten, die dafür sorgen, dass eine Schulstunde einen positiven Verlauf nimmt. Es fallen einem auch in jeder Schulstunde neue Dinge ein, die man in seine „Literaturvermittlung“ einbauen kann, es soll nur immer authentisch und verspielt bleiben; etwa Jamben und Trochäen (also das Grundversmaß) anhand von Beats und Trommelrhythmen zu erklären, oder jeden Schüler einen Neologismus kreieren zu lassen, der dann verlesen wird und zuletzt alles im Kanon (ich hab das erst unlängst gemacht und die Schüler haben eine echt gute Performance daraus kreiert)-… eine gute Schulstunde, ein gelungener Workshop, alles ist und bleibt auch ein Versuchslabor, der Autor ist nicht zuletzt „nur“ ein Moderator, jemand, der das vorhandene Potential zu fokussieren, letztlich aber niemals der Kreativität der Schülerinnen und Schüler im Weg zu stehen hat, weil er sich selbst lieber mit anderen Dingen befassen würde. In dieser Haltung liegt für mich der Schlüssel eines erfolgreichen Unterrichtstages: Das Wissen und das Interesse der Schüler so zu arrangieren, dass sie sich selbst Neues erschließen wollen. <?page no="64"?> 64 II. Identität(en). AnSätze Familie: Textintermezzi I Zehra Çirak Waren Adam und Eva die ersten Eltern, die eine Familie gegründet haben? Warum haben sich die Höhlenbewohner, diese Sippen der frühen Menschenzeiten, mit anderen Familien aus anderen Höhlen verbündet oder verfeindet? Heute müssen, können oder wollen wieder Familien aus den einen Orten und Staaten sich in die Höhlen der anderen Familien, in anderen Staaten, anderen noch für sicher georteten Höhlen einfinden. Purer Zufall ist es, in welches Land, in welche Zeit und in welche Umstände hinein man geboren wird. Glück oder Unglück, wie die eigene Brutpflege dann verlaufen wird. Wozu und wohin will das führen? Wieder ist eine Umbruchszeit auf dem Planeten Erde. Sind wir betroffen oder Beobachter oder Beteiligte von ganz einfach gesagten, aber gewichtig gehandhabten guten oder schlechten Taten? Nur schnell weiter, weg aus der Gefahr oder dem Elend. Dem Bombenansturm, den Mördern oder dem Verhungern entfliehen. Viele schöne Länder werden zu qualvoll zu durchschreitenden Überlebensfluren. Wer hat da schon den Blick für die liebliche Landschaft, für die schön geschwungenen Flüsse oder für die Schönheit der Meere, die letztendlich beim Überwandern zur letzten Station werden können, zum stillen fremd verlorenen Grab? Die Koordinaten, die Horoskope, nicht einmal mehr der Kompass im eigenen Herzen sind noch zuverlässig. Die sicheren und wohlhabenden Orte reden über Zerreißproben. Und täglich verdursten, verhungern und verkommen die Zöglinge einer Brutpflege, die keine Aussicht auf Zukunft erwarten. Aber wie gut, dass sie noch so klein sind und das alles noch nicht verstehen. Schrittwechsel Wenn das Gierige weiterlebt nach Zerfall des Körpers und nur der Gedanke übrig bleibt es könne auch ohne Vernichtung ein Ende geben will nichts bösartig gewesen sein was einmal mit Angst geatmet hat Notwehr Knüppel und Knüppel gesindelt sich gern egal wohin sie sich verschlagen wohin und wen sie treffen ein Knüppel verlängert den Arm ein anderer verkürzt ein Leben Arme schlagen aus wie Flügel und heben ab zur Knüppelfahrt auswärts fliehen Dortige und seitwärts reisen Hiesige <?page no="65"?> 65 Familie: Textintermezzi I arme Arme Knüppelhalter immer unterwegs treffen sie sich zu und winken sich Arme ab die Erde ist ein Dorf ein rundes auf unser Dorf schauen Nachbardörfer sie halten sich andere Arme mit anderen Knüppeln uns liegt nichts nah uns liegt nichts fern wir sind erst übermorgen dran. Zwischen alle Gefahrenfronten geratene Brut Die Herzen zu die Grenzen dicht es gilt als Schande unerflüchteter Dinge wieder nach Hause ins Elend zurück zu kehren potentielle Kandidaten für Europa wer darf wer kann wer soll und sie sterben jeden Tag weil niemand will sie haben da weil sie niemand da haben will Legal Illegal ab ins Regal der Vorurteile so heißt die Formel des Überlebens Sie kommen und wir haben schon längst die Schlafmasken im Gesicht wollen unsere Träume ungestört abschlafen da ist Verunsicherung und Unruhe das ist wie eine harte kratzende Gänsefeder im wohlweichen Ruhekissen Schneegans Aus dem Alptraum einer Schneegans war dies zu hören, sie flöge im natürlichen Lauf, ihre Jahreslinie gen Süden. Dort Wärme, dort Zeit, dort gutes Träumen von Heimaterde. Unterwegs ein stählerner, ein lauter ein stinkender Vogel, ihr auf unerhörter Höhe in die Bahn, die Quere geflogen. Rot der Schnabel, das Gefieder, rot der metallene Flügel. Zum Vogelglück dann die Schneegans zügig aufgewacht. Schneegänse rufen gerne im Flug und sie seien berufen für Menschenträume, auf Kissen mit Gänsefederfüllung. <?page no="66"?> 66 II. Identität(en). AnSätze Fliegen lernen Fliehen lernen Längst schon können wir durch die Lüfte reisen, weiße Fluglinien in den Himmel schneiden. Aber wir träumen weiter vom Fliegen lernen am eigenen Leibe. Bereits der Traumzeit ist der Wunsch des Fliegens dem Menschen entschlüpft. So aus dem Mythos gegriffen, die Begegnung von Bonorong und Janarang. Beide wollten fliegen lernen und sich erheben wie ein Kranich, wie ein Reiher. So machten sie sich auf, und suchten mit Wind unter den Achseln ihre Federn, bis ihnen Federn wuchsen, riefen und flatterten sie, als übten sie den Vogeltanz. Bonorong und Janarang endlich gefiedert, ziehen singend in unsere Träume ein. Fliegen haben wir noch nicht gelernt, aber singen können wir wie die Vögel. In Erinnerung an mein Lieblingskinderlied: „Auf einem Baum ein Kuckuck saß-…“ Die Brut stählen Man wird doch wohl nicht mit Appetit, dem Schnabel, der einen füttert, das Köpfchen abbeißen. Auf einem Traum ein Vogel stumm-… Schaut nur, wie wohl geraten unsere Brut, wie schön und ganz nach Art der Eltern gelungen. Simsalla Papa, Bimbam. Basalla Mama, Bum. Es sind ja immer die Kinder, die der Tradition des Trockenbrot-Essens die Seele aufweichen. Auf keinem Baum ein Vogel mehr wohnt-… Das gab es früher nicht, dass wir nur mit falschem Wasser vermischt zu echten Tränen neigten. Da kam kein Fallschirmjäger drum herum. Unser kurzes Leben hängt wie ein fester Strang, das nach gutem Ziehen, zu reißen verlangt. Und als ein Jahr Vergangenheit war-… Diese Erziehungsmaßnahmen sind unerwünschter Weise erlaubt und wie zu Befehl empfohlen. Simsala Bimbam Basalla Dusala Dim. Stahl härtet, bildet sich zum Aushalten aus, wird nicht von solch Kinderliedern verweichlicht. Da war der Himmel wieder da… Am Seil Auf, auf, hinauf und hinaus gezogen hin in die bessere Welt, von dorten aus immer weiter, immer weiter zügig. Im Anhang eine Nachricht oder gar die ganze Familie eingeführt. Mit einem bekümmerten Haken in der Oberlippe, …-hat so eine aufgeworfene Lippe riskiert. Halt den Schnabel Kind, du weißt noch nicht wovor, du dich in Zukunft hüten solltest. Das Kind blickt ängstlich in seinen Morgen und erschrecklich in eine Vergangenheit. Gott liebt alle seine Wesen auf Erden, manche liebt er mehr und gabelt sie früher auf. Damit sie seinen Himmel schmücken, und hie und da glitzern Nächtens diese Sterne. <?page no="67"?> 67 Familie: Textintermezzi I Ortswechsel oder Austausch der Anlagen Es war einmal das Gelbe vom Ei. Es war einmal eine gut angelegte Verheißung. Es wollte einmal auf einem Gerüst auf der Baustelle des Lebens, hoch hinaus. Es wollte ohne die Bestimmungen der genetischen Vorlage, einen Sprung innerhalb der Abenteuergesetze, einen Austausch der Anlagen. Es sollte aber doch einmal so bestimmt, das Weiße vom Ei sein. So wie das Weiße in unseren Augen, beim misstrauischen Betrachten einer Baustelle, die nicht verrät, wohin das Leben sie baut und wem sie dabei etwas wegnimmt. Die Bausteine des Lebens ahnen nicht immer, ob sie vorgesehen sind für den Boden eines sicheren Kellers oder für ein stabiles Dach. Es war einmal ein Umbauvorhaben. Ein großer Geist zieht um in einen kleinen Körper. Ein Kleingeist verschafft sich bei diesem Umzug erheblich mehr Lebensraum. Geflüchtet Und dann bin ich einfach nicht mehr da ihr schaut euch nicht um nach mir werdet selten sagen wie schön es war alles wir bleiben für euch nehme nichts mit dafür bin ich fort fühle mich jetzt schon so sehr verlaufen möchte den Weg zurück doch es ist die Einbahnstraße vor der ich mich fürchtete die ich umgehen wollte in die ich geriet Menschenkinder Aus einem Text einer Schülerin einer meiner Schreibwerkstätten habe ich diesen Satz herausgepflückt: Eines Nachts setzte sie endlich ihre Füße auf den steinigen kalten Boden des Mondes. Wunderbar dieser Satz, diese Vorstellung von jemandem, der fortging von seinem Planeten, um irgendwo in der Fremde anzukommen, und endlich seine Füße aufsetzt. Die Erde, der Mond. Noch ist die Erde bewohnbar, noch ist der Mond es nicht. Aber in phantasierten Geschichten ist alles möglich. Das Wandern von da nach dort. Früher durch Wald und Wiesen mit überblickbarer Romantik. Jetzt ist es manchmal ein ganz anderes profanes Abenteuer. <?page no="68"?> 68 II. Identität(en). AnSätze Länderkunde Ein gehend Stück barfüß einlaufend fürbaß Ein Wanderer ein Wand er er ein Wander er Einwand erer Einwander er Einwanderer Ein-- wanderer Brutpflege HI MOM NICHT ZUR RECHTEN ZEIT NICHT AM RICHTIGEN ORT Zu einem Bildobjekt ( Triptychon ) von Jürgen Walter NICHT ZUR RECHTEN ZEIT - HY MOM - NICHT AM RICHTIGEN ORT <?page no="69"?> 69 Familie: Textintermezzi I Hallo Mutter Danke, dass du mich in Istanbul neun Monate getragen und geboren hast. Danke, dass du mich an meinem dritten Geburtstag zu meinem Vater, der schon ein Jahr zuvor nach Alamanya ausgewandert war und uns bereits erwartete, gebracht hast. Dank dir, dass du auf mich aufgepasst, mich vor den Gefahren auf der Strasse bewahrt hast, auf dass mich nichts überfahre oder zerquetsche. Hab Dank liebe Mutter, dass du und Vater mich in dieser damals für uns alle ganz neuen Welt aufgezogen und meiner Meinung nach gut erzogen hast. Und verzeiht mir, dass ich nach eurer guten Brutpflege am guten Ort ganz eigenmächtig, für mich zur rechten Zeit mit einem anderen Vogel, den ich liebte, ungehöriger Weise einfach abgehauen und davongeflogen bin und euch verlassen habe. Verzeiht mir, dass ich euch Sorgen, Ärger und auch Scham bereitet habe. Aber ich war zur rechten Zeit am richtigen Ort mit dem richtigen Partner dort angekommen, wo ich so lange Zeit glücklich leben durfte. <?page no="70"?> 70 II. Identität(en). AnSätze Familie: Textintermezzi II José F.A. Oliver Jede Entscheidung sei auch Verzicht, sagt Spinoza, und die Emigration, sinnierte einst mein Vater, verändere die Identität des Menschen. Zwei Sätze, die mir früh die Gültigkeit einer Erkenntnis schenkten. Sie wurden zum Fundament einiger der mit ihr verbundenen Wahrnehmungen und schnürten mir ein proviant- und segensreiches Wanderbündel. Es käme noch ein Satz hinzu, der mir schon in jüngsten Lebensfragen Antwort wurde. Er ließ mich auch im Nachhinein immer wieder innehalten, so dass ich viele meiner Standpunkte oder Entscheidungen von einer anderen Warte aus betrachten konnte. Blickwinkel, die eine andere Position einnahmen oder sich erweiterten. Ich weiß nicht mehr genau, wer es war, der ihn mir sagte, als er vernahm, dass ich einen spanischen Pass hätte. Ich glaube, es war ein kleiner Junge aus Südamerika. Aus Peru. Die Ausbeutung der Kolonien, so ließ er mich gringuito wissen, habe Europa reich gemacht. Wer wollte dem widersprechen? Ich konnte es nicht. Ich wüsste auch nicht, wie. Initipa huajascar huajani-- „Von der Sonne geweinte Tränen“, so heißt Gold auf Ketschwa. Was könnte ich noch erzählen von meiner Beziehung zu jenen Sätzen, die mir sprachlich und inhaltlich Wegweiser aufstellten und mir ungeahnte Horizonte eröffneten? Welchen der vielen zitieren, vor allem diejenigen, die mich bis heute prägen? Diesen vielleicht noch: Geschichte scheint, besser gesagt, Geschichte ist ein Teddybär im Schlamm. Ein Bild, das frieren macht. Mit einem einzigen Satz gefrieren. „Keiner gefriert anders“, fällt mir ein. Der Titel eines Lyrikbandes von Joachim Sartorius. Geschichte ist ein Teddybär im Schlamm. Der Satz greift nicht nur ins Vergangene. Er entpuppt sich gerade in diesen Tagen in einer erschreckenden Vehemenz und mit einer unverhofften Plötzlichkeit als ruchlos stummpolierendes Metapherndilemma Europas. Vertreibung. Flucht. Exil. Zeit, davon weiß ich zu erzählen, nagt an den Sätzen. Nagt sie ab vor Tod. Bis zur Knochenkenntlichkeit. Dachte oder denke ich an die Sätze, denen ich bald in meinem Leben begegnete, nun als „Herkunfts-Spanier“, der ich in meinen Kinderjahren und als Heranwachsender auch zu sein gewesen hätte bin (pardon, ob der grammatischen Fehl-Zeiten und Schräg-Konjunktive)? Oder als jemand, der in Deutschland, in der alten Bundesrepublik Deutschland, „Auch-Spanier“, „Obwohl-Spanier“, usw. usf. gewesen ist? Sie verstehen? Ja, gewiss verstehen Sie. Sie wissen um die Bilder. Dass immer von den zwei Seiten einer Medaille gesprochen wird und nur selten von ihrem Rand. Aber ich will mich nicht ans Sprachanekdotische und Gedächtnishafte verlieren. Das wäre zwar in mancher Hinsicht heiter, doch leider auch zu oberflächlich. Ich fasse deshalb meine Satzverliebtheit und deren aficionado, also mich, ins Ungefähre zusammen. In einer vorläufig gehaltenen Wort-Synthese zweier kurzer Sätze, die einen Rand bedeuten. Mit mir eins im Weitergehen: „Ich nehme wahr. Ich bin ein „W: ander- Andalusier“. Ja, das gefällt mir wohl am Besten. <?page no="71"?> 71 Familie: Textintermezzi II „Wenn ich einst tot …“ 1 Entwurf. 1 Tristolog Manchmal, wenn ich im Sommer bei offenem Fenster schlafe, wenn die Nacht lang gewesen ist und ich mir den vermeintlichen Luxus der Freischaffenden erlaube, länger zu ruhen als üblicherweise, weil sich der Schreibfluss wieder einmal der Stille der einsameren Stunden und dem Wort ergeben musste, höre ich von der Straße her ein paar mir sehr vertraute Stimmen. Drei Männer, die ich von klein auf kenne, die ein Teil meiner Welten wurden. Kaum, dass ich gehen und zwischen den fremdfernen Schattenikonen einiger Olivenbaumgestalten und den vor allem im Winter rätselknorrigen Silhouetten der Schwarzwaldtannen einen kühlen, nicht unbedingt kalten Unterschied feststellen konnte. Auch wenn dieser manchmal hitzig war. Die Männer sind die letzten der für uns, ihre Kinder, unglaublich verschworen wirkenden Gemeinschaft, die nach und nach aus meinem Hausach ein „andalusisches Schwarzwalddorf “ gemacht hatten. Unter meinem Fenster also, fast täglich, ein südklingendes, mediterranes Stimmengeplänkel und Wörterscharmützel, deren Lautkomposition und Rhythmen-Stakkato vom gemächlichen Gang oder vom unerwarteten Stillstand leiser Schritte bestimmt wird. Drei Männer unterwegs. Der eine, ein Don Antonio, der wieder einmal dezidiert konturierend von seinen Ersparnissen auf der Caja de Ahorros oder der Libreta de Emigrantes spricht. Der verheißungsvollen Sparkasse spanischer Variante und ihrem „Sparbuch für Emigranten“. Ich höre fast, wie er überschwänglich gestikuliert. Ein Crescendo, das zum Bild mutiert. Mit einer den Morgen durchdringenden, kraftspitzen Stimme. Fast ein messerscharf vibrierender, hoher Tenor. Dann der andere, dem die beispiellose Ermahnung kraft des monetären Eigentums wohl galt. Auch er ein Don Antonio. Welch Zufall. Ein zweiter dieses Namens, der dem ersten Don Antonio nicht minder ausdrucksstark Paroli bietet, indem er jenen fragt, weshalb er immer noch den verdammten Fehler begehe, an Spanien zu glauben. An diesem Land festzuhalten. Überhaupt sich so an ein Spanien zu klammern, das er ja schließlich hätte verlassen müssen und immer noch der Illusion nachhinge, er würde einst wieder zurückkehren. „¡Y eso a tu edad! “ Und das in deinem Alter! Ein gesegnetes Gastarbeiteralter von achtzig Jahren. Obschon der zweite, Sie ahnen es, die achtzig ebenfalls überschritten und natürlich alles im Leben verloren hat. Außer seinen Kindern und natürlich dem Sparkonto. Bis dann der dritte, stellen Sie sich vor, Sie werden es kaum glauben, richtig, ein weiterer Don Antonio, allerdings nicht aus Málaga stammend, sondern aus einer kleinen Provinzstadt in der Nähe von Barcelona, bis sich dann der dritte-- die Rituale lassen grüßen-- ebenso unüberhörbar eindringlich werdend und damit mächtig schlichtungsbereit anschickt, zwischen den etwas jüngeren Don Antonios freundschaftlich wie entschieden zu vermitteln. Der dritte im Bunde, das mag die Geste, die Situation nicht eskalieren lassen zu wollen, nachvollziehbar machen, geht nämlich stramm auf die fünfundachtzig zu. Eine mögliche Erklärung seiner Gelassenheit. Während der zweite Don Antonio einen eher rauchig monotonen Schleier-Bass dumpf in die Morgenlandschaft stößt und auf das kantig Dröhnende des ersten reagiert, kann dem dritten der Antonios durchaus ein lufthertastendes, eher scheuer, wundzarter, nicht unsanfter Alt in der Stimme zugehorcht werden. <?page no="72"?> 72 II. Identität(en). AnSätze Immer wenn ich auf diese Art und Weise vom antonesken Sommerstraßenwecker aus dem Schlaf geholt werde, frage ich mich, welche der drei Spanien- und Sparkassen-Positionen Vater wohl bezogen hätte. Denn sicherlich wäre er der vierte im Bunde der morgendlichen Gast-Spaziergänger gewesen. Obwohl er weder Antonio hieß noch ein übermäßig gut angereichertes Sparkonto mit Emigrantenvergünstigung sein Eigen genannt hätte bzw. hatte. Die Vorstellung genügt, dass der vierte der drei spanischen Disputanten mein Vater hätte sein können, und mich überkommt augenblicklich ein trauriges Gefühl. Ein Traueraugenblick vager Verlorenheit. Eine Sehnsucht nach längst abgelegten Tagen. Schönes samt Widersprüchen. Vorbei und doch präsent. Vorbei. In Hausach im Schwarzwald, möchte ich Ihnen erneut ins Bewusstsein rufen, und ich will bestimmt niemals müde werden, diese stadtgeschichtliche Zahl des Vergessens zu wiederholen, gab es einst dreißig Familien, die allesamt, bis auf zwei oder drei, aus Andalusien kamen. Die meisten der „eingewanderten“ spanischen Gastarbeiter sind heute entweder in ihr Geburtsland zurückgekehrt und leben dort von ihren Erinnerungen-- wohl temperierte Gedächtnislücken-- und von ihren Arbeitsrenten. Oder sie sind, hier wie dort, verstorben. Nur wenige pendelträumen noch zwischen dem, was Heimat war und Heimat wurde. Niemals Heimat ist. Heimatalt und Heimatneu und im Irgendwo ein Irgendwie. Bis hin zum Irgendwer und Irgendwann der Illusionen. Es gibt kein wirkliches Wort, das den Umstand der Vergänglichkeit benennen könnte, den Lauf der Zeit. Denn selbst das Bild vom Lauf der Zeit ist zu banal. Ein Memento allenfalls. Dargestellt durch die unsichtbaren Särge. Nichts, das auflöste, was Trost bedeuteten könnte. Geblieben sind die Kinder. Kindeskinder, Urgroßenkel. Punkt. Memento Cuando yo me muera, enterradme con mi guitarra bajo la arena. Cuando yo me muera, entre los naranjos y la hierbabuena. Cuando yo me muera, enterradme, si queréis, en una veleta. ¡Cuando yo me muera! Federico García Lorca <?page no="73"?> 73 Familie: Textintermezzi II Memento wenn ich einst tot, begrabt mich mit der gitarre im sand wenn ich einst tot zwischen den orangen und der minze wenn ich einst tot, begrabt mich, wenn ihr wollt, auf einer wetterfahne. wenn ich einst tot! Nachdichtung José F. A. Oliver Die erste Begegnung mit Federico García Lorca war eine zärtliche. Eine zarttraurige. Ein Aufhören machendes, melancholisches Nah- und Näherkommen an das spanischsprachige Wort „anhelo“. Ein Begriff, den ich mit Sehnsuchtsatem übersetzen würde. Dessen Ursprungslaut jedoch das Letztausleibende des Atems birgt. Ein Bis-zum-letzten-Atemzug-Begehren. Die Leidenschaft der Niederlage im Trauerseufzer aufgehoben. Im Spanischen ein Ammenweib. Frau Tod, die sich verzehrt. Nach Leben giert und sagt: „Ich kenne Dich! “ Mutter war es, die uns mit ihr, der Tödin, und mit Lorca, dem todgeweihten Poeten, den Widerruf ins Eigene des Hörens schuf. Sie sang das Wiegenlied der beiden Kontrahenten. Jene nana, die der Dichter im Auftrag des Granaíner Komponisten Manuel de Falla in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aufgestöbert hatte. Sie sang die Lebenstodesweisen, die beide meint, Kind und Mutter. Wie viele seiner Lieder, die den Tod nicht bannen und die den Lebensruhm der Welt erlangen sollten. Bestimmt auch deshalb, weil sie die Universalität Andalusiens in sich tragen. Von heute aus betrachtet trugen. So meine ich. Viel von ihr ist nicht geblieben. Von jener vielbesungenen Symbiose der Kulturen. Von dem, was Orient und Okzident ins Moll verschmolzen hatte. Manche sprechen gar von deren Synthese. 1 Córdoba. Nicht in Dur, sondern in Moll. Trauer-- so liegt der Verdacht nahe-- verbindet die Völker stärker als die Lust einer wie auch immer gearteten Siegesfeier. Später begegnete ich Lorca in Lorca. Auf einer jener sich endlos ziehenden Heimwärts- Fahrten der Eltern, die zu Beginn der sechziger Jahre im vorigen Jahrhundert nicht immer finanzierbar waren, die sich jedoch bald, mit zunehmendem Wohlstand, jeden Sommer ereignen sollten und uns sechs Wochen lang aus der Vorstellung in die Wirklichkeit der Vorstellung katapultierten. Fiktion als Gezeitenpaar. Und wir gestrandet. Als Kind dachte ich Lorca, der Ort, sei nach Lorca, dem Dichter, benannt. Ich sollte mich täuschen. So wie ich mir bei der Lektüre meines ersten Buches auf den Buchdeckelleim gehen sollte. Ein Roman, den ich, ohne ihn aus der Hand zu legen, verschlungen hatte: Die Kinder von Torremolinos. Das Taschenbuch, das ich in der Auslage einer Buchhandlung als Zwölfjähriger entdeckt hatte, musste augenblicklich meines werden. Sein vielversprechender Titel <?page no="74"?> 74 II. Identität(en). AnSätze war mir förmlich in den Kopf gesprungen. Getreu meiner Logik. Sie hatte mir das verwirrte Herz selbst kurz vor dem erregenden Aufbruch in die aufwühlenden Teenagerverhältnisse mit großen Widerstand lange noch kindsverankert. Es schien mir sonnenklar und logisch. Wenn das Buch von den Kindern aus Torremolinos sprach, dann musste Vater in dem Roman eine Rolle spielen. Schließlich war er in Torremolinos geboren worden. Der Titel hieß ja nicht: „Ein paar Kinder aus Torremolinos“, sondern Die Kinder von Torremolinos. Ich las und las. Seite um Seite nach seinem Vor- und Nachnamen Ausschau haltend. Nach allen seinen Namen suchend. Und konnte ihn partout nicht ausfindig machen. Da war nichts zu machen. Nichts hinein zu fantasieren. Nicht die geringste Spur von ihm. Als ich den letzten Satz gelesen, was heißt gelesen, in mich hineingefressen hatte, brach es wie ein literaturkritischer Urknall aus mir heraus. Ich schimpfte auf James A. Michener wie ein Rohrspatz und haderte. Von seinen Publikationen wollte ich schließlich auf lange Zeit nichts mehr wissen. Für mich und meine Vorstellung hatte er versagt. Alles Lüge und Verrat. Später hingegen half mir diese Erfahrung zwischen Fiktion und Wirklichkeit nicht nur, meinen imaginären Faden der Vorstellung, sondern ein ganzes Netz aus Wahrheiten mäandern und poetisieren zu lassen. Vater konnte mit Lorca wenig anfangen. Literatur war nicht so recht sein Ding. Nichtsdestotrotz erlebte ich in ihm zeitlebens den leidenschaftlichen Fabulanten. Geschichten entspannten ihn. Meistens erzählte er aus seiner Kindheit in Málaga. Natürlich auch in verbalen Unberechenbarkeits- und Freudensprüngen aus seinen Jugendjahren. Nicht von ihnen. Aus ihnen. Reine Pubertätspurzelbäume. Selbst im Nachhinein. Er rollte förmlich aus den Geschichten heraus. „Schon früh waren wir, unmittelbar nach dem Bürgerkrieg, von Torremolinos nach Málaga, in die Hauptstadt der Costa del Sol, gezogen. In einem Pförtnerhaus haben wir gewohnt. Eure Großmutter, euer Onkel und ich.“ Ein paar Wochen vor seinem Tod sollte Vater einmal sagen: „Der einzige Fehler, den ich in meinem Leben gemacht habe, war zu glauben, dass ich immer jung bleiben würde.“ Das war sein Satz. In eine Zeit gesagt, in der ich mir das Alter noch nicht vorstellen konnte. Altwerden und Alt-Sein war, wenn überhaupt, mit den Großeltern in Verbindung zu bringen. Nicht mit Vater oder Mutter. So lebendig, kraftstrotzend und abenteuerlustig seine Geschichten auch immer waren, schon früh, und nicht nur einmal, sagte Vater zu uns Kindern: Wenn dereinst ich sterbe, dann begrabt mich dort, wo aus der trockensten Erde noch eine Blume wächst! Jener Sommer, der ihn sterben sah und von dem ich auch sprechen möchte, roch nach Kamelien und schaute Zypressen. Ein Sommer, der davonkroch. Nachtsüchtig. Schleppend. Wie ein Mensch ohne Sprache, aber in Bildern. Ein Sommer, der ertrank. An sich selber unterging. Die Plötzlichkeit der Altheit, die sich die fernen Körper holte. Heimholte. Und die nahen, die toten, die lebenden Körper. Unsere. Es war August. Ein Vater-August. Seither trägt der Tod die Abschiedsschwere des Heumonats. „augustverinnert 1 sterben“ sollte ich irgendwann schreiben und die Zeilen „kehre wort um wort zurück / und vertraue dem ende“. Vorweggenommen 1 Alt 1 Sein. Dazwischen 1 nacktes Haben. Davon der Konjunktiv und alle anderen Konjunktive. 1 bloßes Hätte, ein nacktes „Was-wäre-wenn“. Nur dass er, der achte, <?page no="75"?> 75 Familie: Textintermezzi II damals-- 1995 war’s, an einem 26sten des Monats-- nie wieder ein hemdsärmelleichter sein würde. Kein Spiel, das uns kindssommerlange Abendstunden um die Schultern legte, sondern das dunkle Tuch der letzten Gewissheit umhing. Tod als erste Ahnung einer Ankunft, die Abschied meint. Vater hatte es geschafft. Es war ihm gelungen. Wir waren angekommen. Zum ersten Mal in unserem Leben band er uns wirklich an Andalusien. Was er immer und immer wieder versucht hatte, geriet ihm durch seinen Tod zum Lebenserfolg. Seine Hinterlassenschaft. Ein Vermächtnis. Andalusien war keine verführerische Sehnsucht mehr, „el anhelo“, sondern ein toter Körper. Eine Friedhofsmauer. Eine Marmorplatte. Eine sich erfüllende Hoffnung, die muerte hieß. Frau Tod. Bizarr. Wie vergessen, als hätte man uns nicht abgeholt, standen wir um einen heruntergekühlten, offenen Sarg und blickten auf ein Gesicht hinter dickem Glas. Wir wollten oder sollten ihn nicht mehr wieder erkennen. Vater. Er lag da. Ein Fremder. In seiner von ihm so oft beschworenen Heimat Andalusien 1 Fremder. Uns ein Fremder. Schmerzlicher hätte der Anblick nicht sein können. Der Tod unseres Vaters hatte uns alle noch einmal in Málaga versammelt, und ich dachte-- soweit ich überhaupt noch imstande war zu denken: „Ein alter Elefant. Wie ein alter Elefant, der sich aufgemacht hatte, um mit sich selber ins Reine zu kommen. Zurückzukehren. Heim. Dorthin, wo Heimat Ursprung war.“ Als wir Kinder waren, wurde uns erzählt, dass ein alter Elefant, der den nahenden Tod verspüre als hätte er einen gewaltigen Hunger, sich von der Herde entfernen würde, um allein jenen Ort aufzusuchen, an dem er zu sterben gedachte. Die Herde zöge weiter. Der Tod bliebe zurück. Niemand wisse, wo genau sich die Elefantenfriedhöfe befänden. Nur sie. Dass Elefanten ein faszinierend langes Gedächtnis haben, das weiß ich. Ob der Mythos ihrer Friedhofswahl stimmt, weiß ich nicht. Ich will es auch nicht wissen. Mir genügt die Metapher des Rückzuges. Das Gleichnis der väterlichen Einsamkeit. Sie ist bei dieser „Ersten Generation“-- eine lost generation hatte ich einst frei nach Gertrude Stein formuliert-- zur Lebenssinnbild geworden. Wie ehemals deren „Aufenthaltsgenehmigungen“ und „Arbeitserlaubnisse“, der Status „Gastarbeiter“ schiere Parabeln sind. Bis heute sind die Stempel nicht verblasst, die behördlichen Begriffe Stechuhrzeichen. Mutter hatte uns Geschwister Minuten zuvor-- wir waren mit einer der unzähligen Chartermaschinen zwischen Hunderten von sonnenhungrigen Touristen von Frankfurt aus am Tag der Todesnachricht nach Andalusien geflogen- - Mutter hatte uns auf der Freitreppe des städtischen Beton-Gottesackers in Málaga mit den Armen voller Unfassbarkeit empfangen. Gibt es so etwas wie eine welke Kraft der Nähe? Wir konnten in jenen Stunden ihrer schutzlosen Trauer keine Welten, keine Zeiten mehr voneinander unterscheiden. Als wären alle Tempi eins. Das zusammenstürzende Konstrukt der Zeitvorstellungen. Deren Rhythmen, wenn Trauer stürzen macht und Not. In der Todesanzeige, die wir später in Deutschland in beiden Kinzigtäler Heimatzeitungen aufgaben, stand zu lesen: „Er wollte in seinem geliebten Andalusien den Urlaub verbringen und musste dort seine Lebensreise für immer beenden. Wir trauern um Francisco Agüera González, der für uns alle unfassbar am 26. August 1995 in Málaga verstorben ist. Seinem <?page no="76"?> 76 II. Identität(en). AnSätze Wunsch entsprechend haben wir ihn in seiner Heimat beerdigt. Hausach / Málaga, im September 1995.“ Unsere Mutter war am 1. November 1960 in Hausach im Schwarzwald eingetroffen. Vater ließ sie, nachdem er schon ein paar Monate zuvor in einer Metallfabrik angefangen hatte zu arbeiten, nachkommen. In ein Land, das Zukunft bringen sollte. Zumindest ein paar Ersparnisse, um zu Hause in Málaga eine Existenz aufzubauen. Damals war Europa (von Andalusien aus gesehen) ein ferner Zauber. Mindestens fünf Tagesreisen hinter jeglicher Wirklichkeit. Züge, die gewechselt werden mussten wie Landschaften, die sich veränderten. Oder Bahnhöfe, deren Namen Omen schienen, wenn man sie hörte. Madrid Atocha, Paris Gare de Lyon. Paris Gare de l’Est. Dazwischen und danach zermürbende Wartezeiten an zwei Grenzübergängen. Der eine Irún. Der andere Kehl. Spanien war längst noch nicht Europa. Deutschland eher. Nicht jenes Europa, an das wir heute denken mögen und das sich im Augenblick selber erneut in Frage stellt. Deutschland gehörte damals für sie zu jenem Versprechen von Freiheit und Fortschritt, das hinter den Pyrenäen begann. Erneute Wirklichkeit und Fiktion in einem. Was für Spanien und die Diktatur, die sie großzügig zur Arbeit im Norden ziehen hieß, in dieser Reihenfolge nicht zutraf. Dort war Wirklichkeit. Bloße Wirklichkeit. Die leeren Töpfe quollen noch über vor lauter Bürgerkrieg und seinen Gespenstern, die fast 0 Jahre den Geist bestimmten und die Gitter vor den Mündern in die Herzen zementierte. Was sie jenseits der Grenzen erwarten würde, war aber auch Erzählung, Traum und Illusion. Die Reise von Málaga über Madrid und Irún nach Paris, schließlich vom Gare de Lyon zum Gare de l’Est nach Strasbourg und Kehl dauerte Tage. Mehr als Tage, Jahre. Mehr als Jahre, ein ganzes Leben. Als Mutter ihren 50. Jahrestag in Deutschland feierte- - eine Art Goldene Hochzeit mit Deutschland--, hatten vor allem die Anekdoten ein Stelldichein. Vater fehlte. Es erschien ein Zeitungsartikel. Man beglückwünschte sie. So wie man den Kurgästen gratuliert, die zum 0. oder 50. Mal den Jahresurlaub in einem der kleinen schmucken Schwarzwaldorte verbringen. Am Tag danach kehrte wieder Alltag ein. Trott, der seither nur selten die Hand zu reichen vermag. Es sei denn, man bezeichnete das Warten selbst als Ungewöhnlichkeit. Als kleine Abwechslung. Dass für sie irgendein Ereignis im Ort einträfe. Geburtstage, Weihnachten, Ostern, Fastnacht. Mutter scheint integriert. Über uns Kinder. Über die Enkelkinder. Jeder kennt sie, jeder schätzt sie. Nur manchmal ist sie alleine. Zu Hause. Nicht daheim. Sie ist in keinem Verein, sie geht in keine Gymnastikgruppe. Geht nicht ins Schwimmen für das sogenannte Dritte Lebensalter, ein Pflegefall ist sie auch nicht. Dafür gibt es ja Programme. „Migration und Krankheit im Alter“-- habe ich irgendwo gelesen. Nirgends fand ich jedoch ein Programm mit dem Titel „Migration und Nicht-Krankheit im Alter.“ Oder anders ausgedrückt: „Migrant und trotzdem gesund im Alter.“ Verzeihen Sie mir den Hauch von Ironie, die keine sein will, sondern einfach nur Humor. Im besten Sinne des Wortes. Sie wissen ja, Humor ist die phantasievollste Waffe der Unterdrückten. Ich fürchte den Tag, an dem ich morgens bei offenem Fenster wieder einmal die Stimmen der Antonios höre und dabei feststellen muss, dass es keine drei, sondern nur noch zwei sind. <?page no="77"?> 77 Familie: Textintermezzi II Dann wird sich eine jener Fragen erneut stellen, die nur im Konjunktiv Antworten findet. Irgendwo zwischen Herkunft und Heimat. Vor kurzem sagte Mutter, schier nebenbei, ob ich denn glaube, dass sie im Nachhinein betrachtet, eine schlechte Ehefrau sei- - unsere Eltern waren  Jahre zusammen- -, ob sie, fragte sie, im Nachhinein eine schlechte Ehefrau sei, wenn sie nicht in Andalusien an der Seite meines Vaters, sondern gerne in Deutschland, in der Nähe ihrer Kinder und Enkelkinder bestattet sein möchte-… ? Auf der schlichten Grabplatte meines Vaters auf dem Friedhof in Málaga steht in silbernen Buchstaben: Francisco Agüera González Málaga-- Hausach-- Málaga Ein Tod ist ein Tod ist ein Tod ist ein Tod ist kein Tod wie jeder andere Ausschließlich in deutscher Sprache. Ich wollte, dass dereinst die Kindeskinder-… Despedida Si muero, dejad el balcón abierto. El niño come naranjas. (Desde mi balcón lo veo.) El segador siega el trigo. (Desde mi balcón lo siento.) ¡Si muero, dejad el balcón abierto! Federico García Lorca Abschied Wenn ich einst im Tod dann lasst die Balkontür offen. Das Kind isst Orangen. (Von meinem Balkon aus kann ich es sehen.) Der Schnitter mäht das Korn. (Ich kann ihn fühlen von meinem Balkon aus.) Wenn ich einst im Tod dann lasst die Balkontür offen. <?page no="78"?> 78 II. Identität(en). AnSätze „Unterrichtseinheiten“ sind weniger in „Einheiten“ zu begreifen, sie wären eher als „fließende Auseinandersetzung“ zu bezeichnen, die alle bis dato angedachten und ausgeführten Textarbeiten miteinander verwebt. Im Vordergrund steht immer der „Feinschliff“ der Wörter, die von den Schülerinnen und Schülern verwendet werden. Ein intensives Sprechen, Nachfragen, Aufhorchen schafft die Grundlage für die Verschriftung der Gedanken und Gefühle der Einzelnen. Sei es nun in der Auseinandersetzung mit einem Gedicht Bertolt Brechts oder einem selbst verfassten Text einer Schülerin oder eines Schülers. Ich erinnere eine Aufzeichnung zu einem Gedicht einer Schülerin an der Realschule Ostheim in Stuttgart, die zum Thema „Familie“ und „Liebe“ folgende Zeilen schrieb. Ich zitiere: Liebe Ich zieh ein gelbes Kleid an Und werde wie die Sonne Ich zieh ein blaues Kleid an Und werde wie das Meer Ich zieh ein schwarzes Kleid an Und werde wie die Nacht Wer weiß Vielleicht zieh ich ein weißes Kleid an Und werde deine Frau Dilara Karayay, 2008, damals 15 Jahre Dilara Karayay hatte diesen Text zunächst auf Türkisch geschrieben und anschließend ins Deutsche eingeholt. Damit war eine unserer größten Herausforderungen zum Ausdruck gebracht und angesprochen: Die Mehrsprachigkeit, bzw. die Halb-, Viertel- oder Fetzensprachigkeit oder sogenannte „defizitäre“ Eigensprachigkeit vieler der Schülerinnen und Schüler jener 8. Klasse in Stuttgart. Deshalb wurden bei der Besprechung und Interpretation einzelner Texte, die von den Schülerinnen und Schülern geschrieben wurden, immer wieder Querverweise und Erläuterungen zur Wortfindung, Wortbedeutung und Grammatik gegeben. Eine alle Nerven strapazierende Wirklichkeit im Umgang mit jener 8. Klasse war, dem Alter und der Pubertät entsprechend, ein vehementer Aufmerksamkeitsmangel seitens vieler in der Klasse. Durch die intensive Gesprächsführung, die jeweilige Schüler auch optisch in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung „stellten“ (indem beim Vortrag eines Textes die Schülerinnen und Schüler nicht an ihrem Platz sitzen blieben, sondern aufstehen mussten, um ihre Texte zu sprechen) und „Entspannungsübungen“-- von der Atemtechnik beim Vorlesen, bis hin zu Artikulationsübungen-- konnte dieser „Zuhör-Mangel“ teilweise aufgehoben werden. Durch die Auseinandersetzung mit den eigenen Texten wurde das Interesse vieler Schülerinnen und Schüler herausgefordert. <?page no="79"?> 79 Familie: Textintermezzi II Dilara Karayay hatte es schließlich geschafft, die bildkräftige Verdichtung im gemeinsamen Gespräch auf Deutsch zu verfassen. Schreibübungen: 1. Visionäres Tagebuch, das einen Tag in der Vergangenheit nachspurt oder in die Zukunft entwirft. Eine Verdichtung dieser Tagebuchnotiz könnte in Form einer „sms- Nachricht“ angedacht und teilweise ausgeführt werden. (Die Schülerinnen und Schüler müssten hierbei ihre Tagebuchaufzeichnung als „sms“, die es zu verschicken gilt, aufs Wesentliche der Aussagen konzentrieren). Ein erster Schritt in eine Verdichtung. Methodik: Vorbereitende Lektüre einiger Textpassagen aus dem Essay von José F. A. Oliver, Zusammenfassung des Textes und Anwendung der „sms-Methode“ als Brücke in eine Alltagssprache, die von den meisten Schülerinnen und Schülern gesprochen wird und auch eine Art „Verdichtung“ bedeutet. 2. Namensgeschichte als Grundlage für Kurztexte, Erzählungen und eventuelle Notate, Verdichtungen oder Gedichte. Die Erarbeitung der Geschichten des jeweiligen Namens der Schülerinnen und Schüler und deren mögliche Seitenstränge in Begebenheiten, die von ihnen erst einmal nicht erahnt werden, sind auf einen längeren Zeitraum angelegt. Methodik: Etymologische und persönliche Klärung des Namens. Wer hat mir meinen Namen gegeben? Was bedeutet er mir und der Familie persönlich? Was bedeutet er in etymologischen und historischen Zusammenhängen? Diese Fragen bilden die Voraussetzung für das Schreiben einzelner Begebenheiten oder gar Geschichten. Dabei darf auf eine fragmentarische, sprich essayistische Form zurückgegriffen werden. <?page no="80"?> 80 II. Identität(en). AnSätze Erinnerung, Alltag, Hoffnung: Die Familie Akos Doma 1. Erinnerung, Alltag, Hoffnung: Die Familie. Einführende Gedanken »Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.« (Leo Tolstoi, Anna Karenina) Am Anfang war die Familie. Frau, Mann, Kind. Kinder. Aus den Kindern wurden Frauen und Männer, aus den Frauen und Männern wiederum Kinder, Familien, aus Generationen von Familien Geschichte. Zeit. Ein goldenes Zeitalter, nannte sie Novalis, die von Kindern gesegnete Zeit, die Zeit der Familie. Am Anfang war ein Ort. An dem Ort eine Sprache (oder Sprachen), die man dort sprach, eine Art (oder Arten) des Denkens und Fühlens, wie man dort dachte und fühlte. Der Ort, die Sprache, die Art des Denkens und Fühlens: die Heimat. Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss, hatte Johann Gottfried Herder einst gesagt. Familie ist die Heimat im Kleinen. Auch wenn das Leben in ihr allzu oft mit Erklärungen verbunden ist. Die Familie. Soziologisch der Nukleus, die Grundlage jeder Gesellschaft, die Voraussetzung für das Fortleben der Generationen. Biologisch jene Lebensgemeinschaft, die über die Fortpflanzung und das Aufziehen des Nachwuchses für die Erhaltung der Art sorgt, dafür, dass es uns überhaupt gibt. Die Familie. Im westlichen Gesellschaftssystem des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts in der Defensive, auf dem Rückzug, im Belagerungszustand. Durch neue Ideologien, Lebensformen, Sexualpraktiken; durch die Verabsolutierung eines Individualismus, dem jede Form von Gemeinschaft etwas Anachronistisches ist, dessen Ideal das sich selbst „verwirklichende“ Individuum ist, verkörpert durch das Single, das kinderlose Paar, idealerweise im volkswirtschaftlich vorteilhaftesten, ökologisch nachteiligsten Singlehaushalt; durch eine immer rascher voranschreitende Urbanisierung, Technisierung und Zeitbeschleunigung, die längst jedes menschliche Maß hinter sich gelassen haben; durch die Priorität der Arbeit-- der vermeintlich selbstverwirklichenden Tätigkeit des Individuums--, <?page no="81"?> 81 Erinnerung, Alltag, Hoffnung: Die Familie der Freizeit, des Konsums, die für Kinder, Familie keinen Raum, keine Zeit, keine Energie, keine Lust lassen. Die Familie. Allen medialen und ideologischen Anfechtungen und Zerrüttungen, aller Gleichgültigkeit zum Trotz für die große Mehrheit der Menschen eine Quelle der Freude und des Lebenssinns. Als Hort der Kindheit und Jugend der Ort der prägendsten Erfahrungen im Leben, später ein Ort der Erinnerung und, sofern sie weitergeht, im Idealfall ein Stück wiedergewonnenes „goldenes Zeitalter“. Für Kunst und Literatur seit jeher eine Quelle der Inspiration. Aufgabenstellung 1 (schriftlich, 10 Minuten) Welche Begriffe assoziierst du mit dem Wort Familie? positiv: Liebe, Wärme, Geborgenheit, Zuneigung, Vertrauen, Kindheit, Sicherheit, Gemütlichkeit, Zusammenhalt, Gemeinschaft, Nest, Glück, Urlaub, Unbeschwertheit, Hochzeit, Verwandtschaft negativ: Stress, Chaos, Streit, Erwartungen, Geschwisterrivalität, Vernachlässigung, Lieblosigkeit, Missbrauch, Übervater, Kälte, Enge, Scheidung, Verwandtschaft. Aufgabenstellung 2 (schriftlich, ab 20 Minuten) Schreibe eine Erzählung, in der du das Bild deiner Idealfamilie zeichnest. Erfinde eine Handlung, in deren Verlauf die Familienmitglieder vorgestellt werden und ein unerwartetes, dramatisches Ereignis geschildert wird, bei dem sich die Familie als Familie bewähren muss. Lass aus der Handlung hervorgehen, warum dir gerade diese Familie als Wunschfamilie erscheint. Aufgabenstellung 3 (schriftlich, ab 30 Minuten) Urlaubsreisen, gemeinsame Ferien sind besondere Zeiten im Leben einer Familie. Schreibe eine Geschichte, in der du die Urlaubsreise einer Familie schilderst. Gliedere deine Geschichte wie eine archetypische Reise: Aufbruch - Reise - Rückkehr. Schildere die Vorbereitungen, die Reise, irgendein unerwartetes Ereignis, das zum Höhepunkt der Reise wird, und die Heimkehr. Entscheide selbst, ob du der Geschichte einen eher ernsten oder eher komischen Ton verleihst. <?page no="82"?> 82 II. Identität(en). AnSätze 2. Die Familie als Motiv der Literatur Die archaische und natürliche Bedeutung der Familie spiegelt sich in der wichtigen Rolle, die sie in der Literatur seit jeher spielt. Schon die Götter- und Heldensagen der Antike erzählen von Familien, um eine Familie, das fluchbeladene Haus Atreus, dreht sich auch etwa Aischylos’ dreiteilige Orestie, eine der ersten und einflussreichsten Tragödien der Weltliteratur. Mit dem Aufstieg des Bürgertums und der von ihm bevorzugten literarischen Gattung des Romans im 18. und 19. Jahrhundert rückt auch das Motiv der Familie immer mehr in den Mittelpunkt. Familienromane und verwandte Gattungen wie Generationenromane, Gesellschaftsromane, Entwicklungsromane entstehen in mannigfaltigen Formen in ganz Europa. Im England des 19. Jahrhunderts schildern etwa Jane Austen in Stolz und Vorurteil, Emily Brontë in Die Sturmhöhe oder George Eliot in Die Mühle am Floss verschiedene Familienschicksale. Eine besondere Rolle spielen Familien in den sozialkritischen Romanen von Charles Dickens, wo sie, etwa die Familie Pegotty in David Copperfield, oft als ein Hort der Liebe und Wärme geschildert und mit öffentlichen Einrichtungen wie dem Armenhaus in Oliver Twist oder der Erziehungsanstalt in Nicholas Nickleby, die sich durch die Grausamkeit und Habgier ihrer Betreiber auszeichnen und bewusst mit der Gleichgültigkeit der Gesellschaft kontrastiert werden. Im Modernismus des frühen 20. Jahrhunderts sind D. H. Lawrences Söhne und Liebhaber und Der Regenbogen Beispiele herausragender psychologischer Familienromane. Familienromane im weitesten Sinn sind auch Lew Tolstois große Gesellschaftspanoramen des russischen Lebens im 19. Jahrhundert Krieg und Frieden und Anna Karenina. Familien, oft aus den elenden, heruntergekommenen Schichten der Gesellschaft, bevölkern die Romane Fjodor Dostojewskis von Schuld und Sühne bis Die Brüder Karamasow. Zu den großen Romanzyklen, in deren Mittelpunkt Generationen von Familien stehen, zählen etwa Émile Zolas Romane um die Familie Rougon-Macquart, Gustav Freytags Die Ahnen oder John Galsworthys Die Forsyte Saga. Zu den wichtigen deutschen Familienromanen um die Jahrhundertwende zählen Theodor Fontanes Frau Jenny Treibel (1893) und Die Poggenpuhls (1893) sowie Thomas Manns Buddenbrooks (1901). Dass die Beliebtheit des Familienromans im deutschen Sprachraum über die Jahrzehnte hinweg nie nachgelassen hat, belegen Romane wie Hans Falladas Kleiner Mann-- was nun? oder Der eiserne Gustav, Walter Kempowskis Tadellöser & Wolff sowie die Familienromane Uwe Timms, Eugen Ruges, Arno Geigers, Sophie Dannenbergs und zahlloser anderer bis in die Gegenwart hinein. <?page no="83"?> 83 Erinnerung, Alltag, Hoffnung: Die Familie Aufgabenstellung 4 (schriftlich, ab 45 Minuten) Die Familie als enggeflochtene Gemeinschaft kann auch ein Ort der Konflikte sein. Erzähle eine Geschichte um ein entlaufenes Kind. Beginne mit dem Abschiedsbrief, den das Kind auf seinem Nachtkasten liegengelassen hat. Erzähle die Geschichte, indem du dich in eine der beteiligten Personen hineinversetzt und den Konflikt aus ihrer Perspektive schilderst: in die des Kindes, der Mutter, des Vaters, eines Geschwisters oder einer anderen beteiligten Person. Flechte in die Handlung auch die Vorgeschichte des Konflikts, die Gründe für die Ereignisse ein. Oder versetze dich in mehrere Personen und schildere die Geschichte abwechselnd aus verschiedenen Perspektiven. Kontrastiere die unterschiedlichen Sichtweisen. Beschreibe, was in den jeweiligen Personen vorgeht, ihre Gedanken und Gefühle (Angst, Befreiung, Reue, Hoffnung, Versöhnung usw.). 3. „Familie an der Grenze“. Ein Ausschnitt aus Akos Domas Roman Der Weg der Wünsche Akos Domas Roman Der Weg der Wünsche beschreibt die Flucht einer vierköpfigen Familie aus dem kommunistischen Ungarn in den Westen zu Beginn der siebziger Jahre. Teréz, die Mutter, Károly, der Vater, Bori, die Tochter (1), Misi, der Sohn (8) und ihr Hund Krapek versuchen nach dem legalen Urlaub in Jugoslawien, die Grenze nach Italien illegal zu überqueren. Romanausschnitt Lichter erschienen in der Dunkelheit vor ihnen, eine kleine Autoschlange wurde erkennbar, sie waren da. Die Schranke senkte sich, Károly kurbelte das Fenster herunter und reichte die Pässe hinaus. Der Grenzbeamte, der unter einem Vordach stand, blätterte in den Papieren, der Regen strömte, Károly sah starr geradeaus. Der Mann hob den Kopf, fragte etwas. Károly machte eine Verlegenheitsgeste. „Sprechen Sie Deutsch? “, fragte er. „Do you-…“ Er musste schlucken, die Stimme versagte ihm. Der Mann klopfte mit dem Handrücken auf die geöffneten Pässe, Károly verstand ihn nicht, auch ohne ihn zu verstehen, wusste er, dass er nach ihren Visa fragte. Er schüttelte den Kopf, bedauernd. Teréz lehnte sich hinüber, aber der Mann riss die Tür auf und schnitt ihr das Wort ab. „Aussteigen! “ Bori griff nach Krapek und hielt ihn fest. Teréz nahm ihn an die Leine und stieg aus, Bori und Misi folgten ihr. Der Grenzbeamte hatte sich vor Károly aufgebaut und redete auf ihn ein, Károly begann sich zu entschuldigen, der Mann schrie ihm etwas ins Gesicht, Károly verstummte. Misi stand der Mund offen. Károly blickte sich nach Teréz um, aber sie war bloß eine Silhouette im Licht der wartenden Autos, sie hielt Krapeks Leine und versuchte gleichzeitig, ein Tuch um ihren <?page no="84"?> 84 II. Identität(en). AnSätze Kopf zu binden. Károly senkte den Blick, hilflos stand er zwischen dem schreienden Mann und dem bellenden Hund und schämte sich, vor dem Beamten, der in der Sache ja recht hatte, vor den unsichtbaren Menschen hinter den Windschutzscheiben, die ihn verwünschten, weil er sie warten ließ, und die ebenfalls recht hatten, vor Teréz und den Kindern, die seine Ohnmacht mit ansehen und sich für ihn schämen mussten. Er nickte und streckte die Hand nach den Pässen aus, er habe verstanden, sie würden umkehren, zurückfahren, er deutete es mit der Hand an. Der Grenzbeamte zeigte in eine andere Richtung. „Zur Seite fahren, alles öffnen, alles ausladen.“ Seine Sätze ratterten, mit einem Mal verstand Károly, was er sagte. Er fuhr zur Seite, Teréz übergab die Hundeleine Bori, und sie begannen, auszuladen, Gepäckstück für Gepäckstück stellten sie auf den langen, von Neonröhren beleuchteten Tisch an der Wand. Als sie fertig waren, kam ein zweiter Beamter aus dem Gebäude und durchwühlte die Koffer und Reisetaschen. Sie sahen ihm wortlos zu, standen noch dort, als er schon wieder im Haus verschwunden war, und trauten sich noch immer nicht, ihr Gepäck, das wie ausgeweidet im Regen lag, wieder zusammenzurichten, Reißverschlüsse und Kofferdeckel zu schließen. Sie warteten, aber niemand beachtete sie mehr. Endlich erschien wieder der erste Grenzbeamte und drückte Károly die Pässe mit der Kante gegen die Brust. Er sagte etwas in einem verhaltenen Ton, der auf Károly noch bedrohlicher wirkte als sein Geschrei zuvor, vielleicht weil er plötzlich das Wort policija herausgehört zu haben glaubte. Er sah den Mann erschrocken an. Die Pässe drückten gegen ihn, er hob die Hand und griff vorsichtig nach ihnen. Wenn der andere jetzt losließ, waren sie gerettet. Der Mann ließ ihm die Pässe. Sekunden später luden sie alles wieder ein. Bori, Misi und Krapek sprangen in den Wagen, Károly startete den Motor, würgte ihn ab, zündete wieder. Durch das Fenster, das er zu schließen vergessen hatte, sprühte Regen herein, aber sie merkten es nicht, sie waren schon nass, wollten nur weg, eintauchen in die rettende Dunkelheit-… Aufgabenstellung 5 (schriftlich, ab 1 Stunde) Der Ausschnitt aus Akos Domas Roman Der Weg der Wünsche beschreibt eine Situation an einer europäischen Grenze in den siebziger Jahren. Schreibe eine Erzählung, in der sich eine Familie in einer vergleichbaren Situation befindet. Denke dir eine spannende Flucht aus, über Land, übers Wasser oder durch die Luft. Schildere, wie die einzelnen Familienmitglieder sich in der Situation verhalten und wie die Familie als Ganzes sich bewährt. Erzähle, was sie zu ihrer Flucht bewogen hat und was sie sich von der neuen Heimat erhoffen. <?page no="87"?> 87 „Heimat sind W: orte und verb: leiben f: ort“ „Heimat sind W: orte und verb: leiben f: ort“ Michael Stavari cˇ Die Schule ist für die meisten Kinder heute die Initiation in eine Lage, in der sie spüren, dass es auf sie nicht ankommt. Sie ist ein Impfprogramm, bei dem so lange Kränkungen verabreicht werden, bis man alle von ihnen durchgemacht hat-- und dann kriegt man sein narzisstisches Abiturzeugnis. Die Botschaft heißt: Was immer du von dir halten magst, so wichtig bist du nicht. 1 Vorgedanken Ich habe angeblich keine Vergangenheit, keine Heimat, jedenfalls nicht so richtig. Alles verbrannt irgendwann in den Siebzigern, die Heimleitung hätte auch mehrmals gewechselt.-(…) Ich weiß nicht, wo ich geboren bin, ob es sehr weh tat. Niemand konnte sagen, wer meine Eltern waren, ob meine Mutter hübsch, wie sie roch, was sie trug, als sie zum ersten Mal einem Mann zulächelte. Ob mein Vater ein Netter, den man sympathisch fand auf den ersten Blick, ob ich Geschwister habe. Etwas in der Art. Oft habe ich mir vorgestellt, meine Mutter in einem Niemandsland, in einem dieser Korridore zwischen zwei Grenzen, wo sie mich gebar, damit ich niemandem gehöre. Es sind dies Sätze, die ich-- dankenswerterweise-- einem meiner Protagonisten unterschieben durfte, zweifelsohne einer der Vorteile, Schriftsteller zu sein. Im Roman Terminifera muss sich dieser „Heimatlose“ bewähren, eine eigene Identität erlangen und die Leere (und die Schrecken) seiner Vergangenheit hinter sich lassen. So weit ich das sagen kann, hatte ich mich damals zum ersten Mal „offiziell“ in einem Roman mit Begriffen wie „Identität“, „Heimat“ und „Initiation“ beschäftigt. Es ist ein Denkprozess, der bis heute andauert, und er wirft immer weitere Fragen auf, die zu beantworten mir schwer fällt. Wer bin ich? Wer sind wir? Ich kann es mir selbst nicht schlüssig erklären, denn je länger ich darüber nachdenke, desto fragwürdiger scheinen mir „punktuelle“ Antworten. Was ich aber gewiss weiß: Eine wie auch immer gestaltete, „einfache“ (und verbindliche) Antwort gibt es nicht. Solche bieten nur selbsternannte (und oft genug ge- und erwählte) „Weltvereinfacher“, Sektengurus, Meinungsmacher, Führer, Gesinnungsmanager und Wortverdreher, diese sind wahre Meister im Ersinnen einfacher „Wahrheiten“, es ist seit jeher ihre ureigenste Domäne. Ihre Macht beruht darauf, der Komplexität unserer Welt einen Simplifizierungswahn gegenüberzustellen. Sie geben gekonnt vor zu wissen, wer sie sind und was wir darzustellen haben: Ich bin der Herr. Du bist Mein. Wir sind eine Einheit. Wir sind Wir. Nationalgeschwätz. Parolen. Ideologien. Blut und Boden. 1 Peter Sloterdijk, zitiert nach „Lernen ist die Vorfreude auf sich selbst“. Interview mit Reinhard Kahl, McK Wissen, 1 <?page no="88"?> 88 II. Identität(en). AnSätze Ich selbst tat mir schon immer schwer mit Antworten, meine früheste Kindheit (bis zum siebten Lebensjahr) war von einem totalitären Staat (der kommunistischen Tschechoslowakei) geprägt, meine spätere Kindheit wiederum stand im Zeichen eines „Sprachverlustes“, meine Eltern flüchteten aus ihrer alten Heimat, ich verlor meine vertraute Umgebung, das Zuhause, meine Freunde, meine Muttersprache. Plötzlich war ich der Fremde in einer mir noch viel fremderen Welt, sprach- und orientierungslos, auf mich selbst gestellt. Nunmehr wusste ich noch weitaus weniger als zuvor, ich hatte keine Ahnung, wer ich war, ich wusste nicht, was all die fremden Menschen mit ihrer seltsamen Sprache (dem Deutschen) darstellten, ich gehörte mir nicht mehr. Und ich gehörte auch keiner Nation. Später sollte ich viel über diese Zeit nachdenken, denn meine Kindheit, mit ihren Zäsuren und Ereignissen, sie hatte etwas überaus Identitätsstiftendes. Mein Erlebtes hat mich misstrauisch werden lassen- - wenn mir jemand Antworten vorgab wie: Du bist der geborene Bankkaufmann. Oder: Du bist ein Österreicher. Oder: Klar bist du ein Tscheche etc. Ich wusste schon als Kind, dass ich alles werde hinterfragen müssen. Und dass keine „Zuschreibung“ als alleinige Wahrheit gelten darf. Unsere Geburt und Herkunft stiften Identität, unsere Sozialisation prägt diesen „Rohling“ Mensch, unsere Erfahrungen, Ereignisse, Verhaltensweisen und nachfolgende Begegnungen tun ihr Übriges-… ist die Summe all dessen unsere „Identität“? Unsere „Persönlichkeit“? Unser „Ich“? Und ist nicht alles Gewesene auch eine Möglichkeit, sich (neu) zu positionieren? Stellung zu beziehen? Sich (s)eine eigene Meinung zu bilden? Sich zu ändern? Wir kommen zur Welt, werden Teil einer Familie, es werden uns Lebensentwürfe vorgelebt, die Gesellschaft verleiht uns ihren moralischen Kodex, wir passen uns an, werden Bürger eines Landes, das wir fortan „Heimat“ nennen sollen. Wir glauben an Gott. Wir glauben an Geld. Wir ergreifen Partei usw. usw. Was sagt das alles über mich aus? Wer bin ich wirklich? Als ich nach und nach des Deutschen mächtig war, wurde ich mir dessen bewusst, dass es neben dem Begriff „Heimat“ auch den wesentlich zivileren Begriff „Vaterland“ (patria) gab, dessen inhaltliche Entsprechung im Tschechischen („otčina“) erhabener klingt als „vlast“ (Heimat) oder „domov“ (Zuhause). Im Englischen wird in diesem Kontext das Wort „homeland“ verwendet, ansonsten eher „native country“ oder „my country“. Das Russische bedient sich des Wortes „rodina“ (Heimat), dessen Korrespondenz mit dem gleich lautenden tschechischen Wort, welches dort die „Familie“ meint, deutlich macht, wie gut der emotionale Faktor funktioniert, den jede Vaterlandsliebe entwickelt. „Identität-- Heimat-- Initiation“, es sind allesamt Begriffe und Themenkomplexe, die an Emotionen geknüpft sind. Demnach müsste vielleicht eine Antwort auf die Frage, wer ich bin, wer wir sind, lauten: Wir sind schlichtweg eine Summe von Gefühlszuständen. Oder, um René Descartes berühmtes Zitat („Cogito ergo sum-- ich denke, also bin ich“) abzuwandeln: Ich spüre, also bin ich. Bin ich, weil ich spüre? Im Tschechischen erhält der verhältnismäßig neutrale Begriff „domov-Heimat“ sofort andere Ausmaße, wenn wir uns die indogermanischen Wurzeln des Wortes ansehen. Der <?page no="89"?> 89 „Heimat sind W: orte und verb: leiben f: ort“ alttschechische Begriff „dom“ entspricht dem lateinschen „domus“, und von diesem Begriff (Wohnung, Obdach, Wohnstätte) entwickelt sich eine ganze Reihe von Machtbedeutungen, die in alle europäischen Sprachen eingegangen sind. Wer ein „dům“ (ein Haus) hat, ist der „dominus“ (der Herr) und ihm gehören die „servus“ (Leibeigene und Sklaven). Zu den weiteren Ableitungen des Wortes gehören Ausdrücke wie das Dominat (unbegrenzte Herrschaft), Dominanz, Dominum, Dominator usw. Der mit großem D geschriebene „Dominus“ ist schließlich der Herr des ganzen Universums, der Menschen und des Schicksals, der auf der Welt verschiedene Dome bewohnt. In nomine Domini-- im Namen des Herrn-- ist eine Formulierung, mit der sich die Handelnden immer geschützt haben. Jedenfalls, wenn man erst einmal kritisch über diesen Themenkomplex „Identität-Heimat-Initiation“ nachzudenken beginnt, dann befasst man sich unweigerlich mit „Herrschenden“ und „Beherrschten“. Denn: Diese Begrifflichkeiten implizieren unterschiedlichste Machtverhältnisse, Beziehungsmuster und Verhaltenskodizes. Ich meine, dass von dieser Brisanz auch Bernhard Schlink spricht (Zitation nachfolgend aus: „Bernhard Schlink: Heimat als Utopie. Suhrkamp, Frankfurt / Main“), wenn er etwa in seiner Analyse des im Gegenwartsverständnis wurzelnden Heimat- und Identitätsgefühls der Deutschen, die sich- - wenn sie beispielsweise aus den neuen Ländern kommen- - wie „im Exil“ fühlen, „obwohl sie leben, wo sie immer schon lebten“. Sie erfahren die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse als Fremdes, Ungewohntes, kurzum als Entfremdung-- was immer mit Identitätsverlust einhergeht. Die gleiche Erfahrung machen nämlich Menschen, die im Exil leben; selbst wenn dieses als Freiheit erfahren wird. Heimaterfahrung wird also vor allem dann gemacht, „wenn das, was Heimat jeweils ist, fehlt“. Daraus entstehen „Hoffnung, Sehnsucht und Traum“-- häufig die Grundlage der Dichtung. „Traum“ und „Wirklichkeit“ sind also nur die beiden Seiten der gleichen Medaille. Aber so sehr Heimat auf konkrete Orte bezogen ist, „an denen man lebt, wohnt, arbeitet, Familie und Freunde hat“, letztlich „hat sie weder einen Ort noch ist sie einer“. Heimat ist gewissermaßen ein Nichtort: „Heimat ist Utopie“, die umso intensiver erfahren wird, je weiter man von ihr entfernt ist. „Das eigentliche Heimatgefühl ist Heimweh.“ Dieses Verständnis von Heimat nimmt der Heimat nichts, es erlaubt alle emotionalen und konkreten Erfahrungen von Nähe und Ferne, Erinnerung und Sehnsucht. Eine Utopie ist die Heimat selbst für den, der sein ganzes Leben lang an einem Ort gelebt hat, sie ist der Ort, an dem er sich aller „vergangenen Träume, Hoffnungen und Sehnsüchte“ erinnernd der „Utopien seines ganzen Lebens“ gewahr wird. Ist demnach unser „Ich“, ist unsere „Identität“ eine Art Utopie? Wer also bin ich, wer also sind wir? Da sich „Herkunft“ immer mit einem „Woher? “ beantworten lässt, wäre die Frage nach der „Identität“ eines Menschen schlicht und einfach mit einem „Wohin? “ zu erklären-… Wohin also? Ich fürchte tatsächlich, ein jedes Individuum muss darauf seine eigene Antwort finden! <?page no="90"?> 90 II. Identität(en). AnSätze Unterrichtseinheiten konkret Unterrichtseinheit I: Die Mutprobe Dauer: freie Einteilung Materialien: Schreibvorlagen, Stift, Internet Ziel: Freies Sprechen, Schreiben, Recherche 1. Schreibaufgabe zum Thema: „Mutprobe“. Die Erinnerung und Konstruktion tatsächlicher oder erfundener Mutproben als „Initiationsritual“, als „identitätsstifendes Momentum“. Was genau ist eine Mutprobe? Was ist ein Ritual? Wo lässt sich die Grenze zwischen Kind- und Erwachsensein verorten? Lesebeispiel einer Mutprobe aus dem Buch Brenntage von Michael Stavaricˇ: Wir erfanden den „Wasserkreis“-… eine Art „Reinigungs- und Traumzeremonie“, bei der wir uns im flachen Wasser der Weiher und Tümpel sammelten und einander bedeutungsvoll zuzwinkerten. Ein jeder warf zuvor einen bemalten Stein mit seinen Initialen ins Wasser und der „Tagespriester“ tastete mit seinen Händen wahllos den Grund ab, bis er einen dieser Kiesel herausfischte. So wurde ein „Träumer“ ausgewählt, der folglich im Mittelpunkt des Geschehens stand. Wir stellten uns im Kreis auf, wobei wir darauf achteten, den „Träumer“ möglichst eng einzuschließen, später bugsierten wir ihn in tieferes Wasser und tauchten seinen Kopf unter, immer weiter, selbst wenn er mit seinen Armen um sich schlug und mit den Beinen trat und nach Luft schnappte, wir hielten ihn unten, bis zur Bewusstlosigkeit. Dann zogen wir ihn aus dem Wasser und legten ihn auf eine Bahre aus Tannenzweigen, der „Tagespriester“ massierte seine Brust und seine „Wächterin“ beatmete und küsste den „Träumer“ (oder die Träumerin), bis dieser erwachte. Wir verloren keinen einzigen. Eines Tages wurde ich zum Träumer erkoren, ich fand mich wieder in einer ganz anderen Welt, die Bäume und der Wald waren verschwunden, es gab keine Kinder, keine Tiere, keine Landschaft, ich konnte nicht einmal sagen, ob ich noch existierte. Ich war an einem Ort ohne Boden, schwebend und irgendetwas empfindend, ich hörte mich atmen und rief nach dem Onkel. Und plötzlich stand sie vor mir, meine Mutter, sie hielt mir die Hand vor den Mund, ich solle aufhören, zu schreien, ich solle mich beruhigen, sie sagte, alles wird gut. Plötzlich meinte ich, mir in die Zunge gebissen zu haben, deutlich fühlte ich das Blut am Gaumen, das jeden nur erdenklichen Hohlraum in mir füllte und ich öffnete den Mund und spuckte und keuchte und ein Schwall dunklen Wassers ergoss sich ins Nichts. Aber dann war ich wach und spürte das Gras um mich herum und sah die verschwommenen Gesichter der anderen Kinder und über mir gebeugt stand eines der jüngeren Mädchen, ihre Lippen bebten noch ein wenig und die Hände lagen auf meiner Brust, dort hinterließen sie einen verhaltenen Abdruck in meiner Haut. Sie hat mich beatmet und wieder belebt und hätte sie es nicht geschafft, kein anderer hätte versucht, mir zu helfen, denn sie war mir zugelost, meine „Wächterin“, und hätte sie keinen Weg gefunden, es hätte keinen anderen gegeben. <?page no="91"?> 91 „Heimat sind W: orte und verb: leiben f: ort“ Aufgabenstellung 1: Erinnerst Du Dich an sog. Mutproben? Hast Du mal ein Fenster eingeworfen? Bist Du mal über einen Bach gesprungen? Hast Du länger die Luft angehalten als alle anderen? Hast Du als Kind eine Nacht im dunklen Wald erlebt? Bist Du jemals aktiv geworden, nachdem Dir jemand vorschlug „Nein, das traust Du Dich doch nicht! “? Diskutiere dies mit deinen Mitschülern! Aufgabenstellung 2: Erfinde sog. „Mutproben“, je waghalsiger und absurder, desto besser. Diskutiere darüber, inwiefern diese die Identität eines Menschen für immer prägen würden und folglich unmittelbar und immer eine Auswirkung auf seinen Alltag hätten. Schreibe ein paar dieser Mutproben auf und diskutiere sie mit deinen Mitschülern. (Anmerkung: Sehen möglicherweise junge Menschen den Terrorismus als eine Art Mutprobe an? ) Aufgabenstellung 3: Diskutiere mit deinen Mitschülern, was denn im Lauf der Menschheitsgeschichte als „Mutprobe“ gelten könnte - bzw. als ein Momentum, das Identitäten festschreibt (z. B. Tätowierungen als Initiation). In welchen Kulturen wurden zu welchen Zeiten „Mutproben“ verlangt, die Mädchen zu Frauen und Jungen zu Männern machten? Recherchiere die unterschiedlichsten Rituale und Initiationsriten der diversen Kulturen und stelle sie deinen Mitschülern vor. (Anmerkung / Begriffsklärung: Ursprünglich markiert ein Initiationsritus den Übergang vom Kindesins Erwachsenenalter. In den Stammeskulturen etwa stehen die dabei verlangten Mutproben in unmittelbarem Zusammenhang mit überlebenswichtigen Fähigkeiten, zum Beispiel zur Jagd. Nach einem solchen Ritus zählt der junge Stammesangehörige als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft und übernimmt Rechte und Pflichten, die er zuvor nicht hatte.) Aufgabenstellung 4: Diskutiere die deutschen Wikipedia-Beiträge „Mutprobe“ und „Initiation“ und ergänze diese um all das, was - Deiner Meinung nach - fehlt bzw. zu kurz kommt. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Mutprobe http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Initiation <?page no="92"?> 92 II. Identität(en). AnSätze Unterrichtseinheit II : Ich erinnere mich … Dauer: freie Einteilung Materialien: Schreibvorlagen, Stift, Internet Ziel: Freies Sprechen, Schreiben, sich Erinnern Schreibaufgabe zum Thema: „Ich erinnere mich …“ Die Erinnerung definiert das „Ich“. Sie zeigt uns, wer wir waren. Sie verdeutlicht, wer wir sind. Erinnerung schafft Identität. Erinnerung ist emotional und bisweilen sentimental. Ist der Erinnerung zu trauen? Ist die Erinnerung die Summe unseres Lebens und spiegelt sich darin unsere ganze Persönlichkeit? Lesebeispiel von Erinnerungen aus dem Buch Das Jahr 24 von Patrik Ourednik: Ich erinnere mich an zwei Einträge im Klassenbuch: „Im Mathematikunterricht arbeitet er nicht, widmet sich Tätigkeiten, die mit Mathematik nichts zu tun haben (Kartenspiel)“ und „Unerlaubtes Auf- und Abdrehen des Lichts“. Ich erinnere mich, dass ich „an vielerlei Stellen der Schule Wandschäden verursacht habe-- durch das Werfen mit Kreide“. Ich erinnere mich an den Lehrer Picek, der uns erzählte, dass ihm im Achtundsechzigerjahr Hooligans aufgelauert hätten. Die wollten ihn verdreschen, da er Kommunist sei, aber er habe es ihnen gezeigt. Ich erinnere mich, dass uns Picek auch von amerikanischen Soldaten in Vietnam erzählte, die jedem Vietnamesen, den sie getötet hatten, den Kopf abschnitten. Im Abendlager zählten sie dann die Köpfe, und je nach Anzahl der Köpfe bekamen sie so und so viele Dollar. Ich erinnere mich, dass Picek lange Zeit der einzige „aufrechte Kommunist“ war, den ich kannte; einen zweiten (und letzten) traf ich einige Jahre später im Autobus von Prag nach Karlsbad. Ich erinnere mich noch an einen dritten „aufrechten Kommunisten“, den ich kannte: er spielte Schach im Gartenrestaurant „Beim Sommerschloss“ und am Mantel hatte er irgendwelche Orden. Ich erinnere mich, dass er lausig Schach spielte und jedes Mal wütend wurde, wenn er verlor. Ich erinnere mich an die Lehrerin Schmitzerova, die uns in der neunten Klasse (im Jahr neunzehnhunderteinundsiebzig) sagte, wir dürften sie mit „Frau Lehrer“ ansprechen, es mache ihr nichts aus. Ich erinnere mich, wie ich mir Buchzitate in einen A-6-Notizblock schrieb. Ich erinnere mich, dass dort Auszüge aus dem „Kleinen Prinzen“, Jarrys „Taten und Ansichten von Dr. Faustroll“ und „König Ubu“ notiert waren, weiters aus Feuchtwangers „Jüdischem Krieg“, Stanislav Jerzy Lec, Mrozek, Holub, aus Eliots „Das wüste Land“, Alice im Wunderland und Morgenstern. Ich erinnere mich, dass sich dort auch ein Gedicht fand-- „Ich verleugne“--, das ich von irgendeinem Flugblatt abschrieb und das so begann: Ihr seid also hier, willkommen! Heißt sie Willkommen, die Sommergäste der frostigen Tiefen-… Ich erinnere mich, dass ich den Namen des Autors (Antonin Brousek) erst einige Jahre später erfuhr. Ich erinnere mich noch an einen zweiten Notizblock, in den ich eigene Gedichte notierte. Ich erinnere mich an ein Gedicht, das ich in der neunten Klasse schrieb: „Zinnkraut in Blumentöpfen, und Tomas Zivny aus der 9 C“. Ich erinnere mich, dass es ein surrealistisches Poem war. Ich erinnere mich, dass manche Leute verkündeten, sie seien Surrealisten, und andere, sie seien Existentialisten. Wieder andere sagten, sie seien Trotzkisten und Stalin sei ein Verräter. Ich erinnere mich, dass eine meiner französischen Freundinnen Maoistin war. Ich erinnere mich an die Drei-Kronen-Papierscheine (blau) und die Fünf-Kronen (grün). Ich erinnere mich, dass <?page no="93"?> 93 „Heimat sind W: orte und verb: leiben f: ort“ man zum Zehn-Kronen-Schein „Pionier“ sagte und zum Fünfzig-Kronen- Schein „Heizer“. Den Fünfundzwanzig-Kronen-Schein nannte man „Vorwärts“ und den Hundert-Kronen-Schein „Kilo“. Ich erinnere mich, dass man die neuen Fünf-Heller-Münzen „Bilak“ und „Strougalik“ nannte. Ich erinnere mich an die Begegnung Fischer-- Spasskij (neunzehnhundertdreiundsiebzig? ). Ich erinnere mich, dass Fischer 6: 2 gewann und dass er der erste Amerikaner seit dem Ende des Krieges war, der einen Russen „im Kampf um den Schach-Thron“ besiegte. Aufgabenstellung 1: Diskutiere mit Deinen Mitschülern Deine persönlichen Erinnerungen an die Kindheit. Versuche Jahr um Jahr in Deiner Erinnerung zurückzugehen. Was ist die erste Erinnerung, die Du benennen kannst? Aufgabenstellung 2: Nimm ein Blatt Papier und schreibe auf, woran Du Dich insgesamt in Deinem Leben besonders gut erinnerst. Beginne dabei jeden Satz mit den Worten „Ich erinnere mich …“. Sind es Momente, die dazu beigetragen haben, dass Du geworden bist wie Du bist? Diskutiere dies mit Deinen Mitschülern. Aufgabenstellung 3: Nimm ein Blatt Papier und erfinde „gefälschte“ Erinnerungen. Beginne dabei wieder jeden Satz mit den Worten „Ich erinnere mich …“. Versuche dabei den Erinnerungen einen gesellschaftlichen Wert zuzuschreiben, indem Du sie nach ihrer vermeintlichen „Wichtigkeit“ ordnest. Beginne dabei mit den (für die Gesellschaft) relevantesten Erinnerungen, zum Beispiel: Ich erinnere mich daran, wie der erste Mensch am Mars landete. Ende mit den unscheinbarsten Erinnerungen, zum Beispiel: Ich erinnere mich an die Fehlzündung eines vorbeifahrenden Wagens. Aufgabenstellung 4: Recherchiere ein paar Fakten zum Autor Joe Brainard und seinem Buch I remember („Ich erinnere mich“). Dieser hat den Schreibstil, mit dem Du Dich gerade beschäftigt, in die Literatur eingeführt. Rufe Dir folgenden Link auf (oder finde selbst einen Vergleichbaren): http: / / culturmag.de/ rubriken/ buecher/ joe-brainard-ich-erinnere-mich/ 38551 Diskutiere mit Deinen Mitschülern, was das Faszinierende und Identitätsstiftende an der „Iremember-Literatur“ ist. Siehe auch: Georges Perec Je me souviens („ Ich erinnere mich“). Bzw. Patrik Ourednik: Das Jahr 24. <?page no="94"?> 94 II. Identität(en). AnSätze Alltäglichkeiten Freundschaft: Macht die Fremde frei? Macht die Aufgabe einen „Helden“? Der tschechoslowakische Drehbuchautor Ota Hofman hielt einmal fest (er bezog sich hier auf den Film): „Die Spezifik des Kinderfilms darf nicht als eine Ausrede für Dilettantismus oder Unfähigkeit dienen. Es gibt nur eine Kunst. Und wenn ein Kinderfilm nicht auch die Erwachsenen bezaubert, dann war das ein schlechter Film“. Ich hege die leise Hoffnung, dass sich vielleicht mancher an eine seiner Schöpfungen erinnert, einen gewissen „Pan Tau“. Der Mann mit der Melone ist ein gutes Beispiel dafür, dass ein Kinderfilm bzw. eine Kinderfilmserie auch beim Erwachsenenpublikum punkten kann; in den sechziger, siebziger und achziger Jahren verfolgten vor allem Erwachsene gebannt die stetig neuen Abenteuer des Pan Tau. Es war übrigens die erste Fernsehserie, die das tschechoslowakische Fernsehen in Kooperation mit dem Westen drehte, und, wenn man so will: Eine auf den ersten Blick harmlose, vermeintliche Kinderfilmserie hatte es geschafft, den Eisernen Vorhang zu unterlaufen-- meines Erachtens nach ein erster, fallender Dominostein, um ein ganzes politisches System zum Erliegen zu bringen. Jedenfalls, in der ehemaligen Tschechoslowakei sollten sich die Buch-, Film- und Fernsehproduktionen für Kinder an alle richten und thematisch nicht nur auf Aspekte der kindlichen Lebenswelt beschränken. Stoffvorlagen lieferte u. a. die reichhaltige und ohnedies mehrdimensionale Kinderliteratur, genannt seien Božena Němcová oder Karel Jaromír Erben, bzw. weitere Klassiker wie Josef Ladas Kater Mikesch, die kluge Ameise Ferdinand von Ondřej Sekora (verfilmt von Hermína Tyrlová), und natürlich Zdeněk Milers Maulwurf oder Václav Čtvrtek und Radek Pilařs Rumcajs (Der Räuber Fürchtenix); sie alle begründeten die tschechische Trickfilmtradition. Ich bin mit Märchen- und Zeichentrickfiguren aufgewachsen-- ich erinnere mich noch daran, wie ich im österreichischen Fernsehen Zeichentrickfilme ansah, ohne auch nur ein Wort Deutsch zu verstehen. Ich fühlte mich einerseits frei, die Eltern versicherten uns Kindern jeden Tag, dass wir nunmehr in einem freien, offenem Land lebten, andererseits allerdings vollkommen fremd; was in erster Linie mit der deutschen Sprache zu tun hatte, die ich so gar nicht verstand. Die deutschsprachigen Trickfilme halfen mir allerdings tatsächlich beim Erlernen der Sprache, denn die ersten deutschen Worte, die ich kannte, stammen allesamt aus diesen Filme, aus dem Bereich der Onomatopoesie. Ich erinnere mich dann auch noch an eine Begegnung mit einem österreichischen Mädchen, das einen angeleinten Hund mit sich führte; ich war damals sieben Jahre alt und irgendwie kam es zu einer Interaktion. Das Mädchen realisierte rasch, dass ich kein Wort Deutsch verstand, sie deutete auf den Hund, blickte mich an und verlautbarte feierlich: „Wau wau“. Und ich selbst dachte noch, komisch, „wau wau“ muss irgendetwas mit diesem Hund zu tun haben, allerdings, ich vermochte es damals nicht ganz einzuordnen, denn in meiner Muttersprache, dem Tschechischen, bellt der Hund eindeutig „haf haf “. Ergo war ein „wau wau“ ein einziges großes Mysterium. Ich hatte mich fortan sehr für die onomatopoetischen Ausdrücke im Deutschen interessiert, meine Eltern förderten diesen Sprachunterricht, indem sie Comic-Hefte einkauften, da <?page no="95"?> 95 „Heimat sind W: orte und verb: leiben f: ort“ gab es reichlich von diesem Deutsch: „Bumm, zack, autsch, klatsch, seufz, keuch, trööt, tropf tropf “! Genau hier liegen die Anfänge meiner deutschen Sprache, es waren Worte, die ich schnell nachvollziehen und mit tschechischen Ausdrücken vergleichen konnte: „Brr, klap, pif paf (peng peng), bác (klatsch), káč (quak), prásk (wumm), vrum (brumm), bim bam (ding dong), žbluňk (plitsch platsch)“. Viele Jahre später sollte mir die Erinnerung daran zu einem konkreten Buchprojekt verhelfen. Meine Faszination für Onomatopoesie manifestiert sich in meinem allerersten Kinderbuch (ein weiterer Anfang! ), es trägt den Titel Gaggalagu (ein „Kikeriki“ auf Isländisch). Das hört sich ausformuliert dann so an: Vor meinem Haus in Österreich, da gibt es Berge, einen Teich, die machen nichts, die schweigen nur, davor zwei Hunde schauen in die Runde. Meint der eine haf haf haf, wohnt in Tschechien bei einem Graf. Der andere, die Ohren spitzt, herüberflitzt zu mir, lauthals wau wau wau, ein Österreicher-- klingt ganz nach meiner Frau. Meine Frau und ich, wir mögen uns recht fürchterlich, ganz ohne Grund, nur ein Hund, der fehlt uns noch. Letzten Sommer in Italien, wir kamen aus dem Staunen nicht mehr raus-- bau bau bellen dort die Hunde, aber bauen tun die nichts. Im Baskenland, ließ ich mir sagen, bellen Hunde zaun zaun, da muss ich mich fragen, was meinen die? Zäune sah ich nie! In Rumänien kläffen die Hunde ham ham, recht sonderbar. Meine Frau aber sagt: Ach wo, ham ham, das hört sich an-- ganz nach meinem Mann! Und ganz kurz noch: Ein Schweinchen lebt auf einer Farm, im Winter hält der Speck es warm, von weit her stammt es, aus China, komisch, es heißt Karina, grunzt zufrieden: hu lu hu lu! Ein anderes spricht Ungarisch, röf röf röf, sogar zu Tisch, das nächste wieder Kroatisch, isst gern Äpfel, niemals Fisch, schwimmt viel, singt, spielt, rok rok rok, malt sich selbst im Notizblock. <?page no="96"?> 96 II. Identität(en). AnSätze Ich hoffe, es ist etwas von der Begeisterung zu spüren, die ich als Kind empfand, das Tschechische und das Deutsche waren sich plötzlich nicht mehr ganz so fremd, es war ein erstes, sachtes Ankommen, jedoch auch ein erstes, sachtes Loslassen und Abrücken von der Muttersprache. Es ist ein Moment, der alle Exilanten betrifft: Seiner Heimat den Rücken zu kehren (ganz gleich aus welchen Gründen) führt zwangsläufig zu dem Punkt, die Welt sprachlich neu zu erfassen. Natürlich gibt es auch solche, die eine durchaus komplexe Form der Realitätsverweigerung betreiben, doch führt diese nur zu Isolation und Stagnation, mitunter noch zu viel Schlimmerem, sagen wir, Nationalgebell und Glorifizierungswahn in der Fremde. Dass mich die nicht ganz freiwillige Zweisprachigkeit schlussendlich zu einem Schriftsteller gemacht hat, es ist eine dankbare Erklärung, bestimmt aber war sie ein begünstigender Faktor, mein Interesse an Sprache war geweckt, mein Wortschatz erweiterte sich, das Übersetzen wurde zu einer alltäglichen Übung, das Vergleichen und Hinterfragen ebenso. Mir war auch schnell klar, dass mein kindliches Übersetzen von einem Land zum nächsten, fort aus der Tschechoslowakei und hin nach Österreich, von einer Sprache A. in die Sprache B., vor allem eine Chance war. Heute möchte ich sofort präzisieren, dass die Übersetzung an sich das kulturelle (und somit auch politisch-gesellschaftliche) Fundament unserer gesamten globalen Welt darstellt. Sie ist die Voraussetzung für ein Gespräch, und nur mit ihrer Hilfe können wir uns das Wissen und die Erfahrungen anderer aneignen. Und nur wenn wir diese Art von Dialogen zu führen gewillt sind, wenn wir die Mehrsprachigkeit als einen identitätserweiternden Akt verstehen, wenn wir die Literatur als so etwas wie eine universelle Metasprache deuten, nur dann werden wir automatisch zu Vermittlern. Aufgabenstellungen: 1. Diskutiere, welche Fernsehsendungen, Bücher etc. du als Kind konsumiert hast und inwiefern diese auch für Jugendliche und Erwachsene geeignet sind. Versuch zu beschreiben, was genau es ausmacht. Ab wann wird ein Buch, eine Fernsehsendung, ein Spiel etc. altersübergreifend? 2. Schau die Wortdefiniton von „Onomatopoesie“ nach - und notiere ein paar onomatopoetische Worte, die dir spontan einfallen. Versuche herauszufinden, wie diese in anderen Sprachen wiedergegeben werden. 3. Kreiere einen Satz, in dem onomatopoetische Worte auftauchen, tausche diesen mit deinem Sitznachbarn und versucht, diesen Satz ins Englische zu übersetzen. Ich bin im Deutschen vor allem auch mit Comics sozialisiert worden, weil meine Eltern darin eine Möglichkeit sahen, mir die deutsche Sprache schmackhaft zu machen. Und die onomatopoetischen Ebene ist ein essentieller Bestandteil der Comic-Sprache. Was mir persönlich an den diversen Heftchen gefiel (ich las Comics aus allen Themenbereichen), waren einerseits die fantastischen Welten, die sie mit sich brachten. Andererseits blieb das Motiv der Reise als Mittel zur Mensch- und Heldwerdung zumeist im Mittelpunkt, ganz egal, ob es sich <?page no="97"?> 97 „Heimat sind W: orte und verb: leiben f: ort“ nun um Super-, Western- oder „Weiß-Gott-Was-Für-Helden“ handelte (doch dazu später, im Anschluss an dieses Kapitel). Es gäbe viel, worüber man im Zusammenhang mit Comics nachdenken könnte, unzählige Bezüge ließen sich herstellen: Zu Mythologien, Göttinnen und Göttern, zu Weltreligionen, jedwedem Transzendentalem, zur Psychoanalyse, zum technischen Fortschritt, zur Genforschung, zu allen großen Motiven und Stoffen der Literatur und so weiter und so fort. Selbst zu konkreten Ländern, geschichtlichen Ereignissen und ihren Folgen bzw. deren Transformation in Comicplots ließe sich einiges sagen; ich bin zum Beispiel überzeugt davon, dass der Abwurf der Atombombe auf Japan die Ausrichtung dieser Kultur vollkommen veränderte. Die freigesetzte Radioaktivität gebar das Atommonster Godzilla, und ohne Godzilla und all die weiteren schrillen Protagonisten in seinem Comic- und Filmuniversum hätte sich vielleicht gar keine Manga-Kultur, wie wir sie kennen, etablieren können. Das Bunte, Schrille, Grelle, die überbordenden Figuren, Formen, Fähigkeiten und modischen Erscheinungen in der japanischen Manga-Kultur (die längst weltweit zum Alltag gehören) scheinen mir an die Atombombe geknüpft, sie sind in ihr verwurzelt und bilden zugleich einen verzweifelten Kontrapunkt. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass die Figur des „Captain America“ ihren Zenit nach der Ermordung J. F. Kennedys hatte-- Amerika war traumatisiert, und der wohl amerikanischste aller Superhelden musste die Nation einen. Und auch zur Zeit der Rassendiskriminierung waren es Comic-Hefte, die als erste unangenehme Fragen stellten: So musste sich etwa „Green Lantern“ (ein Mitglied der „Gerechtigkeitsliga“, zu der auch Superman, Batman und Co. gehören) in Comic-Geschichten verantworten, warum er noch nie Schwarzen beigestanden war; Spiderman wiederum thematisierte einst ein absolutes amerikanisches Tabuthema-- den Drogenmissbrauch. Und Roy Lichtenstein, Andy Warhol und Co. erklärten, dass sie ohne die Comic-Kultur gar nicht erst Künstler geworden wären. Erwähnen möchte ich, da dies wiederum mit meinem eigenen Schreibuniversum zu tun hat bzw. mich in meiner Jugend beschäftigte, die „Watchmen“, insbesondere einen ihrer Helden, der unter dem Namen Rorschach bekannt ist. Rorschach (eigentlich: Walter Kovacs) ist eine psychisch gestörte menschliche Persönlichkeit, die sich durch kompromisslosen Gerechtigkeitssinn auszeichnet (basierend auf vielen üblen Kindheitserfahrungen etc.). Sein Merkmal ist eine Maske mit einem sich ständig ändernden Muster, welches auf unablässig stattfindende Rorschachtests verweist, in nahezu jedem Bild und jeder Einstellung verändern sich die Muster und Schatten, die über sein Gesicht huschen. Wir könnten hier problemlos die Welt der Psychoanalyse betreten, uns mit Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Bruno Bettelheim und sonstigen Gelehrten beschäftigen, ihre Theorien auf die Psyche diverser Comic-Figuren anwenden; wir müssten die moderne Forensik und forensische Psychologie und Anthropologie bemühen, uns mit Tatortanalysen und Profiles beschäftigen, man käme jedenfalls vom Hundertsten ins Tausendste und immer zurück zu dem, was wir sind, was uns ausmacht und was die Literatur abzubilden sucht. Und welche Superhelden mich als Kind / Jugendlichen noch beeindruckten? Da wäre zunächst der „Animal-Man“ (aus dem Jahr 1965), der die Kräfte und Fähigkeiten jedes irdischen Tieres annehmen kann (Fußnote: Erinnert das nicht an die Vorstellungen und Glaubensriten <?page no="98"?> 98 II. Identität(en). AnSätze diverser indigener Völker, die etwa durch Verzehr von Körperteilen getöteter Tiere erhofften, deren Kraft würde auf sie übergehen? ), oder die Figur des „Atom“ (aus dem Jahr 190), ein Held, der auf subatomare Größe schrumpfen kann (der gewissermaßen die moderne und in unseren Tagen zukunftsweisende Nanotechnologie vorwegnimmt), oder „Wonder Woman“ (aus dem Jahr 191), eine Superheldin, die mit ihrem goldenen Lasso einen jeden zwingen kann, die Wahrheit zu sagen (Erfunden wurde sie tatsächlich von einem gewissen William Marston, dem Erfinder des ersten Lügendetektors bzw. seines Vorläufers, er nannte diesen „Polygraph“; gleichfalls hat sie, was kaum bekannt ist, ein kurze, aber heftige Liebelei mit Superman). Als Kind liebte ich zudem die Figur des „Phantom“, ein Superheld (vergleichbar mit Batman), der im Dschungel lebt, ein ökologisches Gewissen hat (so eine Art Weiterentwicklung von Tarzan, mit dem man diesen auch vergleichen und analysieren müsste) und der seine Mission nach einem Schiffbruch findet. Verheiratet mit einer gewissen Diana Palmer (einer UNO - Diplomatin) und darüber hinaus eng verbandelt mit einem pygmäischen Urwaldvolk, schützt er die Schwachen und relativiert die Mächtigen (eigentlich auch ein Robin Hood, wenn ich es recht bedenke). Um einen Helden meiner Kindheit komme ich allerdings nicht herum, da er gewissermaßen das Paradebeispiel und zugleich auch ein Paradoxon bildet, „Superman“; dieser Zeus / Helios, Re (bzw. Aton), Jupiter, Odin, Lugh (einer der höchsten keltischen Götter, von dem sich im Übrigen auch der Name der Stadt „Lyon“, eigentlich „Lugudunum“ ableitet), Huitzilopochtli (der Lichtgott der Azteken) und so weiter. Sonnengötter und Götterväter gibt es in allen Kulturen im Überfluss; Superman kann da durchaus als Brennpunkt dieser Mythen in der Pop-Kultur erachtet werden. Das Besondere an Superman, das ihn von ziemlich jedem anderen Helden unterscheidet, ist die Tatsache, dass er ein geborener Superheld ist-- er ist nicht wie Batman, Ironman und Co. dank seiner Physis und irdischen Technologien zu dem geworden, was er ist; er ist auch nicht wie Spiderman, Hulk, die X-Men, Transformers und Co. ein Produkt von Strahlungsaktivitäten, Genveränderungen, außerirdischen Technologien usw. Nein, Superman ist der geborene Gott, er ist mit dem Schicksal des Lichts, der Sonnen verknüpft, die ihm auch seine Kraft und Heiligkeit verleihen. Ich musste schon sehr schmunzeln, als ich diesen Gedanken vor einigen Jahren bei Quentin Tarantino entdeckte, in seinem Filmopus Kill Bill. Das Ganze wurde sogar noch vergnüglicher, da David Carradine (einer der Hauptprotagonisten in diesem Film, die Figur des „Bill“) den mittlerweile durchaus bekannten „Superman-Monolog“ hält. Ich habe diesen Monolog leider nur auf Englisch, mir in Folge dessen erlaubt, ihn ins Deutsche zu übersetzen; punktum: Es könnte einige minimale Abweichungen zur offiziellen deutschen Synchronisation geben, ich bitte um Nachsicht. As you know, l’m quite keen on comic books. Especially the ones about superheroes. I find the whole mythology surrounding superheroes fascinating. Take my favorite superhero, Superman. Not a great comic book, not particularly well-drawn, but the mythology. The mythology is not only great, it’s unique-… Now, a staple of the superhero mythology is, there’s the superhero and there’s the alter ego. <?page no="99"?> 99 „Heimat sind W: orte und verb: leiben f: ort“ Batman is actually Bruce Wayne, Spider-Man is actually Peter Parker. When that character wakes up in the morning, he’s Peter Parker. He has to put on a costume to become Spider-Man. And it is in that characteristic Superman stands alone. Superman didn’t become Superman. Superman was born Superman. When Superman wakes up in the morning, he’s Superman. His alter ego is Clark Kent. His outfit with the big red ‚S’, that’s the blanket he was wrapped in as a baby when the Kents found him. Those are his clothes. What Kent wears-- the glasses, the business suit-- that’s the costume. That’s the costume Superman wears to blend in with us. Clark Kent is how Superman views us. And what are the characteristics of Clark Kent? He’s weak, he’s unsure of himself, he’s a coward. Clark Kent is Superman’s critique on the whole human race. Wie du weißt, ich bin ganz scharf auf Comic-Bücher. Vor allem solche über Superhelden. Ich finde die ganze Mythologie, die sie umgibt, faszinierend. Schau dir etwa meinen Lieblingssuperhelden, Superman, an. Kein großartiges Comic-Buch, es ist nicht sonderlich gut gezeichnet, aber die Mythologie, die Mythologie ist einfach großartig, sie ist einzigartig-… Nun, der Ausgangspunkt der Superhelden-Mythologie ist folgender: Es gibt Superhelden und es gibt das alter ego. Batman ist eigentlich Bruce Wayne, Spiderman wiederum Peter Parker. Wenn dieser Charakter morgens aufwacht, dann ist er Peter Parker. Er muss erst ein Kostüm anziehen, um zu Spiderman zu werden. Und genau das macht Superman einzigartig. Superman wurde nicht zu Superman. Superman wurde als Superman geboren. Wenn Superman morgens aufwacht, dann ist er Superman. Sein alter ego ist Clark Kent. Sein Kostüm mit dem großen, roten ‚S’ ist lediglich die Decke, in die er als Baby eingewickelt war, als ihn die Kents fanden. Das sind seine Kleider. Was er als Clark Kent trägt-- die Brille, den Businessanzug-- das ist das Kostüm. Das ist das Kostüm, das Superman trägt, um sich uns anzugleichen. Clark Kent ist das, wie Superman uns sieht. Und was sind Clark Kents Charakteristika? Er ist schwach, er ist unsicher, er ist ein Feigling. Clark Kent ist Supermans Kritik an der ganzen Menschheit. Ich selbst hatte Superman aus ähnlichen Beweggründen in meinem zweiten Roman Terminifera (2007) auftreten lassen, die Hauptfigur des Buches ist allerdings ein Junge mit dem Spitznamen „Lois Lane“, oder, ich zitiere, wie es dazu kam: „Sie sagten, wenn du bloß die passende Statur hättest, du wärst wie Superman. Wenn du nur nicht so dünn wärst. Wir nennen dich Lois. Lois Lane. Supermans Freundin.“ Dieser auch schon erwähnte Titel ist mit ziemlicher Sicherheit mein experimentellster Roman, denn ich agiere dort mit verkürzter Grammatik und unzähligen kleinen Versatzstücken, die mich an Sprechblasen und diverse Comickästchen bzw. Panels erinnern (die nur mit einer äußerst beschränkten Wortanzahl gefüllt werden können). „Superman erging es nicht viel besser, als er zum ersten Mal in die langsam im Meer versinkende Sonne flog- (…) Ich glaube nicht, dass er jemanden wirklich geliebt hat, dafür war er viel zu abgehoben. Es gab schließlich niemanden seiner Art.“ Dieser Roman entsprach der Comic-Lektüre meiner Kindheit, ein buntes Sammelsurium an Szenerien und Betrachtungen, in neue Kontexte eingebettete Metaphern, kurze Blitzlichter von sich öffnenden und gleich wieder verschwindenden Lebensmomenten. „Iss Karotten, haben sie zu mir gesagt, das stärkt das Sehvermögen. Geh nicht in die Sonne hörst du? Verdammt! Bin ich Superman? Ich aß Karotten, geraspelt mit Staubzucker, der war richtig schön weiß im Karottenrot. Stach ins Auge. Autsch! Einer einzigen Unachtsamkeit habe ich es zu verdanken, dass mir der Durchblick fehlt.“ <?page no="100"?> 100 II. Identität(en). AnSätze Man hatte mir als Kind tatsächlich immer versichert, dass das Essen von Karotten die Sehkraft stärkt, die Sehkraft ist nicht zuletzt auch eine von Supermans wichtigsten Superkräften. Ich entschloss mich, diese Szene noch einmal anders aufzubereiten, sie neu zu erzählen, in meinem zuletzt erschienen Roman Königreich der Schatten-… sie liest sich wie folgt: Als Großvater Loket nach Amerika kam, war es um das Land schon seit längerem schlecht bestellt, Millionen hatten in der Weltwirtschaftskrise alles verloren. Zum Glück hatten Lara Lor-Van und Jor- El vom Planeten Krypton einen Sohn, den es nach Kansas und später Metropolis verschlagen sollte. Metropolis, USA , 3 Clinton Street, Apartment 3B, eine Gegend, die frappierende Ähnlichkeiten mit der Lower East Side aufweist. Der Großvater war ein großer Befürworter Supermans gewesen, die Welt brauchte schließlich einen neuen Helden, eine Identifikationsfigur, selbst wenn sie nur in Comic-Heften existierte. Die Tatsache, dass Superman bei gottesfürchtigen Farmern aufgewachsen war, jeden Wolkenkratzer übersprang, jede Eisenbahn überholte und sich doch bescheiden als schüchterner Reporter tarnte, machte ihn für jeden Amerikaner sympathisch. Allerdings hatte Superman nicht im Zweiten Weltkrieg gekämpft, er wurde, so unglaublich das klingen mag, wegen Dienstuntauglichkeit ausgemustert. Die betreffende Folge war das Lieblingsheft meines Großvaters gewesen, er habe sich angeblich halb tot gelacht. Beim Augenarzt hatte der Held die Tafel mit den Buchstaben, die er eigentlich hätte ablesen sollen, mit seinem Röntgenblick regelrecht durchdrungen und versehentlich eine Buchstabentafel aus dem nächsten Raum erwischt. Er wurde vom Arzt als ‚sehbehindert‘ eingestuft und für untauglich erklärt, gegen Hitler zu Felde zu ziehen. Eine weise Entscheidung, hatte Großvater behauptet, schließlich musste die Menschheit mit ihren größten Problemen selbst fertigwerden. Superman vermöbelte zwar hie und da Deutsche und ‚Japan-Nazis‘ an der Heimatfront, doch war er weder bei der Eroberung von Guadalcanal noch bei der Ardennenoffensive dabei. Alle Soldaten im Zweiten Weltkrieg lasen allerdings Superman, es gab keine beliebtere Frontlektüre. Vielleicht, weil die Comicreihe bei den Nazis verboten war, was nicht unbedingt nur mit Supermans Mission zu tun hatte, in Amerika für Wahrheit und Gerechtigkeit einzutreten, den Nazis war vor allem die jüdische Herkunft seiner Schöpfer suspekt. Also nicht die von Lara Lor- Van und Jor-El vom Planeten Krypton, vielmehr die von Jerry Siegel und Joe Shuster, zwei jüdischen Jungen aus Cleveland, die sich Superman ausgedacht hatten.-(…) Ich erinnerte mich daran, als ich nach Deutschland aufbrach und mir an einem längst geschlossenen französischen Bahnhofkiosk ein vergilbtes Superman-Heft (Nr. 39) ins Auge stach. Nahezu alle Farben waren verblichen, Superman war aschfahl im Gesicht, und sein rotes Cape glich einem schmutzigen Bettlaken. In einer Sprechblase war folgender Text zu erkennen: Est-ce que le monde entier est devenu fou? Ou c’est moi? Has the whole world gone mad? Or have I? <?page no="101"?> 101 „Heimat sind W: orte und verb: leiben f: ort“ Aufgabenstellungen: 1. Diskutiere mit deinen Mitschülern über die Comic- und Superhelden, die ihr kennt, ob nun aus Verfilmungen oder Comiclektüren. Versuche, einen eigenen Superhelden zu entwickeln, mit Namen, Beschreibung seiner Kräfte etc. 2. Versuche eine Kurzgeschichte über die Abenteuer dieses Helden zu verfassen, wahlweise auch ein Szene für einen Film, in dem dieser Held aufritt. Entwickle eine kurze Drehbuchszene, mit Szenen- und Figurbeschreibungen, Dialogen und Regieanweisungen. 3. Diskutiere mit deinen Mitschülern, was die Manga-Figuren von den klassischen Superheldenfiguren unterscheidet. Und was sind die Eigenschaften, Fähigkeiten, die zu einer jeden Heldenfigur gehören? Visionen Von der Grammatik einer Tagesreise, aus dem Tagwerk eines Literaten Das tschechische Wort für Reise „cesta“ stammt aller Wahrscheinlichkeit nach von einem slawischen „cestiti“ ab, also einem heutigen „čistit“, „reinigen“, „klären“, doch im übertragenen Sinne schwingt selbstverständlich das „Reine“ und „Klare“ mit; der Weg, die Reise ist gewissermaßen eine Offenbarung, Erkenntnis und Überwindung seiner selbst. Das Reisen (und Leben) wird zur rituellen Reinigung. Da ich im alltäglichen Reisen den Ursprung von allen uns erzählten und aufnotierten Geschichten erkenne, stellt die Literatur für mich selbstverständlich auch die Option einer Reinigung dar; das Wort, das läutert und der Satz, der uns lossagt von unserer Vergangenheit. Ein jeder Tag ist eine Bewährungsprobe, das Lesen selbst ist schon ein Aufbruch in eine unbekannte Welt. Am Anfang seines Buches Voyages de philosophes et philosophies du voyage verfolgt Lucien Guirlinger nicht ohne Absicht die Etymologie des französischen Begriffs der Reise (voyage). „Voyage“ sei, wie übrigens auch das italienische „viaggio“, vom Lateinischen „via“ hergeleitet und beinhalte das „auf dem Weg sein“. Noch direkter ließe sich „voyage“ auf „veiage“ zurückführen, ein französisches Wort des 11. Jahrhunderts, dessen Akzent mehr auf dem Weg, der zurückzulegen ist, als auf dem Gehen oder Fahren selbst liegt. Jeder kennt gewiss die platte Attitüde: Der Weg ist das Ziel. Die heutige Bedeutung von „voyage“-- als Fahrt zu einem entfernteren Ort--, die ab dem 15. Jahrhundert anzutreffen ist, stellt nach Guirlingers Ansicht eine unzureichende Definition im Französischen dar, weil sie die Reise auf eine räumliche Bewegung bzw. eine objektive Realität reduziert, während die Reise doch vor allem auch eine Geisteshaltung sein muss. (Guirlinger, Lucien: Voyages de philosophes et philosophies du voyage. Saint Sébastien-sur- Loire: Ed. Pleins Feux, 1998). Der deutsche Begriff „Reise“, aus dem Vordeutschen „raiso“‚ „Aufbruch, Reise bzw. Losgang“, ist abgeleitet vom gemeingermanischen Verb „reisa“ und bedeutet „aufgehen, sich <?page no="102"?> 102 II. Identität(en). AnSätze erheben“ (wie die Sonne, im Englischen! ). Die Ausgangsbedeutung von „Reise“ ist also eine andere als diejenige von „voyage“ und weist in die Richtung von „ausreißen“, „von etwas weg wollen“-- das Tschechische scheint mir jedenfalls die sprachlichen Konnotationen des Französischen und Deutschen zu vereinen. Das englische „travel“ wiederum hängt mit dem französischen „travail“ (Arbeit) zusammen: Beide Worte haben eine gemeinsame Quelle, das lateinische „trepalium“, welches ein Folterinstrument bezeichnete und ergo irgendwann auch zum Synonym für Folter („torture“ etc.) wurde. Es wanderte später in das Altfranzösische als ein „travailler“ und nahm dort die Bedeutung von „peinvoller, harter Arbeit“ an. Letztere Bedeutung von „travailler“ übernahm wiederum das Englische, wandelte diese aber schnell zu einem „travel“ im Sinne von „wearisome journey“ (ermüdende Reise); wahrscheinlich war dies den vielen Schwierigkeiten geschuldet, die ein Unterwegs-Sein früher, man denke nur an die Zeiten Homers, Shakespeares oder Goethes, mit sich brachte. Reisen ist also, wenn ich es mit Hilfe verschiedener Sprachen betrachte, zunächst eine „ermüdende Folter“, ein „Ausreißen“ und „weg wollen“, ein „auf dem Weg sein“ (nicht unbedingt um irgendein Ziel erreichen zu wollen), eine „räumliche Überbrückung von Entfernungen“, und-- dem Tschechischen sei dank-- eine innere Reinigung, ja Läuterung; hier hätte Guirlinger auch seine etymologische Entsprechung einer „Geisteshaltung“ entdecken können, die andere Sprachen missen lassen. Michel Serres- - um einen weiteren Referenzpunkt zu wählen- - schlägt in seiner Jules Verne-Interpretation Jouvences. Sur Jules Verne vor, dass eine authentische Reise drei Komponenten beinhalten muss: Jede Reise sei erstens eine Bewegung im Raum und ziele auf die Entdeckung der Welt. Sie sei zweitens auch immer eine wissenschaftliche Forschungsreise bzw., allgemein, von einem Streben nach Wissen begleitet. Sie trage drittens auch die Züge einer religiösen Reise oder zumindest einer für die eigene Persönlichkeit bereichernden Initiationsreise (Serres, Michel: Jouvences. Sur Jules Verne. Paris: Les Éditions de Minuit, 197). Jedenfalls, das Reisen und die Literatur hängen eng zusammen. Vielleicht war dies mit ein Grund, warum ich mich schon als Kind / Jugendlicher für literarische Charaktere (und Autoren) interessierte, die sich alltäglich auf den Weg gemacht hatten; die sowohl eine innere Haltung als auch eine Art Reisefieber aufwiesen. Oft denke ich an meine Vagabundentage, und immer wieder wundere ich mich über die schnelle Reihenfolge, in der die Bilder in meiner Erinnerung auftauchen. Es ist einerlei, wo ich beginne, denn jeder einzelne Tag ist ein Tag für sich und hat seine eigenen, schnell wechselnden Bilder. So erinnere ich mich zum Beispiel eines sonnigen Sommermorgens in Harrisburg (Pennsylvanien) und wie glücklich er begann. Ich wurde ‚hereingebeten‘ zu zwei alten Fräuleins, und zwar nicht in die Küche, sondern ins Speisezimmer, und sie saßen selbst mit mir am Tische. Wir aßen aus Eierbechern! Es war das erste Mal, dass ich Eierbecher sah oder von Eierbechern hörte. Ich gestehe, dass ich zuerst ein bisschen linkisch war; aber ich hatte Hunger und ließ mich nicht in Verlegenheit bringen. Ich wurde mit den Eierbechern fertig und gleichfalls mit den Eiern, jedoch auf eine Art, dass die beiden alten Damen die Augen aufsperrten. Freilich, sie selber aßen wie ein paar Kanarienvögel, nippten an den Eiern und pickten winzige Stücke von den fast oblatendünnen Scheiben gerösteten Brotes.-(…) Die beiden alten Damen mit ihren roten Bäckchen und ihren weißen Locken hatten nie zuvor das leuchtende Antlitz des Abenteurers gesehen. Sie hatten, um einen Vagabundenausdruck zu gebrauchen, <?page no="103"?> 103 „Heimat sind W: orte und verb: leiben f: ort“ ihr ganzes Leben auf demselben Gleis gearbeitet. In ihr ereignisloses enges Dasein mit dem feinen Lavendelduft kam ich, ein frischer Luftzug aus der großen Welt, eine gesunde, kräftige Erinnerung an Schweiß und Kampf, auf Geschmack und Geruchssinn wirkend wie der Hauch ferner Länder und ferner Erde. Und ich rieb ihre weichen Handflächen gründlich mit der harten Haut meiner eigenen Hände-- der halbzölligen, hornartigen Haut, die von dem ständigen Rucken des Taus und den langen anstrengenden Stunden herrührte, da die Hand sich zärtlich um den Spatenschaft geschlossen hatte. Das tat ich nicht nur aus jugendlicher Übermut, sondern um zu zeigen, dass ich zufolge meiner Arbeit Anspruch auf ihre Barmherzigkeit hatte. Ich habe diese Lesepassage Jack Londons Großem Buch der Abenteuer entnommen, einer Erzählung, die „Abenteuer am Schienenstrang“ schildert, zugleich einer Lektüre, die ich schon als Kind verschlungen habe; das Vagabundenleben (Schausteller, Tramps etc.) entlang diverser Zugtrassen im fernen Amerika, es hörte sich ungemein reizvoll an. Und ich muss auch heute noch an Londons Erzählungen denken, immer dann, wenn ich in einen Zug steige (was gut jede Woche der Fall ist). Die Züge stellen ein Medium für mich dar, sie sind Orte keimender Abenteuer (so weit man das heute noch behaupten kann, fallweise wohl eher „abenteuerlicher Keime“) und Räume der Verschriftlichung: Das Aufblitzen der vorbeiziehenden Landschaften, das Aufschnappen von Gesprächen, die unentwegt wechselnden Mitreisenden, die zur Verfügung stehende Zeit, um zu schreiben, während man irgendwohin rast (nun ja, manchmal tuckert man auch lediglich dahin), es sind mir stets wertvolle und identitätsstiftende Momente gewesen. Ich kann mich auch ganz genau daran erinnern, als ich zum allerersten Mal allein einen Zug bestiegen hatte (ich fuhr von Laa / Thaya nach Mistelbach), ich saß in einem alten Dieseltriebwagen, der selbst im Hochsommer überheizt war; die plüschigen, hochaufgeschossenen Sitze umrankten einen förmlich, es roch nach Diesel und-- ob ihr es mir glaubt oder nicht-- Mottenkugeln. Die Zugmaschine machte einen Höllenlärm, sie zuckte und ratterte, man konnte seinen Kopf jedoch durch die geöffneten Fenster weit nach draußen strecken und so laut schreien, wie man nur konnte, wenn das kein echtes Abenteuer war. Aufgabenstellungen: 1. Erinnerst du dich daran, als du zum ersten Mal mit dem Zug gefahren bist? Versuch dich zu erinnern und diese Zugreise zu beschreiben. 2. Wir stehen jeden Tag auf und brechen irgendwohin auf (sei es auch nur in die Schule). Beschreib deinen Schulweg - versuch es aber so zu tun, dass du diesen alltäglichen Weg deinen Mitschülern als ein Abenteuer verkaufst. 3. Nimm eine der Erzählungen von Jack London zur Hand (Wolfsblut, Meuterei auf der Bounty etc.) und diskutiere darüber, welche Rolle die Reise als solche in den Erzählungen spielt. Charles Baudelaire behauptet, es sei ein Wesenszug der Dichter, dass sie sich nicht mit heimatlichen Horizonten zufrieden geben; und es sei auch deren Los, in einer gefallenen Welt zu <?page no="104"?> 104 II. Identität(en). AnSätze leben, die sie mit Visionen und Träumen ausstatten. Zu Baudelaire muss ich hinzufügen, dass er ein Leben lang von Orten wie Häfen, Kais, Bahnhöfen, Eisenbahnen, Schiffen, Hotelzimmern etc. angezogen wurde, er fühlte sich dort heimischer als in seiner eigenen Behausung. Ich denke, die meisten Schriftstellerinnen und Schriftsteller können das gut nachvollziehen; die genannte Orte sind Portale, die voller Geschichten stecken. In den eigenen vier Wänden wird man früher oder später von der eigenen Ereignis- und Bedeutungslosigkeit erstickt; auch Imagination (und Sprache! ) braucht Nahrung, innere und äußere Reisen sorgen folgerichtig für angemessenen Kontext. Jack London (aber auch Karl May und diverse Comicfiguren bzw. deren Autoren) schickten mich im Deutschen auf eine erste Lese-Reise; diese mündete schließlich in einer frühen Entdeckung von Joseph Conrad, der diese mir so wichtigen inneren und äußeren Reisen, die schlussendlich eine für das Schreiben unerlässliche Geisteshaltung auf den Plan rufen, in sich vereinte. Conrad bereiste diverse Meere, als Seemann und Kapitän, und nur der Vollständigkeit halber: Jack London steht ihm in diesem Punkt keinesfalls nach, vom Robbenjäger auf Japanreisen bis hin zum Goldsucher am berühmten Klondike-River, da ist so ziemlich alles vertreten. Ich nahm Joseph Conrads Herz der Finsternis zur Hand und war mir dessen bewusst: Das hier möchte ich auch in irgendeiner (meiner) Weise einfangen und darstellen können-- er und sein Schaffen schienen mir eine lebendig gewordene Analogie der eigenen, entwurzelten Existenz. Und die Sehnsucht, diese in adäquaten Sätzen einzufangen, Geschichten zu erzählen, die tatsächlich in einem selbst lebendig werden können, was gäbe es Schöneres! Und schon fuhren wir weiter in die Stille hinein, auf leeren, schnurgeraden Stromstrecken, um Biegungen ohne Laut, zwischen den hohen Mauern unseres gewundenen Wegs, die das Echo der wuchtigen Schläge des Heckrads wie einen schütteren Applaus klingen ließen. Bäume, Bäume, Millionen Bäume, wuchtig, riesengroß, hoch aufragend; und zu ihren Füßen kroch, immer dicht am Ufer, das kleine, schmutzige Dampfboot wie ein tölpeliger Käfer, der sich auf dem Boden eines himmelhohen Säulentempels vorwärts bemüht.- (…) Wir waren Wanderer auf prähistorischer Erde, auf einer Erde, die wie ein unbekannter Planet aussah. Wir hätten uns einbilden können, die allerersten Menschen zu sein, die eine mit Fluch belegte Erbschaftantraten, welche nur unter den schrecklichsten Qualen und mit äußerster Anstrengung auszuhalten war. Aber jäh, wenn wir uns um eine Biegung kämpften: Schilfzäune, spitze Grasdächer, ein Geschrei plötzlich, ein Wirrwarr aus schwarzen Beinen, klatschende Hände überall, stampfende Füße, sich wiegende Körper, rollende Augen hinter schwerem, bewegungslosen Blattgrün. Der Dampfer keuchte langsam den Rand eines schwarzen und unverständlichen Wahnsinns entlang.-(…) Aber wenn wir nur Manns genug waren, mussten wir uns eingestehen, dass in uns die allerdings äußerst schwache Spur einer Antwort auf die schreckliche Offenheit dieses Getöses lebte, der vage Verdacht, es gebe darin-- wie fern wir auch der Nacht der Urzeiten gerückt sein mochten-- einen Sinn, den wir zu erfassen vermochten. Und warum nicht? Der Geist des Menschen ist zu allem fähig-- weil alles in ihm lebt, die ganze Vergangenheit und die ganze Zukunft. Ich weiß nicht ganz genau, warum es gerade dieses Buch war, das mich schon so früh faszinierte, warum ich gerade dort dieses Unterwegs-Sein am eigenen Leib verspürte, die Fremde, <?page no="105"?> 105 „Heimat sind W: orte und verb: leiben f: ort“ das Exotische, die Gefahr und das Geheimnisvolle. Was alles lebte im „Geist der Menschen“, was alles lebte in mir und was war „eine ganze Vergangenheit und die ganze Zukunft“? Wer war ich und wo wollte ich hin? Als ich viele Jahre später Francis Ford Coppolas Apocalypse Now sah und realisierte, dass er das Herz der Finsternis zum Ausgangspunkt seiner Vietnam-Kritik gewählt hatte, als ich erkannte, wie wunderbar sich diese-- auf den ersten Blick-- festverankerte Geschichte transformieren ließ, wie zeitlos, poetisch und abgründig sie war, wollte ich diese Option auch in meinen eigenen Büchern verankert wissen. Es musste möglich sein, seinen Leserinnen und Lesern eine Deutungs- und Interpretationshoheit zuzugestehen. Literatur war keine zu Ende erzählte Geschichte, und schon gar nicht in einer Art und Weise, die keine weiteren Fragen offen ließ. Literatur (und Poesie) waren auch deshalb ein Wagnis, weil sie sich anschickten, Metamorphosen einzuleiten. Sie durften und konnten sogar unverständlich sein bzw. sich einem verweigern, weil man selbst in der Pflicht stand, Antworten zu finden. Ich denke, das Herz der Finsternis hat mir klargemacht, dass sich ein jedes in meinen Augen wirklich herausragende Buchprojekt individuell an jeden Einzelnen von uns richtet; und ein jeder von uns darf und soll darin anderes erkennen. Aufgabenstellungen: 1. Recherchiere die Biographie Joseph Conrads und lies das Herz der Finsternis. Diskutiere mit deinen Mitschülern, warum dieses Buch auch in einem anderen Kontext funktioniert. Schau Dir diesbezüglich eine Szene aus Francis Ford Coppolas Apocalypse Now an - diskutiere, warum eine Reise in das Herz Afrikas (Kongo) mit einer Reise zur Zeit des Vietnamkrieges in den Dschungel vergleichbar ist. 2. Was glaubst du passiert alles mit Figuren, die sich auf einer Reise begeben haben - welche Möglichkeiten bieten sich einem an, Geschichten zu erzählen (etwa auch im Vergleich zu Protagonisten, deren Leben sich zum Beispiel nur in den eigenen vier Wänden abspielt)? 3. Beschreibe, wie ein „Reisetag“ des Protagonisten in Joseph Conrads Herz der Finsternis aussieht, vergleiche diesen mit einem „Reisetag“ des Soldaten in Francis Ford Coppolas Apocalypse Now. 4. Es gibt eine Graphic Novell mit dem Titel Kongo, von Tom Tirabosco und Christian Perrissin, die Joseph Conrads Reise ins Herz der Finsternis als Comic darstellt. Lies dieses Buch und diskutiere mit deinen Mitschülern darüber, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten es bei diesen drei völlig unterschiedlichen künstlerischen Zugängen gibt. Den Anfang meiner nachhaltigeren Auseinandersetzung mit der Literatur (mal abgesehen von den Abenteuer-, Jugend- und Reiseromanen, Graphic Novels, Comics etc.) ist dem Deutschunterricht geschuldet, denn in den Schulbüchern fand ich ab meinem dreizehnten Lebensjahr reichlich Werkauszüge vor, die mich beschäftigten. Es waren Autoren wie Paul Celan, Ingeborg Bachmann oder Ernst Jandl, die meine Vorliebe für die Kenntnis um das <?page no="106"?> 106 II. Identität(en). AnSätze Wesen der Sprache weiter anfachten und die mit ihren Kompositionen völlig neue und mir vollkommen fremde sprachliche Paradigmen schufen. Ernst Jandl: zertretener mann blues ich kann die hand nicht heben hoch zum gruss. schau her: ich kann die hand nicht heben hoch zum gruss. wo ich doch weiss, wie schlimm das enden muss. da steht der braune mann vor mir und schlägt. schau nur: da steht der braune mann vor mir und schlägt. diesmal heb ich die hand, jedoch zu spät. ich krieche mit zerdroschenem gesicht. schau weg: ich krieche mit zerdroschenem gesicht vor meinem schlächter, doch ich bettel nicht. der stiefelriese tanzt auf meinem bauch. hilf mir: der stiefelriese tanzt auf meinem bauch. ich fresse feuer, und ich bettel auch. bald fällt ein knochensack ins massengrab. ho ruck: bald fällt ein knochensack ins massengrab. dann bin ich, wo ich meine freunde hab. Ohne es zu ahnen, wie wichtig mir als Autor später die Rhythmik, der Duktus, poetische Stilmittel und formale Zugänge werden würden, spürte ich doch damals den Sinn dieser Komposition, erkannte die Lust am Arrangement und die Anbindung an die Musik. Die litaneihafte Eindringlichkeit, die Schaffung eines nahezu hypnotischen Refrains, die Zusammenführung eines Liedes mit einer Art Anklageschrift-- all das führte mir vor Augen, dass Sprache weitaus mehr leisten muss, als ich es mir dachte. Worte wie „Stiefelriese“ und „Knochensack“ faszinierten mich, denn mit dreizehn, vierzehn war ich mir dessen nicht bewusst gewesen, dass Dichter ihre eigenen Worte schufen, dass sie Worte gestalteten, wie sie es wollten. Die Dichter und ihre Handhabe der Poesie zeigten mir, dass Sprache eine weit über den Gebrauch des Narrativs hinausgehende Funktion erfüllt: Sie ist auch ein Rätsel, ein Zauberspruch, eine emotionale Fokussierung, sie ist ein Zeichen, ein Mahnmal, ein Schild, eine Waffe, sie ist Lust und eine niemals zu begrenzende Spielwiese des eigenen schöpferischen Aktes. Paul Celan: Todesfuge Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts wir trinken und trinken wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland <?page no="107"?> 107 „Heimat sind W: orte und verb: leiben f: ort“ dein goldenes Haar Margarete er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends wir trinken und trinken Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr anderen spielt weiter zum Tanz auf Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends wir trinken und trinken ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith Diese „Schwarze Milch der Frühe“, die Art und Weise, wie Celan sie ein- und aussetzte, das sich hier zusammenfügende Bild der Ohnmacht und der Sog und die Suggestivkraft der Sprache, dies waren Initiationsmuster, die mich und meine Handhabe der deutschen Sprache für immer veränderten. Dabei ging es mir weniger um die Dichter Celan, Jandl, Bachmann und Co. an sich, ich sah sie als Beispiele eines sich mir langsam erschließenden Sprachuniversums, dessen Möglichkeiten und Funktionsweisen ich allmählich zu begreifen begann. „Poesie zwingt sich nicht auf, sie setzt sich aus“, schreibt Paul Celan, und jener Akt des Sich- Aussetzens schien mir schon seit je her ein gutes Credo zu sein, welches das Leben und die Literatur in einem Punkt zusammenführt. <?page no="108"?> 108 II. Identität(en). AnSätze Bei mir führte die Celan-Rezeption als Jugendlicher etwa dazu, dass ich, basierend auf seinen Gedichten, meine eigenen entwarf, die sich ganz eng auf die Originale bezogen. Ich entwickelte damals (mit etwa 16 Jahren) „Cover-Versionen“ von Gedichten und Geschichten. Meine Todesfuge las sich dann wie folgt: Tod und Verzweiflung und Mord schmecken im Dunkeln stilles Gemurmel ganz still und wenn nichts mehr sich rührt und nichts mehr bewegt dann spürt man den Tod dann fühlt man den Dämon im Mensch und eiskalten Schauer und wallenden Rauch und die Mörder aus Deutschland. Das Blut das wir trinken welches sie tranken mischt sich in Adern zum blutigen Tanz wie das Dunkle im Aug wie das Dunkle in ihren Augen und die einzige Hoffnung zu leben sie stirbt. Spiel mit den Schlangen spiel mit den Schlangen welche du um ihre Hälse schnürst in einem stetig enger werdendem Kreis der sich schließt jener sich schließt und trifft dich genau und nichts mehr das Schweigen begehrt. Die Welt tanzt sich wund und die Luft schmeckt nach Schweiß wenn sie aus allen Ecken die Leichen karren auf einen Haufen ein Meer von Knochen unter der Erde ein Meer unerfüllter Träume im Wind spiel mit den Schlangen und trinke das Meer denn sie küssen dem Dämon die Stirn er ist ein Meister aus Deutschland. Aufgabenstellungen: 1. Erfinde ein paar neue Wörter, die zu der Thematik von Ernst Jandls Gedicht passen. Füge sie im Anschluss in das Gedicht ein bzw. kreiere daraus eine neue Strophe. 2. Diskutiere, was Neologismen (Wortneuschöpfungen) für eine Wichtigkeit in der Literatur haben. Schaffe weitere Wortneuschöpfungen. Diskutiere auch, welche neuen Worte, etwa aus dem Englischen, ins Deutsche kamen und ob man diese für Geschichten / Gedichte nutzen kann. 3. Lies Paul Celans Gedicht Die Todesfuge mehrmals durch, diskutiere die Thematik und klär ab, was Celan damit zu beschreiben versucht. Welche Gemeinsamkeiten hat mein Gedicht mit jenem von Celan? 4. Versuche selbst deine „Cover-Version“ der Todesfuge zu schreiben, die sich auch nicht unbedingt auf die Thematik Nationalsozialismus und Konzentrationslager beziehen muss - du kannst dir jedwede Zeit, jedweden Krieg oder Konflikt und die damit zusammenhängende, menschenunwürdige Behandlung der Opfer auswählen. Diskutiere mit deinen Mitschülern die diversen Konflikte, wer gegen wen, welche Interessen die Beteiligten haben und kreiere ein literarisches Mahnmal für die Opfer. <?page no="109"?> 109 „Ein Freund, ein guter Freund …“ „Ein Freund, ein guter Freund …“ Akos Doma 1. „Ein Freund, ein guter Freund …“. Freundschaft Einführende Gedanken „Warum bist du also zurückgekommen, Huck? “ „Wenn ein Freund in Schwierigkeiten steckt, läuft man nicht weg.“ (Mark Twain, Die Abenteuer des Tom Sawyer) Wer hat ihn nicht? Den besten Freund? Die beste Freundin? Den Menschen, mit dem man durch Dick und Dünn geht, der einen versteht, zu einem steht, für einen einsteht? Dem man sich anvertrauen kann, der einen nicht verurteilt, nicht verrät, nicht hintergeht? Auf den bedingungslos Verlass ist, was auch geschehen mag? Und wenn er ihn nicht hat, wer hätte ihn nicht gern? Freundschaft. Ein bisschen weniger als Liebe und ein bisschen mehr. Ein Gefühl der Verbundenheit, der Zuneigung, das auf vielem beruhen kann: auf gemeinsamen Ansichten oder gemeinsamen Erlebnissen, dem gleichen Sinn für Humor, der gleichen „Wellenlänge“. Sympathie, Hingabe, Verlässlichkeit, Vertrauen, Treue, gegenseitiges Wohlwollen. Ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Körperlose Liebe. Wie die Liebe hat auch die Freundschaft ihre eigenen Gesetze. Sie kann die gegensätzlichsten Menschen verbinden, sich über gesellschaftliche Hindernisse, Unterschiede der Herkunft, Religion, Nationalität, sozialer Klasse oder Weltanschauung hinwegsetzen; sie kennt keine Absichten und keine Interessen, gerade eine Interessengemeinschaft ist sie nicht. Die Freundschaft ist freier als die Liebe und doch-- oder gerade deshalb-- oft beständiger, sie kann auch lange Phasen des Ruhens, der Kontaktlosigkeit unbeschadet überstehen. In der Idealvorstellung ist sie wie die Liebe ewig und unvergänglich, jenseits von Raum und Zeit. „‚Wir werden Freunde sein für immer, nicht wahr, Pu? ‘, fragte Ferkel. ‚Und noch länger‘, antwortete Pu“, heißt es in A. A. Milnes Kinderbuch Pu, der Bär. In der Wirklichkeit wird sie durch die Lebensumstände „auf die Probe gestellt“, muss sich „bewähren“, erweist sich dann als „brüchig“ oder „echt“. Das Gegenteil von Freundschaft ist Feindschaft, gefährlicher noch als Feindschaft ist die falsche Freundschaft. Der Feind ist bekannt, falsche Freunde agieren maskiert, täuschen Zuneigung vor, verfolgen aber, angetrieben von Missgunst, Neid, Eifersucht oder anderen Motiven, heimliche Absichten. Der erfolgreiche, venezianische Feldherr Othello in Shakespeares gleichnamiger Tragödie wird durch eine Intrige seines ihm dem Anschein nach in <?page no="110"?> 110 II. Identität(en). AnSätze Freundschaft und Wohlwollen verbundenen Fähnrichs Jago systematisch zugrunde gerichtet, zu Mord und Selbstmord getrieben. Erst als es zu spät ist, durchschaut der arglose Othello die Machenschaften seines falschen Freundes. Freundschaft. Neben der Liebe die tiefste, intensivste, beglückendste zwischenmenschliche Beziehung. Welche Rolle spielt sie heute noch? In einer Zeit da man in sogenannten sozialen Medien Freunde kauft, aus dem qualitativen Begriff Freund ein quantitativer geworden ist? Da die Vorstellungen von Freundschaft immer mehr von den synthetischen Bildern der Film- und Unterhaltungsindustrie bestimmt werden? Da die körperliche, sinnlich-reale Nähe zwischen Menschen zunehmend durch dazwischengeschaltete technische Kommunikationsmittel aufgehoben, durch eine nur vorgetäuschte Nähe ersetzt wird? Da der allmächtige, handtellerkleine Bildschirm, zu dem die große, weite Welt geschrumpft ist, zum „besten Freund“ des Menschen geworden ist? Aufgabenstellung 1 (schriftlich, 10 Minuten) Was assoziierst du mit den Begriffen Freundschaft, Freund, Freundin, Freunde? Erstelle eine Liste. Positiv: Treue, Verlässlichkeit, Vertrauen, Ehrlichkeit, Respekt, Hilfe, Kraft, Kumpel, Kamerad, Mannschaft, Team, Clique, Gemeinschaft, Männerfreundschaft, Seelenverwandtschaft, Gleichgesinnte, Freundeskreis, Selbstlosigkeit, Opferbereitschaft, Freundschaftsdienst, Freundschaftsbeweis Negativ: Falsche Freunde, Verrat der Freundschaft, Verlust der Freundschaft, Feindschaft. Aufgabenstellung 2 (schriftlich, 20-30 Minuten) Schreibe eine Geschichte zum Thema „Der Anfang einer Freundschaft“ oder „Das Ende einer Freundschaft“. <?page no="111"?> 111 „Ein Freund, ein guter Freund …“ Aufgabenstellung 3 (schriftlich, 30 Minuten) Eine Freundschaft kann „brüchig“ sein, wird „auf die Probe gestellt“, muss „sich bewähren“. Friedrich Schillers Ballade Die Bürgschaft schildert die bedingungslose Hingabe zweier Freunde, die auch unter Einsatz ihres Lebens füreinander einstehen. Erst stellt sich der Freund des zum Tode verurteilten Damon dem Tyrannen Dionys als Bürgschaft zur Verfügung, auf die Gefahr hin, anstelle Damons hingerichtet zu werden, dann schafft es Damon unter geradezu übermenschlichen Anstrengungen, gerade noch rechtzeitig zurückzukehren, um seinen Freund auszulösen. Welche Erwartungen hast du an eine Freundschaft? Wähle eine Eigenschaft, die du als typisch für die Freundschaft empfindest (Treue, Verlässlichkeit, Vertrauen, Ehrlichkeit, usw.), und schreibe dazu eine Geschichte. Eine Freundschaft bewährt sich, eine Freundschaft versagt. Versuche das Thema in dieser wie in allen Aufgaben nicht abstrakt abzuhandeln, deine Gedanken und Meinungen zum Thema nicht theoretisch zu formulieren, sondern sie in eine Handlung einzubetten. 2. Freundschaft in Literatur und Kultur Archetypische Freundschaften ziehen sich auch durch die Weltliteratur. Die Kampfgefährten Odysseus und Diomedes in Homers Epen, Roland und Olivier im Rolandslied, König Artus, Lancelot und die Ritter der Tafelrunde in der Artuslegende, der idealistisch-versponnene kastilische Edelmann Don Quijote und sein nüchtern-unromantischer Knappe Sancho Panza in Cervantes’ Don Quijote von La Mancha, Hesses Narziß und Goldmund als geistig-asketisches beziehungsweise sinnlich-diesseitsfrohes Gegensatzpaar. Der hünenhafte, geistig zurückgebliebene Lennie und der umtriebige George, die der Einsamkeit ihres Lebens als mittellose Wanderarbeiter nur ihre Freundschaft entgegenzusetzen haben-- in John Steinbecks Kurzroman Von Mäusen und Menschen. Ein paar literarische Freundschaften unter zahllosen. Um von den unzertrennlichen Freundschaften in Filmen (Laurel und Hardy) oder Comics (Asterix und Obelix, Tim und Struppi) gar nicht zu reden. Eine besondere Rolle spielen Freundschaften seit jeher in der Jugendliteratur. Tom Sawyer, der behütete Junge aus bürgerlichem Haus, und der verwahrloste Herumtreiber Huckleberry Finn in Mark Twains nach ihnen benannten Romanen, Huckleberry Finn und der entflohene Sklave Jim, dem er zur Weiterflucht verhilft. Die drei Musketiere von Alexandre Dumas leben und handeln nach dem ultimativen Freundschaftsmotto: „Einer für alle, alle für einen“. Besonders beliebt ist das Motiv der Jugendbande, die sich oft im Konflikt mit einer anderen, konkurrierenden Bande befindet, etwa in Die Jungen von der Paulstraße (Ferenc Molnár), Krieg der Knöpfe (Louis Pergaud), Das fliegende Klassenzimmer (Erich Kästner) oder Die rote Zora und ihre Bande (Kurt Held). <?page no="112"?> 112 II. Identität(en). AnSätze Aufgabenstellung 4 (schriftlich, ab 30 Minuten) Der Freund, die Freundin, der treue Gefährte. Es muss nicht immer ein Mensch sein, oft ist es ein Tier, ein nachgemachtes oder ein echtes. Ob ein Teddybär oder ein anderes Stofftier in der Kindheit oder ein Hund („des Menschen bester Freund“), eine Katze oder ein Wellensittich in späteren Jahren, ein Freund stillt das Bedürfnis nach Zweisamkeit in der Einsamkeit. Die Freundschaft zwischen einem Jugendlichen und einem Tier ist ein wiederkehrendes Motiv in Büchern, Filmen und Fernsehserien. Der Collie Lassie, der Pyrenäenberghund Belle in Belle und Sebastien, der schwarze Hengst Black Beauty, der Delfin Flipper oder die vielen Tierfreunde Mowglis in Rudyard Kiplings Dschungelbuch. Erfinde eine Geschichte, in deren Mittelpunkt die Freundschaft eines Jugendlichen zu einem Tier steht. Erzähle aus der Ich-Perspektive, gerne auch aus der Sicht des Tieres. 3. „Er ist uns anvertraut …“ Akos Doma, Die allgemeine Tauglichkeit Akos Domas Roman Die allgemeine Tauglichkeit handelt von vier gestrandeten Freunden, arbeitslosen Lebenskünstlern, die in einer Bruchbude am Rande einer Kleinstadt hausen. Ihr Leben ist notdürftig und ziellos, doch trotz ihrer häufigen Streitigkeiten stehen Amir, Igor, Ludovik und Ferdinand, wenn es darauf ankommt, füreinander ein. Vor allem für Ludovik, den jüngsten unter ihnen, fühlen sie sich verantwortlich. Ludovik unternimmt immer wieder vorgetäuschte Selbstmordversuche, um sich ihrer Freundschaft zu vergewissern. Die folgende Szene beschreibt die erste Begegnung zwischen dem Erzähler Fern und Ludovik. Romanausschnitt (Kapitel 25) Er saß mir gegenüber, die Gondel rotierte langsam, tief unter uns rotierten die Lichter des Jahrmarkts genauso langsam in die entgegengesetzte Richtung. Es war ein sternklarer Abend im Mai vor zwei Jahren, ich saß auf dem Riesenrad, das ich als Helfer mit aufgebaut hatte, und drehte Runde um Runde, seit einer Stunde oder schon länger, Freifahrten ohne Ende. Leute waren zu- und wieder ausgestiegen, nur ich blieb sitzen. Und mit einem Mal saß dieser langhaarige junge Typ da, ich hatte ihn bis dahin gar nicht bemerkt. Das Rad stand still, unsere Gondel hing im großen Blau des Himmels. Plötzlich lehnte sich mein Gegenüber vor und hielt mir einen Brief hin. „Würdest du diesen Abschiedsbrief für mich einwerfen? “ Er duzte mich, als würden wir uns kennen. Die Gondel setzte sich sachte in Bewegung. Senkrecht unter uns schwelte der Jahrmarkt. Nur ein dünnes Eisengeländer, eine dünne Kette trennten uns von der Tiefe. Es war ein grauer, zerknitterter Öko-Umschlag ohne Briefmarke, irgendwie mitleiderregend. „Wirf ihn doch selbst ein.“ Er schüttelte den Kopf. Ich zuckte mit den Schultern. <?page no="113"?> 113 „Ein Freund, ein guter Freund …“ „Ich habe kein Geld für Briefmarken.“ „Bitte! “ Er sah mich erwartungsvoll an. Ich beugte mich über den Umschlag. „Er ist doch gar nicht adressiert.“ Er steckte den Umschlag in seine Westentasche, sah traurig vor sich hin. „Ich weiß nicht, wo sie wohnt, darum.“ Es lag etwas Pathetisches in seiner Stimme, als spielte das eine Rolle. „Du willst also nicht“, fing er gleich wieder an. „Schon gut, man wird ihn auch so finden.“ Mit diesen Worten erhob er sich von seinem Sitz und begann, seine Jacke auszuziehen. Er legte sie sauber gefaltet auf seinen Sitz und löste mit einer ruhigen Bewegung die Absperrkette. Mein Herz machte einen Sprung. „Hey, hey, was soll das! “ Das hatte mir gerade noch gefehlt. Er stand mit dem Rücken zu mir, am Rand der Gondel, einen Schritt vor dem Abgrund, den Blick nach unten gerichtet. Wir waren am höchsten Punkt angekommen, die Gondel wankte, ich wünschte mir, ich wäre woanders, egal wo. „Setz dich doch, es ist genug Platz da für uns beide“, hauchte ich wie im Scherz. „Versuch doch, wenn du kannst, einen Mann festzuhalten, der mit einem Selbstmord im Knopfloch unterwegs ist.“ „Also gut, ich werfe den Brief ein. Kein Problem. Ich wusste nicht, dass dir so viel daran liegt.“ Das Rad fuhr wieder los, wir glitten nach unten. „Rühr dich nicht vom Fleck! Springst du auf, springe ich ab.“ „Das-… das ist auch keine Lösung“, stotterte ich, „du stirbst, wirst wiedergeboren, und alles beginnt wieder von vorne. Das ist wie dieses Rad, es hört nie auf, sich zu drehen.“ Er ließ die Gondel los, streckte seine Arme seitlich aus und sah plötzlich wie der Jesus von Rio aus. „Ich bewundere deinen Mut“, begann ich plötzlich. „Ich sitze schon seit einer Stunde hier und bringe es nicht über mich zu springen. Ich werde es nie schaffen-…“ Er rührte sich nicht. „Warum solltest du auch? “ „Weil mir nichts mehr geblieben ist-… Ich habe alles verloren.“ Es schien zu wirken, ich musste weiterreden, erzählen. „Wir lebten in einem alten Schulhaus mit einem herrlichen Garten, meine Frau, mein Kind und ich. Das war unser Zuhause. Nie hätte ich gedacht, dass ich es einmal verlassen müsste. Eines Tages-… wie soll ich sagen-… hatte sie genug von mir. Ich werde den Moment nie vergessen, als sie das Tor hinter mir zuschlug. Für immer. Es war wie sterben, lebendig beerdigt werden. Ich stand auf der Straße, mit einem Koffer und einem Rucksack, vaterseelenallein. Ich war wie gelähmt. Ich blickte hinauf zu unserem alten Schlafzimmerfenster, hinter dem blauen Vorhang, den ich einst selbst aufgehängt hatte, brannte warmes gelbes Licht. Der Abend dämmerte, der Bus näherte sich auf der Landstraße, und mir wurde plötzlich klar, dass es nun endlich, endgültig so weit war. Ich stieg ein. Im Wohnzimmerfenster erschien der Kopf meiner kleinen Tochter, wir sahen einander an, bis der Bus, das Haus außer Sichtweite waren.“ Er stand noch immer am Rande der Gondel, ganz steif, seine Haltung verriet mir, dass er mir zuhörte. <?page no="114"?> 114 II. Identität(en). AnSätze „So fing es an, vor einem Jahr. Oder früher. Ich habe das Zeitgefühl verloren. Anfangs trieb ich mich auf Bahnhöfen herum, schlief in Obdachlosenheimen und spendete Blut oder Plasma. Morgens um sechs jagte man uns aus den Unterkünften. Es hätte auch sieben oder acht Uhr sein können, aber nein, wer nicht zum Arbeiten taugte, der taugte auch nicht zum Ausschlafen. Danach irrte ich den ganzen Tag umher, auf der Suche nach Geld, etwas zu essen, einem ruhigen Fleck. Ich lernte schnell, immer und für alles offen zu sein, jede Gelegenheit zu nutzen, bloß keine kleinlichen Bedenken aufkommen zu lassen, mit so was machte man sich nur lächerlich. Irgendwann wollten sie nicht einmal mehr mein Blut, die Werte seien zu schlecht. Frühmorgens sammelte ich die leeren Flaschen vor den Lokalen auf, zog von Stadt zu Stadt, streunte umher wie ein herrenloser Hund. Ich war müde vor Hoffnungslosigkeit, hoffnungslos vor Müdigkeit, es war dasselbe. Plötzlich gehörte mir die ganze Welt, aber kein Quadratmeter davon mir allein. Früher hatte ich nichts von der Welt gehabt, eben nur diese paar Quadratmeter, die ich mit einer Frau und einem Kind teilte, aber das war mehr als die ganze Welt. Jetzt war es mir egal, was passierte. Alles war vorbei, mein Himmel eingestürzt. Es gab keinen Grund mehr, etwas zu tun oder zu lassen, verstehst du, kein Für und Wider-…“ „Ich verstehe-… Ich weiß-…“ „Und wenn es so ist, gibt es auch keinen Grund zu springen-…“ Er trat zurück. Er nahm seine Jacke und zog sie wieder an, zog sie eng um sich. Ich mimte Gelassenheit, versteckte meine zitternden Hände in meinen Hosentaschen. Als wir unten ausstiegen, wollte ich sofort das Weite suchen. Er fand instinktiv das einzige Wort, das mich daran hindern konnte. „Hast du Hunger? “ Aufgabenstellung 5 (schriftlich, ab 1 Stunde) Schreibe eine Geschichte über eine Gruppe von Freunden oder Freundinnen, eine Clique oder Bande, deren Freundschaft durch ein unerwartetes Ereignis oder das Hinzustoßen einer Person von außen auf die Probe gestellt wird. Mache dir Gedanken zu den Personen deiner Geschichte, suche dir eine passende Erzählperspektive aus (erste Person oder dritte Person, auktorial / allwissend oder personal / eingeschränkt) und erfinde eine Handlung, die für das, was du sagen willst, ideal ist. <?page no="115"?> 115 Freundschaft Freundschaft Zehra Çirak Das Begießen der Freundschaftspflänzchen Freundschaft lebt wie eine Pflanze mit robusten wie empfindlichen Stellen. Tatsächlich wollen Freundschaften gehegt und gepflegt und manchmal nach Streitereien mit darauf folgenden oftmals langen Pausen wieder zurück gewonnen und erneut belebt und behütet werden. Pflücke einer Freundschaft zart oder ruppig die Blüten oder Blätter ab, sie werden mit Zuversicht und Zeit wieder nachwachsen. Doch reiß bitte der Freundschaft nicht den Stiel ab oder gar die Wurzel heraus, sie wäre wohlmöglich auf immer verloren. Als Kind oder Jugendlicher schwört man sich gerne Freundschaft auf immer und ewig, doch wie schnell gerät man sich plötzlich aus den Augen und dann irgendwann schleichend aus dem Sinn. Geografische Entfernungen müssen Freundschaften nicht unbedingt beenden, ebenso wenig ungleiche Ansichten oder Lebenseinstellungen und unterschiedliche Lebensweisen. Immer dann, wenn man glaubt, alles sei im Reinen und nichts könne einer blühenden Freundschaft etwas anhaben, geschehen Missverständnisse, böse Worte ziehen wie drohende Wolken über den Freundschaftshimmel, und plötzlich ist ein schmerzvoller Riss entstanden. Dann regnet es wie vergiftetes Wasser auf diese Pflanze. Reden und sich gegenseitig entgegenkommen, ohne Schmollverfahren dem anderen zuhören, eine Plattform für Aussprachen und Versöhnung ermöglichen wäre jetzt die Rettung. Doch oft geben sich Egoismus und Kleinlichkeit oder Beleidigungen die Hand und den Mund, und überhebliche Bockigkeit blockiert den Kopf, der sich dann traurig abwendet, wie das Herz, das die Freundschaft bisher trug. Freundschaft mit Verwandten oder Wahlverwandtschaften. Wo steht geschrieben, dass Eltern oder Geschwister die besten Freunde sein müssen? Es trifft manchmal zu, dass es glücklicherweise so ist. Oft aber hat man sogar schon damit Mühe, sich allein mit den Ansichten der Eltern oder Geschwister anzufreunden. Wie schön, wenn man sich gegenseitig respektiert und nicht immer nur streitet. Es kommt vor, dass man sich besonders häufig oder intensiv streitet mit Menschen, die man sehr liebt. Eine Verwandtschaft muss das tragen können. Aber wie schön klingt es, wenn es heißt, eine Freundschaft muss auch eine scharfe Kritik oder einen Streit ertragen können. Der Klang macht die Musik und der Respekt voreinander macht die Freundschaft aus. Man kann auch befreundet sein, ohne sich besonders zu lieben. Und es gibt Menschen, die sich zwar lieben, aber keine innige Freundschaft miteinander teilen. <?page no="116"?> 116 II. Identität(en). AnSätze Ich persönlich hatte das große Glück, die beste und schönste Variante erleben zu dürfen: eine 36 Jahre andauernde, wahre und wunderbare Freundschaft mit der großen Liebe meines Lebens. Ich war drei Jahre lang mit J. W. befreundet, bevor wir ein Liebespaar wurden und dann 1982 gemeinsam von Karlsruhe nach Berlin gingen, um dort unser Abenteuer anzufangen, um in Freundschaft und Liebe Kunst zu machen, einen schönen langen Lebenszopf zu flechten. Alle Höhen und Tiefen miteinander teilen, streiten und sich versöhnen, immer wieder gemeinsam an der Beziehung arbeiten und dabei auch Überstunden zu machen, um weiterhin zusammen einen Weg zu gehen, dieses Wunder, das wir erleben durften, konnte nur durch den Tod beendet werden. So habe ich nicht nur meinen liebsten Mann, meinen hervorragenden künstlerischen Partner, mit dem ich so kreativ zusammenarbeiten konnte, sondern auch meinen allerbesten Freund, sozusagen meinen Lieblingsmenschen verloren. In diesen langen miteinander gelebten und auch um Freundschaften kämpfenden Jahren haben wir intensive Freundschaftspflege mit anderen betrieben. Ja, was ist Freundschaftspflege? Auch darüber könnte man sich streiten oder einigen. Mehrere gute und über Jahrzehnte andauernde Freundschaften sind bis heute gehütet. Leider sind aber auch Freundschaften durch Streitereien oder Missverständnisse in die Brüche gegangen. Einige Verluste bedauerten wir, andere nicht. Wir hatten ein gutes Fundament, um immer wieder neue Freunde in unser Leben einzuflechten. Wir hatten Uns. Daneben waren unser Menschenhunger, unsere Menschenliebe und unsere Kunst immer ein Becken, worin sich die unterschiedlichsten Freundschaftsvarianten tummelten. Wir waren immer gerne Gastgeber und haben unsere Freunde mit Vorliebe in unserer Wunderküche, einem zentralen Raum in unserer Wunderatelierwohnung, kulinarisch verwöhnt. Aber ebenso gab uns die Fähigkeit, miteinander und mit den Freunden kritisch zu sein, auch einmal einen Streit zu riskieren, die schönsten Reibereien mit deftigen Diskussionen und feinen lehrreichen Erlebnissen, die Würze für die Freundschaftspflege. Köstlichkeiten, die gegessen, getrunken und gelebt wurden. Das alles geschah in unserer Wohn- und Lebe-Küche unserer Werkstatt für Freundschaften. Freundschaftskinkerlitzchen in der Wunderküche versammelt. Geschenke von Alltagsküchenobjekten in unseren Lieblingsfarben und Formen. Hier ist es warm, hier ist willkommen, wer eingetreten ist und wer auf all das sich einzulassen bereit erklärt. „Hier muss nichts“ steht, mit weißer Farbe vom Gastgeber J. W. auf den schwarz gestrichenen Türrahmen, in diese mit Glück gesegnete Küche hinein geschrieben. Das aufwendige Verwöhnen geliebter Freunde schließt ein, dass der Verwöhner vom Verwöhnten nicht oft genug zu hören bekommt, wie schön, wie köstlich und appetitlich aufgetischt und dargereicht, die Speisen, wie extravagant und aufmerksam und gemütlich das Drumherum gestaltet und angeboten werden. Die Gastgeber, die Verwöhner, im besten Falle das „Wir“ beurteilt seine verwöhnten Freunde danach, wie zaghaft, ja beinahe ungern die Besucher ihren Aufbruch gestalten, um ihren Besuch mit Bedauern zu beenden. Es ist wieder viel zu spät in die Nacht hinein, oder schon längst in die Früh, den neuen Tag hinaus geworden. <?page no="117"?> 117 Freundschaft Wer trauriger über das Ende der Zusammenkunft ist, steht auf keinem Türrahmen geschrieben. Noch besser ist es, wenn diese lieben Gäste hier übernachten. Und das Gastgeber- Sein, am nächsten Morgen, mit aufwändig gedecktem Frühstückstisch, ist wie ein Motor, der wieder erfrischt seinen erfreulichen Anlauf in die Zukunft nehmen kann. Von Gästen mitgebrachte Dinge. Den Gästen mitgegebene Dinge. Freundschafts-Mitbringsel oder Freundschafts-Mitgebsel. Die Liebe und die Freundschaft zu Gegenständen kann oft größer sein als die zu den Freundschaften dienenden Umständen. Bedenke man zum Beispiel die in ihrer Bedeutungslosigkeit existierende Sammlung besonderer Eierbecher und Eierlöffel, die an gemeinsamen Frühstücken mit geliebten Seelenfreunden verwendet und belebt werden! Sie sind oft achtsamer und liebevoller im Gebrauch als die in großer Bedeutung daher gelebten Menschenringe, die sich wie ein in den See der Freundschaften geworfener Stein verhalten. Wir haben gerne beobachtet, wie andere ihre Freundschaften lebten, und wir haben vieles davon in unsere gemeinsame Kunst hineingearbeitet. Das ist wie ein Teppich, auf dem man weich und behaglich stehen, sitzen oder liegen möchte. Die Webfehler im Teppich oder der unebene Boden darunter sind wie die Herausforderungen, die einem das Ausstehen, Absitzen oder Durchliegen einer freundschaftlichen Haltung erschweren. Der werfe den ersten Steinsatz, der noch nicht durch unbedachte oder böse Worte schmerzhaft oder böse das Herz einer Freundschaft getroffen hätte! Wie schön, wenn verkrachte Freundschaften wieder einen irgendwie verschmerzbaren Weg finden können, um nochmals zusammen oder neu aneinander zu wachsen. Sich streiten kann ja hin und wieder ein aufklärender Segen sein. Dagegen ist unversöhnliches Schweigen wie ein hart aufschlagender Deckel für ein Aus und Schluss mit der Freundschaft. Woran wollen wir messen, wie gut oder eng wir miteinander befreundet sind? Ist eine bestimmte Zeitlänge oder die Herzlichkeit, die gegenseitige Aufopferungsbereitschaft, oder ist es gar die Geduld, trotz Uneinigkeiten miteinander weitere Wege gehen zu wollen, die Messlatte oder die Waage für eine glückliche Freundschaft? Letztendlich wird ein Mensch nicht daran gemessen, was er in Augenblicken der Sorglosigkeit und Bequemlichkeit tut, sondern in Zeiten der Herausforderung und des Streites. Martin Luther King JR Die Ware Freundschaft oder eine wahre Freundschaft Wie ein Zeigefinger Bitte um zwei Sechserpack gemütsgünstige Freunde Bitte um eine Handvoll Ehrliche Bitte um vier Gute Bitte drei Beste Bitte um zwei Streitwillige Freunde <?page no="118"?> 118 II. Identität(en). AnSätze Der Verlorene Freund Mich seinen Freund seinen guten nennt er Nutznießer der Gemeine der Hund und bellt mich an Soviel Gutes sagt er böse hätte er mir angetan und wischt mit dem Ärmel über meinen schaumigen Mund ich solle bleiben wo die Pfeffermühle wächst sagt er dreht sich um und weiß dass ich noch gar nicht weiß wo das ist er gibt mir seine Hand und eilt zum Brunnen um sich die seine zu waschen mit meinem Dreck ruft er mir noch zu könnte man einen Planeten so groß wie mein Hirn versaun er grunzt mir ins Gesicht kennt mich von nun an nicht mehr und beleidigt durch seine Nichtanwesenheit mich Ich denke ständig an ihn ich war sein bester Freund aber er ist nicht mehr der meine so sehe ich die Sache und schließe meine Augen vor diesem Verlust Manch zerbrochene Freundschaften bilden oft schlimmere Lücken als verlorene Zähne. Ein altes türkisches Lied über die „Alten Freunde“-- „Eski dostlar“ Eski dostlar Unutulmuş birer birer, eski dostlar eski dostlar. Ne bir selam ne bir haber, eski dostlar eski dostlar. Hayal mayal düşler gibi uçup giden kuşlar gibi yosun tutan taşlar gibi eski dostlar eski dostlar Unutulmuş isimlerde, bilinmezki nasıl nerde. Şimdi yalnız resimlerde, eski dostlar eski dostlar. <?page no="119"?> 119 Freundschaft Hayal mayal düşler gibi uçup giden kuşlar gibi yosun tutan taşlar gibi eski dostlar eski dostlar Die Alten Freunde Vergessen von einem zum anderen, die alten Freunde, die alten Freunde. Kein Gruß noch eine Nachricht mehr, die alten Freunde, die alten Freunde Wie Illusionen wie Träume. Wie Vögel auf und davon geflogen. Wie moosbelegte Steine. Die alten Freunde, die alten Freunde. In vergessenen Namen, ungewiss weder wie noch wo. Jetzt nur noch in den Bildern, die alten Freunde die alten Freunde. Wie Illusionen wie Träume. Wie Vögel auf und davon geflogen. Wie moosbelegte Steine. Die alten Freunde, die alten Freunde. Übersetzung: Z. Ç. Freundschaft - Auf unsichtbaren Schienen Zwei Herren gehen spazieren, um den unfreundlichen Platz eines Hauptbahnhofs einer Großstadt herum. Um die Zeit geht es ihnen, sie möglichst ruhig abzulaufen, nebeneinander, ohne benötigtes Gerede oder unnötiges Geschwätz. Die zwei Herren kennen sich zu gut und zu lange, um noch stetig miteinander zu reden. Sie halten ein gemeinsames Tempo ein und blicken meist ohne sichtbare Langeweile in dieselbe Richtung. Wenn sie etwas Ungewöhnliches sehen, wenn ihre Aufmerksamkeit durch andere vorbeigehende Menschen-- die Neugierde noch nicht verlernt-- aufgestachelt wird, dann nicken sie sich zu und heben entweder die Augenbrauen, beide gleichhoch, oder schütteln ihre Köpfe, beide gleichschnell, und das mit nicht zum Lächeln verzogenen Mündern. Irgendetwas gefällt ihnen, um innezuhalten, oder etwas behagt ihnen nicht, doch einig sind sie sich immer. Auch wenn es darum geht, anzuhalten und sich jemanden oder etwas anzusehen, das näher zu betrachten sich lohnt, stehen sie gemeinsam still und starr, mit gehobenen oder gesenkten Häuptern. So geht das jahrein, jahraus. Immer rund um den Hauptbahnhof herum. Die zwei Herren treffen sich regelmäßig am ersten Sonntag jeden Monats, um diesen spaziergemütlichen Schweigegang und Gestenlauf gemeinsam zu unternehmen. Was ist das Besondere an diesen beiden Herren, könnte man sich fragen. Die Antwort ist, keiner von den beiden weiß, dass er eigentlich ganz alleine spaziert, ohne jegliche Begleitung. Der Hauptbahnhof ist gar nicht so schlecht wie sein Ruf. Er steht gerne still, um dem einen, oder dem anderen einen Eindruck von Wirklichkeit zu geben. Und die Züge haben neben <?page no="120"?> 120 II. Identität(en). AnSätze allem, was sie ausmacht, vor allem ihre Schienen, denen sie folgen. So wie die zwei Herren, die hier spazieren. Frage: Was will man sich wünschen? Man kann sich Freundschaften wünschen und erträumen. Man kann Freundschaften sammeln und teilen. Man kann sich Freundschaften in Einsamkeit einbilden. Man kann sich Freundschaften aber auch vom Halse halten. Man kann Freundschaften pflegen, so wie seltene Pflanzen. <?page no="123"?> 123 Identität Identität Eine Annäherung in drei Unterrichtseinheiten José F.A. Oliver Es war im Sinne eines solchen Außenseitertums-- und deutlich in „dieser christlichsten der Welten“ angesiedelt-- , daß Marina Zwetajewa von allen Dichtern als Juden sprach (ganz wie Norman Mailers „White Negro“ der 1950er Jahre), und zwar in ihrem Gedicht „Poem vom Ende“: Das Zitat wurde später von Paul Celan als kyrillischer Epigraph seines eigenen Gedichtes „Und mit dem Buch aus Tarussa“ und von mir in A Big Jewish Book angeführt, wo es zu einer zentralen Behauptung des Standpunktes wurde, den ich damals einnahm. Ich argumentierte hier nicht für irgendeine jüdische Exklusivität, sondern in Richtung einer Anerkennung, daß es solche Widerstände dort und sonstwo gab und daß meine Ansprache, im Sinne von Zwetajewa, an „alle Dichter“ gerichtet war oder an alle Dichter, welche die Haltung des Außenseiters teilen, oder an alle, Dichter und andere, die der Herrschaft totalisierender Staaten und einschnürender Religionen Widerstand leisten. 1 Jerome Rothenberg Die Welt ist reich an materiellen Gütern, die nur leider sehr ungleich verteilt sind, an sozialen Errungenschaften, die heute freilich oft als Ideale von gestern verächtlich abgetan werden, an kulturellen Werten, die niemals ein für allemal gesichert sind, sondern immer wieder verteidigt und neu entworfen werden müssen. Reich ist die Welt auch an Widersprüchen, die durch sie schneiden, Widersprüchen, die nicht selten zu furchtbaren Konflikten führen, aber auch an solchen, die zu fruchtbaren Auseinandersetzungen Anlass bieten könnten. Die Welt ist reicher und größer, als uns glauben gemacht wird, und wer sich für sie interessiert, wird mit dem, was Historiker in Archiven erforschen und politische Journalisten recherchieren, nicht auskommen. Es braucht die Literatur als die andere Geschichtsschreibung, damit uns die Dinge, über die wir uns in simpler Einfalt allzu sicher sind, wieder in heilsame Verwirrung geraten, und umgekehrt dort, wo wir in der Überfülle an Informationen gar nichts mehr durchblicken zu können meinen, wieder einen Zusammenhang, eine Struktur, eine Ordnung zu erahnen beginnen. 2 Karl-Markus Gauß 1 Jerome Rotenberg: Säkulare jüdische Kultur / Radikale poetische Praxis (in: Schreibheft 82) 200 (201) 2 Karl-Markus Gauß. Eingangsabsatz der Laudatio von Karl-Markus Gauß anlässlich der Verleihung des Liberaturpreises 201 im Rahmen der Frankfurter Buchmesse an die saudi-arabische Schriftstellerin Raja Alem für deren Buch Das Halsband der Tauben. <?page no="124"?> 124 II. Identität(en). AnSätze 1 Vorgedanken Was bedeutet Identität? In einem Essay schreibt der aus Masuren stammende deutsch-polnische Autor und Chamisso-Preisträger Artur Becker: „Ich kannte mein Zuhause als ein unumstößliches, konnte mich mit ihm vollkommen verbrüdern und identifizieren, weil man als Muttersprachler ein unbedingtes und unerschütterliches Vertrauen zu seinem Revier, seiner Küche und seinem Sakko hat.“ 3 Diese Äußerung versinnbildlicht eine bemerkenswerte Herkunftsausstattung des Vielbegriffes „Identität“. Vor allem dort, wo er in seinem Text die Dinge aufzählt, die sich in seine Erinnerung vorwagen: „An einer Wand unseres Bungalows stand ein Gestell an meinem Brett, das rot gestrichen und an zwei dicken Balken befestigt war, denn es hatte eine schwere Last zu tragen: Feuerlöscher, Wassereimer, Spaten, Harken, Äxte, Sägen und natürlich die Verordnung der Feuerwehr: Verhalten im Falle eines Brandes. Und die Welt brannte wirklich jeden Tag: der Sozialismus brannte, der Wodka brannte, der gekreuzigte Jesus Christus brannte, und der Wald und der See auch.“ Ich höre diese Sätze Beckers und erinnere mich unweigerlich an meinen ersten Reisepass, den ich vom spanischen Generalkonsulat in Stuttgart mit 1 Jahren erhalten hatte. „Im Morgendämmer des Bewusstseins“ wie Pablo Neruda sagen würde. Das (noch franco-faschistische) Dokument zierte alsbald ein Ausgrenzungsstempel des Ausländeramtes Offenburg: „Selbständige Erwerbstätigkeit oder vergleichbare unselbständige Erwerbstätigkeit nicht gestattet.“ Das war 1975-- wenige Monate vor dem Tod des Generalissimo und drei Jahre vor jener Verfassung, die Spanien den von vielen ersehnten Weg in die Demokratie ermöglichen und die „Wiedervereinigung“ mit Europa bringen sollte. Ich war jung. Meine Identität ein spanischer Reisepass mit der Erlaubnis, „nicht selbständig erwerbstätig“ zu sein. Erste Zweifel ergaben sich. Nicht unbedingt bewusst. Und doch vorhanden. Ich dachte über das Wort „selbständig“ nach und über die Konkretheit der deutschen Sprache: selbst, selber, ständig, Stand-… Wo „stand“ ich? Wo war ich „selbst“ ich „selber“? Artur Becker formulierte in seinem bereits zweimal zitierten Essay auch die bemerkenswerte Erkenntnis: „Sprechen wir von unseren Identitäten hier und jetzt, müssen wir tief graben-(…)“  Vor ein paar Tagen 5 schließlich las ich in der FAZ einen Kommentar, in dem der Rechtswissenschaftler und Journalist Reinhard Müller den digitalen Weltenlauf nicht unsanft anmahnt: „Arbeit ist das ganze Leben. Steht es so ungefähr nicht schon in der Bibel. Dann nehmen die Heilsbringer von Apple, Facebook und Co. das sehr wörtlich. Man soll sich im Job wie zu Hause fühlen. Und gar keine Frage: Es ist angenehmer, in lichtdurchfluteten Lofts vor dem Bildschirm zu sitzen als unter Tage zu malochen. Niemand muss mehr nach Hause gehen, es ist alles da: Rundumverpflegung, Sportstätten, Ruheräume. Doch Vorsicht: Spaß 3 Artur Becker: Der Weltenbrand, den wir Tag für Tag löschen. Aus der Redefassung zitiert. Essay vorgetragen am 17.10.201 im Literaturhaus Stuttgart in der Reihe „Literatur und ihre Vermittler“. Im Gespräch mit Prof. Dr. Stefan Neuhaus zum Thema „Literatur und Identität“. Moderiert von José F. A. Oliver.  Ebd. 5 Im Oktober 201 <?page no="125"?> 125 Identität ja, aber bitte keine Fortpflanzung! Denn dann stünden weibliche Arbeitskräfte für ein paar Wochen nicht zur Verfügung. Deshalb jetzt das großzügige Angebot von Konzernen aus der schönen neuen Welt, ihren Mitarbeiterinnen das Einfrieren ihrer Eizellen zu bezahlen-- auf dass sie möglichst lange voll arbeitseinsatzfähig bleiben und möglichst spät gebären.“ 6 Weshalb diese drei auf den ersten Blick vielleicht willkürlich anmutenden Gedankenkomplexe oder interpretierenden Wirklichkeitsbeschreibungen? Ganz einfach. Die Frage nach der Identität ist vielpolig. Vielbedürftig gar, weil ausfransend. Und weist ob ihrer verflochtenen Zusammenhänge gerade deshalb immer wieder interaktive Extreme aus. Wo sie im Versuch, diese als Existenzgrundlage zu bew: orten, eine Art Wehrlosigkeit konstruiert, die es immer wieder wahrzunehmen gilt. Raum und Zeit münden sich ihre Flüsse in andere, oft unbekannte Küstenregionen und Ereignisse. Horizontale und vertikale Spiegel gleichzeitig. Überhaupt die Gleichzeitigkeit. Um sich den Herausforderungen stellen zu können, die das Eigene in den Bedeutungshof eines die Gegenwart gestaltenden Prozesses stellt, bedarf es stetiger Konventionsbrüche. Im Denken. Im Fühlen. In ihrer Synthese letzten Endes, die vielleicht als Erfahrung zu bezeichnen wäre. Auch dort, wo die Vorgänge und Verhältnisse nicht beherrschbar sind. Oder beherrschbar scheinen. Anscheinend. Das wäre eine Fährte und Fähre zugleich. Nicht Brücke. Sondern Fähre. Vom überkommenen Identitätsbegriff zur „wundgewähr“ als versöhnliche Geste der Erfahrungen. Wer gestaltet mein Ich? Wie verhält sich dieses Ich zum Du? Dinge sind dabei mehr als nur alltägliche Versatzstücke. Sie sind Symbole, Zeichen, Metapher. Ein grundlegender Aspekt dieser notwendigen Beweglichkeit des Geistes ist die Freude am Entdecken-- eine Voraussetzung ins Wissen-Wollen. Und Entdecken bedeutet Erzählen. Erzählen bedeutet Entdecken. Auf den Punkt gebracht: Indem ich mir begegne, begegne ich immer auch dem Anderen. Dies die Prämisse. Wundersames Ich im D: ich-- den ich meine. Ich bin eine Anthologie. Schreibe in solcher Vielfalt, Daß niemand, sei der Gedichte Wert Groß oder gering, sagen wird, Daß der Dichter ich nur einer bin. Fernando Pessoa 7 Weshalb nicht mehrstimmig sein. Auch als Schüler? Oder Lehrer? 6 Reinhard Müller: Kalte neue Welt. In: FAZ . Printausgabe. 16. 10. 201. Titelseite. 7 Verszitat aus Er selbst. Poesia- - Poesie. Aus dem Portugiesischen übersetzt, herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Inés Koelbl. S. 5. S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt a. M. 201. <?page no="126"?> 126 II. Identität(en). AnSätze 2 Einführender Essay Vaterskizze, m: einen Kühlschrank betrachtend 8 Wie viel Vergangenheit nährt Gegenwart? Wie viel Gegenwart Vergangenes? Wann spricht wer von beiden vor? Imperfekter Präsens! Weshalb? Wodurch? Das Handwerkszeug, die Tempi zu verw: orten, das sei hier eingeräumt, steht mir nicht wirklich zur Verfügung. Es ist ein Stückwerk-Puzzle und scheint vergebens. Nichtsdestotrotz. Sie greift. Sie greift mich dennoch auf. Oft unvermutet. Die Gegenwartsvergänglichkeit. In welchen Bildern Herkunft fassen? Wie ihre Spuren messen? Und was heißt Anders-Sein? Auf der Suche nach den Fährten b: leiben die Dinge. Sie werden Körpertexte. Distanz der Nähe. Auch umgekehrt. Text und Körper. Es ist nicht der erste Blick, der Geschichten reifen lässt. Es ist der Blick des Blickes, der uns erzählen macht. Der Blick des Blickes auf den Blick. Ein Nebensatz trifft plötzlich ins Mark des Sagens, wo Wahrnehmung imaginiert, sich vorstellt dass… Ganz ohne Punkt und Komma. Ein Schattenfries, der sich umläuft. Gedächtnisschleifen. Gar Wurzelschlingen, die sich verkrallen. Mitunter ein farbgeformtes Kaleidoskop ins Künftige. Es sind, so glaube ich, ausschließlich Zeitpirouetten im Notkonstrukt der Uhren. Spannen nach, was sonst Vergessenheit(en) generierte. Sie tauchen auf. Allmählich. Sprunghaft. Tauchen ab. So kann ich zuversichtlich, wenn auch vage, schreiben: Nicht alles, was Konsum andeutet, ist Mangelwarensucht der Seele! Ein Kühlschrank kann die Welt erklären-- kann. Eigenväterlich war Vater. Ein Migrationsgalan, ein eleganter Wörterschmeichler. Ein minutiös bedachter Fabulant. Zudem ein Kaktusfeigen-Bonvivant, ein Ölsardinen-Koster, und, nicht nur nebenbei, ein unerschrocken warmbeherzter Familiärer. Indes vor allem eines-- un andaluz ardiente. Mit Leidenschaft 1 Andalusier. Maure, Jude, Ränkeschlichter; Feierabendzeitnomade, Katholik, ein päpstlicher. Ein Äffchen-Imitator war er auch. Ein Stierkampfvolten-Spezialist, ein Eckballconnaisseur und- - nicht nur zu guter Letzt- - ein spendabler Gast-Gastgeber. Ein Heimwärts-Cicerone. Die Lust geboren aus Verlusten. Das machte ihn zum Freundeslader. Großmütig, nobel. Mit jenem sanften Hauch levantinisch kluger Chuzpe, 8 José F. A. Oliver: Vaterskizze, m: einen Kühlschrank betrachtend. Essay anlässlich des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten Joachim Gauck „Anders sein. Außenseiter in der Geschichte“. In: Körber Stiftung, Hrsg. Spurensuchen 28. Jg. 201. S. 28 / 29. Hamburg 201. Zur inhaltlichen und sprachlichen Orientierung sei aus dem Begleitschreiben an den Projektverantwortlichen zitiert: „(…)- mit einem herzlichen Gruß in diesen Tag schicke ich Ihnen meinen essayistischen Beitrag. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich sowohl inhaltlich als auch sprachlich, das Thema „aufbreche“-- inhaltlich mit meiner Metapher der „Gastfreundschaft“, die symbolkräftig das „Herkunftsthema“ Migration zum Ausdruck bringt, allegorisch unerwartet, und sprachlich, indem ich meinen „poetischen“ Doppelpunkt in einem Wort hin und wieder setze, nicht um die Etymologie der Begriffe aus den Angeln zu heben, sondern um poetische Spuren zu setzen und die Doppelbedeutungen, die sich aus dieser etwas anderen Wortbetrachtung ergeben, ihren eigenen Weg gehen zu lassen. In meinen Gedichten oft praktiziert, habe ich diese poetische Vorgehensweise nun auch auf den Text für Sie übertragen. Ich hoffe, dass dadurch eine Anregung ins Unkonventionellere als Impuls des Unerwarteten bei denjenigen freigesetzt wird, die sich an Ihrem großartigen Wettbewerb beteiligen. Ihr José Oliver-(…)“. <?page no="127"?> 127 Identität die nach Sonnenaufgang schmeckt und Orientierung. Brot musste immer sein und im Überfluss Oliven. Und Wurst und Käse. Wasser, Wein. Und Bier. Infolgedessen unumgänglich: ein guter Ort der Aufbewahrung. Die wichtigste Errungenschaft unserer ersten Wohnung im schollenschweren Süd- Schwarzwald war dementsprechend ein weiß gebauchtes Hilfs-Gerät- - made in Germany. Der Kühlschrank, la nevera. Freilich nicht aus illustriertem Herkunfts-Wissen, nicht aus geschichtsverliebter Tändelei. Das wäre der Historie doch zu viel, dies zu behaupten. Weder wurde Vater, dem das Gut der Bildung mitnichten eine Fremde war, „Eiskellerwand“ als Wort alltäglich, noch hatte er je die Kunde von einem römischen Dichterfürsten namens Martial vernommen, der wohl einst im sinnigen Rausche der Ernüchterung festgestellt haben musste, dass bisweilen das Eiswasser teurer sei als der in ihm zu kühlende Wein. Auch hatte Vater nicht die leiseste Ahnung davon, dass im Jahre 1918 in Detroit die ersten Kühlbehälter für den Privatgebrauch vermarktet worden waren. 67 an der Zahl, vertraut man der verbrieften Ziffer. Er war auch niemals Stephen-King-Adept und hat uns deshalb zu keiner Zeit das Fest der Eingeschworenen des Kultautors aus Portland anempfohlen. Den Party-„Tag des verfluchten Kaltgerätes“ in der Nacht vor Halloween- - den Haunted Refrigerator Day. Genau so wenig, wie er darüber im Bilde gewesen wäre, dass Albert Einstein 1926 mehrere Patente für Kühlmaschinen angemeldet hatte. Albert, der Praktiker! Nein. Vater war die Expertise rund ums Pionierdepot der Dinge relativ & theoretisch gleich-gültig gewesen, versöhnlicher gesagt, sein Verhältnis dazu, war durchaus ein unterkühltes. Bildadäquater ausgedrückt, es war ihm Sägespan(isch) wie Fredge. Insofern, weit gefehlt. Ihm war einzig und allein unser Bosch-Überlebensadjutant der hochwertigste aller Löhne seiner gastarbeitenden Triumpfe, weil ein vielversprechender und treulich dienender Garant seiner Herzensgeste(n). Ein Kühlschrank war für ihn das simple Manifest potentieller Einladungen. Jederzeit. Ein Gegenstand als Gleichnis. „Herzlich willkommen! “ Für mich ein veritables Vaterbild. Er, der Gastarbeiter, der gerne Gäste hatte. „Hereinspaziert! ¡Entrad! “ pflegte Vater feierfreudig auszurufen, wenn er sich (und uns) wieder einmal die zu Bewirtenden eingeladen hatte. Ein Wochenend-Pläsier. Dann nahm die väterliche Führung ihren Lauf. Ein Ritual. Das Domizil als Sehnsuchtstrakt. Beäugt zunächst, was man schlicht mit „Wohnzimmer“ bezeichnete, im Grunde ein Empfangssalon, dichtauf sodann die Präsentationen unserer Kinderzimmer, danach das blitzeblank geputzte Bad, im Schlepptau auch gleich mitbetrachtet, die Pflicht der stillen Örtchen, um stante pede auf das Elternschlafgemach zu deuten und ganz zum Schluss das absolute Kleinod aufzusuchen- - unsere Küche. Darin, nicht unverborgen, der Lebensmittelpunkt, s: ein Kühlschrank. Der prallgefüllte, selbstverständlich. Fach um Fach Vorhandenes. Für ihn ein Glücksgefühl und mir Metapher. Ich vermute, es lag am Spanischen Bürgerkrieg. 1936 bis 39. Und an der Zeit, die folgte. „Wisst ihr“ erzählte Vater „wie ich als Kind Fleisch gegessen habe? Ich stellte mich auf dem Markt unter einen in der Luft gut abgehängten jamón serrano atmete tief und innig ein und verschlang auf diese Art und Weise den besten aller Schinken. Danach besuchte ich das Brot. Anschließend ging ich satt nach Hause und verdaute die wundervollen Köstlichkeiten meiner insgeheimen Duftreviere. Bis ich jenen Hunger erneut verspürte, den ich euch nicht <?page no="128"?> 128 II. Identität(en). AnSätze beschreiben kann. Ein Hunger, den nur der Krieg gebiert, indem er das gefräßigste aller Mäuler macht und die am meisten hungernden.“ Nicht immer, aber oft, wenn ich den Kühlschrank öffne, denke ich an meinen Vater. Ein Blick auf den Blick des Blickes, der genügt. Dann lächle ich mit satt. Die Literatur der Moderne hat das naive, ungebrochene Verhältnis des Ich zur Welt ins Reich der Mythen und des Trivialen verbannt. Identität und Subjekt sind als Konstruktion erkannt worden, grundsätzlich problematisch, fragil, leicht erschütterbar. Prof. Dr. Stefan Neuhaus 9 3 Unterrichtseinheit konkret Lebensweltliche Einbindungen Wider die Vorstellung eines einheitlichen Organismus und für die Vielfalt der Sicht- und Sprechweisen Die Dinge / Die Wörter - Die Wörter / Die Dinge Teil 1: Die Dinge, die Wörter: Vier Unterrichtseinheiten à zwei Doppelstunden Unterrichtseinheit I: Die Dinge Dauer: 6 Stunden, im besten Falle Doppelstunden Materialien: Schreibvorlagen, Stift. Ziel: Freies Sprechen und Schreiben Erste Stunde ▶ Schreibaufgabe ▶ Vorbereitung der Schreibkonferenz 1. Schreibaufgabe zum Thema: „Was ich niemals wegwerfen würde“ In einer 15-minütigen Schreibzeit verfassen die Schülerinnen und Schüler einen Text, der sich mit einem Gegenstand beschäftigt, der ihnen wichtig ist und den sie nicht wegwerfen würden: 9 Prof. Dr. Stefan Neuhaus ist seit 2012 Lehrstuhlinhaber für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau. <?page no="129"?> 129 Identität Aufgabenstellung 1: Hast du etwas, das du niemals wegwerfen würdest? Schreibe einen kurzen Text darüber. Erzähle uns, was es ist, von wem du es bekommen hast und weshalb du es niemals wegwerfen würdest. 2. Vorbereitung der Schreibkonferenz, die jeweils von zwei Schülern gestaltet wird, indem sie Ihre Texte gegenseitig befragen und die Antworten des jeweils anderen notieren. Aufgabenstellung 2: Setzt euch zu zweit zusammen und stellt drei Fragen an den Text des anderen. Beispielsweise: Wo bewahrst du den Gegenstand auf? Holst du ihn manchmal raus? Was machst du dann? Zweite Stunde ▶ Schreibkonferenz 3. Erste Schreibkonferenz (Präsentation und Gespräch) Die Schüler stellen gegenseitig ihre Texte vor. Jeder Schüler fasst den Text des anderen zusammen und stellt die Fragen vor, die er an den Text gestellt hat, und jeweils die Antworten auf die Fragen. Danach haben die Mitschüler die Möglichkeit, weitere Fragen an die unterbreiteten Texte zu stellen. Aufgabenstellung 3: Stellt euch vor die Klasse und präsentiert eure Texte, Fragen und Antworten. Jeder fasst den Text des jeweils anderen zusammen, zeigt die Fragen auf, die er an den Text hatte, und gibt die Antworten des anderen wider. 4. Hausaufgabe: Text tippen und den Gegenstand, soweit es machbar ist, in die nächste Unterrichtsstunde mitbringen. Dritte Stunde ▶ Präsentation der Dinge ▶ Freies Sprechen ▶ Vorlese-Übung <?page no="130"?> 130 II. Identität(en). AnSätze 5. Präsentation der Dinge und Freies Sprechen Die Schüler zeigen die Dinge, die sie mitgebracht haben, und erzählen von den mitgebrachten Gegenständen. Aufgabenstellung 4: Zeigt die Dinge, die ihr mitgebracht habt, und beschreibt sie. Erzählt die Geschichte, die euch mit dem Gegenstand verbindet, den ihr dabei habt. Danach lest ihr den Text, der in der letzten Unterrichtsstunde entstanden ist, noch einmal vor. Vierte Stunde ▶ Zweite Schreibaufgabe ▶ Zweite Schreibkonferenz 6. Zweite Schreibaufgabe: Überarbeitung und Verdichtung des Textes auf dem Weg in ein „verdichtetes Sagen“. Die Schüler erhalten eine erneute Schreibzeit von 20 Minuten, um den Text noch einmal zu überarbeiten. Aufgabenstellung 5: Nachdem wir jetzt ausführlich über einige Texte gesprochen und die mitgebrachten Dinge gesehen haben, wollen wir erneut darüber schreiben. Sucht euch zwei Sätze aus eurem Text raus und schreibt darüber. 7. Zweite Schreibkonferenz: Präsentation und Lektüre der herausgeschälten Sätze Die Schüler stellen Ihre Sätze vor und begründen die Auswahl. Aufgabenstellung 6: Lest jeweils eure Sätze laut vor und begründet, weshalb ihr euch für diese Sätze entschieden habt. 8. Hausaufgabe: Wörtersammlung: „Was ich zu Hause aufbewahre“. Die Aufgabe besteht darin, einfach „nur“ eine Wörterliste anzufertigen und die Dinge aufzuzählen, die zu Hause aufbewahrt werden. Diese Aufzählung soll zur nachfolgenden Unterrichtsstunde mitgebracht werden. <?page no="131"?> 131 Identität Fünfte Stunde ▶ Wörterliste ▶ Rhythmisierung eines Textes 9. Rhythmusübung der „Kistenwörter“ Die Schüler lesen ihre Wörtersammlungen vor und versuchen sich in einer Art rhythmisierten Sprechens. Oft haben Menschen einen „geheimen“ Ort-- eine Kiste oder ein Kästchen, wo sie bestimmte Dinge aufbewahren, die ihnen wichtig sind. Deshalb der Sammelbegriff „Kistenwörter“. Aufgabenstellung 7: Lest eure Wörterliste durch und schaut, ob ihr einen Rhythmus entwickeln könnt. Versucht die Reihenfolge der Wörter so zu ändern, dass ein eigener Rhythmus entsteht. Ihr habt 10 Minuten Zeit, die Reihenfolge festzulegen. 10. Dritte Schreibkonferenz: Präsentation und Lektüre der „Kistenwörter“ Die Schüler stellen ihre Wörter vor und begründen die Reihenfolge. Aufgabenstellung 8: Lest eure Wörter laut vor, so dass wir den Rhythmus gut hören können, und sagt, weshalb ihr die Reihenfolge geändert habt oder weshalb nicht. 11. Hausaufgabe: Tippen der Wörterlisten in den angefertigten Variationen Sechste Stunde ▶ Inventur-Verdichtung 12. Dritte Schreibaufgabe: Die Schüler erhalten eine erneute Schreibzeit von 20 Minuten, um eine Text zu verfassen, in dem ihre Wörter in eine Geschichte münden. Aufgabenstellung 9: Wir haben jetzt viele Wörter kennengelernt, die jene Gegenstände benennen, die ihr zu Hause aufbewahrt. Versucht nun eine kleine Geschichte zu schreiben, in der diese Wörter vorkommen. Ihr habt 20 Minuten Zeit. <?page no="132"?> 132 II. Identität(en). AnSätze 13. Vierte Schreibkonferenz: Präsentation und Lektüre der Geschichten Die Schüler stellen ihre Sätze vor und begründen die Auswahl. Aufgabenstellung 10: Lest jeweils euren Text laut vor. Die anderen hören zu. Wir wollen dann über die jeweiligen Texte anhand von drei Fragen sprechen: Frage 1: Hat dir der Text gefallen? Wenn ja, weshalb; wenn nicht, weshalb nicht? Frage 2: Gibt es eine Stelle / Passage im Text, die dir besonders in Erinnerung geblieben ist? Frage 3: Wie könnte die Geschichte weitergehen oder ist schon alles gesagt, was wichtig wäre? 14. Hausaufgabe: Überarbeitung der Texte anhand der Diskussion in der Klasse. Die Dinge / Die Wörter - Die Wörter / Die Dinge Teil 2: Die Wörter, die Dinge: Vier Unterrichtseinheiten à zwei Doppelstunden Unterrichtseinheit II - Die Wörter Wort- und Sprachspiele. Erste Schreibaufgabe zum Thema „Ein Wort, das mir viel bedeutet“. Schreibkonferenz zum Thema, die jeweils von zwei Schülern vorbereitet wird, indem sie ihre Texte gegenseitig befragen und in der Klasse vorstellen. Erste Hausaufgabe: a) Dinge mitbringen, die das Wort darstellen, symbolisieren b) die in eine Geschichte führen. Zweite Schreibaufgabe: Überarbeitung des Textes auf dem Weg in ein „verdichtetes Sagen“. Zweite Schreibkonferenz zum Thema, wiederum jeweils von zwei Schülern vorbereitet, indem mit den Erfahrungen der vorangegangenen Schreibkonferenz kritische Fragen an den Text des jeweils anderen gestellt werden. Wörtersammlung: „Synonyme, Antonyme“. Rhythmusübung mit den „Wörtern“. Dritte Schreibkonferenz zum Thema „Inhalt und Form“ der „Verdichtungen“! (Diese zweite Unterrichtseinheit, aus der „Sicht“ der Wörter, wird in der selben Ausführlichkeit wie Unterrichtseinheit 1 beschrieben und angelegt.) <?page no="133"?> 133 Identität Unterrichtseinheit III - Präsentation Eine Herausforderung wäre die Präsentation der Schülertexte. Da sich die Schreib- und Sprechübungen an Dingen orientieren, liegt eine Ausstellung nahe, die entweder in den Räumlichkeiten der Schule oder aber in Kooperation mit öffentlichen Räumen (Museum, Café, Bürgersaal etc.) durchgeführt werden kann. Die Dingw: orte-Ausstellungspräsentation könnte in ihrer vermittelnden Funktion eine besondere Rolle übernehmen, je nach dem, welche museumspädagogischen Wege sie einschlägt. Daraus ergeben sich nachfolgende Vorschläge einer aufführbaren Darstellung: 1. Der Raum als Bühne Eine begehbare Bühnen-Installation, in der das Wort Ding wird und das Ding Wort. Die Schüler und Schülerinnen erarbeiten jeweils einen eigenen Wort-Ding-Raum, der ihre Persönlichkeiten zum Ausdruck bringt. Die verschiedenen Charaktere sollen jedoch miteinander in einem Dialog stehen und einen Gesamttext einer Momentaufnahme entfalten. 2. Die Wörter und W: orte im Raum Die Schülerinnen und Schüler entscheiden, welchen Text oder welche Textpassage sie als Wörter-Raum-Installation darstellen möchten und wie sich die W: orte im Raum zueinander verhalten. Daraus lässt sich ebenfalls eine Textur entwerfen, die einen Ausschnitt ihrer Lebenswirklichkeit erfahrbar in den Raum stellt. Im Grunde ist dieser Aspekt eine reflektierte Vertiefung des Raumes als Bühne. 3. Die Dinge im Raum Die Dinge sind weder Dekoration noch (beliebige) Zufälligkeiten, sondern korrespondieren mit den Schriftstücken der Schülerinnen und Schüler. Diese Korrespondenz erweitert die Dinge zu Wortträgern, indem sie eine Spannungsdimension zum Ausdruck bringen, welche einer Kontemplation gleich kommt. 4. Die Wörter und die W: orte und die Dinge im Raum Ausgangspunkt und Grundlage der Dinge im Raum waren und sind die Texte, die von den Schülerinnen und Schülern verfasst wurden. Über die Verbindung zu den Dingen haben sich allerdings während der einzelnen Schreibphasen der Werkstatt auch die Wörter und die W: orte verändert. Dieser Wandel ist nicht rückgängig zu machen und bedeutet eine erweiterte Wahrnehmung von Sprache und Sprechen. <?page no="134"?> 134 II. Identität(en). AnSätze 5. Sprache und Sprechen = Inszenierungsarchitekturen, auch als Buch Im besten Falle ergeben sich aufführbare Textfragmente, die von den Schülerinnen und Schülern zur Eröffnung der Ausstellung rezitativ gesprochen werden. Individuell und chorisch. Eine weitere Inszenierungsarchitektur könnte dabei auch die Drucklegung des Gesamtaugenblickes der Werkstatt sein, ein „Wortstellungskatalog“. Anmerkung Zu den einzelnen Arbeitsschritten sollten Download-Materialien zur Verfügung gestellt werden, indem Primärtexte von Chamisso-AutorInnen, Zeichnungen, Musik und weitere Materialien zur Verfügung gestellt werden. Wörter, die einem bei einem Spaziergang begegnet sind, in Bezug zu Dingen bringen, die diese symbolisieren oder darstellen, erweitern, vergegensätzlichen könnten, etc. Erarbeitet durch a) eine Schreibkonferenz der Schülerinnen und Schüler in Zweier- und Dreier-Konstellationen nach einem Spaziergang durch die Stadt. b) eine Gesprächsrunde: Schreibkonferenz zum Thema „Alltagswörter“. Wörter und Dinge (Beispiele von Schülerinnen und Schülern) E.-- Coca Cola Trinkglas, Plastikflasche, Weihnachtsmann, Wörter auf die Flasche schreiben, Zucker, Zuckerberg. Gesamtgruppenvorschläge: Plastikflasche und Coca-Cola-Glas- - viele Würfelzucker ins Glas; Coca-Cola- LKW s. N.-- Straße Ampel (Jasmen hat eine Ampel), Verkehrsschilder (Stoppschild), Häuser, Autos, Busse, Passanten, Schienen, Baustelle, spielende Kinder, Bürgersteig. Gesamtgruppenvorschläge: Stau (Spielteppiche für Kinder mit Straßen- - sehr viele Autos hintereinander draufstellen), Grabstein mit der Inschrift „Natur“, Silhouette wie beim Tatort mit Kreide auf den Boden zeichnen, Taschentuch mit Blutflecken. Fahrplan mit den Wörtern als Haltestellen-- über Lautsprecher oder als Plakat dargestellt. H.-- Spritze Krankenhaus, Krankenwagen, Metall, Plasta, Bonbons, Kinderspielzeug, Geld & Drogen. Gesamtgruppenvorschläge: Abbinde-Schnüre, Spritze. <?page no="135"?> 135 Identität J.-- „Bakterien und Keime“ Bakterienbild, ein schmutziger Zugwaggon, Szene vom Film „Sparta“ (alle Krieger zu sehen, als Ausschnitt). Gesamtgruppenvorschläge: Petri-Scheiben und Mikroskop, Schiebetüren einer Bahn, Signalknöpfe fürs Anhalten in den S-Bahnen, eine Zone schaffen, die frei von Bakterien ist, Desinfektionsmittel. A.-- profitieren Alte Münze, Bild von der Wall Street, Fifty-Fifty-Joker von „Wer wird Millionär? “ Gesamtgruppenvorschläge: Viele Geldscheine, Verträge, Lottoscheine, Banken- … Einen Menschen darstellen, der viel Gewinn gemacht hat, und einen Mensch, der viel verloren hat- … Fotos von Obdachlosen und „Reichen“, Bertolt-Brecht-Gedicht vom „armen und reichen Mann, die sich treffen“. D.-- Sonne Selbstgemaltes Bild, auf dem die Sonne vor einem Spiegel steht und das Spiegelbild ist der Mond; Spiegel, dessen Rahmen aus Sonne und Mond besteht. Gesamtgruppenvorschläge: große, gleißende Lampe, grell und warm, Abtrennung: ein Teil hell beleuchtet, ein Teil des Raumes im Dunkel, (möglicherweise „Vogelgezwitscher“ aufnehmen und abspielen lassen), Sanduhr, Sonnenuhr. J.-- Hass Vase mit schwarzer Rose, die mit einem roten Schleier bedeckt ist; Blatt Papier, auf dem überall Hass draufsteht, unten im Bild ist ein Herz zu erkennen. Gesamtgruppenvorschläge: Allegorische Darstellung des Hasses aus Geschichte oder Mythologie, schwarzes Herz, sprich ein Menschenherz, das in der Mitte zerbrochen ist, Miniatur- Panzer, Interviews zum Thema Hass (einzelne Fragmente der Aussagen vergrößern und an einer Wand darstellen). S.-- Frühlingspoesie Frühlingsbild-- Frühlingswiese mit Blumen, Kunstrasen aus dem Deko-Land mit Blumen, Text scheint hinter dem Kunstrasen hervor. Gesamtgruppenvorschläge: Poesiealbum und Ostereier und Osterhasen, Kuscheltierhase, Blumenkasten, Frühlingsgedicht installieren. S.-- perfekt Bilderbuch. Gesamtgruppenvorschläge: Hüllen von Bollywood-Filmen. T.-- Düfte Parfümflaschen in verschiedenen Farben und Formen, verschiedene Düfte darstellen von verschiedenen Menschen. <?page no="136"?> 136 II. Identität(en). AnSätze Gesamtgruppenvorschläge: Parfümflasche in Form eines Frauenkörpers, Papierstreifen als Dufttestsstreifen, die man beschreiben könnte. D.-- Wahnsinn (Menschenhirn oder -herz kann man ja nicht ausstellen) deshalb: Puppenkopf mit Filmband, Foto, das den Wahnsinn darstellen würde, evtl. gestelltes Foto. Auch Song abspielen: Brain-Stew von Green Day. Gesamtgruppenvorschläge: flackerndes Licht, an einer Steinwand mit Kunstblut oder roter Farbe „Wahnsinn“ schreiben, Zwangsjacke ausstellen. V.-- Douglas Verschiedene Parfüms und verschiedene Designs, Text auf Papier, wo die Duftmarken draufstehen, Air-wave-Behälter, die alle paar Minuten einen Duft machen-… Gesamtgruppenvorschläge: Behälter mit Kaffeebohnen zur Neutralisierung der Düfte. A.-- Uhr Eine Uhr, deren Zeiger stehen geblieben sind, Foto oder Bild vom Sonnenauf- oder untergang, Sanduhr, Stopp-Uhr. Gesamtgruppenvorschläge: Kettenuhr, Ketten mit Uhren, alle möglichen Uhren, lauter kaputte Uhren, verschiedene Zeitanzeigen aus verschiedenen Zeitzonen, Sonnenuhr- - die Geschichte der Veränderung der Uhren, der Evolution der Uhren-… von der Sonnenuhr bis zur digitalen Uhr-… Die Zeit war immer schon da. Arbeitsauftrag: Texte tippen und per Email zusenden. Überlegungen (stichpunktartig): Wie könnte ich mein Wort darstellen, inszenieren? Welches gegenständliche Symbol könnte man in eine Ausstellung bringen? Vom Wort in die Verdichtung in die Installation 1. Inhalt a) Was möchte ich zum Ausdruck bringen? b) Sage und benenne ich die Dinge oder erkläre ich sie? c) Wortwahl - Entsprechen die Worte dem Inhalt? Bilder / Metaphern - Welche Bilder sind stimmig? d) Rhythmus - Verlangt der Inhalt nach einem bestimmten Rhythmus? Entstehen dabei einzelne Verse? e) Sprache - Entspricht die Sprache dem Inhalt? f) Geht mein Text eigene Wege? Innere Logik des Textes? <?page no="137"?> 137 Identität 2. Form a) Fließtext? Ist mein Text ein Ausschnitt oder spricht er von einem Ganzen? b) Sinnzusammenhänge - Stimmen sie? Stimmt die Logik? c) Einteilung in Strophen? Braucht mein Text Strophen? d) Verlangt mein Text nach einer eigenen Form? e) Wie könnte ich die Form meines Textes beschreiben? 3. Inhalt und Form a) Wie hängen Inhalt und Form zusammen? b) Stimmt der Zusammenhang? 4. Titel a) Stimmt der Titel noch? b) Gäbe es eine andere Titelwahl? <?page no="138"?> 138 II. Identität(en). AnSätze Gewalt Zehra Çirak „Die Hand ist ein Werkzeug des Denkens“ Karl Jaspers Mit kleinster Gewalt Ich nenne mich Klick. Mein richtiger Name tut nichts zur Sache, ist unwichtig wie mein bisheriger Lebenslauf oder mein Geburtsort. Ich lebe zur Zeit in einem Krisenhaus, so heißt dieses Betreute Wohnen für obdachlose Jugendliche. Ich bin weder kriminell noch aggressiv und auch nicht arbeitslos. Leider habe ich Probleme mit meiner Familie, habe viel Ärger und auch sonst genug Sorgen, aber in dieser Einrichtung bekommt man dann erst recht eine Krise. Deshalb muss ich mich umschauen, dass ich bald eine andere Unterkunft, vielleicht einen preisgünstigen Platz in einer Wohngemeinschaft finde. Ich bin selbständig und habe mehrere Begabungen, womit ich etwas Geld verdiene, um davon wenn nicht gerade im Luxus, dann doch wenigstens nicht wie ein bettelnder Habegarnichts zu leben. Denn ich finde und habe viele Dinge aus dem Müll, Sachen oder Lebensmittel, die ich selbst verwende oder weiterverkaufe. All das aus den Wunderkisten der Wegwerfgesellschaft. Außerdem singe ich und spiele Gitarre. Mein Becher, der die hineingeworfenen Münzen sammelt, liebt es, wenn es Klick macht und eine Münze auf die andere fällt. Daneben verkaufe ich eine Straßenzeitung, in der manchmal meine eigenen Straßengeschichten zu lesen sind. Ich bin ein Spezialist für das Herausfischen von noch nützlichen Dingen aus dem Müll, also ein kreativer Mülltaucher. Ich brauche die Mülltonnen und Müllcontainer zum Wühlen und Suchen, und wenn ich etwas Geeignetes darin finde, fliegt es sofort hinaus in den Bereich des Wieder-Daseins und verändert seine Bestimmung, vom weg damit zum her damit. Ich suche aus, was für mich oder andere noch taugt und wert ist, wieder hervorgeholt zu werden. Alles Weggeworfene schläft den stillen verlorenen Schlaf des Entsorgten. In den Betten des Mülls ist Ruh. Vielleicht, so denke ich mir oft, träumt der Müll davon, von mir oder anderen Suchern entdeckt oder erweckt zu werden und wieder in den Kreislauf der gebrauchten Dinge zu kommen. Die Mülltonnen sind schweigsam, doch erzählen sie, wenn man genau hineinsieht und -horcht, ihre geheimnisvollen, seltsamen und in ihrer Art nicht ganz sauberen Geschichten. In den Müllcontainern sind nur die Insekten in Bewegung und machen ihre Geräusche, manchmal sind es Mäuse oder Ratten, die machen mir etwas Angst. Schimmel, Dreck und verdorbene Lebensmittel ekeln mich an, ich muss aufpassen, dass ich nicht kotze. <?page no="139"?> 139 Gewalt In den Müllcontainern ist es staubig, schmutzig, unglaublich stinkig, und ich muss mich beeilen bei dieser Arbeit. Ja, das ist meine Arbeit, und die Mülltonnen sind mein Arbeitsplatz. Bei dieser Arbeit fluche oder singe ich und versuche mich nicht zu verletzen beim Stöbern und Grabschen nach Fundstücken. Meine Arbeitskleidung ist langarmig und ich trage unterschiedlich aussehende Handschuhe, die ich im Winter auf den Straßen finde. An kalten Tagen trage ich gerne bunte Pudelmützen, aber noch lieber habe ich einen Strohhut auf dem Kopf, an solchen milden Tagen wie sie jetzt gerade sind. Es macht jedes Mal klick in meinem Kopf, wenn ich etwas in den Blick und die Finger bekomme, wovon ich denke, ich kann es gebrauchen. So funktioniert mein Auswahlschalter. Wenn ich etwas noch gut Erhaltenes, ja, etwas fast noch Neues und Schönes entdecke, muss ich laut lachen und ich schreie sogar auf, aus lauter Verzückung. Das ist gar nicht leicht, so fröhlich zu sein in meiner Arbeitshaltung. Kopfüber, den ganzen Oberkörper bis zum Bauch, in den Müllcontainer getaucht. Oft stecke ich noch viel tiefer drin und nur meine Waden und Füße baumeln hinaus. Ich muss die Balance halten, um nicht ganz hineinzufallen. Das ist bestimmt ein komischer Anblick für die, die mich vielleicht heimlich dabei beobachten, von ihren Fenstern zum Hinterhof aus. Auf mich, den „Bekloppten“, heruntersehen. Was sie über mich denken, ist mir egal. Sie schämen sich womöglich, weil sie fürchten, ich könnte vielleicht ihre Geheimnisse im Alltagsmüll entdecken. Bisher hat sich keiner beschwert oder mich dabei gestört oder unterbrochen. Peinlich ist es wohl manchen Bewohnern des Hauses, dass ich mir schnappe, was einmal ihnen gehörte. Sei es ein noch geschlossener Joghurt- oder Puddingbecher, dessen blödsinniges Haltbarkeitsdatum gerade erst abgelaufen ist, oder das Brot, worauf sich nicht einmal Schimmel befindet, oder ihre persönlichen und intimen Dinge, die ihre Schuldigkeit getan haben und somit entsorgt werden. Unglaublich was ich kürzlich gelesen habe, aber 500 000 Tonnen Brot werden jährlich in Deutschland weggeworfen. Ebenso viel nicht mehr ganz so schönes Obst und Gemüse von dem Aussortiertem, zum Beispiel aus dem kleinen Supermarkt hier im Hause. All das fliegt in den Müll. Tüten voller noch gebrauchstüchtiger Kleidungstücke oder Gegenstände wie Geschirr, Nippes oder sonst etwas. Es ist erstaunlich, was die Leute alles wegschmeißen. Wovon sie sich trennen, oft ohne wirkliche Not. Vieles könnte man noch gut auf dem Flohmarkt verkaufen. Oder es irgendwo hinstellen, selbst hier im Hinterhof, wo sich die Mülltonnen und Container befinden, mit einem Zettel worauf steht: Zu verschenken! Ich fühle mich von der Müllwelt beschenkt. Heute ist ein guter milder Herbsttag und es regnet nicht und ich habe allerlei aus dem Müll geholt, was mir nützlich erscheint, was ich behalten oder verkaufen kann. Oh ja, ich habe meine zahlenden Abnehmer, die selbst keine Zeit haben zum Mülltauchen, doch gut finden, was ich mache und noch rette aus den Containern. Ich bin nicht alleine in der Welt der Resteverwerter. Es gibt seit einiger Zeit sogar einen Trend in der so genannten normalen Bevölkerung, sich freiwillig sparsamer zu verhalten und von den Resten, also dem noch genießbaren Müll der anderen zu leben. Es ist schon dunkel und ich will heute nur noch einen letzten Container durchsuchen. <?page no="140"?> 140 II. Identität(en). AnSätze Bereits in den fünften getaucht, sehe ich auf dessen nur karg gefülltem Boden etwas glitzern, meine Taschenlampe und meine guten Augen lassen erkennen, dass es eine noch ansehnliche Sonnenbrille ist, mit Strasssteinchen auf seinem schwarzen Rahmen. So etwas fehlte mir noch, wunderbar! Da ganz unten, ich strecke und recke meine Arme, gleich hab ich sie-… Ich spüre, wie zwei Hände meine Füße packen und mich mit voller Wucht ganz in den Container werfen. Mein Kopf schlägt heftig am Boden des Containers auf. Die Scherben einer schwarzen Vase, die ich nicht gesehen hatte, berühren mein Gesicht. Ich schmecke Blut auf den Lippen, mir ist schwindlig und meine Nase blutet. Ich versuche, den Deckel aufzustemmen, doch er wird zugehalten, oder ist er sogar verschlossen worden? An manchen Containern sind Vorhängeschlösser befestigt und manchmal sind sie abgeschlossen. In solch einer Tonne liege ich jetzt vielleicht fest. Es muss ein kräftiger Mensch sein, ein gemeiner blöder Idiot, der mich hier hineingestoßen hat. Ich rufe laut nach Hilfe, fluche und schreie verzweifelt herum. Ich habe Platzangst und gerate in Panik, aber ich rühre mich nicht aus lauter Angst, der Deckel könnte aufgehen und der Typ könnte mir noch etwas anderes auf den Kopf schlagen. Plötzlich trommelt jemand auf den Deckel des Containers, ich höre ein männliches schallendes Gelächter und eine Stimme, die sagt: „Na du Müllratte, endlich hab ich dich mal erwischt. Wie fühlst du dich dort im Dreck? Ersticken wirst du wohl leider nicht da drinnen, aber vielleicht verstinken bis morgen früh, schlaf mal schön in deinem neuen Bett, du armer irrer Müllschlucker“. Dann spüre und höre ich ein lautes „Bum“. Ein starker Tritt gegen den Container. Ich schweige und hoffe, es geschieht mir nichts Schlimmeres. Der Typ redet wieder weiter. „Hallo du Ratte, ich habe dich bereits einige Zeit lang beobachtet und finde es total krass, was du da machst. Im Müll anderer Leute herumstochern und dann auch noch davon leben. Schade, dass ich schon vorbestraft bin wegen Großkack und ich gut aufpassen muss, um in meiner Bewährungszeit keinen Kleinscheiß zu bauen. Aber so etwas wie dich hätte ich ja gerne mal ordentlich verprügelt. Wie sagt man so schön, ich weiß wo dein Haus wohnt, und ich bin dir nachgeschlichen. Falls du da wieder heil herauskommst und ich dir auf der Strasse begegne, werde ich dich grüßen und dich anlächeln. Vielleicht werde ich dich schubsen und dir sagen, dass du aufpassen sollst, um nicht in deinen eigenen Dreck zu fallen. Na dann tschüss und mach es mal gut da drinnen.“ Und noch einmal gibt es einen heftigen Tritt gegen den Container. „Bum! “ Zusammengekauert und total verängstigt warte ich ab. Doch dann höre ich eine Frauenstimme: „Hallo Sie da unten, ich rufe gleich die Polizei, wenn sie nicht sofort damit aufhören. Ich habe gesehen, was sie gemacht haben“. Ich bin die neugierige alte Nachbarin aus dem dritten Stock und habe seit Jahrzehnten einen guten Überblick auf den gesamten Hinterhof. Schon wieder ist dieser seltsame junge Mann an den Müllcontainern. Es ärgert mich, dass er da so ungeniert in unserem Müll herumwühlt und manchmal dabei Lärm macht. Er wirft Dinge aus dem Müll hinaus, kontrolliert <?page no="141"?> 141 Gewalt und sortiert aus, was er nehmen will, und manchmal singt er auch noch laut dabei. Danach packt er seine Fundstücke in einen großen Sack. Bevor er dann wieder geht, schafft er aber Ordnung und hinterlässt keine Spuren seiner Müllaktion. Deshalb habe ich mich bisher nicht beschwert oder ihn vom Fenster aus angesprochen. Nein, ich will gar nicht, dass er bemerkt, wie ich ihn beobachte, wer weiß, vielleicht ist er dann verschreckt oder aufgestachelt und beschimpft mich oder bedroht mich gar. Nein, er tut mir gar nicht leid, soll er doch vom Müll leben, aber irgendwie stört es mich doch. Doch was ich da soeben gesehen habe, hat mich zuerst nur verärgert, aber danach ordentlich erschreckt. Ich hoffe, ich selbst bin nicht zu sehen hinter meinem Vorhang. Ich hoffe, der brutale Mann, der den anderen in die Tonne gestoßen hat, bemerkt nicht, woher meine Stimme kommt. Ich habe mein Telefon schon in der Hand, um die Nummer der Polizei zu wählen. Aber ich lasse es dann doch sein. Im Hinterhof ist es jetzt wieder ganz still. Der gewalttätige Mann ist wohl gegangen. Und vom dem, der im Container steckt, ist nichts zu hören. Ich hoffe, es ist ihm nichts Schlimmes geschehen. Ich gehe meines Hüftschadens wegen mühsam die Treppen hinunter in den Hinterhof. Inzwischen hängen einige Köpfe aus den Fenstern der Nachbarn. Bin ich die einzige, die das Geschehene beobachtet hat? Ich öffne den Deckel des Containers und sehe, wie der junge Mann zusammengekauert darin liegt. „Hallo sie, sind sie verletzt? “, frage ich mit leiser Stimme, damit er nicht erschrickt. Er schaut zu mir auf und ich erkenne etwas Blut an seinem Gesicht. Seine Augen kann ich nicht sehen, denn er trägt eine dunkle auffällige Sonnenbrille mit Strasssteinchen. „Bitte helfen Sie mir aus der Tonne“, sagt er und reicht mir seine Hand. Er rappelt sich auf, und ich helfe ihm, aus dem Container zu steigen. Als er dann die Sonnenbrille ablegt, kann ich Erleichterung in seinen Augen erkennen. Was habe ich doch heute für ein großes Glück gehabt, dass die alte gebrechliche Frau mir nach diesem bösen Angriff geholfen hat. Sie hat mir aus dem Container hinausgeholfen und mich danach mit in ihre Wohnung genommen. Das fand ich sehr nett von ihr. Dort habe ich mich etwas gewaschen und sie hat meine Schrammen versorgt, die ich mir beim Fallen zugezogen hatte. Sie hat die Polizei angerufen, und als sie dann da waren, hat sie ihnen den Täter beschrieben. Ich habe eine Anzeige gegen „Unbekannt“ gemacht. Dann wollte sie mit mir auf den Schreck einen Wodka trinken. Nach dem zweiten Wodka haben wir uns geduzt. Nach dem dritten Wodka habe ich ihr ohne meine Gitarre ein Lied gesungen. Ich habe mich an diesem Abend lange mit der Frau unterhalten. Sie erzählte mir einige Geschichten von verschiedenen kleinen Gewaltakten aus ihrem Leben, die sie selbst erlebt oder beobachtet hat. Diese relativ kleine Gewalttat, die mir heute zugefügt wurde und bei der ich noch glimpflich davonkam, hat mich mehr als am Körper im Kopf getroffen. Ich habe erfahren, wie schnell es geschehen kann, dass man ganz unerwartet Opfer von gewaltbereiten dummen Menschen werden kann. <?page no="142"?> 142 II. Identität(en). AnSätze Andererseits hat mir diese Erfahrung eingeschärft, vorsichtiger zu sein bei meinen Mülltauchaktionen. Und ich habe erlebt, wie gut es ist, wenn Menschen sich einmischen und helfen, auch wenn sie einen nicht kennen, selbst ängstlich sind und trotz eigener Hilflosigkeit durch Alter oder körperlichem Handicap dennoch mutig einschreiten. Ich weiß nicht, ob meine Eltern, in einer ähnlichen Situation, einem ihnen fremden Mülltaucher geholfen hätten. Schließlich haben sie mich aus dem Haus geworfen, als sie erfuhren, dass ich, ihr Sohn, in einer Art Müllwelt lebe. Manchmal wühle ich sogar im Müll meiner Eltern und finde darin so einiges, was mich an meine Kindheit erinnert. So als ob sie, nachdem sie mich losgeworden sind, auch noch meine Kindheit entsorgen. Das alles habe ich der alten Frau, die mir geholfen hat, erzählt, oben in ihrer Wohnung, wo ich mich ordentlich erholen durfte von diesem Schreck. Ich glaube sogar, dass wir uns angefreundet haben. Ab jetzt werde ich sie die nette alte „Dame“ aus dem dritten Stock im Hinterhof nennen. Denn es war sehr freundlich, nobel und menschlich von ihr, wenn nicht gar mutig zu nennen, dass sie mir geholfen hat. Sie hat mir erlaubt, sie zu besuchen, wenn ich in diesem Hinterhof zu schaffen habe. Sie würde mir noch ganz andere Geschichten erzählen aus ihrer Jugendzeit. Bevor ich dann wieder von ihr fortging, habe ich der alten Dame versprochen, so oft sie es will ihren Müll nach unten zu tragen. Und sie versprach mir, Dinge, die sie in Zukunft entsorgen will, nicht mehr gleich in Mülltüten zu stopfen oder sie in den Müllcontainer zu werfen, sondern sie will sie mir, nachdem sie mir die Geschichten dazu erzählt, direkt in die Hände geben. Sie sagte, sie sei nun in einem Alter, in dem sie sich von alten Dingen trennen wolle, um ihre Wohnung zu entrümpeln. Sie schenke mir die Geschichten der alten Dinge aus ihrem Leben. Darunter wären viele wertvolle Gegenstände und viele spannende Erlebnisse, die sie mir zu erzählen hätte. Schreibübungen Das System der Schreibübung und Aufgabestellung kann so wie bei Akos Doma beschrieben (S.-55/ 56) übernommen werden: Wer hat schon einmal solch eine Situation erlebt, als Betroffener oder Beobachter? Vielleicht sogar selbst als Täter oder Opfer bei einer Kleinstgewalt? Wer hat eingegriffen oder nur zugeschaut? Die Schüler könnten sich gegenseitig ihre erlebten Kleinstgewalt-Geschichten erzählen und aufschreiben. Die Schüler könnten aber auch die gehörte Geschichte des anderen aus einer oder mehreren Perspektiven beschreiben. Oder über eine erfundene Situation mit Gewalt. Möglich wäre auch, dass zwei oder drei Schüler gemeinsam an einer Geschichte schreiben, in der jeder eine Rolle übernimmt. Täter-- Opfer-- Beobachter. <?page no="145"?> 145 Gewalt III. Anhänge <?page no="147"?> 147 Das Wort im verstörten Fleisch Das Wort im verstörten Fleisch Feridun Zaimoglu Alles begann mit Behaglichkeitsverlust. Ich war ein Verdrossener. Mir träumte, ein Paukenschlag, oder wenigstens ein Schlag auf die Schellentrommel, machte mich endlich wach. Das Erwachen verschob ich auf später. Viel geschah, nichts war von Bedeutung. Ich streifte durch die Straßen und entdeckte: Wutparolen an den Häuserfronten. Obszöne Worte der Vereinigung, von Legasthenikern in den Lack gekratzt. Striche und Gestrichel, verbogene Geometrie, zerlaufene Zahlen. Symbole aus alter Zeit, in die Kaugummiplacken auf dem Pflaster geritzt, mit rostigem Nagel. Aus der Verankerung gerissene Poller. Zigarettenpapierheftchen, von Regenwasser durchweicht. Tote Hummeln, zertretene Fäustlinge. Schnipsel, Schrappsel, Zerschnittenes. War das Zerfall? War das eine Neuordnung? Mein Kopf war äußerste Peripherie, in die Randzonen drängte es mich nicht. Ungesunder Leib, pochender Schädel, schweifende Seele. Auf andere Umherschweifende traf ich: Frauen und Männer in Hosen, in Röcken, in Jacken und Mänteln von der Altkleiderkammer der Armenhilfe. Bürgerliche, Verbürgerlichte, vom Bürgertum Abgefallene. Man schimpfte sie den Menschenkehricht, sie scherten sich nicht darum. Wir saßen, so der Wirt uns ließ, im Lokal. Geld war knapp, also wurde nicht gesoffen. Es schmerzten der Nacken, der Rücken, die Glieder, also verliebte man sich nicht. Ich streute Zucker aufs Butterbrot, es knirschte zwischen den Zähnen, ich schluckte halb durchgekaute Brocken herunter. Satt fressen machte schläfrig, in der Stubenwärme quoll man auf. Ich sah aus wie ein hyänengesichtiger Morphinist, ich trug Soldatenstiefel und schwarze Kleidung. Geschwärzte Gestalt, dachte ich, das ist besser als Farbe. Es fraß sich jeder Wurm in mich hinein, es drang jeder Wind durch meine Fugen, es verstauchte mich jedes bisschen Gefühl. Was also war ich? Eine Groschenheftfigur. Ein Operettenexpressionist. Ein Hungerdramatiker. Ein nach Luft schnappender Asthmatiker. Ein Billigurlauber in die Extreme. Streuner im Hinterland. Wir alle, die wir zusammengefunden hatten, litten an Belastungsluftnot. Jeder von uns war ohne eigenes Zutun in einer Stadt im Norden gelandet. Eine Weile Rast, hatten wir gedacht, dann geht die Reise weiter. Wir blieben, wir blieben stecken. Alles geschah durch Zufall, an Zufälle glaubten wir aber nicht. Es blieb uns verborgen, wieso wir einander begegnet waren. Ich traf Gerhardt beim Gänsefüttern am künstlichen Teich. In Pfützen sprang ein Kind in roten Gummistiefeln, ein Mann schwenkte die weiße Plastiktüte in seine Richtung, und er sagte: Dies ist ein Zeichen des himmlischen Vaters. Ein Verrückter, ein Süchtiger, oder einer, der nicht weiterwusste? Ich fütterte eine Gans, er fütterte zwei Gänse, wir sprachen wenig. Er war der erste Straßenbruder, auf den ich traf-- bald sollte meine ganze Bekanntschaft aus solchen Menschen bestehen. Man warnte mich: Du hast den falschen Abzweig genommen. Sieh doch, bei dir hält keine Liebe länger als ein paar Wochen. Wieso? Weil du dich selbst verschwendest. Alte Freunde wandten sich ab, was sollten sie sich weiter auf mich einlassen? Wenn sie über mich sprachen, dann in Begriffen aus der Seuchenmedizin. Sie sahen in mir einen Infizierten, einen Infektiösen. Ich faselte wie ein Betörter-- tatsächlich <?page no="148"?> 148 III. Anhänge hatte ich, nach Jahren der Betäubung, aufgehört zu schweigen. Man schlug mich nunmehr den Lärmenden zu: Ich stieß klingende keckernde Laute aus. Ein Ganzes war Illusion. Bruchstücke musste ich aus der Luft schnappen und zum Brocken zusammenkauen. Elend wurde zu Ware, wir Streuner machten Tauschgeschäfte. Es hieß: Finde die richtigen Worte für deine Geschichte. Zerbrich! Zerfasere! Zermahle! Dann kommen Innen und Außen in Deckung. Wir, die Lokalheiligen, wurden unter dem strengen Blick des Wirts zu Wortpeitschen. Die Meisterin dieser experimentellen Infamie hieß Bettina. Sie keuchte verspuckte Sätze aus, sie würgte halb verdaute Bissen hoch. Wir lauschten ihrem Minnesang: Hymnen stimmte sie an zum Ruhme des Liebhabers, der noch kommen würde. Der heraustreten würde aus einem efeuumrankten Halbdunkel. Der Bettinas Irresein besingen würde. Der Wirt intervenierte, die Gäste an den Nebentischen fühlten sich belästigt, meine anfeuernden Krähenrufe erschreckten sie. Wir bekamen Lokalverbot, das Verbot sprengte die Gemeinschaft,wir lösten uns auf in krächzende Monologmonaden. Die Zeit der Zusammenkünfte verging, keiner von uns suchte die Nähe des anderen auf. Ich wurde der Experimente müde. Worum ging es mir? Ich hatte keine Ahnung. Also begann ich, Farben aufzustreichen auf Leinwand und Pappe. Ich bebilderte Sagbares und aber Unmalbares. Hauch, dachte ich, Spuckregen, Gefiederkrätze-- wie male ich das? Ein Lichtgesicht, fauler Apparat, beseelte Maschine- - wie male ich sie? Kalligraphie, Schönschreibekunst, damit müsste es gehen. Berauschendes Buchstabenspiel: Ich dehnte, zog in die Länge, rieb Ecken rund, trug dünne Beläge auf, kratzte sie ab. Fäulnis der Worte unter milchiger Lasur. In meiner kleinen Malkammer wurde ich glücklich. Kunst war eine schöne Verfälschung, Kunst war keine größtmögliche Annäherung an den Stoff, an das Fleisch, an Gegenstand und Seele. Tauche die Worte in deine Farbkessel, dachte ich, färb sie rot, grün, gelb, blau. Finde Worte für ergrautes Hundefell. Für Grünspan auf Münzen. Für den Summton der Wechselsprechanlage. Für die Zwielichtbrut in Träumen. Für das Verlangen, fast nichts zu wiegen, leichter als Luft zu werden. Einer abgemagerten Seele zu gleichen. Elf Jahre verbrachte ich mit Tandveredelung. Mit der Goldbestäubung des Schunds. Auf Hunderten von Bildern zerdehnte, in Farbkesseln zerkochte Buchstaben. Viel geschah, nichts war von Bedeutung. Große Formate mit Stempelaufdruck, der Himmel dunkles Ultramarin, Wortfetzen wie vom Wind losgerissene, aufgebauschte Tüllgardinen. Ich wurde dieses Spiels überdrüssig, es tat mir nicht gut, der Unverstand röstete die Gedanken. Und also fegte ich alles Zubehör vom Tisch, allein in meiner Kammer konnte ich nicht selig werden. Artisten verunglückten bei einer Luftnummer, bei einem komplizierten Kunststück. Ich ging heraus, saß bei Menschen ohne Anspruch. Sie lebten, und mehr als atmen wollten sie nicht. Beim Metzger gab es Wurst, beim Bäcker Brot, beim Schuster ließ man sich die Schuhe neu besohlen. Der Schneider, dessen Lungen der Krebs zerfraß, schloss jeden Morgen auf, schloss jeden Abend ab. Die Frisiermeisterin ondulierte jeden Sonntag die Spitzen ihrer glatten Haare. Es regnete, es fiel Hagel, die Wolken rissen auf, Licht sprenkelte die Blätter. Ich dachte: Das ist das normale Leben, jetzt lebe ich normale Not, normale Ruhe, normale Furcht. Ich übte mich in Mäßigung, in Sinnesabstumpfung, in Stabilität. Vor allem stopfte ich die Worte zurück in die Kehle: Sie summten, wenn ich schwieg, wie ein Schwarm Mücken im Mund. Ich mimte ein sattes Säugetier im Kampfgebiet der Zivilisten. Und da ich mir das Besserwissen verbat, begann ich, <?page no="149"?> 149 Das Wort im verstörten Fleisch mich zu erinnern: an den Frauenhaushalt, in dem ich aufwuchs, an die Frauen am Waschzuber, am Bügelbrett, an der Nähmaschine, an den blinkenden Geräten der neuen Zeiten. Sie aber sprachen über das zerfranste Geflecht der Tage. Über die Glut der Mickrigen, der Geduckten. Über die speichelnasse Unterlippe der Jünglinge, die in Schattenverstecken ausharrten. Über das gelockte Mädchen, das an ihnen vorbeilief. Das ein bleichgelbes Ponchocape trug, auf dessen Schulterpolstern sich schwarze Locken wiegten. Die Frauen drehten an den Spindeln und Schaltern der Geräte, kleine Lampen leuchteten rot oder grün auf, und sie riefen: Welchem Schattentierchen wird das Mädchen eine Locke schenken? Ich dachte an die infam haspelnde Bettina und die Kette aus Phantasiesteinen an ihrem Hals-- auch sie besang die Männer als die Reptilien der Liebe. Und wie aber wurde man wütend, woher der Zorn, der in der Stille keimte? Das Liebesding war doch nur eine Überreizung, und das Herz nichts weiter als Drüsensaftschlacke. Ein Blick auf die Verliebten in meiner Umgebung: Schnell wandte ich den Blick wieder ab. Sie klebten fest. Sie glänzten wie Gauner im Morgenlicht. Sie spitzten den Mund und pfiffen eine grausige Melodie. Nicht meine Welt, nicht mein Kram und nicht mein Glaube. Lieber verrecken als die Klebrigkeit bekennen. Flach durch den Mund atmen, wenn der Unglaube Löcher ins Zwerchfell riss-- es half wenig. Die Menschen, deren Normalität ich bestaunte, sahen in mir doch einen Kerl mit maskenhaft vereistem Gesicht. Wort im Fleisch, ich war kurz davor, es zu erbrechen. Auf Wortstücke, zu Girlanden verkettet, stieß ich in den Büchern lustloser Lyriker. Ich las ihre Gedichte und atmete doch nur verbrauchte Luft. Ich las die Verse von Dichterinnen und Dichtern und schrie in meiner Stube wie ein Troll. Endlich. Und je mehr ich las, je mehr ich lernte: Wer sich ausdehnte, platzte. Wer mit Worten nach Dingen warf, fand Höhe, Tiefe, Raum und Weite. Endlich. Bettina und die Frauen meiner Sippe-- sie waren Krieger eines Stammes. Schriftgewordene Bilder in Folge- - das war eine Geschichte. Keiner konnte gebieten, keiner konnte verbieten. Erst später, nach einigen Jahren im Literaturbetrieb, sollte ich eines Besseren belehrt werden. Ein verhinderter Gauner lud mich ein in sein Kellerloch: Er saß an einem flachen Gerät, drückte auf Tasten, erzeugte künstliche Töne. Ein Komponist mit Schiebermütze auf dem Kopf. Ein Sprechsänger, der die Hartleibigkeit propagierte. Die Erbse in der leeren Blechdose. Er fragte: Bist du verliebt? Nein. Wirst du dich in den kommenden Tagen verlieben? Nein. Also durfte ich bleiben. Andere gemütskranke Asphaltspucker gesellten sich zu uns, wir schmetterten Hassgesänge. Wir besangen die Todeszuckung, die Amoral der Meuchler, das knarrende Galgengerüst. Das kalte Herz. Die Nacht, die über Lachen und Pfützen schwarze Milchhaut spannt. Den erstarrten Buchstaben unter der Tintenlasur. Wir verfluchten den Schmelzklang in atonalen Hymnen. Da zersprang die Maske, das Gehäuse meines Gesichts, und ich lief zu Fuß den ganzen Weg vom Kellerloch zu mir nach Hause und schrieb und schrieb. Beuge die Regeln, biege das Eisen-- das war mein Kampfschrei, daran hielt ich mich. Nicht pocht das Herz, nicht bebt die Brust. Nicht spannt der Muskel, nicht strafft sich die Sehne. Zerklopfe, zerdrücke, zerfurche! Zerknacke, zergliedere, zerkleinere! Zerrupfe, zerreiße, zerquetsche! Zerlege, zermalme, zermahle! Zerschramme, zerspleiße, zerstoße! Sitze mit dem Rücken zum Geschehen, und lass es geschehen auf dem Papier. Tu so, als hättest du aus den Tiefen des Nichts Edelmetall geborgen. <?page no="150"?> 150 III. Anhänge Ich schrieb das erste Buch und wurde über Nacht zum knurrenden Köter des Betriebs. Sprang auf die Bühne, zog als unsauberer Geist ein in viele Wirtskörper, in die Figuren meines Buchs. Darbietung eines Dämons. Öffentliches Schorfabkratzen. Zum Beschauen fanden sich die ersten Kritiker ein. Sie dachten und sagten: Es zischt ein Halbirrer Barbarengebete. Sie schrieben: Neues Deutsch, von einem mageren Gnom uns zugeraunt. Hundert Lesungen später folgte das dritte Buch. Und ich begann, Geschichten zu schreiben, Sprachexperimente bereiteten mir nur noch Verdruss. Da aber stieß ich auf die Priester unter den Schreibern und Kritikern. Was schwebte ihnen vor, worauf drängten sie? Auf die Umerziehung des Schreibers zum frostigen Denker. Sie stellten Regeln auf: So nicht, aber so! Realismus nicht und manchmal dann doch schon. Sie glaubten: Poesie verbreite Prosa, und Traummagie vermansche Text. Sie forderten: Dinglichkeit! Versachlichung! Seminaristenjargon! Neue Bücher prüften sie auf Ähnlichkeit mit Schriftstücken einstiger Avantgardisten. Ich hielt diese Priester für die Reaktionäre unter den Ästheten und war mir aber, wie über vieles andere auch, nicht sicher. Gering geschätzte, geschmähte Erzähler traf ich, und wir saßen an einem Tisch und tranken. Ich sagte: Deutsche Magie ist doch nicht nur deutscher Wald und sind nicht nur Finsternisse. Eine Erzählerin sagte: In ihren Augen sind wir dumm und unbelehrbar. Ein Erzähler fügte hinzu: Wir sehen und sind nicht blind. Und doch sind wir für das Schöne aufgeschlossen. Was hatten wir alle gemeinsam? Wir waren keine Theoretiker: Wir bündelten nicht Thesenpapiere zum Textkonvolut, wir glaubten nicht an die Unbezwingbarkeit der Materie. Schwund, Verschleiß und Vergehen machten uns verlegen. Sprache kam von sprechen: Es sprach der Mensch Laute des Unbehagens, der Liebestollheit, des Hasses auf das Hassenswerte. Den abgeschiedenen Niederschlag der Sprache auf Papier nannte man ein Buch. Die Niederschrift des erzählten Vorkommnisses war eine Geschichte. Das Wort, als des Denkers bloßes Instrument zur Weltkennzeichnung, lehnte ich ab. Und verabscheute jene Narren, die Worte als Verknechtungsmittel einsetzten. Die Priester schrieben die Konservierung der einstigen Brüche mit der Erzähltradition fest-- das nannten sie Fortschritt. Ich erkannte: Nur ein Idiot wollte jedermanns Liebling sein. Man durfte sich mit den Priestern nicht versöhnen, und man durfte sich von ihren Attacken nicht verstimmen lassen. Sie warfen den Erzählern vor: Anti-Intellektualität, Rückgriff auf alte Muster, Empathiesucht, Volksfreundlichkeit. Wer Geschichten suchte, fand beim Volk die Geschichten-- er wurde übergangen. Wer Stubenprosa im Gaga-Dada-Deutsch verfasste, fand Anklang bei den Priestern-- er wurde gelobt. Kämpfe und Gefechte. Worte, Seiten, Bücher. Die pfäffisch Veranlagten in der Deuterkaste würden immer murren. Vor drei Jahren machte ich mich davon frei, mir darüber Gedanken zu machen. Rechenschaft war ich nur der Leserschaft schuldig. Es saßen im Publikum belesene kluge Frauen und Männer, und sie lauschten meiner Geschichte in meiner Sprache. Sie gefiel ihnen oder gefiel ihnen nicht, sie waren berauscht oder waren verärgert. Sie hatten das Geld für den Eintritt gut angelegt oder fehlinvestiert. Sie lobten mich als Vorleser oder flohen kopfschüttelnd ins Freie. Gunst war guter Lohn, Schimpf raubte mir in mancher Nacht den Schlaf. Ich erkannte: Der vorlesende Schreiber, so er sich denn nicht mit einem bloßen Vortrag begnügte, wurde zur Figur aus der Urszene. Literatur wurde Sprache, wurde gesprochenes Wort. Die Leser verwandelten sich in Zuhörer. Sie belohnten, sie bestraften. Manch einer <?page no="151"?> 151 Das Wort im verstörten Fleisch schloss die Augen, wollte nichts sehen, wollte nur hören. Andere verziehen mir nicht, dass ich am Ende der Lesung aus der Rolle fiel. Schönes Missverständnis. Wann vergeudete ich also meinen Atem? Nicht, wenn ich las. Aber dann, wenn ich Sinn einzuhauchen versuchte, in das, was ich tat. Was tat ich? Ich schrieb. Also bitte ich Sie, alle Worte dieser Geschichte für nichts anderes zu halten als Verschwendung. Für den Versuch der Entfremdung vom eigentlichen Stoff meiner Arbeit. Ich erzähle Ihnen eine Geschichte, die nicht wahr sein kann, weil ich mich deute. Glauben Sie mir nicht. Trauen Sie Ihren Sinnen. Der sprachschöpfende Wortverkünder ist ein Gespenst, das sich im Truggespinst verfängt. Der Bruch mit dem Regelwerk bleibt ein Wagnis. Jeder erzähle seine Geschichte in seinen Worten. Jene, die um Lesbarkeit bemüht sind, brauchen selten einen Übersetzer-- ein knapper Klappentext reicht völlig. Sie können mit Mitteln arbeiten, die man fälschlicherweise zu den Beglaubigungsvermerken der Moderne zählt: Perspektivenwechsel, Aufgabe der linearen Handlung, Umschweife, Ablenkung. Sie sind aber in alten Schriften zu finden. Der Tod des Erzählers tritt ein, wenn man der Theorie ein Textkleid maßschneidert. Der steife Körper wird mit fadenscheinigem Stoff verhüllt. Die Texte der 1970er-Wortjongleure lesen sich heute wie Bürokratenprosa. Nicht die Lyriker, aber die Dichter sind die Ungezähmten unserer Tage: Ich nehme sie mir zum Vorbild. <?page no="153"?> 153 Vorstellungsrunde Zehra Çirak geboren 1960 in Istanbul. Seit 1963 in Deutschland, Karlsruhe. Seit 1982 in Berlin. Lebt und arbeitet von 1982 bis 201 mit dem in 201 verstorbenen Bildenden Künstler Jürgen Walter. Gemeinsame Präsentationen im In und Ausland. Info über die Zusammenarbeit unter: www. juergen-walter.com. Ein Schwerpunkt der Gedichte beruht auf der intensiven Zusammenarbeit mit Texten zu Skulpturen des Objektkünstler Jürgen Walter. Diverse Arbeitsstipendien und Auszeichnungen, u. a. Friedrich-Hölderlin-Förderpreis 1993, Adelbert-von-Chamisso-Preis 2001, Stadtschreiberin in Tübingen 2016. Langjährige regelmäßige Leitung von literarischen Schreibwerkstätten in Schulen. Jüngste Veröffentlichung: Die Kunst der Wissenschaft. Texte zu Objekten von Jürgen Walter als e-book (dt.-engl.). Verlag Hans Schiler. Berlin / Tübingen 2013 (Buchausgabe 2017). Lektüreempfehlungen: Margarite Duras, Ganze Tage in den Bäumen. Roman. José Saramago, Das Evangelium nach Jesus Christus. Roman. Das steinerne Floß. Roman. Das Memorial. Roman. Wislawa Szymborska, Hundert Freuden. Gedichte. Jeffrey Eugenides, Middlesex. Roman. Orhan Pamuk, Rot ist mein Name. Roman. Ernst Weiß, Der arme Verschwender. Roman Ich, der Augenzeuge. Roman Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz. Eine Geschichte. <?page no="154"?> 154 Akos Doma geboren 1963 in Budapest, Schriftsteller und literarischer Übersetzer. Seine Übersetzungen ungarischer Literatur, u. a. von Péter Nádas und Sándor Márai, wurden mehrfach prämiert. Für seine Romane Der Müßiggänger (2001) und Die allgemeine Tauglichkeit (2011) erhielt er zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. das Grenzgänger- Stipendium, den Adelbert-von-Chamisso- Förderpreis, den Dresdner Stadtschreiber, das Prager Literaturstipendium sowie Literaturstipendien des Freistaats Bayern und des Deutschen Studienzentrums in Venedig. Jüngste Veröffentlichung: Der Weg der Wünsche. Roman. Rowohlt Berlin Verlag. Berlin 2016 Lektüreempfehlungen: Knut Hamsun, Hunger oder Mysterien Fjodor M. Dostojewski, Schuld und Sühne J. D. Salinger, Der Fänger im Roggen Lew Tolstoi, Anna Karenina Dino Buzzati, Die Tatarenwüste Milan Kundera, Der Scherz oder Abschiedswalzer Iwan Turgenew, Väter und Söhne Emily Brontë, Sturmhöhe D. H. Lawrence, Liebende Frauen Eduard v. Keyserling, Wellen Lektüreempfehlungen Jugendliteratur: Alexandre Dumas, Der Graf von Monte Christo Jules Verne, Mathias Sandorf Ferenc Molnár, Die Jungen von der Paulstraße Karl May, Old Surehand oder Winnetou Mark Twain, Die Abenteuer des Tom Sawyer / Huckleberry Finn Erich Kästner, Emil und die Detektive oder Das fliegende Klassenzimmer Otfried Preußler, Krabat James Fenimore Cooper, Der letzte Mohikaner Jack London, Ruf der Wildnis Charles Dickens, Große Erwartungen Walter Scott, Ivanhoe H. Rider Haggard, Erik Hellauge H. G. Wells, Der Unsichtbare <?page no="155"?> 155 Louis Pergaud, Krieg der Knöpfe Kurt Held, Die rote Zora Michael Ende, Momo James Krüss, Timm Thaler J. R. R. Tolkien, Der Herr der Ringe Christopher Paolini, Eragon Jose F. A. Oliver ist andalusischer Herkunft, wurde 1961 in Hausach im Schwarzwald geboren und lebt dort als freier Schriftsteller. José Oliver ist Kurator des 1998 von ihm ins Leben gerufenen Literaturfestes Hausacher LeseLenz (www.leselenz.com). Er hat gemeinsam mit dem Literaturhaus Stuttgart Schreibwerkstätten für Schulen entwickelt, um die Sprachsensibilität von Kindern und Jugendlichen zu fördern und ihr Verständnis für den Umgang mit Literatur zu erweitern. Daraus ist folgende Publikation entstanden: Lyrisches Schreiben im Unterricht- - Vom Wort in die Verdichtung (Klett / Kallmeyer-Friedrich-Verlag, 2013). Oliver wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Basler Lyrikpreis 2015. (www.oliverjose.com) Jüngste Veröffentlichung: 21 Gedichte aus Istanbul, 4 Briefe und 10 Fotow: orte. Gedichte und Fragmente. Matthes & Seitz. Berlin 2016. Lektüreempfehlungen: ▶ Standardwerke zum Lyrikpanorama des 20. Jahrhunderts Enzensberger, Hans-Magnus: Museum der Modernen Poesie (Taschenbuch 2002) Hartung, Harald: Jahrhundertgedächtnis (1998) Hartung, Harald: Luftfracht (1991) Sartorius, Joachim: Atlas der neuen Poesie (Taschenbuch 1996) ▶ Einige Empfehlungen für die Schule: Boëtius, Henning / Hein, Christa (Hg): Die ganze Welt in einem Satz. Beltz & Gelberg. Weinheim / Basel 2010 <?page no="156"?> 156 Gelberg, Hans-Joachim (Hg): Neue Gedichte für Kinder und Erwachsene. Beltz & Gelberg. Weinheim/ Basel 2011 Thalmayr, Andreas: Lyrik nervt. Eine Hilfe für gestreßte Leser. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 2008 Sichtermann Barbara / Joachim Scholl (Hg): 50 Klassiker Lyrik. Gerstenberg Verlag. Hildesheim. 3. überarbeitete Auflage 2007 Michael Stavarič geboren 1972 in Brno, lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt: Adelbert-von-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jungendliteratur. Lehraufträge, zuletzt: Stefan-Zweig-Poetikdozentur an der Universität Salzburg. Jüngste Veröffentlichungen: Gotland. Roman. Luchterhand Literaturverlag. Als der Erlkönig sein Weiß verlor. Kinderbuch. Kunstanstifter Verlag. Lektüreempfehlungen Hans Lebert: Die Wolfshaut Bohumil Hrabal: Allzu laute Einsamkeit Anne Carson: Rot Joseph Conrad: Herz der Finsternis Wenedikt Jerofejew: Die Reise nach Petuschki Vladimir Holan: Nacht mit Hamlet Kevin Vennemann: Nahe Jedenew Patrik Ourednik: Europeana Herman Melville: Moby Dick Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel <?page no="157"?> 157 Nachweise Fotonachweis Die Fotos auf den Seiten 6, 22, 6, 86, 122, 1 und 16. sind von José F.A. Oliver. Dank Die Essays von Yoko Tawada, Ilija Trojanow und Feridung Zaimoglu wurden eigens für die Gesprächsreihe des Stuttgarter Literaturhauses „Literatur und ihre Vermittler“ geschrieben und sind bei Voland & Quist in dem von Erwin Krottenthaler und José F.A. Oliver herausgegebenen Band „Literaturmachen - Literatur und ihre Vermittler“ 2013 publiziert worden. Wir danken den Autoren und dem Verlag für die Abdruckgenehmigung. <?page no="158"?> Jörg Roche / Gesine Lenore Schiewer (Hrsg.) ISBN 978-3-8233-8139-6 www.narr.de Spracharbeit im Deutschunterricht unter Anleitung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern - darum geht es in diesem literaturdidaktischen Lehr- und Lesebuch. Es unterstützt die Förderung von Grundlagen für ein methodisch und theoretisch anspruchsvolles Verständnis interkultureller Kommunikations- und Dialogfähigkeit, die sich auch in schwierigen Konfliktsituationen bewährt. Im Mittelpunkt dieses Bandes steht ein zentrales Thema jedes interkulturellen Dialogs: Identitäten. Die persönliche Präsenz von Autorinnen und Autoren im Klassenraum erlaubt, zusammen mit entsprechenden Arbeitsmaterialien, die sinnvolle und gezielte Einbindung von Literatur in den Deutschunterricht aller Schularten und Altersstufen. Beiträge von Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträgern sind genau dafür hervorragend geeignet. Der Band ist inhaltlich und didaktisch konzipiert von Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer, José F.A. Oliver, Zehra Çirak, Akos Doma und Michael Stavarič, mit Gastbeiträgen von Yoko Tawada, Ilija Trojanow und Feridun Zaimoglu. Dieses Lehr- und Lesebuch wendet sich nicht nur an Lehrkräfte, sondern auch an Schülerinnen und Schüler mit ihren Freundinnen und Freunden, Eltern und anderen Bezugspersonen. Damit werden die üblichen Grenzziehungen des Unterrichts aufgehoben und die oft zu engen Textsorten-Grenzen bisheriger Lehrwerke und Lehrerhandreichungen erweitert. Dies bildet sich bewusst auch in der grafischen Gestaltung der Materialien ab. Klar und anschaulich wird verdeutlicht, wie sich unsere Wahrnehmungen der Welt durch Neues, Anderes und Fremdes ständig verändern und zu permanenten Assimilations- und Akkommodationsprozessen des Wissens führen. Es folgen weitere Bände zu den Themen Emotionen und Lebenswelten. Identitäten - Dialoge im Deutschunterricht Jörg Roche / Gesine Lenore Schiewer (Hrsg.) Identitäten - Dialoge im Deutschunterricht unter konzeptueller Assistenz und mit Originalbeiträgen von José F.A. Oliver/ Zehra Çirak/ Akos Doma/ Michael Stavarič S c h r e i b e n - L e s e n - L e r n e n - L e h r e n