Kontaktinduzierter Lautwandel, Sprachabbau und phonologische Marker im Sassaresischen
0716
2018
978-3-8233-9141-8
978-3-8233-8141-9
Gunter Narr Verlag
Laura Linzmeier
Laura Linzmeier widmet sich mit ihrer Arbeit dem Sassaresischen, einer im Nordwesten Sardiniens verbreiteten Sprache, die aus dem Kontakt zwischen dem Sardischen und dem Korsischen hervorgegangen ist und bislang von der Forschung weitestgehend unberücksichtigt geblieben ist. Die Studie beschäftigt sich zunächst mit einer soziolinguistischen Einordnung des Idioms sowie insbesondere mit der Frage nach aktuell im Sassaresischen stattfindendem Lautwandel im Ausspracheverhalten von Sprechern verschiedener Kompetenzgrade.
<?page no="0"?> Laura Linzmeier widmet sich mit ihrer Arbeit dem Sassaresischen, einer im Nordwesten Sardiniens verbreiteten Sprache, die aus dem Kontakt zwischen dem Sardischen und dem Korsischen hervorgegangen ist und bislang von der Forschung weitestgehend unberücksichtigt geblieben ist. Die Studie beschäftigt sich zunächst mit einer soziolinguistischen Einordnung des Idioms sowie insbesondere mit der Frage nach aktuell im Sassaresischen stattfindendem Lautwandel im Ausspracheverhalten von Sprechern verschiedener Kompetenzgrade. ISBN 978-3-8233-8141-9 Linzmeier Kontaktinduzierter Lautwandel Anna Marcos Nickol Kontaktinduzierter Lautwandel, Sprachabbau und phonologische Marker im Sassaresischen Laura Linzmeier Laura Linzmeier widmet sich mit ihrer Arbeit dem Sassaresischen, einer im Nordwesten Sardiniens verbreiteten Sprache, die aus dem Kontakt zwischen dem Sardischen und dem Korsischen hervorgegangen ist und bislang von der Forschung weitestgehend unberücksichtigt geblieben ist. Die Studie beschäftigt sich zunächst mit einer soziolinguistischen Einordnung des Idioms sowie insbesondere mit der Frage nach aktuell im Sassaresischen stattfindendem Lautwandel im Ausspracheverhalten von Sprechern verschiedener Kompetenzgrade. ISBN 978-3-8233-8141-9 Linzmeier Kontaktinduzierter Lautwandel Anna Marcos Nickol Kontaktinduzierter Lautwandel, Sprachabbau und phonologische Marker im Sassaresischen Laura Linzmeier <?page no="1"?> Kontaktinduzierter Lautwandel, Sprachabbau und phonologische Marker im Sassaresischen <?page no="2"?> Studia philologica Monacensia Edunt Andreas Dufter et Bernhard Teuber Volumen 9 · 2018 Comité scientifique - Advisory Board - Wissenschaftlicher Beirat Lina Bolzoni (Scuola Normale Superiore di Pisa) Anthony Cascardi (University of California at Berkeley) Pedro Cátedra (Universidad de Salamanca) Victoria Cirlot (Universitat Pompeu Fabra, Barcelona) Marie-Luce Démonet (Université François Rabelais, CESR, Tours) Carlos Garatea Grau (Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima) Barbara Kuhn (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) Frank Lestringant (Université Paris-Sorbonne) María Jesús Mancho Duque (Universidad de Salamanca) Wolfgang Matzat (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) Paulo de Sousa Aguiar de Medeiros (University of Warwick) Wolfram Nitsch (Universität zu Köln) Uli Reich (Freie Universität Berlin) Maria Selig (Universität Regensburg) Elisabeth Stark (Universität Zürich) Collegium consultorum <?page no="3"?> Laura Linzmeier Kontaktinduzierter Lautwandel, Sprachabbau und phonologische Marker im Sassaresischen <?page no="4"?> Umschlagabbildung: Stadtmauer Sassaris Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb. dnb.de abrufbar. Die Dissertation wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Regensburg angenommen. Ausgezeichnet mit dem Nachwuchspreis des Deutschen Italianistenverbandes e. V. 2018 © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 2365-3094 ISBN 978-3-8233-9141-8 <?page no="5"?> 5 Inhaltsverzeichnis Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 0 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting . . . 17 1.1 Sprachgeschichte und Sprachlandschaft Sardiniens im Überblick . . . 18 1.1.1 Kurze Sprachgeschichte Sardiniens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.1.2 Sardisch, Algheresisch und Tabarchinisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.1.3 Sardisch-korsische Varietäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.2 Historisches und sozioökonomisches Setting der Explorationspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.2.1 Zur Stadtgeschichte Sassaris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.2.2 Zum historischen Hintergrund Sorsos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1.3 Sassaresisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1.3.1 Belege und Einschätzungen zur Genealogie des Sassaresischen in Vergangenheit und Gegenwart . . . . . . . . . 38 1.3.2 Sprachstrukturelle Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1.3.3 Schriftlichkeit und Sprachbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1.3.4 Zwischenfazit: Ausgangslage des Sassaresischen . . . . . . . . . . . . . . 57 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 1.4.1 Vom Sprachwechsel zum Sprachtod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1.4.2 Faktoren der Sprachumstellung: ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1.4.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod: Kompetenz- und systemlinguistische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2.1 Sprachkompetenz und Sprachgebrauch im Kontext von Sprachwechsel und Sprachverfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2.1.1 Semisprecher: defizitärer Spracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2.1.2 Sprachgebrauch und Sprachbewertung durch Semisprecher . 108 2.2 Eine Theorie des Sprachverfalls? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 <?page no="6"?> 6 Inhaltsverzeichnis 2.2.1 Sprachverfall und Sprachwandel im Allgemeinen im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2.2.2 Strukturelle Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2.2.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2.3 Lautwandel in Sprachverfallskontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2.3.1 Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2.3.2 Verlaufsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2.3.3 Prozesse und Ergebnisse des Lautverfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2.3.4 Zusammenfassung der typischen Lautwandelsymptome im Sprachverfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2.4 Sprachverfall bei sprachstruktureller Verwandtschaft . . . . . . . . . . . . . 162 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen: postuliertes Ausgangssystem und analysierte Lautphänomene . . . . . . . . 167 3.1 Das postulierte Ausgangssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3.1.1 Vokalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 3.1.2 Konsonantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 3.1.3 Sassaresisch / Sorsesisch und (Nordwest-)Logudoresisch . . . . . 181 3.1.4 Abgrenzung Sassaresisch vs. Sorsesisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3.2 Auswahl der Lautvariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 3.2.1 Kriterien der Auswahl der untersuchten Lautphänomene . . . . 195 3.2.2 Vokalische Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 3.2.3 Konsonantische Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 3.3 Das Kontaktsystem ,italiano regionale‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 4 Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4.1 Korpusarbeit: Das Problem der diachronen Vergleichbarkeit . . . . . . 229 4.2 Rahmenbedingungen der Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4.2.1 Kontaktherstellung und Sprecherauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4.2.2 Forscherverhalten und Sprecherreaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 4.2.3 Sprache der Befragung und Taskinstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 4.3 Methodendesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 4.3.1 Soziolinguistischer Fragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 4.3.2 Elizitierung von Spontansprache: Erwartungen und Realität . 241 4.3.3 Allgemeine Aufnahmebedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 4.4 Das Sprachmaterial im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 4.4.1 Semi- und Vollsprecher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 4.4.2 Akkomodation und geschlechtsspezifisches Verhalten in der Aufnahmesituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 4.5 Aufbereitung und Präsentation des Datenmaterials . . . . . . . . . . . . . . . 264 <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis 7 4.5.1 Ohrenphonetische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 4.5.2 Praktikabilität und Lesbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 4.5.3 Selektieren, Sortieren und phonetisches Transkribieren . . . . . . 270 5 Sprecherprofile: Auswertung und Analyse der soziolinguistischen Befragungen und individuellen Sprachaufnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris . . . . . . . . . . . . . . . 275 5.1.1 SASS-SS-2000m . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 5.1.2 SASS-SS-1987m . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 5.1.3 SASS-SS-1986w . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 5.1.4 SASS-SS-1989m . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 5.1.5 SASS-SS-1988m-A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 5.1.6 SASS-SS-1988m-B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 5.1.7 SASS-VS / RS-1950w . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 5.1.8 SASS-VS / RS-1947m . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 5.1.9 SASS / SORS-VS / RS-1960w . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 5. 1. 10 SASS-VS-1956m . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 5.2 Semi- und Vollsprecher des Sorsesischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 5.2.1 SORS-SS-1986w . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 5.2.2 SORS-SS-1989w . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 5.2.3 SORS-SS-1988m-A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 5.2.4 SORS-SS-1988m-B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 5.2.5 SORS-SS-1980w . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 5.2.6 SORS-VS-1981m . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 5.2.7 SORS-VS / RS-1971w . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 5.2.8 SORS-VS-1962m . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 5.2.9 SORS-VS-1955w . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 5. 2. 10 SORS-VS-1957w . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 6 Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 6.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 6.1.1 Vokalische Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 6.1.2 Konsonantische Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 6.2 Semi- und Vollsprecher des Sorsesischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 6.2.1 Vokalische Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 6.2.2 Konsonantische Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 6.3 Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 6.3.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Ausspracheverhalten von Sassaresen und Sorsesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 6.3.2 ,Warm up‘ passiver und eingerosteter Sprachkenntnisse . . . . . 525 <?page no="8"?> 8 Inhaltsverzeichnis 6.4 Erklärungsversuche konvergenten und divergenten Wandels auf der Grundlage endogener und exogener Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . 529 6.4.1 Vokalische Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 6.4.2 Konsonantische Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 6.5 Erklärungsversuche des Erhalts sprachstruktureller Merkmale über die Faktoren Salienz und Sprechereinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 6.5.1 Phonologische Marker: Hybrid- und Hyperformen . . . . . . . . . . . 539 6.5.2 Sprechereinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 6.6 Fazit der Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 7 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 8 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Internetseiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 A) Soziolinguistischer Fragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 A) Dati biografici . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 B) Apprendimento del sassarese e dell’italiano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 C) Uso attuale di diverse lingue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 D) Media . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 E) Identità ed attitudine verso la lingua . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 F) Peculiarità del sassarese / del sorsese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 G) Legame al luogo di residenza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 B) Nummerierte Stimuli zur Einbettung in die Frames . . . . . . . . . . . . . . . . 605 C) Zielwortliste nach Rubattu ( 2 2006), Lanza (1980) und Muzzo (1953, 1955) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 D) Transkriptionsrichtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 GAT 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 Phonetische Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620 Weitere Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620 E) Auszug Map Task-Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620 F) Beispielhafte Sortierung der Tokens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624 Map Task (z. B. Retroflex) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624 Frames (z. B. i-Prothese) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 <?page no="9"?> 9 Danksagung Ich bedanke mich bei meiner Doktormutter Prof. Dr. Maria Selig für die langjährige Betreuung meiner Forschung am Institut für Romanistik der Universität Regensburg, für das angenehme Arbeitsklima sowie ausreichend Freiheiten und Zeit, die die Entwicklung meiner Forschungsfragen und einen kreativen Umgang mit diesen ermöglichten. Ebenso gilt mein Dank meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Daniela Marzo der Ludwig-Maximilians Universität München für ihre konstruktive Kritik, insbesondere zum Ende meiner Arbeit hin. Meine Dissertation hat hierdurch den letzten Schliff erhalten! Frau Prof. Dr. Judith Meinschaefer der Freien Universität Berlin, meiner Mentorin aus dem Mentoring Programm der Universität Regensburg, danke ich für zahlreiche Tipps zum Methodendesign. Auch möchte ich meinen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Romanistik der Universität Regensburg für ihre Diskussionsbereitschaft, ihre motivierenden Worte sowie ihrer Unterstützung bei der Korrektur der Arbeit danken. Die vorliegende Arbeit hätte niemals ohne die finanzielle Unterstützung meiner Forschungsaufenthalte im Jahr 2012 und 2014 entstehen können. Mein Dank gilt daher dem Deutschen Akademischen Austauschdienst ( DAAD ) sowie der Frauenförderung der Universität Regensburg, die mir jeweils für einen einmonatigen Aufenthalt auf Sardinien ein Forschungsstipendium gewährten. Mein größter Dank gilt meinen sassaresischen und sorsesischen Informanten. Ihnen widme ich dieses Buch. Ohne ihre freundliche Unterstützung und Bereitschaft, mir jederzeit als Informanten zur Verfügung zu stehen, hätte diese Arbeit nicht in der vorliegenden Form entstehen können. Persönlich bedanken möchte ich mich insbesondere bei Fabritziu Dettori, Cristina Mura und Hannah Conti, die mir auch nach meinen Forschungsaufenthalten weiterhin zur Seite standen, mich mit aktuellen Informationen rund um Sassari und das Sassaresische versorgten und geduldig Fragen beantworteten, die sich während der Korpusaufbereitung ergaben. Nicht versäumen möchte ich es, allen mir nahestehenden Personen für ihre Nachsicht und Ermutigung zu danken - ganz besonders meinen Eltern. Vorrei esprimere in particolare la mia gratitudine ai parlanti del sassarese e del sorsese per la loro gentilezza e disponibilità nell’aver contribuito alla mia ricerca. Dedico loro questo libro. Senza il loro sostegno e la loro pazienza non ce l’avrei fatta <?page no="10"?> 10 Danksagung a terminare il mio lavoro in modo così soddisfacente. Vorrei ringraziare in modo particolare Fabritziu Dettori, Cristina Mura e Hannah Conti che anche dopo il mio soggiorno in Sardegna mi hanno aiutata procurando informazioni su Sassari e sul sassarese e rispondendo con pazienza alle tante domande che sono sorte durante l’analisi delle registrazioni. Vuraristhia in parthicurari ipricà la gratitudini mea a li ki fabeddani lu sassaresu e lu sussincu pa la gintirezia e dipunibiriddai e pa abé daddu lu cuntributu a kistha tzercha linghisthigga mea. Dedikeggiu a eddi kisthu libru. Kena l’amparu e la pazentzia d’eddi no vi l’abia fatta a cumprì kisthu trabagliu meu in modu cussì appagadori. Vuraristhia turrà gratzie in modu parthicurari a Fabritziu Dettori, Cristina Mura e Hannah Conti ki puru addaboi di l’appusintadda in Sardhigna m’ani daddu l’aggiuddu dendimi infuimmazioni di Sassari e di lu sassaresu e ripundendi cun pazentzia a li tanti prigonti ki ni so isciddi a pizu i l’anarisi di li rigisthazioni. 1 1 Ich danke Fabritziu Dettori für die Übersetzung ins Sassaresische. <?page no="11"?> 11 0 Einführung Gegenstand und Motivation der Forschungsarbeit Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, aktuell im Sassaresischen ablaufende Lautwandelphänomene anhand selbst erhobener Sprachdaten systematisch zu erfassen und den bisherigen Beschreibungen der sassaresischen Phonetik und Phonologie gegenüberzustellen. Die qualitativ ausgerichtete Studie beschäftigt sich mit der Anbzw. Abwesenheit segmentphonetischer Besonderheiten sowie der Ausbildung hybrider und hyperkorrekter Strukturen im Ausspracheverhalten von Semi- und Vollsprechern des Sassaresischen und Sorsesischen. Das selbst erstellte Korpus besteht aus Sprachaufnahmen und soziolinguistischen Befragungen, die im Jahr 2012 und 2014 während eines jeweils einmonatigen Forschungsaufenthalts in Sassari und Sorso durchgeführt wurden. Datengrundlage für die vorliegende Untersuchung sind insbesondere die Aufnahmen und Befragungen, die im Jahr 2014 entstanden sind. Für die vorliegende Arbeit wurden die Datensätze von jeweils zehn Sprechern des Stadtsassaresischen und des Sorsesischen ausgewählt. Hierunter befinden sich mehr Semisprecher als Vollsprecher, da insbesondere Sprachwandelphänomene, die sich im Ausspracheverhalten von imperfekten Sprechern im Sprachverfall manifestieren, den Untersuchungsschwerpunkt der vorliegenden Arbeit bilden. Der Wunsch nach intensiver wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der sassaresischen Sprache entstand bereits während einer vorausgehenden Studie (Linzmeier 2010), die sich der Zusammenschau aktueller Versuche der Standardisierung des Sardischen widmete und die Wahrnehmung dieser seitens der Bevölkerung mithilfe eines soziolinguistischen Fragebogens überprüfen sollte. Als Explorationsraum wurde damals der Nordwesten Sardiniens gewählt, weshalb der Fokus auf der sprachlichen Situation dieser Gegend lag. Die Sichtung der zur Verfügung stehenden Literatur ließ schnell erkennen, dass dem Sassaresisch bislang wenig Aufmerksamkeit in der Forschung zugekommen war und große Intransparenz bezüglich der Genese und sprachstrukturellen Einordnung der hybriden Kontaktvarietät vorherrschte. Zielsetzung und Hintergründe 1) Die Studie versucht zunächst, auf der Grundlage intensiver Quellenarbeit dem Sassaresischen als bislang innerhalb der Sardistik vernachlässigten Forschungsgegenstand einen gleichberechtigten Platz neben den sardischen Varietäten einzuräumen. Die Erforschung der Sprachenvielfalt Sardiniens in Kombination mit <?page no="12"?> 12 0 Einführung der Frage nach aktuellem Sprachwandel erlebte in den letzten Jahren einen regelrechten Boom: Zahlreiche Dissertationen und wissenschaftliche Beiträge beschäftigen sich mit der Problematik des sich auf Sardinien vollziehenden Sprachwechsels und seiner Konsequenzen für das Fortbestehen der sardischen Lokalidiome. Bislang fehlt eine moderne Bestandsaufnahme des Sassaresischen, die es nun gilt, in die bestehende Forschung einzureihen. 2) Mit der vorliegenden Arbeit wird der Versuch der Beurteilung der aktuellen phonetisch-phonologischen Ausgestaltung des Idioms auf der Basis eines selbst erstellten Korpus unternommen. Dies ist ein lang ersehntes Forschungsdesiderat (vgl. z. B. Doro 2001: 8), da bislang sprachhistorische und diachrone Studien vorherrschten. Insbesondere die lautliche Ausdrucksseite der hybriden Kontaktvarietät, die stark vom Italienischen beeinflusst wird, unterliegt aktuell enormen Veränderungsprozessen und bedarf einer Neubewertung vor dem Hintergrund des intensiven Sprachwandels bzw. Sprachverfalls. 3) Die Untersuchung erodierender Sprachen basierte lange Zeit allein auf ihrer Dokumentation vor dem vollständigen Aussterben. Hierzu wurden lediglich Sprecher, die über eine gute Sprachkompetenz verfügten, konsultiert: „Indeed, if any investigation was made of such varieties, it was of their ‘better’ speakers, in an attempt to document a particular speech variety before its ultimate extinction“ ( Jones / Singh 2005: 78). Die eigentlichen strukturellen Phänomene des Sprachtods, die sich lediglich im Prozess des Sprachverfalls im Ausspracheverhalten imperfekter Sprecher manifestieren, können auf diese Weise allerdings nicht erfasst werden. Sie stellen daher das Hauptinteresse der vorliegenden Arbeit dar. 4) Die Studie versucht zwei eng miteinander verwobene, jedoch in der Wissenschaft oftmals separat behandelte Forschungsstränge zu kombinieren, nämlich die Soziolinguistik und die Systemlinguistik. Die Studie folgt der fest in der Forschung etablierten Annahme, dass soziolinguistische Determinanten unmittelbar Einfluss auf den Wandel, Erhalt oder Verlust des Formenbestandes einer Sprache ausüben können. In Kontexten hochdynamischen Sprachkontaktes durch gesellschaftliche Mehrsprachigkeit trifft dies besonders zu. 5) Die Arbeit setzt sich zudem intensiv mit der Relevanz bislang in der Forschung etablierter Erklärungsmodelle des Sprachwandels bzw. -verfalls (z. B. Markiertheit und Sprachkontakt) auseinander und möchte aufzeigen, dass diese insbesondere zur Beschreibung des unerwarteten Erhalts spezifischer Merkmale nicht ausreichend sind und weitere Erklärungsfaktoren (z. B. Salienz) miteinbezogen werden sollten. 6) Dies berücksichtigend folgt die Arbeit einem sprecherzentrierten Ansatz, d. h. die Daten wurden primär qualitativ ausgewertet. Sprachverfall verläuft stets individuell und ist multifaktoriell zu begründen. Hierzu bedarf es einer <?page no="13"?> 0 Einführung 13 detaillierteren Einsicht in die sprecherindividuellen Hintergründe der Sprachverwendung, den Kontext des Spracherwerbs, die Sprachbeurteilung etc. Aufbau der Arbeit Bei der hier vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner im September 2016 an der Universität Regensburg eingereichten Dissertation. Die Arbeit gliedert sich in folgende Kapitel: KAPITEL 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting liefert einen Überblick über die aktuell zum Sassaresischen bestehende Forschungs- und Literaturlage. Der Fokus liegt hierbei zunächst auf der Vorstellung der Sprachgeschichte und Sprachlandschaft Sardiniens sowie dem historischen und sozioökonomischen Setting der Explorationspunkte. Kernstück das Kapitels bildet die Auseinandersetzung mit Quellen zum Sassaresischen aus Vergangenheit und Gegenwart: Im Zentrum steht hierbei einerseits die Beschäftigung mit Fragen nach der Genealogie des Sassaresischen, der sprachstrukturellen Beschaffenheit sowie den soziolinguistischen Variablen der Schriftlichkeit und des Sprachbewusstseins. 1 Andererseits soll das Kapitel über die Einführung methodologischer Grundlagen zum Sprachwechsel und Sprachtod die wesentlichen an der soziolinguistischen Ausgangslage der hybriden Kontaktvarietät beteiligten Faktoren herausarbeiten und Rückschlüsse auf die ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen zulassen. KAPITEL 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod: Kompetenz- und systemlinguistische Überlegungen legt das theoretische Fundament der Arbeit. Zunächst beleuchtet das Kapitel die Sprachkompetenz und den Sprachgebrauch von Semisprechern im Kontext von Sprachwechsel und Sprachverfall. Anschließend beschäftigt es sich mit der Frage nach einer anerkannten Sprachverfallstheorie und berücksichtigt hierbei Parallelen und Unterschiede zu bekannten Sprachwandelprozessen. Anschließend werden strukturelle Veränderungen, die sich im Sprachverfall abzeichnen können, schematisch erfasst. Kernstück des Kapitels ist die Auseinandersetzung mit typischen, in Sprachverfallskontexten beobachtbaren Lautwandelprozessen auf der Grundlage bereits vorhandener Forschungsarbeiten und möglicher Verlaufsmodelle. Zusätzlich werden Prozesse und Ergebnisse des Lautverfalls vorgestellt und die im Sprachverfall generell beobachtbaren Lautwandelsymptome überblicksartig zusammengefasst. Abschließend wird auf die Bedeutung der sprachstrukturellen Nähe der am Wandel beteiligten Idiome näher eingegangen. 1 Eine ausführlichere Darstellung der Kapitel 1.1, 1.2 und 1.3 ist als eigene Publikation in Planung. <?page no="14"?> 14 0 Einführung KAPITEL 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen: postuliertes Ausgangssystem und analysierte Lautphänomene stellt zunächst das sassaresische Vokal- und Konsonantensystem überblicksartig vor und greift hierbei erneut die Diskussion um die Herkunft des Sassaresischen bzw. die Verwandtschaft mit dem Korsischen und seiner spezifischen Lautstruktur auf. Zusätzlich werden insbesondere die für das Stadtsassaresische und Sorsesische bezeugten Abweichungen bzw. Übereinstimmungen mit dem Logudoresischen beleuchtet. Anschließend werden die markantesten Unterschiede des stadtsassaresischen und sorsesischen Lautinventars herausgearbeitet. Kernstück des Kapitels ist die Vorstellung der im Rahmen der vorliegenden Arbeit untersuchten vokalischen und konsonantischen Lautphänomene sowie der Kriterien, die dieser Auswahl zu Grunde liegen. Abschließend wird das Lautrepertoire des italiano regionale di Sardegna näher beschrieben, das in heutiger Zeit als das wichtigste Kontaktidiom der Varietäten des Sassaresischen angenommen werden muss. KAPITEL 4 Methodisches Vorgehen stellt zunächst das Problem der diachronen Vergleichbarkeit von Sprachkorpora und die Notwendigkeit der Erhebung eigener Sprachdaten heraus. Anschließend werden die Rahmenbedingungen der Datenerhebung genauer vorgestellt und die verwendete Methodenkombination aus soziolinguistischem Fragebogen und Sprachelizitierung sowie allgemeine Aufnahmebedingungen detailliert erklärt. Es folgt ein Überblick über das gesammelte Sprachmaterial und die hierbei gewonnenen Beobachtungen zum verbalen, paraverbalen und nonverbalen Verhalten von Semi- und Vollsprechern sowie zu Akkomodation und geschlechtsspezifischem Verhalten in der Aufnahmesituation. In einem letzten Schritt wird das für die Aufbereitung und Präsentation des Datenmaterials angewandte Vorgehen genauer vorgestellt. KAPITEL 5 Sprecherprofile : Auswertung und Analyse der soziolinguistischen Sprecherprofile und individuellen Sprachaufnahmen präsentiert die Ergebnisse der soziolinguistischen Befragungen sowie des Ausspracheverhaltens von insgesamt 20 Semi- und Vollsprechern des Stadtsassaresischen und des Sorsesischen in Form von individuellen Sprecherprofilen. Nach Feststellung der Anbzw. Abwesenheit vokalischer und konsonantischer Lautphänomene, die durch ohrenphonetische Analyse ermittelt und mit dem Hörerurteil einer Semisprecherin des Sassaresischen abgeglichen wurden, schließt jedes Sprecherprofil mit einer Synthese ab, die zusätzlich hyperkorrekte und hybride Ausspracheformen sowie das Phänomen des warm up von Lautregeln berücksichtigt. KAPITEL 6 Synthese fasst die im Rahmen der Analyse der Sprecherprofile erhaltenen Ergebnisse zum Ausspracheverhalten von Semi- und Vollsprechern des Sassaresischen und des Sorsesischen zusammen und thematisiert das Phänomen der Reaktivierung von Sprachwissen ( warm up ). Anschließend werden Erklärungsversuche des konvergenten und divergenten Wandels auf der Grund- <?page no="15"?> 0 Einführung 15 lage endogener Bedingungen und exogener Faktoren angeboten. Besondere Beachtung soll im Anschluss dem Faktor Salienz sowie der Sprechereinstellung zukommen: Hier werden die identifizierten Hybrid- und Hyperformen synthetisiert und anschließend dargestellt, welche Lautvariablen seitens der Sprecher als salient bewertet wurden. KAPITEL 7 und KAPITEL 8 runden die Arbeit mit einem Ausblick und einem zusammenführenden Schluss ab. Hinweise an den Leser An dieser Stelle sei ausdrücklich betont, dass mit der Verwendung der Begriffe Sprachverfall und Sprachtod keinesfalls der Versuch des Aufstellens einer Prognose für die weitere Entwicklung des Sassaresischen verknüpft werden soll. Zur Beschreibung von Situationen des intensiven Sprachwandels lässt sich die Verwendung dieser in der Wissenschaft etablierten Termini kaum vermeiden. Dies steht jedoch einem möglichen Fortbestehen bzw. einer Wiederbelebung des Idioms durch Revitalisierungsprogramme nicht entgegen. Die im Rahmen der Analyse vorgestellten Ergebnisse zur aktuellen Beschaffenheit des sassaresischen Lautsystems führen dem Leser deutlich vor Augen, dass die enorme strukturelle Nähe der in Kontakt stehenden Sprachen nicht nur den Einfluss des Italienischen auf das Sassaresische befördert, sondern auch umgekehrt über das Italienische einen erneuten Kompetenzausbau des Sassaresischen für im Italienischen primärsozialisierte Sprecher ermöglichen kann. Die Forschungsarbeit, die als Untersuchung segmentphonetischer Besonderheiten konzipiert ist, kann dies nicht für die Sprecher des Sassaresischen leisten. Allerdings ist mit der Erstellung des Korpus und dem Einverständnis einiger Sprecher zur Veröffentlichung der Daten zumindest gewährleistet, dass die sassaresische Sprache der Nachwelt ein Stück weit überliefert werden kann - aus Sicht der Sprecher ist dies „[…] at least as important as any other academic contribution“ (Holloway 1997: 199). Gender-Hinweis: Personenbezogene Bezeichnungen werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit zugunsten der Praktikabilität und Lesbarkeit in Form der männlichen Bezeichnungsvariante vereinfacht. Die männliche Form ist folglich als geschlechtsneutral zu verstehen, da sie weibliche Referenten mitumfasst. Veröffentlichung der Sprachdaten: Um das für die vorliegende Arbeit erstellte Korpus für weitere Forschungen nutzbar machen zu können, werden die Transkriptionen der Sprachaufnahmen auf dem Publikationsserver der Universität Regensburg zur Verfügung gestellt (https: / / epub.uni-regensburg.de/ ). Ein beispielhafter Auszug der Transkriptionen befindet sich im Anhang der vorliegenden Arbeit. Ebenso ist geplant, die Sprachaufnahmen der Sprecher, die sich zur Publikation der Daten schriftlich bereit erklärt haben, vollständig bzw. auszugsweise auf diese Weise zugänglich zu machen. <?page no="17"?> 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting Das einführende Kapitel liefert einen zusammenfassenden Überblick über die aktuell zum Sassaresischen bestehende Forschungs- und Literaturlage. Der Fokus liegt hierbei zunächst auf der Vorstellung der Sprachgeschichte und der Sprachlandschaft Sardiniens (Kap. 1.1) sowie dem historischen und sozioökonomischen Setting der Explorationspunkte (Kap. 1.2). Kernstück des Kapitels bildet die Auseinandersetzung mit Quellen zum Sassaresischen aus Vergangenheit und Gegenwart (Kap. 1.3): Im Zentrum steht hierbei einerseits die Beschäftigung mit Fragen nach der Genealogie des Sassaresischen (Kap. 1.3.1), der sprachstrukturellen Beschaffenheit (Kap. 1.3.2) sowie mit den soziolinguistischen Variablen der Schriftlichkeit und des Sprachbewusstseins (Kap. 1.3.3). Hierbei wird schnell deutlich, dass die Sprachgemeinschaft der Sassaresen als minoritäre Gruppe innerhalb einer weiteren auf italienischem Staatsgebiet ansässigen Sprachminderheit, nämlich die der Sprecher des Sardischen, einzuordnen ist. 1 Während jedoch dem Sardischen in der Forschung bislang großes Interesse zukam, gilt für das Sassaresische bis heute, dass es „[t]rotz seiner ausgeprägten Besonderheiten […] in den meisten Handbüchern der Romanistik nicht einmal Erwähnung [findet], geschweige denn, dass es als eigene Sprache klassifiziert würde […]“ (Bossong 2008: 23). Unter dem Dach des prestigeträchtigen Italienischen stehend, das sich längst zur Sprache der Primärsozialisation 1 Minderheitensprachen werden von Sprachminderheiten verwendet. Generell wird zwischen autochthonen Minderheitensprachen und den Sprachen von Migranten unterschieden. „In der romanischen Sprachwissenschaft wird der Begriff ‚Minderheitensprache‘ in der Regel auf minoritäre Idiome innerhalb eines Nationalstaates bezogen […]“ (Blandfort / Wiesinger 2013: 13). Wie Blandfort / Wiesinger weiter betonen, können diese jedoch auch gleichbedeutend mit ‚Kleinsprachen‘ (vgl. z. B. Haarmann 1973) sein und selbst die Rolle einer Staatssprache (mit geringer Sprecherzahl) einnehmen. Ohnehin ist Sprecherzahl kein entscheidendes Kriterium für die Dominanzkonfiguration (vgl. Blandfort / Wiesinger 2013: 13). Fakt ist aber, dass Minderheitensprachen „[…] sich durch die Existenz eines Gegenstücks, einer Mehrheitssprache [definieren]“ (Kürschner 2014: 10), wobei die Begriffe Sprachmehr- und -minderheit oftmals am wahrgenommenen Sozialprestige der Idiome festgemacht werden und maßgeblich von sprachpolitischen Maßnahmen abhängen können (ibid. 12). Vgl. für eine ausführliche Diskussion des Begriffs Dressler (1975), Gsell (1991) und Kürschner (2014). <?page no="18"?> 18 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting entwickelt hat, verliert das Sassaresische sukzessive an Sprechern und gilt mittlerweile als stark bedroht. 2 Dies berücksichtigend soll das vorliegende Kapitel anschließend (Kap. 1.4) über die Einführung methodologischer Grundlagen zum Sprachwechsel und Sprachtod (Kap. 1.4.1) die wesentlichen an der soziolinguistischen Ausgangslage der hybriden Kontaktvarietät beteiligten Faktoren herausarbeiten und Rückschlüsse auf die ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen zulassen (Kap. 1.4.2). 1.1 Sprachgeschichte und Sprachlandschaft Sardiniens im Überblick Das vorliegende Kapitel wird zunächst Einblicke in die Sprachgeschichte Sardiniens geben (Kap. 1.1.1) und sich anschließend den auf Sardinien verbreiteten Idiomen Sardisch, Algheresisch und Tabarchinisch (Kap. 1.1.2) sowie den sardisch-korsischen Varietäten (Kap. 1.1.3) widmen. 1.1.1 Kurze Sprachgeschichte Sardiniens 3 Sardinien wurde in der Bronze- und Eisenzeit von der Nuraghenbevölkerung bewohnt und im 6. Jahrhundert von karthagischen Eroberern eingenommen. Nach dem ersten punischen Krieg folgte eine frühe und lange (238 v. Chr. - 476 n. Chr.) Romanisierung der Insel, die die Ausbreitung des Vulgärlateinischen, aus dem sich das Sardische entwickeln sollte, zur Folge hatte. Von 455-543 v. Chr. beuteten Vandalen die Insel aus, bis Sardinien unter byzantinische Herrschaft geriet, dennoch aber politisch weitestgehend selbstständig blieb (vgl. Wagner [1950] 2002: 54; Lüdtke 2005: 442). Die Insel wurde in die vier Verwaltungseinheiten Cagliari, Arborea, Torres und Gallura unterteilt, die einem Richter ( iudex ) - der die militärische und zivile Gewalt innehatten - unterstellt wurden (vgl. Boscolo 1982: 27; Sanna 2010: 28). In dieser Zeit wurde das Sardische (d. h. Altlogudoresische bzw. Altcampidanesische) offiziell als Sprache der Administration und der Gerichtsbarkeit zur Abfassung von Urkunden, Notariatsakten, Chroniken und Gesetzestexten gebraucht (vgl. Mensching 1992: 11), jedoch weniger als Literatursprache. 4 Ab dem beginnenden 11. Jahrhundert 2 Der UNESCO Atlas of the World’s Languages in Danger bezeichnet das Sassaresische als „definitely endangered“ (Moseley 3 2010: Karte 10). 3 Vgl. Loddo Canepa (1956: 9 f.), Salvi (1973), Sanna (2010: 24-39), Rindler Schjerve (2017) sowie das Kapitel in Linzmeier (2010) zur Sprachgeschichte Sardiniens. 4 Vgl. Tola (2006) und Pittalis (2017) zur Geschichte des Sardischen als Schriftsprache. <?page no="19"?> 1.1 Sprachgeschichte und Sprachlandschaft Sardiniens im Überblick 19 kämpften Pisa und Genua um die Vorherrschaft auf Sardinien. Sie boten militärische, finanzielle und diplomatische Unterstützung und beförderten vor allem urbane und merkantile Entwicklungen (vgl. Sanna 1975: 15; Day 1986: 40 f.). Während Pisa seine Macht vor allem in den Judikaten Gallura, Cagliari und Arborea sowie im Süden der Insel ausbreitete (vgl. Wagner 1932: 136 f.), blieb der Einflussraum der Genueser auf den Norden beschränkt. Sie nahmen jedoch 1288 Sassari ein, das sie zu einem autonomen Kleinstaat umbauten (vgl. ibid. 137). 5 In dieser Zeit fungierte - aufgrund des Einflusses Pisas - das Toskanische häufig als Kanzleisprache (vgl. Toso 2017a: 139), während der Gebrauch der sardischen Varietäten zunehmend aus der formalen Schriftlichkeit verdrängt und auf die Mündlichkeit und das literarische Wirken beschränkt wurde (vgl. Loi Corvetto 2000: 146, 150). Zusätzlich kam es ab dem 12. Jahrhundert zu einem starken Zuzug korsischer Einwanderer in die nördlichen Zentren Sardiniens (vgl. Kap. 1.3.1.3). Papst Bonifatius VIII . veranlasste 1297 die Zusammenfassung der Inseln Sardinien und Korsika zum Regnum Sardiniae et Corsicae und überließ sie dem katalanischen Herrscher Jakob II. von Aragonien als Lehen (vgl. Sanna 2010: 32). In Folge dessen übernahm das Katalanische (zunächst neben dem Toskanischen) die Rolle der offiziellen Staats-, Verwaltungssowie Kirchensprache (vgl. Blasco Ferrer 1986: 72). Das Sardisch konnte nur mehr als Protokollsprache fortleben (vgl. Rindler Schjerve 1987: 40). Im Jahr 1469 wurden die Kronen Kastiliens und Aragoniens zum Königreich Spanien vereint, allerdings vollzog sich die Verwaltung Sardiniens weiterhin von Katalonien aus. Das Katalanische wurde erst spät, d. h. im 17. Jahrhundert, durch das Kastilische ersetzt, denn „[d]as Katalanische war Kanzleisprache auf Sardinien, aber auch die Sprache der gegenseitigen Verständigung zwischen Sardinien, Sizilien und Süditalien und z.T. darüber hinaus“ (Lüdtke 1991: 235). In der vierhundert Jahre andauernden iberischen Herrschaft, in der das Spanische dennoch erst ab dem 17. Jahrhundert die Funktion der offiziellen Sprache übernahm (vgl. Bossong 2008: 228), zeigte sich noch eine intakte diglossische Situation 6 mit einer funktionalen und stratifizierten Trennung des Gebrauchs der verschiedenen Idiome (vgl. Pittau 1975: 19 f.). Während dem Großteil der monolingualen sardischen Bevölkerung der Zugang zur spanischen Sprache verwehrt blieb, bemühte sich die intellektuelle lokale Elite in besonderem Maße, die Sprache und Kultur der herrschenden Schichten zu übernehmen: „l’intellettualità sarda voleva essere spagnola a tutti i costi“ (Turtas 1999: 442). 5 Aus dieser Zeit (1316) stammen die sog. Statuten der Stadt Sassari (vgl. Kap. 1.2.1, 1.3.1). 6 Vgl. Kap. 1.3.3 zur Definition von Diglossie . <?page no="20"?> 20 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting In Folge des Friedens von Utrecht (1713) musste Spanien Sardinien an Habsburg abtreten. Habsburg tauschte bereits 1720 Sardinien gegen Sizilien ein, wodurch Sardinien an Savoyen-Piemont überging (vgl. Wagner [1950] 2002: 57; Bossong 2008: 229). Der Versuch der Sarden, die Piemontesen im Zuge der Rivoluzione Sarda zu vertreiben, scheiterte 1796 und hatte zur Konsequenz, dass die Insel zu einer Provinz Piemonts herabgewirtschaftet wurde (vgl. Salvi 1973: 568-570, 1975: 181-184; Sanna 2010: 36). Bis zum Jahr 1764 wurde jedoch zunächst weiterhin das Spanische als Schul-, Gerichts- und Verwaltungssprache verwendet, bis es durch das Italienische als offizielle Amts- und Bildungssprache abgelöst wurde (vgl. Salvi 1975: 181; Rindler Schjerve 1987: 13). Im Jahr 1861 wurde Sardinien in das neu geschaffene italienische Königreich eingegliedert. Mit dem Aufkommen des Faschismus (1922) erfuhr das vorwiegend landwirtschaftlich geprägte Sardinien eine Modernisierung der Wirtschaftsstrukturen und eine Durchsetzung des Italienischen als Einheitssprache (vgl. Kap. 1.4.2.1). Seit Ende des Zweiten Weltkrieges (1948) ist Sardinien mit den Provinzen Cagliari, Sassari, Nuoro (und seit 1974 Oristano, seit 2005 Olbia-Tempio, Medio Campidano, Ogliastra, Carbonia-Iglesias) - im Zuge der Umsetzung des Artikels 116 der italienischen Verfassung - neben Sizilien, dem Aostatal, Trentino-Südtirol und Friaul-Julisch Venetien eine der fünf autonomen Regionen mit Sonderstatut der Republik Italien. 1.1.2 Sardisch, Algheresisch und Tabarchinisch Die Insel Sardinien gilt aufgrund der Kopräsenz zahlreicher Idiome als Eldorado für Sprachwissenschaftler und fasziniert die Forschung durch ihre „Buntheit der einheimischen Sprachlandschaft“ (Lüdtke 2005: 443). 7 Auf einer Fläche von nur ca. 23.821 km 2 lässt sich eine äußerst komplexe und für den mitteleuropäischen Raum einzigartige Sprachenvielfalt entdecken. Die sprachliche Heterogenität erklärt sich aus den zahlreichen historischen, gesellschaftlichen und politischen Ereignissen, die Sardinien stets im Kontakt mit anderen Kulturen und Herrschaften erlebte. Unter dem Sammelbegriff Sardisch wird meist die Gesamtheit der auf Sardinien gesprochenen nicht-italienischen Dialekte verstanden (vgl. z. B. Rindler Schjerve 1987: 8, 41; Pes 2006: 20) - mit Ausnahme des Algheresischen 8 und 7 Blasco Ferrer (2006: 161) bezeichnet Sardinien im Anschluss an Bottiglioni (1957: 3) als „La Mecca der vergleichenden Sprachwissenschaftler“. 8 In Folge eines Aufstandes der Bevölkerung im Jahr 1354 mussten die autochthonen sardischen und genuesischen Bewohner Algheros auf Befehl des aragonesischen Königs Pedro el Ceremonioso hin die Stadt verlassen. Die Stadt wurde daraufhin durch Katalanen aus verschiedenen sozialen Schichten, die aus Barcelona, Valencia und den Balearen <?page no="21"?> 1.1 Sprachgeschichte und Sprachlandschaft Sardiniens im Überblick 21 des Tabarchinischen 9 , die als alloglotte Sprachinseln stets einer separaten Betrachtung unterzogen werden. Diese Grobfassung ist allerdings problematisch, da mit dieser suggeriert wird, dass auch das Sassaresische und Galluresische als Varietäten des Sardischen zu interpretieren seien. Die beiden Makrovarietäten Logudoresisch und Campidanesisch gelten als die „echtsardischen“ (Wagner [1950] 2002: 283) Varietäten, die insgesamt von ca. 90 % der Bewohner Sardiniens aktiv bzw. passiv beherrscht werden (vgl. Serrenti 2001: 178) und ausgiebig erforscht sind. Burdy (2014: 318 f.) kommt auf der Grundlage demographischer Daten ( ISTAT Juni 2012) 10 und einer soziolinguistischen Studie unter der Leitung von Oppo (vgl. Spiga 2007a: 69) zu dem Ergebnis, dass bei einer Bevölkerungszahl von ca. 1.700.000 Sarden etwas mehr als 1.000.000 aktive Kenntnisse und ca. 500.000 passive Kenntnisse des Sardischen aufweisen. Aufgrund der recht großen Sprecherzahl des Sardischen bezeichnet er Sardinien als „[…] la zone la plus consistante de toutes les minorités linguistiques de l’Italie“ (Burdy 2014: 319). Diese beiden Hauptvarietäten zerfallen erneut in zahlreiche Subdialekte. 11 Während das Logudoresische, das wiederum in drei bis vier größere Subvarietäten unterteilt wird (vgl. Pittau 1975: 31; Mensching 1992: 13), zahlreiche archaische Strukturen zeigt, 12 finden sich im Campidanesischen, das eine deutlich geringere diatopische Variation aufweist, 13 vielfach Spuren des kontinentalitalienischen Superstrateinflusses. stammten, neu besiedelt. Auf dieser Grundlage setzte sich das Katalanische als Sprache der Bevölkerung Algheros durch (vgl. Bossong 2008: 226; Toso 2012: 96-98; Dessì Schmid 2017: 461). Das Algheresische - eine mit sardischen, spanischen und italienischen Merkmalen durchsetzte Varietät des Katalanischen - ist heute offiziell als Minderheitensprache Italiens anerkannt (vgl. PI 482 / 1999; Toso 2012: 95 f.). 9 Das Tabarchinische ist ein ligurischer Dialekt, der heute auf den Insel San Pietro und Sant’Antioco gesprochen wird. Ligurische Händler und Korallenfischer siedelten ab Mitte des 16. Jahrhunderts an der Küste Tunesiens sowie auf der Insel Tabarca. Im 18. Jahrhundert wanderten sie aufgrund der Verarmung der Korallbänke, der Überbevölkerung Tabarcas sowie der Gefahr der Versklavung auf die im Südwesten Sardiniens gelegenen Inseln aus, wo sie sich mit zuziehenden ligurischen Familien vermischten (vgl. hierzu insb. Toso 2012, 2017b). 10 Im Jahr 2016 belief sich die Bevölkerungszahl auf 1.658.138 (vgl. ISTAT). 11 Burdy (2014: 335) spricht von 350 Lokaldialekten. Die starke dialektale Zerklüftung zeigt sich sogar in sprachstrukturellen Unterschieden der Mundarten einzelner Dörfer - „[…] tanto che si può dire che ogni città, ogni paese manifesta le proprie peculiarità“ (Virdis 1988: 897). 12 Da jedoch z. B. die sardische Verbalmorphologie zahlreiche Innovationen aufweist, ist die These, das Sardische sei eine konservative Sprache, in Frage zu stellen (vgl. Bossong 1992: 2 f.). 13 Vgl. Pittau (1975: 28-30) für eine Unterteilung des Campidanesischen in weitere Subvarietäten. <?page no="22"?> 22 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting Während es im Falle des Sassaresischen (und Galluresischen) auf der Basis sprachsystematischer und soziolinguistischer Kriterien umstritten ist, ob hierbei von eigenständigen romanischen Sprachen gesprochen werden kann (vgl. Kap. 1.3.2, 1.3.3), gilt der einzelsprachliche Charakter des Sardischen aus sprachwissenschaftlicher Sicht als völlig unumstritten. Aus linguistischer Perspektive erschwert jedoch die starke kleinräumige dialektale Zerklüftung eine genaue Festlegung des Terminus Sardisch , weshalb es sinnvoll ist, ein Kontinuum sardischer Varietäten anzusetzen. Auch in zahlreichen anderen Punkten gestaltet sich die Beschäftigung mit den sardischen Varietäten weniger komplex, etwa wenn es um die Erforschung schriftsprachlicher Quellen geht, die für das Sassaresische in diesem Ausmaß nicht vorliegen. So wurde das logudorese comune , das nur geringfügig durch kontinentalitalienische Varietäten interferiert wurde, frühzeitig als Kirchensprache und in offiziellen Texten verwendet und daher als „quasi-hochsprachliche Varietät“ (Rindler Schjerve 1987: 38), d. h. als repräsentativstes und prestigereichstes Sardisch, wahrgenommen. 14 Allerdings führte die jahrhundertelange Fremdbeherrschung der Insel auch zu Sprachkontaktprozessen und somit zur Aufsplitterung des einst zusammenhängenden sardischen Sprachgebietes sowie ebenfalls zur Minorisierung des Sardischen und Ausschluss des Idioms aus offiziellen Bereichen, d. h. zu einer „[…] incompletezza funzionale del sardo“ (Piredda 2013: 48). Hieraus erklärt sich die lange Zeit fehlende Kodifizierung und der geringe Verschriftlichungsgrad sowie die Wahrnehmung des Idioms als unter dem Dach des Italienischen zu verortender Dialekt („Scheindialektalisierung“ 15 ) im Bewusstsein der Sprecher, die trotz des sprachstrukturellen Abstands 16 zum Italienischen und dem Vorhandensein einer literarischen Tradition lange Zeit spürbar war (vgl. Piredda 2013: 48). Im Zuge der sukzessiven sprachlichen sowie politisch-kulturellen Italianisierung Sardiniens, die insbesondere seit dem 20. Jahrhundert zum Tragen kommt (vgl. Kap. 1.4.2.1), gilt auch das Sardische mittlerweile als gefährdet. 17 Erst seit ein paar Jahren wird bewusst mithilfe von Sprachplanungsmaßnahmen - wie beispielsweise durch die Erarbeitung einer einheitlichen sardischen Schriftsprache ( Limba Sarda Comuna ) im Jahr 2006 - 14 Vgl. Tagliavini ( 6 1982: 388): „Il Logudorese si può dire il Sardo per eccellenza e fu usato dagli scrittori e dai poeti della Sardegna come una specie di volgare illustre.“ So sieht auch Guarnerio (1902-1905: 501) in der logudoresischen Makrovarietät „il sardo per eccellenza“. 15 Vgl. Bossong (2008: 225): „Linguistisch gesehen ist es völlig unstrittig, dass Sardisch eine eigenständige Sprache ist, aber politisch-kulturell wird es eher als >Dialekt< des Italienischen wahrgenommen.“ 16 Vgl. Kap. 1.3.2 zur Definition von Abstand und Abstandsprache . 17 Vgl. Moseley ( 3 2010: Karte 10). <?page no="23"?> 1.1 Sprachgeschichte und Sprachlandschaft Sardiniens im Überblick 23 versucht, den Trend des Sprachrückgangs aufzuhalten, 18 der Scheindialektalisierung entgegenzuwirken und ein allgmeines Umdenken für die sprachliche Sonderstellung Sardiniens, d. h. ein „ripensamento collettivo“ (Rindler Schjerve 2017: 41), zu erreichen. 19 1.1.3 Sardisch-korsische Varietäten Aktuellere Arbeiten und Fallstudien zu den Sprachen Sardiniens stellen zwar die komplexen Sprachverhältnisse heraus, verzichten jedoch meist auf eine eigene Stellungnahme bezüglich der Einordnung der im Norden Sardiniens verbreiteten Idiome Sassaresisch und Galluresisch (mit Maddaleninisch) 20 . Diese Idiome - darunter auch die Übergangsvarietäten Castellanesisch und Sedinesisch - werden von ca. 200.000 Sprechern (aktiv bzw. passiv) beherrscht (vgl. Maxia 2006b: 517, 2010b: 74) 21 und weisen auf allen sprachstrukturellen Ebenen zahlreiche Übereinstimmungen auf, weshalb sie seitens der Wissenschaft oftmals als sardisch-korsische Dialektgruppe 22 zusammengefasst werden. Wie im weiteren Verlauf der Arbeit deutlich werden wird, ist die Etikettierung dieser beiden Idiome - und insbesondere des Sassaresischen - als eigenständige Sprachen deutlich problematischer als für das Sardische, da sich nicht nur die Frage nach dem Vorherrschen eines eigenen Formenbestands komplex gestaltet, sondern auch soziolinguistische und historische Faktoren eine eindeutige Einordnung erschweren. 23 Das Sassaresische und das Galluresische gelten als die „diskutierten“ (Pes 2006: 18) Varietäten, da der Norden Sardiniens durch intensive Migrationsschübe von Korsika aus sowie durch Sprachkontakteinflüsse des Pisanischen und Genuesischen sprachlich derart umgebildet wurde, dass die Zugehörigkeit dieser Varietäten zum Sardischen lange zentrales Thema sprachwissenschaftlicher Auseinandersetzungen war. 18 Vgl. Marzo (2017) zu den bisherigen Normierungsversuchen des Sardischen und Kap. 1.4.2.4. 19 Vgl. Rindler Schjerve (2017) zur aktuellen soziolinguistischen Lage des Sardischen. 20 Das Maddalenino wird in der Forschung weitestgehend dem Galluresischen zugeschlagen. Toso (2012: 10) betrachtet das Maddalenino separat als „[…] appendice della varietà corsa parlata nell’immediato retroterra di Bonifacio, particolarmente esposta al contatto col genovese parlata in quest’ultima località, e diffusasi nell’arcipelago a partire dal Seicento“. 21 Dies entspricht 12 % der Bevölkerung Sardiniens (vgl. Maxia 2006b: 517). 22 Maxia (2009: 34) verweist darauf, dass in der korsischen Linguistik von korsisch-sardischen Varietäten gesprochen wird. 23 Vgl. Linzmeier / Selig (2016). <?page no="24"?> 24 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting Während die Erforschung des Galluresischen bereits etwas früher zu zufriedenstellenden Ergebnissen gelangte, 24 stellt die Schwierigkeit der Klärung des Status des Sassaresischen bis heute den „nervo scoperto dell’identità sarda“ (Paulis 1998: 1208) dar. Heutzutage besteht zumindest unter Linguisten Einigkeit darüber, dass die Rolle des Korsischen in der Herausentwicklung der in Nordsardinien gesprochenen Idiome - insbesondere im Hinblick auf die Ausbildung des Sassaresischen - enorm unterschätzt worden ist. 25 Auch gilt es mittlerweile als erwiesen, dass verschiedene korsische Migrationswellen aus unterschiedlichen Dialektgegenden Korsikas als Grundlage für die Herausbildung des Sassaresischen und des Galluresischen anzusetzen sind (vgl. Maxia 2002b: 59-61) und sich die Idiome auch durch den Einfluss des Logudoresischen, Katalanischen und Kastilischen zusätzlich strukturell weiter voneinander entfernt haben (vgl. Maxia 2009: 70). 26 Bekannt ist heutzutage zudem, dass die sardisch-korsischen Varietäten nicht nur sprachstrukturell vom Sardischen abzugrenzen sind, sondern auch auf der Grundlage der mit ihnen assoziierten Mikroidentität 27 : „Gallurese, sassarese e maddalenino hanno invece storie profondamente diverse, e continuano a riflettere realtà idiomatiche, sociolinguistiche, culturali e identitarie differenti“ (Toso 2012: 10; vgl. Kap. 1.3.3.2). Dass dennoch häufig eine Zuordnung des Sassaresischen und Galluresischen 24 Das Galluresische - eine Varietät des Südkorsischen - wird heute in weiten Teilen Nordostsardiniens gesprochen. Nach einer starken Entvölkerung der Gallura in Folge einer Pestepidemie im ausgehenden Trecento und politischen Umbrüchen förderten die katalanischen Herrscher die Übersiedlung korsischer Gruppen (vgl. Maxia 2006b; Toso 2012: 27). Es bestehen insbesondere große sprachstrukturelle Ähnlichkeiten des Galluresischen mit Dialekten der korsischen Region Sartena (vgl. Maxia 2010a: 42). Die Dialekte Castelsardos und Sedinis sind hingegen als Transitionsvarietäten zwischen dem Sassaresischen und Galluresischen zu klassifizieren (vgl. Maxia 2 2003; insb. Toso 2012: 23-48). 25 Auf dieser Grundlage wird das Sassaresische gelegentlich als korsische Varietät bezeichnet, wie z. B. im UNESCO Atlas of the World’s Languages in Danger , der das Idiom als „an outlying dialect of Corsican“ (Moseley 3 2010: 39) ausweist. Vereinzelt wird diese Zuteilung auch seitens der korsischen Sprachwissenschaft vorgenommen - so z. B. Dalbera-Stefanaggi (2002: 4): „[…] le nord de la Sardaigne (sassarien et gallurien) appartient linguistiquement au même type que la Corse.“ 26 Hiermit ist auch Abeltino (2010) widerlegt, der sich im Gegensatz zu Maxia zugunsten eines gemeinsamen Ursprung der Idiome ausspricht und das Sassaresische als eine erst später mit logudoresischen, korsischen und ligurischen Elementen vermischte Varietät des Galluresischen interpretiert (vgl. Abeltino 2010: 42). 27 Vgl. hierzu Maxia (2009: 73): „In effetti, per avere un quadro più completo della microidentità sardo-corsa che si è venuta formando lungo il corso di parecchi secoli sarebbero necessari degli studi che, oltre ai fatti propriamente linguistici, dessero conto anche delle diverse sfaccettature con cui questa microidentità si manifesta e cioè la musica, il canto, la danza, l’abbigliamento, i prodotti dell’economia tradizionale, la cucina e altri campi che concorrono a formare i concetti di cultura materiale e immateriale.“ <?page no="25"?> 1.1 Sprachgeschichte und Sprachlandschaft Sardiniens im Überblick 25 zum Sardischen erfolgt, kann mit geographischen sowie historischen und politischen Motiven begründet werden (vgl. z. B. Marzo 2011a: 222). An dieser Stelle muss folglich betont werden, dass die Bezeichnung ,Sassaresisch‘ seitens der Forschung bislang uneinheitlich verwendet wurde. Zum einen ist das Sassaresische als abstrakter Sammelbegriff für verschiedene Ausprägungen, d. h. für die Varietäten Sassaris, Sorsos, Stintinos und Porto Torres’ zu verstehen, die in der Provinz Sassari gesprochen werden. Eine sassaresische Standardsprache 28 existiert nach wie vor nicht (vgl. Kap. 1.4.2.4), sondern vielmehr ein Konglomerat verschiedener Varietäten, deren Sprecher allesamt als ,sassaresophon‘ bezeichnet werden. Zum anderen wird das Sassaresische in linguistischen Arbeiten oftmals lediglich als Stadtdialekt Sassaris aufgefasst, insbesondere dann, wenn die Rolle der urbanen Dynamiken Sassaris in der Herausentwicklung des Idioms betont werden soll sowie bei dem Versuch der Abgrenzung der einzelnen sassaresischen Varietäten voneinander (d. h. Sassaresisch vs. Sorsesisch vs. Porto Torrensisch etc.). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werden unter dem Terminus ,Sassaresisch‘ die in Sassari, Sorso, Porto Torres und Stintino verbreiteten Varietäten subsumiert. Bei gesonderter Betrachtung der diatopisch differenzierten Mundarten wird auf folgende Bezeichnungen rekurriert: ,stadtdialektales Sassaresisch‘, ,Stadtsassaresisch‘, ,der Stadtdialekt Sassaris‘, ,die Varietät Sassaris‘ vs. ,das Sorsesische‘, ,die Varietät Sorsos‘, ,der Dialekt Sorsos‘. Im Bereich des Methoden- und Analysekapitel der vorliegenden Arbeit bezieht sich die Bezeichnung ,Sassaresisch‘ jedoch lediglich auf die in Sassari verbreitete Stadtvarietät und wird in Gegenüberstellung zur Bezeichnung ,Sorsesisch‘ verwendet. Auf diese Weise sollen eine Abgrenzung der in den beiden Explorationspunkten Sassari und Sorso gesprochenen Varietäten vorgenommen und die befragten Sprecher einer Ausgangsvarietät zugeteilt werden können. 28 Vgl. hierzu Weisgerber (1996: 260): „Unter Standard kann man verstehen, was gemeinhin als eine Sprache angesehen wird, so wie sie in Wörterbüchern und Grammatiken gesammelt, geordnet, normiert vorliegt und nachgeschlagen werden kann“ (Herv. i. O.). <?page no="26"?> 26 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting Abb. 1: Die Sprachlandschaft Sardiniens (Blasco Ferrer 1986: 14) <?page no="27"?> 1.2 Historisches und sozioökonomisches Setting der Explorationspunkte 27 1.2 Historisches und sozioökonomisches Setting der Explorationspunkte Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Analyse von Sprachdaten, die in zwei sassaresophonen Gemeinden, nämlich Sassari und Sorso, erhoben wurden. Aus diesem Grund soll im Folgenden näher auf das historische und sozioökonomische Setting der beiden Explorationspunkte eingegangen werden. 1.2.1 Zur Stadtgeschichte Sassaris 29 Das Gebiet zwischen den Hügeln der heutigen Umgebung Sassaris und der Küste war bereits zu römischer Zeit bewohnt und wurde als sog. Romàngia bezeichnet. 30 Die ersten Niederlassungen waren einzelne nach Turris Libisonis ausgerichtete Höfe, die die Wasservorkommen und fruchtbaren Täler der Gegend für die Erzeugung von Agrarprodukten nutzten (vgl. Ledda 2002: 5). Erste Belege der Gründung Sassaris finden sich in einem condaghe , einem Handelsregister, des Klosters von San Pietro di Silki aus dem Jahr 1135, in dem die Bezeichnung Jordi de Sassaro auftaucht. Kurze Zeit später findet sich der Name der Kirche Sancti Nicolai de Tathari . 31 Ein weitaus bedeutsamerer Ort des Nordens war in dieser Epoche die römische Gründung Turris Libisonis , das heutige Porto Torres, eine Hafenstadt, die als wichtiger Handelsort florierte. 32 Im frühen Mittelalter wurde Turris zunehmend durch sarazenische Übergriffe bedroht, wodurch sich die ansässige Bevölkerung gezwungen sah, sich in das Landesinnere zurückzuziehen. Die Funktion der Cattedrale di San Nicola als Pfarrkirche ließ das Ansehen Sassaris und den in dieser Zone entstandenen Siedlungsbereich zunehmend wachsen. Ein weiterer, für das Anwachsen des Ortes relevanter Faktor war Sassaris zen- 29 Vgl. zum vorliegenden Kapitel Brigaglia ( 2 1976), Pes (2006: 10-13), Ponzeletti (2009) und Linzmeier (2010). 30 Die Romàngia erstreckte sich ursprünglich über Sorso, Sennori, Sassari und Osilo, Gebiete, in denen sich zuvor römische Siedler niedergelassen hatten: von Lat. Romània , dem von Römern bewohnten Gebiet, in Gegenüberstellung zur Barbària , dem von zunächst nicht romanisierten Sarden bewohnten Gebiet (vgl. Colombi 1999: 14). 31 Dessì (1899: 5) schreibt hierzu im Jahr 1899: „Non è città antica. Nel XI e XII secolo era villaggio di poca importanza e chiamavasi Thathari . Sazzari è chiamata dagli abitanti della parte meridionale dell’isola, mentre i Logudoresi la chiamano Tatari , e Sassari gli altri abitanti della parte settentrionale“ (Herv. i. O.). Der heute gebräuchliche Name Sassari ist eine italianisierte Form der ursprünglichen Bezeichnungen und stammt aus pisanischer Zeit (vgl. Maxia 2006b: 248). Vgl. auch Angius ([1833-1856] 2006: 1415). 32 Für die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts beschreibt Sole (2003: 42) Sassari daher noch als „borgo rurale“. <?page no="28"?> 28 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting trale Lage innerhalb des Judikats von Torres, was zu Aufenthalten der Iudices 33 sowie auch zur Niederlassung pisanischer und genuesischer Händler in der Stadt führte (vgl. Pes 2006: 11): 34 Sembra, dunque, che sia stata la sua stessa crescita spontanea, sollecitata dai fermenti produttivi di un’economia agricola apertasi per la presenza di mercanti genovesi e pisani agli scambi mediterranei (che nel giudicato turritano coinvolgono specialmente il grano e l’orzo, le pelli e i cuoi, la lana e il formaggio), a farla eleggere sul principio del Duecento a sede principale dei giudici. Ed è forse proprio la presenza della corte a rendere più rapida la crescita materiale e morale del centro, che acquista così una più marcata identità e coscienza urbana. (Ortu 2005: 215) Im Jahr 1278 wurde die bereits stark gewachsene Stadt in fünf Pfarrbezirke unterteilt und von einer Stadtmauer umgeben. Im selben Jahr brach das Judikat von Torres unter den Rangeleien der beiden Seemächte Pisa und Genua sowie des Papstes und des Reiches zusammen. Nach einer kurzen Allianz mit Pisa fiel Sassari im Jahr 1288 an die Genueser und ging 1294 ein Bündnis mit der ligurischen Stadt ein. Sassari wurde unter dem Protektorat Genuas libero comune und Genua schickte von nun an jährlich einen Stadtvogt (vgl. Floris 2002: 224). Aus dieser Zeit stammen auch die zunächst auf Lateinisch (1294) und später auf Altlogudoresisch (1316) verfassten Statuten der Stadt Sassari, die die Regelungen der politischen, juristischen und administrativen Angelegenheiten der Stadt festhielten (vgl. Pes 2006: 11). Die Wirtschaft Sassaris und seiner Umgebung war in dieser Zeit vorwiegend landwirtschaftlich, d. h. durch Ackerbau und Viehzucht geprägt: „La città medievale ebbe una vocazione prettamente agricola: l’agricoltura restò a lungo fonte di ricchezza della città fino all’Ottocento, anche se nel Medioevo la città fu insieme un importante mercato locale“ (Ponzeletti 2009: 1743). Sassari selbst nahm zunehmend den Charakter einer wirtschaftlichen Metropole des Mittelalters an, die den Austausch mit der Bevölkerung der umliegenden Dörfer und der genuesischen und pisanischen Bürgerschicht sowie den Handel mit dem Landesinneren und der italienischen Halbinsel vorantrieb (vgl. Pes 2006: 11; Linzmeier / Selig 2016: 164): 35 33 Ponzeletti (2009: 1743): „In quell’epoca il borgo di Sassari divenne luogo di residenza temporanea per il giudice di Torres (la ‘reggia’ sorgeva nell’area dell’attuale via Luzzatti).“ 34 Vgl. Floris (2007a: 390): „[…] in pochi decenni da grosso borgo passò a città e a centro commerciale di notevole importanza, aperto all’influsso di Pisa e di Genova cui era collegato da una crescente rete di traffici“ sowie Sanna (1975: 17): „Modesto centro ancora del secolo XII, per gli sbocchi aperti ai suoi prodotti, divenne in breve una città popolosa […].“ 35 Maxia (2008a: 358, 2010a: 300) und Brigaglia (2009: 1733) sprechen in diesem Kontext von einem melting pot . <?page no="29"?> 1.2 Historisches und sozioökonomisches Setting der Explorationspunkte 29 Questa era Sassari all’inizio del Trecento: una città attiva e vitale che cercava nella legge scritta un punto di riferimento a tutta la vita comunitaria, caratterizzata da una vocazione «urbana», in cui si manifestava la dialettica cittadina, basata sull’incontro fra la popolazione dei dintorni che tendeva a concentrarsi nell’abitato e la potente borghesia d’importazione, genovese e pisana, padrone di terre e legata ai commerci con l’interno e con la Penisola. (Brigaglia 2 1976: 12 f.) Im Gegensatz zu Cagliari, Alghero, Oristano und Iglesias wurde Sassari zu Beginn der anschließenden aragonesischen Herrschaftsepoche (1323-1479) nicht erobert, sondern verbündete sich zunächst mit den Aragonesen (vgl. Conde y Delgado de Molina 1988: 264). Allerdings führte die neue Epoche auch zu einer Beschränkung der Autonomie Sassaris und war gekennzeichnet durch zahlreiche Revolten. So ordnete König Alfonso 1329 die Entvölkerung Sassaris und Neubesiedlung durch katalanische Siedler an. Wenige Jahre später wurde den Vertriebenen jedoch gestattet, in ihre Häuser zurückzukehren. Zahlreiche todbringende Krankheiten und Seuchen suchten Sassari in dieser Zeit immer wieder heim. Nicht unwesentlich war hierbei ein Bauverbot, welches das Errichten von Gebäuden außerhalb der Mauern bis zum Jahr 1830 untersagte. 36 Sassari wurde in dieser Periode auch von den Richtern von Arborea sowie den Doria aus Genua umkämpft. Während der ersten Hälfte des Trecento bildete sich um die Porta Utzeri ein jüdisches Viertel heraus, in dem sich katalanische und aragonesische Juden niederließen (vgl. Bua et al. 2013: 103). Im Jahr 1420 weitete der König die Privilegien und die administrative Autonomie der Stadt sowie der einheimischen Adelsschicht weiter aus, was den Handel im Norden Sardiniens stärkte. Sassari übertraf Cagliari damals an Größe (vgl. Livi 1984: 82) und zeichnete sich durch eine vielschichtige und multikulturelle Gesellschaft aus: „[…] un processo di amalgama tra la popolazione già mista di Sassari (corsi, genovesi, toscani, sardi) e quella catalano-aragonese sopravvenuta“ (Loddo Canepa 1962: 261 f.). Die wirtschaftlichen Strukturen sowie das Stadtbild wurden ebenso durch Händler Kataloniens und Valencias geprägt: Al ceto mercantile originario italiano si affiancò, per poi sostituircisi, quello proveniente dalla Catalogna e dal Valenzano. In città, sulla via principale (antica ruga de codinas , “strada di pietra” cioè “lastricata”, oggi corso Vittorio Emanuele II ) alle case medievali si sostituirono case in stile gotico-catalano, dotate di porticales , ossia portici 36 Vgl. Ponzeletti (2009: 1743): „Il divieto di edificare oltre le mura provocò la saturazione di ogni spazio aperto e dunque la creazione di una condizione igienico-sanitaria di continuo rischio. Di fatto esplodevano periodicamente epidemie di peste e le malattie da scarsa igiene si cronicizzarono nelle classi basse (ma non solo) per tutta l’età spagnola e sabauda“. <?page no="30"?> 30 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting sotto i quali si aprivano le tiendas , le botteghe di artigiani e mercanti. (Ponzeletti 2009: 1745; Herv. i. O.) Im Dezember des Jahres 1527 wurde Sassari von französischen Truppen angegriffen und bis Januar des Folgejahres besetzt gehalten. Diese, wenn auch kurze Periode, war geprägt von zahlreichen Übergriffen auf die Bevölkerung, Plünderungen, Zerstörungen sowie der Verbreitung der Pest. Eine weitere verheerende Pestepidemie brach im Jahr 1582 aus. An diese Zeit erinnert die alljährlich stattfindende Prozession der Candelieri . Zu Beginn des 17. Jahrhunderts führte Erzbischof Antonio Canopolo den Buchdruck in Sassari ein. Im Jahr 1617 gründete Alessio Fontana in Sassari, unter spanischer Herrschaft, die erste Universität Sardiniens. Generell ist das 17. Jahrhundert jedoch eine Zeit der politischen Unruhen und weiterer Epidemien. Die Pest aus dem Jahr 1652 forderte ca. 20.000 Todesopfer, so dass die Bevölkerung auf 5.500 Einwohner dezimiert wurde (vgl. Pes 2006: 11 f.). 37 Mit dem Spanischen Erbfolgekrieg endete im Jahr 1708 die katalanisch-aragonische Herrschaftsepoche nach ca. vier Jahrhunderten. Für Sardinien bedeutete dies drei aufeinanderfolgende Herrschaftswechsel und somit ständige politische und administrative Veränderungen: Mit dem Frieden von Utrecht 1714 gelangte Sardinien bis 1718 an Österreich, fiel schließlich erneut an Spanien und im Jahr 1720 mit dem Vertrag von London endgültig an den Fürsten von Savoien, Vittorio Amedeo II., der den Titel des Königs von Sardinien erhielt. Dennoch bewahrte Sassari noch lange „la caratteristica impronta spagnola“ (Brigaglia 2 1976: 27) und der Austausch zwischen Piemontesern und Sassaresen lief schleppend: „I piemontesi, che portavano un nuovo modo di vedere i rapporti fra potere pubblico e sudditi, trovarono difficoltà a stabilire un dialogo con i sassaresi, fermi alle loro abitudini ormai inveterate […]“ (ibid. 27 f.). Unter der Herrschaft von Carlo Emanuele III . (1730-1773) blühte Sassari in wirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Hinsicht zunehmend auf: 1766 wurde unter dem Minister Giovanni Battista Lorenzo Bogino die Universität wieder geöffnet, die seit jeher Sassaris Rolle als „città-guida del nord Sardegna“ (Montresori 1986: 24) festigte. Auch die wirtschaftliche Entwicklung Sassaris war von regen Handelsbeziehungen mit Genua, Marseille und Toulouse geprägt. Der erfolgreiche Export von Lebensmitteln, Vieh und Leder führte zur Entstehung des neuen Arbeiterviertels Le Conce . Zudem wurden Maßnahmen gegen das Banditenwesen getroffen und das Rechtssystem gestärkt. Bis zum Jahr 1779 37 Vgl. hierzu Brigaglia ( 2 1976: 25): „Il Seicento fu, del resto, un secolo molto triste per Sassari: la carestia, le invasioni di cavallette, il vaiuolo la flagellarono, oltre la peste che, nel 1652, fece, nel territorio del sassarese, quasi 20 mila morti: i superstiti in città non furono più di 5.500.“ <?page no="31"?> 1.2 Historisches und sozioökonomisches Setting der Explorationspunkte 31 stieg die Einwohnerzahl innerhalb von 50 Jahren von 13.720 auf 16.295 (vgl. Pes 2006: 12). Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Stadt Sassari zudem einen erneuten starken Anstieg korsischer Einwanderer zu verzeichnen, die, nachdem Korsika im Jahr 1768 / 69 von Genua an Frankreich verkauft wurde, zu großer Zahl ihre Heimat verließen (vgl. Cesaraccio 1988: 109). Im 19. Jahrhundert wurde die Bahnverbindung nach Porto Torres und Cagliari gebaut. Ebenso wurde die Anbindung an die italienische Halbinsel durch das Einrichten eines regelmäßigen Schiffsverkehrs von Porto Torres und Cagliari aus gestärkt und somit der Handel vorangetrieben. Mit dem Aufheben des Bauverbots wurde ab dem Jahr 1838 erstmals das Gebiet außerhalb der Stadtmauer bebaut, wodurch die Stadt ihre moderne Struktur erhielt. 38 Als Zeichen des Neuanfangs wurde das aragonesische Kastell niedergerissen sowie im Zuge der Vereinigung Italiens die Piazza d’Italia errichtet. Im Jahr 1877 zählte Sassari 30.000 Einwohner, im Jahr 1911 bereits 43.378. Im Unterschied zu Cagliari und Alghero entging Sassari der Bombardierung durch anglo-amerikanische Truppen im Jahr 1943. Die Nachkriegszeit war von einem starken Bevölkerungswachstum (70.137 Einwohner im Jahr 1951) und dem Übergang der Stadt zu einer „città fortemente <terziarizzata>“ (Brigaglia 2 1976: 43) gekennzeichnet. In den 60er und 70er Jahren geriet die traditionelle Landwirtschaft in eine Krise. Es entstand eine Industriezone in der Umgebung Sassaris, insbesondere in Porto Torres, die jedoch in heutiger Zeit an Einfluss verloren hat: „[…] nell’ultimo venticinquennio, aperto dal tramonto dell’industria petrolchimica, la città è entrata in una sorta di crisi silenziosa e si è avvertita la perdita dello status di punto di riferimento per il territorio“ (Ponzeletti 2009: 1747). Ebenso bildeten sich in den 70er Jahren neue, sehr peripher gelegene Viertel heraus, wie z. B. Santa Maria di Pisa (vgl. Bua et al. 2013: 112). Die touristische Erschließung, die ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vorangetrieben wurde, betraf vorwiegend die Küstenorte, die Stadt Sassari allerdings zunächst nur am Rande. So betont Tola (1982): Il grande incremento turistico che si è verificato negli ultimi anni in tutta l’isola interessa solo marginalmente la città di Sassari: il maggior sviluppo si è avuto intorno alla lontana frazione di Stintino, che ora si appresta a chiedere l’autonomia amministrativa, e nel lido di Platamona, che è utilizzato soprattutto dagli stessi sassaresi. (Tola 1982: 246) 38 Vgl. hierzu Brigaglia ( 2 1976: 36 f.): „[…] l’abitato si estese sulle colline e verso gli orti tutt’intorno, sicchè la città perdette rapidamente il suo volto medievale, per acquistarne uno più nuovo e moderno, da cui deriva direttamente quello attuale.“ <?page no="32"?> 32 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting Sassari ist heute mit insgesamt 127.706 Einwohnern (vgl. ISTAT 2016) 39 die zweitgrößte Stadt Sardiniens sowie Hauptstadt der gleichnamigen Provinz mit ca. 334.103 Einwohnern. 40 Das Stadtbild ist einerseits geprägt durch Gebäude und Sehenswürdigkeiten, die im Herzen der historischen Altstadt gelegen sind (wie z. B. der Duomo di San Nicola aus aragonesischer Zeit, zahlreiche Kirchen, Plätze und palazzi ) sowie der hierum entstandenen moderneren Viertel. Das öffentliche Leben spielt sich zum Großteil sowohl auf der Piazza Castello ab, auf der sich heute das höchste Gebäude, der „grattacielo“, erhebt, als auch auf der Piazza d’Italia , die nach wie vor als „salotto cittadino“ (Ponzeletti 2009: 1756) fungiert. Allerdings bekommt das historische Stadtzentrum Sassaris als Ort der Zusammenkunft, des Handels und der Dienstleistungen insbesondere seit den 70er Jahren enorme Konkurrenz: Orte des Zusammenkommens sind zunehmend die Einkaufszentren in Predda Niedda und die etwas entlegeneren Einkaufsstraßen Viale Italia und Via Roma . Auch neu entstandene, weiter entfernte Wohnsiedlungen führen insbesondere in der Gegenwart zu einer Wegorientierung des alltäglichen Lebens vom ursprünglichen Stadtkern (vgl. Pes 2006: 12; Kap. 1.4.2.2). Durch die Universität mit elf Fakultäten und ca. 15.000 Studenten 41 ist Sassari studentisch geprägt und weist zahlreiche Cafés und Kneipen auf. Die Lebensqualität lässt sich als relativ hoch beschreiben, auch wenn insbesondere Jugendliche über unzureichende Angebote und Perspektivlosigkeit klagen (vgl. Pes 2006: 161 f.). Die Infrastruktur und das Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln (Busse, Straßenbahn Sirio ) sind gut ausgebaut und verbinden das Stadtzentrum mit den peripheren Wohnsiedlungen. Zusätzlich weist Sassari ein hohes Angebot an weiterführenden Schulen und Bibliotheken und ein umfangreiches Freizeitangebot auf, das auch aus touristischer Sicht bedeutsam ist. So ziehen neben Ausstellungen, Opern, Theateraufführungen, Konzerten und dem Sardinia Film Festival im Juni, auch das Museo Nazionale G. A. Sanna sowie die alljährlichen Feste Cavalcata Sarda sowie die Discesa dei Candelieri Kulturliebhaber und Touristen an. Allerdings sind verglichen mit anderen sardischen Regionen „[i]n Sassari […] ausländische oder kontinentalitalienische Touristen selten, hier spielt [vielmehr] die Universität eine integrierende Rolle […]“ (Pes 2006: 43). 39 http: / / demo.istat.it/ bilmens2016gen/ index.html [03. 08. 2016]. 40 http: / / www.istat.it/ en/ sardegna/ data? qt=gettableterr&dataset=DCIS_POPRES1&dim=- 130,1,0,182,8,0&lang=1&tr=0&te=1 [03. 08. 2016]. 41 Vgl. die Homepage der Università degli Studi di Sassari: http: / / www.uniss.it [10. 02. 2014]. <?page no="33"?> 1.2 Historisches und sozioökonomisches Setting der Explorationspunkte 33 1.2.2 Zum historischen Hintergrund Sorsos 42 Sorso liegt nur etwa elf Kilometer von Sassari entfernt und erstreckt sich entlang der Küste Marina di Sorso zwischen Porto Torres und Castelsardo. Angesichts der Tatsache, dass das Archiv in Sorso zerstört wurde, ist es nicht einfach, die Geschichte des Ortes exakt zu rekonstruieren (vgl. Gartmann 1967: 10). Die Etymologie des Ortsnamens Sorso (sass. Sossu , sard. Sosso ) ist umstritten. So lässt sich einerseits das lat. Etymon DEORSUM > josso annehmen, das im Condaghe des Klosters von San Pietro di Silki erwähnt wird. 43 In der Corographia Sardiniae von Fara (1838) 44 ist jedoch andererseits der Verweis auf das lat. SURSUM in Form der Bezeichnung Sursa zu finden. Madau Diaz (1972: 11 f.) nimmt an, dass die Siedlung bereits zur Zeit der damals ganz in der Nähe gelegenen Stadt Gelithon existierte. Die Stadt wurde wahrscheinlich von Gelithon, einem Nachkommen des Königs der Ilioti, Iolao, gegründet. Die Gegend um Sorso war folglich bereits in prähistorischer Zeit besiedelt. Unter römischer Herrschaft war das Gebiet bekannt für seinen Öl- und Weinanbau und wies einen erfolgreichen Handel über das Mittelmeer auf. Im Jahr 1020 wurde Sorso zusammen mit der benachbarten Ortschaft Sennori Teil der Baronie Romàngia ( Judikat von Torres). In einem Handelsregister von San Nicola di Trullas wird im 12. Jahrhundert eine Pfarrkirche erwähnt. Nach Zusammenbruch des Judikats fiel Sorso im Jahr 1236 bis zur aragonesischen Herrschaftsübernahme an Sassari. Ende des 14. Jahrhunderts, als auch die Republik Sassari ihre Unabhängigkeit nicht mehr behaupten konnte, wurde Sorso Teil einer durch die Aragonesen geschaffenen Baronie (vgl. Madau Diaz 1972: 17). 1436 erwarb der sassaresische Händler Gonario Gambella die Romàngia für 2.225 alfonsinische Denaren und regierte das Gebiet bis zum 18. Jahrhundert. Sorso wurde somit Großgrundbesitz. Im Jahr 1527, während des französisch-spanischen Krieges, wehrten Sorsesen und Sassaresen erfolgreich die eindringenden französischen Truppen Renzo Orsinis ab (vgl. Madau Diaz 1972: 18; Colombi 1999: 20). Ende des 18. Jahrhunderts, im Jahr 1793, begannen im Norden Sardiniens antifeudale Bewegungen, an denen sich Sorso beteiligte. Nach zahlreichen Re- 42 Vgl. zum vorliegenden Kapitel Gartmann (1967), Madau Diaz (1972), Colombi (1999), Floris (2007b) und Ortu (2009). 43 Diese Bezeichnung könnte sich auf die Lage Sorsos beziehen, das unterhalb der benachbarten Ortschaft Sennori liegt (vgl. Colombi 1999: 18). 44 Fara zitiert nach Ortu (2009). <?page no="34"?> 34 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting volten schaffte König Carlo Alberto das Feudalwesen im Jahr 1839 ab. Von nun an ließen sich zahlreiche großbürgerliche und adelige Familien in Sorso nieder. Ihnen folgten wohlhabende Großbauern und Händler (vgl. Madau Diaz 1972: 43). Sorso zählte im Jahr 1846 3.984 Einwohner (vgl. Angius [1833-1856] 2006: 1646), die vorwiegend traditionelle Berufe im Bereich der Landwirtschaft und des Handwerks ausübten. So dokumentierte der General und Kartograf Alberto della Marmora im Jahr 1860: Sorso è uno dei paesi più considerevoli della Sardegna settentrionale; è un grosso borgo con 4.200 abitanti dediti principalmente alla coltura dell’olivo e della vigna, come anche alla piantagione del tabacco, pianta che riesce benissimo nel suo territorio ed è di buona qualità. Le donne si dedicano all’intreccio dei cestini, delle corde, e fabbricano scope con le foglie del cardo selvatico ( Chamaerops humilis ), che cresce in abbondanza nella parte marittima di questa zona. (Della Marmora [1860] 1997: 175; Herv. i. O.) Neun Jahre später wurden die Verbindungsstraßen zwischen Sassari, Sorso und Castelsardo fertiggestellt (vgl. Madau Diaz 1972: 41). 1876 wurde in Sorso der Landwirtschaftsverband Popolo Sovrano gegründet; 1899 folgte die Gründung der Zeitung La Voce del Lavoratore und 1901 der Halbmonatszeitschrift Il risveglio operaio (vgl. ibid. 43 f.). Das 19. Jahrhundert war jedoch hauptsächlich durch eine starke wirtschaftliche Krise gekennzeichnet. Zahlreiche Grundbesitzer, Landwirte und Bauern verarmten zunehmend. Der erste Weltkrieg führte aufgrund der Versetzung eines Großteils der männlichen Bevölkerung an die Front zu einer zusätzlichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage Sorsos. Zur Zeit des Faschismus erholte sich die Landwirtschaft stetig. Sorso war in dieser Zeit einer der wichtigsten Versorger Sassaris mit landwirtschaftlichen Produkten. Auch die Einführung der Gasbeleuchtungssysteme, der Bau der Bahnverbindung nach Sassari, die Asphaltierung der Straßen, der Bau neuer öffentlicher Gebäude etc. trugen zur Modernisierung des Ortes bei (vgl. Madau Diaz 1972: 45 f.). Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete sich 1949 in Sorso ein Ableger des PCI , der einzig aus landwirtschaftlichen Hilfsarbeitern bestand. Trotz der problematischen Arbeitssituation verbesserten sich indessen die urbanen und ländlichen Strukturen. Gartmann (1967: 7) bemerkt, dass [d]ie günstige Verkehrslage in unmittelbarer Nähe des wichtigen Handelszentrums Sassari und des Hafens von Porto Torres, ein fruchtbarer Boden, ein mildes Klima und eine fleissige Bevölkerung […] Sorso zu einem stattlichen Dorfe von (1954) 9.157 Einwohner wachsen lassen [haben]. <?page no="35"?> 1.2 Historisches und sozioökonomisches Setting der Explorationspunkte 35 Selbst ein erster Anstieg des Tourismus war - insbesondere am Strand von Platamona - zu verzeichnen. Entlang des Küstenstreifens nahm die Bebauung zu, da auch zahlreiche Einwohner Sassaris dort Sommerhäuser erwarben (vgl. Colombi 1999: 7 f.). Seit den 60er und 70er Jahren haben sich die Beschäftigungsstrukturen stark verändert: zum einen durch die petrochemische Industrie im benachbarten Porto Torres und zum anderen durch eine zunehmende tertiäre Ausrichtung Ende der 90er Jahre. Dennoch blieb Sorso nach wie vor mit 1.800 Hektar Weinbaugebiet und Olivenanbau landwirtschaftlich geprägt. So bezeugt Gartmann (1967: 7) noch Ende der 60er Jahre: „Bilden die Sarden im allgemeinen einen stolzen Hirtenstand, so sind die Sorsesen - wie die Sassaresen - ein Volk von sesshaften Wein-, Obst- und Ackerbauern“. Hierdurch unterschied sich Sorso wirtschaftlich auch von Sennori, dem nur ein Kilometer entfernten und logudoresischsprachigen Nachbardorf: Während die Landwirtschaft Sorsos vorwiegend auf den Ackerbau ausgerichtet war, spezialisierten sich die Sennoresen auf den Handel mit Agrarprodukten aus Sorso (vgl. Gartmann 1967: 7; Merella 1972: 55). Jäggli (1959: 11) und Gartmann (1967: 8, 86) stellten zusätzlich anlässlich ihrer Aufenthalte in den 50ern und 60ern in Sennori und Sorso fest, dass viele sennoresische Männer als Bauern, Pächter oder Tagelöhner in Sorso tätig waren. Sorso beherbergt heute ca. 14.712 Einwohner 45 und weist eine relativ gemischte Bevölkerungsstruktur auf. In der Ortschaft befinden sich Grund- und Mittelschulen sowie eine Bibliothek. Das Freizeitangebot ist jedoch begrenzt: Vorhanden sind ein Sportplatz und Hallen, Kinos und Theater fehlen. Durch die unmittelbare Nähe zur Großstadt Sassari hat Sorso in seiner Funktion als Wohnort seine Attraktivität bewahren können (vgl. Kap. 1.4.2.2). Für den Tourismus wird mittlerweile der Küstenstrich Marina di Sorso zunehmend attraktiv. Bedeutsame kulturelle Ereignisse sind die sog. Sagra della melanzana im Juli, das Fest Calici sotto le stelle im August (vgl. Ortu 2009: 1964) und das Fest der Vergine del Noli me tollere am 26. Mai. 45 http: / / demo.istat.it/ bilmens2016gen/ index.html [03. 08. 2016]. <?page no="36"?> 36 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting 1.3 Sassaresisch Das heutige Verbreitungsgebiet des Sassaresischen ist relativ leicht definierbar: Sassaresisch spricht man außer in Sassari, das als Namensgeber des Idioms anzusehen ist, 46 lediglich in Sorso, Porto Torres, Stintino und Teilen der Bergregion La Nurra (vgl. Sanna 1975: 105; Virdis 1988: 898). 47 Der sassaresophone Sprachraum ist jedoch keineswegs als sprachlich homogenes Gebiet zu verstehen, da dieser durch kleinere logudoresischsprachige Gemeinden aufgespalten wird. 48 Laut Spiga (2007a: 69, Tab. 8.2, 2007b: 88, Tab. 10.2) ist von einer aktiven Sprachkompetenz des Sardischen bei 27,3 % der Bewohner des sassaresophonen Sprachraumes auszugehen. Passive Kenntnisse sind bei 40,5 % der Bevölkerungsgruppe in dem genannten Raum vorhanden ( N =575). 49 Sardophon geprägt sind daher nicht nur Städte wie Sassari und Porto Torres, sondern auch kleinere Gemeinden in der Bergregion La Nurra (vgl. Toso 2012: 69). Toso (ibid.) spricht von „[…] una dinamica di ripopolamenti rurali attraverso i quali li Sardi di ri biddi hanno continuato a integrarsi nell’area linguistica sassarese, dando vita a contesti plurilingui […]“ (Herv. i. O.). Auf die heterogen ausgestaltete, aktuelle Sprachsituation der Stadt Sassari wird in Kapitel 1.4.2.2 näher eingegangen. Die Anzahl der Sprecher des Sassaresischen wird unterschiedlich geschätzt: Während Maxia (2017b: 432) von etwas weniger als 100.000 Sprechern ausgeht, haben laut Spiga (2007a: 70, Tab. 8.3) 41,4 % der Befragten ( N =575) aktive Kenntnisse des Sassaresischen, 40,3 % passive und 18,3 % keine. Auch wenn die Sprecherzahl somit keinesfalls gering ausfällt, kam und kommt dem Sassaresischen bislang nur sehr geringes wissenschaftliches Interesse zu. Im Fokus der Sardistik standen und stehen meist die beiden sardischen Makrovarietäten Logudoresischen und Campidanesisch, 50 weshalb - wie auch Toso (2012: 49) 46 Vgl. Maxia (2010a: 26): „Il sassarese prende nome da Sassari, la maggiore città della Sardegna settentrionale.“ 47 Vgl. Maxia (2010a: 26): „La sua area di diffusione comprende anche i centri di Sorso, Porto Torres e Stintino con i relativi territori comunali. Nello stesso dominio rientrano i sobborghi sassaresi di S. Giovanni e Ottava e l’agro della città che si estende su gran parte della Nurra con le borgate di Bancali, La Landrigga, La Corte, La Crucca, Canaglia, Biancareddu, Palmadula, Tottubella e altre minori.“ 48 Dies trifft insbesondere auf die Bergregion La Nurra zu, „[…] où le sassarien n’est pas arrivé à s’imposer totalement“ (Contini 1987: 501). Vgl. Maxia (2012: 24, Fn 4). 49 Laut Spiga (2007a: 70, Tab. 8.5.) gaben 17,9 % der 15 bis 34jährigen Befragten im sassaresophonen Sprachraum, 25,8 % der 35-59jährigen und 43,6 % der über 60jährigen an, Sardisch zu sprechen. 50 Vgl. Maxia (1999: III): „Gli studi sulle varietà dialettali della Sardegna settentrionale non hanno, fino ad oggi, attratto in modo particolare l’interesse degli studiosi. […] Gli studi <?page no="37"?> 1.3 Sassaresisch 37 betont - in Bezug auf das Sassaresische nach wie vor Klärungsbedarf auf vielen Ebenen besteht. Wie aus den ersten Belegen und Einschätzungen in Bezug auf das Sassaresische abzulesen ist, herrscht grundsätzlich die Auffassung einer im Kontext von zahlreichen Sprachkontaktsituationen verschiedener Intensität und Dauer entstandenen Varietät vor, deren indigene Sardizität folglich stark umstritten ist. Hierbei wurde sprachhistorischen Faktoren, die für die Genese des Sassaresischen von Bedeutung gewesen sein können, meist weniger Bedeutung beigemessen. Auch hielten sich lange Zeit Gemeinplätze und Hypothesen zur Herkunft, Entwicklung und zum konkreten Entstehungszeitraum, die auf der Basis der aktuellen Erkenntnislage nicht mehr haltbar sind (vgl. Linzmeier / Selig 2016: 162). Vor allem erschwerte der Mangel an mittelalterlichen Schriftdokumenten die Rekonstruktion der Herausbildung des Sassaresischen und seiner potentiellen diachronen Weiterentwicklung. Dies hat gleichsam zu unterschiedlichen Hypothesen im Hinblick auf die Genese des Idioms geführt sowie zur Vernachlässigung der Sprache in der Wissenschaft. Das Fehlen schriftsprachlicher Quellen lässt sich prinzipiell unter zwei Blickwinkeln erklären. Zunächst ist sicherlich die Tatsache relevant, dass unter katalanischer Herrschaft zahlreiche Archive zerstört wurden, 51 d. h. potentiell vorhandene Dokumente, die in sassaresischer Sprache verfasst worden waren (oder Spuren einer Varietät aufweisen, die auf die Herausentwicklung bzw. Existenz des Idioms schließen lassen), sind uns höchstwahrscheinlich nicht überliefert. Allerdings bleibt auch die Möglichkeit bestehen, dass das sich im Mittelalter herausbildende Sassaresische generell keine oder nur eine geringe Verwendung in der Schriftlichkeit erfahren hatte (vgl. Kap. 1.3.3.1). Melis (2005: 7) spricht auf dieser Grundlage von einer regelrechten „Gelähmtheit“ („ricercatori, versimilmente ‘paralizzati’“) der Forscher, die versuchten, die wesentlichen Dynamiken und Jahrhunderte der Herausbildung des Sassaresischen auszuleuchten und folglich an der Erforschung des Idioms das Interesse verloren oder unterschiedliche Theorien der Genealogie der Sprache entwickelten. Die folgenden Kapitel sollen daher zunächst einen umfassenden Einblick in die bisher zur Genealogie des Sassaresischen bestehenden Forschungen in der relativi al sardo, infatti, hanno catalizzato l’interesse di gran parte dei maggiori linguisti del Novecento.“ 51 Vgl. hierzu Cossu (1968: 50): „Purtroppo un inestimabile patrimonio di libri, carte, pergamene, registri, ecc. venne distrutto in Sardegna o dai dominatori catalani intolleranti del passato, o da eventi bellici, o da incendi o da violenze di cittadini“. Eine weitere Zerstörungswut ist jedoch im 18. Jahrhundert den Bewohnern Sassaris selbst zuzuschreiben: „il 27 aprile 1780, durante la sommossa popolare per mancanza di grano, gli archivi furono barbaramente manomessi, tutti gli stampati e le pergamene gettati per la strada e dati alle fiamme.“ <?page no="38"?> 38 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting Vergangenheit und der Gegenwart geben (Kap. 1.3.1), Überlegungen zur sprachstrukturellen Beschaffenheit des Idioms ermöglichen (Kap. 1.3.2) und historische soziolinguistische Faktoren (Schriftlichkeit und Sprachbewusstsein) näher beschreiben (Kap. 1.3.3). 1.3.1 Belege und Einschätzungen zur Genealogie des Sassaresischen in Vergangenheit und Gegenwart 52 1.3.1.1 Erste (wissenschaftliche) Beschäftigungen mit der sassaresischen Sprache Nachdem bereits ab dem 16. Jahrhundert Berichterstatter, Schriftsteller, Historiker, Reisende und Forscher auf die Existenz eines Idioms, das von nicht-sardischer Prägung zu sein scheint, hingewiesen hatten, 53 nehmen insbesondere ab dem Ende des 18. Jahrhunderts die Stellungnahmen zu Herkunft und sprachsystematischer Einordnung des Sassaresischen zu. Hiermit geht stets die Frage einher, ob das Sassaresische als autochthone (d. h. nach wie vor sardische) bzw. fremde (d. h. importierte) Varietät zu klassifizieren sei. Im letzteren Fall wird insbesondere der sprachliche und kulturelle Kontakt mit Pisanern, Genuesen und Korsen in den Fokus gerückt. Vielfach diskutiert ist daher die Frage, ob die aktuelle Ausgestaltung des Sassaresischen auf den Superstrateinfluss italienischer Varietäten auf das Nordsardische zurückgeht, oder ob dem Sassaresischen eine italienische Basis, die später durch das Logudoresische überlagert worden ist, zugrunde gelegt werden muss. Filosardisti wie z. B. Ascoli (1882-1885), Guarnerio (1902-1905) und Bottiglioni (1919, 1927) stehen daher filoitalianisti wie Spano (1840, 1873), v. Maltzan ([1868] 2002), Costa ([1885] 1992a), Campus (1901) und Bartoli (1903) gegenüber. 54 So legt z. B. Ascoli (1882-1885: 108) „un fondo sardo“ zugrunde und auch Guarnerio (1902-1905: 510) und Bottiglioni (1919: 16, 159, 1927) heben auf der Basis der Phonetik die Sardizität des Sassaressischen (und auch des Galluresischen) hervor. 55 Bei Tola (1850: XXI ) - der die Herkunft des Idioms ebenfalls als 52 Ausführliche Übersichten zur Quellenlage des Sassaresischen finden sich bei Costa ([1909] 1992b), Sassu (1951), Sanna (1975), Dettori (2002), Maxia (2006a / b, 2010a, 2012), Sole (1999, 2003) und Toso (2012); ein detaillierter deutschsprachiger Überblick findet sich bei Pes (2006). Vgl. auch Linzmeier (2010) und Linzmeier / Selig (2016: 162 f.). 53 Vgl. Carrillo (1611: 81), Fuos ([1780] 2000: 198), Smyth ([1828] 1998: 154) und Vuillier ([1893] 2002: 54). 54 Die Termini filosardisti und filoitalianisti werden hier von Maxia (2012: 28) übernommen. 55 Auch Petkanov (1941: 200) spricht in Bezug auf das Galluresische und Sassaresische von „[…] varietà fortemente influenzate dal toscano ma sempre sarde.“ Ebenso führt Pittau (1975: 32) die Präsenz italienischer Strukturen im Sassaresischen ursprünglich auf spätere auf das Sardische wirkende Superstrateinflüsse zurück („dialetto sardo fortemen- <?page no="39"?> 1.3 Sassaresisch 39 „[…] primamente dal sardo volgare frammisto al dialetto côrso e al pisano […]“ interpretiert - lassen sich zudem erste Hinweise auf den volkssprachlichen Charakter der Sprache finden, die er als vorwiegend in der alltagssprachlichen Mündlichkeit verankert sieht und daher als „propriamente plateale “ (ibid. XXII ; Herv. i. O.) bezeichnet. 56 Filoitalianisti wie Spano (1840: XIII ) bezeichnen das Sassaresisch-Galluresische hingegen als „korrumpiertes Italienisch“. Hieran anknüpfend beschreibt von Maltzan (1868) das Sassaresische als „Dialekt des Italienischen“ (v. Maltzan [1868] 2002: 371) von „korsikanisch-genuesische[r]“ Herkunft (ibid. 374). Ebenso ist das Sassaresische für Costa ([1885] 1992a: 51) „una specie di toscano del secolo XIII - corrotto più tardi da un po’ di corso e da molto spagnuolo“. Auch Campus (1901: 3) spricht in Bezug auf die Idiome von „dialetti la cui forma è dovuta in tutto o in parte a lingue romanze estranee all’isola“. 57 In Anlehnung an Bartoli (1903) und Campus (1905) bezeichnet auch Rohlfs (1952: 188) das Sassaresische als „im wesentlichen unsardisch“. Uneinigkeit besteht auch hinsichtlich der Frage, welche nicht-sardischen Kontaktvarietäten an der Herausbildung des Sassaresischen beteiligt waren. Während z. B. für filosardisti wie Ascoli (1882-1885: 107 f.) der Einfluss des còrso meridionale (Sartene) entscheidend ist, ist dieser für Petkanov (1941: 192) „in modo particolare pisano“. Während filoitalianisti wie Costa ([1885] 1992a: 51) und Nurra (1893-1898 in: Costa [1909] 1992b: 801) das Pisanische als Basis des sich herausbildenden Sassaresischen ansehen, sind für Spano (1840: XIII ) die Übereinstimmungen mit dem Korsischen am deutlichsten, für v. Maltzan ([1868] 2002: 373 f.) das Genuesische und Korsische entscheidend und für Campus (1901: 4) das Pisanische und Korsische ausschlaggebend. Auch der Zeitpunkt der Genese des Sassaresischen wird unterschiedlich angesetzt: Während z. B. laut Nurra (1893-1898 in: Costa [1909] 1992b: 801), Costa ([1885] 1992a: 51) und Petkanov (1941: 192) die engen Beziehungen Pisas mit Sardinien im 12.-13. Jahrhundert bewirkt hätten, dass das Pisanische die te italianizzato“), vertritt mittlerweile jedoch Maxias Theorie einer sich auf Sardinien integrierten und weiterentwickelten korsischen Varietät (vgl. hierzu das Interview im Rahmen des Programms Pagine Sarde auf http: / / www.sassari.tv/ video.php? id=306&cat=3 ab min. 32: 57) [10. 02. 2017]. 56 Unter dem Terminus platea ist piazza zu verstehen. Als platea bzw. Platha (de Cotinas) wurde ursprünglich der heutige Corso Vittorio Emanuele bezeichnet (vgl. Costa [1885] 1992a: 81-84), der einen zentralen Verkaufs- und Warenumschlageplatz der Stadt darstellte. 57 Als nicht-sardische, d. h. importierte Varietät wird das Sassaresische u. a. ebenfalls eingestuft von Cetti ([1774] 2000: 69), Cossu ([1799] 2000), Fernow (1808), Porru (1811), v. Reinsberg-Düringsfeld (1869: 399), Nurra (1893-1898 in: Costa [1909] 1992b: 801) und Lausberg ( 3 1969: 55, § 19). <?page no="40"?> 40 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting Basis für die Genese des Sassaresischen bilden konnte, setzt v. Maltzan ([1868] 2002: 373 f.) aufgrund des Bündnisses mit Genua vor der Herrschafsübernahme durch die Aragonesen eine zugrundeliegende genuesische Komponente im sich herausbildenden Sassaresischen an, das letztendlich jedoch erst durch jüngere Migrationsströme aus Korsika seine eigentliche Struktur ausgebildet hätte. Zusätzlich wurde das Sassaresische teils als eigenständige Varietät (vgl. Guarnerio 1902-1905: 502; Bottiglioni 1919: 15), teils als zum Galluresischen gehörender Dialekt klassifiziert (vgl. Spano 1840, [1851] 2004: 35; Ascoli 1882-1885: 107 f.; Hofmann 1885: 3; Campus 1901: 106; Bartoli 1903: 138). 1.3.1.2 Hypothesen der Herausbildung des Sassaresischen aus Sicht der Linguistik im 20. und 21. Jahrhundert Während sich die ersten, an der Sprachsituation Sardiniens interessierten Forscher und Wissenschaftler vom 16. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts prinzipiell lediglich um eine Klassifizierung des Sassaresischen als sardische bzw. nichtsardische Varietät bemühen und vereinzelt mit der Frage nach dem Ursprung der Sprache beschäftigen (Pisanisch? Genuesisch? Korsisch? ), entstehen ab dem 20. Jahrhundert erste konkrete Hypothesen zur Herausbildung des Sassaresischen. Die wichtigsten Vertreter dieser Zeit sind Max Leopold Wagner, Antonio Sanna und Leonardo Sole. Wagner, für den das Sassaresische und Galluresische getrennt zu betrachten sind, geht davon aus, dass „[…] der Norden von kontinentalen Einflüssen so überflutet wurde, daß der alte sardische Charakter der Sprache im Wesentlichen einem festländischen gewichen ist […]“ (ibid. 1924: 228). Hierfür verweist er wie bereits v. Maltzan ([1868] 2002: 373 f.) auf die Statuten der Stadt Sassari aus dem Jahr 1316, die zunächst auf Lateinisch verfasst (1295) und anschließend in das Altlogudoresisch übersetzt (1316) wurden. Wagner sieht in der Existenz der sardischen Fassung den Beweis für die ursprünglich sardische Prägung des Nordens und somit eine einstige homogene Sprachsituation Sardiniens (vgl. Wagner [1950] 2002: 277). Die Genese des Idioms setzt er daher erst im 16. Jahrhundert an, d. h. in einem Zeitraum, der infolge von Pestepidemien durch eine starke Dezimierung der Bevölkerung gekennzeichnet war. Das Sassaresische hätte sich demnach auf der Grundlage des Sprachkontaktes unter den überlebenden Pisanern, Korsen und Genuesen entwickelt und das Sardische verdrängt (vgl. ibid. 281). 58 Wagner greift hierbei Costas These eines korrumpierten 58 Diese Vermutung der Entstehung des Sassaresischen infolge einer fast kompletten Entvölkerung des Nordens ist bereits bei Angius zu finden. Allerdings hebt Angius ([1833-1856] 2006: 57, 1428) insbesondere den Einfluss der Korsen hervor, die seit Mitte des 14. Jahrhunderts in Sassari ansässig waren und angeblich in der Lage waren, die Pestepidemien zu überstehen. <?page no="41"?> 1.3 Sassaresisch 41 Toskanischen auf (vgl. ibid. 281). Die Annahme der Entstehung des Sassaresischen als eine sich unter den überlebenden Genuesen, Korsen und Toskanern herausbildende Gemeinsprache ist auf der Grundlage der aktuellsten Erkenntnisse jedoch nicht länger vertretbar (vgl. Pes 2006: 21). Es gibt keinen Grund, so z. B. Maxia (2010a: 60), weshalb nicht-sardische Bevölkerungsgruppen den Epidemien hätten standhalten können, insbesondere auch deshalb, weil die Stadt nie in dem Maße entvölkert wurde wie lange Zeit angenommen. 59 Hinzu kommt, dass sich korsische Einwanderer bereits, wie auch Angius ([1833-1856] 2006) bemerkte, vor dem Ausbruch der Pest im Norden Sardiniens niedergelassen hatten und sich unter ihnen, so Sassu (1951: 33), bereits vor den Epidemiewellen eine neue korsisch-toskanische Varietät herausgebildet hatte. Ebenso sind die Verwendung des Logudoresischen zur Übersetzung der Statuten Sassaris bzw. das generelle Fehlen von schriftsprachlichen Quellen des Sassaresischen kein Beweis für die Nicht-Existenz der Sprache vor dem 16. Jahrhundert (vgl. Kap. 1.3.3.1). Das Sassaresische konnte durchaus in der Mündlichkeit, d.h. z. B. im Rahmen von politischen Diskussionen Verwendung finden: Le discussioni in consiglio si tenevano, con piú verosimile certezza, in volgare sassarese, cioè pisano, altrimenti i podestà, pisani prima e genovesi poi, non avrebbero potuto presiedere un’assemblea in cui fosse adottata una lingua per essi incomprensibile […]. (Cossu 1968: 58) Ebenso unterstreicht Sassu (1963: 14) die Möglichkeit der problemlosen Koexistenz des Sassaresischen neben dem Sardischen: „[i]l dialetto sassarese poteva benissimo coesistere in un’epoca in cui la lingua ufficiale era il sardo […].“ Sanna (1975) sowie im Anschluss Atzori (1985-1987: 155) sehen die Entstehung des Sassaresischen hingegen in der Notwendigkeit einer lingua franca begründet, die sich zur Erleichterung des Handels mit den pisanischen und genuesischen Kaufmännern herausgebildet hätte: Questa è - secondo il nostro parere - l’origine della parlata sassarese; una sorta di lingua ‘franca’ del commercio genovese-pisano con il Logudoro settentrionale, in cui gli elementi italiani si fondevano e si integravano con l’elemento sardo dando luogo ad un ibrido linguistico che ha ereditato i caratteri delle due lingue dimostrandosi vitalissimo anche se in una zona estremamente limitata. (Sanna 1975: 78 f.) Dies hingegen widerspricht, wie u. a. Pes (2006: 23) betont, Wagners und Campus Annahme einer prestigearmen Varietät sowie folglich Tolas (1850) Vermutung 59 Auf der Basis Corridores Arbeit zur Bevölkerung Sassaris (1909), in der er sich auf eine Volkszählung aus dem Jahr 1627 bezieht, folgert Sanna (1975: 54), dass die Vermutung einer kompletten Entvölkerung der Stadt Sassari nicht haltbar ist. <?page no="42"?> 42 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting eines plebeo parlato del volgo , da nach der Theorie Sannas die kommerziellen Beziehungen den wirtschaftlichen Aufstieg einiger sardischer Häuser mit sich brachten („Pertanto, non di un dialetto plebeo si dovrà parlare, ma di dialetto borghese, nato come espressione di una società nuova […]“, Sanna 1975: 29; Herv. i. O.). Im Zuge der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umstrukturierungen, die sich angeblich durch den Kontakt mit den pisanischen und genuesischen Händlern ergaben, sei es notwendig gewesen, auch im Bereich der Sprache eine Umformung im Sinne einer Annäherung an die kontinentalitalienischen Strukturen zu vollziehen (vgl. ibid. 24). Die Bewohner Sassaris hätten die grammatikalischen Strukturen der kontinentalitalienischen Varietäten übernommen, „[…] perché in esse si esprimevano i concetti della nuova economia e dei nuovi rapporti politici e sociali“ (ibid. 24). Diese Hypothese ist, wie bereits Sassu (1963: 19) deutlich machte, jedoch historisch nicht haltbar (vgl. Maxia 2008a: 339; Toso 2012: 56 f.; Kap. 1.3.1.3). Sole (1994: 64 f., 2003: 60) definiert die von Sanna als lingua franca ausgewiesene Sprachvarietät als Pidgin , die sich durch das Zusammentreffen der ersten pisanischen und genuesischen Händler mit Bauern, Sklaven und Freigelassenen herausgebildet (vgl. Sole 1994: 66) und in einer zweiten Phase - infolge der Stabilisierung der Kommunikationsverhältnisse - zu einer Kreolsprache weiterentwickelt hätte (vgl. ibid. 68, 2003: 69). Diese Annahme wird jedoch bislang im Rahmen aktueller Forschungen nicht geteilt (vgl. z. B. Toso 2011: 125, Fn 11). Es ist äußerst fraglich, inwieweit der Sprachkontakt zwischen zwei (oder mehreren) verwandten romanischen Idiomen die Herausbildung eines Pidgin hätte ermöglichen können. Hinzu kommt, dass die typischen soziodemographischen Grundlagen, die entscheidend für die Herausbildung von Pidgin- und Kreolsprachen sind, für die Herausentwicklung des Sassaresischen ganz offensichtlich nicht angesetzt werden können. 60 60 Der Kreolgenese liegt eine äußerst komplexe und extreme Form des Sprachkontakts zugrunde, der sich in der europäischen Kolonialzeit manifestierte, als eine überschaubare aber dominante Gruppe an aus Europa stammenden Kolonialherren und eine Mehrheit an Sklaven, die unterschiedliche afrikanische Sprachen sprachen, aufeinandertrafen. Charakteristisch für die Entstehung von Kreolsprachen ist daher ein massives Machtgefälle zwischen den in Kontakt stehenden Gruppen (vgl. Mutz 2013: 103 f.). Unter diesen Bedingungen bildet sich zunächst ein strukturell stark simplifiziertes Pidgin heraus, das, sobald es von nachfolgenden Generationen als Muttersprache erlernt und strukturell und funktional erweitert wird, als Kreol bezeichnet wird (vgl. Romaine 2 2000: 169). <?page no="43"?> 1.3 Sassaresisch 43 1.3.1.3 Zur aktuellen Forschungslage: das Sassaresische als ,varietà sardo-corsa‘ 61 Dass der oftmals als relevant erachtete, bloße und kurze Kontakt mit dem Pisanischen und Genuesischen als nur eine von mehreren, an der Herausbildung des Sassaresischen beteiligten Komponenten zu interpretieren ist und insbesondere die Beeinflussung durch das Korsische eine Neubewertung erfahren sollte, betont in ausdrücklicher Weise Mauro Maxia in seinen zahlreichen Arbeiten zum Galluresischen und Sassaresischen (vgl. insb. Maxia 2002b, 2006b, 2010a). Zwar wurde der Einfluss des Korsischen in der Forschung nie geleugnet, allerdings ist die Berücksichtigung des Idioms nicht in angemessener Weise in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Sassaresischen eingeflossen: „Sotto il profilo storico la questione della colonizzazione corsa della Sardegna settentrionale durante il medioevo è rimasta a lungo in ombra“ (Maxia 2010a: 41). Die Neubewertung der Rolle des Korsischen kann sich auf folgende Erkenntnisse stützen: 1) Historische Befunde erlauben, die Interferierungskraft, die das Pisanische im frühen Mittelalter ausübte, einzugrenzen. Der Einfluss Pisas und Genuas sollte primär an politische Herrschaftsperioden und somit an überschaubare Zeiträume geknüpft werden (Pisa 12.-14. Jhd., Genua 13.-15. Jhd.), 62 während der korsische Einfluss kontinuierlich spürbar gewesen sein muss (vgl. Maxia 2012: 63; Toso 2012: 52). 2) Mit Maxia ( 2 2003: 53-68, 2006b, 2010a: 43 f., 54-57) werden ab dem Quattrocento verfasste Dokumente und Textfragmente bekannt, die bislang unberücksichtigt geblieben sind. Diese beweisen die frühe Präsenz korsischer Interferenzen in Texten sardischen Ursprungs, wie z. B. in den Statuten Sassaris (vgl. Maxia 2006a: 519, 2010a: 54 f., 210). 63 Durchgängig in sassaresischer Spra- 61 Vgl. hierzu die Zusammenfassung in Linzmeier / Selig (2016: 163-168) sowie das Kapitel zur Sprachgeschichte Sardiniens (Kap. 1.1.1) und zur Stadtgeschichte Sassaris (Kap. 1.2.1). 62 Die pisanische Herrschaft, die sich insbesondere im Cagliaritano und der Gallura auswirkte, erstreckte sich lediglich über 76 Jahre (1258-1324) (vgl. Casula 1992: 303). Auf Anordnung mussten die Pisaner die Stadt Sassari bis 1294 verlassen (vgl. Maxia 2006b: 247). Ihre Präsenz nahm im Regno di Logudoro bereits im Duecento stetig ab (vgl. Maxia 2010a: 58) und sie hinterließen in Sassari kein einziges Dokument in toskanischer Sprache. 63 Maxias (2010a) aktuelle Erkenntnisse stützen sich u. a. auf die Auswertung von Dokumenten aus dem Antico Archivio Regio (Cagliari) und dem Archivio Storico Diocesano di Sassari sowie von Dokumenten des 17. Jahrhunderts aus den Pfarrarchiven Sassaris, Sorsos, Castelsardos, Sedinis, Tempios, Aggius und Calangianus (vgl. Maxia 2009). Ein weiteres Zeugnis, das Aufschluss über die frühe Genese des Sassaresischen geben könnte, ist der Codice di Borutta (vgl. Virdis 1987), eine „copia di un archetipo sassarese“ (Toso 2012: 75, Fn 24) aus dem frühen Quattrocento . <?page no="44"?> 44 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting che verfasste Texte entstehen erst ab dem beginnenden 18. Jahrhundert (vgl. Kap. 1.3.3.1). 3) Die Analyse der in den Archiven liegenden Texte ist aber nicht nur für die Suche nach ersten Anzeichen der Herausbildung des Sassaresischen (in Form nicht-sardischer Einsprengsel) in der Schriftlichkeit wichtig, sondern auch, um die soziale, historische und demographische Situation Sassaris und Nordsardiniens zu begreifen. Anhand onomastischer Untersuchungen 64 lassen sich bereits ab dem 11. Jahrhundert (vgl. Maxia 2002b: 13, 2006b: 37-42, 85, 2010a: 234) 65 und vermehrt ab dem Trecento (ibid. 2006b: 42 f., 2012: 47) 66 korsische Namen und Verweise auf Siedler der Nachbarinsel nachweisen, die auf konstante Einwanderunsgwellen schließen lassen (vgl. Maxia 2002b: 13, 2006b: 10). Die von Maxia untersuchten Quellen, die das 11.-15. Jahrhundert abdecken, belegen, dass 27,5 % der Familiennamen nicht-sardischer Herkunft korsischen Ursprungs sind (vgl. Maxia 2010a: 212 f.). 67 Die im Pfarrbezirk S. Apollinare in Sassari im Jahr 1555 erfassten Familiennamen sind zu 60,6 % korsischen Ursprungs (174 sardische, 376 korsische, 55 italienische, 15 spanische) (vgl. ibid. 295) und stammen zum überwiegenden Teil aus den korsischen Regionen Ajaccio und Sartene (vgl. Maxia 2006b: 110, 2008a: 354). Auch für Sorso nimmt Maxia (2006b: 122) eine erste Besiedlungswelle durch Korsen ab der zweiten Hälfte des Quattrocento an. 68 64 Maxia (2006b) untersuchte zahlreiche historische, veröffentlichte sowie unveröffentlichte Quellen ab dem 11. Jahrhundert im Hinblick auf die Erwähnung korsischer Siedler und Nachnamen (eine Auflistung aller Quellen findet sich in ibid. 23-31). Unter anderem erweisen sich auch nicht-sardische Archive, wie das Archivo de la Corona de Aragón (Barcelona), als aufschlussreich. Auch Meloni (1988: 11) weist eine enorme Präsenz von Korsen im nordsardischen Raum im 14. Jahrhundert auf der Basis von Dokumenten aus dem Archivo de la Corona de Aragón (Barcelona) und dem Archivio di Stato di Cagliari nach. 65 Für eine frühe Präsenz an Korsen sprechen auch seit der Judikatszeit belegte korsischbasierte Toponyme wie Funtana de Corsos, Saltu de Maurelli, Cerbuna (vgl. ibid. 83). Eine „ compartecipazione degli antichi corsi“ (Pintus 2003: 10; Herv i. O.), die sich bereits in judikaler Zeit abzeichnete, ist daher wahrscheinlich (vgl. ibid. 13; Maxia 2010a: 213). 66 Als Quellen dienten hier folgende Dokumente: Generalsynode, Fundo Osuna , Berichterstattungen der Jesuiten, Quinque Libri , weitere Quellen des Settecento . In der Ultima Pax Sardiniae aus dem Jahr 1388 sind bereits 21,2 % an korsischen Nachnamen belegt (vgl. Maxia 2006b: 85). In einem im Archiv Cagliaris aufbewahrten Register, dem C.1, das sich auf die Jahre 1346-1347 bezieht, ist von unterschiedlichen in Sassari ansässigen ethnischen Gruppen die Rede: saceresos , corsos und sarts (vgl. Todde 1986: 276). 67 Lediglich 2,25 % stammen aus dem Ligurischen, und 2,52 % aus dem Toskanischen (letztere primär im südsardischen Raum verbreitet). 68 Aus den Quinque Libri der Pfarrei von San Pantaleo in Sorso (1613-1646) geht hervor, dass von den 745 in den Registern erwähnten Sorsesen 55 % korsische Nachnamen trugen. Das Sterberegister von 1613-1614 lässt auf ähnliche Zahlen schließen (vgl. Maxia 2006b: 111-122). Auch in der Toponymie Sorsos finden sich Hinweise auf die Präsenz <?page no="45"?> 1.3 Sassaresisch 45 Bereits im Cinquecento repräsentierten Korsen und Ligurer 60 % der Bevölkerung Sassaris (vgl. Maxia 2006b: 251). Korsische Immigranten ließen sich in Nordsardinien als zusammenhängende Gruppen nieder (vgl. Maxia 2008a: 355, 2012: 65), ohne die lokale sardische Varietät anzunehmen (vgl. Maxia 2006b: 245). 69 Im Zeitraum vom Cinquecento zum Seicento begann das Korsische, in Sassari, Sorso und weiteren im Norden gelegenen Gemeinden das Logudoresische zu überlagern (vgl. Maxia 2012: 65). Dennoch interferierte das Logudoresische weiterhin die implementierten korsischen Varietäten und bedingte hiermit eine zunehmende, strukturelle Distanzierung von den auf Korsika verbreiteten Varietäten (vgl. Maxia 2009: 70). Mit großer Wahrscheinlichkeit kam der multiethnisch und -lingual geprägten Stadt Sassari bei der Entwicklung des Idioms eine zentrale Rolle zu. Vermutlich breitete sich das sich herausbildende Sassaresische allmählich vom städtischen Milieu ausgehend auf das Umland aus (vgl. Maxia 2009: 70, 2012: 64). Als Gründe für die Übersiedlung nach Sardinien können die politische und wirtschaftliche Unterdrückung sowie Armut und Hungersnöte genannt werden (vgl. Meloni 1988: 9). 70 Auch die Vertreibung der ansässigen sardischen Bevölkerung durch die aragonesischen Herrscher im Jahr 1354 könnte eine Rolle für die Festigung des Korsischen gespielt haben (vgl. Maxia 2006b: 46), da die „corsi filoaragonesi“, die die Aragonesen militärisch bei der Befreiung der Stadt von den Doria zwischen 1347und 1348 unterstützten (vgl. Meloni 1988: 13 f.; Maxia korsischer Siedler (z. B. das Viertel Cabu Cossu ; vgl. ibid. 2009: 35). Korsische Siedlungen sind für das 14. Jahrhundert auch für Bosa, Oristano, Iglesias, Sardara, Sanluri und den umliegenden Dörfern belegt (vgl. ibid. 2002a: 242). Vgl. auch Dokumente des 14. Jahrhunderts in Loddo Canepa (1962). 69 Zeugnisse sind Bezeichnungen für Straßen und Viertel in Sassari ( Carrera di li Cossi, Lu Turrioni, Lu Cunduttu Mannu ) sowie Toponyme, die mithilfe des korsischen Suffixes àra gebildet werden (z. B. Limbara, Tavolara, Molara, Asinara ) (vgl. Maxia 2010a: 44, 63). 70 Mit dem Jahr 1077 begann zunächst die toskanische, d. h. pisanische Herrschaft über Korsika, obgleich auch Genua hartnäckig versuchte, die Insel für sich zu beanspruchen. Nachdem Papst Innozenz III. die Insel zur Hälfte jeweils an Pisa und Genua aufgeteilt hatte, musste Pisa nach der Seeschlacht von Meloria 1284 Korsika an Genua abtreten, das Korsika - nachdem es die Insel für einen kurzen Zeitraum Aragon überlassen musste - bis zur Übernahme durch die französische Herrschaft im Jahr 1768 nach dem Unabhängigkeitskrieg belagerte (vgl. Giacomo-Marcellesi 1988: 822 f.; Goebl 1988: 829 f.; Loi Corvetto / Nesi 1993: 212). Die somit ca. 500 Jahre andauernde genuesische Herrschaft auf Korsika war geprägt von zahlreichen Revolten, Hungersnöten und dem Ausbruch der Pest. All dies mag die Entscheidung zahlreicher Korsen, nach Sardinien überzusiedeln, mit beeinflusst haben. Hinzu kommt, dass der Norden Sardiniens Ende des 13. Jahrhunderts selbst in genuesischen Händen lag und Sardinien und Korsika 1297 zum Regnum Sardiniae et Corsicae zusammengefasst und gemeinsam Aragon unterstellt wurden. <?page no="46"?> 46 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting 2002b: 61 f.), in der Stadt zunächst weiterhin akzeptiert waren. 71 Eine erste intensive Migrationswelle stammt daher aus der Zeit der Bemühungen Aragons, Korsika einzunehmen. Eine zweite Phase fällt mit dem Zeitraum des 30jährigen Krieges zusammen und eine dritte mit der zweiten Hälfte des Settecento , als Frankreich versuchte, neben Korsika auch Sardinien einzunehmen. Dies hatte Migrationsströme in beide Richtungen zur Folge (vgl. Maxia 2002b: 14 f.). Insbesondere die Stadt Sassari war aufgrund ihrer geographischen Nähe zu Korsika - „[…] a metà strada fra il meridione dell’isola maggiore e la vicina Corsica“ (Maxia 2002b: 64) - beliebtes Ziel der korsischen Einwanderer - auch weil es einen regeren Handel und bessere Bildungsmöglichkeiten für die Kinder der wohlhabenderen Korsen bot (vgl. ibid). Für den Großteil der korsischen Einwohner Sassaris muss jedoch angenommen werden, dass diese insbesondere in der Agrikultur, im Hirtenwesen und im einfacheren Handwerk beschäftigt waren. Einige waren im Handel tätig und kamen vereinzelt zu Reichtum und sozialem Ansehen, da sie öffentliche Ämter inne hatten (vgl. Meloni 1988: 11; Galoppini 1989: 79; Maxia 2006b: 37, 46 f., 83-85). 72 Da die mittelalterlichen sozial-demographischen Strukturen und Dynamiken Sassaris und Nordsardiniens jedoch nicht zufriedenstellend rekonstruiert werden können, lassen sich über die ursprüngliche soziale Stratifizierung folglich keine genaueren Aussagen treffen. Ebenso können wir nur darüber spekulieren, welches Prestige dem Idiom innerhalb seiner eigenen Sprechergemeinschaft sowie bei Sprechern anderer Idiome zukam. Der Zusammenhang von Prestigehaftigkeit und Schriftlichkeit, so wie er heutzutage besteht, ist nicht zwangsläufig auf das vorwiegend in der Mündlichkeit und der Mehrsprachigkeit (vgl. Mihm 2010: 11) verhaftete Mittelalter anwendbar (vgl. Linzmeier / Selig 2016: 168, Fn 13), da der Ausschluss einer Sprache aus der Schriftlichkeit in mittelalterlichen Kontexten auch pragmatische und ökonomische Ursachen haben kann, z. B. wenn die Domänen der Schriftlichkeit bereits durch eine andere Sprache besetzt sind (vgl. Kap. 1.3.3.1). 71 In der 1435 durch die Aragonesen überarbeiteten Fassung der Statuten der Stadt Sassari werden in Art. 42 die im Norden Sardiniens lebenden Korsen jedoch als „ribelli, traditori e vagabondi“ sowie „amigos et benevolentes dessos inimicos dessa reali Corona“ bezeichnet (vgl. Maxia 2006b: 245), da auch Korsen im Jahr 1410 an der Seite der Doria und Malaspina gegen die Aragonesen kämpften, die letztendlich aber als Sieger aus dem Kampf hervorgingen. Letztere ergänzten die Statuten der Stadt 1435 um Dekrete, die der harten Bestrafung der Korsen dienten (vgl. Caratelli 2003: 40). Ab 1409 befand sich die komplette Insel in katalanischen Händen. Es war daher nicht mehr notwendig, gute Beziehungen zu den verbündeten Korsen zu erhalten. Zusätzlich gaben die Aragonesen nun endgültig den Versuch auf, Korsika einzunehmen (vgl. Meloni 1988: 29). Die „corsi ormai naturalizzati sassaresi“ wurden in ein Ghetto im Stadtteil Sant’Apollinare verbannt, in dem sich auch die Via dei Corsi befindet. Ihnen war von nun an untersagt, einen Beruf auszuüben und über Besitz zu verfügen (vgl. Caratelli 2003: 41). 72 Vgl. Linzmeier / Selig (2016: 167 f., Fn 13). <?page no="47"?> 1.3 Sassaresisch 47 4) Zusätzlich erweisen sich metasprachliche Äußerungen aus dem 16. Jahrhundert als aufschlussreich für die Analyse der historischen Grundlage (vgl. Maxia 2008a: 333-336). Der Katalane Balthasar Pinyes, Rektor des Jesuitenkollegs in Sassari, bezeugte 1561 eine komplexe Sprachsituation in Sassari: „En esta ciudad se hablan quatro o sinco lenguas: quién catalán, quién castellano, quién italiano, quién corso, quién sardo“ 73 , wobei insbesondere eine „lengua por si quasi como corcesca“ 74 im Übergewicht zu sein schien. Der portugiesische Jesuit Francisco Antonio bestätigte die Präsenz des Korsischen im Jahr 1561: „En esta çiudad de Sáçer algunas personas prinçipales hablan mediocremente la española, pero lo común es sardo y corço, o italiano que le es vezino“ 75 . Dennoch tauchte bereits frühzeitig bei Fabio Fabi 1583 der Hinweis auf, dass sich das sich herausbildende Sassaresische im Gegensatz zum Spanischen und Sardischen aufgrund seines geringen Prestiges nicht als Pretigtsprache eignete, denn „[…] la [lingua, L. L.] sassarese ha molta barbarie et la stimano meno che la commune sarda […]“ 76 . 5) Die im Sassaresischen - insbesondere auf phonetischer Ebene - vorherrschende ligurische Komponente kann einerseits durch die Beeinflussung durch das Ligurische im 13. und 14. Jahrhundert (1284-1409) während der Herrschaftszeit des genuesischen Adelsgeschlechts Doria erklärt werden (vgl. Maxia 2006a: 519, 2010a: 209). Andererseits kann sie ebenso das Ergebnis der Implementierung der korsischen Varietät Ajaccios im nordsardischen Raum sein (vgl. Maxia 2006b: 251; Toso 2012: 58, 2017a: 142 f.), was Maxias These des starken Zustroms von Korsen aus der Region um Ajaccio bestätigen könnte. Natürlich ist es nicht unproblematisch, diese beiden Entwicklungsstränge auseinanderzuhalten, denn „la componente ligure già presente nell’area turritana potrebbe avere favorito, in qualche modo, la diffusione di una varietà còrsa a sua volta genovesizzante“ (Toso 2012: 58 f.). 1.3.2 Sprachstrukturelle Überlegungen 77 Die lange Zeit nicht zufriedenstellend beantwortete Frage, ob die aktuelle Ausgestaltung des Sassaresischen das Resultat des Superstrateinfluss italienischer Varietäten auf das Nordsardische darstellt, oder ob von einer italienischen Basis, 73 Zit. nach Turtas (1995: 118). 74 Zit. nach Turtas (1995: 118). 75 Zit. nach Turtas (1981: 61, Fn 7, 1995: 117). 76 Zit. nach Turtas (1995: 180). 77 Vgl. hierzu auch den Überblick über die Phonetik-Phonologie, Morphologie, Syntax und das Lexikon des Galluresischen und des Sassaresischen von Maxia (2017b) sowie Linzmeier / Selig (2016: 168-172). <?page no="48"?> 48 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting die später durch das Logudoresische überlagert worden ist, auszugehen ist, führte bereits frühzeitig zu genaueren Untersuchungen des systemlinguistischen Bereichs des Sassaresischen. Mithilfe von Messungen des sprachstrukturellen Abstandes (vgl. Kloss 1978) 78 des diatopisch wenig variierenden Sassaresischen 79 auf phonetisch-phonologischer, morphologischer, syntaktischer und lexikalischer Ebene versuchte man, die sprachimmanente Nähe bzw. Distanz des Sassaresischen zum Sardischen bzw. Italienischen festzustellen. Diese Diskussion ist die Grundlage der Herausbildung der beiden Lager der filosardisti (wie Guarnerio, Bottiglioni etc.) und filoitalianisti (wie Spano, Campus etc.) und wurde auch in Forschungsarbeiten des 20. und 21. Jahrhunderts (z. B. Wagner, Sassu, Sanna, Sole, Blasco Ferrer etc.) immer wieder aufgegriffen (vgl. Kap. 1.3.1). 80 Allerdings wurden häufig nur einzelne systemlinguistische Teilbereich einer genaueren Betrachtung unterzogen (insb. die Phonetik, vgl. z. B. Guarnerio, Bottiglioni) und auch die Tatsache, dass unter dem Sammelbegriff ,Italienisch‘ teils korsische, teils toskanische oder ligurische Varietäten verstanden wurden, und einige lautliche (insbesondere konsonantische) Phänomene oftmals dem Sardischen und gleichzeitig dem Korsischen zugeschrieben werden können, führte zu unterschiedlichen Ergebnissen (vgl. Linzmeier / Selig 2016: 168-172). Auch modernere Arbeiten liefern kein eindeutiges Ergebnis: Bolognesi / Heeringa (2005) konnten auf der Basis einer dialektometrischen Untersuchung eine - wenn auch nicht sehr deutliche - geringere phonologische, morphologische und lexikalische Distanz des Sassaresischen zum Italienischen (41,3 %) als zum Sardischen (max. 51,1 %) feststellen. Maxias (2010a: 198) Auszählung von Merkmalen der Teilbereiche Phonologie, Morphologie, Syntax und Lexikon lässt darauf schließen, dass 161 der untersuchten Phänomene den italienischen Strukturen entsprechen, 136 den sardischen und 12 den katalanischen und spanischen. Hierbei weisen vor allem Phonologie und Morphologie eine stärkere 78 Weist ein Idiom aufgrund ausreichender struktureller Eigenarten - in Lautung, Morphologie, Syntax und Wortschatz - einen relativ großen Abstand zu anderen Sprachsystemen auf, so spricht man von einer Abstandsprache (Kloss 2 1978: 25, 64). Auch im Falle fehlender schriftsprachlicher Anwendung sollte das Idiom daher als Sprache bezeichnet werden (vgl. ibid. 1987: 302). Vgl. hierzu auch Cooper (1989: 139) sowie Meisenburg / Garbriel ( 2 2014: 62). 79 Diatopische Variation zeigt sich hauptsächlich auf phonetischer und lexikalischer Ebene (vgl. Toso 2012: 64). 80 So überwiegt z. B. laut Sassu (1963: 13) die korsisch-toskanische Seite „[…] sia dal lato fonetico, sia dal lato sintattico, semantico e lessicale“. Auch Paulis (1998: 1216) bezeichnet das Sassaresische und Galluresische auf der Basis der Morphologie, der Syntax und „[…] in parte anche per la fonetica e il lessico […]“ als „[…] fondamentalmente di tipo italiano“. <?page no="49"?> 1.3 Sassaresisch 49 Affinität mit dem Italienischen auf, während Syntax und Wortschatz eher sardisch geprägt sind (vgl. Maxia 2010a: 191). Das Lautinventar des Sassaresischen, auf das an späterer Stelle gesondert und ausführlich eingegangen werden wird (vgl. Kap. 3.1), zeigt sardische wie auch italienische Merkmale (vgl. Sole 1994: 63) sowie insbesondere im Falle des Sorsesischen durch den stetigen Einfluss des Logudoresischen bedingte „Doppelentwicklungen“ (Gartmann 1967: 85). Dennoch entspricht das sassaresische Lautrepertoire größtenteils dem des in Ajaccio und der Umgebung der Stadt gesprochenen Dialektes (vgl. Maxia 2010a: 188). Zusätzlich finden sich - vor allem konsonantische - Merkmale, die das Sassaresische mit dem còrso cismontano und dem Ligurischen teilt (vgl. Toso 2012: 56-62). Maxia nennt 70 Phänomene, die einer nicht-sardischen Linie folgen sowie 47 Fälle von Laut(verbindungen), die die sardische Entwicklung eingeschlagen haben (vgl. Maxia 2010a: 192-195). Die vokalische Seite scheint italienischbasiert zu sein und der korsischen Varietät Taravesisch zu entsprechen (vgl. Contini 1987: 438; Dalbera-Stefanaggi 2002: 88), während das konsonantische Inventar eher dem Sardischen zuzurechnen ist (vgl. Sanna 1975: 94; Atzori 1985-1987: 155). Der Bereich der Morphosyntax gibt weniger Anlass zur Diskussion. Insbesondere die Morphologie zeigt eine deutliche ostromanische Prägung und somit starke Affinität mit italienischen Varietäten (vgl. Ascoli 1904: 105 f.; Campus 1905: 110; Wagner [1950] 2002; Sanna 1975: 95; Sole 1994: 63; Blasco Ferrer 1984, 2002). So ist z. B. die Flexionsmorphologie nicht das Resultat von Hybridisierung, da eines der in Kontakt stehenden Sprachsysteme - nämlich das Toskanisch-Korsische - die Oberhand gewann (vgl. Lüdtke 2005): Die Flexionsendung der 3. Person Plural (z. B. màgnani ) sowie die synthetische Futur- und Konditionalbildung (vs. sard. analytische Bildung) (z. B. sard.-kors. magnaraggiu / magnaría vs. log. apo a mandigare / dia mandigare ; vgl. Ascoli 1904: 106) folgen dem korsischen Muster. Auch der lateinische Konjunktiv Imperfekt ist im Sassaresischen - anders als im Sardisch - nicht bewahrt worden (vgl. Campus 1905: 111 f.). Für eine toskanisch-korsische Prägung spricht auch der Artikel des Sassaresischen aus ILLE (vs. sard. IPSE), die ostromanische Pluralendung i (vs. sard. auf s ), die proklitische Stellung des Possessivpronomens (vs. sard. enklitisch) sowie u. a. die Undeklinierbarkeit einiger Zahlwörter (vs. sard. seit dem Duecento deklinierbar) (vgl. ibid.). Auch Maxia belegt ein Übergewicht italienischer Phänomene (25 vs. 19 sardische und 3 katalanisch-spanische), nennt jedoch zahlreiche Beispiele, die einen doppelten bzw. dreifachen Bildungstyp aufweisen und die Hybridität des Sassaresischen somit auch auf morphologischer Ebene zu erkennen geben (vgl. Maxia 2010a: 186, 195 f.): So ist im Sassaresische neben der synthetischen Konditionalbildung durchaus auch die - wenn auch weniger gebräuchliche - periphrastische möglich: dubé (it. ,dovere‘) + Infinitiv‘ <?page no="50"?> 50 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting (z. B. dia abé , it. ,avrebbe‘). 81 Auch die analytischen Ordnungszahlen wie z. B. lu di dui (it. ,il secondo‘) sowie der Komparativ der Gleichheit und der unpersönliche Imperativ folgende dem sardischen Bildungsmuster. Für den syntaktischen Bereich nennt Maxia (2010a: 186 f.) 20 mit dem Italienischen (Korsisch, Toskanisch, Ligurisch) und 23 mit dem Sardischen übereinstimmende Merkmale und verweist auf zusätzliche katalanische und spanische Lehnübersetzungen. Zum Teil weisen die Formen jedoch ein doppeltes bzw. dreifaches Bildungsmuster auf. Nicht-italienischen Ursprungs sind z. B. einige Formen, die das Sassaresische mit dem Sardischen teilt, wie z. B. die Interrogativformen a veni? , a zi veni? (it. ,vieni? , ci vieni? ‘) oder die Verwendung des Gerundiums: aggiu visthu un lèpparu currendi (it. ,ho visto una lepre che correva‘), soggu vinendi , soggu magnendi (it. ,vengo, mangio‘) (vgl. Sole 1994: 44, 63). Das Lexikon als der sprachsystemische Teilbereich, der aufgrund der Notwendigkeit der Bezeichnung neuer Konzepte eine starke Affinität zur Integration kontaktsprachlichen Materials aufweist und einem ständigen und schnellen Wandel unterliegt, wird auch für das Sassaresische viel diskutiert. Einerseits weist das Sassaresische, als ursprünglich aus Korsika implementierte Varietät, einen Grundstock an korsisch-basierten Lexem auf, andererseits erklärt die seit Anbeginn und kontinuierlich wirkende Verflechtung mit dem Logudoresischen das Vorherrschen zahlreicher Lexeme sardischen Ursprungs (vgl. Toso 2012: 62). Das Vorherrschen der zahlreichen Sardismen sorgt zudem dafür, dass Sprecher des Korsischen das Sassaresische nur teilweise verstehen (vgl. Maxia 2010a: 202). Eine Zuteilung zu vorwiegend einem Diasystem - wie zum Sardischen (vgl. Sanna 1975: 104; Sole 1994: 44) oder eben Italienisch-Korsischen (vgl. Sassu 1951: 71; Pittau 1970: 85; Blasco Ferrer 1984: 185 f., 2002: 431 f.) - ist daher bei der vorherrschenden „partizione quasi paritaria tra voci patrimoniali corse e sardismi“ (Maxia 2010a: 187) wenig sinnvoll. Auch dialektometrische Analysen des Lexikons stützen dies: So liegen zu 50 % Ähnlichkeiten mit dem korsischen Messpunkt am Capo Corso vor (vgl. Wehlmann 1991: 42). Auch Maxias (2006a, 2010a) Untersuchung von insgesamt 18.000 Wörtern des traditionellen Wortschatzes lässt darauf schließen, dass 46 % des lexikalischen Repertoires mit dem italienischen (Korsisch, Toskanisch und Ligurisch) und 47 % mit dem sardischen Wortschatz übereinstimmen. Hinzu kommt ein Anteil von 7 % an Wortschatz katalanischen und spanischen Ursprungs (vgl. Maxia 2006a: 526, 2010a: 190). 82 81 Guarnerio (1896-1898: 196) nennt diese Möglichkeit auch für die Bildung des Futures (z. B. aggiu a dì , it. ,dirò‘), wobei das Hilfsverb - anders als im Sardischen - eher im Futur auftritt (z. B. abaraggiu a cantà ) (vgl. Campus 1905: 111). 82 Vgl. Melis (2005) zum katalanisch-spanischen Superstrateinfluss und Fauli (2012: 19) zu den zahlreichen Französismen, die im 18. Jahrhundert in das sassaresische Lexikon integriert wurden. <?page no="51"?> 1.3 Sassaresisch 51 Laut Ethnologue weist das Sassaresische zu 76 % lexikalische Ähnlichkeiten mit dem Standarditalienischen und zu 73 % mit dem Logudoresischen auf. Die strukturelle Hybridität des Sassaresischen zog in der Forschung Bezeichnungen wie „Mischsprache“ (z. B. Lüdtke 2005: 454), 83 „Mischdialekt“ (z. B. Gartmann 1967: 85), „hybrider Dialekt“ (Wagner [1950] 2002: 281) (vgl. auch „dialetto ibrido“, Atzori 1985-1987: 155; „hybrid dialect“, Jones 1988: 314) nach sich. Auch in der vorliegenden Arbeit wird immer wieder auf die Bezeichnung hybride Varietät zurückgegriffen - hier jedoch im Verständnis von Croft (2003), der sprachliche Hybridisierung für nah verwandte Idiome ansetzt. 84 Die heute meist gebräuchliche Bezeichnung für den Umgang mit dem Sassaresischen ist die als sardisch-korsische Varietät (vgl. Maxia 2012; Toso 2012), die weder dem sardischen noch dem korsischen Diasystem eindeutig zugesprochen werden kann und deren asymmetrische strukturelle Ausgestaltung das Resultat einer multifaktoriell begründbaren Genese ist (vgl. Linzmeier / Selig 2016: 171). Die unausgeglichenen Mischungsverhältnisse bestärken folglich die Annahme mehrerer an der Herausbildung des Sassaresischen beteiligter Varietäten, die für eine gesonderte Betrachtung des Idioms in der Sprachlandschaft Sardiniens sprechen (vgl. auch Bossong 2008: 23). 1.3.3 Schriftlichkeit und Sprachbewusstsein Neben sprachstrukturellen Überlegungen möchte die vorliegende Arbeit auch Einblicke in historisch-soziolinguistische Bereiche liefern und klären, welche Verwendungskontexte, d. h. Interaktionsdomänen 85 , das Sassaresische seit seiner Genese einnahm und in welcher Beziehung die Sprache bislang zu anderen Idiomen stand. Zur Beschreibung der vom Sassaresischen eingenommenen 83 Der Begriff Mischsprache muss hier jedoch als Behelfsterminus interpretiert werden, denn er entspricht keineswegs dem heutzutage in der Linguistik etablierten Konzept der mixed languages oder fused lects , Termini, die seitens der Forschung vorwiegend auf Idiome, die das Resultat asymmetrischer Mischungsprozesse genetisch nicht verwandter Idiome darstellen, angewandt werden (vgl. Gugenberger 2011: 29; Auer 1998: 1, 13, 15). 84 Vgl. hierzu Croft (2003: 49): „True hybridization (including reticulation), with the drawing of arbitrary linguemes from either or any parent, only occurs between closely related languages or in fact dialects.“ Der Begriff hybride Varietät wird grundsätzlich ganz unterschiedlich definiert (vgl. z. B. Erfurt 2005). Vgl. hierzu genauer Mutz (2013: 100). 85 Fishman (1972: 248) definiert den Begriff Domäne wie folgt: „Domains are defined, regardless of their number, in terms of institutional contexts and their congruent behavioral co-occurrences. They attempt to summate the major clusters of interaction that occur in clusters of multilingual settings and involving clusters of interlocutors“ (Herv. i. O.). Pütz (1994: 41 f.) unterscheidet in primäre (Familie, Freundschaft, Nachbarschaft, Religion, Arbeitsplatz) und sekundäre Domänen (Regierung, Verwaltung, Justiz, Erziehung, öffentliche Bereiche). <?page no="52"?> 52 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting Funktionsbereiche bedarf es des Begriffs der Diglossie 86 , der Unterscheidung in Nähe- und Distanzsprache 87 sowie einer näheren Untersuchung des Ausbau- 88 und Implementierungsgrades: Der Ausbau und die Kodifizierung einer Sprache können den funktionalen Radius eines Idioms z. B. durch seine vermehrte Verwendung in der Bildung, der Verwaltung und den Medien von den Näheauf den Distanzbereich - und zwar im Mündlichen wie auch Schriftlichen - ausdehnen. Wenn also Verschriftung (reine Umsetzung in die Graphie) in Verschriftlichung (Distanzsprachlichkeit) einmündet (vgl. Oesterreicher 1993: 271 f.) und die jeweilige Sprache als gleichwertige Schriftbzw. Amtssprache anerkannt wird, kann dies das Sozialprestige der Sprache steigern und in der Wahrnehmung der Sprecher zu einer positiven Einstellung gegenüber dem Idiom führen (vgl. Edwards 1996: 703). Folglich wird auch der Wahrnehmung der Sprache durch die Sprecher und der Sprachidentität im Folgenden Bedeutung beigemessen, denn trotz sprachwissenschaftlich feststellbarer interlingualer Distanz zur Dachsprache kann die Beschränkung eines Idioms auf wenige Verwendungsbereiche im Bewusstsein der Sprecher zur Scheindialektalisierung führen (vgl. Kloss 2 1978; Muljačićs 1983: 29). 86 In einer klassischen Diglossiesituation (vgl. Ferguson 1959: 336) koexistieren die sog. Low-Varieties (hier die Lokalidiome Sardiniens) neben der mit diesen verwandten sog. High-Variety (der offiziellen Sprache), wobei eine komplementäre Verteilung der Verwendungskontexte vorherrschend ist. In dieser Arbeit wird der Terminus nach Vorschlag Fishmans auch für nicht-verwandte Idiome gebraucht ( extended diglossia ) und eher die Frage nach der funkionalen Verwendung der Sprachen sowie nach Monobzw. Bilinguismus in den Vordergrund gestellt (vgl. Fishman 1967: 30 f.). 87 An dieser Stelle sei auf das Nähe-Distanz-Modell von Koch / Oesterreicher ( 2 2011) verwiesen. Durch die Verwendung der Termini Nähesprache und Distanzsprache steht zunächst nicht die mediale Realisierung einer Äußerung im Vordergrund, sondern die jeweilige Kommunikationssituation, in welche die sprachliche Handlung eingebettet ist. Als Bedingungen der Nähehaftigkeit von Kommunikationssituationen nennen Koch / Oesterreicher Privatheit, Vertrautheit, Emotionalität, Situations- und Handlungseinbindung, physische Nähe, Dialogizität und Spontaneität. In diesen Bereichen ist die Affinität zur mündlichen Realisierung sehr groß. Im Gegensatz dazu sind die Aspekte Öffentlichkeit, Fremdheit, fehlende Emotionalität, Situations- und Handlungsentbindung, physische Distanz, Monologizität und Reflektiertheit charakteristisch für die Distanz und häufig Ausgangspunkt für eine graphische Realisierung (vgl. Koch / Oesterreicher 2 2011: 6-10). 88 Die Entwicklung zu einer Ausbausprache verweist auf einen Prozess, dessen Ergebnis eine voll ausdifferenzierte und kodifizierte Sprache ist, die in den meisten kommunikativen Kontexten den funktionalen Ansprüchen ihrer Sprachgemeinschaft genügt. Dank ihres hohen Komplexitätsgrades, ihrer Anerkennung und positiven Bewertung innerhalb der Sprachgemeinschaft wird sie im Nähe- und Distanzbereich verwendet. Häufig erfüllt eine Ausbausprache aufgrund ihrer überregionalen Geltung die Funktion einer Dachsprache für mehrere verwandte oder nicht-verwandte Idiome (vgl. Kloss 2 1978, 1987). <?page no="53"?> 1.3 Sassaresisch 53 1.3.3.1 Schriftlichkeit 89 Das erst späte Aufkommen sassaresischer Schriftzeugnisse ab ca. 1700 galt lange Zeit als Rechtfertigungsgrund einer erst späten Genese des Sassaresischen (z. B. Wagner [1950] 2002: 277). Es ist jedoch durchaus möglich, dass Schriftzeugnisse vorhanden waren, dass diese jedoch im Zuge der Zerstörung der Archive Sassaris im beginnenden 16. und ausgehenden 18. Jahrhundert vernichtet wurden (vgl. Cossu 1968: 50). 90 Auch könnten soziolinguistische Gegebenheiten und die damals im urbanen mehrsprachig geprägten Kontext der mittelalterlichen Stadt Sassari geltenden Machtstrukturen eine Rolle bei der seltenen Verwendung des sich herausbildenden Sassaresischen in der Schriftlichkeit gespielt haben (vgl. Linzmeier / Selig 2016: 164). Es kann angenommen werden, dass insbesondere das Prestige des Logudoresischen (- das bereits in judikaler Zeit als Amts- und Literatursprache gebraucht wurde -), die weit verbreitete Kenntnis des Idioms (vgl. Sassu 1951: 41 f.; Atzori 1985-1987: 155), das auch im Umgang mit sardisch geprägten im politischen Einzugsbereich Sassaris liegenden Gemeinden Verwendung fand (vgl. Sanna 1975: 45; Maxia 2008a: 358) sowie die Tatsache, dass sich die Adelsschicht der Republik Sassari aus logudoresischsprachigen Sarden formte (vgl. Sanna 1975: 27, 80) die Anwendungsbereiche anderer Idiome beschnitten. 91 Neben dem Logudoresischen koexistierte also höchstwahrscheinlich früh zumindest eine weitere, sich sukzessive ausbreitende Sprache. Diese Idiome blieben jedoch aufgrund der obene genannten Gründe im Sinne einer Diglossie komplementär auf verschiedene Gebrauchskontexte bzw. Sprechergruppen verteilt (vgl. Tola 1850: XXI ; Campus 1901: 3). Auf dieser Grundlage scheint es daher weniger plausibel die Nicht-Existenz von Schriftzeugnissen mit einer Nicht-Existenz des sich herausbildenden Sassaresischen zu begründen, sondern vielmehr mit der fehlenden Notwendigkeit der schriftsprachlichen Verwendung des Idioms im Kontext einer mehrsprachigen Situation, die für schriftsprachliche Belange bereits etabliertere und prestigträchtigere Idiome zur Verfügung hatte. Nach dem Zusammenbruch der Judikate, als das Logudoresische seine Rolle als Amtssprache wieder verlor, ergaben sich für das sich herausbildende Sassaresische dennoch nur wenige Chancen, die Verwenungsbereiche einer auf die Mündlichkeit beschränkten Nähevarietät zu überwinden: Auch in der aragonesischen (ab 1322), spanischen (ab 1469) und italienischen Herrschaftsepoche (ab 1720) war es weiterhin die Sprache der jeweiligen Eliten, die die Funktion als Amtssprache erfüllte (vgl. Linzmeier / Selig 2016: 165). 89 Vgl. Linzmeier / Selig (2016: 164 f.). 90 Vgl. Fn 51 in Kap. 1.3 dieser Arbeit. 91 Hinzu kommt, dass sich durch intensive Beziehungen mit Pisa bald auch das prestigeträchtige Toskanische neben das Logudoresische als Kanzleisprache gesellte (vgl. Loi Corvetto 2000: 146). <?page no="54"?> 54 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting Mit einem vermehrten schriftsprachlichen Gebrauch des Sassaresischen ist daher erst spät zu rechnen, wobei dieser auf wenige Diskurstraditionen beschränkt blieb, die keine Einheitsnorm voraussetzten: Mit dem 18. Jahrhundert war ein Anstieg in der Lokaldichtung festzustellen, ab dem 19. Jahrhundert entstanden Bibelübersetzungen und liturgische Texte in sassaresischer Sprache (vgl. Toso 2012: 66) 92 sowie zahlreiche sassaresische Theaterstücke ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. ibid. 67; Kap. 1.4.2.4). Eine Nische, die das Sassaresische in diesem Kontext bis heute für sich beanspruchen konnte, ist die der Satire (z. B. auch in Form der sog. gòbburi , vgl. Fauli 2012: 33). 93 1.3.3.2 Sprachbewusstsein 94 Eine genauere Auseinandersetzung mit den Begriffen Sprachbewusstsein und -identität lässt darauf schließen, dass von einem multipel ausgeformten Zugehörigkeitsgefühl der Sassaresen ausgegangen werden muss: So ist einerseits ein überrregional empfundenes Gefühl der Zugehörigkeit zur sardischen Ethnogruppe anzusetzen sowie andererseits ein eher sprachkulturell geprägtes Identitätsbewusstsein, das an die Herkunftsgemeinde und die dort vorherrschende Mundart gebunden ist. Sassaresen und Sorsesen sind zunächst durchaus auf der Grundlage geographischer, historisch-politischer und kultureller Gemeinsamkeiten, die das Inselgebiet in seiner Gesamtkeit betreffen, der sardischen Ethnogruppe zuzurechnen (vgl. Pittau 1991: 17; Maxia 2010a: 201). Im Rahmen der für die vorliegende Arbeit durchgeführten soziolinguistischen Befragung 95 bejahten 14 der Befragten (≙ 70 %, N =20) folgende Frage: Essere sassarese / sorsese è uguale ad essere sardo? (Frage E6). 96 Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl auf überregionaler Ebene dient natürlich auch der Distanznahme gegenüber der Sprache und Kultur des italienischen Festlandes (sowie auch gegenüber der korsischen Kulturgruppe), behindert aber nicht zwangsläufig die Ausbildung einer zusätzlichen Eigen- 92 Als eines der ersten sassaresischen Schriftdokumente gilt der im Jahr 1857 durch den Erzbischof Alessandro Domenico Varesini in Auftrag gegebene Brevi Catechismu traduziddu da l’italianu par ordini di l’illustrissimu e Reverendissimu D. Alessandru Dominiggu Varesini Arcivescamu Turritanu ecc.ecc.ecc. A usu dilli fideli di Sassari . Maxia (2010a: 61) nennt als eines der ersten Dokumente in sassaresischer Sprache hingegen das Brevi compendiu di la dottrina cristiana aus dem Jahr 1770. 93 Vgl. auch Costa ([1937] 1992c: 1803). 94 Vgl. hierzu Linzmeier / Selig (2016: 175-177). 95 Für die vorliegende Studie wurden jeweils zehn Sprecher aus Sassari und Sorso mithilfe eines soziolinguistischen Fragebogens u. a. zu ihren Sprachkenntnissen (Selbsteinschätzung), den Verwendungskontexten der angestammten Sprache sowie ihrer Einstellung gegenüber dem Idiom befragt. Der Aufbau des Fragebogens sowie die verwendeten Siglen werden in Kapitel 4 erklärt. Der Fragebogen ist in Anhang A zu finden. 96 Die übrigen sechs Sprecher (≙ 30 %) verneinten die Frage. <?page no="55"?> 1.3 Sassaresisch 55 wahrnehmung als ,Italiener‘ (vgl. Sole 1994: 49). Insgesamt zehn der Befragten bejahten Frage E7, zehn verneinten sie (≙ 50 %, N =20): Essere sassarese / sorsese è uguale ad essere italiano? . Eine sehr deutliche Abgrenzung nehmen Sassaresen in Bezug auf Sarden im Hinblick auf ihre Sprache vor (vgl. Spano 1840: XIII ; Guarnerio 1892-1894: 126; Bartoli 1903: 138; Costa [1909] 1992b: 803). Zwar ist grundsätzlich die Überzeugung vorherrschend, dass das Sassaresische keine Varietät des Sardischen sei, allerdings besteht große Unklarheit bezüglich der an der Herausbildung des Sassaresischen beteiligten Sprachen und Varietäten. Auf die Herkunft ihrer angestammten Sprache im Rahmen der soziolinguistischen Befragung angesprochen, 97 äußerten sich die Sprecher unterschiedlich. Zwei der Befragten (≙ 10 %) beschreiben das Idiom als Varietät des Sardischen: SASS - VS / RS -1950w „è una varietà del sardo“ SORS - VS -1955w „varietà del sardo logudorese“ Bei sechs der befragten Sprecher (≙ 30 %) herrscht die Überzeugung vor, dass es sich um keine strukturell eng an das Sardische gebundene Varietät, sondern vielmehr um ein durch komplexe Kontaktprozesse mit anderen Sprachen entstandenes Idiom handeln muss, z. B.: SASS - SS -1989m „varietà tra sardo, genovese, pisano, spagnolo“ SORS - SS -1989w „varietà del gallurese influenzato dal via di mercanti“ SORS - SS -1988m-B „potrebbe essere un miscuglio di toscano, ligure e sardo“ SASS - VS / RS -1947m „dal corso e toscano antico + sardo“ SASS - SS -2000m „è una linga ki à pigliaddu da lu sardhu e da lu còssu“ (it. ,è una lingua che ha preso dal sardo e dal corso‘) SORS - VS -1962m „è una varietà del gallurese-corso-toscano“ 97 Vgl. Frage F16 des soziolinguistischen Fragebogens: Sa come è nato il dialetto sassarese / sorsese? È una varietà del sardo, dell’italiano? altro? Die Mehrzahl der Befragten (11 ≙ 55 %) verneinte die Frage oder ließ sie unkommentiert. <?page no="56"?> 56 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting Ein aus Sorso stammender Informant nimmt das Sorsesische als Ausgangsbasis für das Sassaresische an: SORS - SS -1988m-A „sassarese viene dal sorsese“ Während die an der Genese mitwirkenden Faktoren und die dadurch bedingte synchrone sprachstrukturelle Schichtung einer Sprache nicht ,erlebbar‘ sind und für die Sprecher in den seltensten Fällen bei der Konstituierung der Sprachidentität eine Rolle spielen, 98 lässt sich jedoch sehr eindeutig ein im urbanen Kontext zu verankerndes ethnisch-kulturelles Zugehörigkeitsgefühl der Sassaresen zur Großstadt Sassari und ihrem historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund feststellen (vgl. Toso 2012: 63; Linzmeier / Selig 2016: 176). Über dieses wird das Bewusstsein einer sprachlich-kulturellen ,Andersartigkeit‘ gegenüber den Sprechern des Sardischen dynamisiert. Das gut erhaltene Stadtzentrum, das als „[…] serbatorio di quei valori tipici del sassarese, che costituivano tradizionalmente l’asse portante della cosiddetta identità“ (Sole 1997: 27) seitens der Bewohner wahrgenommen wird, seine traditionellen Feste und stadttypischen Lieder bilden den Kern der sog. Sassareseria , d. h. der Lebensart des alten Sassaris und seiner Bewohner (der sog. sassaresi in ciabi ), seiner Sprache und seines Brauchtums (vgl. Sole 1999, 2003), die bis heute fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der Stadtbewohner sind. Aufgrund der starken sprachlichen und kulturellen Mischungsprozesse, die sich durch Zuzug verschiedenster Gruppen im urbanen Kontext seit jeher vollziehen, ist die Sassareseria jedoch vielmehr Mythos als Realität (vgl. Sole 1997: 28 f.; Kap. 1.4.2.2). Die Sassareseria bildet jedoch nach wie vor einen wichtigen Bestandteil bei der Betonung der ,Andersartigkeit‘ der Sassaresen gegenüber der nicht in Sassari lebenden Sarden. Sorso sowie seine Bewohner und die unter ihnen verbreitete Varietät scheinen vom Mythos der Sassareseria ausgenommen zu sein. Aufgrund der geringen geographischen Entfernung bestanden schon immer enge Beziehungen zwi- 98 Das Sassaresische ist folglich nicht als hybride Varietät im engen Sinne nach Mutz (2013) beschreibbar, da die sprachstrukturelle Vielschichtigkeit des Idioms erst bei eingehender Betrachtung sichtbar wird. Die Hybridität des Sassaresischen ist für ihre Sprecher nicht transparent und folglich nicht relevant. Dies erklärt sich vor dem Hintergrund, dass „[…] sich hybride Formen auch habitualisieren [können]. Auf einer neuen Zeitstufe werden dann von den Akteuren die Kulturen, deren Hybridität sich in einer historischen Entwicklung habitualisiert hat, nicht mehr als hybrid, sondern als eigenständige und wieder ,reine‘ Formen wahrgenommen. Als Hybride lassen sie sich dann nur noch erkennen, wenn man nach ihrer Entstehung fragt, wie dies gewöhnlich ForscherInnen von Kulturkontakten tun“ (Gugenberger 2011: 20). <?page no="57"?> 1.3 Sassaresisch 57 schen den Orten, die aber auch zur Festigung von Heterostereotypen und dem beidseitig unternommenen Versuch der gegenseitigen Abgrenzung führten. Sassari und Sorso entwickelten sich im Laufe der Jahrhunderte ganz unterschiedlich (vgl. Kap. 1.2). Sassari weist seit jeher urbane Dynamiken auf, während das nur 15 km entfernte Sorso lange landwirtschaftlich geprägt war. Die von beiden Seiten vollzogene Distanzmarkierung basiert einerseits auf historischen Ereignissen, Legenden und gegenseitig zugesprochenen Charaktereigenschaften, andererseits auf sprachlichen Unterschieden. Nicht nur in der Großstadt, sondern auch in weiteren Teilen Sardiniens sind Stereotype bezüglich der ,Andersartigkeit‘ der Sorsesen und ihrer ständigen Rivalitäten mit den Bewohnern Sassaris bekannt. Gartmann (1967: 9) dokumentierte ein Phänomen der Außenwirkung der Sorsesen, die „[a]uf der ganzen Insel […] als Verrückte (mákki) verschrien“ sind. 99 Auch insgesamt 16 der Befragten (≙ 80 %, N =20) verneinten Frage E5 Essere sassarese è uguale ad essere sorsese? . 100 Auch selbst manifestieren und bestärken Sorsesen ihre Zugehörigkeit zu Sorso und der sorsesischen Mundart. Dies kann u. a. damit zusammenhängen, dass häufige Kontakte der Sorsesen mit Sassaresen bestehen, die zur notwendigen Abgrenzung führen, während die Bewohner Sassaris nur selten mit Sorso und den Sorsesen in Austausch treten (vgl. Piredda 2013: 155). Trotz minimalster sprachstruktureller Unterschiede zwischen dem Stadtsassaresischen und dem Sorsesischen bestehen zusätzlich beidseitig im Bewusstsein der Sprecher sprachliche Stereotype, die sich insbesondere auf phonetischer und lexikalischer Ebene manifestieren und der gegenseitigen Distanznahme dienen (vgl. Kap. 3.1.4). 1.3.4 Zwischenfazit: Ausgangslage des Sassaresischen Die vorausgehenden Kapitel dienten der Klärung genealogischer, sprachstruktureller und soziolinguistischer Hintergründe des Sassaresischen. Zusammenfassend lässt sich hiermit Folgendes festhalten: 99 Gartmann (1967) verweist an dieser Stelle auf die Äußerungen Bottiglionis und Angius’. So schreibt z. B. Bottiglioni (1919: 45): „[…] si ricordi in modo speciale il disprezzo, con cui i sassaresi danno agli abitanti di Sorso fama di gente stupida e cretina“ sowie Angius: „È passata in proverbio la semplicità dei sorsinchi“ (Angius [1833-1856] 2006: 1646). Anlässlich meiner eigenen Forschungsaufenthalte wurde ich seitens meiner Informanten stets darauf hingewiesen, zwischen Sassaresen und Sorsesen streng unterscheiden zu müssen. Die ,Abneigung‘ gegenüber den Sussinchi wird auf der Basis einer Legende begründet: Die angeblich neiderfüllten Sorsesen versuchten im Mittelalter, den Brunnen Il Rosello aus Sassari zu stehlen. 100 Drei aus Sorso und ein aus Sassari stammender Informant bejahten die Frage. <?page no="58"?> 58 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting 1) Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Sassaresischen beginnt erst verzögert und vereinzelt. Der im Falle des Sassaresischen bestehende Quellenmangel gab der Forschung Anlass zur Herausbildung unterschiedlichster Hypothesen zur Erklärung der Genese des Sassaresischen. Hierbei wurde oftmals nicht zwischen den beiden Dimensionen Sprachgeschichte und Sprachtypologie unterschieden. Viel diskutiert ist seit jeher der Zeitraum der Herausbildung des Sassaresischen (Frühmittelalter vs. Seicento ), das Ausmaß des Einflusses sardischer, korsischer und kontinentalitalienischer Kontaktvarietäten ( sardo italianizzato vs. italiano sardizzato ) und die traditionellen Verwendungsbereiche und Sprechergruppe ( plebeo vs. borghese ) des Idioms. 2) Jüngere Forschungsansätze beschreiben das Sassaresische in diachronischer Perspektive als sardisch-korsische Varietät, die sich bereits ab dem Trecento durch Niederlassung korsischer Siedler, die vermutlich zum Großteil, aber sicher nicht ausschließlich, niedrigeren sozialen Schichten angehörten, herauszubilden begann (vgl. Maxia 2010a: 199, 2012; Toso 2012). Bereits frühzeitig erfolgte - motiviert durch hochdynamische Kontaktprozesse - der Abbau bzw. die Umstrukturierung korsischer Elemente durch die kontinuierliche Verflechtung mit lokalen sardischen und kontinentalitalienischen (pisanischen und ligurischen) Varietäten (sowie später mit einzelnen katalanisch-spanischen Formen). Auch ligurische Einflüsse lassen sich über den Kontakt mit stark vom Genuesischen beeinflussten korsischen Varietäten erklären. Das dauerhafte Wirken des logudoresischen Adstrats über mehrere Jahrhunderte kann als Grund für konvergente Prozesse und die daraus entstandene heutige Hybridität des Idioms gesehen werden (vgl. Maxia 2010a: 300), die sich von ihrer „matrice originaria“ (Toso 2012: 60) zunehmend entfernt hat. 101 Lüdtke (2005: 450) verwendet im Falle des Sassaresischen und Galluresischen daher die Bezeichnung „integrierte Ansiedlungssprachen“. Allerdings war der Konvergenzdruck des Logudoresischen nicht ausreichend, um ein „ri-orientamento in senso sardo“ (Toso 2012: 10) zu bewirken. Wie indessen der Sprachzustand in den einzelnen Epochen, in denen sich das Sassaresische heraus- und umbildete, konkret aussah, darüber lässt sich nur spekulieren. Aus synchronischer Perspektive lässt sich das Sassaresische heutzutage aufgrund seiner sprachstrukturellen Hybridität (Phonologie und Morphologie eher italienisch, Syntax und Wortschatz eher sardisch geprägt) weder dem Korsischen (Taravesischen) noch dem Sardischen eindeutig zuteilen. Grund hierfür ist auch die geringe intralinguale Distanz der Kontaktsprachen, die sich in wenig transparenter Weise zu einer ganz eigenen 101 Die Bereitschaft zur Aufnahme fremder Sprachformen und die Ausbildung hybrider Formen betraf auch die nordlogudoresische Kontaktvarietät (vgl. Toso 2012: 56), die wiederum sassaresische Aussprachemerkmale und Wortgut aufnahm (vgl. Lüdtke 2005: 450 f.). <?page no="59"?> 1.3 Sassaresisch 59 Varietät zu verflechten begannen. Über mehrere Jahrhunderte hinweg wurde somit auch die Distanz zwischen dem Sassaresischen und dem Logudoresischen allmählich wieder verringert und das Sassaresische folglich in gewisser Weise wieder in das sardische Varietätenspektrum integriert. Folglich ist es sinnvoll, aufgrund der engen Verwandtschaft der an der Herausbildung des Idioms beteiligten Varietäten, ein Kontinuum zwischen diesen anzusetzen (vgl. Maxia 2010a: 203). 102 3) Die schwer zu rekonstruierende Herausbildung des Idioms sowie seine hybride sprachstrukturelle Beschaffenheit, die es der Forschung stets erschwerte, das Sassaresische dem italienischen oder sardischen Diasystem zuzuordnen, beförderten die Annahme einer „varietà di origine forestiera dotate di scarso prestigio“ (Maxia 2006b: 20). Hierin zeigt sich, dass die Bewertung einer Sprache als hybrid bzw. die Tatsache, dass sprachstrukturelle Nähe bzw. Distanz sowie Herkunft nicht eindeutig geklärt werden können, gleichsam mit einer Stigmatisierung des betroffenen Idioms verbunden sein kann. 103 Die stete Reduktion der Verwendung des Sassaresischen auf nähesprachlich geprägte Interaktionsbereiche sowie das Ausbleiben der literarischen Kultivierung und des Ausbaus - bei Vorhandensein zweier damals in den formellen Domänen vertretenen Sprachen (dem Lateinischen und Logudoresischen) - verstärkten seitens der Forschung die Wahrnehmung des Idioms als prestigearm und als primär diastratisch niedrig markiert. Da sich Prestigehaftigkeit jedoch zu jeder Zeit unterschiedlich definiert und vor dem Hintergrund der komplexen plurilingualen Verhältnisse Sassaris im Mittelalter und der daraus abzuleitenden Bedürfnisse der Sprecher gesehen werden muss, wurde dem Sassaresischen womöglich erst rückwirkend seitens der Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts das Prestige abgesprochen. Über die tatsächliche soziale Stratifizierung und den Status des Sassaresischen und seine Akzeptanz als Nähesprache seitens der Bevölkerung im durch Oralität geprägten Mittelalter lassen sich daher nach wie vor lediglich Vermutungen anstellen. Auch die Frage nach der Wahrnehmung eines Idioms als Dialekt oder Sprache muss für die heterogenen sprachlichen Kontexte des Mittelalters anders beurteilt werden, in dem Mehrsprachigkeit und fehlende Schriftlichkeit als Normalfall zu interpretieren sind (vgl. Linzmeier / Selig 2016: 168, Fn 13). 102 Wie bereits in Linzmeier / Selig (2016: 172) angerissen. 103 Vgl. Toso (2012: 55 f.): „[…] la difficoltà di operare una distinzione netta tra còrso e italiano, dovuta alla ridotta distanza interlinguistica tra il dialetto isolano e il toscano letterario, generava non solo una valutazione negativa della lingua parlata a Sassari, percepita come variante diastraticamente marcata verso il basso, ma persino incertezze sulla sua effettiva natura.“ Auch mit der Bezeichnung Mischsprache können daher negative Konnotationen einhergehen (vgl. Bakker 1996: 9), denn, so auch Haugen (1950: 211), „[i]t implies that there are other languages which are ‘pure’ […].“ <?page no="60"?> 60 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting 4) Im Falle des Sassaresischen ist es folglich nicht nur fraglich, ob von einer Schein sondern auch einer tatsächlichen Dialektalisierung auszugehen ist. Das Idiom weist weder zur italienischen Dachsprache, noch zum Korsischen oder Sardischen einen nennenswerten intralingualen Abstand auf, was für die Klassifizierung als Dialekt sprechen würde. Da die über Jahrhunderte verlaufenden sprachstrukturellen Verschmelzungsprozesse mit den nahverwandten Idiomen aus synchroner Perspektive keine genaue Zuteilung zu einem der bestehenden Kontaktsprachsysteme erlauben, kann dies den Vorschlag, das Sassaresische als eigenständiges Sprachsystem zu behandeln, rechtfertigen (vgl. Sanna 1975; Bossong 2008). Allerdings erreichte das Sassaresische aufgrund fehlender Kodifizierungsmaßnahmen bis heute nicht den Status einer Ausbausprache und blieb auf die Kommunikationsbereiche einer L- Varietät beschränkt. 104 Obgleich den Sprechern des Sassaresischen ein feinfühliges Bewusstsein der Andersartigkeit in Abgrenzung zum Sardischen attestiert wird, wird das Idiom insbesondere seit der Durchsetzung der Italianisierung im 19. Jahrhundert lediglich als Dialekt , d. h. als Idiom, das „[…] im Allgemeinen als vornehmlich regional begrenzte Nähe-Erscheinung auf einige wenige informelle Domänen beschränkt ist“ (Siller-Runggaldier 2014: 171), wahrgenommen. 5) Die Forschungen zum Sassaresischen beschreiben die ethnische Identität der Sassaresen und Sorsesen als multipel, was die Sprecheraussagen bestätigen. Die Selbstidentifikation der Sprecher definiert sich im Hinblick auf ihren ethnisch-territorialen Hintergrund als Sarden und auch Italiener sowie sprachlichkulturell zusätzlich als Sassaresen bzw. Sorsesen und formt sich aus einem komplexen Zusammenspiel von Sprache, Kultur und Geschichte. 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute Nachdem sich die vorliegende Arbeit nun mit den zum Sassaresischen bestehenden Quellen aus Vergangenheit und Gegenwart näher beschäftigt hat und hierbei auf die Frage nach der Genealogie des Idioms, auf seine sprachstrukturelle Beschaffenheit und auf soziolinguistische Faktoren (Schriftlichkeit und Sprachbewusstsein) eingegangen ist, sollen nun über die Einführung methodologischer Grundlagen zum Sprachwechsel und Sprachtod (Kap. 1.4.1) die 104 Auf der Basis soziolinguistischer Faktoren muss im Falle des Sassaresischen daher die Charakterisierung des Idioms als ,historische (Einzel)Sprache‘, d. h. eines „sozial entwickelte[n] Sprachsystem[s] […], das kodifiziert ist, über eine schriftliche Tradition verfügt, mit einer Nationalität verbunden ist und im Prinzip alle kommunikativen Funktionen in einer Sprachgemeinschaft erfüllen kann“ (Berruto 2004: 191) verneint werden. <?page no="61"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 61 wesentlichen an der heutigen soziolinguistischen Ausgangslage der hybriden Kontaktvarietät beteiligten Faktoren herausgearbeitet und Rückschlüsse auf die ethnolinguistische Vitalität des Idioms ermöglicht werden (Kap. 1.4.2). Hierbei wird auf die wesentlichen Faktoren der Italianisierung (Kap. 1.4.2.1), die Rolle der Stadt Sassari für den Sprachwechsel (Kap. 1.4.2.2), den zunehmenden Sprecherrückgang und die Restriktionen des Sassaresischgebrauchs (Kap. 1.4.2.3) sowie sprachpolitische und -planerische Hintergründe (Kap. 1.4.2.4) näher eingegangen. 105 1.4.1 Vom Sprachwechsel zum Sprachtod Mit dem vorliegenden Kapitel sollen methodologische Grundlagen näher beschrieben werden, die im Rahmen der Sprachtoddiskussion zur Beschreibung von Kontexten des Sprachwechsels berücksichtigt werden sollten. Trotz der massiven Gefährdung zahlreicher Sprachen weltweit ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Sprachtod rezenter Natur und wird erst seit Ende der 70er Jahre vermehrt diskutiert (vgl. Dressler / de Cillia 2006: 2258). 106 Die Termini decay und death wurden bereits 1899 von Cust auf Beobachtungen zum Sprachwandel angewandt. Eine der ersten wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen Sprachtod geht auf Swadesh zurück. Sein 1938 verfasster Beitrag wurde jedoch erst 10 Jahre später veröffentlicht (vgl. Austin / McGill 2012: 26). Swadesh vergleicht neun Sprachsituationen der gesamten Welt, in denen Sprachverfall zu beobachten ist. Er betont das äußerst vielfältige und nach Sprechergemeinschaft variierende Zusammenwirken verschiedenster Faktoren, allerdings auch Ähnlichkeiten im Verhalten der Sprecher in einem Sprachverfallsszenario: „The process does not move uniformly but usually first affects certain sections of the people - defined in terms of geographical location, age-group, sex, economic and cultural status - and certain types of personality“ (Swadesh [1948] 2012: 46). Vendryes (1954: 450) greift das Phänomen Sprachtod bereits 1934 in einem Vortrag auf, der 1954 erneut, jedoch resümiert, veröffentlicht wird. Er macht auf die Konkurrenzsituation zweier Sprachen aufmerksam, die ein Vorbote für einen beginnenden Sprachwechsel 105 Eine Zusammenfassung des vorliegenden Kapitels 1.4 ist in Linzmeier (2017) erschienen. 106 Insbesondere das Aufkommen von Fragestellungen aus dem Bereich des synchronischen Sprachwandels (vgl. Labov 1963) und der vermehrten Auseinandersetzung mit Minderheitensprachen ab den 70er Jahren gaben der Erforschung von Sprachverfallssymptomen großen Auftrieb (vgl. Rindler Schjerve 2002: 18). Einen entscheidenden Beitrag zur Erforschung von Sprachtodphänomenen lieferte Nany C. Dorian mit der Analyse des Gälischen im schottischen East Sutherland. <?page no="62"?> 62 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting und die Aufgabe einer der Sprachen - „comme étouffée, par une autre langue“ - sein kann. 107 Mit Dressler (1988) lässt sich das Phänomen Sprachtod wie folgt zusammenfassen: Language death occurs in unstable bilingual or multilingual speech communities as a result of language shift from a regressive minority language to a dominant majority language. Language shift typically involves a gradual transition from unstable bilingualism to monolingualism, that is the loss or ‘death’ of the recessive language. (Dressler 1988: 184) Die Ausgangslage, die ein Sprachumstellungsszenario einleiten und zum Sprachtod führen kann, ist folglich meist geprägt durch eine Situation des Bibzw. Multilinguismus bzw. der Di- oder Polyglossie 108 , bei der die Sprachwahl ( language choice ) 109 aufgrund des Prestigegefälles zwischen den beteiligten Idiomen zugunsten der dominanteren Sprache ausfällt. Zunächst ist von einer 107 Der Begriff Sprachtod wird in der Forschung oftmals neben language loss und attrition für ähnliche Phänomene verwendet, sowie auch language degeneration und language erosion (vgl. Tsunoda 2006: 100). Allerdings ist es ratsam, eine theoretische Abgrenzung vorzunehmen: language loss betrifft „[…] linguistic abilities in individuals affected by language pathologies such as aphasia in its various forms“ (dal Negro 2004: 21), aber auch „[…] other cases of non-pathological loss when the research design aims at investigating individuals rather than communities“ - insbesondere unter psycholinguistischer Perspektive (vgl. ibid.). Der Fokus liegt bei Aphasie und first language attrition folglich auf dem Sprachverlust von Individuen ( individual loss , vgl. de Leeuw 2008: 5-10). Aphasie hat pathologische Hintergründe; Attrition betrifft gesunde Sprecher nach der Pubertät, die z. B. durch Emigration in ein fremdes Land bedingt ihre angestammte Sprache nur mehr selten sprechen (vgl. Schmid 2011: 3 f., 7). Bei Sprachverfall und Sprachtod handelt es sich hingegen um Situationen fehlender intergenerationaler Sprachweitergabe in Sprachgemeinschaften ( societal loss , vgl. de Leeuw 2008: 5-10); so auch Croft (2000: 225): „[…] the interactor is the society as a whole“. Unter Sprachverfall sind außerdem in keinem Fall Entlehnungsprozesse zu verstehen, die im Volksmund ebenso häufig als Sprachverfall bezeichnet werden. Die Übernahme von Wortgut, wie beispielsweise aus dem Englischen, ist ein generell umkehrbarer Prozess, bei dem das Sprachsystem vollständig intakt bleibt (vgl. Dressler 1982: 324). 108 Hierzu Kremnitz (2004: 158). „Es wird gewöhnlich nicht besonders zwischen Di- und Polyglossie unterschieden, da Polyglossie hier nur als eine komplexere Situation mit mehr Variablen verstanden wird, deren Probleme sich jedoch grundsätzlich nicht von denen der Diglossie unterscheiden.“ 109 Der Begriff Sprachwahl ist jedoch problematisch, da von einer freien Entscheidung der Sprecher nicht zwangsläufig auszugehen ist. Vgl. hierzu Holloway (1997: 33): „The idea that an individual ‘chooses’ whether or not he or she will stop using a dying language is somewhat problematic. It is obvious that in the face of a shrinking speech comunity as well as various social, cultural, and economic pressures to shift from the minority language to the dominant language, terms such as ‘choice’ may not be entirely appropriate.“ <?page no="63"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 63 Phase auszugehen, in der die Mitglieder der Sprachgemeinschaft zwei- oder mehrsprachig sind, wobei der Bibzw. Multilinguismus allmählich instabil wird (vgl. Dressler / de Cillia 2006: 2259). 110 Die dominantere Mehrheitssprache greift zunehmend in die Aktionsbereiche der indominanten Sprache ein, mit der Tendenz letztere auf wenige Funktionen wie die einer Familiensprache bzw. „Haussprache“ (Rindler Schjerve 1989: 3), d. h. in primäre Domänen (vgl. Pütz 1994: 41 f.), abzudrängen und sie letztendlich auch in diesen zu ersetzen (vgl. Rindler Schjerve 2002: 17; O’Shannessy 2011: 81). 111 In diesem Fall spricht man in der Terminologie von Fishman (1967, 1980) von einer Situation des instabilen Bilinguismus 112 (vgl. Rindler Schjerve 1987: 50 f.) bzw. mit Berrutto (1987) von Dilalie 113 . Die Stabilität der angestammten Domänen bzw. die Eröffnung neuer Verwendungskontexte ist jedoch von großer Notwendigkeit für den Erhalt des jeweiligen Idioms. Das Resultat ist anfänglich zumindest eine partielle Sprachaufgabe bzw. Sprachwechsel / Sprachverschiebung / Sprachumstellung ( language shift ) auf gesellschaftlicher Ebene. Dorian (1981: 51) prägte hierfür den Ausdruck language tip . Die Primärsozialisation 114 der nachfolgenden Generationen erfolgt sodann meist in der Prestigesprache ( mother tongue shift , de Bot / Weltens 1991: 42), die für die alltägliche Kommunikation mehr und mehr genutzt wird. Ab dieser Phase erlernt die nachfolgende Generation - die u. a. durch sog. Semisprecher geformt wird (vgl. Kap. 2.1) - eine von Sprachverfall ( language 110 Bei ,gesunder‘, d. h. stabiler Zweibzw. Mehrsprachigkeit hingegen konkurrieren die betroffenen Sprachen nicht um die Dominanz in den Interaktionsdomänen, sondern erfüllen jeweils bestimmte Funktionen (vgl. Crystal 2000: 81). Mackey (2005: 1489) spricht von integral bilingualism , wenn die Mehrheit der Sprecher beide Sprachen gebraucht. 111 Kloss (1984: 72) bezeichnet Sprachen, deren Domänen zunehmend an die Prestigesprache abgegeben werden und die nur mehr als Zweitsprache im Umgang mit Nachbarn und älteren Verwandten verwendet werden, als shrinkage-based , während die sich ausdehnende Sprache als expansion-based bezeichnet wird. 112 Bolognesi (2013: 20 f.) verweist zusätzlich auf Tamburelli (2012: 195), der hierfür den Terminus vertikaler Bilinguismus verwendet. 113 Vgl. hierzu Berruto (1987: 70): „ dilalìa si ha nei repertori con lingua standard e dialetti sensibilmente distanti e funzionalmente differenziati, con uso di entrambi nel parlato quotidiano e con sovrapposizione in alcuni domini; la lingua standard vi ha apertamente prestigio, l’uso del dialetto tende a essere socialmente discriminante e socialmente stratificato, il dialetto è poco standardizzato e ha scarso prestigio“. Voraussetzung für Dilalie sind: 1) ein beträchtlicher Unterschied zwischen den beiden Varietäten, 2) die Verwendung beider Codes in der Alltagskonversation, 3) eine deutliche funktionale Differenzierung, 4) die Überlappung einzelner Domänen, 5) die fehlende Standardisierung von L , 6) die soziale Markierung bzw. Stratifizierung von H , 7) das hohe Prestige von H , 8) die Existenz eines Kontinuums von (Sub)varietäten zwischen L und H (vgl. ibid. 67). 114 Während die Primärsozialisation ( primary socialisation ) traditionell zu Hause in den Familien erfolgt, vollzieht dich die Sekundärsozialisation ( secondary socialisation ) „[…] in school, in vocational training, and in contacts with public authorities and institutions“ (Dressler / Wodak-Leodolter [1977] 2012: 123; vgl. hierzu auch Fn 2 in Kap. 2.1.1). <?page no="64"?> 64 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting obsolescence / decay ) gekennzeichnete, d. h. nur mehr reduzierte Variante der angestammten Sprache, die zunehmend Einflüsse der Kontaktsprache aufweist ( regressive bilingualism , Mackey 2005: 1489) (vgl. Kap. 2.2.2). Kenntnisse der angestammten Sprache beschränken sich bei späteren Generationen oftmals nur mehr auf formelhafte Ausdrücke ( residual bilingualism , ibid. 1489). Das betroffene Idiom durchläuft mehrere Gefährdungsstufen, 115 bis letztendlich keine Sprecher der rezessiven Sprache mehr vorhanden sind und folglich von Sprachersatz oder Sprachuntergang bzw. Sprachtod ( language death ) gesprochen werden kann (vgl. Dressler / de Cillia 2006: 2259). Diese Form des Sprachtodes, bei der in einer Sprachkontaktsituation über eine Phase des Bilingualismus ein allmählicher Übergang zu der dominanteren Sprache vollzogen wird und von verschiedenen Kompetenzstufen der Sprecher ( proficiency continuum , Campbell / Muntzel 1989: 181) ausgegangen werden kann, wird mit Campbell / Muntzel (1989) als gradual death bezeichnet und ist der häufigste Fall von Sprachtod (vgl. ibid. 184 f.; Jones / Singh 2005: 80). 116 Bereits Sasse (1992a: 22) bezeichnete diese Form des Sprachtods als „prototypical case of which the others are merely variants“. 117 115 Nach Wurm (2003: 16; Herv. i. O.) lassen sich fünf Ebenen der Sprachbedrohung unterscheiden: „If a proportion of the children starts giving preference to another language and gradually forgets their own, their own language is potentially endangered ; if the youngest speakers are young adults, the language is endangered ; if they are middle-aged, the language is seriously endangered ; and if there are only a few old speakers left, the language is moribund (or terminally endangered )“ (Herv. i. O.). Vgl. hierzu auch die von der UNESCO definierten Gefährdungsstufen (vgl. Moseley 3 2010: 11 f.). 116 Campbell / Muntzel (1989: 182-186) nennen insgesamt vier unterschiedliche Arten des Sprachtods: Neben dem gradual death ist auch ein, beispielsweise durch Genozid oder Naturkatastrophen verursachter sudden death möglich bzw. ein radical death , bei dem die Sprechergemeinschaft infolge politischer Repressionen als Überlebensstrategie ihre Sprache aufgibt. Die Sprache stirbt in diesem Fall innerhalb einer Generation aus (vgl. Seifart 2000: 5). Bei einem bottom-to-top-death findet die Sprache immer weniger Verwendung in familiären Interaktionssituationen, bleibt jedoch beispielsweise in rituellen Bereichen vital. Kloss (1984: 66-74) unterscheidet in 1) „Sprachentod ohne Sprachwechsel“ (demographische Ursachen wie Kinderlosigkeit oder Kollektiv-Katastrophen), 2) „Untergang durch Sprachwechsel“ (z. B. begünstigt durch die Siedlungs- oder Infrastruktur) und 3) „Untergang durch Metamorphose“ (z. B. durch Herabstufung zum Dialekt, bzw. „Nomineller ‘Untergang’ durch Aufspaltung“). Vgl. z. B. auch Dressler (1981: 5). 117 Zu Sprachfreitod ( language suicide ), einem Subtyp des Sprachtodes, kommt es laut Aitchison ( 4 2013: 223) insbesondere dann, wenn die beiden in Kontakt stehenden Sprachen strukturell sehr ähnlich sind und das prestigeärmere Idiom somit schnell und ohne Schwierigkeiten Vokabular oder Lautstrukturen aus der dominanteren Sprache übernehmen kann. Ab einem bestimmten Punkt, sind die beiden Idiome eventuell „almost indistinguishable“ (McMahon 1994: 287). Eine weitere Unterkategorie des Sprachtodes ist Sprachmord ( language murder ) (vgl. McMahon 1994: 286; Dressler / de Cillia 2006: 2259; Aitchison 4 2013: 223). Bei Sprachmord sind die beiden in Kontakt stehenden Sprachen <?page no="65"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 65 Sprachtod ist daher die Folge der Abkehr der Sprecher von einem Idiom (vgl. Dension 1977: 21; Thomason 2001: 224). Die Stafettenkontinuität der Sprache, d. h. die „Weiterführung der Kommunikationstätigkeit durch Aufeinanderfolge von Generationen“ (Lüdtke 1980: 4), wird unterbrochen, 118 so dass insbesondere der Teil der Sprachgemeinschaft immer weiter „ausdünnt“, der die umfangreichsten Kenntnisse der betroffenen Sprache aufweist („the constant thinning-out of the speech community“, Watson 1989: 55). Sprachtod ist folglich metaphorisch zu interpretieren, denn „Languages themselves obviously obey no organic imperatives - but their speakers do“ (Edwards 2010: 38). 119 Die Gründe für Sprachverschiebung und Sprachtod sowie den dabei beobachtbaren Sprachverfallsphänomenen sind folglich stets außerhalb des Sprachsystems und somit im ökonomischen, kulturellen und soziopolitischen Umfeld sowie der Einstellung der Sprecher zu ihrer angestammten Sprache zu suchen. Sprachen neigen nicht aufgrund ihrer sprachstrukturellen Beschaffenheit zum Verfall: „[…] the causes of the decline are always socio-political and never go back to the language’s own momentum“ ( Jorek 2005: 70). 120 Zur Beschreibung und Bestimmung sprachwandelwirksamer Faktoren sind in den letzten Jahren zahlreiche Modelle entwickelt worden, die trotz teils unterschiedlicher Gewichtung einzelner Variablen allesamt auf die Aufsummierung und Ordnung einzelner Faktoren abzielen (vgl. Pütz 1994: 50). 121 Zentral ist hiermeist nicht eng verwandt. Die prestigeärmere Sprache wird nicht zwangsläufige übermäßig viel Material aus der dominanten Sprache entlehnen (vgl. McMahon 1994: 291). Jones / Singh (2005: 81) verweisen hierbei jedoch auf das „[…] perennial problem of defining what are and what are not ‘similar’ or ‘dissimilar’ varieties.“ 118 Vgl. auch Lüdtke (2001: 1678). 119 Der Begriff Sprachtod ( language death ) selbst ist nicht unumstritten: Bereits Sasse (1992a: 7) sieht die Sprachtodmetapher als unpassend an: „The most macabre of the numerous anthropomorphic metaphors linguists provide for their subject matter is that of language death.“ 120 Dies betonte bereits Swadesh ([1948] 2012: 47): „It is perhaps necessary to point out that the factors determining the obsolescence of languages are non-linguistic. There are no such things as inherently weak languages that are by nature incapable of surviving changed social conditions.“ Vgl. auch Jones / Singh (2005: 82): „Language obsolescence, therefore, does not occur due to the existence of either ‘weak’ or ‘overly complicated’ languages […]“. Vgl. auch Ladefoged / Ferrari Disner ( 3 2012: 3): „These languages are not endangered because of their sound systems, but because of socioeconomic changes.“ 121 Pütz (1994: 50) nennt hierbei das primär soziologisch basierte Modell von Smolicz (1981) sowie soziopolitisch (Edwards 1992), psychologisch (Giles et al. 1977) und sprachökologisch (z. B. Kloss 1966; Haarmann 1980) basierte Bezugsmodelle. Vgl. auch Kloss (1966). Eine allumfassende, auf der Grundlage bisheriger Forschungen aufbauende und äußerst detaillierte Zusammenschau der möglichen, an der Beeinflussung des Sprachverhaltens beteiligten Variablen ist bei Tsunoda (2006: 49-64) nachzulesen. Tsunodas Variablenkatalog umfasst folgende, sich häufig auch überlappende Bereiche: Geographie, Demo- <?page no="66"?> 66 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting bei die Anwendung des Terminus Ökologie auf sprachwissenschaftlich relevante Bereiche. Unter Sprachökologie versteht man nach Haugen (1972: 325) „the study of interactions between any given language and its environment“. Sprachökologiestudien zielen somit ab auf die Untersuchung der „[…] interrelationships between speakers and their language as situated in their full (contemporary and historical) context“ (Grenoble 2011: 30). 122 Sprache ist kein von seinen Sprechern und der Gesellschaft trennbares Phänomen. Sprache gestaltet sich stets in Wechselwirkung mit ihrer Umgebung und den gesellschaftlichen Voraussetzungen, denen sie unterliegt. Im Rahmen sprachökologischer Untersuchungen steht daher die Erforschung des Einflusses außersprachlicher Faktoren auf das Sprachverhalten im Fokus. Diese zu untersuchen, bedeutet folglich „[…] die Gesamtheit der sozialen Existenzbedingungen einer Sprache“ (Rindler Schjerve 1987: 55) zu durchleuchten. Dies erlaubt Rückschlüsse auf die „ethnolinguistische Vitalität“ 123 (Giles et al. 1977), d. h. auf die Überlebenschance einer Sprache unter den zuvor ermittelten realen Existenzbedingungen einer Sprechergruppe zu ziehen (vgl. Pütz 2004: 230). 124 graphie, Soziologie, Sprache und Soziolinguistik, Psychologie, Geschichte, Politik (Recht, Government), Wirtschaft, Erziehung / Bildung, Religion, Medien. 122 Haarmann (1980: 9) bezeichnet Sprachökologie als das „Studium der sozialen Existenzbedingungen und Organisationsformen natürlicher Sprachen und der sie tragenden Sprechergruppen in multiethnischen Kontaktregionen.“ Sein Variablenkatalog umfasst ethnodemographische, ethnosoziologische, ethnopolitische, ethnokulturelle, ethnopsychische, interaktionale und ethnolinguistische Kriterien. 123 Der Begriff ethnolinguistische Vitalität geht auf Giles et al. (1977: 308) zurück: „The vitality of an ethnolinguistic group is that which makes a group likely to behave as a distinctive and active collective entity in intergroup situations. From this, it is argued that ethnolinguistic minorities that have little or no group vitality would eventually cease to exist as distinctive groups. Conversely, the more vitality a linguistic group has, the more likely it will survive and thrive as a collective entity in an intergroup context.“ Zur Systematisierung der zahlreichen am Prozess der Sprachbewahrung bzw. Sprachumstellung beteiligten Faktoren haben Giles et al. (1977) ein dreigliedriges Modell entworfen. Die Berücksichtigung der hierbei genannten Variablen bei der Beschreibung des Sprachverhaltens einer Sprechergruppe ermöglicht, auf die ethnolinguistische Vitalität dieser zu schließen. Die Variablen, die die ethnolinguistische Vitalität eines Idioms am ehesten beeinflussen, fassen Giles et al. in drei Hauptfaktorenkategorien zusammen: status , demography , institutional support . Diese drei Arten von Strukturvariablen beeinflussen sich gegenseitig, „[…] to provide the context for understanding the vitality of ethnolinguistic groups […]“ (ibid. 309). Die Vitalität einer Sprechergemeinschaft lässt sich anhand einer fünfstufigen Skala ablesen. Die drei Hauptkategorien Status , Demographie und institutionelle Unterstützung werden mit einem der Werte high , medium-high , medium , lowmedium und low ausgezeichnet; aus dem Mittelwert der Werte für die drei Komponenten ergibt sich die overall vitality der Sprechergemeinschaft (vgl. ibid. 317). Allerdings wird hierbei nicht klar, wie sich diese Gesamtsumme ergibt (vgl. Achterberg 2005: 70 f.). 124 Einen Variablenkatalog zur Berechnung der Vitalität von Sprachen schlägt u. a. auch die UNESCO vor (http: / / www.unesco.org/ new/ en/ culture/ themes/ endangered-languages/ <?page no="67"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 67 Die Variablen, die im Rahmen sprachökologischer Forschungen zur Bestimmung der ethnolinguistischen Vitalität einer Sprache angeführt und untersucht werden, fasst Sasse unter dem Begriff external setting zusammen (vgl. Sasse 1992a: 11-19). 125 Hierzu gehören außersprachliche (d. h. kulturelle, soziologische, historische, geographische, demographische) Faktoren, die sprachverschiebungsfördernd wirken können, d. h. als „the trigger for the entire process“ (ibid. 19) in Erscheinung treten. Diese extern bedingten Rahmenbedingungen können die Einstellung der Sprechergruppe zu ihrem angestammten Idiom maßgeblich beeinflussen und somit entscheidende Auswirkungen auf das speech behavior , d. h. auf die Sprachwahl in bestimmten Gebrauchskontexten ausüben. Grenoble (2011: 33-35) nennt deshalb als entscheidende Faktoren der Sprachumstellung Urbanisierung, Globalisierung, soziale Dislokation (bedingt durch fehlendes Prestige und Macht) und kulturelle Dislokation (d. h. wenn in Folge von Modernisierung und Globalisierung Menschen verschiedener Kulturen und Varietäten miteinander in Kontakt kommen). Da insbesondere Sprachminderheiten Szenarien dieser Art oftmals ausgesetzt sind, ist die Spachminderheitenforschung ein häufig begangenes Forschungsterrain für Sprachwechsel mit begleitenden Sprachverfallsprozessen (vgl. Rindler Schjerve 1989: 5). Die Sprachtodforschung konzentriert sich daher weitestgehend auf die Erforschung der Sprachentwicklung in „immigrant, or transplanted, communities“ (z. B. Finnisch in Minnesota, Französischen in Louisiana etc., vgl. Maher 1991: 67 f.) sowie in „indigenous communities“ (z. B. Gälisch in Nordschottland, Bretonisch in Frankreich etc., vgl. ibid. 68). Eine ganz besondere Bedeutung kommt bei der Sprachverschiebung bzw. dem Spracherhalt dem Sprachbewusstsein, der Einstellung der Sprecher ( attitudes ) zu ihrem angestammten Idiom und der Rolle der Sprache in der Identitätsaffirmation und dem hierdurch geprägten Sprachverhalten zu. Entscheidenden Einfluss hierauf hat das Prestige der Sprache. 126 Die Einstellung zu einer Sprache kann negativ, positiv oder indifferent ausfallen, wobei in Fällen der Sprachbedrohung negative Sprachattitüden zu überwiegen scheinen (vgl. Tsunoda 2006: 59): language-vitality/ [15. 02. 2016]). 125 Sasse (1992a) stützt sich hierbei auf die empirischen Befunde zum East Sutherland Gaelic bzw. Arvanitika (einer in Griechenland verbreiteten albanischen Varietät), weshalb sein Theorieentwurf auch als Gaelic-Arvanitika-Model ( GAM ) bekannt wurde. 126 Hierbei lässt sich in overt prestige (z. B. „der offiziellen Anerkennung der Sprache“) und covert prestige - „[…] wenn Sprachen eine starke Identitätsfunktion haben“ - unterscheiden (vgl. Riehl 3 2014: 194). <?page no="68"?> 68 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting 1) Sprecher attestieren Sprachen unterschiedliches Sozialprestige (vgl. Vandermeeren 1996: 695) und treten ihnen mit unterschiedlichen Sprachattitüden 127 gegenüber. In mehrsprachigen Gesellschaften mit Diglossiesituation ist aufgrund der Funktionsverteilung der Sprachen oft seit Anbeginn von einem Prestigegefälle zwischen den beteiligten Idiomen auszugehen, allerdings gefährdet dieses nicht zwangsläufig den Erhalt der prestigeärmeren Sprache. Erst wenn bislang feste Strukturen instabil werden und sich das Gefälle des Prestiges maximiert, d. h. die Verwendungsbereiche der L -Varietät noch weiter eingeschränkt und durch die H -Varietät ersetzt werden, steht die Aufgabe der indominanten Sprache tatsächlich zur Debatte (vgl. Giacalone Ramat 1983: 500). Die angestammte, jedoch meist prestigeärmere Sprache wird abgewählt, da sie immer geringeren praktischen Nutzen erfüllt (vgl. Dorian 1982: 46) bzw. da sie mit einer bestimmten Gruppe bzw. Generation assoziiert wird (vgl. z. B. Pes 2006: 166): „Language, then, triggers certain reactions because of its association with that which is really being judged - the group“ (Edwards 1996: 704; Herv. i. O.). 128 Das Streben nach sozialer Mobilität und die Aufgabe traditioneller Rollen können folglich die Attraktivität einer Minderheitensprache mindern (vgl. Hogan-Brun / Wolff 2004: 5; Rindler Schjerve 1990) und Eltern in ihrer Entscheidung bestärken, das angestammte Idiom nicht an ihre Kinder weiterzugeben. 129 Der Verlust des Identifikationspotentials der traditionellen Sprache kann jedoch 127 Vgl. hierzu den Begriff der language attitude nach Vandermeeren ( 2 2005: 1319): „A language attitude is an idea charged with emotion with respect to language behaviour and predisposes a type of (language) behaviour to a particular class of language situations.“ 128 Da Idiome eine „Etikettierungsfunktion im Hinblick auf den Sprecher und die verbundene Gesprächssituation“ besitzen, können die Bedeutungskomponenten einer als stigmatisiert und rückständig wahrgenommen Sprache und der damit verbundenen Werte auf den Sprecher übertragen werden (vgl. Hartig 1983: 75; Jones / Singh 2005: 83). 129 Vgl. hierzu Lanza (2009: 51): „Parental beliefs and attitudes about language and language learning play an important role in early bilingual development and are intrinsically tied with language use […].“ <?page no="69"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 69 die Gruppenkohäsion 130 und die damit verknüpfte Loyalität 131 gegenüber der angestammten Sprache und der Sprachgemeinschaft aus dem Gleichgewicht bringen. Diese Entwicklung vermag wiederum, die Sprachverschiebung zu begünstigen (vgl. Kramer 1990: 17-20). Der Nicht-Gebrauch und somit Abbau für die Kommunikationsfähigkeit relevanter Strukturen des angestammten Idioms, der durch Rückgriff auf insbesondere lexikalisches Material der Prestigesprache kompensiert wird, kann wiederum die Wahrnehmung der Sprache und das Vertrauen in diese seitens der Sprecher beeinträchtigen („[…] making the language appear more like patois to nonspeakers and, at the same time, reducing the confidence of the native speakers themselves in their language“, Watson 1989: 50). So kann aus einer Scheindialektalisierung, die sich nach gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Kriterien bemisst, durch zunehmendes strukturelles Annähern der L -Varietät an die H -Varietät eine tatsächliche Dialektalisierung werden (vgl. Kloss 2 1978: 68 f.). 2) Wird - insbesondere dem bilingualen Teil - der Sprechergemeinschaft die Gefahr der Bedrohung ihres angestammten Idioms bewusst, so kann die Angst vor dem Verlust des Idioms und der damit verbundenen Funktion als Identitätsmarker zur vermehrten Manifestation des Erhaltenswillens und der Gruppensolidarität führen. 132 Bilinguale einer Minderheitengruppe manifestieren dies oftmals durch ein stärkeres Bewusstsein der Sprachidentität sowie den Versuch, die bedrohte Sprache bzw. strukturelle Bestandteile dieser zu erhalten 130 Vgl. hierzu Kramer (1990: 15): „Eine Gruppe sieht in der eigenen Sprache ein Mittel, um sich von anderen Gruppen zu unterscheiden, und einen Identitätsbeweis, der als Legitimation der eigenen Vollwertigkeit zu dienen hat; „der normale Ausdruck eines derartigen Gruppenbewußtseins ist die Loyalität gegenüber der eigenen Sprache […]“ sowie Oppenrieder / Thurmair (2003: 41 f.): „Gerade bezogen auf die […] Gruppenidentitäten kann die Sprache sehr wichtig sein. Gruppen zeichnen sich durch ein dichtes Netz von Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern aus. Zentral sind dabei die kommunikativen Beziehungen, die typischerweise auf ganz bestimmte sprachliche Kompetenzen zurückgreifen. Bekanntlich ist zudem die sprachliche Selbst- und Fremdwahrnehmung ein wichtiger Baustein beim Aufbau und der Abgrenzung dieses ‚Gruppen-Selbst‘. Aber auch für das einzelne Mitglied einer Gruppe ist die Sprache häufig ein ganz zentraler Aspekt beim Aufbau der eigenen ‚Identität‘ gerade als Mitglied bestimmter Gruppen.“ 131 Vgl. hierzu Kramer (1990: 21): „Sprachloyalität und Sprachilloyalität sind Reflexe ideologisch-politisch-gesellschaftlicher Prozesse, die sich außerhalb des Rahmens der von einer eng definierten Systemlinguistik beschriebenen Phänomene abspielen und doch eine entscheidende Auswirkung auf das Sprachleben haben.“ Dorian (1982: 47): „Language loyalty persists as long as the economic and social circumstances are conducive to it, but if some other language proves to have greater value, a shift to that other language begins.“ 132 Vgl. Bereznak / Campbell (1996: 659): „As language represents an important component of any culture, the loss of a language can result in the loss of cultural identity and selfesteem.“ <?page no="70"?> 70 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting oder wiederzubeleben (vgl. z. B. Janse 2003: x; Edwards 2009: 254 f.). Traditionell geringeres Prestige und eingeschränkte Funktionalität schmälern folglich nicht zwangsläufig den Symbolwert einer Sprache, d. h. „[…] a symbolic attachment can be a powerful maintenance agent“ (Edwards 1996: 706; Herv. i. O.). Sprachverfall kann generell durch Spracherhaltungs- und Sprachplanungsmaßnahmen aufgehalten bzw. entgegengesteuert werden. In extremen Fällen, in denen der Sprachtod nicht abgewendet wird, kann allerdings lediglich auf Sprachwiederbelebung zur Wiederherstellung der Vitalität rekurriert werden (vgl. Dressler / de Cillia 2006: 2260). Dies kann durch Linguisten oder Nachkommen der Sprecher, die diese Sprache selbst nicht mehr beherrschen, erfolgen. 3) Crystal (2000), der ein Kapitel seiner Arbeit mit der Überschrift „Why should we care“ betitelt, macht darauf aufmerksam, dass der Verlust von Sprachen oftmals unkommentiert hingenommen wird. Angehörige einer Sprachgemeinschaft, deren Idiom vom Verfall bedroht ist, stehen mit dem Verlust der angestammten Sprache nun keiner Situation der absoluten ,Sprachlosigkeit‘ gegenüber, sondern wechseln zu einem anderen, dominanteren Idiom bzw. weiten dessen Verwendungskontexte aus. Sprecher, deren Primärsozialisation ohnehin bereits in der sich durchsetzenden Sprache verläuft, sind zudem keiner direkten Konfliktsituation ausgesetzt und fühlen sich für den Erhalt der angestammten Sprache nicht zwangsläufig mitverantwortlich. Ein weiterer Grund für indifferentes Verhalten kann auch language optimism sein, d. h. die Sprecher vertrauen darauf, dass andere Mitglieder der Sprachgemeinschaft bzw. aus ihrem Umfeld die Sprache ohnehin weitertradieren werden und sie sich selbst aus der Verantwortung herausnehmen können (vgl. Tsunoda 2006: 61). Ob eine Sprache jedoch letztendlich stirbt oder nicht, lässt sich nicht prognostizieren. Die Tatsache, dass eine der in Kontakt stehenden Sprachen weniger Prestige besitzt, ist - so lange das Prestigegefälle stabil ist - noch lange kein Kriterium für ihre Aufgabe. Auch die oftmals geteilte Ansicht, dass sich die komplette Sprachumstellung im Sprachverhalten der dritten Generationen zeigt (vgl. Fishman 1980: 3), kann nicht pauschal bejaht werden (vgl. Austin [1986] 2012; Rindler Schjerve 2002: 22; O’Shannessy 2011: 83). Entgegen aller Vermutungen ist der diagenerationale Erhalt eines bedrohten Idioms nicht zwangsläufig ausgeschlossen. Zwar können traditionelle Funktionsbereiche eines Idioms bzw. soziale Sprechergruppen verloren gehen, allerdings können bestimmte Domänen weiterhin durch den Gebrauch des Idioms bedient werden und die Verwendung in bestimmten sozialen Gruppen vital bleiben (vgl. Rabin 1986: 551). Das betroffene Idiom kann als Jargon, Ritualsprache, Scheindialekt oder Geheimsprache (vgl. Knowles-Berry 1987: 338 f.; Dorian 1999b: 117; Rindler Schjerve 2002: 22) fortbestehen sowie für Sprachwitz und Albernheit (vgl. Jones / Singh 2005: 85) bzw. als Substratsprache, für Begrüßungsrituale, <?page no="71"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 71 zum Ausdruck von Obszönitäten, in Liedern, Reimen, Sprichwörtern und Trinksprüchen Anwendung finden (vgl. Bereznak / Campbell 1996: 660; Hill [1983] 2012). Motivierende Kraft für die Verwendung der angestammten Sprache in diesen Formen bzw. Funktionen ist meist der Wunsch, Gruppenidentität und -solidarität zu manifestieren (vgl. ibid.). Zusammenfassend lässt sich damit sagen, „[…] daß die Sprache lebt, solange es Sprecher gibt, die sich ihrer in der einen oder anderen Weise bedienen“ (Rindler Schjerve 2002: 22). Zudem kann ethnisch-kulturelle Identitätsaffirmation sogar dann über eine Sprache erfolgen, die selbst nicht aktiv, sondern lediglich in Form idiomatischer Wendungen beherrscht wird: „[…] using language not for communication but as a phatic gesture of ethnic identity“ (Craig 1992: 22). Hierin zeigt sich der Symbolwert, den eine Sprache, der sonst kaum noch Funktionen zukommen, transportieren kann. In diesem Zusammenhang gilt es auch zu berücksichtigen, dass Sprache zwar eine wesentliche Rolle bei der Konstituierung ethnischer Identität spielt („[…] language may play a key role in reflecting and indeed in maintaining and ,reproducing‘ an ethnic identity“, Mesthrie / Tabouret-Keller 2001: 166), 133 allerdings durch weitere Faktoren ergänzt wird. 134 Identität wird außerdem je nach Kontext, Gesprächspartner und Rollenzuweisung in unterschiedlichen Situationen jedes Mal wieder neu ausgehandelt und konstituiert (vgl. Acts of Identity , Le Page / Tabouret-Keller 1985) 135 . So wird deutlich, […] dass es eine Identität oder die Identität gar nicht gibt und geben kann. Da soziale Identität immer an Gruppen gebunden ist und da wir alle in mehreren, meistens sogar in vielen Gruppen agieren, ist auch klar, dass wir uns und unsere soziale Identität über mehrere Gruppenzugehörigkeiten definieren (müssen und wollen) […]. (Fix 2003: 107; Herv. i. O.) Das bedeutet, dass das Bewahren der ethnischen Identität nicht zwangsläufig an den Erhalt der angestammten Sprache geknüpft werden muss, sondern Identität spielerisch und komplex ausgeformt werden kann. Eine positive Grundeinstellung gegenüber einer Sprache zu haben, heißt außerdem nicht, so O’Reilly 133 So kann Sprache als einer der wesentlichsten Grundwerte einer Kultur fungieren: „Der Terminus ‘Grundwert’ bezieht sich auf diejenigen Werte, welche als zentral für die Kultur einer Gruppe gesehen werden. Gewöhnlich stellen sie das Herzstück eines ideologischen Systems dar und bieten aufgrund ihres Symbolgehaltes in bezug auf die Gruppe und die Gruppenzugehörigkeit die Möglichkeit zur Unterscheidung“ (Smolicz 1987: 157 f.). 134 Vgl. Le Page / Tabouret-Keller (1985). 135 Hierzu Le Page / Tabouret-Keller (1985: 247): „Neither ‘race’ nor ‘ethnic group’ nor ‘language’ turns out to be a clearly-definable external object. Rather, each is a concept we form as individuals, and the extent to which, and the manner in which, we project our concepts on to those around us and establish networks of shared suppositions determines the nature of the groups in our society and their mode of operation.“ <?page no="72"?> 72 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting (2004: 17), diese zwangsläufig auch beherrschen oder sprechen zu wollen. Daher muss auch die Wahrnehmung der Folklorisierung von Minderheitensprachen nicht unbedingt negativ ausfallen, sondern kann als einer vieler Bestandteile ethnischer Identität betrachtet werden, der funktional zum Einsatz kommt: These sentiments are shared by some of the young, but so far they tend to stop short of changing their linguistic behaviour substantially. Instead we have what may be called the folk-loreification of minority languages in the young, who put on their traditional language along with folk costume for a choral or folk-dance performance and afterwards slip back into the majority language at the same time as they change back into T-shirts and jeans. (Denison / Tragut 1990: 152; Herv. i. O.) Oppenrieder / Thurmair (2003: 56) setzen daher eine ganze Palette an Folgen der Mehrsprachigkeit in Bezug auf die Identität an, „von der grundlegenden Identitätsbedrohung bis hin zu einer lustvollen Ausgestaltung der eigenen Identität durch Mehrsprachigkeit, bewusste Sprachenwahl und Sprachwechsel“. 1.4.2 Faktoren der Sprachumstellung: ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen Nachdem die methodologischen Grundlagen zur Einflussnahme außersprachlicher Determinanten auf das Phänomen des Sprachwechsels vorgestellt wurden, soll das folgende Kapitel eine schematische Zusammenstellung der Hauptvariablen, welche die ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen aktuell beeinflussen, bieten. Da sprachökologische Modelle, wie Giles’ et al. (1977) Dreierschema zur Beschreibung der ethnolinguistischen Vitalität einer Sprache, meist eine spezifische Zusammenstellung sprachumstellungsfördernder Determinanten vornehmen (vgl. Pütz 1994: 61), wird zur Beschreibung der soziolinguistischen und soziokulturellen Ausgangssituation des Sassaresischen keinem der vorgeschlagenen Variablenkataloge streng gefolgt, sondern lediglich auf einzelne relevante Faktoren Bezug genommen bzw. diese zusammengefasst aufgeführt. Zunächst soll ein detaillierter historischer Rückblick auf die wichtigsten politischen, demographischen und gesellschaftlichen Faktoren des Sprachkontaktes bzw. des Bilinguismus, d. h. der Italianisierung der letzten zwei Jahrhunderte geliefert werden (Kap. 1.4.2.1). Anschließend wird der Stadt Sassari als multiplexer Sprach- und Kulturraum besondere Beachtung geschenkt (Kap. 1.4.2.2) sowie auf den Sprecherrückgang und die zunehmende Beschränkung des Sassaresischgebrauchs eingegangen (Kap. 1.4.2.3). Abschließend werden sprachpolitische und -planerische Hintergründe der Sprachumstellung diskutiert <?page no="73"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 73 (Kap. 1.4.2.4) und ein kurzes Zwischenfazit zur Ausgangslage der Vitalität des Sassaresischen gezogen (Kap. 1.4.3). 1.4.2.1 Der Beginn der Italianisierung - ein Rückblick auf politische, demographische und gesellschaftliche Faktoren 136 Zur Feststellung der ethnolinguistischen Vitalität des Sassaresischen ist ein Exkurs in außersprachliche Bereiche von Nöten, aus denen klar und deutlich die Schwierigkeiten des Erhalts der Sprache hervorgehen. An dieser Stelle bietet es sich an, zunächst einen historischen Rückblick vorzunehmen, um die politischen, demographischen und gesellschaftlichen Mechanismen und Variablen der Italianisierung Sardiniens kontextuell einbetten und die heutige Ausgangslage begründen zu können. Trotz früher Präsenz pisanischer und genuesischer Händler im Norden Sardiniens ist von einer offiziellen Italianisierung erst ab dem frühen 18. Jahrhundert auszugehen. Mit dem Jahr 1718 begann die sabaudische Herrschaft der Piemonteser über Sardinien, wobei das Italienische erst Mitte des 18. Jahrhunderts als offizielle Sprache der Gerichtsbarkeit und an Bildungsinstitutionen Eingang hielt (vgl. Rindler Schjerve 1987: 13). Loi Corvetto (2000: 151) spricht daher von einem „lento e graduale processo di italianizzazione“. Ein „intervento radicale“ (Loi Corvetto / Nesi 1993: 75) unternahm Minister Giovanni B. L. Bogino, als er im Jahr 1760 das Italienische obligatorisch an den Schulen und als offizielle Sprache Sardiniens einführte. 137 Hiermit reagierte Bogino auf die Notwendigkeit, den Handel zwischen Piemont und Sardinien auch in sprachlicher Hinsicht für die piemontesischen Funktionäre, „[…] che faticano a muoversi in un contesto linguistico estraneo“ (ibid. 75), zu vereinfachen. Immer mehr Volksschulen entstanden seitdem in den Dörfern (vgl. Sanna 2010: 37). Hinzu kamen die Wiedereröffnung und der Ausbau der Universität Sassari 1766 und der damit verbundene Versuch, Sardinien an das Bildungsniveau italienischer Hochschulen anzunähern. An den sardischen Universitäten fungierte das Italienische als Unterrichtssprache; außerdem pflegte das sardische Lehrpersonal engen Kontakt mit der Universität Turin (vgl. ibid. 37). Mit dem Versuch der Modernisierung der Bildung ging auch der Wunsch nach kultureller Anpassung, beispielsweise im Rahmen des Theaters, einher: „Il teatro si aprì alla produzione italiana e, nelle città, costituì uno dei canali di penetrazione dell’italiano e di affermazione del suo prestigio culturale“ (Dettori 1998: 1173). 136 Das vorliegende Kapitel ist eine stark überarbeitete Version eines Kapitels aus Linzmeier (2010). Vgl. hierzu auch Salvi (1973), Rindler Schjerve (1987, 2017), Pes (2006), Sanna (2010), Calaresu / Pisano (2017) und Linzmeier (2017: 99 f.). 137 Der Gebrauch des Spanischen wurde im selben Jahr verboten (vgl. Rindler Schjerve 2017: 34). <?page no="74"?> 74 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting Im Zuge der italienischen Einigung im Jahre 1861 wurde auch Sardinien dem neugeschaffenen Königreich eingegliedert. Zu diesem Zeitpunkt nahm das Italienische nach wie vor lediglich die Rolle der Verwaltungs- und Bildungssprache ein, wodurch das stabile Diglossiegefüge noch nicht gefährdet zu sein schien. Der Gebrauch des Italienischen war lediglich in urbanen Zentren gefestigt (vgl. Rindler Schjerve 1987: 14; Loi Corvetto / Nesi 1993: 88) und verbreitete sich allmählich innerhalb einer kleinen sardophonen Elite, die sich wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt durch das Aneignen von Kenntnissen des Italienischen erhoffte: „[…] i ceti abbienti della Sardegna rurale (i printzipales ) […] cominciarono a percepire molto concretamente lo svantaggio dell’essere monolingui sardo“ (Bolognesi / Heeringa 2005: 25; Herv. i. O.). Mit der Einführung der Schulpflicht infolge der legge Casati im Jahr 1859, die jedoch erst mit der legge Coppino im Jahr 1877 obligatorisch wurde (vgl. Dettori 1998: 1188), konnte ein zentraler Grundstein in der Italianisierungspolitik gelegt werden. Das Gesetz verpflichtete zum Schulbesuch bis zum 11. Lebensjahr (vgl. Rindler Schjerve 1987: 69), wobei sich die hohen Analphabetenzahlen (1861: 89,7 %) nur allmählich verringerten (1871: 86,1 %; 1901: 68,3 %; 1911: 58 %) (vgl. ibid. 69) und eine tiefgreifende Italianisierung zunächst verhinderten. Als „[…] primo canale d’irradiazione di neologismi italiani […]“ (Blasco Ferrer 1984: 172) ist daher nicht das Schulwesen anzusehen, sondern der Einfluss der ca. 100.000 Mann umfassenden Brigata Sassari (bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 859.000 im Jahr 1921), die aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte: „Sul piano linguistico la simbiosi di elementi dialettofoni eterogenei comportò un livellamento delle strutture più particolari dei singoli dialetti, nonché una concomitante fruizione di schemi preferenziali unitari o italiani popolari“ (ibid. 170). Im Zuge der im Jahr 1922 beginnenden faschistischen und auf Zentralisierung gepolten Ära entstanden im Rahmen zahlreicher Urbarmachungsprojekte „nuovi nuclei dei popolazione alloglotta“ (Blasco Ferrer 1984: 170), d. h. Städte wie die Neugründungen Carbonia und Mussolinia (heute: Arborea) sowie Siedlungen, die Sarden verschiedener Regionen und Italiener des Festlandes anzogen (z. B. Venezianer in Mussolinia, Ferraresen in Fertilia bei Alghero, Lombarden in Sanluri) (vgl. ibid. 170; Sanna 2010: 54 f.). Durch das ,Milliardengesetz‘ ( legge del miliardo ) wurde Sardinien eine Milliarde Lire für die Modernisierung der kommenden zehn Jahre zugestanden (vgl. Sanna 2010: 53). Hinzu kamen Iniziativen zur Verbreitung der Nationalsprache durch den Bildungsminster Giovanni Gentile ( riforma Gentile 1923) 138 sowie 1934 der Versuch, durch das Verbot der 138 Unter der Leitung der Società Filologica Romana erschienen z. B. in der Reihe Dal dialetto alla lingua Übungshefte zum Übersetzen aus dem Sassaresischen und dem Galluresischen in die Nationalsprache für die 3., 4. und 5. Klasse (vgl. Parenti 1925). Die Grundschullehrer wurden hier explizit darauf hingewiesen, „[…] che questi manualetti devono <?page no="75"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 75 Verwendung des Lokaldialektes in der Schule, den Gebrauch der Mundarten einzudämmen und eine sprachliche Vereinheitlichung zu bewirken (vgl. Sanna 2010: 78 f.). Der Schule kam somit bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Funktion als „Akkulturationsagentur“ (Rindler Schjerve 1987: 68) zu. Im Jahr 1952 sank die Analphabetenrate bereits auf 23 % (vgl. Sanna 2010: 100). Der Wunsch nach Teilhabe an den sozio-ökonomischen und kulturellen Fortschritten führte zudem zur Konzentration von Sarden unterschiedlicher regionaler und sozialer Herkunft in den Städten, „[…] per compiere gli studi o per perfezionare la propria formazione professionale“ (Loi Corvetto / Nesi 1993: 82). 139 Ab dem 20. Jahrhundert ist daher von einer unaufhörlich voranschreitenden und umfassenden Italianisierung auszugehen (vgl. Sole 1991: 121), die den Kontakt der Städte mit ihrem Umland begünstigte und eine Situation der Diglossie mit Bilinguismus einleitete (Fishman 1967, 1980), wobei sich schon bald die Tendenz zur einsprachigen Erziehung abzeichnete, wie Rindler Schjerve (1987: 54) betont: Ende der 60er Jahre war diese Entwicklung so fortgeschritten, daß die Bevölkerung in den größeren Städten weitgehend italienisch akkulturiert war, - v. a. die bürgerlichen Bildungsschichten -, und daß man im ländlichen Bereich langsam dazu überging, die Kinder auf italienisch zu erziehen. In Folge der militärischen Niederlage Italiens wurde im Rahmen zahlreicher Wirtschaftshilfeprogramme (1962) die Ansiedelung von italienischen Großindustrien (vgl. Mensching 1992: 12) und somit die Entstehung städtischer Ballungsräume gefördert. Insbesondere die Großstädte Sardiniens erfuhren in der Nachkriegszeit ein rasantes Bevölkerungswachstum und waren geprägt durch Tertiarisierungs- und Modernisierungsprozesse (vgl. Brigaglia 2 1976). Hinzu kam, dass der Ausbau des Dienstleistungssektors und der Administration natürlich auch deshalb die Verwendung des Italienischen im distanzsprachlichen Bereich förderte, da diese Bereiche „[…] durchweg stark schriftorientierte Berufe umfassen“ (Mattheier 1980: 152). In der Provinz Sassari kam es zu einem Bevölkerungs- und Beschäftigungsanstieg durch die Niederlassung der erdölverarbeitenden SIR im Jahr 1962 (vgl. Rindler Schjerve 1987: 63, 66). Der Ausbau des Industriezweiges in den servire non ad <insegnare il dialetto>, che gli scolari conoscono già a perfezione, ma ad insegnare la lingua per mezzo di esso“ (ibid. „Avvertenze per i maestri“). 139 Mattheier (1980: 151): „[…] insofern als städtische Sprache wie städtische Lebensweise allgemein attraktiver und vorbildlicher wird“. Vgl. hierzu das Konzept der Urbanisierung: „Urbanisierung wird hier ausdrücklich von >Verstädterung< abgehoben und bezeichnet die Durchsetzung städtisch und kosmopolitisch orientierter Lebensformen und die damit verbundene Veränderung im gesellschaftlichen Wert- und Normensystem“ (ibid. 153). <?page no="76"?> 76 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting urbanen Räumen und die intrainsularen Migrationswellen führten zu starken Veränderungen des demographischen Gleichgewichtes. So bewirkte beispielsweise der Einbruch des Bergbaus in den 50er Jahren sowie die Landflucht von in traditionellen Erwerbssektoren, wie der Landwirtschaft, dem Handwerk und der Viehzucht, tätigen Sarden eine starke Umschichtung der Bevölkerung: Über 625.000 Sarden (43 % der damaligen Gesamtbevölkerung) verlegten von 1955 bis 1975 ihren Wohnsitz auf Sardinien (vgl. ibid. 65). Die zunehmende Gewährleistung der Mobilität begünstigte auch zahlreiche interregionale Heiraten zwischen Sprechern unterschiedlicher dialektaler Herkunft, die fortan häufig als gemeinsame Familiensprache das Italienische verwendeten und an ihre Kinder weitergaben: „Die Auswirkungen der Binnenmigration waren, so gesehen, folgenschwer für die Stabilität der bilingualen Diglossie, die sich funktional zugunsten des Italienischen verschob“ (ibid. 67). Neben der zunehmenden intrainsularen Migration förderte auch die Emigration eine „[…] osmosi di popolazione eterofona nei centri industrializzati […]“ sowie ein damit verbundenes „[…] nuovo clima di solidarità linguistica nei centri urbani settentrionali […]“ (Blasco Ferrer 1984: 171). Rudas spricht von einer massiven Auswanderung von insgesamt 180.000 Sarden im Zeitraum 1953 bis 1971 (vgl. Rudas 1974: 21), die an die zunehmend ungünstigen Arbeits- und Lebensbedingungen gekoppelt ist. Salvi (1973: 545) geht sogar von 350.000 Sarden aus, die Sardinien verließen. Auch eine zeitlich bedingte Migration, wie beispielsweise im Rahmen saisonaler Arbeit im Tourismus und diverser Industriebetriebe (vgl. Loi Corvetto / Nesi 1993: 98) oder des Militärdienstes, der vielen Sarden ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal einen Aufenthalt auf dem italienischen Festland ermöglichte, begünstigte unter Sprechern verschiedener Varietäten und Sprachen das Aufkommen vieler „casi di ‘mimetismo linguistico’“ (ibid. 96). Viele für mehrere Jahre nach Italien oder Europa ausgewanderte Sarden kehrten nicht nur mit neuen beruflichen Erfahrungen zurück, sondern „[…] con la consapevolezza della funzione che la qualificazione professionale e l’istruzione in genere hanno e soprattutto si tratta di lavoratori con abitudini linguistiche che non sono più quelle dialettali“ (ibid. 97). Das 20. Jahrhundert war jedoch nicht nur durch starke gesellschaftliche, industrielle und infrastrukturelle Modernisierungstendenzen gekennzeichnet, sondern ermöglichte dem Großteil der primär sardophonen Bevölkerung die Nutzung von Massenmedien, die die Verbreitung der italienischen Sprache weiter beförderten (vgl. Blasco Ferrer 1984: 171; Sanna 2010: 102 f.). Im Falle der hieraus resultierenden, aktuell auf Sardinien vorherrschenden Zweisprachigkeit ist folglich nicht von ursprünglich monolingualen Sprachgruppen, die aufeinandertrafen, auszugehen, sondern von einer mittlerweile, generell gesellschaftlich bilingual geprägten Situation, in der sich die Sarden <?page no="77"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 77 insbesondere seit dem 20. Jahrhundert befinden. 140 Eine von gesellschaftlicher Zweisprachigkeit ( societal bilingualism ) geprägte Gemeinschaft ist allerdings „[…] not simply a collection of bilingual individuals“ (Mackey 2005: 1487), da ihre Sprecher unterschiedliche Kompetenzgrade der verbreiteten Idiome aufweisen können (vgl. ibid. 1488). Dies trifft insbesondere in Bezug auf die angestammten Lokalidiome zu, nicht jedoch auf das Regionalitalienische, das sich mittlerweile als überregionale Verkehrssprache Sardiniens etabliert hat: Si è affermato così l’italiano quale lingua comune, seppur caratterizzato regionalmente, e l’affermazione di una lingua come patrimonio di tutti, diffusa appunto in tutto il territorio isolano, ha certamente comportato l’uso limitato delle varietà dialettali che attualmente vengono impiegate soprattutto nei rapporti informali, nel polo parlato. (Loi Corvetto 2000: 155) 1.4.2.2 Die Stadt Sassari als multiplexer Varietäten- und Kulturraum in Abgrenzung zu der Gemeinde Sorso 141 Im Rahmen sprachökologischer Untersuchungen sollte zudem demographischen Faktoren Aufmerksamkeit zukommen: Ausschlaggebend für die ethnolinguistische Vitalität kann u. a. die Konzentration und Densität sowie die Homogenität bzw. Heterogenität (vgl. Haarmann 1986) der Sprechergruppe sein. Auch die Netzwerkbeschaffenheit (vgl. Milroy 1980, 2003) sowie die Ortsloyalität 142 der Sprecher sind als Faktoren zu analysieren, die an die Variable Raum zu binden sind und den Sprachwechsel bzw. -erhalt beeinflussen können. Insbesondere Städte sind als Untersuchungsräume von großem Interesse, da in urbanen Kontexten zahlreiche die Sprachumstellung und den Sprachwandel befördernde Faktoren zusammenspielen. Für Städte ist grundsätzlich davon auszugehen, dass bei ihren Bewohnern „[…] Spracherhaltungstendenzen weniger stark ausgeprägt sind als dies für ländliche Bewohner zutrifft […]“ (Pütz 1994: 59). Städte sind dicht besiedelte, bevölkerungsreiche, multiplexe Schlüsselorte sprachlicher und kultureller Vielfalt und Mischung, d. h. „Städte sind grundsätzlich immer Zentren der Mehrsprachigkeit […]“ (Riehl 3 2014: 192). In ihnen 140 Dies betont auch Rindler Schjerve (1983: 83 f.). Sie spricht von einer „[…] Dynamik des Bilinguismus, der in Sardinien aufgrund geographischer und historischer Bedingungen nicht als Sprachkontakt zwischen zwei Sprachgruppen, sondern als Auseinandersetzung einer Sprachgruppe mit zwei Sprachen aufgefaßt werden muß.“ 141 Vgl. hierzu auch Linzmeier (2017: 103 f.). 142 Hierzu Leuenberger (1999: 23): „Ortsloyalität meint die - wie auch immer geartete - Beziehung, die eine Person zu einem oder mehreren Orten hat.“ Je mehr sich Sprecher ihrem Heimatort zugehörig und verbunden fühlen, desto positiver fällt gewöhnlich die Einstellung gegenüber der Lokalvarietät aus und desto eher besteht der Wille zum Erhalt des jeweiligen Idioms (vgl. Mattheier 1980: 70). <?page no="78"?> 78 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting tritt meist die den Sprachwandel begünstigende weak-tie network -Struktur zu Tage (vgl. Wright 2008: 161), während kleinere Gemeinden über festere Netzwerkstrukturen und engere Kommunikationsnetze und ihre Sprecher über eine meist höhere Ortsloyalität verfügen. 143 Städte sind Orte „ soziale [r] und emotionale [r] Distanz bei gleichzeitig großer räumlicher Nähe “ (Schwitalla 2008: 17; Herv. i. O.). Dies kann u. a. auch mit dem Vorherrschen anonym und distanzsprachlich geprägter Interaktionsfelder in der Stadt erklärt werden, die den Gebrauch der Prestigesprache befördern, während der Sprachgebrauch in kleineren Gemeinden stark von der Bekanntheit und Vertrautheit der Sprecher untereinander geprägt ist. 144 Sole (1997) betont daher, dass insbesondere in urbanen Zentren wie Sassari sämtliche, die Italianisierung vorantreibende Faktoren zusammenspielen: A Sassari si trovano infatti concentrati in misura notevole tutti quei fattori che allo stesso tempo determinano sia l’incremento e la crescita che l’emarginazione dagli usi della lingua, vale a dire le scuole, le banche, le strutture amministrative e burocratiche in genere, i mass media, le nuove tecnologie dell’informazione, ecc. (Sole 1997: 21) Als zweitgrößte Stadt Sardiniens fungiert Sassari als Metropole des Nordens und ist seit jeher durch einen starken Zuzug von Menschen gekennzeichnet: Die Stadt ist von einer starken Durchmischung der Bevölkerung durch die Niederlassung von Sardischsprechern der umliegenden Gemeinden geprägt, ein Phänomen, das eine historische Kontinuität aufweist. Hieraus ergibt sich seit jeher eine starke Kopräsenz des Sardischen, insbesondere in bestimmten Vierteln (z. B. Li Punti ). 145 Zudem wird die Stadt aktuell aufgrund stadtinterner Verlagerung der Wohnzentren vor allem durch den Zuwachs neuer ethnischer Gruppen als multilingualer Varietäten- und Kulturraum deutlich erweitert. 143 Vgl. hierzu Milroy (2003): „[…] the close-knit network is interpreted as an important mechanism of dialect maintenance.“ 144 Vgl. hierzu die im Rahmen der soziolinguistischen Befragung erfassten und in den Sprecherprofilen individuell zusammengestellten Aussagen zur Ortsloyalität der konsultierten Sprecher des Sassaresischen und Sorsesischen (Frage G1-G13) (vgl. Kap. 5). 145 Vgl. hierzu die Ergebnisse einer Befragung von ca. 300, im Viertel Li Punti lebender Informanten mit logudoresischem Sprachhintergrund (im Alter von 30 bis 70 Jahren): „[…] tutti, uomini e donne riescono a sostenere una conversazione di senso comune in logudorese“ (Pinna 1992: 78). Vgl. auch Maxia (2010a: 26): „Nell’agro e nei sobborghi, ma anche in alcuni quartieri di Sassari (specialmente Li Punti) e di Porto Torres, il sardo logudorese concorre per numero di locutori col sassarese“ sowie Piredda (2013: 52 f.): „Non bisogna scordare che Sassari è la seconda città più grande della Sardegna ed è in buona parte composta da sardofoni provenienti da paesi vicini, i cosiddetti accudiddi , ‘sopraggiunti’, che poco conoscono il sassarese e che continuano ad usare la loro varietà di sardo.“ <?page no="79"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 79 Ab dem zweiten Weltkrieg bis zum Beginn der Neunzigerjahre nahm die Bevölkerung im Stadtzentrum zunächst rapide ab. Ein Großteil der Einwohner zog in die neu gebauten Wohnviertel Monte Rosello , Sacro Cuore , Latte Dolce und Santa Maria (vgl. Bua et al. 2013: 117). Einkaufsaktivitäten verlagerten sich zunehmend vom Stadtzentrum nach Außen, wie z. B. auf das Einkaufszentrum Predda Niedda , ein […] centro commerciale all’americana, con decine di capannoni trasformati in supermercati e attrezzati alla vendita di qualunque prodotto, richiamando migliaia di clienti dai paesi dell’hinterland e dalla stessa città, ma anche impoverendo il centro storico cittadino, i cui negozi videro diminuire drasticamente il numero dei clienti nel giro di pochi anni. (Enna / Pomata 2008: 219) Sassari kann aus heutiger Sicht als eine Stadt interpretiert werden, die in den letzten Jahrzehnten unkontrolliert in die Breite gewachsen ist und es nicht geschafft hat, die abgelegenen Viertel in den städtischen Einzugsraum zu integrieren: La città di Sassari oggi si presenta come un agglomerato urbano scomposto, sfrangiato, cresciuto per giustapposizioni di pezzi di città e quindi privo di struttura. Questo processo di espansione, spesso non progettato e non gestito (talvolta intenzionalmente), ha prodotto una città priva di riferimenti chiari, “senza centro”, scomposta, dove sono riconoscibili tante e diverse periferie . (Bua et al. 2013: 122; Herv. i. O.) Bewohner der in der Peripherie gelegenen Viertel wie Latte Dolce und Santa Maria di Pisa beziehen sich auf Sassari „[…] come se fosse un luogo ‘altro’ rispetto al proprio quartiere: capita molto spesso di sentire un abitante del quartiere di Latte Dolce pronunciare la frase ‘Vado a Sassari’“ (Bua et al. 2013: 99, Fn 5). Erst seit den letzten Jahren zeichnet sich ein leichter Zuwachs an Einwohnern im historischen Stadtzentrum ab, die insbesondere durch niedrige Mieten angezogen werden. Hierbei handelt es sich oftmals um Studenten und insbesondere um sog. extra-comunitari (vgl. Bua et al. 2013: 117-121). Toso (2012) bemerkt, dass im Jahr 2010 2 % der Stadtbevölkerung von Immigranten aus Rumänien, China und dem Senegal ausgemacht wurden. Diese beziehen häufig Wohnungen in den älteren Vierteln der Stadt, die Sole (1999) als festen Bestandteil der ursprünglichen Sassareseria interpretierte (vgl. Toso 2012: 70). Auf dieser Grundlage bezeichnen Bua et al. (2013: 122) das historische Stadtzentrum als „la periferia più ‘estrema e urgente’ della città di Sassari“. Das Aufeinandertreffen der „residenti ‘storici’“, die ihre Wohnungen im historischen Stadtzentrum nicht aufgeben möchten oder schlichtweg aus Kostengründen nicht können sowie neuer Bewohner, wie aus dem Ausland stammende Immigranten oder junge aus <?page no="80"?> 80 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting anderen Zonen und Vierteln zuziehende Sarden, 146 führt zwar einerseits oftmals zu Konflikten, macht aber andererseits das Stadtzentrum zu einem „terreno di sperimentazione particolarmente ‘fertile’, un laborattorio urbano di politiche e progetti di rigenerazione urbana centrati sugli abitanti, facilmente trasferibili a tutte le altre periferie della città“ (ibid. 123). Auf dieser Basis ergeben sich erneute „[…] situazioni inedite di commistione linguistica e di riformulazione identitaria, che confermano il ruolo di Sassari come uno dei principali «luoghi» del confronto e dell’innovazione, non soltanto linguistica, nel contesto isolano“ (Toso 2012: 70). Der Sprachgebrauch des Sassaresischen variiert zudem deutlich innerhalb der einzelnen Viertel Sassaris. Pes’ jugendliche Informanten beschreiben beispielsweise das Wohnviertel Luna e Sole als dialektfreien Raum, während Il Monte sehr stark dialektal geprägt zu sein scheint (Pes 2006: 125). Die sprachliche und kulturelle Heterogenität der Stadt Sassari sowie die stadtstrukturelle Defragmentierung, die zu einer Auflösung historischer und konzentrierter, die Sprache bewahrender Viertel führte, hat die Vitalität des Sassaresischen in den letzten Jahrzehnten entscheidend beeinflusst. Laut Maxia (2010a: 28) ist das Sassaresische in Sassari heutzutage „[…] in netto regresso“ und nur mehr „[…] in contesti sempre più circoscritti […]“ in Verwendung. Eine aktive Kompetenz des Sassaresischen schreibt er dennoch nach wie vor etwa der Hälfte der Einwohner Sassaris zu (vgl. ibid.). Lupinu (2007b: 100) betont allerdings, dass lediglich 30,2 % der Bewohner Sassaris aktiv das Sassaresische beherrschen, während 25 % passive Kenntnisse aufweisen; 24,2 % sprechen und 13,1 % verstehen Sardisch. 147 Insgesamt bedeutet dies, dass 56,9 % der Befragten in Sassari aktiv eines der Lokalidiome beherrschen, während 40 % über passive Kenntnisse einer der genannten Sprachen verfügen. Die Vitalität des Sassaresischen schätzt Maxia für Sorso (und auch Porto Torres) als deutlich höher ein (vgl. Maxia 2010a: 220 f., 2010b: 74). Zwar kann heutzutage nicht mehr von einer typischen agrarwirtschaftlichen Prägung Sorsos die Rede sein (vgl. Kap. 1.2.2) - zahlreiche Sorsesen üben z. B. ihren Beruf in Sassari und Porto Torres sowie im Dienstleistungssektor aus -, dennoch ist für Sorso, das als recht dicht besiedelt zu charakterisieren ist, eine deutlich homogenere sprachliche Situation anzusetzen, die den Gebrauch des Sorsesischen neben dem Italienischen nach wie vor in deutlich mehr Kontexten ermöglicht. Ausschlaggebend ist hierbei die oftmals vorhandene Beziehung bzw. 146 In heutiger Zeit konzentrieren sich in der Stadt neben der Universität Sassaris zahlreiche weiterführende Schulen, die junge Sarden unterschiedlicher regionaler und dialektaler Herkunft anziehen (vgl. Loi Corvetto / Nesi 1993: 95). 147 2,5 % der Befragten haben aktive Kenntnisse des Galluresischen (1,3 % passive); 0,6 % geben an, das Algheresische zu verstehen (vgl. Lupinu 2007b: 100). <?page no="81"?> Bekanntheit und Vertrautheit mit Nachbarn bzw. mit Angestellten in Ämtern und Geschäften, das Sich-Treffen auf der Piazza bzw. vor der Kirche im doch recht überschaubaren Ortskern. 148 Auch die geringe geographische Entfernung Sorsos zu Sassari ist für den Erhalt der dichten Netzwerkstruktur der Gemeinde und der Nähe zu Familienangehörigen und somit potentiellen Gesprächspartnern ausschlaggebend. Ein Umzug in die Großstadt ist nicht nötig bzw. aus Kostengründen oftmals nicht möglich. Um einer Ausbildung, Arbeit oder Freizeitaktivität nachzugehen, kann täglich in die Stadt gependelt werden. Auch wenn durch die Nähe zu Sassari innerhalb der jüngeren Generationen parallel existierende, nach außen orientierte Netzwerke geringerer Dichte oder höherer Heterogenität entstehen, so ist dennoch anzunehmen, dass das Netzwerk der Sorsesen innerhalb Sorsos auch heute noch ein deutlich engeres ist und die Ortsloyalität und auch Loyalität gegenüber dem Lokaldialekt als wesentlich höher einzuschätzen ist als es in Sassari der Fall ist. Dies scheint auch der Eindruck der im Rahmen der vorliegenden Arbeit befragten Sprecher des Sassaresesischen und Sorsesischen zu sein. 149 Die Sprecher bejahten überwiegend (18 ≙ 90 %, N =20) Frage E12 des soziolinguistischen Fragebogens È vero che a Sassari il dialetto viene usato sempre di meno, mentre a Sorso è più vitale? . Sie begründeten dies mit der unterschiedlichen Größe der beiden Orte, der Struktur der Netzwerke und der hieran geknüpften Tendenz zur Veränderung bzw. Bewahrung von traditionellen Strukturen, z. B.: SORS - SS -1980w „perché [Sorso, L. L.] è un paese piccolo e meno esposto ai cambiamenti“ SASS - SS -1986w „sì, perché Sorso è un paese piccolino e si conservano le tradizioni“ SORS - SS -1988m-A „Sorso è un paese più piccolo“ SORS - SS -1986w „sì, perché a Sorso il dialetto è più sentito tra i cittadini“ SORS - VS -1955w „i paesani sono più compatti rispetto ai cittadini“ SASS - SS -1988m-A „perché [i Sorsesi, L. L.] sono immersi in un contesto culturale profondamente legato alle proprie radici“ 148 Vgl. hierzu ebenso Milroy (2003) über ihre Studie zu Belfast: „The strongest vernacular speakers were generally those whose neighborhood network ties were the strongest.“ 149 Vgl. hierzu auch die individuellen, im Rahmen der Sprecherprofile (Kap. 5) erfassten Angaben zu Frage E14 Pensa che a Sassari il dialetto un giorno sparisca? und Frage E15 Pensa che a Sorso il dialetto un giorno sparisca? <?page no="82"?> 82 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting Auch die Heterogenität bzw. Homogenität der Bewohner spielt in der Wahrnehmung der Befragten eine Rolle für den Spracherhalt bzw. die Sprachaufgabe: SORS - VS -1962m „a Sassari è pieno di <acudiddi> che sono residenti non di Sassari“ SORS - SS -1988m-B „sì, perché a Sassari vivono molte persone che sono nate in altre città“ Ebenso sind die Rolle Sassaris als Großstadt und seine Funktionen, die es für Sarden unterschiedlicher sprachlicher Herkunft erfüllen muss, Grund für die Dominanz des Italienischen - der allen Sarden bekannten Verkehrssprache, deren Gebrauch in Nähewie Distanzbereichen angemessen ist: SORS - VS -1981m „Sassari essendo una città, ha bisogno di comunicazione normale per le persone che arrivano da altri paesi limitrofi“ SASS - SS -2000m „in tziddai l’itarianu è la linga ‘comune’“ (it. ,in città l’italiano è la lingua ‘comune’‘) SASS / SORS - VS / RS -1960w „perché [a Sassari, L. L.] si parla di più in italiano“ SASS - SS -1987m „a Sassari [il sassarese, L. L.] è vissuto come un momento di scherzo“ 1.4.2.3 Sprecherrückgang und Beschränkung des Sassaresischgebrauchs 150 Die Sprachsituation der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hat sich insbesondere durch die durch Medien und Bildung beförderte Orientierung Sardiniens an der italienischen Kultur und Sprache weit von einer stabilen Diglossiesituation, in der die Interaktionsdomänen von H- und L -Varietät getrennt, jedoch stabil sind, entfernt. Diese Ausgangslage lässt sich daher im Anschluss an Fishmans (1967, 1980) kombiniertes Bilinguismus-Diglossie-Modell mit dem Terminus des instabilen Bilinguismus (vgl. z. B. Rindler Schjerve 1987: 50) bzw. der durch Berrutto (1987) beschriebenen Dilalie bezeichnen, da sich die prestigereiche H -Varietät ( lingua standard ) nicht nur in ihren traditionell formalen Funktionen sondern auch in den informellen und spontansprachlichen Interaktionssphären der L -Varietät ( dialetto ) durchsetzt - mit der Tendenz letztere in ihren charakteristischen Kommunikationsdomänen, wie z. B. in der Familie, 150 Vgl. hierzu auch Linzmeier (2017: 104-106). <?page no="83"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 83 zu ersetzen (vgl. Rindler Schjerve 1987: 51; Piredda 2013: 63; Kap. 1.4.1). Die mangelhafte intergenerationale Weitergabe des Idioms sowie seine Funktionsbeschränkungen, d. h. die Restriktion der Sprachgebrauchsbereiche, führen zunehmend zu einer „progressiva emarginazione dagli usi del sassarese“ (Sole 1997: 20). Aktuelle Studien zur Verbreitung des Sassaresischen belegen diesen Trend: 151 Sole (1997, 1999) bringt eine Studie aus den Jahren 1986-1987 (Laisceddu) an, in deren Rahmen das Sprachverhalten von Schülern aus Sassari (des VII . circolo ) getestet wurde: Hierbei gaben 97,5 % der Befragten an, vorwiegend Italienisch zu sprechen; 28,8 % wechseln gelegentlich in das Sassaresische. 60 % der Eltern sprechen mit den befragten Schülern ausschließlich Italienisch (ebenso Großeltern zu 56,3 %), nur 18,8 % verwenden zusätzlich das Sassaresische; lediglich 5 % machen ausschließlich von der sassaresischen Sprache Gebrauch. Eine weitere Studie aus den Jahren 1992-1993 (Mameli), in der 222 Schüler der zwei letzten Klassenstufen dreier Grundschulen (des I./ II . circolo ) zu ihrem Sprachverhalten befragt wurden, zeigte, dass 39,63 % der Informanten ausschließlich Italienisch sprechen; 50,5 % verfügen über Kenntnisse beider Sprachen (vgl. Sole 1997: 25 f., 1999: 102). Maxia (2008b, 2010b) analysierte mithilfe eines 20 Fragen umfassenden Fragebogens das Sprachverhalten von 78 9-11jährigen sassaresophonen Kindern einer Grundschule im Viertel Rizeddu in Sassari und ihrer Familien. 152 Lediglich 7,1 % der befragten Schüler sprechen laut eigener Angabe Sassaresisch, allerdings halten sie mehrheitlich das Erlernen der Lokalvarietät in der Schule für wichtig und wünschen sich einen häufigeren Gebrauch des Idioms in der Gesellschaft sowie im familiären Umfeld (vgl. Maxia 2010b: 75). Im Jahr 2007 gaben anlässlich einer im Auftrag der Autonomen Region Sardinien geführten Umfrage über 30 % der sardischen Bevölkerung an, lediglich entweder passive Kenntnisse einer lokalen Mundart aufweisen zu können bzw. ausschließlich das Italienische zu verwenden. Dieser Wert basiert v. a. auf den Angaben von Frauen, jungen Bevölkerungsgruppen, Stadtbewohnern und Angehörigen der Mittel- und Oberschicht (vgl. Oppo 2007c: 10). Im sassaresophonen Sprachraum gaben von 575 Befragten 41,4 % an, aktive Kenntnisse des Sassaresischen zu haben, 40,3 % passive und 18,3 % keine (vgl. Spiga 2007a: 70, Tab. 8.3). 50,7 % der männlichen und 31,1 % der weiblichen Informanten dieses Sprachraumes sprechen Sassaresisch (vgl. ibid. Tab. 8.4). Die Kompetenzgrade des Sassaresischen sind zudem generationell gestaffelt: Über aktive Kenntnisse 151 Natürlich müssen die Ergebnisse von Meinungsumfragen stets mit Vorsicht betrachtet werden (vgl. Nelde 1995: 83). 152 Insgesamt wurden 330 Schüler befragt, davon 78 sassaresophone (vgl. Maxia 2008b). <?page no="84"?> 84 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting verfügen nach Spiga 42,8 % der 15 bis 34jährigen, 41,7 % der 35 bis 59jährigen und 38,3 % der über 60jährigen (vgl. ibid. Tab. 8.5). Je höher der Bildungsgrad der Befragten, desto geringer fällt die Verwendung des Sassaresischen aus (vgl. ibid. Tab. 8.6). 60,3 % der Befragten aus der Arbeiterschicht und 34,8 % der Mittelschicht gaben an, Sassaresisch zu sprechen (vgl. ibid. 71, Tab. 8.7). Der Gebrauch des Sassaresischen differiert zusätzlich im Hinblick auf den Gesprächspartner bzw. den Verwendungskontext und ist generell einer starken Verdrängung durch das Italienische ausgesetzt. Insbesondere mit dem Lebenspartner, den eigenen Kindern, mit Bekannten und Fremden sowie in formelleren Interaktionsbereichen wie im Gespräch mit dem Arzt, auf dem Amt oder an Orten kultureller Praktiken aber auch in der Bar übersteigt die Verwendung des Italienischen ganz eindeutig den Gebrauch des Sassaresischen. Wenn überhaupt, so wird das Sassaresische neben dem Italienischen verwendet (z. B. mit den Eltern, Freunden, Bekannten, in der Bar). Ein ausschließlicher Rückgriff auf das Sassaresische ist so gut wie kaum vorhanden. 153 verwendetes Idiom N Italienisch Sassaresisch beides mit den Eltern 54,2 21,9 23,9 155 mit dem Partner 69,4 17,4 13,2 121 mit den Kindern 74,7 6,7 18,6 194 mit Freunden 51,5 10,4 38,1 404 mit Bekannten 67,8 7,4 24,8 202 mit Fremden 83,7 3,5 12,9 202 mit dem Familienarzt 91,1 5,0 4,0 202 in der Bar 68,2 9,4 22,4 192 auf Gemeindeämtern 94,6 2,5 3,0 202 an Orten kultureller Praktiken 93,0 1,8 5,3 171 Tab. 1: Verwendungsbereiche des Sassaresischen; Befragte aus dem sassaresischsprachigen Sprachraum nach Spiga (2007a: 71-73, Tab. 8.9-8.18) 153 Vgl. hierzu die individuellen, im Rahmen der Sprecherprofile (Kap. 5) erfassten Angaben der Informanten zur Verwendung des Sassaresischen / Sorsesischen. <?page no="85"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 85 Fremdheit stellt folglich einen wesentlichen Faktor bei der Sprachwahl dar: Im Rahmen der soziolinguistischen Befragung mittels Fragebogen wurde nochmals deutlich, dass 14 der befragten Sprecher (≙ 70 %, N =20), niemals mit Fremden Sarden Sassaresisch sprechen würden. Auch Sprecher des Sassaresischen verwenden im Kontakt miteinander häufig das Italienische: 154 Dies kann aus Gründen des Respekts, der Erziehung, der formellen Gesprächsebene mit Fremden sowie der Gewohnheit erfolgen, z. B.: SORS - VS -1962m „per educazione come dicevano a scuola“ SASS - SS -1988m-A „perché è più formale l’italiano“ SASS - SS -1989m „la lingua principale è l’italiano - come fosse un motivo d’educazione“ SASS - SS -1988m-B „perché in genere si dialoga in italiano“ SORS - VS -1981m „perchè si può affrontare un discorso più serio - quindi si usa la lingua italiana“ SORS - VS / RS -1971w „perché è la lingua che si usa normalmente“ SORS - SS -1980w „perché è la lingua comune“ SASS - SS -1988m-B „[l’uso del sassarese, L. L.] potrebbe essere non approvato, grezzo“ Das Fehlen einer vertrauten Basis verhindert den Rückgriff auf das Sassaresische: SASS / SORS - VS / RS -1960w „quando non c’è confidenza“ Der Rekurs auf das Italienische kann auch aus Gründen der Klarheit und des Sich-Besser-Ausdrücken-Wollens erfolgen: SORS - VS -1981m „perché non riesce a farsi capire o sbaglia parole [usando il sassarese / sorsese, L. L.]“ SORS - SS -1986w „i miei genitori lo fanno per spiegarsi meglio“ SORS - SS -1986w „perché mi esprimo meglio“ 154 Vgl. hierzu Frage C13 Se un parlante del sassarese / sorsese parla italiano con Lei, perchè lo fa? Perché non usa il sassarese / sorsese? und C14 Usa l’italiano anche con le persone che sanno parlare il dialetto locale? des soziolinguistischen Fragebogens. <?page no="86"?> 86 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting Selbst für die vorliegende Forschungsarbeit konsultierte Sprecher des Sassaresischen bzw. Sorsesischen, die seit vielen Jahren mit einem / r Sprecher / in derselben Varietät eng bekannt, liiert oder verheiratet sind, gaben oftmals an, untereinander nur selten auf das Sassaresische zurückzugreifen. 155 Grund hierfür sind z. B. bei Elternpaaren nicht nur die gemeinsamen Kinder, die man bevorzugt auf Italienisch erziehen möchte - weshalb das Italienische zur gemeinsamen Sprache aller innerhalb der Familie wird - sondern auch die Tatsache, dass sich Sprecher, die sich heutzutage vertraut sind, zu einem früheren Zeitpunkt fremd waren. Dies bedeutet, dass das Kennenlernen des Partners zunächst unter Verwendung des üblicherweise im Kontakt mit Fremden verwendeten Regionalitalienischen verlief. Da sich das Italienische somit als Sprache der beiden beteiligten Sprecher festigte, etablierte es sich in der Funktion als Paarsprache. Diese durch das Italienische besetzte Domäne zu einem späteren Zeitpunkt durch das Sassaresische abzulösen, ist unüblich. Sprecher, die ganz natürlich und ungezwungen untereinander das Sassaresische verwenden, kennen sich meistens bereits seit ihrer Kindheit, d. h. dies trifft auf Kinder im Kontakt mit ihren Eltern und Großeltern zu sowie auf Freunde, die sich bereits in ihrer Kindheit oder Jugend kennenlernten. Dieses Zeitfenster scheint mit dem Eintritt in das junge Erwachsenenalter enger bzw. geschlossen zu werden. Mit zunehmender Einschränkung des Gebrauchsradius des Sassaresischen und der Identifikation über das kontinentalitalienische Sprach- und Kulturmodell ist in heutiger Zeit die Wahrnehmung des Sassaresischen als deutlich diastratisch niedrig markiertes Idiom vorrangig, dessen Verwendung sich auf die „ceti popolari“ (Maxia 2010a: 26) beschränkt. 156 Auf die Bitte, das Sassaresische / Sorsesische und seine Aussprache zu charakterisieren, 157 äußerten die im Rahmen der vorliegenden Arbeit befragten Informanten u. a. grezzo (2) , rude , suona volgare , un po’ volgare , non è elegante . Andererseits zeigt sich, dass das Sassaresische die Nische des Jugendjargons erlangt hat, der jedoch strukturell keineswegs dem Sprachgebrauch von Vollsprechern entspricht. Toso (2012: 69) spricht infolge der Ergebnisse Oppos (2007a) von 155 Z. B. SASS / SORS-VS / RS-1960w , SASS-VS-1956m , SASS-VS / RS-1947m , SASS-VS / RS-1950w , SORS-VS / RS-1971w . 156 Sozial stratifiziert ist v. a. das Sassaresische in Sassari, wo das Idiom aufgrund von Stadtdynamiken und des Zuzugs von Menschen unterschiedlicher dialektaler Herkunft nur mehr bei Erwachsenen niedrigerer sozialer Schichten verbreitet ist, während für Sorso und Porto Torres von einer geringeren diastratischen Verteilung auszugehen ist (vgl. Maxia 2010a: 221; Kap. 1.4.2.2). 157 Frage E20 des soziolinguistischen Fragebogens Se potesse dare una parola (p. es. un aggettivo) al sassarese / sorsese, quale sarebbe? sowie F3 Le piace la pronuncia del sassarese / sorsese? <?page no="87"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 87 […] una tendenza all’utilizzo del dialetto in contesti gergali e para-gergali, dove esso entra in gioco nella elaborazione di un linguaggio giovanile dalle accentuate caratteristiche di slang urbano, assai diverso dal sassarese in ciabi delle generazioni più anziane. (Herv. i. O.) Daher sollte das Idiom heute insbesondere im Hinblick auf die Dynamik und Funktion als Jugendsprache und Komponente der Identitätsbildung unter jungen Leuten einer genaueren Analyse unterzogen werden (vgl. hierzu bereits Pes 2006): Der Rekurs auf das Sassaresische scheint insbesondere unter jüngeren Sprechern verbreitet zu sein und neue Möglichkeiten der Gruppenidentifikation zu bieten (vgl. ibid.): Invece nell’area del sassarese - escludendo i sardofoni - il trend perde completamente di significato, fino ad invertirsi, poiché coloro che hanno meno di trentacinque anni dichiarano un uso del sassarese più frequente che negli adulti e negli anziani. Tra l’altro, disaggregando i dati, risulta che sono proprio i giovanissimi a dichiarare di parlare più spesso la lingua locale: all’interno della classe di età che comprende i ragazzi tra i 15 e i 24 anni un individuo su due si dichiara competente attivo del sassarese. (Spiga 2007a: 67) Problematisch ist hierbei natürlich die Selbsteinschätzung der jungen Befragten, die häufig nicht mit ihrer tatsächlichen Sprachkompetenz übereinstimmt. Sole (1997: 25, 1999: 101) betont, dass es sich lediglich um einzelne Phrasen und Redensarten handeln kann, die in italienischbasierte Äußerungen integriert werden. Auch im Hinblick auf die jugendsprachliche Varietätenbildung müssen wir daher bereits oftmals von einer regionalitalienischen Basisvarietät ausgehen, 158 die lediglich saliente Merkmale des Sassaresischen integriert, deren Verwendung aber in spezifischen Situationen „[…] eine expressive Funktion im ludischen Nähediskurs […]“ einnehmen kann (Pes 2006: 165). Das Sassaresische, das ohnehin bereits traditionell nur wenige Gebrauchsdomänen (Familiensprache, Satire) bediente, erfährt aktuell eine zunehmende Beschränkung auf ludische Sprachverwendungsbereiche, in denen es sich jedoch - insbesondere unter jungen Leuten - großer Beliebtheit erfreut (vgl. Kap. 1.4.2.4). Die sukzessive Restriktion einer Sprache auf Sprachwitz und Albernheit, die charakteristisch ist für Sprachumstellungs- und Sprachverfallssituationen (vgl. Jones / Singh 2005: 85), konnte auch anlässlich einiger Gespräche während der Feldforschungsaufenthalte sowie anhand der im Rahmen des soziolinguistischen Fragebogens erfassten Aussagen der 20 befragten Sprecher für das Sassaresische und Sorsesische belegt werden. Auf die Bitte, das Sassaresische / Sorsesische mit einem Begriff 158 So verfügten z. B. Pes Informanten lediglich über eine passive Kompetenz des Sassaresischen (vgl. Pes 2006: 128). Vgl. hierzu auch Colella / Blasco Ferrer (2017). <?page no="88"?> 88 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting zu charakterisieren, 159 äußerten die Informanten u. a. divertente , allegro , fa ridere , enfatico , colorito , espressivo . Dass die Vitalität des Sassaresischen aufgrund der Dominanz des Italienischen aktuell als zunehmend gefährdet einzuschätzen ist, spiegelt sich unmittelbar in der Wahrnehmung der Sprecher. Auf Frage E17 Come vede il futuro del sassarese / sorsese? antworteten die Befragten u. a. Folgendes: SASS - SS -2000m „nieddu“ (it. ,nero‘) SASS - SS -1986w „sarà parlato solo dagli anziani“ SASS - SS -1988m-A „penso scomparirà per via della naturale evoluzione che prevede la perdita della tradizionalità“ SORS - SS -1986w „formato da persone che parlano un dialetto storpiato ed italianizzato“ SORS - SS -1989w „sassarese sparirà, sorsese no“ SORS - SS -1980w „tenderanno ad essere completamente, o quasi, sostituiti dall’italiano“ SORS - VS -1981m „non saprei. Mi immaggino i paesi troppo italianizzati senza cultura del paese, dimenticando le origini“. SORS - SS -1988m-A „incerto“ SORS - SS -1988m-B „parlato sempre da meno persone“ SORS - VS -1962m „multietnico e multilinguistico a discapito del dialetto“ SORS - VS -1955w „in via di estinzione“ Diesem Trend versuchen sprachloyale Sprecher durch die Verwendung des Idioms entgegenzusteuern. Die Frage nach dem persönlichen Engagement zum Erhalt der Sprache (E19 Si impegna per il mantenimento del sassarese / sorsese? ) beantworteten die Sprecher u. a. wie folgt: SASS - SS -2000m „fabiddendiru“ (it. ,parlandolo‘) SASS - VS / RS -1950w „parlandolo“ SASS / SORS - VS / RS -1960w „parlandolo“ 159 Frage E20 des soziolinguistischen Fragebogens Se potesse dare una parola (p. es. un aggettivo) al sassarese / sorsese, quale sarebbe? sowie F3 Le piace la pronuncia del sassarese / sorsese? <?page no="89"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 89 SASS - VS -1956m „parlando e scrivendo“ SORS - SS -1988m-A „parlandolo“ SORS - VS -1962m „parlandolo il più possibile con i giovani“ SORS - VS -1955w „cercando di parlarlo spesso“ SASS - SS -1987m „lo parlo il più possibile e cerco parole che non si usano più molto“ Semisprecher sehen sich jedoch oftmals mit dem Problem konfrontiert, sich schlichtweg nicht für den Erhalt des Sassaresischen / Sorsesischen einsetzen zu können, da sie selbst über keine ausreichenden aktiven Kenntnisse des Idioms verfügen, z. B.: SASS - SS -1986w „no, perché non so parlarlo ☹ “ SORS - SS -1989w „non conosco il dialetto“ Zusätzlich zeigten einige Sprecher indifferentes Verhalten, d. h. sie manifestieren keinen ausgeprägten Erhaltenswillen, obwohl sie das Sassaresische / Sorsesische als Teil ihrer Identität bezeichneten: 160 SASS - SS -1988m-A „non mi interessa“ SASS - SS -1988m-B „non è priorità personale“ SORS - SS -1980w „non ne sento l’esigenza“ Insgesamt 18 (≙ 90 %) der 20 befragten Semi- und Vollsprecher gaben an, das Sassaresische / Sorsesische als Teil ihrer Identität wahrzunehmen. 161 Dennoch muss das Bewahren der ethnischen Identität nicht zwangsläufig an den Erhalt der angestammten Sprache geknüpft werden (vgl. Kap. 1.4.1). Um sich als Sassarese bzw. Sorsese definieren zu können, müssen nicht unbedingt Kenntnisse der sassaresischen / sorsesischen Sprache vorliegen. Auf Frage G12 Si può essere sassarese / sorsese senza saper parlare il sassarese / sorsese? antworteten die Sprecher u. a. wie folgt: 160 Vgl. die individuellen Sprecherprofile in Kap. 5. 161 E3 Il sassarese / sorsese fa parte della Sua identità? Zwei Semisprecher (≙ 10 %) verneinten die Frage. <?page no="90"?> 90 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting SASS - SS -2000m „la cultura è lu matessi impurthanti“ (it. ,la cultura è altrettanto importante‘) SASS - SS -1986w „difficile da dire: certamente sapendo un po’ di dialetto fa parte del ‘patrimonio culturale’ locale“ SASS - SS -1989m „sì, ma per essere sassarese ci vogliono alcune caratteristiche e tradizioni […]“ SASS - SS -1988m-A „si può essere cittadini acquisiti senza parlare la lingua“ SASS - SS -1988m-B „non tutti si identificano con il dialetto“ SASS - VS / RS -1950w „sì, per il luogo di nascita“ SASS - VS / RS -1947m „sì, per la nascita“ SORS - SS -1988m-A „è lo spirito che conta“ Ausschlaggebend für das Bewahren der ethnischen Identität ist also für viele Sprecher nicht das Beherrschen des Lokalidioms, sondern die eigene Herkunft sowie die Kultur und Traditionen (vgl. Kap. 1.3.3.2). 162 Sassaresisch / Sorsesisch sprechen zu können, erfüllt heutzutage nur mehr für die wenigsten Sprecher einen kommunikativen Zweck („non è pratico […]“, SASS - SS -1988m-B ; „non serve“, SORS - SS -1988m-A ) und kann dem beruflichen Vorankommen im Wege stehen („non è utile per il lavoro“, SORS - SS -1989w ). 163 Die Funktion des Lokalidioms liegt daher aktuell primär im Transportieren der ethnischen Identität: SORS - SS -1988m-B „arricchisce la propria cultura“ SORS - VS -1962m „per mantenere l’identità“ SASS - SS -1989m „[…] indica ciò che siamo, la nostra identità“ SASS - VS / RS -1950w „per le tradizioni“ SASS - VS / RS -1947m „per le tradizioni“ SASS - VS -1956m „penso che sia un buono“ 162 Angesprochen auf die direkte Konsequenz des Aussterbens des Sassaresischen / Sorsesischen (E16 Secondo Lei, l’identità sassarese / sorsese morirebbe se il dialetto sparisse? ), bestätigten allerdings 14 Sprecher (≙ 70 %) die Annahme des Verlustes der sassaresischen / sorsesischen Identität. Fünf Sprecher (≙ 25 %) verneinten die Frage. Es gab eine Enthaltung. 163 E22 Pensa che sia un vantaggio saper parlare sassarese / sorsese? <?page no="91"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 91 Das Italienische hingegen erfüllt die Rolle der allen Sarden und Italienern gemeinsamen Verkehrssprache, die in sämtlichen Interaktionsdomänen der Nähe und der Distanz gebräuchlich und angemessen ist und vereinigende Wirkung besitzt: 164 SASS - VS / RS -1947m „è la lingua nazionale“ SASS - VS / RS -1950w „è la lingua nazionale“ SASS - SS -1986w „è la lingua ufficiale del mio paese“ SASS - SS -1989m „per poter parlare con tutti tutti“ SASS - SS -1988m-A „è la lingua nazionalmente riconosciuta“ SASS - SS -1988m-B „uniformità e comunicazione“ SORS - SS -1989w „unisce i paesi e le città in Italia“ SORS - VS -1981m „perché è la lingua che ci lega e viene parlata in tutto lo stato“ SORS - SS -1988m-A „per parlare con il resto dei sardi e italiani“ SORS - SS -1988m-B „perché è necessario in qualsiasi ambito“ SORS - VS / RS -1971w „è la lingua più usata“ SORS - VS -1962m „per essere a suo agio nel mondo“ SORS - VS -1955w „perchè la lingua primaria è italiano“ 1.4.2.4 Sprachpolitische und -planerische Faktoren 165 Im Rahmen ihres Modells zur Beschreibung der ethnolinguistischen Vitalität einer Sprachgemeinschaft betonen Giles et al. (1977) die Notwendigkeit der institutionellen Unterstützung im Hinblick auf eine formelle und / oder informelle Repräsentation der Sprechergruppe. 166 D.h. das Ausmaß der Verwendung bzw. Repräsentation in den Massenmedien, staatlichen Einrichtungen und Dienst- 164 E21 Pensa che sia un vantaggio saper parlare italiano? 165 Vgl. für das vorliegende Kapitel den Überblick zur sprachpolitischen Situation in Italien nach Selig (2011) und insbesondere auf Sardinien nach Heinemann (2014) sowie Linzmeier (2014, 2017: 101 f.) zu sprachpolitischen und -planerischen Iniziativen für das Sassaresische. Grundliegende Fragen und Hintergründe zur sardischen Sprachpolitik und Sprachplanung wurden bereits in Linzmeier (2010, 2014) angerissen. 166 Giles et al. (1977: 309): „The vitality of a linguistic minority seems to be related to the degree its language is used in various institutions of the government, church, business and so forth.“ <?page no="92"?> 92 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting leistungen, Bildung etc. spielt eine wesentliche Rolle für den Erhalt bzw. die Förderung der Vitalität eines Idioms: 167 It is suggested that a linguistic minority is vital to the extent that its language and group members are well-represented formally and informally in a variety of institutional settings. These domains of usage include the mass media, parliament, governmental departments and services, the armed forces and the State supported arts. Of crucial importance for the vitality of ethnolinguistic groups is the use of the minority language in the State education system at primary, secondary and higher levels. (Giles et al. 1977: 316) Grundlegend hierfür ist das Durchführen sprachpolitischer Initiativen: Mit dem Terminus Sprachpolitik lassen sich „Maßnahmen staatlicher Institutionen (Legislative und / oder Exekutive) […], die sich auf ,Sprachliches‘ beziehen“ (Selig 2011: 97) beschreiben. Die Voraussetzung für die institutionelle Förderung eines Idioms ist folglich zunächst seine sprachrechtliche Stellung. Um den drohenden Sprachverlust des Sardischen sowie weiterer auf italienischem Territorium gesprochenen Minderheitensprachen entgegenzuwirken, wurde am 15. Dezember 1999 Artikel 6 des nationalen Gesetzes ( Norme in materia di tutela delle minoranze linguistiche storiche ) erlassen und damit die Verwendung und Förderung der Sprachen aller autochthonen Minderheiten Italiens im Bereich des Unterrichts, der Verwaltung und der Medien prinzipiell ermöglicht. 168 Das Gesetz 482 / 99 ist die unmittelbare Umsetzung der Charta für Regional- und Minderheitensprachen vom 5. November 1992. Ausschlaggebend für die auf Sardinien gesprochenen Sprachen ist die Tatsache, dass das Sardische und Katalanische explizit genannt werden. Das Sassaresische - wie auch das Galluresische und das Tabarchinische - werden hierbei allerdings nicht erwähnt. 169 167 Vgl. u. a. Haugen (1972: 337) und Brenzinger / Dimmendaal (1992: 3) zur Bedeutung der institutionellen Förderung und Einbettung. 168 PI (1999: 482 / 99 Art. 2): „In attuazione dell’articolo 6 della Costituzione e in armonia con i princípi generali stabiliti dagli organismi europei e internazionali, la Repubblica tutela la lingua e la cultura delle popolazioni albanesi, catalane, germaniche, greche, slovene e croate e di quelle parlanti il francese, il franco-provenzale, il friulano, il ladino, l’occitano e il sardo.“ 169 Vgl. Linzmeier (2014: 429 f.). Toso (2012: 13) betont allerdings, dass der ungeklärte Status des Sassaresischen (und Galluresischen), die von den einen in das sardische, von den anderen in das italienische Diasystem eingegliedert werden, diese beiden Idiome auch in den Genuss der nationalen Gesetzgebung kommen lassen müsste: „[…] in maniera alquanto discutibile (almeno dal punto di vista dei linguisti), in considerazione dell’esistenza di un continuum geografico, il gallurese e il sassarese vengono fatti rientrare nel novero delle varietà sarde, in modo che le comunità che li praticano possano fruire dei «benefici» della legislazione nazionale“ (Herv. i. O.). Die nationale Gesetzgebung lässt <?page no="93"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 93 Es ist jedoch anzumerken, dass Sardinien als autonome Region ebenfalls über eine weiterhin in Kraft bleibende (vgl. PI 1999: 482 / 99 Art. 18), regionale Gesetzgebung verfügt, die mit Artikel 26 vom 15. Oktober 1997 ( Promozione e valorizzazione della cultura e della lingua della Sardegna , RAS 1997: 26 / 97 Art. 2.4) eine ausdrückliche Förderung aller autochthonen Sprachen Sardiniens gewährleistet, wobei nicht eindeutig erkennbar wird, in welchem Verhältnis das Sassaresische (und Galluresische) zum Sardischen zu interpretieren sind: RAS 26 / 97 Art. 2.4: La medesima valenza attribuita alla cultura ed alla lingua sarda è riconosciuta con riferimento al territorio interessato, alla cultura ed alla lingua catalana di Alghero, al tabarchino delle isole del Sulcis, al dialetto sassarese e a quello gallurese. Dieses regionale Gesetz sollte durch die Deliberazione Nr. 73 / 22 vom 20. 12. 2008 eine neue Aufwertung erfahren. Im Vordergrund stand die Modernisierung und Anpassung der Inhalte des ursprünglichen Gesetzestextes zur verstärkten Förderung der sprachlichen Minderheiten. So liest man dort: Deliberazione 73 / 22 Art. 4.2.: La Regione promuove, altresì, rapporti di collaborazione tra le minoranze linguistiche di identità storica sarda e catalana con le altre varietà linguistiche presenti nel territorio: la sardo-corsa (sassarese, gallurese) e ligure (tabarchina). Particolare attenzione viene posta anche alle varietà linguistiche venete di Arborea, istriane di Fertilia e agli idiomi delle popolazioni nomadi (Rom, Sinti) e immigrate di recente. ( DDL 2008a) Der den Gesetzesentwurf begleitende ausführliche Bericht ( Relazione DDL approvato con deliberazione 73 / 22 del 20-12-2008 ) definiert das explizite Ziel: „promuovere le varietà alloglotte (catalano di Alghero, ligure delle isole del Sulcis, sardocorso gallurese e sassarese)“ ( DDL 2008b: 19). Aus rein sprachpolitischer Perspektive betrachtet kann der Förderung des Sassaresischen durch eine gezielte Sprachplanung 170 folglich nichts im Wege stehen. Oftmals werden jedoch gesetzliche Schritte eingeleitet, die lediglich dazu dienen, das betroffene Idiom anzuerkennen, passiv zu tolerieren oder zu würdigen, ohne dass konkrete Schritte für dessen Erhalt definiert bzw. untersich somit explizit auf das Sardische und Algheresische anwenden sowie in impliziter Weise auf das Sassaresische (und Galluresische sowie Maddalenische) (vgl. ibid. 14). 170 Janich ( 3 2011: 537) beschreibt Sprachplanung als „[…] die bewusste, absichtliche und methodische Regulierung, Veränderung, Verbesserung und / oder den Ausbau sprachlicher Systeme (und zwar auf allen Ebenen des Sprachsystems: Lautung, Schreibung, Wortschatz, Grammatik etc.).“ Vgl. u. a. Bradley (2001: 153) und Giles (1977: 312) zur Bedeutung der Existenz eines Schriftsystems und der Sprachstandardisierung für die Vitalität eines Idioms. <?page no="94"?> 94 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting nommen werden (vgl. Kürschner 2014: 16). Das Ausbleiben sprachpolitischer Maßnahmen, die die Verwendung des jeweiligen Idioms in Bildung und Behörden ermöglichen, kann jedoch einen „gefühlten Sprachminderheitenstatus“ hervorrufen bzw. verstärken (ibid. 12). Auch die mittlerweile akzeptierte sprachstrukturelle Verwandtschaft mit dem Korsischen, führte nicht zu überregional geförderten Maßnahmen von korsischer Seite. Während das Korsische als Minderheitensprache Frankreichs offiziell anerkannt ist, ist dies im Hinblick auf das Sassaresische - trotz einer verhältnismäßig großen Anzahl an Sprechern - nicht der Fall. Die in linguistischen Kreisen heutzutage weitestgehend akzeptierte Neubewertung des Sassaresischen als sardisch-korsische Varietät ist rezenter Natur, d. h. die Grundlage für eine neue sprachpolitische Beschäftigung mit dem Idiom wurde bzw. wird im Grunde erst geschaffen. 171 Hierbei muss sich diese mit der Schwierigkeit der politischen Zugehörigkeit Korsikas zu Frankreich und Sardiniens zu Italien auseinandersetzen sowie mit der Tatsache, dass das Korsische Korsikas - das unter einem systemfremden Dach, dem Französischen, steht - in der Terminologie Kloss’ ( 2 1978: 60) als dachlose Außenmundart zu definieren ist, während das Sassaresische als sardisch-korsische Varietät mit dem Italienischen genau genommen ein systemnahes Idiom zur Dachsprache hat. Sprachplanerische Prozesse, die dem Erhalt einer Sprache zugutekommen sollen, lassen sich mit Kloss (1969) und weiterführend mit Haugen (1987) prinzipiell in status- und korpusplanerische Initiativen 172 unterteilen. Statusplanerische Maßnahmen zur Einbettung einer Sprache in institutionelle und öffentliche Bereiche wie der Administration, der Bildung und der Medien - die zentral für den Erhalt bzw. Aufbau der ethnolinguistischen Vitalität ist - sind jedoch meist - aber nicht zwangsläufig - an eine korpusplanerische Vorleistung gebunden, d. h. an die Erarbeitung eines Standards, der als Resultat aus einem Normierungsprozess hervorgeht. 173 171 Vgl. hierzu insb. Toso (2012: 24): „Ciò, anche in virtù del loro rapporto genetico con una varietà linguistica, il còrso, la cui appartenenza al contesto dialettale italiano assume importanza relativa di fronte alla tutela di cui è fatta oggetto da parte dello stato in cui la si parla: un’armonica politica linguistica a livello europeo, infatti, non può evidentemente ammettere l’assurdo giuridico del riconoscimento di una «lingua còrsa» da parte della Francia e il non riconoscimento dei «dialetti còrsi» parlati in Italia.“ 172 Im Rahmen der Statusplanung soll durch Implementierung der Sprache in der Administration, in der Bildung und in den Medien ein Zuwachs an Prestige der Sprache erreicht werden. Die Korpusplanung ist für die Kodifizierung und den Ausbau der Sprache verantwortlich (vgl. Kloss 1969: 81; Haugen 1987: 627). 173 Geht es hierbei darum - im Falle systemnaher Idiome - das prestigeärmere durch Standardisierungsmaßnahmen von der H -Varietät zu distanzieren, so ist die Folge eine „bewusste[…] ,Abstandnahme‘“ (Haarmann 2 2004: 245). Das bedeutet, dass trotz geringer sprachstruktureller Distanz der beiden Sprachen eben genau diese wenigen Eigentüm- <?page no="95"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 95 Während sprachpolitische Emanzipationsversuche zum Erhalt des Sardischen bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts seitens der Sprachgemeinschaft unternommen werden (vgl. Rindler Schjerve 1987) und die Sprache in jüngster Zeit eine starke Aufwertung durch institutionell geförderte korpusplanerische Maßnahmen erfahren hat, 174 hat die politische Anerkennung des Sassaresischen bislang keine großen Auswirkungen auf die Sprachplanung im Sinne einer Sprachnormierung und den Spracherhalt nach sich gezogen. 175 Auf den geringen Verschriftlichungsgrad des Sassaresischen wurde bereits mehrfach hingewiesen. Da die Funktionsbereiche des Sassaresischen als L- Varietät bei ständiger Überdachung durch eine mächtigere Großsprache stark auf die Nähebereiche beschränkt geblieben sind, verhinderte dies auch den Ausbau des Idioms (vgl. Bossong 2008: 226) bzw. eine einheitliche und institutionell veranlasste und lichkeiten der beiden Systeme hervorgehoben werden, um eine Abgrenzung voneinander rechtfertigen zu können. Die übermäßige Betonung dieser Besonderheiten kann jedoch zum Verlust der möglicherweise zuvor bestehenden Interkomprehenisvität führen: „[…] given sufficient time, a political desire for linguistic distinctiveness could actually lead to the real loss of mutual intelligibility“ (Edwards 2009: 64). 174 Im Jahr 2006 wurde durch den Regionalausschuss die Erarbeitung und Implementierung einer sardischen Standardsprache, der sog. Limba Sarda Comuna ( LSC ), beschlossen. Mit der Erarbeitung der LSC war der Versuch verknüpft, eine überregionale Schriftsprache für Sprecher des Logudoresischen und Campidanesischen im administrativen Schriftverkehr bereit zu stellen. Die LSC versteht sich als „ein Kodifizierungsvorschlag mit experimentellem Charakter“ (Wippel 2011: 45) und „[…] soll ein Instrument zur Potentialisierung der kollektiven sardischen Identität werden und gleichzeitig den vielfältigen Reichtum der lokalen Varietäten respektieren“ (ibid. 46). Das Modell wird äußerst kontrovers diskutiert (vgl. Dessì Schmid / Marzo 2013: 125-127) und konnte sich bislang nicht als Dachsprache behaupten (vgl. Marzo 2014: 192). Die Regionalregierung stellte in den letzten Jahren mehr Fördergelder für die Implementierung der LSC bereit, allerdings wurden auch zahlreiche Maßnahmen zum Gebrauch der Lokaldialekte unterstützt (vgl. RAS 2014; Marzo 2017: 60). Hinzu kommt, dass wenige Jahre später, im Jahr 2009, die gegen die LSC gerichteten und auch seitens der cagliaritanischen Politik unterstützten Arrègulas po ortografia, fonètica, morfologia e fueddàriu de sa Norma Campidanese de sa Lìngua Sarda veröffentlicht und 2010 vom Rat der Provinz Cagliari akzeptiert wurden (vgl. Becker 2012: 26, 47; Marzo 2017: 58 f.). 175 Hierauf verweist auch Toso (2012: 14): „Tuttavia, l’impostazione attuale della politica regionale in materia linguistica sembra puntare proprio sulla standardizzazione e sulla promozione degli usi pubblici del sardo, e soltanto del sardo.“ Im Vorwort der LSC wird sogar explizit auf die regionale Gesetzgebung verwiesen und hiermit der Ausschluss aller weiteren Sprachen Sardiniens, z. B. des Sassaresischen, aus der LSC gerechtfertigt: „La Legge regionale n. 26 del 1997 ha posto infatti le basi giuridiche per la valorizzazione e promozione della lingua sarda e pari valorizzazione e promozione riconosce, nei territori rispettivi, anche ad algherese, sassarese, gallurese, tabarchino, per cui ciascuno di questi idiomi potrà dotarsi o già si è dotato di norme linguistiche di riferimento che garantiscono una loro più efficace presenza ufficiale nei media, nell’amministrazione, nella scuola“ (RAS 2006: 5; vgl. Linzmeier 2014). <?page no="96"?> 96 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting geförderte Normierung der Orthographie, der Grammatik und des Lexikons: Versuche der Normierung des Idioms sind in Ermangelung einer offiziell mit Sprachenfragen beauftragten Normierungsinstitution heutzutage lediglich im Rahmen der Arbeiten von Einzelpersonen zu verzeichnen und wenig systematisch (vgl. Linzmeier 2014: 442). Korpusplanerische 176 Maßnahmen wie Kodifizierungsinitiativen 177 zur Vereinheitlichung und Festschreibung der Orthographie (Muzzo 1953, 1955; Sassu 1963; Bazzoni 1999; Ruju 2001b; Sole 2003; Coradduzza 2004; Rubattu 2 2006), der Grammatik (Bazzoni 1999; Doro 2001; Coradduzza 2004; Grammatikkapitel in Sassu 1963) und des Lexikons (Spano 1851; Muzzo 1953, 1955; Lanza 1980; Bazzoni 2001; Rubattu 2 2006; Solinas 2016; TOGO Dizionario Italiano-Sassarese 178 ) legen zwar grundsätzlich das Sassaresische Sassaris als Leitvarietät zugrunde, variieren dennoch in Bezug auf ihre Inhalte und Zielsetzungen. 179 Gemein ist ihnen, dass die Aussprache, die Grammatik und der Wortschatz des Sassaresischen dem Leser ausschließlich über das Italienische vermittelt werden. Dieses Engagement ist nicht in einen offiziellen, d. h. institutionell gestützten ,sprachpolitischen‘ Rahmen einzuordnen (vgl. Linzmeier 2014). 180 Es zeigt sich, dass die Korspusplanung des Sassaresischen eher gesteuert wird durch „[…] Gruppen von Sprachausbauakteuren, die in erster Linie nicht durch ihre politischen Interessen, sondern beispielsweise durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Beruf zu definieren sind“ (Becker 2012: 43), d. h. kulturell und wissenschaftlich Interessierte, Lehrervereine, Schriftsteller und Linguisten. Ausbautätigkeiten 181 im klassischen Sinne nach Kloss ( 2 1978: 37), d. h. die Bereitstellung „neue[r] Stilmittel“ und Öffnung der Sprache für „neue Anwendungsbereiche“ 182 zum Erreichen höherer Ausbaugrade und zur Erweiterung 176 Kloss (1969: 81) spricht in Bezug auf korpusplanerische Maßnahmen von dem Versuch, „[…] to change the shape or the corpus of a language by proposing or prescribing the introduction of new technical terms, changes in spelling, or the adoption of a new script.“ 177 Auch Kloss ( 2 1978: 37) nennt später als entscheidend für die „Umwandlung von bislang mündlich gebrauchten Sprachvarianten in Schriftsprachen“ die „Vereinheitlichung der Rechtschreibung“ sowie die „Vereinheitlichung der Sprachformen (Morphologie und Lexikon)“. Vgl. hierzu Linzmeier (2014). 178 Online bzw. als App unter http: / / www.togo.sassari.tv/ [08. 07. 2015]. 179 Vgl. hierzu auch die Zusammenstellung der für das Sassaresische existierenden Wörterbücher in Maxia (2017a: 297). 180 Toso (2012: 68) spricht daher von einer „discreta opera di codificazione“. 181 Sprachen mit hohem Ausbaugrad werden u. a. in distanzsprachlich geprägten Textsorten wie der Sachprosa verwendet (vgl. Kloss 2 1978: 25). Hierzu muss die Entwicklung der Sprache bestimmte Entfaltungsstufen durchlaufen: 1) eigenbezogene Thematik, 2) kulturkundliche Thematik, 3) naturwissenschaftliche Thematik (vgl. ibid. 49). 182 Hierzu zählt zunächst die volkstümliche, anschließend die gehobene und zu guter Letzt die wissenschaftliche Prosa (vgl. Kloss 2 1978: 46-48). <?page no="97"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 97 des Funktionsradius der Sprache, sind bislang nicht vorhanden (vgl. Linzmeier 2014: 433 f.). Schreibtätigkeiten in Form von Sachprosa und wissenschaftlichen Texten werden weiterhin auf Italienisch unternommen, denn [z]um einen erschweren das Fehlen von Wortbildungs- und Entlehnungsregeln sowie die ungesteuerte Aufnahme von Neologismen aus der strukturell ähnlichen und omnipräsenten Kontaktsprache Italienisch den systematischen und einheitlichen Ausbau der Sprache; zum anderen wurden zahlreiche Wörterbücher nicht mit dem Anspruch einer Vereinheitlichung und Erweiterung des Wortschatzes verfasst, sondern sind mit Hinblick auf einen drohenden Sprachwechsel als deskriptive Sammlung und Konservierung des sprachlichen Repertoires konzipiert. (Linzmeier 2014: 441) 183 Maßnahmen zum Sprachausbau wären allerdings ausschlaggebend für „[…] das Hineinwachsen eines Idioms in die konzeptionelle Schriftlichkeit […]“ (Oesterreicher 1993: 276), die Wahrnehmung des Idioms als vollwertige, prestigeträchtige Sprache sowie für die Funktionsangleichung, denn „[j]e weiter nun der Ausbau fortgeschritten ist, desto geeigneter ist eine solche Varietät, allen Kommunikationsbedürfnissen einer entwickelten Gesellschaft gerecht zu werden, und desto eher wird sie auch als eigenständige Sprache angesehen (Ausbausprache)“ (Meisenburg / Gabriel 2 2014: 63). 183 Vgl. hierzu auch die Sammlung von Ausdrücken und Phraseologismen des Sorsesischen von Porqueddu (2013). Solinas Vocabolario Sassarese-Italiano. Fraseologico ed etimologico (2016) ist eines der wenigen Wörterbücher, dessen Einträge mit dem tatsächlichen Sprachgebrauch der Sprecher abgeglichen wurden. Auf dieser Grundlage wurden auch zahlreiche am Italienischen orientierte „neologismi dialettali“ (Solinas 2016: XV) jüngerer Sassaresischsprecher in das ca. 25.000 Einträge umfassende Wörterbuch aufgenommen. <?page no="98"?> 98 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting Auch im Bereich der Statusplanung sind bislang keine zentralen Maßnahmen zur Implementierung des Idioms in Bildung 184 und Administration 185 von offizieller Seite unternommen worden. In Sassari, das als sprachpolitisches Zentrum für den Erhalt des Sassaresischen fungieren könnte, existiert lediglich ein Kulturinstitut ( Istituto di studi e ricerche ‘Camillo Bellieni’ ), das sich um die Bewahrung des Sardischen bemüht und dem Sassaresischen weniger Aufmerksamkeit schenkt. 186 Somit ist auch keine Sprachdidaktik des Sassaresischen vorhanden. Auch wissenschaftliche Tagungen, die der Diskussion sprachplanerischer Fragen dienen, berücksichtigen das Sassaresische kaum. 187 Am ehesten ist bislang eine sporadische, jedoch geringe Repräsentanz des Idioms in Form von Lokaldichtung 188 und Prosa 189 , in der (Tages)presse (z. B. La Nuova Sardegna , vgl. Sassu 1951: 19; Ruju 2001a: 19), in Online-Zeitschriften (z. B. Forma Paris ) und in Theaterstücken (vgl. Sole 2003: 76; Toso 2012: 67) fest- 184 Toso (2012: 76, Fn 30) spricht von „[…] alcune iniziative di inserimento del sassarese nell’attività didattica […]“. Hierbei wird bereits deutlich, dass weniger eine Vermittlung der Sprache selbst mithilfe von Grammatiken etc., sondern vielmehr didaktisch basierte Unterrichtseinheiten im Vordergrund stehen. Ein zentrales Problem bei der Einführung der autochtonen Sprachen in der Bildung ist laut Maxia (2008b) das staatliche Gesetz 482 / 1999, gemäß dem die Entscheidung über das Unterrichten der Kinder in der Minderheitensprache bei den Eltern liegt: Artikel 4 (Abs. 2) dieses Gesetzes weist jedoch deutlich darauf hin, dass die Schulen sehr flexibel mit der Rechtsgrundlage für den Unterricht umgehen können, „[…] stabilendone i tempi e le metodologie, nonché stabilendo criteri di valutazione degli alunni e le modalità di impiego di docenti qualificati.“ Im Rahmen der eigenen Feldforschung im Jahr 2014 wurde die Grundschule San Giuseppe in Sassari besucht, die einmal wöchentlich für eine Stunde Sassaresischunterricht unter der Leitung von Fabritziu Dettori anbietet. Das Engagement des Grundschullehrers und Autors zahlreicher Kinderbücher in sassaresischer Sprache sowie seiner Kollegen führte zur Anbringung zweisprachiger Beschilderungen in der Schule (vgl. La Nuova Sardegna vom 7. Juni 2016) sowie zur Erstellung einer Schülerzeitung in sassaresischer Sprache ( Fabedda! ) (vgl. Farina 2016 in: La Nuova Sardegna vom 22. Mai 2016). 185 Laut Toso (2012: 76, Fn 30) hat jedoch zumindest der Komunalrat Sassaris der zukünftigen Verwendung des Sassaresischen im Rahmen seiner Sitzungen zugestimmt. 186 http: / / www.istitutobellienisassari.com/ atividades-e-servitzios.html [09. 02. 2017]. 187 Eine Ausnahme bildete allerdings die am 22. Juni 2002 in Sassari abgehaltene Tagung mit dem Titel „Il golfo dell’Asinara: un territorio, una lingua“ mit Beiträgen von Massimo Pittau, Leonardo Sole, Paolo Cau und Ugo Niedda. 188 Hierbei fungiert insbesonder die sardische Dichtung als Vorbild (vgl. Sole 1982: 69; Herv. i. O.). Seit 1979 werden im Rahmen des halbjährlich stattfindenden Dichterwettbewerbs Agniru Canu die besten Gedichte in sassaresischer Sprache prämiert (vgl. Toso 2012: 67). 189 An dieser Stelle sei z. B. das Engagement Fabritziu Dettoris genannt, der sich in den letzten Jahren der Veröffentlichung sassaresischer Kurzgeschichten widmete (z. B. Conti pa pitzinni 2006, Sigreti di Sardhigna. Conti pa tutti 2014). <?page no="99"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 99 zustellen. 190 Auch in Programmen kleinerer Radio- (z. B. Radio del Golfo ) und Fernsehstationen (z. B. Sassari. TV , TeleG ) der Provinz Sassari ist es gelegentlich vertreten (vgl. Linzmeier 2014). 191 Nach wie vor erfreuen sich traditionelle sassaresische Lieder (z. B. G. Giordo) - selbst seitens der Jugend - anlässlich lokaler Festivitäten großer Beliebtheit. Auch moderne Medien und Kommunikationsformen (Text messaging, Youtube, Blogs, Foren, Chatrooms) 192 sowie soziale Netzwerke (Facebookgruppen) und Domänen der Pop-Kultur (Musik, Film, Theater) - in denen aufgrund der nähesprachlichen Affinität dieser Medien der humor zappadorino 193 besonders gut zur Geltung kommt, sind äußerst populär. In diesen wird insbesondere die Rolle der Jugend im Spracherhalt deutlich (vgl. Moriarty 2011: 447-449, 454-456) - da sie die Verwendung des Sassaresischen bzw. basisdialektaler Formen im Wechsel mit dem Italienischen uneingeschränkt ermöglichen. 194 Die generell geringe Präsenz des Idioms in den gedruckten und audiovisuellen Medien, d. h. im Alltag der Sassaresen, führt jedoch dazu, dass selbst bei Interesse am Gebrauch und Erhalt der sassaresischen Sprache und Kultur in nur geringem Maße Zugang („access“, Grenoble / Whaley 2005: 53) dazu besteht. Es ist eine unzureichende Visibilität des Sassaresischen im öffentlichen Raum vorherrschend, d. h. Beschilderungen, Hinweistafeln, Plakatierungen und Etikettierungen sind bis auf wenige Außnahmen (s. u.) ausnahmslos in italienischer Sprache vorzufinden: 190 Vgl. hierzu auch die in den Sprecherprofilen erfassten Aussagen der 20 Informanten zur Wahrnehmung der Präsenz des Sassaresischen in den Medien und individuellen Nutzung dieser durch die Sprecher (Frage D1-D8). 191 Die Zusammenarbeit mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk RAI gestaltet sich generell schwierig. Die Normen zur Einbettung der in Italien verbreiteten Minderheitensprachen sind bislang nicht vollständig umgesetzt worden (vgl. Heinemann 2014: 112). 192 Z. B. http: / / sassareserie.blogspot.de/ [08. 07. 2015]. 193 Vgl. La Nuova Sardegna vom 8. November 2012 über das TV-Format Aspirina . 194 Der Gebrauch bedrohter Idiome in Medien und Musik kann obendrein korpusplanerische Effekte erzielen, da hierdurch neue Terminologien verarbeitet werden und der Status der Sprache angehoben werden kann (vgl. Moriarty 2011: 447, 457 f.). <?page no="100"?> 100 1 Einführung in Forschungsgeschichte und soziolinguistisches Setting Abb. 2: L’isthanghìgliu (it. ,tabaccaio‘, aufgenommen von L. Linzmeier) Abb. 3: Culleziu (Universität Sassari, aufgenommen von C. Mura) Abb. 4: Farendi in piazza (it. ,scendere in piazza‘), Corso Vittorio Emanuele II (aufgenommen von C. Mura) <?page no="101"?> 1.4 Soziolinguistisches Setting und ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen heute 101 Abb. 5: Lu patiu di lu diauru (it. ,La corte del diavolo‘), Stadtzentrum Nähe Dom (aufgenommen von C. Mura) 1.4.3 Zwischenfazit Die vorausgegangenen Kapitel sollten über die Einführung methodologischer Grundlagen zum Sprachwechsel und Sprachtod die wesentlichen an der heutigen soziolinguistischen Ausgangslage des Sassaresischen beteiligten Faktoren herausarbeiten und Rückschlüsse auf die aktuelle ethnolinguistische Vitalität des Sassaresischen zulassen. Zunächst wurde aufgezeigt, inwieweit politische, demographische und gesellschaftliche Faktoren der letzten Jahrhunderte die Italianisierung der ursprünglich sardophonen bzw. sassaresophonen Gesellschaft vorantrieben. Besondere Beachtung wurde der Stadt Sassari gewidmet, da hier sämtliche, die Sprachumstellung befördernde Mechanismen zusammenspielen. In einem weiteren Schritt wurde verdeutlicht, dass das Sassaresische zunehmend nur mehr Nischenplätze besetzt und als diastratisch niedrig markiert seitens der Sprechergemeinschaft wahrgenommen wird - selbst wenn der Erhalt der Sprache als identitätsbeförderndes Merkmal generell gewünscht wird. Im Rahmen der Feststellung sprachplanerischer Maßnahmen wurde deutlich, dass bislang kaum statusbzw. korpusplanerische Anstrengungen unternommen worden sind, um das asymmetrische diglossische Verhältnis, in dem das Sassaresische auf die Funktion einer in nähesprachlichen Kontexten gebrauchten Familiensprache reduziert wurde, dahingehend zu verändern, dass von einer ausgeglichenen Zweisprachigkeit die Rede sein kann. <?page no="103"?> 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod: Kompetenz- und systemlinguistische Überlegungen Die Gründe, die sich für die Sprachaufgabe bzw. die Sprachumstellung und das Verschieben der Dominanzkonfiguration anbringen lassen, sind äußerst vielfältig und variieren innerhalb der jeweiligen Sprachgemeinschaft hinsichtlich ihrer soziokulturellen und sozialpsychologischen Grundlagen. Welche Faktoren sich für die Sprachverschiebung Sassaresisch-Italienisch anbringen lassen, wurde bereits ausführlich in den vorausgehenden Kapiteln im Rahmen der Feststellung der ethnolinguistischen Vitalität des Sassaresischen herausgearbeitet. In seiner Sprachtodtheorie nennt Sasse (1992a: 10) als Konsequenz aus den Einflussfaktoren external setting und speech behavior sog. structural consequences , d. h. Veränderungen des Sprachsystems selbst, die sich primär im Sprachgebrauch von Semisprechern manifestieren. Sprachstrukturelle Modifikationen treten erst zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt des Verfallsprozesses auf (vgl. Seifart 2000: 12) und betreffen meist das Sprachverhalten eines Großteils der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft, 1 allerdings zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichem Ausmaß (vgl. ibid.). Sprachverfall und seine sprachstrukturellen Konsequenzen sind ein Forschungsareal, dem in den letzten Jahren mehr und mehr wissenschaftliches Interesse zukam. Kapitel 2 der vorliegenden Arbeit versucht, die bislang erlangten Ergebnisse dieses Forschungsfeldes zu systematisieren. Einleitend widmet sich Kapitel 2.1 den Bereichen Sprachkompetenz und Sprachgebrauch im Kontext von Sprachwechsel und Sprachverfall und stellt hierbei insbesondere den defizitären Spracherwerb der Semisprecher (Kap. 2.1.1) sowie ihren Sprachgebrauch und ihre Sprachbewertung (Kap. 2.1.2) heraus. Kapitel 2.2 wird sich mit der Frage nach einer anerkannten Sprachverfallstheorie beschäftigen und hierbei Parallelen und Unterschiede zu allgemein bekannten Sprachwandelprozessen (endogene und exogene Bedingungen, Rolle der Salienz, Generalisierungsmechanismen) berücksichtigen (Kap. 2.2.1). Anschließend werden strukturelle Veränderungen, die sich im Sprachverfall abzeichnen können, schematisch erfasst (Kap. 2.2.2) und die bisherigen Feststellungen in einem Zwischenfazit resümiert (Kap. 2.2.3). Kapitel 2.3 widmet sich ausführlich der Frage nach den in Sprachverfallskontexten beobachtbaren Lautwandelprozessen. Hierzu bietet sich ein Über- 1 Hierzu Mufwene ([2004] 2012: 154): „community-level loss of competence in a language“. <?page no="104"?> 104 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod blick über bereits erfolgte Forschungsarbeiten (Kap. 2.3.1) und mögliche Verlaufsmodelle (Kap. 2.3.2) an. Zusätzlich werden Prozesse und Ergebnisse des Lautverfalls vorgestellt (Kap. 2.3.3) und die generell im Sprachverfall beobachtbaren Lautwandelsymptome überblicksartig zusammengefasst (Kap. 2.3.4). Abschließend wird auf die Bedeutung der sprachstrukturellen Nähe der in Kontakt stehenden Idiome für den Wandel näher eingegangen (Kap. 2.4). 2.1 Sprachkompetenz und Sprachgebrauch im Kontext von Sprachwechsel und Sprachverfall 2.1.1 Semisprecher: defizitärer Spracherwerb Ein Begriff, der mit dem Phänomen des Sprachverfalls untrennbar verbunden ist, ist der der sog. Semisprecher , ein Terminus der entscheidend von Nancy Dorian (1973: 417) in ihrer Arbeit zum Scottish Gaelic geprägt wurde. Sprachumstellung führt zur vermehrten Präsenz von Semisprechern, da neben die Sozialisation in der prestigeärmeren Sprache die Parallel- oder Sekundärsozialisation in einer anderen, mächtigeren (Mehrheits-)Sprache tritt, die den Funktionsradius der rezessiven Sprache sukzessive übernimmt und somit die Präsenz und den Gebrauch der angestammten Sprache beschneidet (vgl. Dressler / de Cillia 2006: 2264). 2 Auf dieser Grundlage ist es den Sprechern meistens nicht möglich, vollständige Sprachfähigkeiten in dieser Sprache zu erwerben (vgl. Sasse 1992b: 63). Ein Semisprecher ist somit „[…] a person who has not learned the language by way of a normal language acquisition process“ (ibid. 62). Dorian (1999a: 39) definiert Semisprecher daher als „[…] young speakers who have not acquired their ancestral language to the point of full fluency 2 Es zeigt sich an dieser Stelle, dass die Termini Erst- und Zweitsprache ( first language (L1) vs. second language (L2)) zur Beschreibung der komplexen Spracherwerbs- und Gebrauchssituationen ungenügend sind und um das Begriffspaar Primär- und Sekundärsprache erweitert werden müssen ( primary language (PL) vs. secondary language (SL); vgl. Sasse 2001: 1669). Unter L1 verstehen wir die Sprache der Primärsozialisation, d. h. die Sprache, die zuerst erlernt wird. In Situationen der Zweisprachigkeit ist es jedoch problematisch zwischen L1 und L2 zu unterscheiden, da Kinder häufig beiden Sprachen in gleichem Maße ausgesetzt sind. Mit PL und SL werden Kompetenzgrade unterschieden. Mit PL wird die Sprache bezeichnet, deren lexikalische, grammatikalische und pragmatische Bereiche der Sprecher zu hohem Grad beherrscht. Zwar können Erst- und Primärsprache zusammenfallen, gerade in Sprachwechselsituationen ist dies jedoch häufig nicht der Fall: So ist es möglich, dass Sprache A als L1 erlernt wird, jedoch ein höherer Kompetenzgrad der Sprache B erworben wird (beispielsweise durch die Schule oder monolinguale Interaktionspartner der Sprache B) (vgl. Sasse 2001: 1669). <?page no="105"?> 2.1 Sprachkompetenz und Sprachgebrauch im Kontext von Sprachwechsel und Sprachverfall 105 and who make easily detected errors as a result.“ 3 Schmidt (1985: 41) wiederum sieht Semisprecher als „a group of imperfect speakers […] who have not had sufficient exposure to the indigenous language, or who have been more intensively exposed to another language“. Semisprecher sind laut Sasse (1992b: 61) aufgrund ihrer imperfekten Sprachkompetenz infolge unvollständigen Spracherwerbs „the locus of language decay“ und insbesondere in Situationen des allmählichen Sprachwechsels ( gradual language shift ) vertreten. 4 Sprachwechsel verläuft nicht in allen Familien parallel und nach den gleichen Mechanismen (vgl. Rindler Schjerve 2002: 22). Auch innerhalb ein und derselben Familie können sich unterschiedliche Szenarien in der „Eltern-Kind-Transmission“ (Haase 1992: 13) abspielen, die Sprecher unterschiedlicher Sprachkompetenzgrade hervorbringen. Dorian (1981: 107-109) verweist auf ein Phänomen, das selbst innerhalb sprachloyaler Familien zu beobachten ist: Während die erstgeborenen Kinder häufig nach wie vor als Vollsprecher der rezessiven Sprache einzuordnen sind, weisen ihre jüngeren Geschwister oftmals nur mehr die Sprachkompetenz von Semisprechern auf. 5 Kinder, denen die rezessive Sprache nicht durch ihre Eltern vermittelt wird, da diese im Erlernen der Mehrheitssprache mehr Vorteile sehen, 6 sind häufig in der Lage, diese nachträglich bis zu einem bestimmten Grad durch den Kontakt mit weiteren Bezugspersonen wie den Großeltern zu erlernen. 7 Häufig beschließen Semisprecher, trotz der ihnen vermittelten geringen Sprachkenntnisse, die angestammte Sprache zu bewahren. 8 Dorian (1981) nennt als Faktoren temporäre oder permanente Aufenthalte außerhalb der Sprachgemeinschaft (vgl. ibid. 108) sowie Charakterzüge einer „inordinately inquisitive and gregarious personality“ (ibid. 109), die zu dem Versuch führen können, an der Sprache festzuhalten oder sie bis zu einem gewissen Grad zu erlernen: 3 Gal ([1989] 2012: 329) verwendet den Ausdruck narrow users für Sprecher, die ihre Sekundärsozalisation früh in einer anderen Sprache erfahren haben. Die Verwendung ihrer Erstsprache beschränken sie meist auf „[…] the narrowest range of contexts, only to their grandparents’ generation, or rarely with parents.“ 4 Vgl. Campbell (1994: 1961). 5 Ebenso stellte Rindler Schjerve (1981) im Zuge ihrer Arbeiten zum Sprachwechsel auf Sardinien fest, dass häufig innerhalb der befragten Familien die erstgeborenen Kinder ihre Primärsozialisation auf Sardisch erfahren hatten, während jüngeren Geschwistern nur mehr das Italienische vermittelt wurde. 6 Auch die Annahme, Bilinguismus würde den vollständigen Erwerb der H -Varietät verhindern, ist in solchen Fällen weit verbreitet, obwohl die Zweisprachigkeitsforschung dies nicht bestätigt (vgl. Tsunoda 2006: 60). 7 Tsunoda (2006: 56) nennt dies den „grandmother effect“. Vgl. hierzu auch Kloss (1984: 71). 8 Dorian (1980: 89) spricht von „[…] the social anomaly of the speaker who chooses to use a low-prestige language which he controls imperfectly.“ <?page no="106"?> 106 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod […] there would seem to be a shift-resistant personality, characterized by curiosity and an outgoing nature; people of this personality type apparently need very little external encouragement beyond mere exposure to the language in the home, despite the well-known fact that exposure alone often produces the purely passive bilingual with no productive skills at all. (Dorian 1980: 93) Sprecher in Bezug auf ihren Grad an Sprachbeherrschung zu kategorisieren, ist, wie bereits Dorian (1999b: 107, 2001: 8358) mehrmals betonte, ein schwieriges, bislang unterschiedlich gehandhabtes Unterfangen. Es wird deutlich, dass aufgrund der stets individuell zu betrachtenden Spracherbwerbsszenarien in der Verwendung des Terminus Semisprecher Vorsicht geboten ist, denn „[t]here is no prototypical semispeaker; rather, several types of semispeaker can be distinguished depending on their different acquisition histories“ (Sasse 2001: 1670). Allerdings kann zur Beschreibung von Sprachverfallssituationen auch nicht auf den Terminus verzichtet werden, denn seine Verwendung ist „[…] a useful way of referring to certain sorts of speakers with a term which is by no means ‘scientifically’ uniform, but which does reflect common characteristics that are shared by such speakers“ (Holloway 1997: 31). Semisprecher einer Sprachgemeinschaft verbinden meist gute passive Kenntnisse der angestammten Sprache, die teilweise sogar reaktiviert werden können (vgl. Kap. 2.2.2.4), während der Grad der aktiven Beherrschung stark variieren kann (vgl. Grinevald / Bert 2011: 50). Grinevald / Bert (2011: 47) heben daher die Notwendigkeit hervor, von einem multidimensionalen und dynamischen Modell auszugehen, das verschiedene Parameter und Kombinationsmöglichkeiten berücksichtigt. Sprecher unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Sprachkompetenz ( language competence cluster ), ihren soziolinguistischen Hintergrund, d. h. den Moment und die Phase des Verfalls, in der der Sprecher situiert ist ( sociolinguistic cluster ), ihre Verwendung und Einstellung zu der jeweiligen Sprache ( performance cluster ) sowie ihre Selbsteinschätzung und ihre Sicherheit bzw. Unsicherheit im Umgang mit dem Idiom (vgl. ibid.: 47-49). Der individuelle sozialkulturelle Hintergrund bringt folglich Sprecher unterschiedlicher Kompetenzgrade hervor, die man häufig versucht, in einem Kontinuum anzuordnen und zu kategorisieren (vgl. Dressler / de Cillia 2006: 2262): Dorian (1981: 116) unterscheidet hinsichtlich der Sprachkompetenz in 1) older fluent speakers , deren Sprache nicht vom Sprachzerfall betroffen ist, 2) younger fluent speakers , deren Sprache sich von der konservativen Norm bereits unterscheidet, jedoch noch fließend ist, 9 und 3) semi-speakers , deren Sprache stark vom Abbau gezeichnet ist (deren pragmatisch-kommunikative Kompetenz 9 Fluent speakers werden häufig auch als full speakers oder competent speakers bezeichnet (vgl. McGregor 2002: 148). <?page no="107"?> 2.1 Sprachkompetenz und Sprachgebrauch im Kontext von Sprachwechsel und Sprachverfall 107 jedoch durchaus ausgeprägt sein kann). Eine weitere Kategorie bilden die 4) passive bilinguals (vgl. Dorian 1978b: 607). 10 Hinzu kommen near-passive bilinguals , die gemeinsam mit den Semisprechern die Klasse der „marginal speakers“ bilden (Dorian [1982] 2014: 165). Während Semisprecher jedoch nach wie vor über eine gewisse „[…] ability to manipulate words in sentences“ verfügen, beschränkt sich das Können der near-passive bilinguals auf das Lexikon und die Bildung kurzer Sätze (vgl. ibid. 157). Semisprecher unterteilt Dorian (1994: 640) später weiter in strong semispeakers und weak semispeakers bzw. high-proficiency semi-speakers , mid-proficiency semi-speakers und low-proficiency semi-speakers (vgl. Dorian 1999b: 114). Dressler (1981: 6 f.) unterschied im Rahmen seiner Untersuchungen des Bretonischen fünf Kategorien: 1) healthy breton speakers (die er mit Dorians older fluent speakers gleichsetzt), 2) weaker breton speakers (die annähernd Dorians younger fluent speakers entsprechen), 3) preterminal speakers (deren Sprachgebrauch von Reduktionen und Generalisierungen geprägt ist), 4) better terminal speakers (die zu noch mehr Reduktionen und Generalisierungen tendieren), 5) worse terminal speakers (die lediglich über ein stark reduziertes Lexikon und Nominalflektionssystem verfügen). 11 Neben den ,klassischen‘ Kategorien fluent speakers , semi-speakers , terminal speakers , rememberers und last speaker berücksichtigen Grinevald / Bert (2011: 49-52) zusätzlich sog. ghost speakers , die aufgrund ihrer negativen Einstellung 10 Vgl. Dorian (1978b: 607): „[…] individuals which have such difficulty in constructing a coherent sentence that they cannot properly be termed ‘speakers’ of any kind.“ 11 Eine ähnliche Unterteilung nehmen Campbell / Muntzel (1989: 181) vor: Sie unterscheiden in nearly fully competent speakers , semi-speakers (wobei sie hierunter ‘imperfect but reasonable fluent speakers’ und ‘weak semi-speakers’ mit noch geringerer Kompetenz verstehen) und rememberers , die nur mehr vereinzelte Wörter und Floskeln beherrschen. Grinevald (2001: 303 f.) nimmt auf der Grundlage der bisherigen Forschungen folgende Klassifizierung vor: 1) fluent speakers ( old fluent speakers , young fluent speakers ), 2) semi-speakers , 3) terminal speakers und rememberers („[…] with very limited productive skills, but some passive knowledge“, ibid. 304). Die Klasse der Semisprecher umfasst laut Grinevald (2001: 303 f.) Sprecher verschiedener Kompetenzgrade: „[…] all members of the community with appropriate receptive skills, but varying levels of productive skills. The category includes from semi-speakers who can be fluent but whose changed forms of the language are considered mistakes, to weak semi speakers with a limited ability to produce speech, speech which tends to be made of mostly frozen expressions“. Tsunoda (2006: 118) kategorisiert Sprecher im Hinblick auf sieben Kompetenzstufen: 1) non-knowers (beherrschen die Sprache nicht), 2) non-acquirers (haben die Sprache nie erworben), 3) forgetters (erlernten die Sprache ursprünglich, haben sie allerdings wieder vergessen), 4) knowers (beherrschen die Sprache; sie sind auch als retainers / rememberers zu klassifizieren), 5) passiv users (verstehen die Sprache, sprechen sie jedoch nicht), 6) latent speakers (beherrschen die Sprache aktiv, verwenden sie allerdings nicht, 7) speakers (beherrschen die Sprache und sprechen sie). <?page no="108"?> 108 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod zu der angestammten Sprache ihre eigentlich vorhandenen Sprachkenntnisse leugnen sowie neo-speakers , die im Rahmen von Sprachrevitalisierungsprogrammen und aufgrund ihrer positiven Attitüde die bedrohte Sprache erlernen möchten. Zusammenfassend ergeben sich somit zwei wesentliche Szenarien, im Rahmen derer es zur vermehrten Präsenz von imperfekten Sprechern kommen kann (vgl. Sasse 1992b: 61-64; Müller 2003: 9): Im Rahmen der incomplete-acquisition -Hypothese werden Semisprecher beschrieben, deren Sprachkompetenz aufgrund der fehlenden bzw. mangelhaften Weitergabe der Sprache („‘verschlissene[r]’ Input“, Riehl 3 2014: 187) in der Generationenkette stark eingeschränkt ist. 12 Zu den Semisprechern zählen somit auch Campbell / Muntzels imperfect / reasonable fluent und weak semi-speakers (vgl. Sasse 1992b: 62). Sprecher, deren Erwerb der angestammten Sprache als Erstsprache vollzogen wurde, deren Sprachkompetenz jedoch durch immer weniger Möglichkeiten der Sprechpraxis und fehlende Gesprächspartner ,eingerostet‘ ist, bezeichnet Sasse im Rahmen der later-loss- Hypothese als rusty speaker 13 . Diese Sprecher waren folglich „[…] on their way to becoming full speakers, but never reached that degree of competence due to the lack of regular communication in the language“ (Sasse 1992b: 61). Rusty speaker sind somit forgetters , die mit Campbell / Muntzels nearly fully competent speakers gleichgesetzt werden können (vgl. ibid. 62). In ihrer Sprache zeigen sich ähnliche strukturelle Abbautendenzen, wie dies für Semisprecher beobachtet werden kann. 2.1.2 Sprachgebrauch und Sprachbewertung durch Semisprecher Aufgrund des Wissens um den geringen Kompetenzgrad tendieren Semisprecher häufig dazu, den Rekurs auf die rezessive Sprache zu vermeiden, wodurch sich der Teufelskreis im Hinblick auf das mangelhafte Prestige der Sprache erneut verstärkt („Disuse creates a vicious circle of attrition“, Romaine 2010: 324). Nicht-traditionelle Varianten und Formen der Sprache, die hierbei entstehen, werden innerhalb der Sprachgemeinschaft von Vollsprechern bewusst wahrgenommen und häufig als „speaking ‘lazily’“ (Donaldson 1980: 21), „faulty or undesirably aberrant“ (Dorian 1999b: 107) oder „mixed up“ (Schmidt 1991: 123) kritisiert. So beobachtete z. B. Dorian (1981) für das Gälische: 12 In der Spracherwerbsforschung wird daher der normal verlaufenden Sprachtransmission die disrupted language transmission gegenübergestellt. Letztere führt häufig zu unvollständigem Spracherwerb ( incomplete acquisition ), der sich wiederum in Form geringerer Sprachkompetenz bemerkbar macht (vgl. Sasse 2001: 1669). 13 Diesen Terminus übernimmt Sasse von Lise Menn (1989: 345). <?page no="109"?> 2.1 Sprachkompetenz und Sprachgebrauch im Kontext von Sprachwechsel und Sprachverfall 109 Semi-speakers may be distinguished from fully fluent speakers of any age by the presence of deviations in their Gaelic which are explicitly labeled “mistakes” by the fully fluent speakers. That is, the speech community is aware of many (though not all) of the deficiencies in semi-speaker speech performance. (Dorian 1981: 107) Mit dem Verzicht auf die rückläufige Sprache beabsichtigen Semisprecher folglich oftmals, der negativen Kritik bzw. der Zurechtweisung („[t]he corrective mechanism“, Schmidt 1985: 18) durch ältere, sprachpuristische Sprecher mit starkem normativen Bewusstsein auszuweichen (vgl. ibid. 18 f., dal Negro 2004: 32, 34 f.), 14 die durchaus in der Lage sind, Semispeaker als solche zu identifizieren (vgl. Dorian 1977: 30). 15 Die „semi-speakers’ silence“ (dal Negro 2004: 34), 16 d. h. die Nicht-Verwendung des betroffenen Idioms bzw. das Vermeiden von Situationen, in denen die Sprache gebräuchlich wäre (vgl. Andersen 1982: 112), führt wiederum zum verstärkten Abbau der Sprachstrukturen. Allerdings ist oftmals auch zu beobachten, dass ältere Vollsprecher ab einem bestimmten Zeitpunkt - d. h. sobald der Sprachwechsel definitiv unaufhaltsam scheint - den Sprachgebrauch jüngerer Semisprecher nicht mehr korrigieren: „[…] a relaxation of social, sociolinguistic, and linguistic norms […]“ (Dressler 1988: 188), was den ungezügelten Rekurs auf Lehnwörter, die unverändert übernommen und nicht in das Ausgangssystem eingepasst werden, nur noch mehr beschleunigt (vgl. ibid.). Ein weiteres Phänomen ist das Anwenden von Ausweichstrategien, die genutzt werden, um insbesondere lexikalische und morphologische Lücken zu schließen bzw. zu überdecken. Diese Mechanismen können allerdings auch als Strategien gewertet werden, die den Erhalt der Sprache bis zu einem gewissen 14 Denn obwohl nicht-standardisierte Idiome (wie z. B. auch Dialekte) über keine festgeschriebenen Normen verfügen, deren Einhaltung durch die Schule und Gesellschaft kontrolliert wird, so kann eine implizite Norm vorhanden sein, die „[…] nur auf eine andere Weise (im Prozeß und der Kontrolle des sprachlich konstituierten Zusammenlebens) garantiert“ wird (Weisgerber 1996: 263). 15 Vgl. hierzu Tsunoda (2006: 61): „It is ironic - and may appear even strange - that language purism can lead to language loss“. Dixon (1991: 197) gibt die Aussage eines Sprechers des Jirrbal in Bezug auf die sich im Wandel befindliche Sprache wieder: „that’s not the way they spoke the language when I was growing up“. Rindler Schjerve (1981: 213) dokumentierte anlässlich ihrer Umfrage in Ottava, dass jüngere Sprecher, die sich trotz geringerer Sprachkenntnisse gerne auf Sardisch verständigen, von ihren Eltern aufgrund ihrer mangelhaften Sardischkompetenz, dazu angehalten werden, das Italienische zu verwenden. Imperfekte Sprecher werden häufig von Vollsprechern in Bezug auf ihre Sprache nicht ,ernst‘ genommen und / oder direkt darauf hingewiesen, dass sie die Sprache nicht angemessen beherrschen. Trotz großer Bemühungen die Sprache zu verwenden, wird Semisprechern oftmals von Seiten der Vollsprecher in der Prestigesprache geantwortet (vgl. Garzon 1992: 59). 16 Dal Negro (2004: 32): „They are somewhat ‘silent’ in the local language.“ <?page no="110"?> 110 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod Grad ermöglichen, da durch diese gewährleistet wird, dass auf die moribunde Sprache überhaupt noch zurückgegriffen werden kann. Hierzu zählen 1) das Vermeiden von Gesprächsthemen, für die Semisprechern das angemessene Vokabular fehlt, 2) das Ersetzen von wenig frequenten Formen durch häufigere und zugänglichere Formen, 3) das Auslassen von Formen, 4) sog. word coinage , d. h. das Kreieren neuer Wörter mithilfe produktiver Wortbildungsverfahren, 5) codeswitching und 6) calquing , d. h. direktes Übersetzen einer Form der dominanten Sprache in die erodierende Sprache (vgl. Bereznak / Campbell 1996: 662 f.). 17 Weitere Strategien sind Zirkumlokutionen und Paraphrasierungen (vgl. z. B. Andersen 1982: 111 f.), das Ausweichen auf semantisch ähnliche Wörter (vgl. Olshtain / Barzilay 1991: 142), das direkte Nachfragen beim Gesprächspartner bzw. Forscher ( appeal for assistance ) oder auch der Rekurs auf nonverbale Mittel (vgl. Tarone 1977: 197-199). 18 In Fällen beständiger Sprachloyalität lässt sich hingegen oftmals eine gegenteilige Wahrnehmung seitens der Sprachgemeinschaft feststellen. So kann die moribunde Sprache nach wie vor als vital seitens der Sprecher angesehen werden, solange insbesondere saliente sprachstrukturelle Merkmale erhalten sind: „[…] speakers frequently perceive that their language is ‘healthy’, nonthreatened as long as certain formal markers of the language (be they lexical, morphological, or phonological) are used“ (Schmidt 1991: 122; vgl. Bradley 2001: 157). 19 Die oftmals kritische Bewertung des Sprachgebrauchs von imperfekten Sprechern durch Vollsprecher ist zudem nicht zwangsläufig gleichzusetzen mit einem Ausschluss aus der Gemeinschaft der Sprecher des bedrohten Idioms. Oftmals entspricht die Wahrnehmung des Feldforschers nicht der der Sprechergemeinschaft: The “native speaker” population itself may not agree on who falls within that category: some people may claim speaker status when others would not accept them as such; some may say they are not speakers when others would include them as speakers. (Watson 1989: 41; Herv. i. O.) Schmidt (1991: 123) betont, dass häufig der „geringste gemeinsame Nenner“ ausreichend ist, um Individuen mit geringen Sprachkenntnissen dennoch als Mit- 17 Vgl. auch Wolfram (2003) und Tarone (1977: 197-199). 18 Tarone (1977: 202) betont zudem, dass Persönlichkeitsfaktoren mit der Wahl bestimmter Vermeidungsstrategien zusammenhängen können. 19 Vgl. hierzu auch Hagège (2009: 98): „Under-users are not always aware of the pace at which their language is falling apart, even when it is dizzying. Often they are convinced that they are still speaking a normal language, even though it is dying.“ <?page no="111"?> 2.2 Eine Theorie des Sprachverfalls? 111 glieder der Sprachgemeinschaft des jeweiligen Idioms anzuerkennen. 20 Dorian (1981: 116) hebt hervor, dass Semisprecher trotz lexikalischer und grammatikalischer Lücken, dennoch über eine ausgeprägte kommunikative Kompetenz („communicative efficacy“) verfügen. Die Tatsache, dass Semisprecher kurze Äußerungen produzieren („short bursts“) und ihre Sprache phonologisch und grammatikalisch von der, wenn auch nur impliziten, Norm abweicht, scheint dies nicht zu beeinträchtigen (vgl. Dorian [1982] 2014: 157). Ausschlaggebend sind die oftmals nach wie vor beeindruckenden, passiven Kenntnisse der Semisprecher 21 sowie das Wissen um soziolinguistische Normen, die innerhalb der Sprachgemeinschaft gelten (vgl. ibid. 159 f.), so dass sie trotz alledem als „highly successful participants“ (ibid. 160) an Gesprächen beteiligt sein können. 22 Hiermit ist ein gewisser „sociolinguistic ‘fit’“ der Semisprecher gewährleistet (Dorian [1982] 2014: 160). So beobachtete Dorian: What they [the semispeakers, L. L.] actually said might be very little, and some of their utterances were always grammatically deviant. But since their verbal output was semantically well integrated with what preceded in the conversation, and since it conformed to all the sociolinguistic norms of the dialect, the deviance could usually be overlooked. (Dorian [1982] 2014: 160) 2.2 Eine Theorie des Sprachverfalls? Da die meisten Studien aus dem Bereich Sprachtod die Kategorie gradual death betreffen (vgl. Campbell / Muntzel 1989: 184 f.) - „[…] where the language in question is not actually dead but, rather, seems to be embarking on the path that may ultimately lead to its extinction“ ( Jones / Singh 2005: 80) - kann gefolgert werden, dass das eigentliche Untersuchungsfeld von Sprachtodprozessen nicht den Sprachtod als solchen, sondern das sukzessive Zusteuern auf diesen darstellt (vgl. Dressler 1981: 5): Sprachtod ist somit als „Endpunkt“ von Sprachverfall ( language obsolescence / decay ) zu sehen (vgl. Jones / Singh 2005: 79), der die wohl interessantesten Phänomene für die linguistische Forschung bietet: 20 Dorian ([1982] 2014: 162): „[…] it highlights the minimum requirements for membership in a speech community.“ 21 Dorian ([1986] 2014: 107): „[…] an ability to decode messages which is dramatically out of line with their ability to encode messages.“ Schmidt (1985: 23) spricht hierbei von „understanding skill“. 22 Der Terminus Sprachgemeinschaft sollte daher sehr weit gefasst werden: „Such speakers do share much, but not all, of the language and language use norms with core members of the community, forcing us to reconsider what we mean by the concept of ‘speech community‘“ (Nagy 2000: 129). <?page no="112"?> 112 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod „Obviously, these endpoints are much less interesting than the paths leading to them, i.e. changing norms in language choice and increasing language decay“ (Dressler 1981: 5). Der von Sasse (1992a: 11-19) vorgeschlagene Theorieentwurf fußt auf einem Kombinationsmodell dreier Untersuchungsfelder (vgl. Kap. 1.4.1): Sozioökomische Faktoren ( external setting ) beeinflussen das Sprachverhalten ( speech behavior ), wodurch sich durch seltene Verwendung strukturelle Veränderungen an der Sprache selbst ( structural consequences ) ergeben (vgl. Dressler / de Cillia 2006: 2260). 23 Diese können alle Bereiche des Systems (Phonologie, Morphologie, Syntax und Lexikon) betreffen und stellen konkretes Interesse der vorliegenden Arbeit dar. 24 Trotz intensiver wissenschaftlicher Beschäftigung mit Sprachtod und Sprachverfall und dem Entstehen von Theorientwürfen in den letzen Jahren fehlt bislang - wie Rindler Schjerve (2002: 19 f.) betont - eine elaborierte Sprachtodtheorie allgemein anerkannter Gültigkeit (vgl. auch Müller 2003: 8; Dressler / de Cillia 2006: 2258). Sprachtod stellt überdies ein Forschungsterrain dar, das oftmals weitere linguistische Bereiche wie die Spracherwerbs-, die Pidgin-, die Kreol-, die Sprachwandel-, die Kontakt- und auch die Substratforschung sowie die Patholinguistik und Code-Switching streift (vgl. Rindler Schjerve 2002: 19). Die Beschäftigung mit dem Phänomen beschränkt sich meist, so betont auch Rindler Schjerve (1989: 2, 2002: 20), entweder auf induktive Ansätze und die Feststellung bestimmter Abbauphänomene in rückläufigen Sprachen oder auf soziologisch-politische Determinanten der Sprachaufgabe. In den seltensten Fällen werden beide Bereiche fokussiert 25 - und das obwohl mittlerweile die Tatsache anerkannt ist, dass Sprachtodprozesse ebenso wie Sprachwandel dem komplexen Zusammenwirken vielfältiger Faktoren unterliegen und häufig durch sprachökologisch relevante und insbesondere sozialstrukturelle Prozes- 23 Einen ähnlichen Dreischritt beschrieb bereits Austin ([1986] 2012: 265): 1) Die Verengung und Reduktion der Gebrauchskontexte der Sprache führen zur 2) funktionalen Beeinträchtigung des Idioms, was wiederum 3) zur Reduktion des sprachlichen Repertoires und zu strukturellen Abbauerscheinungen führt. 24 Das Wissen der betroffenen Sprecher um den Abbau der Sprachstrukturen hat wiederum Auswirkungen auf den Umgang mit der rückläufigen Sprache selbst (vgl. Kap. 2.1.2) und kann beispielsweise zum Ausbleiben von Spracherhaltungsmaßnahmen führen. Das Modell ist folglich zyklisch und nicht stufenförmig zu begreifen (vgl. Linzmeier 2017: 95). 25 Dies beklagt u. a. Haugen ([1971] 2012: 71): „Most language descriptions are prefaced by a brief and perfunctory statement concerning the number and location of its speakers and something of their history. Rarely does such a description really tell the reader what he ought to know about the social status and function of the language in question. Linguists have generally been too eager to get on with the phonology, grammar, and lexicon to pay more than superficial attention to what I would like to call the ‘ecology of language’.“ <?page no="113"?> 2.2 Eine Theorie des Sprachverfalls? 113 se ausgelöst werden. 26 Jegliche Beschäftigung mit Sprachverfall bedarf daher zweier Analyseschritte, der sozio- und sprachstrukturellen (vgl. Sasse 1992a: 9), denn „[…] the decline of a languages does not take place in a vacuum, and the sociopolitical setting is often instrumental in precipitating linguistic change“ ( Jones / Singh 2005: 81). In einem interdisziplinären Forschungsfeld wie der Sprachverfallsforschung ist daher eine Theorie nötig, die eine Brücke schlägt zwischen den beteiligten Disziplinen von Sozio- und Systemlinguistik („bridgetheorie“, Dressler 1981: 10). Problematisch ist ebenso die Tatsache, dass oftmals Verfallssymptome von Sprachen in verschiedenen Entwicklungsstadien und unterschiedlichen soziokulturellen Situationen miteinander verglichen werden (vgl. Rindler Schjerve 2002: 20). 27 Die bisherigen Forschungen beziehen sich folglich auf Sprachverfallsszenarien unterschiedlicher Komplexität. Angesichts der mittlerweile zahlreichen wissenschaftlichen Beschäftigungen mit dem Thema Sprachtod und Sprachverfall , stand in den letzten Jahrzehnten auch immer wieder die Frage im Raum, ob sich aus der Feststellung und Analyse belegbarer Abbauerscheinungen feste Systematisierungsmuster der Verfallsmerkmale entwickeln ließen. Ein für bisherige Forschungen interessantes Thema war die Frage nach der Entwickelbarkeit einer Verfallshierarchie. Eine vielfach diskutierte Frage ist hierbei die nach der Existenz universal gültiger sprachlicher Dynamiken. Einerseits erhofft man sich Aufschlüsse über den kognitiven Verarbeitungsprozess und die Organisation der Sprache („[…] about both the way in which the brain deals with language and the structure of language itself “, Jones / Singh 2005: 79; vgl. Rindler Schjerve 2002: 19), andererseits erstrebt man neue Erkenntnisse zu sprachlichen Universalien und deren Zusammenhang mit häufig auftretenden Abbauerscheinungen (vgl. z. B. Dressler 1981; Andersen 1982; Campbell / Muntzel 1989; Reinke 2014: 155). Unklar bleibt außerdem, ob bestimmte sprachliche Dynamiken als Vorboten drohenden Sprachtodes angesehen werden können (vgl. McMahon 1994: 312 f.). Zwar gilt es als erwiesen, dass vielfältige soziologische und psychologische Hintergründe zu typologisch ähnlichen Sprachwandelphänomenen führen können (vgl. Sasse 2001: 1668), dennoch muss jedes Sprachumstellungs und -verfallsszenario für sich individuell untersucht werden, denn „[…] every instance of system decay is unique. Although the crude mechanisms appear to be more or 26 Problematisch für die Theoriebildung ist jedoch die Tatsache, dass die vielfältigen Wirkungsfaktoren des gesellschaftlichen Plurilingualismus nicht auf einen Nenner zu bringen und schwer miteinander zu kombinieren sind (vgl. Rindler Schjerve 2002: 19). 27 Wolfram / Schilling-Estes (1995: 697) und Wolfram (1997) betonen zusätzlich, dass Sprachverfallsstudien vorwiegend der Dokumentation von Abbauerscheinungen in Sprachen gewidmet werden und gefährdete Dialekte ,gesunder‘ Sprachen meist außer Acht lassen. <?page no="114"?> 114 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod less universal, the ways in which they apply are highly case-specific“ ( Jorek 2005: 90; vgl. Schmidt 1985: 227). Problematisch ist auch die stete Beschränkung auf die Untersuchung von Abbausymptomen, während Ausweichstrategien und verfallsresistente Strukturen bislang weniger im Fokus standen, wie Schmid im Hinblick auf Sprachattrition hervorhebt: […] language attrition research should focus not so much on what appears to be lost in the data under observation, that is, on the apparent “errors” which are made, but on what is retained. In other words, it is suggested that more emphasis needs to be placed on the attempt to provide a picture of the level of proficiency the individual speaker has retained in the attriting language that is as accurate and broad as possible. What is argued here is that such a “holistic” picture cannot be gained by approaches which focus on deviance - that is, on “errors” - alone. (Schmid 2004: 239; Herv. i. O.) Wissenschaftliche Arbeiten zu Spracherosion begründen die beobachteten Abbauerscheinungen im Rahmen von Theorien endogen bzw. exogen motivierten Sprachwandels und beschreiben die Herausbildung konvergenter, 28 wie auch divergenter Entwicklungen. Hierbei stellt sich stets die Frage, in welchem Maße Sprachverfallsprozesse vergleichbar sind mit Sprachwandel im Allgemeinen 29 (Kap. 2.2.1) und welche Konsequenzen sich auf struktureller Ebene für das rezessive Idiom ergeben können (Kap. 2.2.2). 2.2.1 Sprachverfall und Sprachwandel im Allgemeinen im Vergleich Um den im Sprachverfall zu beobachtenden Wandel besser beschreiben zu können, muss zunächst präzisiert werden, was die vorliegende Arbeit unter endogenen und exogenen Faktoren des Sprachverfalls versteht. In der Forschung wird der Terminus endogen oftmals zur Beschreibung ,von innen‘ heraus verursachten Sprachwandels, der durch ,endogene Faktoren‘ ausgelöst wird, herangezogen. ,Endogen‘ sollte jedoch als ,strukturintern‘ verstanden werden und kann daher lediglich zur Beschreibung von bereits vorliegenden Bedingungen des Wandels dienen, die die Grundlage für sprachstrukturelle Innovationen wie 28 Konvergenz wird meist „[…] als kontaktinduzierte Annäherung zwischen Sprachen oder Sprachvarietäten gesehen, die zu einer Zunahme gemeinsamer Merkmale führt“ (Geisler 2008: 3255). Allerdings - so ebenfalls Geisler (ibid.) - ist direkter Sprachkontakt nicht die einzige Ursache für das Konvergieren von Sprachen, „da Sprachwandel universalen sprachökonomischen Prinzipien folgt und speziell Lautwandel aufgrund seiner artikulatorischen und perzeptiven Rückbindung nicht beliebig erfolgen kann […].“ 29 Vgl. Tsunoda (2006: 109-116) für eine ausführliche Gegenüberstellung von Sprachverfall und Phänomenen wie Pidginisierung / Kreolisierung, Sprachwandel in anderen Kontaktsituationen, ,normaler‘ Wandel, Spracherwerb (Erst- und Zweitsprache) und Aphasie. <?page no="115"?> 2.2 Eine Theorie des Sprachverfalls? 115 Simplifizierungen, Verlust, Zuwachs etc. sein können. Wenn im Folgenden von ,Faktoren‘ gesprochen wird, muss daher klar sein, dass diese als verstärkende Mechanismen - d. h. als vorhandene strukturelle Grundlagen - und nicht als erklärende Faktoren begriffen werden. ,Endogener‘ Wandel vollzieht sich auf der Grundlage komplexer strukturinterner Bedingungsgeflechte, die nicht zwangsläufig eine eindeutige ,Erklärung‘ für Wandel liefern, sondern lediglich mögliche Verlaufsmodelle - d. h. Richtungen - sprachlichen Wandels besser begreifbar machen. Exogener Sprachwandel beschreibt hingegen in der Tat Veränderungen, die ,von außen‘, d. h. durch historisch-gesellschaftliche Faktoren wie Sprachkontakt und attitudinale Motivationen, ausgelöst werden. 2.2.1.1 Endogene Bedingungen des Sprachverfalls Angesichts der potentiellen Veränderungsprozesse erodierender Sprachen, die sich zum Teil auch in vitalen Sprachen feststellen lassen, stellt sich zunächst die Frage nach der Vergleichbarkeit mit endogen bedingten Sprachwandelprozessen („normal diachronic language change“, Dressler 2011: 89). Zu den durch strukturinterne Grundlagen ausgelösten Wandelprozessen, die in vitalen wie auch rückläufigen Sprachen beobachtet werden, zählen Phänomene wie Generalisierungen, Simplifizierungen, Regularisierungen, Natürlichkeitsprozesse, intralinguistische Effekte und kognitive Strategien (vgl. Seliger / Vago 1991: 10). 30 Dal Negro (2011: 47) hebt als markanten Unterschied zu Sprachwandel in vitalen Sprachen insbesondere das Ausmaß und die Schnelligkeit der Veränderungen, die sich vermehrt in moribunden Sprachen zeigen, hervor (vgl. auch Schmidt 1985: 212-214; McMahon 1994: 302; Silva-Corvalán 1994: 5). 31 Die treibende Kraft hinter dem Wandel gefährdeter Sprachen steckt zudem primär in soziolinguistischen Wirkungsfaktoren und weniger in rein sprachstrukturellen Beschaffenheiten (vgl. Dorian 1981: 154), 32 d. h. „Sprachtod schließt ,gewöhnlichen‘ linguistischen Wandel mit ein, der in dieser Situation jedoch aus besonderen soziologischen Gründen in erhöhtem Maße stattfindet“ (Müller 2003: 8; vgl. McMahon 1994: 284). Im Folgenden sollen insbesondere den im Sprachwandel zu beobachtenden Phänomenen der Zunahmen von Un- 30 Insbesondere die junggrammatische und strukturalistische Forschungsrichtung begründet Sprachwandel mit dem Vorherrschen endogener Wirkungsbedingungen. 31 Romaine (1989: 380) gibt eine verbreitete wissenschaftliche Meinung wieder, wenn sie von „ordinary changes speeded up“ spricht. 32 Vgl. auch Jones / Singh (2005: 89): „It is worth reiterating that in language obsolescence it is the rate, amount and context of the linguistic change that is noteworthy, rather than the specific nature of the change.“ <?page no="116"?> 116 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod markiertheit / Natürlichkeit und der Simplifizierung und Reduktion Aufmerksamkeit geschenkt werden. 2.2.1.1.1 Unmarkiertheit / Natürlichkeit Aus Trubetzkoys (1931) und Jakobsons (1941) Arbeiten ging hervor, dass Sprachstrukturen in sich gegenüberstehende Kategorien, d. h. als „merkmaltragend“ vs. „merkmallos“ (bei Jakobson „merkmalhaltig“ vs. „merkmallos“) eingeteilt werden können. Laut Trubetzkoy hat ein Mitglied des Oppositionspaares eine Eigenschaft nicht, die das Gegenstück jedoch auszeichnet, weshalb letzteres als „markiert“ zu bezeichnen ist. Bei Greenberg (1966) finden sich nun die Einführung der Bezeichnungen „marked“ vs. „unmarked“, die sich im Deutschen als ,markiert‘ vs. ,unmarkiert‘ etabliert haben, sowie der deutliche Hinweis darauf, dass Kontraste dieser Art in allen Sprachen beobachtet werden können (vgl. Haspelmath 2005: vii). 33 In Anlehnung an die Markiertheitstheorie wird in der Sprachwandel- und Sprachverfallsforschung oftmals davon ausgegangen, dass markierte Merkmale schneller dem Abbau unterliegen als unmarkierte, da sie weniger funktional belastet, strukturell komplexer, weniger frequent und perzeptuell schwerer identifizierbar sind (z. B. Greenberg [1966] 2005; Andersen 1982; Ludwig 2001: 408; Reinke 2014: 155): […] traits of language which tend to be more unusual cross-linguistically, more difficult for children to learn, and more easily list in language change. They tend to be replaced by less marked ones (more common cross-linguistically, more easily learned) in language change. (Palosaari / Campbell 2011: 113) Sprachverfall würde auf dieser theoretischen Grundlage die Generalisierung unmarkierter Kategorien in Form von analogischem Ausgleich bedeuten (vgl. Seliger / Vago 1991: 10; Jones / Singh 2005: 89), denn unmarkierte Strukturen sind „[…] the natural or automatic choice in a ‘competitive’ opposition“ ( Jorek 2005: 86). 34 Die Opposition markiert / unmarkiert ist jedoch nicht unproblematisch: Ellis (1985: 211 f.) betont, dass bestimmte Phänomene in der Forschung teilweise 33 Die Markiertheitstheorie wird vor allem in der generativen Phonologie von Chomsky / Halle (1968) vertreten. 34 Dies zeigt sich u. a. auch in Pidginisierungs- und Kreolisierungsprozessen, in denen markierte Strukturen im Gegensatz zu unmarkierten Formen weit seltener vorkommen (vgl. Hamann / Zygis 2005: 520 f.). <?page no="117"?> 2.2 Eine Theorie des Sprachverfalls? 117 als markiert, teilweise als unmarkiert klassifiziert wurden. Die Theorie birgt außerdem die Gefahr der Zirkularität in sich: 35 an unmarked parameter is one that is fixed early, while a parameter that is fixed early is unmarked. Until reliable and generally accepted means are found for establishing which of two or more forms are marked and unmarked or more or less marked, the whole construct of markedness must be considered of doubtful value for empirical research. (Ellis 1985: 212). Keller (1993: 113), der auf das Problem des Fehlens einer einheitlichen Theorie aufmerksam macht, 36 hebt hervor, dass die Einstufung einer Form als natürlich oder weniger natürlich im Sprachwandel „[…] ausschließlich den Handlungsweisen des Individuums vorbehalten sein [sollte]“, das einerseits versucht „[…] im Rahmen seiner Möglichkeiten und Restriktionen rational, d. h. unter anderem kostengünstig […]“ seine kommunikativen Absichten zu erfüllen und andererseits mit seinem Sprachverhalten auch den Wunsch nach Erlangung von Sozialprestige und Anzeigen von Gruppenzugehörigkeit ausdrückt (vgl. ibid. 114). Letzteres kann den Abbau markierter Strukturen befördern, ihm jedoch ebenso entgegenwirken. So betont auch Ludwig (2001: 411), dass aus der Markiertheitsforschung nicht immer eindeutig hervorgeht, „[…] ob Sprachkontaktsituationen Markiertheit oder Unmarkiertheit generieren.“ Ludwig (ibid.) verweist hier auf Thomason / Kaufman (1988), die beide Entwicklungsrichtungen als potentiell möglich beschreiben. Allerdings ist der Abbau von Markiertheit bei intensivem Sprachkontakt „zweifelsohne häufig“ (Ludwig 2001: 411). Auch Prozesse des Erstspracherwerbs (vgl. Jakobson 1941) wurden im Rahmen der sog. regression hypothesis (auch deacquisition model , vgl. Wolfram 2003) mit Sprachverfallserscheinungen in Beziehung gesetzt: U.a. betont Mithun (1989: 255), dass bestimmte Aspekte des Sprachverfalls eine Art Umkehrung des Spracherwerbsprozesses darstellen: Was später im Spracherwerb erlernt wird, ist markiert und wird im Falle des Sprachverfalls im Erwachsenenalter früher wieder verloren. Im Falle moribunder Sprachen ergibt sich jedoch der Umstand, dass diese eben in den wenigsten Fällen von Kindern aktiv erworben werden (vgl. Mithun 1989: 255), d. h. genau genommen kann nicht von Verlust 35 Hierzu auch Keller (1993: 110): „Der Begriff der Natürlichkeit selbst wird üblicherweise zirkulär, tautologisch, in jedem Falle aber unklar bestimmt: das Übliche ist das Unmarkierte ist das Einfachere ist das Natürlichere.“ 36 Keller (1993: 111 f.) betont, dass die Natürlichkeitstheorie lediglich „[…], wenn sie sauber und ordentlich konzipiert wird, eine Erklärung des Trends liefern [kann]. Mit anderen Worten, die Natürlichkeitstheorie erklärt den Trend; aber der Trend erklärt nicht den Einzelfall, […] weil der Einzelfall den Trend nicht falsifizieren kann.“ <?page no="118"?> 118 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod gesprochen werden, wenn der Erwerb der Strukturen zuvor nicht möglich war. Lediglich im Hinblick auf das Ausspracheverhalten von Sprechern, die über bestimmte Strukturen zumindest passiv verfügen bzw. durch Nicht-Gebrauch der angestammten Sprache Spuren von Sprachvergessen aufweisen ( Rusty Speaker ), können hier Vergleiche unternommen werden. Zudem ist nicht zu vergessen, dass „[…] der Spracherwerb beim Kind kognitiven Beschränkungen unterliegt, die im Sprachtod nicht geltend zu machen sind […]“ (Rindler Schjerve 2002: 24). 37 Sprachtod stellt überdies ein gesellschaftliches Phänomen dar, während Spracherwerb das Individuum betrifft (vgl. Schmidt 1985: 220 f.). 2.2.1.1.2 Simplifizierung und Reduktion Dressler (2011: 89) und Dressler / de Cillia (2006: 2261) betonen, dass natürliche Sprachwandelprozesse dadurch gekennzeichnet sind, dass sich Simplifizierungen und Komplizierungen generell die Waage halten. ,Gesunde‘ Sprachen bringen beispielsweise neue morphologische Marker durch Reanalyse- und Grammatikalisierungsprozesse hervor (vgl. McMahon 1994: 302). Außerdem müssen „[…] Struktureinbußen nicht notwendigerweise Einbußen sein […], die die sozialen Funktionen der Sprache einschränken“ (Rindler Schjerve 2002: 25). Ein entscheidender Punkt ist jedoch, dass dieses Gleichgewicht bei rückläufigen Idiomen meist gestört ist: Bei Vereinfachungen ist lediglich die „externe Komplexität der Sprachstruktur“ betroffen, die Vereinfachung bleibt „funktional intakt“ (Seifart 2000: 10). Es kommt lediglich zu einem Anstieg an Regularität (vgl. Trudgill 1977: 34). Reduktion im Sprachverfall meint hingegen „den Verlust von essentiellen Bestandteilen der Sprache“ (Seifart 2000: 10), die Funktionalität wird begrenzt, da keine Kompensation erfolgt (vgl. ibid.; Schmidt 1985: 212-214; Dressler 1988: 188). Von Sprachverfallssymptomen gehen wir daher insbesondere dann aus, wenn es zu „[…] teilweise irreversiblen Einbußen gekommen ist“ (Rindler Schjerve 1987: 290). 38 37 Vgl. hierzu auch Cook (1989: 241; Herv. i. O.): „[…] each stage of acquisition must have taken a much longer time and have occurred at a much later stage of their physical and mental development than in a normal process of child language acquisition. […] the processes of acquisition of each individual learner in the two categories (i.e., semispeakers and normal children) are never mirror images […]“. Allerdings betont Cook (1989: 253) auch, dass „[d]ying languages do not leave chaotic debris behind them; they simply recapitulate in reverse order, or mirror, the development stages of child language in slow progression.“ 38 Vgl. Sasse (2001: 1670): „Simplification is the loss of formal complexity and redundancy, while reduction is the loss of essential or functionally necessary parts of the language.“ <?page no="119"?> 2.2 Eine Theorie des Sprachverfalls? 119 2.2.1.2 Exogene Faktoren: Sprachverfall und Sprachkontakt Da wir im Hinblick auf die vorliegende Untersuchung das Szenario einer Sprachkontaktsituation, bei der ein gradueller Wechsel zur dominanteren Sprache vollzogen wird, zugrunde legen und moribunde Sprachen in den meisten Fällen Merkmale letzterer übernehmen, ist ebenso die Frage berechtigt, ob Sprachverfallsprozesse nicht vielfach Gemeinsamkeiten mit klassischen Sprachkontaktprozessen aufweisen. Sprachkontakt entsteht in Sprachwechsel- und Sprachverfallskontexten nicht durch das Aufeinandertreffen von zwei bzw. mehreren monolingualen Sprechergruppen, sondern vollzieht sich über eine lange Phase der Zweibzw. Mehrsprachigkeit ein und derselben Gruppe. Das bedeutet, dass „Sprachkontakt […] im Wesentlichen ein Ergebnis von Mehrsprachigkeit [ist]“ (Riehl 3 2014: 12). Hierbei kann es zu einer gegenseitigen Beeinflussung der in Kontakt stehenden Idiome kommen. In Situationen des Sprachwechsels wird dieser Bilinguismus allmählich instabil. Sprachkontakt - und daraus oftmals resultierender Sprachkonflikt - ist auch niemals als direkter Kontakt bzw. Konflikt zwischen Sprachen, sondern zwischen Sprechern und Sprachgemeinschaften zu verstehen (vgl. Nelde 1995: 83, 85). Typische Phänomene des Sprachkontakts, welche die strukturelle Distanz zwischen den Idiomen verringern können, sind Transferenzen - die auch Interferenzen genannt werden -, worunter „[…] die Übernahme von Elementen einer Sprache in die andere und zwar auf verschiedenen Ebenen, nicht nur auf dem Gebiet der Lexik, sondern auch in der Phonetik / Phonologie, Morphologie und Syntax sowie auf der Ebene des Textes“ (Riehl 3 2014: 35) verstanden wird. Diese zunächst auf der parole -Ebene in Erscheinung tretenden Phänomene, werden - sobald sie fester Bestandteil des Systems der Nehmersprache geworden sind - als Entlehnung bezeichnet, d. h. „[…] daß Interferenz in der Sprachverwendung stattfindet, Entlehnung (im engeren Sinne) dagegen das Resultat des lingualen Integrationsprozesses ein Faktum des Sprachsystems wird“ (Tesch 1978: 37). Je nach Intensität des Sprachkontaktes bzw. Grad der Mehrsprachigkeit entfaltet der Prozess des Leihens von Sprachmaterial ( borrowing ) aus der Kontaktsprache unterschiedliche Dynamiken. Im Falle sehr intensiven Sprachkontaktes übernimmt die rezessive Sprache in erhöhtem Ausmaß Strukturen aus der Prestigesprache, wodurch sich konvergente Entwicklungen ergeben (vgl. O’Shannessy 2011: 80). Ein häufig beobachtetes Phänomen im Sprachkontakt ist auch die Aufgabe von Merkmalen, die nicht in der dominanten Sprache existieren, wodurch es ebenfalls zu konvergenten Veränderungen kommen kann. Sasse (2001: 1670) spricht hierbei von negative borrowing . 39 Bereits vor- 39 Thomason (2001: 62) verwendet den Begriff „indirect transfer“. <?page no="120"?> 120 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod handene übereinstimmende Merkmale werden in der rezessiven Sprache in der Verwendung frequenter und oftmals zusätzlich semantisch von der dominanten Kontaktsprache beeinflusst. 40 Im Bereich der Entlehnungen - „a frequent byproduct of language contact“ ( Jones / Singh 2005: 30) - zeigen sich unterschiedliche Integrationsmechanismen, die insbesondere im Lexikon auffällig sind. Insbesondere bei intensivem Sprachkontakt entsteht einerseits der Versuch, durch Entlehnungen lexikalische Lücken zu schließen bzw. aus Prestigegründen Vokabular, das als „fashionable and up to date“ ( Jones / Singh 2005: 32) empfunden wird, zu übernehmen (sog. Luxuslehnwörter ). Entlehntes Wortmaterial kann ohne Adaption der Aussprache direkt in die Nehmersprache integriert oder in das phonologische System eingepasst werden. Welcher Mechanismus nun häufiger greift, hängt vom Grad der Zweisprachigkeit ab: Je höher die Sprachkompetenz eines Sprechers in der Gebersprache ist, desto weniger wird er auf die angestammte Sprache als Orientierungsmodell für die Einpassung rekurrieren (vgl. Holloway 1997: 53). Thomason / Kaufmans (1988) borrowing scale bildet daher fünf Grade von Entlehnungsprozessen ab: bei 1) casual contact kommt es lediglich zur Entlehnung lexikalischen Materials. 2) Ist der Sprachkontakt bereits slightly more intense , so sind geringfügige phonologische, syntaktische und lexikalisch-semantische Veränderungen möglich. Durch Lehnwörter können neue Phoneme in das Lautinventar der interferierten Sprache übergehen. 3) Bei intensiverem Kontakt ( more intense contact ) kann es in der Phonologie zur Phonematisierung allophonischer Varianten kommen. 4) Bei starkem kulturellen Druck werden neue distinktive Merkmale in „kontrastiven Sets“ übernommen und auf das angestammte Wortmaterial übertragen. Darüber hinaus können Kontraste abgebaut und die Silbenstruktur beeinflusst werden. 5) Bei sehr starkem kulturellen Druck ist heavy structural borrowing möglich, d. h. neue morphophonemische Regeln kommen hinzu; subphonemischer Wandel vollzieht sich (artikulatorische Schwankungen, allophonische Variation) und phonologische Kontraste sowie morphophonemische Regeln können verloren gehen. Allerdings geschieht die Abtragung bzw. die Ersetzung von Strukturen der rezessiven Sprache nicht zwangsläufig nach Vorlage des dominanteren Idioms (vgl. Dressler / de Cillia 2006: 2261). Es können sich Veränderungen ergeben, die keine Parallelen zu den Strukturen der Kontaktsprache darstellen (vgl. Rankin 1978: 51). Sprachkontaktsymptome sind folglich nicht die einzigen im Sprachverfall auftretenden Sprachwandelprozesse. 40 Vgl. Aikhenvald (2012: 97): „Intensive language contact in the situation of language obsolescence goes together with enhancement of already existing similarities. Forms in the obsolescent language which are similar to those in the dominant one tend to become more frequent, and to assume the meanings influenced by the dominant language.“ <?page no="121"?> 2.2 Eine Theorie des Sprachverfalls? 121 Campbell (1976: 189) sowie Sasse (2001: 1670) betonen außerdem, dass kontaktinduzierter Wandel zwar vitale wie auch erodierende Sprachen betrifft, 41 letztere sind allerdings „[…] much more susceptible to this kind of change“ (Campbell 1976: 189) und zeigen Veränderungen stärkerer Intensität und Dynamik (vgl. Sasse 2001: 1670). Eine wesentliche Besonderheit liegt darüber hinaus in der asymmetrischen Beeinflussung (vgl. Wolfram 2003): Stärker als bei sonstigem Sprachkontakt finden sich bei Sprachverfall Interferenzen, und zwar einseitige Entlehnungen aus der dominierenden in die rezessive Sprache […], wobei die Asymmetrie der Entlehnungsrichtung die soziale, soziopsychologische und meist sozioökonomische und politische Hierarchie der Sprachgemeinschaften widerspiegelt. (Dressler / de Cillia 2006: 2260 f.). Die zunehmende Umbildung der moribunden Sprache nach Vorlage der dominanten Kontaktsprache kann nun unter zwei Blickwinkeln analysiert werden: Einerseits hebt z. B. Aikhenvald (2012: 102) unter Anführung Johansons (2002) Worten „languages do not die of ‘structuritis’“ 42 hervor, dass Sprachkontaktprozesse nicht wirklich zu language extinction führen, sondern eher strukturelle Veränderungen des Ausmaßes hervorgerufen werden, dass die rezessive Sprache zu einer „carbon copy“ des dominanten Kontaktidioms werden kann. Sasse (1992a: 16) betont hingegen, dass im Fall von Spracherosion schlichtweg nicht mehr von Transfererscheinungen gesprochen werden kann, sondern lediglich von einem „[…] downright loss leading to a heavy expression deficit“. Für Spracherosionsszenarien stellt sich folglich stets die Frage, ob das moribunde Idiom durch die dominante Sprache so stark interferiert wird, dass seine strukturellen Bereiche nach und nach ,überfremdet‘ werden oder, ob es sich weniger um Transferenzen aus der Prestigesprache und vielmehr um tatsächliche Korrosion von Sprachstrukturen handelt, deren Gebrauch aufgrund des unvollständigen Erwerbs generell vermieden wird und deren Lücken bei Notwendigkeit der Verwendung unter Rekurs auf Material aus der Prestigesprache ,verdeckt‘ werden. Thomason (2001: 230) plädiert daher für das Inbetrachtziehen einer „[…] multiple causation, with both attrition and interference from the dominant group’s language contributing to the change, because this combination seems to be very common in dying languages.“ 41 Vgl. hierzu auch Thomason (2001: 229): „Borrowing itself cannot be symptomatic of language death, because […] it occurs in all sorts of languages, including fully viable ones. Even heavy borrowing is found in viable as well as dying languages.“ 42 Hierzu genauer Johanson (2002: 267): „Codes ‘die’ because they are not longer acquired by new generations. Even considerable degrees of structural change do not prevent them from being passed on from one generation to the next. Languages do not die of ‘structuritis’.“ <?page no="122"?> 122 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod 2.2.1.3 Salienz Der Begriff Salienz wurde insbesondere von Peter Trudgill (1986) in seinem Werk Dialects in contact ausgearbeitet. Mit dem Terminus werden im Allgemeinen „[…] Eigenschaften von Objekten einer Kategorie, die bes. [besonders, L. L.] hervorstechen, schnell wahrnehmbar und kognitiv gut verarbeitbar sind“ bezeichnet (Glück 4 2010: 576). Saliente Merkmale zeichnen sich folglich durch ihre perzeptuelle und kognitive Prominenz aus (vgl. Kerswill / Williams 2002: 82). Trudgill knüpft hiermit u. a. an Labovs (1972) Verwendung der Begriffe indicators , markers und stereotypes an. Diesen gehen die dialektologischen Arbeiten Schirmunskis (1928 / 1929) voraus, der zwischen primären und sekundären Merkmalen differenziert. Primäre Merkmale sind „diejenigen Erscheinungen, die in der Mda. [Mundart, L. L.] im Vergleich zur Schriftsprache (oder zu anderen Mdaa. [Mundarten, L. L.]) als Abweichung besonders auffallen“ (Schirmunski 1928 / 1929: 166), während dies bei sekundären Merkmalen weniger der Fall ist. Schirmunski sieht jedoch in der „Auffälligkeit“ sprachlicher Merkmale den primären Grund für sprachlichen Wandel. Saliente, d. h. primäre Merkmale, seien in Kontaktsituationen mit der Standardvarietät „am leichtesten der Verdrängung ausgesetzt, die sekundären dagegen bleiben am längsten erhalten“ (Schirmunski 1928 / 1929: 166). Diese Annahme brachte Schirmunski häufig Kritik ein (vgl. Lenz 2010: 91), da Salienz hier ohne empirische Grundlage als „Erklärungsfaktor für sprachliche Akkomodationsprozesse“ (Elmentaler et al. 2010: 112) angenommen wird und zudem die Bewertung seitens der Sprecher unberücksichtigt lässt: Die Feststellung, ob ein dialektales Merkmal als “primär” oder “sekundär” bezeichnet werden kann, hängt von ihrer Auffälligkeit im Sprachwertsystem der Sprecher ab. Was als “auffällig” gilt, stimmt nicht notwendig mit linguistischen Kriterien des sprachlichen Abstands überein, ist nicht unbedingt eine Frage der Systematizität, des Phonemstatus oder der Abweichung von der Standardsprache, sondern des “Monitorings” der Sprecher. “Auffälligkeit” ist paradigmatisch, auf den Einzelfall bezogen, geordnet nach Markiertheitsregeln und von den Spracheinstellungen der Sprecher abhängig. (Rosenberg 2003: 285) Labovs (1972, 1994) indicators geben Aufschluss über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprachgemeinschaft. Sie variieren nach Alter und sozialer Gruppe, sind aber nicht Ausdruck eines bestimmten Stils und erfahren seitens der Sprecher keine Bewertung. Markers differieren nach geographischen und soziostilistischen Kriterien. Sie sind stilistisch stratifiziert, liegen allerdings „below the level of conscious awareness“ (ibid. 1972: 314). Stereotypes vereinen geographisch und soziostilistische Differenziertheit mit bewusster Wahrnehmung, die zu positiver bzw. negativer Bewertung oder Stigmatisierung seitens der <?page no="123"?> 2.2 Eine Theorie des Sprachverfalls? 123 Sprecher führen kann („socially marked forms, prominently labelled by society“, ibid. 1972: 314). Stereotypen werden daher oftmals hyperkorrekt verwendet (vgl. Labov 1994: 78) 43 sowie durch die Sprecher benannt und kommentiert. Die Stigmatisierung von Merkmalen führt häufig zur Abwahl der Formen und kann somit Sprachwandel in Gang setzen: A social stereotype is a social fact, part of the general knowledge of adult members of the society; this is true even if the stereotype does not conform to any set of objective facts. Stereotypes are referred to and talked about by members of the speech community; they may have a general label, and a characteristic phrase which serves equally well to identify them. […] Some stereotyped features are heavily stigmatized, but remarkably resistant and enduring […]. Others have varying prestige, positive to some people and negative to others […]. Social stigma applied to some of these stereotypes has led to rapid linguistic change, with almost total extinction. (Labov 1972: 314 f.) Allerdings unterscheidet auch Labov nicht eindeutig in Auto- und Heterostereotypen. Hinskens et al. (2005: 45) stellen daher berechtigterweise die Frage: „salient to whom? To the speakers themselves or to speakers of other dialects? “ Trudgill (1986: 11), der die Salienz sprachlicher Formen autostereotypisch analysiert, 44 stellt hingegen die Frage nach dem Warum in den Raum: „[…] why exactly are speakers more aware of some variables than others? “ Trudgill nennt vier (sprachstrukturelle sowie außersprachliche) Bereiche, die seitens der Sprecher zu einer „greater awareness“ in Bezug auf lautliche Strukturen führen können: - Stigmatisierung: „forms which are overtly stigmatized in a particular community“ - Sprachwandel: „forms that are currently involved in linguistic change“ - Phonetische Distanz: „variables whose variants are phonetically radically different“ - Phonologischer Kontrast: „variables that are involved in the maintenance of phonological contrasts“ 43 Labov (1994: 78): „Some variables are the overt topics of social comment and show both correction and hypercorrection ( stereotypes ), others are not at the same high level of social awareness, but show consistent sytlistic and social stratification ( markers ); still others are never commented on or even recognized by native speakers, but are differentiated only in their relative degrees of advancement among the initiating social groups ( indicators )“ (Herv i. O.). 44 So Trudgill (1986: 11): „in contact with speakers of other language varieties, speakers modify those features of their own varieties of which they are most aware.“ <?page no="124"?> 124 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod Problematisch an Trudgills Ausführungen ist jedoch, so Hinskens et al. (2005: 44), dass Salienz als Begründung für Akkomodation bzw. für ausbleibende Akkomodation angeführt wird. Oftmals ist es schwierig, festzustellen, ob ein Merkmal salient ist oder nicht. Hinzu kommt, dass übermäßige Salienz vorliegen kann, d. h. negativ konnotierte Merkmale, die vermieden werden. Bloße Salienz, d. h. Auffälligkeit eines Merkmals, ist nicht ausreichend, um Sprachwandel in Gang zu setzen. Vielmehr ist es, wie bereits Labov 1972 im Hinblick auf die stereotypes beschrieb, die Bewertung der Strukturen seitens der Sprecher, die zum Erhalt bzw. zur Verbreitung oder eben zur Aufgabe von Merkmalen führt, d. h. […] dass sich Salienz auf der attitudinalen Ebene mit einer positiven oder negativen Besetzung des Merkmals paaren muss, um als Sprachwandel beeinflussender Faktor wirksam zu werden. Konkret bedeutet dies, dass die positive Bewertung den Abbau eines salienten Merkmals verhindern bzw. verzögern kann. Die Auffälligkeit eines Merkmals ist somit nicht hinreichend für sprachlichen Wandel. (Lenz 2010: 94) Lenz (2010: 100) betont, dass Salienz nicht alle Teilstrukturbereiche von Sprache in gleichem Ausmaß betrifft, denn seitens befragter Sprecher werden „[…] in der Regel phonetische und seltener auch lexikalische Varianten metakommuniziert“. Tendenziell gilt hierbei, dass „[s]alient ist, was ,anders‘ ist“ (ibid. 101). Diese Andersartigkeit definiert sich jedoch nicht von sich selbst heraus, sondern wird in Abgrenzung zu etwas anderem bestimmt. Saliente Merkmale einer Sprache können insbesondere bei intensivem Sprachkontakt symbolhaft sein. Sie werden oftmals in Metakommentaren, in Sprachspott und Stilisierungen sowie in Hyperformen kommuniziert (vgl. Lenz 2010: 95 f.). Dies trifft allerdings lediglich für formale Merkmale zu, nicht für grammatische und semantische Kategorien. Sprecher einer erodierenden Sprache konzentrieren sich weniger auf den Zusammenbruch grammatikalischer Kategorien und semantischen Wandel, sondern schenken primär formalen Charakteristika der Sprache Beachtung (vgl. ibid.). Das Bewahren typischer Merkmale der moribunden Sprache kann daher auch der Wahrnehmung der Sprache als im Abbau begriffen entgegenwirken: „Hence, use of various salient linguistic markers which symbolize the language variety are often considered as synonymous with ‘speaking the language’“ (Schmidt 1991: 122). So ist unter Sprechern häufig die Wahrnehmung vorherrschend, sie beherrschten die Sprache, obgleich sie lediglich merkmalsträchtige Phänomene - und diese oftmals in Form hybrider bzw. hyperkorrekter Ausprägungen - verwenden (vgl. Kap. 2.3.3.3). Das Bedürfnis nach dem Erhalt salienter Strukturen lässt sich mit der Funktion von Sprache selbst begründen. Sprache dient nicht nur als Kommunikati- <?page no="125"?> 2.2 Eine Theorie des Sprachverfalls? 125 onsmittel, sondern fungiert zusätzlich als ein wesentlicher Identitätsmarker im Bewusstsein der Sprecher: Although many behaviors can mark identity, language is the only one that actually carries extensive cultural content. The distinctive sounds uttered in speaking a particular language encode meaning, and the link between ethnic group and ethnic languages becomes much more important at this level. (Dorian 1999a: 31) Verliert ein Idiom jedoch seine Funktion als Kommunikationsmittel und überlässt diese Aufgabe von nun an einer dominanteren und elaborierteren Sprache, so entsteht häufig das Bedürfnis seitens der betroffenen Sprachgemeinschaft, zumindest identitätsstiftende Komponenten der moribunden Sprache zu erhalten: However, dying languages often retain strong symbolic value in the speech community. Semi-speakers will often continue to utilize aspects of a language that symbolizes their cultural heritage and signals their identity as a member of the speech community, even though they control the language imperfectly. (Bereznak / Campbell 1996: 662) Semisprecher verwenden Ressourcen der moribunden Sprache folglich „[…] not as a means of communication but as an indicator of group membership“ (ibid. 662). Häufig wird in Sprachverfallskontexten beobachtet, dass saliente Merkmale des rückläufigen Idioms sogar vermehrt und v. a. hyperkorrekt Verwendung finden, um die Distinktivität des Sprachsystems zu bewahren und eine sprachlich-kulturell motivierte Andersartigkeit gegenüber anderen Sprachgruppen zu betonen. Entgegen der Annahme, dass Sprachkontakt und Sprachverfall hauptsächlich konvergente Prozesse auslösen und insbesondere markierte Strukturen tendenziell stärker vom Abbau betroffen sind, kann das Bedürfnis nach Distanzwahrung als symbolische Handlung in Form von divergentem Wandel vollzogen werden: „In this way, the divergent change may serve as a symbolic act of distancing from the dominant language […]“ (Chang 2007: 600). Sprachliche Variation kann funktional zur Identitätskonstruktion eingesetzt werden, d. h. sprachliche Merkmale können sozial markiert sein und der Selbstverortung in und der Assoziierung mit unterschiedlichen Gruppen dienen (vgl. Crystal 6 2008: 296). Die Übergeneralisierung bestimmter Phänomene ist daher auch nicht zwangsläufig als Folge unvollständigen Spracherwerbs zu sehen, sondern als „[…] the conscious attempt to preserve the distinct characteristics of the obsolescent language“ (Sasse 2001: 1674). Fraglich ist jedoch stets, wie bewusst bzw. unbewusst diese Identitätsaffirmationen Acts of Identity (vgl. Le Page / Tabouret- Keller 1985) vollzogen werden (vgl. Kap. 2.3.3.2, 2.3.3.3). Eine klare Trennlinie zwischen beabsichtigt bzw. unbeabsichtigt verwendeten sprachlichen Merk- <?page no="126"?> 126 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod malen zu ziehen, ist insbesondere im Fall von intensivem Sprachkontakt mit Sprachwechsel problematisch (vgl. z. B. Roesch 2012: 195), denn ein weiteres Merkmal von Sprachverfall ist die generelle Übergeneralisierung typischer Strukturen der moribunden Sprache im Sprechverhalten von Semisprechern, die infolge unvollständigen Spracherwerbs oftmals weniger nach identitätsstiftenden Merkmalen des Idioms suchen, sondern schlichtweg die regelhaften Anwendungskontexte nicht kennen: In instances such as this, it seems that the semi-speakers are aware of the unusual traits but have not learned where they correctly belong and so use them excessively but inappropriately, as a consequence of imperfect learning. (Roesch 2012: 113) 2.2.1.4 Sprachverfall als Sprachwandel mit ausbleibender Generalisierung Wenn wir Sprachverfall unter dem Oberbegriff ,Sprachwandel‘ beschreiben wollen, so stellt sich nicht nur die Frage nach dem Ausmaß und der Dynamik der Veränderungen, die durch strukturinterne Bedingungen bzw. exogene Faktoren hervorgerufen werden, sondern auch die nach der Durchsetzungskraft des Wandels im Sprachverhalten der betroffenen Sprecher. Lautwandel bedeutet - vereinfacht und resümiert dargestellt - einen Prozess, bei dem aus phonetischen Varianten selektiert wird und diese Neuerung bei ihrer Verbreitung entvariabilisiert wird (vgl. Haas 2 1998: 846). Varianten existieren zwar in jeder Sprache zwangsläufig, „[…] aber Sprachwandel ist nur das, was von Gruppen von Sprechern aufgenommen wird“ (Salmons 2003: 118). Unter Lautbzw. Sprachwandel werden folglich gesellschaftliche Phänomene gefasst, da sie den Sprachgebrauch eines Großteils einer Sprachgemeinschaft beeinflussen, der diese Sprache alltäglich verwendet. Bei normalem Lautwandel werden Sprecher „[…] die alte und die neue Lautung aufeinander […] beziehen und schließlich die alte durch die neue ,regelmäßig‘ […] ersetzen“ (Haas 2 1998: 846). Sprachwandel ,muss‘ im Grunde systematisch von statten gehen, da anderenfalls die gegenseitige Verständlichkeit nicht mehr gewährleistet werden kann. In Situationen des Sprachkontaktes und der Mehrsprachigkeit sind es häufig prestigeträchtige, kontaktinduzierte Varianten, die eine große Durchsetzungskraft aufweisen (vgl. Mattheier 2 1998: 833). In Sprachverfallskontexten kann allerdings sicherlich nur bedingt von einer regelmäßigen ,Verbreitung‘ sprachsystematischer Veränderungen auf über-individueller Ebene gesprochen werden, da die von diesen Neuerungen betroffene Sprechergruppe aus Prinzip keine ,breite‘ sein kann. Sprachverfall ist das Resultat von Sprachwechsel, der zu einer immer geringer werdenden Zahl an Spre- <?page no="127"?> 2.2 Eine Theorie des Sprachverfalls? 127 chern der rezessiven Sprache führt. Der Prozess der „Einbettung einer Neuerung in einen sprachsystematischen und auch in einen soziolinguistischen Rahmen“ (Mattheier 2 1998: 826) kann folglich nicht stattfinden, wenn sich die Mehrheit der Sprechergruppe aus Sprechern formt, die durch unvollständigen Spracherwerb ohnehin nur mehr imperfekte aktive Kenntnisse der angestammten Sprache aufweisen und den Rekurs auf diese zudem zu vermeiden versuchen. Sprachwandel im Sinne von Sprachverfall kann daher nicht systematisch erfolgen, da durch den Nicht-Gebrauch bzw. seltenen Gebrauch des angestammten Idioms Veränderungen nicht weitergetragen werden. Lexemgebundener Wandel, durch den sich insbesondere Innovationen auf lautlicher Ebene verbreiten können ( lexical diffusion , vgl. z. B. Wang 1969), 45 indem erst wenige und dann sukzessive immer mehr Wörter und Wortgruppen den Lautwandel transportieren und verbreiten, kann für Sprachverfallsszenarien nicht angebracht werden, da eben auch das Lexikon von starkem Abbau betroffen ist und nicht als ,Träger‘ lautlicher Neuerungen in Betracht kommt. Ein „[…] Übergang von der Wortbindung der Neuerung zur Systembindung […]“ (Mattheier 2 1998: 833) kann daher nicht erfolgen. Zeigen sich identische bzw. vergleichbare Entwicklungen im Ausspracheverhalten von Semisprechern, so ist dies weniger als Sprachwandel, der sich durch Diffusion einer Neuerung innerhalb der Sprechergruppe generalisiert, zu interpretieren. Vielmehr handelt es sich um das Auftreten von Formen im Sprachgebrauch von Semisprechern, die sich lediglich in Gegenüberstellung zu den Aussprachegewohnheiten von Vollsprechern als Veränderungen bezeichnen lassen. Dass sich im Sprachgebrauch von Semisprechern ähnliche Muster in Kontrast zur - wenn auch abstrakten - ,Norm‘ zeigen, kann bei Vermeiden der angestammten Sprache nicht auf das gemeinsame Sprechen dieser zurückgeführt werden, sondern muss über endogene Bedingungen (Markiertheit etc.) und den Konvergenzdruck der dominanteren Sprache, der auf die Sprache alle Sprecher einwirkt, begründet werden. Phonetische Varianten, die sich im individuellen Ausspracheverhalten von Semisprechern manifestieren, sind als individuelle Ad-hoc-Phänomene aufzufassen, die unsystematisch und spontan in Erscheinung treten sowie ebenso schnell wieder verschwinden (vgl. Kap. 2.3.3.2). Eine Generalisierung dieser wäre erstens durch den Nicht-Gebrauch des Idioms nicht systematisch möglich 45 Auch gilt es mittlerweile als erwiesen, dass durch den Prozess der lexical diffusion zwar neue Phoneme in das System der Nehmersprache gelangen können, dass dieser aber nicht zwangsläufig alle Lexeme betreffen muss. Hierin zeigt sich, dass Lautwandel nicht automatisch graduell, regelhaft, ausnahmslos und zeitgleich in allen Kontexten abläuft, wie von der neogrammatischen Forschung angenommen (vgl. Butters 2004: 284). <?page no="128"?> 128 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod und zweitens nicht nötig, da Interkomprehension in der angestammten Sprache im Sprachverfall kein Sprecheranliegen darstellt. 2.2.2 Strukturelle Veränderungen 46 Während Semisprecher meist ausgeprägte passive Kenntnisse der rezessiven Sprache aufweisen, ist ihre aktive Sprachfähigkeit gekennzeichnet durch zahlreiche Auffälligkeiten, die sich - in Gegenüberstellung zum Sprachgebrauch von Vollsprechern - als Sprachverfallsphänomene beschreiben lassen. 47 Moribunde Idiome können sprachstrukturelle Veränderungen in sämtlichen Bereichen (Phonologie, Morphologie, Syntax, Lexikon und Semantik) aufweisen, die in gleichem Ausmaß vom Komplexitätsabbau betroffen sein können (vgl. Rindler Schjerve 1989: 9; Campbell / Muntzel 1989: 186). Diese Veränderungen resultieren aus dem unvollständigen Spracherwerb und dem verminderten Gebrauch des Idioms. Zusammengefasst bedeutet dies: „the reduced use of a language will lead also to a reduced form of that language“ (Dorian 1977: 24). 48 Typische sprachstrukturelle Verfallsprozesse sind Reduktionen und Simplifizierungen, der Abbau von paradigmatischen Unregelmäßigkeiten und komplexen Strukturen mit Ausgleich über Analogien sowie ein enormer Anstieg an Variation (vgl. Dorian 1973: 417, 436, 1977: 27, 2001: 8359; Romaine 1989: 377; Cook 1989). Insbesondere im Bereich des Lexikons nehmen Sprecher den Verfall der angestammten Sprache selbst deutlich wahr. 49 Ihnen ist bewusst, dass der Einfluss ,von außen‘ in Form von (Ad hoc-)Entlehnungen enorm ist (vgl. Giacalone Ramat 1979: 153). Für die Morphologie ist das Bewusstsein für den Abbau der Sprachsubstanz bereits geringer; für die Phonologie sogar mitunter gar nicht 46 Vgl. hierzu den umfangreichen Forschungsüberblick in Tsunoda (2006: 76-116; Kap. „Structural changes in language endangerment“) sowie Dressler / de Cillia (2006). Strukturelle Entwicklungen erodierender Sprachen sind insbesondere seit den 70er Jahren verstärkt dokumentiert worden: vgl. insbesondere Dorian (1981) zum East Sutherland Gaelic, Dressler (1981, 1991) zum Bretonischen, Schmidt (1985) zum Dyirbal, Trudgill (1977) und Tsitsipis (1989) zum Arvanitika, Mithun (1989) zu Varietäten des Cayuga, van Ness (1990) zum Pennsylvania German, Haase (1992) zum Baskischen, Holloway (1997) zum Brule Spanish in Lousiana. 47 Tsitsipis (1989: 120) spricht von „symptoms of terminality“. 48 Vgl. Rindler Schjerve (1989: 3): „[…] d. h. also, daß die funktionelle Rückläufigkeit einer Sprache auch mit dem Verlust in der Beherrschung ihrer Regeln einhergeht.“ 49 Vgl. Dorian (1973: 414): „[…] the younger speakers feel sure their elders had many more ‘words for things’ than they have themselves“. Vollsprecher und Semisprecher des Wasco „[…] clearly understand language obsolescence as a process in which WORDS are ‘lost’ or ‘forgotten’ and are replaced in memory by English words that ‘mean the same thing’“ (Moore [1988] 2012: 316 f.; Herv. i. O.). <?page no="129"?> 2.2 Eine Theorie des Sprachverfalls? 129 vorhanden (vgl. Dorian 1973: 414), 50 eine wichtige Voraussetzung für das im Rahmen dieser Forschung verwendete Methodendesign. Es stellt sich nun die Frage, ob es eine typologische Abfolge der Verfallserscheinungen in Phonetik-Phonologie, Morphologie, Syntax und dem Lexikon gibt, d. h. eine Art Abbauhierarchie, gemäß der sprachstrukturelle Modifikationen in rezessiven Sprachen leichter vorhersagbar werden. Tsunoda (2006: 130) nennt den Abbau des Stilrepertoires als eines der zuerst auftretenden Verfallssymptome. Es folgt das Lexikon, das mit am entscheidendsten vom Sprachverfall betroffen ist (vgl. z. B. Hutz 2004: 193, 203) sowie die Morphologie und Syntax. Die Phonologie gilt hingegen als „[…] one of the most conservative among the components of a language“ (Tsunoda 2006: 130). 2.2.2.1 „Stylistic shrinkage“ Mit dem Abbau von Sprachstrukturen geht auch die Reduktion des Stilrepertoires einher (vgl. Rindler Schjerve 1989: 7; Romaine 1989: 379). Stylistic shrinkage bedeutet die Verengung des Stilrepertoires bzw. die Herausbildung eines monostilistischen Sprachgebrauchs (vgl. Dressler 1982: 326), der den Gebrauch der Sprache nur mehr in informellen, familiären Kontexten ermöglicht (vgl. u. a. Dorian 1977: 27, 1981; Dressler 1988: 188 f.; Campbell / Muntzel 1989: 195; Gal [1989] 2012; Holloway 1997). Stylistic shrinkage ist somit ein dysfunktionaler Wandel, da die rückläufige Sprache für bestimmte Kommunikationssituationen, Domänen und Funktionen unbrauchbar wird (vgl. Dressler 1991: 101). Es sind insbesondere formelle Register- und Stilebenen, die hiervon betroffen sind: Spezifische Strukturen werden von jüngeren Sprechern nicht mehr erworben, denn sie sind „limited to genres, styles, or registers which are no longer performed at all, or because the obsolescent language is no longer used in speech events which require that style or register“ (Gal [1989] 2012: 314) 51 . 2.2.2.2 Lexikon Die Stärke der Semisprecher ist zugleich auch ihre größte offensichtliche Schwäche: Während der regelhafte Gebrauch der Morphologie und der Syntax Semisprechern enorme Schwierigkeiten zu bereiten scheinen, verfügen sie meist nach wie vor - zumindest auf den ersten Blick - über ein reichhaltiges lexikalisches Repertoire (vgl. Tsitsipis 1989: 135; Sasse 1992a: 17). Dies stellen sie zudem gerne unter Beweis (vgl. Haase 1999: 285), sobald sie z. B. durch Forscher bzw. an der Sprache Interessierte auf das Idiom angesprochen werden. 50 Vgl. Dorian (1973: 414): „[…] some sporadic note is taken of certain phonological developments.“ 51 Hier zit. nach Holloway (1997: 68 f.). <?page no="130"?> 130 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod Bei genauerem Hinsehen wird jedoch schnell deutlich, dass dieses lexikalische Wissen in den meisten Fällen nur mehr in verfestigten Ausdrücken abgerufen werden kann (vgl. Dorian 1981: 107; Jones / Singh 2005: 92). In einem sehr fortgeschrittenen Stadium des Sprachverfalls sind häufig nur mehr einzelne Wörter und Wortformen, stereotype Sätze und Phrasen, formelhafte und idiomatische Ausdrücke sowie Sprichwörter vorhanden. 52 Diese werden als „Sprachbrocken“ erlernt („learned in ,chunks‘“), häufig jedoch in Bezug auf ihre Form und Funktion nicht ausreichend beherrscht (Sasse 1992a: 16 f.). Auch Wortfindungsprobleme sind ein häufig beobachtetes Semisprecherphänomen (vgl. Dorian 1981: 145; Sasse 1992b: 70 f.). Schmidt (1985) zeigte anhand des Dyirbal, dass v. a. Nomina mit Welt-Bezug („real-world referents“, ibid. 176) - z. B. Körperteile, Klassifizierungstermini für Menschen und Tiere - seltener vom Verfall bedroht sind, als z. B. Verben und Adjektive sowie exakte Bezeichnungsformen für spezifische Pflanzen- und Tierarten, Kulturspezifika (Artefakte etc.) und Verwandtschaftsbezeichnungen (vgl. Schmidt 1985: 176 f.). Knowles-Berry (1987: 335) dokumentiert den Erhalt folgender (morpho-)lexikalischer Bereiche: Pronomen, Verwandtschaftsbezeichnungen, Personenbezeichnungen, Haustiere, Haushalt, Essen, hochfrequente Verben ( to do , to go , to come , to eat , to sleep etc.) sowie idiomatische Ausdrücke. Vom Abbau betroffen ist insbesondere Wortmaterial, das zur Benennung von Referenten dient, die nicht mehr existieren bzw. von Themen, die nicht mehr diskutiert werden (vgl. Wurm 1986: 537 f.; Gruzdeva 2002: 89 f.) sowie Funktionswörter (vgl. Sasse 2001: 1671). Bezeichnungen, die sich auf spezifische Objekte beziehen, fallen schneller aus dem lexikalischen Repertoire als Wörter, die ganze Kategorien benennen können. Berroth (2001) veranschaulicht am Beispiel des Dialektverfalls, dass vor allem Begriffe, für die kein standardsprachlicher Ausdruck existiert, seltener vom Verschwinden betroffen sind. Voraussetzung für das Fortbestehen ist jedoch eine - wie auch immer geartete - Notwendigkeit, d. h. Funktion der Begriffe, d. h. „[…] der zu bezeichnende Gegenstand ist weiterhin vorhanden, spielt eine Rolle im Leben der Dialektsprecher. Das kann mitunter auch nur noch in Form von Redensarten, sprachlichen Bildern oder Volksliedtexten sein“ (Berroth 2001: 68). Auch die Weiterentwicklung und der Ausbau des lexikalischen Bestandes sind stark eingeschränkt. Sprachverfall zeigt sich also mitunter in der Aufgabe der Produktivität von Wortbildungsregeln (vgl. Hill / Hill [1977] 2012; Schlieben-Lange 1977: 103; Dressler 1981, 2011; Knowles-Berry 1987: 334) sowie der Relexifizierung (vgl. Hill / Hill [1977] 2012). Das Abnehmen der Wortbildungsproduktivität kann zwar durch Kompensation ausgeglichen werden, diese er- 52 Grinevald / Bert (2011: 50) sprechen von „frozen fixed expressions“. <?page no="131"?> 2.2 Eine Theorie des Sprachverfalls? 131 folgt jedoch in den meisten Fällen mit Hilfe der Sprachmuster der dominanteren Sprache: „Die Ausdrucksfähigkeit der Sprachgemeinschaft bleibt dadurch zwar bestehen, aber nicht mehr in der zerfallenden Minderheitssprache“ (Dressler / de Cillia 2006: 2261). In den meisten Fällen kommt es verstärkt zu lexikalischen Entlehnungen ( borrowing ) aus der Prestigesprache (vgl. Knowles-Berry 1987: 335; Jones / Singh 2005: 91; Dressler 2011: 95). In Sprachverfallssituationen sind es zum einen Bedürfnislehnwörter, die zur Bezeichnung neuer Konzepte herangezogen werden (vgl. Holloway 1997: 52), zum anderen dienen sie in den meisten Fällen nicht der Anreicherung des lexikalischen Repertoires, sondern ersetzen vorhandenes, angestammtes Wortmaterial (vgl. Dressler 2011: 93 f.). Die aus der Kontaktsprache stammenden Lehnwörter werden selten lautlich in die rezessive Sprache eingepasst, sondern bewahren ihre lautliche Ausdrucksseite (vgl. Knowles-Berry 1987: 334). Weitere beobachtete Strategien zur Kompensation lexikalischer Lücken sind Zirkumlokutionen, Paraphrasierungen oder die Verwendung semantisch ähnlicher Wörter (vgl. Andersen 1982: 111 f.; Olshtain / Barzilay 1991: 142; Childs 2009: 125). Anhand der Verarmung des lexikalischen Bestandes lässt sich mitunter auch der Regelverlust in der Phonologie, Morphologie und Syntax erklären: In Ermangelung lexikalischen Materials, an dem die Regeln potentiell angewendet werden könnten, ergibt sich eine Abnahme der Funktionalität (vgl. Hill / Hill [1977] 2012; Dressler 1982: 326; Dressler / de Cillia 2006). Sprachmaterial der L1 unterliegt konsequenterweise häufig inhaltlichen Veränderungen: Die Folge ist semantische Uneindeutigkeit („semantic vagueness“, Dressler 1982: 326) und Bedeutungsexpansion bzw. -neutralisation (vgl. Seliger / Vago 1991: 8; McGregor 2002: 175 f.). Bedeutungsoppositionen, die in der dominanten Sprache nicht vorhanden sind, werden oftmals in der L1 neutralisiert. Während die Aufgabe produktiver Wortbildungsmuster und die unveränderte Übernahme von Lehnwörtern generell häufiger im Sprachverfall zu beobachten sind, zeigt Haase (1992) in seiner Studie zum Sprachkontakt und Sprachwandel im Baskenland , dass lexikalisches Material auch systematisch aus der Prestigesprache integriert werden kann, denn Semisprecher „[…] haben Schwierigkeiten bei der Wortfindung, kennen aber die wichtigsten Integrationsmechanismen und können gegebenenfalls Wörter aus der Modellsprache ad hoc übernehmen […]“ (Haase 1992: 162; Herv i. O.). Gal ([1989] 2012: 335-339) zeigte am Beispiel des Ungarischen in einer bilingualen deutsch-ungarischen Sprachgemeinschaft in Österreich, dass jüngere Sprechergenerationen zwar einerseits über ein reduzierteres lexikalisches Repertoire verfügen und weniger Wortbildungsverfahren gebrauchen als ältere Sprecher, allerdings konnte sie auch innovative und kreative Formen im Sprachgebrauch jüngerer Sprecher <?page no="132"?> 132 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod feststellen: „[…] they form neologisms that do not appear in the speech of their elders“ (ibid. 335). 2.2.2.3 Morphologie und Syntax 53 Auch die Morphologie rezessiver Sprachen wird zunehmend defektiv: Sie ist gekennzeichnet durch den Verlust grammatikalischer Kategorien wie Tempus, Aspekt und Modus (häufig selbst wenn diese in der Zielsprache vorhanden sind) (vgl. Trudgill 1977: 40-42; Sasse 1992b: 70 f.), Reduktionen in der Flexionsmorphologie (vgl. z. B. Dorian 1978b, 1981; Dressler 1981; Knowles-Berry 1987: 334 f.; Elordui 1999) und der Nominalmorphologie (vgl. z. B. van Ness 1990: 145) sowie der Tendenz zu analytischen Konstruktionen (vgl. z. B. Schmidt 1985; Holloway 1997) und der Reduktion allomorpher Variation (vgl. z. B. Tsitsipis 1989: 119; Elmendorf 1981; Schmidt 1985; Dressler 1988; Holloway 1997). Dorian (1973: 417) beschreibt die analogische Ausdehnung morphophonologischer Regeln von Nomen auf Verben. Generell zeigt sich, dass insbesondere frequente Strukturen, wie z. B. des Verbalsystems, resistenter zu sein scheinen als weniger frequente Kategorien. Morphologische Reduktionen sind jedoch nicht das einzige mögliche Ergebnis des Sprachverfalls: Die Morphologie eines erodierenden Idioms kann beispielsweise nur in geringem Maße vom Verfall betroffen sein (vgl. Dorian 1978b: 608). Ebenso kann es zu Umstrukturierungen und zum Zuwachs morphologischer Merkmale kommen: More strikingly, recent research has demonstrated that obsolescence is not a barrier to the development of new grammatical structures, even for speakers whose proficiency in an expanding language exceeds their proficiency in the recessive language. Ongoing potential for grammatical elaboration therefore joins retention of grammatical complexity in establishing that the phenomena associated with language obsolescence are not solely those of progressive reduction and loss. (Dorian 2001: 8359) Aikhenvald (2002) zeigte anhand des in den Vaupés in Brasilien gesprochenen Idioms Tariana, dass morphologischer Zuwachs durch Lehnübersetzungen und Reanalyse bestehender Kategorien entstehen kann. Auf syntaktischer Ebene kommt es zur Verfestigung der Wortstellung (häufig bedingt durch Kasusabbau) sowie zum Abbau von Nebensatzkonstruktionen (Subordination und Koordination) (vgl. z. B. Hill 1979; Dorian 1981; Schmidt 1985; Austin [1986] 2012: 265; Knowles-Berry 1987: 337; Campbell 1994). Darüber hinaus wird bevorzugt auf analytische Bildungen rekurriert (vgl. z. B. Dorian 53 Vgl. hierzu den Überblick bei Tsunoda (2006: 102-105). <?page no="133"?> 2.2 Eine Theorie des Sprachverfalls? 133 1977: 27, 2001: 8359; Dressler 1981, 1988; Austin [1986] 2012; Romaine 1989: 376; Campbell / Muntzel 1989). 2.2.2.4 Reakivierung passiver Sprachkenntnisse Nicht alles, was im Sprachgebrauch der Sprecher auf den ersten Blick nicht vorhanden zu sein scheint, ist gänzlich verloren bzw. nie erworben worden. So betont McGregor (2002: 180): „[…] absence of a form from the recorded utterance of a speaker cannot be interpreted as absence from their linguistic knowledge.“ So ist es möglich, dass bereits verloren geglaubte Strukturen reaktiviert werden können, weshalb Holloway (1997) von „Language Recovery“ und Dressler (1981: 13) von „temporary, repairable memory problems“ sprechen. Am häufigsten ist dies im Bereich des Wortschatzes sichtbar, insbesondere da imperfekte Sprecher dies selbst auf lexikalischer Ebene am stärksten wahrnehmen. 54 Das bedeutet, Begriffe der angestammten Sprache „[…] wandern in den passiven Wortschatz, wo sie lange Zeit reaktivierbar bleiben“ (Berroth 2001: 92). Ebenso bestätigt Holloway (1997: 153-173) mit ihrer Studie, dass Semisprecher nach einiger Zeit dazu in der Lage sind, längere Sätze und komplexere Verbalformen zu bilden und Strukturen des Pronominalsystems zu reaktivieren. Hinzu kommt ein generell flüssigeres Sprechen ( overall fluency ). Voraussetzung für diese Reaktivierungsmechanismen ist, wie bereits angedeutet, dass die Sprachstrukturen von Semisprechern generell erworben wurden, auch wenn sie sehr schnell in das passive Sprachwissen übergegangen sind: „It is unreasonable to assume that an informant can ‘re-cover’ that which he or she has never acquired in the first place“ (Holloway 1997: 170). In Sprachaufnahmesituationen konnte zudem beobachtet werden, dass phonologisches Wissen über ein häufiges Wiederholen der abgefragten Zielwörter ,aufgewärmt‘ werden kann. Sawyer / Schlichter (1984: 1) dokumentierten die Reaktivierung der Nasalierung: „the nasalization often comes out only if the word is repeated several times.“ Rankins imperfekter Sprecher des Quapaw, einer Siouan-Sprache, der eine stark vom amerikanischen Englischen beeinflusste Aussprache aufwies, gelang es nach einer Aufwärmphase ebenso, lautstrukturelle Eigenheiten der angestammten Sprache zu reaktivieren und weniger in Richtung der Kontaktsprache zu konvergieren: „[…] one speaker who read me 54 Vgl. Holloways Informant, der nach mehreren Monaten bemerkt: „All them words [are] coming back to me now“ (Holloway 1997: 155). Semisprecher berichten zudem häufig von dem sog. „tip-of-the-tongue problem“ („Es-liegt-mir-auf-der-Zunge-Problem“) (Dorian 1981: 145), d. h. ein eigentlich bekanntes Wort kann nicht wiedergegeben werden. Vgl. hierzu auch die Aussagen der im Rahmen der vorliegenden Arbeit befragten Sprecher (vgl. Kap. 4.4.1). <?page no="134"?> 134 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod a list of about 250 words he had written down, lost his Anglicized consonants and vowels as he ‘got warmed up’“ (Rankin 1978: 50). 2.2.3 Zwischenfazit 55 Im Rahmen der vorausgehenden Kapitel wurden auf der Grundlage bisheriger Forschungen die wesentlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Sprachverfall und Sprachwandel im Allgemeinen sowie die möglichen sprachstrukturellen Konsequenzen, die sich für rezessive Idiome ergeben, aufgezeigt. Im Hinblick auf die Ursachen und Resultate des Wandels konnte festgehalten werden, dass eine strikte Trennung von intern und extern motiviertem Wandel in Sprachkontaktsituationen generell problematisch ist (vgl. Dorian 1993: 135): Phänomene, die in der Prestigesprache vorhanden sind und ebenfalls in der erodierenden Sprache auftreten, müssen kein Indiz für extern motivierten Sprachwandel darstellen. Ebenso muss divergenter Wandel nicht zwangsläufig intern motiviert sein (vgl. Babel 2009: 174). Als treibende Kraft für konvergente Entwicklungen im Sprachwandel wird häufig entweder sprachwandelverstärkenden endogenen Bedingungen (vgl. z. B. Ohala 1974) 56 oder exogenen Mechanismen wie Sprachkontakt mehr Bedeutung beigemessen. Silva-Corvalán (1994: 5) weist jedoch darauf hin, dass beide Mechanismen zusammenwirken können, d. h. „[…] convergence may result as well from pre-existing internally motivated changes in one of the languages, most likely accelerated by contact, rather than as a consequence of direct interlingual influence“ (Herv. i. O.). So betont auch Chang (2007: 597 f.), dass extern motivierter Sprachwandel konvergente wie auch divergente Prozesse auszulösen vermag sowie auch strukturintern bedingte Umbildungen die Ursache für beide Entwicklungsrichtungen sein können: Die moribunde Sprache kann, angeleitet durch endogenen Wandel, Merkmale entwickeln, die mit denen der Kontaktsprache übereinstimmen. Konvergente Prozesse erfordern also nicht zwangsläufig die Übernahme von Strukturen aus der Kontaktsprache. 57 Ebenso kann 55 Vgl. hierzu insbesondere den umfangreichen Überblick bei dal Negro (2004: 22-28). 56 Ohala (1974: 268): „[…] phonetics should come first, particularly in such oursuites as explaining sound change, phonology acquisition by children and second language learners, etc. In these areas one should first try all the phonetic explanations for the sound patterns observed and only if they don’t work seek an explanation in terms of social, psychological, or historical facts. Why? Because there are rather strict constraints on what can be explained due to phonetic factors, whereas there are fewer constraints on historical or psychological explanations. It is too easy to invent non-phonetic explanations for phonological phenomena“ (Herv. i. O.). 57 Hierzu Geisler (2008: 3255): „Demgegenüber postulieren typologische Sprachwandeltheorien, dass Sprachen auch konvergieren können, ohne dass eine direkte Kontaktsitua- <?page no="135"?> 2.2 Eine Theorie des Sprachverfalls? 135 der Verlust markierter Formen in der rezessiven Sprache - im Falle Nicht-Vorhandenseins der Strukturen in der dominanten Sprache - über die Natürlichkeit begründet werden sowie durch den von Außen wirkenden Einfluss. Divergenter Wandel kann durch Übergeneralisierung markierter Strukturen entstehen (vgl. Chang 2007: 600, 2010: 56). Allerdings können auch durch strukturinterne Bedingungen divergente Veränderungen ausgelöst werden, ohne dass dies im Zusammenhang mit der Übergeneralisierung salienter Merkmale stehen müsste. Zudem ist nicht zwangsläufig davon auszugehen, dass markierte Merkmale abgebaut werden: Bei Vorhandensein gleicher Strukturen in der Kontaktsprache ist die Wahrscheinlichkeit des Erhalts groß (vgl. Thomason / Kaufman 1988). Campbell / Muntzel (1989: 188) betonen in Anschluss an Andersens Arbeit (1982), dass im Falle von Sprachwandelphänomenen, die sich mit exogen wirkenden Mechanismen sowie ebenfalls mit sprachinternen Grundlagen (z. B. mit Hilfe der Markiertheitstheorie) erklären lassen, 58 „[…] much greater work is required in this area in order to resolve any logical conflicts and to determine to what extent these different hypotheses may be valid or valuable.“ Sasse (1992a: 16) plädiert daher ausdrücklich für eine getrennte Betrachtung allgemeiner Sprachkontaktphänomene und Sprachverfall, der insbesondere im Hinblick auf den Abbau der Sprachstrukturen analysiert werden sollte. Auch Thomason (2001: 230), die darauf hinweist, dass borrowing sowie durch strukturinterne Bedingungen verstärkter Wandel erodierende wie auch vitale Sprachen betreffen kann, kommt zu dem Schluss, dass „[t]his leaves attrition as the only type of change that is exclusive to language death.“ Attrition bedeutet hier den Verlust sprachlicher Strukturen ohne Ersatz (vgl. ibid. 227). Aufgrund der heterogenen Ergebnisse bisheriger Arbeiten zum Sprachverfall (vgl. hierzu Tsunoda 2006: 108 f.) ist daher zusammenfassend festzuhalten, tion gegeben sein muss: da Sprachwandel universalen sprachökonomischen Prinzipien folgt und speziell Lautwandel aufgrund seiner artikulatorischen und perzeptiven Rückbindung nicht beliebig erfolgen kann, treten immer wieder identische Lautprozesse auf, die zu historisch kontingenter, nicht kontaktinduzierter Konvergenz führen.“ Vgl. hierzu auch Thomason / Kaufman (1988: 59): „We should therefore expect the same natural changes to arise sometimes through internal causes and sometimes through external causes, and it is no more reasonable to extrapolate a particular internal motivation from one case to another than it would be to extrapolate an external motivation from one case to another.“ 58 Campbell / Muntzel (1989: 188): „[…] Andersen’s generalization seems to suggest that it is something to do with the structure of the dominant language which lies behind loss of oppositions in the threatened language (i.e. an ‘external’ motivation). The markedness proposal, while partially in sympathy with Andersen’s view, suggests that it is another factor, namely the nature (marked or unmarked) of the linguistic phenomena in the structure of the dying language, which leads to loss (i.e. ‘internal’ factors).“ <?page no="136"?> 136 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod […] daß die Prozesse in sterbenden Sprachen weder in den externen Bedingungen des Sprachkontaktes noch in den internen Entwicklungsprozessen der rezessiven Sprache allein zu suchen sind, sondern aus der Interaktion beider resultieren. (Rindler Schjerve 2002: 26). Zweifelsohne gibt es eine Vielzahl an Verfallsphänomenen, die sich mehrheitlich in Sprachverfallskontexten nachweisen lassen: Auch wenn der Verlust von Kategorien und Regeln der Normalfall im Sprachverfall ist, gibt es hierfür dennoch zahlreiche Gegenbeispiele, wie z. B. die Entstehung neuer grammatikalischer Strukturen (vgl. z. B. Dorian 2001: 8360). Rindler Schjerve (2002: 20) fasst auf der Grundlage bisheriger Forschungsergebnisse zusammen, […] daß die Phänomene des Sprachverfalls weder in einer linear fortschreitenden Auflösung funktioneller und struktureller Bezüge der Sprache zu begreifen sind, noch daß die strukturelle Desintegration der Sprache notwendigerweise den Sprachtod zur Folge hat. Vielmehr konnte festgestellt werden, daß die Rückläufigkeit einer Sprache sich in teilweise kontroversiellen Mechanismen manifestieren kann, die nicht nur im Verlust sondern auch in innovativen Tendenzen, Regelzuwachs, neue Kategorien, und sprachbewahrender Konvergenz begründet sein können […]. Es zeigt sich folglich, dass „[…] the linguistic processes involved are once again not unique to obsolescent languages“ (Dorian 2001: 8360). 59 Ebenso müssen intensiver Sprachkontakt und abnehmende Sprecherzahl keine Indizien für strukturelle Einbußen sein (vgl. Thomason 2001; Romaine 2010: 333). Kennzeichen wie Markiertheit, analytische Bildungen, Stilreduktion und Disfunktionalität durch Simplifizierung sind daher noch kein Beweis für eine allgemeingültige deduktive Sprachtodtheorie („[…] a deductive theory of language decay and death does not yet exist […]“, Dressler 1988: 184). Auch Hill ([1983] 2012) spricht sich entschieden gegen das Aufstellen universaler Theorien aus. Verfallssymptome sollten stets vor dem Hintergrund ihrer individuellen soziokulturellen Einbettung der jeweiligen Sprache analysiert werden: Investigators of language death should be extremely suspicious of general claims about the presence or absence of particular linguistic processes in language death, since there seems to be no a priori reason for all these different situations to be accompanied by the same kinds of linguistic processes. It may be that there will prove to be universal processes and structures manifested in the usage of speakers of dying languages, along the lines of morphological, phonological, and syntactic phenomena 59 Hierzu Romaine (1989: 379): „[…] not all changes in dying languages result in loss“. <?page no="137"?> 2.3 Lautwandel in Sprachverfallskontexten 137 which have been examined in the recent literature. However, even if this proves to be the case, we will still have the task of separating out the sociology and psychology that lie behind these manifestations, and incorporating language death into a general theory of language in society. (Hill [1983] 2012: 235) Eine individuelle Betrachtung der einzelnen Sprachverfallsszenarien ist auch aus pragmatischen Gründen ratsam: Einzelstudien sind ohnehin nicht direkt miteinander vergleichbar, da diese häufig Sprecher unterschiedlicher Kompetenzgrade gegenüberstellen, die Anzahl der Informanten und der Grad an sprachstruktureller Ähnlichkeit der in Kontakt stehenden Sprachen von Studie zu Studie stark variiert und letztlich das individuelle Aufnahmedesign und die Datenaufbereitung die Vergleichbarkeit erschweren. Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit dem Lautwandel eines Idioms, dessen sprachsystematischer Abstand zur Prestigesprache gering ist. Gerade hierin besteht ein entscheidender Unterschied zu Sprachwandel bzw. -verfall, an dem nicht-verwandte Sprachen beteiligt sind (vgl. Kap. 2.4). Es zeichnet sich in der Forschung daher immer mehr die Tendenz ab, „[…] to reject an all-comprising and all-explicating model in favour of more in-depth studies on single loss realities“ (dal Negro 2004: 28). Daher kann angenommen werden, dass empirisch basierte Theorien momentan wohl die beste Herangehensweise an das vielschichtige Phänomen des Sprachverfalls darstellen (vgl. ibid.) und ein flexiblerer Umgang mit bereits bestehenden Erklärungsmodellen gepflegt werden sollte, denn „[i]f the causes, processes, and consequences of language change are multiple, their explanation must be too“ (Chamoreau / Léglise 2012: 9). 2.3 Lautwandel in Sprachverfallskontexten Die Beschäftigung mit Sprachverfall auf phonetisch-phonologischer Ebene ist bislang nur wenig erforscht worden. Von einer konsistenten Theorie des Lautwandels in Spracherosionssituationen ist daher nicht auszugehen. 60 60 In der vorliegenden Arbeit wird der Terminus Lautwandel sehr weit gefasst. Ich beziehe mich hierbei auf Scheutz ( 2 2005: 1704): „Als Lautwandel sollen hier alle Veränderungen im Bereich der sprachlichen Lautebene verstanden werden, gleichgültig, ob es sich dabei um generelle, quasi-ausnahmslose Veränderungen im Sinne des traditionellen Verständnisses des Begriffes oder um sporadische, partielle Veränderungsvorgänge handelt; gleichermaßen ist von Lautwandel die Rede, wenn die Lautgestalt von Wörtern verändert wird, ohne dass dabei neue, in einer Sprachvarietät bislang nicht vorhandene Sprachlaute (Phoneme) entstehen.“ <?page no="138"?> 138 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod Wie Babel (2008: 25 f., 2009: 23, 25) herausstellt, beschäftigt man sich bislang vorwiegend mit dem Versuch der Kategorisierung lautlicher Veränderungen hinsichtlich der den Wandel auslösenden zugrundeliegenden internen bzw. externen Bedingungen. Überwiegend wird Lautwandel im Sprachkontakt sowie im Sprachverfall insbesondere als Folge von Konvergenzmechanismen und Ersatz durch phonologische Muster der dominanten Kontaktsprache interpretiert (vgl. Bullok / Gerfen 2004: 304). Die Forschung beschränkt sich dabei hauptsächlich auf die Untersuchung kategorischer Veränderungen: Von Interesse ist primär die Umbildung des phonologischen Systems durch mergers (Phonemzusammenfall, vgl. Kap. 2.3.3.1) - weniger durch splits (Phonemspaltung) -, durch die sich die Anzahl an Phonemen verändern kann. Gradiente phonetische Prozesse werden hierbei meist außer Acht gelassen (vgl. Babel 2008: 25 f., 2009: 23, 25). 61 Das folgende Kapitel bietet einen Überblick über die einschlägigen, bisher zum Lautverfall vorliegenden Forschungsarbeiten (Kap. 2.3.1). Anschließend werden Verlaufsmodelle (Markiertheit und kontaktinduzierte Phänomene) (Kap. 2.3.2) sowie Prozesse und Ergebnisse des Lautverfalls ( mergers , Ad-hoc-Varianten, Übergeneralisierungen) (Kap. 2.3.3) vorgestellt. Abschließend werden die typischen im Sprachverfall auftretenden Lautwandelsymptome zusammengefasst (Kap. 2.3.4). 2.3.1 Forschungsüberblick Die hier vorgestellten Studien beziehen sich auf unterschiedliche Kontaktbzw. Mehrsprachigkeitskonstellationen sowie auf sprachstrukturell ähnliche sowie entfernte Sprachen. Hierbei werden gleichsam die beobachteten Veränderungen der Lautstruktur der rezessiven Idiome sowie die für den Wandel als verantwortlich eingestuften Wirkungsfaktoren (externe bzw. interne Bedingungen) thematisiert. Miller (1971) beschäftigte sich mit Lautwandelprozessen im Shoshoni, einer indigenen Sprache Nordamerikas. Hierbei konnte er große Unterschiede in der Konsonanten- und Vokalproduktion innerhalb verschiedener Altersgruppen nachweisen. Miller dokumentiert die Übergeneralisierung einer phonologischen 61 Eine große Forschungslücke stellt zudem nach wie vor die Erforschung von Veränderungen prosodischer Strukturen im Sprachverfall dar (vgl. zum Überblick Tsunoda 2006: 101). Odé (2001: 81) beschreibt Prosodie als „[…] hardly a hot item in the discussion on endangered languages […]“. Bisher ist ein impressionistisches Vorgehen typisch. Odé begründet die Vernachlässigung der Prosodie mit dem enormen Zeitaufwand, der für die Transkription der Daten nötig ist. Um die Vergleichbarkeit der Daten gewährleisten zu können, ist es zudem unabdingbar, vergleichbare phonologische, morphologische und syntaktische Kontexte der Äußerungen zu schaffen (vgl. ibid.). <?page no="139"?> 2.3 Lautwandel in Sprachverfallskontexten 139 Regel. Im Shoshoni können mediale Konsonanten, sobald mehrere Morpheme miteinander verbunden werden, vier Prozessen unterliegen: Spirantisierung, Geminierung, Präaspiration, Pränasalierung. Das regelhafte Auftreten der einzelnen Prozesse ist hierbei aus dem Gleichgewicht geraten: Jüngere Sprecher tendieren vermehrt zur Spirantisierung, da dieser Prozess bereits bei Stabilität der Regeln am häufigsten auftritt (vgl. Miller 1971: 119). Eades (1976) erklärt die Veränderungen der Lautsysteme des Dharawal und des Dhurga in Australien mit dem Einfluss des Englischen. 62 Dies zeigt sich vor allem im Vokalismus: „[…] the informants today pronounce all vowels as if the words were English“ (Eades 1976: 22). Die Diphthongierung von Vokalen im Australischen Englischen weitete sich ebenso auf das Dharawal und Dhurga aus (vgl. ibid. 31). Einige Konsonanten, wie lamino-dentales [d̪] und lamino-palatales / ɲ/ wurden dennoch, trotz fehlender Präsenz der Laute im Englischen, bewahrt. Der Laut [d̪] wird jedoch häufig als / d/ oder / ð/ artikuliert, lamino-dentales [n̪] häufig als / n/ (vgl. ibid. 32). Wortfinales / ɲ/ wird unter dem Einfluss der Phonotaktik des Englischen zu lamino-palatalem / ɲd/ umgedeutet (vgl. ibid. 39). Auslautendes [r] wurde gelegentlich durch [l] ersetzt. Auch hier argumentiert Eades (ibid. 43) über das Fehlen von auslautendem / r/ im Englischen Australiens. Aus Dorians (1978a) Beschreibung des East Sutherland Gaelic gehen zwei Lautwandelphänomene hervor (vgl. Babel 2008: 26). Dorian dokumentiert einen subphonemischen Wandel, nämlich die Entnasalierung nasalierter Vokale bei jüngeren Sprechern (vgl. Dorian 1978a: 58) 63 sowie einen kategorischen Wandel: Jüngere Sprecher ersetzen [ɲ] häufig durch [ɳ] und [ç] durch [x], eine Entwicklung, die Dorian mit dem Einfluss des Englischen begründet; [ɹ] bzw. [l] ersetzen sie oftmals durch [ɫ] (vgl. ibid. 174). Rankins (1978: 45) Untersuchungen des Quapaw, einer Siouan-Sprache, zeigten, dass jüngere Informanten, die lediglich isolierte Sätze, Phrasen und Wörter erlernt hatten, systematische Reduktionen im Lautinventar aufwiesen. Häufig handelte es sich um „simple acculturation“, die sich in einer Amerikanisierung der Aussprache niederschlug, andere Veränderungen fallen in den Bereich des „unmarking“ (ibid. 45), d. h. dem Verlust markierter Lautserien. Für Rankin (1978), der sich an der durch Greenberg (1966) aufgestellten Lauthierarchie orientiert, ist der Verlust bestimmter Laute mit der Aufgabe von Markiertheit zu begründen. Der Verfall spezifischer Strukturen ist daher nicht 62 Eades Studie basiert jedoch nicht auf den Angaben von Voll- und Semisprechern, sondern von Informanten, die lediglich wenige Wörter der Sprache beherrschen (vgl. Eades 1976: 18). 63 Vgl. Dorian (1978a: 58): „Younger speakers in general preserve nasality less well than older speakers.“ <?page no="140"?> 140 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod zwangsläufig mit einem Zusteuern auf die Lautung der dominanten Kontaktsprache gleichzusetzen (vgl. ibid. 51): Glottalisierte Frikative fallen mit ihrem stimmlosen Gegenstück zusammen, Ejektive mit dem entsprechenden stimmlosen unaspirierten Okklusiv, aspirierte Laute mit der Serie unaspirierter Fortis (vgl. ibid. 47 f.). Retroflexe Sibilanten treten häufig als Cluster von alveolaren Sibilanten vor / r/ auf, dentale Okklusive werden palatalisiert und affriziert (vgl. ibid. 48). Schwache Okklusive und Labiale werden verstimmhaftet, die Artikulation velarer Laute variiert stark, Vokale werden seltener nasaliert und der velare Frikativ / x/ wird zu / h/ („[t]his is not unexpected, since it is not an English sound“, ibid. 59). Jüngere Generationen scheinen die „more marked series“ nicht mehr erworben bzw. frühzeitig wieder verloren zu haben (ibid. 50). Rankin dokumentiert folgende Verfallshierarchie: 1) Glottalisierte Frikative sind zuerst aus dem Inventar verschwunden. 2) Glottalisierte Verschlusslaute werden sporadisch erhalten bei denjenigen Sprechern, die glottalisierte Frikative verloren haben. 3) Aspirierte Okklusive werden von Sprechern bewahrt, die alle Glottalisierungen aufgegeben haben. 4) Schwache Plosive werden stimmhaft; zunächst labiale, an letzter Stelle velare. 5) Retroflexe Sibilanten werden als Cluster erhalten bei Sprechern, die keine Aspirierungen mehr vornehmen. 6) Nasalvokale konnten noch nachgewiesen werden bei Sprechern, die keine Glottalisierung, Aspiration und Retroflexion zeigten. 7) Stimmlose unaspirierte Fortisokklusive sind als letztes betroffen; sie sind am resistentesten gegenüber Lautkorrosion (vgl. ibid. 51). Donaldson (1980: 21) dokumentiert für das Ngiyambaa in Australien das Driften des Vibranten / r/ sowie des retroflexen Flap / ɽ/ in Richtung der englischen rhotischen Aussprache. Der Konsonant / r/ wird insbesondere in den Kontexten nicht vibriert, in denen er nicht zu / ɽ/ in Opposition steht. Sawyer / Schlichter (1984: 1, 11) dokumentieren in der Sprache von Semisprechern des Yuki, einer indigenen Sprache Nordamerikas, die Reduktion finaler unbetonter Silben, vokal-harmonische Prozesse sowie die Denasalierung des „unstable vowel“ / a/ bzw. dessen Ersetzen durch / u/ , / o/ oder / e/ . Schmidt (1985: 192-194, 1991) untersuchte den generationenspezifischen Sprachgebrauch des Dyirbal, einer in Nordaustralien gesprochenen Sprache. Phonologische Interferenzen, die sie hierbei innerhalb der jüngeren Sprechergruppen feststellt, ergeben sich laut Schmidt auf Grundlage der Verschiedenheit der Lautsysteme des Englischen und des traditionellen Dyirbal, weshalb sie von einem Übergewicht an externer Motivation für den Wandel ausgeht. Im Dyirbal junger Sprecher wird beispielsweise der Frikativ / f/ eingeführt, ein Laut, der in der Kontaktsprache Englisch vorhanden ist (vgl. ibid. 1991: 118); im traditionellen Dyirbal sind Frikative jedoch ungebräuchlich. Zusätzlich kommt es zum Abbau der im Dyirbal vorhandenen Opposition zwischen dem Trill rr und <?page no="141"?> 2.3 Lautwandel in Sprachverfallskontexten 141 dem Semiretroflex r (vgl. ibid.). Auch dieser Kontrast ist im Englischen nicht gegeben. Jüngere Sprecher zeigen große Schwankungen im Gebrauch der beiden Laute. Ihre Sprache zeichnet sich durch Komplexität und Asymmetrie aus. Austin ([1986] 2012: 272) beschreibt den Zusammenfall von / r/ und / rr/ im intervokalischen Kontext im australisch-englischen [ɹ] im Kamilaraay. Zusätzlich beschreibt er anhand des Einflusses des Englischen den merger sämtlicher unbetonter Vokale (außer einiger finaler Vokale) in einen Schwalaut (vgl. ibid. 273). Vokallängenkontraste bleiben jedoch erhalten „[…] even by those rememberers who know only a handful of words“ (ibid. 274). Ebenso bleibt das lamino-dentale Phonem th erhalten. Austin erklärt dies mit dem Fehlen eines passenden Äquivalenten im Englischen, der es ersetzen könnte. Da Kamilaraay keine Frikative kennt, kommt [θ] als Ersatz nicht in Frage (vgl. ibid. 274). Knowles-Berry (1987) Untersuchung des Chontal Mayan in San Carlos (Tabasco, Mexico) zeigt Reduktionen im Phonemsystem: Das Vokalinventar von ursprünglich sechs Vokalen verringert sich bei Semisprechern auf fünf (vgl. ibid. 333), da der Vokal / ä/ durch / e/ ersetzt wird. Knowles-Berry begründet dies mit dem Fehlen von / ä/ im Lautinventar des Spanischen. 64 Auch im Konsonantensystem kommt es zum Zusammenfall von Lauten (vgl. ibid. 334). Cook (1989) untersuchte phonologische Variation in zwei indigenen Sprachen Kanadas. Er beschreibt lautliche Modifikationen im Chipewyan und Sarcee. Cook belegt u. a. die Affrizierung des lateralen Frikativs im Chipewyan (vgl. ibid. 245) und den Phonemzusammenfall von / t/ und / k/ in / k/ , den er als „retarded or underdeveloped phonemic contrast“ (ibid. 246) interpretiert. Semisprecher haben, so Cook, aufgrund ihres unvollständigen Spracherwerbs den phonologischen Kontrast von / t/ und / k/ nicht ausgebildet. Ebenso zeigt sich der Verlust von Nasalität im Vokalismus und die Tronkierung des lexikalischen Inventars auf max. zwei Silben, da - so argumentiert Cook - Nasalität und mehrsilbige Wörter im Spracherwerb später erworben werden und daher markiert sind (ibid. 248). Kontaktinduzierte konvergente Sprachverfallserscheinungen schließt Cook aus („there is no interlinguistic confluence or convergence in language death“, ibid. 221). Cook grenzt Lautwandel im Sprachverfall von gewöhnlichem Lautwandel auf der Grundlage zweier Beobachtungen ab: Erstens können lautliche Veränderungen und Innovationen aufgrund ihrer schnellen Generalisierung keiner bestimmten Altersgruppe, Gemeinschaft oder einem Stil zugeteilt werden („[…] they do not constitute any isogloss or stylistic feature“, ibid. 252). Zweitens kann sich die Disintegration so manifestieren, dass nicht alle relevanten Formen die Veränderung durchlaufen, d. h. der Lautwandel ist 64 Hierzu betont sie: „Nearly every difference can be attributed to Spanish contact“ (Knowles-Berry 1987: 333). <?page no="142"?> 142 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod oftmals nicht regulär und nicht systematisch (vgl. ibid. 252). Hinzu kommt die bereits angesprochene Vielzahl an Veränderungen und die Schnelligkeit des Wandels (vgl. ibid. 253). Campbell / Muntzel (1989: 186-188) erwähnen den Verlust der kontrastiven Vokallänge, den Zusammenfall der alveolaren Affrikate / ts/ mit dem Frikativ / s/ , und den Verlust von stimmlosen Frikativen und Affrikaten in den Dialekten des Pipil (Zentralamerika) sowie die Neutralisierung der Vokallängenkontraste, die im Spanischen nicht existieren. Im Tuxtla Chico Mam wurde der Kontrast zwischen velaren und post-velaren / uvularen Plosiven, der ebenfalls nicht im Spanischen existiert, zu / k/ neutralisiert: Post-velare Plosive werden zu velaren. Ebenso erwähnen sie das Sprachverhalten von Semisprechern des American Finnish, die Vokallängenkontraste aufgegeben haben und Geminaten zu einfachen Konsonanten reduzieren: Auch hier zeigen sich konvergente Prozesse mit dem Englischen. Neben diesen kontaktinduzierten Wandelprozessen sprechen Campbell / Muntzel (1989: 187) auch die Möglichkeit der Begründung bestimmter Prozesse als „overgeneralization of unmarked features“ an, d. h. der Wirksamkeit endogener Faktoren. In der Tat sind kurze Segmente weniger markiert als lange, velare Konsonanten weniger als uvulare etc. (vgl. Chang 2007: 599 f.). Sie führen zahlreiche Fälle an, in denen der Gebrauch phonologischer Merkmale, die lediglich in der erodierenden Sprache, nicht aber in der dominanten Sprache vorhanden sind, ausgeweitet werden (vgl. Babel 2008: 26). Hierbei nehmen sie Bezug auf den von Andersen (1982) beschriebenen merger von / q/ und / k/ im Tuxtla Chico Mam, wobei / q/ verloren geht. Andersen führte als Grund das Fehlen von / q/ im spanischen Lautinventar an. Campbell / Muntzel (1989) hingegen beziehen sich auf die „markedness view“, gemäß der / q/ aufgrund seiner Unnatürlichkeit und komplexen Aussprache mit / k/ zusammenfällt. Ebenso werden Vokallängenkontraste abgebaut, da Kurzvokale weniger markiert sind. 65 Campbell / Muntzel (1989: 187) betonen allerdings, dass die Übergeneralisierung unmarkierter Merkmale nicht nur bei in Kontrast stehenden Phonemen auftritt, sondern markierte Laute generell vom Abbau bedroht sind. Ein weiteres von Campbell / Muntzel (1989) in Sprachverfallsprozessen beobachtetes Phänomen ist die Entwicklung obligatorischer phonologischer Regeln zu optionalen und die damit verbundene Entstehung freier Variation. Van Ness` Studie (1990) zum Pennsylvania German in West Virginia zeigt starke Veränderungen in der Phonologie hin zu einem „[…] simplified and reduced phonemic inventory“ (Van Ness 1990: 146). Sie dokumentiert den Verlust von „troublesome“ (ibid. 143) Lauten, die nicht in der dominanten Sprache 65 Campbell / Muntzel (1989: 187): „[…] when distinctions are lost, it is the marked member of opposition which is lost.“ <?page no="143"?> 2.3 Lautwandel in Sprachverfallskontexten 143 vorhanden sind sowie die Reduktion von Lauten (uvulares r zu einem glottalen Plosiv) und Silbifizierung (ibid. 143). Wenn / r/ einem velaren Konsonanten vorangeht, kommt es häufig zur / l/ -Epenthese. Konsonantencluster werden häufig durch die Insertion von [æ] zugunsten einer optimaleren Silbenstruktur aufgebrochen (ibid. 143). Dressler (1991: 100-102) führt zahlreiche Veränderungen in der Aussprache von terminal speakers des Bretonischen auf den Einfluss des Französischen zurück: Generalisierung der französischen Endbetonung, Gebrauch französischer Allophone (uvularer Vibrant anstelle des apikalen Vibranten). Allophone des Bretonischen, die ebenfalls im Französischen existieren, werden tendenziell eher bewahrt als Allophone, die das französische Lautinventar nicht abdeckt. Das bretonische Phonem / h/ wird nur mehr unsystematisch realisiert bzw. gar nicht produziert. Weitere phonologische Veränderungen können jedoch, laut Dressler, nicht als französische Interferenzen interpretiert werden. Hierbei handelt es sich um Innovationen und die Tendenz zum Monostilismus. Terminal speakers zeigen innovatives Sprachverhalten im Gebrauch von Allophonen, die weder im Bretonischen, noch im Französischen geläufig sind. Der Verlust an Stilmitteln zeigt sich beispielsweise im Ausfall von finalem / t/ des nominalen Plurals und des Partizipperfektsuffix [ət]. Diese Prozesse sind typisch für die bretonische Umgangssprache und werden in der Sprache von terminal speakers verallgemeinert. Weitere interessante Beobachtungen macht Dressler (1988, 1991: 106 f.) im Hinblick auf morphonologische Regeln im Bretonischen: Dressler dokumentiert den Abbau der wortinitialen Konsonantenmutation, einem morphonologischen Regelkomplex, der in der französischen Sprache nicht vorhanden ist: 1) nach spezifischen grammatischen Wörtern werden wordinitiale / p, t, k/ spirantisiert zu / f, z, h/ (z. B. penn ‚head‘ → va / ma fenn ‚my head‘); 2) die Okklusive / b, d, ɡ/ werden fortisiert zu / p, t, k/ (z. B. belo ‚bike‘ → o pelo ‚your bike‘); 3) die Konsonanten / p, t, k, b, d, ɡ, m/ werden lenisiert zu / b, d, ɡ, v, z, h, v/ (z. B. e benn , e velo ‚his head / bike‘). Der Verfall vollzieht sich mit folgendem Verlauf: - der Abbau der Spirantisierung geschieht vor dem Abbau der Fortisierung und Lenisierung. Die Spirantisierung wird primär durch die Lenisierung ersetzt (z. B. va fenn → va benn ). - der Prozess der Lenisierung beschränkt sich nur mehr auf / p, t, k/ (z. B. o benn , o belo ). - die Fortisierung geht zuvor verloren und wird durch den Prozess der Lenisierung substituiert (z. B. o benn , o belo ). - die Anzahl an grammatischen und lexikalischen Wörtern, die die Anlautmutation auslösen, wird allmählich reduziert ( lexical fading ). Dressler (1988: 187, 1991: 107) erklärt diese Verfallshierarchie wie folgt: <?page no="144"?> 144 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod - Lenisierungsprozesse sind nach wie vor am vitalsten, da sie durch die größte Anzahl grammatischer Wörter, durch Verbindungen ( compounding ) sowie syntaktische Voraussetzungen ausgelöst werden und die größte Zahl an Konsonanten betreffen: „It is, so to speak, the ‘default’ mutation on which semispeakers fall back.“ - Auch die Regularität spielt eine Rolle: die regulärsten phonologischen Prozesse, die zudem nur ein phonologisches Merkmal betreffen, sind stabiler, d. h. die Fortisierung / b, d, ɡ/ → / p, t, k/ sowie bestimmte Lenisierungsprozesse (/ p, t, k/ → / b, d, ɡ/ ). - Dressler (1991: 107 f.) interpretiert diese Veränderungen nicht als Simplifizierungen, die an anderer Stelle z. B. durch Komplexitätszuwachs ausgeglichen werden, sondern als Reduktionen, d. h. als Verlust struktureller Merkmale ohne Kompensation, ein Phänomen, das zur Dysfunktionalität des Systems führen kann. Fenyvesi (1995) nimmt in ihrer Arbeit zum Ungarischen in McKeesport (Pennsylvania) eine Einteilung des dokumentierten Sprachwandels in drei Kategorien vor: 1) borrowing , d. h. kontaktbedingte Veränderungen; 2) language death -Phänomene, d. h. Simplifizierungen und Reduktionen, die jedoch nicht zu mehr struktureller Nähe mit der Kontaktsprache führen; 3) multiple causation , d. h. Veränderungen, die als Kontakt- oder auch Sprachverfallsphänomen erklärbar sind (z. B. die Degeminierung von intervokalischen Langkonsonanten) (vgl. ibid. 13). Die Hälfte der Sprachwandelphänomene führt Fenyvesi (1995: 104) auf den Kontakt mit dem Englischen zurück (z. B. Aspiration, Lautersatz von / v/ durch / w/ etc.). Das Zusammenwirken von Sprachkontakt und Sprachverfall liegt einem Drittel der Veränderungen zugrunde. Seltener sind Wandelerscheinungen, die sich ausschließlich als Sprachverfallsphänomene kategorisieren lassen. Coyos (1996: 141) dokumentiert für die Phonetik und Phonologie des Souletin, einer in Frankreich gesprochenen baskischen Varietät, keine direkte Übernahme französischer Phoneme, bezeichnet das Phonemsystem jedoch als „fragilisé“. Der apiko-alveolare Vibrant / r/ wird zunehmend als [ʁ] realisiert; auch die Realisierung der Vokale nähert sich dem Französischen an. Aspirierte Okklusive werden oftmals nicht aspiriert. Glottales / h/ wird nicht mehr systematisch verwendet und der retroflexe ejektive Frikativ / ʂ/ nähert sich / ʃ/ an. Holloways (1997: 57-59) Studie zum Brule Spanish zeigt die Aufgabe der Distinktion von alveolarem Tap [ɾ] und alveolarem Trill [r] in intervokalischer Position. Das Resultat ist meist der alveolare Tap bzw. die freie Variation der beiden Phoneme. Intervokalisch tritt häufig noch die Weiterentwicklung zu [l] auf (vgl. ibid. 118). Wortinitial hat sich ebenfalls der Tap durchgesetzt (vgl. ibid. 57-59). Holloway nennt als Begründung für das Verfallssymptom die Markiert- <?page no="145"?> 2.3 Lautwandel in Sprachverfallskontexten 145 heit des Trills, räumt allerdings auch der Tatsache Bedeutung ein, dass der Kontrast der beiden Phoneme in der Kontaktsprache Englisch nicht existiert und der Trill für das Englische einen fremden Laut darstellt (vgl. ibid. 59). François (2002: 6) bemerkt den Ersatz apiko-labialer Konsonanten durch bilabiale und apico-alveolare sowie die Aufgabe der Unterscheidung von Flap [ɾ] und Trill [r] bei Nicht-Vollsprechern des in Vanuatu gesprochenen Araki. Obwohl / l/ , / r/ und / ɾ/ Phonemstatus besitzen, ist der Unterschied nur geringfügig wahrnehmbar. Zudem sind die genannten Laute nicht in der Kontaktsprache Tangoa distinktiv (vgl. ibid. 18). Gruzdeva (2002: 94) bestätigt anhand ihrer Untersuchungen zum Nivkh, einer paleosibirischen Sprache, die häufige Beobachtung der Aufgabe phonologischer Distinktionen in moribunden Sprachen: Im Nivkh schwindet allmählich der - zudem in der Kontaktsprache Russisch nicht vorhandene - Kontrast zwischen velaren und uvularen Konsonanten. Weitere Veränderungen nennt Gruzdeva für den Bereich der Morphophonologie: An Wort- und Morphemgrenzen kommt es zur initialen Konsonantenalternation, die durch phonetische und auch syntaktische Konditionen ausgelöst wird. Der wort- oder morpheminitiale Konsonant verändert sich in Abhängigkeit des Auslautes des vorausgehenden Wortes bzw. Morphems. Gruzdeva (2002: 95) bestätigt zwar den Erhalt der Initialmutation an Morphemgrenzen, dokumentiert jedoch den Abbau des Prozesses an Wortgrenzen. Initiale Konsonanten von Nomina und Verben erfahren die Anlautalternation tendenziell nicht mehr. Falls sie auftritt, so lediglich äußerst unsystematisch. McGregors (2002: 155 f.) Studie zum Grooniyandi (Nordwestaustralien) zeigen den allmählich voranschreitenden - wenn auch nicht systematischen - Ersatz des Nasals / n̪/ durch / ɲ/ . Gelegentlich findet sich auch die Substitution von / d̪/ durch / ɟ/ . Ebenso lässt sich bereits der Ersatz von lamino-dentalen Okklusiven und Nasalen durch lamino-palatale erahnen. In den Äußerungen von Informanten des Nyulnyul, die als rememberers einzustufen sind, zeigt sich deutlich die Verschmelzung des Taps [ɾ] mit dem apiko-alveolaren [d]. Bullock / Gerfen (2004) untersuchen den merger der mittleren vorderen gerundeten Vokalallophone [œ] and [ø] im Frenchville French. Die beiden Allophone konvergieren zunehmend zu dem rhotisch artikulierten Schwa [ɚ] des Englischen. Ebenso liefern Bullock / Gerfen (2004: 316) ein Beispiel für Lauterhalt: Der französische Trill / r/ ist in französischen Tokens der Informanten bewahrt, ohne eine Annäherung an die retroflexe Aussprache des Englischen zu erfahren. Da sich im Hinblick auf die funktionale Belastung der Laute keine wesentlichen Unterschiede ausmachen lassen, muss die Erklärung für den Wandel sowie den Erhalt der Laute eine andere sein: Die angeführte nicht-kontrastive Vokaldistinktion des Französischen existiert nicht im Englischen, ebenso unterscheidet <?page no="146"?> 146 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod sich die Realisierung des rhotischen Konsonanten in beiden Sprachen. Französisches / r/ wird allerdings nicht durch englisches retroflexes / r/ ersetzt (vgl. ibid. 316), da, so Bullock / Gerfen (2004), die perzeptuelle Ebene, d. h. die akustische Salienz, hier berücksichtigt werden sollte. Der Trill kann als Marker soziolinguistischer Identität interpretiert werden: A trill is notable for its difference, and would thus be much more salient perceptually as uniquely French to Frenchville speakers growing up bilingual in English and French. The issue then can be viewed as the preservation of a salient acoustic target and not one of system-internal functional load. (Bullock / Gerfen 2004: 318) Celata / Cancila (2010) untersuchten das Sprachverhalten einer Italienisch- Lucchesischen Sprachgemeinschaft in San Francisco im Hinblick auf die Unterscheidung von Einfach- und Langkonsonanten. Die englische Kontaktsprache kennt diesen Kontrast nicht. Die zweite Generation der Migranten zeigte daher eine weniger stark ausgeprägte Kontrastierung. Goodfellow (2005) geht in ihrer Untersuchung einer Sprechergruppe des K w ak w ala in British Columbia ebenso von kontaktinduzierten Wandelprozessen aus. Phonologische Distinktionen werden in der Sprache jüngerer Sprecher nicht aufrechterhalten. Es handelt sich hierbei stets um Konsonanten, die nicht im Phoneminventar des Englischen vorhanden sind: Glottalisierte Konsonanten werden durch pulmonische Konsonanten ersetzt, uvulare durch velare, laterale Affrikaten duch / ɡl/ -Cluster und velare Frikative werden sukzessive abgebaut (vgl. hierzu auch Babel 2008: 26). Montoya-Abat (2009: 217) zeigte, dass das komplexe Vokalsystem des Katalanischen in Alicante die Opposition von offenen und geschlossenen mittleren Vokalen neutralisiert. Es wird somit reduziert und fällt mit dem spanischen Vokalinventar zusammen. Je geringer die Katalanischkenntnisse eines Sprecher sind, desto geschlossener realisiert er / e/ und / o/ . Weitere zu beobachtende Phänomene sind die Wiedereinführung von [ɾ-] sowie konsonantische Reduktionen. All diese phonologischen Veränderungen sind, so Montoya-Abat (2009: 225), erklärbar mithilfe der gängigen Sprachverfallstheorien, nämlich dass 1) sich der Wandel in Richtung des Systems der dominanten Sprache vollzieht, 2) der Wandel kontaktinduziert ist, Simplifikationen und Regelgeneralisierungen beinhaltet und 3) unmarkierte Formen - im Gegensatz zu markierten - erhalten bleiben. Nance / Stuart-Smith (2013) dokumentieren den Abbau der Präaspiration von Okklusiven im Gälischen jüngerer Informanten und führen dies u. a. auf den Einfluss des Englischen (vgl. ibid. 146) sowie die geringe funktionale Belastung des Kontrastes von präaspirierten und nicht-präaspirierten Okklusiven - d. h. das Fehlen von Minimalpaaren - zurück: „This gives speakers little structural <?page no="147"?> 2.3 Lautwandel in Sprachverfallskontexten 147 motivation to maintain very distinct phonemic categories, as there is little or no possibility of confusion arising“ (ibid. 147). Zusätzlich zeigten sich Unterschiede in der Aussprache in Abhängigkeit der Frequenz der Zielwörter: Nance / Stuart- Smith (2013: 147) nehmen an, dass Wörter geringerer Verwendung dem Wandel vermehrt unterliegen. 2.3.2 Verlaufsmodelle 2.3.2.1 Markierte Lautstrukturen 66 In Kapitel 2.2.1.1 wurde bereits die Möglichkeit, Sprachwandel über strukturinterne Bedingungen wie Unmarkiertheit / Natürlichkeit zu erklären, thematisiert. Im Hinblick auf lautstrukturelle Veränderungen sind zusätzliche Präzisierungen notwendig. Aus Greenbergs Arbeit (1966) geht hervor, dass es im Hinblick auf die laustrukturelle Seite Universalien gibt, die alle Sprachen betreffen, 67 die die meisten Sprachen betreffen 68 oder die als Implikationen wirken 69 (vgl. Hall 2 2011: 86), d. h. übertragen auf die Begrifflichkeiten der Markiertheitstheorie, dass „[…] markierte Strukturen ihre unmarkierten Gegenstücke implizieren“ (ibid. 88). 70 Als unmarkiert bzw. markiert werden in der Phonologie die Gegenstücke stimmlos bzw. stimmhaft, kurz bzw. lang, nicht-nasal bzw. nasal, nicht-palatalisiert bzw. palatalisiert, nicht-glottalisiert bzw. glottalisiert, unaspiriert bzw. aspiriert usw. bezeichnet (vgl. Haspelmath 2005: x). Mit Markiertheit lässt sich auch im Hinblick auf die Silbenphonologie operieren (vgl. Hall 2 2011: 218-223): So sind Silben mit einem Konsonanten in silbeninitialer Stellung unmarkiert (Silbenanlautgesetz). Außerdem ist eine Silbe desto weniger markiert, je geringer die Anzahl an Konsonanten im Silbenauslaut ist (Silbenauslautgesetzt). Für den Silbenkern gilt, dass Sonoranten als Nukleus markierter sind als Vokale; Obstruenten sind markierter als Sonoranten (Silbenkerngesetz) (vgl. Hall 2 2011: 223). Hierbei spielt der Sonoritätsverlauf eine wichtige Rolle (vgl. Vennemann 1988). 66 Vgl. Hume (2011) für einen ausführlichen Überblick zur Markiertheitstheorie sowie Haspelmath (2005). 67 Z. B. haben alle Sprachen in ihrem Lautinventar Vokale und Konsonanten; in einer Sprache gibt es nie mehr Nasalvokale als Oralvokale etc. (vgl. Hall 2 2011: 87). Vgl. hierzu Maddiesons Studie zu den Sprachen der Welt (1984). 68 Z. B. hat die Mehrzahl der Sprachen der Welt mindestens einen Frikativ (vgl. Hall 2 2011: 87). 69 Z. B. impliziert das Vorhandensein von / b, d, ɡ/ das Vorhandensein von / p, t, k/ in einer Sprache (vgl. Hall 2 2011: 88). 70 Greenberg ([1966] 2005: 60): „[…] the implicatum is the unmarked category […]“. <?page no="148"?> 148 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod Allerdings ist - so wie zuvor bereits angesprochen - die Opposition markiert / unmarkiert nicht unproblematisch. Markiertheit muss stets im Kontext analysiert werden, da es keine absolute Größe ist und Lautstrukturen in unterschiedlichem Maß betrifft (vgl. Haspelmath 2005: xv): It is often the case that an emerging structure is not marked along one dimension but marked along another […]. […] This leads to the conclusion that the selected variants cannot be absolutely judged as unmarked or marked but have to be evaluated in a broad linguistic context […]. (Hamann / Zygis 2005: 521). Auch gibt es Abstufungen zwischen den Polen markiert und unmarkiert . Unmarkiertheit kann überdies weit mehr als lediglich die Abwesenheit eines Merkmals bedeuten: Als markierte Laute werden, so fasst Hall ( 2 2011: 88 f.) zusammen, nicht nur solche charakterisiert, die generell in weniger Sprache vorkommen (verglichen mit ihrem unmarkierten Gegenstück) und die das Vorhandensein des unmarkierten Gegenstücks implizieren, sondern auch solche, die im Spracherwerb später erlernt werden und die historisch instabil sind. 71 Hume (2011: 80) stellt dies erweiternd folgende Eigenschaften unmarkierter bzw. markierter Strukturen gegenüber: unmarked marked natural less natural normal less normal general specialized simple complex inactive active more frequent less frequent optimal less optimal predictable unpredictable acquired earlier acquired later more phonetically variable less phonetically variable articulatory simple articulatory difficult perceptually strong perceptually weak perceptually weak perceptually strong 71 So sind markierte Laute auch selten in Pidgins und frühen Kreolsprachen zu finden. <?page no="149"?> 2.3 Lautwandel in Sprachverfallskontexten 149 unmarked marked universal language-specific ubiquitous parochial Tab. 2: Merkmale von Markiertheit und Unmarkiertheit nach Hume (2011: 80) Markiertheit korreliert folglich u. a. mit dem Faktor Spracherwerb: Seit Jakobson (1941) geht man in der Markiertheitsforschung davon aus, dass im Spracherwerb zunächst unmarkierte Laute erlernt werden, bevor markierte Strukturen hinzutreten. Bei unvollständigem Spracherwerb ist folglich davon auszugehen, dass die betroffenen Sprecher über markierte Strukturen nicht aktiv verfügen. Eine wichtige Feststellung ist allerdings auch die, dass der Faktor Frequenz in engem Zusammenhang mit der Markiertheit steht (vgl. Greenberg [1966] 2005: 14). 72 Unmarkierte Strukturen sind sehr viel häufiger und resistenter in den Sprachen der Welt als markierte. Die Abbaugefährdung ist daher für markierte Strukturen wesentlich höher. Als phonetische Faktoren, die in Zusammenhang mit Markiertheit eine Rolle spielen, nennt Hume (2011: 93) phonetische Variabilität in der Produktion (d. h. Allophonie), 73 artikulatorische Einfachheit bzw. Komplexität 74 und perzeptuelle Distinktivität. Insbesondere das Kriterium der perzeptuellen Salienz ist umstritten, denn unmarkierte Strukturen können einerseits perzeptuell stark (d. h. leichter zu identifizieren) bzw. schwach (d. h. weniger gut von anderen Lauten unterscheidbar) sein (vgl. Tab. 2; Hume 2011: 95): […] perceptual salience has been used in two ways in the markedness literature: an unmarked element can have low salience or it can have high salience. Given that both types of salience are used as a markedness diagnostic, there is no a priori means 72 Fraglich ist allerdings, ob das Kriterium der Frequenz einzelsprachlich oder übereinzelsprachlich gilt. Vgl. zur Diskussion Hume (2011: 97). 73 Wie bereits von Greenberg (1966) thematisiert, zeigen unmarkierte Strukturen größere phonetische Schwankungen als ihre markierten Gegenstücke (vgl. Hume 2011: 94). 74 Unmarkierte Formen sind daher weniger komplex als das markierte Gegenstück (vgl. Hume 2011: 94). Hierzu Hume (2008: 10): „Sounds and structures produced with less complex articulations tend to occur more frequently in a language than those with more complex articulations. The greater occurrence of the simpler sounds thus adds to the articulatory advantage that these sounds have and hence to their probability of occurring in a particular context. Of course, articulatorily complex segments also occur in languages and can be frequent.“ Auch hier gelangt die Markiertheitsforschung dennoch schnell an ihre Grenzen, denn „[…] it is impossible to know whether articulations with one articulator, e.g. the lips, are more difficult to produce than articulations with another articulator, e.g. the tongue tip or blade“ (Hamann 2003: 5). <?page no="150"?> 150 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod of determining whether a sound should be considered marked or unmarked given its salience. (Hume 2008: 10; Herv. i. O.) Lautstrukturen, die leicht zu identifizieren sind, also eine hohe perzeptuelle Salienz haben, sind häufiger als Formen mit geringer Salienz (vgl. Hume 2008). Laute mit geringer Salienz sind eher von phonologischen Prozessen wie Assimilationen, Reduktionen und Deletionen betroffen, d. h. sie sind instabiler als Laute mit hoher Salienz, aufgrund ihrer artikulatorischen Einfachheit aber oftmals auch sehr frequent (vgl. ibid.; Kap. 2.2.1.3). Leicht artikulierbare Laute und saliente Formen gelten primär als unmarkiert, da sie aufgrund ihrer phonetischen Eigenschaften in Sprachsystemen häufiger vertreten sind. Dadurch werden sie auch öfter verwendet. Allerdings können auch artikulatorisch komplexe Laute und wenig-saliente Formen als unmarkiert eingestuft werden, wenn ihr Gebrauch häufig ist (vgl. Hume 2008). All dies zeigt nicht nur, dass Markiertheit auf über-einzelsprachlicher Betrachtungsebene schnell an seine Grenzen gelangt (vgl. Hume 2011: 97), sondern auch, dass es keine Größe darstellt, die sich zwangsläufig im Bewusstsein der Sprecher wieder findet. Insbesondere Salienz ist ein kontextuell einzubettender Faktor, der in Sprachkontaktbzw. Mehrsprachigkeitskonstellationen individuell zu bewerten ist. Was salient, d. h. ,auffällig‘ in der Wahrnehmung der Sprecher ist, hat nicht ausschließlich mit starker bzw. schwacher perzeptueller Salienz zu tun. Lautstrukturen, die innerhalb des eigenen Sprachsystems weniger gut von anderen Lauten unterscheidbar sind, können jedoch in Bezug auf ein anderes System als ,charakteristisch‘ in der angestammten Sprache wahrgenommen und als Abgrenzungsmarker eingesetzt werden. In diesem Fall können Strukturen trotz Markiertheit durchaus abbauresistent sein (vgl. Keller 1993: 113; Kap. 2.2.1.3). Anhand der bisherigen Forschungen zum Sprachverfall konnte gezeigt werden, dass zur Erklärung des Abbaus bzw. des Erhalts bestimmter Strukturen immer wieder auf die Markiertheitstheorie zurückgegriffen wurde. So bezieht sich Rankin (1978) explizit auf die Lauthierarchie Greenbergs und setzt den Abbau spezifischer Lautphänomene mit dem Verlust von Markiertheit gleich. Auch Schmidt (1985) attestiert unmarkierten Formen eine höhere Erhaltungschance. Cook (1989) zeigt, dass Semisprecher aufgrund ihres unvollständigen Spracherwerbs bestimmte Strukturen gar nicht erst erlernt haben. Auch hierin zeigt sich der Verlust markierter Strukturen im Gesamtsystem, da Formen, die erst später im Spracherwerb erlernt werden, markiert sind. Campbell / Muntzel (1989) beschreiben anhand von Andersens (1982) Daten Phänomene der Übergeneralisierung unmarkierter Merkmale und den Abbau markierter Strukturen. Auch Holloway (1997) begründet Verfallssymptome u. a. mit der Markiertheit <?page no="151"?> 2.3 Lautwandel in Sprachverfallskontexten 151 bestimmter Lautphänomene. Gleichzeitig zeigen Campbell / Muntzel (1989: 189) Fälle, in denen Laute trotz ihrer Markiertheit verfallsresistent zu sein scheinen. Grund hierfür ist die Wahrnehmung der Laute als exotisch im Bewusstsein der Sprachgemeinschaft. 2.3.2.2 Einfluss der dominanten Kontaktsprache Während Lautwandel einerseits über verstärkende endogene Grundlagen erklärt werden kann, ist andererseits - insbesondere in Situationen des intensiven Sprachkontaktes - auch der Einfluss der dominanten Kontaktsprache Grund für Veränderungen im Lautsystem der angestammten Sprache. Sprachkontakt kann grundsätzlich sämtliche Bereiche der Lautstruktur von Sprachen betreffen: „the articulation of individual phones or phonemes within words, length and gemination, stress and tone, prosody and intonation“ (Matras 2009: 222). Es lassen sich insbesondere Veränderungen auf Phonemebene beobachten: Campbell (1976: 182-189) unterscheidet insgesamt drei unterschiedliche phonologische Phänomene im Sprachkontakt: 1) diffused phonological segments ( or distinctive features ), d. h. die Übernahme von Phonemen aus der Gebersprache; 75 2) diffused phonological rules , d. h. die Entlehnung kompletter phonologischer Regeln „[…] without necessarily depending on concomitant lexical borrowing“ (ibid. 183) bzw. der Verlust phonologischer Regeln sowie 3) Lautwandel in Zusammenhang mit Sprachverfall, d. h. zum einen die Störung phonologischer Prozesse, die in der dominanten Sprache kein Gegenstück haben sowie zum anderen die Übertragungen von Strukturen aus der dominanten Sprache. Wie groß das Ausmaß an Sprachwandelphänomenen ist, hängt folglich ganz entscheidend von der Intensität und Dynamik des Sprachkontaktes ab: Im Falle wenig intensiven Sprachkontakts werden lexikalische Entlehnungen aus der Kontaktsprache in das Lautsystem der Nehmersprache eingepasst. 76 Dies lässt sich häufig auch mit der für Sprecher vorhandenen Schwierigkeit erklären, bedingt durch fehlende Kenntnis des vollständigen Phoneminventars der Kontaktsprache, fremde Laute authentisch wiederzugeben: If a word is adapted phonologically, its pronunciation is brought in line with the phonological system and sound patterns of the borrower language, with the phonemes 75 Durch Einführung neuer Phoneme ( loan phonems ) können folglich neue phonemische Kontraste entstehen (vgl. Hamann 2014: 2). Neue Phoneme werden oftmals, aber nicht zwangsläufig, über Lehnwörter verbreitet (vgl. Campbell 1996: 102). 76 Maddieson (1986) betont, dass primär solche Lautstrukturen entlehnt werden, die vom eigenen Lautsystem nicht zu stark entfernt sind. <?page no="152"?> 152 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod of the borrowed word replaced by the closest indigenous sounds of the borrower language. ( Jones / Singh 2005: 34) Je intensiver der Sprachkontakt wird, desto eher werden Lehnwörter mitsamt ihrer lautlichen Ausdrucksseite übernommen. Auf diesem Weg können neue Phoneme in die Nehmersprache gelangen (vgl. Jones / Singh 2005: 38, 91), die wiederum angestammte Laute verdrängen können. Die Aufgabe bestimmter Merkmale kann den Phonemstatus gefährden und Minimalpaare reduzieren (vgl. Matras 2009: 227). Bilingualen Sprechern ist die Andersartigkeit der Lautung der Gebersprache bewusst. Da ihnen beide Phoneminventare zur Verfügung stehen, werden sie versuchen, Lexeme der dominanten Kontaktsprache so authentisch wie möglich wiederzugeben. Die Motivation hierfür liegt oftmals im außersprachlichen Kontext, z. B. wenn die Gebersprache prestigebesetzter ist als die Nehmersprache: Since the donor language enjoys some form of prestige, often due to associations with commerce, technology, knowledge, or other kinds of innovation or power, the replication of original donor-language pronunciation is imitated by many monolinguals (i.e. non-speakers of the donor language) as well, leading to the spread, within the recipient language, of new phonemes in the relevant loanwords. (Matras 2009: 223) In Sprachverfallskontexten tendieren moribunde Sprachen vermehrt zur Übernahme von Phonemen aus der Prestigesprache. Gleichzeitig kann es zur Abwahl von Lautstrukturen kommen, die im Repertoire beider Idiome vorhanden sind, die allerdings als stigmatisiert in der dominanten Kontaktsprache empfunden werden. Das Resultat sind konvergente Veränderungen, aufgrund welcher die erodierende Sprache der dominanten Kontaktsprache sukzessive strukturell ähnlicher wird. Sprachen, die vom Verfall betroffen sind, zeigen somit weniger phonologische Kontraste. Distinktionen, die in den beiden in Kontakt stehenden Idiomen eine Rolle spielen, bleiben hingegen meist erhalten. Zum Abbau phonologischer Kontraste kommt es insbesondere dann, wenn diese nicht im Repertoire der Prestigesprache abgebildet sind. Das Ergebnis ist auch hier ein zunehmendes Konvergieren der Sprachen. 2.3.3 Prozesse und Ergebnisse des Lautverfalls Nachdem nun Verlaufsmodelle des intensiven Lautwandels im Sprachverfall vorgestellt wurden, beschäftigen sich die folgenden Kapitel mit Prozessen und Ergebnissen des Lautverfalls wie dem Zusammenfall von Lauten ( merger ), dem Entstehen von Ad-hoc-Varianten und der Übergeneralisierung von Merkmalen zur Identitätsaffirmation. <?page no="153"?> 2.3 Lautwandel in Sprachverfallskontexten 153 2.3.3.1 „Mergers“: Transfer und Approximation Das Verschmelzen phonologisch relevanter Laute ( merger ) ist ein Phänomen, das häufig im Sprachwandel 77 sowie vor allem in Zusammenhang mit Sprachverfall auftritt. Mergers gelten als nicht umkehrbar: „once a merger, always a merger“ (Labov 1994: 311). Der Verlust und Ersatz von Phonemen ist im Zusammenhang mit Sprachabbau immer wieder betont worden (vgl. Andersen 1982). Das im Verlauf von Sprachverfall jedoch nicht zwangsläufig phonologische Kontraste neutralisiert werden müssen, betonen Babel (2008) und Chang (2007). Chang (2007: 600 f.) unterstreicht, dass mergers keine homogene Klasse bilden und mithilfe der von Trudgill / Foxcroft (1978) eingeführten Konzepte des Transfers ( transfer ) und der Approximation ( approximation ) abgeglichen werden sollten: Transfer geschieht, wenn sich ein Phonem kategorisch so verändert, dass es mit einem anderen identisch wird. Der unidirektionale Wandel betrifft dann immer mehr Wörter, die das ursprüngliche Phonem beinhalten („a form of lexical diffusion“, Trudgill / Foxcroft 1978: 73). Approximation hingegen bedeutet das graduelle Annähern zweier phonologisch distinktiver Laute aneinander. Über diese „intermediate articulations“ (ibid. 74) können die Laute letztendlich identisch werden. Dieser Schritt muss jedoch nicht zwangsläufig passieren: Häufig bleibt es bei einer phonetischen Ähnlichkeit mit geringem Unterschied, auch wenn die jeweiligen Laute seitens der Sprecher als identisch wahrgenommen werden (vgl. ibid. 75). 78 Labov (1994: 321-323) führt zusätzlich das Konzept der Expansion ( expansion ) ein: Hierbei greift ein Laut auf den phonetischen Raum eines anderen über oder weitet seinen eigenen phonetischen Kontext aus, ohne dass es zu einem merger kommt. 79 Da Approximation und Expansion gradiente Variationen darstellen, folgen sie im Grunde der gleichen „sound change route“ (Babel 2008: 25, 2009: 28), wohingegen Transfer einen kategorischen Shift bedeutet (vgl. ibid.). Babel (2008, 2009) zeigte anhand ihrer Studien zum Nord-Paiute (Nordamerika) zwei Typen von Veränderungen der Lautstruktur: kategorischer und subphonemischer Lautwandel. Sie dokumentiert zum einen den Shift des Artikulationsortes des palatalisierten retroflexen Sibilanten zu dem englischen alveolaren Frikativ / s/ bei den jüngsten Informanten. Zum anderen bemerkte sie 77 Vgl. hierzu Hamann (2014: 2): „[…] cases of phoneme merger involve the collapse of two phonemes into one category across generations of speakers.“ Das bedeutet, dass Minimalpaare abgebaut werden, da sie gleichlautend werden. 78 Hierbei spricht man auch von near-mergers , d. h. zwei Laute unterscheiden sich in ihrer Produktion, allerdings nehmen die Sprecher diesen Unterschied nicht wahr (vgl. Hamann 2014: 3). 79 Hierzu Labov (1994: 322): „the lexical constraints on the distribution of the two former phonemes are removed, and the range that was previously divided between the two phonemes is used for the new phoneme.“ <?page no="154"?> 154 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod den Verlust eines eher palatalisierten Allophons des ursprünglichen Sibilanten und den Ersatz durch das Englische / ʃ/ . Diese artikulatorische Modifikation von / ɕ/ zu / s/ interpretiert sie als einen kategorischen Lautwandel, der Wandelprozessen wie der Approximation gegenübergestellt wird, bei denen subtilere nicht-bemerkbare Shifts vollzogen werden (vgl. Babel 2008: 33, 2009: 42). Ähnliche Ergebnisse liefert Youngs Studie (2007: 91) zum Taiwanese Mandarin einer in Kalifornien ansässigen Familie im Kontakt mit dem Englischen. Die alveolar-palatalen Laute / tɕ h / , / tɕ/ und / ɕ/ vollzogen einen Wandel zu / tʃ h / , / tʃ/ und / ʃ/ . Young (2007: 103 f.) interpretiert den ersten Lautwandel als merger mit den alveopalatalen Lauten / dʒ/ , / tʃ/ und / ʃ/ des Englischen. Ob es zu einem eher plötzlichen kategorischen Wandel kommt, oder zu einer graduellen Annäherung zweier Laute, wird, so vermutet Babel (2008, 2009: 42 f.), bedingt durch die Beschaffenheit des phonologischen Systems der Kontaktsprache. Da die konkurrierenden Sibilanten nur geringfügig verschieden sind, d. h. sie sind perzeptuell und artikulatorisch ähnlich, kann es leicht zu einem kategorischen Shift des Artikulationsortes kommen: „From the descriptions seen here, it can be generalized that when phonological categories in moribund and dominant languages are similar, they may experience transfer-like sound changes“ (Babel 2009: 43). Chang (2007: 622) klassifiziert den von Babel (2008) beschriebenen Prozess nicht als Transfer, sondern als Approximation, „[…] since there indeed seems to be an intermediate phonetic form in this case.“ Babels zweite Untersuchung betrifft den Lenis-Fortis-Kontrast: Das Northern Paiute (Kalifornien) kennt eine dreifache Kontrastierung von Plosiven und Affrikaten: Fortis (ein einfacher stimmloser Plosiv), stimmhafter Fortis (doppelter stimmhafter Konsonant) und Lenis (einfacher stimmhafter Verschlusslaut): ‘b’ [β], ‘bb’ [b], ‘p’ [p]. Dieser geschieht wortmedial und an bestimmten Morphemgrenzen. Wortinitial werden die Kontraste zu einem Fortis neutralisiert (vgl. Babel 2009: 30). Babel dokumentiert für den Sprachgebrauch jüngerer Informanten einen graduellen Lautwandel. Die Tendenz zur starken subphonemischen Variation begründet Babel mit der Abwesenheit des Kontrastierungsmechanismus in der Kontaktsprache Englisch. Zwar kommt es zu einer zunehmenden Variation in der Verschlussdauer, der Expansion der Fortisverschlussdauer und der Approximation der Verschlusslösungsdauer von Fortis und stimmhaftem Fortis bei jüngeren Sprechern, dennoch geht der Kontrast nicht verloren (vgl. Babel 2009: 37). Auch Yu (2008) zeigte anhand des Washo (Kalifornien-Nevada), dass jüngere Sprechergenerationen dieser moribunden Sprache den phonologischen Kon- <?page no="155"?> 2.3 Lautwandel in Sprachverfallskontexten 155 trast zwischen Lang- und Einfachkonsonanten generell aufrechterhalten, 80 allerdings in verminderter Form, d. h. der Kontrast ist weniger deutlich („looser category boundaries“, Babel 2008: 33). Die Dauer nachtoniger Geminaten wird zunehmend reduziert, ebenso wie der Kontrast zwischen Kurz- und Langvokal immer geringer wird (vgl. Yu 2008: 518). Auch hier kommt es also zu Schwankungen im Bereich der Lautdauer. Auch die von Dorian (1978a) beschriebene abnehmende Nasalierung phonemisch nasalierter Vokale im East Sutherland Gaelic ordnet Babel als gradient change ein. Grund für diese Kategorisierung ist wiederum die Alternation der Lautdauer: „Modifications to the timing of the lowering of the velum in phonemically nasalized vowels result in vowels that are less nasalized. In these languages, changes in timing cause gradient subphonemic effects“ (Babel 2009: 43). Babel (2008, 2009: 43) formuliert auf dieser Grundlage die Hypothese, dass Kontraste, die auf Dauerrelationen basieren (wie laryngale Kontraste, Geminierungen) Veränderungen eher im Sinne einer Approximation durchlaufen, Kontraste, die eher kategorischer Art sind (Kontraste auf Grundlage des Artikulationsortes) eher zu Lautwandel durch Transfer tendieren. Die Zunahme an subphonemischer Variation ohne Aufgabe der phonologischen Kontraste ist, so Babel (2009: 37), „a symptom of language atrophy“. 81 Allerdings, so betont sie abschließend, ist dies nur als eine Zwischenstation zu sehen, denn: „[g]iven the proper time course, the paths of these changes may, nevertheless, end with the same result: the merger of two phonological categories“ (ibid.). Labov (1994) betont zusätzlich die soziolinguistische Relevanz von mergers , die durch Transfer entstehen. Der Transfer geschieht umso eher, desto stigmatisierter bzw. prestigeträchtiger eine Form ist: Ist ein Merkmal der angestammten Sprache negativ konnotiert, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es durch die prestigereichere Form der Kontaktsprache ersetzt wird: „Mergers by transfer are characteristic of stable sociolinguistic variables, where one form has acquired a social stigma or prestige - in other words, they are characteristic of change from above“ (ibid. 321). Chang (2007: 602) nennt in diesem Kontext den unnatürlichen Lautwandel von / ʂ/ → / r/ im Teotepeque Pipil, einer uto-aztekischen Sprache, bei dem eine stigmatisierte Form des Regionalspanischen durch eine Prestigeform ersetzt wird. 80 Ist der betonte Vokal lang, so ist der folgende Frikativ, Nasal oder Glide kurz. Bei kurzem Tonvokal sind die posttonischen Konsonanten lang (vgl. Yu 2008: 510). 81 Hierzu Babel (2009: 37): „This trend suggests that, perhaps, ultimate generations of speakers of obsolescing languages may not necessarily lose contrasts, but exhibit increased subphonemic variation, causing the category boundaries to become less discrete due to decreased usage frequency.“ <?page no="156"?> 156 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod 2.3.3.2 Ad-hoc-Varianten im Sprachverfall Neben Phonemabbau und -verschmelzung, die zur Abnahme an Systemkomplexität führen, ist auch der Zuwachs an Variation ein häufig im Sprachverfall beobachtbares Phänomen (vgl. z. B. King 1989; Holloway 1997). 82 Wie bereits ausführlich beschrieben, ist in ,gesunden‘ Sprachen das Nebeneinander von phonetischen Varianten, aus denen selektiert wird, die Grundlage für phonologischen Wandel (vgl. Hamann 2014: 6; Kap. 2.2.1.4). Ein wesentlicher Unterschied im Auftreten von Varianten in vitalen und rezessiven Idiomen ist jedoch, dass im Falle vitaler Sprachen von einer weit größeren Stabilität der Variation auszugehen ist (vgl. Dorian 1978b: 603), während Varianten im Sprachverfall als unsystematisch auftretende Ad-hoc-Phänomene zu klassifizieren sind, denen nach ihrem spontanen Erscheinen genauso schnell ein Verschwinden folgen kann. Auf Grund dessen sind in erodierenden Sprachen beobachtbare Varianten auch als sprecherindividuelle Erscheinungen zu deuten, die durch den Nicht-Gebrauch des Idioms keine größeren Sprecherkreise erreichen. Hinzu kommt, dass die Variation in vitalen und moribunden Idiomen aus soziolinguistischer Sicht anders motiviert ist. Wie Labov (z. B. 1963) zeigte, sind Varianten auch Träger soziokultureller Eigenschaften. Ihr Gebrauch als Identitätsmarker korreliert mit Parametern wie Alter, Geschlecht, Schicht und Ethnizität (vgl. Kap. 2.2.1.3). 83 Im Sprachverfall ist ihr Erscheinen allerdings meist nicht an einen spezifischen Symbolcharakter geknüpft, weshalb sie nicht als Identitätsmarker fungieren. Varianten haben im Falle der Spracherosion oftmals keine soziale Bedeutung für ihre Sprecher, d. h. sie sind „not particularly salient to its speakers“ (King 1989: 146) 84 und erfahren durch ihre Sprecher keine Bewertung. Holloway (ibid.) verweist in diesem Kontext auch auf Dressler (1981: 15), der betont: „Many semi-speakers can produce spontaneously forms they are unable to judge or evaluate“. Auf dieser Grundlage kommt er zu dem Schluss, dass […] the primary reason for the high degree of variation in terminal communities has to do with the fact that such variation in a dying language is not salient to its speakers; and, because linguistic variants go unnoticed by members of the community, they 82 Vgl. als Grundlage dieses Kapitels Holloway (1997: 69-71). 83 Hiervon abzugrenzen sind Varianten, die im individuellen Ausspracheverhalten eines jeden Sprechers - möglicherweise aber nicht unter seinen vertrautesten Gesprächspartnern - auszumachen sind und nicht zwangsläufig eine soziale Bedeutung transportieren: „[…] variation can establish itself at a perceptually obvious level without necessarily attracting social meanings“ (Dorian 1994: 689). Diese „personal pattern variation“ (ibid. 634) ist daher nicht automatisch gleichzusetzen mit freier Variation (vgl. ibid. 691-693). 84 Hier zit. nach Holloway (1997: 71). <?page no="157"?> 2.3 Lautwandel in Sprachverfallskontexten 157 do not become speech markers. It is because they are not associated with certain sociocultural variables such as economic or social class that are perpetuated by various members of the community without regard to these variables. (Holloway 1997: 71) 2.3.3.3 Übergeneralisierung salienter Formen als phonologische Marker Neben dem soeben beschriebenen spontanen und unmotivierten Gebrauch von Formen im Sprachverfall, kann es jedoch auch zu einem übermäßigen Gebrauch salienter - d. h. seitens der Sprecher als ,typisch‘ bzw. ,exotisch‘ empfundener Lautstrukturen kommen (vgl. Kap. 2.2.1.3). Hierbei wird die Verwendung bestimmter Laute selbst auf Kontexte ausgedehnt, in denen sie ungewöhnlich ist (vgl. Wolfram 2003), d. h. es zeigen sich „übergeneralisierte Adaptionsregeln“ (Lenz 2010: 102). Die linguistische Forschung bezeichnet diese Symptome als Übergeneralisierung ( overgeneralization ), Hyperkorrektur ( overcorrection ) bzw. hyper-dialectalism (vgl. Trudgill 1986). Hintergrund ist oftmals das funktionale Einsetzen von salienten Lautstrukturen als Identitätsmarker, die der Distanzwahrung bzw. Kontrastherstellung zu anderen Idiomen bzw. Sprechergruppen dienen. 85 Die hierzu bestehenden Forschungen geben übereinstimmende Tendenzen zu erkennen: Sasses Studien zum Arvanitika in Boeotia (1985) zeigten, dass Semisprecher - und zwar „especially those connected with culture-preserving activities such as folk singers, etc.“ - vor [e] den Laut [x] anstelle des geläufigen [ç] produzieren. Ursprünglich war ein friktionsloser glottaler Dauerlaut [h] die Regel, der im Lautrepertoire von Sprechern des Griechischen als L1 nun jedoch nicht mehr zur Verfügung steht: Die Folge ist die Übergeneralisierung von [x] „as a strong mark of un-Greek phonology“ (Sasse 2001: 1674). Eine vergleichbare Hyperkorrektur kann auch im Sprachgebrauch von Semisprechern des Cayuga beobachtet werden: Nasaliertes o wird hier anstelle von oralem o gesprochen, da die Nasalität als besonders charakteristisch wahrgenommen wird (vgl. ibid. 1675). Es zeigt sich folglich, dass Merkmale trotz ihrer Markiertheit dennoch nicht zwangsläufig vom Verfall betroffen sein müssen. 85 Genau genommen ist die Hyperkorrektion eine Unterkategorie der Hyperform. Lenz (2003: 206) betont, dass Hyperkorrektionen standardsprachgerichtet sind, während auf Dialektebene von Hyperdialektalismen zu sprechen ist. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird diese Unterscheidung nicht getroffen und unter Hyperkorrektion bzw. -korrektur und Hyperform jegliche Form „normwidrige[r] sprachliche[r] […] Annäherung eines Sprechers an eine angestrebte Zielvarietät“ (ibid.) verstanden, die hier nur auf dialektaler Ebene untersucht wird. <?page no="158"?> 158 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod Auch Campbell / Muntzel (1989) beschreiben Fälle, die sich nicht durch den Abbau, sondern die Übergeneralisierung markierter und als exotisch empfundener Strukturen auszeichnen: […] things that are marked or „exotic“ from the point of view of the dominant language may not be completely mastered by imperfect learners, and not knowing exactly where they belong, these speakers sometimes go hog-wild, as it were, employing the „exotic“ version with great frequency in ways inappropriate for the healthy version of the same language. (Campbell / Muntzel 1989: 189) Ihre Studie zeigt „an extended and creative use of traditional material“ (ibid. 105): Imperfekte Sprecher des erodierenden Jumaytepeque und Guazacapan Xinca in Guatemala glottalisieren übermäßig einzelne Konsonanten. Ursprünglich tritt die Glottalisierung nur in spezifischer Lautumgebung auf. Ein Sprecher des Teotepeque Pipil in El Salvador übergeneralisiert stimmloses [l̥], ein wortfinales Allophon von stimmhaftem [l]. Diese Beobachtungen stehen in Widerspruch zu dem weitaus gängigeren Phänomen des Verlustes von Phonemen, die die rezessive Sprache nicht mit der dominanten Sprache teilt (vgl. Dorian 1999b: 105). Laut Woolard (1989) sind daher die in Campbell / Muntzel (1989) hyper-glottalisierten Konsonanten im Xinca nicht intern, sondern extern motiviert. Sie begründet dies mit der Tatsache, dass in der Kontaktsprache Spanisch keine glottalisierten Konsonanten vorhanden sind, was als Auslöser für die Übergeneralisierung markierter Elemente, die zur Kontrastierung der beiden Lautsysteme dienen, entscheidend gewesen sein könnte. Schmidt (1991: 116 f.) kann im Rahmen ihrer Studien zum Boumaa nachweisen, dass - trotz Gefährdung der Sprache - saliente phonologische Merkmale („‘strong’ features“, ibid. 117), wie z. B. der glottale Verschlusslaut, selbst von den jüngsten imperfekten Sprechern bewahrt werden. Sie betont: „[…] speakers maintain a small set of distinguishing features in order to mark that codes as distinct from the replacing language variety“ (Schmidt 1991: 121). Wolfram / Schilling-Estes (1995: 714) zeigen, dass Sprecher des Brogue Dialektes, einer Varietät des amerikanischen Englischen auf Ocracoke Island, die sich der Eigentümlichkeit ihres Dialektes als „an object of curiosity and intrigue to outsiders“ bewusst sind, bestimmte saliente Merkmale wie z. B. [ɔy] insbesondere im Kontakt mit Außenstehenden vermehrt verwenden. Schilling-Estes (1997) und Schilling-Estes / Wolframs (1999) Studien zum Smith Island Englisch in der Chesapeake Bay Region in Maryland zeigen, dass Smith Islanders trotz Sprachverfall und zahlreicher Kontakteinflüsse primär die Merkmale ihrer Sprache bewahren, die ihre Varietät von den Nachbardialekten und den verbreiteteren Varietäten des Englischen unterscheiden: „Rather, their dialect is actually becoming more rather than less distinctive - and doing so <?page no="159"?> 2.3 Lautwandel in Sprachverfallskontexten 159 rather rapidly“ (Wolfram 2003). Wolfram (2003) interpretiert die Beobachtungen im Smith-Island-Dialekt daher auf Grundlage eines sog. concentration model : Strukturelle Distinktivität wird von einer verminderten Anzahl an Sprechern intensiviert. Auch Wolfram betont, dass der übermäßige Gebrauch bestimmter Merkmale jedoch nicht ausschließlich eine „erratic over-generalization or hypercorrection“ sein muss. Im Abbau begriffene sprachliche Merkmale können soziale Bedeutung erlangen ( sociolinguistic focusing ), „[…] where variation in selective structures carries social meaning while variation in many other features does not“. Haynes (2010) zeigt anhand des Numu (Oregon Northern Paiute) einen weiteren Lautwandelprozess in Verfallssituationen, den sie als areal hypercorrection benennt: Hierbei übernehmen Semisprecher einer Sprache saliente phonologische Merkmale anderer, in umliegender Umgebung gesprochener Idiome. Merkmale, die aus einer anderen benachbarten Varietät transferiert werden, werden hierbei jedoch keine kontrastierende Funktion ausbilden, d. h. keinen Phonemstatus erlangen (vgl. ibid. 112). Diejenigen Laute, die entlehnt werden, sind in der dominanten Kontaktsprache (hier: dem Englischen) nicht vorhanden und verfügen daher über soziale Salienz in der betroffenen Sprechergruppe, welche wiederum für die Distanzierung vom Englischen genutzt wird (vgl. ibid. 111), d. h.: „[…] though features borrowed from a geographically close indigenous language may not have contrastive function , they have a strong social function “ (ibid. 112; Herv. i. O.). Im Falle der kompletten Aufgabe der angestammten Sprache sind es insbesondere diese salienten, als typisch empfundenen Merkmale, die, eingebettet in die Matrix der Prestigesprache, neues Identifikationspotential bieten können: Schmidt (1991: 121) zeigte dies bereits am Beispiel des Dyirbal, das sukzessive durch das Regionalenglische, d. h. das Jambun Englische, ersetzt wurde. Jambun Englisch trägt zahlreiche phonologische, grammatikalische und lexikalische Merkmale des traditionellen Dyirbal, um die Distinktivität der Sprache in Abgrenzung zum australischen Englischen zu wahren: Auf phonologischer Ebene zählen hierzu der Ersatz von Frikativen durch Verschlusslaute, die Reduktion von Konsonantenclustern und die Tilgung wortinitialer Vokale. Schmidt zeigt hiermit auf, welche Rolle die Distinktivität des Regionalenglischen für ihre Sprecher als Symbolvehikel und Mittel der Gruppenkohäsion darstellt. Einige charakteristische Merkmale der moribunden Sprache werden auf diese Weise bewahrt und dienen als „[…] shibboleths to mark their identity“ (ibid. 122). Youngs (2007) Studie zum Taiwanese Mandarin in Kalifornien dokumentiert eine Velarisierung, die nicht mit dem Einfluss des Englischen begründet werden kann, da die englische Phonologie lediglich auslautendes [n] zu [ŋ] nach [i] kennt (vgl. ibid. 91). Die beobachtete Velarisierung kann jedoch auslautende <?page no="160"?> 160 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod alveolare Nasale vor [i] betreffen. Young (2007: 112) interpretiert das Phänomen daher als overcorrection . Roesch (2012: 118) dokumentiert den Erhalt des apikalen Trills im Texas Alsatian und begründet dies mit attitudinalen Faktoren: Sprecher des Texas Alsatian versuchen sich von Sprechern des Texas German abzugrenzen. Die bisherigen Forschungen zum Lautverfall zeigen weitestgehend übereinstimmende Ergebnisse: Lautstrukturen können trotz Markiertheit, geringer Frequenz und Abwesenheit im Phoneminventar der Prestigesprache erhalten und sogar übergeneralisiert werden. Die Motivation für das Bewahren steckt in der Salienz der Merkmale, wodurch sie bewusster wahrgenommen werden sowie zur Kontrastherstellung funktional als Identitätsmarker eingesetzt werden können. 2.3.4 Zusammenfassung der typischen Lautwandelsymptome im Sprachverfall Konvergenter Wandel kann, wie bereits angesprochen, das Ergebnis intern wie extern motivierten Wandels sein. Diese Entwicklungsrichtung, die z. B. in Form von merger von Lauten, die in der Kontaktsprache nicht distinktiv sind, in Erscheinung tritt, ist zwar die Regel im Sprachverfall, allerdings sind auch divergente Prozesse nicht gänzlich ausgeschlossen (vgl. Chang 2010: 57). Auch für den Bereich der Phonetik und Phonologie ist das Modell eines multikausalen Zusammenwirkens verschiedenster Faktoren anzusetzen, das „acoustic salience, sociolinguistic identity, and the difficulty of competing articulatory demands“ (Bullock / Gerfen 2004: 318 f.) in gleicher Weise berücksichtigt. Hiermit wird auch die Schwierigkeit deutlich, ein Lautverfallsmodell zu entwickeln, das genauen Aufschluss über die Wahrscheinlichkeit des Abbaus bzw. des Erhalts bestimmter Lautstrukturen geben kann (vgl. ibid. 319). Systematische Aufstellungen von Lauterosionssymptomen sind bislang lediglich vereinzelt in der Forschung angeboten worden: Laut Andersen (1982: 95) zeigt sich im Ausspracheverhalten von Sprechern mit imperfekten Kenntnissen 1) der Verlust phonologischer Distinktionen, 2) der Erhalt phonologischer Kontraste, insofern diese auch in der dominanten Kontaktsprache vorhanden sind sowie 3) tendenziell eher der Erhalt phonologischer Distinktionen mit hoher funktionaler Belastung. Campbell / Muntzel (1989) nennen zusammengefasst drei Lautverfallstypen (hier nach Chang 2007: 602, 2010: 58): So kann es zur Unter- oder Übergeneralisierung phonologischer Regeln kommen, zu enormer Regelvariabilität, bei der obligatorische Regeln optional werden, sowie zum Ersatz stigmatisierter durch prestigeträchtigere Formen. <?page no="161"?> 2.3 Lautwandel in Sprachverfallskontexten 161 Palosaari / Campbell (2011: 112-114) fassen Lautwandeltypen im Sprachverfallkontext wie folgt zusammen: Es gilt zu unterscheiden in 1) normal change (der auch vitale Sprachen betreffen kann), 2) Übergeneralisierungen unmarkierter Merkmale (und der damit verbundene Abbau markierter Strukturen, 3) Übermarkierungen markierter Merkmale, 4) Verlust oder Reduktion phonologischer Kontraste ( mergers ), 5) Übersowie Untergeneralisierungen sowie 6) acts of reception (d. h. Übernahme prestigeträchtiger fremder Laute aus der Kontaktsprache und Abwahl stigmatisierter Laute des angestammten Idioms). Diese Zusammenstellungen sowie die zuvor vorgestellten bisherigen Forschungsarbeiten zum Sprachverfall berücksichtigend lassen sich folgende Wandelphänomene, die auf eine „terminal phonology“ (Tsitsipis 1989: 128) in Sprachverfallskontexten schließen lassen, festhalten: 1) Komplexe und schwer wahrnehmbare (und damit in der Markiertheitsforschung als markierte phonologische Strukturen beschriebene) Merkmale unterliegen dem Verfall eher als weniger komplexe und leicht wahrnehmbare Laute (vgl. z. B. Campbell / Muntzel 1989; Cook 1989; Bereznak / Campbell 1996; Holloway 1997). 2) Tendenziell kommt es im Sprachverfall vermehrt zum Abbau von Phonemen mit geringer funktionaler Auslastung. Werden phonemische Oppositionen bewahrt, so spricht Tsunoda (2006: 125) von „phonemic opposition retainers“. Im umgekehrten Fall handelt es sich um „phonemic opposition losers“. Generell sind es wenig frequente Strukturen, die dem Abbau primär unterliegen. Phonologische Distinktionen, die lediglich in der angestammten Sprache existieren, müssen jedoch nicht zwangsläufig abgebaut werden, sondern können in leicht veränderter Ausprägung bestehen bleiben (vgl. Babel 2008: 33). 3) Moribunde Sprachen tendieren zur Übernahme von Phonemen aus der Prestigesprache. Gleichzeitig kann es zur Abwahl von Lautstrukturen kommen, die im Repertoire beider Idiome vorhanden sind, die allerdings als stigmatisiert in der dominanten Kontaktsprache empfunden werden. Das Resultat sind konvergente Veränderungen, aufgrund derer die erodierende Sprache der dominanten Kontaktsprache sukzessive strukturell ähnlicher wird. 4) Sprachen, die vom Verfall betroffen sind, zeigen weniger phonologische Distinktionen ( mergers ). Kontraste, die in den beiden in Kontakt stehenden Idiomen bestehen, bleiben meist erhalten. Zum Abbau phonologischer Oppositionen kommt es insbesondere dann, wenn diese nicht in der Prestigesprache repräsentiert sind. Das Ergebnis ist auch hier ein zunehmendes Konvergieren der erodierenden Sprache. 5) Sprachverfall im lautlichen Bereich zeigt sich insbesondere durch das Auftreten enormer Variation auf phonetischer und phonologischer Ebene (vgl. Rindler Schjerve 1989: 11; Cook 1989; Dressler / de Cillia 2006: 2262). Hierbei ge- <?page no="162"?> 162 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod hen oftmals „low level rules“ (Seliger / Vago 1991: 9) verloren, wie z. B. allophonische Realisationen von Phonemen. Zusätzlich kann es zum unsystematischen Auftreten neuer phonetischer Varianten kommen. Dies führt zu divergenten Entwicklungsrichtungen (vgl. z. B. Dressler 1982). Im phonologischen Bereich zeigen Semisprecher „‘wavering‘ of phonems“ (Tsunoda 2006: 79). Hierbei werden obligatorische phonologische Regeln häufig zu optionalen. 6) Zusätzlich kann es zur Ausbildung hybrider Zwischenformen auf lexikalischer Ebene kommen, die als ,Kompromiss‘ aus den Regelsystemen der in Kontakt stehenden Sprachen resultieren. Bildungen dieser Art ergeben sich auch, wenn sich die konkurrierenden Strukturen artikulatorisch nur wenig voneinander unterscheiden. 7) Semisprecher neigen zu hyperkorrektem Ausspracheverhalten, bei dem saliente Merkmale der rezessiven Sprache übergeneralisiert werden. Grund hierfür ist oftmals der Versuch der Distanzwahrung der beiden in Kontakt stehenden Idiome und das Manifestieren einer positiven Einstellung gegenüber der angestammten Sprache (vgl. Sasse 1992b: 72) sowie der Wunsch, als Teil der Sprachgemeinschaft wahrgenommen zu werden. Wie bewusst der Einsatz solcher Merkmale erfolgt, kann allerdings nicht immer zufriedenstellend beantwortet werden. 2.4 Sprachverfall bei sprachstruktureller Verwandtschaft Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit lautstrukturellen Veränderungen eines Idioms, das unter dem Einfluss sowie unter dem Dach einer nah verwandten und somit strukturell sehr ähnlichen Sprache steht. Hierdurch unterscheidet sich die Arbeit ganz wesentlich von anderen Sprachverfallsstudien, die zwar nicht ausschließlich, jedoch zum mehrheitlichen Teil den Blick auf Konstellationen richten, an denen nicht-strukturnahe Idiome beteiligt sind. 86 Der Studie liegt hierbei eine sehr weite Definition des Begriffs Sprachkontakt zu Grunde, der zwischen verwandten sowie auch nicht-verwandten Idiomen - unabhängig von der wechselseitigen Verständlichkeit und von soziolinguistischen Faktoren wie Normierung und Sprecherbewusstsein - verwendet wird. Der Grad an sprachstruktureller Nähe hat allerdings wesentlichen Einfluss auf den beobachtbaren Wandel (vgl. dal Negro 2004: 237). Das Kontaktszenario Italienisch-Sassaresisch ähnelt nicht nur im Hinblick auf das soziolinguistische Setting (- in dem das Italienische als Dachsprache für das scheindialektalisierte Sassaresische fungiert -), sondern eben auch mit 86 Eine Ausnahme hierzu stellt z. B. Montoya-Abat (2009) dar. <?page no="163"?> 2.4 Sprachverfall bei sprachstruktureller Verwandtschaft 163 Blick auf die sprachstrukturelle Ähnlichkeit eher Konstellationen, in denen nah verwandte Sprachen, Varietäten und Dialekte an den Sprachwandelprozessen beteiligt sind. Am vergleichbarsten sind die Auswirkungen des vorliegenden Kontaktszenarios daher mit Dynamiken, die sich in Standard-Dialekt-Konstellationen feststellen lassen, mit der Besonderheit, dass das Sassaresische / Sorsesische im Bewusstsein der Sprecher primär aufgrund seiner funktionalen Beschränkung als Dialekt wahrgenommen wird und nicht auf der Basis des Kriteriums der wechselseitigen Verständlichkeit eine Klassifizierung als Dialekt erfolgt. Es ist weitestgehend auszuschließen, dass die Sprecher das Sassaresische bzw. Sorsesische auf das Italienische beziehen, d. h. als Dialekt des Italienischen einordnen. 87 Der Standard-Dialekt-Vergleich basiert daher auf der rein objektiv messbaren strukturellen Nähe der beiden Idiome (- unabhängig von der Wahrnehmung der Sprecher des Sassaresischen als Dialekt von -) und der Tatsache, dass das Italienische als Dachsprache für das Sassaresische fungiert und aufgrund seiner Dominanz das Interaktionsfeld und die Weitergabe des Dialektes beschränkt. 88 Haase (1999: 264-294) beschreibt als typische Phänomene des Kontaktes von Dialekten mit ihren strukturnahen Standardsprachen 1) übermäßige Entlehnungen (insbesondere im Lexikalischen), 2) Interferenzen (v. a. auf phonologischer und morphologischer Ebene), 3) Dialektakkomodation und 4) Semisprechervarietäten. Vollsprecher des Dialektes entlehnen in den Dialekt lexikalisches Material aus dem Standard, das phonologisch mehr oder weniger adaptiert werden kann. Interferenzen zeigen sich vor allem auf phonologischer Ebene, wenn Dialektsprecher, deren Zweitsprache das Regionalitalienische ist, versuchen, standardnah zu sprechen. Zur Annäherung des Dialektes an den Standard ( Dialektakkommodation ) kommt es ebenfalls nur im Sprachgebrauch von Vollsprechern des Dialektes: Bewegen sich Idiome (Dialekte, Varietäten) strukturell immer mehr in Richtung der Standardsprache und zeigt sich dieser Prozess parallel im Sprachgebrauch eines Großteils der Sprachgemeinschaft, so kann dies in tatsächlichem Sprachwandel resultieren (vgl. Riehl 3 2014: 143). Hierbei werden meist komplexe Strukturen des Dialektes den weniger komplexen des Standards 87 Vgl. die in Kap. 1.3.3.2 zusammengefassten Sprecheraussagen zur Herkunft des Sassaresischen. 88 Standard ist als abstrakte Größe zu verstehen, da „[…] das Standarditalienische als gesprochene Sprache eigentlich nicht vorkommt“ (Haase 1999: 15), sondern im Alltag der Sprecher regional eingefärbt wird. Zwischen den extremen Polen des Basisdialektes und der Standardsprache formt sich das diatopisch differenzierte Regionalitalienische heraus, das als „regionale Umsetzung der Standardnormen“ (ibid.) bezeichnet werden kann. Im vorliegenden Fall ist dies das italiano regionale di Sardegna (vgl. hierzu Kap. 3.3). <?page no="164"?> 164 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod angepasst ( levelling ). Die Konvergenz in Richtung des Standards steht natürlich auch in engem Zusammenhang mit dessen Prestigehaftigkeit (vgl. ibid. 147). Durch den Abbau von insbesondere primären Merkmalen (vgl. Schirmunski 1928 / 1929) kann der Basisdialekt in einen Regionaldialekt ( Koinè ) übergehen. 89 Semisprecher, auf deren Sprachfähigkeit der Fokus der vorliegenden Studie liegt, unterscheiden sich nun allerdings wesentlich von Vollsprechern durch ihre eingeschränkten aktiven Kenntnisse des angestammten Idioms, da ihre Primärsozialisation im Italienischen erfolgte. In Kap. 2.2.1.4 wurde bereits ausführlich dargestellt, dass übereinstimmende Sprachwandelphänomene im Sprachgebrauch von Semisprechern nicht das Resultat der Generalisierung von Innovationen durch gemeinsames Sprechen des Idioms sind, sondern auf universellen Prinzipien beruhen oder durch den Konvergenzdruck der Dachsprache ausgelöst werden können, die alle Semisprecher als L1 erlernten und täglich sprechen. Aufgrund der enormen strukturellen Nähe der in Kontakt stehenden Sprachen - insbesondere im morphologischen und teilweise auch lexikalischen Bereich -, ist dennoch anzunehmen, dass der sich im Sassaresischen bzw. Sorsesischen vollziehende Sprachwandel zunächst einmal kontaktbedingt ist (vgl. Thomason 2014: 216) und insbesondere die Lexik stark aus dem Italienischen interferiert wird. Für Konstellationen von nicht-verwandten Sprachen wurde angenommen, dass lexical diffusion seltener eine Möglichkeit darstellt, über die lautliche Neuerungen den Wortschatz der angestammten Sprache erreichen, da dieser generell kaum mehr verwendet, sondern umgehend durch lexikalisches Material der dominanteren Sprache ersetzt wird. Bei strukturnahen Sprachen, wie eben auch im Standard-Dialekt-Kontakt, ergibt sich jedoch der Umstand, dass der Wortschatz zu großen Teilen kognat ist und sich oftmals lediglich durch wenige Besonderheiten in der Aussprache unterscheidet. Ob angestammtes lexikalisches Material des Sassaresischen lautliche Merkmale des kognaten Wortschatzes des Italienischen integriert und sich hierdurch selbst verändert oder, ob direkt auf den italienischen Wortschatz rekurriert wird und somit statt Laut- 89 Diese Phänomene können zum einen durch den „Konvergenzdruck der Standardsprache“ (Riehl 3 2014: 145) bedingt sein bzw. zum anderen - so beschreibt es Trudgill (1986: 98 f.) - durch den Kontakt zwischen Dialekten entstehen ( new-dialect formation , Trudgill 1994: 18). Bei der Koineisierung kommt es zu Mischungsprozessen, Simplifizierungen und levelling (d. h. Reduktion von Varianten). Hinzu kommt die Möglichkeit der reallocation , bei der einst diatopisch markierte Strukturen mit neuem Wert versehen werden: „[…] variants which were originally from different geographical dialects survive in the newly formed koinè, but not, obviously, as geographical variants. Rather, they survive as stylistic variants or social-class variants or, in the case of phonological variants, as different allophones of the same phoneme“ (Trudgill 1994: 20). <?page no="165"?> 2.4 Sprachverfall bei sprachstruktureller Verwandtschaft 165 ersatz doch eher kompletter Lexemersatz die Folge ist, kann daher nicht beantwortet werden. Wie in Kapitel 3 aufgezeigt werden wird, beinhaltet das sassaresische Lautinventar sämtliche standardsprachlichen Phoneme und übertrifft das italienische Inventar zudem an Komplexität. Das legt die Vermutung nahe, dass eine weitestgehend ,unsichtbare‘ Beeinflussung durch die Prestigesprache zu Tage tritt, d. h. dass keine Phoneme aus dem Italienischen hinzutreten, sondern, dass Kontraste, die in beiden Sprachen existieren, bestehen bleiben und Distinktionen, die lediglich das Sassaresische kennt, neutralisiert werden ( merger ). Bei strukturnahen Sprachen verläuft Sprachwandel fast unsichtbar: Der Wechsel zwischen den Idiomen ist so schnell möglich, dass nicht zwischen spontanem Code-mixing bzw. -switching und borrowing unterschieden werden kann. Es liegt folglich nahe, dass sich selbst im Sassaresischbzw. Sorsesischgebrauch von Vollsprechern lexikalisches Material des Italienischen feststellen lässt, das nicht zwangsläufig phonologisch eingepasst wird. Grund hierfür ist, dass Vollsprecher des Sassaresischen ebenso über eine hohe Kompetenz des Italienischen und dessen Lautinventar verfügen. Semisprecher weisen - anders als Vollsprecher - keine fundierten aktiven Kenntnisse beider Sprachen auf. Zur Beschreibung des Ausspracheverhaltens von Semisprechern (und auch Rusty Speaker ) eines der dominanten Sprache strukturnahen Idioms müssen daher die in Kapitel 2.3.4 vorgestellten Lautverfallsphänomene mit Hinblick auf die Standard-Dialekt-Dynamiken um folgende Annahmen ergänzt werden: - Da bei strukturnahen Idiomen zahlreiche kognate Strukturen bestehen, ist anzunehmen, dass diese auch im Ausspracheverhalten von Semisprechern erhalten bleiben (vgl. z. B. Andersen 1982: 97). - Da Semisprecher häufig lediglich passiv über das Lautinventar der angestammten Sprache verfügen, kann es insbesondere im Falle perzeptuell und artikulatorisch ähnlicher Laute zum shift des Artikulationsortes in Richtung der Standardlautung kommen. Hierbei können sich Phoneme kategorisch so verändern, dass sie mit standardsprachlichen identisch werden ( transfer ). Da der Wandel vor allem lexikalisch gesteuert ist, lässt sich zudem annehmen, - dass sich Hyperkorrekturen auf der Basis des Regionalitalienischen ergeben, die im Bewusstsein der Semisprecher als Dialektismen gewertet werden (vgl. Haase 1999: 284). - dass es durch „phonologische Dialektstereotypen“ (ibid.), die auf der Basis der italienischen Matrixsprache entstehen, aufgrund des zu großen Teilen kognaten Wortschatzes zu Hybridformen kommen kann. <?page no="166"?> 166 2 Sprachaufgabe, Sprachwechsel und Sprachtod Wie ausführlich in Kapitel 2.3.3.3 dargestellt, ist im Sprachverfall auch mit der Übergeneralisierung salienter Merkmale der angestammten Sprache zu rechnen. Im vorliegenden Fall, der sich durch die Wechselwirkungen zwischen strukturnahen Idiomen auszeichnet, stellte sich daher die Frage, ob es zum Abbau auffälliger Merkmale und somit zur Konvergenz in Richtung des Italienischen kommt oder, ob die enorme strukturelle Nähe der Sprachen seitens der Sprecher das Bewusstsein für die phonologischen Unterschiede in Bezug auf den Standard und den Wunsch, diese zu erhalten, sogar verstärkt. Umso interessanter ist daher das Entstehen von Hybrid- und Hyperformen, die das direkte Aufeinandertreffen der Sprachen und den dadurch auszuhandelnden Konflikt der Sprecher offenlegen: Sie können Ausdruck des Wunsches der Sprecher nach Erhalt charakteristischer Merkmale der angestammten Sprache sein. <?page no="167"?> 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen: postuliertes Ausgangssystem und analysierte Lautphänomene Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der aktuellen Ausgestaltung des Ausspracheverhaltens von Semi- und Vollsprechern des Stadtsassaresischen und des Sorsesischen und versucht hierbei, Rückschlüsse auf die derzeitige Ausprägung des sassaresischen Lautinventars zuzulassen. Die folgenden Kapitel sollen zunächst dazu dienen, das postulierte Ausgangssystem des Sassaresischen auf der Basis bisheriger Studien vorzustellen. An späterer Stelle soll auf der Basis der Analysen der Sprecherprofile (Kap. 5) im Rahmen der Synthese (Kap. 6) geklärt werden, inwieweit das Lautinventar der Varietäten Sassaris und Sorsos, so wie es in der Forschung bislang beschrieben worden war, heutzutage noch der Realität entspricht. Als Vorstudien, die sich mit der sassaresischen und / oder hiermit oftmals überschneidenden nordwestlogudoresischen Phonetik und Phonologie beschäftigen, wurden einerseits Werke und Beobachtungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts (Guarnerio 1892-1894, 1896-1898, 1902-1905, 1911; Bonaparte [1866] 2007, 1873, 1884; von Maltzan [1868] 2002; Spano 1873; Campus 1901, 1905; Bottiglioni 1919, 1925-1926, 1927, 1933, 1936; Wagner 1941; Petkanov 1941) sowie andererseits aktuellere Arbeiten des 20. und 21. Jahrhunderts (Sassu 1963; Gartmann 1967; Sanna 1975; Atzori 1985-1987; Contini 1987; Doro 2001; Sole 2003; Lupinu 2007a; Maxia 2 2003, 2006b, 2009, 2010a, 2012; Loporcaro 2009; Toso 2012) herangezogen. Von besonderer Bedeutung ist für das vorliegende Kapitel die Dokumentation der Phonetik und Phonologie des Sorsesischen von Christian Gartmann aus dem Jahr 1967 ( Die Mundart von Sorso ), Michel Continis Etude de geographie phonétique et de phonétique instrumentale du sarde (1987), Francesco Doros La lingua sassarese: grammatica del parlare di Sassari, Sorso, Portotorres, Stintino (2001) sowie Mauro Maxias Fonetica storica del Gallurese e delle altre varietà sardocorse (2012) 1 . Sämtliche in diesen Werken verwendete phonetische Darstellungsweisen wurden im Rahmen der vorliegenden Arbeit nach dem Transkriptionssystem der International Phonetic Association ( IPA ) wiedergegeben. 1 Vgl. auch die Zusammenfassung der auffälligsten phonetisch-phonologischen Merkmale des Galluresischen und des Sassaresischen in Maxia (2017b: 432-435 ). <?page no="168"?> 168 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen Zunächst werden der sassaresische Vokalismus und Konsonantismus überblicksartig und teils tabellarisch vorgestellt (Kap. 3.1.1 und 3.1.2). Hierbei wird die Diskussion um die Herkunft des Sassaresischen bzw. Verwandtschaft mit dem Korsischen und seiner spezifischen Lautstruktur erneut aufgegriffen (insb. Maxia 2010a, 2012; Toso 2012). Zusätzlich werden insbesondere die für das Stadtsassaresische und Sorsesische bezeugten Abweichungen bzw. Übereinstimmungen mit dem Logudoresischen sowie sog. Doppelentwicklungen (vgl. Gartmann 1967) angeführt (Kap. 3.1.3), die mitunter auch die Rolle der Kontaktsprache Logudoresisch bei der Herausentwicklung des Sassaresischen erneut beleuchten. Hierbei wird auch das Nordwestlogudoresische, das als Nachbarvarietät des Sassaresischen zu interpretieren ist, vorgestellt und auf phonetisch-phonologische Besonderheiten der logudoresischen Subvarietät näher eingegangen. Anschließend werden die markantesten Unterschiede des stadtsassaresischen und sorsesischen Lautinventars herausgearbeitet (Kap. 3.1.4). In einem nächsten Punkt (Kap. 3.2) werden die Kriterien, die der Auswahl der untersuchten Lautvariablen zu Grunde liegen, näher erläutert (Kap. 3.2.1) und die vokalischen (Kap. 3.2.2) und konsonantischen (Kap. 3.2.3) Lautphänomene einzeln vorgestellt. In einem letzten Schritt (Kap. 3.3) wird auf das Lautrepertoire des italiano regionale di Sardegna näher eingegangen, da dieses in heutiger Zeit als das wichtigste Kontaktidiom der Varietäten des Sassaresischen angenommen werden muss und folglich davon ausgegangen werden kann, dass das Regionalitalienische die aktuell ablaufenden Lautwandelprozesse des Sassaresischen maßgeblich mit beeinflusst. 3.1 Das postulierte Ausgangssystem Die Ausgestaltung der Phonetik und Phonologie der im Norden Sardiniens verbreiteten sardisch-korsischen Varietäten erlaubt eine deutliche Abgrenzung der Sprachgebiete: Continis Isoglossenkarten (vgl. ibid. 1987: Karte 95), die sich auf die Lautstruktur sardischer und sardisch-korsischer Varietäten beziehen, verdeutlichen, dass wir von einer „[…] véritable frontière linguistique séparant très nettement le sassarien et le gallurien (au nord) du reste du domaine sarde“ (Contini 1987: 500 f.) ausgehen können, die zudem äußerst stabil zu sein scheint („le tracé le plus stable“, ibid. 502). Das sassaresophone Sprachgebiet zeigt zwar zahlreiche „interessante phonetische Sonderentwicklungen“ (Rohlfs 1968: 490), allerdings weichen die Varietäten Sassaris, Porto Torres’, Stintinos und der Nurra im lautstrukturellen Bereich nur geringfügig voneinander ab (vgl. Maxia 2009: 37). Contini (1987) beweist im <?page no="169"?> 3.1 Das postulierte Ausgangssystem 169 Rahmen seiner lautgeographischen Arbeit einerseits die phonetische Selbstständigkeit („l’indépendance phonétique“) des Galluresischen und Sassaresischen in Gegenüberstellung zum Sardischen sowie andererseits, dass es sich hierbei um zwei sich voneinander unterscheidende Varietäten handelt (vgl. ibid. 580). Wie bereits in Kapitel 1.3.2 dargestellt, gab die Lautstruktur des Sassaresischen Anlass zu einer langanhaltenden Diskussion bezüglich der Sardizität bzw. Nicht-Sardizität des Sassaresischen. Diese Problematik wurde insbesondere von Guarnerio (1892-1894, 1896-1898, 1902-1905, 1911), Campus (1905), Bottiglioni (1919), Wagner (1943), Sanna (1975) und Maxia (2010a) diskutiert, die durch Auflistung einzelner lautlicher Phänomene abzuwägen versuchten, ob das Sassaresische eine eher logudoresische oder ,italienische‘ Lautstruktur aufweist. In den genannten Arbeiten wird meist keine nähere Aussage bezüglich der zugrunde liegenden ,italienischen‘ Varietät getroffen, sondern genuesische, korsische, pisanische und toskanische Varietäten unter dem Sammelbegriff Italienisch subsumiert. Große Schwierigkeiten bei der Zuordnung bereiten auch die zahlreichen Doppelentwicklungen, die sich im Vokalismus wie Konsonantismus zeigen: „un doppio, equilibrato, sviluppo che segue per metà l’italiano e per l’altra il logudorese, sicchè, anche in questo caso, non appare lecito parlare di regola e di eccezione“ (Sanna 1975: 92). Im Folgenden wird dies im Hinblick auf den Vokalismus und Konsonantismus des Sassaresischen detailliert herausgearbeitet. 3.1.1 Vokalismus Im Hinblick auf das Lautinventar des Sassaresischen wird bislang die These vertreten, dass sich der Vokalismus primär dem des italienischen Repertoires und der Konsonantismus eher dem sardischer Varietäten annähert (vgl. z. B. Sanna 1975: 94; Atzori 1985-1987: 155; Kap. 1.3.2). 2 Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass die Berücksichtigung lediglich eines Teilbereichs der Lautstruktur bei der Erforschung des Sassaresischen teils zu einseitigen und vorschnellen Ergebnissen führte, denn auch die Annahme, das Sassaresische sei eine Varietät des Italienischen rührt wohl u. a. daher, dass der sassaresische Vokalismus dem des Kontinentalitalienischen weitestgehend ent- 2 Vgl. hierzu z. B. Guarnerio (1902-1905: 511): „[…] il trattamento vocalico […] porta il sassarese più verso le ragioni dell’italiano che verso quelle del sardo […]“; Sanna (1975: 94): „italiano, in genere, nel vocalismo, sardo (logudorese-settentrionale) nel consonantismo, salvi alcuni elementi nuovi di carattere dialettale toscano o genovese“; Loporcaro (2009: 165): „[…] un vocalismo che presuppone un adeguamento parziale al toscano […]“. <?page no="170"?> 170 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen spricht. 3 Letztendlich ist jedoch nicht auszuschließen, dass unterschiedliche, jedoch nah verwandte Varietäten, bei der Herausbildung und Festigung des sassaresischen Vokalismus beteiligt waren. Zudem hat das Vokalsystem des Sassaresischen ebenfalls individuelle Entwicklungen zu verzeichnen, die dem Idiom einen ganz eigenen Charakter verleihen, „un unicum estremamente particolare“ (Pischedda 1983: 244). 4 Ferner sind im Bereich des Vokalismus Unterschiede des Sassaresischen zum Galluresischen erkennbar, was wiederum für eine separate Betrachtung der beiden Idiome spricht. 5 Ausgehend von den Arbeiten Continis und Maxias, die dem Einfluss des Korsischen eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung des Sassaresischen einräumen, ist der Vokalismus des Sassaresischen wohl am ehesten als „vocalisme de type toscano-corse“ (Contini 1987: 438) zu interpretieren, der sich von dem fünfgliedrigen Vokalsystem des Logudoresischen unterscheidet. Hieran schließt sich Maxia (2012) an, der betont, dass [i]l vocalismo tonico dell’italiano o toscano abbraccia, oltre alla Corsica centro-settentrionale e sud-occidentale, anche l’area sassarese sebbene con alcune eccezioni […] che sul piano storico dimostrano che alla formazione dell’odierna parlata di Sassari dovettero contribuire sia gruppi originari della Corsica cismontana e centro-occidentale sia gruppi che provenivano dall’estremo sud della Corsica. (Maxia 2012: 83) Auch Dalbera-Stefanaggi (1991, 2002) hebt die Notwendigkeit hervor, den Vokalismus des Sassaresischen „à travers le prisme corse“ (Dalbera-Stefanaggi 2002: 88) zu lesen und begründet dies mit der strukturellen Nähe des Sassaresischen zum Taravesischen im Bereich des Vokalismus. Die Vokale Ĭ und Ŭ öffneten sich zu [ɛ] und [ɔ], in der Entwicklung von Ē e Ō hingegen zeichnen sich starke Schwankungen ab: Ausschlaggebend für die Nähe zum Taravesischen ist eine gewisse Instabilität in der Veränderungsrichtung von etymologischem Ē und Ō: l’archétype du système aujourd’hui observable à Sassari semble être le système taravais; les discordances relatives au traitement de Ē, Ō, sont de même nature que celles que nous avons relevées en Corse: un certain nombre de réalisations [e] et [o], la postérieure surtout, se voient, sous pression d’un autre système […], substituer des 3 Auf diese weitverbreitete Annahme wies bereits Maxia (2012: 64) hin. 4 Vgl. hierzu Pischedda (1983: 246): „Il sistema vocalico sassarese si presenta alquanto composito, cosí come composita è la sua origine.“ 5 Im Galluresischen werden Ĭ / Ŭ - wie in den sardischen Varietäten - weitergeführt (vgl. Atzori 1964: 122). Allerdings kennt das Galluresische keine Metaphonie. Der sardische Vokalismus zeichnet sich durch lediglich drei Öffnungsgrade aus: Er beinhaltet fünf monophthongische Phoneme, offene mittlere Vokale bei Metaphonie, keine Diphthonge und kein Schwa (vgl. Krefeld 2004: 55 f.), weshalb Krefeld (2004: 56) folgert: „A priori questo sistema non ha niente di straordinario.“ <?page no="171"?> 3.1 Das postulierte Ausgangssystem 171 réalisations plus ouvertes [ɛ] et [ɔ]: le processus serait le même qu’au nord de l’aire taravaise; le sassarais manifesterait simplement un degré d’acomplissement moins avancé que le corse centro-septentrional. (Dalbera-Stefanaggi 2002: 88) Das Taravesische nimmt im Bereich des Vokalismus eine Zwischenposition zwischen dem còrso centro-settentrionale und dem Südkorsischen ein. Während der Vokalismus des còrso centro-settentrionale weitestgehend die gesamtromanische Entwicklung eingeschlagen hat - mit der Ausnahme, dass toskanischem [ɛ] und [ɔ] im Taravesischen [e] und [o] entsprechen und umgekehrt - weist das Südkorsische einen Vokalismus auf, der sich dem sardischer Varietäten annähert. 6 Das taravesische Lautsystem entspricht nun - mit einigen Ausnahmen - dem des Nordkorsischen im Hinblick auf die Entwicklung von Ĭ und Ŭ und dem südkorsischen Zusammenfall der Entwicklungen von Ĕ / Ŏ und Ē / Ō (vgl. Barbato 2005-2006: 9). Contini (1987: 533) stellte für den Haupttonvokalismus des Sassaresischen ein Inventar von sieben Vokalen auf, das die Asymmetrie in der Entwicklung der lateinischen Vokalquantitäten zu erkennen gibt. Es hat sich daher weitestgehend durchgesetzt, von einem „vocalismo asimmetrico“ (Loporcaro 2009: 165) zu sprechen: Abb. 6: Quantitätenkollaps des Sassaresischen nach Contini (1987: 533) Das sassaresische Vokalinventar entspricht somit - betrachtet man die Anzahl und Qualität der Phoneme - dem des Italienischen, allerdings, so Doro (2001: 15), zeichnen sich die sassaresischen (und auch sardischen) Vokale durch einen „suono più chiaro o più stretto delle corrispondenti vocali italiane“ aus. Hinzu kommt, dass der Herausentwicklung der sassaresischen Vokale, wie oben ersichtlich, ein ganz eigener Quantitätenkollaps zugrunde gelegt werden muss. Die Verteilung der sieben Vokalphoneme des Sassaresischen entspricht nicht der des Italienischen. Der Kontrast von / ɛ/ und / e/ sowie von / ɔ/ und o/ ist aller- 6 Im Gegensatz zum Sardischen beeinflusst der Auslautvokal nicht den Öffnungsgrad des Tonvokals, d. h. das Phänomen der Metaphonie ist im Sassaresischen nicht vorhanden (vgl. Gartmann 1967: 17 f.). <?page no="172"?> 172 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen dings auch im Sassaresischen phonologisch relevant: Als Minimalpaare können u. a. folgende Beispiele genannt werden: / ˈkojppu/ (it. ,corpo‘) vs. / ˈkɔjppu/ (it. ,colpo‘) und / ˈdzeru/ (it. ,cielo‘) vs. / ˈdzɛru/ (it. ,zero‘) (vgl. Muzzo 1953; Gartmann 1967). Die für das Italienische typische Weiterentwicklung der halboffenen Vokale zu Diphthongen blieb im Sassaresischen aus. 7 Insbesondere im Bereich des Öffnungsgrades der mittleren Vokale ist jedoch von starken Unregelmäßigkeiten und Schwankungen auszugehen. Die Frage der Entstehung der asymmetrischen und instabilen Entwicklung der lateinischen Vokalquantität beschäftigte insbesondere Bottiglioni: Bottiglioni (1919: 44), der das Sassaresische nach wie vor als eine sardische - wenn auch stark durch das Toskanische beeinflusste - Varietät klassifiziert, setzt hierfür hyperkorrekte Ausgleichsformen an, die sich aus dem Kontakt mit dem Toskanischen ergeben haben könnten. Diese manifestierten sich in der Öffnung von [e] und [o] zu [ɛ] und [ɔ] (vgl. ibid. 1936: 81-100). Dies aufgreifend betont Paulis (1984: XX ): „[…] si sforzarono di imitare il modello di maggior prestigio, cercando di correggere il loro regionalismo, che per un’esagerazione ipercorrettiva pronunciarono ɛ ed ɔ le e , o toscane“ (Herv. i. O.). Die Annahme einer hyperkorrekten Lautentwicklung wird von Rohlfs (1949) gestützt. In Bezug auf das Korsische behandelt er das Phänomen als […] eine hyperkorrekte Nachahmung des toskanischen e , bei der als Reaktion gegenüber dem älteren i ( piru , siti , crista , dittu ) der neue Laut e stärker differenziert wurde. Auch alte Quantitätsunterschiede mögen bei dieser Entwicklung mitgespielt haben, indem die im Korsischen kürzer (als im Toskanischen) gesprochenen Vokale mit einer gewissen Leichtigkeit zur Öffnung neigen konnten […]. (Rohlfs 1949: 137, § 65) 8 Bottiglioni (1925-1926) legt für diese Entwicklung des Haupttonvokalismus in offener und geschlossener Silbe fünf Phasen zugrunde: […] sembrerebbe a tutta prima doversi concludere che il sass. conoscesse la fusione, comune a tutto il territorio romanzo, di Ē con Ĭ, di contro al gall. che li tenne distinti. Ma non bisogna dimenticare che l’influenza toscana operò nel sass. diversamente per le due vocali, riducendo ad e quasi tutti gli ɛ da Ē, e risparmiando quasi del tutto gli ɛ da Ĭ; e questo ci porta ad ammettere che il sass. avesse un tempo, come il gall., ɛ da Ē ed i da Ĭ o, per lo meno, che, al momento della penetrazione toscana, l’esito di Ē 7 Betonte Diphthonge wurden monophthongiert: So entwickelte sich AE > [e] (z. B. zelu , it. ,cielo‘), OE > [ɛ] (z. B. pena , it. ,pena‘). AU kennt zwei Ausgänge und zwar AU > [ɔ] (PAU- CUM > poggu , it. ,poco‘) sowie AU > [a] (LAURUM > araru , it. ,alloro‘) (vgl. Guarnerio 1896-1898: 139; Gartmann 1967: 29; Pischedda 1983: 248; Maxia 2012: 88). Der Reflex AU > [a] entspricht der logudoresischen Lautentwicklung (vgl. z. B. Maxia 2012: 88). 8 Vgl. ebenso die Herausbildung von [ɔ] (vgl. Rohlfs 1949: 151, § 83). <?page no="173"?> 3.1 Das postulierte Ausgangssystem 173 non suonasse perfettamente identico all’esito di Ĭ, cosicché le poche voci con e penetrate dal toscano […], non valsero a soppiantare le condizioni originarie. (Bottiglioni 1925-1926: 182 f.) Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen: Lat. Toskanisch I. Sass. II . Sass. III . Sass. IV . Sass. V. Sass. offene Silbe Ĕ jɛ e e(ɛ) e(ɛ) e(ɛ) e(ɛ) geschlossene Silbe ɛ offene Silbe Ē e ɛ e(ɛ) e(ɛ) e(ɛ) e(ɛ) geschlossene Silbe e e e e offene/ geschlossene Silbe Ĭ e i ɛ/ (i) ɛ/ (i) ɛ/ (i) ɛ/ (i) offene/ geschlossene Silbe Ī i i i i i i offene Silbe Ŏ wɔ o o o o o geschlossene Silbe ɔ offene Silbe Ō o ɔ ɔ/ (o) ɔ/ (o) ɔ/ (o) ɔ/ (o) geschlossene Silbe ɔ ɔ ɔ ɔ offene/ geschlossene Silbe Ŭ o u ɔ/ (u) ɔ/ (u) ɔ/ (u) ɔ/ (u) offene/ geschlossene Silbe Ū u u u u u u Tab. 3: Phasen des sassaresischen Vokalismus nach Bottiglioni (1925-1926: 192) <?page no="174"?> 174 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen Dies bedeutet wiederum, dass sassaresische Wortformen mit [i] Relikte dessen sein könnten, was ursprünglich die Regel zu sein schien (vgl. Bottiglioni 1925-1926: 183). Bottiglioni geht folglich von einer gesamtsardischen Entwicklung in [i] aus: [i] sei als Überbleibsel einer älteren Sprachstufe - d. h. als logudoresischer Substrateinfluss - einzustufen und nicht als spätere Entlehnung. Dieser Meinung schließen sich auch Paulis (1984: XX ) und Sanna (1975: 87) an, wobei letzterer betont: „[…] parlare di prestiti è assurdo e antistorico. È certamente più vero parlare di una componente sarda a pieno diritto.“ Guarnerio (1892-1898) und Gartmann (1967: 22) vertreten hingegen die Ansicht, dass die Öffnung von Ĭ > [ɛ] als grundlegender Wandel des Sassaresischen einzustufen sei, während es sich bei Formen mit [i] um logudoresische Entlehnungen handle. 9 Ferguson (1976) lehnt Bottiglionis Annahme, bei der Öffnung von [e] und [o] zu [ɛ] und [ɔ] handle es sich um hyperkorrekte Erscheinungen, ab: Laut Ferguson (1976: 105) ist diese Theorie „[…] patently implausible in the light of modern research on the nature of language interference and contact phenomena.“ 10 Er geht davon aus, dass ursprüngliches [ɛ] (< Ĕ) und [ɔ] (< Ŏ) in der Tonsilbe diphthongierten ([jɛ], [wɔ]), während sich [e] und [o] (< Ĭ, Ŭ, Ō) zu [ɛ] und [ɔ] öffneten. Dieser Schritt konnte sich nach Fergusons Überlegungen vollziehen, da die Öffnung von [e] und [o] (< Ĭ, Ŭ, Ō) zu [ɛ] und [ɔ] folglich nicht mit der Entwicklung von [ɛ] (< Ĕ) und [ɔ] (< Ŏ) zusammenfiel: diese wurden von der Diphthongierung erfasst. Diese Diphthonge ([jɛ], [wɔ]) schlossen sich daraufhin und wurden erneut über die Entwicklung [jɛ] > [je] > [ee] > [e] und [wɔ] > [wo] > [oo] > [o] monophthongiert. Maxia greift die Argumentation über die sardischen Entlehnungsschübe auf. So betont er, dass das Sassaresische - anders als das Galluresische und Sedinesische - im Bereich der Vokalqualität von [e] und [o] „[…] più spesso lo stesso timbro del prestito“ annehmen (Maxia 2012: 86). Neben sardischen kann es sich, so Maxia, oftmals auch um spanische oder katalanische Entlehnungen handeln: z. B. log. bértula → berthura [ˈbeɬ(t)ura] (it. ‚bisaccia‘) oder auch sp. boléo → buréu (it. ‚vortice‘). Hinzu kommt die Möglichkeit ligurischen Kontakteinflusses: Le vocali e , o toniche alternano aperture e chiusure in un quadro complicato da influssi che spesso hanno origine delle vicende linguistiche della Corsica e che in certi casi 9 Vgl. hierzu Gartmann (1967: 22) in Bezug auf [i]: „Da die meisten Hirten von auswärts stammen, sind besonders in der Hirtensprache log. Lehnwörter häufig […].“ 10 Ferguson (1976: 105): „Presumably, the speakers of this posited ‘pre-Tuscan’ form of Corsican were not at all confused by the fact that in many words […] their habitual use of / i-u/ did indeed conform to the Tuscan standard, just as in numerous other instances the occurrences of / e-o/ in their ‘native Sardinian’ resembled Tuscan usage.“ <?page no="175"?> 3.1 Das postulierte Ausgangssystem 175 dipendono dall’influsso ligure. È difficile stabilire se questo influsso sia di diretta origine continentale oppure sia stato mediato dalle antiche colonie di Genova in Corsica. (Maxia 2012: 86; Herv. i. O.) Letztendlich, so Maxia (2012: 85), hängt die individuelle Entwicklung der Vokalqualität in einzelnen Wortformen davon ab, ob die Form direkt aus dem Lateinischen weitergeführt wurde, der spätere Einfluss des Toskanischen zum Tragen gekommen war oder ob es sich um Entlehnungseinflüsse, wie z. B. aus dem Sardischen, handelt. Doro (2001: 16) rät daher davon ab, konkrete Regeln für den Öffnungsgrad der mittleren Vokale festzulegen, da das Ausmaß der Ausnahmen zu enorm ist. Außerdem hängt die Vokalqualität des Sassaresischen stark von der Silbenstruktur sowie der konsonantischen Umgebung der betonten mittleren Vokale ab (vgl. hierzu insb. Doro 2001: 15 f.; Maxia 2012: 87 f.). Wenn nun bereits für das Sassaresische Sassaris von starken Schwankungen im Bereich der mittleren Vokale auszugehen ist, so sind für das Sorsesische allerdings noch uneinheitlichere Entwicklungen anzusetzen. Auf dieser Grundlage kommt Gartmann (1967: 18) zu folgendem Schluss: „Es ist indessen für Sorso untunlich, feste ‘Regeln’ aufzustellen, weil die Zahl der ‘Ausnahmen’ zu hoch ist.“ Große Schwankungen notiert Gartmann insbesondere im Hinblick auf den Öffnungsgrad der mittleren Vokale in ein und demselben Lexem, z. B. [ˈfrɛddu] neben [ˈfreddu] (< FRIGIDU, it. ,freddo‘), [ˈsɔri] neben [ˈsori] (< SOLE) oder [ˈnibɔdi] neben [ˈnibodi] (< NEPOTE, it. ,nipote‘) 11 . Gartmann (1967: 25) geht für die Doppelentwicklung von Ŭ > [u]/ [ɔ] nicht von logudoresischen Entlehnungen bei der Bewahrung von [u] aus (vgl. Guarnerio), sondern nimmt an, „[…] dass eine Schicht mit [ɔ] sich über eine ältere mit erhaltenem u gelegt hat“. 12 Im Sassaresischen Sassaris haben Ĭ bzw. Ŭ die Reflexe [ɛ] bzw. [ɔ], während im Sorsesischen [i]/ [ɛ] bzw. [ɔ]/ [u] das Resultat sind. Abschließend notiert Gartmann (1967: 87) folgende „Doppelentwicklungen“ für den Bereich des Haupttonvokalismus: Ĭ > [i]/ [ɛ], Ŭ > [ɔ]/ [u], Ō > [ɔ]/ [o], AU > [ɔ]/ [a] und unbetontes AU > [u]/ [a]. Zusammenfassend lassen sich die regulären Entwicklungen des logudoresischen, stadtsassaresischen und sorsesischen Vokalismus gegenüber gestellt wie folgt darstellen (vgl. Gartmann 1967; Loporcaro 2009; Maxia 2012: 83): 13 11 Wobei ihm eine ältere Informantin in Bezug auf letzteres Beispiel erklärte: „Certe volte diciamo ɔ e certe volte o; è lo stesso“ (Gartmann 1967: 88). 12 Auch die von Gartmann verwendeten phonetischen Zeichen werden hier nach dem IPA - Inventar wiedergegeben. 13 In der Tabelle angeführte Beispiele sind Loporcaro (2009: 166) entnommen, der sich wiederum auf Guarnerio (1892-1898) und Contini (1987: 441) bezieht. Die von Loporcaro <?page no="176"?> 176 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen Lat. Ī Ĭ Ē Ĕ Ā Ă Ŏ Ō Ŭ Ū Log. i e a o u Sass. i [ˈfiːru] it. ,filo‘ ɛ 14 [ˈsɛddi] it. ‚sete‘ [ˈpɛːra] it. ,pera‘ e 15 [ˈteːra] it. ,tela‘ [ˈfeːri] it. ,fiele‘ a [kaˈ baɖɖu] it. ,cavallo‘ o 16 [ˈnoːβu] it. ‚nuovo‘ ɔ 17 [ˈsɔːri] it. ,sole‘ [ˈkrɔddzi] it. ,croce‘ u [ˈnuɖɖa] it. ,nulla‘ [ˈtruɖɖa] it. ,mestola‘ Sors. i i / ɛ e a o ɔ / o u Tab. 4: Vokalismus des Logudoresischen, Sassaresischen und Sorsesischen Im unbetonten Vokalismus reduziert sich das Lautinventar der sassaresischen Varietäten unabhängig von der Stellung in Bezug auf die Tonsilbe auf die drei Vokale [i], [a] und [u]. AU kann neben [a] (wie im Logudoresischen) einen Reflex in [u] aufweisen (vgl. Gartmann 1967: 31; Pischedda 1983: 250). 18 AE wird zu [i] monophthongiert (vgl. Guarnerio 1896-1898: 143; Pischedda 1983: 250). Unbetonte Vokale im Hiat nehmen halbvokalischen Charakter an (vgl. Gartmann 1967: 39), so dass fallende und steigende Diphthonge entstehen. Allerdings kann statt [u] und [i] auch [o] und [e] wahrgenommen werden oder, „[…] was weitaus häufiger ist, sehr unstabile Laute mit vielen individuellen Varianten zwischen o und u, bzw. zwischen e und i, die nur sehr schwer transkribiert werden können“ (Gartmann 1967: 93). 19 notierte Angabe der Längung von Vokalen in offener betonter Silbe wird an dieser Stelle übernommen. 14 Bottiglioni (1925-1926: 192, § 19) notiert [ɛ/ (i)]. 15 So auch Guarnerio (1892-1894: 135-138). Bottiglioni (1925-1926: 192, § 19) notiert [e/ (ɛ)] (in geschlossener Silbe aus Ē immer nur [e]); Maxia (2012: 83) notiert Ĕ > [e] und Ē > [ɛ/ (e)]. 16 So auch Bottiglioni (1925-1926: 192, § 19); Guarnerio (1896-1898: 134) notiert zusätzlich vereinzelt [ɔ] (z. B. [ˈkɔri], it. ,cuore‘). 17 So auch Guarnerio (1896-1898: 133, 137): Ō > [ɔ], aber auch vereinzelt [o / u]; Ŭ > [ɔ]. Bottiglioni (1925-1926: 192, § 19) notiert Ō > [ɔ/ (o)] und Ŭ > [ɔ/ (u)]. Maxia (2012: 83) notiert Ō > [ɔ] und Ŭ > [ɔ/ (u)]. 18 Abweichend hiervon auch protonisches E > a (z. B. akkollu , it. ,eccolo‘), vor rroft > a (z. B. sarraddu , it. ,serrato‘), in Pänultima ebenfalls oftmals > a (z. B. nummaru , it. ,numero‘), I > selten a (z. B. angunala , it. ,anguinaglia‘), O > selten a (z. B. aliba , it. ,oliva‘), U > selten i (z. B. imbiliggu , it. ,ombelico‘) (vgl. Guarnerio 1896-1898: 140-143). Für weitere Ausnahmen und Sonderentwicklungen vgl. Pischedda (1983) und Maxia (2012: 91-100). 19 Vgl. hierzu Gartmanns (1967: 93) Beobachtungen: „Diese ‘unreinen’, d. h. schlaffer artikulierten Vokale tauchen in besonderem Masse bei älteren Leuten, aber auch in den untern Volkskreisen auf. Doch handelt es sich dabei keineswegs um Ueberreste einer ältern <?page no="177"?> 3.1 Das postulierte Ausgangssystem 177 Die Frage nach der Dauer der vokalischen Artikulation ist in der Forschung bislang weitestgehend unberücksichtigt geblieben, d. h. sie wurde nicht notiert. Lediglich Loporcaro (2009) transkribiert vokalische Länge in offener betonter Silbe im Sassaresischen (z. B. [ˈteːra], it. ,tela‘). Gartmanns ohrenphonetischer Eindruck lässt auf eine starke Längung der Tonvokale des Sorsesischen schließen, allerdings verzichtet Gartmann wie viele Forscher vor und nach ihm auf die Notierung der Länge, „[…] weil diese allzusehr vom Sprechenden abhängt“ (Gartmann 1967: 15). 3.1.2 Konsonantismus Während im Hinblick auf den Vokalismus des Sassaresischen oftmals die Meinung vertreten wird, dass dieser eher dem des italienischen Systems entspricht, zeigen sich im Konsonantismus große Übereinstimmungen mit dem Repertoire sardischer Varietäten (vgl. z. B. Sanna 1975: 94; Atzori 1985-1987: 155). Im Folgenden werden die wesentlichen konsonantischen Besonderheiten in Abgrenzung zum standarditalienischen Konsonantensystem angeführt und auf die Parallelen der Formen zu korsischen, ligurischen und sardischen Varietäten auf der Basis der aktuellsten Forschungen hingewiesen. Aufgrund der typologischen Nähe der Kontaktvarietäten ist eine eindeutige Zuteilung jedoch ausgeschlossen. 3.1.2.1 Postuliertes Konsonantensystem Contini (1987: 567) entwirft für den Konsonantismus des Sassaresischen ein Inventar von 28 Phonemen: / p/ , / t/ , / k/ , / b/ , / d/ , / ɖɖ/ , / ɡ/ , / f/ , / v/ , / s/ , / z/ , / ts/ , / dz/ , / ʃ/ , / ʒ/ , / tʃ/ , / dʒ/ , / x/ , / m/ , / n/ , / nn/ , / ɲ/ , / l/ , / ʎ/ , / r/ , / rr/ , / j/ , / w/ . Dieses erweitert Sole (2003: 50) um die Geminate / bb/ (z. B. Minimalpaar eba , it. ‚acqua‘ vs. ebba , it. ‚cavalla‘). Hierbei wird deutlich, dass das Lautsystem des Sassaresischen sämtliche konsonantischen Phoneme des Standarditalienischen beinhaltet sowie um einige Besonderheiten erweitert wird. Die durch Sole (2003) aufgegriffene Thematik der Anerkennung von Geminaten als eigenständige Phoneme ist bis heute nicht einmal für das Standarditalienische zufriedenstellend geklärt worden (vgl. Lichem 1969: 72), da genau wie im Sassaresischen die Länge intervokalischer Konsonanten mit der Länge der vorausgehenden Tonvokale korreliert. Schicht, also Bewahrung von unbetontem O, bzw. E wie im Log.; denn erstens können auch primäre U und I diese offene Nuance haben, und zweitens ist die Aussprache der Alten und der Tagelöhner in allem viel schlaffer. Zudem habe ich beobachtet, dass versch. Gewährsleute in müdem Zustande die betr. Vokale weniger geschlossen artikulieren.“ <?page no="178"?> 178 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen Das Sassaresische unterscheidet sich von den zahlreichen von Contini untersuchten Varietäten durch die Präsenz der Phoneme / ts/ und / dz/ (z. B. / ˈpittsu/ , it. ,pizzo‘ vs. / ˈpiddzu/ , it. ,panna‘) sowie / tʃ/ und / dʒ/ (z. B. / ˈottʃi/ , it. ,occhio‘ vs. / ˈoddʒi/ , it. ,oggi‘). Hinzu kommt / x/ , das in phonologischer Opposition zu / k/ steht (z. B. / pixˈxa/ , it. ,pescare‘ vs. / pikˈka/ , it. ,scalpellare‘) sowie die Neutralisation der Opposition / r/ ~ / l/ zugunsten von / r/ am Silbenende, vor [t] und [d] sowie in intervokalischem Kontext. Wesentliche Unterschiede zum standarditalienischen Konsonanteninventar zeigen sich in der Präsenz von retroflexem / ɖɖ/ , häufigem / ʒ/ 20 , dem Frikativ / x/ und gelängtem Vibranten / rr/ . Phoneme, die im Standarditalienischen sowie im Sassaresischen vorhanden sind, können sich in den beiden Idiomen im Hinblick auf ihre Verteilung und Frequenz unterscheiden (insb. / z/ , dessen Phonemstatus im Italienischen prekär ist und umgekehrt jedoch als sehr markanter Laut des Sassaresischen gilt). 21 Das durch Contini und Sole aufgestellte Konsonanteninventar erfasst natürlich lediglich diejenigen Laute, denen potentiell Phonemstatus zugeschrieben werden kann. Allerdings zeigt das Sassaresische vor allem auf phonetischer Ebene interessante Sonderentwicklungen: Insbesondere die Ausbildung dentaler und velarer Frikative (darunter auch / x/ ) aus komplexen etymologischen Konsonantennexus wirft Fragen auf. Während velare Frikative - zumindest in geminierter Form - Phonemstatus zu haben scheinen, ist es fraglich, ob dies auch für die lateral-alveolaren Frikative [ɬ] und [ɮ] zutrifft oder ob es sich hierbei um kombinatorische Varianten handelt (vgl. Kap. 3.2.3.2). Eine weitere Besonderheit des Sassaresischen ist die Anlautmutation bestimmter Konsonanten im intervokalischen Kontext. Diese unterliegen Abschwächungsprozessen bzw. Modifikationen in Form von Verstimmhaftungen, Lenisierungen, Betazismen und Rotazismen (vgl. Kap. 3.2.3.3). 3.1.2.2 Sassaresisch vs. Korsisch, Ligurisch und Sardisch Zur schematischen Darstellung der strukturellen Ähnlichkeiten bzw. Übereinstimmungen des Sassaresischen mit korsischen, ligurischen und sardischen Varietäten auf lautlicher Ebene wird im Folgenden auf die detaillierte Zusammenstellung von Toso (2012: 56-62) zurückgegriffen. 20 Im Standarditalienischen findet sich / ʒ/ lediglich in Entlehnungen, z. B. it. ,beige‘ [ˈbɛːʒ]. 21 Vgl. hierzu Melis (2005: 38): „La serie delle consonanti nella varietà sassarese presenta sostanzialmente le stesse caratteristiche dell’italiano, differendo da quest’ultimo per la s sonora e per la presenza di suoni speciali che derivano dalla formazione di nessi consonantici complessi nella loro realizzazione“ (Herv. i. O.). <?page no="179"?> 3.1 Das postulierte Ausgangssystem 179 Mit dem còrso centro-occidentale teilt das Sassaresische - laut Toso (2012) - zahlreiche Merkmale, wobei dies eine Übereinstimmung mit anderen Idiomen nicht ausschließt: - Übergang von -LJ- > [ʎʎ] („l’esito «italiano»“, Toso 2012: 57), z. B. sass. figlioru vs. sard. fidzólu und gall. fiddolu (it. ,figlio‘) - Lenisierung wortinitialer Konsonanten nach unbetontem Vokal, z. B. cani → [lu ˈɡani] (it. ,il cane‘) (vgl. Kap. 3.2.3.3) - Betazismus: v -/ v - > [b]/ [β], wie auch im Logudoresischen, z. B. baddi (it. ,valle‘), cia[β]i (it. ,chiave‘) (vs. gall./ südkors. ventu , it. ,vento‘) - -RN- > rr -, z. B. sass., gall. und sard. corru (it. ,corno‘) - „la lenizione sassarese“ • Sonorisierung sowie Geminierung einfacher stimmloser intervokalischer Konsonanten (z. B. saruddu , it. ,saluto‘) sowie Ausweitung der Geminierung auf etymologisch stimmhafte Verschlusslaute (z. B. triggu , it. ,grano‘ < sp. trigo ) (vgl. Toso 2012: 58). 22 • Etymologische stimmhafte Konsonanten werden hingegen lenisiert. 23 22 So auch Rohlfs (1968: 492, Fn 7): „Die auffällige Doppelkonsonanz […] ist ein charakteristisches Merkmal von Sassari, das im südlichen Corsica sehr verbreitet ist.“ Allerdings bestehen zahlreiche Ausnahmen, z. B. Längungen ohne Sonorisierung wie -T- > tt (z. B. nattura , it. ,natura‘) (vgl. Maxia 2012: 123). Für intervok. -TS- > dz notiert Maxia (2012: 142) hingegen keine Geminierung. Intervokalisches -F- und -Swerden lediglich sonorisiert, aber nicht gelängt; auch intervokalisches -Munterliegt der Längung (z. B. ommu , it. ,uomo‘) (vgl. ibid. 160). -Nwird nicht immer gelängt (z. B. zìnnara , it. ,cenere‘ vs. cani , it. ,cane‘) (vgl. ibid. 161). Weinrich (1958: 79) beschrieb diese lautlichen Prozesse als „[e]twas sehr Seltsames, für das ich aus dem romanischen Raum keine Parallele wüßte“, da das Sassaresische „[…] ebenso wie die Sprachen der sog. Westromania versucht, die phonologische Zwischenstellung der Konsonantengruppen zu klären und sie nicht nur im phonologischen Bewußtsein, sondern auch in der phonetischen Realisierung einem der beiden phonologischen Pole zuzuschlagen. Im Gegensatz zum Französischen aber normiert das Sassaresische die Konsonantengruppen nicht zur Kürze hin, sondern schlägt sie weitgehend den Langkonsonanten zu“ (ibid. 241). Ob von einer tatsächlichen Geminierung ausgegangen werden kann, ist jedoch fraglich. So betont Contini (1987: 60): „Pour le même mot, la durée peut varier considérablement non seulement d’un parler à l’autre mais aussi, dans un même parler, d’un locuteur à un autre“ und schlägt daher die Transkription / b(b)/ vor, z. B. / kab(b)u/ (it. ,testa‘) (vgl. ibid. 74; so auch Lupinu 2007a: xxiv). Vgl. hierzu auch Gartmann (1967: 59) zum Sorsesischen: „Die Länge der Doppelkons., ob primär oder sekundär, ist jedoch sehr labil. Je nach dem Sprechenden und der Stellung im Satz ist die Intensität sehr deutlich, nur schwach oder überhaupt nicht wahrnehmbar. Nachtonig ist die Dopplung in der Regel intensiver als vortonig. Bei den unteren Volksschichten ist die Artikulation aber auch nach dem Tonvokal, auf dem lange verharrt wird, äusserst schlaff.“ 23 So wird z.b. intervokalisches -Bzu [β] lenisiert, aber vereinzelt auch gelängt, z. B. subbiddu (it. ,subito‘) (vgl. Maxia 2012: 121). Hin und wieder fällt -Baus, wie auch -V- (vgl. Guarnerio 1896-1898; Bottiglioni 1919). <?page no="180"?> 180 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen Ebenso zeigt das Sassaresische im lautlichen Bereich starke Affinitäten zum Ligurischen. Diese Ähnlichkeiten können zum einen auf den genuesischen Einfluss zur Herrschaftszeit der Doria im Norden Sardiniens zurückgeführt werden, zum anderen zu einem späteren Zeitpunkt durch den Sprachkontakt mit dem stark durch das Ligurische überformte Korsische Ajaccios in die Sprache eingegangen sein. Das Sassaresische und das Korsische Ajaccios zeigen daher folgende parallele Entwicklungen, die dem frühen ligurischen Einfluss zuzuschreiben sind, wie den Rotazismus von intervokalischem -L- > r - ( ara , it. ,ala‘) sowie an der Wortfuge ( a ra runa , it. ,alla luna‘) (vs. Nordsardisch) 24 . Mit dem Dialekt Ajaccios teilt das Sassaresische zusätzlich folgende Merkmale, die jedoch auch als Ergebnis des korsisch-ligurischen Sprachkontaktes interpretiert werden können (vgl. Toso 2012: 59 f.): - Wandel von präkonsonantischen -L-, -R- und -S-: im Sassaresischen (sowie in einigen nordlogudoresischen Varietäten) verändern sich -LC-, -RC- und -SCzu einem stimmlosen velaren Langfrikativ (z. B. barcha [ˈbaxxa], it. ,barca‘) sowie -LG-, -RG- und -SGzu der stimmhaften Variante (z. B. algha [ˈaɣɣa], it. ,alga‘); -L-, -R- und -Swerden vor -Tzu einem stimmlosen lateral-alveolaren Frikativ (z. B. althu [ˈaɬ(t)u], it. ,alto‘) und vor -Dzu einem stimmhaften (z. B. caldhu [ˈkaɮ(d)u], it. ,caldo‘) (vgl. Kap. 3.2.3.2) - -L-, -R- und -Swerden vor -B-, -V-, -P-, -F- und -Mzu [j] vokalisiert (z. B. aiburu [ˈajburu], it. ,albero‘) Die einst im Turritano verbreiteten sardischen Varietäten zeigen ebenfalls Merkmale genuesischer Prägung, die durch Kontaktprozesse wiederum Eingang in das Sassaresische gehalten haben können: „[…] questi antichi tratti di impronta «ligure» vanno inquadrati nel contesto dell’interferenza sarda sul sassarese […]“ (Toso 2012: 61): - Entwicklung von CE-, CJ- und -CJzu [ts] (z. B. zentu [ˈtsentu], it. ,cento‘) vs. log. chentu und kors./ gall. centu - Assimilation von -L- und -Rin Kombination mit [-tʃ-, -ts-, -s-] (z. B. fazzu [fatˈtsu], it. ,falso‘) - eine Entwicklung die ebenfalls im Altgenuesischen zu finden ist (vgl. auch Maxia 2010a: 189, Fn 318) - Palatalisierung von Konsonant(ennexus) + -L-: das Sassaresische (sowie Nordsardische) folgt dem genuesischen Vorbild im Hinblick auf die Entwicklung von CL- und GL- (z. B. ciabi [ˈtʃaβi], it. ,chiave‘, gianda [ˈdʒanda], it. 24 Vgl. hierzu Maxia (2006b: 244): „Questo fenomeno è attestato tuttora nel dialetto di Bonifacio, centro che ebbe intensi contatto con Sassari e nel quale si parla ancora una varietà arcaica di genovese il cui impianto risale al secolo XII.“ Vgl. auch Maxia (2010a: 185). <?page no="181"?> 3.1 Das postulierte Ausgangssystem 181 ,ghianda‘). In allen anderen Fällen erfolgt die Bildung wie im Galluresischen, d. h. Konsonant + -L- > [j] Auch die Entwicklung von -RSzu ss könnte ursprünglich genuesischer Herkunft sein (z. B. gen. fasse vs. sass./ gall. fassi , it. ,farsi‘; vgl. Maxia 2010a: 189, Fn 318); allerdings zeigt sich diese Entwicklung auch im Logudoresischen und Galluresischen (vgl. Toso 2012: 61). Maxia (2010a: 189, Fn 318) nennt zusätzlich die Assimilation von -RV- > vv - (z. B. gen. lassave vs. sass./ gall. lassavvi , it. ,lasciarvi‘). Aus dem Sardischen selbst stammen möglicherweise die Verwendung von prothetischem i vor ST-, STR-, SC- und SCR- (z. B. ischora [ixˈxɔra], it. ,scuola‘) (nicht im Gall.) (vgl. Toso 2012: 62). 3.1.3 Sassaresisch / Sorsesisch und (Nordwest-)Logudoresisch 3.1.3.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Sassaresisch und Logudoresisch Wendet man den Blick, so wie bereits Gartmann (1967: 83), den Merkmalen des Vokalismus und Konsonantismus zu, die das Sassaresische nicht mit dem Logudoresischen teilt - ohne dabei die Herkunft der Phänomene zu diskutieren, so zeigt sich der durch die linguistische Analyse erkennbare Mischcharakter des Sassaresischen am Beispiel des Sorsesischen sehr deutlich (vgl. Gartmann 1967: 83). In 21 Bereichen weicht das Sorsesische in seiner Lautstruktur vom Logudoresischen ab. Diese werden im Folgenden tabellarisch zusammengefasst: 1. Ausbleiben der Metaphonie 25 2. Öffnung der Tonvokale vor Nasal und bestimmten R-Verbindungen 3. häufiger oxytoner Ausgang 4. seltene daktylische Betonung 5. Vorkommen nasalierter Vokale 6. unbetontes E / O > i / u 7. unbetonte a und u können bei schneller Aussprache palatalisiert werden 25 Das Vokalsystem des Logudoresischen kennt hingegen den Mechanismus der Metaphonie: hierbei werden mittlere Vokale geöffnet, wenn der auslautende Vokal (halb)offen ist (d. h. [a / e/ o]); mittlere Vokale werden geschlossener artikuliert, bei auslautendem [i / u] (vgl. Corda 1994: 154 f.). <?page no="182"?> 182 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen Logudoresisch Sorsesisch 8. Endkonsonanten bewahrt Schwund 9. initiales G E, I 26 ɟ 27 dʒ 10. intervok. P, T, C A, O, U β, ð, ɣ bb, dd, ɡɡ 11. intervok. C E, I ɣ dz (ts) 12. intervok. B, V Schwund β 13. intervok. L l r 14. -SIz ʒ 15. -RIrdz dʒ, ʎ 16. -NIndz ɲ 17. -CI-, -TItt tts 18. QUb k 19. -GUmb ɡ 20. -GNnn ɲ 21. -NG- E, I nɟ ɲ Tab. 5: Abweichungen Sorsesisch vs. Logudoresisch nach Gartmann (1967: 83) Allerdings zeigt das Sorsesische durchaus auch Gemeinsamkeiten mit dem Logudoresischen, auch wenn „[…] die vom Log. abweichenden lautlichen Züge zahlreicher sind als die übereinstimmenden“ (Gartmann 1967: 85). Zu den übereinstimmenden Merkmalen zählt Gartmann (1967: 84) folgende Phänomene: 1. Ĭ und Ŭ fallen nicht mit Ē und Ō zusammen 2. Anlautkonsonanten zeigen im Satzinneren die selben Reflexe wie Inlautkonsonanten 3. intervok. F > v 4. Fall von intervok. G A, O, U 5. -LL- > ɖɖ 6. -RN- > rr 26 Generell ist auch etym. G A palatalisiert worden (z. B. gia[ɖɖ]u , it. ,gallo‘). Blieb G A erhalten, so handelt es sich um Entlehnungen aus anderen Sprachen (z. B. gana , it. ,voglia‘) (vgl. Gartmann 1967: 45). 27 Gartmann dokumentiert hier einen postpalatalen stimmhaften Verschlusslaut. <?page no="183"?> 3.1 Das postulierte Ausgangssystem 183 7. -RS- > ss 8. i- Prothese vor simpurum 9. -NU- > nn 10. häufige Metathese von R Tab. 6: Übereinstimmungen Sorsesisch-Logudoresisch nach Gartmann (1967: 84) Einige Phänomene verbinden das Sorsesische mit dem Nordlogudoresischen, nicht aber mit dem Zentrallogudoresischen: 1) Konsonant + L > Konsonant + j ; 2) Palatalisierung von CL; 3) L, R, S + Konsonant (vgl. Gartmann 1967: 84; Kap. 3.1.3.3). Maxia (2010a: 184) untersuchte 85 Merkmale aus dem phonetischen Bereich des Sassaresischen. Grundlage seiner Analyse sind vokalische und konsonantische Phänomene. Während in 70 Fällen vergleichbare lautliche Entwicklungen mit italienischen Varietäten festzustellen sind, stimmen 47 der untersuchten Phänomene mit dem Sardischen überein. So ergibt sich für das Sassaresische und das Galluresische, dass „[…] entrambe le varietà, nonostante subiscano un forte influsso logudorese, partecipano largamente al sistema italiano“ (ibid. 200). Ich beschränke mich hier auf eine überblicksartige Zusammenstellung der Phänomene: Merkmal it. System sard. System 1. Pronuncia x x 2. Accentazione x x 3. Apofonia x x 4. Vocali e dittonghi tonici x (sass.) x (gall.) 5. Vocali e ditton. atoni x 6. Vocali e ditt. protonici x 7. Vocali postoniche x x 8. Vocali finali x 9. Vocali in iato x 10. Contrazione di vocali x x 11. Anaptissi x 12. Sincope x 13. Prostesi davanti a s x <?page no="184"?> 184 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen 14. Protesi davanti a n x 15. Prostesi davanti a r x 16. Aferesi x x 17. Apocope x 18. Epentesi x 19. Epitesi vocalica x x 20. Epitesi sillabica x x 21. Assimilazione primaria x x 22. Assimilazione secondaria x 23. Occlusive sorde x (sass.) x (gall.) 24. Occlusive sonore x (sass.) x (gall.) 25. Affricate x 26. F x 27. B, V x x 28. -Vx 29. L x 30. LL > ɖɖ x 31. Ix 32. -Ix x 33. Sx x 34. -Sx 35. R x 36. N, -Nx x 37. M, -Mx x 38. MN x 39. QW x x 40. GW x x 41. Cons. + W x 42. BI, PI x x 43. DI x x 44. LI x x <?page no="185"?> 3.1 Das postulierte Ausgangssystem 185 45. MI x 46. NI x (gall.) x (sass.) 47. GN x 48. RI x (gall.) x (sass.) 49. SI x 50. BL x x 51. BR x x 52. CL x 53. CR x x 54. FL, FR x 55. GL x 56. GR x x 57. PL x 58. PR x x 59. -PRx x 60. LB, RB x 61. SB x 62. RK, LK x 63. SK + A, O, U x 64. SK + E, I x x 65. L, R + C’ x 66. L, R, S + D x 67. L, R, S + F x 68. L, R, S + G x 69. RL x 70. SL x 71. L, R, S + M x 72. LN x 73. RN x 74. SN x 75. L, R, S + P x <?page no="186"?> 186 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen 76. LS x 77. RS x 78. L, R, S + T x 79. L, R, S + V x 80. L, R + TS x 81. L, R + DZ x 82. Nessi in fonia sintattica x x 83. Aferesi di Dx 84. Troncamento x x 85. Consonanti finali x TOTALE 70 47 Tab. 7: Übereinstimmende und abweichende Merkmale mit dem italienischen und sardischen Lautsystem nach Maxia (2010a: 192-195) 3.1.3.2 Doppelentwicklungen Aufgrund der jahrhundertelangen intensiven Kontakteinflüsse des Logudoresischen auf das sich herausbildende Sassaresische weisen einige Vokale und Konsonanten sog. Doppelentwicklungen auf, d. h. etymologische Laute bzw. Lautverbindungen, die neben einem nicht-sardischen Ergebnis in einigen Lexemen auch die logudoresische Lautentwicklung zeigen. 28 Gartmann (1967: 84) verdeutlicht dies im Hinblick auf das Sorsesische und kommt zu folgender Aufstellung: Logudoresisch Sorsesisch 1. Ĭ i ɛ i 2. Ŭ u ɔ u 3. AU a ɔ a 4. unbetontes AU a u a 5. initiales C E, I k ts k 6. initiales V b v b 7. initiales G A ɡ, b dʒ ɡ 8. intervok. D Schwund d Schwund 28 Auch Sanna (1975: 95, 88) greift das Phänomen des „doppio registro, italiano e sardo“ bzw. des „carattere duplice“ auf. <?page no="187"?> 3.1 Das postulierte Ausgangssystem 187 9. intervok. G E, I Schwund dʒ Schwund 10. -LIdz ʎʎ dz Tab. 8: Doppelentwicklungen im Sorsesischen nach Gartmann (1967: 84) Zusammengefasst dokumentiert Gartmann insgesamt 20 Fälle von Doppelentwicklungen für das Sassaresisch-Sorsesische (vgl. ibid. 87). Der Gebrauch unterschiedlicher phonetischer Varianten scheint jedoch in keiner Weise stratifiziert zu sein. So betont Gartmann (1967: 87 f.), dass „[…] eine Person dieser, eine andere jener den Vorzug gibt, während andere wiederum beide unterschiedslos gebrauchen, ohne dass dabei irgendwelche Scheidung nach Alter, Geschlecht oder Stand des Sprechenden gemacht werden könnte.“ 1. Ĭ ɛ i 2. Ŭ ɔ u 3. Ō ɔ o 4. AU ɔ a 5. unbetontes AU u a 6. initiales C E, I ts k (seltener) 7. initiales V v b 8. initiales G A dʒ ɡ (in Entlehnungen) 9. intervok. P bb Schwund (seltener) 10. intervok. T dd Schwund (seltener) 11. intervok. C A, O, U ɡɡ Schwund (seltener) 12. intervok. C E, I dz ts (seltener) 13. intervok. F vv Schwund (seltener) 14. intervok. D d Schwund (seltener) 15. intervok. G E, I dʒ Schwund (häufiger) 16. -DI-, -BIddʒ j 17. -RIddʒ ʎʎ 18. -LIʎʎ dz (seltener) 19. -CL-, -TLtʧ ddʒ 20. L, R, S + V jvv jbb Tab. 9: Doppelentwicklungen insgesamt nach Gartmann (1967: 87) <?page no="188"?> 188 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen 3.1.3.3 Nordwestlogudoresisch und Sennoresisch Als Idiome, die als theoretisch mögliche Kontaktsprachen für die Varietäten des Sassaresischen eine Rolle spielen können, müssen neben dem im Nordwesten Sardiniens verbreiteten Regionalitalienischen (vgl. Kap. 3.3) auch nordwestlogudoresische Varietäten berücksichtigt werden. Die dialektale Fragmentierung des Logudoresischen führt seit Langem zu Diskussionen in der Wissenschaft. Ausschlaggebend ist hierfür, dass keine klaren Abgrenzungen zwischen den Dialektzonen ausgemacht werden können, sondern von einem kontinuierlichen Übergehen der einzelnen Subvarietäten ineinander ausgegangen werden muss. Während Spano (1840) elf Subvarietäten des Logudoresischen identifiziert, fassen spätere Wissenschaftler die Dialekte des Logudoresischen meist zu zwei bis drei Varietäten zusammen. Unterschiede, die eine erste Abgrenzung erlauben, zeigen sich primär auf der Grundlage der phonetischen Beschaffenheit der Subvarietäten. Campus (1901: 12 f., 33) unterscheidet folgende drei logudoresische Dialekte: die Varietät Nuoros, die Varietät des Süd-Osten des Logudoros sowie eine dritte Varietät, die in Ozieri im Osten, Bortigiàdas im Norden, Putifigari im Westen, auch Ittiri, Torralba, Ploaghe, Florinas, Ossi, Tissi, Usini, Nulvi, Chiaramonti, Sennori verbreitet ist. Die zweite und dritte Varietät unterscheiden sich vom Nuoresischen im Wesentlichen durch die Lenisierung bzw. den Schwund der intervokalischen stimmlosen Verschlusslaute sowie die Tatsache, dass Anlautkonsonanten wie Inlautkonsonanten behandelt werden. Die dritte, im Nordwesten verbreitete Subvarietät erhält ihren ganz eigenen Charakter insbesondere durch die besondere Entwicklung von L, R, S (vgl. Campus 1901: 13). Wagner, der primär zwischen dem Nordlogudoresischen und Gemeinlogudoresischen unterscheidet (vgl. u. a. Wagner 1941: 263, [1950] 2002: 279) und die Möglichkeit einer klaren Abgrenzbarkeit der Subvarietäten (vgl. Spano, Bottiglioni) negiert, bezeichnet das Nordlogudoresische sowie das Campidanesische als „periphere Dialekte“, denn sie waren „[…] am häufigsten und deshalb am stärksten dem Einfluss der italienischen Lautgewohnheiten ausgesetzt.“ Das Ergebnis ist, so Wagner ([1950] 2002: 232), „[…] ein eigenes, dem echten Sardisch gegenüber abweichendes Gepräge […]“, das sich durch „die Palatalisierung nach italienischem Vorbild“ (ibid. 228) auszeichnet, die „Erweichung der intervokalischen Verschlusslaute“ (ibid. 279) im Gegensatz zu Zentraldialekten sowie die Entwicklung von „[…] eigenartigen Laute[n], die an die toskanische lisca erinnern“ (ibid. 280; Herv. i. O.). Lüdtke (1953: 411) unterteilt das logudoresische Sprachgebiet in zwei Zonen: „[l]’area di conservazione“ und „la zona innovatrice“, die sich u. a. durch die Entwicklung der lateral-alveolaren Frikative dahingehend entwickelt haben, dass in diesen Varietäten 18 (und nicht 13) Phoneme im Lautinventar vorhanden sind. <?page no="189"?> 3.1 Das postulierte Ausgangssystem 189 Contini (1970: 4 f.) nimmt eine Unterteilung des Logudoresischen in drei Subdialekte vor: le logoudorien central , le logoudorien commun ou périphérique sowie le logoudorien septentrional . Das Nordlogudoresische grenzt er von den anderen beiden Varietäten aufgrund der Herausbildung der typischen Frikative und der Palatalisierung von L nach Konsonanten ab. Der Dreiteilung Campus’ schließt sich auch Pittau an (1978: 10, 1981: 355, 1991: 16), der in logudorese comune , logudorese settentrionale und logudorese centrale (bzw. dialetto nuorese ) unterscheidet. Mit dem logudorese comune teilt das Nordlogudoresische die Eigenschaft, dass stimmlose Verschlusslaute sowie der Frikativ / f/ am Wortanlaut in intervokalischem Kontext sonorisiert werden, eine Entwicklung, die im Zentrallogudoresischen (bzw. Nuorese) nicht auftritt (vgl. ibid. 1978: 24). Auch Blasco Ferrer (1984: 199) teilt das Verbreitungsgebiet in drei Zonen auf: Neben der zona nuorese-bittese und der zona logudorese comune nennt er als dritten Sprachraum die zona logudorese settentrionale , die mit dem von Sanna genannten Verbreitungsraum und der von Campus als dritte Varietät bezeichnete Subvarietät übereinstimmt. Als Charakteristika des Nordlogudoresischen nennt auch er die Lenisierung stimmloser intervokalischer Verschlusslaute, die besonderer Entwicklung von L, R, S + Konsonant und die Palatalisierung von PL, CL, FL. Virdis (1988) übernimmt die Unterteilung des Logudoresischen nach Sanna (1975), mit dem einzigen Unterschied, dass er das Südlogudoresische separat als Arborensisch behandelt (vgl. Virdis 1988: 912). Laut Virdis ergeben sich somit die drei Subvarietäten logudorese centrale (von der Planargia bis Posada und Olbia), das logudorese sud-orientale (in den Gebieten des Màrghine und des Gocèano) sowie das logudorese nord-occidentale , dessen Verbreitungsraum sich über den Nordosten Sardiniens erstreckt. Auf dieser Grundlage empfiehlt auch Maxia, nicht von logudorese settentrionale , sondern eher von logudorese di nordovest zu sprechen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Sassaresische und Sorsesische einerseits Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede mit dem Logudoresischen allgemein und andererseits Übereinstimmungen mit nordwestlogudoresischen Formen, die das Zentrallogudoresische wiederum nicht kennt, zeigen. Hierzu zählen folgende Merkmale (vgl. Virdis 1988: 907; auch Gartmann 1967: 84): 29 29 Zusätzlich nennt Virdis (1988: 907) die Entwicklung L, R, S + dz > [ʒʒ] für das Nordwestlogudoresische. Als weitere Besonderheit des Nordlogudoresischen kommt hinzu, dass sich nicht wie im Nuoresischen die Entwicklung L > r zeigt (z. B. log. arbu vs. nordlog. alvu , it. ,bianco‘). Diese muss jedoch, so Pittau (1991: 49, vgl. 1978: 27), als Wiederherstellung des etymologischen Nexus in Folge des späteren Kontaktes mit dem Italienischen bzw. Lateinischen als Kulturadstrat interpretiert werden: „Nel logudorese settentriona- <?page no="190"?> 190 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen - Assimilierung von L, R, S + C > [xx] - Assimilierung von L, R, S + G > [ɣɣ] - Assimilierung von L, R, S + T > [ɬ(t)] 30 - Assimilierung von L, R, S + D > [ɮ(d)] - Vokalisierung von L, R, S + P / B > ipp / ibb (z. B. CULPA(M) > cuippa , it. ,colpa‘) - Konsonant + L > Konsonant + [j] (z. B. PLENU(M) > pienu , it. ,pieno‘) - Palatalisierung von CL Als eine wichtige dialektale Subvarietät des Logudoresischen, die insbesondere für Sprecher des Sorsesischen ein mögliches Kontaktidiom darstellt, muss zusätzlich das Sennoresische genannt werden, das in dem nur ein Kilometer von Sorso entfernten Ort Sennori gesprochen wird und die größten Übereinstimmungen mit der Varietät von Perfugas zeigt (vgl. Jäggli 1959: 16). Das Sennoresische, das zwar seinen „nordlogudoresischen Charakter nicht verleugnen kann“ (ibid. 12), muss dennoch als eine „sottovarietà dialettale logudorese singolarissima“ (Campus 1901: 14) aufgefasst werden, da es interessante Sonderentwicklungen aufweist. Diese sind jedoch für die vorliegende Arbeit weitestgehend zu vernachlässigen, da sie insbesondere morphologische und prosodische Bereiche betreffen: Zum einen handelt es sich hierbei um die Pluralbildung nach sorsesischem Muster, d. h. die Endungen für den maskulinen und femininen Pluralis verschmelzen in einer einzigen Endung (vgl. Jäggli 1959: 13). Zum anderen nennt Campus (1901: 15) prosodische Phänomene, die er ebenfalls als Erbe des Sorsesischen interpretiert: „Le parole si pronunziano con un marcatissimo accento musicale.“ 3.1.4 Abgrenzung Sassaresisch vs. Sorsesisch Das Sassaresische wurde als weitestgehend homogene Sprache beschrieben, die in der Lautstruktur einige variable Prozesse zu erkennen gibt. le il nesso costituito dalla r + cons . è stato ricostruito, per tardivo influsso dell’italiano e del latino degli uomini di cultura, in nesso l + cons .“ (Kursivierung i. O.). Gemäß der Forschungen Maxias ( 2 2003: 106) zeigen sich bereits im Duecento sowie im beginnenden Trecento im Nordwesten der Insel gesprochenen Logudoresischen allmählich das Phänomen der Palatalisierung sowie die Entwicklung L > r , Prozesse, die sich zur Hälfte des Quattrocento festigen. Als sich ab der zweiten Hälfte des Quattrocento das Korsische in Sassari zunehmend manifestiert, verbreiten sich die Palatalisierungen sowie lexikalische Korsismen durch das sich herausbildende Sassaresische bis zum heutigen Verbreitungsgebiet des logudorese comune . 30 Auch im Nordwestlogudoresischen sind folglich unterschiedliche Assimilierungsstufen des Nexus etym. L, R, S + T vorhanden. Virdis (1988: 907) beschreibt den Laut als „laterale sibilante sorda seguita da una t o meno debolmento articolata, fino al massimo grado di assimilazione in cui la dentale si perde del tutto“. <?page no="191"?> 3.1 Das postulierte Ausgangssystem 191 Individuelle Aussprachebesonderheiten des Sassaresischen Sassaris und der eher konservativen Varietät Sorsos deutet Toso (2012: 63) vor dem Hintergrund der Stadt-Land-Dynamiken sowie des Sprachkontakteinflusses des Sardischen der Nachbargemeinde Sennori auf das Sorsesische: „il relativo conservatorismo del dialetto della seconda sembra riflettere essenzialmente le consuete dinamiche del rapporto città-campagna e […] una più decisa influenza sarda di contatto, che si riscontra anche nel lessico.“ Auf dieser Grundlage argumentiert auch Sanna (1975), wenn er die gesellschaftliche Diversität der Stadt als Faktor der Sprachabweichung anführt und für das vorwiegend ländlich geprägte Sorso eine pronuncia rustica bezeugt: Quanto a Sorso, assai vicina a Sassari, di cui costituiva e costituisce l’entroterra agricolo, le differenze sono egualmente leggerissime e possono essere spiegate con il fatto che la pronuncia del Sorsense è più rustica, rispetto a quella “cittadina” di Sassari, che ha, certamente, subito maggiori influssi, legati alla diversa situazione sociale della città (forti e organizzati gruppi di artigiani, di mercanti, di uomini di cultura) rispetto al paese prevalentemente, per non dire esclusivamente, agricolo. (Sanna 1975: 106) In Bezug auf die Abgrenzung des Sassaresischen vom Sorsesischen auf lautlicher Ebene scheint u. a. bei Guarnerio, Bottiglioni und Wagner die Meinung vorzuherrschen, dass „[…] der Dialekt Sorsos kaum merklich von dem Sassaris abweiche“ (Gartmann 1967: 13). „In Sorso, das sprachlich ziemlich genau Sassari entspricht […]“ (ibid. 22), konnten bislang dennoch einige lautliche Besonderheiten festgestellt werden. Diese werden im Folgenden überblicksartig zusammengefasst: Im Vokalismus zeigt sich eine gewisse Tendenz zur Schwankung im Bereich des Öffnungsgrades betonter Vokale (vgl. Maxia 2010a: 26 f.), die zu den für das Sorsesische so typischen Doppelentwicklungen gezählt werden können. Ein sehr markantes Merkmal des Sorsesischen - nicht aber des Stadtsassaresischen - ist die Vokalnasalierung von / a/ in der Tonsilbe (weniger im Vorton), die ausschließlich regressiv in offener wie geschlossener Silbe vor [m], [n], [ɲ] und [ŋ] geschieht (vgl. Gartmann 1967; Kap. 3.2.2.1). Zudem scheinen die Tonvokale im Sorsesischen einer stärkeren Dehnung und Schließung unterzogen zu werden als im Stadtsassaresischen (vgl. Gartmann 1967: 90). Ebenso wurde das Vorherrschen von „parasitischem j“ insbesondere für das Sorsesische bezeugt (Gartmann 1967: 92 f.; Kap. 3.2.2.2). Im Konsonantismus zeigen sich Unterschiede in der Weiterentwicklung von etymologischem -LL-, dessen retroflexe Realisierung als [ɖɖ] im Sorsesischen vitaler zu sein scheint als im Sassaresischen Sassaris (vgl. Kap. 3.2.3.1). <?page no="192"?> 192 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen Den Arbeiten Bottiglionis (1919), Gartmanns (1967) und Maxias (2012) zufolge muss von Unterschieden in der Entwicklung von L, R, S + T / D bzw. L, S, T + C / G im Stadtsassaresischen und im Sorsesischen ausgegangen werden. Die Ergebnisse hierzu sind jedoch äußerst widersprüchlich (vgl. Kap. 3.2.3.2). Im Hinblick auf die Geminierung intervokalischer Konsonanten ist, so Gartmann (1967: 46, Fn 5), für das Sassaresische „[…] ganz allgemein die intensive Aussprache […]“ vorherrschend, während „[…] in Sorso die Doppelung teils gut, teils schwach, teils gar nicht wahrnehmbar [ist]“. Der markanteste Unterschied des Stadtsassaresischen und Sorsesischen zeichnet sich jedoch auf prosodischer Ebene ab: Gartmann (1967: 14) beobachtete eine generell „schlaffere Aussprache des Sorsesischen“, die „[…] auf den schleppenden Satzrhythmus und eine geringe Muskelspannung zurückzuführen ist“ (ibid. 86). Diese für das Sorsesische ganz typische cadenza findet sich ebenfalls im Castellanesischen und scheint ein Hauptmerkmal des Sorsesischen zu sein: „Tra le peculiarità del dialetto di Sorso spicca la caratteristica intonazione, peraltro condivisa dal castellanese, che rende subito riconoscibili i sorsesi tra gli altri parlanti della zona“ (Maxia 2010a: 26). Die cadenza sorsese , d. h. der Satzrhythmus des Sorsesischen zeichnet sich durch „[…] die singende, oft näselnde Sprechart […]“ aus und „das Sprechtempo, allgemein schon schwächer als anderswo, verlangsamt sich mit der letzten Tonsilbe eines Satzes oder einer syntaktischen Gruppe noch mehr. Diese Silbe wird stark überbetont bei gleichzeitigem Sinken der Satzmelodie“ (Gartmann 1967: 89). Laut Gartmann ist dieses Phänomen jedoch diastratisch niedrig markiert, d. h. „Leute, die sich einen vornehmen Anschein geben möchten, bemühen sich, sassaresisch auszusprechen und die ‘cadenza’ zu vermeiden“ (ibid. 90). 31 Die cadenza des Sorsesischen bewegte sich selbst aus dem Lokalidiom in das Regionalitalienische der Sorsesen, von wo aus es auch heute noch als stabiler Marker fungiert (vgl. Piredda 2013; Kap. 3.3). Die im Rahmen der soziolinguistischen Befragung (vgl. Kap. 4.3.1) gesammelten Sprecheraussagen zur Unterscheidung der sassaresischen von der sorsesischen Aussprache (F2 Ci sono delle differenzen tra la pronuncia del sassarese e del sorsese? ) bestätigen die Markantheit der sorsesischen Prosodie. Zusätzlich 31 Dies scheint die Wahrnehmung der Sassaresen und Sorsesen bis heute geprägt zu haben: Frage F11 des soziolinguistischen Fragebogens Il sassarese suona più bello del sorsese? beantwortete selbst eine sorsesische Informantin wie folgt: „sorsese ha troppa cadenza“ ( SORS-SS-1989w ). Auch das Antwortverhalten auf Frage F12 Il sorsese suona più bello del sassarese? bestätigt die negative Sicht auf die cadenza sorsese : „parlano troppo a cantilena“ ( SASS-VS / RS-1950w ), „troppa cadenza“ ( SORS-SS-1989w ). <?page no="193"?> 3.1 Das postulierte Ausgangssystem 193 nannten einige Sprecher die Tendenz zur geschlosseneren Vokalartikulation sowie das Vorherrschen des Retroflexes im Sorsesischen. 32 SASS - SS -1988m-B „cadenza“ SASS - VS / RS -1947m „la cadenza“ SASS / SORS - VS / RS -1960w „l’accento“ SASS - SS -1987m „soprattutto negli accenti“ SASS - SS -1989m „la cadenza e alcune parole tipo: ‘agnello’“ SORS - VS -1955w „gli accenti“ SORS - SS -1989w „la cadenza soprattutto“ SORS - VS -1962m „il sassarese è più netto, il sorsese è più musicale“ SORS - SS -1980w „il sorsese è più marcato, ha un suono più ‘duro’“ SORS - SS -1988m-B „a Sassari le vocali si pronunciano più aperte“ SORS - VS / RS -1971w „nel Sorsense si usa la ‘O’ anziché la ‘A’“ SORS - VS -1957w „‘pani’ (‘pane’ in sassarese) diventa ‘poni’ in sorsese“ SASS - SS -2000m „la ‘ DD ’ caccuminari, la ‘A’ sarradda“ (it. ,la ‘ DD ’ cacuminale, la ‘A’ chiusa‘) Daher bejahte die Mehrheit der Befragten (16 ≙ 80 %, N =20) auch Frage F14 Chi parla il sorsese a Sassari viene subito riconosciuto come parlante del sorsese? 33 und begründete dies u. a. wie folgt: SASS - SS -1988m-A „per via dell’intonazione“ SASS - SS -2000m „da la ‘cantirena’ e da la ‘ DD ’ caccuminari e da la ‘A’ sarradda“ (it. ,dalla ‘cantilena’ e dalla ‘ DD ’ cacuminale e dalla ‘A’ chiusa‘) SASS - VS / RS -1947m „dalla cadenza“ SASS - VS / RS -1950w „per la cadenza“ SASS - SS -1986w „per la famosa ‘cantilena’“ SORS - VS / RS -1971w „cambia la pronuncia“ 32 Drei der Informanten (≙ 15 %, N =20) verneinten die Frage. Es gab eine Enthaltung und drei weitere Antworten. 33 Es gab drei Enthaltungen. Sprecher SASS-SS-1988m-B verneinte die Frage mit der Begründung „ si somigliano molto “. <?page no="194"?> 194 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen SORS - SS -1986w „ha la cadenza più allungata“ SORS - VS -1962m „per l’accento“ SORS - SS -1988m-B „l’accento sorsese è molto marcato“ SORS - SS -1989w „cadenza“ SORS - VS -1981m „per la cadenza vocale“ SORS - SS -1988m-A „per l’intonazione“ Im Umkehrschluss gilt somit das Gleiche für das Sassaresische. Frage F15 Chi parla il sassarese a Sorso viene subito riconosciuto come parlante del sassarese? 34 wurde 13 mal bejaht (≙ 65 %) und u. a. wie folgt erläutert: SASS - SS -1988m-A „per via dell’intonazione“ SASS - VS / RS -1947m „per la cadenza“ SASS - VS / RS -1950w „per la cadenza“ SASS - SS -1986w „penso di sì perché cambia la cadenza“ SORS - SS -1986w „pur essendo simile al nostro, cambia la tonalità“ SORS - VS -1955w „ha un accento diverso“ Allerdings verneinten vier der Informanten (≙ 20 %) die Frage. Drei aus Sorso stammende Befragte betonten hierbei, dass sich das Sassaresische durch keine besonderen Auffälligkeiten auszeichnet, weshalb ein Sprecher des Sassaresischen auch nicht zwangsläufig als Stadtsassarese erkennbar sei: SASS - SS -1988m-B „si somigliano molto“ SORS - SS -1988m-B „la pronuncia sassarese non ha molte particolarità“ SORS - SS -1989w „potrebbe essere di altri paesi vicini“ SORS - SS -1988m-A „potrebbe essere di Porto Torres“ 3.2 Auswahl der Lautvariablen Das Ziel der vorliegenden Studie ist die Überprüfung der Anbzw. Abwesenheit lautlicher Merkmale des Stadtsassaresischen und des Sorsesischen im Ausspracheverhalten von Semi- und Vollsprechern der beiden Varietäten. Das folgende 34 Vier Sprecher (≙ 20 %) verneinten die Frage. Es gab drei Enthaltungen. <?page no="195"?> 3.2 Auswahl der Lautvariablen 195 Kapitel dient der Vorstellung der Kriterien, die der Auswahl der untersuchten Lautmerkmale zugrunde liegen (Kap. 3.2.1). Anschließend werden die ausgesuchten vokalischen (Kap. 3.2.2) und konsonantischen (Kap. 3.2.3) Phänomene einzeln, unter Bezugnahme auf verschiedene Vorarbeiten (insb. Gartmann, Contini, Doro, Maxia), näher beschrieben. 35 3.2.1 Kriterien der Auswahl der untersuchten Lautphänomene Die Kriterien, die der Auswahl der im weiteren Verlauf der Arbeit untersuchten Lautvariablen zugrunde liegen, wurden direkt aus den bislang in den Forschungsfeldern des intensiven Sprachkontaktes und des Sprachverfalls erlangten Erkenntnissen abgeleitet (vgl. Kap. 2.3.4): 1) Kriterium der Markiertheit / Unnatürlichkeit und des prekären Phonemstatus : Aus Sprachwandel- und Sprachverfallsstudien ging bislang hervor, dass Lautstrukturen, die gemäß der Markiertheitsforschung als ,markiert‘/ ,unnatürlich‘ einstufbar sind - d. h. die sich durch artikulatorische Komplexität, perzeptuelle Schwäche, geringe funktionale Auslastung und geringe Frequenz auszeichnen - tendenziell häufiger vom Abbau bedroht sind als unmarkierte Formen. Daher flossen vor allem Phone und Phoneme in die Untersuchung mit ein, die in früheren Studien im Hinblick auf das Sassaresische sowie auch das Sardische oder andere Idiome als komplex, selten bzw. bereits gefährdet beschrieben worden waren. Insbesondere Lauten, deren Phonemstatus in der Forschung ohnehin als umstritten gilt, kam hier vermehrtes Interesse zu. 2) Kriterium der Abweichung von der dominanten Kontaktsprache : Studien zum Sprachkontakt und Sprachverfall zeigten eindeutig, dass Lautstrukturen tendenziell eher dann abgebaut werden, sollten sie nicht im Lautinventar der dominanten Kontaktsprache repräsentiert sein. Daher wurde im Rahmen der vorliegenden Arbeit der Fokus primär auf die sassaresischen bzw. sorsesischen Lautphänomene gelegt, die vom italienischen Lautinventar abweichen. 3) Kriterium der Variabilität : Ebenso konnte die Sprachwandelforschung bereits zeigen, dass sich Laute, deren phonetische Realisierung variieren kann, oftmals artikulatorisch einander annähern. Daher wurden auch allophonische Besonderheiten berücksichtigt. 4) Kriterium der diatopischen Variation : die bislang existierenden phonetischen Beschreibungen zeigen, dass das Sassaresische - vor allem mit Hinblick auf den lautstrukturellen Bereich - diatopisch differiert. Daher wurde der Fokus auf Lautmerkmale gelegt, deren Realisierung im Sassaresischen Sassaris und im 35 Die folgenden Kapitel lehnen sich in ihrem strukturellen Ablauf der Arbeit Continis (1987) an. <?page no="196"?> 196 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen Sorsesischen seitens der Forschung als abweichend beschrieben worden waren, um zu überprüfen, ob sich aktuell eine Annäherung bislang lokal markierter Formen vollzieht. 5) Kriterium der Salienz : Gleichsam wurde im Rahmen von Sprachkontakt- und Sprachverfallsuntersuchungen deutlich, dass bestimmte Lautstrukturen, die Signalcharakter tragen und daher als Marker fungieren, zur Abgrenzung des rezessiven Idioms von der dominanten Kontaktsprache bzw. von Nachbarvarietäten eingesetzt werden können. In diesem Fall werden Lautphänomene aufgrund ihrer Salienz - trotz möglicher ,Unnatürlichkeit‘ - bewahrt. Auch einst als diastratisch niedrig markierte Merkmale können im Sprachverfall im Bewusstsein von Semisprechern ihre negative Konnotation verlieren und zu rein diatopisch markierten Dialektmarkern umfunktionalisiert werden. Allerdings treten sie dann oftmals in Form von Hyperformen in Erscheinung. Vor diesem Hintergrund schien es sinnvoll, Laute, die in früheren Studien als markante Merkmale - sei es in diatopischer oder diastratischer Hinsicht - beschrieben worden waren, in die Untersuchung miteinfließen zu lassen. 36 6) Kriterium der Darstellbarkeit : Hinzu kommt, dass lediglich Laute berücksichtigt werden konnten, die in der Veräußerung von Lexemen zu erwarten sind, die in Form konkreter Bildstimuli abgefragt werden konnten (vgl. Kap. 4.3.2.3). 3.2.2 Vokalische Phänomene Da das Sassaresische und Sorsesische starke Schwankungen des Öffnungsgrades der mittleren Vokale sowie der Vokallänge zeigen, beschränkt sich die vorliegende Untersuchung auf diejenigen Besonderheiten des Vokalismus, die als reguläre Prozesse beschrieben worden und die im gesammelten Korpus anhand mehrerer Belege überprüfbar sind. Das Vokalsystem des Sassaresischen wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit im Hinblick auf drei markante Phänomene untersucht. Hierzu gehört 1) die sehr auffällige Vokalnasalierung von / a/ vor Nasalkonsonant im Sorsesischen, 2) die Vokalisierung von -L-, -R- und -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] und parasitisches [j] sowie 3) prothetisches i vor bestimmten Konsonantennexus. 36 Der vorliegenden Studie ging folglich kein eigener Salienztest voraus, allerdings beinhaltete der soziolinguistische Fragebogen Fragen zur lautlichen Charakteristik des Sassaresischen bzw. Sorsesischen (F: Peculiarità del sassarese / del sorsese ). Vgl. die Ergebnisse in Kap. 3.1.4. <?page no="197"?> 3.2 Auswahl der Lautvariablen 197 3.2.2.1 Vokalnasalierung [-] Im Bereich des Vokalismus berücksichtigt die im Rahmen dieser Arbeit vorgenommene Untersuchung die Anbzw. Abwesenheit der Vokalnasalierung [-] in der Aussprache der aus Sorso stammenden Informanten. Die Möglichkeit zur Nasalierung von Vokalen zeigt sich in mehreren romanischen Sprachen auf phonetischer sowie häufig auch phonologischer Ebene (vgl. Nasalvokalphoneme des Französischen und Portugiesischen). Die auf Sardinien verbreiteten autochthonen Idiome bleiben von der Vokalnasalierung weitestgehend unberührt. Während das Logudoresische lediglich Oralvokale kennt, zeigt sich allerdings im Campidanesischen die Tendenz zur Nasalierung von Vokalen in unterschiedlichen Kontexten (vgl. Contini 1987: 135-136, 453-459). In südsardischen Varietäten erfolgt die Vokalnasalierung in Nachbarschaft eines Nasalkonsonanten zunächst rückwirkend auf den vorausgehenden Vokal. In Folge des häufigen Ausfalls des Nasalkonsonanten in der nachtonigen Silbe assimiliert sich der dem ursprünglichen Konsonanten vorausgehende an den nasalierten Vokal, z. B. camp. manu → [ˈm-ũ] (it. ,mano‘) (vgl. ibid. 135). 37 Die Koartikulation erfolgt hier stets rückwirkend, d. h. ein nachfolgender Nasalkonsonant führt zur Nasalierung des vorausgehenden Vokals. Im Hinblick auf das Sassaresische muss eine deutliche dialektal-regionale Unterscheidung getroffen werden, denn das Merkmal der Nasalität sondert die sorsesische Sprechergruppe von der sassaresischen: Während für das Sassaresische Sassaris keine Vokalnasalierung belegt ist, berichtet Gartmann von einer starken Tendenz zur Nasalierung im Sorsesischen als einziges im nordsardischen Raum verbreitetes Idiom. 38 Da im nordsardischen Varietätenraum lediglich das Sorsesische von diesem phonetischen Mechanismus betroffen ist, existieren hierzu - abgesehen von Gartmanns Arbeit - keine detaillierten Vorstudien: 39 Die Vokalnasalierung ist insbesondere für den Vokal / a/ in der Tonsilbe (weniger im Vorton) belegt 40 und geschieht regressiv in offener wie ge- 37 Contini (1987: 456) vermerkt jedoch einige Fälle von Denasalisierung. 38 Hierzu Gartmann (1967: 90): „Besonders auffällig ist die Nasalierung in Sorso dadurch, dass sie im nordsardischen Raume einzig dasteht. Sie steht in keinem Zusammenhang mit der des Campidano, von der sie sich wesentlich unterscheidet.“ 39 Doro geht für betontes / a/ - auch vor Nasalkonsonant - lediglich von einem möglichen Unterschied des vokalischen Öffnungsgrades aus: „a Sassari sempre aperta: mànigga (manico), a Sorso anche chiusa: mánigga“ (Doro 2001: 11) und weiter: „A Sorso, oltre alle vocali e ed o, nella pronuncia, può assumere un timbro chiaro o stretto anche la vocale: a per la quale però l’unica regola individuabile è in netta opposizione a quella delle precedenti vocali: tende cioè ad assumere un suono stretto quando è seguita da nasale: cámpu (campo), cáncaru (cancro), páni (pane), cáni (cane), intámu (invece)“ (ibid. 16). Auch Ortu (2009: 1964) bezeugt für das Sorsesische die Existenz eines „‘a’ nasale molto chiusa.“ 40 Bei allen anderen Tonvokalen tritt die Nasalierung nur selten und unregelmäßig auf (vgl. Gartmann 1967: 91). <?page no="198"?> 198 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen schlossener Silbe vor [m], [n], [ɲ] und [ŋ]. Der Nasalkonsonant ist hierbei nicht vom Schwund betroffen, z. B. andu [ˈ-ndu] (it. ,vado‘) (vgl. Gartmann 1967: 90 f.). Gehen die Vokale / e/ und / o/ einem Nasalkonsonanten voraus, so wirkt sich dieser eher regressiv auf die Vokalqualität aus, d. h. es kommt zu einer offeneren Artikulation der Vokale (vgl. ibid. 83). Eine hörbare Nasalresonanz ist folglich ausschließlich für den Vokal / a/ belegt. Häufig tritt [-] vor epenthetischem ni auf, das an Oxytona angefügt werden kann (z. B. sussà → suss[-]ni , it. ,bastonare‘). Oftmals ist die Nasalierung selbst dann hörbar, wenn sich zwischen [-] und dem Nasalkonsonanten der Halbvokal [j] einfügt, z. B. ainu [ˈ-jnu] (it. ,asino‘), paimma [ˈp-jmma] (it. ,palma‘) (vgl. ibid. 91). 41 Die Nasalierung von / a/ tritt parallel zu einer zunehmenden Längung des betroffenen Vokals auf: „der Längung der Vokale und der schlaffen Aussprache in Sorso ist die Nasalierung von Vokalen vor Nasalkonsonanten, d. h. die Vorwegnahme der Artikulationsstelle der Nasalkonsonanten, zu verdanken“ (Gartmann 1967: 90). Die Qualität von / a/ differiert laut Gartmann stark in diastratischer Hinsicht. Gartmanns Aufnahmen aus den Jahren 1953 / 54 zeigen, dass die Nasalierung ausbleibt „[…] bei Personen, die sich bemühen, sassaresisch also ‘gut’ zu reden“ (ibid. 90). Außerdem sei sie bei der Mehrheit der Sprecher generell weniger stark ausgeprägt. Häufig kommt es, so Gartmann (1967: 90 f.), zu einer Dehnung der nasalierten Vokale bei Sprechern mit starker cadenza sowie im Sprachgebrauch von Kindern. Diastratisch niedrig markiert ist auch die Aussprache von [-], wenn es sich nasaliertem [ẽ], seltener [õ] artikulatorisch nähert (vgl. ibid. 92). Da [-] des Sorsesischen keinen Phonemstatus besitzt und als allophonische, lediglich vor Nasalkonsonant auftretende Variante zu / a/ interpretiert werden muss, bietet es sich an, von einem nasalisierten / nasalierten Vokal zu sprechen und nicht von einem Nasalvokal (vgl. Reetz / Jongman 2009: 47). 3.2.2.2 Vokalisierung von L, R, S und parasitisches [j] Eine weitere Besonderheit des sassaresischen Lautrepertoires, die wiederum die Nähe des Sassaresischen mit der Varietät Ajaccios zu erkennen gibt (vgl. Toso 2012), ist die Vokalisierung bestimmter Konsonanten im präkonsonantischen Kontext. So werden -L-, -R- und (-)Svor -B-, -V-, -P-, -F- und -Mzu [j] vokalisiert, „[…] wobei der Labial je nach dem Sprechenden mehr oder weniger gelängt ist“ (Gartmann 1967: 73), 42 z. B. -LV-: maiv(v)a (it. ,malva‘); -LP-: coip(p)u (it. ,colpo‘), poip(p)a (it. ,polpa‘), poip(p)u (it. ,polpo‘); -LF-: maif(f)attu 41 Vortonig tritt die Nasalierung nur selten auf, hin und wieder in syntaktischen Gruppen (z. B. sors. l[-] intradda , dt. ,Erlaubnis zum Besuch der Braut‘) (vgl. Gartmann 1967: 91). 42 Die zur Veranschaulichung herangezogenen Beispiele sind folgenden Werken entnommen: Bottiglioni (1919: 68, 71 f.), Sassu (1963: 27), Gartmann (1967: 73 f.), Doro (2001: 34), <?page no="199"?> 3.2 Auswahl der Lautvariablen 199 (it. ,malfatto‘); -LM-: paim(m)a (it. ,palma‘), caim(m)u (it. ,calmo‘); -RB-: aib(b)uru (it. ,albero‘), baib(b)a (it. ,barba‘); -RV-: cuiv(v)a (it. ,curva‘); coib(b)u (it. ,corvo‘); -RP-: coip(p)u (it. ,corpo‘); -RF-: oif(f)anu (it. ,orfano‘); -RM-: maim(m)aru (it. ,marmo‘); SB-: ib(b)agliu (it. ,sbaglio‘); SV-: ivapurà (it. ,svaporare‘); SP-: ip(p)iubarà (it. ,spolverare‘), ip(p)ina (it. ,spina‘); -SP-: veip(p)a (it. ,vespa‘); SF-: if(f)ogu (it. ,sfogo‘); SM-: im(m)izzà (it. ,smezzare‘). 43 Insbesondere die in diesen Kontexten entstandenen Diphthonge [aj] und [uj] bezeichnet Gartmann (1967: 39 f.) - bezugnehmend auf das Sorsesische - als „sehr unstabil“; vor allem [aj], das „je nach dem Sprechenden und dem Sprechtempo“ zwischen [aj], [ɛj] und [ɛ] variieren kann, z. B. [sajˈpɛnti] neben [sɛjˈpɛnti] (it. ,serpente‘). Bonaparte ([1866] 2007: 14, 1873: 36) spricht von einem „ l sibilante“, dass als „ʎ greco“ realisiert wird. Laut Bonaparte entspricht dieser Laut weitestgehend dem „[…] ll gallese molle ossia mouillée “. Je nach Sonorität des Folgekonsonanten wird dieses „ l sibilante“ stimmlos, d. h. als „ l sibilante dura“, oder stimmhaft, d. h. als „ l sibilante dolce“ artikuliert (ibid. [1866] 2007: 16, 1873: 39; Herv. i. O.). 44 Auch Guarnerio (1896-1898: 159) beschreibt vorkonsonantisches [j] als palatal-lingualen Frikativ, der - auch wenn kaum hörbar - je nach Folgekonsonant stimmlos bzw. stimmhaft artikuliert wird. 45 Laut Bottiglioni (1919: 68) steht das Sassaresische mit der Entwicklung von L, R, S + P / B > ipp , ibb „[…] all’ultimo grado che si trova nel sassarese e nella maggior parte del territorio logudorese“. Ebenso dokumentiert er die Entwicklung von L, R, S + M > imm ( paimmu , it. ,palmo‘, maimmaru , it. ,marmo‘) (vgl. ibid. 71). Ausschlaggebend für die Bemerkungen Bottiglionis ist, dass er von einer Längung des Folgekonsonanten ausgeht, während Bonaparte, Guarnerio, Sassu, Muzzo und Lanza diese nicht notierten. Laut Lupinu (2007a: xxxiii) ist diese Beobachtung „[…] in linea con quanto possiamo rilevare ancora oggi“. Gartmann (1967: 73) betont, dass „[…] der Labial je nach dem Sprechenden mehr oder weniger gelängt ist“. Ebenso notiert Maxia die Längung generell, wenn auch hin und wieder uneinheitlich (vgl. ibid. 2012: 153 vs. 213). Toso (2012: 59 f.) sowie Maxia (2012). Sie weichen teilweise von der im Rahmen der Analyse verwendeten Orthographie (vgl. Rubattu 2 2006) ab. 43 Diese Form der Vokalisierung kann auch an der Wortfuge auftreten, z.B im Falle von [r] + [m, p, t], z. B. pai me (it. ,per me‘) (vgl. Maxia 2012: 158). 44 Dieser Unterschied ist jedoch kaum hörbar wie bereits Bonaparte ([1866] 2007: 15, 1873: 38) bemerkt: „Un orecchio alquanto delicato ed attento potrà per avventura osservare una lieve differenza fra il suono della l precedente le consonanti dure p ed f […] e quello che la medesima l riceve allorché è seguita da consonante dolce […].“ 45 Vgl. Guarnerio (1896-1898: 159): „Questo suono j si potrebbe definire una fricativa palato-linguale e se ne avrà la sorda, se precede a sorda (P, F), la sonora se avrà appresso la sonora (B, V, M); le quali differenze però quasi sfuggono all’orecchio e non ne terremo conto nella trascrizione per troppo non moltiplicare i segni distintivi.“ <?page no="200"?> 200 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen Ebenso dokumentiert Doro (2001: 34) die reguläre Entwicklung von L, R, S + P / B zu ipp / ibb (z. B. poippa , it. ,polpa‘), von L, R, S + F / V zu iff/ ivv (z. B. saivvà , it. ,salvare‘) sowie von L, R, S + M zu imm (z. B. paimmessu , it. ,permesso‘) mit zusätzlicher konsonantischer Längung. Von diesem regulären Prozess abzugrenzen ist das von Gartmann (1967: 92 f.) notierte, sog. „parasitische j“ 46 , das sich gelegentlich vor den Frikativen [xx] und [ɣɣ] einfügt. Er nimmt an, dass hierbei von einer älteren Sprachstufe der Entwicklung von L, R, S + C, G > [jxx], [jɣɣ] > [xx], [ɣɣ] auszugehen ist 47 , z. B. [ˈbaj(x)xa] neben [ˈbaxxa] (it. ,barca‘), [ˈaj(ɣ)ɣa] neben [ˈaɣɣa] (it. ,alga‘, ,immondizia‘) 48 . Laut Gartmann (1967: 70) handelt es sich hierbei um eine Aussprachebesonderheit, die insbesondere im Sorsesischen zu finden ist und „[…] wofür die ,Sussìŋki mákki‘ von den benachbarten Sassaresen immer wieder verspottet werden“. Außerdem dokumentiert Gartmann (1967: 92) parasitisches [j] vor oder nach palatalisiertem [ɲ], [ʎ] und präpalatalem [dʒ] „als Vorwegnahme, bzw. Nachwirken des palatalen Elements“, z. B. [ˈkajdʒu] (it. ,cado‘), [ˈkojdʒa] (it. ,corteccia‘) sowie in Einzelwörtern als Einschub vor labialen oder dentalen Konsonanten (z. B. aibbrí , it. ,abbrí‘) (vgl. ibid. 93). Er klassifiziert diese Form der konsonantischen Vokalisierung allerdings als „[…] eine Aussprache, die als sehr vulgär empfunden wird“. Auch Maxia (2012: 222, 235) notiert für etymologisches -RG- und -SKdie im Sorsesischen mögliche Realisierung mit semikonsonantischem Element, z. B. [ɔɣˈɣanu] neben [ɔjɣˈɣanu] (it. ,organo‘), [ˈbuxxu] neben [ˈbujxxu] (it. ,bosco‘). Ein solches „ i di passaggio“ (Maxia 2012: 85) können auch das Personalpronomen eiu (neben eu , it. ,io‘) sowie die Possessivpronomen meiu , toiu etc. (it. ,mio, tuo‘) beinhalten. 49 In der Verbindung mit labialen Konsonanten unterlag die reguläre Vokalisierung allerdings bereits zu Gartmanns Zeit Schwankungen. Gartmann (1967: 74) begründet den Ausfall von [j] als hyperkorrektes Ausspracheverhalten, dass durch den Versuch, diastratisch niedrig markiertes, parasitisches [j] zu umgehen, mitbedingt wird: In einigen Wörtern hörte ich bei verschiedenen Gewährsleuten Schwund des Halbvokals y vor Labial. Vielleicht handelt es sich dabei um hyperkorrekte Formen, da ja in vulgärer Aussprache in mehreren Fällen y als Uebergangslaut zwischen Vokal und verschiedenen Konsonanten auftritt. (Herv. i. O.) 46 Gartmann (1967) transkribiert stets [y] für [j]. 47 Gartmann (1967: 70) stimmt hiermit Bottiglioni (1919: § 34 f.) zu. 48 Vgl. auch Maxia (2012: 222). 49 Ebenso Deju neben Deu (it. ,Dio‘), Matteju neben Matteu (vgl. Maxia 2012: 85). <?page no="201"?> 3.2 Auswahl der Lautvariablen 201 Aus diesem Grund sind für Formen mit labialen Konsonanten mehrere Varianten belegt, d. h. mit erhaltenem bzw. assimiliertem [j], z. B. eibba neben ebba (it. ,erba‘), neivviu neben nevviu (it. ,nervo‘). Im Falle von etym. -RV- - z. B. cuivva , seivvu , zeivvu , coibbu - ist im Sorsesischen häufiger [jbb] zu finden (vgl. Maxia 2012: 233). Doro (2001: 34) bemerkt, wie bereits Gartmann andeutete, generell für die Fälle, in denen der Folgekonsonant labial artikuliert wird, dass präkonsonantisches [j] im Sassaresischen zwar durchaus noch verbreitet ist, häufig jedoch assimiliert wird: „[…] resiste ancora molto bene anche se spesso si sente la forma con l’assimilazione di: L, R, S: màymmaru e màmmaru, fùyffaru e fùffaru, Sayvvadori e Savvadòri, èybba e èbba“. Zusätzlich beobachtet er, dass parasitisches [j] vor velaren Konsonanten sukzessive abgebaut wird und nur noch im Sprachgebrauch älterer Sprecher vital zu sein scheint: „Anche se ora va del tutto scomparendo, dalle persone anziane si sentiva talvolta la vocalizzazione di: L, R, S + consonante velare: bàyhha, mòyhha, àyhga, làyhgu“ (ibid. 34). Die reguläre Vokalisierung - die nicht nur für das Sassaresische bezeugt ist - sowie parasitisches [j] unterliegen laut Jäggli (1959) und Contini (1987) auch in sardischen Mundarten Veränderungen: Jäggli (1959: 19) beobachtete im Sennoresischen, dass der Gleitlaut, der sich innerhalb des Nexus L, R, S + P, B, M > ipp etc. ergibt, „[…] vielmehr der ältern, korrekteren Aussprache eigen [ist], in der alltäglichen Rede dagegen schwindet es […]“. Insbesondere Formen mit prothetischem i sind in Jägglis Korpus nicht mehr mit anlautendem [ijpp-] - wie noch von Wagner dokumentiert - sondern nur mehr mit [ipp-] vorzufinden (vgl. ibid.). Laut Contini (1987: 371) schwindet [j] zunehmend in einigen weiteren sardischen Varietäten (Nughedu San Nicolò, Ozieri, Ittireddu, Mores, Tula, Chiaramonti), wodurch sich eine stärkere, kompensatorische Längung des Folgekonsonanten ergeben kann, z. B. [ˈkuj p pa] → [ˈku j ppa]. Für die Kontexte von S + Konsonant beobachtet Contini (1987: 261 f.) innovative Tendenzen in zahlreichen sardischen Varietäten: Die Vokalisierung von [s] (z. B. eipe , it. ,vespa‘) zeigt sich noch in einigen sardischen Subvarietäten in Anglona und im Logudoro im Sprachgebrauch älterer Sprecher. 50 Allerdings schwindet der Semivokal in der Aussprache jüngerer Informanten zunehmend, z. B. eppe . 50 Contini (1987) bezieht sich auf folgende Explorationspunkte: Bulzi, Laerru, Nulvi, Banari, Putifigari, Siligo, Bessude, Borutta, Torralba, Monteleone Roccadoria, Romana. <?page no="202"?> 202 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen 3.2.2.3 i-Prothese Am Äußerungsbeginn sowie nach Pause fügt sich im Sassaresischen vor den Nexus S + C, P, T häufig ein prothetisches i ein, ein Phänomen, das mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Sardischen stammt (vgl. Maxia 2010a; Toso 2012), z. B. 51 SC a,o,u : ischora [ixˈxɔra] (it. ,scuola‘); SC e / i : isciddà [iʃʃidˈda] (it. ,svegliare‘); SCL-, SCR-: ischribì [ixxriˈbi] (it. ,scrivere‘); SP-: ippadda [ipˈpaɖɖa] (it. ,spalla‘); SPL-: ippiena [ipˈpiena] (it. ,splene‘); ST-: isthella [iɬˈ(t)ella] (it. ,stella‘). Zusätzlich kann prothetisches i vor den Nexus S + G, B, D auftreten, z. B. SG-: isghanaddu [iɣɣaˈnaddu] (it. ,svogliato‘); SB-: ibbuccià [ibbutʃˈʃa] (it. ,sbucciare‘); SD-: isdhrisgì [iɮ(d)risˈdʒi] (it. ,sdrucire‘). Auffällig ist hierbei, dass die Nexus S + Okklusiv zu [xx], [pp] und [ɬ(t)] bzw. zu [ɣɣ], [bb] und [ɮ(d)] assimiliert werden. Zudem kann prothetisches i vor S + L, V auftreten. Auch hier kommt es zu konsonantischen Assimilationen, z. B. SL: illarghà 52 [illaɣˈɣa] (it. ,slargare‘); SV-: ivvià [ivviˈa] (it. ,sviare‘). Auch prothetisches i vor Nbzw. Rkann eine Dehnung der beiden Konsonanten auslösen, z. B. innìcciu (it. ,nicchia‘), irradizi (it. ,radice‘) (vgl. Maxia 2012: 270). Allerdings ist der Gebrauch von prothetischem i unregelmäßig und stellt, so Maxia (2012: 269), vielmehr „una scelta del parlante“ als eine obligatorische Regel dar. Die i -Prothese ist obligatorisch, wenn ein etymologisch mit S + Okklusiv beginnendes Wort nach dem unbestimmten Artikel un oder nach einem konsonantisch auslautenden Wort auftritt (vgl. ibid.). Im intervokalischen Kontext, d.h. z. B. durch vorangehende Determinanten wie lu / la / li und una etc. sind optimale Sonoritätsabstände bereits gewährleistet, weshalb prothetisches i fakultativ ist. Dies scheint insbesondere für feminine Nomina zuzutreffen, für die Rubattus Dizionario universale della lingua di Sardegna ( 2 2006) häufig zwei Einträge vermerkt, z. B. ischora neben schora (it. ,scuola‘), ischatura neben schatura (it. ,scatola‘). Dies kann möglicherweise damit begründet werden, dass Determinanten, die Substantiven des Genus Feminin vorangehen, stets vokalisch auslauten ( la , una etc.) und somit prothetisches i für die Herstellung optimaler Sonoritätsabstände nicht benötigt wird. Die hohe Frequenz dieser Nominalsyntagmen (Determinant + Nomen) kann folglich zu erstarrten Formen ohne prothetisches i geführt haben, die nun bereits lexikalisiert sind. 51 Beispiele entnommen aus Maxia (2012: 234-243) und Rubattu ( 2 2006). Übersetzung in IPA durch die Verfasserin. 52 Bei Rubattu ( 2 2006) ist lediglich allarghà belegt. <?page no="203"?> 3.2 Auswahl der Lautvariablen 203 Zudem wird deutlich, dass sich auch die in Kapitel 3.2.2.2 beschriebene Vokalisierung von Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] unter einem anderen Blickwinkel interpretieren ließe, denn denkbar ist auch, dass Seben keiner Vokalisierung unterliegt, sondern mit dem Folgekonsonanten verschmilzt und assimiliert wird, während [j] auf die i -Prothese zurückgeführt wird, z. B. SF-: iffattu (it. ,sfatto‘). 3.2.3 Konsonantische Phänomene Das Konsonantensystem des Sassaresischen wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit im Hinblick auf folgende Phänomene untersucht: 1) der Retroflex [ɖɖ], 2) die lateral-alveolaren und velaren Frikative [ɬ]/ [ɮ] und [xx]/ [ɣɣ] sowie 3) die Anlautmutation. 3.2.3.1 Retroflex [ɖɖ] Das Sassaresische weist ebenso wie das Sardische und Galluresische den sogenannten Retroflex [ɖɖ] auf. 53 Dieser kakuminale Langkonsonant entwickelte sich im Falle des Sassaresischen vorwiegend aus intervokalischem lat. -LLsowie in vereinzelten Fällen aus lat. -LD- 54 . Bei der Artikulation des Lautes „[…] biegt sich die Zungenspitze etwas nach oben zurück […]“ (Bußmann 4 2008: 587). 55 Wie auch Bossong (2008: 235) betont, wirkt „[d]iese Artikulation […] im Kontext der europäischen Sprachen auf den ersten Blick sehr >exotisch<“, denn retroflexe Plosive sind generell wenig verbreitet in den Lautinventaren der Sprachen der Welt. 56 53 Vgl. hierzu Blasco Ferrer (1984: 209): „Il fenomeno interessa tutti i sistemi in Sardegna, incluso il sass.-gall. […].“ Vgl. insb. Contini (1987: 172-176) für eine ausführliche Diskussion zur Herkunft der Retroflexe. 54 Maxia (2012: 167) verweist auf die spätlat. Form EXCALDARE > sass. ischaddà [ixxaɖˈɖa] (it. ‚scottare‘). Maxia (ibid.) nimmt hierbei Bezug auf ligurische Texte des 14. Jahrhunderts sowie die in Bonifacio gesprochene genuesischbasierte Mundart (z. B. ca[ɖɖ]u , it. ‚caldo‘). Vereinzelt kann der Retroflex auch aus -TTbzw. tt hervorgehen, wie hier sekundär: lat. CATARACTA > it. cataratta → sass. gattara[ɖɖ]a (vgl. Atzori 1964: 128). In Korsika und der Gallura wird auch sekundäres aus -LJhervorgegangenes ll zu [ɖɖ] weiterentwickelt (z. B. lat. MELIUS > me[ɖɖ]u , it. ,meglio‘) (vgl. Rohlfs 1929: 393; Maxia 2012: 180). 55 Vgl. hierzu auch Ladefoged / Maddieson ( 9 2006: 25): „A retroflex articulation is one in which the tip of the tongue is curled up to some extent.“ Hamann (2002: 13) präzisiert im Hinblick auf Sprachen wie Hindi jedoch: „The retroflex stops and nasals in Hindi, for example, do not show a bending backwards of the tongue tip but these sounds are still considered to be phonetically and phonologically retroflex.“ 56 Insbesondere im indischen Sprachraum sowie in zahlreichen indigenen Sprachen Australiens sind retroflexe Artikulationsmuster verbreitet (vgl. Ladefoged / Maddieson 9 2006: 25). <?page no="204"?> 204 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen Der Verschlusslaut ist innerhalb der Romania allerdings nicht nur für das Sardische, sondern ebenfalls für zahlreiche Dialekte Süditaliens und Südkorsikas belegt (vgl. Jones 2004: 147), daher ist auch hier keine eindeutige Zuteilung des für das Sassaresische belegten Retroflexes zu einem der Kontaktsysteme möglich. 57 Retroflexes [ɖɖ] variiert in seiner artikulatorischen Ausprägung, wie bereits Rohlfs zu erkennen gibt: Der Laut ḍḍ gilt für fast ganz Sizilien, sehr große Teile von Kalabrien und das südlichste Apulien. Der Laut zeigt nicht überall den gleichen Klangcharakter. Der kakuminale Einschlag ist bald stärker, bald schwächer; der Laut bald energischer, bald weniger energisch artikuliert. Die einzelnen lokalen Spielarten sind phonetisch nicht leicht voneinander zu unterscheiden. (Rohlfs 2 1972: 387) Auch Contini (1987: 163, 167) zeigt anhand der Palatographie, dass der Ort der retroflexen Artikulation nicht einheitlich ist, sondern alveodentale, alveolare und postalveolare Punkte betreffen kann. Am häufigsten wird [ɖɖ] alveolar artikuliert. Die Artikulationsstelle des Zungenkontaktes rutscht bei nachfolgendem [a] oder velaren Vokalen weiter nach hinten. Der Artikulationsort variiert nicht bei unterschiedlichen Akzentpositionen. Einfaches l sowie initiales l bewahren ihre alveodentale bzw. laterale Artikulation (vgl. Contini 1987: 174). 58 Zur Klärung der Frage, wie sich [ɖɖ] in sardischen, korsischen und süditalienischen Varietäten herausbilden konnte, sind zwei wesentliche Theorien hervorgebracht worden, die Jones (2004) ausführlich beschreibt: Einerseits ist es 57 Politzer (1954: 325) betont, dass das Phänomen ebenfalls im Sizilianischen und in Varietäten nordwestlicher Teile der Toskana verbreitet ist. Auch das Altgaskognische schien diesen Laut zu kennen (vgl. Bossong 2008: 235). Celata (2010: 37) nennt folgende Verbreitungsgebiete: Kalabrien, Apulien, Abruzzen, Kampanien, Sizilien, Sardinien, Korsika, Nordtoskana, Sprachgebiete des West-Asturianischen und wahrscheinlich früher des Gaskognischen. In zahlreichen Dialekten Süditaliens sind aus -LLretroflexe Affrikaten entstanden (vgl. Loporcaro 2001: 215). 58 Etymologisches -LLbleibt jedoch in den meisten Italianismen (z. B. milli , it. ,mille‘, vgl. Doro 2001: 27) sowie in Ableitungen mittels Präfix AD- und in Scherzbildungen erhalten (vgl. Gartmann 1967: 60). Seltener finden sich für -LL- - wie auch im Logudoresischen - Resultate wie grìgliaru (it./ sp. ,grillo‘) (vgl. Doro 2001: 27). Wenn die Geonyme co[ɖɖ]u (it. ,colle, sella crinale‘), va[ɖɖ]i (it. ,valle, canale, macchia fitta‘) auf die Präposition di treffen oder den zweiten Bestandteil des Toponymsyntagmas, so bleibt der Lateral erhalten: z. B. Val di Corru (= va[ɖɖ]i di corru ) (vgl. Maxia 2012: 166). Vgl. auch Contini (1987: 361): „La latérale -llrévèle, au contraire, une influence directe de l’italien, à une date relativement plus récente alors que dans les parlers sardes la tendance à la cacuminalisation s’était affaiblie“. Continis (1987) Untersuchungen zu retroflexen Konsonanten basieren auf der Analyse von Aufnahmen von Sprechern aus Budduso, Siligo, Nughedu San Nicolò, Torralba, Onani und Orani. <?page no="205"?> 3.2 Auswahl der Lautvariablen 205 denkbar, dass der Retroflex durch Sprachkontakt (Substrattheorie) Eingang in das Lautinventar der genannten Varietäten hielt, 59 andererseits ist nicht auszuschließen, dass interne Entwicklungen zur Umformung des zugrundeliegenden Langlaterals führten. 60 Für Millardet (1933: 362) sind retroflex artikulierte Laute der Varietäten Siziliens, Sardiniens und Korsikas „Lautrelikte“. 61 Die Substrattheorie wird auch von Wagner und von Wartburg (1950) vertreten. Politzer (1954) lehnt einen möglichen Einfluss von Substratsprachen zwar nicht kategorisch ab, sieht die Entwicklung von -LL- > [ɖɖ] allerdings eher als Begleiterscheinung der im Sardischen vorhandenen Spirantisierung der lateinischen intervokalischen stimmhaften Verschlusslaute bei gleichzeitiger Beibehaltung der lateinischen Geminaten. Contini, der die retroflexe Entwicklung für einen späteren Zeitraum ansetzt, hält es, wie bereits Rohlfs, hingegen für möglich, dass -LLweiter hinten als l artikuliert wurde, dann die Konstriktivität und Lateralität aufgab und sich in einem letzten Schritt zu [ɖɖ] entwickelte. Hock (1986: 79) legt eine durch interne Grundlagen bedingte Entwicklung zugrunde, etwa wenn er die Entstehung des Retroflexes über die Palatalisierung von etym. -LLerklärt. Der zunächst entstandene Palatallateral entwickelte sich über eine Halbvokalisierung hin zu einem stimmhaften palatalen Plosiv, der in einem Sibilanten aufging. Die entstandene Variante [ɖʐ] entwickelte sich über eine progressive Assimilation zu [ɖɖ]. Jones (2004: 151 f.) bringt eine dritte Theorie in diese Diskussion mit ein: Er argumentiert über akustische Reanalyse und Flapping. Laut Jones ist davon auszugehen, dass nicht-palatale Laterale velarisiert wurden und in der Folge durch eine Fehlanalyse der Sprecher eine retroflexe Artikulation annahmen. Der retroflexe Lateral, so Jones, wurde mit einem Flapping der Zungenspitze produziert und als retroflexer Plosiv reanalysiert. Im Falle des Sassaresischen ist aufgrund des komplexen Sprachkontaktszenarios, das zur Herausbildung des Idioms führte, weniger von einer individuellen, internen Entwicklung von -LLzu [ɖɖ] auszugehen, als vielmehr von einer über exogene Mechanismen erklärbaren Erscheinung: Während Bazzoni (1999: 18 f.) den Retroflex des Sassaresischen als Erbe des Logudoresischen interpretiert, 59 Jones (2004: 149) verweist an dieser Stelle auf die von Contini (1987: 172) angeführten, möglichen Substrate sowie die Vertreter der Substrattheorie: z. B. emphatische Konsonanten des Berber (Wagner), Präromanisch / Prä-Indoeuropäisch (Devoto), Ligurisch (Bottiglioni), Süditalienisch / Iberisch (Menendez Pidal), Substrat X (Millardet). Die Substrattheorie wird u. a. auch von Guarnerio (1902-1905) und Bottiglioni (1927) vertreten. 60 Jones (2004: 150) verweist hierbei auf Hock (1986: 79). 61 Millardet (1933: 368) setzt ohnehin eine ursprüngliche „[…] communauté linguistique entre les trois grandes îles: Sicile, Sardaigne et Corse“ an. In Bezug auf die Art des Substrats bleibt Millardet (1933: 369) jedoch unschlüssig: „Ce substrat commun je l’appellerai <substratx >, mais à la réalité d’un substrat linguistiquex commun aux trois grandes îles en un moment x du passé je crois assez fermement.“ <?page no="206"?> 206 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen begründet Contini die Präsenz des Lautes im Sassaresischen und Galluresischen mit dem Einfluss des Korsischen auf die Varietäten Nordsardiniens ab Ende des 16. Jahrhunderts: La présence de la rétroflexe laisse supposer une diffusion dans l’extrême nord de l’île non pas directement par l’italien mais par le canal du corse, par exemple, qui avait interprété -llpar -ɖɖà une époque précédente. (Contini 1987: 360) Maxia setzt für die Entwicklung von -LL- > [ɖɖ] frühestens einen Zeitraum ab dem 14. Jahrhundert an: „Che il passaggio a cacuminale di -LLoriginario non risalga oltre il XIV secolo è confermato anche dalla situazione della Sicilia e della Calabria dove le prime attestazioni non rimontano più in là del XV secolo“ (Maxia 2012: 167). Es ist fraglich, ob dem für das Sassaresische dokumentierten Retroflex Phonemstatus zugesprochen werden kann. Contini (1987: 567) und Sole (2003: 50) nehmen den Retroflex in das konsonantische Phoneminventar des Sassaresischen auf, allerdings nur in geminierter Form / ɖɖ/ . Minimalpaare, in denen / ɖɖ/ und / ɖ/ in phonologischem Kontrast stehen, existieren nicht, da der Laut stets gelängt auftritt. 62 Auch Kontrastpaare wie [ˈseɖɖa] (it. ,sella‘) vs. [ˈseːda] oder [ˈnuɖɖa] (it. ,nulla‘) vs. [ˈnuːda] (it. ,nuda‘) sind als ,unreine‘ Minimalpaare zu bezeichnen, da sie sich in der Länge der Tonvokale unterscheiden. Contini (1987: 105), der dieses Problem anhand der Varietät Nughedus beschreibt, spricht dem Retroflex daher lediglich Phonemstatus in Opposition zu anderen Geminaten zu. 63 Für das Sassaresische ist in diesem Fall z. B. folgendes Minimalpaar für / ɖɖ/ vs. / dd/ zu nennen: caba / ɖɖ / u (it. ,cavallo‘) vs. caba / dd / u (it. ,tolto, levato‘) (vgl. Bazzoni 1999: 20). Je nach Region zeigt der sassaresophone Sprachraum heute allerdings Unterschiede in der lautlichen Ausprägung des Kakuminallautes, was ebenfalls den Phonemstatus des Lautes in Frage stellen kann: Während der Retroflex als relativ vital „nelle varietà dell’ hinterland “ (Maxia 2012: 164; Herv i. O.), d. h. im Sorsesischen sowie in den Varietäten Porto Torres’ und Stintinos eingestuft wird, verliert der Laut zunehmend seinen retroflexen Charakter im Sassaresischen Sassaris der jüngeren Generationen und erfährt dort häufig nur mehr eine alveodentale Realisierung (vgl. Doro 2001: 27; Sole 2003: 130; Toso 2012: 64). 64 62 Vgl. Jones (2004: 148): „Although many studies transcribe the retroflex plosive as long or geminate, this is not due to a phonological analysis: no short or singleton / ɖ/ occurs in the dialects in question with which / ɖɖ/ might be contrasted.“ 63 Contini (1987: 105): „Nous pensons donc que [ɖɖ] pourrait avoir un statut de phonème dans un système marginal axé sur une corrélation de gémination, à côté de / bb/ et / nn/ .“ 64 In zahlreichen Gebieten außerhalb Sardiniens ist der Kakuminallaut ebenfalls bereits zu [dd] vereinfacht worden. Rohlfs nennt das südliche Kampanien (Prov. Salerno), einige <?page no="207"?> 3.2 Auswahl der Lautvariablen 207 Dass sich eine Entwicklung von [ɖɖ] zu [dd] abzeichnen würde, bemerkte bereits Gartmann (1967: 86). Er beobachtete, „[…] dass dieser Laut in Sassari heute nur mehr von den alten Leuten kakuminal artikuliert wird, von der mittleren und jungen Generation aber dental (-dd-); dagegen ist in Sorso die kakuminale Aussprache noch allgemein“. Gleichzeitig beobachtet er, dass der Retroflex „[…] in vulgärer Aussprache und vor allem von Jugendlichen als kakuminale Affrikate artikuliert [wird]“ (ibid. 95). Die Artikulation scheint sich hier der von [dʒ] anzunähern. So betont auch Sole (2003: 53): 65 Entrambi gli esiti, dunque, convivono nel sassarese-sorsense: infatti le differenze sono minime e dovute, in massima parte, ai tratti prosodici e intonazionali e al carattere più arcaico del sorsense, il quale conserva la ɖ cacuminale da -LLintervocalica, dove il sassarese l’ha in gran parte perduta. Mentre a Sassari le persone anziane conservano la pronuncia tradizionale -ɖɖ- , le persone di mezza età e le giovani generazioni articolano dd -: per cui abbiamo a Sorso una pronuncia cacuminale generalizzata, […]. Es ist wohl auszuschließen, dass das Vorherrschen von [dd] im Sassaresischen Sassaris Erbe korsischer Kontaktvarietäten ist, die anstelle von [ɖɖ] den Reflex [dd] zeigen, denn in einigen Zonen Sassaris (z. B. S. Apollinare) konnte der Retroflex noch lange Zeit nachgewiesen werden (vgl. Maxia 2010a: 27, Fn 45). Auch Guarnerio sowie der ALEIC und AIS notierten für -LLnoch [ɖɖ] als Bestandteil des Konsonantensystems des Sassaresischen Sassaris. Maxia erklärt die Entwicklung von [ɖɖ] zu [dd] daher mit der Abwesenheit des Lautes im italienischen Lautinventar 66 sowie als Beispiel artikulatorischer Ökonomietendenzen: Nella parlata della città capoluogo questo fenomeno vige nella fascia di età più anzianam [sic! ] mentre, specialmente nelle generazioni sotto i sessant’anni, LL si risolve in / dd/ . È possibile che questa particolarità, motivata forse da un fatto di economia articolatoria attestato anche in alcune zone dell’Italia meridionale, si debba a una Zonen in Lukanien, die Provinz Tarent und das nördliche Apulien (Provinz Bari und Foggia) sowie Ischia und Procida (vgl. Rohlfs 2 1972: 388). 65 Vgl. hierzu auch Bazzoni (1999: 19): „[…] se oggi si vuole sentire questo suono dai sassaresi cittadini bisogna rivolgersi a persone molto avanti con gli anni; i giovani e i meno giovani lo hanno definitivamente escluso dalla loro parlata. La stranezza di tutto questo sta nel fatto che appena fuori le mura della città e in tutto il resto del territorio dialettofono (Porto Torres, Sorso, Stintino, La Nurra) il fonema in questione è vivo e presente nella parlata di tutti.“ 66 Maxia (2010a: 27, Fn 44): „Il fenomeno si manifesta anche presso le giovani generazioni di alcuni centri sardofoni forse a causa dell’educazione linguistica impartita nella maggior parte dei casi in italiano, lingua che non conosce gli esiti cacuminali.“ <?page no="208"?> 208 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen tendenza osservabile anche in alcune località del Logudoro in cui / ɳɖ/ presso le nuove generazioni si risolve in / nd/ . (Maxia 2012: 164) Der Verlust des Retroflexes ist seitens der Forschung nicht nur für das Sassaresische beobachtet worden, sondern wurde ebenfalls für zahlreiche sardische Varietäten dokumentiert: Rindler Schjerves (1987) Untersuchung des Bonorvesischen ergab, dass sich eine Verlagerung von [ɖɖ] zu [dd] im Sprachgebrauch imperfekter Sprecher zu vollziehen scheint. Rindler Schjerve machte hierbei die Beobachtung, dass ältere, die kakuminale Artikulation beherrschende Sprecher das Ausspracheverhalten jüngerer, meist italienisch sozialisierter Sprecher ablehnten, da diese „[…] diesen eher schwer zu artikulierenden Laut alveodental realisierten“ (ibid. 325). Unter anderem ist bei Sprechern der campidanesischen Subvarietät des Sulcis der Retroflex laut Piras (1994: 105) „soprattutto nei non giovanissimi“ erhalten geblieben. Piras begründet dies mit dem Einfluss des Italienischen: Oggi le giovani generazioni, sempre più influenzate dalla realizzazione dell’occlusivo dentale sonoro dell’italiano, presentano sempre meno l’articolazione retroflessa, così che tale ‘varianza’ risulta di carattere soprattutto generazionale. (Piras 1994: 106) Auch Mongili (2002: 416) beobachtete in ihrer Studie zum Dialekt von Sedilo die Abwesenheit des Retroflexes in der Aussprache von fünf (von insgesamt 21) ihrer befragten Sprecher. Gaidolfis (2017: 479 f.) Untersuchung der in Nuoro und Irgoli gesprochenen sardischen Varietäten belegt ein häufiges Schwanken zwischen [ɖɖ] und [dd] im Ausspracheverhalten ihrer Informanten. Bravi (2010: 5) bemerkt, dass der Gebrauch des Langokklusivs nicht nur mit den Parametern wie geographische und soziale Herkunft wie Alter, soziale Schicht, Geschlecht und Bildung korreliert, sondern ebenso von Einstellungen gegenüber sardischen Traditionen und Lebensstilen abhängt. Der Kakuminallaut wird von den Sprechern jedoch verschiedentlich entweder als prestigearme Lautform oder auch als Identitätsmarker bewertet: The retroflex pronunciation is felt by some native speakers as a form of lower prestige, while, conversely, it is appreciated by other native speakers as an important linguistic indicator, almost a symbol of language loyalty and a sign of a common Sardinian identity which overcomes internal boundaries. (Bravi 2010: 5) Bravis Analyse von Sprachaufnahmen und soziolinguistischen Umfragen in Cagliari, Belvì und Irgoli bestätigen den generell zunehmenden Verlust des Retroflexes. Die dentale Realisierung ist insbesondere bei jungen Studenten <?page no="209"?> 3.2 Auswahl der Lautvariablen 209 sowie in Städten im südlichen Sardinien verbreitet. Die kakuminale Realisierung zeigt sich nachweislich in der Aussprache von Informanten niedriger sozialer Schichten und von Sprechern, die in kleineren im Norden Sardiniens gelegenen Ortschaften leben (vgl. ibid. 8). 3.2.3.2 Lateral-alveolare und velare Frikative [ɬ]/ [ɮ] und [xx]/ [ɣɣ] Mit den aus der Lautverbindung von L, R, S + Okklusiv entstandenen lateral-alveolaren und velaren Frikativen [ɬ]/ [ɮ] und [xx]/ [ɣɣ] stehen wir typisch sassaresischen Lauten, die als „[…] due formazioni molto strane e difficili per chi non è del luogo […]“ (Sassu 1963: 23) zu betrachten sind, gegenüber. Diese Frikative sind nicht nur für das Sassaresische, sondern auch das Castellanesische und Nordwestlogudoresische bezeugt, 67 betreffen jedoch nicht das Zentralsardische und gelten daher in der Forschung vorwiegend als ,unsardisch‘. Die sog. espirate beschäftigen die Forschung seit langer Zeit: 68 Bereits Spano (1873: 8) hebt die Eigentümlichkeit der sassaresischen Aussprache heraus, wenn er betont, dass die Resultate der konsonantischen Nexus „[…] a prima vista sembrano di render il parlare goffo e rozzo […]“. Die erste wirklich systematische Beschäftigung mit den vier frikativischen Lauten geht auf L. L. Bonaparte zurück. Bonaparte geht davon aus, dass graphisches <l> im Sassaresischen mindestens sechs verschiedene Laute repräsentieren kann, „[…] i quali chiameremo: naturale [z. B. solu , laddru , milli , L. L.], gutturale forte [z. B. solcu , alcu , L. L.], gutturale dolce [z. B. alga , lalgu , L. L.], dentale forte [z. B. altu , palti , L. L.], dentale dolce [z. B. caldu , laldu , L. L.], sibilante [z. B. sibilante dura: palpà , fulfaru bzw. sibilante dolce: alburu , zelvu , velmu , L. L.]“ (ibid. [1866] 2007: 13, 1873: 32 ). 69 Insbesondere Wagner (1941: 189) sieht die Entwicklung der Konsonantennexus L, R, S + Konsonant im Nordsardischen als einen Herausbildungsprozess von Lauten, „[…] die zu der im übrigen Sardischen in großem Gegensatze steht […]“, die aber „[…] diesen Dialekten einen nicht zu verkennenden eigenen Charakter verleihen.“ Er bezeichnet die betroffenen Varietäten aufgrund dieser sehr mar- 67 Zum genauen Verbreitungsgebiet vgl. Contini (1987: 338). 68 Vgl. Contini (1987) für eine detaillierte Zusammenfassung der Vorarbeiten zu den genannten Frikativen von Spano, Bonaparte, Campus, Bottiglioni, Wagner und Pellis. Vgl. auch Lupinu (2007a). 69 Beispiele entnommen aus Bonaparte ([1866] 2007: 16, 1873: 39) und nachträglich durch die Verfasserin (L.L.) in das Zitat eingefügt. Ähnlich äußert sich auch von Maltzan ([1868] 2002: 371): „So besitzen die Sassaresen zum Beispiel nicht weniger als fünf verschiedene Arten, um den Buchstaben ,l‘ auszusprechen. Diese Aussprache ist aber nicht etwa willkürlich, sondern hat den größten Einfluss auf den Sinn des Wortes. Es sind eigentlich fünf verschiedene Konsonanten, die nur in Ermangelung vielfacher Schriftzeichen mit einem einzigen geschrieben werden.“ <?page no="210"?> 210 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen kanten Laute auch als „sardische[…] Spuckdialekte“ (ibid. 191). Wagner (ibid. 189) weist jedoch darauf hin, dass die Beschreibungen von Spano, Bonaparte, Campus, Guarnerio, Bottiglioni sowie seine eigenen Beobachtungen stark voneinander abweichen und die unterschiedlichen verwendeten Transkriptionen das Verständnis der Lauterscheinungen zusätzlich erschweren. In Bezug auf die Herkunft und feste Integrierung der Laute in das Inventar des sich im Mittelalter herausbildenden Sassaresischen misst Spano (1840) der Zeit vor der Romanisierung große Bedeutung bei. Spano (1840: 29) plädiert für eine zentrale Rolle des Arabischen als prälateinisches Substrat und bemerkt für die nordwestlichen Mundarten: „[…] il suono della dhsal arab. nelle sillabe STA , STE ecc. LTA , LTE ecc., RTA , RTE ecc. appoggiando la punta della lingua schiacciata tra i denti e il palato […]. Nelle sillabe LDA , LDE ecc. RDA , RDE ecc. ritengono il bleso suono della lettera dhad arab. come in BARDHU , cardo “ (Herv. i.O). Campus (1901: 13 f.) beurteilt die Bedeutung des Einflusses des Arabischen als weniger tragend 70 und erklärt die Verbreitung der Frikative über das Vorherrschen anderer Idiome vor der Romanisierung. Costa ([1937] 1992c) erklärt die Verbreitung der Frikative im nordsardischen Raum über einen Interferenzeinfluss des Arabischen bzw. Türkischen einzelner Sarazenen: La prima colonia che fondò la città di Sassari riuscì a creare un carattere tipico e questa colonia fu certamente pisana. Forse trovò nel minuscolo villaggio parecchie famiglie emigrate, di Romangia o della Nurra, o magari quella di qualche saraceno sbandato, a cui il linguaggio di Sassari deve le aspirazioni arabe o turche del chilthu , palchì , trudda , cabilthuria , ed altri simili suoni gutturali, a noi rimasti per memoria. (Costa [1937] 1992c: 1798; Herv. i. O.) Bottiglioni (1919: 91) setzt eine unabhängige vorrömische, proto-sardische Entwicklung an, die er jedoch nicht näher präzisiert: […] L (R, S) + cons. presentano caratteri tutti speciali che li tengono ben distinti da quelli che si riscontran negli altri dialetti italiani. Quindi, se pur volessimo dir qualche cosa intorno alle cause prime che li hanno promossi, non vedremmo dove rivolgere il nostro pensiero, se non alle condizioni linguistiche proto-sarde, delle quali purtroppo nulla sappiamo, giacché anche la preistoria della Sardegna, nonostante gli sforzi degli studiosi valenti che se ne occuparono, resta tuttavia avvolta in una fitta nebbia. 70 Vgl. hierzu Campus (1901: 13): „[…] dell’influenza araba lo Spano aveva senza dubbio un concetto esagerato […]“. <?page no="211"?> 3.2 Auswahl der Lautvariablen 211 Er zieht die Existenz dieser Lautentwicklung im Sassaresischen, Galluresischen und Nordlogudoresischen als Beweis dafür heran, dass alle sardischen Varietäten einst eine Einheit bildeten. Die unterschiedliche Entwicklung von L, R, S + Konsonant erlaubt nun, so Bottiglioni, eine Unterteilung des sardischen Sprachraumes in eine erste Zone (Logudoro, Sassari, Gallura), deren Varietäten das Resultat l + Konsonant zeigen, und eine zweite Zone (nuoresischer Varietätenraum), die r + Konsonant aufweist (vgl. Bottiglioni 1919: 52). Die Entwicklung, die sich im Sassaresischen und in einzelnen logudoresischen Varietäten zeigt, bezeichnet Bottiglioni (1919: 52) als „fase ultima e più complessa di questa evoluzione“. Für Bottiglioni stimmt die hier diskutierte Entwicklung mit der der Varietät von Ploaghe überein. L (R, S) + Konsonant entwickelte sich möglicherweise über folgende vier Stufen (vgl. ibid. 86): 71 1. L (R, S) + Konsonant entwickeln sich zu l + Konsonant 2. Zwischen dem Liquid und dem darauffolgenden Konsonanten entwickelt sich ein spirantisiertes palatales Element 3. Dieses beeinflusst auf vielfältige Weise die umliegenden Konsonanten 4. Die auf diese Weise modifizierten Konsonanten assimilieren sich und verschmelzen zu einem einzigen Laut Als einer der ersten Forscher weist Bottiglioni (1919) darauf hin, dass von zahlreichen aus der Lautverbindung entstehenden, individuell ausgeformten und auch diatopischen Varianten auszugehen ist. Ebenso macht er darauf aufmerksam, dass die Frikative jeweils eine stimmlose und eine stimmhafte Variante ausgebildet haben und die Stimmhaftigkeit an die Eigenschaften des Folgekonsonanten zu knüpfen ist. Bottiglioni weist zudem auf die Problematik der Untersuchung und Klassifizierung dieser stark in ihrer phonetischen Ausprägung schwankenden Laute hin. 72 Wagner (1941), der die Genese des Sassaresischen sehr spät ansetzt, geht von einer Ausbreitung der Frikative, genau wie der Palatalisierung, ab dem 16. Jahr- 71 Auf dieser Grundlage stellt Bottiglioni (1919: 87) folgende Regel auf: „Nei dialetti del Logudoro, di Sassari e della Gallura, -L (R, S) + cons.dà l + cons.-; vicino alla liquida si sviluppa un elemento palatale spirante sordo (se gli segue cons. sorda) o sonoro (se gli segue una sonora); esso agisce sulle consonati attigue in modo diverso, secondo che è seguito da una dentale o palatale , da una gutturale , oppure da una labiale o labio-dentale : nel primo caso, intacca la dentale o palatale, riducendola alla spirante corrispondente alla quale si assimila il l ; nel secondo caso, oltre a rendere spirante la gutturale, palatalizza la liquida che poi si assottiglia in j , il quale a sua volta si assimila alla gutturale spirante; nel terzo caso, riduce la liquida alla semivocale j , ma non intacca la cons. seguente, anzi ad essa si assimila“ (Herv. i.O). 72 Bottiglioni (1919: 51): „si tratta di studiare dei suoni delicatissimi, a volta appena percettibili, che per essere afferrati richiedono una pratica, la quale non si acquista se non con uno studio lungo e paziente che abitui l’orecchio a quelle determinate percezioni.“ <?page no="212"?> 212 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen hundert aus. Die Entwicklung aus l + Konsonant ähnelt, so Wagner, der lisca toscana und scheint auf diese zurückgeführt werden zu müssen, 73 […] denn daß sie auf sardischem Boden spontan entstanden sind, kann man schon deshalb kaum für wahrscheinlich halten, weil das ganze echtsardische Lautsystem gegen die Ursprünglichkeit solcher Lauterscheinungen spricht und weil, wie erwähnt, die Erscheinungen dieselbe Zone einnehmen, in der der festländische (toskanische) Einfluß in den Lauten und lexikalischen Entlehnungen über allen Zweifel erhaben ist. (Wagner 1941: 192) Die espirate werden in heutiger Zeit jedoch eher als Weiterentwicklung der lisca toscana interpretiert, die nicht nur im nordwestsardischen Raum, sondern auch auf Korsika und all den Gegenden, die zum nördlichen Becken des Mar Tirreno und zum Mar Ligure zeigen, ihre Spuren hinterließ (vgl. Maxia 2010a: 100, 200). Die Ausbreitung des Phänomens, das auch im Nordwestlogudoresischen auftritt, ist laut Maxia ( 2 2003: 78) nicht mit dem Einfluss des Toskanischen begründbar, da sich die Pisaner bereits Ende des Duecento , als das Regno di Logudoro zusammenbrach und Sassari unter das Protektorat Genuas fiel, aus der Stadt zurückzogen. Eine direkte Verbindung mit der lisca des Westtoskanischen ist auch deshalb eher unwahrscheinlich, da sich der Kontakt Sardiniens mit der Toskana in der Neuzeit auf wenig Austausch mit dem Hafen Piombino beschränkte (vgl. Maxia 2010a: 99). Ebenso ist eine Erklärung der Entstehung der velaren Frikative über die gorgia fiorentina eher unrealistisch. 74 Die Wahrscheinlichkeit ist also groß, dass das Korsische einen wesentlichen Beitrag zur Integrierung der sich auf der Basis der lisca toscana herausentwickelnden Laute im nordsardischen Raum leistete (vgl. Maxia 2010a: 101). Insbesondere Sassari, das Siedlungsort korsischer Kolonien war, fungierte möglicherweise als „un nuovo punto di irradiazione delle ulteriori evoluzioni del fenomeno“ (ibid. 104). Für die Entwicklung von L, R, S + C setzt Maxia ( 2 2003: 78) „una locale esigenza di ridurre lo sforzo richiesto dalla pronuncia di tali nessi“ an, d. h. er interpretiert den Reflex der Assimilation vor dem Hintergrund artikulatorischer Vereinfachung. 75 73 Dass diese Entwicklung eine kontinentalitalienische Basis hat, sieht Wagner (1941: 190) darin begründet, dass das Verbreitungsgebiet der Spirantisierung mit der der Palatalisierung von cl , gl , pl , bl , fl zusammenfällt. 74 Während die gorgia fiorentina lediglich in intervokalischen Kontexten auftritt und zur Lenisierung intervokalischer Verschlusslaute gerechnet werden könne, tauchen die Frikative des Sassaresischen und Nordwestlogudoresischen auch im satzphonetischen Kontext auf und sind ausschließlich das Ergebnis von L, R, S + C/ T (vgl. Maxia 2012: 236). 75 Maxia (2012: 236): „Alla base del fenomeno potrebbe essere un fatto di economia articolatoria che nei nessi con / k/ ne determina la riduzione a un unico fono / x/ .“ <?page no="213"?> 3.2 Auswahl der Lautvariablen 213 Toso (2012: 59 f.) präzisiert bezugnehmend auf z. B. Dalbera-Stefanaggi (1991: 129-132), dass insbesondere die - bereits häufig betonte - Verbindung zur Varietät Ajaccios 76 hergestellt werden muss, d. h. „[…] l’alterazione dei nessi -l-, -re -s- + cons. pare da ascrivere al novero delle concordanze tra il sassarese e l’area còrsa occidentale“ (Toso 2012: 60). Für das Sassaresische (Castellanesische und einige nordlogudoresische Varietäten) setzt Toso (ibid. 59) lediglich eine „alterazione […] ulteriormente progredita“ von lc -, rc -, sc zu dem stimmlosen velaren Frikativ [xx] (z. B. barcha [ˈbaxxa]), von lg -, rg -, sg zu stimmhaftem [ɣɣ] (z. B. algha [ˈaɣɣa]), von lt -, rt -, st zu dem stimmlosen lateral-alveolaren Frikativ [ɬ(t)] (z. B. althu [ˈaɬ(t)u]) und ld -, rd -, sd zu einem stimmhaften [ɮ(d)] (z. B. caldhu [ˈkaɮ(d)u]) an. Wie bereits Wagner (1941: 192) betont auch Maxia (2012: 206), dass die Klärung der Herkunft bzw. Entstehung der Laute dadurch erschwert wird, dass ihre graphische Realisierung seit jeher äußerst problematisch ist und frühere Schriftdokumente somit keine eindeutigen Rückschlüsse auf die tatsächliche Lautgestaltung erlauben. Die Transkription erfolgt selbst in heutiger Zeit nicht einheitlich (z. B. Contini 1987; Doro 2001), wird aber zunehmend nach dem Inventar der IPA vorgenommen (vgl. Sole 2003; Maxia 2012; Toso 2012). 77 Die frikativischen Laute werfen zudem nicht nur im Hinblick auf ihre Herkunft bzw. Herausentwicklung zahlreiche Fragen auf, sondern lassen aufgrund ihrer stark schwankenden artikulatorischen Ausprägung keine eindeutigen Schlussfolgerungen im Hinblick auf einen möglichen Phonemstatus zu (vgl. hierzu Kap. 3.2.3.2). 3.2.3.2.1 „Espirate dentali“ - lateral-alveolare Frikative Als äußerst saliente Laute des Sassaresischen sind vor allem die lateral-alveolaren Frikative [ɬ] bzw. [ɮ] für die vorliegende Arbeit von Interesse, wie z. B. in cabbisthuria [kabbiɬˈ(t)urja] (it. ,tetto‘) und soldhu [ˈsɔɮ(d)u] (it. ,soldo‘). Die lateral-alveolaren Frikative sind - außer im Walisischen - in keiner in Europa verbreiteten Sprache im Lautinventar vorhanden. PHOIBLE online 78 dokumentiert die Verbreitung des Phonems / ɬ/ insbesondere für in Zentral- und Südafrika, China, Papua Neuguinea und im amerikanischen Raum gesprochenen (oftmals bereits ausgestorbenen) indianischen Idiome (z. B. Molalla in Washington und Oregon). Interessant ist die geringe Auslastung des Phonems, das unter den in Phoible genannten Phonemen lediglich eine Repräsentativität 76 Vgl. auch Maxia (2010a: 102). 77 Doro (2001) verwendet hingegen <lth> und <ldh> für [ɬ] und [ɮ] sowie <hh> und <hg> für [xx] und [ɣɣ] (vgl. ibid. 34). 78 Vgl. Moran et al. (2014). <?page no="214"?> 214 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen von 5 % hat. Der stimmhafte Frikativ / ɮ/ ist in weit weniger Idiomen vertreten. Die Repräsentativität beträgt hier laut Phoible lediglich 2 %. Der stimmlose bzw. stimmhafte Frikativ geht im Sassaresischen auf etymologisches L, R, S vor T bzw. D zurück und stellt definitiv einen „tratto tipico e irrinunciabile del sassarese“ (Sole 2003: 134) dar. 79 Sole weist auf die artikulatorische Komplexität der Laute hin, die Sprechern, die das Sassaresische nicht perfekt beherrschen, große Schwierigkeiten bei der korrekten Aussprache bereiten (vgl. ibid.). Hinzu kommt, dass die Laute selbst bei Vollsprechern des Sassaresischen stark in ihrer konkreten phonetischen Ausprägung variieren können. 80 Im Rahmen der Feldforschung konnte festgestellt werden, dass Voll- und Semisprecher des Sassaresischen und Sorsesischen, die diese komplexen Laute beherrschen, oftmals nicht-sassaresophone Gesprächspartner mit der Artikulation des Wortes cabbisthuria ([kabbiɬˈ(t)urja], it. ,tetto‘) ,testen‘. Den Informanten ist die Komplexität und Besonderheit dieser Laute durchaus bewusst, was die Salienz dieser beweist (vgl. Kap. 6.5.2). Eine der ersten Beschreibungen der espirate dentali geht auf Bonaparte zurück: Laut Bonaparte 81 ergibt sich ein „suono dentale duro“, „[…] allorquando la l , derivi essa pure da r o da s , si trova precedere il t , il quale ultimo sottomettesi egli pure alla trasformazione in l dentale duro […]“ (Bonaparte [1866] 2007: 13, 1873: 33; Herv. i. O.). Das bedeutet laut Bonaparte, dass Wörter wie althu (it. ,alto‘) „con doppia ‘l’ ossia ‘l’ forte“ artikuliert werden. Er kommt zu dem Ergebnis, dass dieses l - auch wenn dental artikuliert - sich nur geringfügig von der Aussprache des graphisch als < ll > realisierten Lautes des Gälischen auf der Isle of Man unterscheidet (vgl. ibid. [1866] 2007: 13, 1873: 34). In der Kombination ld modifiziert d das vorausgehende l und wird auch selbst verändert zu einem l dentale dolce (z. B. caldhu ). Diese Artikulation nennt Bonaparte „gaelica mannese“ (ibid. [1866] 2007: 14, 1873: 34). Er setzt also einen „processo assimilativo completo“ (Lupinu 2007a: xxx) an, durch den ein einziger neuer Laut ensteht. Guarnerio (1896-1898: 158-159, § 123) spricht hierbei von der Reduktion des stimmlosen bzw. stimmhaften Dentalokklusivs zu einem interdentalen Frikativ durch den Lateral. 82 79 Durch den Zusammenfall der ursprünglich unterschiedlich realisierten Nexus in [ɬ(t)] bzw. [ɮ(d)] kommt es häufig zur Quasi-Gleichlautung von Wortpaaren, wie z. B. [ˈsɔɮ(d)u] für soldhu (it. ,soldo‘) und [ˈsoɮ(d)u] für sordhu (it. ,sordo‘), die sich lediglich durch die Qualität von o unterscheiden. 80 Hierzu Sole (2003: 134): „La pronuncia è molto difficile per chi non parli perfettamente la lingua, e varia sensibilmente, anche nella stessa persona, in funzione del movimento della lingua, in particolare dell’apice […].“ 81 Auf die Wiedergabe der von Bonaparte gewählten phonetischen Zeichen wird verzichtet. 82 Auf die Wiedergabe der von Guarnerio gewählten phonetischen Zeichen wird verzichtet. Die Entwicklung von L (R, S) + T beschreibt Guarnerio (1896-1898: 158) wie folgt: „il <?page no="215"?> 3.2 Auswahl der Lautvariablen 215 Campus (1901), der wie gesagt das Logudoresische in drei Untergruppen einteilt, widmet sich ausführlich dem Lateralfrikativ, „[…] un suono spirante, che ha del palatale e che io segnerò lt , ld […]“ (Campus 1901: 48, § 104). 83 Wie Contini (1987: 340) bemerkt, geht aus Campus’ Beschreibungen allerdings nicht eindeutig hervor, ob [lt] und [ld] aus zwei Artikulationen oder einer bestehen und welche Bedeutung der Zungenlage hierbei zukommt. Problematisch ist laut Contini auch Campus’ Behauptung, dass der Artikulationsort der stimmhaften Lautvariante weiter vorne liegt als der der stimmlosen. Laut Bottiglioni (1919), der eher von einer palatalen als interdentalen Artikulation ausgeht, 84 entsteht zwischen dem Liquid und dem Dental ein „elemento palatale spirante“ (ibid. 62 f.). Bottiglioni setzt den Prozess einer kompletten intervokalischen Assimilation voraus (vgl. ibid. 54, 63). Petkanov (1941: 197) setzt die Entwicklung L, R, S + T / D > lt an. Die Veränderungen dieser Nexus beschreibt er als „tratti sassaro-logudoresi“ (ibid. 1941: 198), da diese ebenfalls im Nordlogudoresischen, nicht aber im Korsischen eingetreten sind. Petkanov (1941: 197) unterstreicht eher den lateralen als frikativischen Anteil bei der Artikulation, wenn er bemerkt: „ L, r, s + t, d dànno, in generale, l nel sassarese“. l riduce l’esplosiva dentale sorda alla fricativa interdentale sorda […] e alla sua volta assume, per così dire, la tinta interdentale del suono attiguo […]“. Für L (R, S) + D setzt er folgenden Prozess an: „il l riduce il d alla fricativa interdentale sonora […] e alla sua volta le si avvicina […]“ (ibid. 159). 83 Hierzu ausführlich Campus (1901: 49, Fn 7): „[…] il primo suono dei gruppi lt , ld è un ‘suono non vocale puro’. Mentre poi per il suono l si appoggia agli alveoli dei denti la punta della lingua, per il suono di cui parliamo invece si appoggia la parte dorsale anteriore, tanto che la punta può moversi liberamente o aderire agli alveoli, o ai denti inferiori, secondo la comodità. La posizione della lingua è quindi simile a quella che si ha nella pronunzia del suono l’ , ma è un po’ più avanti. L’aria espirata esce fuori dai lati della lingua producendo quel suono che lo Spano chiamava gutturale; nella pronunzia del gruppo lt l’aria è spinta fuori con maggior forza che per il gruppo ld . Nel momento in cui la lingua si allontana dal palato si produce una esplosiva, poiché l’aria rompe l’ostacolo che la lingua fa contro il palato; ma questa esplosiva è ancora accompagnata dal suono fricativo precedente, perché l’aria non cessa di uscire anche dai lati della lingua. L’ultima consonante del gruppo lt ha un che di palatale, meno ne ha il d del gruppo ld , perché per pronunziarlo con dolcezza la lingua si appoggia meno fortemente e quindi il suono esplosivo si produce un po’ più avanti.“ 84 Hierzu ausführlich Bottiglioni (1919: 63 f.): „[…] la punta della lingua non tocca mai né gli alveoli, né i denti; si atteggia alla pronunzia di l , ma immediatamente prima di arrivare agli alveoli, si schiaccia col dorso contro il palato, protendendosi insieme fra i denti superiori e gl’inferiori, senza però toccare né gli uni, né gli altri. L’aria sfugge dalle parti laterali della lingua e davanti a questa, facendo udire un sibilo che s’interrompe bruscamente, quando la lingua si stacca dal palato. Per questo ho detto che i nostri suoni sono più palatali che interdentali.“ <?page no="216"?> 216 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen Gartmann (1967) dokumentiert Unterschiede in der Aussprache der ursprünglich zugrundeliegenden Nexus L, R, S + D in der Aussprache des Stadtsassaresischen und des Sorsesischen (vgl. ibid. 86). So ergebe sich für das Sorsesische ein „seitlicher, palataler, stimmhafter Reibelaut mit folgendem dentalen, stimmhaften Reibelaut“ (ibid. 72), für das Sassaresische hingegen notiert Gartmann einen assimilierten Langkonsonanten (vgl. ibid. 86). Continis (1987) Untersuchung der Lautkomplexe in logudoresischen Subvarietäten mithilfe von Palatogrammen lässt auf verschiedene artikulatorische Typen schließen (vgl. ibid. 344). Es zeigen sich in den einzelnen Lokalmundarten insbesondere große Unregelmäßigkeiten im Hinblick auf den Ort und das Ausmaß des Zungenkontaktes sowie auch große Schwankungen bei Sprechern derselben Subvarietät (vgl. ibid. 342). Laut Contini (1987: 338) kann - das Friktionsgeräusch von einer nachfolgenden Stillephase sehr variabler Dauer begleitet werden, die beendet wird durch ein deutlich wahrnehmbares Explosionsgeräusch. In diesem Fall handelt es sich um zwei aufeinanderfolgende Artikulationen (des Lateralfrikativs und des Okklusivs). - das Friktionsgeräusch zu Ende gehen ohne jegliche Interruption, mit einem leichten „dèclic“, der entsteht, wenn die Zunge den für die Artikulation des Lateralfrikativs notwendigen Kontakt unterbricht und in die für die Artikulation des Folgevokals geeignete Position übergeht. Für diesen Fall verwendet Contini die Transkriptionen [L t ] und [L d ]. - der Lateralfrikativ direkt dem Vokal vorausgehen: [ˈaLu] (it. ,alto‘) und [ˈkaL d u] (it. ,caldo‘). Aus Continis Sonagrammen lässt sich ableiten, dass selbst in ein und derselben Lokalmundart sowie selbst in der Aussprache ein und desselben Sprechers alle drei Varianten ([L], [Lt], [L t ] bzw. [L], [Ld], [L d ]) zu hören sein können. Contini (1987: 351) führt dies auf die Sprechgeschwindigkeit zurück. Seine Untersuchungen, die sich auf Sonagramme, Palatogramme und Linguogramme stützen, lassen jedoch keine eindeutigen Rückschlüsse auf das Sassaresische zu. Wie auch Lupinu (2007a: xxxi) bemerkt, basiert Continis Studie zu den Frikativen nicht auf dem Sassaresischen, sondern den Varietäten nordsardischer Gemeinden. 85 Sole (2003: 134) setzt jedoch ebenso für das Sassaresische drei unterschiedliche Ausprägungen der dentalen Frikative in Abhängigkeit von der Zungenlage an. So können sie mit der Zungenspitze 1) an den unteren Schneidezähnen, 2) zwischen den Zähnen oder 3) an den oberen Schneidezähnen realisiert werden. Je nach Zungenhöhe werden t und d unterschiedlich deutlich wahrgenommen. 85 Contini bezieht sich auf die in Nughedu S. Nicolò, Torralba, Siligo und Ozieri gesprochenen sardischen Varietäten. <?page no="217"?> 3.2 Auswahl der Lautvariablen 217 Nach Sole überwiegen im Sassaresischen die Typen 1) und 2), z. B. a[ɬ]u / a[ɬ t ]u (it. ,alto‘) und so[ɮ]u / so[ɮ d ]u (it. ,sordo‘) (vgl. ibid. 134). Maxia (2012) beschreibt die Entwicklungen der Nexus RT, ST, LT und RD, SD, LD hingegen unabhängig voneinander: Für RT bemerkt er eine starke Tendenz der Assimilierung des Dentals: „una forte tendenza ad assimilare la dentale“ (ibid. 230), z. B. ca[ɬ t ]a (it. ,carta‘). ST entwickelt sich laut Maxia hingegen zu [ɬt] (vgl. ibid. 241), ebenso in der Verbindung STR > [ɬtr] (z. B. mine[ɬtr]a , it. ,minestra‘) mit Erhalt des Dentals (vgl. ibid. 242). Im Fall von LT kann das Resultat ebenfalls [ɬt] sein, wobei auch hier eine Assimilierung weit verbreitet ist, z. B. [ˈaɬ t ru] (it. ,altro‘) (vgl. ibid. 214). Die stimmhafte Entwicklung verläuft laut Maxia wie folgt: RD entwickelt sich zu [ɮd], „[…] che è intensa nel sassarese […]“ (ibid. 221). Für SD und LD legt Maxia dieselbe Entwicklung zugrunde (vgl. ibid. 238, 209). Die zwar zahlreichen, jedoch recht unterschiedlichen Dokumentationen der lateral-alveolaren Frikative erlauben nicht, den Lauten uneingeschränkt Phonemstatus zuzusprechen. Auch Contini (1987: 567) sieht hiervon ab. Als reines Minimalpaar wäre - bei vollständiger Assimilation des Dentals - z. B. salthu / ˈsaɬɬu/ (it. ,salto‘) vs. saldhu / ˈsaɮɮu/ (it. ,saldo‘) zu nennen. Im Falle einer Artikulation von [ˈsaɬ t u] und [ˈsaɮ d u] bzw. [ˈsaɬtu] und [ˈsaɮdu] sind die Voraussetzungen für die Zuschreibung des Phonemstatus hingegen nicht mehr gegeben, sondern kombinatorische Varianten anzusetzen, wofür ebenso die dokumentierten Ausspracheschwankungen sprechen würden. 86 Da der Grad der Assimilation insbesondere von der Sprechgeschwindigkeit abhängt (vgl. Contini 1987: 351), wird im Folgenden lediglich die Anwesenheit der Friktion überprüft und daher stets [ɬ(t)] und [ɮ(d)] transkribiert. 3.2.3.2.2 „Espirate gutturali“ - velare Frikative Die sog. „espirate gutturali“ (Bazzoni 1999: 16), d. h. die velaren Frikative [xx] bzw. [ɣɣ], sind das Resultat der etymologischen Nexus L, R, S + C bzw. G. Die Frikative können jedoch auch das Resultat einer sekundären Entwicklung sein. 87 Die Beschäftigung mit diesen Lauten gestaltet sich zunächst schwierig, da auch diese in der Forschung bislang unterschiedlich beschrieben und wiedergegeben wurden (vgl. z. B. Bonaparte, Guarnerio). 88 Bonaparte sieht die Entwicklung von L, R, S vor C / G nicht auf einer Stufe, sondern geht davon aus, dass zunächst L erhalten geblieben ist bzw. sich aus R, 86 Vgl. z. B. auch cordha (it. ,corda‘) und cortha (it. ,corta‘). 87 Vgl. hierzu Gartmann (1967: 69): „Da auch C vor E, I in zahlreichen Fällen - z.T. handelt es sich um log. Entlehnungen - als k erhalten bleibt, erscheint natürlich auch in diesen Wörtern sekundär xx“ (Herv. i. O.). 88 Campus und Bottiglioni übernehmen Guarnerios Transkriptionsweise. <?page no="218"?> 218 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen S > / l/ ergab. Dieses bewahrte bzw. sekundär entwickelte / l/ nahm daraufhin einen „suono gutturale duro“ bzw. einen „suono gutturale dolce“ an (vgl. Bonaparte [1866] 2007: 13, 1873: 33). Dieser „[…] vien dato alla l ogniqualvolta il suono del c rotondo la segua in italiano […]“. Von einem „suono gutturale dolce“ spricht man, wenn L, R, S auf ein „ g rotondo“ treffen. 89 In lg (z. B. algha ) wird g zu einem velaren Frikativ sowie auch l selbst modifiziert (vgl. ibid. [1866] 2007: 11, 1873: 28). Guarnerio (1896-1898: 158, § 123) beschreibt für L (R, S) + C folgende Entwicklung: „il l riduce l’esplosiva gutturale sorda alla continua sorda dell’ordine e vi si assimila […]“. Für L (R, S) + G bemerkt er: „il l riduce parimenti l’esplosiva gutturale sonora (anche second.) alla continua sonora dell’ordine e vi si assimila […]“. Bottiglioni (1919: §§ 34 f.) geht für die Entwicklung von L, R, S + C bzw. G von einer Zwischenstufe / jx/ aus, 90 die sich der Forschung Gartmanns zu Folge im Sorsesischen erhalten hat: Meine Aufnahmen in Sorso scheinen Bottiglionis Annahme zu bestätigen: in Sorso ist bei einem Teil der Bevölkerung - vor allem in unteren Volksschichten und am auffälligsten im Dorfteil um das Kapuzinerkloster, und zwar bei Kindern ebenso gut wie bei alten Leuten - die Aussprache eines Halbvokals y vor xx und ɣɣ teils schwach, teils sehr deutlich wahrnehmbar […]. (Gartmann 1967: 70; Herv. i. O.) Im Hinblick auf den Ausgang von L, R, S + C gilt es jedoch zu präzisieren, dass die Artikulation palatal oder velar erfolgen kann (vgl. Sole 2003: 57). 91 Im Falle von L, R, S + G ist das Resultat hingegen ein stimmhafter postvelarer Frikativ (vgl. Lupinu 2007a: xxix). Das Sassaresische scheint sich hier genauso wie die von Contini untersuchten nordsardischen Varietäten zu verhalten (vgl. Contini 1987: 296). 89 Auf die Wiedergabe der von Bonaparte gewählten phonetischen Zeichen wird verzichtet. Bonaparte ([1866] 2007: 7, 1873: 20) vergleicht den auf etymologischem LC basierenden Frikativ des Sassaresischen mit der Entwicklung „[…] in ch tedesco gutturale, ossia in j spagnuolo, o se si ama meglio in X greco moderno […]“. Hiermit meint Bonaparte allerdings den ACH-Laut und nicht den ICH-Laut. 90 Vgl. hierzu Gartmann (1967: 70): „Diese Form hat wahrscheinlich in Bulzi, das heute h’h’ aufweist, bestanden, während für die stimmhafte Variante in diesem Dorfe bei einigen Wörtern ij (yɣ) dokumentiert ist.“ 91 Sole (2003: 57) verwendet die phonetischen Zeichen / x/ (palatal) und / χ/ (velar), „[…] rispettivamente di fronte a vocali anteriori i / e o non anteriori: ischina [ixˈxina] ‘schiena’ e porchu [ˈpoχχu] ‘maiale’.“ Contini (1987: 295, 297) bemerkt, dass L, R, S + C insbesondere bei vorderen Vokalen / i, e, ɛ/ zu palatalem Frikativ führt, in allen anderen vokalischen Umgebungen (/ u, o, ɔ, a/ ) erfolgt die Artikulation des Frikativs eher velar (z. B. po[xx]u , it. ,porco‘ vs. i[çç]ina , it. ,schiena‘). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde stets die Transkription [xx] verwendet. <?page no="219"?> 3.2 Auswahl der Lautvariablen 219 Maxia (2012) beschreibt die Entwicklungen der Nexus RC, SC, LC und RG, SG, LG unabhängig voneinander: Für RC bemerkt Maxia (ibid. 218) „una risoluzione aspirata del nesso“, 92 im Falle von SC unterscheidet er unterschiedliche Entwicklungen (vgl. ibid. 235-237): / sk/ vor / a, o, u/ entwickelte sich zu / xx/ (z. B. ischara [ixˈxara], it. ,scala‘), 93 / sk/ vor / e, i/ entwickelte sich zu / ʃ/ (z.B: (i)sciddà [iʃʃidˈda], it. ,svegliare‘). Ebenso kann sich / sk/ vor / r/ zu / xx/ entwickeln (z. B. [(ix)xriˈbi], it. ,scrivere‘). 94 Für das Sorsesische (und Castellanesische) beobachtet Maxia (ibid. 235) für / sk/ im Wortinneren, wie bereits Bottiglioni und Gartmann, zusätzlich eine semikonsonantische Epenthese vor dem frikativischen Element, z. B. [ajˈxxuɬ(t)a] (it. ‚ascolta‘). Für LC ist von einer „fusione dei due fonemi in uno sviluppo aspirato“ (ibid. 207) 95 auszugehen. Für RG beobachtet Maxia (ibid. 222), dass „[…] il nesso si assimila in una fricativa velare aspirata sonora“. SG führt zu einer „velare aspirata intensa“ (ibid. 238) und LG zu einer „fricativa velare sonora intensa“ (ibid. 210). 96 Für die Entwicklung von SG bemerkt Maxia (2012: 238 f.) jedoch, dass in einigen Fällen weitere Realisierungsmöglichkeiten bestehen, z. B. lagaria neben la[ɣɣ]aria (it. ,campata‘), disgrazia neben di[ɣɣ]razia (it. ,disgrazia‘) etc. Da für die velaren Frikative [xx] und [ɣɣ] im Gegensatz zu den lateral-alveolaren Frikativen des Sassaresischen keine größeren Schwankungen dokumentiert worden sind und von einer vollständigen intervokalischen Assimilation der jeweiligen Konsonantennexus auszugehen ist, steht auch hier die Frage im Raum, ob den Lauten Phonemstatus zugeschrieben werden kann. Contini (1987: 567) zählt / x/ zu den Phonemen des sassaresischen Konsonanteninventars. Allerdings ist / x/ primär in geminierter Form vorherrschend. Gesteht man Geminaten Phonemstatus zu, so ergeben sich z. B. die Minimalpaare sulchu 97 / ˈsuxxu/ (it. ,solco‘) vs. succu / ˈsukku/ (it. ,minestrina‘) sowie piccà / pikˈka/ (it. ,scalpellare‘) vs. pischà / pixˈxa/ (it. ,pescare‘) (vgl. auch Contini 1987: 569). Auch / ɣɣ/ ließe sich Phonemstatus zuschreiben, z. B. auf der Basis der Minimalpaare larghu / ˈlaɣɣu/ (it. ,largo‘) vs. lardhu / ˈlaɮɮu/ (it. ,lardo‘). 92 Maxia (2012: 218) zeigt anhand eines Dokumentes aus dem Jahr 1388, die erstmalige graphische Wiedergabe Alca für Arca . Für eine Hinentwicklung von / rk/ zu / x/ spricht die Graphie Nuscu für Nurki in einem Dokument aus dem Jahr 1789. 93 Ebenso wenn es sich um Sardismen handelt (z. B. piscina [pixˈxina], it. ,piscina‘). 94 Der Nexus / skl/ entwickelte sich hingegen zu / ʃ/ , z. B. sciumma [ˈʃumma] (it. ,schiuma‘) (vgl. Maxia 2012: 237). 95 Im satzphonetischen Kontext kommt es dagegen zur Vokalisierung, wenn auslautendes / l/ auf anlautendes / k/ trifft, z. B. maicuntentu (it. ,malcontento‘) (vgl. Maxia 2012: 208). 96 Im satzphonetischen Kontext kommt es dagegen zur Vokalisierung, wenn auslautendes / l/ auf anlautendes / ɡ/ trifft, z. B. maigradu (it. ,malgrado‘) (vgl. Maxia 2012: 211). 97 Rubattu ( 2 2006) nennt neben sulchu auch solchu . <?page no="220"?> 220 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen Contini (1987: 493) beobachtete Ende der 80er Jahre eine neue Tendenz im Westlogudoresischen, wo S + C generell auch über die Wortgrenze hinweg zu [xx] assimiliert werden, d. h. südlog. [sas kìðaza] entspricht westlog. [sa xxìðaza] (it. ,le settimane‘). In Analogie zu der für die Okklusive vorherrschenden regressiven Assimilation, wie z. B. in [sa ppaneze] (it. ,i pani‘), findet Contini bei Sprechern unter 30-40 Jahren bereits generalisierte Formen wie [sa kkìðaza]. 3.2.3.3 Anlautmutation Eine weitere Besonderheit des Sassaresischen ist eine spezielle Form der Anlautmutation innerhalb von Syntagmen. Dieses Phänomen teilt das Sassaresische mit dem Korsischen (jedoch nicht mit dem Galluresischen und Sürdkorsischen, vgl. Toso 2012: 57), den mittel- und süditalienischen Dialekten und dem Sardischen. 98 Im Wortanlaut auftretende Laute unterliegen, sobald sie einem vokalisch auslautenden Wort folgen, Abschwächungsprozessen, d. h. sie zeigen dieselben Entwicklungen wie Inlautkonsonanten. Dieser Prozess ist bereits frühzeitig von Bonaparte ([1866] 2007, 1873, 1884) 99 , Guarnerio (1896-1898) und Bottiglioni (1933) sowie später von Contini (1987), Doro (2001) und Maxia (2012) beschrieben worden. Die Anlautmutation bleibt aus 1) am Äußerungsbeginn, 2) nach einer Pause und 3) wenn das vorausgehende Wort auf Konsonant bzw. betonten Vokal endet (vgl. Sassu 1963: 46; Coradduzza 2004: 19). 100 Handelt es 98 Bottiglioni (1933: 272 f.) bezeichent die Anlautmutation im Korsischen als alttoskanisches Relikt. Vgl. auch Toso (2012: 57): „questo tratto estraneo al gallurese e al còrso meridionale, essendo comunque presente in area sarda è stato spesso annoverato tra le componenti d’origine autoctona del sassarese.“ Vgl. auch Contini (1986: 519): „La plupart des parlers sardes connaissent une très grande instabilité des consonnes initiales en phonétique syntactique que l’on retrouve dans de nombreuses aires dialectales de l’Italie centrale et méridionale ainsi que dans les parlers corses. Certains phénomènes et en particulier l’affaiblissement de ces consonnes après une voyelle se produisent cependant en Sardaigne avec plus de régularité et affectent la quasi-totalité des réalisations.“ 99 Bonaparte vergleicht dieses Phänomen mit der in keltischen Sprachen vorkommenden Anlautmutation. Vgl. z. B. die Entwicklung von C-: „Che se all’incontro la pronunzia n’è debole, il sassarese segue l’andamento delle lingue celtiche, mutando il c rotondo in g parimenti rotondo. Così la voce cori , in gallese calon , la quale isolata si profferisce con c , si trasforma in gori nella pronunzia sassarese ed in galon nella pronunzia e nello scritto gallesi […]“ (Bonaparte [1866] 2007: 6, 1873: 19). Bonaparte (1884: 174) betont, dass das Sassaresische trotz überwiegender Übereinstimmung mit der italienischen Lautstruktur im Hinblick auf die Anlautmutation eher mit sardischen Varietäten vergleichbar ist. 100 Doro (2001: 20): „In posizione iniziale assoluta le consonanti sono sempre pronunciate in modo più energico e marcato“. Guarnerio (1896-1898: 180) nennt dies „la combinazione da dirsi forte“. Diese zeigt sich z. B. in Kombination mit dem unbestimmten Artikel un sowie nach den Präpositionen in und cun . Guarnerio führt hierbei allerdings auch die das raddoppiamento fonosintattico auslösenden Kontexte an (oxytone Wörter, proklitische Einsilber), die genau genommen separat betrachtet werden müssten. <?page no="221"?> 3.2 Auswahl der Lautvariablen 221 sich jedoch um die sog. „combinazione da dirsi debole“, so geht dem Anlautkonsonanten ein auf unbetonten Vokal auslautendes Wort voraus, das u. a. als Artikel ( lu , la , li ), proklitisches Pronomen ( mi , ti , si , zi , bi , ni , lu , li ), bestimmte Präpositionen ( di , da ), Personalpronomen ( noi , voi ), die Vokativpartikel o , Adverbien (z. B. dabboi , sempri ), Determinativpronomia (z. B. chisthu ), Verbalformen (außer bestimmte das raddoppiamento fonosintattico auslösende Elemente), Nomina (z. B. eba debia , it. ,aqua tiepida‘) und Adjektive (z. B. bedda vemmina , it. ,bella donna‘) etc. in Erscheinung treten kann (vgl. Guarnerio 1896-1898: 180; Doro 2001: 21 f.). Die betroffenen Laute werden daher auch als „consonanti deboli o mutevoli“ (Coradduzza 2004: 19) bezeichnet. Vorwiegend handelt es sich hierbei um Sonorisierungsbzw. Lenisierungsmechanismen, denen die Anlautkonsonanten unterliegen: Tutte le consonanti semplici in posizione iniziale presentano una pronuncia chiara e spiccata; in posizione intervocalica, per costruzione sintattica, subiscono invece un mutamento che si risolve per alcune in una sonorizzazione, per altre in una lenizione. (Doro 2001: 21) Laut Doro lassen sich folgende Mechanismen für das Sassaresische festmachen: Betroffen sind stimmlose Okklusive, Affrikaten und Frikative [t, p, k, tʃ, ts, f, s], 101 die zu [d, b, ɡ, dʒ, dz, v, z] sonorisiert werden (z. B. cabaddu → [lu (ɡ)ɡaˈβaɖɖu], it. ,il cavallo‘). 102 Stimmhafte Okklusive, Affrikaten und Frikative [d, b, ɡ, dʒ, dz, v, z] werden hingegen lenisiert bzw. frikativiert (z. B. denti → [la ˈðenti], it. ,il dente‘) (vgl. Doro 2001: 22-26). 103 Hinzu kommt der Betazismus von [v] → [b] (z. B. vinu → [lu ˈbinu], it. ,il vino‘) und der Rotazismus von [l] → [r] (z. B. luna → [la ˈruna], it. ,la luna‘) (vgl. ibid.). 104 Im Hinblick auf die Sonorisierung stimmloser Anlautkonsonanten sind jedoch einige Präzisierungen notwendig: 101 Somit ist auch [kw] betroffen, das zu [ɡw] sonorisiert wird (z. B. quadru → lu guadru , it. ,il quadro‘) (vgl. Bonaparte [1866] 2007: 17, 1873: 41 f.). 102 Vgl. hierzu Gartmann (1967: 56): „Stimmlose Konsonanten werden im Satzinneren stimmhaft. Sie werden in dieser Stellung meistens intensiver artikuliert als im Wortinneren; manchmal kann man fast von einer sonoren Fortis sprechen.“ 103 Somit ist auch [ɡw] betroffen, das eine leichte Lenisierung erfährt (vgl. Doro 2001: 26). Auch [m, n] erfahren gemäß Doro (2001: 22) im intervokalischen Kontext „una leggera lenizione e acquistano una pronuncia più dolce“. 104 Hierzu Maxia (2012: 151) zum möglichen ligurischen Ursprung des Phänomens: „Il trattamento / l/ > / r/ si deve probabilmente all’influsso ligure sebbene non manchino delle attestazioni storiche del fenomeno per la Toscana occidentale che prefigurano, per il passato, una sua maggior diffusione territoriale“. Es gibt jedoch akustisch betrachtet einen Unterschied zwischen primärem und sekundärem [r]: „[…] r derivata da l, ha invece un suono più lenito, sul quale quasi si sorvola per affrettare la voce sulla vocale seguente o sulla sillaba tonica successiva“ (Doro 2001: 22). <?page no="222"?> 222 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen Bezüglich [ts] und [dz] bestehen folgende Beobachtungen: Doro (2001: 23) nimmt an, dass diese „[…] non subiscono, di norma, alcun processo di sonorizzazione o lenizione“. Allerdings scheint es zahlreiche Ausnahmen zu geben, bei denen [ts] durchaus sonorisiert wird. Gartmann (1967: 56) verweist ebenfalls auf diese Schwankungen, setzt aber die Sonorisierung von [ts] als häufiger beobachteten Mechanismus an. Ebenso betont Gartmann, dass [tʃ] oft stimmlos bleibt, in anderen Fällen aber von der Sonorisierung betroffen sein kann. Laut Contini (1987: 480) kommt es zur Sonorisierung von [ts], wenn dieses aus C I / E entstanden ist (z. B. CENA(M) > zena , it. ,cena‘); die Mutation von [tʃ] → [dʒ] ist laut Contini (1987: 482) der reguläre Mechanismus. Zusätzlich muss beachtet werden, dass intervokalisch auftretende Konsonanten generell einer Dehnung unterliegen, die sich auch im Kontext der Anlautmutation manifestiert (z. B. cani → [lu ɡˈɡani], it. ,il cane‘) (vgl. Maxia 2012: 129). Diese an der Wortfuge auftretende Sonorisierung mit gleichzeitiger Längung betrifft insbesondere die stimmlosen Verschlusslaute - ein Phänomen, das das Sassaresische mit dem Castellanesischen teilt, wie Maxia (ibid. 129) zu entnehmen ist: 105 K P T varietà iniziale intervoc. iniziale intervoc. iniziale intervoc. maddalenino càne, -i u càne, -i pàne, -i u pàne, -i tòla a tòla gallurese comune càni lu càni pàni lu pàni tàula la tàula aggese càni lu gàni pàni lu pàni tàula la tàula codaruinese càni lu gàni pàni lu bàni tàula la dàula sedinese càni lu gàni pàni lu bbàni tàula la ddàula castellanese càni lu ggàni pàni lu bbàni tàula la ddàula sassarese càni lu ggàni pàni lu bbàni tàura la ddàura Tab. 10: Anlautmutation in den sardisch-korsischen Varietäten nach Maxia (2012: 129) 105 Diese Beobachtungen decken sich jedoch nicht mit den von Guarnerio vermuteten Regelhaftigkeiten: Guarnerio (1896-1898: 181) bezeichnet die Sonorisierung der stimmlosen Laute als qualitative Alteration , die von keiner Dehnung begleitet wird. Ist der konsonantische Anlaut hingegen bereits stimmhaft, so sei die Alteration quantitativ. <?page no="223"?> 3.2 Auswahl der Lautvariablen 223 Auch diese den Anlaut betreffende Längungsprozesse werden - ebenso wie im Falle von Inlautkonsonanten - unregelmäßig wiedergegeben: Im Gegensatz zu Maxia (2012) notieren Contini (1987) und Toso (2012) die satzphonetisch auftretende Längung nicht. Maxia (2012: 205) setzt diese Entwicklung auch für den Okklusivnexus pr an, z. B. pruna → la [bbr]una (it. ,la pruna‘). Gartmann (1967: 56-59) notiert die Längung der verstimmhafteten Verschlusslaute stets mit, betont dennoch, dass diese weder [ts] → [dz] noch [tʃ] → [dʒ] betrifft, falls die Sonorisierung eintritt (vgl. ibid. 56 f.). Bezüglich bereits stimmhafter Konsonanten, die auf ein vokalisch auslautendes Wort folgen, ergeben sich folgende, oftmals ebenfalls voneinander abweichende Beobachtungen: Im Gegensatz zu Doro (2001) geht Bazzoni (1999: 33) davon aus, dass bereits stimmhafte Konsonanten wie [b, d, m, n, r, z, dz] keinen Mutationsprozessen unterliegen und bezeichnet sie daher als „fisse / stabili“. 106 Ebenso nimmt Contini (1986: 523) keine Veränderung von stimmhaften Okklusiven an, sondern spricht von einer satzphonetischen Regel, die zur Kontrastneutralisierung am Wortanlaut führt (vgl. ibid. 1987: 569 f.). Auch Gartmann (1967: 57) geht nicht von einer Mutation von [m, n, r] aus. Maxia (2012: 157) dokumentiert hingegen eine Dehnung von [r], z. B. radio → la [rr]adio (it. ,la radio‘). Für den stimmhaften Verschlusslaut [b] ist die Entwicklung zu lenisiertem [β] dennoch belegt; ein Phänomen, das Bonaparte wie folgt beschreibt: „[…] la pronunzia sassarese di questa lettera ci pare spagnuola, vale a dire meno labiale del b toscano, le labbra avvicinandosi senza toccarsi“ (Bonaparte [1866] 2007: 6, 1873: 17). Gleiches scheint für [v] zuzutreffen, dass zu einem „ b dolce di pronunzia spagnuola“ (ibid. [1866] 2007: 19, 1873: 47) wird. 107 Auch Gartmann (1967: 57) setzt für [b] und [v] die Entwicklung zu [β] an. Ebenso betont Contini in Bezug auf [b] im Anlaut, dass „en sassarien nous avons relevé soit un b -affaibli, soit la constrictive correspondante β-“. Laut Doro (2001: 22-26) wird [b] zu [β] frikativiert und [v] zeigt den Betazismus zu [b]. Ferner hinterließ der Betazismus von [v] → [b] im Lexikon des Sassaresischen auch erstarrte Formen, z. B. ba[ɖɖ]i (it. ,valle‘), bazza (it. ,vasca‘), basu neben vasu (it. ,vaso‘), berru neben verru (it. ,verro‘) (vgl. Muzzo 1953, 1955; Rubattu 2 2006). 106 In der Tat ist die Lenisierung der bereits stimmhaften Konsonanten nicht deutlich hörbar. Außerdem geht es Bazzoni primär um die Schaffung einer einheitlichen Graphie des Sassaresischen, bei der die Abbildung der lenisierten Konsonanten keine wesentliche Rolle spielt. 107 Später beschreibt Bonaparte (1884: 175, Tab. XIII 198-299) das Resultat [β] - bei Bonaparte als (bh) transkribiert - nicht nur als „weak mutation“ von postvokalischem wortanlautenden b- und v- , sondern auch von stimmlosen f- und p- . <?page no="224"?> 224 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen Im Gegensatz zu z. B. Doro (2001) sprechen Gartmann (1967: 57) und Contini (1987: 478) jedoch nicht von einer Lenisierung von [d] und [ɡ], sondern setzen ihren Erhalt als reguläre Entwicklung an. Maxia (2012: 115) geht allerdings von einer Lenisierung von intervokalischem [ɡ] aus. Dieser Prozess scheint sich auch im Nexus [ɡr] zu vollziehen, z. B. lu granu (it. ,il grano‘). Für [dʒ] gibt es zwei mögliche Reflexe: So kann [dʒ] regulär zu [j] 108 abgeschwächt werden (z. B. genti → [la ˈjɛnti], it. ,la gente‘, giatta → [la ˈjatta], it. ,il gatto‘, gesgia → [la ˈjeʒʒa], it. ,la chiesa‘, giru → [lu ˈjiru], it. ,il giro‘) (vgl. z. B. Bonaparte [1866] 2007: 11, 1873: 28, 30; Maxia 2012: 115, 117), während die stimmhafte Affrikate häufig in Italianismen erhalten bleibt, wie z. B. in gemma → la gemma , geniu → lu geniu , giosthra → la giosthra (vgl. Doro 2001: 23). Aus dem oben Gesagten lassen sich folgende Mechanismen ableiten: A t → d (d → ð) p → b (b → β) k → ɡ (ɡ → ɣ) s → z f → v v → b / β ts (→ dz) tʃ → dʒ dʒ → j B r → rr l → r Tab. 11: Anlautmutation im Sassaresischen Die hier beschriebene Anlautmutation des Sassaresischen - d. h. die Sonorisierung, Lenisierung, der Betazismus und Rotazismus - bleibt jedoch aus, wenn dem Anlautkonsonanten ein das raddoppiamento fonosintattico auslösendes Element vorangeht. Das Sassaresische folgt in dieser Hinsicht weitestgehend den Regeln des Standarditalienischen: Le condizioni del RF sono identiche a quelle dello standard […] anche nel sassarese-gallurese, in quanto il RF è regolarmente provocato non solo dalle parole monosillabiche, atone o toniche, originariamente uscenti in consonante, bensì anche da 108 Der Approximant [j] tritt am Wortbeginn nur in diesen Kontexten auf (vgl. Doro 2001: 24). <?page no="225"?> 3.3 Das Kontaktsystem ,italiano regionale‘ 225 qualsiasi voce abbia l’accento sulla vocale finale, indipendentemente da considerazioni etimologiche. (Loporcaro 1997: 84) Auslöser des raddoppiamento fonosintattico sind somit unbetonte und betonte Einsilber sowie Oxytona: 109 - schwache und starke Einsilber: a , e , si (it. ,se‘), o , tre , chi (it. ,che‘), pa (it. ,per‘), tra , cu (it. ,con‘), più , già , ne (it. ,né‘), no , ma , tu , te , ca (it. ,chi‘) - einige nicht oxytone Mehrsilber: cumenti (it. ,come‘), cantu (it. ,quanto‘), contra / u (it. ,contro‘), sobbra (it. ,sopra‘), calche / i (it. ,qualche‘) - oxytone Mehrsilber: cussì (it. ,così‘), parchì (it. ,perchè‘), cumparà (it. ,comprare‘) - nach folgenden Auxiliarformen: ha , è , saré (it. ,sarai‘) - nach trunkierten Formen: aba’ (it. ,adesso‘), be’ (it. ,bene‘), cra’ (it. ,domani‘), no’ (it. ,non‘), so’ (it. ,sono‘), vo’ (it. ,vuole‘), st(h)à (it. ,stare‘), fà (,fare, fa‘), po’ (,può‘) - nach Possessivadjektiven: lu to’ (,il tuo‘), lu so’ (,il suo‘) Folgt jedoch ein mit [k] anlautendes Wort, so ist dennoch mit einer Sonorisierung zu rechnen: so’ gussì (it. ,sono così‘), no’ gussì (it. ,non così‘) (vgl. Doro 2001). Da für die Lenisierung stimmhafter Konsonanten unterschiedliche Beobachtungen vorliegen (Lenisierung nach Doro vs. Erhalt nach Contini) und diese selbst bei geschultem Gehör nicht eindeutig zu identifizieren wären, werden sie im Rahmen der vorliegenden Studie nicht näher betrachtet. Das erstellte Korpus wird insbesondere im Hinblick auf die Anbzw. Abwesenheit der Sonorisierung stimmloser Okklusive [k, p, t], Frikative [f, s] und Affrikaten [tʃ] hin untersucht. Hinzu kommt der Betazismus von [v] → [b], die Lenisierung von [dʒ] → [j] sowie der Rotazismus von [l] → [r]. Auf die an der Wortfuge entstehende sehr variable Längung der jeweiligen Konsonanten wird nicht weiter eingegangen. 3.3 Das Kontaktsystem ,italiano regionale‘ 110 Unter dem Terminus italiano regionale werden diatopisch markierte Subcodes der italienischen Standardsprache verstanden: „L’italiano regionale è l’insieme delle varietà della lingua italiana, diversificate in relazione all’origine e alla dis- 109 Vgl. hierzu Guarnerio (1896-1898: 180), Gartmann (1967: 57 f.), Loporcaro (1997: 84 f.), Doro (2001: 29-32) und Maxia (2012: 102 f.). Es wird lediglich die italienische Übersetzung der vom Italienischen abweichenden Formen angegeben. 110 Das vorliegende Kapitel ist eine stark überarbeitete Version eines Kapitels aus Linzmeier (2010). Vgl. hierzu auch das Kapitel zum italiano regionale in Pes (2006). <?page no="226"?> 226 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen tribuzione geografica dei parlanti“ (Sobrero 1988: 732). 111 Es handelt sich folglich um dialektal ,eingefärbte‘ Ausprägungen der Standardsprache („[…] fortemente venato di elementi dialettali“, Blasco Ferrer 1994: 62). Die regionalitalienischen Varietäten Sardiniens zeichnen sich insbesondere durch markante strukturelle Besonderheiten in der Phonologie und Intonation aus (vgl. Sobrero 1988: 734) 112 , so dass Bolognesi (2013: 63) von einem „[…] ibrido linguistico che certamente non corrisponde all’italiano standard“ spricht. Aufgrund der starken dialektalen Zerklüftung des Sardischen selbst sowie der systemstrukturellen Besonderheiten des Sassaresischen ergeben sich auch im Hinblick auf die italiani regionali der einzelnen Sprachgebiete enorme Unterschiede. 113 Piredda (2013) 114 bestätigte zudem mithilfe von Perzeptionstests, dass insbesondere Elemente der Lautung der regionalitalienischen Subcodes Markercharakter tragen und die regionale Zugehörigkeit des Sprechers für das Gegenüber schnell zu erkennen geben. 115 Vor dem Hintergrund der Untersuchung der aktuellen Ausgestaltung des sassaresischen Lautinventars soll der Fokus im Folgenden hauptsächlich auf phonetisch-phonologische Besonderheiten des im sassaresischen Sprachraum gesprochenen italiano regionale gelegt werden (- die sich teilweise mit den regionalitalienischen Subcodes der Gallura, des Logudoro und des Campidano überschneiden). 116 Ein äußerst interessantes Phänomen des Vokalismus ist die sardische Metaphonie, die bereits als „una specie di pronuncia standardizzata“ (Corda 1994: 111 Hierzu Loi Corvetto (1983: 4): „L’italiano regionale così inteso verrebbe a costituire quell’insieme di produzioni linguistiche che oscillano fra i due poli rappresentati dall’italiano standard e dal dialetto, ma che a seconda della vicinanza all’uno o all’altro polo presentano peculiarità tanto differenti che solo forzatamente possono essere incluse sotto la medesima etichetta.“ 112 So betont Piredda (2013: 88): „Proprio le caratteristiche fonetiche sono quelle che ‘tradiscono’ immediatamente il parlante, in quanto normalmente sono ben poco correggibili o occultabili.“ 113 Loi Corvetto (1983: 216 f.) hebt jedoch hervor, dass sich im italiano regionale Sardiniens nicht nur der Einfluss sardischer Idiome niederschlägt, sondern ebenso kontinentalitalienische - insbesondere süditalienische - Varietäten auf phonetischer Ebene Spuren hinterlassen haben. 114 Piredda (2013) führte Perzeptionstests mit 180 Personen an den Explorationspunkten Sassari, Sorso, Calangianus, Oristano, Nuoro, Dolianova und Cagliari durch. 115 Piredda (2013: 177): „I marker che appunto permettono questo riconoscimento sono costituiti da tratti fonetici o prosodici, mentre non compaiono mai elementi lessicali o morfologici, che possano essere considerati distintivi di una varietà locale“ (Herv. i. O.). 116 Überblicke zu phonetischen Besonderheiten des italiano regionale della Sardegna finden sich in Canepari (1979), Sobrero (1988) und Piredda (2013, 2017: 487 f.); für morphologische und syntaktische Besonderheiten vgl. Loi Corvetto (1983), Pes (2006) und Piredda (2017: 499 f.). <?page no="227"?> 3.3 Das Kontaktsystem ,italiano regionale‘ 227 157) angesehen werden kann: 117 Hierbei handelt es sich um eine phonologische Regel, die die Veränderung der Qualität von e und o unter dem Hauptton in Abhängigkeit der Präsenz eines bestimmten Vokals in der Folgesilbe erzwingt. Bei Präsenz eines offenen Vokals ( a , o , e ) in der Auslautsilbe, werden betontes e und o im Hauptton geöffnet, ein geschlossener Auslaut ( u , i ) zieht hingegen das Schließen des Tonvokals nach sich (vgl. Lüdtke 2005: 463). Die Metaphonie ist ein typischer Mechanismus des Sardischen, der allerdings nicht in den sardisch-korsischen Varietäten Sassaresisch und Galluresisch Anwendung findet (vgl. Kap. 3.1). Aus dem Campidanesischen und Logudoresischen konnte das Phänomen der Metaphonie jedoch vertikal in das im Campidano und im Logudoru gesprochene Regionalitalienische übergehen. Von dort aus konnte es sich horizontal in das italiano regionale der Gallura und des sassaresischen Sprachraumes fortsetzen (vgl. Loi Corvetto 1983: 211; Pes 2006: 33). Erstaunlicherweise wird der Mechanismus der Metaphonie somit nicht ausschließlich auf das Regionalitalienische des logudoresischen und campidanesischen Sprachraums übertragen, sondern ebenfalls auf das italiano regionale der sardisch-korsischen Sprachgebiete (vgl. Corda 1994: 157). Pes (2006: 120) beobachtete zahlreiche Beispiele für die Metaphonie im Regionalitalienischen ihrer jungendlichen Informanten aus Sassari (und Olbia). Denkbar ist, dass insbesondere die Wahrnehmung des Logudoresischen als konservative und prestigeträchtigste Varietät für die Übernahme der Metaphonie in das Regionalitalienische des nordsardischen Sprachraumes eine Rolle spielt (vgl. Sobrero 1988: 735). Das Campidanesische und Logudoresische, die Loi Corvetto (1983: 212) als „fonti di innovazione“ bezeichnet, interferieren das italiano regionale des Sassaresischen und der Gallura, d. h. der „sistemi ricettivi“ (ibid. 212). Aus dem Sassaresischen selbst gelangen am seltensten Formen in die benachbarten Dialekte. Pes (2006: 123) beobachtet zusätzlich, dass Elemente, die im italiano regionale älterer Informanten zu finden sind, in ihrem jugendsprachlichen Korpus nicht belegt sind: Hierzu zählt die i -Prothese am Wortanfang sowie der paragogische Vokal am Wortende des Sassaresischen. Ein weiteres typisches Phänomen des italiano regionale della Sardegna ist die Konsonantenlängung. 118 Diese tritt im Regionalitalienischen des logudoresi- 117 Hierzu Bolognesi (2013: 74): „[…] la metafonesi ha come unica conseguenza quella di permettere immediatamente l’identificazione di un parlante dell’italiano come sardo […]“. 118 Hierzu Piredda (2013: 88): „si tratta forse del fenomeno più connotante e che maggiormente distingue la parlata italiana in Sardegna“ sowie Contini (1987: 10): „[…] surtout la prononciation très énergique des consonnes. Encore de nos jours, ce dernier trait caractérise les sardophones et trahit leur origine géographique lorsqu’ils s’expriment en italien.“ <?page no="228"?> 228 3 Phonetik und Phonologie des Sassaresischen schen, campidanesischen und sassaresischen Sprachgebietes auf, wird auf den Einfluss des Lokaldialektes zurückgeführt (vgl. Loi Corvetto 1983: 87) und äußert sich daher in den Sprachgebieten unterschiedlich (vgl. Piredda 2017: 498, Fn 6). Pes (2006: 120 f.) beobachtet für die Verstärkung intervokalischer und wortinitialer Konsonanten, dass diese oftmals mit einer Sonorisierung letzterer im intervokalischen Kontext einhergeht. Piredda (2013: 90) verweist auf die häufige intervokalische Lenisierung von Konsonanten. Sie bezeugt für das italiano regionale Sorsos den Übergang von [k] → [ɣ] (z. B. „o una ditʃamo ɣo'si kultura […]“), deutet aber auf die fehlende Systematik hin: „[…] il processo di lenizione non è sistematico ne tantomeno presenta una chiara distribuzione, sebbene sia comune a tutti i soggetti intervistati“ (ibid. 90 f.). Eine „peculiarità esclusiva dell’italiano sassarese“ besteht laut Piredda (2013: 92) in der teilweise palatalisierten Realisierung von Frikativen wie [s, z] 119 - „[…] ben presente nella percezione e identificazione da parte dei parlanti di altre zone della Sardegna“ (ibid. 92, Fn 203) und eine Besonderheit, die auch Sprecher aus Sassari und Sorso als markantes Merkmal des Regionalitalienischen Sassaris wahrnehmen (vgl. ibid. 116). Die partielle Palatalisierung von / s/ am Wortbeginn bzw. im intervokalischen Kontext bezeugt auch Pes für das Ausspracheverhalten sassaresischer Jugendlicher (vgl. Pes 2006: 121). Zusätzlich bemerkten Sprecher aus Sassari und Sorso das Fehlen des rafforzamento fonosintattico im Regionalitalienischen Sassaris (vgl. Piredda 2013: 116). Auch die cadenza des Sorsesischen bewegte sich aus dem Lokalidiom in das Regionalitalienische der Sorsesen. Sie gilt als charakteristisches Merkmal, anhand dessen Nicht-Sorsesen ihr Gegenüber schnell als aus Sorso Stämmige identifizieren können. 120 Ein weiteres Phänomen des italiano regionale befragter Sprecher im sassaresophonen Sprachraum sind die für das Sassaresische (und viele sardische Varietäten) typischen Wortapokopierungen von Namen, Anreden und Verben im gesprochenen Kontext (z. B. mì für mirare , guà für guardare ) (vgl. Pes 2006: 121 f.). 119 Piredda (2013: 92) bezeichnet dies als „[…] il tratto […] maggiormente connotante e distintivo dell’italiano sassarese“. Auch Pira (1984: 131) erwähnt die Besonderheit des esse sassarese . 120 Piredda (2013: 156) verweist hierbei auf folgende Äußerungen ihrer Informanten: è cantilena dei sussinchi ; è la parlata di paese nostro ; sembra una cantilena ; sale e scende parlando . <?page no="229"?> 4.1 Korpusarbeit: Das Problem der diachronen Vergleichbarkeit 229 4 Methodisches Vorgehen Die vorliegende, qualitativ ausgerichtete Studie beschäftigt sich mit der Anbzw. Abwesenheit segmentphonetischer Besonderheiten im Ausspracheverhalten von Semi- und Vollsprechern des Sassaresischen und Sorsesischen. Die Datengrundlage bildet ein eigenes Korpus, dessen Konzeption und Aufbau im Folgenden näher vorgestellt werden. Das vorliegende Kapitel stellt hierzu einführend das Problem der diachronen Vergleichbarkeit von Sprachkorpora und die Notwendigkeit der Erhebung eigener Sprachdaten heraus (Kap. 4.1). Anschließend werden die Rahmenbedingungen der Datenerhebung genauer vorgestellt (Kap. 4.2) und die verwendete Methodenkombination aus soziolinguistischem Fragebogen und Sprachelizitierung sowie allgemeine Aufnahmebedingungen detailliert erklärt (Kap. 4.3). Es folgt ein Überblick über das gesammelte Sprachmaterial und die hierbei gewonnenen Beobachtungen zum verbalen, paraverbalen und nonverbalen Verhalten von Semi- und Vollsprechern sowie zu Akkomodation und geschlechtsspezifischem Verhalten in der Aufnahmesituation (Kap. 4.4). In einem letzten Schritt wird das für die Aufbereitung und Präsentation des Datenmaterials angewandte Vorgehen genauer vorgestellt (Kap. 4.5). 4.1 Korpusarbeit: Das Problem der diachronen Vergleichbarkeit Nicht unwesentlich für die Analyse und Darstellung der aktuellen Lautbeschaffenheit des Stadtsassaresischen und des Sorsesischen auf der Basis aktueller Sprachdaten ist der Vergleich und die Auseinandersetzung mit anderen Quellen, die eine Veränderung der Sprache in der Diachronie zu erkennen geben können. Dorian (1986: 557) hebt diese Problematik im Hinblick auf die Arbeit mit erodierenden Sprachen hervor: One of the serious problems which faces students of dying speech forms, typically, is lack of sufficient or accurate information about earlier stages of the same speech form. Diachronic study in “real” time, with comparison between the speech form as it was 20, 30, or 50 years earlier and the same speech form at the time of the current investigation, is often impossible because of the rarity with which many of these communities have been studied previously. <?page no="230"?> 230 4 Methodisches Vorgehen Dies gestaltet sich umso problematischer für den Teilbereich der Phonetik und Phonologie, da im Falle des Sassaresischen vorwiegend dialektologische, schriftliche Dokumentationen und nur wenige Sprachaufnahmen 1 zum Abgleich zur Verfügung stehen. Diese als direktes Vergleichsmaterial heranzuziehen, ist jedoch riskant, da oftmals mithilfe von Fragebüchern ( questionnaires ) Wortabfragungen bei Modellsprechern vorgenommen wurden. Spontansprachliches Sprechverhalten kann auf diese Weise schlecht erfasst werden. Das dialektologische Hauptinteresse liegt gewöhnlich nicht auf dem Nachweis von Sprachwandelphänomenen, sondern auf der Dokumentation der typischen Strukturen einzelner Mundarten (vgl. z. B. Contini 1987). 2 Ein häufiges Problemfeld ist hierbei auch das Vorgeben von Bezeichnungsvarianten, die zu sog. Echoformen führen können, welche häufig nicht im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet werden (vgl. Eichhoff 1982: 551). Die elizitierten Äußerungen erfahren bei diesen Methoden zudem keine Einbettung in Sätze bzw. längere Phrasen, sondern werden meist lediglich einmalig, d. h. isoliert und explizitlautlich realisiert. 3 Die Anwesenheit satzphonetischer Phänomene, die beispielsweise an der Wortfuge auftreten können, ist hierbei nicht überprüfbar. Im Falle vorhandener Sprachaufnahmen ist oftmals der Aufnahmekontext nicht rekonstruierbar. Auch die Verwendung anderen technischen Equipments (Mikrophon, Speichermedien und -formate) ist für einen direkten Vergleich der Sprachmaterialen hinderlich (vgl. Bounds et al. 2011: 46). Problematisch gestaltet sich zudem die Verwendung unterschiedlicher Transkriptionskonventionen (vgl. Deppermann 4 2008: 29). Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit ist daher ein selbst erstelltes Korpus. Dieses besteht aus Sprachaufnahmen und soziolinguistischen Befragungen, die im Jahr 2012 und 2014 während eines jeweils einmonatigen Forschungsaufenthaltes in Sassari und Sorso durchgeführt wurden. Datengrundlage für die segmentphonetische Untersuchung ist primär Material, das im Jahr 2014 1 Z. B. der VIVaio Acustico delle Lingue e dei Dialetti d’Italia ( VIVALDI ): Während der AIS und der ALI lediglich auf Papier bestehen, wurde versucht, nach dem Vorbild des ALD ( Atlante linguistico del ladino dolomitico e dei dialetti limitrofi ) einen sprechenden Sprachatlas für die Sprachen und Dialekte Italiens zu erstellen. 2 Meistens werden die Gewährspersonen hierbei gebeten, eine dialektale Übersetzung eines standardsprachlich formulierten Begriffs vorzunehmen. Ebenso häufig ist die Abfrage der Wenker-Sätze, der Wochentage oder bestimmter Zahlen (vgl. Menge 1982: 545). Auch bleibt fraglich, inwiefern in der Standardsprache (hier Italienisch) formulierte Fragen eine natürliche Reaktion in der angestammten Sprache bzw. Mundart ermöglichen (vgl. Eichhoff 1982: 553). 3 Explizitlautung ist die „[p]honolog. vollständige, alle distinktiven Merkmale berücksichtigende und dem Standard entsprechende Realisierung von Wortformen […]“ (Glück 4 2010: 192). <?page no="231"?> 4.2 Rahmenbedingungen der Datenerhebung 231 entstanden ist. Hierfür wurden Datensätze von jeweils zehn Sprechern des Stadtsassaresischen und des Sorsesischen ausgewählt. Hierunter befinden sich mehr Semisprecher (insg. 11) als Vollsprecher (insg. 9), da insbesondere Sprachwandelphänomene, die sich im Ausspracheverhalten von Semisprechern manifestieren, Untersuchungsschwerpunkt der vorliegenden Arbeit bilden. Das Korpusdesign wurde im Sinne einer apparent-time Studie (vgl. u. a. Bailey et al. 1991) konzipiert. Dies bedeutet, dass Sprachaufnahmen und soziolinguistische Befragungen mittels Fragebogen mit Sprechern des Stadtsassaresischen und Sorsesischen verschiedenen Alters während desselben Zeitraums durchgeführt wurden. 4 Das gewonnene Sprachmaterial wurde jedoch nicht mit dem Ausspracheverhalten eines Modellsprechers abgeglichen. Vielmehr versucht die Forschungsarbeit, tendenzielle Unterschiede im Ausspracheverhalten von Sprechern unterschiedlicher Kompetenzgrade (Semivs. Vollsprecher) festzustellen, diese mit ihrem soziolinguistischen Hintergrund zu verknüpfen und sie zu den postulierten Ausspracheregeln des Sassaresischen in Bezug zu setzen. Der Referenzpunkt ist folglich abstrakt (vgl. dal Negro 2004: 104), da er auf den in Kapitel 3.2 vorgestellten phonetisch-phonologischen Beschreibungen beruht. Hiermit soll überprüft werden, ob die existierenden phonetischen Beschreibungen des Sassaresischen heutzutage noch Gültigkeit besitzen. 4.2 Rahmenbedingungen der Datenerhebung 4.2.1 Kontaktherstellung und Sprecherauswahl Während der Vorbereitungsphase für meinen Forschungsaufenthalt kontaktierte ich zunächst Bekannte und Freunde, die ich anlässlich einer früheren Sardinienreise kennengelernt hatte sowie Mitarbeiter kultureller Einrichtungen und der Universität Sassari. Die Kontaktaufnahme über Dritte ermöglichte mir einen schnellen und effizienten Zugang zu zahlreichen Sprechern. Dieses Vorgehen hatte zudem den positiven Nebeneffekt einer Art Vorselektion durch den Mittler, der über die Sprachkompetenz seiner Bekannten meistens im Bilde war und somit für die Studie geeignete Voll- und Semisprecher des Sassaresi- 4 Vgl. hierzu di Paolo / Yaeger-Dror (2011: 16 f.; Herv. i. O.): „In an apparent-time , trend , or cross-sectional study, tokens of the variables under investigation are taken from samples of the speech of two or more age cohorts in a speech community and then compared to determine if they differ on the relative frequency of the variants of the given variables. Such studies are designed to determine change over a short period of time, usually the several generations that are present in a given speech community at a given point in time.“ <?page no="232"?> 232 4 Methodisches Vorgehen schen und Sorsesischen empfehlen konnte. 5 Als vorteilhaft erwies sich zudem die Tatsache, dass die potentiellen Informanten, die sich als Vollsprecher auszeichnen ließen, auf diese Weise durch den Mittler direkt in ihrer Muttersprache angesprochen wurden. 6 In diesen Fällen wurde ich als eine Bekannte aus Deutschland, die sich insbesondere für die Sprachen Sardiniens interessiert, in die Gemeinschaft eingeführt. Dies ermöglichte mir zwar nicht, als tatsächlicher Insider der Sprechergruppe anerkannt zu werden, dennoch wurde ich auch nicht als gänzlich außenstehende Person wahrgenommen. 7 Suchte ich Bekannte meiner engeren sassaresischen und sorsesischen Gewährspersonen alleine auf, so stellte ich mich stets als „eine Bekannte von X“ (vgl. Milroy 1980: 54) vor, wodurch ich sofort sehr herzlich willkommen geheißen wurde. Während der Kontakt zu Vollsprechern dank dieses Vorgehens schnell hergestellt werden konnte, gestaltete sich das Auffinden von Semisprechern hingegen schwieriger (vgl. hierzu auch Dorian 1981: 118 f.). Hierbei war ich entscheidend auf die Hilfe von Kontaktpersonen angewiesen, die ihren Bekanntenkreis auf Semisprecher hin durchsuchten und die Kontaktaufnahme übernahmen. Angehörige einer Sprachgemeinschaft sind sich meistens darüber im Klaren, wer bzw. wer nicht als fluent speaker zu klassifizieren ist. Zwar überwiegt die Anzahl der Semisprecher insbesondere in Sassari heute ganz entscheidend, versuchte ich jedoch selbst den Kontakt zu potenziellen Informanten herzustellen, so waren sie meist nicht dazu bereit, an meiner Studie teilzunehmen. Ein häufig beobachtetes Semisprecherphänomen ist das Unwohlsein in Situationen, in denen die moribunde Sprache gesprochen werden soll, und der Versuch auf eine andere Sprache auszuweichen (vgl. Kap. 2.1.2). Die Tatsache, dass ich selbst nicht aus dem sassaresischen bzw. sardischen Kulturkreis stamme, verstärkte die Hemmschwelle zusätzlich. Da die Verwendung des Sassaresischen stark an nähesprachliche und familiäre Kontexte geknüpft ist und die Aufgabenstellung zur Gewinnung von Sprach- 5 Auf diese Hilfe ist der Forscher stets angewiesen, denn „[…] in an actual fieldwork situation it is often impossible for a researcher to determine whether a given person does not know the language or he / she knows it, but does not speak it“ (Tsunoda 2006: 119). 6 Vgl. Menge (1982: 547): „Beherrscht der Forscher die einheimische Varietät nicht, sollte er den ‘Kontakt über Dritte’ ausbauen; d. h. er sollte bei dem Aufnahmegespräch anwesend sein, die Gesprächsführung aber seinem Mittelsmann überlassen.“ Die ideale Voraussetzung für ein solches Forschungsvorhaben wäre natürlich ohnehin, dass Explorator und Befragte der gleichen Kultur- und Sprachgemeinschaft entstammen. Je mehr Gemeinsamkeiten der Forscher mit seinen Informanten aufweisen kann, desto eher wird er als „ingroup interviewer“ wahrgenommen (vgl. di Paolo / Yaeger-Dror 2011: 10). 7 Dies berichtet bereits Milroy (1980: 44): „It was possible to equip myself with a status which was neither that of insider, not that of outsider, but something of both - a friend of a friend […].“ Roesch (2012: 7) verwendet den Terminus semi-insider . <?page no="233"?> 4.2 Rahmenbedingungen der Datenerhebung 233 daten ein Task mit Spielcharakter mit jeweils zwei Beteiligten vorsah, wurde von Beginn an darauf geachtet, Sprecherpaare zu konsultieren, die ein vertrautes Verhältnis zu einander hatten und laut eigener Aussage das Sassaresische bzw. Sorsesische in der Kommunikation - wenn auch nur selten - miteinander verwendeten. Da Semisprecher in ihrem Alltag im Umgang miteinander meistens auf das Italienische rekurrieren, wurde darauf geachtet, dass sie einen hohen Bekanntheitsgrad aufwiesen und sich somit in der Aufnahmesituation wohl fühlten. Die Spielpaare formten sich daher vorwiegend aus Eheleuten, Paaren, Bekannten oder Verwandten. 4.2.2 Forscherverhalten und Sprecherreaktion Eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung von Befragungen und Datenerhebungen ist eine aufrichtige und faire Haltung seitens des Forschers gegenüber seinen Gewährspersonen. 8 Vom Standpunkt der Forscherethik ergibt sich, „[…] daß die heimliche Aufnahme aus prinzipiellen Erwägungen aus dem Repertoire dialektologischer Methodik auszuschließen ist […]“ (Menge 1982: 547; vgl. Ladefoged 2004: 16 f.), auch wenn hierdurch die Natürlichkeit und Spontanität der Sprachhandlungen selbstverständlich zu einem gewissen Grad eingeschränkt werden. Um jedoch den Fokus nicht exakt auf die Inhalte bzw. Ziellaute zu lenken, die für mich bei der späteren Auswertung und Analyse der Daten von Interesse sein sollten, wurde der „Effekt des ‘blinden Flecks’“ (Menge 1982: 547) genutzt. Ich gab daher in den meisten Fällen an, lediglich an einer generellen Dokumentation der Sprache interessiert zu sein, ohne auf das Thema des Ausspracheverhaltens von Semi- und Vollsprechern direkt zu sprechen zu kommen. Auf diese Weise konnte ausgeschlossen werden, dass die Informanten der lautlichen Beschaffenheit des Sassaresischen in der Aufnahmesituation zu viel Aufmerksamkeit zukommen ließen. Letztendlich ist eine Befragungsbzw. Aufnahmesituation jedoch keine alltägliche Angelegenheit, weder für den Feldforscher, noch für die Befragten: Fieldwork is simultaneously a professional and a personal experience, which of course is the source of much of the tension it engenders. To my thinking, fieldwork is inherently stressful. Work undertaken in a strange setting depends on the goodwill of people whose traditions you’re not fully familiar with and whose values you’ll 8 Vgl. hierzu Gerstenberg ( 2 2013: 109): „Es erleichtert die Herstellung einer beiderseits authentischen und möglichst unbefangenen Gesprächssituation, wenn die Forscher ehrlich auftreten. Dazu gehört, dass bei der Kontaktaufnahme das Untersuchungsanliegen geschildert wird.“ Sowie Draxler (2008: 165 f.). <?page no="234"?> 234 4 Methodisches Vorgehen probably never completely fathom; and sooner or later (or more likely both) you’re bound to offend against local norms. (Dorian [2001] 2014: 405) Um das Vertrauen der potentiellen Befragten gewinnen und sie zur Teilnahme an der Untersuchung bewegen zu können, war Ausdauer nötig. In längeren Gesprächen schilderte ich ausführlich den Grund meiner Forschungsreise und gab Einblicke in persönliche Lebensbereiche. 9 Als Basis eines für beide Seiten angenehm verlaufenden Gesprächs gilt es, eine Atmosphäre der Gleichheit, d. h. des Gebens-und-Nehmens zu schaffen. Girtler ( 4 2001) schlägt hierfür das sog. „ero-epische Gespräch“ 10 vor, das verhindert, dass der Befragte in die Rolle eines reinen ,Datenlieferanten‘ 11 gedrängt wird: Es ist ein Gespräch bei dem es um Erzählungen und Geschichten geht, die sich so ziemlich auf alles einer Kultur oder Gruppe beziehen können. Dabei ist es nicht bloß der Forscher, der Fragen stellt, sondern auch der Gesprächspartner, also der, über dessen Kultur ich etwas erfahren will. […] Vom üblichen Interview unterscheidet sich das Gespräch dadurch, dass die Beziehung zwischen beiden, Forscher und Forschungssubjekt, durch das Prinzip der Gleichheit bestimmt ist, während beim Interview der Interviewer geradezu als Verhörender erscheint. (Girtler 4 2001: 147) Von Vorteil war hierbei auch mein generelles Interesse an der sardischen Kultur. 12 Dank meiner früheren Aufenthalte auf Sardinien waren meine bisherigen Erfahrungen, meine Kenntnis sardischer Städte sowie meine mittlerweile mehrjährigen Freundschaften mit einigen Sarden ein häufiges und beliebtes 9 Girtler ( 4 2001: 71): „Der Forscher wird selten ein vorbereitetes Feld finden, in dem er gerne gesehen wird und man ihm gerne seine Fragen beantwortet.“ 10 Hierzu Girtler ( 4 2001: 150): „Im Eigenschaftswort >ero-episch< stecken die altgriechischen Wörter >Erotema< und >Epos<. >Erotema< heißt die >Frage< beziehungsweise >erotemai< fragen, befragen und nachforschen. Und >Epos< bedeutet >Erzählung<, >Nachricht<, >Kunde<, aber auch >Götterspruch< beziehungsweise >eipon< >erzählen<.“ 11 Vgl. hierzu Girtler ( 4 2001: 129): „Es entspricht nicht der Ethik des Forschers, die Person, auf die sich die Beobachtung bezogen hat, wie >heiße Erdäpfel< fallen zu lassen, weil man sie nicht mehr benötigt. Man hat die Daten für die Publikation und dies, so meinen manche Forscher, genüge. Da ich es jedoch mit Menschen zu tun habe, die ich als solche achten muß, verbietet es sich, sie als bloße Forschungsobjekte zu behandeln.“ Sowie Menge (1982: 547): „Allgemeingültige Regeln für ‘richtiges’ Interviewer-Verhalten lassen sich kaum angeben; schlecht wird das Verhalten immer dann, wenn der Forscher nur an der Aufnahme und nicht an der Person des Aufgenommenen interessiert ist.“ 12 Milroy (1980: 44) spricht auf der Grundlage der Forschungen in Belfast zudem die Vorteile für weibliche Feldforscher an: „[…] male strangers were at that time viewed with considerable suspicion […]“, und weiter „A solidary woman was unlikely to be viewed as a threat […]“, wobei Milroy gleichzeitig zugesteht, dass manche Orte „[…] may be more dangerous for a woman than a man […]“ (ibid. 45). <?page no="235"?> 4.2 Rahmenbedingungen der Datenerhebung 235 Gesprächsthema. Dies zeigte den Befragten, dass ich generell großes Interesse am Erkunden Sardiniens hatte und nicht ausschließlich an einem einmaligen zielgerichteten Aufenthalt, der lediglich der schnellen Gewinnung von Sprachdaten dienen sollte. Sobald der Hintergrund meiner Neugier und meiner vielen Fragen bekannt war, wurde auch die Bitte um Bearbeitung des Fragebogens und der Elizitationstasks von keinem der Befragten abgelehnt. Die Tatsache, dass die sassaresische Sprache und Kultur von einer fremden Person als erforschungswürdig erachtet wurde, führte zu einer hohen Kooperationsbereitschaft, jedoch auch häufig zu Verwunderung. Einerseits konnte ich große Freude und Befürwortung seitens der Befragten in Bezug auf mein Projekt feststellen, da sie in meiner Arbeit eine Dokumentation ihrer gefährdeten Sprache sahen, die auf Sardinien selbst wenig Schutz erfährt. Viele Informanten schienen sehr beeindruckt von der Tatsache, dass ihre Sprache und Kultur an einer deutschen Universität, d. h. in einem institutionellen Rahmen, Interesse weckt und erlebten dies als eine positive Neubewertung ihrer angestammten Sprache. Insbesondere in der Ortschaft Sorso, die ein Zentrum von relativ überschaubarer Größe aufweist, war ich bereits nach wenigen Tagen bekannt, als die ,Deutsche mit dem Aufnahmegerät‘, wodurch ich einen vorteilhaften Wiedererkennungswert hatte. Durch meinen relativ hohen Bekanntheitsgrad kam ich oftmals an öffentlichen Plätzen mit bereits konsultierten Sprechern erneut ins Gespräch. Häufig erkundigten sie sich nach meinen Fortschritten (z. B. Quante te ne mancano ancora, delle persone? ) und boten Hilfe bei der Kontaktherstellung mit weiteren Informanten an. In einigen Fällen begleitete ich meine Informanten bei ihren alltäglichen Besorgungen und Besuchen, wodurch es mir möglich war, in die Lebenswelt der Befragten tiefer einzutauchen, ein Gefühl für die Sprachwahl in Bezug auf bestimmte Interaktionssituationen zu entwickeln sowie die „Relevanz und Repräsentativität einzelner Ereignisse abzuschätzen“ (Spranz-Fogasy / Deppermann 2001: 1009). Viele soziolinguistisch relevante Informationen konnten somit durch teilnehmende Beobachtungen gewonnen und festgehalten werden. 13 Neben dem allgemein sehr hohen Interesse an meinem Forschungsvorhaben führte mein Wunsch nach Erforschung der sassaresischen Sprache andererseits 13 Vgl. hierzu Schlobinski ( 2 2005: 996): „Die teilnehmende Beobachtung ist die Form der Beobachtung, bei der der Forscher (= Beobachter) das Sprachverhalten von Personen in natürlichen Kontexten beobachtet, indem er an Aktivitäten der Personen teilnimmt, ohne diese Aktivitäten zu stören.“ Diese qualitative Methodik ermöglicht dem Forscher gemäß dem Offenheitsprinzip, sein Forschungsinteresse dem jeweiligen Kontext flexibel anzupassen und Fragen vor Ort zu entwickeln (vgl. Spranz-Fogasy / Deppermann 2001: 1007). <?page no="236"?> 236 4 Methodisches Vorgehen oftmals zu großer Verwunderung. Zahlreiche Informanten schienen erstaunt über die Tatsache zu sein, dass ich mich explizit für das Sassaresische und nicht für das Sardische (Logudoresische) interessierte, d. h. für ein Idiom, das nicht nur im direkten Vergleich zur Dachsprache Italienisch, sondern auch in Gegenüberstellung zum Sardischen schlecht aufgestellt ist. 14 Einige Befragte nahmen zunächst an, mein Vorhaben beschränke sich auf das Erlernen des Sassaresischen als Fremdsprache - ein aus Sprechersicht nur schwer nachvollziehbares Ziel, da das Sassaresische als Sprache der Nähe und des Vertrauens 15 gewöhnlich lediglich in jungen Jahren durch Familienzugehörigkeit oder Freundschaft bzw. eine bestimmte Ortsbindung sowie in informellen Lernsituationen erworben wird, 16 aber keinesfalls von Fremden im Erwachsenenalter (vgl. Kap. 1.4.2.3). 4.2.3 Sprache der Befragung und Taskinstruktion Als Sprache der Befragung kam lediglich das Standarditalienische in Frage. Zum einen wurde der soziolinguistische Fragebogen auf Italienisch verfasst, zum anderen wurden bei Abwesenheit der sassaresophonen Mittler auch die Erklärungen zum Ablauf der Sprachaufnahmen sowie Gespräche, die der Gewinnung metasprachlicher Daten dienten, in italienischer Sprache vorgenommen. Die Entscheidung hierfür sei kurz begründet: Wie bereits ausführlich beschrieben, handelt es sich bei der sassaresischen Sprache um ein vorwiegend mündlich gebrauchtes und in Nähekontexten verwendetes Idiom, das keine konsequente Anwendung in der Schriftlichkeit (außer in der Dichtung und nähesprachlichaffinen Textformen wie SMS und E-Mail) erfährt. Da die Sprecher des Sassaresischen mit einem schriftlichen Gebrauch ihrer Sprache somit lediglich in geringem Maß vertraut sind und Textformen wie offizielle Schreiben, Umfragen etc. stets in italienischer Sprache vorfinden, wurde der Fragebogen - auch um Verwirrungen seitens der Informanten zu vermeiden - auf Italienisch verfasst. Gleiches galt für das mündliche Gespräch mit den Befragten. Das Ansprechen möglicher Gewährspersonen sowie die sich anschließenden Gespräche erfolgten im Italienischen. Als Sprache des Vertrauens und der Nähe nimmt das Sassaresische nicht die Funktion eines Idioms ein, das zur Kontaktherstellung mit Fremden Verwendung findet. Die extreme dialektale Zersplitterung des Sardischen sowie die generell mehrsprachige Situation Sardiniens erlaubt es nicht, die sprachliche Zugehörigkeit bzw. Kompetenz des fremden Gegenübers 14 Ähnliches beobachtete Dorian für das Gälische (vgl. Dorian [2001] 2014: 397). 15 Diesen Terminus übernehme ich von Pfänder (2000: 21). 16 Dorian ([2010] 2014: 432) spricht von einem „Native Speaker Status as a Private-Group Right“. Vgl. hierzu auch die Beobachtungen zum Frankokreol von Pfänder (2000: 32). <?page no="237"?> 4.2 Rahmenbedingungen der Datenerhebung 237 auf Anhieb zu erkennen. Hinzu kommt, dass insbesondere in einer Großstadt wie Sassari die Anonymität sowie die sprachliche und kulturelle Vielfalt der Menschen es nicht einmal für die Bewohner der Stadt selbst ermöglichen, von Vorneherein abzuschätzen, wer das Sassaresische beherrscht und wann bzw. wo es zum Einsatz kommt. Als Sprache der Kontaktaufnahme, d. h. als überregional gültige Verkehrssprache, dient das Regionalitalienische. Dank eines früheren Aufenthaltes im Norden Sardiniens war ich bereits mit dem Phänomen des alltäglichen und problemlosen Code-Switchings vertraut, was mich von meinem Ziel, mir umfassende Kenntnisse des Sassaresischen beizubringen, abbrachte. Zwar eignete ich mir im Vorfeld mithilfe grammatikalischer Beschreibungen (u. a. Bazzoni 1999) und kleinerer Online-Videos ( Sassari. TV ) Grundkenntnisse der Sprache an, meine Versuche, mich in sassaresische Gespräche einzuklinken, führten jedoch in den meisten Fällen eher zu Belustigung als zu Anerkennung. Zu abwegig schien es, mit einer Deutschen in sassaresu zu sprechen. 17 Auch das Problem des fehlenden Prestiges wurde hierbei thematisiert. 18 So erklärten mir zahlreiche Informanten, aus Gründen des Respekts niemals mit mir, d. h. mit einer fremden Person, unaufgefordert und ungezwungen in dialetto zu sprechen, sondern lediglich, um meinem Wunsch entgegenzukommen: Per motivi di rispetto non parlerei mai con Lei in dialetto così. Lo farei solo per farLe un favore, visto che Lei se ne interessa . 19 Anders verhielt es sich in Gesprächen mit Kulturbeauftragten, Lehrern und Politikern, die von meinen - zugegebenermaßen basalen - Sassaresischkenntnissen beeindruckt zu 17 Dies ist ein oftmals im Rahmen von Sprachverfall beobachtbares Phänomen: Mit dem Versuch des Gebrauchs der Minderheitensprachen ,verletzen‘ Fremde, die das Idiom erlernen wollen (sog. „activist learners“, Dorian [2010] 2014: 433), im Grunde lokale Normen, z. B. solche die besagen, dass im Umgang mit Fremden lediglich die Prestigesprache gebraucht wird. Fremde weisen dem betreffenden Idiom hiermit neue Rollen zu, die Mitglieder der Sprachgemeinschaft als unnatürlich („unnatural roles“, ibid.) bzw. als künstlich und unangenehm („artificial and offputting“, ibid.) wahrnehmen können. Die traditionellen Verwendungsbereiche der angestammten Sprache auszuweiten, kann daher als unangemessen empfunden werden - („[…] attempts to expand its functions are viewed as illegitimate“, ibid.) - und das Verhältnis zwischen Forscher und Befragten negativ beeinflussen. 18 Vgl. hierzu in Dorian (1999a: 33-35) das Kapitel „The Fieldworker’s Dilemma in a Language-shift Setting“. 19 Vgl. Tse (2013: 131): „Even if the researcher were fluent in the language, however, there would still be a certain degree of unnaturalness in the context of an interview. Minority languages are spoken by a small community, which means that there is often a tighter link between the social meaning of speaking in the language and one’s ethnic identity. The researcher’s identity as an outsider could be virtually impossible to overcome in many situations. Furthermore, in a multilingual context, the most ‘natural’ way for a minority language speaker of communicating with a researcher would be to use a lingua franca rather than the language of interest.“ <?page no="238"?> 238 4 Methodisches Vorgehen sein schienen und mein Interesse an der Sprache als eine von außen signalisierte Aufwertung des Sassaresischen schätzten. Generell scheint unter Linguisten ohnehin Einigkeit darüber zu herrschen, dass das Erlernen des Lokalidioms seitens des Feldforschers zwar einige Vorteile mit sich bringt - zweifelsohne kann es z. B. als ,Eisbrecher‘ dienen -, jedoch nicht zwangsläufig für das Gelingen der Datenerhebung und die Analyse des gewonnenen Materials entscheidend mitverantwortlich ist (vgl. z. B. Crowley 2007: 155). Dank der Tatsache, dass die Aufgabenstellung vor der Bearbeitung der Elizitationstasks geklärt worden war, war es mir möglich, mich aus dem Geschehen weitestgehend herauszuhalten, um das Beobachterparadoxon 20 , das sich bei offenen (im Gegensatz zu heimlichen) Aufnahmesituationen zwangsläufig ergibt, möglichst minimal zu halten. Durch das ,Ausklinken‘ aus der Spielsituation sollte zusätzlich ein häufiges Switchen ins Italienische durch mögliche auftretende Rückfragen vermieden werden. Allerdings wurde bewusst darauf geachtet, die Sprecher im Vorfeld nicht anzuweisen, zwangsläufig auf Switching mit dem Spielpartner zu verzichten. Wie bereits dargestellt, besteht der sprachliche Alltag auch für Vollsprecher des Sassaresischen und des Sorsesischen nur zu einem geringen Anteil aus Interaktionsmomenten, die den Gebrauch der Mundart ermöglichen, sondern ist geprägt von einer ständigen und häufig notwendigen Verwendung des Italienischen, d. h. „[…] ein bewusstes Switching ist Ausdruck eines Bewusstseins sprachlicher Normen und situativer Angemessenheit“ (Rosenberg 2003: 296). Da Code-Switching selbst bei Angehörigen der gleichen Sprechergemeinschaft, d. h. selbst bei gleichbleibendem Gesprächspartner, ein alltägliches Phänomen darstellt und somit ein authentisches Sprachverhalten wiederspiegelt, wurde es ganz bewusst nicht aus dem Spielablauf ausgeschlossen. 20 Der Terminus observer’s paradox wurde von Labov (1971: 135) geprägt: „das Ziel der sprachwissenschaftlichen Erforschung der Gemeinschaft muß sein, herauszufinden, wie Menschen sprechen, wenn sie nicht systematisch beobachtet werden; wir können die notwendigen Daten jedoch nur durch systematische Beobachtung erhalten.“ Vgl. hierzu Wodak (1982: 541), die das Beobachterparadoxon auf die Aufnahmesituation bezieht: „einerseits ist man bemüht, möglichst natürliche, spontane sprachliche Daten zu erhalten, andererseits verzerrt der Untersucher sofort die SPS [Sprechsituationen, L. L.]. Der Interviewer bzw. Beobachter verändert durch sein beobachtendes und beschreibendes Eingreifen in die natürliche Struktur eines funktionierenden Kommunikationssystems (z. B. einer Kleingruppe) eben diese Struktur selbst.“ <?page no="239"?> 4.3 Methodendesign 239 4.3 Methodendesign 4.3.1 Soziolinguistischer Fragebogen Im Fokus der vorliegenden Arbeit steht die Untersuchung des Ausspracheverhaltens von Semi- und Vollsprechern des Stadtsassaresischen und Sorsesischen. Die Interpretation sprachstruktureller Phänomene sollte jedoch nicht von ihren Sprechern und deren soziobiographischem, -linguistischem sowie sprachattitudinalem Hintergrund entkoppelt werden (vgl. Grinevald / Bert 2011: 47). Allerdings stellte sich die Frage, wie metasprachliches Datenmaterial zur Selbsteinschätzung von Sprechern in Bezug auf ihr eigenes Sprachverhalten zu beurteilen ist, da es sich meist um subjektive Meinungsäußerungen der Befragten handelt. 21 Diese laienlinguistischen Beurteilungen sind jedoch für die Erforschung von Sprachgebrauch und Sprachwandel von großer Relevanz. Macha / Weger (1983: 265) betonen, dass [d]ie subjektiven Meinungen, Einstellungen und Bewertungen der Sprachbenutzer […] als prägende Instanzen für das Sprachleben einer Gemeinschaft gewertet werden [müssen]. Sie steuern in starkem Maße die situative Auswahl zwischen verschiedenen koexistent verfügbaren Sprachvarietäten und Sprachvarianten und wirken sich damit auf die Art der Sprachgebrauchsstrukturen einer Gesellschaft aus. Zugleich bestimmen sie wesentlich die Richtung, in die der Sprachwandel läuft. Ganz im Sinne der Perceptual Dialectology sollte daher bei der Auslegung erhobener Sprachdaten bewusst dem Laienwissen Beachtung geschenkt werden (vgl. Löffler 2010: 32), denn [n]icht mehr nur objektiv messbare ‚Dialekteme‘ stehen im Visier, sondern auch und vor allem gefühlte Dialekteme oder gefühlte Dialektalität. Dazu gehören Meinungen über, Einschätzungen von Dialekten und deren Sprechern, innere Landkarten und deren Funktionen, z. B. als steuernde Faktoren des Sprachverhaltens - auch in der Situation der Befragung - oder als Ursprung von Sprachwandel überhaupt. Perceptual 21 Für die wissenschaftliche Verwertung des Gesagten der Befragten darf der Forscher nach Eichinger (2010: 433 f.) drei Punkte nicht außer Acht lassen: Erstens gilt es zu berücksichtigen, dass Aussagen der Befragten zum Sprachgebrauch meist als unmittelbare Antworten auf gestellte Fragen entstehen, über die der Befragte meist zuvor nicht reflektiert hat. Zweitens ist die Exaktheit der metasprachlichen Bemerkungen zu hinterfragen, da es sich bei den Gewährspersonen meist nicht um Sprachwissenschaftler handelt. Drittens versuchen Informanten häufig, „[…] zu ihrem Gesprächspartner nett zu sein“ (ibid. 434), lassen sich durch bereits geäußerte Meinungen beeinflussen und „[…] konstruieren an mögliche gemeinsame Erfahrungen anschließende Geschichten über ihr sprachliches Leben“ (ibid. 437). <?page no="240"?> 240 4 Methodisches Vorgehen Dialectology handelt somit von der Sprecher-Subjektivität als einer eigenständigen objektiven Wirklichkeit. (Löffler 2010: 32) Mit Hilfe eines Fragebogens, der den Informanten vorgelegt wurde, sowie durch häufige sich anschließende Gespräche sollte die Feldforschung Aussagen zu bestehenden Sprachkenntnissen, zum Sprachgebrauch, zum Spracherwerb, zu den üblichen Sprachverwendungsbereichen, zur Sprachbewertung und zur Sprachcharakteristik ermöglichen sowie eine Beurteilung des sprachlichen und kulturellen Zugehörigkeitsgefühls zulassen. Der im Rahmen der Feldforschung eingesetzte zehnseitige Fragebogen gliederte sich in sieben Themenkomplexe, deren Gesamtbearbeitungszeit auf ca. 20 Minuten angesetzt war. Die Befragung war somit mit geringem zeitlichem Aufwand verbunden, was für die Motivation der Sprecher an der Teilnahme ausschlaggebend war. Die in Themenbereiche unterteilten Blöcke beinhalteten offene, halboffene und geschlossene Fragen (vgl. Porst 1996: 739), d. h. zum einen standardisierte Fragen, die ein hohes Maß an Objektivität und der Vergleichbarkeit gewährleisten, und zum anderen offene Fragen, um individuelle Meinungsäußerungen einzufangen und um die Befragung abwechslungsreicher und interessanter zu gestalten (vgl. Diekmann 9 2002: 374 f.). Folgende sieben Themenbereiche wurden mithilfe des Fragebogens abgefragt: 22 A) Dati biografici : Abfrage von demographischen Daten, Informationen zu Herkunft und Familie der Befragten, biographische Stationen, Erfassung von Sozialdaten B) Apprendimento del sassarese e dell’italiano : Angaben zum Spracherwerb des Sassaresischen / Sorsesischen und des Italienischen C) Uso attuale del sassarese : Befragung zur aktiven Beherrschung und zu den Gebrauchskontexten des Sassaresischen / Sorsesischen; Angaben zu Primär- und Sekundärsprache D) Media : Angaben zur Nutzung von Medien wie lokale Rundfunkprogramme und Literatur sowie zum Schreib- und Leseverhalten der Befragten E) Identità ed attitudine verso la lingua : Angaben zu Sprachidentität und Sprachattitüde 22 Der Fragebogen ist in Anhang A der Arbeit zu finden. Die Grundstruktur und Fragesukzession des Fragebogens lehnt sich an die von Szlezák (2010), Oppo (2007b) und Gerstenberg ( 2 2013: 110) vorgeschlagenen Modelle an. Bevor der Fragebogen im Rahmen der Forschungsaufenthalte zum Einsatz kam, wurde er in Form von Vortests von drei aus Sassari stammenden Kontaktpersonen bearbeitet. Hiermit sollte überprüft werden, mit welchem zeitlichen Aufwand die Bearbeitung verbunden war und ob die Fragen verständlich formuliert waren (vgl. Hippler / Schwarz 1996: 727). <?page no="241"?> 4.3 Methodendesign 241 F) Peculiarità del sassarese / del sorsese : Befragung zu charakteristischen Eigenschaften des Sassaresischen und Sorsesischen sowie Abfrage der Bewertung der Varietäten und Frage nach Salienz G) Legame al luogo di residenza : Feststellung der Ortsgebundenheit, der Netzwerkstruktur und des Alltags- und Freizeitverhaltens der Befragten Die im Rahmen der Fragebogenuntersuchung erhaltenen Daten wurden primär einer qualitativen Analyse unterzogen: Die individuellen Antworten der Sprecher auf die im Fragebogen enthaltenen geschlossenen sowie offenen Fragen sind den einzelnen Sprecherprofilen in Kap. 5 zu entnehmen. Sie werden dort ausformuliert wiedergegeben, jedoch nicht zwangsläufig dem Ablauf des Fragebogens folgend zusammengestellt. Zusätzlich wurden auf bestimmte Fragen erhaltene Antworten aus den Sprecherprofilen extrahiert, quantitativ ausgewertet und in gebündelter Form in die soziolinguistischen Kapitel (Kap. 1.3.3.2, 1.4.2.2, 1.4.2.3), das Kapitel Abgrenzung Sassaresisch vs. Sorsesisch (Kap. 3.1.4) und das Kapitel Sprechereinstellung (Kap. 6.5.2) zur Stützung der formulierten Thesen eingearbeitet. 4.3.2 Elizitierung von Spontansprache: Erwartungen und Realität Das primäre Ziel des Forschungsaufenthaltes bestand darin, ein Korpus möglichst spontaner gesprochener Sprache zu erstellen. Wie bereits dargestellt, entspricht es aus Gründen der Fairness und Ehrlichkeit nicht der Forscherethik, heimlich Gespräche aufzuzeichnen (vgl. Girtler 4 2001: 77). Um jedoch die Natürlichkeit und Spontaneität der Sprachdaten weitestgehend gewährleisten zu können, bedarf es einer Methode, die einen geeigneten Rahmen für ein unbeeinflusstes Gesprächsverhalten herzustellen vermag: „[…] investigators should create an emotionally absorbing situation, get the speaker involved in content, or set up some other diversion“ (Gal 1979: 8). Hierfür bieten sich vor allem dialogische Konversationen zweier Sprecher des zu untersuchenden Idioms an, diese können sich jedoch bei der Durchführung und späteren Bearbeitung der Sprachaufnahmen aufgrund ihrer Heterogenität und Komplexität schnell als „a very ‘messy’ genre“ (Lüpke [2009] 2012: 286) entpuppen. Es galt daher, eine relativ natürliche nähesprachliche Dialogsituation zu erzeugen, die erlaubt, unerwünschte Nebeneffekte auszuschalten und einheitliche Aufnahmebedingungen im Hinblick auf eine effektive und zügige spätere Aufbereitung und Auswertung der Daten zu schaffen: „Statt generell ,natürliche Daten‘ zu fordern, ist es deshalb zutreffender, wenn man verlangt, daß das Datenmaterial und die Art seiner Erhebung und Auswertung geeignet sein müssen, die Forschungsfragen in bestmöglicher Weise zu beantworten“ <?page no="242"?> 242 4 Methodisches Vorgehen (Deppermann 4 2008: 25). Als geeignetes Erhebungsinstrument erwies sich zum einen die sog. Map Task Methode, ein Elizitationsverfahren zur Gewinnung semispontaner Daten. 23 Zum anderen wurde auf sog. carrier phrases , d. h. Rahmensätze, zurückgegriffen, die ermöglichten, koartikulatorische und prosodische Parameter relativ konstant zu halten und die Anzahl an Tokens zu kontrollieren. 4.3.2.1 Map Task Als sinnvolle Methode erwies sich für das vorliegende Forschungsvorhaben das von Anderson et al. (1991) an der Universität Edinburgh und Glasgow ( Human Communication Research Center ) entwickelte Map Task Verfahren, das zur Gewinnung semi-spontansprachlicher, mündlicher Daten dient: „This type of task invites conversants to produce spontaneous, natural sounding speech“ (Kowtko et al. 1993: 2). Die Map Task Methode ist individualisierbar und adaptierbar (vgl. Lüpke [2009] 2012: 299). In Anlehnung an andere Arbeiten 24 wurde für den eigenen Versuchsaufbau eine leicht abgeänderte Form angewendet. Die Map Task Methode sieht folgenden Verlauf vor: Jeweils zwei der konsultierten Sprecher bearbeiteten ein sog. Map Task. Hierfür wurden im Vorfeld jeweils zwei Maps erstellt, die wie folgt konzipiert sind: Beide Maps beinhalten Stimuli (in Form bildhafter Zeichnungen), 25 die zum größten Teil übereinstimmen, jedoch an manchen Stellen voneinander abweichen. Das Bildmaterial wurde auf der Grundlage der zu überprüfenden lautlichen Phänomene ausgewählt (vgl. Kap. 3.2, Anhang C). Die Map des sog. Instruction Giver beinhaltet eine eingezeichnete Route, die von einem Anfangspunkt aus (- der beiden Teilnehmern bekannt ist -) bis zu einem Endpunkt (- der lediglich auf der Instruction Giver’s Map eingezeichnet ist -) an den Bildstimuli entlangführt. Die Aufgabe des Instruction Giver besteht darin, seinem Mitspieler - der ihm direkt gegenübersitzt - den Verlauf dieser Route zu erklä- 23 Hierzu Sager (2001: 1023): „Elizitierte Gespräche sind […] solche, die durch den Beobachter provoziert und hervorgelockt (eben elizitiert) worden sind.“ 24 Z. B. SMTC - A Swedish Map Task Corpus (Helgason 2006), das Projekt HAMATAC - The Hamburg MapTask Corpus (HZSK 2010) oder aktuell auch BeMaTaC - Berlin Map Task Corpus (Sauer 2015). 25 Das von Anderson et al. entwickelte Map Task Modell sieht zusätzlich die Beschriftung der Stimuli auf den Maps vor. Hierauf wurde im Rahmen des eigenen Versuchsaufbaus in Anlehnung an Helgason (2006) sowie HZSK (2010) verzichtet, da die konsultierten Sprecher weder mit einer schriftlichen Umsetzung des Sassaresischen vertraut sind noch eine einheitliche bzw. offiziell anerkannte Orthographie des Idioms zur Verfügung steht (vgl. Linzmeier 2014). Es ist anzunehmen, dass eine Beschriftung der bildhaften Darstellungen zu Verwirrung und zu unnatürlichem Sprechverhalten seitens der Teilnehmer geführt hätte. <?page no="243"?> 4.3 Methodendesign 243 ren, so dass letzterer diese in seiner Map nachzeichnen kann. Im optimalen Fall werden somit alle auf der Map dargestellten Objekte benannt. Die Teilnehmer wurden im Vorfeld darauf hingewiesen, dass sich Schwierigkeiten bei der Bearbeitung ergeben können, da die Maps nicht identisch sind. 26 Es blieb ihnen jedoch selbst überlassen, herauszufinden, an welchen Stellen diese Hindernisse auftraten, ohne jedoch die Map des Mitspielers einzusehen. Hierzu waren sprachliche Mittel jeder Art erlaubt, jedoch keine Gesten. Der Versuchsaufbau sah zudem vor, dass das jeweilige Sprecherpaar Blickkontakt halten konnte. 27 Insgesamt wurden zwei unterschiedliche Map Task Sets konzipiert, die in abwechselnder Reihenfolge eingesetzt wurden. Während des ersten Forschungsaufenthaltes im Jahr 2012 fiel auf, dass insbesondere Semisprecher ihre Redebeiträge auf ein Minimum beschränkt hatten, daher wurde das im Jahr 2014 verwendete Map Task Material mit weiteren Stimuli angereichert. Einige der bildlichen Darstellungen wurden zudem farblich markiert. Jedes Set bestand aus einer Instruction Giver’s Map sowie einer Instruction Follower’s Map und wies ca. 40 Stimuli auf. 28 Die Bearbeitungszeit war auf 10 bis 30 Minuten angelegt, konnte jedoch nach Bedarf überschritten werden. 26 Die beiden zusammengehörenden Maps unterschieden sich jeweils in mindestens einem der folgenden Punkte: 1) teilweise Versetzung eines Stimulus auf einer der Maps, 2) einfache bzw. mehrfache Darstellung eines Stimulus auf einer der Maps, 3) Aussparen eines Stimulus auf einer der Maps. Vgl. hierzu auch weitere Möglichkeiten der Abänderung nach Anderson et al. (1991: 360). 27 Natürlich ist hierbei nicht auszuschließen, dass durch den bestehenden Blickkontakt nonverbale Signale den Spielverlauf beeinflussen können. Um die Gesprächssituation so natürlich wie möglich zu gestalten, wurde jedoch darauf verzichtet, die beteiligten Spieler durch eine Wand optisch voneinander zu trennen. 28 Ich danke S. K. Mouvanal und B. Bergmann für die Anfertigung der bildlichen Darstellungen. <?page no="244"?> 244 4 Methodisches Vorgehen Abb. 7: Map Task Nr. 1 Instructor Abb. 8: Map Task Nr. 1 Follower <?page no="245"?> 4.3 Methodendesign 245 Abb. 9: Map Task Nr. 2 Instructor Abb. 10: Map Task Nr. 2 Follower <?page no="246"?> 246 4 Methodisches Vorgehen Im Vorfeld der Forschungsreisen führte ich mit Sprechern des Deutschen und Italienischen sog. Pré-Enquêtes (d. h. Vortests) zur probehalben Bearbeitung durch. Bei diesen Testdurchläufen empfiehlt es sich, darauf zu achten, die Sprachaufnahme unter Bedingungen vorzunehmen, die auch während der tatsächlichen, späteren Aufnahmesituation gegeben sind (vgl. Gerstenberg 2 2013: 107). Dieses Vorgehen ermöglicht, Mängel im Datenerhebungsdesign zu erkennen (vgl. Schlobinski 2 2005: 996), d. h. Aufschluss über die Erkennbarkeit des Bildmaterials, der ungefähren Bearbeitungsdauer, der Bereitschaft und Geduld der Teilnehmer sowie des eigenen Forscherverhaltens in der Spielsituation zu erhalten. Zusätzlich konnte überprüft werden, ob die Anzahl der eingebauten Hindernisse angemessen war oder ob diese den Spielablauf zu sehr verzögerten oder das Durchhaltevermögen der Testpersonen strapazierten. Im Anschluss an den Testdurchlauf konnten in einem Gespräch mit den Testpersonen weitere Punkte geklärt werden, die zur Überarbeitung bzw. Anpassung der Maps führten. Die einfache Aufgabenstellung sowie der Spielcharakter der Methode führten zur bereitwilligen Teilnahme seitens der konsultierten Sprecher, wodurch eine hohe Rücklaufquote erreicht werden konnte. Da die Verwendung des Sassaresischen lediglich bei vertrauter Basis der Sprecher natürlichen und ungezwungenen Charakters ist, erwies sich der Versuchsaufbau mit jeweils zwei Teilnehmern, die sich bereits kannten, als äußerst hilfreich. Die Konzeption der Methode als Spiel 29 war insbesondere deshalb sinnvoll, da das Sassaresische als vorwiegend in nähesprachlichen Kontexten verwendete Varietät beschrieben worden war und die erzeugte Spielsituation somit einen informellen Interaktionsmoment herstellte. Die Gewährsleute vertieften sich meist nach den ersten 30 Sekunden in das Task so sehr, dass sie komplett vergaßen, sich in einer Aufnahmesituation zu befinden. Der Vorteil der Methode besteht also maßgeblich darin, dass sich die Informanten eher auf die Spielsituation als auf ihr Ausspracheverhalten konzentrieren (vgl. Marzo 2014: 198). Außerdem konnte hiermit bestätigt werden, dass „[d]ie sogenannte Mikrophonangst […] erfahrungsgemäß nur kurze Zeit [besteht]“ (Löffler 2003: 49), da die Sprecher recht schnell ein unbeeinflusstes Gesprächsverhalten zeigten. 30 Die Motivation seitens der Informanten, das Spiel erfolgreich durchzuführen, lenkte von der Aufnahmesituation zusätzlich ab. 29 Hierzu Scheuerl (1979: 71 f.): „Spiel ist nicht Ernst im gewöhnlichen Sinne, was nicht ausschließt, daß es mit Ernst und Eifer betrieben werden kann. Es ist ohne Verantwortung und ohne Konsequenzen. Es ist nicht auf Zwecke gerichtet, was nicht ausschließt, daß es in sich durchaus zweckvolle Zusammenhänge enthalten kann […].“ 30 Vgl. hierzu auch Deppermann ( 4 2008: 25). <?page no="247"?> 4.3 Methodendesign 247 Da die Benennungen der einzelnen Bildstimuli in den Rahmen eines Spieles eingebaut wurden, das es zu lösen galt, waren die Informanten dazu angehalten, in ein dialogisches Gespräch überzugehen. Bei der Bearbeitung der Map Tasks konnte gewährleistet werden, dass insbesondere Semisprecher des Sassaresischen nicht nur das Bildmaterial benannten, sondern - wenn auch nur kurze - Sätze bzw. Phrasen formulierten. Ein förderlicher Nebeneffekt ist nämlich das Auftreten kurzer moves 31 wie Anweisungen, klärende Rück- und Gegenfragen, Affirmationen, Negationen, Erklärungen etc. Da das als Spiel konzipierte Task lediglich gemeinsam erfolgreich zu Ende geführt werden kann, bietet es sich für Sprecher mit hoher Spielmotivation an, Gesprächsüberlappungen zu vermeiden und Redebeiträge nicht zu sehr zu strecken: „[…] turns are fairly short, as each party checks that the communication has been understood and actions properly performed“ (Kowtko et al. 1993: 2). Ein großer Vorteil besteht hierbei im Auftreten verschiedener Satztypen wie Aussage-, Frage-, Aufforderungs-, Wunsch- und Exklamativsatz, die an bestimmte „propositionale Grundeinstellungen“ sowie Intonationsmuster geknüpft sind (Bußmann 4 2008: 604) und somit ein alltagsnahes, d. h. authentisches Sprachverhalten evozieren. Die Bildung von Phrasen bzw. vollständiger Sätze führte auch zur Verwendung zahlreicher Adverbien, konjugierter Verben, Interjektionen und Diskurspartikeln. Das für die Analyse benötigte Datenmaterial konnte auf diese Weise weiter angereichert werden. Als äußerst hilfreich erwiesen sich die eingebauten Hindernisse, die eine zu schnelle Bearbeitung der Aufgabe verhinderten und Verwirrung und Missverständnisse seitens der Sprecher und somit spontane und authentische Sprechsituationen in Form von Diskussionen hervorrufen sollten: „In fostering misunderstanding, this task produces interaction similar to that in real life conversation […]“ (Kowtko et al. 1993: 2). Bei relativ hohem Bekanntheitsgrad und Vertrautheit der beiden Spielpartner entstanden an diesen Stellen unreflektierte, teils emotional aufgeladene Sprechakte, was sich in ungeduldigen bis leicht verärgerten Äußerungen manifestierte. Durch die in den Spielablauf eingebauten Hindernisse waren die Teilnehmer zudem gezwungen, zu einem bestimmten Punkt der bereits bearbeiteten Strecke zurückzukehren und einzelne Stimuli 31 Die im Rahmen des Map Tasks auftretenden sog. moves sind ausführlich beschrieben bei Kowtko et al. (1993: 4 f.). Sie unterscheiden zwischen instruct [Anweisung], check [Gegenfrage zur Überprüfung des eigenen Verständnisses], query-YN / query-W [Ja- Nein-Frage / W-Frage], explain [Beschreibung der aktuellen Position, neuer Stimulus], align [Abgleichen der Position] sowie weitere Antwort- und Feedbackmoves wie clarify [Klärung oder Wiederholung der Anweisung], reply-Y / reply-N [affirmative / negative Antwort auf query-YN, check, oder align ], reply-W [Antwort auf query-W oder check ], acknowledge [Bestätigung], ready [Übergangsmarker zum nächsten Spielabschnitt]. <?page no="248"?> 248 4 Methodisches Vorgehen erneut zu benennen. 32 Gerade hierin lag eine große Notwendigkeit, denn im Gegensatz zu den festgeschriebenen orthographischen Regeln einer Sprache, die lediglich wenig Spielraum bei der schriftlichen Umsetzung einer Äußerung ermöglichen, erlaubt die mediale Mündlichkeit phonische Variation selbst dann, wenn das Zusagende und der Sprecher unverändert bleiben: One of the characteristics of speech which distinguishes it from printed text is that in speech no two tokens of a word are ever identical, even if they are uttered by the same speaker repeating the same utterance. […] The system also extends to different pronunciations of the same words. (Anderson et al. 1991: 357) Um die Konstanz der Form einer Äußerung überprüfen zu können, bietet es sich daher an, mehrere Tokens desselben Stimulus ein und desselben Sprechers zu berücksichtigen (vgl. Maddieson 2001: 221). Das nötige Zurückkehren zu bereits bearbeiteten Punkten und das Vergewissern, an welcher Stelle sich der Spielpartner gegenwärtig befand, führte seitens des Instructors häufig zur Einteilung der Strecke in Teilsegmente, die nacheinander ,abgearbeitet‘ wurden: „In most map task dialogues, the route giver breaks the route into manageable segments and describes each of them one by one“ (Isard / Carletta 1995: 2). Hierdurch wird gewährleistet, dass die einzelnen turns eine überschaubare Länge behalten, kontrolliert aufeinanderfolgen und somit Überlappungen und Unterbrechungen minimiert werden („showing good turntaking, with relatively little overlap / interruption“, Thompson et al. 1993: 26). Hieraus ergeben sich große Vorteile für die spätere Auswertung und Analyse der Daten: Zum einen konnten auf diese Weise gute Voraussetzungen für eine segmentale ohrenphonetische Untersuchung geschaffen werden, zum anderen sind die Äußerungen in dieser Form auch für Nicht-Muttersprachler leichter zu verstehen und zu transkribieren. Ein weiterer sehr vorteilhafter Effekt der Methode besteht im Entstehen von Subdialogen. Bei hoher Sprachkompetenz, Vertrautheit der Sprecher und selbstvergessener Spielinteraktion geschieht es häufig, dass die beiden Gesprächspartner in Nebengespräche übergehen. 33 Diese haben oftmals nichts mit der zu bearbeitenden Aufgabe des Map Tasks zu tun, entstehen jedoch durch Assoziationen, die sich durch die einzelnen Stimuli ergeben. Auf diese Weise lässt sich ein häufig an der Methode angebrachter Kritikpunkt vermeiden, nämlich dass 32 Hierzu Isard / Carletta (1995: 2): „[…] as confusions arise, they often have to return to part of the route which were previously discussed and which at least one of the participants thought had been successfully completed.“ 33 Hierzu Isard / Carletta (1995: 4): „They also sometimes engage in subdialogues which are not relevant to any segment of the route, sometimes about the experimental setup but often nothing at all to do with the task.“ <?page no="249"?> 4.3 Methodendesign 249 sich die Sprecher auf einem begrenzten lexikalischen Feld bewegen 34 und somit möglicherweise lautliche Besonderheiten des Idioms nicht festgestellt werden können. Trotz der generell positiven Erfahrung mit der Map Task Methode ergab sich durch den relativ offen und flexibel gestalteten Spielaufbau die Problematik, dass in vielen Äußerungen das gewünschte Zielwort und der darin beinhaltete Ziellaut nicht produziert wurden, sondern auf (Teil-)Synonyme ausgewichen wurde (z. B. cucciùcciu , it. ,cagnolino‘ anstelle von cani , it. ,il cane‘). Andere Stimuli wurden nicht eindeutig erkannt und somit umgedeutet ( veimmi / u , it. ,verme‘ → saippenti , it. ,serpente‘). Häufig wurden Begriffe ad hoc aus der italienischen Sprache übernommen und in die sassaresische Aussprache eingepasst. Der recht frei gestaltete Spielablauf, d. h. die Möglichkeit der Bildung unterschiedlicher Satztypen, erlaubte natürlich auch nicht, Vorgaben bezüglich der syntaktischen Anordnung der Satzglieder festzulegen. Aussagesätze des Types in giossu veggu un cani (it. ,laggiù vedo un cane‘) sind charakteristisch für die satzfinale Stellung des Objektes, das im Rahmen des Map Tasks des zu benennenden Items entsprach. Es konnte daher nicht ausgeschlossen werden, dass Zielwörter in dieser Position satzfinaler Längung unterzogen wurden (vgl. Reetz / Jongman 2009: 217). 35 Umso erfreulicher war es daher, dass viele Sprecher durch das Anfügen weiteren Wortmaterials (z. B. qualifizierende Adjektive) das Zielwort in die Satzbzw. Phrasenmitte rückten (z. B. veggu un cani umbè beddu , it. ,vedo un cane molto bello‘; veggu un diddu verdhi , it. ,vedo un dito verde‘). Die syntaktische Struktur des Sassaresischen war der Auswertung und Analyse auch im Bereich der Bildung von Interrogativsätzen zuträglich, da sich die Objektstellung hierbei auf den Satzbeginn bzw. die Satzmitte verlagert. Die satzfinale Position wird vom Verb eingenommen. 36 Für einige Informanten konnte jedoch kein Gesprächspartner zur Bearbeitung eines Map Tasks gefunden werden. Die Befragten fühlten sich sichtlich unwohl bei dem Gedanken, das Map Task mit einer fremden sassaresischbzw. sorsesischsprachigen Person zu bearbeiten, da Gespräche mit nicht engbekannten bzw. nicht-verwandten Redepartnern ausschließlich unter Verwendung des 34 Z. B. Kowtko et al. (1993: 2): „the games and moves […] do not exhaust the speaker’s repertoires.“ 35 Vgl. hierzu Reetz / Jongman (2009: 217): „A syllable is substantially longer at the end of a phrase than at the beginning or middle of a phrase, a phenomenon known as phrasefinal lengthening“ (Herv. i. O.). 36 Das Verb nimmt insbesondere dann die Position nach dem Objekt ein, wenn Interrogativpronomen bzw. -adjektive fehlen. In zusammengesetzten Verbalkonstruktionen wird das Objekt folglich zwischen Infinitiv / Partizip / Gerund und das Hilfsverb / Modalverb eingebettet: vidé ru bói? (it. ,lo vuoi vedere? ‘), turrèndi a càsa séi? (it. ,stai tornando a casa? ‘) (vgl. Doro 2001: 92). <?page no="250"?> 250 4 Methodisches Vorgehen Italienischen verlaufen. Bei Nicht-Vorhandensein eines Spielpartners musste verstärkt darauf geachtet werden, das entstehende Natürlichkeitsproblem zu minimieren und von der Beobachtung abzulenken (vgl. Schu 2001: 1018): Insbesondere emotionale 37 oder auch „erzählungsträchtige“ Themen (Quasthoff 1980: 19) können den Effekt, des ,Sich-Hineinversetzens‘ in eine bestimmte Situation erzeugen (vgl. Schu 2001: 1018). Bei fehlendem Dialogpartner wurden die Gewährspersonen daher gebeten, eine Variationsform der Map Task Methode anzuwenden, indem sie die Maps als Bildergeschichte nacherzählten und mit entstehenden Assoziationen und Anekdoten aus ihrer Kindheit, Schulzeit, Familie und ihrem Alltag verknüpften. 4.3.2.2 Carrier phrases (Frames) Die obengenannten Beobachtungen, die bereits während des ersten Forschungsaufenthaltes (August 2012) zusammengetragen werden konnten, veranlassten mich, einen zweiten Forschungsaufenthalt (Oktober 2014) zur Erhebung weiterer Sprachdaten vorzunehmen. Schwierigkeiten, die sich während der ersten Reise im Jahr 2012 sowie bei der späteren Auswertung ergeben hatten, sollten nun vermieden werden. Im Vorfeld wurde das Methodendesign daher weiter angepasst. Nicht nur die Anzahl der auf den Maps dargestellten Bildstimuli wurde angehoben, sondern auch ein zweiter Elizitationsteil konzipiert: 38 Nach Beendigung des Map Tasks wurden die Informanten daher gebeten, die auf den Maps dargestellten Stimuli erneut zu benennen (vgl. Anderson et al. 1991: 361), indem sie diese in vier vorgegebene Rahmensätze ( carrier phrases / sentences , frames , vgl. z. B. Ladefoged 2004) 39 einbetteten. Dazu wurde ihnen das auf der jeweiligen Map dargestellte Bildmaterial im Rahmen von Bildertabellen erneut vorgelegt (vgl. Anhang B). Das zur Formulierung der carrier phrases verwendete Wortmaterial war allgemein bekannter Basiswortschatz, der auch Semisprechern keine größeren Probleme bereitete. 40 Ebenso zeichneten sich die Sätze, die allesamt als Aussagesätze konzipiert wurden, durch grammatikalische Einfachheit aus (keine komplexen Tempora oder Modi). Hierdurch konnten die negativen Effekte des Wortlistelesens (z. B. Überlautung etc.) vermieden wer- 37 So betont auch Labov (1971: 136): „Wir können das Subjekt auch in Fragen und Themen verwickeln, die starke Emotionen wiederaufleben lassen, die es in der Vergangenheit empfunden hat oder es in andere (Situations-)Kontexte versetzen.“ 38 Im vorliegenden Fall bot es sich daher an, eine Methodenkombination anzuwenden. Vgl. Podesva / Zsiga (2013: 170): „[…] researchers may find it useful to adopt hybrid methodologies.“ 39 Vgl. auch Pardo (2006: 2385) und Podesva / Zsiga (2013: 175). Das Nachsprechen von Rahmensätzen ist ein typisches Vorgehen zur Elizitierung von Sprachdaten. 40 Als Referenzlexikon und -orthographie wurde Rubattu ( 2 2006) gewählt. Die Verbalkonjugation erfolgte nach Bazzoni (1999) (vgl. hierzu Kap. 4.5.2). <?page no="251"?> 4.3 Methodendesign 251 den. Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass Voll- und Semisprecher somit gezwungen waren, einer prosodisch kontrollierten Auswahl an Sätzen zu folgen. 41 Die vier vorgegebenen Rahmensätze erlaubten es zudem nicht, das Zielwort in phrasenfinaler Position zu äußern, da die Zielwörter satzinitial bzw. satzmedial integriert werden mussten (vgl. Podesva / Zsiga 2013: 175). 42 Das Phänomen des final lengthening , das sich häufig in aus den Map Task Aufnahmen extrahierten Sequenzen zeigte, konnte somit umgangen werden. Da sämtliche Stimuli nacheinander in die vier vorgebenden Frames intergiert wurden, konnten jeweils vier Realisierungsvarianten pro Stimulus erreicht werden. F1 Veggu un / a ______________ ni la / i ra tabella / mappa / listha. 43 F2 Veggu lu / la______________ ni la / i ra tabella / mappa / listha. 44 F3 Lu / la _______________ v’ha lu numaru / l’innumaru _______. 45 F4 Un / a______________ è ni la / i ra tabella / mappa / listha. 46 4.3.2.3 Anforderungen an Bildstimuli und Zielwörter Die im Rahmen der Maps präsentierten Stimuli wurden auf der Grundlage verschiedener Kriterien ausgewählt. Hierzu wurden die Wörterbücher von Muzzo (1953, 1955), Lanza (1980) und Rubattu ( 2 2006) konsultiert und nach geeignetem Wortmaterial durchgesehen (vgl. Zielwortliste in Anhang C). Aufgrund der Tatsache, dass es sich um bildhafte Darstellungen handelte, die als Stimuli fungieren sollten, konnte spezifisches Wortmaterial, das aufgrund der zu erwartenden lautlichen Beschaffenheit von Interesse gewesen wäre, nicht immer berücksichtigt werden. Grund hierfür war, dass ausschließlich Konkreta problemlos bildhaft darstellbar sind (vgl. Tse 2013: 135). Die Auswahl der im Rahmen der Map Tasks präsentierten Stimuli erfolgte daher zunächst nach folgenden Kriterien: - Die Stimuli mussten bildhaft darstellbar sein. - Das bildhaft dargestellte Wortmaterial sollte dem Kernwortschatz des Sassaresischen entsprechen: Da das Sassaresische starke Entlehnungstendenzen aus dem Italienischen aufweist und die Modernisierung des sassaresischen Wort- 41 Hiermit ist eine wichtige Voraussetzung erfüllt, sollten die Daten zu einem späteren Zeitpunkt instrumentalphonetisch analysiert werden. 42 Dieses Vorgehen hat sich mittlerweile auch in der segmentalen Phonetik und Phonologie durchgesetzt. 43 It. ,Vedo un(’)/ o / a ___ nella tabella / mappa / lista‘. 44 It. ,Vedo il / lo / la / l’ ___ nella tabella / mappa / lista‘. 45 It. ,Il / lo / la / l’ ___ ha il numero ___‘. 46 It. ,Un(’)/ o / a ___ è nella tabella / mappa / lista‘. <?page no="252"?> 252 4 Methodisches Vorgehen schatzes innerhalb der Sprachgemeinschaft unkontrolliert und individuell (sog. Ad-hoc -Entlehnungen) erfolgt, musste zunächst sichergestellt werden, dass insbesondere „lebendige Dialektwörter“ (Berroth 2001: 63) des Sassaresischen abgefragt werden. 47 Zur Erstellung des Bildmaterials wurden daher vorwiegend die Bereiche Tiere, Pflanzen, Lebensmittel, Haushaltsgegenstände, Kleidung, menschlicher Körper, Zahlen und Wetter berücksichtigt. Durch die Fokussierung dieser semantischen Sets in Form von Bildern wurde zusätzlich die Aufmerksamkeit der Gewährspersonen von der phonetischen auf die lexikalische Ebene gelenkt. Hinzu kamen phonetisch-phonologische Anforderungen an das Bildmaterial: - Ziellaute : Die Stimuli sollten bildliche Entsprechungen der Zielwörter sein, die auf der Grundlage ihrer zu erwartenden lautlichen Beschaffenheit ausgewählt wurden, d. h. sie sollten die in Kapitel 3.2 genannten Ziellaute enthalten. Zusätzlich wurden ein paar wenige Zielwörter in bildliche Darstellungen umgesetzt, von denen angenommen wurde, dass sie einer hyperkorrekten Aussprache unterzogen werden könnten. - Anzahl an Stimuli : Für jedes zu untersuchende lautliche Phänomen sollten ca. drei bis vier Stimuli eingesetzt werden. - Anzahl an Ziellauten pro Stimulus : Die Ziellexeme sollten - wenn möglich - mindestens zwei der zu analysierenden Ziellaute beinhalten, d. h. es kamen lediglich konsonantisch anlautende Wörter in Frage. Zudem wurde versucht, Gleitlaute im Anlaut zu umgehen, da koartikulatorische Prozesse die Abgrenzung dieser vom nachfolgenden Vokal erschweren (vgl. di Paolo et al. 2011: 89; Baranowski 2013: 406). - Silbenanzahl und -betonung : Um vergleichbare koartikulatorische und prosodische Bedingungen gewährleisten zu können, bot es sich an, lediglich zweisilbige (im Einzelfall auch dreisilbige: z. B. cabaddu , camellu usw.) Zielwörter mit der Betonung auf der ersten Silbe zu verwenden. - Zielvokale : Die Zielvokale kamen in wortinitialen, akzentuierten Silben vor (Ausnahmen bilden ein paar wenige Oxytona wie z. B. dinà , it. ,soldi‘). 47 Berroth (2001: 92) beobachtete, dass bestimmte Dialektwörter innerhalb mehrerer Generationen stabil bleiben, wenn ihre „Zugehörigkeit zum familiären oder nächsten Nahbereich“ gewährleistet ist, denn „[d]ie meisten Dialektwörter gehen bei allen Generationen dort verloren, wo auch die Bezugsgegenstände verschwinden“ (ibid. 68). <?page no="253"?> 4.3 Methodendesign 253 4.3.3 Allgemeine Aufnahmebedingungen Für die Datenerhebung wurde ein Aufnahmegerät des Typs Olympus mit Richtmikrophon verwendet, das aufgrund seiner minimalen Größe sehr handlich ist und selbst bei häufigen Hintergrundgeräuschen eine sehr gute Qualität der Aufnahmen gewährleistete. 48 Da unterschiedliche Mikrophontypen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können (vgl. Cieri 2011), wurde stets der gleiche Typ verwendet. Um möglichst natürliche Sprechbedingungen und eine ungezwungene und informelle Atmosphäre zu schaffen, wurde bewusst auf Studioaufnahmen verzichtet. Die Aufnahmen, die der vorliegenden Dissertation zugrunde liegen, sind Feldaufnahmen: Mit Aufnahmen im Feld bezeichnet man Aufnahmen, die nicht in akustisch kontrollierten Räumen stattfinden. Das reicht von ganz normalen Büro- und Wohnräumen über öffentliche Räume wie Bahnhöfe und Gaststätten bis hin zu mobilen Umgebungen, etwa im Auto. Auch Aufnahmen auf der Straße und am Arbeitsplatz in Betrieben, Fabrikhallen oder auf dem Feld zählen zu den Feldaufnahmen. (Draxler 2008: 153) Die im Rahmen des Map Tasks entstandenen Aufnahmen wurden primär in Privatwohnungen und in meiner Unterkunft durchgeführt. 49 In einigen wenigen Fällen dehnte ich das Erhebungsfeld auf öffentliche Plätze in Sorso und Sassari aus (z. B. öffentliche Parks, kleinere Geschäfte mit wenig Kundschaft, das Universitätsgelände in Sassari, Kirchenplätze). Bei geringer Geräuschkulisse entstanden die Aufnahmen direkt vor Ort, in zahlreichen Fällen vereinbarte ich mit den Sprechern einzelne Aufnahmetermine in geschlossenen Räumlichkeiten. Das Aufnahmegerät wurde stets mit geringem Abstand zu den Sprechern platziert. 50 48 Vgl. hierzu Draxler (2008: 144 f.): „Portable digitale Recorder haben den Vorteil, dass sie kompakt sind und Mikrofon und Speicher in einem Gerät vereinen. Damit eignen sie sich hervorragend für Aufnahmen im Feld.“ 49 Der Vorteil bestand dabei darin, dass durch die Möblierung der Wohnungen Echoeffekte vermieden werden konnten, durch die die Aufnahmen dumpf geklungen hätten (vgl. Maddieson 2001: 221). 50 Die Qualität der Daten ist umso besser, je geringer die Distanz des Aufnahmegerätes zum Sprecher ist (vgl. Ladefoged 2004: 22). <?page no="254"?> 254 4 Methodisches Vorgehen 4.4 Das Sprachmaterial im Überblick Zur Überprüfung der Anbzw. Abwesenheit der Lautphänomene wurde das Sprachmaterial von insgesamt 20 Sprechern ausgewertet, die im Jahr 2014 an der Untersuchung teilnahmen. Die Festlegung der Datengrundlage auf diese Anzahl an Sprechern basierte insbesondere auf der Feststellung, dass das Sprachmaterial stark hinsichtlich seiner Qualität und Quantität variiert. Die in den Aufnahmesituationen sowie durch die spätere Grobdurchsicht des Materials gewonnenen Erkenntnisse führten zur Festlegung folgender Kriterien für die Auswahl der Datensätze: Minimale Störvariablen : Zugunsten der Natürlichkeit der Sprechsituation wurde auf Studioaufnahmen verzichtet, da sich bekanntlich Ergebnisse, die man mit Laboraufnahmen erzielen kann, „[…] nicht ganz einfach auf die Welt außerhalb der Labormauern übertragen lassen“ (Meindl 2011: 37). Der Versuch des Vermeidens einer typischen „Laborsituation“ 51 , hat jedoch gleichzeitig den unerwünschten Nebeneffekt, dass zahlreiche Aufnahmen durch starke Störgeräusche in ihrer Qualität beeinträchtigt sind. Es handelt sich hierbei um Hintergrundgespräche sowie Motorengeräusche, Handyklingeln und -funkgeräusche sowie Windstörungen, die nicht immer optimal herausgefiltert werden konnten. 52 Auch zahlreiche Versprecher, lautes Lachen, hohe Sprechgeschwindigkeit 53 und sich überlappende Redeeinheiten erschwerten die Analyse erheblich. Ebenso darf nicht vergessen werden, dass das Wohlbefinden der Informanten und der Respekt ihnen gegenüber in der Aufnahmesituation stets im Vordergrund stehen müssen. Dies war umso wichtiger, wenn die Aufnahmen in den Privatwohnungen der Gewährsleute durchgeführt wurden (vgl. auch Podesva / Zsiga 2013: 176). 54 Bei der späteren Transkription und phonetischen Analyse 51 Aufnahmen, die im Labor entstehen, zeichnen sich durch die Möglichkeit der Konstanthaltung mehrerer Parameter aus (z. B. geringe Geräuschkulisse, gleicher Mikrophonabstand, gleiche Räumlichkeit, gutes Aufnahmeequipment etc.), lassen jedoch wenig Spielraum für spontanes Ausspracheverhalten zu und führen zu sehr kontrolliertem Sprechverhalten (vgl. Podesva / Zsiga 2013: 173, 176). Vgl. hierzu auch Meindl (2011: 39): „Je mehr Störfaktoren Sie eliminieren, desto ,künstlicher‘ wird möglicherweise die Umgebung, in der Ihr Experiment stattfindet.“ 52 Um die Verstehbarkeit für die spätere Auswertung und Analyse der Sprachdaten gewährleisten zu können, wurden Nebengeräusche - soweit möglich - mit der Freeware Audacity herausgefiltert. 53 In solchen Fällen war es häufig hilfreich, die Sprechgeschwindigkeit mithilfe von Audacity zu verlangsamen. 54 Es handelt sich hierbei um Nebengeräusche, die durch in den Privatwohnungen vorhandene Haushaltsgeräte oder weitere Personen / Tiere verursacht wurden (z. B. das Surren des Kühlschrankes, das Bellen des Hundes). Einige Informanten erzeugten in der Auf- <?page no="255"?> 4.4 Das Sprachmaterial im Überblick 255 ergaben sich daher Probleme, die zum Ausschluss bzw. zur Beschneidung der Daten führten. Relative Vollständigkeit : Das Datenmaterial variiert nicht nur stark hinsichtlich der Qualität, sondern auch der Quantität, was insbesondere mit der zur Verfügung stehenden Zeit und Geduld der einzelnen Informanten erklärbar wird. Aus Zeitgründen beantworteten einige Informanten den soziolinguistischen Fragebogen nur zum Teil oder verzichteten gänzlich darauf. Häufig bevorzugten die Befragten, ihre wenige zur Verfügung stehende Zeit für eine als weitaus spannender empfundene Sprachaufnahme einzusetzen. Zahlreiche Sprecher hatten große Freude am Bearbeiten des Map Tasks, zeigten jedoch nicht ausreichend Geduld bei der anschließenden Formulierung aller vier Frames. In einzelnen Fällen strengte die Bearbeitung die Sprecher sichtlich an, weshalb nicht alle vier Rahmensätze bearbeitet wurden. Das im Rahmen dieser Arbeit untersuchte Aufnahmematerial sollte sich daher durch relative Vollständigkeit auszeichnen, d. h. dass vorwiegend Datensätze von denjenigen Sprechern in der späteren Analyse berücksichtigt wurden, die den soziolinguistischen Fragebogen, das Map Task (auch nacherzählt als Bildergeschichte) sowie möglichst viele Frames versprachlicht hatten. Sprachkompetenz und Sprachwahl : Für die Untersuchung wurden lediglich Aufnahmen derjenigen Informanten berücksichtigt, die angaben, das Sassaresische / Sorsesische seit bzw. in ihrer Kindheit im Kontakt mit den Eltern, den Großeltern oder mit Freunden unvollständig (Semisprecher) oder umfassend (Vollsprecher) erlernt zu haben. Unter den Vollsprechern finden sich daher auch solche, die durch den seltenen Gebrauch des Sassaresischen im Erwachsenenalter Spuren des Sprachvergessens ( Rusty Speaker ) aufweisen. Aufnahmen von Sprechern, deren Sassaresischkenntnisse sich lediglich auf das Benennen der auf den Maps vorhandenen Bildstimuli reduzierte, ohne diese in längere Äußerungen einzubetten (im Sinne einer Wortliste), wurden für die vorliegende Untersuchung ausgeschlossen. Wechselten die Informanten bereits nach kürzester Zeit in das Italienische ohne erneut in das Sassaresische zurückzuswitchen, so führte dies ebenfalls zum Ausschluss der Aufnahme aus der Untersuchung. Zukünftige Veröffentlichung der Datensätze : Es wurden vorzugsweise Sprachaufnahmen derjenigen Sprecher ausgewertet, die ihr Einverständnis für eine spätere Veröffentlichung der Daten gegeben hatten. Dennoch willigten nicht alle hier vorgestellten Sprecher ein. nahmesituation - häufig durch Nervosität bedingt - selbst störende Geräusche (z. B. das Herumspielen am eigenen Schmuck). Die Informanten wurden hierauf selbstverständlich nicht hingewiesen; es wurde bevorzugt, eine Beeinträchtigung der Qualität der Sprachaufnahmen in Kauf zu nehmen. <?page no="256"?> 256 4 Methodisches Vorgehen Aufgrund der Heterogenität des Materials und der relativ geringen Anzahl an analysierten Datensätzen bot es sich an, die Daten primär qualitativ und nicht quantitativ auszuwerten, d. h. die Arbeit „[…] ist fallbezogen und nicht auf Repräsentativität angelegt“ (Werlen 1996: 756). 55 Nicht nur die oben genannten Beobachtungen schließen eine direkte Vergleichbarkeit der Datensätze aus, sondern auch die Tatsache, dass durch Umdeutungen, Auslassungen etc. Tokens zu teils unterschiedlichen Zielwörtern in unterschiedlicher Anzahl vorliegen. Die Darstellung und Analyse der Ergebnisse erfolgt daher im Rahmen individueller Sprecherprofile auf der Basis der im Rahmen des Fragebogens erhaltenen Sprecheraussagen sowie der aus den transkribierten Sprachaufnahmen selektierten Tokens. Hiermit kann in den meisten Fällen ermöglicht werden, dass das individuelle Ausspracheverhalten der Informanten mit ihrem soziobiographischen und attitudinalen Hintergrund in Bezug gesetzt werden kann. Obgleich ein sprecherzentrierter Ansatz verfolgt wird, versucht das Synthesekapitel, die wesentlichen Ergebnisse der Subgruppen ( Sprecher des Sassaresischen vs. Sprecher des Sorsesischen ) zu bündeln und die beobachtbaren Tendenzen zum Abbau bzw. zum Erhalt lautstruktureller Phänomene zu erfassen. Um die Anonymität der Sprecher garantieren zu können, wurden abkürzende Siglen verwendet (vgl. Deppermann 4 2008: 332), die auf die angestammte Sprache (Sassaresisch: SASS vs. Sorsesisch: SORS ), das Sprachniveau (Vollsprecher/ Rusty Speaker : VS / RS vs. Semisprecher: SS ), das Geburtsjahr (z. B. 1980 ) und das Geschlecht ( m vs. w ) schließen lassen, z. B.: 56 - SASS - VS -1977m : im Jahr 1977 geborener Vollsprecher des Sassaresischen - SORS - SS -1980w : im Jahr 1980 geborene Semisprecherin des Sorsesischen Insgesamt wurden jeweils 10 Sprecher des Stadtsassaresischen und des Sorsesischen für die vorliegende Untersuchung ausgewählt. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Verteilung der Sprecher nach Sprachniveau und angestammter Sprache. 55 Prozentuale Angaben erfolgen nur dort, wo ein direkter Vergleich der Sprecher möglich war. 56 Bei identischen Siglen wurde zusätzlich auf die Markierung durch A / B rekurriert, z. B. SASS-SS-1988m-B vs. SASS-SS-1988m-A . <?page no="257"?> 4.4 Das Sprachmaterial im Überblick 257 Anzahl Sassaresisch Anzahl Sorsesisch Semisprecher 6 SASS - SS -2000m 5 SORS - SS -1986w SASS - SS -1987m SORS - SS -1989w SASS - SS -1986w SORS - SS -1988m-A SASS - SS -1989m SORS - SS -1988m-B SASS - SS -1988m-A SORS - SS -1980w SASS - SS -1988m-B Vollsprecher/ Rusty Speaker 4 SASS - VS / RS -1950w 5 SORS - VS -1981m SASS - VS / RS -1947m SORS - VS / RS -1971w SASS / SORS - VS / RS -1960w SORS - VS -1962m SASS - VS -1956m SORS - VS -1955w SORS - VS -1957w Tab. 12: Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen und des Sorsesischen 4.4.1 Semi- und Vollsprecher Auf die Schwierigkeit, Sprecher allein in Bezug auf den Grad der Sprachbeherrschung zu kategorisieren, wurde bereits in Kapitel 2.1.1 näher eingegangen. Daher ist klar, dass sich auch Semisprecher im Hinblick auf ihre Sprachkompetenz stark voneinander unterscheiden: „[…] ‘semi-speaker’ is not a discrete, precise category; some semi-speakers know more than others“ (Holloway 1997: 37). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird daher mit der Erstellung individueller Sprecherprofile zunächst ein sprecherzentrierter Ansatz verfolgt, bei gleichzeitiger Einteilung der Sprecher in die Kategorien Semi- und Vollsprecher, um die Ergebnisse im Syntheseteil der Arbeit bündeln zu können. Auch wenn ich weitestgehend auf die Vorselektion von Semi- und Vollsprechern durch Dritte vertrauen konnte, so wurde erst durch das Elizitieren der Sprachdaten und die soziolinguistische Befragung ermöglicht, Rückschlüsse auf die Sprachkompetenz der Informanten zu ziehen und diese mit der Selbsteinschätzung der Sprecher abzugleichen. Es zeigte sich deutlich, dass die Selbsteinschätzung der Sprecher häufig nicht mit ihren tatsächlichen Sprachkenntnissen <?page no="258"?> 258 4 Methodisches Vorgehen übereinstimmte. Dies ist ein häufig beobachtetes Phänomen im Umgang mit Semi- und Vollsprechern: 57 Because of the complex social conditions typical of communities in which languages or dialects are dying, the possibility that potential informants will understate their own abilities is probably as great as the possibility that they will overstate them. (Dorian 1986: 563) Die Kategorisierung in Vollbzw. Semisprecher wurde daher erst rückwirkend auf der Grundlage des Ausspracheverhaltens und der im Rahmen der soziolinguistischen Befragung gewonnenen Informationen vorgenommen. Diese können den individuellen Sprecherprofilen entnommen werden (vgl. Kap. 5). Hinzu kamen Beobachtungen, die sich in der Aufnahmesituation im Hinblick auf die lexikalische Kompetenz der Sprecher und die Rolle des Italienischen festhalten ließen sowie paraverbale und nonverbale Verhaltensbesonderheiten. Hierbei konnten folgende Phänomene festgestellt werden, die in die spätere Kategorisierung der Gewährspersonen als Vollbzw. Semisprecher miteinflossen: 58 1) Vollsprecher bildeten längere Phrasen und Sätze, die sie mit vielfältigem lexikalischem Material füllten. Dies traf nicht nur auf die im Rahmen des Map Tasks entstandenen Äußerungen zu, sondern auch auf die versprachlichten Frames. Häufig stellten Vollsprecher ihre lexikalischen Kenntnisse unter Beweis, indem sie weitere, spezifischere Bezeichnungsvarianten verwendeten sowie die Bildstimuli detaillierter - z. B. durch Einsatz von qualifizierenden Adjektiven und Ergänzungen - beschrieben, z. B.: - SORS - VS -1955w : F1 regaru: veggu un paccu (-) regaru (-) i ra mappa (-) con fiocchittu 59 - SORS - VS -1962m : F1 figga: veggu dui vigghi (-) una dagliadda e una intrea (--) i ra mappa 60 - SORS - VS -1962m : F1 padedda: veggu una badedda (-) pa friggì (-) i ra mappa 61 57 Einige Sprecher, die angaben, nur vereinzelte Lexeme des Sassaresischen wiedergeben zu können, waren letztendlich selbst erstaunt über ihre weitreichenden Kenntnisse. Informanten, die sich als Vollsprecher des Sassaresischen bezeichneten und sich voller Begeisterung an die Bearbeitung des Map Tasks und der Frames wagten, hatten oftmals tiefere Wortfindungsprobleme und zeigten auffällig Code-Switching-Mechanismen. 58 Die folgenden Ausführungen beziehen sich nicht nur auf Beobachtungen zum Verhalten der 20 im Rahmen der Analyse berücksichtigten Sprecher, sondern schließen weitere (ca. 25) in den Jahren 2012 und 2014 konsultierte Sprecher mit ein. 59 It. ,F1 regalo: vedo un pacco (-) regalo (-) nella mappa (-) con fiocchetto‘. 60 It. ,F1 fico: vedo due fichi (-) uno tagliato e uno intero (-) nella mappa‘. 61 It. ,F1 padella: vedo una padella (-) per friggere (-) nella mappa‘. <?page no="259"?> 4.4 Das Sprachmaterial im Überblick 259 Bei Auftreten der Hindernisse im Map Task und ansteigender Verunsicherung zeigten sie dies durch spontane Verwendung emotionaler Ausdrucksformen im Sassaresischen bzw. Sorsesischen an. Auch Verärgerung über den Spielpartner wurde so zum Ausdruck gebracht (z. B. no’ si vazi con eddu , SASS - VS / RS -1950w 62 ). Ebenso wurde häufig auf Gesprächspartikeln (z. B. emmu , cussì etc.) rekurriert. Die Redeeinheiten von Vollsprechern überlappten sich nicht selten, da die Gesprächspartner in ungezwungene Diskussionen und Subdialoge ,abdrifteten‘. Zwar konnte auch bei Sprechern mit hoher Sprachkompetenz die Tendenz zum intersententiellen Switchen ins Italienische festgestellt werden, 63 dieses geschah jedoch oft unbeabsichtigt und wurde durch gleichbzw. ähnlich lautende Wörter (sog. homophonous diamorphs , Clyne 1967) ausgelöst. Meist bemerkten die Sprecher dies selbst nach kurzer Zeit und wechselten erneut in das Sassaresische. 64 Vollsprecher sprachen mit erhöhter Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit. All dies zeugte von einem selbstbewussten Umgang mit dem Idiom. Nach der Aufnahme unterhielten sie sich häufig weiter miteinander auf Sassaresisch / Sorsesisch, etwa wenn sie das bearbeitete Map Task nachträglich kommentierten (z. B. SASS - VS -1956 ). Ältere sassaresische Vollsprecher zeichneten sich zudem durch ihre Sensibilität für korrektes Ausspracheverhalten aus und wiesen ihre Gesprächspartner häufig zurecht. Unter den befragten Vollsprechern finden sich auch solche, die aus heutiger Sicht eher als ,ehemalige‘ Vollsprecher, d. h. als Rusty Speaker , zu bezeichnen sind, da sie Tendenzen des Sprachvergessens zeigen. 65 Häufig gelang es ihnen jedoch, ,eingerostetes‘ Sprachwissen zu reaktivieren. 2) Das Sprachverhalten von Semisprechern unterschied sich hiervon in vielen Punkten: Semisprecher bildeten kurze Phrasen und Sätze 66 und fielen hierbei immer wieder auf das gleiche (meist hochfrequente) lexikalische Material zurück (z. B. Verben zum Erklären der Spielroute und zum Navigieren wie z. B. 62 Dt. etwa ,mit ihm funktioniert das nicht‘. 63 Unter Code-Switching wird im Rahmen dieser Arbeit die Code-Umstellung an Satzgrenzen, d. h. intersententielles Switching verstanden. Code-Mixing bezeichnet hingegen intrasententielles Switchen, das innerhalb eines Satzes auftritt (vgl. Pfaff 1997, hier nach Riehl 3 2014: 33). 64 Dieser Typ von Code-Switching kann daher als nicht-funktional bezeichnet werden (vgl. Riehl 3 2014: 29). 65 Vgl. auch Haase (1999: 286): „Es ist auch keine klare Abgrenzung zwischen Vollsprechern und denjenigen Sprechern zu ziehen, deren Sprachkompetenz sozusagen ,eingerostet‘ ist.“ 66 Dies beobachtete auch Rindler Schjerve (1989: 8) im Rahmen ihrer Forschung. <?page no="260"?> 260 4 Methodisches Vorgehen andà , it. ,andare‘, assé , it. ,essere‘, abé , it. ,avere‘, vidé , it. ,vedere‘, fà , it. ,fare‘). 67 Bei der Konjugation entstanden aufgrund der zugrundeliegenden italienischen Matrix oftmals Hybridformen (z. B. vedu anstelle von sass. veggu , it. ,vedo‘). In zahlreichen Fällen konnte beobachtet werden, dass die bildhaften Stimuli ganz im Sinne eines picture naming task ohne jegliche Einbettung in Phrasen oder Sätze benannt bzw. dass die sassaresischen Ziellexeme in italienischbasierte Sätze integriert wurden. Bemerkten Semisprecher die eingebauten Hindernisse auf dem Spielplan, so ließen sie sich meist nicht auf eine Diskussion mit ihrem Gesprächspartner ein, sondern versuchten, das Hindernis zu umgehen und von dem bestehenden Problem abzulenken. Kam es dennoch zu einer Diskussion, so wurde häufig ins Italienische geswitcht. Ihre Verunsicherung bzw. Emotionalität zeigten sie dann durch die Verwendung von Kraftausdrücken etc. in italienischer Sprache an. Das Italienische erwies sich an dieser Stelle als eine Art ,Zufluchtssprache‘, d. h. die Möglichkeit zum Code-Switching wurde genutzt, um die Unsicherheit im Sassaresischen abzuwenden bzw. um sich auf ,gewohntes Terrain‘ zu begeben. 68 In vielen Fällen wechselten die Sprecher nicht wieder zurück in das Sassaresische / Sorsesische. Semisprecher gingen aufgrund ihrer Unsicherheit nur sehr selten in Subdialoge über. Die meist kurzen Redesequenzen folgten sehr kontrolliert aufeinander. Redeüberlappungen zeigten sich äußert selten. 69 Im Sprechverhalten der Semisprecher konnten verlangsamtes und leises Sprechen, längere, zögernde Pausen, Stocken, Wortabbrüche und das häufige Auftreten von Hesitationspartikeln ( ehm , boh ) festgestellt werden, z. B. - SASS-SS-1988m-A : F1 predda / peddra: veggu (-) eh di ri bebebeddri ((lacht)) pietne la listha Auch unsicheres Lachen und Kichern sowie angestrengtes Seufzen und schüchterne Rückfragen zeigten an, dass sich die Informanten in der Aufnahmesituation nicht immer wohl fühlten. Für einige junge männliche Semisprecher hingegen boten der Kontext und die ungewohnte Tatsache, ein ganzes Gespräch 67 Im Gegensatz hierzu konnten Vollsprecher die Spielroute durch die Verwendung vielfältiger Verben sehr detailliert beschreiben, z. B. acciappà, agattà (it. ,trovare‘), pissighì (it. ,perseguire‘), farà (it. ,scendere‘), azzà (it. ,alzare‘), tuccà (it. ,toccare‘). 68 Diese Form des Code-Switchings kann als funktional bezeichnet werden, da imperfekte Sprecher diesen Mechanismus benötigen, um auszudrücken, wozu ihnen die Mittel in der angestammten Sprache fehlen. Man spricht daher auch von Code-Switching mit referentieller Funktion (vgl. Riehl 3 2014: 27). Vgl. hierzu Appel / Muysken (1987: 118): „Switching can serve the referential function because it often involves lack of knowledge of one language or lack of facility in that language on a certain subject“ (Herv. i. O.). 69 Dies wird dem Leser alleine durch einen kurzen Blick auf die Transkriptionen deutlich, die sich stark hinsichtlich ihrer Länge und Komplexität unterscheiden (vgl. Fn 85). <?page no="261"?> 4.4 Das Sprachmaterial im Überblick 261 im Sassaresischen bzw. Sorsesischen führen zu sollen, Anlass zum Herumalbern und gegenseitigem Herausfordern. Datenelizitierung kann insbesondere für Semisprecher ein anstrengendes und oftmals frustrierendes Unterfangen sein, insbesondere dann, wenn sie an die Grenzen ihrer Sprachkenntnisse gelangen und sich dessen selbst bewusst werden (vgl. Dorian 1981: 120). Zahlreiche Sprecher waren nach Beendigung des Map Tasks sichtlich erschöpft und wechselten sofort wieder zur Verwendung des Italienischen. Auch wenn das Spieldesign primär auf die Kenntnis des sassaresischen Kernwortschatzes abzielte, zeigten einige Semisprecher tiefe lexikalische Lücken und mussten zur Abhilfe auf italienisches Wortmaterial rekurrieren - eine Tatsache, die sie selbst erschrecken ließ, 70 wie anhand ihrer Kommentare deutlich wurde (z. B. Mamma mia, che casino! Uff, non mi viene in mente! Ma, come si dice? Cumenti si ciamma? 71 ). Lexikalische Lücken, die lediglich einer der beiden Gesprächspartner aufwies, konnten überdies zu Missverständnissen führen und den Spielablauf behindern: SASS - SS -2000m devi bassà sottu a lu goddu 72 SASS - SS -1985w ca? no’ no’ soggu (-) co: sa è 73 Hierbei zeigte sich, dass Semisprecher, die starke lexikalische Lücken aufwiesen, während der Bearbeitung des Map Tasks und der Produktion der ersten beiden Frames einige Stimuli nicht benennen konnten - und folglich auf die italienische Entsprechung ausweichen mussten. Ab ca. dem dritten Rahmensatz gelang es einigen Semisprechern jedoch, ihr Sprachwissen zu reaktivieren. Viele Informanten kommentierten dieses Phänomen mit dem Kommentar: Adesso che mi sono riscaldato, mi rivengono in mente le parole . Zielwörter, die mit dem italienischen Wortschatz kognat sind (z. B. cordha , it. ,corda‘), wurden dann oftmals durch traditionellere sassaresische Begriffe ersetzt ( cannàu ). Lexikalisches warm up konnte auch innerhalb ein und desselben Frames beobachtet werden, z. B.: - SASS - SS -1988m-A : F1 cabbu: veggu una testh- (-) un cabbu (--) ne la listha - SASS - SS -1988m-A : F4 gianna: una bortuna janna è ne la listha 70 Hierzu Grinevald (2001: 305): „Most standard elicitation methods risk confronting semispeakers with their limitations, resulting in psychologically difficult and even painful situations. This is an additional dimension of stress to not underestimate.“ 71 It. ,come si chiama? ‘. 72 It. ,devi passare sotto al collo‘. 73 It. ,cosa? non non so (-) co: sa è‘. <?page no="262"?> 262 4 Methodisches Vorgehen Nicht nur auf lexikalischer Ebene, sondern auch im Ausspracheverhalten griffen diese Reaktivierungsmechanismen nach mehrmaliger Wiederholung desselben Zielwortes (Kap. 6.3.2). Ebenso konnte ein Anstieg der Sprechgeschwindigkeit, der Lautstärke und der Stimmfestigkeit ab dem dritten Rahmensatz festgestellt werden. Bei all diesen Beobachtungen ist es fraglich, wie verlässlich und repräsentativ die Sprachdaten von Semisprechern sind (vgl. Dorian 1977: 24), da sie meist nicht von sich aus auf die angestammte Sprache zurückgreifen und somit das Problem der Authentizität und Natürlichkeit erneut im Raum steht. 74 Oftmals sind sie in der Lage, über ihre fehlende Sprachbeherrschung ,hinwegzutäuschen‘. Insbesondere im Falle genetischer Verwandtschaft zweier Idiome, deren Wortschatz zu großen Teilen kognat ist, rekonstruieren Semisprecher häufig auf der Basis des Wortschatzes der dominanten Sprache die ursprüngliche Lautung und Morphologie des Lexems des angestammten Idioms. Es ist somit nie eindeutig auszuschließen, dass es sich um Hyperkorrekturen der Regionalsprache handelt (vgl. Haase 1999: 284 f.; Kap. 2.4). Die Arbeit mit Sprachdaten imperfekter Sprecher birgt daher stets ein gewisses Risiko und führt erneut vor Augen, wie wichtig eine sprecherzentrierte Analyse ist. 4.4.2 Akkomodation und geschlechtsspezifisches Verhalten in der Aufnahmesituation 75 In dialogischen Interaktionssituationen ist es häufig unvermeidbar, dass die beteiligten Sprecher ihr Sprechverhalten an das ihres Gesprächspartners anpassen (vgl. Giles 1980; Pardo 2006). Das Phänomen der sprachlichen Akkomodation ist ein automatischer und unbewusst ablaufender Prozess, der konditioniert ist von der kognitiven Organisation des Sprachsystems (vgl. Babel / Bulatov 2011: 232). 76 74 So auch dal Negro (2004: 32): „[…] semi-speakers’ language productions are basically a methodological abstraction, audible nearly exclusively in artificial situations and not belonging to the linguistic repertoire of the community.“ 75 Die folgenden Ausführungen beziehen sich nicht nur auf Beobachtungen zum Verhalten der 20 im Rahmen der Analyse berücksichtigten Sprecher, sondern schließen weitere (ca. 25) in den Jahren 2012 und 2014 konsultierte Sprecher mit ein. 76 Babel / Bulatov (2011: 247, Fn 1) verweisen auf die zahlreichen Bezeichnungsvarianten der Akkomodation: Goldinger (1998: 255) spricht von spontaneous imitation ; Babel / Bulatov (2011) sprechen von accomodation und imitation ; Pardo (2006) verwendet die Bezeichnung convergence . Der Terminus Konvergenz ist allerdings problematisch, da er sich in der Sprachkontaktforschung zur Beschreibung von strukturellen Annährungsprozessen zwischen Sprachen etabliert hat, die systemumbildend sein können. Konvergenz zwischen Sprechern in konkreten Kommunikationssituationen - hier als Akkomodation bezeichnet - unterscheidet sich hiervon, da das Annähern aneinander oftmals lediglich ein Ad-hoc-Phänomen ist: „Der sprachliche Output ist folglich nicht zwingend systematisch <?page no="263"?> 4.4 Das Sprachmaterial im Überblick 263 Das Auftreten bzw. Nicht-Auftreten von Akkomodation kann vielfältige Gründe haben. Unter anderem kann der Grad der Sprachbeherrschung eine Rolle spielen, d. h. dass weniger dominante Sprecher ihre Sprechweise mehr anpassen als dominante. Auch geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen: Frauen neigen tendenziell häufiger zur Akkomodation als Männer (vgl. z. B. Namy et al. 2002: 427 f.). Insbesondere in Sprachverfallskontexten scheint es die Regel zu sein, dass sich Sprecher geringerer Sprachkenntnisse am Sprachverhalten ,stärkerer‘ Sprecher anlehnen. In Aufnahmekontexten tritt dies nochmals häufiger zu Tage, da das Beobachterparadoxon nie ganz vermieden werden kann. Dorian (1994: 672) stellte hingegen fest, dass Sprecher, die sich gemeinsam in einer Aufnahmesituation befinden, „[…] can be quite independent in variant selection“. Beides hat seine Gründe: Im Rahmen der vorliegenden Studie stellte sich heraus, dass nicht nur die Sprachkenntnisse, sondern auch die individuelle Beziehung, in der die Sprecher zu einander standen (Bekanntheitsgrad, Vertrauen) sowie auch die Frage, wie selbstbewusst und sicher sich ein Sprecher in der Verwendung der angestammten Sprache fühlte bzw. seitens des Gesprächspartners wahrgenommen wurde, Einfluss auf das Übernehmen bzw. Nicht-Übernehmen von Strukturen ausübten. In Aufnahmesituation sind es oftmals Aspekte wie Nervosität und Ungewohntheit, die das Risiko der Akkomodation des ,schwächeren‘ Sprechers an den ,stärkeren‘ verstärken. 77 Sprecher geringerer Sassaresischbzw. Sorsesischkompetenz bzw. mit wenig Vertrauen in die eigene Sprachfähigkeit warteten häufig ab, bis ein Bildstimulus durch den Spielpartner benannt wurde und übernahmen dessen Ausspracheverhalten. Zusätzlich verdeutlichten sie dies anhand von Metakommentaren. 78 ,Selbstbewusste‘ Sprecher zeigten sich hingegen eher ,unbeeindruckt‘ vom Ausspracheverhalten ihres Gesprächspartners. Bestand das Sprecherpaar aus jeweils einem weiblichen und einem männlichen Informanten, so konnte von Beginn an eine von beiden Seiten akzeptierte und hängt größtenteils von außersprachlichen Faktoren wie z. B. den Machtverhältnissen zwischen den Gesprächspartnern oder den Zielen des Gesprächs ab“ (Marzo 2011a: 221). 77 Die einzige Möglichkeit dies zu umgehen, hätte darin bestanden, die Sprecher einzeln aufzunehmen. Um eine vertraute und entspannte Gesprächsatmosphäre schaffen zu können, bot es sich jedoch an, jeweils zwei Informanten - die sich bereits kannten - miteinander ein Map Task bearbeiten zu lassen. Wie bereits beschrieben, konnte vor Bearbeitungsbeginn des Map Tasks nicht eindeutig geklärt werden, wie umfangreich die Sprachkenntnisse der Informanten waren, da oftmals eine große Diskrepanz zwischen Selbsteinschätzung und realer Sprachbeherrschung vorherrschte. 78 Ähnliches berichtete bereits Dorian (1978b: 606): „They [semi-speakers, L. L.] often react strongly to a conservative usage heard after completing test sentences with me, saying ‘That’s what I should have said! ’ or ‘That’s the right thing, isn’t it? ’.“ <?page no="264"?> 264 4 Methodisches Vorgehen Rollenzuweisung beobachtet werden: Männliche Befragte übernahmen unaufgefordert bzw. entgegen der Anweisung die Funktion des Instructors , weibliche Befragte gerne freiwillig die des Followers . Der Versuch, den Sprecherinnen die Rolle des Instructors zuzuweisen, missglückte häufig. Sie lehnten die Rolle ab, da sie ihren männlichen Spielpartnern eine weitaus höhere Sprachkompetenz attestierten, die man, so die weiblichen Befragten, als Instructor zum Erklären und Leiten des Spieles benötigte. Während die Mehrheit der jungen männlichen Semisprecher die Spielsituation sichtlich genossen und versuchten ihre Sprachkenntnisse - selbst unter Vorherrschen häufiger Code-Switching-Einheiten - unter Beweis zu stellen, verhielten sich junge Frauen oftmals schüchtern und versuchten, sich so wenig wie möglich zu äußern (vgl. semi speakers’ silence ). Kam den jungen Frauen die Rolle als Follower zu, so war dies umso problematischer, da im Spiel ohne Rückfragen und Kommentaren den Anweisungen des Instructors ,blind‘ gefolgt wurde, auch wenn damit riskiert wurde, die Spielroute nicht erfolgreich zu Ende bringen zu können. 4.5 Aufbereitung und Präsentation des Datenmaterials 4.5.1 Ohrenphonetische Analyse Die Auswertung und Analyse der gesammelten Sprachdaten folgen einem perzeptiven Ansatz. Im Vordergrund steht das Hörerurteil in Bezug auf die zu überprüfenden Lautsegmente. Sprachverfallskontexte sind durch eine immer geringer werdende Zahl an Sprechern der rezessiven Sprache und an Situationen, in denen diese erworben, gesprochen, gehört und weitertradiert werden kann, geprägt. Semisprecher verfügen zwar lediglich über imperfekte aktive Kenntnisse der angestammten Sprache, weisen jedoch in den meisten Fällen eine hohe passive Sprachkompetenz auf. Sie sind somit oftmals die letzten Mitglieder einer Sprachgemeinschaft, die allein durch den Passiverwerb des Idioms über ein gewisses Urteilungsvermögen als Hörer verfügen. Zur Auseinandersetzung mit der linguistischen Fragestellung, d. h. zur Überprüfung der Anbzw. Abwesenheit spezifischer Lautphänomene, wurde daher im vorliegenden Fall der perzeptuellen Einschätzung einer Semisprecherin des Sassaresischen große Bedeutung beigemessen. 79 79 Die im Jahr 1986 geborene Semisprecherin schätzt ihre aktiven Sprachkenntnisse des Sassaresischen als niedrig ein. Ihre Eltern, die in Sassari aufgewachsen sind und das Sassaresische aktiv beherrschen, spre/ (a)chen mit ihr ausschließlich Italienisch. Kenntnisse des Sassaresischen erlangte sie vorwiegend zuhause durch den Kontakt mit den Groß- <?page no="265"?> 4.5 Aufbereitung und Präsentation des Datenmaterials 265 Auf eine instrumentalphonetische Analyse wurde verzichtet, da sie keine Rückschlüsse auf die perzeptiven Kenntnisse des Hörers zulässt. Experimentalphonetische Verfahren erlauben nach der Normalisierung der Sprachdaten, graduelle Lautveränderungen bzw. -unterschiede festzustellen, nehmen dem Forscher jedoch die Entscheidung für das Abgrenzen von Lautkategorien nicht ab. Sprachaufnahmen sollten daher stets Sprechern der zu untersuchenden Sprache zur Kontrolle vorgelegt werden. Auch die Heterogenität der Daten und die Tatsache, dass es sich im vorliegenden Fall um keine ,sauberen‘ Laboraufnahmen handelt, sprachen gegen die Verwendung instrumentalphonetischer Analyseprogramme, die sämtliche Signale (Störgeräusche etc.) verarbeiten. 80 Zudem wäre hierfür eine zeitaufwändige Normalisierung der im Rahmen der Map Tasks entstandenen Sprachdaten nötig gewesen, da diese nicht prosodisch kontrolliert werden konnten. Die sassaresophone Kontrollhörerin führte eine Abhörung all der Tokens durch, deren Beurteilung sich schwierig gestaltet hatte. Zusätzlich prüfte sie das Korpus stichprobenartig. Die Berücksichtigung der perzeptuellen Einschätzung einer zweiten Person war auch deshalb sinnvoll, da sich durch den Verzicht auf instrumentalphonetische Messungen zwangsläufig das Risiko des Wahrnehmens durch einen „subjektive[n] Filter“ (Reinke 2004: 73) ergibt. Der Höreindruck der befragten Semisprecherin bestätigte in den meisten Fällen jedoch meinen eigenen. Auffällig war allerdings, dass sie den Retroflex sowie die lateral-alveolare Frikative auch dort identifizierte, wo sie für mich kaum hörbar waren. In einigen Fällen konnte mittels ohrenphonetischer Analyse nicht eindeutig über die Anbzw. Abwesenheit spezifischer Lautphänomene entschieden werden: Problematisch gestaltete sich auch für die Kontrollperson die Beurteilung von Anlautkonsonanten. Insbesondere anlautende / s/ , / f/ und / tʃ/ konnten auch nach mehrmaligem Abhören nicht eindeutig als stimmhaft bzw. stimmlos identifiziert werden. Häufig wurden sie daher gänzlich aus der Analyse ausgeschlossen. eltern väterlicherseits. Sie verwendet das Sassaresische lediglich zuhause sowie im Kontakt mit Freunden. Sie fühlt sich als Sardin - weniger als Sassaresin - spricht dennoch gerne gelegentlich Sassaresisch. 80 Akustische Analysesoftware sollte ohnehin die ohrenphonetische Analyse niemals ersetzen, sondern ergänzen. Vgl. hierzu Maddieson (2001: 221): „Newer techniques have supplemented but not supplanted straightforward observation of what a speaker is visibly doing and what the result sounds like to the ear.“ <?page no="266"?> 266 4 Methodisches Vorgehen 4.5.2 Praktikabilität und Lesbarkeit Zur Aufbereitung der Daten wurde in einem ersten Schritt das im Rahmen der Maps Tasks und Frames gewonnene Datenmaterial orthographisch vortranskribiert. Die Darstellung des Wortlautes kann nach Selting (2001) auf wenigstens vier Arten erfolgen: „Verwendung der Standardorthographie, sogenannte ‘literarische Umschrift’, sogenannter ‘eye-dialect’ und phonetische Umschrift“ (Selting 2001: 1062). Im vorliegenden Fall wurde zugunsten der Praktikabilität und Lesbarkeit (vgl. Deppermann 4 2008: 46) auf die ,literarische Umschrift‘ zurückgegriffen. 81 Diese […] nimmt die Standardorthographie als Basis der Wiedergabe der regionalisierten mündlichen Standard- und Umgangssprache, und notiert umgangssprachliche oder dialektale Abweichungen von dieser regionalisierten Norm als Abweichung von der Standardorthographie. (Selting 2001: 1062) Im Falle des Sassaresischen stehen wir jedoch einer nicht-kodifizierten Varietät gegenüber, d. h. einem Idiom, für das keine allgemein anerkannte Standardorthographie ausgebildet worden ist. Als Referenznorm galt es daher, einen der bestehenden Orthographievorschläge - hier Rubattu ( 2 2006) - heranzuziehen. 82 Da die Transkription Merkmale der gesprochenen Sprache abbilden sollte, wurden insbesondere Anlautphänomene, Assimilationen und Reduktionserscheinungen wie Wortabbrüche und Apokopen angezeigt. Dank der orthographischen Transkription des Wortlautes konnte anschließend mit Hilfe der Suchfunktion von Microsoft Word gezielt nach spezifischen Phänomenen oder Wörtern gesucht werden (vgl. Reinke 2004: 68; Maclagan / Hay 2011: 39). Außerdem ist somit für die Leserschaft ein schnellerer und einfacherer Zugang zu den Daten gewährleistet. 83 Auch der zeitliche Aufwand, der bei der Anfertigung phonetischer Transkriptionen anfällt, konnte somit auf einem überschaubaren Niveau gehalten werden, da diese nur punktuell im Rahmen der Sortierung der Tokens nach zu untersuchendem Lautphänomen in den Fällen, in denen phonetische Besonderheiten nicht durch die orthographischen Zeichen repräsentiert werden konnten, erfolgte (vgl. Kap. 4.5.3). 84 81 Vgl. auch Deppermann ( 4 2008: 42). 82 Vgl. Linzmeier (2014) für einen Überblick über die aktuellsten Orthographievorschläge. 83 Hierzu auch Deppermann ( 4 2008: 46): „In Veröffentlichungen sollten Repräsentationsformen benutzt werden, die dem angesprochenen Leserkreis geläufig sind; sonst besteht die Gefahr, daß die Transkripte nicht oder nur sehr oberflächlich zur Kenntnis genommen werden.“ 84 Die phonetische Umschrift ermöglicht, die lautliche Realität systematisch darzustellen, ist aber für Nicht-Linguisten nur schwer zugänglich (vgl. Selting 2001: 1063) und zu- <?page no="267"?> 4.5 Aufbereitung und Präsentation des Datenmaterials 267 4.5.2.1 Referenzlexikon und -orthographie Als Referenzlexikon wurde Rubattus Onlinewörterbuch Dizionario universale della lingua di Sardegna ( 2 2006) und die darin formulierten orthographischen Richtlinien herangezogen. Das fünfteilige Wörterbuch liefert Übersetzungen aus dem Italienischen in sämtliche sardische bzw. sardisch-korsische Makrovarietäten, d. h. dass neben dem Sassaresischen auch das Logudoresische, Campidanesische, Nuoresische und Galluresische erfasst werden und somit Interferenzen aus den Nachbarvarietäten gezielt überprüft werden können. Die ersten beiden Bände beinhalten 40.000 italienische Lemmata sowie zahlreiche Angaben zur Vokalqualität, Betonung und grammatischen Formenbildung, Angaben zu semantischen, etymologischen, zeitlichen und stilistischen Besonderheiten sowie Hinweise zur dialektalen, fachsprachlichen und fremdsprachlichen Zuordnung (vgl. Linzmeier 2014: 440). Die Stärke des Wörterbuches liegt ganz eindeutig in der Erfassung von (Teil-)Synonymen und Varianten (z. B. finzu , finza , it. ,fino a‘), die im Rahmen der Datenerhebung häufig produziert wurden. Da das Wörterbuch zudem in digitaler Form verfügbar ist, kann auch hier mittels der Computersuchfunktion schnell zu dem gewünschten Eintrag gelangt werden. Ein weiterer Vorteil des Wörterbuchs besteht in seiner Nähe zur Orthographie des Italienischen. Die Transkriptionen zeigen keine Code-Switchingbzw. Code-Mixing-Phänomene an. Im Einzelfall konnte insbesondere Code-Mixing aufgrund der enormen strukturellen Nähe der beiden Idiome (Sassaresisch / Sorsesisch und Italienisch) nicht eindeutig als solche identifiziert werden. Orthographievorschläge des Sassaresischen, die eine Distanzmaximierung zur italienischen Rechtschreibung durch Verwendung spezifischer Grapheme anstreben (z. B. < k > für / k/ ), schienen folglich nicht sinnvoll, da oftmals nicht eindeutig entschieden werden konnte, welche Matrixsprache der Äußerung zugrunde lag. Es werden im Folgenden nur diejenigen graphischen Zeichen angeführt, die für die Umsetzung spezifischer sassaresischer Laute benötigt wurden. Bei Phonen und Phonemen, die ebenfalls im italienischen Lautinventar präsent sind, wird - so wie auch in den meisten Orthographievorschlägen für das Sassaresische - auf die italienische Orthographie ausgewichen (wie z. B. < gl > für / ʎ/ ): Folgende Vorschläge wurden von Rubattu ( 2 2006) übernommen bzw. gemäß den eigenen Bedürfnissen angepasst: dem mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden, da eine lange Gewöhnungs- und Übungsphase für das Erstellen der Transkriptionen von Nöten ist und Computertastaturen phonetische Zeichen nicht beinhalten und somit auf Tastenkombinationen ausgewichen werden muss (vgl. Reinke 2004: 68). Maclagan / Hay (2011: 36) weisen darauf hin, dass die Transkription einer Konversation in etwa zehnmal der Zeit der Aufnahmedauer in Anspruch nimmt. <?page no="268"?> 268 4 Methodisches Vorgehen - Akzentsetzung : Abweichend von den orthographischen Richtlinien Rubattus wird die Akzentsetzung nicht zur Anzeige der Vokalqualität (offenes vs. geschlossenes e und o ) eingesetzt, sondern lediglich, um Betonungsverhältnisse in Oxytona abzubilden, z. B. dinà (it. ,soldi‘), parò (it. ,però‘), ischribì (it. ,scrivere‘) - Ausbleiben des Anzeigens des nasalierten Vokales [-] , d. h. < a >: nasales [-] wird innerhalb der orthographisch basierten Transkriptionen nicht angezeigt, sondern erst im Rahmen der Sortierung der Tokens sowie im Analyseteil der Arbeit, z. B. c[-]ni (it. ,cane‘) - Ausbleiben des Anzeigens des Retroflexes , d. h. < dd >: retroflexes [ɖɖ] wird innerhalb der orthographisch basierten Transkriptionen nicht angezeigt, sondern erst im Rahmen der Sortierung der Tokens sowie im Analyseteil der Arbeit, z. B. caba[ɖɖ]u (it. ,cavallo‘) - Alveolare Affrikaten • [ts]: < tz > • [dz]: < z > - Anzeigen der Langkonsonanz • die individuelle Länge intervokalischer Geminaten wird nicht separat überprüft, d. h. sie wird stets nach Rubattu wiedergegeben, z. B. foggu (it. ,fuoco‘), rodda (it. ,ruota‘), minuddu (it. ,piccolo‘), peggiu (it. ,peggio‘) • Partizip Perfekt: < dd >: magnaddu (it. ,mangiato‘), daddu (it. ,dato‘), auddu (it. ,avuto‘) • intervokalisches b wird gemäß Rubattu als einfaches < b > wiedergegeben, z. B. coibu (it. ,corvo‘); bei deutlich hörbarer Spirantierung wurde auch < v > transkribiert (z. B. coivu ) - Lateral-alveolare und velare Frikative • dentale etymologische Nexus: < lth, rth, sth, ldh, rdh, sdh >, z. B. salthu (it. ,salto‘), porthu (it. ,porto‘), caldhu (it. ,caldo‘), gardhu (it. ,cardo‘). Die Graphemverbindungen zeigen ausschließlich an, dass eine hörbare Friktion vorhanden ist. Der Grad der Assimilation des Konsonantennexus (ein Langkonsonant vs. zwei Konsonanten) wird hierbei nicht berücksichtigt. • velare etymologische Nexus: < lch, rch, sch, lgh, rgh, sgh >, z. B. barcha (it. ,barca‘), ischora (it. ,scuola‘), algha (it. ,alga‘, ,immondizia‘), larghu (it. ,largo‘) - Verwendung von < q >: z. B. quadru (it. ,quadro‘) - Verwendung von < j > nur in „lemmi di accatto“, z. B. gianna → la janna (it. ,la porta‘) sowie in Interjektionen (z. B. eja , aja ) - Anzeigen der Anlautmutation : zusätzlich wird in der Transkription jegliche Form der Anlautmutation angezeigt; ausgenommen hiervon sind folgende Fälle: <?page no="269"?> 4.5 Aufbereitung und Präsentation des Datenmaterials 269 • die Sonorisierung von [s] kann nicht durch < z > wiedergegeben werden, da dieses bereits [dz] repräsentiert. Auch an dieser Stelle wird im Analyseteil der Arbeit auf die phonetische Umschrift mittels [z] rekurriert, z. B. lu [z]ori (it. ,il sole‘) • konsonantische Längungen an der Wortfuge (z. B. bedingt durch raddoppiamento fonosintattico ) werden nicht transkribiert Sämliche im Rahmen der vorliegenden Arbeit abgefragte Zielwörter wurden zusätzlich in den Wörterbüchern Muzzos und Lanzas nachgeschlagen. In ein paar wenigen Fällen wich die Darstellung und somit die postulierte lautliche Ausgestaltung des Zielwortes von Rubattu ( 2 2006) ab. In diesen Fällen wurde folgende Schreibweise verwendet: Zielwort Muzzo (1953, 1955) Lanza (1980) Rubattu ( 2 2006) filt(h)ru filtru filtru filthru Konjugierte Verben wurden auf der Grundlage der Grammatik Bazzonis (1999) wiedergegeben. 4.5.2.2 Transkription der Aufnahmen Zunächst wurden die im Rahmen der Map Tasks und Frames gewonnenen Aufnahmen nach den oben beschriebenen orthographischen Richtlinien in literarischer Umschrift transkribiert. 85 Hierzu wurde zur Kennzeichnung von Segmenten oder den Äußerungsverlauf betreffende Besonderheiten vereinzelt auf die Transkriptionsrichtlinien des „Gesprächsanalytischen Transkriptionssystems“ ( GAT ) zurückgegriffen. 86 Im vorliegenden Fall werden nur diejenigen Parameter berücksichtigt und Kennzeichnungen vorgenommen, die für die Auswertungen des Audiomaterials in der Folge relevant sind sowie vereinzelt den Erfordernissen der Studie angepasst. Die verwendeten Richtlinien sind im Anhang D überblicksartig zusammengefasst. - Da die vorliegende Arbeit keine konversationsanalytische, sondern eine segmentphonetische Analyse zu leisten versucht, wurden lediglich aufeinanderfolgende Redebeiträge transkribiert und die darin enthaltenen Tokens 85 Eine beispielhafte Transkription befindet sich in Anhang E. Die vollständigen Transkriptionen werden online (https: / / epub.uni-regensburg.de/ ) zur Verfügung gestellt. 86 Das GAT wurde 1998 von Selting et al. zur einheitlichen schriftlichen Umsetzung gesprochener Sprache entwickelt. Ich beziehe mich im Folgenden auf die überarbeitete Version (GAT 2) aus dem Jahr 2009 (vgl. Selting et al. 2009). <?page no="270"?> 270 4 Methodisches Vorgehen ausgewertet. Gesprächsüberlappungen 87 werden mithilfe von Auslassungszeichen gekennzeichnet. (Dies betraf lediglich die im Rahmen der Map Tasks entstandenen Aufnahmen, da diese im Gegensatz zu den Frames dialogisch angelegt waren.) - Stellen, die aufgrund von undeutlichem Sprechen, starken Hintergrundgeräuschen oder lautem Lachen schwerbzw. unverständlich waren, wurden ebenfalls gekennzeichnet und aus der Analyse ausgeschlossen - Versprecher und Satzabbrüche wurden ohne separate Kennzeichnung transkribiert - Wortabbrüche werden angezeigt, z. B. un cacardo - paraverbale Gesprächsphänomene wie Lachen und Flüstern wurden notiert - Verzögerungssignale wie ah , eh sowie Rezeptionssignale werden angezeigt - kurze, mittlere und lange Dehnungen wurden transkribiert - geschätzte kurze, mittlere und lange Pausen wurden ebenfalls notiert - bei hoch steigender Tonhöhenbewegung, die sich in Fragen ergab, wurde dies am Ende der Äußerungseinheit mit <? > angezeigt 4.5.3 Selektieren, Sortieren und phonetisches Transkribieren Nach der Transkription der Map Task Gespräche in literarischer Umschrift wurde innerhalb der Transkriptionen gezielt nach Äußerungseinheiten gesucht, die als potentielle Träger der in Kapitel 3.2 vorgestellten Lautvariablen identifiziert werden konnten. Diese wurden als Bestandteil größerer Äußerungseinheiten, d. h. innerhalb von Syntagmen, längeren Phrasen bzw. vollständigen Sätzen, selektiert und nach Lautvariablen sortiert. Im Rahmen der Sortierung 88 wurden die Tokens bzw. Laute - falls für die vorliegende Untersuchung nötig - detaillierter, d. h. phonetisch, transkribiert (s. u.). Ebenso wurde mit den versprachlichten Frames verfahren, die jedoch aufgrund ihrer vorgegebenen Struktur unmittelbar nach den zu untersuchenden Lautphänomenen sortiert werden konnten. Auch Zielwörter, die die Sprecher häufig einer hyperkorrekten Aussprache unterzogen, wurden hier eingereiht, z. B. dinà (Nasalierung), camellu (Retroflex), targa (velare Frikative) etc. Da die im Rahmen der vorliegenden Studie zu analysierenden Laute / Lautkomplexe mithilfe der orthographischen Transkriptionsrichtlinien abgebildet werden konnten, wurden segmentale phonetische Besonderheiten lediglich dann zusätzlich mithilfe des Symbolinventars der IPA transkribiert, wenn die 87 Im Einzelfall wurde der prominentere, d. h. besser hörbare Redebeitrag transkribiert. 88 Ein Beispiel für die Sortierung befindet sich in Anhang F. Die Zusammenstellung aller für die Sprecher angefertigten Tabellen wird gemeinsam mit den Map Task Transkriptionen online publiziert (vgl. Fn 85 in Kap. 4.5.2.2). <?page no="271"?> 4.5 Aufbereitung und Präsentation des Datenmaterials 271 Orthographie eine eindeutige Graphem-Phonem-Zuordnung nicht ermöglichte. Dies betraf insbesondere die für das Sorsesische bezeugte Vokalnasalierung von / a/ (daher c[-]ni , it. ,cane‘), den Retroflex (daher gia[ɖɖ]u , it. ,gallo‘), anlautendes sonorisiertes <s> (daher lu [z]ori , it. ,il sole‘) sowie individuell entstandene hybride Zwischenformen. Auch Fälle orthographischer Mehrdeutigkeit wurden auf diese Weise gelöst, z. B. calche / i (it. ,qualche‘), aus dessen Graphie nicht eindeutig hervorgeht, ob phonetisch [ˈkalke / i] oder [ˈkaxxe / i] zugrundeliegt, weshalb auf die Schreibung ca[xx]e / i zurückgegriffen wurde. Auf diese Transkription wurde im Rahmen der tabellarischen Sortierung der Tokens sowie im Analyseteil rekurriert. Von der Kontrollhörerin als ,schwach‘ oder kaum hörbar retroflex bezeichnete Laute wurden wie folgt wiedergeben: gia[dd / ɖɖ]u . Alle weiteren ,angedeuteten‘ Laute wurden durch Hochstellung markiert: ve i mmi . <?page no="273"?> 5 Sprecherprofile: Auswertung und Analyse der soziolinguistischen Befragungen und individuellen Sprachaufnahmen Das vorliegende Kapitel präsentiert die individuellen Ergebnisse der soziolinguistischen Befragungen sowie des Ausspracheverhaltens von Semi- und Vollsprechern des Stadtsassaresischen (Kap. 5.1) und des Sorsesischen (Kap. 5.2) im Rahmen einzelner Sprecherprofile. Jedes Profil beginnt mit der Vorstellung des soziobiographischen und -linguistischen Hintergrundes des jeweiligen Sprechers. Anschließend werden die gewonnenen Sprachdaten, die bereits zuvor nach Lautvariablen sortiert wurden, vorgestellt. Auf die im Rahmen des Map Tasks ( MT ) gewonnenen Nennungen folgen die aus den Frames (F1-F4) extrahierten Tokens. Nach Feststellung der Anbzw. Abwesenheit vokalischer und konsonantischer Lautphänomene schließt jedes Sprecherprofil mit einer Synthese ab. Diese dient der Zusammenfassung der Ergebnisse aus der soziolinguistischen Befragung, der Beobachtungen zum Verhalten der Sprecher in der Aufnahmesituation sowie der Synthetisierung der Ergebnisse zum Ausspracheverhalten der Sprecher mit besonderer Berücksichtigung hyperkorrekter und hybrider Formen sowie des Phänomens des warm up von Lautregeln. Die untersuchten Lautvariablen sind folgende: Vokalisierung, i -Prothese, Retroflex, lateral-alveolare Frikative, velare Frikative und Anlautmutation. Die Datensätze von Semi- und Vollsprechern des Sorsesischen werden zusätzlich im Hinblick auf die Vokalnasalierung und das parasitische [j] untersucht. Zunächst werden die Profile der zehn Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen vorgestellt; anschließend folgen die Datenzusammenstellungen der zehn Befragten aus Sorso. Profile von Gesprächspartnern, die das Map Tasks gemeinsam bearbeiteten, werden im Anschluss aneinander präsentiert. Zielwörter werden fett und kursiv hervorgehoben (z. B. cabaddu); die konkreten Realisierungen der Zielwörter, d. h. die Einzelbelege werden kursiviert (z. B. gabaddu ). Produzierte ein Sprecher mehrere gleichlautende Tokens eines Zielwortes, so wird dies ebenfalls angezeigt (z. B. cabaddu (2) ). Die benannten Zielwörter sowie Einzelbelege wurden chronologisch erfasst, um mögliche Ausspracheveränderungen im Verlauf der Sprachaufnahme abbilden zu können. <?page no="274"?> 274 5 Sprecherprofile Das Phänomen der Akkomodation wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht näher untersucht, 1 allerdings wird dem Leser angezeigt, sollte sich ein Sprecher im Anschluss an seinen Gesprächspartner, in gleicher Weise bzw. von der Aussprache des Spielpartners abweichend äußern, z. B.: - la figga (< SASS - SS -1985w ): der Sprecher artikuliert la figga , wie bereits seine Gesprächspartnerin SASS - SS -1985w zuvor. - la lana (< SASS - SS -1988m-A : la rana ): der Sprecher artikuliert la lana . Sein Gesprächspartner SASS - SS -1988m-A äußerte zuvor hingegen la rana . Mit dem Terminus Hybridform werden im Folgenden Zwischenformen der regelhaften Bildungstypen zweier Sprachen bezeichnet. Hybridbildungen sind Formen, die als Kompromiss aus den beiden in Kontakt stehenden Systemen hervorgehen und strukturelle Merkmale beider Sprachen aufweisen. Zwischenformen, die sich durch Beteiligung des Auslautvokals ergeben, sind hiervon ausgenommen, da es sich hierbei um einfache Reduktionserscheinungen handeln kann. Im Rahmen des vorliegenden Kapitels wird keine Beurteilung der ,Festigkeit‘, d. h. des Grades an Stabilität bzw. Konventionalisierung der Bildungen vorgenommen; die Formen und ihre Bestandteile werden ausschließlich vorgestellt. In der Synthese werden die gesammelten hybriden Bildungen erneut zusammengefasst und versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob unter den im Sprachverfall tendenziell häufiger auftretenden Ad-Hoc-Hybriden auch solche zu finden sind, die als mittlerweile konventionalisierte Formen einzustufen sind. Hybridformen ergeben sich häufig durch hyperkorrektes Ausspracheverhalten. Unter Hyperkorrektur wird das Entstehen von Hyperformen verstanden, d. h. die Übergeneralisierung, d. h. Ausdehnung, von Ausspracheregeln auf hierfür untypische Kontexte (vgl. Kap. 2.2.1.3). Der Begriff warm-up-Phänomen wurde bereits im Hinblick auf das lexikalische Wissen von Semisprechern vorgestellt (vgl. Kap. 2.2.2.4). Hierbei handelt es sich um Reaktivierungsmechanismen, anhand welcher deutlicher wird, dass oftmals nicht von Kompetenzdefiziten, sondern vielmehr von Performanzphänomenen auszugehen ist. Semisprecher und Rusty Speaker sind häufig in der Lage, Formen, die von Beginn an Teil des passiven Sprachwissens waren bzw. in dieses übergegangen sind, zu reaktivieren. Im Rahmen der Sprecherprofile wird nun der Prozess des ,Wiederfindens‘ sassaresischer / sorsesischer Ausspracheregeln abgebildet. 1 Vgl. die allgemeinen Beobachtungen hierzu in Kapitel 4.4.2. <?page no="275"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 275 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 5.1.1 SASS - SS -2000m 5.1.1.1 Soziolinguistisches Sprecherprofil Geschlecht Geburtsjahr Geburtsort/ Wohnsitz Beruf angestammte Sprache Sprachniveau m 2000 Sassari / Sassari Schüler Sassaresisch Semisprecher Der Vater des Befragten stammt aus Sassari, die Mutter aus Oristano. Er hat Familienangehörige, die außerhalb des sassaresophonen Sprachraumes leben, hat selbst jedoch sein bisheriges Leben ausschließlich in Sassari verbracht. Der Befragte gibt an, sich insbesondere Sassari und Sardinien eng verbunden zu fühlen. Sprachkenntnisse (Selbsteinschätzung) Italienisch: aktiv und passiv hoch L1 neben dem Sassaresischen und Primärsprache Sassaresisch: aktiv mittel / passiv mittel L1 neben dem Italienischen und Sekundärsprache Logudoresisch: keine Kenntnisse Kontext des Spracherwerbs: Sassaresisch und Italienisch Der Befragte gibt an, parallel das Italienische und das Sassaresische zuhause erlernt zu haben. Seine Großeltern väterlicherseits spre/ (a)chen Sassaresisch untereinander. Seine Großeltern mütterlicherseits sowie seine Eltern spre/ (a)chen miteinander Italienisch. Innerhalb der Familie verlaufen Gespräche zwischen dem Befragten und seinem Vater sowie seinen Geschwistern auf Sassaresisch. Seine Mutter wendet sich an ihn lediglich auf Italienisch. Im schulischen Umfeld wird nicht auf das Sassaresische zurückgegriffen, auch nicht unter den Schülern. Vorherrschende Sprache ist das Italienische. <?page no="276"?> 276 5 Sprecherprofile Kenntnis und aktueller Gebrauch der Idiome sowie Begründung Der Sprecher gibt an, lediglich zuhause das Sassaresische zu gebrauchen. In Geschäften, auf dem Markt, mit Freunden und in der Schule greift er niemals auf das Sassaresische zurück. In emotional geprägten Situationen sowie zum Zählen gebraucht er das Sassaresische oder das Italienische. Er selbst schätzt seine aktiven und passiven Kenntnisse des Sassaresischen als mittel ein. Er gibt an, Sassaresischsprecher jeden Alters zu verstehen. Laut seiner Aussage passiert es ihm nicht, dass er das Sassaresische und Italienische mischt. Er erinnert sich daran, in der Schule darauf hingewiesen worden zu sein, dass ihm die Verwendung des Sassaresischen Schwierigkeiten im Erlernen des Italienischen bereiten könnte: „A Ischora, akì mi diziani ki era tzerraggu e ki mi dizia prubremi i l’apprendimentu di l’itarianu“ (it. etwa ,A scuola, perché c’era chi mi diceva che era volgare, e chi mi diceva che mi dava problemi per imparare l’italiano‘). Wenden sich Sprecher des Sassaresischen an ihn auf Italienisch und nicht auf Sassaresisch, so tun sie dies „akì soggu un pitzinnu“ (it. ,perché sono un bambino‘). Er selbst hingegen betont, das Italienische nicht im Kontakt mit Personen zu verwenden, die das Sassaresische beherrschen. Mediennutzung Der Sprecher gibt an, dass das Sassaresische / Sorsesische gelegentlich im Fernsehen und Radio präsent ist. Er hat gelegentlich Schriftstücke in sassaresischer Sprache gelesen und würde dies gerne häufiger tun, gäbe es mehr Texte. Er hört häufig sassaresische Musik und hat gelegentlich versucht, das Sassaresische zum Verfassen von SMS und Texten („ SMS , testhu“) zu verwenden. Er zeigt Interesse daran, das Sassaresische schriftlich zu verwenden, „akì è la linga mea“ (it. ,perché e la mia lingua‘). Gäbe es eine Einheitsorthographie für das Sassaresische, so wäre er bereit, diese zu verwenden. <?page no="277"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 277 Identität und Einstellung zum Italienischen, Sassaresischen und Sorsesischen Der Sprecher gibt an, sich in gleichem Maße als Sarde und Sassarese zu fühlen. Er fühlt sich primär der sassaresischen Sprache verbunden. Das Sassaresische ist laut seiner eigenen Aussage Teil seiner Identität und er bemerkt, gerne Sassaresisch zu sprechen. Laut seiner Aussage unterscheiden sich Sassaresen von Sorsesen. Allerdings sei Sassarese sein gleichbedeutend mit Sarde zu sein. Sassarese zu sein kann wiederum hingegen nicht gleichgesetzt werden mit Italiener zu sein. Er gibt an, das Sassaresische als schönes und ausdrucksstarkes Idiom wahrzunehmen, das für Fremde nicht schwer zu erlernen sei. Dass Kinder den Lokaldialekt erlernen, ist dem Sprecher wichtig und er befürwortet die Einführung des Sassaresischen an den Schulen, denn „è la linga nosthra“ (it. ,è la nostra lingua‘). Der Befragte bejaht die Frage, ob das Sorsesische vitaler sei als das Sassaresische Sassaris. Er begründet dies mit der Tatsache, dass „in tziddai l’itarianu è la linga ‘comune’“ (it. ,in città l’italiano è la lingua ‚comune‘‘). Er sieht das Sassaresische durch das Italienische und das Sardische bedroht und befürchtet, dass das Idiom eines Tages aussterben wird. Gleiches nimmt er für das Sorsesische an. Laut seiner Aussage hätte das Aussterben des Sassaresischen auch den Verlust der sassaresischen Identität zur Folge. Die Zukunft des Sassaresischen beschreibt er daher als „nieddu“ (it. ,nero‘). Er engagiert sich für den Erhalt des Idioms „fabiddendiru“ (it. ,parlandolo‘). Er bezeichnet das Sassaresische als „meu“ (it. ,mio‘). Von Vorteil sei das Beherrschen des Sassaresischen, denn „aggiudda e allena lu tzaibeddu a la interconnessioni cu’ l’althri linghi“ (it. ,aiuta e allena il cervello all’interconnessione con le altre lingue‘) und des Italienischen, denn „più linghi si cunnoscini e megliu è“ (it. ,più lingue si conoscono e meglio è‘). Das Italienische solle das Sassaresische laut seiner Aussage nicht in allen Kommunikationssituationen ersetzen. Ortsgebundenheit Der Befragte gibt an, gerne in Sassari zu leben und sich Sassari verbunden zu fühlen. Sassarese zu sein bedeutet für ihn „assé sardhu e no itarianu“ (it. ,essere sardo e non italiano‘). Die Stadt verlassen zu müssen, würde ihm schwer fallen. Der Großteil seiner Familie und Freunde lebt in der Stadt. Einkäufe und Freizeitaktivitäten erledigt er ebenfalls in Sassari. Er interessiert sich für Neuigkeiten und aktuelle Veranstaltungen in der Stadt („kiddi di sport, ririgioni e cultura“; it. ,quelle di sport, religione e cultura‘), und geht „attibiddai di fuba“ (it. ,attività di calcio‘) nach. Der Zuzug von Menschen, die den Lokaldialekt nicht sprechen, stört ihn nicht. Die Frage, ob man Sassarese sein könne ohne Sassaresisch zu sprechen, bejaht der Sprecher, „akì la cultura è lu matessi impurthanti“ (it. ,perché la cultura è altrettanto importante‘). Sprecher anderer Idiome, die ihren Wohnort nach Sassari verlegen, sollten dennoch das Sassaresische erlernen „pa ricunnoscimentu a li tziddai“ (it. ,per riconoscimento alle città‘). <?page no="278"?> 278 5 Sprecherprofile Charakteristika des Sassaresischen / des Sorsesischen Der Informant gibt an, die Lautung des Sassaresischen zu mögen („è la mea“; it. ,è la mia‘). Die authentischste Aussprache spricht er älteren Sprechern („li giai“; it. ,gli anziani‘) zu. Er bemerkt, dass sich die sassaresische Aussprache von Generation zu Generation unterscheidet, denn „li giai fabeddani kena itarianizazioni“ (it. ,gli anziani parlano senza italianizzazione‘). Keines der beiden Idiome - Sassaresisch oder Sorsesisch - klingt schöner als das jeweils andere, denn „no isisthini linghi beddi o fei“ (it. ,non esistono lingue belle o brutte‘). Das Sassaresische hätte sich im Laufe der Jahre verändert und zwar „i lu lessicu e i la fonetica“ (it. ,nel lessico e nella fonetica‘). Er hat nicht den Eindruck, Sassaresischkenntnisse durch den Nicht-Gebrauch der Sprache zu vergessen. In anderen Teilen Sardiniens wird er „da lu sonu di la ‘S’“ (it. ,dal suono della ‘S’‘) als Sassarese erkannt. Sorsesen werden, so bezeugt der Befragte, „da la ‘cantirena’ e da la ‘ DD ’ caccuminari e da la ‘A’ sarradda“ (it. ,dalla ‘cantilena’ e dalla ‘ DD ’ cacuminale e dalla ‘A’ chiusa‘) in Sassari als Sorsesen identifiziert. Auch Sprecher der Stadtvarietät werden in Sorso problemlos als solche „da la ‘A’ abertha e da la ‘ DD ’ ki no è caccuminari“ (it. ,dalla ‘A’ aperta e dalla ‘ DD ’ che non è cacuminale‘) erkannt. Auf die Frage nach der Sprachherkunft bzw. -verwandtschaft antwortet der Befragte: „È una linga ki à pigliaddu da lu sardhu e da lu còssu“ (it. ,è una lingua che ha preso dal sardo e dal corso‘). Typische Laute des Sassaresischen / Sorsesischen „li espiraddi“ (it. ,le espirate‘) Unterschiede des Sassaresischen zum Sorsesischen „la ‘ DD ’ caccuminari, la ‘A’ sarradda“ (it. ,la ‘ DD ’ cacuminale, la ‘A’ chiusa‘) Laute, die ein Sassarese / Sorsese aussprechen können sollte „li espiraddi: ‘aischoltha’“ (it. ,le espirate: ‘ascolta’‘) Wörter, die ein Fremder, der Sassaresisch / Sorsesisch lernen möchte, aussprechen können sollte „salthitzoni“ (it. ,salsiccione‘) Als „schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen „la tz“ Als „nicht schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Bekannte Ausspracheregeln des Sassaresischen / Sorsesischen in Gegenüberstellung zum Italienischen „Quando in una parola italiana c’è il suono ‘ SC ’ da noi appare il suono ‘ SCH ’“ <?page no="279"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 279 5.1.1.2 Sprachdaten Map Rollen Frames Nr. 1 Instructor SASS - SS -2000m F1-F2 Follower SASS - SS -1985w 2 5.1.1.2.1 Vokalische Phänomene Vokalisierung Map Task: Die für das Sassaresische typische Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] vollzieht der Sprecher regelmäßig für -L-, in den Tokens der Zielwörter aiburu und poipu (2) . Frames (1-4): Im Rahmen der Frames artikuliert der Sprecher lediglich das Zielwort poipu; die Vokalisierung ist in allen beiden Frames stabil: • poipu: un poipu → lu boipu i-Prothese Map Task: Der Sprecher produziert Nennungen für die Zielwörter ischuminzà, (i)schara, ischudu und ischribì: devi schuminzà , l’ischara , l’ischudu , v’è schrittu . Diese allesamt mit [xx] anlautenden Formen werden teils mit, teils ohne Anwesenheit des prothetischen i artikuliert. Frames (1-4): Im Rahmen der Frames benennt der Sprecher lediglich die Zielwörter (i)schara und ischudu. In F2 produziert er schara ohne Anwesenheit des prothetischen i . • (i)schara: un’ischara → la schara • ischudu: un ischudu → l’ischudu 5.1.1.2.2 Konsonantische Phänomene Retroflex Map Task: Im Rahmen des Map Tasks artikuliert der Sprecher Tokens der Zielwörter cultheddu, giaddu, coddu und edda. Der Sprecher realisiert in den Tokens gultheddu , giaddu , goddu (2) und edda regelmäßig alveodentales [dd]. 2 Der Gesprächsanteil des Instructors überwiegt deutlich. Die für seine Gesprächspartnerin gewonnene Belegsammlung ist so gering, dass ihr Datensatz aus der Analyse ausgeschlossen werden musste. <?page no="280"?> 280 5 Sprecherprofile Frames (1-4): Der Sprecher produziert konsequent in allen Formen der Zielwörter giaddu, coddu, cultheddu, padedda und peddi, die [dd] bzw. den Retroflex aufweisen könnten, die alveodentale Realisierung [dd]: • giaddu: un giaddu → lu giaddu • coddu: un coddu → lu goddu • cultheddu: un cultheddu → lu gultheddu • padedda: una badedda → la badedda • peddi: una beddi → la beddi Lateral-alveolare Frikative Map Task: der Datensatz des Sprechers enthält Belege für die Zielwörter cultheddu, tasthera / tastiera, drestha, turtha und minesthra. In folgenden Nennungen ist stimmloses lateral-alveolares [ɬ] deutlich hörbar: gultheddu , drestha (4) , durtha (2) und miniesthra . Für das Zielwort tasthera / tastiera produziert der Sprecher tastiera . Der Datensatz des Sprechers enthält keine Tokens, die stimmhaftes [ɮ] erwarten ließen. Frames (1-4): Der Sprecher produziert im Rahmen der Carrier phrases lediglich Tokens, die zur Überprüfung der Anbzw. Abwesenheit des lateral-alveolaren Frikativs [ɬ] herangezogen werden können. Stimmhaftes [ɮ] ist anhand des Datensatzes des Sprechers nicht kontrollierbar. Für [ɬ] finden sich Belege der Zielwörter minesthra (F2), tasthera / tastiera, turtha, cultheddu und cartha: • minesthra: la mine[ʃʃ]a → la minesthra • tasthera / tastiera: una tastiera → una tastiera • turtha: una durtha → la durtha • cultheddu: un cultheddu → lu gultheddu • cartha: una gartha → la gartha Velare Frikative Map Task: Der Sprecher produziert den aus etym. L, R, S + C entstandenen velaren Frikativ [xx] in den Tokens der Zielwörter ischuminzà, (i)schara, ischudu und ischribì, d. h. in den Formen schuminzà , ischara , ischudu und schrittu . Für stimmhaftes in algha zu erwartendes [ɣɣ] findet sich kein Beleg, der Sprecher produziert hier alga . Die im Sassaresischen belegte Form targa ohne Anwesenheit von [ɣɣ] bewahrt der Sprecher. Frames (1-4): Der Sprecher produziert für die Zielwörter (i)schara, ischudu, buschu, algha, targa und zirchu folgende Nennungen: • (i)schara: un’ischara → la schara • ischudu: un ischudu → l’ischudu <?page no="281"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 281 • buschu: un buschu → lu buschu • algha: un’alga → l’aiga • targa: una targa → la targa • zirchu: un circo → lu circo Der Frikativ [xx] ist stabil in den Tokens der Zielwörter (i)schara, ischudu und buschu. Im Fall von zirchu wird auf die italienische Entsprechung circo ausgewichen. Für stimmhaftes in algha zu erwartendes [ɣɣ] findet sich kein Beleg, da der Sprecher auf alga (F1) rekurriert; in F2 findet sich eine Zwischenform (s. u.). Für den im Sassaresischen belegten Italianismus targa produziert der Sprecher, wie zu erwarten, kein [ɣɣ], sondern den erhaltenen Nexus rg -. Anlautmutation 3 Map Task: Der Sprecher wendet die Anlautmutation in Form der Sonorisierung von stimmlosen Okklusiven [k, p, t] und dem stimmlosen Frikativ [f] sehr regelmäßig an. Auch die Lenisierung von [dʒ] ist im Datensatz überprüfbar: • nach bestimmtem Artikel: lu joggu , lu gultheddu , lu bani , lu voggu , la durtha (2) , li grabbi , lu gabbu di giaddu , lu goddu (2) , la jatta (4) , la bianta , ru vienu (2) , lu / ri boipu / i (2) • nach vokal. auslautendem Wort (Nomen, Verben, Adjektive, Adverbien, Partikeln, Determinanten, Zahlwörter, Quantifizierer etc.): devi bassà (26) 4 , finza gandu (4) Der Sprecher unterlässt, wie zu erwarten, die Sonorisierung des Anlautkonsonanten nach konsonantisch auslautenden Formen (z. B. un fruttu ), nach Elementen, die das raddoppiamento fonosintattico auslösen (z. B. devi continuà finza , devi andà finza ) sowie nach Pausen (z. B. eh: : ( ) di: (-) fiori? ). Allerdings bleibt die Anlautmutation (Verstimmhaftung, Lenisierung, Rotazismus) im zwischenvokalischen Kontext auch vereinzelt aus: z. B. nach Artikel ( la tastiera , la lana , lu tiatru , la targa , la figga (< SASS - SS -1985w )), nach Präposition ( lu gabbu di giaddu ) und nach Verbalform ( devi farà ). Die Lenisierung, die sich für gianda annehmen ließe, vollzieht der Sprecher nicht, da er auf ghianda rekurriert. Im Falle von tastiera , lana und targa handelt es sich zudem um Formen, die gleichlautend im Italienischen existieren, was ein Ausbleiben der Anlautmutation bedingt haben könnte. Sämtliche Nennungen sind in sassaresischbasierte Äußerungskontexte eingebettet. 3 Die Stimmhaftigkeit von / s/ und / tʃ/ konnte nicht eindeutig festgestellt werden (vgl. Kap. 4.5.1). 4 Höreindruck eher [b], selten [p]. <?page no="282"?> 282 5 Sprecherprofile Frames (1-4): Der Sprecher unterlässt, wie zu erwarten, die Anlautmutation für mit stimmlosen Okklusiv anlautende Kontexte nach unbestimmtem maskulinen Artikel un . Nach dem vokalisch auslautenden unbestimmten Artikel una sowie den bestimmten Artikeln r / lu und r / la setzt die Sonorisierung mit großer Regelmäßigkeit ein: • V+[k]+V → [ɡ] coddu: un coddu → lu goddu ebenso: cultheddu, cabbu • V+[k]+V → [ɡ] cartha: una gartha → la gartha ebenso: crabba • V+[p]+V → [b] poipu: un poipu → lu boipu ebenso: paninu • V+[p]+V → [b] padedda: una badedda → la badedda ebenso: pianta, peddi • V+[t]+V → [d] timbru: un timbro → lu dimbru • V+[t]+V → [d] turtha: una durtha → la durtha Auch den Frikativ [f] unterzieht der Sprecher häufig einer deutlich hörbaren Sonorisierung, z. B.: • V+[f]+V → [v] foggu: un foggu → ru voggu ebenso: fenu, fiori Einmalig vollzieht der Sprecher den Prozess der Anlautmutation in Bezug auf die stimmlose Anlautaffrikate [tʃ], z. B.: • V+[tʃ]+V → [dʒ] ciodu: un ciodu → lu giodu In folgenden Fällen bleibt die Sonorisierung allerdings aus: • V+[t]+V → [t] tiatru: un tiatru → lu tiatru • V+[t]+V → [t] tasthera / tastiera: una tastiera → una tastiera ebenso: targa • V+[f]+V → [f] figga: una figga → la figga Die Lenisierung von [dʒ] → [j] verläuft nicht konsequent: Im Falle der Zielwörter giaddu und gianda unterlässt der Sprecher die Anlautlenisierung zu [j]: • V+[dʒ]+V → [dʒ] giaddu: un giaddu → lu giaddu • V+[dʒ]+V → [dʒ] gianda: una gianda → la gianda Für giatta erfolgt die Lenisierung in beiden Frames: • V+[dʒ]+V → [j] giatta: un giauna (-) una jatta → la jatta Im Falle von gioggu kommt es selbst zur Lenisierung nach un : <?page no="283"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 283 • K / V+[dʒ]+V → [j] gioggu: un joggu → lu joggu Der Rotazismus von [l] → [r] zeigt sich lediglich einmalig in F2: • V+[l]+V → [r] lana: la lana → la rana 5.1.1.3 Synthese SASS - SS -2000m Sprecher SASS - SS -2000m schätzt seine aktiven wie passiven Sprachkenntnisse des Sassaresischen selbst als mittel ein. In seinem Sprachverhalten zeigen sich die Stabilität spezifischer für das Sassaresische belegter Lautphänomene und nur selten das Ausbleiben zu erwartender Formen. Der Sprecher gab im Rahmen der soziolinguistischen Befragung an, die Aussprache des Sassaresischen zu mögen („è la mea“; it. ,è la mia‘). Er fühlt sich in gleichem Maße als Sarde und Sassarese und primär der sassaresischen Sprache verbunden. Das Sassaresische, das er gerne spricht, ist, laut seiner eigenen Aussage, Teil seiner Identität. Er gibt an, das Sassaresische als schöne und ausdrucksstarke Sprache wahrzunehmen. Das Idiom hätte sich im Laufe der Jahre verändert und zwar „i lu lessicu e i la fonetica“ (it. ,nel lessico e nella fonetica‘). Nur mehr ältere Sprecher sprechen Sassaresisch, so der Befragte, „[…] kena itarianizazioni“ (it. ,[…] senza italianizzazione‘). Der Sprecher zählt zu der verschwindend kleinen Zahl an jungen Sprechern, die heutzutage noch das Sassaresische von klein auf im Elternhaus erlernen. Seine Einstellung zur sassaresischen Sprache und Kultur fällt generell positiv aus. Grund hierfür ist sicherlich die positive Haltung hierzu innerhalb seiner Familie. Der Sprecher beantwortete den soziolinguistischen Fragebogen als einziger Befragter in sassaresischer Sprache. Er verfügt über ein relativ hohes Sprachniveau: Dieser Eindruck konnte im Verlauf des Map Tasks schnell gewonnen werden, da der Sprecher selbstsicher und ohne zu Zögern die angebotenen Stimuli benannte, kaum Wortfindungsprobleme aufwies (z. B. ippugna) und lediglich äußerst selten auf das Italienische rekurrierte (z. B. zirchu → circo ). Der Sprecher ist aufgrund seiner recht hohen Sassaresischkompetenz definitiv als ,besserer‘ Semisprecher anzusehen. Von einer Kategorisierung als Vollsprecher wurde dennoch abgesehen, da der Sprecher seine Kenntnisse des Sassaresischen selbst lediglich als mittel einschätzt und sich in seinem Alltag nur wenige Möglichkeiten der Sprachverwendung bieten. Auch konnten hybride und hyperkorrekte Formen in seinem Datensatz festgestellt werden. Da der Sprecher anlässlich der Bearbeitung der Frames jedoch sichtlich nervös war und sich hierdurch bedingt zahlreiche Versprecher, Verzögerungen <?page no="284"?> 284 5 Sprecherprofile und Pausen ergaben, 5 wurde er gebeten, lediglich zwei der ursprünglich vier Frames zu produzieren. Im Hinblick auf die untersuchten vokalischen Variablen lässt sich Folgendes festhalten: Die Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] ließ sich lediglich anhand der Tokens für das Zielwort aiburu (MT) und poipu (MT, Frames) belegen. Wortnennungen, die die Verwendung von prothetischem i vermuten ließen, weisen allesamt den Anlaut [xx] auf. Der Sprecher produziert im Rahmen des Map Tasks einerseits Formen mit anwesender ( ischara , ischudu ) sowie auch mit abwesender ( schuminzà , schrittu ) i -Prothese. In den Frames benennt er (i)schara und ischudu, wobei er, wie zu erwarten, prothetisches i als vokalischen Einschub nach dem elidierten, konsonantisch auslautenden Artikel un’ setzt: un’ischara . Bei der Verwendung nicht-elidierter, vokalisch auslautender Artikel ( lu / la , una ) ist die i -Prothese nicht obligatorisch: la schara . Im Hinblick auf die untersuchten konsonantischen Variablen lässt sich Folgendes festhalten: Wie für das Sprachverhalten sassaresischer Informanten zu erwarten, artikuliert der Sprecher Formen mit etym. -LLunter Verwendung der alveodentalen Aussprache [dd] anstelle des Retroflexes. Dies trifft auf sämtliche aus dem Map Task sowie den Frames gewonnene Belege der Zielwörter cultheddu, giaddu, coddu, edda, giaddu, padedda und peddi zu, die gemäß dem postulierten Ausgangssystem des Sassaresischen [dd] bzw. [ɖɖ] erwarten ließen. Er selbst nennt im Rahmen der soziolinguistischen Befragung das Vorherrschen des „‘ DD ’ caccuminari“ (it. ,‘ DD ’ cacuminale‘) im Sorsesischen als Unterschied zum Sassaresischen Sassaris. Im Ausspracheverhalten des Sprechers zeigt sich eine deutliche Stabilität der Artikulation des lateral-alveolaren Frikativs [ɬ] im Hinblick auf die im Rahmen des Map Tasks und der Frames gefundenen Belege der Zielwörter cultheddu, drestha, turtha, minesthra und cartha. Für das Zielwort tasthera / tastiera produziert der Sprecher tastiera . In F1 produziert der Sprecher eine hybride Zwischenform für minesthra (s. u.). Für stimmhaftes [ɮ] ergab sich keine Untersuchungsmöglichkeit. Neben den lateral-alveolaren Frikativen bewahrt der Sprecher die Aussprache von intervokalischem [xx] in den Tokens der Zielwörter ischuminzà, (i)schara, ischudu und ischribì und buschu. Lediglich im Falle von zirchu 5 Der Sprecher verwechselt häufig die im Rahmen der Frames geforderten Artikel un / una mit lu / la , weshalb er häufig zum erneuten Realisieren der Frames aufgefordert werden musste. <?page no="285"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 285 produziert er die italienische Entsprechung circo. Für stimmhaftes in algha zu erwartendes [ɣɣ] findet sich kein Beleg, der Sprecher produziert hier alga bzw. eine Hybridform in F2 (s. u.). Die im Sassaresischen belegte Form targa ohne Anwesenheit von [ɣɣ] bewahrt der Sprecher ohne Anwendung übergeneralisierter Ausspracheregeln. Auch Sprecher SASS - SS -2000m gab im Rahmen der soziolinguistischen Befragung an, „li espiraddi“ (it. ,le espirate‘) als typische Aussprachebesonderheit des Sassaresischen wahrzunehmen, die ein Sassarese in seinem Lautrepertoire zur Verfügung haben sollte (z. B. „aischoltha“; it. ,ascolta‘). Der lateral-alveolare Frikativ ist ebenso Bestandteil des Wortes „salthitzoni“ (it. ,salsiccione‘), das ein Fremder, der Sassaresisch erlernen möchte, artikulieren können sollte. Als bekannte Ausspracheregel des Sassaresischen in Gegenüberstellung zum Italienischen nennt er folgende: „ Quando in una parola italiana c’è il suono ‘ SC ’ da noi appare il suono ‘ SCH ’ “. Der Sprecher wendet die Anlautmutation im Rahmen des Map Tasks und der Frames mit relativ hoher Regelmäßigkeit in den hierfür typischen Kontexten an. Vereinzelt bleibt der Mechanismus im Rahmen des Map Tasks aus, z. B. im Falle von [f] und bei Formen mit gleichlautender Entsprechung im Italienischen sowie bei direktem Rekurs auf das Italienische (z. B. circo ). Die Lenisierung von [dʒ] → [j] verläuft relativ regelmäßig, allerdings zeigt der Sprecher in seinem Sprachverhalten die Tendenz, den Mechanismus auf weitere Kontexte auszudehnen (s. u.). Den Rotazismus von [l] → [r] vollzieht der Sprecher nicht im Verlauf des Map Tasks ( la lana ) und in F1 ( la lana ), jedoch in F2 ( la rana ). Da der Sprecher allerdings nur zwei der vier Frames bearbeitete, lässt sich an dieser Stelle kaum von einer Aktivierung des Mechanismus sprechen. Zusätzlich enthält das Datenmaterial des Sprechers folgende hybride bzw. hyperkorrekte Formen: Der Sprecher produziert in F1 einmalig die Form mine[ʃʃ]a : • minesthra: la mine[ʃʃ]a → la minesthra Hiermit ersetzt er [ɬ(t)] durch einen postalveolaren Langfrikativ. Der Artikulationsmodus bleibt somit erhalten, nicht jedoch der Artikulationsort. Für das Zielwort algha produziert der Sprecher einmalig, in F2, die Zwischenform aiga mit vokalisiertem l -: • algha: un’alga → l’aiga Den Mechanismus der Lenisierung von [dʒ] → [j] weitet der Sprecher auf untypische Kontexte aus. So findet sich in F1 die Form joggu nach konsonantisch auslautendem Artikel un : <?page no="286"?> 286 5 Sprecherprofile • K / V+[dʒ]+V → [j] gioggu: un joggu → lu joggu Dieses hyperkorrekte Ausspracheverhalten zeigt der Sprecher auch in giuggà (it. ,giocare‘) innerhalb eines das Zielwort cartha beinhaltenden Syntagmas nach der Präposition pa (auch pai , par ), die gewöhnlich das raddoppiamento fonosintattico auslöst: • F1 cartha: una gartha pa juggà • F2 cartha: una gartha la la gartha pa juggà 5.1.2 SASS - SS -1987m 5.1.2.1 Soziolinguistisches Sprecherprofil Geschlecht Geburtsjahr Geburtsort/ Wohnsitz Beruf angestammte Sprache Sprachniveau m 1987 Sassari / Muros ( SS ) Student Sassaresisch Semisprecher Die Mutter des Befragten stammt aus Sassari, der Vater aus Ossi ( SS ). Der Informant gibt an, Familienangehörige außerhalb des sassaresophonen Sprachraumes zu haben, selbst jedoch nie außerhalb dieser Zone gelebt zu haben. Er ist unverheiratet und hat keine Kinder. Der Sprecher gibt an, sich Sassari, Sardinien und Italien eng verbunden zu fühlen. Sprachkenntnisse (Selbsteinschätzung) Italienisch: aktiv und passiv hoch L1 und Primärsprache Sassaresisch: aktiv niedrig / passiv hoch L2 und Sekundärsprache Logudoresisch: keine Kenntnisse <?page no="287"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 287 Kontext des Spracherwerbs: Sassaresisch und Italienisch Der Informant gibt an, als L1 das Italienische erlernt zu haben. Seine Großeltern väterlicherseits spre/ (a)chen Sardisch und Italienisch untereinander. Die Eltern seiner Mutter verständig(t)en sich auf Sassaresisch und Italienisch. Der Sprecher bemerkt, das Sassaresische zuhause erlernt zu haben; das Italienische erwarb er ebenfalls im Elternhaus sowie in der Schule und durch den Kontakt mit Freunden. Obwohl seine Eltern untereinander lediglich das Italienische gebrauch/ (t)en, spre/ (a)chen sie - ebenso wie seine Großeltern - mit ihm nicht nur auf Italienisch, sondern auch auf Sassaresisch. Die Geschwister kommunzier(t)en untereinander jedoch lediglich auf Italienisch. Im schulischen Umfeld wurde nicht auf das Sassaresische zurückgegriffen, auch nicht unter den Schülern. Kenntnis und aktueller Gebrauch der Idiome sowie Begründung Der Sprecher gibt an, lediglich zuhause sowie im Kontakt mit Freunden das Sassaresische zu verwenden. In der Arbeit, in Geschäften, an der Hochschule sowie im Kontakt mit fremden Sarden greift er niemals auf das Sassaresische zurück. In emotional geprägten Situationen gebraucht er das Italienische und Sassaresische; er zählt lediglich auf Italienisch. Er schätzt seine passiven Kenntnisse des Sassaresischen als hoch ein und gibt an, sämtliche - d. h. jüngere wie ältere - Sprecher des Sassaresischen zu verstehen; seine aktiven Kenntnisse schätzt er jedoch als niedrig ein. Der Informant bemerkt, in Alltagsgesprächen („a casa parlando della quotidianità“) die beiden Idiome gelegentlich zu mischen. Sprecher des Sassaresischen wenden sich untereinander selten auf Sassaresisch aneinander, „perché lo trova volgare […]“. Der Informant selbst wendet sich an andere Sprecher des Sassaresischen vorwiegend auf Italienisch, denn „è più pulito e non viene naturale [il sassarese, L. L.]“. Er kann sich nicht daran erinnern, für die Verwendung des Sassaresischen jemals kritisiert worden zu sein. Mediennutzung Der Sprecher bestätigt, dass das Sassaresische / Sorsesische gelegentlich im Fernsehen und Radio präsent ist und er selbst hin und wieder Schriftstücke in sassaresischer Sprache gelesen hat. Gäbe es mehr in sassaresischer Sprache verfasste Texte, so hätte er Interesse an der Lektüre. Er hört gelegentlich sassaresische Musik. Er selbst hat das Sassaresische nie schriftlich verwendet, hätte hieran - insbesondere wenn eine offizielle Orthographie zur Verfügung stünde - jedoch durchaus Interesse, denn „è divertente“. <?page no="288"?> 288 5 Sprecherprofile Identität und Einstellung zum Italienischen, Sassaresischen und Sorsesischen Der Sprecher gibt an, sich zunächst als Sarde (und nicht als Italiener oder Sassarese) zu fühlen. Er fühlt sich primär der italienischen Sprache verbunden, wobei er das Sassaresische als Teil seiner Identität beschreibt und bemerkt, gerne Sassaresisch zu sprechen. Sassaresen und Sorsesen grenzt er klar voneinander ab. Auf die Frage Essere sassarese è uguale ad essere sorsese? antwortet er mit einem entschiedenen „No! ! ! “. Sassarese zu sein ist für ihn jedoch gleichbedeutend mit Sarde zu sein. Sassarese zu sein, sei jedoch nicht gleichzusetzen mit Italiener zu sein. Er gibt an, das Sassaresische als schöne , ausdrucksstarke und für Fremde schwer zu erlernende Sprache wahrzunehmen, die an die nachfolgende Generation - auch durch Integration der Sprache im Schulwesen - weitergegeben werden sollte. Er selbst bezeichnet das Idiom als „enfatico“. Der Informant bemerkt, dass die Sprache in Sassari weniger vital zu sein scheint als in Sorso, denn „a Sassari è vissuto come un momento di scherzo“. Auch wenn er das Sassaresische durch das Italienische bedroht sieht, glaubt er nicht an einen möglichen kompletten Niedergang des Idioms. Möglich sei jedoch ein weiteres Abdrängen des Sassaresischen in die Nische des Theaters und der Folklore. Die sassaresische Identität sieht er durch den Verlust der Sprache nicht gefährdet. Der Informant gibt an, den Erhalt der Sprache dadurch zu unterstützen, indem er so häufig wie möglich Sassaresisch spricht und aus dem Gebrauch gekommene Termini verwendet („lo parlo il più possibile e cerco parole che non si usano più molto“). Er sieht Vorteile im Beherrschen des Italienischen und des Sassaresischen und denkt nicht, dass das Italienische sämtliche Kommunikationskontexte, in denen das Sassaresische verwendet wird, übernehmen sollte. Ortsgebundenheit Der Informant gibt an, gerne in Sassari zu leben und sich mit der Stadt verbunden zu fühlen. Die Stadt verlassen zu müssen, würde ihm schwer fallen. Der Großteil seiner Familie und seiner Freunde lebt in Sassari. Seine Freizeit - er ist Mitglied in einem Tanzverein - verbringt er ebenfalls hauptsächlich in der Stadt. Auch seine Besorgungen erledigt er dort. Er interessiert sich für Neuigkeiten und aktuelle Veranstaltungen in Sassari („Faradda Candelieri, Cavalcata, Processioni dei gremi“). Der Zuzug von Menschen, die den Lokaldialekt nicht beherrschen, stört ihn nicht. Man könne jedoch nicht Sassarese sein, ohne die Sprache zu sprechen. Für Sprecher anderer Idiome, die ihren Wohnort nach Sassari verlegen, sei es aufgrund der Omnipräsenz des Italienischen nicht notwendig, Sassaresisch zu lernen, „non è fondamentale ma sarebbe divertente“. <?page no="289"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 289 Charakteristika des Sassaresischen / des Sorsesischen Der Informant gibt an, die Lautung des Sassaresischen zu mögen und als komplex wahrzunehmen („è diversa e non tutti riescono a riprodurla“). Die authentischste Aussprache spricht er älteren Sprechern sowie den sog. Sassaresi in ciabi zu. Er merkt an, dass sich die Aussprache von Generation zu Generation unterscheidet. Die Sprache hätte sich im Laufe der Jahre sehr verändert, denn „influenze dell’italiano l’hanno messo sporco e molti termini si sono persi“. Er bemerkt, selbst zahlreiche „termini desueti“ bereits vergessen zu haben. In anderen Teilen Sardiniens erkennt man Sassaresen an ihrer „cadenza“ und ihrer „pronuncia della ‘S’“. Das Sassaresische beurteilt er als schöner als das Sorsesische, denn „è più pulito e non ha accenti in più“. Sorsesen werden, so bezeugt auch der Befragte, aufgrund ihrer Aussprache in Sassari eindeutig als Sorsesen erkannt. Der Informant gibt an, keine näheren Angaben zur Herkunft des Sassaresischen machen zu können. Typische Laute des Sassaresischen / Sorsesischen „ SH “, „ SC “ Unterschiede des Sassaresischen zum Sorsesischen „soprattutto negli accenti“ Laute, die ein Sassarese / Sorsese aussprechen können sollte „istanghigliu“ (it. ,tabaccaio‘), „istumbadda“ (it. ,testata‘) Wörter, die ein Fremder, der Sassaresisch / Sorsesisch lernen möchte, aussprechen können sollte „foggu“ (it. ,fuoco‘), „marchaddu“ (it. ,marcato‘), „cabisthuria“ (it. ,tetto‘) Als „schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen „le ‘C’ spesso aspirate (‘cabbizzadda’)“ „[…]‘ SH ’ aspirato“ Als „nicht schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Bekannte Ausspracheregeln des Sassaresischen / Sorsesischen in Gegenüberstellung zum Italienischen - 5.1.2.2 Sprachdaten Map Rollen Frames Nr. 2 Instructor SASS - SS -1987m F1-F4 Follower SASS - SS -1986w <?page no="290"?> 290 5 Sprecherprofile 5.1.2.2.1 Vokalische Phänomene Vokalisierung Map Task: Die für das Sassaresische typische Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] vollzieht der Sprecher regelmäßig für -R-, in guiva und goivu . Frames (1-4): Der Sprecher produziert • coibu: un coivu → ru goivu → ru goivu → un corvu Während in F1 bis F3 die Vokalisierung stabil ist, bleibt sie in F4 aus. • veimmi / u: un verme → lu vemme → lu vemmi → un vemmi In diesem Fall zeigt sich die Tendenz zur Assimilation von wortinternen Konsonanten ( verme → vemme / i ), die Vokalisierung erfolgt hingegen nicht. Die Tendenz des Abbaus von [j] vor labial artikulierten Konsonanten (vgl. Doro 2001: 34) zeigt der Sprecher in seinem Sprachverhalten im Rahmen der Map Task Aufnahmen nicht. Er vollzieht die Vokalisierung hier regelmäßig. In den Frames hingegen bleibt die Vokalisierung in veimmi / u aus und schwankt im Falle von coibu. i-Prothese Map Task: Der Sprecher zeigt eine große Affinität zur Bewahrung von prothetischem i : So produziert er un’ippadda , un ischarrigu (2) , un ischobburu sowie di / d’ischora . Lediglich im Falle von ippada rekurriert er auf das it. spada ( una spada ). Frames (1-4): Der Sprecher produziert • ippadda: un’ippadda → l’ippadda → r’ippadda → un’ippadda • ischobburu: un ischobburu → l’ischobburu → r’ischobburu → un ischobburu • (i)schora: un’ischora → l’ischora → l’ischora → un’ischora Der Sprecher verwendet prothetisches i in allen Fällen regelmäßig. 5.1.2.2.2 Konsonantische Phänomene Retroflex Map Task: Der Sprecher vollzieht keine hörbare retroflexe Artikulation in den geäußerten Tokens cabaddi , ippadda , cultheddu (2) , padedda , giostraredda , beddu , niedda und gameddu . Für castheddu produziert er castello (2) , für sedda artikuliert er sella . <?page no="291"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 291 Frames (1-4): Der Sprecher produziert in allen Tokens der Zielwörter castheddu, ippadda, padedda, sedda (F2-F4), cabaddu und cultheddu ausschließlich [dd]. Im Hinblick auf das Zielwort sedda lässt sich festhalten, dass der Sprecher in F1 zunächst sella artikuliert. • castheddu: un castheddu → ru gastheddu → ru gastheddu → un castheddu • ippadda: un’ippadda → l’ippadda → r’ippadda → un’ippadda • padedda: una badedda → ra badedda → ra badedda → una badedda • sedda: una sella → ra sedda → ra sedda → una sedda • cabaddu: un cabaddu → ru gabaddu → ru gabaddu → unu gabaddu • cultheddu: un cultheddu → ru gultheddu → lu gultheddu → unu gultheddu Im Falle des Zielwortes camellu kommt es zu hyperkorrektem Ausspracheverhalten: • camellu: un cameddu → lu gameddu → ru gameddu → un cameddu Lateral-alveolare Frikative Map Task: Der Sprecher produziert hochfrequente Wörter wie sinisthra , desthra , althro / a etc. stets mit alveolar-dentalem Frikativ. Auffällig ist der Erhalt der frikativischen Artikulation, die im Sassaresischen aus etym. L, R, S + T hervorgegangen ist ( cultheddu , grasthi , barthi (4) , maesthru ). In grasthi bewahrt der Sprecher die alveolar-dentale Aussprache, obwohl seine Gesprächspartnerin SASS - SS -1986w zuvor eine velare Artikulation vornimmt ( cra[xx]i ). Die aus etym. L, R, S + D hervorgegangene stimmhafte Variante [ɮ] produziert der Sprecher lediglich in verdhi . Anstelle von gardhu und cordha artikuliert der Sprecher - der Aussprache des Italienischen entsprechend - cardo und corda . Frames (1-4): Der Sprecher produziert • castheddu: un castheddu → ru gastheddu → ru gastheddu → un castheddu • cultheddu: un cultheddu → ru gultheddu → lu gultheddu → unu gultheddu • gardhu: un cardo → ru gardo → il cardo → un calun cardo • lardhu: un lardo → ru raldo → ru lardo → un lardo • giosthra: una giostra → la giosthla giostra → ra giostra → una giostra Der Sprecher artikuliert im Rahmen der Carrier phrases deutlich und häufig den stimmlosen lateral-alveolaren Frikativ [ɬ]. Die für giosthra zu erwartende Friktion, deutet der Sprecher lediglich in F2 an. Stimmhaftes für gardhu und lardhu zu erwartendes [ɮ] produziert der Sprecher nicht. Allerdings vollzieht er in F2 eine Lateralisierung von r - ( ru raldo ) (s. u.). <?page no="292"?> 292 5 Sprecherprofile Velare Frikative Map Task: Den aus etym. L, R, S + C entstandenen velaren Frikativ [xx] artikuliert der Sprecher nach prothetischem i ( ischarrigu (2) , ischobburu , ischora ) sowie in borchu (2) (< SASS-SS-1986w ). Stimmhaftes, aus etym. L, R, S + G entstandenes [ɣɣ] überträgt er auf die Aussprache des Zielwortes targa: dargha . Im Falle von algha weicht er auf die hybride Form un’agga aus. Frames (1-4): Der Sprecher produziert • algha: un’alga → r’alga → l’alga → un’alga • ischobburu: un ischobburu → l’ischobburu → r’ischobburu → un ischobburu • targa: una targa → la dagga → la darga → una dagga • (i)schora: un’ischora → l’ischora → l’ischora → un’ischora • porchu: un porchu → lu borchu → ru borchu → un porchu • moscha: una moscha → la moscha → ra moscha → una moscha • falchu: un falco → ru valcu → il falco → un falco Auch im Rahmen der Frames produziert der Sprecher regelmäßig stimmloses [xx] nach prothetischem i in ischobburu und (i)schora sowie in den Tokens für porchu und moscha, in den geäußerten Formen für falchu hingegen nicht. Die Belege für algha weisen kein [ɣɣ] auf. Im Falle von targa zeigen sich interessante Zwischenformen (s. u.). Anlautmutation 6 Map Task: Der Sprecher unterlässt, wie zu erwarten, die Anlautmutation nach unbestimmtem maskulinen Artikel un (z. B. un cultheddu , un poggu ), am Satzbeginn (z. B. parò andendi andendi ) sowie nach das raddoppiamento fonosintattico auslösenden Elementen (z. B. azzendi e farendi , tre cabaddi ). 7 Er wendet die Anlautmutation regelmäßig in folgenden Kontexten - bedingt durch vokalischen Auslaut - an: • nach bestimmtem Artikel: ra / la garrera (2) , lu gabbu , li grasthi , lu gannàu , ri bizzinni , ru goivu , ru besciu (< SASS - SS -1986w ), ri gorri , lu voggu (3) (< SASS - SS -1986w ), la gabara , lu borchu (< SASS - SS -1986w ) (2) , la gabra , lu guivoni , la vigga (2) , lu gameddu 6 Die Stimmhaftigkeit von / s/ und / tʃ/ konnte nicht eindeutig festgestellt werden (vgl. Kap. 4.5.1). 7 Anlautendes [k] kann nach Formen, die generell das raddoppiamento fonosintattico auslösen, auch zu [ɡ] sonorisiert werden (vgl. Doro 2001) - wie auch im vorliegenden Fall: parò ghissa , ma ghissu (vgl. Kap. 3.2.3.3). <?page no="293"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 293 • nach unbestimmtem femininen Artikel: una barthi (2) , una janna , una dargha • nach unbetontem Pronomen: ti boni , si bedino , mi bari (3) • nach Präpositionen: di ghissi , da bidè , di regnu • nach vokal. auslautendem Wort (Nomen, Verben, Adjektive, Adverbien, Partikeln, Determinanten, Zahlwörter, Quantifizierer etc.): ghissi gosi , vedu buru , veggu buru , murata seccu ghissu , dabboi và , piccola guiva , l’althra barthi (2) , unu biù unu vazi dui , ru matessi roggu Es fällt auf, dass der Sprecher nicht nur Anlautveränderungen wie die Sonorisierung von Okklusiven und des Frikativs [f] anwendet, sondern auch den Mechanismus des Rotazismus (legnu → di regnu , loggu → ru matessi roggu ) vornimmt. Die Lenisierung von [dʒ] → [j] ist lediglich durch ein Token vertreten (gianna → la janna ). Teilweise überträgt der Sprecher den Mechanismus auf hierfür untypische Kontexte, z. B. nach Elementen, die das raddoppiamento fonosintattico auslösen (z. B. ba bizzinni ). Im Hinblick auf das Zielwort cannàu produziert der Sprecher unu gannàu . Er vollzieht also die nach vokalisch auslautendem Artikel typische Anlautsonorisierung, da er auf unu statt auf un zurückgreift und wortanlautendes [k] somit in einen intervokalischen Kontext positioniert. Der Sprecher unterlässt die Anwendung der Anlautmutation insbesondere in den Kontexten, in denen er auf die entsprechende italienische Form zurückgreift: z. B. una piccola guiva / giostraredda , la corda , una capra . Frames (1-4): Der Sprecher unterlässt, wie zu erwarten, die Anlautmutation für mit Okklusiv anlautende Kontexte nach unbestimmtem maskulinen Artikel un , verstimmhaftet diese jedoch regelmäßig nach dem vokalisch auslautenden unbestimmten Artikel una sowie den bestimmten Artikeln r / lu und r / la , z. B.: • V+[k]+V → [ɡ] cannàu: un cannàu → ru gannàu → ru gannàu → un cannàu ebenso: cabbu, coibu, castheddu, camellu • V+[k]+V → [ɡ] crabba: una grabba → ra grabba → ra grabba → una grabba • V+[p]+V → [b] porchu: un porchu → lu borchu → ru borchu → un porchu ebenso: pesciu • V+[p]+V → [b] padedda: una badedda → ra badedda → ra badedda → una badedda Abweichend hiervon zeigt der Sprecher in F4 die Tendenz zur Sonorisierung von anlautendem [k] in nicht üblichen Kontexten. Der Sprecher stellt den An- <?page no="294"?> 294 5 Sprecherprofile lautverschlusslaut durch die Verwendung von unu (anstelle von un ) in intervokalische Umgebung: • V+[k]+V → [ɡ] cabaddu: un cabaddu → ru gabaddu → ru gabaddu → unu gabaddu • V+[k]+V → [ɡ] cultheddu: un cultheddu → ru gultheddu → lu gultheddu → unu gultheddu Im Hinblick auf cani erfolgt die Sonorisierung sogar einmalig (F4) nach un : • K / V+[k]+V → [k/ ɡ] cani: un cani → ru gani → ru gani → un gani Im Falle von targa unterlässt der Sprecher die Sonorisierung zunächst (F1 vs. F2-F4). • V+[t]+V → [t / d] targa: una targa → la dagga → la darga → una dagga Auch der stimmlose Frikativ [f] wird generell einer deutlich hörbaren Sonorisierung unterzogen, z. B.: • V+[f]+V → [v] foggu: un foggu → ru voggu → ru voggu → un foggu • V+[f]+V → [v] figga: una vigga → ra vigga → ra figga → una vigga Der Prozess [v] → [b] zeigt sich nicht: • V+[v]+V → [v] veimmi / u: un verme → lu vemme → lu vemmi → un vemmi Tendenziell vollzieht der Sprecher den Prozess der Anlautmutation in Bezug auf die stimmlose Anlautaffrikate [tʃ] regelmäßig, z. B.: • V+[tʃ]+V → [dʒ] ciodu: un ciodu → ru giodu → ru giodu → un ciodu • V+[tʃ]+V → [dʒ] ciabi: una giabi → la giabi → ra giabi → una ciabi Die Lenisierung von [dʒ] → [j] vollzieht der Sprecher in denselben Kontexten für: • V+[dʒ]+V → [j] gioggu: un gioggu → lu joggu → ru joggu → un gioggu • V+[dʒ]+V → [j] gianna: una janna → la janna → la janna → una janna ebenso: gesgia Der Sprecher unterlässt, wie für das Sassaresische zu erwarten, die Lenisierung von mit [dʒ] anlautenden Italianismen: • V+[dʒ]+V → [dʒ] giosthra: una giostra → la giostra → ra giostra → una giostra Den Rotazismus von [l] → [r] vollzieht der Sprecher lediglich einmalig (F2): <?page no="295"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 295 • V+[l]+V → [r / l] lardhu: un lardo → ru raldo → ru lardo → un lardo Der Anlaut von Zielwörtern, die der Sprecher über italienische Formen ausgleicht, wird teils von der Anlautmutation erfasst, teils nicht. Hier schwankt der Sprecher zwischen der Verwendung des sassaresischen und italienischen Artikels ru bzw. il : • V+[k]+V → [ɡ] gardhu / cardo: un cardo → ru gardo → il cardo → un calun cardo • V+[f]+V → [v] falchu: un falco → ru valcu → il falco → un falco 5.1.2.3 Synthese SASS - SS -1987m Sprecher SASS - SS -1987m , der seine aktiven Sprachkenntnisse selbst als niedrig einschätzt, zeigt Tendenzen zum Erhalt sowie zur Aufgabe sassaresischer Lautphänomene. Generell hat er eine positive Einstellung zur sassaresischen Sprache: Im Rahmen der soziolinguistischen Befragung bestätigte er, sich eng mit Sassari und der sassaresischen Kultur verbunden zu fühlen und sie als festen Bestandteil seiner Identität wahrzunehmen. Er spricht gerne Sassaresisch, bejaht die Frage, ob es sich hierbei um eine ausdrucksstarke und schöne Sprache handle, und findet Gefallen an ihren komplexen Aussprachebesonderheiten. Dem Informanten ist selbst bewusst, eine stark durch das Italienische interferierte Aussprache des Sassaresischen aufzuweisen, was er sehr bedauert. In der Aufnahmesituation war der Sprecher zu Beginn etwas nervös und sprach mit leiser Stimme. Seine Redebeiträge hielt er kurz, wobei er sich stets darum bemühte, vollständige Sätze zu bilden. Zusätzlich weist die für ihn erstellte Belegsammlung typische Semisprecherphänomene wie hybride Formen, hyperkorrektes Ausspracheverhalten und warm-up -Phänomene auf. Die Tendenz zur Hybridisierung zeigt sich auch auf morphologischer Ebene: So produziert er im Rahmen des Map Tasks vedu statt veggu (it. ,vedo‘), si bedino statt si bedini (it. ,si vedono‘) etc. Im Hinblick auf die untersuchten vokalischen Variablen zeigt der Sprecher insbesondere die Tendenz zur Bewahrung von vokalisiertem -Rvor -V- (jedoch nicht vor -M-) sowie von prothetischem i . Im konsonantischen Bereich zeigt der Sprecher in seiner Aussprache das Ausbleiben der retroflexen Artikulation [ɖɖ], die, wie für das Sassaresische Sassaris in der Forschung bereits bekannt, häufig in eine alveodentale Realisierung [dd] übergegangen ist. Im Falle von ippada weicht der Sprecher auf die italienische Entsprechung spada aus. Für das Zielwort sedda produziert der Sprecher zunächst sella ( MT , F1), aktiviert jedoch ab F2 das Wissen um den regelhaften Prozess -LL- > [ɖɖ] bzw. [dd] und artikuliert sedda . <?page no="296"?> 296 5 Sprecherprofile Im Hinblick auf die Kontexte, die die Präsenz lateral-alveolarer Frikative erwarten lassen, zeigt sich, dass der Sprecher die Artikulation von [ɬ] und [ɮ] durchaus beherrscht. Allerdings überwiegt die Anzahl der Tokens, die [ɬ]-Kontexte beinhalten, deutlich. Ebenso artikuliert er den stimmlosen velaren Frikativ [xx] in zahlreichen Tokens. Stimmhaftes [ɣɣ] produziert der Sprecher lediglich einmalig im Rahmen des Map Tasks hyperkorrekt im Italianismus targa ( dargha ), vollzieht diese Artikulation jedoch nicht im Rahmen der Frames. Für algha bleibt die Artikulation von [ɣɣ] im Rahmen der Frames aus ( un’alga → r’alga → l’alga → un’alga ). Der Sprecher gab im Rahmen der soziolinguistischen Befragung an, „SH“ und „ SC “ als typische Laute des Sassaresischen wahrzunehmen und insbesondere „[…] ‘SH’ aspirato“ als wohlklingend zu empfinden. Es ist anzunehmen, dass der Sprecher hiermit auf die lateral-alveolaren bzw. velaren Frikative Bezug nimmt, allerdings ist dies aus der von ihm gewählten orthographischen Wiedergabe nicht eindeutig abzuleiten. Er zeigt generell eine große Affinität zur konsequenten Anwendung der Anlautmutation im Hinblick auf Okklusive, den Frikativ [f] und der Lenisierung von [dʒ] → [j] im Rahmen der Map Task und Frames produzierten Äußerungen. Die Anwendung des Rotazismus von [l] → [r] ist schwankend. Der Prozess [v] → [b] zeigt sich nicht. Der Sprecher unterlässt, wie für das Sassaresische zu erwarten, die Lenisierung von mit [dʒ] anlautenden Italianismen. Er weitet die Anlautmutation jedoch auch auf Kontexte aus, in denen die Grammatik des Sassaresischen ein raddoppiamento fonosintattico verlangen würde. Hierbei handelt es sich insbesondere um die hyperkorrekte Verwendung nach den Präpositionen a und pa . Trotz deutlicher Tendenz der Bewahrung typischer sassaresischer Aussprachebesonderheiten, lassen sich im für den Sprecher SASS - SS -1987m erhaltenen Datensatz zahlreiche Formen finden, in denen sich Abweichungen von der Aussprache des postulierten Ausgangssystem feststellen lassen. Hierbei handelt es sich um hybride und hyperkorrekte Formen sowie Einflüsse aus dem Italienischen und eventuell dem Sardischen. Hybride Formen zeigen sich z. B. in: • veimmi / u: un verme → lu vemme → lu vemmi → un vemmi : Zwar bleibt die Vokalisierung von -Rvor -Maus, allerdings kommt es ab F2 zur Assimilation des Vibranten an den Nasal bzw. zum Ausfall von vokalisiertem -R-, so dass eine intervokalische Langkonsonanz das Resultat ist. Diese ist markantes Merkmal des Sassaresischen und betrifft zahlreiche Inlautkonsonanten. <?page no="297"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 297 Der Sprecher artikuliert stets alveodentales [dd] anstelle des Retroflexes [ɖɖ]. Dies entspricht der für das Sassaresische Sassaris mittlerweile geläufigen Artikulation von etym. -LL-. Allerdings weitet der Sprecher diese Realisierung in hyperkorrekter Weise auf Kontexte aus, die [ɖɖ] bzw. [dd] grundsätzlich nicht erfordern. Hierzu zählt u. a. der im Sassaresischen etablierte Italianismus camellu. Im Rahmen des Map Tasks produziert der Sprecher lu gameddu sowie unmittelbar daran anschließend un camello . 8 Die hyperkorrekte Aussprache zeigt sich auch in den vier Rahmensätzen: • camellu: un cameddu → lu gameddu → ru gameddu → un cameddu Es ist anzunehmen, dass dieser Aussprache das Wissen um die Regelhaftigkeit Wenn etym. oder it. - LL -/ -ll-, dann [ɖɖ] bzw. [dd] zugrundeliegt. Der Versuch der Erzeugung intervokalischer Langkonsonanten kann auch für folgenden Kontext angeführt werden: • targa: una targa → la dagga → la darga → una dagga Der Italianismus targa ist nach Rubattu ( 2 2006) durch den Erhalt des intervokalischen Nexus rg gekennzeichnet, der Sprecher assimiliert diesen jedoch in F2 und F4 zu gelängtem [ɡɡ]. Für das Zielwort algha artikuliert der Sprecher im Rahmen des Map Tasks die Form agga ohne hörbares frikativisches Element. Im Hinblick auf das Zielwort lardhu artikuliert der Sprecher zwar nicht frikativisches [ɮ], in F2 zeigt er jedoch die Tendenz zur Lateralisierung von -Rvor -D- und der Artikulation von [d]: • lardhu: un lardo → ru raldo → ru lardo → un lardo Im Hinblick auf die für das Sassaresische typische Anlautmutation zeigt der Sprecher selbst die Tendenz zur Sonorisierung in Kontexten, in denen sie nicht zu erwarten ist: Für das Zielwort cannàu produziert der Sprecher unu gannàu ( MT ). In F4 artikuliert er überdies unu gabaddu sowie unu gultheddu . Dies kann einerseits damit erklärt werden, dass der Sprecher in einem mehrsprachig, u. a. auch durch das Sardische geprägten Umfeld aufgewachsen ist und es sich hierbei um eine Interferenz des Logudoresischen Artikels unu handeln kann. Andererseits ist auch denkbar, dass der Sprecher hiermit den Versuch unternimmt, in möglichst vielen Kontexten die für das Sassaresische charakteristische An- 8 Da in den Wörterbüchern des Sassaresischen sowohl camellu (Muzzo 1953, 1955; Lanza 1980) als auch cam(m)ellu (Rubattu 2 2006) (it. ,cammello‘) genannt werden und konsonantische Länge im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine untergeordnete Rolle spielt, wird diese - auch im Fall der Verwendung der italienischen Entsprechung bzw. hybrider italianisierter Formen - nicht notiert. <?page no="298"?> 298 5 Sprecherprofile lautmutation zu vollziehen oder dass es sich um einen bereits verfestigten Anlaut handelt. Für letzteres spricht auch die ungewöhnliche Sonorisierung nach Konsonant im Falle von un gani (F4). Der Sprecher unternimmt hingegen keine Anlautmutation in den Kontexten, in denen er auf italienische Formen zurückgreift (z. B. una piccola guiva ). Gelegentlich zeigen sich Code-mixing Phänomene, in denen der Sprecher auf die kognate Entsprechung des Italienischen rekurriert und diese mit Hilfe des italienischen Artikels il einleitet (z. B. F3: il cardo , il falco ). Auch die Rücknahme sassaresischer Aussprachebesonderheiten zeigt sich: So produziert der Sprecher für das Zielwort coibu durchgängige vokalisierte Formen, nimmt die Vokalisierung in F4 jedoch zurück ( un corvu ). Möglich ist, dass die ausbleibende Anlautmutation von [k] vor un einen Anlaut erzeugt, der mit dem der kognaten italienischen Form corvo zusammenfällt und somit auch ein Aussetzen der Vokalisierung im Wortinneren die Folge ist. Zusätzlich konnten folgende warm-up -Phänomene festgehalten werden: Im Rahmen des Map Tasks produziert der Sprecher die Nennungen castello (2) sowie sella . In der Versprachlichung der Frames zeigt sich hingegen die Aktivierung sassaresischer Aussprachebesonderheiten: • castheddu: un castheddu → ru gastheddu → ru gastheddu → un castheddu • sedda: una sella → ra sedda → ra sedda → una sedda 5.1.3 SASS - SS -1986w 5.1.3.1 Soziolinguistisches Sprecherprofil Geschlecht Geburtsjahr Geburtsort/ Wohnsitz Beruf angestammte Sprache Sprachniveau w 1986 Sassari / Sassari Lehrerin Sassaresisch Semisprecher Die Eltern der Befragten stammen beide aus Sassari. Die Informantin gibt an, Familienangehörige außerhalb des sassaresophonen Sprachraumes zu haben und selbst drei Jahre in Urbino und zwei Jahre in Österreich gelebt zu haben. Sie ist unverheiratet und hat keine Kinder. Die Sprecherin gibt an, sich Sassari, Sardinien und Italien eng verbunden zu fühlen. <?page no="299"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 299 Sprachkenntnisse (Selbsteinschätzung) Italienisch: aktiv und passiv hoch L1 und Primärsprache Sassaresisch: aktiv niedrig / passiv niedrig L2 und Sekundärsprache Logudoresisch: keine Kenntnisse Kontext des Spracherwerbs: Sassaresisch und Italienisch Die Informantin gibt an, als L1 das Italienische erlernt zu haben (zuhause und durch die Schulbildung). Ihre Großeltern väterlicherseits spre/ (a)chen Sassaresisch miteinander. Auch die Eltern ihrer Mutter verständig(t)en sich auf Sassaresisch. Die Sprecherin gibt an, das Sassaresische zuhause erlernt zu haben. Ihre Eltern spre/ (a)chen untereinander sowie mit der Befragten Italienisch und Sassaresisch. Gespräche mit ihren Geschwistern verlaufen ausschließlich auf Italienisch. Ihre Großeltern väterlicherseits spre/ (a)chen ebenfalls Sassaresisch mit ihr, die Großeltern mütterlicherseits kommunizier(t)en mit ihr jedoch lediglich auf Italienisch. Im schulischen Umfeld wurde nicht auf das Sassaresische zurückgegriffen, auch nicht unter den Schülern. Kenntnis und aktueller Gebrauch der Idiome sowie Begründung Die Sprecherin gibt an, lediglich zuhause sowie im Kontakt mit Freunden das Sassaresische zu gebrauchen. Mit ihrem Neffen / ihrer Nichte spricht sie nie auf Sassaresisch, da zunächst eine korrekte Beherrschung des Italienischen wichtig sei: „perché mi interessa che per prima cosa impari a parlare correttamente in italiano“. In der Arbeit, in Geschäften, auf dem Markt, in der Schule, an der Universität sowie im Kontakt mit Kollegen und fremden Sarden greift sie niemals auf das Sassaresische zurück. In emotional geprägten Situationen sowie zum Zählen gebraucht sie lediglich das Italienische. Sie selbst schätzt ihre aktiven und passiven Kenntnisse des Sassaresischen als niedrig ein. Die Informantin bemerkt, in Gesprächen mit Freunden („chiacchierando con gli amici“) die beiden Idiome gelegentlich zu mischen. Sprecher des Sassaresischen wenden sich an sie lediglich auf Italienisch, „perché il sassarese lo capsico poco e lo so parlare poco“. Die Informantin wendet sich an andere Sprecher des Sassaresischen ausschließlich auf Italienisch, „perché non riesco ad esprimermi bene in sassarese“. Sie kann sich nicht daran erinnern, für die Verwendung des Sassaresischen jemals kritisiert worden zu sein. Mediennutzung Die Sprecherin bestätigt, dass das Sassaresische / Sorsesische gelegentlich im Fernsehen und Radio präsent ist. Sie hat nie Schriftstücke in sassaresischer Sprache gelesen und hat hieran auch kein größeres Interesse („[…] non sono particolarmente interessata“). Sie hört keine sassaresische Musik und hat nie versucht, das Sassaresische schriftlich zu verwenden, außer „qualche parola via sms (ma non lo so scrivere)“. Eine schriftliche Verwendung des Sassaresischen ist für sie nicht von Bedeutung, denn „non mi serve in modo particolare“. Gäbe es eine etablierte sassaresische Schriftsprache, so würde sie diese möglicherweise verwenden („forse“), „ma non mi interressa granché“. <?page no="300"?> 300 5 Sprecherprofile Identität und Einstellung zum Italienischen, Sassaresischen und Sorsesischen Die Sprecherin gibt an, sich zunächst als Sardin (und nicht als Italienerin oder Sassaresin) zu fühlen. Sie fühlt sich dennoch primär der italienischen Sprache verbunden. Das Sassaresische ist laut ihrer eigenen Aussage kein Teil ihrer Identität, dennoch bemerkt sie, gerne Sassaresisch zu sprechen. Sassaresen und Sorsesen grenzt sie klar voneinander ab. Sassarese zu sein ist für sie nicht gleichbedeutend mit Sarde zu sein. Sassarese zu sein, sei jedoch gleichzusetzen mit Italiener zu sein. Sie gibt an, das Sassaresische als ausdrucksstarkes , nicht aber als wohlklingendes Idiom wahrzunehmen, das zudem für Fremde nur schwer zu erlernen sei. Dass Kinder den Lokaldialekt erlernen, sei, so die Sprecherin, nicht relevant, „perché c’è il rischio che poi parlino italiano in modo scorretto“. Dennoch befürwortet sie die Einführung des Sassaresischen an den Schulen, „per conservare le tradizioni“. Die Informantin geht davon aus, dass das Sorsesische vitaler ist als das Sassaresische Sassaris, „perché Sorso è un paese piccolino e si conservano le tradizioni“. Sie befürchtet, dass das Sassaresische durch das Italienische bedroht ist und eines Tages verschwinden wird. Die Mundart Sorsos schätzt sie hingegen als nicht bedroht ein. Laut ihrer Aussage hätte das Aussterben des Sassaresischen auch den Verlust der sassaresischen Identität zur Folge. In Zukunft wird das Sassaresische, so die Befragte, wohl nur mehr von älteren Generationen gesprochen werden. Sie selbst engagiert sich nicht für den Erhalt des Idioms, „perché non so parlarlo ☹ “. Sie bezeichnet das Sassaresische als „allegro ☺ “, dennoch gebe es keine Vorteile, die Sprache zu erlernen, „perché è solo un dialetto limitato all’uso familiare“. Italienisch zu sprechen sei ein deutlicher Vorteil, „perché è la lingua ufficiale del mio paese“. Das Italienische solle das Sassaresische dennoch nicht in allen Kommunikationssituationen ersetzen. Ortsgebundenheit Auf die Frage, ob sie gerne in Sassari lebt, antwortet die Informantin: „Dipende ; ) è una città di provincia, di conseguenza a volte ho difficoltà con la mentalità della gente (spesso chiusa)“. Sie fühlt sich Sassari verbunden, „ma non in modo particolare (per i motivi descritti sopra)“. Sassarese zu sein, „significa far parte di una piccola città di provincia che comunque cerca di mettersi al passo con città più grandi“. Die Stadt verlassen zu müssen, würde ihr schwer fallen. Der Großteil ihrer Familie und ihrer Freunde lebt „in altre città italiane / estere“. Einkäufe und Freizeitaktivitäten erledigt sie in Sassari. Sie interessiert sich für Neuigkeiten und aktuelle Veranstaltungen in der Stadt („Candelieri, Cavalcata“), ist aber in keinem lokalen Verein aktiv. Der Zuzug von Menschen, die den Lokaldialekt nicht sprechen, stört sie nicht. Auf die Frage hin, ob man Sassarese sein könne ohne Sassaresisch zu sprechen, antwortet die Sprecherin: „Difficile da dire: certamente sapendo un po’ di dialetto fa parte del ‘patrimonio culturale’ locale.“ Für Sprecher anderer Idiome, die ihren Wohnort nach Sassari verlegen, sei es dennoch nicht notwendig, Sassaresisch zu lernen, „[…] perché comunque ormai si parla ovunque in italiano“. <?page no="301"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 301 Charakteristika des Sassaresischen / des Sorsesischen Die Befragte gibt an, die Lautung des Sassaresischen nicht zu mögen, denn „suona volgare“. Die authentischste Aussprache spricht sie älteren Sprechern zu. Sie bemerkt, dass sich diese von Generation zu Generation unterscheidet: „non so spiegare la pronuncia, ma di sicuro gli anziani lo sanno parlare meglio“. Auf die Frage, ob das Sassaresische schöner klinge als das Sorsesische, antwortet sie: „non credo“. Auch umgekehrt sei dies nicht der Fall: „non credo, cambia la cadenza ma comunque è lo stesso dialetto“. Die Sprache hätte sich im Laufe der Jahre sehr verändert, denn „molte parole del passato non si usano più“. In anderen Teilen Sardiniens erkennt man ihre Herkunft, denn „normalmente non lo capiscono ma mi dicono che ho un accento diverso (da quello di Cagliari o altre zone)“. Sorsesen werden, so bezeugt auch die Befragte, „per la famosa ‘cantilena’“ in Sassari als Sorsesen erkannt. Auch Sprecher der Stadtvarietät werden in Sorso problemlos als solche identifiziert, „[…] perché cambia la cadenza“. Auf die Frage nach der Sprachherkunft bzw. -verwandtschaft antwortet die Informantin: „non si conoscono ancora le origini, ma pare che non derivi dal sardo“. Typische Laute des Sassaresischen / Sorsesischen „‘ SCH ’ tipico del sassarese ma assente nel sardo“ Unterschiede des Sassaresischen zum Sorsesischen „No“ Laute, die ein Sassarese / Sorsese aussprechen können sollte „penso il famoso ‘ SCH ’“ Wörter, die ein Fremder, der Sassaresisch / Sorsesisch lernen möchte, aussprechen können sollte „ SCH “ Als „schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Als „nicht schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen „sempre il ‘ SCH ’ perché lo trovo volgare“ Bekannte Ausspracheregeln des Sassaresischen / Sorsesischen in Gegenüberstellung zum Italienischen - <?page no="302"?> 302 5 Sprecherprofile 5.1.3.2 Sprachdaten Map Rollen Frames Nr. 1 Instructor SASS - SS -1989m F1-F4 Follower SASS - SS -1986w Map Rollen Frames Nr. 2 Instructor SASS - SS -1987m - Follower SASS - SS -1986w 5.1.3.2.1 Vokalische Phänomene Vokalisierung Map Task: Die für das Sassaresische typische Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] vollzieht die Sprecherin regelmäßig für -L-, in boipu (2) und poipu (2) in Map Task Nr. 1. Frames (1-4): Die Sprecherin produziert lediglich • poipu: un poipu → lu boipu → lu boipu → un poipu • Einzelnennungen (F1, F2) eiba: r’e: ba , l’e: ba Die Vokalisierung ist lediglich in den Tokens für poipu stabil. In den Nennungen für eiba bleibt die Vokalisierung aus, allerdings kommt es zur kompensatorischen Längung des Tonvokals: [ˈɛːba]. i-Prothese Map Task: Im Rahmen des Map Tasks Nr. 1 greift die Sprecherin lediglich auf das italienische spugna ( una spugna ) für das sassaresische Zielwort ippugna zurück. In Nr. 2 spricht sie spada anstelle von ippada, zusätzlich findet sich eine Belegstelle für un ischarrigu und un ischobburu - allerdings im Anschluss an einen Redebeitrag ihres Gesprächspartners SASS - SS -1987m , der bereits ischarrigu und ischobburu artikulierte. Frames (1-4): Im Sprachverhalten der Sprecherin zeigt sich verstärkt die Tendenz zum Ausweichen auf italienische Formen. Anstelle der Zielwörter ippugna, (i)schara und ischudu produziert die Sprecherin spugna , scala und scudo . Lediglich für das Zielwort (i)schara zeigt sich eine einmalige Verwendung von i in einer Hybridform zu Beginn, die die Sprecherin ab F2 jedoch wieder zurücknimmt: • ippugna: la spugna → la spugna → - → - <?page no="303"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 303 • (i)schara: una ischala → la scala → la scala → una scala • ischudu: un scudo → lo scudo → lu scudo → uno scudo 5.1.3.2.2 Konsonantische Phänomene Retroflex Map Task: In Nr. 1 artikuliert die Sprecherin goddu (2) für das Zielwort coddu. Allerdings geht ihrer Äußerung ein Redebeitrag des Instructors SASS - SS -1989m voraus, der ebenfalls bereits goddu produzierte. Gleiches gilt für das Zielwort giaddu, das sie im Anschluss an den Beitrag ihres Gesprächspartners ebenso als gaddu artikuliert. In diesen Fällen realisiert sie den Langkonsonanten nicht retroflex sondern alveodental. Im Falle von giaddina verwendet die Sprecherin die Form gallina . In Nr. 2 zeigt sich die hyperkorrekte Aussprache cameddu für das Zielwort camellu, auch in diesem Token jedoch ausschließlich alveodental artikuliert. Das Gleiche trifft für padedda zu, das die Sprecherin ebenso wie ihr Gesprächspartner einen Redebeitrag zuvor ohne retroflexe Artikulation produziert. Im Falle von sedda weicht sie auf das italienische sella aus. Gleiches lässt sich für castheddu feststellen, das die Sprecherin im Anschluss an den Instructor SASS - SS -1987m ebenfalls als castello realisiert. Frames (1-4): Die Sprecherin produziert ausschließlich [dd] anstelle des Retroflexes, jedoch lediglich in den Tokens des Zielwortes coddu. Im Falle der Zielwörter giaddu / giaddina, cultheddu, padedda und peddi greift sie auf die kognaten Formen des Italienischen zurück. • giaddina: una gallina → la gallina → la gallina → una gallina • coddu: un coddu → lu goddu → lu coddu → un coddu • cultheddu: un coltello → lu coltello → lu coltello → un coltello • padedda: una padella → la padella → la padella → una padella • peddi: una pelle → ra pelle → la pelle → una pelle Lateral-alveolare Frikative Map Task: Die Sprecherin produziert regelmäßig die Frequenzwörter desthra sowie sinisthra unter Verwendung des stimmlosen lateral-alveolaren Frikativs [ɬ]. Nr. 1: Für die beiden Zielwörter pianuforthi und cartha enthält das Korpus die Belege pianuforthi und cartha . In beiden Fällen artikuliert die Sprecherin den stimmlosen lateral-alveolaren Frikativ. Zusätzlich äußert sie l’althra barti , unterlässt jedoch in Nr. 1 die Frikativierung im Token für parthi; in Nr. 2 artikuliert sie hingegen una barthi . Für castheddu greift sie in Nr. 2 ebenso wie ihr Gesprächspartner SASS - SS -1987m im Redebeitrag zuvor auf castello zurück. <?page no="304"?> 304 5 Sprecherprofile Für das Zielwort lardhu weicht sie, wie auch der Instructor , auf das friktionslose lardo aus. Frames (1-4): Die Sprecherin produziert • cordha: una cordha → la cordha → la cordha → una cordha • pastha: la pasta → la pasta → la basta → una pasta • pianuforthi: un pianoforthi → lu pianuforthi → lu bianuforthi → un pianuforthi • turtha: una torta → la torta → la torta → una torta • cultheddu: un coltello → lu coltello → lu coltello → un coltello • gardhu: un cardo → lu cardo → il cardo → un cardo • cartha: una gartha → la cartha → la cartha → una cartha • Einzelnennung (F1) predda / peddra: li pedpedhri Die Sprecherin artikuliert im Rahmen der Carrier phrases sehr unregelmäßig die lateral-alveolaren Frikative. Die Zielwörter pastha, turtha, cultheddu und gardhu realisiert die Informantin in keinem der vier Frames unter Verwendung der lateral-alveolaren Frikative. Sie rekurriert hierbei auf die italienischen Entsprechungen pasta, torta, coltello und cardo. Den stimmlosen lateral-alveolaren Frikativ [ɬ] produziert sie jedoch in den Tokens für pianuforthi und cartha. Stimmhaftes [ɮ] ist deutlich in den Tokens für cordha wahrzunehmen. Für predda / peddra findet sich die hyperkorrekte Bildung [ˈpeɮri] (s. u.). Velare Frikative Map Task: Den aus etym. L, R, S + C entstandenen velaren Frikativ [xx] artikuliert die Sprecherin in Nr. 1 lediglich nach dem Redebeitrag ihres Gesprächspartners SASS - SS -1989m für das Zielwort barcha. In den Tokens la barcha (2) fällt auf, dass -Rvor C nicht assimiliert wird. Die Sprecherin produziert - genau wie ihr Gesprächspartner - ein frikativisches Element, das dem Vibranten folgt: [ˈbarxa]. In Nr. 2 artikuliert die Informantin ebenso wie Sprecher SASS-SS-1987m zuvor un ischarrigu un un ischobburu unter Verwendung des stimmlosen velaren Frikativs [xx]. Deutlich wahrnehmbar ist die Friktion hingegen in borchu für das Zielwort porchu. Stimmhaftes [ɣɣ] wäre für algha zu erwarten: Auch in diesem Fall orientiert sich die Sprecherin jedoch am Ausspracheverhalten ihres Gesprächspartners und artikuliert un’agga . Frames (1-4): Die Sprecherin produziert für die Zielwörter (i)schara, palchu, ischudu, buschu, algha und zirchu folgende Nennungen: • (i)schara: una ischala → la scala → la scala → una scala • palchu: un palco → lu palco → lu palco → un palco • ischudu: un scudo → lo scudo → lu scudo → uno scudo <?page no="305"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 305 • buschu: un bosco → lu bosco → lu bosco → un bosco • algha: un’alga → l’alga → - → un’alga • zirchu: un circo → lu circo → il circo → un circo Der Frikativ [xx] ist lediglich in F1 des Zielwortes (i)schara wahrzunehmen: ischala . Für stimmhaftes in algha zu erwartendes [ɣɣ] findet sich kein Beleg. Anlautmutation 9 Map Task Nr. 1 und Nr. 2: Die Sprecherin unterlässt, wie zu erwarten, die Anlautmutation nach unbestimmtem maskulinen Artikel un (z. B. Nr.1 un pianuforthi ), am Äußerungsbeginn (z. B. Nr.2 fattu r’ape ) sowie nach Elementen, die das raddoppiamento fonosintattico auslösen (z. B. no’ v’è foggu ). Die Sprecherin wendet die Anlautmutation nicht regelmäßig an. Sie kommt teilweise in Form von Sonorisierungsprozessen zum Einsatz: • in Nr. 1 / Nr. 2 nach bestimmtem Artikel: Nr. 1: ra bianta , lu voggu (< SASS - SS -1989m ), ru bani , lu boipu (2) , lu goddu (2) (< SASS - SS -1989m ), Nr. 2.: lu gannàu , ru besciu , lu borchu , la beggura , ri gorri (< SASS - SS -1987m ), lu voggu , la vigga (< SASS - SS -1987m ) • in Nr. 1 / Nr. 2 nach unbestimmtem femininen Artikel: Nr. 1: una bianta , Nr. 2: una barthi • in Nr. 2 nach unbetontem Pronomen: mi bari • in Nr. 1 nach tuttu und althru: tuttu gantu , l’althra barti • in Nr. 2 nach unbetontem vokalischen Auslaut: a desthra barò In den gleichen Kontexten bleibt die Mutation hingegen oftmals aus: Hierbei unterlässt die Sprecherin nicht nur Anlautveränderungen wie die Sonorisierung von Okklusiven (Nr. 1: li peddri , una cartha , chistha paglia , Nr. 2: una padedda (< SASS - SS -1987m ), la capra , la targa ), des Frikativs [f] (Nr. 1: la figga , dui figghi , Nr. 2: la figga (2) , lu foggu , sottu farendi farendi ) und der Affrikate [tʃ] (Nr. 1 lu ciodu , Nr. 2: ru ciodu , la ciabi (2) ), sondern auch den Mechanismus des Betazimus [v] → [b] (Nr. 1 lu vasu (2) ). Nr. 1: Im Hinblick auf das Zielwort cabbu produziert die Sprecherin unu gabbu . Sie vollzieht also die nach vokalisch auslautendem Artikel typische Anlautsonorisierung, da sie auf unu statt auf un zurückgreift und wortanlautendes [k] somit in intervokalischen Kontext stellt. Gleiches unternimmt ihr Gesprächspartner in Nr. 2: Er positioniert das Zielwort cannàu nach unu . Da er die Anlautsonorisierung recht regelmäßig unternimmt, ergibt sich das Token unu gannàu . Die Sprecherin äußert hierauf folgend un gannàu , d. h. sie rekurriert 9 Die Stimmhaftigkeit von / s/ konnte nicht eindeutig festgestellt werden (vgl. Kap. 4.5.1). <?page no="306"?> 306 5 Sprecherprofile zwar auf den sassaresischen Artikel un , übernimmt jedoch die in für diesen Kontext nicht zu erwartende Anlautsonorisierung des Folgewortes. Im Anschluss an unu gabbu produziert die Sprecherin jedoch un cabbu (Nr. 1). Die Sprecherin zeigt in ihrem Sprachverhalten häufig die Tendenz der Ausweichung auf die italienischen kognaten Bezeichnungen, die sie seltener der Anlautmutation, oftmals jedoch einer Hebung im Auslaut unterzieht. Insbesondere zeigt sich dies im Hinblick auf die für das Sassaresische zu erwartende Lenisierung von [dʒ] → [j]: Nr. 1: Anstelle von un giaddu produziert die Sprecherin una gallina sowie un gaddu (< SASS - SS -1989m ). Für grogu (it. ,giallo‘) scheint die Informantin auf das italienische giallo zurückzugreifen, das sie versucht, in die Lautung des Sassaresischen einzupassen, indem sie dessen Anlaut [dʒ] nach vokalischem Auslaut der Lenisierung unterzieht und im Auslaut eine vokalische Hebung vornimmt [ˈjallu]: un dente un dente giaun dente jajallu . Auf den Redebeitrag des Instructors hin ( no no no fara jossu a jossu parò ) artikuliert die Sprecherin ah jossu sowie a jossu (2) , obwohl weder die Interjektion ah noch die Präposition a den Prozess der Anlautmutation auslösen. Im Hinblick auf das Zielwort giatta finden sich die Tokens tre jatti und li jatti . Die Sprecherin artikuliert tre jatti in Folge eines Redebeitrages ihres Mitspielers, der la jatta produzierte. Sie vollzieht hierbei die Lenisierung von [dʒ] → [j], obwohl das Zahlwort tre Auslöser des raddoppiamento fonosintattico des Sassaresischen darstellt und folglich [ˈddʒatti] zu erwarten wäre. Nr. 2: Die Sprecherin produziert für gianna, wie zu erwarten, la janna . Frames (1-4): Die Sprecherin unterlässt, wie zu erwarten, die Anlautmutation für mit Okklusiv anlautende Kontexte nach unbestimmtem maskulinen Artikel un . Nach dem vokalisch auslautenden Determinanten una sowie den bestimmten Artikeln r / lu und r / la setzt in ihrem Ausspracheverhalten jedoch keine konsequente Verstimmhaftung ein. • V+[k]+V → [k] cultheddu: un coltello → lu coltello → lu coltello → un coltello ebenso: cabbu • V+[k]+V → [ɡ/ k] coddu: un coddu → lu goddu → lu coddu → un coddu • V+[k]+V → [k] cordha: una cordha → la cordha → la cordha → una cordha • V+[k]+V → [ɡ/ k] cartha: una gartha → la cartha → la cartha → una cartha • V+[p]+V → [p] palchu: un palco → lu palco → lu palco → un palco • V+[p]+V → [b] poipu: un poipu → lu boipu → lu boipu → un poipu <?page no="307"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 307 • V+[p]+V → [p / b] pianuforthi: un pianoforthi → lu pianuforthi → lu bianuforthi → un pianuforthi • V+[p]+V → [p] padella: una padella → r / la padella → la padella → una padella ebenso: pianta, pelle, peddra • V+[p]+V → [b / p] peggura: una beggura → la peccura → la peggura → una peggura ebenso: paglia, pasta • V+[t]+V → [t] turtha: una torta → la torta → la torta → una torta Obwohl die Sprecherin das Zielwort pani in F1 mit dem vokalisch auslautenden, sardischen Artikel unu einleitet, unterlässt sie zunächst die Sonorisierung, vollzieht sie dann jedoch nach lu in F2 und F3. • V+[p]+V → [p / b] pani: unu pani → lu bani → lu bani → un pane Den Frikativ [f] hingegen unterzieht die Sprecherin kaum der Sonorisierung: • V+[f]+V → [f] foggu: un foggu → lu foggu → lu foggu → un foggu • V+[f]+V → [v / f] fiori: un fiori → lu viori → lu fiori → un fiori • V+[f]+V → [f] figga: li ficchi → li ficchi → li figghi → una figga Ebenso unterlässt sie den Prozess der Anlautmutation in Bezug auf stimmlose Anlautaffrikaten, z. B.: • V+[tʃ]+V → [tʃ] ciodu: un ciodu → lu ciodu → lu ciodu → un ciodu Im Hinblick auf bereits stimmhaftes [v] bleibt der Betazismus aus: • V+[v]+V → [v] vaso: un vaso → lu vasu → lu vasu → un vaso Die Lenisierung von [dʒ] → [j] vollzieht die Sprecherin nicht im Falle der italienischen Form gioco, jedoch für das Zielwort giatta: • V+[dʒ]+V → [dʒ] gioggu: un gioco → lu gioco → lu gioco → un gioco • V+[dʒ]+V → [j] giatta: una jatta → la jatta → la jatta → una jatta Im Falle von giaddina bzw. gianda weicht die Sprecherin in allen vier Frames auf das italienische gallina bzw. ghianda aus, weshalb die Anlautmutation gänzlich ausbleibt. 5.1.3.3 Synthese SASS - SS -1986w Sprecherin SASS-SS-1986w schätzt ihre aktiven Sprachkenntnisse selbst als niedrig ein und zeigt in ihrem Sprachverhalten deutlich das Ausbleiben sassaresischer Lautphänomene sowie starke Schwankungen. Sie hält ihre Redebeiträge <?page no="308"?> 308 5 Sprecherprofile sehr kurz und weicht in zahlreichen Fällen auf die Verwendung italienischer Entsprechungen aus. Auch konnten hybride und hyperkorrekte Formen in ihrem Datensatz festgestellt werden. Die Sprecherin ist wenig sprachloyal: Sie gab im Rahmen der soziolinguistischen Befragung an, die Aussprache des Sassaresischen nicht zu mögen („suona volgare“) und sich primär dem Italienischen verbunden zu fühlen; das Sassaresische bezeichnet sie nicht als wesentlichen Bestandteil ihrer Identität. Sie beschreibt die Sprache als ausdrucksstarkes , nicht aber als wohlklingendes Idiom. Sie bemerkt, dass sich das Sassaresische im Laufe der Jahre stark verändert hat und insbesondere lexikalische Einbußen erfahren musste. Im Hinblick auf die untersuchten vokalischen Variablen lässt sich Folgendes festhalten: Die Belege für das Phänomen der Vokalisierung beziehen sich auf die Tokens für die Zielwörter poipu und eiba. Die Sprecherin vollzieht die Vokalisierung in poipu regelmäßig in Map Task Nr. 1 sowie in allen vier Frames. In den Nennungen für eiba (F1, F2) bleibt die Vokalisierung aus, allerdings kommt es zur kompensatorischen Längung des Tonvokals: [ˈɛːba]. Zielwörter mit prothetischem i umgeht die Sprecherin durch Rekurs auf kognate Formen des Italienischen ( spugna , spada ). Im Hinblick auf das Vorherrschen von prothetischem i in den in Nr. 2 geäußerten Tokens ischarrigu und ischobburu kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Sprecherin am Ausspracheverhalten ihres Gesprächspartners orientiert. Im Rahmen der Frames greift die Sprecherin erneut auf die italienischen Entsprechungen zurück ( spugna , scala , scudo ); es findet sich lediglich ein Token mit Verwendung des prothetischen i : ischala . Im konsonantischen Bereich zeigt die Sprecherin im Rahmen der Map Tasks Nr. 1 und Nr. 2 in ihrer Aussprache häufig die alveodentale Realisierung [dd] von etym. -LLanstelle der retroflexen Artikulation [ɖɖ]; auch an dieser Stelle ist nicht auszuschließen, dass das Ausspracheverhalten ihres Gesprächspartners eine Einflussvariable darstellt. So artikuliert sie im Rahmen von Nr. 1 - ebenso wir ihr Gesprächspartner zuvor - padedda , im Rahmen der Frames verwendet sie jedoch ausschließlich die Form padella . Zusätzlich weicht die Sprecherin im Rahmen der Map Tasks sowie der Frames erneut auf kognate Wörter aus ( gallina , sella , castello , coltello , pelle ). Im Hinblick auf die Kontexte, die die Artikulation lateral-alveolarer Frikative erwarten lassen, zeigt sich im Rahmen der Map Tasks Nr. 1 und Nr. 2, dass die Sprecherin die Artikulation von [ɬ] durchaus beherrscht. Im Rahmen der Frames verwendet sie [ɬ] nur für die wenigen Kontexte, in denen sie die Friktion auch im Rahmen des Map Tasks Nr. 1 vollzogen hat (pianuforthi, cartha). In allen anderen Fällen greift sie auf die italienische Entsprechung zurück (pasta, torta, <?page no="309"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 309 coltello, cardo). Stimmhaftes [ɮ] artikuliert die Sprecherin lediglich im Rahmen der Frames in den Nennungen des Zielwortes cordha. Auch im Hinblick auf die velaren Frikative überwiegt die Anzahl der Tokens, die potentiell stimmloses [xx] enthalten können. Die Sprecherin beherrscht die Artikulation von stimmlosem [xx] (z. B. ischarrigu , ischobburu , porchu ) (vgl. Nr. 2); für stimmhaftes [ɣɣ] (algha) ergab sich jedoch kein Token. Im Rahmen der Frames ist [xx] einmalig in ischala wahrzunehmen, in allen anderen Fällen greift die Sprecherin auf italienische Formen zurück (scala, palco, scudo, bosco, circo). Die Befragte gab im Rahmen der soziolinguistischen Befragung an, „ STH “ als typischen Laut des Sassaresischen wahrzunehmen. Sie betonte jedoch, „ SCH “ nicht als wohlklingend zu empfinden („[…] lo trovo volgare“), was sich direkt in ihrem Sprachverhalten widerspiegelt: Die Sprecherin beherrscht die Artikulation von [ɬ]/ [ɮ] und [xx], realisiert sie aber in zahlreichen Einzelnennungen nicht. Im Bereich der Anlautmutation zeichnen sich starke Schwankungen im Ausspracheverhalten der Sprecherin ab. So wendet sie im Rahmen der Map Tasks Nr. 1 und Nr. 2 häufig die Anlautsonorisierung von Verschlusslauten und des Frikativs [f] an, unterlässt sie jedoch häufig in denselben Kontexten sowie für [tʃ]. Ebenso kommt es nicht zum Betazismus von [v] → [b]. Im Sassaresischen mit [dʒ] anlautende Zielwörter ersetzt sie häufig durch die entsprechenden italienischen mit [ɡ] anlautenden Ausdrücke. Starken Schwankungen unterliegt die Anlautmutation im Ausspracheverhalten der Sprecherin auch im Rahmen der Frames. Die Verstimmhaftung erfolgt nicht konsequent nach bestimmtem Artikel. Häufig wird die Sonorisierung in F2 und F3 gar nicht vorgenommen bzw. betrifft nur einen der Frames. Dies erfasst auch feminine Zielwörter, obwohl diesen im Grunde stets ein vokalisch auslautender Determinierer vorangeht ( r / la bzw. una ). Noch seltener tritt die Sonorisierung bei [f] und bei Anlautaffrikaten auf. Die Lenisierung von [dʒ] → [j] nimmt die Sprecherin im Rahmen der Frames lediglich regelhaft für die Tokens des Zielwortes giatta vor. Im Falle von un gannàu lässt sich eine untypische Anlautmutation feststellen, die die Sprecherin unabhängig von der lautlichen Umgebung vornimmt. Im erhaltenen Datensatz lassen sich vorwiegend Abweichungen und Schwankungen in Bezug auf das postulierte Ausgangssystem feststellen. Die Sprecherin zeigt verstärkt die Tendenz, auf Formen des italienischen Lexikons auszuweichen. Zusätzlich konnten einige hybride und hyperkorrekte Formen festgestellt werden: Für sass. ischara produziert die Sprecherin einmalig ischala (F1). Es ist anzunehmen, dass hier it. scala zugrundeliegt. Die Sprecherin kennt den regel- <?page no="310"?> 310 5 Sprecherprofile haften Prozess der Assimilation von etym. -SCbzw. it. sc zu [xx] und Setzung prothetischen i s in Verbindung mit diesem Anlaut, allerdings bleibt der typisch sassaresische Rotazismus von -L-/ l zu [r] aus. Eine weitere Hybridform ist beispielsweise das im Rahmen der Map Task Nr. 1 geäußerte un gaddu (< SASS - SS -1989m ), das die Sprecherin anstelle des sassaresischen Zielwortes giaddu verwendet. Es kann angenommen werden, dass sie dieses Ausspracheverhalten auf der Grundlage der italienischen Basis gallo vollzieht, d. h. sie rekonstruiert eine Regel, nach der ll im Sassaresischen Sassaris in [dd] - und nicht in der retroflexen Aussprache [ɖɖ] - resultiert. Die Anlautmutation für [ɡ] bleibt folglich aus. In Nr. 2 zeigt sich die hyperkorrekte Aussprache cameddu für das Zielwort camellu, auch in diesem Token wird dd jedoch ausschließlich alveodental artikuliert. Im Rahmen des Map Tasks Nr. 2 produziert die Sprecherin die Form li craschi . Ihrer Artikulation liegt der stimmlose verlare Frikativ [xx] zugrunde, obwohl das postulierte Ausgangssystem hierfür [ɬ(t)] vorsieht (crasthu). Im Token barcha (2) assimiliert die Sprecherin -Rvor C nicht. Die Sprecherin produziert - genau wie ihr Gesprächspartner - ein frikatives Element, dieses folgt jedoch dem erhaltenen Vibranten: [ˈbarxa]. Eine komplette Auslassung der Friktion [ɣɣ], die für algha zu erwarten wäre - zeigt sich in der Einzelnennung agga ( MT Nr. 2). Die Assimilation des Nexus lg zu gg zeigte sich bereits im Ausspracheverhalten ihres Gesprächspartners. Eine weitere hyperkorrekte Zwischenform ist das für predda / peddra im Rahmen des Map Tasks Nr. 2 und des Frames F1 jeweils einmalig geäußerte pedhri , in dem deutlich [ɮ] zu hören ist: [ˈpeɮri] • predda / peddra: li pedpedhri → li pieddri → la pietra → una pietra Die Artikulation kann als hyperkorrekt beschrieben werden, da die Sprecherin hier d im Nexus dr anstelle von rd zu [ɮ] frikativiert. Im Bereich des Prozesses von [dʒ] → [j] zeigt die Sprecherin die Tendenz zur Sassaresisierung der zugrundeliegenden italienischen Form giallo (anstelle von sass. grogu), indem sie [ˈjallu] bildet. Zusätzlich weitet die Sprecherin den Mechanismus hyperkorrekt auf Kontexte aus, die keine Lenisierung verlangen, wie z. B. nach Elementen, die das raddoppiamento fonosintattico auslösen. <?page no="311"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 311 5.1.4 SASS - SS -1989m 5.1.4.1 Soziolinguistisches Sprecherprofil Geschlecht Geburtsjahr Geburtsort/ Wohnsitz Beruf angestammte Sprache Sprachniveau m 1989 Sassari / Sassari Kellner Sassaresisch Semisprecher Die Eltern des Befragten stammen beide aus Sassari. Er gibt an, Familienangehörige außerhalb des sassaresophonen Sprachraumes zu haben und selbst ein Jahr in Perugia gelebt zu haben. Er ist unverheiratet und hat keine Kinder. Der Sprecher gibt an, sich primär Sassari eng verbunden zu fühlen. Sprachkenntnisse (Selbsteinschätzung) Italienisch: aktiv und passiv hoch L1 neben dem Sassaresischen und Primärsprache Sassaresisch: aktiv mittel / passiv mittel L1 neben dem Italienischen und Sekundärsprache Logudoresisch: keine Kenntnisse Kontext des Spracherwerbs: Sassaresisch und Italienisch Der Befragte gibt an, das Italienische und Sassaresische in seiner Kindheit parallel erlernt zu haben. Das Italienische erlernte der Sprecher im Elternhaus sowie durch die Schulbildung. Das Sassaresische erlernte er zuhause sowie im Kontakt mit Freunden. Seine Großeltern väterlicherseits und mütterlicherseits spre/ (a)chen ausschließlich Sassaresisch miteinander. Seine Eltern spre/ (a)chen untereinander lediglich Italienisch. Seine Großeltern mütterlicherseits sowie sein Vater spre/ (a)chen mit dem Befragten Sassaresisch und Italienisch. Seine Mutter hingegen verwendet / e ausschließlich das Italienische im Umgang mit ihrem Sohn. Im schulischen Umfeld wurde nicht auf das Sassaresische zurückgegriffen, auch nicht unter den Schülern. Vorherrschende Sprache war das Italienische. <?page no="312"?> 312 5 Sprecherprofile Kenntnis und aktueller Gebrauch der Idiome sowie Begründung Der Befragte gibt an, zuhause, in der Arbeit, auf dem Markt sowie mit Freunden und Kollegen das Sassaresische zu verwenden. Im Kontakt mit fremden Sarden greift er niemals auf das Sassaresische zurück. In emotional geprägten Situationen verwendet er das Sassaresische. Zum Zählen gebraucht er das Italienische. Er selbst schätzt seine aktiven und passiven Kenntnisse des Sassaresischen als mittel ein und gibt an, insbesondere jüngere Sprecher des Sassaresischen zu verstehen. Der Informant bemerkt, die beiden Idiome gelegentlich zu mischen „coi giovani mentre si scherza parlando italiano“. Er hat nie die Erfahrung gemacht, für den Gebrauch des Sassaresischen kritisiert worden zu sein. Sprecher des Sassaresischen wenden sich an ihn auf Italienisch, denn „ormai è raro trovarsi e parlare completamente sassarese, la lingua principale è l’italiano …come fosse un motivo d’educazione“. Aus denselben Gründen („per lo stesso motivo […]“) wendet sich der Informant an andere Sprecher des Sassaresischen ausschließlich auf Italienisch, „anche se spesso e volentieri capita di parlucchiare sassarese“. Mediennutzung Der Sprecher gibt an, dass das Sassaresische / Sorsesische häufig im Fernsehen und Radio präsent ist. Er hat gelegentlich sassaresische Literatur gelesen und würde dies gern häufiger tun, gäbe es mehr Texte in sassaresischer Sprache. Er hört häufig sassaresische Musik und hat das Sassaresische bereits gelegentlich schriftlich zur Formulierung von SMS gebraucht. Er hätte große Lust, das Sassaresische häufiger schriftlich zu verwenden („mi piacerebbe poter scrivere in sassarese poiché mi piace tantissimo“). Identität und Einstellung zum Italienischen, Sassaresischen und Sorsesischen Der Sprecher gibt an, sich als Italiener zu fühlen und primär der italienischen Sprache verbunden zu sein. Das Sassaresische, das er gerne spricht, ist laut seiner Angabe Teil seiner Identität. Sassaresen und Sorsesen grenzt er voneinander ab. Sassarese zu sein ist für ihn gleichbedeutend mit Sarde zu sein. Sassarese zu sein sei jedoch nicht gleichzusetzen mit Italiener zu sein. Er gibt an, das Sassaresische als schöne und ausdrucksstarke Sprache wahrzunehmen, die zudem für Fremde nur schwer zu erlernen sei. Dass Kinder den Lokaldialekt erlernen, scheint ihm wichtig. Das Sassaresische solle an den Schulen unterrichtet werden, denn „è importante, fa parte della nostra cultura e tradizione“. Aktuell hat er nicht den Eindruck, dass das Sassaresische weniger vital ist, als das Sorsesische. Allerdings sieht er das Sassaresische als durch das Italienische bedroht an und befürchtet, dass es eines Tages aussterben wird. Gleiches nimmt er für das Sorsesische an. Laut seiner Aussage hätte das Aussterben des Sassaresischen jedoch nicht den Verlust der sassaresischen Identität zur Folge. Er selbst engagiert sich für den Erhalt des Idioms, „facendo la testa a cacco ai miei amici con le canzoni sassaresi“. Er bezeichnet das Sassaresische als „espressivo“. Im Erlernen des Sassaresischen sieht er auch Vorteile, denn „[…] indica ciò che siamo, la nostra identità“. Italienisch zu sprechen sei ein deutlicher Vorteil, „per poter parlare con tutti tutti“. Das Italienische solle das Sassaresische dennoch nicht in allen Kommunikationssituationen ersetzen. <?page no="313"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 313 Ortsgebundenheit Der Informant gibt an, gerne in Sassari zu leben und sich der Stadt verbunden zu fühlen. Sassarese zu sein, bedeutet für ihn „[…] essere ciò che sono“. Es würde ihm missfallen, aus Sassari wegziehen zu müssen. Der Großteil seiner Freunde und Verwandten lebt ebenfalls in der Stadt. Auch Einkäufe und Freizeitaktivitäten erledigt er vor Ort. Er interessiert sich für Neuigkeiten und aktuelle Veranstaltungen in Sassari („La Faradda“, „La Cavalcata Sarda“), ist aber in keinem lokalen Verein Mitglied. Der Zuzug von Menschen, die den Lokaldialekt nicht sprechen, stört ihn, denn „[…] pian piano si perdono cultura e tradizioni“. Auf die Frage hin, ob man Sassarese sein könne ohne Sassaresisch zu sprechen, antwortet der Befragte: „Sì, ma per essere sassarese ci vogliono alcune caratteristiche e tradizioni […].“ Sprecher anderer Idiome, die ihren Wohnort nach Sassari verlegen, sollten das Sassaresische erlernen, „per migliorare la sua permanenza qui capire alcune caratteristiche delle persone con cui vive“. Charakteristika des Sassaresischen / des Sorsesischen Der Befragte gibt an, die Lautung des Sassaresischen zu mögen („molto sincera“, „molto popolare“). Die authentischste Aussprache spricht er älteren Sprechern zu. Er bemerkt, dass sich die Aussprache von Generation zu Generation unterscheidet: „i giovani italianizzano tanto“. Die Frage, ob das Sassaresische „schöner“ klinge als das Sorsesische, bejaht er, denn „è molto più popolare“. Das Sorsesische hingegen klinge weniger schön „per la sua pronuncia fea“. Die Sprache hat sich, so der Befragte, im Laufe der Jahre sehr verändert: „si è ingrezzito“. In anderen Teilen Sardiniens erkenne man seine Herkunft, denn „tradisce la nostra ‘S’, il ‘catta’, ‘l’un bé’“. Sorsesen werden in Sassari als Sprecher des Sorsesischen erkannt, denn „[…] continuano a parlarlo, ad ascoltare le canzoni e a seguire le tradizioni“. Auch ein Sprecher des Sassaresischen Sassaris wird in Sorso „per suo accento, per la sua ‘S’“ als solcher identifiziert. Auf die Frage der Sprachherkunft bzw. -verwandtschaft antwortet der Informant: „varietà tra sardo, genovese, pisano, spagnolo“. Typische Laute des Sassaresischen / Sorsesischen „ghisthu → STH “ Unterschiede des Sassaresischen zum Sorsesischen „la cadenza e alcune parole tipo: ‘agnello’“ Laute, die ein Sassarese / Sorsese aussprechen können sollte „l’ STH → ghisthu“ Wörter, die ein Fremder, der Sassaresisch / Sorsesisch lernen möchte, aussprechen können sollte „un bé“ <?page no="314"?> 314 5 Sprecherprofile Als „schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen „catta! “ „visthu! “ Als „nicht schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen „Oja gah! “ Bekannte Ausspracheregeln des Sassaresischen / Sorsesischen in Gegenüberstellung zum Italienischen - 5.1.4.2 Sprachdaten Map Rollen Frames Nr. 1 Instructor SASS - SS -1989m F1-F4 Follower SASS - SS -1986w 5.1.4.2.1 Vokalische Phänomene Vokalisierung Map Task: Die für das Sassaresische typische Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] vollzieht der Sprecher regelmäßig für -Rin guiva (4) . Frames (1-4): Im Rahmen der Frames artikuliert der Sprecher lediglich das Zielwort poipu; die Vokalisierung ist in allen vier Frames stabil: • poipu: un poipu → ru boipu → lu boipu → un poipu i-Prothese Map Task: Im Datensatz des Sprechers finden sich keine Nennungen für Zielwörter, die laut postuliertem Ausgangssystem die Anwesenheit von prothetischem i erfordern. Frames (1-4): Im Sprachverhalten des Sprechers zeigt sich einerseits der Erhalt von prothetischem i im Hinblick auf die Zielwörter ischogliu und (i)schara, andererseits schwankt das Ausspracheverhalten im Bereich der Zielwörter ippugna und ischudu. In beiden Fällen weicht der Sprecher zunächst auf die italienischen Entstprechungen spugna (F1-F3) und scudo (F1-F2) aus, aktiviert jedoch letztendlich die sassaresischen, mit prothetischem i anlautenden Formen ippugna (F4) und ischudu (F3-F4): • ischogliu: un ischoun ischogliu → l’ischogliu → l’ischogliu → un ischogliu <?page no="315"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 315 • ippugna: una spugna → la spugna → la spugna → un’ippugna • (i)schara: un’ischara → l’ischara → l’ischara → un’ischara • ischudu: uno scudo → lu scudo → l’ischudu → un ischudu 5.1.4.2.2 Konsonantische Phänomene Retroflex Map Task: Im Rahmen des Map Tasks artikuliert der Sprecher Tokens der Zielwörter giaddu, coddu und giaddina. Er realisiert in den Tokens gaddu (3) , goddu und jaddina regelmäßig alveodentales [dd] anstelle des retroflexen [ɖɖ]. Frames (1-4): Der Sprecher produziert konsequent in allen Formen, die [dd] bzw. [ɖɖ] aufweisen können, die alveodentale Realisierung [dd]. Anstelle von giaddu verwendet er die Form gaddu . • giaddu: un gaddu → lu gaddu → lu gaddu → un gaddu • coddu: un coddu → lu goddu → lu goddu → un coddu • cultheddu: un cultheddu → lu gultheddu → lu gultheddu → un cultheddu • padedda: una padedda → ra badedda → la badedda → una padedda • peddi: una beddi → la beddi → la beddi → una peddi Lateral-alveolare Frikative Map Task: Der Sprecher produziert regelmäßig die Frequenzwörter chisthu / a sowie sinisthra unter Verwendung des stimmlosen lateral-alveolaren Frikativs. Das Korpus enthält Treffer für die Zielwörter turtha, pastha und parthi. In zwei Fällen ( durtha , barthi ) artikuliert der Sprecher deutlich hörbar den stimmlosen Frikativ [ɬ]. Für das Zielwort pastha produziert er die kognate italienische Form pasta . Der Datensatz des Sprechers enthält keine Tokens, die stimmhaftes [ɮ] erwarten ließen. Frames (1-4): Der Sprecher produziert im Rahmen der Carrier phrases sehr regelmäßig und stabil die lateral-alveolaren Frikative. Für [ɬ] finden sich Belege der Zielwörter pastha, tasthera / tastiera, turtha, cultheddu, cartha, quatthru (F3) und trentaquatthru (F3). Stimmhaftes [ɮ] ist hörbar in den Nennungen für cordha und quattordhizi (F3): • cordha: una gordha → la cordha → la gordha → una gordha • pastha: una bastha → la bastha → la bastha → una bastha • tasthera / tastiera: - → la tasthiera → la tasthiera → una tasthiera • turtha: una turtha → la durtha → la durtha → una durtha • cultheddu: un cultheddu → lu gultheddu → lu gultheddu → un cultheddu • cartha: una gartha → la gartha → la gartha → una cartha • Einzelnennung (F3) quatthru: quatthru <?page no="316"?> 316 5 Sprecherprofile • Einzelnennung (F3) trentaquatthru: drintaquatthru • Einzelnennung (F3) quattordhizi: quattordhizi Velare Frikative Map Task: Der Sprecher produziert den aus etym. L, R, S + C entstandenen velaren Frikativ [xx] lediglich in der Nennung für barcha. Hierbei ist auffällig, dass der Sprecher ein frikatives Element, das dem erhaltenen Vibranten folgt, produziert ([ˈbarxa]) und keine assimilierte intervokalische Langkonsonanz. Die Realisierung der beiden Zielwörter zirchu und furchittoni umgeht der Sprecher durch den Rekurs auf die italienischen Formen circo und fo[rk]ettone . Für stimmhaftes [ɣɣ] findet sich keine Untersuchungsmöglichkeit. Frames (1-4): Der Sprecher produziert für die Zielwörter ischogliu, (i)schara, palchu, ischudo, buschu, algha, furchittoni (F1: forchettone, furchettoni), targa und zirchu folgende Nennungen: • ischogliu: un ischoun ischogliu → l’ischogliu → l’ischogliu → un ischogliu • (i)schara: un’ischara → l’ischara → l’ischara → un’ischara • palchu: un palco → lu baicu → lu bailchu → un palco • ischudo: uno scudo → lu scudo → l’ischudu → un ischudu • buschu: un bosco → lu boscu → lu boschu → un bosco • algha: un’alga → l’alga → l’alga → un’alga • furchittoni: un fo[rk]ettone → lu vu[xx]eeh lu vu[xx]ettoni → lu vo[xx]ittoni → un fo[rk]ettone • targa: una targa → la daigga → la darga → una tailga • zirchu / circo: un circo → lu le eh circo → lu zirchu → un zirco / un zirchu Der Frikativ [xx] ist stabil in den Tokens des Zielwortes ischogliu und (i)schara. Für das Zielwort palchu ergeben sich interessante Sonderformen (s. u.). Im Fall von ischudu, buschu und zirchu wird die frikativische Aussprache erst in F3 eingesetzt, in allen anderen Fällen auf die italienischen Entsprechungen ausgewichen. Für stimmhaftes in algha zu erwartendes [ɣɣ] findet sich kein Beleg; der Sprecher weicht auf alga aus. Für die im Sassaresischen belegte Form targa bildete der Sprecher interessante Hybridformen aus (s. u.). <?page no="317"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 317 Anlautmutation 10 Map Task: Der Sprecher wendet die Anlautmutation in Form der Sonorisierung von stimmlosen Okklusiven [k, p, t], dem stimmlosen Frikativ [f] sowie der Affrikate [tʃ] relativ regelmäßig an. Auch die Lenisierung von [dʒ] ist im Datensatz überprüfbar: • nach bestimmtem Artikel: lu voggu, ru bani, la durtha, r / la guiva (3), la beggura (3), lu goddu, la jatta, la vigga • nach unbestimmtem femininen Artikel: una jatta, una jaddina • nach unbetontem Pronomen: si giamma, mi bari • nach Präpositionen: di ghissi • nach vokal. auslautendem Wort (Nomen, Verben, Adjektive, Adverbien, Partikeln, Determinanten, Zahlwörter, Quantifizierer etc.): chisthu joggu, piglia ghissa (6), fara jossu, ghissa garrera, insomma ghissu, versu ghissu dipo, tuttu guantu, ghissa guiva, ghissa jaddina, l’althra barthi, verso ghissu / a (3), ghissa jatta, devi bassà Der Sprecher unterlässt, wie zu erwarten, die Sonorisierung des Anlautkonsonanten nach konsonantisch auslautenden Formen (z. B. un poggareddu ) und nach das raddoppiamento fonosintattico auslösenden Elementen (z. B. cumenti si, no’v’è foggu, no’tra, cha colori ). Allerdings bleibt die Verstimmhaftung vereinzelt in Kontexten aus, in denen der Sprecher diesen Prozess sonst generell ausführt: z. B. Frikativ [f] nach Artikel ( li figuri, ra fini ), nach Präposition ( di cha, verso chissa ), innerhalb analytischer Verbalformen ( abemmu finiddu ), nach Adverbien ( allora piglia ). Die Sonorisierung unterlässt er überdies vereinzelt bei italienischen Formen nach Determinant ( una pozzanghera, una pozzangherella, la pasta, ghissa forchettone ). Die Sonorisierung der Anlautkonsonanten nach Formen, die das raddoppiamento fonosintattico auslösen müssten, kann wiederum damit erklärt werden, dass [k] auch in diesen Fällen zu [ɡ] verstimmhaftet werden kann: a ghissa (2), a ghissu, fa ghissa, v’è ghissa (vgl. Doro 2001). Auffällig ist hingegen, dass der Sprecher die Lenisierung von [dʒ] → [j] vereinzelt auch ausführt, obwohl das raddoppiamento fonosintattico zu erwarten wäre: a jossu . Kurz darauf artikuliert er hingegen a giossu (2) . Im Rahmen des Map Tasks zeigt sich keine Anlautmutation in Form des Rotazismus von [l] → [r] ( la lenza (2) ). Frames (1-4): Der Sprecher unterlässt, wie zu erwarten, die Anlautmutation für mit Okklusiv anlautende Kontexte nach unbestimmtem maskulinen Artikel un . Nach dem vokalisch auslautenden unbestimmten Artikel una sowie den 10 Die Stimmhaftigkeit von / s/ konnte nicht eindeutig festgestellt werden (vgl. Kap. 4.5.1). <?page no="318"?> 318 5 Sprecherprofile bestimmten Artikeln r / lu und r / la setzt die Sonorisierung mit großer Regelmäßigkeit ein: • V+[k]+V → [ɡ] coddu: un coddu → lu goddu → lu goddu → un coddu ebenso: cultheddu, cabbu • V+[p]+V → [b] palchu: un palco → lu baicu → lu bailchu → un palco ebenso: poipu, pani • V+[p]+V → [b] pastha: una bastha → la bastha → la bastha → una bastha • V+[t]+V → [d] timbru: un timbro → lu dimbru → lu dimbru → un timbro Bei zahlreichen Zielwörtern des Genus Feminin bleibt die Sonorisierung allerdings aus bzw. wird unregelmäßig angewendet: • V+[k]+V → [ɡ/ k] cartha: una gartha → la gartha → la gartha → una cartha cordha: una gordha → la cordha → la gordha → una gordha • V+[p]+V → [p] pianta: una pianta → la l pianta → la pianta → una pianta • V+[p]+V → [b / p] peggura: una beggura → la beggura → la peggura → una beggura padedda: una padedda → ra badedda → la badedda → una padedda peddi: una beddi → la beddi → la beddi → una peddi • V+[t]+V → [t] tasthera / tastiera: - → la tasthiera → la tasthiera → una tasthiera • V+[t]+V → [t / d] turtha: una turtha → la durtha → la durtha → una durtha targa: una targa → la daigga → la darga → una tailga Im Falle von [f] ist der Prozess der Verstimmhaftung nicht immer deutlich wahrnehmbar: • V+[f]+V → [v] foggu: un foggu → lu voggu → lu voggu → un foggu ebenso: furchittoni • V+[f]+V → [f / v] fiori: un fiori → ru f / viori → lu viori → un fiori • V+[f]+V → [f / v] figga: un figgu → la f / vigga → la vigga → una figga Auch die Anlautmutation der stimmlosen Anlautaffrikate [tʃ] ist instabil, z. B.: • V+[tʃ]+V → [tʃ] ciodu: un ciodu → lu ciodu → ru ciodu → un ciodu Im Hinblick auf bereits stimmhaftes [v] bleibt der Betazismus aus: • V+[v]+V → [v] vasu: un vasu → lu vasu → lu vasu → un vaso <?page no="319"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 319 Die Lenisierung von [dʒ] → [j] verläuft nicht stabil: • K / V+[dʒ]+V → [j] gioggu: un joggu → lu joggu → lu joggu → unu joggu • V+[dʒ]+V → [j] giatta: una jatta → la jatta → la jatta → una jatta Der Sprecher unterlässt die eigentlich für das Sassaresische zu erwartende Lenisierung von gianda → janda , da er auf die Form ghianda [ˈɡjanda] ausweicht. • gianda: una ghianda → la ghianda → la ghianda → una ghianda Auch im Falle des Zielwortes giaddu unterlässt der Sprecher die Anlautlenisierung zu [j], da er anlautendes [dʒ] durch [ɡ] ersetzt: • giaddu: un gaddu → lu gaddu → lu gaddu → un gaddu 5.1.4.3 Synthese SASS - SS -1989m Sprecher SASS - SS -1989m schätzt seine aktiven wie passiven Sprachkenntnisse des Sassaresischen als mittel ein. In seinem Ausspracheverhalten zeigen sich einerseits die Stabilität spezifischer für das Sassaresische belegter Lautphänomene sowie andererseits auch das Ausbleiben bestimmter Formen. Auch konnten zahlreiche hybride und hyperkorrekte Formen in seinem Datensatz festgestellt werden. Der Sprecher wirkte während der Aufnahme sehr nervös und sprach mit schüchterner, leiser Stimme. Die für ihn erstellte Belegsammlung weist zahlreiche Hesitationsphänomene, Stolpern und starke Längungen auf. Der Sprecher kann generell als sprachloyal bezeichnet werden: Er gab im Rahmen der soziolinguistischen Befragung an, die Aussprache des Sassaresischen zu mögen („molto sincera“, „molto popolare“). Die Frage, ob das Sassaresische schöner klinge als das Sorsesische, bejaht er. Er fühle sich zwar primär als Italiener sowie der italienischen Sprache verbunden, das Sassaresische, das er gerne spricht, ist laut seiner eigenen Angabe allerdings ebenso Teil seiner Identität. Der Befragte lebt gerne in Sassari und fühlt sich der Stadt verbunden. Er gibt an, das Sassaresische als schöne und ausdrucksstarke Sprache wahrzunehmen, die sich im Laufe der Jahre stark verändert hat. Insbesondere die Sprache jüngerer Generationen werde durch das Italienische interferiert („i giovani italianizzano tanto“). Im Hinblick auf die untersuchten vokalischen Variablen lässt sich Folgendes festhalten: Die Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] ließ sich im Rahmen des Map Tasks lediglich anhand der Tokens für das Zielwort cuiva und im Rahmen der Frames anhand der Formen für poipu belegen. Im <?page no="320"?> 320 5 Sprecherprofile Bereich der Zielwörter palchu und targa finden sich überraschenderweise vereinzelt Formen mit parasitischem [j] (s. u.). Wortnennungen, die die Verwendung von prothetischem i vermuten ließen, wurden lediglich im Rahmen der Frames artikuliert. Der Rekurs auf die vokalische Variable ist hier nicht in allen Formen von Beginn an stabil, wird aber letztendlich bis hin zum letzten Carrier phrase ,aktiviert‘. Im Hinblick auf die untersuchten konsonantischen Variablen lässt sich Folgendes festhalten: Wie für das Sprachverhalten sassaresischer Informanten zu erwarten, artikuliert der Sprecher Formen mit etym. -LLunter Verwendung der alveodentalen Aussprache [dd] anstelle des Retroflexes. Dies trifft auf sämtliche aus dem Map Task sowie den Frames gewonnene Belege zu, die gemäß dem postulierten Ausgangssystem des Sassaresischen [dd] bzw. [ɖɖ] erwarten ließen. Im Ausspracheverhalten des Sprechers zeigt sich die Stabilität der Artikulation des lateral-alveolaren Frikativs [ɬ] im Hinblick auf die im Rahmen des Map Task und der Frames gewonnenen Belege. Stimmhaftes [ɮ] ist lediglich im Rahmen der Frames in den Tokens des Zielwortes cordha identifiziert worden. Auch Sprecher SASS - SS -1989m gab im Rahmen der soziolinguistischen Befragung an, den graphisch als „STH“ repräsentierten Laut als typische Aussprachebesonderheit des Sassaresischen wahrzunehmen, die er zusätzlich zu den als schön empfundenen Lauten des Idioms zählt („visthu“). Neben den lateral-alveolaren Frikativen bewahrt der Sprecher die Aussprache von intervokalischem [xx]. Während im Verlauf des Map Tasks jedoch nur wenige Formen mit [xx] entstanden sind und teils auf kognate italienische Formen rekurriert wurde, zeigt sich in den Frames die Stabilität des Lautes anhand zahlreicher Tokens. Es fällt jedoch auf, dass der Sprecher die Artikulation von [xx] oftmals erst im Rahmen der später zu versprachlichenden Frames vornimmt bzw. hybride Formen entstehen (s. u.). Für [ɣɣ] enthält der Datensatz keinen Treffer, allerdings eine interessante Sonderentwicklung im Falle von targa (s. u.). Der Sprecher wendet die Anlautmutation von stimmlosen Okklusiven, des Frikativs [f] und der stimmhaften Affrikate [dʒ] im Rahmen des Map Tasks und der Frames mit relativ hoher Regelmäßigkeit in den hierfür typischen Kontexten an. Vereinzelt bleibt die Verstimmhaftung aus, z. B. bei [f] und insbesondere dann wenn der Sprecher italienische Formen in die sassaresische Matrix einbettet. Bei der Bearbeitung der Frames zeigte sich, dass bei zahlreichen Zielwörtern des Genus Feminin die Sonorisierung ausbleibt bzw. unregelmäßig angewendet wird. Der für vasu zu erwartende Betazismus wird nicht vollzogen. <?page no="321"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 321 Die Lenisierung von [dʒ] → [j] verläuft - insbesondere im Hinblick auf die im Map Task gewonnenen Belege - relativ stabil, allerdings zeigt der Sprecher in seinem Ausspracheverhalten die Tendenz, den Mechanismus auf weitere Kontexte auszudehnen (s. u.). Der Rotazismus [l] → [r] (lenza) wurde nicht vollzogen. Sprecher SASS - SS -1989m zeigt einige äußerst interessante Aussprachebesonderheiten in seinem Sprachverhalten. Für it. tastiera, das im Sassaresischen entweder durch tasthera oder durch den unadaptierten Italianismus tastiera ausgedrückt werden kann, bildet der Sprecher die Zwischenform tasthiera (F2-F4). Einzelne Zielwörter mit zu erwartendem intervokalischen velaren Frikativ [xx] zeigen interessante hybride Ausformungen: Im Rahmen des Map Tasks artikuliert der Sprecher für das Zielwort barcha die Form [ˈbarxa] - mit Erhalt des Vibranten [r]. Zudem finden sich für das Zielwort palchu die beiden Formen lu baicu [ˈbajku] (F2) und lu bailchu [ˈbaj(x)xu] (F3). In beiden Fällen ist ein deutliches vokalisches Element nach dem Hauptton hörbar, das die Vermutung nahe legt, dass es sich hierbei um das für das Sassaresische als untypisch geltende Phänomen des parasitischen [j] handelt. Im Bereich des Zielwortes buschu nähert der Sprecher seine Aussprache im Verlauf der Frames immer weiter sassaresischem [ˈbuxxu] an. Ausgehend von der italienischen Form un bosco nähert er sich über lu boscu der Form lu boschu . Diese Form wird somit gleichlautend mit lu borchu (it. ,il porco‘). Für den Italianismus targa, der laut der für das Sassaresische vorhandenen Wörterbücher den Nexus [rɡ] bewahrt, finden sich in F2 und F4 die hybriden Formen la daigga und una tailga . Im ersten Fall assimiliert der Sprecher den Nexus [rɡ] zu [ɡɡ]. Im zweiten Fall spricht der Sprecher [lɡ]. Beide Male ist auch hier nach dem Hauptton [j] zu hören. Für sass. giaddu rekurriert der Sprecher auf die hybride Form gaddu . Diese weist anstelle des sassaresischen Anlautes [dʒ] den Okklusiv [ɡ] auf (vgl. it. ,gallo‘), beinhaltet jedoch wortintern den Nexus [dd] für etym. -LLbzw. it. ll -. Im Bereich der Lenisierung von [dʒ] → [j] tendiert der Sprecher zur hyperkorrekten Aussprache. Obwohl der Sprecher tendenziell [dʒ] vor mit Konsonant anlautenden Formen sowie nach Phänomenen, die das raddoppiamento fonosintattico auslösen, bewahrt, produziert er die Tokens un joggu sowie a jossu . Zusätzlich wird die Artikulation von [j] einmalig dadurch ermöglicht, dass der Sprecher auf den vokalisch auslautenden indefiniten Artikel unu rekurriert. Im Falle von ippugna und ischudu reaktiviert der Sprecher die sassaresische Bezeichnungsform und somit auch prothetisches i ab F4 bzw. F3: <?page no="322"?> 322 5 Sprecherprofile • ippugna: una spugna → la spugna → la spugna → un’ippugna • ischudu: uno scudo → lu scudo → l’ischudu → un ischudu 5.1.5 SASS - SS -1988m-A 5.1.5.1 Soziolinguistisches Sprecherprofil Geschlecht Geburtsjahr Geburtsort/ Wohnsitz Beruf angestammte Sprache Sprachniveau m 1988 Sassari / Sassari Student Sassaresisch Semisprecher Die Eltern des Befragten stammen beide aus Sassari. Er hat keine Familienangehörige, die außerhalb des sassaresophonen Sprachraumes leben und verbrachte selbst nie längere Zeit an einem anderen Ort. Er ist unverheiratet und hat keine Kinder. Der Informant gibt an, sich primär Sardinien eng verbunden zu fühlen. Sprachkenntnisse (Selbsteinschätzung) Italienisch: aktiv und passiv hoch L1 und Primärsprache Sassaresisch: aktiv mittel / passiv mittel bis hoch L2 und Sekundärsprache Logudoresisch: keine Kenntnisse Kontext des Spracherwerbs: Sassaresisch und Italienisch Der Befragte gibt an, zunächst das Italienische (zuhause, in der Schule und durch den Kontakt mit Freunden) erlernt zu haben. Das Sassaresische erwarb er zuhause sowie im Kontakt mit Freunden. Seine Großeltern väterlicherseits spre/ (a)chen miteinander Sassaresisch. Seine Großeltern mütterlicherseits sowie seine Eltern verwende(te)n untereinander das Sassaresische und das Italienische. Von seinen Familienangehörigen spre/ (a)chen lediglich seine Großeltern väterlicherseits mit ihm Sassaresisch, aber auch Italienisch. Seine Großeltern mütterlicherseits sowie seine Eltern und Geschwister wende(te)n sich an ihn ausschließlich auf Italienisch. Im schulischen Umfeld wurde nicht auf das Sassaresische zurückgegriffen, auch nicht unter den Schülern. Vorherrschende Sprache war das Italienische. <?page no="323"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 323 Kenntnis und aktueller Gebrauch der Idiome sowie Begründung Der Befragte gibt an, lediglich mit Freunden Sassaresisch zu sprechen. An der Universität, mit Kommilitonen sowie im Kontakt mit fremden Sarden greift er niemals auf das Sassaresische zurück. In emotionalen Situationen sowie zum Zählen verwendet er das Italienische. Der Sprecher befindet sich seit vielen Jahren in einer Beziehung mit einer gleichaltrigen aus Sorso stammenden Frau, mit der er lediglich Italienisch spricht. Er selbst schätzt seine passiven Kenntnisse als mittel bis hoch sowie seine aktiven Kenntnisse des Sassaresischen als mittel ein. Er bemerkt, tendenziell alle, jedoch insbesondere jüngere Sprecher des Sassaresischen gut zu verstehen. Laut eigener Angabe mischt er das Sassaresische und Italienische nicht bzw. „a volte“ und zwar insbesondere im Kontakt mit Freunden. Er kann sich nicht daran erinnern, für die Verwendung des Sassaresischen jemals kritisiert worden zu sein. Wendet sich ein Sprecher des Sassaresischen auf Italienisch an ihn, so tut er dies, „perchè è più formale l’italiano“. Er selbst verwendet das Italienische im Umgang mit Sassaresischsprechern, „perchè in Sardegna è riconosciuta l’ufficialità dell’italiano come lingua standard“. Mediennutzung Der Sprecher gibt an, dass das Sassaresische gelegentlich im Fernsehen und Radio präsent ist. Er hat nie sassaresische Literatur gelesen, hätte hieran jedoch Interesse, gäbe es mehr Texte in sassaresischer Sprache. Er hört gelegentlich sassaresische Musik („canzoni popolari“) und verwendet das Idiom nie schriftsprachlich. Hieran zeigt er „poco interesse“ („non sono interessato“). Gäbe es eine Einheitsorthographie für die Varietäten des Sassaresischen, so würde er diese möglicherweise („probabile“) auch verwenden: „dipende dal contesto“. <?page no="324"?> 324 5 Sprecherprofile Identität und Einstellung zum Italienischen, Sassaresischen und Sorsesischen Der Sprecher gibt an, sich zunächst als Italiener zu fühlen und primär der italienischen Sprache verbunden zu sein. Das Sassaresische ist Teil seiner Identität und er bejaht die Frage, ob er gerne Sassaresisch spricht. Auf die Frage, ob Sassarese zu sein identisch sei mit Sorsese zu sein, antwortet er: „ MAI ! “. Sassarese zu sein sei auch nicht gleichzusetzen mit Sarde oder Italiener zu sein. Er verneint die Frage, ob das Sassaresische eine schöne Sprache sei, bejaht jedoch, dass es sich um ein ausdrucksstarkes Idiom handelt, das für Fremde nur schwer zu erlernen sei. Er befürwortet das Erlernen des Sassaresischen jüngerer Generationen und die Einführung der Sprache an den Schulen „per non perderne l’uso“. Der Informant geht davon aus, dass das Sorsesische vitaler ist als das Sassaresische Sassaris, „perché [i sorsesi, L. L.] sono immersi in un contesto culturale profondamente legato alle proprie radici“. Er sieht das Sassaresische durch das Italienische bedroht und nimmt an, dass das Idiom eines Tages verschwinden wird. Gleiches nimmt er für das Sorsesische an. Laut seiner Angabe hätte das Aussterben des Sassaresischen auch „in parte“ den Verlust der sassaresischen Identität zur Folge. Auf die Frage, wie er die Zukunft des Sassaresischen sieht, antwortet er: „penso scomparirà per via della naturale evoluzione che prevede la perdità della tradizionalità“. Er selbst setzt sich nicht für den Erhalt des Sassaresischen ein, denn „non mi interessa“. Auf die Frage, mit welchem Wort er das Sassaresische beschreiben würde, gibt er an: „rude“ und „fiero“. Das Erlernen des Italienischen könne man als Vorteil bezeichnen, denn „è la lingua nazionalmente riconosciuta“. Allerdings sei es „a volte […]“ auch von Vorteil, das Sassaresische zu beherrschen („dipende“). Das Italienische solle das Sassaresische nicht in allen Kommunikationssituationen ersetzen. <?page no="325"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 325 Ortsgebundenheit Der Informant gibt an, gerne in Sassari zu leben und sich der Stadt verbunden zu fühlen. Es würde ihm missfallen, aus Sassari wegziehen zu müssen. Der Großteil seiner Freunde und Verwandten lebt ebenfalls in der Stadt Sassari. Einkäufe und Freizeitaktivitäten erledigt er auch vor Ort. Er interessiert sich für Neuigkeiten und aktuelle Veranstaltungen in Sassari („concerti“), ist jedoch in keinem lokalen Verein Mitglied. Der Zuzug von Menschen, die den Lokaldialekt nicht sprechen, stört ihn nicht. Auf die Frage hin, ob man Sassarese sein könne ohne Sassaresisch zu sprechen, antwortet der Befragte Sprecher: „si può essere cittadini acquisiti senza parlare la lingua.“ Für Sprecher anderer Idiome, die ihren Wohnort nach Sassari verlegen, sei es nicht wichtig, das Sassaresische zu erlernen („non è necessario“). Der Befragte lässt die Fragen zur Ortsgebundenheit unbeantwortet, betont jedoch in einem Gespräch, das sich der Aufnahme anschloss, dass er eine große Bindung an Sardinien und vor allem an Sassari empfindet. Sassari ist der Ort, an dem seine gesamte Familie lebt sowie seine Partnerin und seine Freunde. Er selbst studiert an der Universität Sassari, verbringt seine Freizeit in dieser Stadt und erledigt dort alle seine Besorgungen. Er nimmt gerne an lokalen Festen und Veranstaltungen teil und singt selbst gerne sassaresische Lieder. Allerdings betont er, dies nur in einem vertrauten sowie unterhaltsamen Kontext zu tun, wie zum Beispiel anlässlich eines gemeinsamen Abends mit Freunden. Der Befragte berichtet außerdem von seinem starken Gefühl der „nostalgia“, das es ihm unmöglich macht, für eine längere Zeit Sardinien zu verlassen. Charakteristika des Sassaresischen / des Sorsesischen Die authentischste Aussprache spricht er „le persone anziane“ zu. Er bestätigt, dass sich die Aussprache von Generation zu Generation unterscheidet. Weder das Sassaresische noch das Sorsesische seien als schöner zu bezeichnen, denn „sono uguali“. Er denkt nicht, dass sich das Sassaresische im Lauf der Jahre wesentlich verändert hat. Sorsesen werden in Sassari erkannt „per via dell’intonazione“. Gleiches gilt für Sprecher des Sassaresischen, die sich in Sorso aufhalten. Er hat nicht den Eindruck, durch den seltenen Gebrauch des Sassaresischen die Strukturen des Idioms zu vergessen. In anderen Teilen Sardiniens erkennt man ihn als Sassarese anhand „le ‘s’“. Die Frage nach der Sprachherkunft bzw. -verwandtschaft lässt er unbeantwortet. Typische Laute des Sassaresischen / Sorsesischen „ STH , la palatale fricativa spirata“ Unterschiede des Sassaresischen zum Sorsesischen - Laute, die ein Sassarese / Sorsese aussprechen können sollte „ STH , la palatale fricativa spirata“ <?page no="326"?> 326 5 Sprecherprofile Wörter, die ein Fremder, der Sassaresisch / Sorsesisch lernen möchte, aussprechen können sollte - Als „schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Als „nicht schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Bekannte Ausspracheregeln des Sassaresischen / Sorsesischen in Gegenüberstellung zum Italienischen - 5.1.5.2 Sprachdaten Map Rollen Frames Nr. 2 Instructor SORS - SS -1988m-B F1-F4 Follower SASS - SS -1988m-A Map Rollen Frames Nr. 1 Instructor SASS - SS -1988m-B - Follower SASS - SS -1988m-A 5.1.5.2.1 Vokalische Phänomene Vokalisierung Map Task Nr. 1 und Nr. 2: Zur Überprüfung der Anbzw. Abwesenheit der Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] finden sich im Datensatz des Sprechers keine Belegstellen. Frames (1-4): Im Rahmen der Frames artikuliert der Sprecher lediglich das Zielwort veimmi / u; die Vokalisierung bleibt in allen vier Frames aus: • veimmi / u: un vemmu → lu vemmu → lu vemmi → un vemmu i-Prothese Map Task Nr. 1: Für das Zielwort ippau artikuliert der Sprecher einmalig die Form l’ippagu . Sein Gesprächspartner SASS - SS -1988m-B produzierte zuvor die Nennung [ixˈpaɡu]. Frames (1-4): Der Sprecher produziert • ippadda: un’ippadda → l’ippadda → r’ippadda → un’ippadda <?page no="327"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 327 • (i)schora: - → l’ischora → l’ischora → un’ischora Der Sprecher verwendet prothetisches i in allen Fällen regelmäßig. 5.1.5.2.2 Konsonantische Phänomene Retroflex Map Task: Im Datensatz des Sprechers finden sich lediglich sehr wenige Tokens, die zur Überprüfung der retroflexen bzw. alveodentalen Artikulation herangezogen werden können. In allen Nennungen (Nr. 2: cabaddi < SORS - SS -1988m-B , trudda (2) , nudda , padedda ; Nr. 1.: gulthedd-/ u (2) , jaddina (3) , goddu ) realisiert der Sprecher dd ausschließlich alveodental. Frames (1-4): Der Sprecher produziert in allen Tokens der Zielwörter castheddu, ippadda, padedda, cabaddu und cultheddu ausschließlich [dd]. Im Hinblick auf das Zielwort sedda lässt sich festhalten, dass der Sprecher durchgängig sella artikuliert. • castheddu: un castheddu → lu gastheddu → lu gastheddu → un castheddu • ippadda: un’ippadda → l’ippadda → r’ippadda → un’ippadda • padedda: una padedda → la padedda → la padedda → una padedda • sedda: una sella → la sella → la sella → una sella • cabaddu: un cabaddu → lu cabaddu → lu cabaddu → un cabaddu • cultheddu: un cultheddu → lu gultheddu → lu gultheddu → un cultheddu Für das Zielwort camellu kommt es zu keiner Hyperkorrektur. Der Sprecher artikuliert in allen vier Frames camello : • camellu: un camello → il camello → il camello → un camello Lateral-alveolare Frikative Map Task Nr. 1: Der Sprecher artikuliert auch hier nur sehr wenige Nennungen. Stimmloses [ɬ] ist in sämtlichen Belegen für desthra und sinisthra hörbar sowie in den Tokens gulthedd-/ u (2) , barthi und vorestha . Stimmhaftes [ɮ] ist präsent in gordha . Frames (1-4): Der Sprecher produziert • cordha: una cordha → la gordha → la cordha → una colda una (-) una cordha • castheddu: un castheddu → lu gastheddu → lu gastheddu → un castheddu • cultheddu: un cultheddu → lu gultheddu → lu gultheddu → un cultheddu • gardhu: un cardo → il cardo → il cardo → un cardo • filt(h)ru: un filtro → lu filtro → il filtro → un filtro <?page no="328"?> 328 5 Sprecherprofile • lardhu: lu rardhu → lu lardhu → lu lardhu → un lardhu • giosthra: una giostra → la giostra → la giostra → una giostra • Einzelnennung (F1) masthru: un masthru Der Sprecher artikuliert im Rahmen der Carrier phrases deutlich den stimmlosen lateral-alveolaren Frikativ [ɬ] in den Tokens für castheddu und cultheddu sowie einmalig in masthru (F1). Die für filt(h)ru und giosthra zu erwartende lateral-alveolare Friktion bleibt aus. Der Sprecher produziert stimmhaftes [ɮ] in den Nennungen für cordha und lardhu. In F4 findet sich einmalig die Nennung colda . Im Hinblick auf gardhu rekurriert der Sprecher auf it. cardo. Velare Frikative Map Task Nr. 1: Den aus etym. L, R, S + C entstandenen velaren Frikativ [xx] artikuliert der Sprecher in den Tokens borchu und vorcha (3) . Der Nennung borchu geht ein Gesprächsbeitrag seines Spielpartners SASS-SS-1988m-B voraus, der für das Zielwort buschu (it. ,bosco‘) das Token boschu produzierte. Dieses interpretiert der Sprecher als Wortform des Zielwortes porchu (it. ,porco‘), mit dem es hier lautlich zusammenfällt. Frames (1-4): Der Sprecher produziert • barcha: una barcha → la barcha → la barcha → una bauna ba- (--) una barcha • algha: - → le a[lɡ]e → la alga → un’alga • moscha: una moscha → la moscha → la moscha → una moscha • falchu: un falco → il falco → il falco → un falco • targa: una targa → la targa → la targa → una targa • (i)schora: - → l’ischora → l’ischora → un’ischora • porchu: un porchu → lu borchu → lu borchu → un porchu Im Rahmen der Frames produziert der Sprecher regelmäßig stimmloses [xx] nach prothetischem i in (i)schora sowie in den Tokens für barcha, moscha und porchu. In den geäußerten Formen für falchu hingegen nicht: Hier rekurriert der Sprecher auf italienisches falco mit erhaltenem intervokalischen lc -. Die Belege für algha weisen kein [ɣɣ] auf. Den Italianismus targa artikuliert der Sprecher, wie zu erwarten, mit erhaltenem Nexus rg -. <?page no="329"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 329 Anlautmutation 11 Map Task Nr. 2 und Nr. 1: Der Sprecher wendet die Anlautmutation nur sehr unregelmäßig an. In folgenden Kontexten ließen sich die Anlautsonorisierung von Okklusiven und des Frikativs [f] nachweisen sowie der Rotazismus und die Lenisierung: • in Nr. 2 / Nr. 1 nach bestimmtem Artikel: Nr. 2: lu besciu , la beggura ; Nr. 1: lu gulthedd-/ u ( 2 , < SASS - SS -1988m-B ), la rana , ri breddi , lu bani (< SASS - SS -1988m-B ), lu voggo / u ( 2 , < SASS - SS -1988m-B ), la grabba , la jaddina , la gordha , ru goddu , lu borchu (< SASS - SS -1988m-B ), la vorestha , lu viori ( 2 , < SASS - SS -1988m-B ), la vorcha (3) • in Nr. 2 / Nr. 1 nach unbestimmtem femininen Artikel: Nr. 2: una grabba (< SORS - SS -1988m-B ); Nr. 1: una jaddina • in Nr. 1 nach unbetontem Pronomen: di biazi • in Nr. 1 nach Präposition: di gosa (3) • nach vokal. auslautendem Wort (Nomen, Verben, Adjektive, Adverbien, Partikeln, Determinanten, Zahlwörter, Quantifizierer etc.): Nr. 1: candu di biazi , soggu brontu , d’aga barthi , soggu bassendi , ma brima In folgenden Fällen bleibt die Anlautmutation (Sonorisierung, Lenisierung, Betazismus) aus: • nach bestimmtem Artikel: Nr. 2: ri cabaddi , la trudda (2) , li preddi , la gesgia (< SORS - SS -1988m-B : una gesgia ); Nr. 1: lu vasu (2) • nach unbestimmtem femininen Artikel: Nr. 2: una padedda • nach vokal. auslautendem Wort (Nomen, Verben, Adjektive, Adverbien, Partikeln, Determinanten, Zahlwörter, Quantifizierer etc.): Nr. 2: ghissu fiore ; Nr. 1: soggu farendi , no lo soggu cumenti Nach Konsonant (z. B. F1: un cabbu , un fiori , F2: in giossu ), nach Pause (z. B. F1: (-) passu sobbra ) sowie am Satzanfang (z. B. giossu? ) bleibt die Anlautmutation regulär aus. In folgenden Fällen kommt es wider Erwarten zur Anwendung des Mechanismus: nach Präposition (Nr. 1: aggiu a bassà ), am Äußerungsbeginn (Nr. 1: jaddina ), nach Elementen, die das raddoppiamento fonosintattico auslösen (Nr. 1: tre jatti (2) , < SASS - SS -1988m-B : la jatta ). Frames (1-4): Der Sprecher unterlässt, wie zu erwarten, die Anlautmutation für mit Okklusiv anlautende Kontexte nach unbestimmtem maskulinen Artikel un . Allerdings setzt der Prozess nach dem vokalisch auslautenden unbestimmten 11 Die Stimmhaftigkeit von / s/ konnte nicht eindeutig festgestellt werden (vgl. Kap. 4.5.1). <?page no="330"?> 330 5 Sprecherprofile Artikel una sowie den bestimmten Artikeln r / lu und r / la nur sehr unregelmäßig ein. • V+[k]+V → [ɡ] cabbu: un cabbu → lu gabbu → lu gabbu → un cabbu ebenso: cani, castheddu, cultheddu • V+[p]+V → [b] porchu: un porchu → lu borchu → lu borchu → un porchu ebenso: pesciu Weit häufiger hingegen bleibt die Sonorisierung aus oder ist instabil: • V+[k]+V → [k] cabaddu: un cabaddu → lu cabaddu → lu cabaddu → un cabaddu • V+[k]+V → [k] crabba: una crabba → la cabra → la crabba → una crabba • V+[k]+V → [k/ ɡ] cordha: una cordha → la gordha → la cordha → una colda una (-) una cordha curraccia: una curraccia → la gurraccia → la curraccia → una gurraccia • V+[p]+V → [p] padedda: una padedda → la padedda → la padedda → una padedda • V+[p]+V → [p / b] predda: ri beddri → la bieddra → la predda → una predda Der Sprecher unterlässt die Anlautverstimmhaftung insbesondere bei der Verwendung von etablierten Italianismen: • V+[k]+V → [k] camellu: un camello → il camello → il camello → un camello ebenso: cardo • V+[t]+V → [t] targa: una targa → la targa → la targa → una targa Der stimmlose Frikativ [f] wird ebenfalls unregelmäßig bzw. gar nicht verstimmhaftet, z. B.: • V+[f]+V → [f / v] foggu: un foggu → lu foggu → lu voggu → un foggu • V+[f]+V → [f] figga: la figga → la figga → la figga → una figga Die Sonorisierung von [f] bleibt auch für die Zielwörter falchu und filt(h)ru aus, für die der Sprecher die kognaten italienischen Formen falco und filtro produziert: • V+[f]+V → [f] falchu: un falco → il falco → il falco → un falco • V+[f]+V → [f] filt(h)ru: un filtro → lu filtro → il filtro → un filtro Der Prozess [v] → [b] zeigt sich nicht: <?page no="331"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 331 • V+[v]+V → [v] veimmi / u: un vemmu → lu vemmu → lu vemmi → un vemmu Sehr unregelmäßig vollzieht der Sprecher den Prozess der Anlautmutation in Bezug auf stimmlose Anlautaffrikaten, z. B.: • V+[tʃ]+V → [tʃ] ciodu: un ciodu → lu ciodu → lu ciodu → un ciodu • V+[tʃ]+V → [tʃ / dʒ] ciabi: una ciavi → la giabi → la ciabi → una giavi Die Lenisierung von [dʒ] → [j] vollzieht der Sprecher lediglich regelhaft für gianna: • V+[dʒ]+V → [j] gianna: una janna → la janna → la janna → una janna Im Falle von gioggu kommt es zur Übergeneralisierung von [j]: • V+[dʒ]+V → [j] gioggu: un joggu → lu joggu → lu joggu → un joggu Für das Zielwort gesgia artikuliert der Sprecher keine Nennungen, die den Lenisierungsprozess [dʒ] → [j] durchlaufen: • V+[dʒ]+V → [dʒ] gesgia: una gesgia → la gesgia → la gesgia → una gesgia Im Falle des Italianismus giosthra unterlässt der Sprecher, wie zu erwarten, die Lenisierung von [dʒ] → [j]: • V+[dʒ]+V → [dʒ] giosthra: una giostra → la giostra → la giostra → una giostra Den Prozess des Rotazismus von [l] → [r] vollzieht der Sprecher nach bestimmtem Artikel lu lediglich in F1: • V+[l]+V → [r / l] lardhu: lu rardhu → lu lardhu → lu lardhu → un lardhu 5.1.5.3 Synthese SASS - SS -1988m-A Sprecher SASS - SS -1988m-A gab im Rahmen der soziolinguistischen Befragung an, als L1 das Italienische erlernt zu haben und dieses als Primärsprache zu nutzen. Er definiert sich als Italiener und fühlt sich primär der italienischen Sprache verbunden. Innerhalb seiner Familie wende(te)n sich lediglich seine Großeltern väterlicherseits an ihn auf Sassaresisch. Heutzutage verwendet er das Sassaresische nur mehr im Kontakt mit Freunden. Er selbst schätzt seine passiven Kenntnisse als mittel bis hoch sowie seine aktiven Kenntnisse des Sassaresischen als mittel ein. Er spricht gerne Sassaresisch und nimmt das Idiom als Bestandteil seiner Identität wahr. Eine schöne Sprache sei das Sassaresische jedoch nicht. <?page no="332"?> 332 5 Sprecherprofile Nicht nur der Spracherwerbs- und -verwendungshintergrund legen eine Kategorisierung des Sprechers als Semisprecher nahe, sondern auch sein verbales und paraverbales Verhalten in der Aufnahmesituation: Obwohl sich der Sprecher zu zwei Aufnahmen bereit erklärte, enthält sein Datensatz lediglich wenige Tokens, die zur Überprüfung der Anbzw. Abwesenheit sassaresischer Lautphänomene herangezogen werden konnten. Dem Sprecher kam beide Male die Rolle als Follower zu, in der er den Anweisungen des Instructors meist ohne klärende Nachfragen folgte. Er produzierte vorwiegend kurze Äußerungseinheiten geringer lexikalischer Variation. Die geringe Anzahl an Belegen erschwert die Feststellung der Anbzw. Abwesenheit sassaresischer Lautphänomene, da diese lediglich anhand lexikalischen Materials, das diese transportiert, überprüft werden kann. In der Versprachlichung der Frames zeigten sich zahlreiche Pausen, Verzögerungssignale, Stocken und Wortabbrüche: • F1 peddra: veggu (-) eh di ri bebebeddri ((lacht)) pietne la listha • F3 predda: la a pietra (-) la petrla (-) eh: (--) la prela predda va a ru numaru tredizi • F1 veimmi / u: veggu (--) u: : : ve- (-) un vemmu (-) ni ra listha Häufig aktivierte der Sprecher sein lexikalisches Wissen innerhalb der Frames, nachdem er zunächst eine lautlich in das Sassaresische integrierte italienische Bezeichnungsform andeutete (hier: testa , porta ): • F1 cabbu: veggu una testh- (-) un cabbu (--) ne la listha • F4 gianna: una bortuna janna è ne la listha Im Hinblick auf die untersuchten vokalischen Variablen lässt sich Folgendes festhalten: Die Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] ließ sich im Rahmen der Frames lediglich anhand der Tokens für das Zielwort veimmi / u überprüfen. Sie bleibt in allen Frames aus. Prothetisches i verwendet der Sprecher konstant für ippadda und (i)schora im Rahmen der Frames. In Map Task Nr. 1 findet sich die hybride Form l’ippagu (s. u.). Im Hinblick auf die untersuchten konsonantischen Variablen ließ sich Folgendes beobachten: Wie für das Sprachverhalten sassaresischer Informanten zu erwarten, artikuliert der Sprecher Formen mit etym. -LLunter Verwendung der alveodentalen Aussprache [dd] anstelle des Retroflexes. Dies trifft auf sämtliche aus den Map Tasks sowie den Frames gewonnene Belege zu (mit Ausnahme von sella), die gemäß dem postulierten Ausgangssystem des Sassaresischen [dd] bzw. [ɖɖ] erwarten ließen. <?page no="333"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 333 Im Ausspracheverhalten des Sprechers zeigen sich Schwankungen in der Artikulation des lateral-alveolaren Frikativs [ɬ] und [ɮ]. Stimmloses [ɬ] ist konstant in allen Nennungen für desthra, sinisthra, cultheddu, parthi, forestha und castheddu. Stimmhaftes [ɮ] ist hörbar in den Nennungen für cordha ( MT , F1-F3) und lardhu. Für cordha findet sich einmalig eine hybride Zwischenform (s. u.). Die für filt(h)ru, giosthra und gardhu zu erwartende lateral-alveolare Friktion bleibt aus. Auch Sprecher SASS - SS -1988m-A gab im Rahmen der soziolinguistischen Befragung an, „ STH , la palatale fricativa spirata“ als typische Aussprachebesonderheit des Sassaresischen wahrzunehmen, die ein Sprecher aussprechen können sollte. Neben den lateral-alveolaren Frikativen bewahrt der Sprecher die Aussprache von intervokalischem [xx]. Während im Verlauf des Map Tasks jedoch nur wenige Formen mit [xx] entstanden sind ( borchu und vorcha (3) ), zeigt sich in den Frames die Stabilität des Lautes anhand der Belege mehrerer Zielwörter (barcha, moscha, (i)schora, porchu) - mit Ausnahme von falchu. Für [ɣɣ] enthält der Datensatz keinen Treffer, da der Sprecher für algha die kognate Form des Italienischen verwendet (s. u.). Der Sprecher wendet die Anlautmutation intervokalischer Konsonanten im Rahmen des Map Tasks und der Frames nur sehr unregelmäßig an. Teilweise wird der Mechanismus ausgesetzt bzw. auf unübliche Kontexte übertragen. Die Verstimmhaftung von Okklusiven sowie des Frikativs [f] wird nicht vollzogen. Der für vasu un veimmi / u zu erwartende Betazismus bleibt aus. Die Lenisierung von [dʒ] → [j], deren Verwendung ebenfalls schwankt, weitet der Sprecher auf weitere Kontexte aus (s. u.). Auch der Rotazismus ist instabil. Zusätzlich hierzu enthält der Datensatz des Sprechers folgende hybride Formen: Für veimmi / u artikuliert der Sprecher vemmu - ohne Vokalisierung, jedoch mit intervokalischer Langkonsonanz. Für das Zielwort ippau artikuliert der Sprecher einmalig die Form l’ippagu , nachdem seine Gesprächspartner SASS-SS-1988m-B zuvor die Nennung [ixˈpaɡu] produzierte. Das Zielwort ippau beinhaltet prothetisches i sowie den Ausfall intervokalischen g -. Zwar bewahrt der Sprecher prothetisches i , erhält aber g wie in der kognaten italienischen Form spago. In F4 findet sich einmalig die Nennung colda [ˈkɔlda] für das Zielwort cordha. Der Sprecher produziert folglich ein laterales Element und artikuliert nachfolgendes [d], allerdings kommt es zu keiner Friktion. Auch dieser Beleg kann als Kompromissform der kognaten Sprachen Sassaresisch [ˈkɔɮ(d)a] und Italienisch [ˈkɔrda] gewertet werden. Im Bereich der Lenisierung von [dʒ] → [j] tendiert der Sprecher zur hyperkorrekten Aussprache. So findet sich [j] selbst am Äußerungsbeginn, nach dem <?page no="334"?> 334 5 Sprecherprofile das raddoppiamento fonosintattico auslösenden Numeral tre und in Frame 1 und 4 nach dem Artikel un ( un joggu ). 5.1.6 SASS - SS -1988m-B 5.1.6.1 Soziolinguistisches Sprecherprofil Geschlecht Geburtsjahr Geburtsort/ Wohnsitz Beruf angestammte Sprache Sprachniveau m 1988 Sassari / Sassari Student Sassaresisch Semisprecher Die Mutter des Befragten stammt aus Sassari, der Vater aus Lucca. Er gibt an, Familienangehörige außerhalb des sassaresophonen Sprachraumes zu haben und selbst jeweils ein Jahr in Olbia, in Nuoro und in Rom sowie zwei Jahre an einem weiteren Ort 12 gelebt zu haben. Er ist unverheiratet und hat keine Kinder. Der Sprecher gibt an, sich primär Sassari und Sardinien eng verbunden zu fühlen. Sprachkenntnisse (Selbsteinschätzung) Italienisch: aktiv und passiv hoch L1 und Primärsprache Sassaresisch: aktiv mittel / passiv mittel L2 und Sekundärsprache Logudoresisch: keine Kenntnisse Kontext des Spracherwerbs: Sassaresisch und Italienisch Der Befragte gibt an, zunächst zuhause das Italienische erlernt zu haben. Seine Großeltern väterlicherseits spre/ (a)chen ausschließlich Italienisch miteinander. Mütterlicherseits wird / wurde Sassaresisch gesprochen. Seine Eltern verwenden untereinander lediglich das Italienische. Sassaresisch spre/ (a)chen lediglich die Eltern seiner Mutter mit ihm; auch im Kontakt mit Freunden wird / wurde das Sassaresische verwendet. Seine Großeltern väterlicherseits, seine Eltern sowie seine Geschwister wende(te)n sich an ihn ausschließlich auf Italienisch. Im schulischen Umfeld wurde nicht auf das Sassaresische zurückgegriffen, auch nicht unter den Schülern. Vorherrschende Sprache war das Italienische. 12 Unleserliche Stelle im Fragebogen. <?page no="335"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 335 Kenntnis und aktueller Gebrauch der Idiome sowie Begründung Der Befragte gibt an, lediglich im Umgang mit Freunden das Sassaresische zu verwenden. Zuhause, am Arbeitsplatz, in Geschäften, an der Universität und auf Ämtern greift er niemals auf das Sassaresische zurück. In emotional geprägten Situationen verwendet er das Sassaresische. Zum Zählen gebraucht er das Italienische. Er selbst schätzt seine aktiven und passiven Kenntnisse des Sassaresischen als mittel ein und gibt an, insbesondere jüngere Sprecher des Sassaresischen zu verstehen. Der Informant bemerkt, die beiden Idiome gelegentlich zu mischen. Er hat nie die Erfahrung gemacht, für den Gebrauch des Sassaresischen kritisiert worden zu sein. Sprecher des Sassaresischen wenden sich an ihn auf Italienisch, denn der Gebrauch des Sassaresischen „potrebbe essere non approvato, grezzo“. Auch er selbst wendet sich an andere Sprecher des Sassaresischen auf Italienisch. Mediennutzung Der Sprecher hat den Eindruck, dass das Sassaresische / Sorsesische nie im Fernsehen und Radio präsent ist. Er hat gelegentlich sassaresische Literatur gelesen und würde dies gern häufiger tun, gäbe es mehr Texte in sassaresischer Sprache. Er hört gelegentlich sassaresische Musik und hat das Sassaresische bereits gelegentlich schriftlich im Rahmen von SMS gebraucht. Er zeigt kein großes Interesse daran, das Sassaresische häufiger schriftlich zu verwenden, denn „non è pratico.“ Die Verwendung einer Einheitsorthographie des Sassaresischen ist für ihn jedoch denkbar. Identität und Einstellung zum Italienischen, Sassaresischen und Sorsesischen Der Sprecher gibt an, sich als Sassarese zu fühlen und primär der sassaresischen Sprache verbunden zu sein. Das Sassaresische, das er gerne spricht, ist laut seiner eigenen Angabe Teil seiner Identität. Sassaresen und Sorsesen grenzt er voneinander ab. Sassarese zu sein ist für ihn auch nicht gleichbedeutend mit Sarde oder Italiener zu sein. Er gibt an, das Sassaresische als schöne und ausdrucksstarke Sprache wahrzunehmen, die für Fremde nur schwer zu erlernen sei. Dass Kinder den Lokaldialekt erlernen, scheint ihm wichtig. Er befürwortet die Einführung des Sassaresischen an den Schulen zum Erhalt der „identità“. Aktuell hat er nicht den Eindruck, dass das Sassaresische weniger vital ist als das Sorsesische. Er sieht das Sassaresische nicht durch das Italienische bedroht, denn „è l’espressione di una cultura“. Er denkt nicht, dass das Sassaresische Sassaris eines Tages verschwinden wird. Laut seiner Angabe hätte das Aussterben des Sassaresischen den Verlust der sassaresischen Identität zur Folge. Er selbst engagiert sich nicht für den Erhalt des Idioms, denn „non è priorità personale“. Er bezeichnet das Sassaresische als „identificazione“. Italienisch zu sprechen sei ein deutlicher Vorteil („uniformità e comunicazione“). Sassaresisch zu sprechen hingegen nicht („non è pratico […] 13 “). Das Italienische solle das Sassaresische dennoch nicht in allen Kommunikationssituationen ersetzen. 13 S.o. <?page no="336"?> 336 5 Sprecherprofile Ortsgebundenheit Der Informant gibt an, gerne in Sassari zu leben und sich der Stadt verbunden zu fühlen. Auf die Frage, was es für ihn bedeutet, Sassarese zu sein, antwortet er: „Sassari è la terra dove sono nato“. Es würde ihm schwer fallen, aus Sassari wegziehen zu müssen. Der Großteil seiner Freunde und Verwandten lebt ebenfalls in der Stadt. Einkäufe und Freizeitaktivitäten erledigt er vor Ort. Er interessiert sich für Neuigkeiten und aktuelle Veranstaltungen in Sassari, ist aber in keinem lokalen Verein Mitglied. Der Zuzug von Menschen, die den Lokaldialekt nicht sprechen, stört ihn nicht. Die Frage, ob man Sassarese sein könne, ohne Sassaresisch zu sprechen, bejaht er, denn „non tutti si identificano con il dialetto“. Sprecher anderer Idiome, die ihren Wohnort nach Sassari verlegen, sollten das Sassaresische erlernen („facoltà comunicativa“). Charakteristika des Sassaresischen / des Sorsesischen Der Befragte gibt an, die Lautung des Sassaresischen zu mögen („identificativa“). Die authentischste Aussprache spricht er Sprechern des „centro storico“ zu. Er denkt nicht, dass sich die Aussprache von Generation zu Generation unterscheidet. Die Frage, ob eine der beiden Varietäten „schöner“ klinge, verneint er. Die Sprache hat sich, so der Befragte, im Laufe der Jahre nicht sehr verändert. Er denkt nicht, dass Sprecher des Sorsesischen in Sassari sofort als solche erkannt werden, denn die Idiome „si somigliano molto“. Gleiches setzt er an für Sprecher des Sassaresischen, die sich in Sorso aufhalten. Er hat nicht den Eindruck, durch den seltenen Gebrauch des Sassaresischen, Strukturen der Sprache bereits vergessen zu haben. In anderen Teilen Sardiniens erkennt man ihn als Sassaresen, denn „alcune parole fanno identificare subito la provenienza“. Die Frage nach der Sprachherkunft bzw. -verwandtschaft lässt er unbeantwortet. Typische Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Unterschiede des Sassaresischen zum Sorsesischen „cadenza“ Laute, die ein Sassarese / Sorsese aussprechen können sollte - Wörter, die ein Fremder, der Sassaresisch / Sorsesisch lernen möchte, aussprechen können sollte „isthanghigliu“ (it. ,tabaccaio‘) Als „schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Als „nicht schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Bekannte Ausspracheregeln des Sassaresischen / Sorsesischen in Gegenüberstellung zum Italienischen - <?page no="337"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 337 5.1.6.2 Sprachdaten Map Rollen Frames Nr. 1 Instructor SASS - SS -1988m-B F1-F4 Follower SASS - SS -1988m-A 5.1.6.2.1 Vokalische Phänomene Vokalisierung Map Task: Zur Überprüfung der Anbzw. Abwesenheit der Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] finden sich im Datensatz des Sprechers lediglich wenige Belegstellen. Für das Zielwort poipu artikuliert der Sprecher boiparu (2) und boipu mit Erhalt des halbvokalischen Elementes [j]. Frames (1-4): Auch im Rahmen der Frames artikuliert der Sprecher lediglich das Zielwort poipu mit Vokalisierung in allen vier Frames: • poipu: unu boipu → lu boipu → lu boipu → un ippoipu i-Prothese Map Task: Für die Zielwörter (i)schara, ippugna und ischudu produziert der Sprecher regulär l’ischara , la ippugna und l’ischudu . Anstelle von ischumenzu rekurriert er auf iniziu (it. inizio). Für das Zielwort ippau realisiert der Sprecher die hybride Nennung [ixˈpaɡu]. Frames (1-4): Der Sprecher produziert • ippugna: un’ippugna → l’ippugna → l’ippugna → un ippugna • (i)schara: un’ischara → l’ischara → l’ischara → un’ischara • ischudu: un ischudu → l’ischudu → l’ischudu → un ischudu Prothetisches i zeigt sich in sämtlichen Tokens der Zielwörter ippugna, (i)schara und ischudu. 5.1.6.2.2 Konsonantische Phänomene Retroflex Map Task: Die im Rahmen des Map Tasks benannten Zielwörter sind cultheddu, giaddina und coddu. Für cultheddu artikulierte der Sprecher die hybride Form lu gulthellu , ohne das für das Stadtsassaresische zu erwartende, alveodentale dd -. Außerdem produziert der Sprecher, wie sein Gesprächspartner SASS - SS -1988m-A zuvor, goddu für das Zielwort coddu. Für das Zielwort giaddina produziert der Sprecher - trotz zweimaliger vorausgehender Nennung una / la jaddina durch seinen Gesprächspartner - die kognate italienische Form (la) <?page no="338"?> 338 5 Sprecherprofile gallina (3) . Als SASS - SS -1988m-A nun erneut die Form jaddina realisiert, artikuliert der Sprecher die hybride Form (la) gaddina (2) mit alveodentalem dd -. Frames (1-4): Der Sprecher produziert ausschließlich [dd] anstelle des Retroflexes. Dies trifft auf Tokens folgender Zielwörter zu: coddu, cultheddu, padedda und peddi (F2). Im Falle der Zielwörter giaddu und peddi (F1, F3, F4) greift er auf die kognaten Formen des Italienischen zurück. Den im Sassaresischen etablierten Italianismus bullu unterzieht er keiner Hyperkorrektur: • giaddu: un gallu → lu gallu → lu gallu → unu gallu • coddu: unu goddu → lu goddu → lu goddu → un iccollu • cultheddu: unu gultheddu → lu gultheddu → lu gultheddu → unu gultheddu • bullu: un bollu → la bolla → la bolla → una bolla • padedda: una padedda → la padedda → la padedda → una padedda • peddi: una pelli → la beddi → la belli → una pelli Lateral-alveolare Frikative Map Task: Der Datensatz des Sprechers enthält Belege der Zielwörter parthi, cultheddu, pianuforthi, cordha, forestha und pastha. In folgenden Nennungen ist stimmloses lateral-alveolares [ɬ] deutlich hörbar: barthi , gulthellu , bianuforthi , vorestha (< SASS - SS -1988m-A ), bastha . Hinzu kommt hochfrequentes desthra (13) . Stimmhaftes [ɮ] ist hörbar in der Nennung gordha (< SASS - SS -1988m-A ). Neben sinisthra (3) und sinistra (2) artikuliert der Sprecher auch [ɬiˈnistra] (11) . Frames (1-4): Der Sprecher produziert • cordha: una cordha → la cordha → la cordha → una gordha • pastha: la bastha → la bastha → la bastha → una bastha • tasthu: li dasthi → li dasthi → li dasthi → un dasthu • turtha: una dortha → la dortha → la dortha → una dortha • cultheddu: unu gultheddu → lu gultheddu → lu gultheddu → unu gultheddu • gardhu: unu cardhu → lu gardhu → lu gardhu → unu gardhu • cartha: una gartha → la cartha → la gartha → una gartha • Einzelnennung (F3) quattordhizi: quattordhizi Der Sprecher artikuliert im Rahmen der Carrier phrases sehr regelmäßig die lateral-alveolaren Frikative. Stimmloses [ɬ] ist hörbar in sämtlichen Tokens der Zielwörter pastha, tasthu, turtha, cultheddu und cartha. Stimmhaftes [ɮ] ist deutlich in den Tokens für cordha, gardhu und quattordhizi wahrzunehmen. <?page no="339"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 339 Velare Frikative Map Task: Den aus etym. L, R, S + C entstandenen velaren Frikativ [xx] artikuliert der Sprecher in den Tokens l’ischara , l’ischudu , lu boschu und la vorcha (< SASS-SS-1988m-A ). Stimmhaftes [ɣɣ] ist nicht hörbar, da der Sprecher alga für algha produziert. Zusätzlich artikuliert der Sprecher die zwei hyperkorrekten Formen [ixˈpaɡu] und [ˈroxxa] (s. u.). Frames (1-4): Der Sprecher produziert • (i)schara: un’ischara → l’ischara → l’ischara → un’ischara • palchu: lu balchu → lu balchu → lu balchu → unu balchu • ischudu: un ischudu → l’ischudu → l’ischudu → un ischudu • buschu: un boschu → lu boschu → lu boschu → un boschu • algha: un’alga → l’alga → l’alga → un’alga • forcha: una forcha → la forcha → la vorcha → una forcha • targa: una targa → la targa → la targa → una targa • zirchu: un zirchu → lu zeh zircu → il zirchu → un zirchu Der Frikativ [xx] ist stabil in den Tokens der Zielwörter (i)schara, palchu, ischudu, buschu und forcha. Im Fall von zirchu artikuliert der Sprecher einmalig hybrides zircu (F2), ansonsten konstant zirchu (F1, F3, F4). Zusätzlich bildet der Sprecher die hyperkorrekte Form ro[xx]a für sass. rocca: • rocca: una ro[xx]a → la ro[xx]a → la ro[xx]a → una ro[xx]a Für stimmhaftes in algha zu erwartendes [ɣɣ] findet sich kein Beleg, da der Sprecher auf alga rekurriert. Für den im Sassaresischen belegten Italianismus targa produziert der Sprecher, wie zu erwarten, kein [ɣɣ]. Anlautmutation 14 Map Task: Der Sprecher wendet die Anlautmutation nur sehr unregelmäßig an. In folgenden Kontexten ließen sich die Sonorisierung von Okklusiven und des Frikativs [f] nachweisen • nach bestimmtem Artikel: lu gulthellu , lu gabbu (2) , lu bianuforthi , lu bani (2) , lu voggu (2) , lu giodu , lu viore (2) , lu vieno , la gordha (< SASS - SS - 1988m-A ), lu goddu (< SASS - SS -1988m-A ), lu diadru , la vorestha (< SASS - SS -1988m-A ), la bastha , la vorcha (< SASS - SS -1988m-A ), lu viggu , la vine , lu boiparu (2) , lu boipu • nach unbestimmtem femininen Artikel: una gabbra (< SASS - SS -1988m-A : la grabba ) 14 Die Stimmhaftigkeit von / s/ konnte nicht eindeutig festgestellt werden (vgl. Kap. 4.5.1). <?page no="340"?> 340 5 Sprecherprofile • nach Präposition: di bassà • nach vokal. auslautendem Wort (Nomen, Verben, Adjektive, Adverbien, Partikeln, Determinanten, Zahlwörter, Quantifizierer etc.): tandu barthi , la ro[xx]a gosa è ghissa gosa , la ippugna gosa , no’ soggu gosa Ebenso überträgt der Sprecher die Anlautsonorisierung auf einen hierfür untypischen Kontext, nämlich nach Präposition a : a doia . Der Rotazismus von [l] → [r] bleibt aus: la lana (obwohl < SASS - SS -1988m-A : la rana ), ru lenti . Im Falle von vasu zeigt sich keine Mutation von [v] → [b]: ru vasu . Die Lenisierung von [dʒ] → [j] verläuft äußerst unregelmäßig: So erfolgt sie nach bestimmtem Artikel ( lu joggu (2) , lu jiru , r / la jatta (4) , la jattolina ) und nach vokalisch auslautenden Formen ( jossu jossu , okay jossu , tutto jossu , fai jossu , fojossu , fari jossu ). Gleichzeitig erfolgt sie in denselben Kontexten vereinzelt nicht ( tutti giossu , arribi giossu , fari giossu ). Nach Elementen, die das raddoppiamento fonosintattico auslösen, bleibt die Lenisierung, wie zu erwarten, aus ( a giossu (3) ). Nach Pausen (z. B. m: : : (---) giri vs. poi (--) jiri ) und am Äußerungsbeginn (z. B. giossu (-) sì vs. jossu ) zeigt sich beides. Frames (1-4): Da der Sprecher anstelle des unbestimmten Artikels un in den meisten Fällen auf unu rekurriert, lässt sich der Wechsel der Stimmhaftigkeit der Anlautplosive nicht überprüfen. Vereinzelt artikuliert er die Okklusive regelhaft stimmhaft nach unu sowie dem vokalisch auslautenden unbestimmten Artikel una und den bestimmten Artikeln r / lu und r / la : • V+[k]+V → [ɡ] cabbu: unu gabbu → lu gabbu → lu gabbu → unu gabbu ebenso: cultheddu, coddu (F1-F3) • V+[p]+V → [b] palchu: lu balchu → lu balchu → lu balchu → unu balchu ebenso: poipu (F1-F3), pane (F1-F3) • V+[p]+V → [b] pastha: la bastha → la bastha → la bastha → una bastha • V+[t]+V → [d] turtha: una dortha → la dortha → la dortha → una dortha In zahlreichen weiteren Fällen ist die Sonorisierung instabil bzw. bleibt aus: • V+[k]+V → [k/ ɡ] cardhu/ gardhu: unu cardhu → lu gardhu → lu gardhu → unu gardhu • V+[k]+V → [k/ ɡ] cordha: una cordha → la cordha → la cordha → una gordha cartha: una gartha → la cartha → la gartha → una gartha crabba: una cabbra → la gabbra → la cabbra → una cabbra • V+[p]+V → [p / b] peddi: una pelli → la beddi → la belli → una pelli <?page no="341"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 341 • V+[p]+V → [p] padedda: una padedda → la padedda → la padedda → una padedda Der Sprecher unterlässt die Anlautverstimmhaftung insbesondere bei der Verwendung von im Sassaresischen etablierten Italianismen bzw. kognaten Formen: • targa: una targa → la targa → la targa → una targa • giaddu → gallo: un gallu → lu gallu → lu gallu → unu gallu • gianda → ghianda: una ghianda → la ghianda → la ghianda → una ghianda Der Frikativ [f] wird ebenfalls unregelmäßig verstimmhaftet, z. B.: • V+[f]+V → [f / v] foggu: un f / voggu → lu voggu → lu voggu → unu voggu fiori: unu f / viori → lu viori → lu viori → unu viori • V+[f]+V → [f / v] figga-/ -u: unu f / viggu → la figga → lu figgu → un figgu forcha: una forcha → la forcha → la vorcha → una forcha Unregelmäßig ist auch die Anwendung des Prozesses der Anlautmutation in Bezug auf die stimmlose Anlautaffrikate [tʃ]: • V+[tʃ]+V → [tʃ / dʒ] ciodu: un ciodu → lu ciodu → lu giodu → un ciodu Die Lenisierung von [dʒ] → [j] vollzieht der Sprecher lediglich regelhaft für giatta: • V+[dʒ]+V → [j] giatta: una jatta → la jatta → la jatta → una jatta Im Falle von gioggu kommt es zur Übergeneralisierung von [j] in F4: • V+[dʒ]+V → [j] gioggu: unu joggu → lu joggu → lu joggu → un joggu Der Betazismus von V+[v]+V → [b] bleibt aus: • V+[v]+V → [v] vasu: un vasu → lu vasu → lu vasu → unu vasu Den Prozess des Rotazismus von [l] → [r] vollzieht der Sprecher nach bestimmtem Artikel ra lediglich in F1: • V+[l]+V → [r / l] lana: ra rana → la lana → la lana → una lana 5.1.6.3 Synthese SASS - SS -1988m-B Sprecher SASS - SS -1988m-B gab im Rahmen der soziolinguistischen Befragung an, als L1 das Italienische erlernt zu haben und dieses als Primärsprache zu nutzen. Dennoch fühlt er sich hauptsächlich als Sassarese sowie der sassaresischen Sprache verbunden. Innerhalb seiner Familie wende(te)n sich lediglich seine Großeltern mütterlicherseits an ihn auf Sassaresisch. Heutzutage ver- <?page no="342"?> 342 5 Sprecherprofile wendet er das Idiom nur mehr im Kontakt mit Freunden sowie in emotional geprägten Situationen. Er selbst schätzt seine passiven wie aktiven Kenntnisse des Sassaresischen als mittel ein. Er spricht gerne Sassaresisch, das er als schöne und ausdrucksstarke Sprache wahrnimmt, und definiert das Idiom als Bestandteil seiner Identität. Nicht nur der Spracherwerbs- und -verwendungshintergrund legen eine Einteilung des Sprechers als Semisprecher nahe, sondern auch sein verbales und paraverbales Verhalten in der Aufnahmesituation: Das Datenmaterial des Sprechers ist gekennzeichnet durch zahlreiche lange Pausen und Verzögerungssignale, die sich damit erklären lassen, dass der Sprecher mit Wortfindungsschwierigkeiten zu kämpfen hatte. Er ist häufig auf die Hilfestellung des Followers angewiesen, z. B.: SASS - SS -1988m-A de la (--) peddri SASS - SS -1988m-B peddrah SASS - SS -1988m-A di ri breddi Er produzierte vorwiegend kurze Äußerungseinheiten geringer lexikalischer Variation. Häufig integriert er lexikalisches Material italienischen Ursprungs in die sassaresische Matrix und formt es teilweise nach den Ausspracheregeln des Sassaresischen um, z. B.: l’iniziu , la nuvura , lu vieno (it. ,inizio‘, ,nuvola‘, ,fieno‘) anstelle von sass. ischumenzu, nui / nua und fenu. Im Hinblick auf die untersuchten vokalischen Variablen lässt sich Folgendes festhalten: Die Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] ließ sich im Rahmen des Map Tasks und der Frames lediglich anhand der Tokens für das Zielwort poipu überprüfen. Sie erfolgt in allen Fällen. Prothetisches i verwendet der Sprecher im Map Task und in den Frames konstant für (i)schara, ippugna und ischudu. Im Rahmen des Map Tasks produziert der Sprecher die hybride Bildung [ixˈpaɡu] für sass. ippau (s. u.). Im Hinblick auf die untersuchten konsonantischen Variablen ließ sich Folgendes beobachten: Wie für das Sprachverhalten sassaresischer Informanten zu erwarten, artikuliert der Sprecher Formen mit etym. -LLunter Verwendung der alveodentalen Aussprache [dd] anstelle des Retroflexes. Dies trifft auf sämtliche aus dem Map Task sowie den Frames gewonnene Belege zu, die gemäß dem postulierten Ausgangssystem des Sassaresischen [dd] bzw. [ɖɖ] erwarten ließen und nicht über kognate Bezeichnungsformen des Italienischen ausgeglichen wurden. Für cultheddu artikuliert der Sprecher die hybride Form gulthellu . Die Artikulation der lateral-alveolaren Frikative [ɬ] und [ɮ] ist im Ausspracheverhalten des <?page no="343"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 343 Sprechers im Map Task sowie in den Frames sehr stabil. Neben sinisthra (3) und sinistra (2) artikuliert er auch [ɬiˈnistra] (11) mit Metathese von [ɬ]. Als typisches sassaresisches Wort, das ein Fremder, der Sassaresisch erlernen möchte, artikulieren können sollte, nennt der Sprecher „isthanghigliu“ (it. ,tabaccaio‘), das ebenfalls [ɬ] enthält. Neben den lateral-alveolaren Frikativen bewahrt der Sprecher die Aussprache von intervokalischem [xx]. Stimmloses [xx] ist im Rahmen des Map Tasks und der Frames konstant hörbar in den Tokens für (i)schara, ischudu, buschu, forcha, palchu und zirchu (F1, F3, F4). Der Sprecher wendet die Anlautmutation intervokalischer Konsonanten im Rahmen des Map Tasks und der Frames nur sehr unregelmäßig an. Teilweise wird der Mechanismus durch Verwendung des Artikels unu anstelle von un übergeneralisiert, der Prozess wird ausgesetzt bzw. auf unübliche Kontexte übertragen. Die Verstimmhaftung von Okklusiven sowie des Frikativs [f] erfolgt nicht regelmäßig. Der für vasu zu erwartende Betazismus bleibt ebenfalls aus. Die Lenisierung von [dʒ] → [j] zeigt enorme Schwankungen. Auch der Rotazismus ist instabil. Zusätzlich enthält der Datensatz des Sprechers folgende hybride und hyperkorrekte Formen: Im Rahmen des Map Tasks produziert der Sprecher die hybride Bildung [ixˈpaɡu] für sass. ippau. Das Zielwort ippau beinhaltet prothetisches i sowie den Ausfall intervokalischen g -. Zwar bewahrt der Sprecher prothetisches i , erhält aber g wie in der kognaten italienischen Form spago. Denkbar ist hier ein zugrundeliegendes, gemäß der italienischen Basis konstruiertes ispagu mit i vor s-impurum , in dem die Verwendung von [x] nach i -Prothese hyperkorrekt auf den vorliegenden Kontext ausgedehnt wird - möglicherweise in Analogie zu Formen wie (i)schara, ischudu etc. Für cultheddu artikuliert der Sprecher die hybride Form gulthellu , die zwar [ɬ] enthält, jedoch anstelle von dd den Langlateral ll bewahrt (wie ebenfalls die kognate Form des Italienischen coltello). Im Falle von sass. buschu (it. ,bosco‘) kommt es zwischen den beiden am Map Task beteiligten Semisprechern aufgrund einer durch den Sprecher SASS - SS - 1988m-B gebildeten Hybridform zu einem Missverständnis. Im Anschluss an die Produktion von boschu [ˈboxxu] zeigt sich der Follower verwirrt ( lu borchu? ), weshalb der Instructor daraufhin zur Aufklärung auf das italienische bosco rekurriert: SASS - SS -1988m-B eh: : tra (--) la: : lu boschu SASS - SS -1988m-A lu borchu? SASS - SS -1988m-B ((lacht)) bosco <?page no="344"?> 344 5 Sprecherprofile Grund für dieses Missverständnis ist der durch die Artikulation [ˈboxxu] durch den Instructor verursachte lautliche Zusammenfall von buschu (it. ,bosco‘) und porchu (it. ,porco‘). Im intervokalischen Kontext ist die Unterscheidbarkeit dieser beiden Lexeme lediglich durch die Qualität der Haupttonvokale gewährleistet: lu buschu [lu ˈbuxxu] (it. ,il bosco‘) vs. lu borchu [lu ˈboxxu] (it. ,il porco‘). Als Semisprecher des Sassaresischen rekurriert der Sprecher jedoch möglicherweise auf it. bosco - mit [o] im Hauptton - und passt lediglich intervokalisches sc sowie den Auslaut in die sassaresische Lautung ein. Dieses Missverständnis beschäftigt die beteiligten Sprecher sowie die der Situation beiwohnende Informantin SORS - SS -1989w auch noch nach der Aufnahme: SASS - SS -1988m-B un casino (---) bosco com’è? SASS - SS -1988m-A borchu SASS - SS -1988m-B non è porco? SORS - SS -1989w no quello è p: : o: : rchu Hier wird folglich postuliert, dass der Kontrast zwischen buschu und porchu über die Anbzw. Abwesenheit der Stimmhaftigkeit der Anlautverschlusslaute aufrechterhalten wird. Dies ist natürlich zutreffend, jedoch nur solange die Lexeme nicht im postvokalischen Kontext auftreten. Für sass. giaddina produziert der Sprecher die Form la gallina . Auf den dreimaligen Hinweis seines Gesprächspartners hin, dass die Form jaddina lauten müsse, artikuliert der Sprecher gaddina bzw. la gaddina . Der Sprecher übernimmt folglich den durch seinen Spielpartner bereits artikulierten Langdental dd anstelle von ll -, allerdings bleibt der Anlaut (- am Äußerungsbeginn ist mit [dʒ] zu rechnen, nach bestimmtem Artikel la mit [j] -) unverändert [ɡ]. SASS - SS -1988m-A ( ) una jaddina SASS - SS -1988m-B vabbè (--) v’è una: : la gallina? SASS - SS -1988m-A sì (-) la jaddina SASS - SS -1988m-B ah: : gallina (-) ah okay okay (---) sobbra la gallina SASS - SS -1988m-A jaddina SASS - SS -1988m-B gaddina (--) tra la gaddina e l’i: : spagu In F2 produziert der Sprecher für sass. zirchu die hybride Form zircu [ˈdzirku], die sich als Kompromiss aus dem sassaresischen Anlaut in zirchu [ˈdzixxu] und dem italienischen Konsonantennexus rc in circo [ˈtʃirko], interpretieren lässt: <?page no="345"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 345 • zirchu: un zirchu → lu zeh zircu → il zirchu → un zirchu Zusätzlich enthält das Datenmaterial des Sprechers folgende hyperkorrekte Bildungen: Für sass. predda konstruiert der Sprecher im Rahmen der Frames auf der Basis der it. Entsprechung rocca die Form [ˈroxxa]. Es handelt sich um eine hyperkorrekte Lautübertragung, da etym. -[kk]gewöhnlich nicht zu [xx] assimiliert wird. In F4 artikuliert der Sprecher für die Zielwörter poipu, pani und coddu überraschenderweise Formen mit prothetischem i : un ippoipu , un ippane , un iccollu . Eine lexikalisch-basierte Hyperkorrektur ist die Form jalla in dem Nominalsyntagma la jatta jalla . Der Sprecher scheint hier auf it. giallo anstelle von sass. grogu zurückzugreifen. Den Lenisierungsmechanismus von [dʒ] → [j] überträgt er folglich auf it. giallo. Des Weiteren kann von einer Regelaktivierung in folgenden Fällen gesprochen werden: Während der Sprecher im Rahmen des Map Tasks einmalig gulthellu artikuliert, produziert er in den Frames konstant gultheddu (F1-F4). 5.1.7 SASS - VS / RS -1950w 5.1.7.1 Soziolinguistisches Sprecherprofil Geschlecht Geburtsjahr Geburtsort/ Wohnsitz Beruf angestammte Sprache Sprachniveau w 1950 Sassari / Sassari Hausfrau Sassaresisch Vollsprecher; Rusty Speaker Die Eltern der Befragten stammen beide aus Sassari. Die Informantin gibt an, Familienangehörige außerhalb des sassaresophonen Sprachraumes zu haben; sie selbst lebte jedoch nie an einem anderen Ort. Sie ist verheiratet und hat Kinder. Ihr Ehemann stammt ebenfalls aus Sassari. Die Sprecherin gibt an, sich insbesondere Sardinien und Italien eng verbunden zu fühlen. Sprachkenntnisse (Selbsteinschätzung) Italienisch: aktiv und passiv hoch L1 neben dem Sassaresischen und Primärsprache Sassaresisch: aktiv niedrig bis mittel / passiv mittel bis hoch L1 neben dem Italienischen und Sekundärsprache Logudoresisch: keine Kenntnisse <?page no="346"?> 346 5 Sprecherprofile Kontext des Spracherwerbs: Sassaresisch und Italienisch Die Informantin gibt an, das Sassaresische (zuhause und im Kontakt mit Freunden) und das Italienische (mit Freunden und durch die Schulbildung) parallel erlernt zu haben. Ihre Großeltern väterlicherseits und mütterlicherseits sowie ihre Eltern spre/ - (a)chen Sassaresisch untereinander. Innerhalb der Familie spre/ (a)chen ihre Eltern mit ihr Sassaresisch. Allerdings verwendet/ (e) ihre Mutter im Gespräch mit ihr zusätzlich das Italienische. Die Kommunikation mit ihren Geschwistern ist seit jeher italienischsprachig geprägt. In ihrer Kindheit wurde im schulischen Umfeld nicht auf das Sassaresische zurückgegriffen, auch nicht unter den Schülern. Kenntnis und aktueller Gebrauch der Idiome sowie Begründung Die Sprecherin gibt an, lediglich im Kontakt mit Freunden das Sassaresische zu gebrauchen. Obwohl ihr Ehemann ebenfalls aus der Stadt stammt und Sassaresisch spricht, verwenden sie untereinander lediglich das Italienische. Mit ihren Kindern und Enkeln spricht sie gelegentlich bis nie Sassaresisch. In Geschäften, auf dem Markt, an der Universität, auf Ämtern sowie im Kontakt mit fremden Sarden greift sie niemals auf das Sassaresische zurück. In emotional geprägten Situationen sowie zum Zählen gebraucht sie lediglich das Italienische. Sie selbst schätzt ihre aktiven Kenntnisse als niedrig und ihre passiven Kenntnisse des Sassaresischen als mittel ein. Sie gibt an, Sassaresischsprecher jeden Alters zu verstehen. Laut ihrer Aussage passiert es ihr nicht, dass sie das Sassaresische und Italienische mischt. Sprecher des Sassaresischen wenden sich an sie auf Italienisch, „perché parlo italiano“. Sie kann sich nicht daran erinnern, für die Verwendung des Sassaresischen jemals kritisiert worden zu sein. Mediennutzung Die Sprecherin gibt an, dass das Sassaresische / Sorsesische gelegentlich im Fernsehen, jedoch nie im Radio präsent ist. Sie hat nie Schriftstücke in sassaresischer Sprache gelesen, hätte hieran jedoch Interesse, gäbe es mehr Texte. Sie hört gelegentlich sassaresische Musik und hat nie versucht, das Sassaresische schriftlich zu verwenden. <?page no="347"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 347 Identität und Einstellung zum Italienischen, Sassaresischen und Sorsesischen Die Sprecherin gibt an, sich in gleichem Maße als Italienerin, Sardin und Sassaresin zu fühlen. Sie fühlt sich dennoch primär der italienischen Sprache verbunden. Das Sassaresische ist laut ihrer eigenen Angabe Teil ihrer Identität und sie bemerkt, gerne Sassaresisch zu sprechen. Es bestünde kein Unterschied zwischen Sassarese, Sorsese, Sarde oder Italiener zu sein. Sie gibt an, das Sassaresische als schönes und ausdrucksstarkes Idiom wahrzunehmen, das für Fremde nicht schwer zu erlernen sei. Dass Kinder den Lokaldialekt erlernen, ist der Sprecherin wichtig und sie befürwortet die Einführung des Sassaresischen an den Schulen. Die Informantin geht davon aus, dass das Sorsesische vitaler ist als das Sassaresische Sassaris, „perché in famiglia si parla italiano“. Sie sieht das Sassaresische durch das Italienische bedroht und nimmt an, dass das Idiom eines Tages aussterben wird. Die Mundart Sorsos schätzt sie hingegen nicht als bedroht ein. Laut ihrer Aussage hätte das Aussterben des Sassaresischen dennoch nicht den Verlust der sassaresischen Identität zur Folge. Sie selbst engagiert sich für den Erhalt des Idioms, „parlandolo“. Sie bezeichnet das Sassaresische als „allegro“. Von Vorteil sei das Sprechen des Sassaresischen „per le tradizioni“ und des Italienischen, da es „[…] la lingua nazionale“ ist. Das Italienische solle das Sassaresische laut ihrer Aussage in allen Kommunikationssituationen ersetzen. Ortsgebundenheit Die Befragte gibt an, gerne in Sassari zu leben und sich Sassari verbunden zu fühlen. Sassaresin zu sein, bedeutet für sie, „seguire le tradizioni“. Die Stadt verlassen zu müssen, würde ihr schwer fallen. Auch der Großteil ihrer Familie und ihrer Freunde lebt in Sassari. Einkäufe und Freizeitaktivitäten erledigt sie vor Ort. Sie interessiert sich für Neuigkeiten und aktuelle Veranstaltungen in der Stadt („i Candelieri“), ist aber in keinem lokalen Verein aktiv. Der Zuzug von Menschen, die den Lokaldialekt nicht sprechen, stört sie nicht. Die Frage, ob man Sassarese sein könne ohne Sassaresisch zu sprechen, bejaht die Sprecherin, denn dies sei allein schon möglich „per il luogo di nascita“. Für Sprecher anderer Idiome, die ihren Wohnort nach Sassari verlegen, sei es „non necessariamente“ zwingend, das Sassaresische zu erlernen. <?page no="348"?> 348 5 Sprecherprofile Charakteristika des Sassaresischen / des Sorsesischen Die Befragte gibt an, die Lautung des Sassaresischen nicht zu mögen, denn es sei „un po’ volgare“. Die authentischste Aussprache spricht sie älteren Sprechern („gli anziani“) zu. Sie bemerkt, dass sich diese von Generation zu Generation unterscheidet aufgrund der „vocaboli diversi“. Die Frage, ob das Sassaresische schöner klinge als das Sorsesische, bejaht sie, denn Sorsesen „parlano troppo a cantilena“. Die Sprache hätte sich im Laufe der Jahre unter dem Einfluss des Italienischen verändert („italianizzato“). Sie hat nicht den Eindruck, Sassaresischkenntnisse durch den Nicht-Gebrauch der Sprache zu vergessen. In anderen Teilen Sardiniens wird sie als Sassaresin erkannt. Sorsesen werden, so bezeugt die Befragte, „per la cadenza“ in Sassari als Sorsesen identifiziert. Auch Sprecher der Stadtvarietät fallen in Sorso „per la cadenza“ auf. Auf die Frage nach der Sprachherkunft bzw. -verwandtschaft antwortet die Informantin: „è una varietà del sardo“. Typische Laute des Sassaresischen / Sorsesischen „ SCI “ Unterschiede des Sassaresischen zum Sorsesischen - Laute, die ein Sassarese / Sorsese aussprechen können sollte „ STHU “ Wörter, die ein Fremder, der Sassaresisch / Sorsesisch lernen möchte, aussprechen können sollte - Als „schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Als „nicht schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Bekannte Ausspracheregeln des Sassaresischen / Sorsesischen in Gegenüberstellung zum Italienischen - 5.1.7.2 Sprachdaten Map Rollen Frames Nr. 2 Instructor SASS - VS / RS -1950w F1-F4 Follower SASS - VS / RS -1947m <?page no="349"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 349 5.1.7.2.1 Vokalische Phänomene Vokalisierung Map Task: Zur Überprüfung der Anbzw. Abwesenheit der Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] finden sich im Datensatz der Sprecherin keine Untersuchungsmöglichkeiten. Für sass. cuiva rekurriert sie auf curva (4) . Frames (1-4): Die Sprecherin produziert • coibu: - → lu goivu → lu goivu → un coivu • veippa: una vespa → la vespa → la vespa → una vespa • veimmi / u: un vemmu → lu veimmu → lu vemmu → un verme Die Sprecherin zeigt in ihrem Sprachverhalten die Vokalisierung von -Rvor -Vin den Tokens für coibu, allerdings nur unregelmäßig in den Nennungen für veimmi / u: hier findet sich lediglich ein Einzelbeleg mit Vokalisierung ( veimmu , F2). Für veippa produziert die Sprecherin konstant vespa . i-Prothese Map Task: Im Rahmen des Map Tasks artikuliert die Sprecherin die Formen l’ischumenzu und l’ischobburu (2) (< SASS - VS / RS -1947m ) mit prothetischem i . Anstelle der sassaresischen Bezeichnungsformen ischarrigu und ippau verwendet sie die italienischen Entsprechungen uno scarico (2) und uno spago . Die für das Zielwort ippiegà vorhandenen Tokens è / soggu piegendo (2) zeigen kein prothetisches i . Frames (1-4): Die Sprecherin produziert • ippadda: una ippadda → la ippadda → la ippadda → un’ippadda • ischobburu: un ischobburu → l’ischobburu → l’ischobburu → un ischobburu • ippada: - → la spada → la ippada 15 → un’ippada • (i)schora: un’ischora → l’ischora → l’ischora → un’ischora Die Sprecherin verwendet prothetisches i in allen Fällen regelmäßig. Lediglich für das Zielwort ippada kommt es einmalig zur Nennung spada (F2). 15 F3 ippada: la la la spla la ippada (-) ha ru numaru vintunu . <?page no="350"?> 350 5 Sprecherprofile 5.1.7.2.2 Konsonantische Phänomene Retroflex Map Task: Im Datensatz der Sprecherin finden sich lediglich sehr wenige Tokens, die zur Überprüfung der retroflexen bzw. alveodentalen Artikulation herangezogen werden können. In allen Nennungen ( cabaddi (3) , nudda , eddu ) realisiert die Sprecherin ausschließlich alveodentales [dd]. Frames (1-4): Die Sprecherin produziert in allen Tokens der Zielwörter ippadda, padedda (F1, F2, F4) und cabaddu ausschließlich alveodentales [dd]. • ippadda: una ippadda → la ippadda → la ippadda → un’ippadda • padedda: una badedda → ra badedda → - → una badedda • cabaddu: un cabbu di gabaddu → lu gabaddu → lu gabaddu → un cavaddu Im Hinblick auf die Zielwörter castheddu und sedda rekurriert die Sprecherin auf das italienische castello und sella , die etym. -LLbewahren. Im Falle von castheddu kommt es einmalig (F3) zu einer hybriden Zwischenform (s. u.): • castheddu: un castello → ru castello → lu gasthellu → un castello • sedda: una sella → la sella → ra sella → una sella Den Italianismus camellu unterzieht die Sprecherin keiner hyperkorrekten Aussprache. Sie artikuliert stets ll in c / gamello : • camellu: un camello → lu camello → lu gamello → un camello Lateral-alveolare Frikative Map Task: Die Sprecherin artikuliert im Rahmen des Map Tasks ausschließlich Nennungen, die zur Überprüfung des stimmlosen lateral-alveolaren Frikativs [ɬ] herangezogen werden können. Sie beherrscht die Artikulation von [ɬ], greift auf diese jedoch nur sehr unregelmäßig zurück. In sämtlichen Tokens für chisthu (2) und casthagna (5) ist [ɬ] stabil. Hochfrequentes sinisthra (4) produziert sie neben sinistra (3) . Neben althra findet sich die Form altro . Für das Zielwort giosthra findet sich einmalig die Nennung giostra (< SASS - VS / RS -1947m ). Frames (1-4): Die Sprecherin produziert • cordha: una gordha → la corda → la gordha → una gordha • castheddu: un castello → ru castello → lu gasthellu → un castello • gardhu: un calun cardhu → lu gardhu → lu gardhu → un cardhu • filt(h)ru: un filtro → lu viltro → lu viltru → un filtro • lardhu: unu rardhu → lu rardhu → lu rardhu → un lardhu • giosthra: la giostra → la giostra → la giostra → una giostra <?page no="351"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 351 • Einzelnennung (F3) quattordhizi: guattordhizi • Einzelnennung (F4) soldhu: un soldhu Die Sprecherin artikuliert im Rahmen der Carrier phrases lediglich einmalig den stimmlosen lateral-alveolaren Frikativ [ɬ] in der Hybridform gasthellu (F3). Die in giosthra zu erwartende, stimmlose lateral-alveolare Friktion bleibt aus. Gleiches gilt für filt(h)ru. Stimmhaftes [ɮ] artikuliert die Sprecherin in den Tokens für cordha (nicht F2), gardhu, lardhu und den Einzelnennungen für quattordhizi und soldhu. Velare Frikative Map Task: Den aus etym. L, R, S + C entstandenen velaren Frikativ [xx] artikuliert die Sprecherin in den Tokens ischumenzu , ischobburu (2) (< SASS - VS / RS-1947m ), ca[xx]e (2) und p / borchu (2) (< SASS-VS / RS-1947m ). In Anschluss an einen Redebeitrag ihres Gesprächspartners produziert sie ebenso wie dieser barca anstelle von barcha. Anstelle der sassaresischen Bezeichnungsform ischarrigu verwendet sie die italienische Entsprechung scarico (2) . Frames (1-4): Die Sprecherin produziert • barcha: una barcha → la barcha → la barcha → una barcha • algha: un’alga → r’alga → l’alga → un’alga • moscha: una moscha → la moscha → la moscha → una moscha • ischobburu: un ischobburu → l’ischobburu → l’ischobburu → un ischobburu • targa: una ta[rɡ]etta → ra darga → la darga → una darga • (i)schora: un’ischora → l’ischora → l’ischora → un’ischora • porchu: un porchu → lu borchu → lu borchu → un porchu Auch im Rahmen der Frames artikuliert die Sprecherin regelmäßig stimmloses [xx] nach prothetischem i in ischobburu und (i)schora sowie in den Tokens für barcha, moscha und porchu. Die Belege für algha weisen kein [ɣɣ] auf. Im Falle von targa bewahrt die Sprecherin, wie für den Italianismus zu erwarten, den intervokalischen Nexus rg -. Anlautmutation 16 Map Task: Die Sprecherin wendet die Anlautmutation nur sehr unregelmäßig an. In folgenden Kontexten ließen sich die Anlautsonorisierung von Okklusiven und des Frikativs [f] nachweisen. 16 Die Stimmhaftigkeit von / s/ konnte nicht eindeutig festgestellt werden (vgl. Kap. 4.5.1). <?page no="352"?> 352 5 Sprecherprofile • nach bestimmtem Artikel: la bianta (< SASS - VS / RS -1947m ), ru bugnari (< SASS - VS / RS -1947m ), lu brufissori (2) (< SASS - VS / RS -1947m ), la giabi (2) , lu borchu , lu bercorso , lu gani (2) (< SASS - VS / RS -1947m ), la gasthagna (4) • nach unbestimmtem femininen Artikel: una vemmina (2) , una giabi • nach Präpositionen: di ghistha / u (2) • nach vokal. auslautendem Wort (Nomen, Verben, Adjektive, Adverbien, Partikeln, Determinanten, Zahlwörter, Quantifizierer etc.): un po’ gosì , andi gussì , eu gannàu non aggiu (< SASS-VS / RS-1947m : ghissu gannàu ), devi guntinuà (2) , l’hai du (2) , sempre guntinuà , devi guntinuà , ghistha riga ghi , ghisthu dracciattu , vi bassi (2) , dabboi gosa , di dama bari ghistha , continui gosì , devi và (2) , lu bercorso gussì , azza vinza , un tacchino bari , un giro gussì , arrivi vinza , tuttu vattu (< SASS - VS / RS -1947m ) In zahlreichen Fällen bleibt die Anlautmutation hingegen aus. Dies betrifft wiederum die Sonorisierung ( li cabaddi (2) , la panchina (2) , una cosa , la casthagna , di calice , devi continuare , sempre finza ) sowie auch die Lenisierung von [dʒ] → [j] ( devi girà , la girando , da la rodda gira ) und den Rotazismus ( la lavagna , una lente (3) , di lavandino ). Formen mit ausbleibender Anlautmutation sind vorwiegend solche, die in italienischbasierte Äußerungskontexte eingebettet sind, wie z. B. uno scarico di lavandino , una specie di di di di di calice forse , va bene (-) la panchina v’ha a l’interno . Die Sprecherin unterlässt zusätzlich, wie zu erwarten, die Sonorisierung anlautender Konsonanten nach Konsonant (z. B. un pizoni ), nach Elementen, die das raddoppiamento fonosintattico bedingen ( a fianco , e continui , ca[xx]e cosa (2) , se pari ), am Äußerungsbeginn und nach Pausen ( giri intorno a la gasthagna , (-) passa intorno ) sowie in Italianismen ( una giostra , < SASS - VS / RS -1947m ). Frames (1-4): Die Sprecherin unterlässt, wie zu erwarten, die Anlautmutation für mit Okklusiv anlautende Kontexte nach unbestimmtem maskulinen Artikel un , verstimmhaftet diese jedoch nicht im Bereich aller Zielwörter nach dem vokalisch auslautenden unbestimmten Artikel una sowie den bestimmten Artikeln r / lu und r / la . Regelmäßig verläuft der Mechanismus in folgenden Fällen: • V+[k]+V → [ɡ] cabbu: un cabbu → lu gabbu → lu gabbu → un cabbu ebenso: coibu, cabaddu, cani • V+[p]+V → [b] porchu: un porchu → lu borchu → lu borchu → un porchu ebenso: pesciu • V+[p]+V → [b] padedda: una badedda → ra badedda → - → una badedda Für das sassaresische Zielwort gardhu scheint die Sprecherin die Form cardhu anzusetzen, die sie dann der Anlautsonorisierung von [k]→ [ɡ] unterzieht. • gardhu: un calun cardhu → lu gardhu → lu gardhu → un cardhu <?page no="353"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 353 Sehr viel uneinheitlicher ist die Verstimmhaftung jedoch, sobald die Sprecherin neben sassaresischen Formen auch auf kognate Bezeichnungen des Italienischen rekurriert. In diesen Fällen ist die Anlautsonorisierung schwankend bzw. bleibt aus: • V+[k]+V → [k/ ɡ] camellu: un camello → lu camello → lu gamello → un camello castheddu: un castello → ru castello → lu gasthellu → un castello • V+[k]+V → [k/ ɡ] cordha: una gordha → la corda → la gordha → una gordha crabba: una gabretta → la capretta → la capretta → una capretta • V+[p]+V → [p / b] pappagallo-(it.) 17 : un pappagallo → lu pappagallo → lu bappagallo → un pappagallo Auch im Falle von targa / targhetta unterlässt die Sprecherin die Sonorisierung zunächst (F1 vs. F2-4). • V+[t]+V → [t / d] targa: una ta[rɡ]etta → ra darga → la darga → una darga Die Sprecherin unterzieht auch den stimmlosen Frikativ [f] einer deutlich hörbaren Sonorisierung, z. B.: • V+[f]+V → [v] foggu: un foggu → lu voggu → lu voggu → un fuoun un foggu ebenso: filt(h)ru • V+[f]+V → [v] figga: una vigga → la vigga → la vigga → una vigga Der Prozess [v] → [b] zeigt sich nicht: • V+[v]+V → [v] veimmi / u: un vemmu → lu veimmu → lu vemmu → un verme • V+[v]+V → [v] veippa: una vespa → la vespa → la vespa → una vespa Sehr regelmäßig vollzieht die Sprecherin den Prozess der Anlautmutation auch in Bezug auf stimmlose Anlautaffrikaten, z. B.: • V+[tʃ]+V → [dʒ] ciodu: un ciodu → lu giodu → lu giodu → un ciodu • V+[tʃ]+V → [dʒ] ciabi: una giavi → la giavi → ra giabi → una giabi Im Bereich der Lenisierung von [dʒ] → [j] zeigt das Ausspracheverhalten der Sprecherin für die Zielwörter gioggu und gesgia Schwankungen: 17 Sass. pappagàgliu, pappagàgliuru. <?page no="354"?> 354 5 Sprecherprofile • V+[dʒ]+V → [j] gioggu: unu joggu → lu joggu → lu joggu → un joggu • V+[dʒ]+V → [j] gianna: una janna → la janna → la janna → una janna • V+[dʒ]+V → [j] gesgia: una gesgia → la jesgia → la jesgia → una jesgia Im Hinblick auf gioggu scheint die Sprecherin den in F1 und F4 geforderten Anlaut [dʒ] umgehen zu versuchen, weshalb sie in F1 auf den Artikel unu zurückgreift, um [dʒ] in einen intervokalischen Kontext einzubetten. In F4 artikuliert die Sprecherin un joggu , obwohl die lautlichen Bedingungen aufgrund des konsonantischen Auslautes von un für die Lenisierung nicht gegeben sind. Für gesgia unterlässt die Sprecherin zunächst die Lenisierung ( una gesgia F1), nimmt sie dann aber regelmäßig vor (F2-F4). Die Sprecherin unterlässt, wie für das Sassaresische zu erwarten, die Lenisierung von mit [dʒ] anlautenden Italianismen: • V+[dʒ]+V → [dʒ] giosthra: la giostra → la giostra → la giostra → una giostra Den Rotazismus von [l] → [r] vollzieht die Sprecherin regulär im zwischenvokalischen Kontext. • V+[l]+V → [r] lardhu: unu rardhu → lu rardhu → lu rardhu → un lardhu In F1 greift die Sprecherin auf den Artikel unu zurück, wodurch sie optimale Bedingungen für den Rotazismus von [l] → [r] schafft. 5.1.7.3 Synthese SASS - VS / RS -1950w Sprecherin SASS - VS / RS -1950w muss aus heutiger Sicht als Rusty Speaker klassifiziert werden. Obwohl sie das Italienische und das Sassaresische parallel erlernte und ursprünglich innerhalb der engsten Angehörigen der Familie, aus der sie stammt, auf das Sassaresische zurückgegriffen wurde, zeichnete sich bereits in ihrer Generation, d. h. in der Kommunikation mit ihren Geschwistern, eine sukzessive Ausweitung des Verwendungsradius des Italienischen ab. Es ist daher anzunehmen, dass die Sprecherin ursprünglich Vollsprecherniveau erlangt hatte, durch die allmähliche Sprachverschiebung hin zum Italienischen jedoch immer weniger Anwendungskontexte des Sassaresischen gewährleistet waren. Verstärkt wurde der Prozess des ,Einrostens‘ durch die spätere, fast komplette Abwahl des Sassaresischen als Sprache der eigenen, neu-gegründeten Familie: Obwohl ihr Ehemann selbst Sassaresischsprecher ist, sprechen beide Partner untereinander vorzugsweise auf Italienisch (vgl. Kap. 1.4.2.3). Gleiches gilt für die Kommunikation mit den gemeinsamen Kindern. Im Rahmen der soziolinguistischen Befragung gab sie an, sich eng mit Sassari und der sassaresischen Kultur verbunden zu fühlen und sie als festen Bestand- <?page no="355"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 355 teil ihrer Identität wahrzunehmen. Auch wenn sie sich primär der italienischen Sprache verbunden fühlt, betont sie, dennoch gerne Sassaresisch zu sprechen und das Sassaresische als ausdrucksstarkes und schönes Idiom wahrzunehmen. Die Sprecherin selbst schätzt ihre aktuellen aktiven Kenntnisse des Sassaresischen als niedrig ein. Metakommentare, die vor der eigentlichen Aufnahme geäußert wurden, unterstreichen dies. Sie bedauert, sich an zahlreiche Bezeichnungen nicht erinnern zu können: „i soldi“, „i soldi“ come si dicono „i soldi“? sa che non me lo ricordo (--) ah „li dinà“, „li dinà“ sì adesso me lo sto ricordando, „li dinà“ […] aspetta aspetta che tante cose non le ricordo (--) ma le devo sempre dire in sassarese? […] „la corda“ come si dice? […] tante cose non me le ricordo proprio […] figurati come si dice „capra“? Dennoch ist der Umgang der Sprecherin mit der sassaresischen Sprache als selbstbewusst zu bezeichnen. Sie spricht mit lauter Stimme und relativ hoher Sprechgeschwindigkeit. Kurzzeitig ärgert sie sich über die Ungeduld ihres Spielpartners und drückt dies unter Verwendung des Sassaresischen aus ( no’ si vazi con eddu ). Im Ausspracheverhalten der Sprecherin zeigen sich enorme Schwankungen und ein paar hybride bzw. hyperkorrekte Bildungen. Neben dem Erhalt typischer sassaresischer Formen kommt es in zahlreichen Fällen zu lexikalischen Ausweichungen auf italienische Entsprechungen, die nicht in die sassaresische Lautung eingepasst werden. Im Hinblick auf die untersuchten vokalischen Variablen lässt sich folgendes festhalten: Die Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] ließ sich lediglich anhand weniger Tokens überprüfen und erfolgte uneinheitlich. Während für cuiva und veippa auf kognate Entsprechungen des Italienischen rekurriert wurde ( curva , vespa ), ist [j] lediglich in den im Rahmen der Frames (F2-F4) erhaltenen Nennungen für coibu konstant präsent. Das Zielwort veimmi / u wird nur einmalig (F2) mit erhaltener Vokalisierung geäußert. Prothetisches i ist in den Tokens der mit [xx] anlautenden Zielwörter stabil (ischumenzu, ischobburu, (i)schora). Vor [p(p)] potenziell zu erwartendes prothetisches i ist lediglich konstant in den Nennungen für ippadda, nicht jedoch für ippiegà. Die Zielwörter ischarrigu, ippau und ippada werden über italienische Entsprechungen (scarico, spago, spada) ausgeglichen. Im konsonantischen Bereich zeigt die Sprecherin in ihrer Aussprache das Ausbleiben der retroflexen Artikulation [ɖɖ], die, wie für das Sassaresische Sassaris in der Forschung bereits bekannt, häufig in die alveodentale Realisierung [dd] übergegangen ist. Dies betrifft sämtliche Tokens für cabaddu, nudda, eddu, ippadda und padedda. Im Hinblick auf die Zielwörter castheddu und sedda rekurriert die Sprecherin auf die Formen castello und sella . <?page no="356"?> 356 5 Sprecherprofile In Kontexte, die die Artikulation lateral-alveolarer Frikative erwarten lassen, zeigen sich im Ausspracheverhalten der Sprecherin große Schwankungen. Die Sprecherin beherrscht die Artikulation von [ɬ] bzw. [ɮ], greift auf diese jedoch nur sehr unregelmäßig zurück: So finden sich Tokens desselben Zielwortes mit konstanter Realisierung des Frikativs (chisthu, casthagna, gardhu, lardhu), Nennungen mit und ohne Anwesenheit von [ɬ] bzw. [ɮ] (sinisthra, althru, cordha) und Formen, die konsequent ohne [ɬ] bzw. [ɮ] (castheddu → castello, filt(h)ru, giostra) artikuliert werden. Die Anwesenheit des aus etym. L, R, S + C entstandenen velaren Frikativs [xx] ist sehr stabil. Dies betrifft Tokens der Zielwörter mit i -Prothese (ischumenzu, ischobburu, (i)schora) sowie calche / i, porchu und moscha. Für barcha realisiert die Sprecherin im Rahmen des Map Tasks einmalig barca - ebenso wie ihr Gesprächspartner kurz zuvor. Im Rahmen der Frames produziert sie konsequent barcha . Stimmhaftes [ɣɣ] artikuliert die Sprecherin nicht: Die Belege für algha weisen den Nexus lg auf. Im Falle von targa bewahrt die Sprecherin, wie für den Italianismus zu erwarten, den intervokalischen Nexus rg -. Die Sprecherin gab im Rahmen der soziolinguistischen Befragung an, „ SCI “ als typischen Laut des Sassaresischen wahrzunehmen. Zu den Lauten, die ein Sprecher des Sassaresischen artikulieren können sollte, zählt sie „ STHU “. Die Sprecherin zeigt im Rahmen des Map Tasks keine konsequente Anwendung der Anlautmutation, sondern starke Unregelmäßigkeiten. Tendenziell nimmt sie in italienischbasierte Phrasen integrierte Zielwörter von der Anlautmutation aus. Ebenso zeigen sich keine Versuche der hyperkorrekten Ausweitung der Regel. Ähnliches trifft für die im Rahmen der Frames geäußerten Tokens zu: Sobald die Sprecherin auf kognate Formen des Italienischen rekurriert, werden diese nicht nach den Regeln der sassaresischen Phonologie adaptiert. Während die Sprecherin jedoch im Rahmen des Map Tasks auf die Ausführung der Lenisierung und des Rotazismus verzichtet - wohl bedingt durch die italienische Umgebung -, sind die Prozesse in den Tokens stabil, die in die sassaresischsprachigen Frames eingebettet wurden. Zudem zeigen sich im Ausspracheverhalten der Sprecherin mehrere hybride und hyperkorrekte Bildungen, darunter folgende: Für veimmi / u verwendet die Sprecherin in F1 und F3 die hybride Form vemmu . Zwar bleibt die Vokalisierung von -Rvor -Maus, allerdings kommt es zur Assimilation des Vibranten an den Nasal bzw. zum Ausfall vokalisierten -R-, so dass eine intervokalische Langkonsonanz das Ergebnis ist. • veimmi / u: un vemmu → lu veimmu → lu vemmu → un verme Da die Sprecherin im Rahmen der Frames anstelle des Zielwortes gardhu eine mit stimmlosem Verschlusslaut anlautende Form ansetzt, kommt es in F1 und <?page no="357"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 357 F4 zu der Hybridbildung cardhu . Dass die Sprecherin unschlüssig im Gebrauch der Form ist, zeigt ihr anfängliches Zögern: • F1 gardhu: veggu un: : (-) un calun cardhu (--) i ra tabella Eine weitere Hybriderscheinung ist die für castheddu in F3 geäußerte Form gasthellu , während die Sprecherin in allen anderen Fällen (F1, F2, F4) auf castello rekurriert. In der Bildung gasthellu zeigt sich die Artikulation des lateral-alveolaren Frikativs [ɬ(t)] sowie der Anlautsonorisierung. Die für das Sassaresische bezeugte Aussprache von [dd] für etym. -LLbleibt jedoch aus. Für sass. pesciu findet sich unerwarteterweise einmalig die Form beisciu [ˈbɛj(ʃ)ʃu] (F2) mit Einschub von [j] vor [(ʃ)ʃ]. Dieses „ i di passaggio“ (Maxia 2012: 85) ist ursprünglich als Übergangslaut vor velaren Frikativen sowie vor oder nach palatalisiertem [ɲ], [ʎ] und präpalatalem [dʒ] bezeugt und insbesondere für die Aussprache des Sorsesischen beobachtet worden. Als hyperkorrekt kann die Lenisierung von [dʒ] → [j] in den Tokens (F1, F4) für gioggu interpretiert werden: unu joggu (F1), un joggu (F4) anstelle von gioggu. Im Verlauf der Aufnahme wurde schnell deutlich, dass die Sprecherin in zahlreichen Fällen eine Anlaufphase benötigt, um ,eingerostetes‘ sassaresisches Wortmaterial und die daran geknüpften Ausspracheregeln des Sassaresischen zu reaktivieren. So artikuliert sie im Rahmen des Map Tasks ebenso wie ihr Spielpartner kurz zuvor die Form barca . In den Frames verwendet sie dann konsequent barcha : • barcha: una barcha → la barcha → la barcha → una barcha Der Großteil der im Rahmen des Frames 1 entstandenen Äußerungen ist geprägt durch lange Pausen, Wortabbrüche und Stocken der Sprecherin, z. B. • ippadda: veggu: : : (--) una ippadda (--) i ra tabella • moscha: veggu una: : (--) una moscha (-) i ra tabella • porchu: veggu un: : (--) un porchu (-) i ra tabella Ein beispielhafter Fall ist das Zielwort ippada, für das die Sprecherin zunächst la spada artikuliert. • F2 ippada 18 : veggu ra: : la spada (-) i ra tabella Anschließend zeigt sich im Sprachverhalten der Sprecherin der Versuch des Wiederfindens der sassaresischen Entsprechung: 18 F1 pugnari . <?page no="358"?> 358 5 Sprecherprofile • F3 ippada: la la la spla la ippada (-) ha ru numaru vintunu In F4 zeigt sich das Wortfindungsproblem nicht mehr: • F4 ippada: un’ippada e una tabella Ebenso verhält es sich im Hinblick auf das Zielwort predda: • F2 predda 19 : veggu la be- (-) la b- (--) la beddra (-) la bela la la beddra (--) i ra tabella • F3 predda: la bredda ha ru numaru dredizi • F4 predda: una beuna bredda è i ra tabella Zu diesen warm-up -Phänomenen zählen u. a. auch wenige Beispiele der Anlautmutation, die in folgenden Fällen erst ab F2 regelhaft angewandt wird: • V+[t]+V → [t / d] targa: una ta[rɡ]etta → ra darga → la darga → una darga • V+[dʒ]+V → [j] gesgia: una gesgia → la jesgia → la jesgia → una jesgia 5.1.8 SASS - VS / RS -1947m 5.1.8.1 Soziolinguistisches Sprecherprofil Geschlecht Geburtsjahr Geburtsort/ Wohnsitz Beruf angestammte Sprache Sprachniveau m 1947 Sassari / Sassari Pensionär Sassaresisch Vollsprecher; Tendenz Rusty Speaker Die Eltern des Befragten stammen beide aus Sassari. Er hat keine Familienangehörigen, die außerhalb des sassaresophonen Sprachraumes leben; er selbst verbrachte acht Jahre in der Toskana. Er ist verheiratet und hat Kinder. Seine Ehefrau stammt ebenfalls aus Sassari. Der Befragte gibt an, sich insbesondere Sardinien und Italien eng verbunden zu fühlen. Sprachkenntnisse (Selbsteinschätzung) Italienisch: aktiv und passiv hoch L1 und Primärsprache Sassaresisch: aktiv mittel / passiv mittel L2 und Sekundärsprache Logudoresisch: keine Kenntnisse Kontext des Spracherwerbs: Sassaresisch und Italienisch 19 F1 massa . <?page no="359"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 359 Der Befragte gibt an, zunächst das Italienische (zuhause und im Kontakt mit Freunden) und erst anschließend das Sassaresische (zuhause und im Kontakt mit Freunden) erlernt zu haben. Seine Großeltern väterlicherseits und mütterlicherseits sowie seine Eltern spre/ (a)chen Sassaresisch untereinander. Innerhalb der Familie spre/ (a)chen seine Großeltern sowie seine Eltern mit ihm Sassaresisch. Allerdings wende(te)n sich seine Eltern zusätzlich auf Italienisch an ihn. Die Kommunikation mit seinen Geschwistern ist seit jeher italienischsprachig geprägt. In seiner Kindheit wurde im schulischen Umfeld nicht auf das Sassaresische zurückgegriffen, auch nicht unter den Schülern. Kenntnis und aktueller Gebrauch der Idiome sowie Begründung Der Sprecher gibt an, aktuell lediglich im Kontakt mit Freunden das Sassaresische zu gebrauchen. Obwohl seine Ehefrau ebenfalls aus der Stadt stammt und Sassaresisch spricht, spricht er mit ihr lediglich gelegentlich Sassaresisch. Gleiches trifft auf Gespräche mit den gemeinsamen Kindern zu. Mit den Enkeln spricht er nie auf Sassaresisch. Das Italienische verwendet er auch im Kontakt mit anderen Sprechern des Sassaresischen. In emotional geprägten Situationen sowie zum Zählen gebraucht er lediglich das Italienische. Er selbst schätzt seine aktiven und passiven Kenntnisse als mittel ein. Er gibt an, Sassaresischsprecher jeden Alters zu verstehen. Laut seiner Aussage passiert es ihm nicht, dass er das Sassaresische und Italienische mischt. Er kann sich nicht daran erinnern, für die Verwendung des Sassaresischen jemals kritisiert worden zu sein. Mediennutzung Der Sprecher gibt an, dass das Sassaresische / Sorsesische gelegentlich im Fernsehen und Radio präsent ist. Er hat gelegentlich Schriftstücke in sassaresischer Sprache gelesen und würde dies gerne häufiger tun, gäbe es mehr Texte. Er hört gelegentlich sassaresische Musik und hat nie versucht, das Sassaresische schriftlich zu verwenden. Gäbe es eine Einheitsorthographie für das Sassaresische, so wäre er bereit, diese zu verwenden. Identität und Einstellung zum Italienischen, Sassaresischen und Sorsesischen Der Sprecher gibt an, sich in gleichem Maße als Italiener, Sarde und Sassarese zu fühlen und primär der sassaresischen Sprache verbunden zu sein. Das Sassaresische ist laut seiner eigenen Aussage Teil seiner Identität und er bemerkt, gerne Sassaresisch zu sprechen. Sassarese zu sein sei nicht gleichzusetzen mit Sorsese zu sein. Allerdings sei Sassarese sein gleichbedeutend mit Sarde und Italiener zu sein. Er gibt an, das Sassaresische als schönes und ausdrucksstarkes Idiom wahrzunehmen, das für Fremde nicht schwer zu erlernen sei. Dass Kinder den Lokaldialekt erlernen, ist dem Sprecher wichtig und er befürwortet die Einführung des Sassaresischen an den Schulen. Der Befragte bejaht die Frage, ob das Sorsesische vitaler sei als das Sassaresische Sassaris. Er sieht das Sassaresische durch das Italienische bedroht und nimmt an, dass das Idiom eines Tages aussterben wird. Die Mundart Sorsos schätzt er hingegen nicht als bedroht ein. Laut seiner Aussage hätte das Aussterben des Sassaresischen auch den Verlust der sassaresischen Identität zur Folge. Er bezeichnet das Sassaresische als „allegro“. Von Vorteil sei das Sprechen des Sassaresischen „per le tradizioni“ und des Italienischen, da es „[…] la lingua nazionale“ ist. Das Italienische solle das Sassaresische laut seiner Aussage in allen Kommunikationssituationen ersetzen. <?page no="360"?> 360 5 Sprecherprofile Ortsgebundenheit Der Befragte gibt an, gerne in Sassari zu leben und sich Sassari verbunden zu fühlen. Die Stadt verlassen zu müssen, würde ihm schwer fallen. Der Großteil seiner Familie und Freunde lebt in der Stadt. Einkäufe und Freizeitaktivitäten erledigt er ebenfalls vor Ort. Er interessiert sich für Neuigkeiten und aktuelle Veranstaltungen in der Stadt („i Candelieri“), ist aber in keinem lokalen Verein aktiv. Der Zuzug von Menschen, die den Lokaldialekt nicht sprechen, stört ihn nicht. Die Frage, ob man Sassarese sein könne ohne Sassaresisch zu sprechen, bejaht der Sprecher, denn dies sei allein möglich „per la nascita“. Für Sprecher anderer Idiome, die ihren Wohnort nach Sassari verlegen, sei es nicht notwendig, Sassaresisch zu lernen: „non ha importanza“. Charakteristika des Sassaresischen / des Sorsesischen Der Befragte gibt an, die Lautung des Sassaresischen zu mögen. Die authentischste Aussprache spricht er älteren Sprechern („gli anziani“) zu. Er bemerkt, dass sich diese durch den Gebrauch von „vocaboli diversi“ von Generation zu Generation unterscheidet. Das Sorsesische klinge nicht schöner als das Sassaresische („ha cadenza diversa“). Die Sprache hätte sich im Laufe der Jahre unter dem Einfluss des Italienischen verändert („si è italianizzato“). Der Befragte hat nicht den Eindruck, Strukturen des Sassaresischen durch den Nicht-Gebrauch der Sprache zu vergessen. In anderen Teilen Sardiniens wird er „dall’accento“ als Sassarese erkannt. Sorsesen fallen, so bezeugt der Befragte, „dalla cadenza“ in Sassari als Sorsesen auf. Auch Sprecher der Stadtvarietät werden in Sorso problemlos als solche „per la cadenza“ identifiziert. Auf die Frage nach der Sprachherkunft bzw. -verwandtschaft antwortet der Befragte: „dal corso e toscano antico + sardo“. Typische Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Unterschiede des Sassaresischen zum Sorsesischen „le cadenze“ Laute, die ein Sassarese / Sorsese aussprechen können sollte „ STHU “ Wörter, die ein Fremder, der Sassaresisch / Sorsesisch lernen möchte, aussprechen können sollte - Als „schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Als „nicht schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Bekannte Ausspracheregeln des Sassaresischen / Sorsesischen in Gegenüberstellung zum Italienischen - <?page no="361"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 361 5.1.8.2 Sprachdaten Map Rollen Frames Nr. 2 Instructor SASS - VS / RS -1950w F1-F4 Follower SASS - VS / RS -1947m 5.1.8.2.1 Vokalische Phänomene Vokalisierung Map Task: Zur Überprüfung der Anbzw. Abwesenheit der Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] finden sich im Datensatz des Sprechers nur wenige Untersuchungsmöglichkeiten. Sassaresisches feimmu realisiert er als vemmu ohne Anwesenheit von [j]. Für sass. cuiva rekurriert er auf curva , wie seine Gesprächspartnerin kurz zuvor. Frames (1-4): Der Sprecher produziert • coibu: un coibu → lu goibu → lu goibu → un coibu • veimmi / u: un vemmu → lu veimmu → lu vemmu → un vemmu Der Sprecher zeigt in seinem Ausspracheverhalten die Vokalisierung von -Rvor -Vin den Tokens für coibu, allerdings nur unregelmäßig in den Nennungen für veimmi / u: hier findet sich lediglich ein Einzelbeleg mit Vokalisierung ( veimmu , F2). i-Prothese Map Task: Im Rahmen des Map Tasks artikuliert der Sprecher konstant prothetisches i in den Tokens für ischobburu ( un / l’ischobburu (6) ). Anstelle der sassaresischen Bezeichnungsformen ischarrigu und ippau verwendet er die italienischen Entsprechungen uno scarico (< SASS - VS / RS -1950w ) und uno / lo spago (2) . Frames (1-4): Der Sprecher produziert • ippadda: un’ippadda → la ippadda → l’ippadda → un’ippadda • ischobburu: un ischobburu → l’ischobburu → l’ischobburu → un ischobburu • ippada: una spada → - → - → - • (i)schora: - → l’ischora → la ischora → un’ischora Der Sprecher verwendet prothetisches i konstant in den Belegen für ippadda, ischobburu und (i)schora. Für das Zielwort ippada realisiert er lediglich spada (F1). <?page no="362"?> 362 5 Sprecherprofile 5.1.8.2.2 Konsonantische Phänomene Retroflex Map Task: Im Rahmen des Map Tasks artikuliert der Sprecher konstant alveodentales [dd] in sämtlichen Tokens für cabaddu (7) . Einmalig findet sich die Form li gabaldhi . Den Italianismus camellu realisiert der Sprecher durchgängig als camello (3) . Anstelle von sass. sedda rekurriert der Sprecher auf sella (3) . Frames (1-4): Der Sprecher produziert in allen Tokens der Zielwörter ippadda, padedda und cabaddu ausschließlich alveodentales [dd]. • ippadda: un’ippadda → la ippadda → l’ippadda → un’ippadda • padedda: una badedda → la badedda → la badedda → una badedda • cabaddu: un cabaddu → lu gabaddu → lu gabaddu → un cabaddu Auch in den Tokens für castheddu (F1, F3, F4) und sedda (F2, F3, F4) überwiegt alveodentales [dd] (F1, F3, F4). In F2 findet sich einmalig die Nennung gastello mit ll -. Für sedda findet sich in F1 die hybride Form selda . • castheddu: un castheddu → ru gastello → lu gastheddu → un castheddu • sedda: una selda → la sedda → la sedda → una sedda Den Italianismus camellu unterzieht der Sprecher keiner hyperkorrekten Aussprache. Er artikuliert stets ll in c / gamello : • camellu: un camello → lu gamello → lu gamello → un camello Lateral-alveolare Frikative Map Task: Der Sprecher artikuliert im Rahmen des Map Tasks ausschließlich Nennungen, die zur Überprüfung des stimmlosen lateral-alveolaren Frikativs [ɬ] herangezogen werden können. Der Sprecher beherrscht die Artikulation von [ɬ], greift auf diese jedoch nur selten, wie z. B. in gasthagna zurück (< SASS - VS / RS -1950w ). Hochfrequentes sinisthra (6) und drestha produziert er neben sinistra (3) und destra . Für das Zielwort giosthra artikuliert er giostra (3) . Frames (1-4): Der Sprecher produziert • cordha: - → la gordha → la gordha → una gordha • castheddu: un castheddu → ru gastello → lu gastheddu → un castheddu • crasthu: un crasthu → lu grasthu → lu grasthu → un crasthu • gardhu: un card h u → lu gardhu → lu gardhu → un gardhu • filt(h)ru: un filtro → lu viltro → lu viltru → un filtro • lardhu: un lald h u → lu rald h u → lu rardhu → un lald h u • giosthra: una giostra → la giostra → la giostra → una giostra • Einzelnennung (F2) soldhu: un soldu <?page no="363"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 363 Der Sprecher artikuliert den stimmlosen lateral-alveolaren Frikativ [ɬ] deutlich hörbar im Rahmen der Carrier phrases in den Nennungen der Zielwörter castheddu (F1, F3, F4) und crasthu. Die in giosthra zu erwartende, stimmlose lateral-alveolare Friktion bleibt aus. Gleiches gilt für filt(h)ru. Stimmhaftes [ɮ] artikuliert der Sprecher in den Tokens für cordha und gardhu. Für lardhu ist [ɮ] nur in F3 deutlich hörbar; in allen anderen Fällen ist eine kaum hörbare, kurze Friktion sowie ein hörbares laterales Element wahrzunehmen [ˈlal ɮ u] bzw. [ˈral ɮ u]. Velare Frikative Map Task: Den aus etym. L, R, S + C entstandenen velaren Frikativ [xx] artikuliert der Sprecher in den Tokens ischobburu (6) und p / borchu (3) . Anstelle von barcha produziert er barca . Für die sassaresischen Bezeichnungsform ischarrigu verwendet er, wie bereits seine Gesprächspartnerin zuvor, die italienische Entsprechung scarico . Frames (1-4): Der Sprecher produziert • barcha: una barcha → la barcha → la barcha → una barcha • algha: un’alga → l’alga → l’alga → un’alga • moscha: una moscha → la moscha → la moscha → una moscha • ischobburu: un ischobburu → l’ischobburu → l’ischobburu → un ischobburu • targa: una darga → la darga → la darga → una darga • (i)schora: - → l’ischora → la ischora → un’ischora • porchu: un porchu → lu borchu → lu borchu → un porchu Auch im Rahmen der Frames produziert der Sprecher regelmäßig stimmloses [xx] nach prothetischem i in ischobburu und (i)schora sowie in den Tokens für barcha, moscha und porchu. Die Belege für algha weisen kein [ɣɣ] auf. Im Falle von targa bewahrt der Sprecher, wie für den Italianismus zu erwarten, den intervokalischen Nexus rg -. Anlautmutation 20 Map Task: Der Sprecher wendet die Anlautmutation regelmäßig an. In folgenden Kontexten ließen sich die Anlautsonorisierung von Okklusiven und des Frikativs [f] sowie die Lenisierung von [dʒ] → [j] nachweisen. 20 Die Stimmhaftigkeit von / s/ konnte nicht eindeutig festgestellt werden (vgl. Kap. 4.5.1). <?page no="364"?> 364 5 Sprecherprofile - nach bestimmtem Artikel: la bianta (2) , lu / i gabaddu / i (8) , la vemmina , lu bugnari , lu brufissori , lu borchu (2) (< SASS - VS / RS -1950w ), lu gani (4) , la gasthagna (< SASS - VS / RS -1950w ) - nach vokal. auslautendem Wort (Nomen, Verben, Adjektive, Adverbien, Partikeln, Determinanten, Zahlwörter, Quantifizierer etc.): andu drittu gosa , devo và , devo jirà , dabboi gosa (5) , a sinisthra gussì , un pugnari gosa v’è , ghissu gannàu , ghistu galice 21 , aggiu bisthu , devu jirà? , v’è gosa , tuttu vattu? In wenigen Fällen bleibt die Anlautmutation hingegen aus. Dies betrifft wiederum die Sonorisierung (z. B. ( ) v’è un metro un serpente cosa v’è? ) sowie auch den Rotazismus ( una / la lente (4) , < SASS - VS / RS -1950w : una lente ). Formen mit ausbleibender Anlautmutation sind also vorwiegend solche, die in italienischbasierte Äußerungskontexte eingebettet sind oder mit dem Italienischen kognat sind. Der Sprecher unterlässt zusätzlich, wie zu erwarten, die Sonorisierung anlautender Konsonanten nach Konsonant (z. B. un pugnari , un cannàu , un ciodu (2) , un pesciu , un cani ), nach Elementen, die das raddoppiamento fonosintattico bedingen ( non vi n’è femmina ), nach Pausen ( (-) cosa v’è? ) sowie in im Sassaresischen etablierten Italianismen ( una / la giostra (3) ). Frames (1-4): Der Sprecher unterlässt, wie zu erwarten, die Anlautmutation für mit Okklusiv anlautende Kontexte nach unbestimmtem maskulinen Artikel un und verstimmhaftet diese regelmäßig nach dem vokalisch auslautenden unbestimmten Artikel una sowie den bestimmten Artikeln r / lu und r / la : • V+[k]+V → [ɡ] cani: un cani → ru gani → lu gani → un cani ebenso: cabbu, coibu, castheddu, crasthu, cabaddu, camellu • V+[k]+V → [ɡ] cordha: - → la gordha → la gordha → una gordha • V+[p]+V → [b] porchu: un porchu → lu borchu → lu borchu → un porchu ebenso: pugnari, pappagallo, prufissori, paccu, pesciu • V+[p]+V → [b] padedda: una badedda → la badedda → la badedda → una badedda • V+[t]+V → [d] targa: una darga → la darga → la darga → una darga Selten bleibt die Verstimmhaftung aus, sobald der Sprecher neben sassaresischen Formen auch auf kognate Bezeichnungen des Italienischen rekurriert: • V+[k]+V → [k/ ɡ] crabba: una capra → la grabba → la grabba → una grabba 21 Sass. carizi (it. ,calice‘). <?page no="365"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 365 Die Verstimmhaftung des Frikativs [f] ist hin und wieder erst verzögert hörbar, z. B.: • V+[f]+V → [v] foggu: un foggu → lu voggu → lu voggu → un foggu ebenso: filt(h)ru • V+[f]+V → [v] figga: la figga → la vigga → la f / vigga → una f / vigga Der Prozess [v] → [b] zeigt sich nicht: • V+[v]+V → [v] veimmi / u: un vemmu → lu veimmu → lu vemmu → un vemmu Sehr regelmäßig vollzieht der Sprecher den Prozess der Anlautmutation auch in Bezug auf die stimmlose Anlautaffrikate [tʃ], z. B.: • V+[tʃ]+V → [dʒ] ciodu: un ciodu → lu giodu → lu giodu → un ciodu • V+[tʃ]+V → [dʒ] ciabi: una giabi → la giabi → la giabi → una giabi Die Lenisierung von [dʒ] → [j] wird regulär für die Zielwörter gioggu und gianna vollzogen. Im Hinblick auf gesgia zeigen sich Schwankungen im Ausspracheverhalten des Sprechers: • V+[dʒ]+V → [j] gioggu: un gioggu → lu joggu → lu joggu → un gioggu • V+[dʒ]+V → [j] gianna: una janna → la janna → la janna → una janna • V+[dʒ]+V → [j] gesgia: una gesgia → la jesgia → la jesgia → una gesgia Der Sprecher unterlässt, wie für das Sassaresische zu erwarten, die Lenisierung von mit [dʒ] anlautenden Italianismen: • V+[dʒ]+V → [dʒ] giosthra: una giostra → la giostra → la giostra → una giostra Den Rotazismus von [l] → [r] vollzieht der Sprecher regulär im zwischenvokalischen Kontext. • V+[l]+V → [r] lardhu: un lald h u → lu rald h u → lu rardhu → un lald h u 5.1.8.3 Synthese SASS - VS / RS -1947m Sprecher SASS - VS / RS -1947m muss aus heutiger Sicht als Rusty Speaker klassifiziert werden, da er aufgrund des seltenen Gebrauchs des Sassaresischen im Alltag mittlerweile Tendenzen des Sprachvergessens wie z. B. Wortfindungsschwierigkeiten aufweist. Innerhalb seiner Herkunftsfamilie, d. h. im Umgang mit den Großeltern und den Eltern, war das Sassaresische fester Bestandteil seines sprachlichen Alltags, allerdings verwende(te)n seine Eltern im Gespräch mit ihm zusätzlich das Italienische. Innerhalb der Familie, die er mit seiner ebenfalls <?page no="366"?> 366 5 Sprecherprofile aus Sassari stammenden Ehefrau gründete, ist das Italienische die dominierende Sprache. Selbst in Gesprächen mit seiner Ehefrau verwendet er nur gelegentlich das Sassaresische. Er fühlt sich dennoch primär der sassaresischen Sprache verbunden. Das Sassaresische, das er gerne spricht und als schönes und ausdrucksstarkes Idiom empfindet, ist laut seiner Angabe Teil seiner Identität. Der Sprecher schätzt seine aktuellen aktiven Kenntnisse des Sassaresischen als mittel ein. Metakommentare, die vor der eigentlichen Aufnahme geäußert wurden, zeigen, dass dem Sprecher bewusst ist, lexikalische Lücken zu haben: no soggu cumenti si ciamma (--) „la ghianda“ come si dice, boh […] queste cose mi sa che in dialetto io neanche le conosco. Dennoch kann der Umgang des Sprechers mit der sassaresischen Sprache als selbstbewusst bezeichnet werden. Er spricht mit lauter Stimme und hoher Sprechgeschwindigkeit und scheint sich an bestehenden Wortlücken, die er problemlos über das Italienische ausgleicht, nicht zu stören. Im Ausspracheverhalten des Sprechers zeigt sich generell die Tendenz zum Erhalt typischer sassaresischer Lautstrukturen. Kommt es zu lexikalischen Ausweichungen auf italienische Entsprechungen, so werden diese jedoch nur teilweise in die sassaresische Lautung eingepasst. Zusätzlich finden sich hybride Zwischenformen im Datensatz des Sprechers. Im Hinblick auf die untersuchten vokalischen Variablen lässt sich folgendes festhalten: Die Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] ließ sich lediglich anhand weniger Tokens überprüfen und erfolgt uneinheitlich. Während für cuiva auf die kognate Entsprechung des Italienischen rekurriert wurde ( curva , < SASS - VS / RS -1950w ) findet sich im Rahmen des Map Tasks der Beleg vemmu für sass. feimmu. In den im Rahmen der Frames erhaltenen Nennungen für coibu ist [j] konstant. Das Zielwort veimmi / u wird nur einmalig (F2) mit erhaltener Vokalisierung geäußert, in allen anderen Fällen als vemmu (F1, F3, F4). Prothetisches i ist in den Tokens der mit [p(p)] und [xx] anlautenden Zielwörter stabil (ippadda, ischobburu, (i)schora). Füllt der Sprecher lexikalische Lücken (ischarrigu, ippau, ippada) durch Ausweichen auf kognate italienische Entsprechungen, so verwendet er kein prothetisches i (scarico, spago, spada). Im konsonantischen Bereich zeigt der Sprecher in seiner Aussprache das Ausbleiben der retroflexen Artikulation [ɖɖ], die, wie für das Sassaresische Sassaris in der Forschung bereits bekannt, häufig in die alveodentale Realisierung [dd] übergegangen ist. Dies betrifft Tokens für cabaddu, ippadda und padedda. Für cabaddu findet sich einmalig eine hybride Form (s. u.). Auch in den Tokens für castheddu (F1, F3, F4) überwiegt alveodentales [dd] (F1, F3, F4). In F2 findet sich einmalig die Nennung gastello mit ll -. Im Rahmen des Map Tasks artikuliert der <?page no="367"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 367 Sprecher für das Zielwort sedda die Form sella , die in den Frames geäußerten Nennungen werden nach einer hybriden Form (F1) (s. u.) als sedda mit alveodentalem [dd] realisiert. Der Sprecher beherrscht die Artikulation von [ɬ] bzw. [ɮ], greift auf diese jedoch nicht zur Realisierung aller Zielwörter konsequent zurück: [ɬ] bzw. [ɮ] sind stabil in casthagna, cordha, castheddu (außer F2), crasthu und gardhu. Hochfrequentes sinisthra (6) und drestha produziert er neben sinistra (3) und destra . In giosthra und filt(h)ru unterlässt er die stimmlose lateral-alveolare Friktion konsequent. Für lardhu finden sich primär Formen mit geringer Friktion, jedoch mit starkem lateralen Element; [ɮ] ist lediglich in F3 deutlich wahrnehmbar. Die Anwesenheit des aus etym. L, R, S + C entstandenen velaren Frikativs [xx] ist sehr stabil. Dies betrifft Tokens der Zielwörter mit i -Prothese (ischobburu, (i)schora) sowie porchu und moscha. Für barcha realisiert der Sprecher im Rahmen des Map Tasks einmalig barca ; in den Frames hingegen konsequent barcha . Stimmhaftes [ɣɣ] produziert der Sprecher nicht. Die Belege für algha weisen den Nexus lg auf. Im Falle von targa bewahrt der Sprecher, wie für den Italianismus zu erwarten, den intervokalischen Nexus rg -. Der Sprecher gab im Rahmen der soziolinguistischen Befragung an, „STHU“ zu den Lauten zu zählen, die ein Sprecher des Sassaresischen artikulieren können sollte. Der Sprecher wendet die Anlautmutation generell sehr regelmäßig an. Formen mit ausbleibender Anlautmutation sind vorwiegend solche die in italienischbasierte Äußerungskontexte eingebettet sind oder wenig Abstand zum Italienischen aufweisen. Allerdings passt der Sprecher lexikalisches Material, das aus dem Italienischen stammt bzw. sich nur geringfügig von den kognaten Formen des Italienischen unterscheidet, problemlos in die sassaresische Lautung ein. Der Prozess [v] → [b] zeigt sich nicht. Die Lenisierung von [dʒ] → [j] weist Schwankungen für gesgia auf. Zusätzlich finden sich im Datensatz des Sprechers folgende hybride Strukturen. Für sassaresisches feimmu und veimmi / u produziert der Sprecher vemmu ( MT ) sowie vemmu (F1, F3, F4). In beiden Fällen bleibt die Vokalisierung von -R- → [j] aus, allerdings kommt es zur Assimilation des Vibranten an den Nasal bzw. zum Ausfall von vokalisiertem -R-, so dass eine intervokalische Langkonsonanz das Resultat ist. Für das Zielwort cabaddu realisiert der Sprecher einmalig im Rahmen des Map Tasks die hybride Form li gabaldhi [ɡaˈbaɮ(d)i]. Er ersetzt hierbei aus etym. -LLentstandenes [dd] durch den stimmhaften lateral-alveolaren Frikativ [ɮ(d)]. <?page no="368"?> 368 5 Sprecherprofile Für sass. sedda produziert der Sprecher einmalig in F1 die Zwischenform selda . Erst im Anschluss (ab F2) stabilisiert sich die Form zu sedda. • sedda: una selda → la sedda → la sedda → una sedda Da der Sprecher im Rahmen der Frames anstelle des Zielwortes gardhu eine mit stimmlosem Verschlusslaut anlautende Form ansetzt, kommt es in F1 zu der Hybridbildung card h u . • gardhu: un card h u → lu gardhu → lu gardhu → un gardhu Im Verlauf der Aufnahme wurde schnell deutlich, dass der Sprecher in einigen Fällen eine Anlaufphase benötigt, um ,eingerostetes‘ sassaresisches Wortmaterial und die daran geknüpften Ausspracheregeln des Sassaresischen zu reaktivieren. So artikuliert er im Rahmen des Map Tasks die Form barca . In den Frames verwendet er dann konsequent barcha : • barcha: una barcha → la barcha → la barcha → una barcha Für die Zielwörter gardhu und crabba realisiert der Sprecher zunächst cardhu und capra , wobei die Anlautsonorisierung von capra ausbleibt. Ab F2 stabilisiert sich die Aussprache zu gardhu und grabba : • gardhu: un card h u → lu gardhu → lu gardhu → un gardhu • crabba: una capra → la grabba → la grabba → una grabba Anstelle von sass. sedda rekurriert der Sprecher im Rahmen des Map Tasks auf sella (3) . In den Frames produziert er zunächst die Hybridform selda , ab F2 stabilisiert sich die Aussprache zu sedda . 5.1.9 SASS / SORS - VS / RS -1960w 5.1.9.1 Soziolinguistisches Sprecherprofil Geschlecht Geburtsjahr Geburtsort/ Wohnsitz Beruf angestammte Sprache Sprachniveau w 1960 Rom / Sassari Verkäuferin Sorsesisch/ Sassaresisch Vollsprecher; Tendenz Rusty Speaker <?page no="369"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 369 Die Mutter der Befragten stammt aus Ittiri, der Vater aus Sorso. Die Informantin gibt an, keine Familienangehörigen zu haben, die außerhalb des sassaresophonen Sprachraumes leben; auch sie selbst verbrachte nie längere Zeit an einem anderen Ort. Sie ist verheiratet und hat Kinder. Ihr Ehemann stammt aus Sassari. Die Familie der Sprecherin stammt zwar zu großen Teilen aus Sorso, sie selbst verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens jedoch in Sassari. Die Sprecherin gibt an, sich insbesondere Sassari eng verbunden zu fühlen und definiert sich selbst als „sassaresa in ciabi“. Sprachkenntnisse (Selbsteinschätzung) Italienisch: aktiv und passiv hoch / L1 und Primärsprache Sassaresisch / Sorsesisch: aktiv mittel / passiv mittel L2 und Sekundärsprache Logudoresisch: keine Kenntnisse Kontext des Spracherwerbs: Sassaresisch / Sorsesisch und Italienisch Die Informantin gibt an, zunächst das Italienische (zuhause und in der Schule) erlernt zu haben und anschließend das Sassaresische / Sorsesische (zuhause und im Kontakt mit Freunden). Ihre Großeltern väterlicherseits sprachen Sorsesisch, ihre Großeltern mütterlicherseits Sardisch und Italienisch. Ihre Eltern spre/ (a)chen Sorsesisch und Italienisch untereinander. Mit ihr sprachen die Großeltern väterlicherseits sowie ihr Vater Sorsesisch. Innerhalb ihrer Familie spre/ (a)chen ihre Großeltern mütterlicherseits, ihre Eltern und Geschwister Italienisch mit ihr. In ihrer Kindheit wurde im schulischen Umfeld nicht auf das Sassaresische / Sorsesische zurückgegriffen, auch nicht unter den Schülern. Kenntnis und aktueller Gebrauch der Idiome sowie Begründung Die Sprecherin gibt an, lediglich zuhause, im Kontakt mit Freunden und mit Kollegen das Sassaresische zu gebrauchen. Obwohl ihr Ehemann ebenfalls aus der Stadt stammt und Sassaresisch spricht, spricht sie mit ihm, den gemeinsamen Kindern und den Enkeln / Neffen lediglich gelegentlich Sassaresisch. In der Arbeit mit Kunden, in Geschäften und auf dem Markt greift sie niemals auf das Sassaresische zurück. In emotional geprägten Situationen gebraucht sie das Sassaresische, zum Zählen das Italienische. Sie selbst schätzt ihre aktiven und passiven Kenntnisse des Sassaresischen als mittel ein. Sie gibt an, Sassaresischsprecher jeden Alters zu verstehen. Laut ihrer Aussage passiert es ihr „con amici e parenti“, dass sie das Sassaresische und Italienische mischt. Sprecher des Sassaresischen wenden sich an sie auf Italienisch, „perché non abbiamo confidenza“. Auch sie selbst wendet sich an andere Sprecher des Sassaresischen auf Italienisch, „quando non c’è confidenza“. Sie kann sich nicht daran erinnern, für die Verwendung des Sassaresischen jemals kritisiert worden zu sein. Mediennutzung Die Sprecherin hat den Eindruck, dass das Sassaresische / Sorsesische nie im Fernsehen, jedoch gelegentlich im Radio („nelle radio locali“) präsent ist. Sie hat gelegentlich Schriftstücke in sassaresischer Sprache gelesen und würde dies öfter tun, gäbe es mehr Texte. Sie hört häufig sassaresische Musik („Sassarese Folk“) und hat nie versucht, das Sassaresische schriftlich zu verwenden. Ein schriftlicher Gebrauch des Sassaresischen interessiert sie nicht, auch eine Einheitsorthographie würde sie nicht verwenden. <?page no="370"?> 370 5 Sprecherprofile Identität und Einstellung zum Italienischen, Sassaresischen und Sorsesischen Die Sprecherin gibt an, sich zunächst als Italienerin zu fühlen. Sie fühlt sich dennoch primär der sassaresischen Sprache verbunden. Das Sassaresische ist laut ihrer eigenen Aussage Teil ihrer Identität und sie bemerkt, gerne Sassaresisch zu sprechen. Laut ihrer Angabe sei Sassarese zu sein nicht gleichzusetzen mit Sorsese zu sein. Sassarese zu sein, sei jedoch identisch mit Sarde und Italiener zu sein. Sie gibt an, das Sassaresische als schönes und ausdrucksstarkes Idiom wahrzunehmen, das für Fremde nicht schwer zu erlernen sei. Dass Kinder den Lokaldialekt erlernen, ist der Sprecherin wichtig und sie befürwortet die Einführung des Sassaresischen an den Schulen: „sarebbe bello non dimenticare il dialetto“. Die Informantin geht davon aus, dass das Sorsesische vitaler ist als das Sassaresische Sassaris, „perché si parla di più in italiano“. Sie sieht das Sassaresische durch das Italienische bedroht, geht aber nicht davon aus, dass das Sassaresische oder das Sorsesische eines Tages aussterben werden. Laut ihrer Angabe hätte das Aussterben des Sassaresischen auch den Verlust der sassaresischen Identität zur Folge. Sie selbst engagiert sich für den Erhalt des Idioms, „parlandolo“. Sie bezeichnet das Sassaresische als „divertente“. Italienisch zu sprechen sei ein Vorteil, Sassaresisch zu sprechen hingegen nicht. Das Italienische solle das Sassaresische dennoch nicht in allen Kommunikationssituationen ersetzen. Ortsgebundenheit Die Befragte gibt an, gerne in Sassari zu leben und sich Sassari verbunden zu fühlen. Die Stadt verlassen zu müssen, würde ihr schwer fallen. Der Großteil ihrer Familie und ihrer Freunde lebt in der Stadt sowie in Sorso. Einkäufe und Freizeitaktivitäten erledigt sie ebenfalls in Sassari und Sorso. Sie interessiert sich für Neuigkeiten und aktuelle Veranstaltungen in Sassari („Candelieri“), ist aber in keinem lokalen Verein aktiv. Der Zuzug von Menschen, die den Lokaldialekt nicht sprechen, stört sie nicht. Die Frage, ob man Sassarese sein könne, ohne Sassaresisch zu sprechen, bejaht die Sprecherin. Sie verneint die Frage, ob Sprecher anderer Idiome, die ihren Wohnort nach Sassari verlegen, das Sassaresische erlernen sollten. Charakteristika des Sassaresischen / des Sorsesischen Die Befragte gibt an, die Lautung des Sassaresischen zu mögen, denn „fa ridere“. Die authentischste Aussprache spricht sie älteren, im Stadtzentrum lebenden Sprechern („gli anziani del centro storico“) zu. Sie bejaht die Fragen, ob sich die Aussprache von Generation zu Generation unterscheidet und ob sich das Sassaresische im Laufe der Jahre verändert hätte. Sorsesen werden, so bezeugt die Befragte, aufgrund der „pronuncie diverse“ in Sassari als Sorsesen erkannt. Auf die Frage, ob sie Aussagen zur Sprachherkunft bzw. -verwandtschaft machen kann, antwortet die Informantin: „no“. Typische Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Unterschiede des Sassaresischen zum Sorsesischen „l’accento“ <?page no="371"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 371 Laute, die ein Sassarese / Sorsese aussprechen können sollte - Wörter, die ein Fremder, der Sassaresisch / Sorsesisch lernen möchte, aussprechen können sollte - Als „schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Als „nicht schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Bekannte Ausspracheregeln des Sassaresischen / Sorsesischen in Gegenüberstellung zum Italienischen - 5.1.9.2 Sprachdaten Map Rollen Frames Nr. 2 Instructor SASS - VS -1956m F1-F4 Follower SASS / SORS - VS / RS -1960w 5.1.9.2.1 Vokalische Phänomene Vokalisierung Map Task: Im Rahmen des Map Tasks produziert die Sprecherin für das Zielwort veimmi / u die Tokens vemmu (3) ohne Vokalisierung von -R-. Frames (1-4): Die Sprecherin artikuliert • coibu: un coibo → lu goibu → lu goibu → un coibu • veimmi / u: un ve[ j ]mmu → lu ve[ j ]mmu → lu vemmu → un vemmu Sie zeigt in ihrem Ausspracheverhalten die Vokalisierung von -Rvor -Vin den Tokens für coibu, allerdings nur unregelmäßig in den Nennungen für veimmi / u: in F1 und F2 kommt es zu einer lediglich leichten Andeutung von [j]. i-Prothese Map Task: Die Sprecherin produziert einmalig die Nennung l’ischobburu mit prothetischem i (infolge eines Gesprächsbeitrag ihres Partners). Weitere Untersuchungsmöglichkeiten bietet der Datensatz nicht. Frames (1-4): Die Sprecherin produziert <?page no="372"?> 372 5 Sprecherprofile • ippadda: una ippadda → la ippadda → la ippadda → una ippadda • ischobburu: un ischobburu → l’ischobburu → l’ischobburu → un ischobburu • ippada: una ippada → la ippada → l’ippada → una ippada • (i)schora: una schora → la schora → la schora → una schora Die Sprecherin verwendet prothetisches i konstant in den Nennungen für ippadda, ischobburu und ippada. Für das Zielwort (i)schora realisiert sie durchgehend schora . 5.1.9.2.2 Konsonantische Phänomene Retroflex Map Task: Die im Rahmen des Map Tasks benannten Zielwörter sind: padedda und sedda. Sämtliche für padedda extrahierten Nennungen weisen eine alveodentale Artikulation von dd - ( badedda (2) , < SASS - VS -1956m ) auf. Für das Zielwort sedda artikuliert die Sprecherin - ebenso wie ihr Gesprächspartner zuvor - sella (2) . Frames (1-4): Die Sprecherin produziert in allen Tokens der Zielwörter castheddu (F2-F4), ippadda, padedda, cabaddu und purcheddu ausschließlich alveodentales [dd]. • castheddu: un casthello → lu gastheddu → lu gastheddu → un castheddu • ippadda: una ippadda → la ippadda → la ippadda → una ippadda • padedda: una badedda → la badedda → la badedda → una badedda • cabaddu: di gabaddu → lu gabaddu → lu gabaddu → un cabaddu • purcheddu: un purcheddu → lu burcheddu → lu burcheddu → un purcheddu Für das Zielwort sedda rekurriert die Sprecherin auf die kognate Form des Italienischen sella: • sedda: una sella → la sella → la sella → una sella Den Italianismus camellu unterzieht die Sprecherin keiner hyperkorrekten Aussprache. Sie artikuliert stets ll in c / gamello : • camellu: un camello → lu gamello → lu gamello → un camello Lateral-alveolare Frikative Map Task: Die Sprecherin produzierte im Rahmen des Map Tasks folgende Wortnennungen, die gemäß dem postulierten Ausgangssystem des Sassaresischen und des Sorsesischen die lateral-alveolaren Frikative beinhalten sollten. <?page no="373"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 373 Die Befragte artikuliert stimmloses [ɬ] in folgenden Tokens: vistha / u (2) , gasthagna ( 2 , < SASS - VS -1956m ). Ebenso ist [ɬ] in den zahlreichen Nennungen für sinisthra (2) , chisthu (4) und drestha (5) präsent, einmalig sind sinistra und destra zu hören. Für filt(h)ru produziert die Sprecherin filtri . Für stimmhaftes [ɮ] findet sich keine Untersuchungsmöglichkeit. Frames (1-4): Die Sprecherin produziert • castheddu: un casthello → lu gastheddu → lu gastheddu → un castheddu • gardhu: un cardhu → lu gardhu → lu gardhu → un cardhu • filt(h)ru: un filtro → lu viltro → lu viltro → un filtro • lardhu: lu rardhu → lu rardhu → lu rardhu → un lardhu • giosthra: una giostra → la giostra → la giostra → una giostra Die Sprecherin artikuliert den stimmlosen lateral-alveolaren Frikativ [ɬ] im Rahmen der Carrier phrases in den Nennungen des Zielwortes castheddu. Die in giosthra zu erwartende, stimmlose lateral-alveolare Friktion bleibt aus. Gleiches gilt für filt(h)ru. Stimmhaftes [ɮ] artikuliert die Sprecherin in den Tokens für gardhu und lardhu. Velare Frikative Map Task: Für den aus etym. L, R, S + C entstandenen velaren Frikativ [xx] finden sich im Datensatz der Sprecherin lediglich folgende Belege: ischobburu (< SASS - VS -1956m ) und moscha (3) . Für stimmhaftes [ɣɣ] findet sich keine Untersuchungsmöglichkeit. Frames (1-4): Die Sprecherin produziert • barcha: una barcha → la barca → la barcha → una barcha • moscha: una moscha → la moscha → la moscha → una moscha • ischobburu: un ischobburu → l’ischobburu → l’ischobburu → un ischobburu • falchu: un falco → lu valco → lu valco → un falco • targa: una darga → la darga → la darga → una darga • (i)schora: una schora → la schora → la schora → una schora • purcheddu: un purcheddu → lu burcheddu → lu burcheddu → un purcheddu Im Rahmen der Frames produziert die Sprecherin regelmäßig stimmloses [xx] in den Tokens für barcha (F1, F3, F4), moscha, ischobburu, (i)schora und purcheddu. Einmalig artikuliert die Sprecherin barca (F2). Sämtliche Tokens des Zielwortes falchu artikuliert die Sprecherin mit erhaltenem Nexus lc -. Für stimmhaftes [ɣɣ] findet sich keine Untersuchungsmöglichkeit. Im Falle von <?page no="374"?> 374 5 Sprecherprofile targa bewahrt die Sprecherin, wie für den Italianismus zu erwarten, den intervokalischen Nexus rg -. Anlautmutation 22 Map Task: Die Sprecherin wendet die Anlautmutation relativ regelmäßig an. In folgenden Kontexten ließen sich die Anlautsonorisierung von stimmlosen Okklusiven und Affrikaten sowie die Lenisierung von [dʒ] → [j] nachweisen. • nach bestimmtem Artikel: lu brosciutto (2) (< SASS - VS -1956m ), lu gannàu (2) , la badedda (< SASS - VS -1956m ), lu bercorso ( 2 , < SASS - VS -1956m ), lu giodu (< SASS - VS -1956m ), la grabba ( 2 , < SASS - VS -1956m : una grabba ), lu gani (< SASS - VS -1956m ), lu bappagallo ( 4 , < SASS - VS -1956m ), lu gabbu , l / ra janna ( 4 , < SASS - VS -1956m : una janna ), lu jiru (2) , la gasthagna ( 2 , < SASS - VS -1956m ), lu baccu , la gosa • nach unbestimmtem femininen Artikel una : una badedda , una gurraccia (< SASS - VS -1956m ) • nach unbetontem Pronomen: mi bari , la bigliu • nach vokal. auslautendem Wort (Nomen, Verben, Adjektive, Adverbien, Partikeln, Determinanten, Zahlwörter, Quantifizierer etc.): v’era brima (2) , chisthu joggu , ne giabi (< SASS - VS -1956m : una giabi ), no giabi , no’dovia biglia , fammi và , cosa fozzu jiru intondu , lu fozzu jiru intondu , non l’hai du , dimendicaddu ghisthu In einigen Fällen bleibt die Anlautmutation hingegen aus. Dies betrifft die Sonorisierung von Okklusiven ( il pappagallo , no no vi n’è inogga cattedrale , < SASS-VS-1956m : la gattedrale ), des Frikativs [f] ( i filtri , cosa fozzu , lu fozzu ) sowie den Rotazismus von [l] ( ai lavandini , < SASS - VS -1956m : lu lavandinu ) und den Prozess [v] → [b] ( lu / ghisthu vemmu (2) ). Die Sprecherin unterlässt zusätzlich, wie zu erwarten, die Sonorisierung anlautender Konsonanten nach Konsonant (z. B. un cannàu , un pesciu ), nach Elementen, die das raddoppiamento fonosintattico bedingen (z. B. e faro ) sowie nach Pausen (z. B. ah (-) torro , (-) fozzu ). Frames (1-4): Die Sprecherin unterlässt, wie zu erwarten, die Anlautmutation für mit Okklusiv anlautende Kontexte nach unbestimmtem maskulinen Artikel un und verstimmhaftet diese regelmäßig nach dem vokalisch auslautenden unbestimmten Artikel una sowie den bestimmten Artikeln r / lu und r / la und der Präposition di : • V+[k]+V → [ɡ] cani: un cani → lu gani → lu gani → un cani 22 Die Stimmhaftigkeit von / s/ konnte nicht eindeutig festgestellt werden (vgl. Kap. 4.5.1). <?page no="375"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 375 ebenso: cannàu, cabbu, coibu, castheddu, cabaddu, camellu • V+[k]+V → [ɡ] crabba: una grabba → la grabba → ra grabba → una grabba • V+[p]+V → [b] purcheddu: un purcheddu → lu burcheddu → lu burcheddu → un purcheddu ebenso: pesciu • V+[p]+V → [b] padedda: una badedda → la badedda → la badedda → una badedda ebenso: pianta, predda • V+[t]+V → [d] targa: una darga → la darga → la darga → una darga Die Sprecherin unterzieht auch den stimmlosen Frikativ [f] einer deutlich hörbaren Sonorisierung, z. B.: • V+[f]+V → [v] foggu: lu voggo → lu voggu → lu voggu → un foggu ebenso: filt(h)ru, falchu • V+[f]+V → [v] figga: la vigga → la vigga → la vigga → una vigga Der Prozess [v] → [b] zeigt sich nicht: • V+[v]+V → [v] un ve[ j ]mmu → lu ve[ j ]mmu → lu vemmu → un vemmu Sehr regelmäßig vollzieht die Sprecherin den Prozess der Anlautmutation auch in Bezug auf die stimmlose Anlautaffrikate [tʃ], z. B.: • V+[tʃ]+V → [dʒ] ciodu: un ciodu → lu giodo → lu giodu → un ciodu • V+[tʃ]+V → [dʒ] ciabi: la giabi ( ) una giabi → ra giabi → la giabi → una giabi Die Lenisierung von [dʒ] → [j] wird regulär für die Zielwörter gioggu, gianna und gesgia vollzogen: • V+[dʒ]+V → [j] gioggu: un gioggu → un joggu ( ) lu joggu → lu joggu → un gioggu • V+[dʒ]+V → [j] gianna: una janna → la janna → la janna → una janna ebenso: gesgia Die Sprecherin unterlässt, wie für das Sassaresische zu erwarten, die Lenisierung von mit [dʒ] anlautenden Italianismen: • V+[dʒ]+V → [dʒ] giosthra: una giostra → la giostra → la giostra → una giostra Den Rotazismus von [l] → [r] unternimmt die Sprecherin regulär im zwischenvokalischen Kontext: <?page no="376"?> 376 5 Sprecherprofile • V+[l]+V → [r] lardhu: lu rardhu → lu rardhu → lu rardhu → un lardhu 5.1.9.3 Synthese SASS / SORS - VS / RS -1960w Der Versuch, Sprecherin SASS / SORS - VS / RS -1960w einer Sprecherkategorie zuzuteilen, gestaltet sich als sehr schwierig. Durch den Gebrauch des Sorsesischen innerhalb ihrer Familie väterlicherseits erfuhr die Sprecherin zunächst eine italienisch-sorsesisch basierte sprachliche Prägung in ihrer Kindheit. Allerdings verbrachte sie den überwiegenden Teil ihres Lebens in Sassari, definiert sich selbst als sassaresa in ciabi und gibt an, sich primär der sassaresischen Sprache verbunden zu fühlen. Ihre Einstellung zur sassaresischen Sprache fällt generell positiv aus. Sie bemerkt, das Sassaresische gerne zu sprechen und es als schönes und ausdrucksstarkes Idiom wahrzunehmen. Im Rahmen der soziolinguistischen Befragung gab sie an, sich eng mit Sassari und der sassaresischen Kultur verbunden zu fühlen und sie als festen Bestandteil ihrer Identität wahrzunehmen. Auch in einem sich der Aufnahme anschließenden Gespräch fiel auf, dass sich die Sprecherin völlig aus der Sprachgemeinschaft der Sorsesen herausnimmt. Die Abwesenheit spezifischer Lautstrukturen in ihrem Ausspracheverhalten, die für das Sorsesische dokumentiert worden waren, spricht ebenfalls für eine geringe sorsesische Prägung. Aktuelle Gebrauchskontexte der sassaresischen Sprache sind in ihrem Alltag gelegentliche Gespräche mit ihrem aus Sassari stammenden Ehemann und den gemeinsamen Kindern (vgl. Kap. 1.4.2.3) sowie mit Freunden und Kollegen und in emotional geprägten Situationen. Die Sprecherin schätzt ihre aktiven wie passiven Kenntnisse des Sassaresischen als mittel ein. Generell zeigte sie im Rahmen der Aufnahmen einen selbstbewussten Umgang mit der sassaresischen Sprache. Sie spricht mit lauter Stimme und hatte große Freude am Bearbeiten des Map Tasks. Im Ausspracheverhalten der Sprecherin zeigt sich die Tendenz zum Erhalt typischer sassaresischer Lautstrukturen, mit einigen Abweichungen bzw. Schwankungen. Zusätzlich finden sich ein paar hybride Zwischenformen im Datensatz der Sprecherin. Im Hinblick auf die untersuchten vokalischen Variablen lässt sich folgendes festhalten: Die Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] ließ sich lediglich anhand weniger Tokens überprüfen und erfolgt uneinheitlich. Während die Vokalisierung in den Tokens für coibu (F1-F4) konstant verläuft, finden sich für veimmi / u überwiegend Belege ohne [j] ( MT , F3, F4). In F1 und F2 ist ein leicht angedeutetes halbvokalisches Element in Form von ve[ j ]mmu hörbar. <?page no="377"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 377 Prothetisches i ist in den Tokens der Zielwörter ippadda, ischobburu und ippada stabil, lediglich in (i)schora bleibt es aus. Im konsonantischen Bereich zeigt die Sprecherin in ihrer Aussprache das Ausbleiben der retroflexen Artikulation [ɖɖ], die, wie für das Sassaresische Sassaris in der Forschung bereits bekannt, häufig in die alveodentale Realisierung [dd] übergegangen ist. Dies betrifft sämtliche Tokens für padedda, castheddu (F2-F4), ippadda, cabaddu und purcheddu. Für das Zielwort sedda rekurriert die Sprecherin auf die kognate Form des Italienischen sella. Den Italianismus camellu unterzieht die Sprecherin keiner hyperkorrekten Aussprache. Einmalig findet sich für das Zielwort castheddu eine hybride Zwischenform (s. u.). Im Hinblick auf die Kontexte, die die Artikulation lateral-alveolarer Frikative erwarten lassen, zeigen sich im Ausspracheverhalten der Sprecherin Schwankungen. So finden sich Tokens desselben Zielwortes mit konstanter Realisierung des Frikativs (vidé → visthu , casthagna, chisthu, castheddu, gardhu, lardhu), Nennungen mit und ohne Anwesenheit von [ɬ] (sinisthra, desthra) und Formen, die konsequent ohne [ɬ] (filt(h)ru, giostra) artikuliert werden. Die Anwesenheit des aus etym. L, R, S + C entstandenen velaren Frikativs [xx] ist sehr stabil. Dies betrifft Tokens der Zielwörter mit i -Prothese (ischobburu, (i)schora) sowie barcha (F1, F3, F4), moscha und purcheddu. Für barcha realisiert die Sprecherin im Rahmen der Frames einmalig barca (F2). Sämtliche Belege des Zielwortes falchu, werden als f / valco realisiert. Stimmhaftes [ɣɣ] produziert die Sprecherin nicht. Im Falle von targa bewahrt sie, wie für den Italianismus zu erwarten, den intervokalischen Nexus rg -. Die Sprecherin zeigt im Rahmen des Map Tasks und der Frames eine konsequente Anwendung der Anlautmutation von stimmlosen Verschlusslauten, der Affrikate [tʃ] sowie von [dʒ] und nur wenige Abweichungen hiervon. Der Frikativ [f] wird vor allem im Rahmen der Frames der Sonorisierung unterzogen. Die Sprecherin nimmt die Anlautverstimmhaftung von [f] auch dann vor, wenn sie auf kognate Formen des italienischen rekurriert, z. B. • V+[f]+V → [v] filt(h)ru: un filtro → lu viltro → lu viltro → un filtro • V+[f]+V → [v] falchu: un falco → lu valco → lu valco → un falco Der Prozess [v] → [b] zeigt sich nicht. Im Ausspracheverhalten der Sprecherin zeigen sich ein paar hybride und hyperkorrekte Bildungen, darunter folgende: Für veimmi / u verwendet die Sprecherin in F3 und F4 die hybride Form vemmu . Hier bleibt die Vokalisierung von etym. -Raus, allerdings kommt es zur Assimilation des Vibranten an den Nasal bzw. zum Ausfall von vokalisiertem -R-, so dass eine intervokalische Langkonsonanz das Ergebnis ist. <?page no="378"?> 378 5 Sprecherprofile • veimmi / u: un ve[ j ]mmu → lu ve[ j ]mmu → lu vemmu → un vemmu Anstelle von castheddu produziert die Sprecherin einmalig die Form casthello (F1), mit Anwesenheit der lateral-alveolaren Friktion, jedoch ohne sass. dd für it./ etym. ll -. Da die Sprecherin im Rahmen der Frames anstelle des Zielwortes gardhu eine mit stimmlosem Verschlusslaut anlautende Form ansetzt, kommt es in F1 und F4 nach konsonantisch auslautendem Artikel un zu der Hybridbildung cardhu : • gardhu: un cardhu → lu gardhu → lu gardhu → un cardhu 5. 1. 10 SASS - VS -1956m 5. 1. 10.1 Soziolinguistisches Sprecherprofil Geschlecht Geburtsjahr Geburtsort/ Wohnsitz Beruf angestammte Sprache Sprachniveau m 1956 Sassari / Sassari Arbeiter Sassaresisch Vollsprecher Die Eltern des Befragten stammen beide aus Sassari. Er hat Familienangehörige, die außerhalb des sassaresophonen Sprachraumes leben, verbrachte selbst jedoch nie längere Zeit an einem anderen Ort. Er ist verheiratet und hat Kinder. Seine Ehefrau stammt ebenfalls aus Sassari. Der Befragte gibt an, sich insbesondere Sassari eng verbunden zu fühlen. Sprachkenntnisse (Selbsteinschätzung) Italienisch: aktiv und passiv hoch / L1 neben dem Sassaresischen und Primärsprache Sassaresisch: aktiv mittel / passiv mittel L1 neben dem Italienischen und Sekundärsprache Logudoresisch: keine Kenntnisse Kontext des Spracherwerbs: Sassaresisch und Italienisch Der Befragte gibt an, parallel das Italienische (zuhause, in der Schule, im Kontakt mit Freunden und später beim Militär) und das Sassaresische (zuhause und im Kontakt mit Freunden) erlernt zu haben. Seine Großeltern väterlicherseits und mütterlicherseits sowie seine Eltern spre/ (a)chen Sassaresisch untereinander. Innerhalb der Familie spre/ (a)chen seine Großeltern sowie seine Eltern mit ihm Sassaresisch. Sämtliche Familienangehörige - d. h. seine Großeltern, Eltern und Geschwister - spre/ (a)chen Sassaresisch und Italienisch mit dem Befragten. In seiner Kindheit wurde im schulischen Umfeld nicht auf das Sassaresische zurückgegriffen, auch nicht unter den Schülern. <?page no="379"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 379 Kenntnis und aktueller Gebrauch der Idiome sowie Begründung Der Sprecher gibt an, gelegentlich mit seiner Ehefrau, seinen Kindern und seinen Neffen / Enkeln Sassaresisch zu sprechen. Er verwendet das Sassaresische zuhause, am Arbeitsplatz sowie im Kontakt mit Freunden und Kollegen. In Geschäften, auf dem Markt, an Schulen, auf dem Amt oder im Kontakt mit fremden Sarden greift er niemals auf das Sassaresische zurück. In emotional geprägten Situationen verwendet er das Sassaresische. Zum Zählen gebraucht er lediglich das Italienische. Er selbst schätzt seine aktiven und passiven Kenntnisse des Sassaresischen als mittel ein. Er gibt an, Sassaresischsprecher jeden Alters zu verstehen. Er verwendet das Italienische auch im Umgang mit anderen Sprechern des Sassaresischen, „perchè in genere si dialoga in italiano“. Mediennutzung Der Sprecher gibt an, dass das Sassaresische / Sorsesische gelegentlich im Fernsehen und Radio präsent ist. Er hat gelegentlich Schriftstücke in sassaresischer Sprache gelesen und würde dies gerne häufiger tun, gäbe es mehr Texte. Er hört häufig sassaresische Musik und hat gelegentlich versucht, das Sassaresische schriftlich zu verwenden („poesie“). Gäbe es eine Einheitsorthographie für das Sassaresische, so wäre er bereit, diese zu verwenden. Er hat Interesse an einer schriftsprachlichen Verwendung des Idioms, denn „ci penso sempre“. Identität und Einstellung zum Italienischen, Sassaresischen und Sorsesischen Der Sprecher gibt an, sich primär als Sassarese zu fühlen und der sassaresischen Sprache verbunden zu sein. Das Sassaresische ist laut seiner eigenen Angabe Teil seiner Identität und er bemerkt, gerne Sassaresisch zu sprechen. Sassarese zu sein ist für ihn nicht gleichzusetzen mit Sorsese zu sein. Allerdings sei Sassarese sein gleichbedeutend mit Sarde und Italiener zu sein. Er gibt an, das Sassaresische als schönes und ausdrucksstarkes Idiom wahrzunehmen, das für Fremde schwer zu erlernen sei. Dass Kinder den Lokaldialekt erlernen, ist dem Sprecher wichtig und er befürwortet die Einführung des Sassaresischen an den Schulen. Der Befragte bejaht die Frage, ob das Sorsesische vitaler sei als das Sassaresische Sassaris, „perchè si dialogia meno“. Er sieht das Sassaresische durch das Italienische und Sardische bedroht, nimmt jedoch nicht an, dass das Sassaresische und Sorsesische eines Tages aussterben werden. Die Zukunft des Sassaresischen bezeichnet er als „buono“. Laut seiner Angabe hätte das Aussterben des Sassaresischen auch den Verlust der sassaresischen Identität zur Folge. Er engagiert sich für den Erhalt des Sassaresischen „parlando e e scrivendo“. Er bezeichnet das Sassaresische als „buono e simpatico“. Von Vorteil sei das Sprechen des Sassaresischen, denn „penso che sia un buono“ und des Italienischen, denn „è la lingua madre“. Das Italienische solle das Sassaresische laut seiner Angabe nicht in allen Kommunikationssituationen ersetzen. <?page no="380"?> 380 5 Sprecherprofile Ortsgebundenheit Der Befragte gibt an, gerne in Sassari zu leben und sich der Stadt verbunden zu fühlen. Die Stadt verlassen zu müssen, würde ihm schwer fallen. Der Großteil seiner Familie und Freunde lebt in der Stadt. Einkäufe und Freizeitaktivitäten erledigt er ebenfalls in Sassari. Er interessiert sich für Neuigkeiten und aktuelle Veranstaltungen in der Stadt („i Candelieri in primis“) und frequentiert „associazioni e circoli culturali“. Charakteristika des Sassaresischen / des Sorsesischen unbeantwortet Typische Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Unterschiede des Sassaresischen zum Sorsesischen - Laute, die ein Sassarese / Sorsese aussprechen können sollte - Wörter, die ein Fremder, der Sassaresisch / Sorsesisch lernen möchte, aussprechen können sollte - Als „schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Als „nicht schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Bekannte Ausspracheregeln des Sassaresischen / Sorsesischen in Gegenüberstellung zum Italienischen - 5. 1. 10.2 Sprachdaten Map Rollen Frames Nr. 2 Instructor SASS - VS -1956m F1-F4 Follower SASS / SORS - VS / RS -1960w 5. 1. 10.2.1 Vokalische Phänomene Vokalisierung Map Task: Zur Überprüfung der Anbzw. Abwesenheit der Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] finden sich im Datensatz des Sprechers nur wenige Untersuchungsmöglichkeiten. Das Zielwort cuiva <?page no="381"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 381 realisiert er konstant als guiva (5) . Zusätzlich zeigt sich die Vokalisierung von -Ran der Wortfuge: pai me . Sassaresisches veimmi / u realisiert er als vemmu (4) (< SASS / SORS - VS / RS -1960w ) ohne Anwesenheit von [j]. Frames (1-4): Der Sprecher produziert • veimmi / u: un vemmu → lu vemmu → lu vemmu → un vemmu • Einzelnennungen (F3, F4) coibu: lu goibu → un coibu Die Vokalisierung von etym. -Rvor -Vzeigt sich nicht in den Tokens für veimmi / u, allerdings in den Nennungen für coibu. i-Prothese Map Task: Im Rahmen des Map Tasks artikuliert der Sprecher konstant prothetisches i in den Tokens für ippadda ( 2 , la ippadda ), ippada ( 2 , una / la ippada ) und ischobburu ( 3 , un / l’ischobburu ). Sämtliche für ischuminzà (15) ermittelten Belege weisen kein prothetisches i auf - weder am Äußerungsbeginn, noch nach Vokal oder Konsonant. Für ippezia produziert der Sprecher una ippezia (2) sowie einmalig una specie . Anstelle von isthudianti / isthudenti produziert der Sprecher die kognate italienische Form li studenti (2) . Frames (1-4): Der Sprecher produziert • ippadda: una ippadda → la ippadda 23 → la ippadda 24 → una ippadda • ischobburu: un ischubburu → lu schobburu 25 → lu schobburu → un ischobburu • ippada: una ippada → la ippada → la ippada → una ippada • (i)schora: - → la schora → la schora → una schora • Einzelnennungen (F1, F2) (i)schazzoffa: una schazoffa → la schazoffa Der Sprecher verwendet prothetisches i konstant in den Belegen für ippadda und ippada. Die Verwendung von i zeigt sich im Falle von ischobburu lediglich postkonsonantisch. Im intervokalischen Kontext bleibt i aus, gleiches gilt für (i)schora und (i)schazzoffa, die aufgrund ihres Genus lediglich vokalisch auslautenden Determinaten folgen. 23 Starke Störgeräusche. 24 Starke Störgeräusche. 25 Starke Störgeräusche. <?page no="382"?> 382 5 Sprecherprofile 5. 1. 10.2.2 Konsonantische Phänomene Retroflex Map Task: Im Rahmen des Map Tasks artikuliert der Sprecher konstant alveodentales [dd] in sämtlichen Tokens für nudda (2) , cabaddu (5) , ippadda (2) , eddu (2) , padedda (6) und purcheddu (4) . Den Italianismus camellu realisiert der Sprecher einmalig als camello . Anstelle von sass. sedda und castheddu rekurriert der Sprecher auf sella (5) und c / gastello (2) . Frames (1-4): Der Sprecher produziert in allen Tokens der Zielwörter ippadda, padedda, sedda (F3, F4), cabaddu und purcheddu ausschließlich alveodentales [dd]: • ippadda: una ippadda → la ippadda 26 → la ippadda 27 → una ippadda • padedda: una badidda → la badedda 28 → la badedda → una badedda • cabaddu: di gabaddu → lu gabaddu → di gabaddu → un cabaddu • purcheddu: un purchiddu → lu burchiddu → lu burchiddu → un purchiddu Im Falle von sedda spricht der Sprecher zunächst sella (F1, F2) und erst im Anschluss sedda (F3, F4) mit leicht retroflexer Artikulation: • sedda: una sella → la sella → la se[dd / ɖɖ]a → una se[dd / ɖɖ]a Anstelle von sass. castheddu rekurriert der Sprecher auf c / gastello : • castheddu: un castello → lu gastello → lu gastello → un castello Den Italianismus camellu unterzieht der Sprecher keiner hyperkorrekten Aussprache. Er artikuliert stets ll in c / gamello : • camellu: un camello → lu gamello → lu gamello → un camello Lateral-alveolare Frikative Map Task: Der Sprecher artikuliert im Rahmen des Map Tasks ausschließlich Nennungen, die zur Überprüfung des stimmlosen lateral-alveolaren Frikativs [ɬ] herangezogen werden können. Sämtliche Belege von hochfrequenten sinisthra, desthra und chisthu weisen [ɬ] auf. Desweiteren ist [ɬ] hörbar in den Nennungen der Zielwörter althru (2) , zerthu, masthru (3) und casthagna (5) . Anstelle von sass. isthudianti / isthudenti, giosthra und castheddu rekurriert der Sprecher auf studenti (2) , giostra (10) und c / gastello (2) mit Nexus st -. Für filt(h)ru rekurriert er, wie seine Gesprächspartnerin zuvor ( i filtri ), auf viltro . 26 Starke Störgeräusche. 27 Starke Störgeräusche. 28 Starke Störgeräusche. <?page no="383"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 383 Frames (1-4): Der Sprecher produziert • castheddu: un castello → lu gastello → lu gastello → un castello • gardhu: - → lu gardhu → lu gardhu → un gardhu • filt(h)ru: un filtro → lu viltro → lu viltro → un filtro 29 • lardhu: un lardho → lu rardhu → lu rardhu → un lardhu • giosthra: una giostra → la giostra → la giostra → una giostra • Einzelnennung (F1) masthru: un masthru Der Sprecher artikuliert den stimmlosen lateral-alveolaren Frikativ [ɬ] im Rahmen der Carrier phrases lediglich in der Einzelnennung des Zielwortes masthru (F1). Anstelle von castheddu und filt(h)ru rekurriert er auf c / gastello und f / viltro . Auch die in giosthra zu erwartende, stimmlose lateral-alveolare Friktion bleibt aus. Stimmhaftes [ɮ] artikuliert der Sprecher konsequent in den Tokens für gardhu und lardhu. Velare Frikative Map Task: Den aus etym. L, R, S + C entstandenen velaren Frikativ [xx] artikuliert der Sprecher in den Tokens der Zielwörter ischuminzà (15) , ischobburu (3) , moscha ( 5 , < SASS / SORS - VS / RS -1960w ) und purcheddu (4) . Anstelle von barcha prodziert er barca . Frames (1-4): Der Sprecher produziert • barcha: una barcha → la barcha → la barcha → una barcha • moscha / muschoni: una moscha o muschoni → lu muschoni 30 → lu muschoni → un muschoni • ischobburu: un ischubburu → lu schobburu 31 → lu schobburu → un ischobburu • falchu: un falco → lu valchu / lu valco → lu valco → un faccu 32 • targa: una darga → la darghla darga la dargha → la darga → una darga 33 • (i)schora: - → la schora → la schora → una schora • purcheddu: un purchiddu → lu burchiddu → lu burchiddu → un purchiddu • Einzelnennungen (F4) algha: un’alga • Einzelnennungen (F1, F2) (i)schazzoffa: una schazoffa → la schazoffa 29 Durch lautes Lachen überlagert. 30 Starke Störgeräusche. 31 Starke Störgeräusche. 32 Sehr undeutliche Artikulation. 33 Durch lautes Lachen überlagert. <?page no="384"?> 384 5 Sprecherprofile Auch im Rahmen der Frames produziert der Sprecher regelmäßig stimmloses [xx] in den Tokens für barcha, moscha / muschoni, ischobburu, (i)schora, purcheddu und (i)schazzoffa. Lediglich einmalig zeigt sich die Aussprache [ˈvaxxu] für das Zielwort falchu. Der Einzelbeleg für algha weist kein [ɣɣ] auf. Im Falle von targa bewahrt der Sprecher, wie für den Italianismus zu erwarten, prinzipiell den intervokalischen Nexus rg -; in F2 schwankt seine Aussprache ( la darghla darga la dargha ). Anlautmutation 34 Map Task: Der Sprecher wendet die Anlautmutation regelmäßig an. In folgenden Kontexten ließen sich die Anlautsonorisierung von stimmlosen Okklusiven, des Frikativs [f], der Affrikate [tʃ] sowie die Lenisierung von [dʒ] → [j] nachweisen. • nach bestimmtem Artikel: li gabbi , lu gabaddu , lu viltro , lu brosciutto , la bredda , la dombola , lu gannàu , la badedda (3) , l bercorso , la vigura , lu giodu (3) , lu dondu , lu besciu , la gurraccia , la giabi , la grabba (2) , lu voggu (2) , lu burchiddu (3) , lu gani (10) , lu jiru (10) , lu / l bappagallo (8) , la varadda (3) , la janna (3) , la guiva , la jesgia , la gasthagna (4) , lu gastello , lu bercorso • nach unbestimmtem femininen Artikel: una guiva (4) , una badedda (2) , una gurraccia (2) , una giabi (2) , una grabba , una janna , una gattedrale , una jesgia • nach Präpositionen: di bredda , di badedda , di gabaddu (2) • nach Pronomen: gli vazia , ti bigli , si juga • nach vokal. auslautendem Wort (Nomen, Verben, Adjektive, Adverbien, Partikeln, Determinanten, Zahlwörter, Quantifizierer etc.): avemmu dre , tutti ganti , pianu bianu , tiri / gira / jira bianu bianu (3) , azzendi jira , comunque du , devi dirà , a un zirthu buntu , sei bassadda (2) , z / sei bassendi (2) , ancora vara (2) , devi bassà (17) , dabboi jiri , chisthu joggu (2) , dabboi jiri (2) , ghisthu goso , tutta ganta (2) , a manca doia (2) , un boffone gosa è , a lu burchiddu diri , arrivi vinza , vai dutta la guiva , l’hai jà Vereinzelt finden sich Schwankungen bei der Lenisierung von [dʒ] → [j]: einmalig findet sich fara giossu sowie e giri giri jiri . Der Prozess [v] → [b] zeigt sich nicht: lu vemmu (2) (< SASS / SORS - VS / RS -1960w ), non aggiu vemmu . Der Rotazismus wird nicht konsequent angewandt. So findet sich einmalig eine Form mit [l] → [r] ( di regna ) neben den Nennungen lu lavandinu , la linea , la lavagna . 34 Die Stimmhaftigkeit von / s/ konnte nicht eindeutig festgestellt werden (vgl. Kap. 4.5.1). <?page no="385"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 385 Der Sprecher unterlässt zusätzlich, wie zu erwarten, die Sonorisierung anlautender Konsonanten nach Konsonant (z. B. un fiori , cun chisthu ), nach Elementen, die das raddoppiamento fonosintattico bedingen (z. B. tre cabaddi , a girà , tu cuntinua , tu giri , jà passadda ), nach Pausen (z. B. (---) giri ) sowie in im Sassaresischen etablierten Italianismen ( la giostra (10) ). Frames (1-4): Der Sprecher unterlässt, wie zu erwarten, die Anlautmutation für mit Okklusiv anlautende Kontexte nach unbestimmtem maskulinen Artikel un und verstimmhaftet diese regelmäßig nach dem vokalisch auslautenden unbestimmten Artikel una sowie den bestimmten Artikeln r / lu und r / la und der Präposition di : • V+[k]+V → [ɡ] cannàu: un cannàu → lu gannàu → di gannàu → un cannàu ebenso: cabbu, coibu, cabaddu, cani, camellu • V+[k]+V → [ɡ] crabba: una grabba → la grabba → ra grabba → una grabba ebenso: curraccia • V+[p]+V → [b] purcheddu: un purchiddu → lu burchiddu → lu burchiddu → un purchiddu ebenso: pesciu • V+[p]+V → [b] padedda: una badidda → la badedda 35 → la badedda → una badedda ebenso: predda • V+[t]+V → [d] targa: una darga → la darghla darga la dargha → la darga → una darga 36 Der Sprecher unterzieht auch den stimmlosen Frikativ [f] einer deutlich hörbaren Sonorisierung, z. B.: • V+[f]+V → [v] foggu: un foggu → lu voggu → lu voggu → un foggu • V+[f]+V → [v] figga: di vigghi → la vigga → la vigga → una vigga Der Prozess [v] → [b] zeigt sich nicht: • V+[v]+V → [v] veimmi / u: un vemmu → lu vemmu → lu vemmu → un vemmu Sehr regelmäßig vollzieht der Sprecher den Prozess der Anlautmutation auch in Bezug auf die stimmlose Anlautaffrikate [tʃ], z. B.: • V+[tʃ]+V → [dʒ] ciodu: un ciodu → lu giodu → lu giodu → un ciodu 35 Starke Störgeräusche. 36 Durch lautes Lachen überlagert. <?page no="386"?> 386 5 Sprecherprofile • V+[tʃ]+V → [dʒ] ciabi: una giabi → la giabi → la giabi → una giabi Die Anlautsonorisierung adaptiert der Sprecher auch an kognaten Formen des Italienischen: • V+[k]+V → [ɡ] castheddu: un castello → lu gastello → lu gastello → un castello • V+[f]+V → [v] falchu: un falco → lu valchu / lu valco → lu valco → un faccu 37 filt(h)ru: un filtro → lu viltro → lu viltro → un filtro 38 Die Lenisierung von [dʒ] → [j] wird regulär für die Zielwörter gioggu, gianna und gesgia vollzogen: • V+[dʒ]+V → [j] gioggu: un gioggu → lu joggu → lu joggu → un gioggu • V+[dʒ]+V → [j] gianna: una janna → la janna → la janna → una janna ebenso: gesgia Der Sprecher unterlässt, wie für das Sassaresische zu erwarten, die Lenisierung von mit [dʒ] anlautenden Italianismen: • V+[dʒ]+V → [dʒ] giosthra: una giostra → la giostra → la giostra → una giostra Den Rotazismus von [l] → [r] vollzieht der Sprecher regulär im zwischenvokalischen Kontext: • V+[l]+V → [r] lardhu: un lardho → lu rardhu → lu rardhu → un lardhu • Einzelnennung (F2) legna: la legna 5. 1. 10.3 Synthese SASS - VS -1956m Sprecher SASS - VS -1956m kann als Vollsprecher des Sassaresischen kategorisiert werden. Er erlernte zeitgleich das Sassaresische und das Italienische. Innerhalb seiner Familie verwend(et)en die Großeltern, die Eltern sowie die Geschwister im Kontakt miteinander das Sassaresische, allerdings im Umgang mit ihm zusätzlich das Italienische. Innerhalb der Familie, die er mit seiner ebenfalls aus Sassari stammenden Ehefrau gründete, ist das Italienische die dominierende Haussprache. Selbst in Gesprächen mit seiner Ehefrau verwendet er nur gelegentlich das Sassaresische. Dies tut er auch am Arbeitsplatz sowie im Kontakt mit Freunden und Kollegen sowie in emotional geprägten Situationen. Der Sprecher definiert sich selbst als Sassarese und fühlt sich der sassaresischen Sprache verbunden. Das Sassaresische, das er gerne spricht und als schönes und ausdrucks- 37 Sehr undeutliche Artikulation. 38 Durch lautes Lachen überlagert. <?page no="387"?> 5.1 Semi- und Vollsprecher des Sassaresischen Sassaris 387 starkes Idiom empfindet, ist laut seiner eigenen Aussage Teil seiner Identität. Seine Einstellung zur sassaresischen Sprache fällt sehr positiv aus und er verwendet sie zum Schreiben von Gedichten. Der Sprecher schätzt seine aktuellen aktiven Kenntnisse des Sassaresischen selbst als mittel ein. Für eine Einordnung des Sprechers als Vollsprecher spricht dennoch sein verbales wie paraverbales Verhalten in der Aufnahmesituation: Der Sprecher hatte große Freude am Bearbeiten des Map Tasks. Er sprach laut, mit hoher Sprechgeschwindigkeit und zeigte sich generell sehr selbstbewusst in der Verwendung des Sassaresischen. Seine Redebeiträge sind lang und komplex gestaltet und weisen vielfältiges lexikalisches Material auf. Es kam zu zahlreichen Gesprächsüberlappungen und Überlagerungen durch lautes Lachen. Selbst nach der Aufnahme unterhielten sich die Informanten weiterhin auf Sassaresisch. Im Ausspracheverhalten des Sprechers zeigt sich generell die Tendenz zum Erhalt typischer sassaresischer Lautstrukturen. Gelegentlich verwendet er - insbesondere im Rahmen des Map Tasks - kognate Formen des Italienischen, die er teilweise in den Frames durch ,reaktivierte‘ sassaresische Ausdrücke ersetzt. Im Hinblick auf die untersuchten vokalischen Variablen lässt sich folgendes festhalten: Die Vokalisierung von -L-, -R-, -Svor -B-, -V-, -P- und -F- und -Mzu [j] ließ sich lediglich anhand weniger Tokens überprüfen. Während die Vokalisierung in den Tokens für cuiva und coibu stabil ist, bleibt sie für veimmi / u aus. Zusätzlich findet sich eine Belegstelle für eine vollzogene Vokalisierung an der Wortfuge: pai me . Prothetisches i ist in den Tokens der mit [pp] anlautenden Zielwörter stabil (ippadda, ippada, ippezia). Greift der Sprecher auf kognate italienische Entsprechungen zurück, so verwendet er kein prothetisches i ( specie , studenti (2) ). In mit [xx] anlautenden Zielwörtern des Genus Feminin, d. h. im postvokalischen Kontext, bleibt i aus: schora (F2-F4), schazoffa (F1, F2). Für ischobburu ist i nur im postkonsonantischen Kontext ( un ischobburu , MT , F1, F4) oder nach elidiertem Artikel ( l’ischobburu , MT ) vorhanden, allerdings nicht nach lu ( lu schobburu , F2, F3). Sämtliche Tokens des Zielwortes ischuminzà weisen kein prothetisches i auf - dies unabhängig vom lautlichen Kontext (d. h. ebenfalls nach Pausen und am Äußerungsbeginn). Im konsonantischen Bereich zeigt der Sprecher in seiner Aussprache generell das Ausbleiben der retroflexen Artikulation [ɖɖ], die, wie für das Sassaresische Sassaris in der Forschung bereits bekannt, häufig in die alveodentale Realisierung [dd] übergegangen ist. Dies betrifft Tokens für nudda, cabaddu, ippadda, eddu, padedda und purcheddu. Anstelle von castheddu greift er auf das kognate italienische castello zurück. Für sedda schwankt die Aussprache zwischen sella und se[dd / ɖɖ]a mit leicht retroflexer Artikulation (s. u.). <?page no="388"?> 388 5 Sprecherprofile Der Sprecher beherrscht die Artikulation von [ɬ] bzw. [ɮ]. Die Aussprache von [ɬ] ist stabil in den Tokens für sinisthra, desthra, chisthu, althru, zerthu, masthru und casthagna. Stimmhaftes [ɮ] ist präsent in den Nennungen für gardhu und lardhu. Anstelle von sass. isthudianti / isthudenti, giosthra, castheddu und filt(h)ru rekurriert der Sprecher auf die kognaten Entsprechungen studenti , giostra , c / gastello und f / viltro mit Nexus st bzw. lt -. Die Anwesenheit des aus etym. L, R, S + C entstandenen velaren Frikativs [xx] ist sehr stabil. Dies betrifft Tokens der Zielwörter mit potentieller i -Prothese(ischuminzà,ischobburu,(i)schora,(i)schazzoffa)sowiemoscha / muschoni und purcheddu. Für barcha realisiert der Sprecher im Rahmen des Map Tasks einmalig barca , in den Frames hingegen konsequent barcha . Für falchu ist die Frikativierung sehr instabil. Sie ist lediglich einmalig in F2 hörbar ( lu valchu / lu valco ). In F4 findet sich eine hybride Form (s. u.). Stimmhaftes [ɣɣ] produziert der Sprecher nur einmal: Im Falle von targa bewahrt er, wie für den Italianismus zu erwarten, den intervokalischen Nexus rg in F1, F3 und F4. In F2 schwankt die Aussprache hingegen: • F2 targa: la darghla darga la dargha Der einmalige Beleg für algha (F4) weist hingegen den Nexus lg auf. Der Sprecher wendet die Anlautmutation generell sehr regelmäßig an. Formen mit ausbleibender Anlautmutation sind vorwiegend solche, die den Betazismus von [v] → [b] und den Rotazismus von [l] → [r] betreffen. Es handelt sich hierbei um Formen, die eine nur geringe lautstrukturelle Distanz zu den kognaten italienischen Formen aufweisen ( lu lavandinu , la linea , la lavagna ). Die Lenisierung von [dʒ] → [j] weist Schwankungen nach Verbalformen auf. Zusätzlich ließen sich folgende Beobachtungen zu hybridem und hyperkorrektem Ausspracheverhalten festhalten: Für Sassaresisch veimmi / u produziert der Sprecher vemmu . Die Vokalisierung von -R- → [j] bleibt aus, allerdings kommt es zur Assimilation des Vibranten an den Nasal bzw. zum Ausfall vokalisierten -R-, so dass eine intervokalische Langkonsonanz das Ergebnis ist. In F4 findet sich für falchu die hybride Form faccu 39 . Dieser Beleg kann als hybrid kategorisiert werden, da es sich um eine Kompromissform aus der sassaresischen sowie der italienischen Form handelt: Der für das Sassaresische zu erwartende Nexus [xx] bleibt aus, ebenso wie it. [lk]. Die sassaresische Regel der Assimilation intervokalischer Konsonantennexus bleibt folglich erhalten, allerdings angewandt auf den Nexus [lk], der hier zu [kk] verschmilzt. 39 Sehr undeutliche Artikulation. <?page no="389"?> 5.2 Semi- und Vollsprecher des Sorsesischen 389 Eine typische Hyperkorrektur ist die Übertragung der Realisierung von [ɣɣ] auf den Italianismus targa, der eigentlich durch Erhalt von rg gekennzeichnet ist. Dies geschieht jedoch lediglich einmalig (F2): • targa: una darga → la darghla darga la dargha → la darga → una darga 40 Im Verlauf der Aufnahme zeigte sich, dass der Sprecher in einigen wenigen Fällen eine Anlaufphase benötigt, um ,eingerostetes‘ sassaresisches Wortmaterial und die daran geknüpften Ausspracheregeln des Sassaresischen zu reaktivieren. So artikuliert er im Rahmen des Map Tasks die Form sella (5) . In den Frames verwendet er ab F3 dann se[dd / ɖɖ]a : • sedda: una sella → la sella → la se[dd / ɖɖ]a → una se[dd / ɖɖ]a Während der Sprecher im Rahmen des Map Tasks einmalig zunächst barca artikuliert, produziert er in F1-F4 konstant die Form barcha mit stimmlosem Frikativ [xx]. 5.2 Semi- und Vollsprecher des Sorsesischen 5.2.1 SORS - SS -1986w 5.2.1.1 Soziolinguistisches Sprecherprofil Geschlecht Geburtsjahr Geburtsort/ Wohnsitz Beruf angestammte Sprache Sprachniveau w 1986 Sassari / Sorso Kellnerin Sorsesisch Semisprecher Die Eltern der Befragten stammen beide aus Sorso. Sie hat Familienangehörige, die außerhalb des sassaresophonen Sprachraumes leben, verbrachte jedoch selbst nie längere Zeit an einem anderen Ort. Sie ist verheiratet, hat jedoch keine Kinder. Die Sprecherin gibt an, sich primär Italien eng verbunden zu fühlen. Sprachkenntnisse (Selbsteinschätzung) Italienisch: aktiv und passiv hoch / L1 und Primärsprache Sorsesisch: aktiv mittel / passiv hoch L2 und Sekundärsprache Logudoresisch: keine Kenntnisse Kontext des Spracherwerbs: Sorsesisch und Italienisch 40 Durch lautes Lachen überlagert. <?page no="390"?> 390 5 Sprecherprofile Die Befragte gibt an, zunächst das Italienische zuhause und durch die Schulbildung erlernt zu haben. Das Sorsesische erlernte sie zuhause sowie im Kontakt mit Freunden. Ihre Großeltern väterlicherseits und mütterlicherseits sowie ihre Eltern spre/ (a)chen ausschließlich Sorsesisch miteinander. Mit ihr spre/ (a)chen lediglich die Großeltern mütterlicherseits Sorsesisch. Ihre Eltern wende(te)n sich an sie lediglich auf Italienisch. Im schulischen Umfeld wurde nicht auf das Sorsesische zurückgegriffen, auch nicht unter den Schülern. Vorherrschende Sprache war das Italienische. Kenntnis und aktueller Gebrauch der Idiome sowie Begründung Die Befragte gibt an, lediglich zuhause und mit Freunden Sorsesisch zu sprechen. Mit ihrem Ehemann spricht sie gelegentlich Sorsesisch, mit den Neffen nie . In Geschäften, auf dem Markt sowie im Kontakt mit fremden Sarden greift sie niemals auf das Sorsesische zurück. In emotional geprägten Situationen verwendet sie das Sassaresische. Zum Zählen greift sie ausschließlich auf das Italienische zurück. Sie selbst schätzt ihre aktiven Kenntnisse des Sorsesischen als mittel ein, ihre passiven Kenntnisse allerdings als hoch . Sie bemerkt, Sassaresischsprecher jeden Alters gut zu verstehen. Es geschieht ihr, dass sie das Sorsesische und Italienische mischt. Sie hat nie die Erfahrung gemacht, für den Gebrauch des Sorsesischen kritisiert worden zu sein. Wenden sich Sprecher des Sorsesischen auf Italienisch an sie und nicht im Sorsesischen, so tun sie dies z. B. aus folgendem Grund: „i miei genitori lo fanno per spiegarsi meglio“. Aus dem gleichen Grund wendet sich die Befragte an andere Sprecher des Sorsesischen auf Italienisch, „perché mi esprimo meglio“. Mediennutzung Die Sprecherin gibt an, dass das Sassaresische / Sorsesische nie im Fernsehen oder Radio präsent ist. Sie hat gelegentlich sassaresische / sorsesische Literatur gelesen und würde dies gerne häufiger tun, gäbe es mehr Texte in sassaresischer / sorsesischer Sprache. Sie hört gelegentlich sassaresische / sorsesische Musik („gruppi locali paesani“), verwendet das Idiom allerdings nie schriftsprachlich, außer zum Schreiben von SMS . Sie hätte Interesse an einer häufigeren schriftlichen Verwendung der Sprache „per non perdere l’origine del mio dialetto“. Die Existenz einer Einheitsorthographie für die Varietäten des Sassaresischen würde sie hierzu bewegen. <?page no="391"?> 5.2 Semi- und Vollsprecher des Sorsesischen 391 Identität und Einstellung zum Italienischen, Sassaresischen und Sorsesischen Die Sprecherin gibt an, sich zunächst als Sassaresin zu fühlen, jedoch primär der italienischen Sprache verbunden zu sein. Das Sorsesische, das sie gerne spricht, ist laut ihrer eigenen Angabe Teil ihrer Identität. Sassaresen und Sorsesen grenzt sie voneinander ab. Sassarese / Sorsese zu sein ist für sie allerdings gleichbedeutend mit Sarde bzw. Italiener zu sein. Sie gibt an, das Sassaresische / Sorsesische als schöne und ausdrucksstarke Sprache wahrzunehmen, die für Fremde nicht schwer zu erlernen sei. Dass Kinder den Lokaldialekt erlernen, scheint ihr wichtig. Sie befürwortet die Einführung des Sassaresischen an den Schulen „per continuare la tradizione“. Sie hat den Eindruck, dass das Sorsesische aktuell vitaler ist als das Sassaresische, „perché a Sorso il dialetto è più sentito tra i cittadini“. Sie sieht die Mundart durch das Italienische bedroht und denkt, dass das Sassaresische Sassaris sowie das Sorsesische eines Tages aussterben werden. Laut ihrer Aussage hätte das Aussterben der Mundart auch den Verlust der sassaresischen / sorsesischen Identität zur Folge. Auf die Frage, wie sie die Zukunft des Sassaresischen / Sorsesischen sieht, antwortet sie: „formato da persone che parlano un dialetto storpiato ed italianizzato“. Sie engagiert sich nicht für den Erhalt des Idioms. Sie bezeichnet das Sassaresische als „espressivo“. Sie bejaht die Fragen, ob es ein Vorteil sei, Italienisch bzw. Sassaresisch / Sorsesisch zu sprechen. Das Italienische solle das Sassaresische dennoch in allen Kommunikationssituationen ersetzen. Ortsgebundenheit Die Informantin gibt an, gerne in Sorso zu leben und sich dem Ort verbunden zu fühlen. Sorsesin zu sein, bedeutet für sie „appartenenza alla mia gente ed ai luoghi“. Es würde ihr schwer fallen, Sorso zu verlassen. Der Großteil ihrer Freunde und Verwandten lebt in Sorso, wo sie hauptsächlich ihre Freizeit verbringt und Besorgungen erledigt. Sie interessiert sich für Neuigkeiten und aktuelle Veranstaltungen in Sorso („sagre e feste patronali“), ist aber in keinem lokalen Verein aktiv. Der Zuzug nach Sassari / Sorso von Menschen, die den Lokaldialekt nicht sprechen, stört sie, „perchè si perde l’appartenenza e l’identità“. Die Frage, ob man Sassarese / Sorsese sein könne, ohne die Lokalmundart zu sprechen, verneint die Sprecherin. Auf die Frage, ob Sprecher anderer Idiome, die ihren Wohnort nach Sassari / Sorso verlegen, das Sassaresisch / Sorsesische erlernen sollten, antwortet sie: „magari qualche parola o termine“. <?page no="392"?> 392 5 Sprecherprofile Charakteristika des Sassaresischen / des Sorsesischen Die Befragte gibt an, die Lautung des Sassaresischen / Sorsesischen zu mögen. Die authentischste Aussprache spricht sie älteren Sprechern („gli anziani“) zu. Sie bejaht, dass sich die Aussprache von Generation zu Generation unterscheidet. Sie gibt an, dass das Sassaresische nicht schöner klinge als das Sorsesische, denn „è più volgare“. Das Sorsesische sei schöner als das Sassaresische, denn „è più simpatico“. Die Befragte denkt nicht, dass sich die Sprache im Laufe der Jahre verändert hat. Sorsesen werden in Sassari als solche erkannt, denn das Sorsesische „ha la cadenza più allungata“. Auch Sassaresen werden in Sorso leicht erkannt („pur essendo simile al nostro [dialetto, L. L.] cambia la tonalità“). Sie hat nicht den Eindruck, das Idiom durch den selteneren Gebrauch zu vergessen. Sie gibt an, dass ihre sprachliche Herkunft in anderen Teilen Sardiniens nicht erkannt wird. Die Frage, ob sie die Herkunft bzw. Verwandtschaftsverhältnisse des Sassaresischen / Sorsesischen kennt, verneint sie. Typische Laute des Sassaresischen / Sorsesischen „chishu“ (it. ,questo‘), „chiddhu“ (it. ,quello‘) Unterschiede des Sassaresischen zum Sorsesischen „pur essendo simile al nostro cambia la tonalità“ Laute, die ein Sassarese / Sorsese aussprechen können sollte „chishu“ (it. ,questo‘), „chiddhu“ (it. ,quello‘) Wörter, die ein Fremder, der Sassaresisch / Sorsesisch lernen möchte, aussprechen können sollte „la truddha“ (it. ,mestolo‘) Als „schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Als „nicht schön“ empfundene Laute des Sassaresischen / Sorsesischen - Bekannte Ausspracheregeln des Sassaresischen / Sorsesischen in Gegenüberstellung zum Italienischen - 5.2.1.2 Sprachdaten Map Rollen Frames Nr. 2 SORS - SS -1986w , ohne Spielpartner F1-F4 <?page no="393"?> 5.2 Semi- und Vollsprecher des Sorsesischen 393 5.2.1.2.1 Vokalische Phänomene Nasalierung Map Task: Im Rahmen des Map Tasks produziert die Sprecherin zahlreiche Nennungen für Zielwörter, die zur Überprüfung der Nasalierung von / a/ herangezogen werden können. Hierzu zählen Tokens mit betontem / a/ vor [n] in geschlossener und offener Silbe: c / gandu (4) , biancu , mannu / a (2) , gantu , divanu , g[-]ni , j[-]nna (2) , lontananza ; sowie betontes / a/ vor [m] in geschlossener Silbe: mamma . Trotz der hohen Anzahl an Nennungen, die eine Nasalierung nahe legen würden, zeigen lediglich die beiden Nomina cani und gianna diesen Mechanismus. Die Sprecherin realisiert im Rahmen des Map Tasks außerdem, wie zu erwarten, keine hörbare Nasalierung für dinà. Frames (1-4): Die Sprecherin artikuliert Tokens für die Zielwörter dinà, cani, gianna und quaranta (F3): • dinà: ri din[-] → li dinà → li dinà → un din[-] • cani: un c[-]ni → lu g[-]ni → lu g[-]ni → un c[-]ni • gianna: una j[-]nna → la j[-]nna → la j[-]nna → una j[-]nna • Einzelnennung (F3) quaranta: quar[-]nta Die Sprecherin zeigt in ihrem Ausspracheverhalten deutlich die Tendenz zur Nasalierung von / a/ in offener und geschlossener Silbe vor dem Nasalkonsonant [n]. Sie überträgt diese Artikulation - wenn auch unregelmäßig (lediglich in F1 und F4) - auf die Aussprache von dinà, in der sie / a/ untypischerweise progressiv nasaliert. Vokalisierung Map Task: Im Rahmen der Nacherzählung des Map Task Verlaufs als Bildergeschichte produziert die Sprecherin für die Zielwörter feimmu und feimmà, die die Vokalisierung von etym. -Rzeigen, die Tokens femma und vimmaddi . Für veippa, das vokalisiertes etym. -Saufweist, produziert die Sprecherin veppa (2) . Frames (1-4): Die Sprecherin produziert im Rahmen der Frames für die durch Vokalisierung von etym. -Rgeprägten Zielwörter coibu und veimmi / u folgende Tokens: • coibu: un coibu → lu goibu → lu goibu → coibu • veimmi / u: un vemmu → lu veimmu → lu vemmu → un vemmu <?page no="394"?> 394 5 Sprecherprofile Die Vokalisierung in den Tokens für coibu ist stabil, während sie in veimmi / u lediglich einmalig realisiert wird (F2). Sämtliche Nennungen für veippa artikuliert die Sprecherin ohne vokalisiertes etym. -S-: • veippa: una veppa → la veppa → la veppa → una veppa Parasitisches [j] Map Task: Im Rahmen des Map Tasks artikuliert die Sprecherin mehrere Wortnennungen, die zur Überprüfung der Anwesenheit parasitischen [j] herangezogen wurden. Allerdings ist dieses vokalische Phänomen in keinem der Belege ( barcha , algha , moschi , p / borchu (2) , dargha , falchu , ca[xx]e ) feststellbar. Frames (1-4): Die im Rahmen der Frames geäußerten Tokens der Zielwörter, die wortintern den etym. Nexus L, R, S + C / G aufweisen und somit parasitisches [j] beinhalten können, artikuliert die Sprecherin ausschließlich ohne Anwesenheit des vokalischen Phänomens: • barcha: una barcha → la barcha → la barcha → una barcha • algha: un’algha → l’algha → l’agga → un’algha • moscha: una moscha → la moscha → la moscha → una moscha • falchu: un falco → lu valco → lu valco → un falco • targa: una targha → la dargha → la dargha → una targha • porchu: un porchu → ru borchu → ru borchu → un porchu i-Prothese Map Task: Die Sprecherin produziert l’ippadda , un’ippada und l’ischobburu mit prothetischem i . Für das Zielwort (i)schora artikuliert sie da schora . Frames (1-4): Im Rahmen der Frames produziert die Sprecherin durchgängig prothetisches i für die Zielwörter ippadda, ippada und ischobburu. Für (i)schora finden sich zunächst zwei Belege ohne i- Prothese (F1, F2): • ippadda: un’ippa[dd / ɖɖ]a → l’ippa[dd / ɖɖ]a → l’ippa[dd / ɖɖ]a → un’ippa[ɖɖ]a • ippada: un’ippada → l’ippada → r’ippada → un’ippada • ischobburu: un’ischobba → l’ischobburu → r’ischobburu → un ischobburu • (i)schora: una schora → la schora → l’ischora → un’ischora <?page no="395"?> 5.2 Semi- und Vollsprecher des Sorsesischen 395 5.2.1.2.2 Konsonantische Phänomene Retroflex Map Task: Die im Rahmen der Nacherzählung des Map Tasks als Bildergeschichte benannten Zielwörter sind: cabaddu, ippadda, cultheddu, padedda, sedda, beddu und castheddu. Für cabaddu kann die Artikulation einmalig als retroflex beschrieben werden ( caba[ɖɖ]u ). In anderen Fällen ( gaba[dd / ɖɖ]u , ippa[dd / ɖɖ]a , culthe[dd / ɖɖ]u , bade[dd / ɖɖ]a , eddu , be[dd / ɖɖ]u (2) , gasthe[dd / ɖɖ]u (2) ) nähert sich die Aussprache der alveodentalen Artikulation zunehmend an. Für sedda weicht die Sprecherin auf it. sella aus. Für das Zielwort camellu findet sich die hyperkorrekte Einzelnennung lu gameddu , mit deutlich hörbarer alveodentaler Artikulation [ɡaˈmeddu]. Frames (1-4): Die zur Überprüfung des Retroflex eingesetzten Zielwörter sind: castheddu, ippadda, padedda, sedda, cabaddu und camellu: • castheddu: un cascasthe[dd / ɖɖ]u → lu casthe[dd / ɖɖ]u → lu gastheddu → un castheddu • ippadda: un’ippa[dd / ɖɖ]a → l’ippa[dd / ɖɖ]a → l’ippa[dd / ɖɖ]a → un’ippa[ɖɖ]a • padedda: una pade[dd / ɖɖ]a → la pade[dd / ɖɖ]a → la bade[dd / ɖɖ]a → una pade[dd / ɖɖ]a • sedda: una sella → la sella → la sella → una sella • cabaddu: unu caba[ɖɖ]u → lu gaba[ɖɖ]u → lu gabaddu → un caba[ɖɖ]u Eine wirklich deutlich hörbare retroflexe Artikulation beinhalten lediglich die Tokens des Zielwortes cabaddu (F1, F2, F4) sowie ein Beleg für ippadda (F4). In allen anderen Fällen nähert sich die Artikulation der alveodentalen Aussprache an bzw. ist eindeutig als [dd] wahrzunehmen. Im Falle von sedda verwendet die Sprecherin die it. Entsprechung sella. Im Hinblick auf das Zielwort camellu vollzieht die Sprecherin keine Hyperkorrektur zu cameddu : • camellu: un camello → lu gamello → lu gamellu → un camellu Lateral-alveolare Frikative Map Task: Die Sprecherin produziert im Rahmen des als Bildergeschichte nacherzählten Map Tasks zahlreiche Nennungen für Zielwörter, die gemäß dem postulierten Ausgangssystem des Sassaresischen und des Sorsesischen die lateral-alveolaren Frikative beinhalten. Die Sprecherin artikuliert stimmloses [ɬ] in folgenden Tokens: avistha (3) , cultheddu , bosthu / a (4) , bisthu (5) , chisthu , gastheddu . Für filt(h)ru artikuliert sie viltro ohne Friktion. Im Hinblick auf das Zielwort giosthra produziert die Sprecherin zunächst giostre ohne Friktion, <?page no="396"?> 396 5 Sprecherprofile dann im Anschluss jedoch giosthra . Stimmhaftes [ɮ] ist deutlich hörbar in den Einzelnennungen gardhu und rardhu . Anstelle von giardhinu produziert die Sprecherin giardino . Frames (1-4): Die Sprecherin artikuliert: • cordha: una gordha → - → la cordha → una gordha • castheddu: un cascasthe[dd / ɖɖ]u → lu casthe[dd / ɖɖ]u → lu gastheddu → un castheddu • gardhu: un (-) cardh- (-) car(-)du → lu cardu → lu gardhu → un cardo • filt(h)ru: un filtro → lu viltro → lu viltro → un filtro • lardhu: ru rardhu → lu rardhu → lu lardhu → un lardhlardhu • giosthra: una giostra → ra giostra → la giostra → una giostra Die Sprecherin realisiert den stimmlosen bzw. stimmhaften lateral-alveolaren Frikativ konstant in den Tokens für cordha, castheddu und lardhu, allerdings zögert sie vereinzelt ( un cascasthe[dd / ɖɖ]u F1, un lardhlardhu F4). Im Hinblick auf filt(h)ru und giosthra bleibt die Artikulation der lateral-alveolaren Frikative ganz aus. In den Belegen für gardhu ist die Artikulation schwankend. Hier stockt der Redefluss der Sprecherin deutlich ( veggu un (-) cardh- (-) car(-)du (-) i ra mappa , F1). Velare Frikative Map Task: Zur Überprüfung der Anbzw. Abwesenheit des aus etym. L, R, S + C entstandenen velaren Frikativs [xx] konnten folgende Belege herangezogen werden: barcha , ischobburu , schora , moschi , p / borchu (2) , falchu und ca[xx]e . Für aus etym. L, R, S + G entstandenes stimmhaftes [ɣɣ] finden sich die Nennungen algha sowie dargha für das Zielwort targa, das laut Rubattu ( 2 2006) keine Friktion enthält. Frames (1-4): Die Sprecherin produziert für die Zielwörter barcha, algha, moscha, ischobburu, falchu, targa, (i)schora und porchu im Rahmen der Frames folgende Nennungen: • barcha: una barcha → la barcha → la barcha → una barcha • algha: un’algha → l’algha → l’agga → un’algha • moscha: una moscha → la moscha → la moscha → una moscha • ischobburu: un ischobba → l’ischobburu → r’ischobburu → un ischobburu • falchu: un falco → lu valco → lu valco → un falco • targa: una targha → la dargha → la dargha → una targha • (i)schora: una schora → la schora → l’ischora → un’ischora • porchu: un porchu → ru borchu → ru borchu → un porchu <?page no="397"?> 5.2 Semi- und Vollsprecher des Sorsesischen 397 Die Aussprache von stimmlosem [xx] ist stabil in den Tokens für barcha, moscha, ischobburu, (i)schora und porchu. Stimmhaftes [ɣɣ] zeigt sich in den Belegen für algha, wobei sich in F3 eine Zwischenform ergibt. Für sass. falchu produziert sie durchgehend f / valco . Die Aussprache von [ɣɣ] überträgt die Sprecherin auch auf targa, allerdings stockt sie hier vereinzelt ( una ta- (---) targcome (--) targha è i ra mappa , F4). Anlautmutation 41 Map Task: Die Sprecherin unterlässt, wie zu erwarten, die Anlautsonorisierung nach unbestimmtem maskulinen Artikel un (z. B. un cannàu ) sowie nach Formen, die das raddoppiamento fonosintattico auslösen (z. B. che candu , era biù crescendi , andà a cabaddu , che lu caffè fazia , andadda a piglià , ca[xx]e cosa ), am Äußerungsbeginn (z. B. candu soggu arribidda a casa ) sowie nach Interjektion (z. B. eh: : chisthu ). Sie wendet die Anlautmutation (Sonorisierung, Rotazismus, Lenisierung) relativ regelmäßig an: • nach bestimmtem Artikel: lu viltro , ru gabbu , lu gaffè , ri dravagli , la giabi , ru voggu , lu g[-]ni , la dargha , la j[-]nna (2) , la jesgia , lu gaba[dd / ɖɖ]u , lu gasthe[dd / ɖɖ]u , lu gameddu • nach unbestimmtem femininen Artikel: una bredda , una bade[dd / ɖɖ]a , una gurraccia , una gabbra • nach unbetontem Pronomen: mi biazia (2) , mi vazia , li biazia , me’ gugnadda , eddu biazia • nach Präpositionen: di rardhu , di regnu , di garrera • nach vokal. auslautendem Wort (Nomen, Verben, Adjektive, Adverbien, Partikeln, Determinanten, Zahlwörter, Quantifizierer etc.): non davvi biù , mi soggu avistha buru , era biù crescendi , mi vazia mari buru , mi soggu vatta (3) , aggiu bigliaddu (2) , mannu gantu , m’aggiu bosthu , mi soggu bostha , soggu dorradda , avemmo jugaddu , tutta biena , aggiu busthu , soggu dorradda , aggiu bisthu (4) , chisthu borchu , dui vigghi , aggiu gumparaddu , abia bisthu , un be[dd / ɖɖ]u gasthe[dd / ɖɖ]u , tuttu bienu , abia deziso guasi guasi , mi niboddi gandu , femmu gosì Die Sprecherin wendet nicht nur Anlautveränderungen wie die Sonorisierung von Okklusiven, Frikativen und Affrikaten an, sondern auch den Mechanismus des Rotazismus ( di rardhu , di regnu ). Auch die Lenisierung von [dʒ] → [j] ist vertreten ( la janna (2) , la jesgia , avemmo jugaddu ). Diese bleibt, wie zu erwarten, in Italianismen aus ( le giostre , la giosthra ). 41 Die Stimmhaftigkeit von / s/ konnte nicht eindeutig festgestellt werden (vgl. Kap. 4.5.1). <?page no="398"?> 398 5 Sprecherprofile Allerdings bleiben diese Prozesse auch vereinzelt in Kontexten aus, in denen sie sonst ausgeführt wurden: z. B. nach bestimmtem Artikel ( lu caffè , la gesgia ), nach unbestimmtem Artikel una ( una gesgia , una sella ), nach unbetonten Pronomen ( mi piazia ), nach Nomen ( una macchina femma ) sowie nach Verbalformen ( soggu caggiudda , aggiu passaddu , aggiu giucadda , ha pissighiddu (3) , andendi camminendi camminendi , soggu turraddu ). Der Prozess [v] → [b] zeigt sich nicht ( una veppa (2) ). Frames (1-4): Die Sprecherin unterlässt, wie zu erwarten, die Anlautmutation für mit Okklusiv anlautende Kontexte nach unbestimmtem maskulinen Artikel un . Allerdings setzt der Prozess nach dem vokalisch auslautenden unbestimmten Artikel una sowie den bestimmten Artikeln r / lu und r / la