Distinktion durch Sprache?
Eine kritisch soziolinguistische Ethnographie der studentischen Mobilität im marktwirtschaftlichen Hochschulsystem der mehrsprachigen Schweiz
1204
2017
978-3-8233-9144-9
978-3-8233-8144-0
Gunter Narr Verlag
Martina Zimmermann
Mehrsprachigkeit gilt als Pfeiler der "Schweizer Identität". Universitäten halten sich in der Lehre jedoch ans Territorialitätsprinzip; Vorlesungen erfolgen in der lokal gesprochenen Sprache, was Studierende aus anderen Sprachregionen der Schweiz überfordern kann. Die Autorin ergründet, welcher Stellenwert der Sprache in Diskursen und Praktiken zukommt, die mit der intranationalen studentischen Mobilität über schweizerische Sprachregionen hinweg einhergehen. Mittels einer Ethnographie erfasst und interpretiert sie, wie in der sich wandelnden Hochschullandschaft der Wunsch nach Mobilität kreiert und legitimiert wird und wie Mobilität und damit verbundene Herausforderungen bewältigt werden. Die soziolinguistischen Daten zeichnen ein komplexes Bild der aufeinander einwirkenden universitären Akteure in einem mehrsprachigen Land und erhellen exemplarisch das Spannungsfeld zwischen zelebrierter Mehrsprachigkeit und praktizierter "Einsprachigkeit" sowie daraus hervorgehende Ungleichheiten.
<?page no="0"?> www.narr.de TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Mehrsprachigkeit gilt als Pfeiler der „Schweizer Identität“. Universitäten halten sich in der Lehre jedoch ans Territorialitätsprinzip; Vorlesungen erfolgen in der lokal gesprochenen Sprache, was Studierende aus anderen Sprachregionen der Schweiz überfordern kann. Die Autorin ergründet, welcher Stellenwert der Sprache in Diskursen und Praktiken zukommt, die mit der intranationalen studentischen Mobilität über schweizerische Sprachregionen hinweg einhergehen. Mittels einer Ethnographie erfasst und interpretiert sie, wie in der sich wandelnden Hochschullandschaft der Wunsch nach Mobilität kreiert und legitimiert wird und wie Mobilität und damit verbundene Herausforderungen bewältigt werden. Die soziolinguistischen Daten zeichnen ein komplexes Bild der aufeinander einwirkenden universitären Akteure in einem mehrsprachigen Land und erhellen exemplarisch das Spannungsfeld zwischen zelebrierter Mehrsprachigkeit und praktizierter „Einsprachigkeit“ sowie daraus hervorgehende Ungleichheiten. 562 Zimmermann Distinktion durch Sprache? Distinktion durch Sprache? Eine kritisch soziolinguistische Ethnographie der studentischen Mobilität im marktwirtschaftlichen Hochschulsystem der mehrsprachigen Schweiz Martina Zimmermann <?page no="1"?> Distinktion durch Sprache? <?page no="2"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 562 <?page no="3"?> Martina Zimmermann Distinktion durch Sprache? Eine kritisch soziolinguistische Ethnographie der studentischen Mobilität im marktwirtschaftlichen Hochschulsystem der mehrsprachigen Schweiz <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-8144-0 Dieses Buch ist mit der Unterstützung des Hochschulrats der Universität Freiburg veröffentlich worden. <?page no="5"?> 1 11 2 15 2.1 17 2.1.1 18 2.1.2 32 2.1.3 40 2.2 51 2.2.1 51 2.2.2 56 2.2.3 58 2.2.4 63 3 79 3.1 79 3.1.1 80 3.1.2 85 3.1.3 91 3.1.4 95 3.2 108 3.2.1 113 3.3 118 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hochschullandschaft - damals und heute . . . . . . . . . . . . . Die Entstehung und Entwicklung der Universitäten in Europa - ein Längsschnitt in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . Bildungsmobilität in der Schweiz von den universitären Anfängen bis heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die aktuelle Binnenmobilität der Schweizer Studierenden: einige Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretisch-methodischer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand, -lücken und mögliche Ergänzungen Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsfragen, Daten und Methodologie . . . . . . . . . Theoretische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodologische Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der „mono-sited“ zur „multi-sited“ Ethnographie . Die anderen und ich oder ich und die anderen: zu meiner Rolle und den Beziehungen im „heimischen“ Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meine Daten und deren Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . Datenanalyse: ethnographisch, interaktionell, diskursiv und kritisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendung der analytischen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . Abschliessende Bemerkungen zur Datenerhebung und -analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 4 119 4.1 121 4.1.1 124 4.1.2 127 4.2 150 4.2.1 151 4.2.2 158 4.3 166 5 168 5.1 169 5.1.1 172 5.1.2 178 5.1.3 183 5.1.4 188 5.2 190 5.2.1 191 5.2.2 197 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem als Grundlage für die Vermarktung von (Im-)Mobilität und Sprache: eine Analyse der institutionellen Praktiken im Bestreben nach Einzigartigkeit . . . . . . . . . . Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . Marktwirtschaftliche Prinzipien in Gesetzestexten im Schweizer Hochschulsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetzes- und somit wettbewerbskonforme Praktiken an Schweizer Universitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrwert versprechen und Bedürfnisse schaffen: das diskursiv konstruierte Kapital, das der studentischen Mobilität und Sprache anhaftet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aussicht auf eine sichere Zukunft dank Sprache und studentischer Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aussicht auf sprachliche und soziale Unterstützung in der Mobilitätssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschliessende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie studentische Mobilität legitimiert wird: Eine Analyse der Diskurse junger TessinerInnen und der Rolle von Sprache(n) in Bezug auf ihre Studienwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tessiner GymnasiastInnen und ihre Sicht auf Mobilität und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Weichenstellung der Zukunft beginnt in der Vergangenheit: das Belegen des Schwerpunktfachs im „Liceo“ als Element der diskursiven Konstruktion der Studienwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine tertiäre Ausbildung im Tessin: eine legitimationsbedürftige Option . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die sichere Zukunft: Die heutige Entscheidung für übermorgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rationalisierung und Legitimierung der studentischen Mobilität von TessinerInnen in der Deutschschweiz . . . . . . . . Die Mobilität vom Tessin weg und ins Tessin zurück . „Forse meglio che io vada a scegliermi una professione dove cercano persone“ : Die Studienwahl im Hinblick auf den Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 6 <?page no="7"?> 5.2.3 202 5.2.4 207 5.2.5 212 5.2.6 219 5.3 220 6 222 6.1 223 6.1.1 225 6.1.2 228 6.1.3 229 6.2 230 6.2.1 236 6.2.2 238 6.2.3 246 6.2.4 256 6.2.5 257 6.3 259 7 262 7.1 263 7.2 269 273 „Prima ho scelto la scuola“: Die Wahl der vorteilhaften Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Ho già parlato tedesco a casa da quando sono bambina“: Zuhause Gelerntes als Argument für die Studienwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Wert der Sprachen: Sprachideologisch gefärbte Studienwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschliessende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist: eine Analyse der Diskurse sowie der sprachlichen und sozialen Praktiken junger TessinerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Herausforderungen junge TessinerInnen in der Mobilitätssituation konstruieren und wie sie diesen begegnen Herausforderungen im Zusammenhang mit fehlenden Sprachkompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herausforderungen aufgrund der ungewohnten Situation am Studienort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Tessiner Studierendenverein in Bern und dessen historische Situierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bewältigen sich verändernder Herausforderungen im sozialen Raum des Vereins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der zweckmässige Support zur Bewältigung anfänglicher Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identitäre Verunsicherung - und wie der Verein diese bewältigt oder ihr vorbeugt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stabilisierende Beziehungen inner- und ausserhalb des Vereins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschliessende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Distinktion durch Sprache? Diskussion und (erste) Schlussfolgerungen . Der variable Stellenwert von Sprachen im Kontext studentischer Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract in English . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 274 276 300 303 304 Abstract in deutscher Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwaltungstexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 <?page no="9"?> Dank Diverse Institutionen und Personen unterstützten mich bei meinem Projekt und trugen erheblich zu dessen Entwicklung und Abschluss bei. Besonderer Dank gilt meinem Betreuer, Prof. Dr. Alexandre Duchêne (Institut für Mehrsprachig‐ keit, Universität und Pädagogische Hochschule Freiburg). Er begleitete meine Arbeit vom Anfang bis zum Schluss und forderte mich mit seinen kritischen Fragen dazu auf, meine Daten aus immer neuen Blickwinkeln zu hinterfragen. Seine schier endlose Neugier hat mich sehr geprägt. Weiter bin ich Prof. em. Dr. Iwar Werlen (Institut für Sprachwissenschaft, Universität Bern) dankbar, dass er mich unmittelbar nach meinem Masterabschluss 2011 im Si‐ nergia-Projekt „Mehrsprachigkeit und Lebensalter“ anstellte. Die Zeit am In‐ stitut für Sprachwissenschaft war für mich äusserst lehrreich. Ebenfalls möchte ich mich bei den Mitgliedern des vom Schweizerischen Nationalfonds finan‐ zierten Sinergia-Projekts (Leitung Prof. Dr. Raphael Berthele, Universität Frei‐ burg) für die aufschlussreichen interdisziplinären Diskussionen bedanken. Aus‐ serdem bin ich der Forschungsabteilung der Pädagogischen Hochschule Luzern für die Unterstützung in der Endphase dankbar. Dank einem grosszügigen For‐ schungs-Stipendium war es mir möglich, meine Arbeit in Reading ( UK ) zu fi‐ nalisieren. Ein herzlicher Dank gilt auch meinen KollegInnen aus Luzern, die meine Lehrveranstaltungen in dieser Zeit übernahmen und mich zur „Abwe‐ senheit“ ermutigten. Ferner möchte ich mich bei Prof. Dr. Rodney Jones und Prof. em. Dr. Viv Edwards bedanken, die mir während meines Aufenthalts in Reading (2015-2016) ihre Türen öffneten und mich einluden, an Workshops, Konferenzen etc. teilzunehmen. Weiter bin ich verschiedenen Institutionen für ihre Unterstützung bei Kon‐ ferenzteilnahmen und -reisen und bei der Drucklegung dieser Dissertation dankbar. Dazu gehören die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozial‐ wissenschaften, die Vereinigung für Angewandte Linguistik in der Schweiz, die Schweizerische Sprachwissenschaftliche Gesellschaft, die Philosophischen Fa‐ kultäten der Universitäten Bern und Freiburg, das Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg, die Ortsgemeinde Widnau und die Publikationskom‐ mission des Hochschulrats der Universität Freiburg. Verdankt seien ausserdem diejenigen Universitäten, die ihren Studienanfän‐ gerInnen meinen Fragebogen zustellten und mich damit dabei unterstützten, InterviewpartnerInnen zu gewinnen. Weiter bin ich den verschiedenen an Uni‐ versitäten tätigen ExpertInnen dankbar, die sich mir für ein Interview zur Ver‐ <?page no="10"?> fügung stellten. Zu grossem Dank verpflichtet bin ich ausserdem den Maturan‐ dInnen und StudienanfängerInnen, die mit mir ihre Überlegungen zu bevorstehenden oder gefällten Entscheidungen zur Studienwahl bereitwillig teilten. Ein spezielles Dankeschön gilt den Mitgliedern des Tessiner Studieren‐ denvereins in Bern, die mich herzlich in ihren Kreis aufnahmen und an ihrem Alltag teilhaben liessen. Sehr wertvoll war für mich der Austausch mit zahlreichen Personen. Sie alle aufzuzählen, ergäbe eine lange, lange Liste. Besonders dankbar bin ich allen teilnehmenden DoktorandInnen der am Institut für Mehrsprachigkeit in Frei‐ burg stattfindenden „Internal Workshops“, die Prof. Dr. Alexandre Duchêne ini‐ tiierte. Dank ihm bestand ausserdem am Institut für Mehrsprachigkeit die Mög‐ lichkeit, vom Input namhafter ProfessorInnen zu profitieren und mit ihnen mein Projekt zu besprechen. Spezieller Dank gilt Prof. Dr. Aneta Pavlenko (Temple University, Philadelphia), Prof. Dr. Luisa Martin Rojo (Universidad Autonoma de Madrid), Prof. Dr. Monica Heller (University of Toronto), Prof. Dr. Eva Vetter (Universität Wien) und Prof. em. Dr. Marilyn Martin-Jones (University of Bir‐ mingham). Sie haben mich über die Treffen hinaus beeindruckt und unterstützt. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei meinen KollegInnen Dr. Mi-Cha Flubacher, Dr. Alfonso Del Percio, Dr. Nuria Ristin-Kaufmann, Dr. Daniel Hof‐ stetter, Dr. Sebastian Muth und Larissa Greber; sie haben mich begleitet, inspi‐ riert und in weniger produktiven Phasen aufgemuntert. Ein herzliches Danke‐ schön gilt ausserdem Dr. Jürg Zimmermann-Hug, der mir sowohl bei der redaktionellen Feinarbeit als auch bei der Suche nach stringenten Formulie‐ rungen mit Rat und Tat zur Seite stand. Ebenso bedanken möchte ich mich bei Rosella Romano, die mir dabei half, die zum Teil akustisch schwer verständlichen italienischen Audioaufnahmen zu erschliessen. Von Herzen möchte ich mich schliesslich bei meiner Familie und meinen FreundInnen bedanken, die mir während diesen Jahren zur Seite standen und mich während dem langen und zum Teil einsamen Arbeitsprozess auf verschiedenste Weise unterstützten. Dank 10 <?page no="11"?> 1 Einleitung Vor rund 12 Jahren - ich war damals an der Pädagogischen Hochschule des Kantons St. Gallen in der Ausbildung zur Primarlehrerin - absolvierte ich ein Jahr meines Bachelor-Studiums in der französischsprachigen Schweiz (Lau‐ sanne). Dazu ermuntert wurde ich von der institutionsinternen Mobilitäts‐ beauftragten, die im Rahmen eines Vortrags für die Mobilität warb. Gerne hätte ich damals ein Semester in Schottland verbracht - ich wollte mein Englisch verbessern -, allerdings waren an der jungen Institution noch keine Verträge mit internationalen Partnerschulen unter Dach und Fach. So nahm ich statt‐ dessen am Austauschprogramm „Mobilité Suisse“ teil, das Studierende dazu an‐ regt, innerhalb der Schweizer Landesgrenzen mobil zu werden. Im Herbst 2004 sass ich dann z. B. in einer Biologievorlesung an der Univer‐ sität Lausanne, in der ein Professor über die „Dépollution“ (Entgiftung) von Luft im Zusammenhang mit dem Blattbestand von Bäumen referierte. Erst Tage da‐ rauf verstand ich, dass dies nichts mit „pollinisation“ (Bestäubung) zu tun hatte. Ebenso besuchte ich Französisch-Didaktik-Seminare, in denen auf erstsprachige Kinder ausgerichtete Hörtexte miteinander verglichen wurden, wobei es mir nicht gelang, die diskutierten Unterschiede zu identifizieren. Nebenher arbeitete ich in einem Café im Zentrum von Lausanne, versuchte mir Bestellungen zu merken, für mich bedeutungslose Audiostränge, bei denen das Segmentieren semantisch sinnvoller Glieder unmöglich war (z. B. / œ͂teosinɔʀɔdosilvuplɛ/ für „un thé au cynorrhodon s’il vous plaît“, einen Hagebuttentee, bitte). Zu diesen sprachlichen Herausforderungen kamen andere, die damit zu tun hatten, dass ich die Institution, die Stadt etc. kaum kannte. So realisierte ich etwa, dass Fahr‐ karten für das Stadtverkehrsnetz nur an Automaten bezogen werden konnten, die übrigens kein Retourgeld gaben, und Kontrolleure im Bus nur büssten, statt, wie ich es gewohnt war, den Passagieren Billetts zu verkaufen. Lausanne war nicht meine einzige Erfahrung studentischer Mobilität. Mit meinem Wechsel an die Universität Freiburg hatte ich auch mit einem Bildungs‐ system zu tun, das nicht in jener Sprache funktionierte, in der ich meine Studi‐ enreife erlangt hatte. Es folgten Studienaufenthalte in Barcelona und Bolzano. Später kamen berufliche Mobilitätserfahrungen dazu - nach meiner Ausbildung war ich als Lehrerin in England und in Italien tätig. Immer wieder traf ich innerhalb meiner Mobilitätserfahrungen - ob studen‐ tischer oder professioneller Natur - auf Zusammenschlüsse, in denen sich Men‐ <?page no="12"?> schen gleicher geographischer und / oder sprachlicher Herkunft in ihrer neuen und ihnen fremden Umgebung zusammentaten. Ich mied solche Gruppierungen eher, wunderte mich über das Bedürfnis ihrer Mitglieder, ihnen anzugehören, und fragte mich, weshalb diese Menschen, die „bloss“ Sprache und / oder geo‐ graphische Herkunft teilten, miteinander Zeit verbrachten. Ferner hatte ich Mühe zu verstehen, weshalb - so meine retrospektiv formulierte Perspektive - man sich zeitweise der Möglichkeit verschloss, die lokal dominante Sprache zu erwerben; für mich war damals meine Dislokation jeweils an die Chance ge‐ koppelt, meine Sprachkompetenzen zu verbessern. Die Fragen, welche ich mir damals, veranlasst durch meine eigene studenti‐ sche Mobilität, stellte, und die Perspektive, von der aus ich diese betrachtete, haben sich mit den Jahren, in welchen ich mich mit Soziolinguistik auseinan‐ dersetzte, verändert. Mein Interesse an der studentischen Mobilität über lan‐ desinterne Sprachgrenzen hinweg ist aber lebendig geblieben; aus ihm nährt sich meine Motivation zur Erarbeitung dieser Untersuchung. Sie widmet sich jenem Stellenwert von Sprache, der ihr in Diskursen und Praktiken im Zusam‐ menhang mit der studentischen Mobilität im schweizerischen Hochschulsystem zukommt. Das erwähnte Interesse verlangte von mir, über individuelle Mobili‐ tätserfahrungen von Studierenden hinauszugehen und institutionelle Diskurse und Praktiken zur Mobilität im Tertiärbereich einzubeziehen. Ferner wurden die Geschichte der Universität, analog zu welcher die Studentenmobilität entstand, und mit ihr die politisch-ökonomischen Bedingungen relevant, die studentische Mobilität erst ermöglichten und weiterhin ermöglichen. Ausserdem wurden Zusammenschlüsse, die Studierende mit gleichem sprachlichem Hintergrund und gleicher geographischer Herkunft vereinigten - vormals war ich ihnen mit Argwohn aus dem Weg gegangen - zu einem analytisch interessanten sozialen Raum, in dem Diskurse und Praktiken die Situation der Mobilität widerspiegeln. In den zwei letzten Jahrzehnten hat die Schweizer Hochschullandschaft er‐ hebliche Veränderungen erfahren. Zum einen besteht seit 1996 auch in der ita‐ lienischsprachigen Schweiz, dem Tessin, die Möglichkeit, ein Studium zu ma‐ chen, was bedeutet, dass seither in drei von vier Sprachregionen der Schweiz universitäre Bildung angeboten wird. Trotz dieser Option verlässt die Mehrheit der Tessiner MaturandInnen zwecks des Studiums die Herkunftsregion und im‐ matrikuliert sich an einer Universität in der französischsprachigen oder deutschsprachigen Schweiz. Die vorliegende Arbeit geht dem Verhalten dieser studentischen BinnenwandererInnen auf den Grund, und widmet sich insbe‐ sondere denjenigen TessinerInnen, die sich für ein Studium in der Deutsch‐ schweiz entscheiden. Sie stellen eine interessante Gruppe Studierender dar. Denn erstens verfügen sie erst seit vergleichsweise kurzer Zeit in der eigenen 1 Einleitung 12 <?page no="13"?> Sprachregion über ein Angebot an universitärer Bildung, von dem sie gröss‐ tenteils nicht Gebrauch machen. Zweitens ist der Deutschschweizer Kontext mit seinem Nebeneinander von Standarddeutsch und Dialekt interessant, ein Kon‐ text, in welchen die TessinerInnen - Standarddeutsch wird an Tessiner Schulen als Fremdsprache unterrichtet, nicht aber Schweizerdeutsch - sich mittels ihrer Mobilität begeben. Zum andern hat sich die gesetzliche Grundlage der Schweizer Hochschulen verändert. Aktuelle Gesetzesartikel fördern vermehrt den Wettbewerb unter universitären Hochschulen. Die Bildungsstätten profitieren von staatlichen Subventionen, deren Höhe sich u. a. danach bemisst, wie erfolgreich sich eine Universität gegenüber ihrer Konkurrenz behaupten kann. Auf diesen Vorbedingungen basieren die Überlegungen und Analysen dieser Arbeit. Sie ergründet, welcher Stellenwert der Sprache in Diskursen und Prak‐ tiken zukommt, die mit der intra-nationalen studentischen Mobilität über Sprachregionen in der Schweiz hinweg einhergehen. Mittels einer „multi-sited“ Ethnographie, die auf Prämissen der kritischen Soziolinguistik basiert, analy‐ siert die Untersuchung, wie in der sich verändert habenden Schweizer Hoch‐ schullandschaft der Wunsch nach Mobilität kreiert und legitimiert wird und wie Mobilität und damit verbundene Herausforderungen bewältigt werden. Dieses Vorhaben leitet die nachfolgenden Kapitel. Zuerst (Kapitel 2) skizziere ich die Geschichte und die Gegenwart der Hochschulen und umreisse die Ent‐ stehung universitärer Institutionen, welche die akademische Mobilität mit sich brachten. Weiter lege ich dar, wie es um die akademische Mobilität in Geschichte und Gegenwart in der Schweiz stand bzw. steht. Es folgt ein knapper Überblick über die Forschung zum Thema der studentischen Mobilität, und es wird auf bestehende Lücken in der Erkundung dieses Themas hingewiesen. Vor diesem Hintergrund wird erörtert, welchen Beitrag die vorliegende Arbeit leisten und wie sie sich positionieren will. Es werden die Forschungsfragen formuliert, und es wird erklärt, welche Daten zur Beantwortung derselben mit welcher Methode erhoben wurden und wie diese analysiert werden. Ausserdem werden drei the‐ oretische Konzepte, die dem Vorhaben dienlich sind - nämlich Mobilität, Sprachideologie und politische Ökonomie - vorgestellt. Das Kapitel 3 ist der Methodologie gewidmet. Es wird aufgezeigt, weshalb ein ethnographischer Ansatz für das Forschungsunterfangen gewählt wurde und wie dieser im Detail aussieht. Darauf folgen drei analytische Kapitel. Kapitel 4 analysiert, wie der Wunsch nach Mobilität geweckt wird. Eine Analyse gesetzlicher Grundlagen und insti‐ tutioneller Dokumente (Werbematerial), von Feldnotizen und Interviews mit an Hochschulen tätigen Personen zeigt, dass Tertiärinstitutionen in ihren univer‐ 1 Einleitung 13 <?page no="14"?> sitären Promotionsdiskursen und -praktiken ihre je eigenen Vorteile in einem gesetzlich kompetitiv geprägten Setting hervorheben. Dabei wählen sie Strate‐ gien, die ihre Hochschule als die „richtige“ erscheinen lassen. In Bezug auf ita‐ lofone Studierende wird die Sprache zum Instrument, mittels dessen der Stu‐ dierendengruppe die für sie besonders relevanten Vorteile kommuniziert werden. Kapitel 5 ist der Analyse von Interviews mit GymnasiastInnen und Studierenden aus dem Tessin gewidmet. Es legt dar, dass in ihren Begründungen der herannahenden oder zurückliegenden Entscheidung für ein Studium die sprach-politische Situation des Landes und ihre Konsequenzen für die Bildungs‐ systeme der verschiedenen Sprachregionen und die markt-wirtschaftliche Di‐ mension zum Ausdruck kommen. In Kapitel 6 ergründe ich die zahlreichen Herausforderungen, die Tessiner Studierende im Zusammenhang mit ihrer Dislokation konstruieren, und gehe der prominenten Strategie, diesen Herausforderungen im Tessiner Studieren‐ denverein zu begegnen, auf den Grund. Eine Analyse der Vereinspraktiken zeigt, dass die Individuen in ihrer Mobilitätserfahrung im Verein Unterstützung su‐ chen und bekommen. Die individuelle Mobilitätserfahrung widerspiegelt sich in den institutionellen Praktiken und sichert das Fortbestehen des Vereins. Die ethnographische Untersuchung erlaubt ein tiefgründiges Verständnis so‐ ziolinguistischer Praktiken und der ihnen zugrunde liegenden Sprachideologien verschiedener voneinander abhängiger Akteure in der tertiären Bildung (Hoch‐ schulen, GymnasiastInnen, Studierende). Das Deuten der Ergebnisse vor dem Hintergrund historischer und politisch-ökonomischer Bedingungen inner- und ausserhalb der Schweiz gibt ausserdem Aufschluss darüber, wie sich in Prak‐ tiken der studentischen Mobilität marktwirtschaftliche Interessen lokaler, nati‐ onaler, europäischer und globaler Natur widerspiegeln (Kapitel 7). Diese Inte‐ ressen haben Einfluss darauf, welcher Stellenwert Sprache unter welchen Bedingungen zukommt und wie Sprache instrumentalisiert wird. Abschliessend zeige ich auf, welche gesetzlichen Veränderungen in dieser Arbeit noch nicht berücksichtigt worden sind, und führe aus, welche weiterführenden Fragen sich in zukünftigen Forschungsarbeiten aufgreifen liessen. 1 Einleitung 14 <?page no="15"?> 1 Das Original ist im „Archivio della Società romana di storia patria“ (1888, Ausgabe 3-4: 396) abrufbar. Die Qualität des Drucks ist jedoch schlecht. http: / / periodici.librari.beniculturali.it/ visualizzatore.aspx? anno=1888&id_immagine=10244466&id_periodico=6861&id_testata=25 [letzter Zu‐ griff, 10. 10. 2015]. 2 Eine sinngemässe Übersetzung schlägt Haskins (1898: 214) vor: „To their dear and res‐ pected parents M. Martre, knight, and M. his wife, M. and S. their sons send greeting and filial obedience. This is to inform you that, by divine mercy, we are living in good health in the City of Orleans, and are devoting ourselves wholly to study, mindful of the words of Cato, ‘To know anything is praiseworthy.’ We occupy a good dwelling, next door but one to the schools and market-place, so that we can go to school every day without wetting our feet. We have also good companions in the house with us, well advanced in their studies and of excellent habit - an advantage which we well appre‐ ciate, for as the Psalmist says, ‘With an upright man thou wilt show thyself upright’.“ 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne Paternitati vestre innotescat quod nos, sani et incolumes in civitate Aurelianensi, di‐ vina dispensante misericordia, conumorantes, operam nostram cum affectu studio totaliter adhibemus, considerantes quia dicit Cato: „scire aliquid laus est, etc.“ Nos enim domus habemus bonam et pulcram, que sola domo distat a scolis et a foro et sic pedibus siccis scolas cotidie possumus introire. Habemus etiam bonos socios no‐ biscum, hospicio vitaque et moribus comendatos; et in hoc nimium congratulamur, notantes quia dicit Psalmista: „Cum sancto sanctus eris, etc.“ 1 (Auszug aus einem an die Eltern adressierten Brief, verfasst von den zwei in Orléans studierenden Söhnen, 13. Jahrhundert 2 ) Several advantages we should find there, such as … better opportunities of growing perfect in the French, better masters for mathematics (which he has a mind to apply himself to for some time) and for any exercise of accomplishment that any of us might have a mind to advance or perfect ourselves in such as dancing, fencing, drawing, architecture, fortification, music, the knowledge of medals, painting, sculpture, anti‐ quity […] (Auszug aus einem Brief, der von Tutor Fish aus Paris nach England gesendet wird, anfangs 18. Jahrhundert, Black 2011: 162) Ho sempre avuto la ferma intenzione di studiare in un’università germanofona fin da quando ho ottenuto la maturità in Ticino, poiché considero la lingua tedesca come valore aggiunto nel mio CV. Sono finito a Lucerna. Impiego due ore e mezzo, proprio pochissimo per noi Ticinesi. È la più vicina università per noi. Torno giovedì sera in <?page no="16"?> 3 Ich hatte immer den Wunsch, an einer deutschsprachigen Universität zu studieren, seit ich im Tessin die Maturareife erlangt habe, da ich die deutsche Sprache als Pluspunkt für meinen CV erachte. Ich bin nach Luzern gekommen. Ich brauche zweieinhalb Stunden von hier bis ins Tessin, das ist wenig für uns Tessiner. Es ist die nächste Uni‐ versität für uns. Ich reise jeweils am Donnerstagabend ins Tessin zurück und komme am Sonntagabend wieder nach Luzern. Ich bin sehr oft im Zug. Aber ich bin zufrieden mit meiner Wahl, ich fühle mich wohl; vor allem die akademische Struktur, die den Studierenden angepasst ist, gefällt mir. Hier kennen dich die Professoren persönlich und es ist nicht nötig, via Assistenten mit ihnen zu kommunizieren. [meine Überset‐ zung] 4 Stefania ist ein Pseudonym, das die Identifizierung der Sprecherin verunmöglicht, je‐ doch grundlegende, zum situativen Verständnis beitragende Eigenschaften dennoch preisgibt (Frau, Verwendung von Vornamen lässt auf Duzbeziehung schliessen etc.). In dieser Arbeit werden anonymisierte Personen nach diesem Prinzip benannt. Ticino, e domenica sera torno a Lucerna. Sono spesso sul treno. Però sono contenta con la mia scelta, mi sono trovato benissimo soprattutto grazie a una struttura acca‐ demica fatta a misura di studente, dove i professori ti conoscono personalmente e non è necessario ricorrere alla mediazione degli assistenti per comunicare con loro. 3 (Auszug aus einem Interview mit Stefania 4 , Frühling 2012, Luzern) Die drei Belege sind unterschiedlicher Natur. Sie stammen aus verschiedenen zeitlichen und räumlichen Kontexten. Zwei davon sind Auszüge aus Briefen, einer geht auf eine Tonaufnahme zurück. Während die Quelle in Latein wie auch diejenige von Stefania auf ein Studium an einer Universität Bezug nehmen, ver‐ weist diejenige aus Paris auf die „Grand Tour“, die v. a. im 17., aber auch im frühen 18. Jahrhundert unter Privilegierten verbreitet war und Aufenthalte in Kultur- und Universitätsstädten Europas beinhaltete. Trotz dieser Unterschiede haben die Zeitzeugnisse auch Gemeinsamkeiten. Sie handeln von drei jungen Menschen, die der geeigneten Bildung zuliebe zum Teil weite und unbequeme Wege auf sich genommen haben. Die Entscheidung, sich fern der Heimat in Orléans, Paris oder Luzern aufzuhalten, scheint je nach Epoche die „richtige“ zu sein; die Ausbildung in der sprachlich-kulturellen Fremde ist die zeitgemässe Vorbereitung auf die Zukunft. Bildungsmobilität geht weit zurück und ist eng mit Institutionen / Orten ver‐ bunden, die entsprechende Bildung versprechen. Aber wie sind diese Bildungs‐ zentren entstanden? Wie sind sie zu dem geworden, was sie heute sind? Wie kam es dazu, dass einige Städte zu universitären Stätten wurden? Und weshalb wird die an den Universitäten angebotene Bildung als „geeignet“ erachtet und mit ihr seit Jahrhunderten sozialer Aufstieg assoziiert? Um solchen Fragen auf den Grund zu gehen und zu verstehen, weshalb Bildung Studierende seit jeher in die Ferne zieht, scheint es fruchtbar, im Folgenden einen Blick auf die Ent‐ 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 16 <?page no="17"?> 5 Es herrscht bis anhin Uneinigkeit, welche der beiden Universitäten zuerst gegründet wurde. 6 In dieser Arbeit werden diese Institutionen als Hochschulen oder Universitäten be‐ zeichnet, wobei diese beiden Begriffe synonym verwendet werden. Wenn von einer höheren Fachschule, einer Pädagogischen Hochschule oder einer Fachhochschule die Rede ist, wird dies spezifiziert. 7 Die Universität Luzern beispielsweise existiert zwar erst seit 2000, jedoch konnte sie an das Jesuitenkolleg aus dem 17. Jahrhundert anknüpfen. stehung und Entwicklung der Bildungsinstitutionen zu werfen (2.1.1). Danach ist ein Unterkapitel der Bildungsmobilität in der Geschichte der Schweiz ge‐ widmet (2.1.2). Schliesslich wird die aktuelle Mobilität beschrieben, die im Fokus dieser Arbeit steht (2.1.3). 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute Seit um etwa 1200 die Uruniversitäten Bologna und Paris entstanden 5 , zählt gemäss Weber „die Universität zu den wichtigsten soziokulturellen Kräften, welche die Formierung, den Aufstieg und die hochrangige Positionierung Eu‐ ropas in der Welt ermöglichten“ (Weber 2002: 9). Seither hat sich einiges ver‐ ändert, eine Elitenbildungsanstalt ist die Universität jedoch geblieben. Sie ver‐ mittelt und schafft höheres Fakten-, Methoden- und Orientierungswissen und nimmt qualifizierte Lernende auf, die mit und dank diesem Wissen später in der Regel bestimmte gesellschaftliche Positionen einnehmen. Die aktuelle Schweizer Hochschullandschaft besteht aus 12 tertiären Institu‐ tionen 6 , welche vorwiegend in urbanen Zentren zu finden sind. Dazu zählen zehn kantonale und zwei eidgenössische Universitäten. Diese blicken auf eine 800-jährige Geschichte zurück, wobei freilich die Mehrheit von ihnen erst im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gegründet wurde, aber meist auf bereits bestehenden Institutionen aufbauen konnte 7 . Um das aktuelle tertiäre Bildungs‐ wesen und die darin vorherrschenden hochschulpolitischen Beziehungen zu verstehen, ist vorgängig ein historischer Abriss hilfreich. Das jeweilige Zeitge‐ schehen spiegelt sich nämlich in der Universität, ihrer Struktur und Ausstrah‐ lung wider. Diese Retrospektive soll dazu beitragen, das Aufkommen der Uni‐ versität im europäischen Kontext zu situieren, wobei auch auf die Schweiz und die dortigen Gründungen verwiesen wird. Weiter soll dieser Rückblick verdeut‐ lichen, vor welchem Hintergrund die studentische Mobilität entstanden ist. 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 17 <?page no="18"?> 8 Interessierte LeserInnen seien auf die zitierte Literatur verwiesen, in der gründlicher auf Einzelheiten eingegangen wird. Wie aber von Weber (2002) bemerkt wird, ist die Universitätshistorie wenig entwickelt. Für Europa liegt einzig das vierbändige Werk von Walter Rüegg (1993-2010) vor, das von der Europäischen Rektorenkonferenz he‐ rausgegeben wurde. 2015 verfasste Stefan Fisch zudem eine knappe Übersicht über die Universitätsgeschichte. 9 Es versteht sich von selbst, dass die Geschichtsschreibung keine Wissenschaft ist, die bloss Fakten zusammenträgt. Vielmehr interpretiert sie die vergangenen Ereignisse, färbt sie und trägt wesentlich dazu bei, was als „zentraler Aspekt“ definiert wird (vgl. Rüsen 2002). Geschichtsschreibung kann weder als reine Konstruktion des Gestern durch das Heute noch als heutiges Abbild des Gestern betrachtet werden. 2.1.1 Die Entstehung und Entwicklung der Universitäten in Europa - ein Längsschnitt in Kürze Der Blick in die Vergangenheit soll knapp sein; er dient der Kontextualisierung und wird ohne Details 8 auskommen müssen. Den grossen Epochen Mittelalter, frühe Neuzeit und Moderne entlang werden zentrale Aspekte aufgeführt 9 . Ein letzter Abschnitt ist der Gegenwart gewidmet. Sofern es aus Schweizer Per‐ spektive etwas vorzubringen gibt, wird dies im finalen Abschnitt der Darstel‐ lung der jeweiligen Epoche getan. Die ersten Universitates im christlichen Europa: 1180 - 1400 Ihren Anfang nahm die Universität in Bologna und Paris. Die Universität Bo‐ logna (offizielles Gründungsjahr 1088) fasste die bereits bestehenden Rechts‐ schulen zusammen, die aufgrund von immerwährenden Konflikten zwischen Papsttum (Kirchenrecht), Bürgertum (kommunales Recht) und Kaisertum (Herr‐ scherrecht) entstanden waren. In Paris hingegen wurden um 1200 verschiedene theologische Schulen organisatorisch zusammengefasst; der Papst erachtete Paris als künftiges universitäres Zentrum der europäischen Theologie und trug mit der „licentia ubique docendi“ dazu bei, dass alle Studenten, die den Magister erlangt hatten, an jeder europäischen Universität lehren konnten. Er animierte somit den Lehrkörper bereits in den universitären Anfängen zur Mobilität, er‐ hoffte er sich dadurch doch eine Verbreitung seiner theologischen Lehre. Ge‐ meinsam war den frühen Universitäten, dass sie aus einer bestimmten geistigen und sozialen Situation entstanden, als nämlich „herkömmliche Kloster- und Domschulen den fortschreitenden Erkenntnis- und Lehrmethoden der Scho‐ lastik und den Ansprüchen der wissenschaftstreibenden Bevölkerungsgruppen, vornehmlich Kleriker und in zunehmendem Masse auch Laien, nicht mehr ge‐ nügten“ (Boehm & Müller 1983: 12). Lehrer und Scholaren schlossen sich zu Korporationen, also zu einer Art von Berufsgenossenschaften, zusammen. Daher kommt auch die Bezeichnung „universitas“, die für Kommunität steht. 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 18 <?page no="19"?> Auch wenn in Bologna und Paris Konflikte zwischen Hauptakteuren wie Papst, Bischof, Stadt oder Kaiser ausgetragen wurden, war das Modell der Universität rasch erfolgreich. Beide Universitäten hatten bald Ableger (z. B. in Padua, Siena), und es dauerte nicht lange, bis in Oxford die erste selbständige Gründung er‐ folgte. Im 13. und 14. Jahrhundert - es gab dann bereits über 30 Universitäten - festigte sich die Organisationsform, und mit der Gründung in Prag (1348) und später in Heidelberg und in Köln erreichte die Universität auch das „jüngere Europa“ (vgl. Moraw 1985). Zwar unterscheiden sich die lokalen Geschichten der einzelnen Institutionen voneinander, jedoch sind alle Gründungen mithilfe der Kirche entstanden. Zu dieser Zeit stand nämlich die Wissenssicherung und -verbreitung im Vordergrund, wobei es darum ging, die „doctrina sacra“ in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Dank der Kirche, dem aufstrebenden Stadtbürgertum und später der Höfe avancierten die universitären Titel und Abschlüsse „zu anerkannten sozialen Merkmalen, Ausweisen höherer Qualifikation und adelsnahen Rangs“ (Weber 2002: 69). Der Adel hiess das Prinzip „scientia nobilitat“ gut und begab sich ebenfalls - wenn meist auch ohne je einen Abschluss zu erlangen - an die Uni‐ versität. Man könnte hier auch von einer ersten Bildungschance sprechen, die einem breiteren (aber durchaus zur Elite gehörenden) Publikum zuteil wurde und das Vorrecht des adeligen Blutes in Frage stellte. Die Studienvorausset‐ zungen formaler Art beschränkten sich nämlich darauf, dass derjenige, der zu studieren wünschte, getauft, ehelich geboren und unbescholtenen Leumunds war und ein Mindestalter hatte, in dem er fähig war, Verantwortung wahrzu‐ nehmen. Zu den tatsächlichen Studierenden zählten aber neben den Adeligen v. a. die Ober- und Mittelschicht aus dem städtischen Bürgertum. Schwinges (1986) unterscheidet neben den Adeligen, für die das Studium in erster Line einer „berufsunspezifischen Sozialqualifikation“ gleichkam (Seifert 1986: 619) und für die akademische Titel von geringer Bedeutung waren, verschiedene, für die Epoche charakteristische Typen von Studierenden. Der häufigste war der „scho‐ laris simplex“, der während maximal zwei Jahren an der artistischen Fakultät Grundkenntnisse erwarb, ohne einen Abschluss zu erlangen. Schon seltener war der Student, der nach rund zweieinhalb Jahren eine artistische Grundausbildung mit dem Grad des „Bakkalaureus“ abschloss, manchmal sogar darüber hinaus studierte und den Magistergrad erreichte. In wenigen Fällen wurde dann das Bakkalaureat einer höheren Fakultät ( Jurisprudenz, Medizin oder Theologie) erworben, im besten Fall verbunden mit der Lehrlizenz und der anschliessenden Doktorwürde. Abgänger der Universität (mit und ohne Abschluss) übernahmen nicht selten Funktionen in Verwaltungen und Kirchenbürokratien und forderten bereits im 13. und 14. Jahrhundert den Geburtsadel heraus (Verger 2000). 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 19 <?page no="20"?> 10 Wissenschaft wurde als göttliche Gabe betrachtet, die kaum gegen Geld vermittelt werden konnte. Gemeinsam war den Studierenden ihre Prägung aufgrund der Bildung. Das relativ einheitliche Sach- und Orientierungswissen, v. a. im Bereich der Juris‐ prudenz und der Theologie, fand in der „lectio“ (im vom Klosterbetrieb über‐ nommenen 45-Minuten-Rhythmus) ebenso Verbreitung wie die Latinisierung und Standardisierung des Denkens und der Kommunikation (auf Grundlage der Schulung in Grammatik und Logik) (vgl. Weber 2002: 70). Die Studierenden nahmen zum Teil weite Wege auf sich, um in den Genuss universitärer Bildung zu kommen. Die studentische Wanderung war in den meisten Fällen auf das Fehlen einer einschlägigen Ausbildungsstätte in der Region zurückzuführen. So begaben sich bspw. deutsche Studierende und aufstrebende Junggelehrte vor der Errichtung der Universität Köln häufig nach Bologna, Paris oder Padua (Fisch 2015). Die gemeinsame Prägung, die Studierende an den Universitäten erfuhren, wurde durch die studentische Wanderung verbreitet und trug zur Europäisie‐ rung bei. Unterrichtet wurden die Studierenden allerorts von einem Lehrkörper, der mehrheitlich aus Klerikern bestand und aus Pfründen bezahlt wurde. Im Allge‐ meinen war die Vergütung jedoch nicht prioritär, „Scientia donum Dei est, unde vendi non potest“ 10 stand im Vordergrund. Oft reichten diese Einkünfte aber kaum, weshalb die Lehrenden von ihren Studierenden „Collectae“ oder Exa‐ mensgebühren verlangten (Verger 2000). Die Unterrichtenden waren somit immer abhängig von Herrschern und deren Mass an finanzieller Unterstützung. Ganz generell beeinflussten die Herrscher das universitäre Geschehen erheb‐ lich. Ihnen stand es zu, die Institutionen privilegiert zu behandeln, d. h. sie etwa bei den Steuern entlasten oder ihnen das Verleihen bestimmter akademischer Grade zu erlauben (Nardi 1993). Ebenso konnten sie Verbote aussprechen, an einer bestimmten Universität zu studieren (Kaiser Friedrich II . etwa verbot 1226 das Studium und die Lehre in Bologna im Zusammenhang mit seiner Absicht, in Neapel Kader fürs Königreich Sizilien auszubilden.) oder wichtige Vor‐ schriften für den höheren Unterricht durchzusetzen (So schickte Papst Georg IX . 1234 Weisungen nach Bologna und nach Paris, wie die Lehre dort auszusehen habe.). In Anbetracht dieser (hier skizzenhaft dargestellten) Macht, die den Herrschern zukam, können Hochschulen bereits in den Anfangszeiten nicht als „autonome Gebilde, sondern müssen als gesellschaftliche Instituti‐ onen“ (Prahl 1978: 10) betrachtet werden, die in den damaligen Kontext der Weltmächte Papsttum und Reich eingebunden waren. 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 20 <?page no="21"?> 11 Dieses ist nicht mit dem späteren nationalen Zeitalter zu verwechseln. In der damaligen Eidgenossenschaft sind bis 1400 keine Universitätsgrün‐ dungen zu verzeichnen. Gewiss existierten bereits institutionalisierte Gemein‐ schaften wie etwa religiöse Bruderschaften. Deren Lehrer und Scholaren schlossen sich aber bis 1400 nicht ausserhalb von Abteien oder Bischofskirchen zusammen. Studierende aus der heutigen Schweiz besuchten vorwiegend die bereits gegründeten Universitäten im heutigen Italien und Frankreich. Humanismus, Konfessionalisierung und Aufklärung und die Universität: 1400 - 1790 Wegen Ereignissen wie dem Avignoner Exil (1309-1377) und dem Papstschisma (1378-1449) lockerte sich Ende des 14. und anfangs des 15. Jahrhunderts die päpstliche Kontrolle der Universitäten. Von universitären Akteuren entwickelte kirchliche Verfassungstheorien, die u. a. die Wahl des Papsts regelten, und Gut‐ achten weltlicher Art wurden modifiziert. Diese Anpassungen schwächten die bisher enge Verbindung zwischen der Universität und dem Papsttum. Herr‐ schaftlich-staatliche Bedürfnisse rückten in den Vordergrund, wobei es dem Landesherrn und den neuen Herren der Universität darum ging, das universitäre Wissen unmittelbar dem eigenen Land / der eigenen Region nützlich zu machen. Somit fängt das territoriale Zeitalter 11 der europäischen Universität in der frühen Neuzeit an (Moraw 1994). Der Landesherr übernahm die vormals von der Kirche ausgeübte Rolle. Infolgedessen entklerikalisierte sich die Universität schritt‐ weise und entwickelte sich zur Laieninstitution, die vermehrt territorial aktiv war. Die Landesherren waren zunehmend daran interessiert, die Landadeligen zu loyalen Anhängern zu erziehen, was eine Erweiterung des Fächerspektrums (Fechten, Tanzen, Artillerie etc.) mit sich brachte. Nach und nach wiesen die bisher der Kirche wegen sehr einheitlichen Universitätsmodelle erhebliche Un‐ terschiede auf. Kulturelle Bewegungen prägten die frühneuzeitlichen Universitäten mass‐ geblich. Zunächst war es die humanistische Elite, die durch das Wiederauf‐ greifen antiken Wissens die scholastisch ausgerichteten Professoren herausfor‐ derte. Später wurde reformatorisches Gedankengut an die Universität herangetragen und trug zu deren Wiederverkirchlichung und damit auch zur „Wiederbelebung scholastischer Wissenschaftsstrukturen“ bei (Weber 2002: 75). Es folgten konfessionalisierende Bemühungen, mit dem Ziel, die „seit der Glau‐ bensspaltung auseinanderstrebenden christlichen Bekenntnisse zu einem halb‐ wegs stabilen Kirchentum nach Dogma, Verfassung und religiös sittlicher Le‐ bensform geistig und organisatorisch zu festigen“ (Zeeden 1965: 9). Sowohl die 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 21 <?page no="22"?> Reformation als auch die Konfessionalisierung prägten die Universitäten und deren Entwicklung und Verbreitung in der frühen Neuzeit massgeblich. Etliche Krisen (z. B. die Inflation, die mit dem kolonialen Güterimport und dessen so‐ zioökonomischen Konsequenzen einherging, Hugenottenkriege, französische Expansionskriege) lähmten die universitäre Weiterentwicklung ab 1600 fast gänzlich. Aufruhr, Verunsicherung und Krieg prägten den universitären Betrieb und verunmöglichten es den Akteuren, eine kritisch-verantwortliche intellek‐ tuelle Rolle einzunehmen. Das Festhalten am Staat, auch wenn dieser im Krieg war, und an der bewährten Wissenschaft schien die sicherste und am nächsten liegende Haltung. Mitte des 17. Jahrhunderts prägten frühaufklärerische Gedanken aus ausser‐ universitären Kreisen (z. B. Descartes, Leibniz, Newton) die Universität. Sie machten nach und nach die Natur als erforschbares Universum zur Basis aller Erkenntnis (vgl. Stollberg-Rilinger 2000) und kritisierten die Vorstellung von „einer göttlichen und statischen Weltordnung“ (Wollgast 2010: 59). Zwar wehrte sich die Professorenschaft gegen aufgeklärte Gegeneliten, die wie ihre huma‐ nistischen Vorgänger fürstlich-staatliche Protektion genossen und sich in Aka‐ demien, die vorwiegend Forschung betrieben, zusammenschlossen (Wollgast 2010). Jedoch mussten sämtliche Universitäten der staatlichen Forderung nach‐ kommen und neue „nützliche“ Fächer in ihren Kanon aufnehmen, und allmäh‐ lich verbreitete sich auch in ihnen aufklärerisches Gedankengut. Für den Fort‐ bestand voraufklärerischer wie auch aufklärerischer Ideen sorgte nicht zuletzt der Medien- und Kommunikationswandel der Neuzeit (North 2001). Die Erfin‐ dung des Buchdrucks um 1450 und dessen rasche Verbreitung sowie das aus‐ gebaute Boten- und Postwesen (Behringer 2002) verhalfen dazu, den individu‐ ellen Wissensspeicher in den Druck auszulagern und das Lehrbuch massenhaft verfügbar zu machen (vgl. Weber 2002: 78). Bereits um 1600 war der Schriftbe‐ stand an den Universitäten ohne System nicht mehr überblickbar. Zahlenmässig vermehrten sich die universitären Institutionen in der frühen Neuzeit und rückten auch in bisher nicht erfasste Regionen vor. Gab es um 1400 rund 30 Universitäten, so waren es um 1500 bereits doppelt so viele. Um 1600 wurden 110 Universitäten in Europa gezählt. Im 17. Jahrhundert verlangsamte sich das stetige Wachstum - es waren nun etwa 150 Universitäten zu ver‐ zeichnen. Im 18. Jahrhundert hielten sich die Gründungen und Aufhebungen etwa die Waage. Bis 1790 wurden 28 Neugründungen gezählt. Die Universitäts‐ 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 22 <?page no="23"?> 12 Im Zuge der geographischen Erweiterung Europas wurde versucht, im Zusammenhang mit missionarischen Zielen auch universitäre Bildungsinstitutionen in den Kolonien aufzubauen. Ausser der erfolgreichen Gründung auf Haiti scheiterte dieses Unter‐ fangen. Die Mehrheit der Institutionen in der „Neuen Welt“ erreichte erst im 19. Jahr‐ hundert den Universitätsstatus. 13 So waren Studierende in Salamanca beispielsweise gezwungen, ihr nicht-jüdisches Blut nachzuweisen. landschaft galt nun als gesättigt 12 . Die prozentuale Zunahme der Anzahl an Universitäten überstieg die prozentuale Zunahme der Bevölkerung. Aus der Menge universitärer Institutionen kann aber keinesfalls geschlossen werden, dass die Universität eine Institution für die Masse geworden sei; nach wie vor begab sich nur rund 1 % der Bevölkerung an die Universität. Wollten sich Studierende in der frühen Neuzeit immatrikulieren, waren sie dazu ver‐ pflichtet, (zum Teil jedes Semester) Gebühren zu zahlen und einen Eid auf die Vorschriften der Universität inklusive deren konfessionelle Ausrichtung abzu‐ legen. Ferner wurden an manchen Orten Abstammungsmerkmale wichtig 13 . Noch war die Universität, abgesehen von wenigen Ausnahmen, nur von Män‐ nern aus adeligen oder bürgerlichen Kreisen frequentiert. Während eine Zeit lang das Fehlen einer regionalen / lokalen Universität für diese den Hauptgrund darstellte, universitäre Bildung in der Ferne zu beanspruchen, ging mit der Ver‐ dichtung der Universitätslandschaft die Mobilität an manchen Orten zurück. Zuweilen legte die territoriale Organisation den Studierenden ein Studium an der lokalen Universität nahe; mitunter trug die jeweilige Ausrichtung dazu bei, eine gewisse Studierendenpopulation anzuziehen. Neben jener Mobilität, welche zur universitären Ausbildung an einer bestimmten Institution fern der Heimat gehörte, war in der frühen Neuzeit die bereits erwähnte „Grand Tour“ verbreitet, auf welcher noble junge Männer an verschiedenen Stationen, am liebsten in Universitäts- und Kulturstädten, Halt machten (Cohen 1992; De Ridder-Symoens 1996). Auch in der frühen Neuzeit waren die Vorlesung (Modus Bononsiensis) wie auch die Vorlesung plus Übung (Modus Parisiensis) die üblichen Lehrformen. Unterrichtssprache war Latein. Aus Bürgersicht gewann das Doktorat an Ak‐ zeptanz und wurde bald zum einzigen gültigen Titel. Der Lehrkörper wurde z. T. direkt vom Landesherrn oder aus kirchlichen Ressourcen bezahlt. Nicht selten war das Salär aber karg, weshalb Professoren rege ihnen vorbehaltene Privilegien wie etwa das Braurecht nutzten. Konzentriert man sich auf die Schweiz und die dortigen Universitätsgrün‐ dungen in der frühen Neuzeit, steht man wie bei Gründungen anderswo vor dem Problem, das Gründungsjahr zu eruieren. Wie in vorausgehenden Ab‐ 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 23 <?page no="24"?> 14 Dabei sind die Institutionen nicht selten bemüht, ihre ersten Spuren möglichst weit in der Vergangenheit zu suchen und so auf lange Traditionen zu verweisen. 15 Die Universität Genf schreibt sich seit Calvins Einweihung der Akademie 1559 als Gründungsjahr zu. Erst 1873 gelang es ihr, den offiziellen Status einer Universität zu erlangen. schnitten geschildert, entstanden Universitäten jeweils im Kontext der Zusam‐ menschlüsse von Bruderschaften. Jede Universität hat eine Vorgeschichte, manche haben eine sehr lange. Ein Moment in der (Vor-)Geschichte einer Uni‐ versität wurde als genügend gewichtig bewertet, um diesem den Status „Grün‐ dungsjahr“ zuzuschreiben 14 . Dieser muss nicht mit dem Jahr zusammenfallen, in welchem die Institution offiziell als Universität anerkannt wurde und uni‐ versitären Charakter aufwies 15 . Wird im Folgenden auf Schweizer Universitäten verwiesen, geschieht dies chronologisch nach dem Kriterium der offiziellen An‐ erkennung des Universitätsstatus. Dieser Einteilung zufolge bleibt Basel mit dem Eröffnen des Universitätsbet‐ riebs 1460 bis ins 19. Jahrhundert die einzige Universität auf Schweizer Boden. Sie wurde aufgrund eines Privilegs von Papst Pius II . eröffnet. Das Verleihen von akademischen Graden stand ihr aber dank dem Basler Konzil (1432-1449) bereits davor zu; das „Studium generale“ war schon eingerichtet. Sie glich in ihrer Struktur und dem anfänglichen Lehrangebot (Theologie, Rechtswissen‐ schaften, Medizin) den Uruniversitäten Bologna und Paris. Der internationale Lehrköper mit scholastischen und früh in Basel stationierten humanistischen Grössen (z. B. Erasmus von Rotterdam) strahlte weit über die Universität und die Stadt Basel hinaus. 1529 geriet die Universität der Reformation wegen in eine Krise, Altgläubige wanderten ab, Reformierte blieben oder begaben sich aus dem Ausland nach Basel (Boehm & Müller 1983). Im 17. Jahrhundert wurde die Uni‐ versität v. a. von einzelnen bürgerlichen Familien gelenkt, aus denen Basler Ge‐ lehrtendynastien hervorgingen (z. B. Mathematiker Bernoulli). Im 19. Jahrhun‐ dert, nach der kurzen Zeit der Helvetischen Republik (1789-1803), wurde die Universität Basel in die Staatsverwaltung einverleibt. Der kriegerische Konflikt zwischen den beiden Halbkantonen Basel Stadt und Basel Land führte die Uni‐ versität in eine schwere Krise, bis 1834 dem Kanton Basel Stadt das Universi‐ tätsgut zugeteilt wurde. Nach und nach erholte sich die Universität, und die Zahl der Studenten begann wieder zu steigen. Die sich wandelnde Universität der Moderne (1790 - 1990) Die Moderne kann in Bezug auf die Universität als Epoche des Wandels be‐ zeichnet werden. Erst geriet die Universität wegen der Französischen Revolu‐ tion in eine Krise, die bis nach der Mitte des 19. Jahrhunderts dauerte. In Frank‐ 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 24 <?page no="25"?> 16 In der angloamerikanischen Welt hingegen erfuhr die Hochschule verstärkte Wert‐ schätzung und entwickelte sich weiter. Auch im sowjetkommunistischen Bereich etab‐ lierte sich ein neues System. Darin waren Forschung und Lehre voneinander getrennt. Die Lehren von Marx, Engels, Lenin und Stalin galten als Leitplanken und liessen wenig Spielraum für alternative Wege. reich erachteten die Revolutionäre die universitären Institutionen als Symbole des alten Regimes, schafften einige kurzerhand ab und gründeten stattdessen Spezialhochschulen. Nach dem Sieg über das napoleonische Reich war aber die Gefahr gebannt, dass es auch ausserhalb Frankreichs zu Abschaffungen kommen würde. Gesamteuropäisch blieb die Anzahl Universitäten gleich, in Nordamerika kam es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer deutli‐ chen Zunahme. Ab 1880 galt ein von Wilhelm von Humboldt geprägtes neuhumanistisch-ide‐ alistisches Curriculum, das sich alsbald (nicht ohne Konflikte) mit Ideen aus Preussen vermengte. Den Preussen war vor allem die Vermittlung von wirt‐ schaftlich und politisch nützlichem Wissen wichtig, Wissen, das der nationalen Bildung und dem Prestige dienlich war. Die Universität und der Staat rückten einander näher. Somit gewann die Ausbildung von Industriepersonal über die bisher angepeilten Eliten hinaus an Bedeutung. Sie erfolge zunehmend auch an Spezialhochschulen (z. B. Technischen Hochschulen). Der Druck, alle junge Menschen rasch und gezielt zu qualifizieren, hatte eine Formalisierung und Reglementierung zur Folge und brachte neue Fragen mit sich, u. a. diejenige nach der voruniversitären Bildung, die nach und nach zur Norm wurde. Zwischen 1918 und 1945 erfuhren verschiedene Universitäten diverse struk‐ turelle Veränderungen. In Europa waren sie nach dem Ersten Weltkrieg sozial, politisch und finanziell in einer schwierigen Lage 16 . Zudem bekundeten die zu‐ tiefst nationalistisch und monarchisch imprägnierten Professoren (v. a. in Deutschland) Mühe mit den Veränderungen, die diese Jahrzehnte mit sich brachten (z. B. Aufheben des klassischen Vierfakultätenmodells, Heranwachsen eines Mittelbaus). Zwischen den Weltkriegen gab es kaum Neugründungen. Während dem Zweiten Weltkrieg fungierte die Universität als Institution, die sich dem vorherrschenden politischen Programm im Dritten Reiche unterord‐ nete. Von ernsthafter Kritik daran oder von einem Widerstand gegen die nati‐ onalistischen Massnahmen seitens der Universität kann kaum gesprochen werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Europa etliche neue Universitäten gegründet. Dieser Trend hielt bis in die 90er-Jahre an. In Deutschland beispiels‐ weise wuchs der Bestand von 18 Hochschulen im Jahr 1959 auf 60 vor der Wie‐ dervereinigung. Die vielen Neugründungen hatten ein Nebeneinander von 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 25 <?page no="26"?> 17 In Tübingen kamen auf einen Professor 1830 22 Studierende, 1980 waren es 93 und 1989 waren es über 120 (Weber 2002: 181). halb-privaten, privaten und öffentlichen Bildungsinstitutionen zur Folge, die zwar alle die Bezeichnung „Universität“ verwendeten, aber nur mehr oder we‐ niger weit gehende Graduierungsrechte besassen. Unter den Neugründungen fanden sich auch einige „postnationale Institutionen“, die von mehreren Län‐ dern getragen wurden (z. B. Worlds Maritime University in Malmö, 1983). Die Studierenden nutzten das Angebot rege und schrieben sich trotz des technischen Fortschritts, der die akademische Mobilität hätte erleichtern können, v. a. an lokalen Universitäten ein und querten die Grenzen ihrer Herkunftsländer selten. Ab Ende der 80er-Jahre wurden (auch im Zusammenhang mit dem Mauerfall) Programme geschaffen, welche die akademische Mobilität in Europa fördern sollten (z. B. Erasmus). So wurden die bisher individuell organisierten Wande‐ rungen mehrheitlich von institutionalisierten Mobilitätsformen im Kontext des tertiären Bildungssystems abgelöst (vgl. Wächter 2003; Van Mol 2014). Anders als in früheren Epochen wurde die moderne Universität immer sel‐ tener von der Kirche finanziert. Letztere beschränkte sich darauf, theologische Fakultäten oder Bibliotheken zu unterstützen. Die Universität büsste an Selbstverwaltung ein. Immer mehr mischte sich der Staat ein, finanzierte die Institution, nahm aber die Professoren und Universi‐ täten in die Pflicht, das Nationalbewusstsein zu stärken. Sowohl die Studierendenals auch die Professorenzahlen stiegen in der Mo‐ derne an. Bei Letzteren geht man von 1850 bis 1990 von einer Verzehnfachung aus. Seit den 60er-Jahren wurde auch Frauen der Titel der Professorin erteilt, und seit den 70er-Jahren sind auch nebenberufliche Professoren üblich. Wäh‐ rend ein Professor um 1880 forschte, Vorlesungen hielt, Seminare in Privatwoh‐ nungen durchführte und sich überdies rege am gesellschaftlichen Leben der Universität beteiligte, glichen die Aufgabe von ProfessorInnen um 1990 denje‐ nigen von VerwalterInnen mit Zudienenden. Rund ein Drittel ihrer Arbeitszeit verbrachten sie mit administrativen Aufgaben. Bei den Studierenden war ein noch viel grösserer Anstieg zu verzeichnen, was erhebliche Auswirkungen auf die numerische Proportion von ProfessorInnen und Studierenden hatte und den direkten Kontakt zwischen Lehrkörper und Studierenden verminderte. 17 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde von den Studierenden in der Regel ein Abschluss einer höheren Schule erwartet. Dies hatte zur Folge, dass in Europa die Universität lange den Oberschichten vorbehalten blieb. Von einer Massenuniversität kann erst seit den 60er-/ 70er-Jahren gesprochen 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 26 <?page no="27"?> werden, als auch andere soziale Schichten sowie die Frauen zahlreich an die Hochschulen gelangten (Van Mol 2014). Konzentriert man sich auf die Entwicklung der Schweiz, stellt man fest, dass die meisten tertiären Bildungsstätten erst in der Moderne den universitären Status erhielten. Dies muss im Zusammenspiel mit der „Erfindung der Nation“ bzw. mit der Gründung des Bundesstaats 1848 (und mit dessen Vorläufern, dem „Staatenbund“ und der „helvetischen Republik“) gesehen werden (Anderson 1983). Einige dieser Bildungsstätten waren schon vorher aktiv gewesen. Die nachfolgenden Kurzportraits der einzelnen Schweizer Universitäten zeigen, dass den meisten von ihnen in der Moderne die „offizielle Anerkennung des Universitätsstatus“ zugesprochen wurde. Den Anfang machte Zürich, wo sich im 16. Jahrhundert verschiedene Lehr‐ stühle nach und nach zusammenschlossen. So kamen zu den reformierten Theologen unter Zwingli die Altphilologen und die Naturgeschichtler. Im 18. Jahrhundert stiessen ein staatswissenschaftlicher Lehrstuhl und ein Institut zur medizinisch-chirurgischen Ausbildung dazu. 1833 wurden die Lehrstühle zu Fakultäten erhoben und um eine philosophische Fakultät ergänzt. Somit durfte sich die Stätte offiziell als Universität Zürich bezeichnen. Die akademische Frei‐ heit in der Lehre gehörte zu den neusten Errungenschaften. Die Ordinarien waren vor allem Deutsche. Früh waren auch Frauen zum Studium zugelassen, die vorwiegend aus Russland und Deutschland kamen (Boehm & Müller 1983). Die Universität gewann an Bedeutung, erweiterte sich bis zum und nach dem zweiten Weltkrieg und ist heute die grösste Hochschule der Schweiz (ca. 26 000 Studierende, Stand 2013). In der Stadt Bern wurde ein Jahr später (1834) die Universität Bern gegründet und umfasste die vier klassischen Fakultäten. Ihr vorausgegangen war eine Akademie, die bereits zu Beginn des Jahrhunderts als Fakultät der freien Künste und der Theologie gegolten hatte (Scandola 1984). Ziel der Gründung von 1834 war es, eine Ausbildungsstätte für loyal gesinnte Beamte zu schaffen. Während sich in der Anfangszeit vor allem Schweizer Studierende immatrikulierten, ver‐ fügte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Universität über eine inter‐ nationale Studentenschaft. Ab 1870 gehörten auch Frauen (aus Russland) dazu. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs blieben die Studierenden aus dem Ausland aus, und während des Zweiten Weltkriegs war der universitäre Betrieb einge‐ schränkt. Ab den 50er-Jahren erfuhr die Universität mehr und mehr Zulauf, und der Bau neuer Gebäude wurde unumgänglich, um die immer grösser werdende Studentenschaft zu unterrichten. 1855 wurde die Eidgenössische Polytechnische Schule in Zürich als erste nati‐ onale Hochschule des jungen schweizerischen Bundesstaates eröffnet. Obwohl 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 27 <?page no="28"?> die Idee einer nationalen Universität bereits vorher diskutiert worden war, be‐ fugte erst die Bundesverfassung 1848 die Eidgenossenschaft zur Gründung einer nationalen Institution. Zudem trug die industrielle Epoche zur erfolgreichen Gründung ihr Übriges bei; sie forderte ausgebildete Leute im technisch-natur‐ wissenschaftlichen Bereich. Die Institution hatte damals fünf Fachschulen (Ar‐ chitektur, Bau- und Maschineningenieurwesen [Ingenieurwesen], Chemie und Forstwissenschaft) sowie eine Abteilung für Mathematik, Naturwissenschaften und allgemeinbildende Fächer. Sie unterstand einem vom Bundesrat ernannten Schulrat. Vor allem ausländische Professoren waren für die Institution von Be‐ deutung, sie trugen zum über die Hochschule hinaustragenden Ruf bei. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Institution ausgebaut. 1911 wurde die In‐ stitution in Eidgenössische Technische Hochschule umgetauft (Gugerli et al. 2005). Im 20. Jahrhundert gewann die Forschung zunehmend an Bedeutung, und Entdeckungen führten zur Eröffnung zahlreicher Abteilungen und Institute (Fleer & Tobler 2012). 1969 übernahm der Bund die Ecole polytechnique de l’Université de Lausanne ( EPUL ), woraus die zweite eidgenössische Hoch‐ schule - die Ecole polytechnique fédérale de Lausanne ( EPFL ) - im französisch‐ sprachigen Teil der Schweiz entstand. Sie ging aus der Ecole spéciale de Lausanne (1853) hervor - einer privaten Stätte für Ingenieure -, die seit 1890 der Univer‐ sität Lausanne angegliedert gewesen war. Seit 1991 unterliegen beide nationalen Hochschulinstitutionen dem Rat der Eidgenössischen Technischen Hoch‐ schulen. Der Universität Genf, ihr wurde 1873 der Universitätsstatus zugesprochen, ging wie der Berner Universität eine Akademie voraus, die ihrerseits 1559 auf ein humanistisch-theologisches Seminar und ein Collège zurückging. Genf zog als kulturelles Zentrum des frankofonen Protestantismus - mit der prägenden Figur Calvins - zu Beginn Studenten und Humanisten aus den reformierten Gebieten Europas an, was zur Folge hatte, das sich dort eine bemerkenswerte Gelehrtengemeinschaft herausbildete. Im Zuge der Territorialisierung, die ganz Europa beherrschte, wurde die Studentenschaft zunehmend lokaler (Aubert 2009). Während der französischen Herrschaft (1798-1813) konnte die Akademie sich relativ autonom entwickeln und mündete schliesslich 1873 in die Univer‐ sität, die für die Naturwissenschaft, die Medizin und Linguistik bedeutungsvoll war. Während der beiden Weltkriege gingen die Studierendenzahlen zurück. Auch in Genf reduzierte sich in dieser Zeit die ausländische Studentenschaft erheblich. Ab 1960 überwog die lokale Studentenschaft. Die Universität Freiburg erhielt 1889 den Universitätsstatus zugesprochen. Ausschlaggebend war Staatsrat Georges Python. Davor - seit 1582, als das Je‐ suitenkollegium St. Michael gegründet wurde - waren verschiedene Versuche 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 28 <?page no="29"?> unternommen worden, in Freiburg eine Hohe Schule für Schweizer Katholiken zu eröffnen. Die theologische Prägung wirkte sich auf die dort tätigen Profes‐ soren und ihre Studentenschaft aus, die des Katholizismus wegen von ausserhalb der Landesgrenzen den Weg ins zweisprachige Freiburg suchten. Bis in die 1960er-Jahre verstand sich die Universität als katholische Universität und wurde auch als solche wahrgenommen (Altermatt 2009). Erst später verlagerte sich der Schwerpunkt von der Theologie zu den Geisteswissenschaften, gefolgt von den Wirtschafts-, Sozial-, Natur- und Rechtswissenschaften. Die im Jahre 1890 anerkannte Universität Lausanne geht auf eine protestan‐ tische Theologieschule des 16. Jahrhunderts zurück. Sie hatte rasch einen guten Ruf und dementsprechend Zulauf. Aufgrund politischer Unstimmigkeiten wechselte der Rektor 1558 mit dem gesamten Lehrkörper zu Calvin nach Genf. Diese Veränderung hinterliess an der Lausanner Schule bis ins 18. Jahrhundert Spuren. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurde auf Französisch gelehrt, die Sä‐ kularisierung hielt Einzug, und es wurden drei Fakultäten geschaffen, nämlich die geistes-/ naturwissenschaftliche, die theologische und die juristische. Die Universität war zunehmend erfolgreich, was 1890 in die Anerkennung des Uni‐ versitätsstatus mündete (Musée historique de l’Ancien-Evêché [Hg.] 1987). Das Geschehen an der Universität wurde im 20. Jahrhundert über weite Strecken vom Kanton Waadt reguliert und kontrolliert. Erst ab 2000 gelang es der Uni‐ versität, mehr Autonomie zu erlangen. Neuchâtel bekam 1909 den Status einer Universität. Davor war zwei Mal eine Akademie gegründet worden, die jedoch nicht befugt war, Doktortitel zu ver‐ leihen, was im Vergleich zu anderen Schweizer Universitäten dem Ansehen von Neuchâtel nicht dienlich war. Obgleich 1909 erst die geistes- und naturwissen‐ schaftliche, die theologische und die rechtswissenschaftliche Fakultät bestanden und eine medizinische Fakultät fehlte, bekam die Institution den Universitäts‐ status zugesprochen. In den 60er-Jahren kam die wirtschaftswissenschaftliche Abteilung hinzu; sie wurde der rechtswissenschaftlichen Fakultät ange‐ schlossen, spaltete sich aber 2003 davon ab. Die Universität Neuchâtel wirkte weit über die Kantonsgrenzen hinaus und zog vor allem Studierende aus dem Kanton Jura an. Die Krise in den 70er-Jahren bewirkte eine verstärkte Kollabo‐ ration mit anderen Bildungsinstitutionen, v. a. im technischen Bereich (Bau‐ mann 2009). Universitäten um die Wende vom 20. ins 21. Jahrhundert (1990-) Die Universität wird seit 1990 mehr und mehr von marktwirtschaftlichen Ten‐ denzen bestimmt. Demnach wird sie nach ökonomischen Leitlinien geführt, und ihre Qualität wird nach einer ökonomischen Skala beurteilt. Laut Nida-Rümelin 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 29 <?page no="30"?> 18 http: / / www.bmbf.de/ pubRD/ sorbonne_declaration.pdf [letzter Zugriff, 08. 09. 2015]. 19 http: / / www.bmbf.de/ pubRD/ bologna_deu.pdf [letzter Zugriff, 08. 09. 2015]. 20 Stand Juni 2016. (2010) wird sie zunehmend zur Berufsakademie, die nach Marktlücken sucht und sich an möglichen Berufsfeldern orientiert. Studienangebot, Studierenden‐ zahlen, durchschnittliche Studienzeit, Rankings intra- und internationaler Art und damit verbundene Hoffnungen auf Chancen auf dem Arbeitsmarkt, Erfolg bei Drittmittelanträgen, Forschungsausweis, internationale Kooperationen etc. gelten als Qualitätskriterien. Finanziell müssen sich die Universitäten für ge‐ wöhnlich wie privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen ausweisen, auch wenn sie gewisse Anteile von der öffentlichen Hand erhalten. In Übereinstimmung mit der Tendenz, international wettbewerbsfähig zu sein und der Dienstleistungsorientierung zu entsprechen, wurden 1998 an der Pariser Universität Sorbonne supranationale Kooperationen vereinbart. Die Bildungs‐ minister aus Italien, Frankreich, Deutschland und dem Vereinigten Königreich erklärten, man wolle das enorme Potenzial an den europäischen Hochschulen besser nutzen und die Zusammenarbeit verbessern. Studierende und wissen‐ schaftliches Personal müssten deshalb innerhalb Europas mobil und die jewei‐ ligen Abschlüsse vergleichbar und gegenseitig anerkannt sein. Die sogenannte Sorbonne-Erklärung 18 wurde 1999 in Bologna weiterentwickelt. Es bekannten sich bereits 30 europäische Staaten zum Ziel, bis zum Jahr 2010 einen gemein‐ samen Hochschulraum zu schaffen. Es folgten zahlreiche Konferenzen, an denen sich immer mehr Staaten beteiligten und sich der Bologna-Reform 19 verpflich‐ teten. Zurzeit 20 sind es 48 an der Zahl, die gemeinsam für Ziele zur Errichtung des europäischen Hochschulraums und zur Förderung der europäischen Hoch‐ schulen weltweit einstehen. An den Universitäten der beteiligten Länder brachten diese Bestrebungen verschiedene Veränderungen mit sich. Dazu gehören ein einheitliches Leis‐ tungspunktesystem zur Förderung grösstmöglicher Mobilität aller an der Uni‐ versität beteiligten Akteure, vergleichbare Abschlüsse (Bachelor und Master) zur Erlangung einer arbeitsmarktrelevanten Qualifikation, verstärktes europa‐ weites Zusammenarbeiten im Hinblick auf die Erarbeitung vergleichbarer Kri‐ terien und Methoden zur Qualitätssicherung und im Hinblick auf die Entwick‐ lung von Curricula. In der Schweiz sind in dieser Phase drei Universitäten zu erwähnen. Die Hochschule St. Gallen für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften erhielt 1995 den offiziellen Universitätsstatus. Ihre Aktivität geht aber aufs Jahr 1898 zurück, als eine Akademie für Handel, Verkehr und Verwaltung gegründet wurde. Die Verkehrskomponente wurde nur sechs Jahre später abgelegt und die 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 30 <?page no="31"?> Handelskomponente verstärkt (Burmeister & Universität 1998). Somit lag in St. Gallen der Fokus bereits in den Anfängen auf der Ausbildung der Kaufleute für den Welthandel. 1938 erhielt die Institution das Recht auf Verleihung aka‐ demischer Grade. Vier Jahrzehnte später kam eine juristische Abteilung hinzu. 1995 wurde die Handeslshochschule zur Universität erhoben. Sie gilt im Wirt‐ schaftsbereich über die Landesgrenzen hinaus als führend. Dementsprechend international ist auch ihre Studentenschaft. Weiter sind zwei Neugründungen zu verzeichnen. 1996 wurde in der italie‐ nischsprachigen Schweiz, dem Tessin, die erste tertiäre Bildungsinstitution ge‐ gründet, die Università della Svizzera Italiana ( USI ). Ihr nun rund 20-jähriges Bestehen hat eine längere, von erfolglosen Gründungsversuchen geprägte Vor‐ geschichte. 1844 scheiterte ein Projekt, das der Ausbildung zukünftiger Eliten des jungen Kantons hätte dienen sollen. Anfangs des 20. Jahrhunderts wurden universitäre Gründungsprojekte wieder aufgegriffen; diesmal stand die Vertei‐ digung der „Italianità“ im Vordergrund. In der Zwischenkriegszeit kämpften Tessiner, die antifaschistisch eingestellt waren, für eine Universität. In den 70er-Jahren wurde im Tessin erneut diskutiert, endlich eine lokale Universität zu schaffen. Erst 1995 wurde ein Gesetz geschaffen, welches erlaubte, Plänen zur Gründung einer Architekturakademie in Mendrisio und zweier Fakultäten, einer der Wirtschaftssowie einer der Kommunikationswissenschaften, in Lu‐ gano entgegenzukommen und diese zu einer Universität zu vereinen. 1996 wurde die Universität eröffnet. Ihre Studentenschaft stammt mehrheitlich aus dem nahe gelegenen Italien. Nur rund 25 % sind Studierende aus der Region. In Luzern wurde im Jahr 2000 die Universität Luzern eröffnet. Wie eingangs erwähnt, geht die Vermittlung höherer theologischer Bildung in Luzern auf das 16. Jahrhundert zurück, in welchem das Jesuitenkollegium entstanden war. Dieses zur Akademie auszubauen gelang nicht. Die Tatsache, dass es schon die katholische Universität Freiburg gab, war diesem Projekt nicht dienlich. Weitere Ideen, wie etwa diejenige einer katholischen Universität mit Sitzen in Luzern sowie Freiburg oder aber die einer konfessionsneutralen Zentralschweizer Uni‐ versität scheiterten. Ab 1973 anerkannte der Bundesrat die theologische Fakultät als beitragsberechtigt. Später ergab sich aus der Kombination des philosophi‐ schen Instituts mit dem historischen Lehrstuhl die geisteswissenschaftliche Fa‐ kultät. Eine politische Volksabstimmung im Jahr 2000 verhalf schliesslich dazu, die universitäre Hochschule zur Universität anzuheben, die eine theologische, eine rechtswissenschaftliche, eine kultur- und sozialwissenschaftliche und ab Herbst 2016 auch eine wirtschaftswissenschaftliche Fakultät umfasst. 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 31 <?page no="32"?> Fazit Auch wenn die Geschichte der Universitäten nur in Umrissen dargestellt werden konnte, wird daraus ersichtlich, dass die europäische Universität nie eine nach aussen abgekapselte Festung war, wo Genies sich nach Lust und Laune geistig austoben konnten. Die Institution der Universität war vielmehr seit jeher in Bezugs- und Machtverhältnisse eingebunden. Anfänglich waren diese v. a. kirchlicher, später vor allem politischer - zuerst territorialstaatlicher, dann na‐ tionalstaatlicher und schliesslich gesellschaftlich-wirtschaftlicher - Natur. Die Universität muss somit als Institution betrachtet werden, die seit den Anfängen einem dominanten Machtapparat zudient, der bestimmt, welche Art von Bil‐ dung es zu vermitteln gilt. Auch zeigt dieser knappe Überblick, dass die Macht‐ verhältnisse, in denen die Universitäten sich entwickelten, erhebliche Auswir‐ kungen auf die Herkunft der Studierenden und auf deren Mobilität hatten und haben. Im Folgenden soll in zwei Unterkapiteln der Mobilität in der Schweiz Beach‐ tung geschenkt werden. Es wird zuerst die Mobilität der akademischen Bildung seit ihren Anfängen umrissen, wobei zum Tragen kommt, inwiefern damals die Sprache bereits eine Rolle spielte. Danach steht die aktuelle Mobilität im Fokus, auch hier mit besonderem Augenmerk auf die Sprache. 2.1.2 Bildungsmobilität in der Schweiz von den universitären Anfängen bis heute Gyr (1989) stellt fest, dass es vor 1370 bei den eidgenössischen Studenten klare Favoritenuniversitäten gab. Dazu gehörten Bologna, Paris, Orléans und Mont‐ pellier. Die Notwendigkeit mobilisierte, die Eidgenossenschaft bot damals noch keine Tertiärbildung. Die Richtung der Mobilität war trotz anderer Möglich‐ keiten (z. B. Universitäten in Prag und Wien) vorbestimmt. Gemäss Stelling-Mi‐ chaud (1938: 152) waren die Studenten aus der Eidgenossenschaft „orientés exclusivement vers les pays de langue romane“. Dies veränderte sich auch nach der Gründung der Universität Basel 1460 nicht sogleich. Die in der Ferne wei‐ lenden Studierenden kehrten nicht sofort in die Heimat zurück. Geographische Nähe war eben nur ein Argument. „Fachrichtung, Lehrangebot, Lehrkörper, konfessionelle Ausrichtung sowie politische Abkommen“ (Gyr 1989: 37) spielten ebenso eine Rolle. Wie Stelling-Michaud (1938: 153) festhält, bewirkte die Grün‐ dung der Basler Universität, „d’augmenter encore le nombre des Suisses dans les universités étrangères, car la nouvelle et vaste clientèle écolière de Bâle, attirée par la proximité du lieu, allait en grande partie poursuivre et terminer ses études dans d’autres pays“. Gyr (1989) verweist ausserdem auf die ausser‐ 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 32 <?page no="33"?> 21 Königreich Neapel, Republik Venedig etc. häusliche Erziehung als ein durchgängig befolgtes Prinzip, wobei das Aneignen von Fähigkeiten wie auch der Reifeprozess von Bedeutung waren. So sollte der Studierende sich, dank dem Aufenthalt in der Fremde, nicht nur eine Ausbildung aneignen, sondern auch erwachsen werden. Seit wann genau der Erwerb von Sprachen für die Eidgenossen von Bedeu‐ tung war, ist schwierig zu sagen. Sicher ist, dass bis in die Epoche des Huma‐ nismus Latein jene europäische Sprache war, welche die an Universitäten Lehr‐ enden und Lernenden ortsunabhängig miteinander verband und von der sie umgebenden städtischen Gesellschaft trennte (vgl. Fisch 2015: 21). Aber auch die Vorrangstellung des Französischen geht weit zurück, wie Bischoff in seinen Schlussfolgerungen zum Fremdsprachenlernen im Mittelalter aufzeigt. „From the twelfth century on, and especially in the thirteenth century, French acquired such a position; it was highly appreciated and its study was eagerly recom‐ mended. […] Already in the twelfth century Danish nobles sent their sons to Paris so that they should become familiar with the French language and litera‐ ture“ (Bischoff 1961: 210). Im 15. Jahrhundert wurden sowohl aus Bern als auch aus Basel Studierende an die Pariser Universität geschickt, auch wegen der Sprache. Anfangs des 16. Jahrhunderts weisen Korrespondenzen, wie etwa die‐ jenige zwischen dem Glarner Heinrich Loriti in Paris und Zwingli in der Eid‐ genossenschaft explizit auf die Möglichkeit hin, in Paris neben dem Hochschul‐ studium auch die französische Sprache zu erwerben (Amman 1928). Ebenso zeigen Belege aus Nachbarländern, dass neben dem Erwerb fachlicher Kennt‐ nisse jener einer Fremdsprache mehr und mehr an Bedeutung gewann. Bei‐ spielsweise hiess es, deutsche Studierende würden die Universität Orléans nicht nur der Ausbildung, sondern auch der Sprache wegen wählen. So hält Paul Hentzner, ein deutscher Student, in seinem Reisejournal fest: „man spricht dort ein so reines Französisch, dass ‚Orléanisch’ den gleichen Ruf hat wie in der Antike der ‚Attizismus’“ (Babeau 1970: 70). Gemäss Gyr (1989: 44) ist es unklar, wie viele eidgenössische Studenten auch wegen der Sprache nach Paris gesandt wurden, hingegen macht er deutlich, dass es sich nicht um Einzelfälle handelte; vielmehr kündigten sich in solchen Äusserungen Elemente einer neuen Sinn‐ gebung des Aufenthalts in der Fremde an, die sich im 17. und 18. Jahrhundert verstärkten. Aber auch die Schweiz, wo es, abgesehen von Basel, noch keine universitären Angebote gab, genoss eine über die regionalen Grenzen hinausgehende Anzie‐ hungskraft. Diese war vor allem klerikaler Natur. So zogen im 16. Jahrhundert katholische Geistliche u. a. aus dem Heiligen Römischen Reich, aus Staaten 21 , die 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 33 <?page no="34"?> 22 HistorikerInnen sind sich uneinig, wann genau die „Grand Tour“ begann (vgl. Towner 1985). heute zu Italien gehören, nach Luzern, damals Teil des Landes der Eidgenossen, wo sie als Reaktion auf fortschreitende Reformationsbewegungen das Jesuiten‐ kolleg gründeten (Studhalter 1973). Bis Mitte des 17. Jahrhunderts nahm die Zahl der Studierenden ständig zu. In der Blütezeit besuchten bis zu 600 Studenten das Kollegium oder das später gegründete Lyzeum mit den Abteilungen Theologie und Philosophie (Luzern zählte damals rund 4000 Einwohner.). Dank diesem Bildungsangebot genoss Luzern ein hohes Ansehen über die Stadtgrenzen hi‐ naus. Mit der 1605 von Bischof Johann VI . Fluggi erlassenen Anordnung, Kinder dürften „nicht zu Andersgläubigen in die Lehre, als Dienstboten oder in die Schule“ (Mayer 1914: 380), nahm die Mobilität weiter zu. In Graubünden gab es nämlich damals nur das Kloster in Disentis und die evangelische Nikolaischule in Chur (Maissen 1957). Deswegen kamen im Jesuitenkolleg Luzern im Zeitraum 1588-1778 rund 215 Bündner Studenten in den Genuss ihrer katholischen Schul‐ bildung (Maissen 1957: 106). Mobilität war somit erstrebenswert und sozusagen unumgänglich. Es ist deshalb wenig erstaunlich, dass ihr auch in einem der „ludi autumnales“ (Herbstspiele), die sehr bedeutungsvoll waren, öffentlich aufge‐ führt wurden und den Übergang von einem Schuljahr zum andern markierten (Ehret 1921), ein Platz eingeräumt wurde. 1715 handelt das von der „studie‐ rende[n] Jugend dess Gymnasii der Gesellschafft Jesu zu Lucern“ verfasste Stück davon, wie Gerold aus Liebe zu Christus die Regierung trotz Widerstand des ihm gut gesinnten Adels und der ihn schätzenden Untertanen an seinen ältesten Sohn übergab, um in das „ober Teutschland“ zu reisen ( Jugend dess Gymnasii der Gesellschafft Jesu zu Lucern 1715: s. p.). Aus Sicht der Jesuiten im Kollegium in Luzern - viele davon waren zwecks ihrer theologischen Studien selber mobil geworden - war bildende Mobilität positiv konnotiert und hing direkt mit Glau‐ bensfragen und theologischer Ausbildung zusammen. Ende des 17. und anfangs des 18. Jahrhunderts wurden junge Männer von Adel aus der heutigen Schweiz wie aus umliegenden Ländern auch zur weltli‐ chen Bildung in die Ferne geschickt, und sie begaben sich auf die „Grand Tour“ 22 (Cohen 1992; Boutier 2006). Ihre Reise, die zwischen drei und fünf Jahren dauerte, führte sie ins Königreich Frankreich, in Regionen des heutigen Italien, ins damalige Heilige Römische Reich und in die Republik der Vereinigten Nie‐ derlande. Die Dauer ihrer Tour ermöglichte es ihnen, längere Zeit am selben Ort zu verweilen und diesen kennenzulernen. Aufenthalte in Kulturstädten wie Flo‐ renz oder Rom, Universitätsstädten wie Jena oder Rotterdam, Fürsten- und Re‐ sidenzstädten wie Potsdam oder Wien, ein Besuch auf der Insel Capri oder auf 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 34 <?page no="35"?> Ischia, die Besichtigung antiker Ausgrabungsstätten auf Sizilien und Erholung in Aachen oder Spa gehörten für gewöhnlich dazu. Von Tutoren begleitet, die der notwendigen Sprachen mächtig waren, übten sich diese jungen Männer zwischen 14 und 20 Jahren in Fertigkeiten wie Fechten, Reiten, Tanzen und bil‐ deten sich beim Besichtigen von Bauten und Betrachten von Gemälden kulturell weiter (Brauer 1959). Ferner wurden ihnen standesgemässe Umgangsformen beigebracht, und sie konnten sich die französische Sprache aneignen (Green 2014). Nach einer solch ausgedehnten Bildungsreise „the young man re‐ turned […] polished and accomplished, a complete gentleman“ (Cohen 1992: 242). Mit der „Grand Tour“ verband man aber mehr als das Erlangen spezifischer Fähigkeiten. Michèle Cohen (1992: 242-243) fasst zusammen, welche Vorteile ihr von Autoren der damaligen Epochen zugeschrieben wurden: Howell betonte 1640 die Bereicherung des Geistes, die Verbesserung des Urteilsvermögens, die Verfeinerung der Manieren und überhaupt die Möglichkeit, einen jungen Mann bis zur Perfektion zu formen. Gailhard war 1678 der Überzeugung, dass der junge Mann, indem er reise, die Charaktere von Männern und deren Sitten kennen‐ lerne, was zur Folge habe, dass dieser zum geeigneten Begleiter für jedermann werde. Laut Locke ermöglichte das Reisen den Erwerb anderer Sprachen. Aus‐ serdem unterstrich er, dass man im Allgemeinen weiser werde, wenn man sich mit verschiedenen Sitten, Manieren, Lebensweisen und Menschen auseinan‐ dersetze (vgl. Bauman & Briggs 2003). Die von verschiedenen Autoren ge‐ nannten Vorteile - sie waren allesamt selbst Gereiste und Privilegierte - unter‐ schieden sich kaum voneinander. Fechten, Reiten und Tanzen zählten zu den Kernkompetenzen eines jungen Gentleman. Sitten, Benimm und Geschmack - z. B. „to refine taste and learn to be a Connoisseur“ (Breval 1726) - waren ebenso relevant. Solche Finessen gehörten zu den “marques de distinction“ (Bourdieu 1979), deren Aneignung einem Edelmann nicht verwehrt werden durfte, die ihn auszeichneten und die er sich dank der Mobilität zu eigen machen konnte (Cohen 1992). Darüber hinaus trug die „Grand Tour“ zur Etablierung eines geis‐ tigen wie auch kulturellen Netzwerks unter den Privilegierten in Europa bei (Plaschka & Mack 1987). Verschiedene Faktoren begünstigten die Mobilität: dass dort, wo der Bil‐ dungsreisende herkam, ihm entsprechende Bildungsinstitutionen fehlten, dass ihm der Aufenthalt in der Fremde die Möglichkeit bot, eine weitere Sprache zu lernen und dass er in den Genuss einer erwünschten Erziehung kam, die ihm einen gewissen sozialen Aufstieg versprach. Trotz dieser Vorzüge blieben die Werte der Fremdkultur als Erziehungs- und Bildungsmittel nicht unange‐ fochten. In der damaligen Eidgenossenschaft gipfelte diese kritische Haltung in einer Empfehlung, die 1769 von der „Helvetischen Gesellschaft“ abgegeben 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 35 <?page no="36"?> 23 Ähnliche kritische Äusserungen sind im englischen Kontext zu finden, wo im 18. Jahr‐ hundert junge, von ihrer „Grand Tour“ zurückgekehrte Gentlemen wegen ihres exzes‐ siven Gebrauchs des Französischen kritisiert wurden (vgl. Cohen 2014: 8). wurde. Sie regte dazu an, nach Möglichkeit Bildungsreisen und Erziehungsauf‐ enthalte künftig innerhalb der Landesgrenzen und nicht mehr in Frankreich zu absolvieren (Gyr 2013) 23 . Unter anderem führte diese neue Bewertung der „gar Frankreich’schen Kultur“ dazu, dass innerhalb der Eidgenossenschaft eine neue Mobilitätsbewe‐ gung entstand, die mit Bildung, Erziehung und Sprache verknüpft war. Diese muss vor dem Hintergrund des breiter werdenden lokalen Bildungsangebots wie auch, im 19. Jahrhundert, vor dem der territorialen Bestrebungen betrachtet werden. So war etwa die Welschlandgängerei (Gyr 1989) verbreitet, die über eine kleine studentische Elite hinausging und sämtliche Schichten erfasste, wobei die Möglichkeit, neben der Ausbildung die französische Sprache zu er‐ lernen, eine erhebliche Rolle spielte. So wurden sogar junge Frauen aus der Deutschschweiz - Frauen waren bis ins späte 19. Jahrhundert mehrheitlich im‐ mobil - in die Westschweiz geschickt. Dabei handelte es sich anfangs um Töchter aus bürgerlichen Kreisen, gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber auch um Mädchen aus dem bäuerlichen Milieu. Letztere dienten vorwiegend als Vo‐ lontärinnen im Haushalt oder im Dienstbotenwesen. Die zunehmende Entwicklung der Nationalstaaten, welche es notwendig machte, dem Staat zudienende Spitzenbeamten an eigenen Universitäten aus‐ zubilden, grenzte die Möglichkeiten zur studentischen Mobilität über Landes‐ grenzen hinweg zusätzlich ein (Rüegg 2010). Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurden Massnahmen ergriffen, um an die „alten Formen“ der Mobilität anzu‐ schliessen (Heinemann & Krametz 2008). Seit den 80-er Jahren entwickelte die Schweizer Hochschulpolitik Förderprogramme, die der globalen wie auch nati‐ onalen Mobilität entgegenkamen. Im Zentrum der hochschulpolitischen Be‐ strebungen standen dabei die europäische Integration und der landesinterne Austausch. Förderprogramme wie CH -Unimobil oder Erasmus zielten darauf ab, Studierenden ein- oder zweisemestrige Gastaufenthalte an anderen tertiären Institutionen inner- oder ausserhalb der Landesgrenzen zu ermöglichen; danach sollten sie ihr Studium an der Heimuniversität fortsetzen. Zu den übergeord‐ neten Zielen der frühen Mobilitätsförderung gehörten erstens der vermehrte Austausch zwischen Hochschulen, Studierenden und Dozierenden, um For‐ schung und Lehre zu verbessern, Hochschulsysteme zu stärken und einzelne Institutionen konkurrenzfähiger zu machen (Dubach & Schmidlin 2005: 11). Zweitens stand der Zusammenhalt (supra-)regionaler oder -nationaler Räume im Zentrum. 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 36 <?page no="37"?> 24 http: / / www.not-without-switzerland.org/ [letzter Zugriff, 21. 07. 2015]. 25 http: / / www.sajv.ch/ media/ medialibrary/ 2014/ 02/ 2014-02-20_Offener_Brief_Erasmus_PDF_Vorlage-def.pdf [letzter Zugriff, 29. 08. 2015]. In der „Deklaration von Bologna“, in welcher die europäischen Bildungsmi‐ nister 1999 ihren Willen zur Schaffung eines europäischen Hochschulraums be‐ kundeten, spielte die Mobilität abermals eine herausragende Rolle. Kurz darauf wurde in der Schweiz für die Jahre 2004 bis 2007 vom Bundesrat der Wunsch geäussert, die binnenschweizerische Mobilität über die Sprachraumgrenzen hinweg massgeblich zu unterstützen (Dubach & Schmidlin 2005). Dieser ver‐ stärkt politische Blick auf studentische Mobilität muss im Zusammenhang mit einem dritten Ziel betrachtet werden, welches die zwei oben genannten nach und nach ablöste. Ab 2000 standen vermehrt die Tauglichkeit im ökonomischen Wettbewerb und die Förderung des wirtschaftlichen Wachstums im Zentrum (vgl. Dixon 2006). Indem man erklärte, sich für die Mobilität im Hochschulwesen einzusetzen, bemühte man sich auch, Mobilitätshindernisse aller Art aus dem Weg zu räumen. Dementsprechend gross war die Bestürzung, als nur einige Jahre später, im Februar 2014, die Masseneinwanderungsinitiative von der Mehrheit des Schweizer Volks angenommen wurde und u. a. den Zugang zum internationalen Austauschprogramm Erasmus+ für Studierende in der Schweiz in Frage stellte. Dieses Abstimmungsresultat erhitzte die Köpfe und setzte eine grundlegende Diskussion über die studentische Mobilität in Gang, eine Diskussion, in der in verdichteter Form ersichtlich wurde, welche Vorteile welcher studentischen Mobilität heutzutage zugeschrieben werden. VertreterInnen verschiedener ter‐ tiärer Bildungs- und Forschungsinstitutionen hielten in einem Appell 24 fest, weshalb die studentische Mobilität erhalten bleiben sollte und welche fatalen Folgen deren Aufhebung für die Studierenden und das Land insgesamt mit sich bringen würde. So wiesen die VerfasserInnen darauf hin, dass „der Austausch von Studierenden und Forschenden, von Wissen und Know-how […] seit jeher eine Selbstverständlichkeit für Hochschulangehörige und eine unabdingbare Voraussetzung für die hohe Qualität von Lehre und Forschung“ sei (ebd.). Weiter wurde die generelle „Bedeutung des Austauschs für den Wissensplatz Schweiz wie auch für die Volkswirtschaft“ hervorgehoben. Auch andere Organisati‐ onen - darunter der Verband der Schweizer Studierendenschaften - äusserten in einem offenen Brief 25 „an die Schweizer Regierung und die EU in Folge des Bekanntwerdens der ersten Konsequenzen nach Annahme der Initiative gegen Masseneinwanderung in der Schweiz [sic]“ gemeinsam ihre Bedenken und baten die EmpfängerInnen nachdrücklich darum, alles zu tun, damit nicht die 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 37 <?page no="38"?> 26 https: / / ibdb-server.unibe.ch/ static/ single/ berichteonline/ bericht.php? l=de&ri=OUT&id=7909 [letzter Zugriff, 29. 08. 2015]. Jugendlichen die Folgen dieses Volksentscheids „ausbaden müssten“. Auch sie unterstrichen darin die Bedeutung der studentischen Mobilität. Es wurde fest‐ gehalten, dass sie den für einige Zeit im Ausland Studierenden ermögliche, „an‐ dere Kulturen zu entdecken und Verständnis für andere Sichtweisen zu wecken“. Weiter stärke die „Mobilität […] Selbstbewusstsein, Eigenständigkeit, Verant‐ wortungsgefühl, Offenheit, Kreativität und vernetztes Denken.“ Während sich in Erfahrungsberichten von Studierenden, die einen Teil ihres Studiums an‐ derswo absolvierten, ähnliche Argumente fanden (Luca beispielsweise schrieb über seinen Aufenthalt in Bologna, wo er im Semester vor der Sistierung des Programms studierte: „Der Austausch mit vielen Studenten aus aller Welt, sowie der lokalen Bevölkerung gibt einem ganz viele neue Perspektiven für das Leben [sic]. Für mich war es die beste Lebensschule! “ 26 ), betonten Befürworter der Ini‐ tiative gegen Masseneinwanderung die Möglichkeit zur Mobilität innerhalb des Landes über Sprachgrenzen hinweg und die Stärkung des Zusammenhalts ver‐ schiedensprachiger Landesteile. Ob pro oder contra, im Zusammenhang mit der Abstimmung wurde von den in der Tertiärbildung Lehrenden, Studierenden und politischen Akteuren studentische Mobilität als gewinnbringend beschrieben. Neben jener Mobilität, zu der Studierende, die an einen Gastaufenthalt denken, ermutigt werden, sind in der Schweiz weitere Formen von Mobilität zu finden. Zu ihnen zählt u. a. die Mobilität von Studierenden, die sich regulär an einer Schweizer Universität immatrikulieren und des Studiums wegen ihre Hei‐ matregion verlassen. Dies ist nicht selten der Fall. Die 12 tertiären Institutionen sind vorwiegend in urbanen Gegenden des Landes zu finden; sie werden auch von StudienbeginnerInnen aus ländlichen Regionen zwecks akademischer Bil‐ dung aufgesucht. Darunter finden sich auch jene mobilen Studierenden, die mit dem Studienbeginn nicht nur ihre Heimat-, sondern auch ihre Sprachregion verlassen. Diesen Studierenden und ihrer Mobilität gilt das Hauptinteresse dieser Arbeit. Ähnlich wie bei Gastaufenthalten von kurzer Dauer werden der Langzeit‐ mobilität gewisse Vorteile zugeschrieben, und sie wird von verschiedenen Ak‐ teuren in der Schweizer Hochschullandschaft propagiert. Zum Teil über‐ schneiden sich die Argumente, die für ein Studium in einer anderen Sprachregion des Landes sprechen, mit denjenigen, welche universitäre Ein‐ richtungen an Studierende richten, die sich für einen Gastaufenthalt von kür‐ zerer Dauer interessieren. Andere Argumente hingegen kommen nur bei der Propaganda vor, die auf Studierende zielt, die sich für Langzeitmobilität über 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 38 <?page no="39"?> intranationale Sprachgrenzen hinweg interessieren. So umwirbt beispielsweise die noch junge Universität Luzern, die in der deutschsprachigen Zentralschweiz situiert ist, seit einigen Jahren Studierende aus der italienischsprachigen Schweiz. Sie hebt hervor, weshalb ein Studium in Luzern für diese Studierenden besonders geeignet und demzufolge die Mobilität in Richtung Luzern lohnens‐ wert sei. Laut dem Manager der juristischen Fakultät wird den italienischspra‐ chigen Studierenden etwa der Start erleichtert, indem die sprachliche Hürde gesenkt wird (Plädoyer, Mai 2010: 25). So wird etwa im ersten Semester eine Einführungsveranstaltung in italienischer Sprache abgehalten. Giovanni, einer von zahlreichen Tessinern, die in Luzern Jus studieren, bestätigt dies. „Nella nostra Facoltà gli studenti ticinesi sono facilitati nel superamento della barriera linguistica del tedesco grazie a ottimi corsi di introduzione“ (in unserer Fakultät werden die Tessiner Studierenden beim Überwinden der Sprachbarriere dank ausgezeichneten Einführungskursen unterstützt) (Broschüre der juristischen Fakultät Luzern 2011). Mobilitätsanreize für Studierende wie Giovanni, d. h. für regulär immatrikulierte Studierende aus Sprachregionen, die ausserhalb der Sprachregion liegen, zu welcher der Universitätsstandort gehört, haben sich in den letzten Jahren in der schweizerischen Hochschullandschaft etabliert. Zu‐ nehmend dient in diesem Kontext das Thema Sprache dazu, um Mobilität zu werben oder in der Mobilitätssituation Hilfe anzubieten, eine Unterstützung, die es Studierenden erleichtern soll, mit der Mobilität einhergehende Schwierig‐ keiten zu bewältigen (vgl. Kapitel 4). Die im Vorausgehenden gemachten Ausführungen historischer und aktueller Art sind insofern uneinheitlich, als sich die Kontexte unterscheiden, in denen Mobilität zum Thema wird und dementsprechend die Gründe für die Reise nach bzw. für den Aufenthalt in einem fremden Studienort sowie die der Mobilität attestierten Vorteile variieren. Dennoch wird aus dieser Darstellung ersichtlich, dass Mobilität und Bildung privilegierter junger Leute - Kleriker, Edelleute und Studierende an Universitäten - seit dem Hochmittelalter zusammenhängen. Wie bereits angedeutet, setzt sich diese Arbeit mit der gegenwärtigen Mobi‐ lität auseinander. Allerdings wird sie dort, wo die Vergangenheit bis ins aktuelle Geschehen nachwirkt, in den anschliessenden Kapiteln auf jene zurückver‐ weisen. Ferner: Wie der Rückblick in die Geschichte der Bildungsmobilität er‐ kennen lässt, sind die Diskurse und Praktiken von heute nicht durchwegs neu. 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 39 <?page no="40"?> 27 „Als Studierende gemäss Schweizerischem Hochschulinformationssystem (SHIS) gelten alle Personen, die im angegebenen Winterresp. Herbstsemester an einer schweizerischen universitären Hochschule immatrikuliert waren. Die Statistiken der universitären Hochschulen berücksichtigen einzig die an denselben immatrikulierten Personen. Dabei werden Doppelimmatrikulationen an zwei verschiedenen universi‐ tären Hochschulen nach bestimmten Regeln eliminiert. Dies hat zur Folge, dass die hochschuleigenen Statistiken von jenen des SHIS abweichen können.“ (Bundesamt für Statistik) 28 Es geht nicht in erster Linie um Mobilität im Sinne von „Austauschsemestern“ innerhalb der Schweiz, sondern um Mobilität im Sinne von ausserkantonaler bzw. ausserregio‐ naler Immatrikulation in einer anderen Sprachregion für die gesamte Studienzeit. 29 Es ist durchaus möglich, dass v. a. in Grenzregionen SchülerInnen das Gymnasium im Nachbarkanton besuchen. Die Sprache des Gymnasiums, das Angebot der Fächer und zuweilen der Anreiseweg sind u. a. mögliche Gründe für einen ausserkantonalen Schul‐ besuch. 2.1.3 Die aktuelle Binnenmobilität der Schweizer Studierenden: einige Zahlen Nach dieser Rückschau auf die Geschichte der Bildungsmobilität geht es im Fol‐ genden darum, ein Bild der aktuellen Mobilität der Hochschulstudierenden in‐ nerhalb der Schweiz zu zeichnen. Dabei ist die Mobilität über Sprachgrenzen hinweg im Fokus. Es wird dargestellt, welche und wie viele Studierende 27 ihre Sprachregion verlassen und anderswo ein Studium absolvieren 28 . Diese Über‐ sicht ist vorwiegend deskriptiver Natur und stützt sich auf Zahlen des Schweizer Bundesamts für Statistik ( BFS ). Es ist zu beachten, dass die Erstsprachen der MaturandInnen nicht erfasst werden, sondern die Zahlen nur Aufschluss da‐ rüber geben, in welchem Kanton sie vor dem Erlangen ihrer Studienreife - also der Matura - wohnhaft waren. Daraus kann man zwar meist 29 folgern, in wel‐ cher dominanten Sprache die SchülerInnen beschult wurden, jedoch nicht, ob z. B. in ihrem sozialen Netzwerk Anderssprachige vorkommen (u. a. solche, die der Sprache des gewählten Studienorts mächtig sind) oder ob sie erst kurz vor Studienbeginn in den Kanton, wo sie wohnen, gezogen sind. Haben sie ihren Wohnsitz in einem mehrsprachigen Kanton (z. B. im Kanton Bern), so wird nicht immer deutlich, welche Sprache an ihrem Gymnasium Erstsprache war. An manchen Orten wird auch die bilinguale Matura angeboten. Wird eine Univer‐ sität als „zweisprachig“ (etwa Freiburg) bezeichnet, bedeutet dies, dass es im Kanton, wo sie sich befindet, zwei Amtssprachen gibt und auch an der Univer‐ sität in diesen Sprachen gelehrt wird. Nicht jeder offizielle zweisprachige Kanton verfügt jedoch über eine zweisprachige Universität. An der Universität Bern (Im Kanton Bern gehören Deutsch und Französisch zu den offiziellen 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 40 <?page no="41"?> 30 Hierbei muss festgehalten werden, dass an sämtlichen Schweizer Universitäten auch Lehrveranstaltungen in anderen Sprachen abgehalten werden (je nach Studienfach in Englisch, Französisch etc.) und die Bezeichnung „ein- oder zweisprachige Universität“ nur die öffentliche Selbstdarstellung wiedergibt und den mehrsprachigen Praktiken nicht gerecht wird. Auch ist zu beachten, dass eine Immatrikulation an einer zweispra‐ chigen Universität nicht zur Folge haben muss, dass das Studium zweisprachig absol‐ viert wird. Ein einsprachiges Studium an einer zweisprachigen Universität ist durchaus möglich. 31 So ist zum Beispiel der Anteil der Serbisch-SprecherInnen in der Schweiz deutlich höher als derjenige der Rätoromanisch-SprecherInnen. Die Anzahl SprecherInnen ist nicht ausschlaggebend für den Status der jeweiligen Sprache. Amtssprachen.) wird dem Französischen nicht der amtliche Status beige‐ messen 30 . Wie die Bezeichnung der Figure 1 bereits sagt, widerspiegelt die Abbildung die Verteilung der Hauptsprachen in den Kantonen. Diejenigen Sprachen, die nicht diesen Status geniessen bzw. zu „klein“ sind (wie etwa die Landessprache Rätoromanisch), sind unter „andere Sprachen“ zusammengefasst (vgl. Legende). Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter diesem Sammelbegriff ein beachtlicher Teil der in der Schweiz gesprochenen Sprachen (und damit die‐ jenigen, welche sie sprechen) anzusiedeln ist 31 . 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 41 <?page no="42"?> Figure 1: Verteilung der Hauptsprachen in den Kantonen 2010 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 42 <?page no="43"?> 32 Oelkers (2011) erklärt dies damit, dass in der Schweiz dem gymnasialen Abschluss ge‐ nügend attraktive Alternativen gegenüberstehen. 33 http: / / www.bfs.admin.ch/ bfs/ portal/ de/ index/ themen/ 15/ 06/ dos/ blank/ 05/ 01.html [letzter Zugriff, 10. 02. 2015]. 34 Es ist weiter zu bemerken, dass die Studienreifeprüfung (Matura) vorwiegend kantonal entwickelt wird, d. h. dass ihr Schwierigkeitsgrad sich unter Umständen interkantonal stark unterscheidet, was sich auch auf die kantonale Maturaquote auswirkt. Trotz dieser Ungenauigkeiten ist eine solche nationale Übersicht sinnvoll. Sie soll dazu beitragen, die Mobilität der Studierenden aus dem italienischspra‐ chigen Tessin - um die es in erster Linie geht - derjenigen von MaturandInnen aus anderen Kantonen bzw. Sprachregionen gegenüberzustellen. Die Darstel‐ lung soll Aufschluss über das aktuelle binnenschweizerische Mobilitätsver‐ halten geben, wobei unter „aktuell“ die drei vergangenen Jahrzehnte zu ver‐ stehen sind (1980 bis 2013). Diese Zeitspanne ermöglicht es, das gegenwärtige Mobilitätsverhalten der Studierenden zu erfassen, ohne die Gründungen der zwei jüngsten Universitäten (Universität Luzern 2000 gegründet, Università della Svizzera Italiana 1996 gegründet) zu unterschlagen. Zudem sind die Daten erst seit 1980 (und bis 2013) in dieser Form aufbereitet und verfügbar. Um die Übersicht zu erleichtern, werden die Zahlen in den meisten Fällen in Prozentwerten ausgedrückt. An einzelnen Stellen - dort, wo für die Lesenden eine solche Angabe wichtig ist - sind die absoluten Werte genannt. Es muss vorausgeschickt werden, dass in der Schweiz im Vergleich mit den Nachbarlän‐ dern die gymnasiale Maturitätsquote tief ist 32 . Diese hat sich jedoch in der Schweiz von 1980 bis 2013 verdoppelt. 1980 lag sie auf den Jahrgang bezogen bei 10,6 %. 2013 legte jede/ r 5. junge Erwachsene eine gymnasiale Maturaprü‐ fung ab (Stand 2013, BFS ). Dabei unterscheidet sich die Situation in den Kan‐ tonen stark; so findet man im Kanton Glarus eine Quote von gut 10 % vor, wäh‐ rend im Tessin und in Basel Stadt ca. 30 % der Jugendlichen die Maturareife erlangen ( BFS , 2013). Diese Differenzen beruhen einerseits auf traditionellen Bildungsmodellen, wonach in den Kantonen der Westschweiz eher der akademische Bildungsweg favorisiert wurde, während in der Deutschschweiz die Be‐ rufsbildung einen sehr hohen Stellenwert innehatte. Andererseits sind die weniger dicht besiedelten Kantone, z. B. [diejenigen] der Innerschweiz, eher von populationsbzw. migrationsbedingten Schwankungen betroffen, was die gymnasiale Maturitäts‐ quote in diesen Kantonen von Jahr zu Jahr stark schwanken lässt. (BFS, 2013 33 ) 34 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 43 <?page no="44"?> 35 Gemeint ist, versteht sich, hier und im Folgenden immer: der Waadtländerinnen und Waadtländer, die im Kanton Waadt ihre Matura gemacht haben. Dieser Hinweis ist insofern wichtig, als in der Alltagssprache ein Waadtländer damit assoziiert werden könnte, dass er dort aufgewachsen und womöglich identitär mit dem Kanton Waadt verbunden sei. 36 Werden für die Universitäten Kürzel verwendet, handelt es sich um folgende: BE: Uni‐ versität Bern, BS: Universität Basel, ETHZ: Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, EPFL: Ecole polytechnique fédérale de Lausanne, FR: Universität Freiburg, GE: Université de Genève, LU: Universität Luzern, LS: Université de Lausanne, NE: Uni‐ versité de Neuchâtel, SG: Hochschule St. Gallen, USI: Università della Svizzera Italiana, UZH: Universität Zürich. Französischsprachige Kantone Im Folgenden soll erst beschrieben werden, wo Studierende, die vor ihrer Matura in einem mehrheitlich französischsprachigen Kanton wohnhaft waren, ihre ter‐ tiäre Ausbildung absolvieren. Als französischsprachige Kantone wurden Genf, Waadt, Neuenburg und Jura klassifiziert, was der vom Bundesamt für Statistik vorgenommenen Einteilung entspricht. Es ist erneut darauf hinzuweisen, dass dies der Realität nicht gerecht wird und auf die vom BFS erfassten Daten zu‐ rückzuführen ist. Hat jemand seinen Wohnort in einem offiziell französisch‐ sprachigen Kanton, ist er nicht zwingend französischsprachig. Die vom BFS zur Verfügung gestellten Übersichten zeigen, dass die Mobilität der Studierenden der vier französischsprachigen Kantone im betrachteten Zeit‐ raum (1980-2013) leicht zugenommen hat. Eine genauere Betrachtung ergibt, dass diese Zunahme vorwiegend innerhalb der Sprachregion, aber über die Kantonsgrenzen hinaus zu verzeichnen ist. So absolvierten 77.18 % der Waadt‐ länderInnen 35 1980 ihr Studium im Kanton, entweder an der kantonalen Uni‐ versität (63.93 %) oder an der Eidgenössischen Technischen Hochschule ( EPFL 36 ) (13.25 %) in Lausanne. 2013 sind es zusammen noch 71.82 %; der Anteil Studie‐ render an der Universität Lausanne liegt noch bei 54,27 % und steigt an der EPFL auf 17.55 %. Für die Universität Neuenburg hatten sich 1980 60.2 % der Neuen‐ burgerInnen entschieden. Bis 2013 sank diese Zahl auf 46.18 %. 1980 absolvierten 88.88 % der GenferInnen ihr Studium an der lokalen Universität Genf, 2013 sind es noch 72.64 %. Im Jura ist die Situation insofern anders, als es keine kantonale Universität gibt und junge Erwachsene im Hinblick auf eine Ausbildung auf der Tertiärstufe immer schon gezwungen waren, ihren Heimatkanton zu verlassen. 1980 studierten 24.34 % der JurassierInnen in Genf, 28.5 % in Lausanne (21.27 % an der Universität, 6.8 % an der EPFL ), 22.81 % in Neuchâtel und 6.14 % an der zweisprachigen Universität Freiburg. Somit verliessen 81.8 % der JurassierInnen den Kanton, ohne unbedingt die Sprachgrenze zu überschreiten. 2013 sind es 88.63 %, die sich für eine französischsprachige bzw. zweisprachige (inkl. Fri‐ 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 44 <?page no="45"?> 37 Der Jura wurde als jüngster Kanton der Schweiz 1978 nach einem lange dauernden Konflikt, in dem auch um Sprachen gestritten wurde, gegründet. 1980 waren rund 10 % der jurassischen Bevölkerung deutschsprachig (vgl. Steppacher 1985). 38 Das mögen wenige sein; es ist aber dabei zu bedenken, dass 2013 gleich viele Jurassie‐ rInnen an der traditionsträchtigen Universität Zürich wie an der noch jungen Università della Svizzera Italiana eingeschrieben sind. bourg) Universität entscheiden. Dennoch scheint es, als wanderten verhältnis‐ mässig viele jurassische Studierende über Sprachgrenzen hinweg. So fanden sich 1980 an der Berner Universität 8.77 %, an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich 6.58 % und an der Basler Universität 2.63 % der Jurassie‐ rInnen. Vermutlich spielte da der 1980 vergleichbar hohe Anteil Deutschspra‐ chiger (rund 10 %) eine Rolle. Andere Faktoren wie die Geschichte des Kantons Jura 37 und dessen Nachbarschaft zu (auch anderssprachigen) Kantonen waren aber vermutlich ebenso relevant. 2013 sind jurassische Studierende im Vergleich zu anderen französischsprachigen Studierenden nach wie vor gut an deutsch‐ sprachigen Universitäten vertreten. Ihre Zahl ist aber gesunken (von 18.64 % auf 10.06 %). Während die junge Universität Luzern auf das Mobilitätsverhalten der juras‐ sischen Studierenden bisher wenig Einfluss hat - es wird sich zeigen, ob sich dies mit der dort geplanten wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in Zukunft ändert - hat die Università della Svizzera Italiana einen kleinen Studierenden‐ stamm, der aus der französischsprachigen Schweiz ins Tessin wandert (2013 waren 54 Studierende aus den vier Kantonen an der USI immatrikuliert 38 ). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Mobilität der Studierenden aus den erwähnten Kantonen gestiegen ist, allerdings ist ihr Zuwachs eher über Kantonsgrenzen und nicht über Sprachgrenzen hinweg zu verzeichnen. Deutschsprachige Kantone In der Deutschschweiz ist die Situation ähnlich. 17 Kantone gelten offiziell als deutschsprachig. Beispielhaft werden die Zahlen einiger Kantone kommentiert, um ein Bild des Mobilitätsverhaltens derjenigen MaturandInnen zu erlangen, die vor ihrem Studienbeginn in einem dieser 17 Kantone ihren Wohnsitz hatten. Die Studierenden aus dem Kanton Basel-Stadt - einem Universitätskanton - sind im Vergleich zu 1980 mobiler geworden. Es wählen gut 10 % weniger Stu‐ dierende den Maturitätskanton als Studienort ( BFS , 2013). Ihre Mobilität nimmt innerhalb der Deutschschweiz zu, d. h. es studieren mehr BaslerInnen an den Universitäten Zürich, Bern, St. Gallen und an der ETHZ . Auch an der Universität Luzern und an der USI sind seit deren Gründung einige Studierende aus 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 45 <?page no="46"?> 39 Im Jahr 2013 beträgt der Anteil in Luzern 1.05 %, an der USI 0.2 %. Zum Vergleich: An der traditionsreichen EPFL sind es 0.46 %. 40 Der Kanton Thurgau verzeichnet 2013 im Vergleich zu den anderen Deutschschweizer Kantonen am meisten Studierende ausserhalb der Schweiz. Dies hängt mit der Grenz‐ nähe zu Deutschland zusammen. Basel-Stadt immatrikuliert 39 . An den französischsprachigen Universitäten ist der Anteil leicht gesunken. So waren 1980 in Genf 1.74 % der BaslerInnen immatri‐ kuliert, 2013 sind es noch 0.56 %. Ähnlich ist die Situation in Neuchâtel. In Lau‐ sanne ( EPFL und Universität) bleiben die Zahlen in den drei Jahrzehnten stabil. Im Kanton Zürich haben die lokalen MaturandInnen die Wahl zwischen der ETHZ und der Universität Zürich. Seit 1980 hat ihre Mobilität ebenfalls zuge‐ nommen, und wie auch in Basel-Stadt zeichnet sich diese Zunahme vor allem an deutschsprachigen Hochschulen ab. Waren 1980 über 92 % an einer der Hochschulen in Zürich immatrikuliert, beläuft sich ihr Anteil 2013 noch auf gut 80 %. In SG , BE , BS nimmt ihr Anteil dafür zu. In den französischsprachigen Regionen sind im betrachteten Zeitraum kaum Veränderungen feststellbar. Im Kanton Thurgau, wo die Studierenden aufgrund des fehlenden Hoch‐ schulangebots seit jeher zur Mobilität gezwungen waren, hat sich die Situation in den letzten drei Jahrzehnten kaum verändert. Die Mehrheit der Studierenden wählt eine deutschsprachige Universität (1980 94 %, 2013 93 %), rund 2 % studiert an einer französischsprachigen Hochschule und rund 4 % an der Universität Freiburg. Einzig neu ist, dass 2013 rund 1 % der Studierenden andere tertiäre Universitäten ausserhalb der Landesgrenzen gewählt hat 40 . Die Neugründung der Universität Luzern beeinflusst v. a. das Mobilitätsver‐ halten der Innerschweizer Studierenden. So absolvieren Studierende aus Luzern (14.67 %), Nidwalden (14.35 %), Uri (13.62 %), Obwalden (10.31 %) und Zug (9.7 %) ihr Studium an der jüngsten Universität der Schweiz. Die Università della Sviz‐ zera Italiana wird nur von einzelnen Studierenden aus der Deutschschweiz be‐ sucht (2013 sind es vier an der Zahl). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Studierende aus deutschspra‐ chigen Kantonen ihr Mobilitätsverhalten zum Teil innerhalb der Sprachregion zwar verändern (z. B. wegen des tertiären Angebots in Luzern), intra-nationale Sprachgrenzen aber in diesem Zeitraum nicht zunehmend überqueren. Gesamt‐ haft nimmt die Mobilität aus der Deutschschweiz über Sprachgrenzen hinweg sogar etwas ab. Zweisprachige Kantone Das Mobilitätsverhalten der Studierenden in den drei zweisprachigen Kantonen Bern (Deutsch 85.1 %, Französisch 10.6 %, Italienisch 2.9 %, Englisch 3.0 %), Wallis 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 46 <?page no="47"?> 41 Innerhalb der Sprachgrenzen sind aber durchaus andere Universitäten populär als vor drei Jahrzehnten. 22.7 % der WalliserInnen wählte 1980 die Universität Genf. 2013 sind es noch 9.94 %. 42 Bei der Erfassung der Hauptsprache der Bevölkerung waren Mehrfachnennungen mög‐ lich. (Deutsch 26.5 %, Französisch 67.4 %, Italienisch 3.8 %) und Freiburg (Deutsch 28.8 %, Französisch 68.5 %, Italienisch 2.5 %) muss einzeln betrachtet werden. Von diesen Kantonen verfügen nicht alle über eine tertiäre Institution. 1980 studierten 86.44 % der Studierenden aus dem Kanton Bern an einer deutschsprachigen Universität; 2013 sind es noch 79.12 %. Der Anteil der Ber‐ nerInnen, die ein Studium an einer französischsprachigen Universität absol‐ vieren, ändert sich wenig. Hingegen sind 2013 10.19 % der Berner Studierenden in Freiburg immatrikuliert, 1980 waren es 3.62 %. Nach Luzern geht rund 1 % der BernerInnen. Auch die FreiburgerInnen werden gesamthaft in den drei Jahrzehnten etwas mobiler. Waren 1980 64.45 % an der kantonalen Universität immatrikuliert, sind es 2013 noch 55.49 %. Die rund 9 %, die sich 2013 für ein ausserkantonales Stu‐ dium entscheiden, verteilen sich gleichmässig auf die deutschsprachigen und französischsprachigen Universitäten. Im Wallis, einem Kanton ohne eigene Hochschule, hat sich punkto Mobilität über Sprachgrenzen hinweg wenig verändert 41 . So wählten z. B. 1980 51.63 % eine Universität in der französischsprachigen Schweiz, 2013 sind es 50.57 %. Rund 30 % entscheiden sich für eine deutschsprachige Universität, und rund 20 % sind an der zweisprachigen Universität Freiburg immatrikuliert. Dreisprachiger Kanton Graubünden Im dreisprachigen Kanton Graubünden (Deutsch 74.6 %, Italienisch 12 %, Räto‐ romanisch 15.2 % 42 ) bleibt das Mobilitätsverhalten seit 1980 stabil. Es studierten und studieren jährlich rund 90 % an einer Hochschule in der Deutschschweiz. In Luzern nimmt der Anteil Studierender aus Graubünden seit der Universi‐ tätsgründung zu, 2013 beträgt er 3.24 %. Die Quote der BündnerInnen an der zweisprachigen Universität Freiburg geht etwas zurück (im Jahr 2000 betrug sie 9.68 %, 2013 5.49 %). Der Anteil bündnerischer Studierender an französischspra‐ chigen Hochschulen hat sich seit 1980 kaum verändert (2-4 %). Seit der Univer‐ sitätsgründung im Tessin studieren jährlich einige junge Erwachsene aus dem Kanton Graubünden an der dortigen Universität (rund 1 %). 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 47 <?page no="48"?> 43 Im Folgenden wird für die TessinerInnen an einer Schweizer Universität die Abkürzung TISU verwendet. Italienischsprachiger Kanton Tessin Im Besonderen widmet sich die Arbeit Studierenden wie der eingangs er‐ wähnten Stefania, also Studierenden aus der italienischsprachigen Region, die des Studiums wegen in die Deutschschweiz migrieren. Deshalb wird im Fol‐ genden das Tessin etwas genauer beschrieben. Table 1 zeigt, an welcher Universität sich prozentual wie viele Studierende einschreiben, die vor Studienbeginn im Kanton Tessin wohnhaft waren und dort ihre Matura machten. Die Auswahl der dargestellten Jahrgänge hängt mit der Veränderung der Hochschullandschaft zusammen. In der letzten Zeile wird die gesamte Anzahl Studierender aufgeführt, welche sich an einer Schweizer Hoch‐ schule immatrikuliert haben und vor Studienbeginn im Tessin wohnhaft ge‐ wesen waren. Dazu zählen StudienbeginnerInnen wie auch Studierende, die beispielsweise ihr Masterstudium absolvieren. Das aufgeführte Total enthält aber nicht alle Studierenden aus dem Tessin; so sind beispielsweise Studierende an Fachhochschulen oder an einer Pädagogischen Hochschule nicht einge‐ schlossen. 1980 lag die Tessiner Maturitätsquote bei 17.0 %. Während rund 52 % der Tes‐ sinerInnen an einer Universität in der Deutschschweiz 43 eingeschrieben waren, betrug ihr Anteil in der Westschweiz 40 %. An der zweisprachigen Universität Fribourg - an der Sprachgrenze situiert - studierten zu jener Zeit 9 % der TISU . 1980 waren sämtliche (2235) TISU s gezwungen, den Kanton der universitären Ausbildung wegen zu verlassen. Es war aber damals im Tessin bereits möglich, an einer Fachhochschule oder Pädagogischen Hochschule zu studieren. 16 Jahre später, also 1996, nach der Gründung der Università della Svizzera Italiana, hatten jene Tessiner MaturandInnen, welche an einer Schweizer Hoch‐ schule zu studieren wünschten, die Möglichkeit, in ihrem Kanton zu bleiben. 4.72 % nahmen diese Chance wahr. 44.96 % hielten sich ihres Studiums wegen in der Deutschschweiz auf, während 29.47 % an einer französischsprachigen Uni‐ versität und 20.84 % an der zweisprachigen Universität Freiburg immatrikuliert waren. Im Jahr 2000 studierten 15.24 % der TISU an der halbprivaten Universität im Tessin, d. h. gut drei Mal so viel wie im Gründungsjahr. Die Gründung der Uni‐ versität Luzern hatte vorerst keinen Einfluss auf das Tessiner Mobilitätsver‐ halten - die Zahlen unterschieden sich kaum von denen in vorausgehenden Jahren, als die theologische Ausbildung in Luzern bereits möglich war. 37.48 % 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 48 <?page no="49"?> 44 An der USI findet man die vier Fakultäten Kommunikationswissenschaften, Wirtschaft, Architektur, und Informatik. absolvierten ihr Studium in der Deutschschweiz, 31.69 % in der Westschweiz und rund 15 % der TISU waren in Freiburg vorzufinden. 2005 sah die Verteilung sehr ähnlich aus. 35.41 % der TISU waren an Deutsch‐ schweizer Universitäten immatrikuliert - davon 0.47 % der TISU an der fünf Jahre zuvor gegründeten Universität Luzern - während 30 % an Westschweizer Universitäten ihr Studium absolvierten. An der zweisprachigen Universität Fri‐ bourg hielten sich 16 % der TISU auf, und 18.48 % blieben im italienischspra‐ chigen Tessin. Abgesehen von der gymnasialen Maturitätsquote, die 2013 im Tessin bei 28.9 % liegt und somit dem Schweizer Spitzenwert entspricht (wenig tiefer liegen die Quoten in Basel Stadt und Genf), unterscheidet sich die Verteilung auch in diesem Jahr kaum von den Verteilungen der vorausgehenden Jahre. 2013 steigt der Anteil TISU in der Deutschschweiz auf 38.9 %, während er in der West‐ schweiz auf 27.89 % sinkt. An der Universität Freiburg studieren 17.63 % der TISU , und an der italienischsprachigen Universität scheint sich die Zahl der einheimischen Studierenden bei 15.25 % einigermassen eingependelt zu haben. Bemerkenswert mag sein, dass 2.78 % der TISU in Luzern vorzufinden sind, was seit dem Gründungsjahr 2000 ein verhältnismässig rascher Anstieg der Tessiner Studierendenpopulation darstellt. Abschliessend sei festgehalten, dass im beschriebenen Zeitraum die TISU ein unstetigeres Mobilitätsverhalten aufweisen als Studierende anderer Herkunfts‐ kantone. Wer tertiäre Bildung geniessen wollte, musste das Tessin bis vor zwanzig Jahren verlassen. Ein universitäres Studium auf Italienisch war inner‐ halb der Schweiz nicht möglich. Das Angebot der USI ab deren Gründung 1996 stoppt die Mobilität einiger TessinerInnen, was sich auf den Anteil TISU in der Deutsch- und Westschweiz auswirkt. Allerdings kehrt ein Anteil von über 80 % der TISU dem Tessin nach wie vor den Rücken. Diese Beständigkeit des Mobi‐ litätsverhaltens könnte auf das beschränkte Studienangebot der USI 44 zurück‐ geführt werden. Allerdings entscheiden sich TessinerInnen auch dafür, ein im Tessin angebotenes Fach in einer anderen Sprachregion der Schweiz zu stu‐ dieren und somit für die Mobilität. Mit der Möglichkeit einer italienischspra‐ chigen Hochschulbildung wird nicht nur die Mobilität der TISU in einen neuen Blickwinkel gerückt, auch das Verhalten einiger Universitäten ausserhalb des Tessins verändert sich, wie später aufgezeigt werden soll (Kapitel 4). 2.1 Die Hochschullandschaft - damals und heute 49 <?page no="50"?> 45 Der Anteil Studierender, der sich im Ausland immatrikuliert, ist vernachlässigbar klein. 1980 1985 1990 1995 1996 1998 1999 Deutsch BS 2,82 4,01 3,86 4,93 5,49 5,61 5,15 BE 5,95 6,98 5,33 4,9 4,52 3,99 3,59 LU 0 0,03 0,08 0,03 0,02 0 0,02 SG 2,19 3,59 4,36 2,97 2,45 2,1 2,03 ETHZ 18,61 22,04 22,55 20,55 18,96 16,47 15,62 UZH 22,95 24,18 22,25 12,7 13,52 11,77 12,07 52,52 60,83 58,43 46,08 44,96 39,94 38,48 Französisch GE 22,19 13,61 7,85 8,97 8,43 8,88 8,7 LS 11,54 10,16 11,65 13,82 13,13 15,47 15,26 NE 2,33 1,55 2,94 3,23 3,34 3,39 3,1 EPFL 2,24 2,52 3,13 4,65 4,57 4,51 4,44 38,3 27,84 25,57 30,67 29,47 32,25 31,5 Zweisprachig FR 9,17 11,33 16,01 23,25 20,84 18,11 16,71 Italienisch USI 0 0 0 0 4,72 9,71 13,3 Andere Andere UI 0 0 0 0 0 0 0 2235 2895 3605 3936 4045 4190 4232 2000 2001 2002 2005 2010 2013 Deutsch BS 5,06 4,67 4,87 4,44 3,9 4,24 BE 3,16 2,72 2,36 2,34 3,19 3,81 LU 0,02 0,02 0,14 0,47 1,79 2,78 SG 1,61 1,47 1,53 1,28 1,83 2,01 ETHZ 15,53 15,99 15,97 13,78 12,99 13,1 UZH 12,1 12,62 12,6 13,1 14,05 12,96 37,48 37,49 37,47 35,41 37,75 38,9 Französisch GE 9,18 9,27 8,86 7,99 6,28 6,04 LS 15,34 14,69 13,87 15,25 16,73 14,71 NE 2,54 2,55 2,7 2,8 2,96 3,53 EPFL 4,63 4,29 4,42 3,97 3,56 3,61 31,69 30,8 29,85 30,01 29,53 27,89 Zweisprachig FR 15,58 14,59 14,68 16,07 15,5 17,63 Italienisch USI 15,24 17,12 18 18,48 16,97 15,25 Andere Andere UI 0 0 0 0,02 0,26 0,32 4172 4153 4189 4281 4697 4930 Total Total Table 1: Studierende aus dem Tessin und ihre intranationale Mobilität Zusammenfassung StudienbeginnerInnen in der Schweiz entscheiden sich vorwiegend für univer‐ sitäre Institutionen innerhalb der Landesgrenzen 45 . Auch zeigt sich, dass die damit verbundene Mobilität über die Kantonsgrenze hinaus bei den Studie‐ 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 50 <?page no="51"?> 46 Eine Ausnahmesituation ist die Wahl eines Studienortes in Italien. renden, die im französischbzw. im deutschsprachigen Teil der Schweiz ihre Matura erlangen, im betrachteten Zeitraum gestiegen, jedoch nicht mit einem Wechsel in eine Region verbunden ist, in der eine andere Landessprache domi‐ niert. Auch in den zwei- oder dreisprachigen Kantonen hat sich die Situation nicht stark verändert. Keine der neuen Universitäten ( LU oder USI ) spielen hier eine dominante Rolle. Im italienischsprachigen Tessin sieht die Situation anders aus. Während vor 1996 sämtliche Studierende die Region verlassen mussten, entscheiden sich 2013 rund 15 % der lokalen MaturandInnen für ein Studium im Kanton. Vergleicht man diesen Anteil mit den einschlägigen Anteilen der Stu‐ dierenden aus anderen Universitätskantonen, so fällt auf, dass der Mobilitäts‐ anteil trotz universitärem Bildungsangebot hoch ist. Die TessinerInnen bevor‐ zugen ein ausserkantonales Studium. Mit dieser Entscheidung ist immer auch ein Wechsel der Umgebungssprache verbunden 46 . Die TessinerInnen setzen sich während ihres Studiums entweder mit Französisch, mit Deutsch oder mit beiden Sprachen auseinander. Wie bereits angekündigt, wird in dieser Arbeit ihre stu‐ dentische Wanderung in die Deutschschweiz fokussiert. 2.2 Theoretisch-methodischer Rahmen Diese Arbeit ist nicht die erste, die sich der aktuellen studentischen Mobilität widmet. In den folgenden Abschnitten wird dargelegt, mit welchen Aspekten sich vorausgehende Untersuchungen auseinandersetzten. Im Anschluss an diesen Überblick wird aufgezeigt, welche Forschungslücken bestehen und wie dieses Projekt das Fehlende berücksichtigen will. Weiter wird deutlich gemacht, wie sich diese Arbeit positioniert und welche Forschungsfragen sie mithilfe von welchen Daten und Methoden beantworten will. Schliesslich werden drei the‐ oretische Konzepte eingeführt, die diesem Vorhaben dienlich sind. 2.2.1 Forschungsstand, -lücken und mögliche Ergänzungen Akademische Mobilität hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem For‐ schungsthema entwickelt, das durch verschiedene Disziplinen untersucht wird. Wenn auch die theoretischen Ansätze und die Methoden variieren, der thema‐ tische Fokus ist den nachfolgend genannten Forschungsarbeiten gemeinsam. Die anschliessende Auflistung erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, 2.2 Theoretisch-methodischer Rahmen 51 <?page no="52"?> 47 Einige Forschende interessieren sich für beide Formen der akademischen Mobilität (z. B. Kinginger 2009). 48 Die nachfolgend zitierte Forschung beschränkt sich nicht auf ein spezifisches Mobili‐ tätsprogramm wie etwa Erasmus, sondern beinhaltet Forschung in Zusammenhang mit sämtlichen intranationalen, transnationalen und transkontinentalen Programmen. vielmehr soll sie die breite Palette an Forschungsschwerpunkten darlegen, die mit der Thematik verknüpft sind, und einen knappen Überblick ermöglichen. Es sei hier auf zwei Formen der gegenwärtigen studentischen Mobilität hin‐ gewiesen, die in der stets wachsenden Forschungsliteratur eine besondere Auf‐ merksamkeit erfahren. Zum einen beschäftigen sich etliche Projekte mit der programmierten Mobilität, d. h. in erster Linie mit kurzen Mobilitätsaufent‐ halten, die im Rahmen von dafür konzipierten Programmen zustande kommen. Zum andern wird die akademische Mobilität von Studierenden ergründet, die ausserhalb von Programmen erfolgt. 47 Sichtet man Forschungen, die sich mit Studienaufenthalten von kürzerer Dauer im Rahmen von Mobilitätsprogrammen 48 beschäftigen, so fällt auf, dass einige der Publikationen auf Mandatsbasis zustande gekommen sind. Dies ist nicht weiter erstaunlich, da hinter solchen Programmen mehrheitlich politische und wirtschaftliche Interessen und Träger stehen. So werden unter anderem Motive und Motivationen für studentische Gastaufenthalte ergründet (z. B. Streckeisen 1993 für den Schweizer Kontext; Ballatore & Ferede 2013 und Hau‐ schildt 2016 für den europäischen Kontext). Es werden Mobilitätserfahrungen der Studierenden sowie von im akademischen Kontext tätigen Experten zusam‐ mengetragen (Streckeisen & Diem 1993; Aydin 2012; Dewey et al. 2012). Bio‐ graphische Aspekte werden erforscht, die den an Mobilitätsprogrammen teil‐ nehmenden Studierenden eigen sind (z. B. Eichsteller 2011). Weiter werden die Bedingungen ergründet, welche die Mobilität begünstigen und zum Erfolg von politischen Programmen beitragen (z. B. Streckeisen 1993; Ferencz 2012; Teichler 2012; Van Mol 2014). Neben diesen bildungspolitischen, soziologischen, erziehungswissenschaft‐ lichen und wirtschaftspolitischen Forschungsaspekten stossen auch Sprachen, mit denen Studierende während einem Studienaufenthalt in der Fremde kon‐ frontiert werden, auf Interesse (Freed 1995; Dufon & Churchill 2006; Kinginger 2007, 2009). In den Forschungsarbeiten, die der Sprache im Zusammenhang mit Gastaufenthalten gewidmet sind, ist die Zahl der Themen gross und erstreckt sich von Sprachtests vor und nach Studienaufenthalten (z. B. Serrano et al. 2011) über sprachlich-identitär ausgerichtete Projekte (z. B. Jackson 2008; Ell‐ wood 2011; Kinginger 2015) bis hin zu kritischen Betrachtungsweisen von Sprachpraktiken und Sprachgemeinschaften mobiler Studierender (z. B. Pelle‐ 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 52 <?page no="53"?> grino Aveni 2005; Van Mol & Michielsen 2015). Zunehmend schliessen an aka‐ demischen Gastaufenthalten interessierte Forschende mehr als rein sprachliche Aspekte mit ein. So greifen sie z. B. anthropologische Perspektiven auf (vgl. Murphy-Lejeune 2002 zur studentischen Mobilität in Europa; Pherali 2012 zur akademischen Mobilität im britischen Universitätskontext) und analysieren bil‐ dungspolitische Diskurse (vgl. Gore 2005 für den US -amerikanischen Kontext). Auch studentischer Mobilität, die ausserhalb von mobilitätsfördernden Pro‐ grammen erfolgt, wird zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt, und dieses Thema beschäftigt unterschiedliche Disziplinen. So werden die studentische Mobilität und die damit verbundenen Kosten und der daraus sich ergebende Nutzen aus ökonomischer Perspektive betrachtet (z. B. Freeman 2010; Teichler 2012). Weiter werden u. a. transnationale Mobilitätsrichtungen analysiert und mit politischen Systemen der jeweiligen Herkunftsbzw. Empfangsländer in Verbindung gebracht (Di Piero & Page 2008). Transnationale Netzwerke und Erfahrungen von Studierenden fern von ihrem Herkunftsort werden ergründet (z. B. Montgomery 2010). Und wie bei allen Bestrebungen von Menschen, sich neu zu organisieren - in diesem Fall über die Mobilität -, bieten sich auch anthropologische Fragen an. So finden etwa Fragen zum Thema Gender Eingang in die Erforschung der akademischen Mobilität (z. B. Polanyi 1995 im russischen Kontext; Talburt & Stewart 1999 im spanischen Kontext). Auch im Kontext nicht programmierter Mobilität wird der Sprache ein be‐ sonderer Stellenwert eingeräumt. So werden neben dem akademischen Erfolg, der u. a. mit den vor Ort verlangten Sprachkompetenzen verbunden wird (z. B. Benzie 2010), die Sprachpraktiken von an ausländischen Universitäten Studier‐ enden ergründet (z. B. Gu 2014). In diesem Zusammenhang werden beispiels‐ weise Interaktionsmodi (Iino 2006; Isabelli-García 2006) und soziale Netzwerke und die darin vorherrschenden Kommunikationsarten analysiert (Fernández 2012). Weiter werden sprachlich-identitäre Aspekte in Berichten von anders‐ sprachigen Studierenden ergründet (für die Schweiz vgl. Poglia et al. 2009; für den internationalen Kontext vgl. Benson et al. 2013). Wie aus diesen Ausführungen hervorgeht, stellt das Thema „akademische Mobilität“ ein interdisziplinär angelegtes Forschungsfeld dar, das mit seiner wachsenden Grösse an Übersichtlichkeit einbüsst. Wenn also im Folgenden auf Forschungslücken hingewiesen wird, geschieht dies erstens im Bewusstsein, dass diese möglicherweise bereits geschlossen worden sind, mir dies aber trotz ausgiebiger Lektüre entgangen sein mag. Zweitens werde ich nur auf Lücken verweisen, die mir aufgrund meiner Lektüre aufgefallen sind, die ich aus sozio‐ linguistischem Interesse, d. h. dem Interesse daran, Sprache in einem gesell‐ schaftlichen Zusammenhang zu verstehen, ausgewählt habe. Diese Auswahl ist 2.2 Theoretisch-methodischer Rahmen 53 <?page no="54"?> 49 Die Statistik hingegen sowie einige Publikationen, welche die aussereuropäische Stu‐ dierendenmobilität in den Blick nehmen, zeigen, dass z. B. China über eine Studieren‐ denmobilität verfügt, die die europäische deutlich übersteigt (vgl. Yang 2016; http: / / stats.oecd.org/ index.aspx? datasetcode=rforeign; http: / / uis.unesco.org/ en/ uisstudent-flow. [letzter Zugriff, 24. 04. 2017]). 50 Die intra-europäische Mobilität auf Tertiärstufe hat hingegen Eingang in verschiedene Forschungsprojekte gefunden (z. B. Van Mol 2014). 51 Auch hier gibt es Ausnahmen wie z. B. Slaughter und Rhoades (2004). wiederum auf mein Projekt ausgerichtet, das sich mit dem Stellenwert von Sprache im Rahmen der intra-nationalen Mobilität von Tessiner Studierenden in die Deutschschweiz auseinandersetzt. Vier Lücken seien im Folgenden er‐ wähnt. Erstens wird in der Forschungsliteratur kaum auf Studierende verwiesen, denen im Verlaufe des Studiums Mobilität nicht „vergönnt“ ist. Ihre Stimme wird von Forschenden selten bis nie gehört. Wenn sie jene erwähnen, stellen sie die‐ selben als „VerliererInnen“ dar (Murphy-Lejeune 2002). In diesem Zusammen‐ hang wird vorwiegend von europäischen ForscherInnen unterstrichen, dass nicht-europäische Studierende in ihrer Mobilität zum einen stark eingeschränkt sind, d. h. dass sie nur vereinzelt überhaupt an Mobilität denken können und immobil bleiben müssen, und dass sie zum andern selten von mobilitätsför‐ dernden Programmen profitieren können (z. B. Dervin & Byram 2008; Souto-Otero et al. 2013). 49 Zweitens ist in der wissenschaftlichen Literatur - sowohl international als auch national - kaum von denjenigen Studierenden die Rede, die zur Mobilität gezwungen sind. Akademische Mobilität wird in erster Linie als Option be‐ schrieben, die wünschenswert ist. Immobilität - oder das, was als immobil be‐ trachtet wird (vgl. dazu 2.2.4.1) - hingegen wird meist als negativ angesehen und nur in wenigen Publikationen als Privileg erachtet (eine Ausnahme ist z. B. Weiss 2005); daher rührt auch die Etikettierung der Immobilen als Verliere‐ rInnnen. Drittens fokussiert die bisherige Forschung diejenige akademische Mobilität wenig, die nicht über Landesgrenzen hinausführt, sondern innerhalb eines Staats stattfindet 50 . Im globalen Zeitalter werden vorwiegend Mobilitätsbewe‐ gungen untersucht, die über kontinentale oder zumindest nationale Grenzen hinausgehen (Teichler 2005; Rivza & Teichler 2007). Dass auch „kürzere“ Wege für Studierende eine Mobilitätssituation darstellen, wird wenig thematisiert. Viertens erwähnt die Mehrheit der mir bekannten Forschungen, die sich auf die Sprache im Kontext der akademischen Mobilität konzentrieren, den histo‐ rischen, wirtschaftspolitischen Zusammenhang nur am Rande 51 . Dies, obschon - wie im kurzen Überblick über die Universitätsgeschichte und die Landschaft der 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 54 <?page no="55"?> 52 Diese Forschungslücke erstaunt nicht. Sie ist auch darauf zurückzuführen, welche For‐ schung von wem mit welchen Interessen mandatiert und unterstützt wird. Universitäten ersichtlich wird - studentische Mobilität, der möglicherweise mit ihr einhergehende Wechsel der Sprachregion und mit ihr verbundene Heraus‐ forderungen nur begriffen werden können, wenn sie in diesen historischen, ökonomischen und politischen Zusammenhang gestellt werden. Wenige For‐ schungen (z. B. Montgomery 2010) beachten diesen, während andere den Blick auf die Sprache im Kontext der akademischen Mobilität lenken, fast ohne die zum Verständnis der sozialen und sprachlichen Praktiken notwendigen Bedin‐ gungen historischer, politischer und wirtschaftlicher Art zu berücksichtigen. 52 Aus den aufgezeigten Forschungslücken erwächst ein Auftrag für die vorlie‐ gende Arbeit. Sie versucht, einen Beitrag zur Erforschung der akademischen Mobilität zu leisten. So ist es - wie bereits angedeutet - die intra-nationale aka‐ demische Mobilität in der Schweiz, um die es im Folgenden gehen soll. Sie über‐ greift - wenn auch kleinräumig - Sprachgrenzen, was für die soziolinguistische Arbeit von besonderem Interesse ist. In dieser Kleinräumigkeit wirken national- und lokal-politische, wirtschaftliche und historische Faktoren. Die Rolle, die in der Mobilitätssituation der Sprache zukommt, möchte diese Arbeit mit Blick auf die genannten Faktoren verstehen. Diese Verbindung ist auch deshalb relevant, weil die Arbeit erstens den Anspruch hat, nicht „bloss“ deskriptiver, sondern auch interpretativer Natur zu sein, und sich zweitens auf einen kritisch sozio‐ linguistischen Ansatz stützt (vgl. 2.2.2). Weiter befasst sich das Projekt mit Studierenden im Schweizer Kontext, die sich nur bedingt freiwillig für die Mobilität entscheiden. Dies rückt die akade‐ mische Mobilität in ein neues Licht und lässt Fragen zur Immobilität auf‐ kommen. So wird in dieser Arbeit immer wieder auf Immobilität verwiesen, was zum Verständnis der Mobilität beiträgt und dazu verhilft, die der Mobilität nachgesagten Vorzüge (aber auch Herausforderungen) nachzuvollziehen. Der Blick auf die wechselseitige Beziehung zwischen Mobilität und Immobilität zwingt ausserdem dazu, die Wertung „VerliererInnen“ kritisch zu bedenken. Zum einen soll dieses Projekt einen wissenschaftlichen Beitrag zur Erfor‐ schung der akademischen Mobilität leisten. Zum andern möchte es zum kriti‐ schen Nachdenken in der universitären Umgebung anregen und aufzeigen, welche - bisher wenig thematisierten - Eigenheiten die Mobilität über Sprach‐ grenzen hinweg hat und inwiefern der Sprache auch machtbezogene Attribute anhaften, die in der wissenschaftlichen Literatur zur studentischen Mobilität allenfalls in Randbemerkungen vorkommen, obwohl sie, wie in den analytischen Kapiteln dargestellt wird, reale Konsequenzen für soziale Akteure haben. 2.2 Theoretisch-methodischer Rahmen 55 <?page no="56"?> 53 Auch heute koexistieren verschiedene Bezeichnungen, deren Verwendung nicht immer einheitlich ist. Je nach Fachgebiet und geographischer Umgebung variieren die Begriff‐ lichkeiten. 2.2.2 Positionierung Damit, dass die Lücken in der Erforschung der akademischen Mobilität erkannt sind und das an sie schliessende Vorhaben skizziert ist, ist auch angedeutet, welche thematischen, methodologischen und epistemologischen Aspekte im Rahmen dieser Arbeit zentral sind. Das Interesse am Stellenwert der Sprache im Kontext der akademischen Mobilität über Sprachgrenzen hinweg, an damit zu‐ sammenhängenden national- und lokal-politischen, wirtschaftlichen und his‐ torischen Faktoren, an Fragen nach Machtprozessen und Ideologien, die der Mobilität bzw. Immobilität anhaften, und an einer interpretativen und kritischen Betrachtungsweise führt zu einer epistemologischen Positionierung innerhalb der kritischen Soziolinguistik. Aber was bedeutet „kritische Soziolinguistik“? Um dies zu erläutern, sind einige Ausführungen erforderlich, die dazu dienen sollen, die Soziolinguistik an und für sich und ihre „kritische“ Komponente zu portraitieren. Die Bezeichnung „Soziolinguistik“ wird seit den 50er-Jahren gebraucht, zu‐ nächst in den Vereinigten Staaten und später auch in Europa. Lange war die Bezeichnung für das Feld uneinheitlich 53 . So zirkulierten Begriffe wie „linguistic anthropology“, „sociologie du langage“, Begriffe, die sich weder deckten noch klar unterscheidbar waren. Inzwischen hat sich ein Konsens darüber durchge‐ setzt, was mit Soziolinguistik gemeint ist. Sie wird als „Felddisziplin“ angesehen, also als eine Domäne, in welcher die Datenerhebung im Feld geschieht und welche kommunikative Daten verschiedener Art beinhaltet. Weiter wird unter‐ strichen, dass - in Anlehnung an die Arbeit der Ethnolinguisten (vgl. Boutet 1994) - soziale Situationen, in welchen sprachliches Material entsteht, einer Analyse unterzogen werden sollen. Dieser Leitsatz, Sprache immer auf dem Hintergrund der sozialen Produktionsbedingungen zu ergründen, ist weitge‐ hend akzeptiert. Soziolinguisten verwarfen bereits früh schon die Idee eines statischen und idealen Sprachsystems, die von Strukturalisten (de Saussure 1916) oder Generativisten (Chomsky 1965) vertreten wurde, welche „langue“ und „parole“ strikte trennten, also an der Unterscheidung zwischen dem ab‐ strakten Sprachsystem und dem fluiden Sprachgebrauch festhielten (vgl. dazu auch Duchêne 2008). Stattdessen waren Begründer der Soziolinguistik wie Wil‐ liam Labov, John Gumperz und Dell Hymes davon überzeugt, dass Sprache sich im Gebrauch manifestiere, nicht neutraler Natur sei und dass ihr deshalb stets soziale Aspekte anhaften würden (Ammon 1987). 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 56 <?page no="57"?> Seit den 50er-Jahren wurden Arbeiten von grosser Bandbreite und mit un‐ terschiedlichen Positionierungen produziert. Während die einen Soziolinguis‐ tInnen sich mit Korrelationen auseinandersetzten und ergründeten, wie Sprache und soziale Produktionsbedingungen zusammenspielen (z. B. Akzent und geo‐ graphische Merkmale einer Region), tendierten andere dazu, Soziologie und Linguistik als Domänen zu vereinen und interdisziplinär zu arbeiten. Wieder andere forderten dazu auf, den theoretischen Link zwischen der Sprache und der Gesellschaft zu überdenken, d. h. beispielsweise die Frage nach dem sozialen Wert von Sprachen und Sprachpraktiken zu stellen und der Frage nach der Deutungshoheit nachzugehen. Wer die zuletzt genannte Frage verfolgt, er‐ gründet u. a., welche Sprache in einer sozialen Interaktion welchen Wert von wem zugeschrieben bekommt und welche Konsequenzen solche Verhandlungs‐ prozesse mit sich bringen. Diese letzte Positionierung ist der eingangs er‐ wähnten „kritischen Soziolinguistik“ zuzuordnen (Heller 2002; Boutet & Heller 2007). Sie geht den Fragen des Machtausübens, -zuschreibens oder -absprechens auf den Grund, Fragen, die durch Sprache selbst, damit verbundene Kompe‐ tenzen und Sprachgebrauch aufkommen (Heller 2002, 2003; Duchêne 2008, 2009), und ermöglicht es, zu zeigen, wie und weshalb Vorgänge geschehen und welche Konsequenzen sie haben (Boutet & Heller 2007: 312). Solche Fragen sind im Zusammenhang mit meinem Interesse an der akade‐ mischen Mobilität über Sprachgrenzen hinweg und am Stellenwert der Sprache, der mit dieser Mobilität verbunden ist, besonders relevant. So wählen Tessiner Studierende - wie Stefanias Statement zu Beginn zeigt - ihren Studienort auch im Hinblick auf die Sprache, die sie dort zu erlernen hoffen. Die Wahl, in der Deutschschweiz (und eben nicht in der italienischsprachigen Herkunftsregion) zu studieren, hängt mit Vorteilen zusammen, die mit einer gewissen Sprache assoziiert werden. Diese wiederum sind im lokalen Raum mit der Zeit zu „Vor‐ teilen“ geworden. So muss der Wunsch von Studierenden, gewisse Sprachen besser zu beherrschen, im lokalen Markt analysiert werden, der historisch ge‐ wachsen ist. Innerhalb dieses Markts sind gewisse Währungen stärker oder sind, mit anderen Worten, gewisse Sprachen einträglicher. Es ist denn auch nicht verwunderlich, dass der Markt mit seinen Regeln erheblichen Einfluss auf das Handeln von Menschen hat. Schliesslich hängt deren Zugang zu sozialen Posi‐ tionen, Ressourcen und Kapital davon ab. Die kritische Soziolinguistik ordnet soziale und sprachliche Praktiken in einen bestimmten Raum und einen spezifischen historischen Kontext ein. Jede Interaktion ist in einem zeitlichen und örtlichen Rahmen situiert und findet auf 2.2 Theoretisch-methodischer Rahmen 57 <?page no="58"?> 54 Mit „Trajectoires“ verwende ich hier ein französisches Wort. Es vereint für mich eine räumliche und eine temporale Komponente. Ein Pendant auf Deutsch habe ich noch nicht gefunden. Mit „trajectoires“ sind sowohl die „Laufbahn“ von Menschen - das heisst der zeitliche Verlauf ihrer Handlungen - als auch ihre Pfade bzw. Bewegungen - zum Beispiel aus dem Tessin in die Deutschschweiz - gemeint. einem Hintergrund statt, der von den „trajectoires“ 54 der Akteure getragen ist. Materielle Bedingungen gehören zu diesem Hintergrund; sie sind an ihn ge‐ bunden und schränken die Handlungsmöglichkeiten ein (Giddens 1984). Somit sind soziale Phänomene und damit verbundene Praktiken situiert, kontextuali‐ siert und nicht neutral. Dieser Ansatz geht darüber hinaus, Gemeinschaften und darin erfolgende Interaktionen als gegeben zu betrachten. Er versucht statt‐ dessen, sozialen Akteuren und ihren „trajectoires“ zu folgen und dabei die vor‐ handenen Ressourcen zu berücksichtigen. Um diese „trajectoires“ zu ergründen und zu verstehen, inwiefern Sprache dabei welchen symbolischen oder materi‐ ellen Stellenwert erlangt, ist die Berücksichtigung des Markts hilfreich. Gepaart mit einem ethnographischen Ansatz, der die Akteure, ihre Interaktionen und vorhandenen Ressourcen in diesem Markt situiert, erlaubt es die Idee des Markts, die Interessen und Möglichkeiten zu begreifen, die den Handlungs‐ spielraum der Akteure wie auch die von ihnen unternommenen Handlungen beeinflussen (Heller & Martin-Jones 2001; Heller 2002). Zusammenfassend kann die dieser Arbeit zugrunde liegende epistemologische Positionierung einem in‐ teraktionellen, konstruktivistischen Paradigma zugeschrieben werden, das eine ethnographische Herangehensweise bedingt. 2.2.3 Forschungsfragen, Daten und Methodologie Diese Arbeit wird vom eingangs bereits erwähnten grundlegenden Forschungs‐ interesse, also der Quaestio, gelenkt: „Welchen Stellenwert hat die Sprache in Diskursen und Praktiken, die mit der studentischen Mobilität im schweize‐ rischen Hochschulsystem zusammenhängen? “ Die Quaestio wiederum geht auf die epistemologische Positionierung zurück, auf der meine Arbeit basiert. Die Forschungsfragen, welche die folgenden Kapitel leiten, hängen mit der Quaestio und der Positionierung zusammen. Sie beruhen auf der Vorstellung, dass mit der akademischen Mobilität einhergehende Ideologien auf dem Terrain der Sprache verhandelt werden, dass diese Ideologien sich in Diskursen niederschlagen und soziale wie auch sprachliche Praktiken der von der studentischen Mobilität tan‐ gierten Akteure beeinflussen. Aus diesem Interesse ergeben sich drei Leitfragen, die für die Datenerhebung wie auch für die Analysearbeit zentral sind und es ermöglichen, den Stellenwert 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 58 <?page no="59"?> von Sprachen im Zusammenhang mit der studentischen Mobilität über Schweizer Sprachregionen hinweg empirisch zu untersuchen. So soll ein Beitrag zum Verständnis geleistet werden, wie Sprache und Mobilität in soziale und diskursive Praktiken im Kontext des schweizerischen Hochschulsystems hi‐ neinwirken, und sollen Kapitalerwerbsprozesse im Bildungssystem und die Rolle der Sprache in der heutigen Gesellschaft ergründet werden, jener Gesell‐ schaft, welche die Studierenden als für die Zukunft geeignete „Subjekte“ kon‐ struiert. Die nachfolgenden Leitfragen wollen jene mit der Mobilität verbundenen Handlungen erhellen, welche vor dem Mobilwerden und in der Mobilitätssitu‐ ation vollzogen werden. Sie setzen es sich also zum Ziel, die Mobilität von ihrem Ursprung her - also ausgehend vom anfänglichen Wunsch nach Mobilität bzw. von der Entstehung desselben - und die damit verbundenen Interessen zu er‐ gründen. Auf die Formulierungen der Leitfragen folgen jeweils kurze Erläuterungen. I. Unter welchen Bedingungen wird Mobilität für wen möglich und erstre‐ benswert? Wer wirbt wie für sie, und inwiefern spielt Sprache dabei eine Rolle? Diese Frage schliesst insofern an die historischen Ausführungen an, als sie darauf abzielt, den dominierenden Machtapparat und dessen Logik anhand von Praktiken zu ergründen, die im Zusammenhang mit der akademischen Mobilität stehen. Die Universität dient diesem Apparat und hebt hervor, welche Mobilität ausführbar und erstrebenswert ist. Es gilt, Promotionsdiskurse und -praktiken, die von im heutigen schweizerischen Hochschulsystem involvierten Instituti‐ onen produziert werden, im Zusammenhang mit der studentischen Mobilität zu verstehen und zu ergründen, welche Rolle die Sprache dabei spielt. Im Beson‐ deren fokussiere ich mich auf Diskurse und Praktiken, welche deutschschwei‐ zerische Institutionen / Akteure an die Tessiner Studierendenpopulation richten. II . Wie konstruieren (welche) Studierende ihre Mobilität, und wie wird Sprache zum Argument, ihre Entscheidung zu legitimieren? Die Mobilität und deren Legitimation sollen ergründet werden, und zwar so‐ wohl in dem Falle, wo zukünftige Studierende über ihre Entscheidung, mobil zu werden, nachdenken, als auch in demjenigen, wo die Entscheidung für Mobilität bereits gefallen ist. Es geht darum, Diskurse und Praktiken von Tessiner Matu‐ randInnen und mobil gewordener Studierender zu verstehen. Es soll untersucht werden, wie TessinerInnen, die sich für ein Studium an einer deutschschweize‐ rischen Universität entschieden haben, ihre Mobilität begründen (gerade im Zusammenhang mit der Veränderung der schweizerischen Hochschullandschaft seit der Gründung der USI ). Mithilfe dieser Frage gelingt es, zu begreifen, welche wirtschaftspolitischen Interessen sich wie auf individuelle Praktiken auswirken 2.2 Theoretisch-methodischer Rahmen 59 <?page no="60"?> und inwiefern (welche) Sprachen diesen Interessen dienen. Die Frage geht also über eine individuelle „Begründung“ der Mobilitätswahl hinaus. Sie soll zur Klärung beitragen, wie sich der Machtapparat im universitären Bereich repro‐ duziert, die dortigen Praktiken beeinflusst und individuelle legitimierende Dis‐ kurse und Praktiken prägt. III . Wie kommen Studierende mit der Mobilitätsituation in der andersspra‐ chigen Region zurecht? Wenn Tessiner Studierende mobil geworden sind und möglicherweise den Wunsch haben, zusätzliche Sprachkompetenzen zu erwerben, stellt sich die Frage, wie sie in ihrer neuen Umgebung zurechtkommen. Setzen die Universi‐ täten die in Promotionsdiskursen versprochenen Hilfestellungen für Studie‐ rende mit anderssprachigem Hintergrund um? Und kommen die Studierenden ihren eigenen Vorsätzen nach? Mit welchen Herausforderungen sehen sich die Studierenden konfrontiert? Wie begegnen sie diesen? Unter welchen Bedin‐ gungen und aus welchen Gründen beziehen sie sich in ihrer Mobilität auf ihre Herkunftsregion? Solche Fragen sind in der dritten Leitfrage enthalten und sollen dazu beitragen, zu verstehen, welche diskursiven und sozialen Praktiken sich im Studierendenalltag abspielen und inwiefern sich darin sprachideologi‐ sche und politisch-ökonomische Dimensionen spiegeln. Die Leitfragen verlangen sowohl nach gewissen Daten zur Beantwortung derselben als auch nach einer gewissen Methode, diese Daten zu generieren. Darüber hinaus bedingen die Fragen - mit dem mehrfach darin enthaltenen Fragewort „wie“ zielen sie darauf ab, den Stellenwert von Sprachen im Zusam‐ menhang mit der studentischen Mobilität über Schweizer Sprachregionen hinweg zu verstehen - auch eine gewisse Art und Weise, die Daten zu analy‐ sieren. Im Folgenden soll kurz beschrieben werden, welche Daten dazu zählen, mit welcher Methode sie erhoben worden sind und wie diese analysiert werden. Das methodologische Kapitel nimmt sich dieses Vorhabens im Detail an. Die Leitfragen bedürfen einer qualitativen Herangehensweise. Ein ethnogra‐ phisches Vorgehen bietet sich an. Ethnographische Feldforschung beinhaltet das Erfahren und das Erleben der / des Forschenden, die sie / ihn zu einem Teil des Forschungsfeldes machen. Es gelingt so, die Perspektiven der unterschiedlichen Akteure wie auch deren Sprachpraktiken zu berücksichtigen. Die Entscheidung, auf diese Weise vorzugehen, hängt damit zusammen, dass diese Methode es erlaubt, dem Untersuchungsgegenstand in seiner Komplexität Rechnung zu tragen (Giddens 1984). Eigentlich der Anthropologie entsprungen, ist die sprachliche Ethnographie tief und unablösbar im sozialen Leben situiert und bietet eine spezifische ontologische und epistemologische Ausrichtung (Hymes 1964; Mason 2002). Das ethnographische Arbeiten ermöglicht es, zu sehen, wie 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 60 <?page no="61"?> Sprachpraktiken mit den realen Lebensbedingungen von Menschen verbunden sind, zu verstehen, wie und warum Sprache für Menschen aus ihrer Sicht wichtig ist, und zu sehen, wie sich Prozesse mit der Zeit entwickeln (Heller 2008: 250). Sprachliche Einzelhandlungen werden als Index von Mustern und Entwick‐ lungen angesehen, welche über die Einzelhandlung hinaus relevant sind. Diese weiterführende Dimension ist Teil der ethnographischen Interpretation (Fabian 1995). Mit dem Ziel, die studentische Mobilität und die Rolle der Sprache in der Hochschulbildung im Schweizer Kontext zu verstehen, habe ich zum einen in der Rolle der Ethnographin physisch (und gedanklich, nachdenklich, beobach‐ tend und mithandelnd) zwischen 2011 und 2014 an ausgewählten Lebenswelten teilgenommen. Dabei habe ich mich auf die vom italienischsprachigen Tessin auf die Deutschschweiz gerichtete Mobilität konzentriert. Die im Rahmen meiner ethnographischen Feldforschung erhobenen Daten lassen sich den drei Leitfragen zuordnen: Im Zusammenhang mit meinem Vorhaben (Frage I ), die studentische intra-nationale Mobilität als sozio-ökonomisches Phänomen zu verstehen und dabei zu begreifen, wer wie für sie wirbt und inwiefern Sprache dabei eine Rolle spielt, habe ich an Informationstagen für zukünftige Studierende an verschie‐ denen Universitäten (Bern, Luzern und Zürich [ ETH und Universität], USI ) be‐ obachtend teilgenommen, war an Präsentationen verschiedener Studienfächer, habe vor Ort mit Leuten (zukünftigen Studierenden, VertreterInnen der ver‐ schiedenen Universitäten, OrganisatorInnen) gesprochen und dabei etliche in‐ stitutionelle Dokumente (Flyer, Einladungen, Informationen für Maturan‐ dInnen, etc.) gesammelt. Auch haben Gespräche mit den in diesen Bildungsinstitutionen für die Marketingbroschüren und -konzepte Verantwort‐ lichen stattgefunden. Zusätzlich stehen mir die gesetzlichen Grundlagen (z. B. das Schweizer Hochschulförderungsgesetz) zur Verfügung, welche die Mobilität ermöglichen und den Rahmen für die damit verbundene Propaganda bilden. Um der Frage II nachzugehen, wie (welche) Studierende ihre Mobilität kon‐ struieren und wie dabei Sprache mitspielt, habe ich mithilfe der Immatrikulati‐ onsstellen der Universitäten Bern, Fribourg, Zürich ( ETH und Universität) und Luzern StudienanfängerInnen aus dem Tessin kontaktiert. Mit elf mobil gewor‐ denen Studierenden, die im Kanton Tessin ihre Maturität gemacht hatten, führte ich narrative Interviews durch, welche aufgezeichnet und teilweise transkribiert wurden. Weiter sprach ich an Informationstagen mit zukünftigen Studierenden über die ihnen bevorstehende Entscheidung für / gegen Mobilität. Um zu ergründen (Leitfrage III ), wie Studierende mit ihrer Mobilitätsituation in ihrer anderssprachigen Aufnahmeregion zurechtkommen und wie sie ihre 2.2 Theoretisch-methodischer Rahmen 61 <?page no="62"?> mit ihrer Herkunftsregion bzw. -kultur zusammenhängenden Praktiken be‐ gründen, habe ich während eines akademischen Jahres (2011-2012) in einer ita‐ lienischsprachigen Studierendenorganisation in Bern teilnehmend beobachtet. Ich war an zahlreichen verschiedenen Events / institutionellen bzw. individu‐ ellen Treffen (Apéros, Eishockey-Match, Zugfahrten, Sitzungen, Generalver‐ sammlung, Stammtischtreffen etc.), und machte danach jeweils Feldnotizen. Damit verbunden war das Sammeln von institutionellen Dokumenten (Flyers, Statuten, Einladungen …), auf die Verseinaktivität bezogener Korrespondenz (Newsletter des Vereins, Jobaustausch …) und Fotos, die von der Studierenden‐ organisation auf deren Website veröffentlicht worden waren. Diese ethnographisch erhobenen Daten analysiere ich, indem ich mich auf Prämissen aus der kritischen Soziolinguistik berufe (Hymes 1964; Boutet & Heller 2007) wie auch an Begründer der kritischen Ethnographie anlehne (Bour‐ dieu 2000 [1972]; Emerson et al. 1995, 2001; Bhatia et al. 2008; Gobo 2008). Dabei werden den sozialen und sprachlichen Praktiken zugrunde liegende (Sprach-)Ideologien (Irvine 1989) und Interessen der verschiedenen Akteure er‐ gründet. Einzelhandlungen werden als situiert betrachtet, d. h., dass analysiert wird - und zwar über die Einzelhandlung hinaus, während der teilnehmend beobachtet wurde -, welche Bedeutung ihnen zukommt und inwiefern sie für die involvierten Akteure zentral sind. Diesem Teil der Analysen dienen die Feldnotizen, die Einzelhandlungen in einer „thick description“ (Geertz 1973) festhalten, wie auch die gesammelten Dokumente, die mit den beobachteten Ereignissen verknüpft sind. Die in Gesprächen zustande gekommenen Daten werden (analog zu den Be‐ obachtungen) als situierte Handlungen (vgl. Cicourel 1974; Briggs 1986) er‐ achtet, in denen eine bestimmte Person auf bestimmte Art und Weise unter bestimmten Bedingungen einer bestimmten Person - in diesem Fall mir - etwas erzählt (Heller 2008). Sie werden als Praktiken der „De- und Entextualization“ der zu ergründenden Phänomene analysiert (Silverstein & Urban 1996). In In‐ terviews (re-)konstruieren die Gesprächspartner ihre mit der Mobilität zusam‐ menhängenden Praktiken. Dieser Rekonstruktionsprozess ist nicht neutral, son‐ dern wird von Gesprächspartnern produziert, die eine bestimmte Position / Rolle haben. Das Herausarbeiten dieser Positionen kann im Zusammenhang mit dem aus der teilnehmenden Beobachtung erworbenen Wissen dazu dienen, zu er‐ kennen, wie intra-nationale Mobilität auf Tertiärstufe von den verschiedenen Akteuren verhandelt und praktiziert wird und welche Rolle die Sprache dabei für sie spielt. Die Analyse trennt also Feldnotizen, institutionelle Daten und interaktionelle Daten nicht voneinander. Vielmehr werden diese als Einheit verstanden, die im 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 62 <?page no="63"?> ethnographischen Feld zustande gekommen ist und es erlaubt, die Komplexität der (Macht-)Beziehungen im Feld zu verstehen. 2.2.4 Theoretische Konzepte Im folgenden Teil gehe ich auf die theoretischen Konzepte ein, die mit meinem Forschungsinteresse und den damit verbundenen Leitfragen zusammenhängen. Die Erläuterung dieser Konzepte erlaubt es, den analytischen Kapiteln einen Rahmen zu geben und zu deren Nachvollziehbarkeit beizutragen. Drei Konzepte sind für mich zentral. Bei diesen handelt es sich um Mobilität, politische Öko‐ nomie und Ideologie. Auch wenn den drei Konzepten ein je eigenes Unterkapitel gewidmet ist, bedeutet dies nicht, dass sie voneinander losgelöst betrachtet werden können. Vielmehr sind sie miteinander verbunden, beeinflussen und bedingen sich gegenseitig. So wird in den drei Unterkapiteln auch Bezug auf die jeweils anderen Konzepte genommen. Ebenfalls fliesst die Sprache bei den Aus‐ führungen aller Konzepte mit ein. Bevor aber nun einzeln auf die Konzepte ein‐ gegangen wird, soll aufgezeigt werden, weshalb genau diese zentral sind. Der akademischen Mobilität kam im vorausgehenden Teil schon einige Auf‐ merksamkeit zu. Der Mobilitätsbegriff allgemein wurde aber nur gestreift. Auch was Mobilität konzeptuell bedeutet, wurde wenig erläutert. Dies wird im fol‐ genden Abschnitt herausgearbeitet. Weiter soll beleuchtet werden, weshalb bei mobilen Studierenden davon ausgegangen wird, Mobilität könne als gewinn‐ bringend und erstrebenswert ausgelegt werden und sei mit Möglichkeiten des Kapitalerwerbs verbunden (Albrecht 1972: 23). Äusserungen wie: Ein Studium ausserhalb der „eigenen Sprachregion“ sei ein Plus, man erlange so zusätzliche Sprachkenntnisse und erweitere seinen Horizont, müssen mit gewissen Inte‐ ressen und Selbstkonzepten in Verbindung gebracht werden, die mit der Mobi‐ lität verfolgt werden. Weiter sind es politisch-ökonomische Bedingungen, die Mobilität ermöglichen und ihr einen gewissen Stellenwert zuweisen. Ist letzterer entsprechend hoch, führt dies zu die Mobilität promovierenden Praktiken. So lohnt es sich für Universitäten in der Deutschschweiz etwa, eine Delegation ins entfernte Tessin zu schicken, um dort um zukünftige Studierende zu werben. Derartige Praktiken werden nicht als neutral oder gegeben erachtet, sie ge‐ schehen eben unter bestimmten politisch-ökonomischen Bedingungen, in einem gewissen temporalen und räumlichen Kontext. Ideologien resultieren aus diesen politisch-ökonomischen Bedingungen und münden in spezifische soziale und diskursive Praktiken. So wird etwa einer bestimmten akademischen Mobi‐ lität und einer damit erwerbbaren Sprache sowie den SprecherInnen, welche 2.2 Theoretisch-methodischer Rahmen 63 <?page no="64"?> diese Sprache dank der Mobilitätssituation beherrschen, ein spezifischer, ideo‐ logisch geprägter Status zugeschrieben. 2.2.4.1 Mobilität Wie in der historischen Skizze erläutert worden ist, hat Bildungsmobilität eine lange Geschichte und Vorgeschichte. Menschen haben nämlich früh auch andere Formen der Mobilität gewagt, mit dem Ziel, ihre alltäglichen Lebensbedin‐ gungen zu verbessern. Mobilität an und für sich ist also nicht neu. Als relativ „neu“ betrachtet werden können die Erfindung und Einrichtung nationaler, aber auch regionaler Grenzen und die Vorstellung („imagining“) von Nationalstaaten (im 19. Jahrhundert) und politisch autonomen Regionen (Anderson 1983: 5-7). Durch damit verbundene ideologische Prozesse kommt der Mobilität eine Be‐ deutung zu, die zum Thema der Wissenschaft wird. Mobilität über „Grenzen“ hinweg ist interdisziplinär auf grosses Interesse gestossen. Man denke etwa an transnationale Forschungsvorhaben (Waldinger & Fitzgerald 2004) oder an For‐ schung, die sich mit dem vermeintlichen „Verblassen“ von Grenzen im Zuge der Europäisierung und Globalisierung befasst (vgl. Yeung 1998). In Zusammenhang mit dieser (Neu)Aushandlung von Grenzen und der (Un)Möglichkeit, diese zu überqueren oder zu ignorieren, betonen Forschende aus verschiedenen Disziplinen, wie präsent und wichtig Mobilität in unserer Gesellschaft sei. Gemäss Appadurai (2001: 5) leben wir heute in einer „world fundamentally characterized by objects in motion“ oder, anders gesagt, in „a world of flows“. Boltanski und Chiapello (1999) weisen darauf hin, dass die Fä‐ higkeit, sich zu bewegen und räumlich flexibel zu sein, in marktwirtschaftlichen Gesellschaften essentiell geworden sei. John Urry, ein Soziologe, der das Thema „Mobilität“ während Jahrzehnten erforschte, schlägt in seinem Versuch, eine Soziologie der Mobilität zu entwickeln, gar vor, „society“ durch „mobility“ zu ersetzen, da das Sich-Bewegen „constitutive of the structures of social life“ sei (2000: 49). Auch wenn Einigkeit herrscht, dass das Phänomen der Mobilität Aufmerksamkeit verdiene, sind die Auffassungen, was nun mit Mobilität ge‐ meint sei, und die dafür verwendeten Begrifflichkeiten uneinheitlich. Im Fol‐ genden soll auf diejenigen Aspekte der Mobilität eingegangen werden, die für diese Arbeit und das damit einhergehende Verständnis von Mobilität hilfreich sind. Urry (2000, 2008) bietet einen sehr breiten Mobilitätsbegriff an. Er zählt nicht nur körperliche Bewegungen im Raum zur Mobilität - z. B. reist ein Student mit der Bahn aus dem Tessin in die Deutschschweiz -, sondern schreibt ihr auch 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 64 <?page no="65"?> 55 Urry spricht in diesem Zusammenhang von imaginärer, virtueller und gegenständlicher Mobilität. Aktivitäten zu, die keine räumliche Verschiebung von Körpern beinhalten. 55 Mobilität liegt z. B. schon dann vor, wenn ein Student aus dem Tessin in der Deutschschweiz auf einem Sofa sitzt und über seine Bahnreise nachdenkt. Im Alltagsgebrauch weist man „Mobilität“ meistens eine „Bewegungskom‐ ponente“ zu, d. h. dass mit ihr Aktivitäten verbunden werden, die dazu beitragen, die Distanz zwischen räumlich separierten Orten zu überbrücken. Die Kernbe‐ deutung liegt also in der „transgression of spatial distance“ (Frello 2008: 28). In gegenwärtigen Diskussionen über Bewegung geht es v. a. darum, ob wir uns mit „tatsächlichen Bewegungen von Körpern oder Dingen“ oder mit „Bewegung von Informationen oder Ideen“ befassen (vgl. Kaplan 2006: 395). Auch Tim Cresswell nimmt an dieser Diskussion teil. Er greift die Idee der „tatsächlichen Bewegung von Körpern oder Dingen“ auf und bezeichnet sie als „general fact of displacement“ oder „movement“. Ihr, der tatsächlichen Bewe‐ gung, stellt er die „Mobility“ gegenüber, die für ihn den „social character of movement“ beinhaltet (Cresswell 2001: 13-14). Er führt diese Unterscheidung weiter aus: Mobility, like social space and place, is produced. Mobility is to movement what place is to location. It is produced and given meaning within relations of power: There is, then, no mobility outside of power. Mobility, unlike movement, is contextualised. It is a word for produced movement. (ebd. 20). Gemäss Tim Cresswell könnte man also sagen, dass eine Bewegung im Raum - z. B. der Umzug aus dem Tessin in die Deutschschweiz - bloss ein physikalischer Vorgang sei. Erst bei der Mobilität - etwa beim mit der Bewegung assoziierten Übergang vom Maturanden zum Studierenden - schwinge eine soziale Kom‐ ponente mit, im erwähnten Beispiel die Statusveränderung. Letztere finde nicht einfach statt, sie werde einem von aussen zugeschrieben. Birgitta Frello (2008: 3), ebenfalls eine Soziologin, die sich ausgiebig mit der Mobilität befasst hat, geht noch einen Schritt weiter. Sie hält die Unterscheidung von „movement“ und „mobility“ für unzulänglich; ihr zufolge werden sowohl „mobility“ als auch „movement“ diskursiv erzeugt. Demnach geht es nicht darum, zu entscheiden, welchen Praktiken Bedeutung im Sinne von „mobility“ zugesprochen wird, d. h., ob die Mobilität von Menschen als bildend, als (un)frei‐ willig, als (il)legitim erachtet wird. Vielmehr fragt Frello danach, ob Praktiken überhaupt für mobil befunden werden. Frello tritt auf eine foucaultsche Weise an den Gegenstand heran. Sie sieht in der Verwendung der Bezeichnungen 2.2 Theoretisch-methodischer Rahmen 65 <?page no="66"?> 56 Auch „Pendlermobilität“ will nicht so richtig passen, da damit in konventionalisiertem Sinne der Weg zwischen dem Zuhause und dem Arbeitsplatz bezeichnet wird. „mobile“ oder „movement“ einen performativen Akt, der auch eine Komponente der Macht beinhaltet. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Sprechen wir von Bildungsmobilität oder akademischer Mobilität über Sprachgrenzen hinweg - so nehmen wir diese wahr, bezeichnen sie. Kaum jemand wird be‐ haupten, dass sich TessinerInnen mit ihrer Entscheidung, ein Studium in der Deutschschweiz anzugehen, nicht in einer Mobilitätssituation befinden. Wie steht es aber mit einer in der Reinigungsbranche tätigen Person, die sich der Arbeit wegen täglich von Haus zu Haus bewegt? Wird ihr nicht vermutlich eher Immobilität als Mobilität zugeschrieben? Allein schon weil für diese Bewegung eine Bezeichnung fehlt - wenn sie überhaupt wie hier wahrgenommen wird -, fällt auf, dass ihr bisher kaum Aufmerksamkeit zugekommen ist. 56 Man könnte die unterschiedlichen Distanzen ins Feld führen, die in den zwei Beispielen mittels Mobilität zurückgelegt werden, und - argumentierend - vor‐ bringen, die eine oder die andere Mobilität sei „echter“. Aber das bringt einen nicht weiter (vgl. Bauman 1998). Ergiebiger ist es, zu fragen, wem welche Mo‐ bilität zustehe (vgl. Wolff 1993; Adey 2006) und wer - mal in Bewegung - seine Bewegung steuern könne. Das heisst, dass es sich nicht nur zu fragen lohnt, wer in Bewegung ist, sondern auch, wann, wie und unter welchen Bedingungen er dies tut (Brah 1996; Pels 1999; Cresswell 2001, 2002). Der Mobilität haftet eine Machtkomponente an. Mobilität bedeutet Verschie‐ denes für verschiedene Menschen unter unterschiedlichen sozialen Umständen. Diese Bedeutungen sind diskursiv konstituiert (Frello 2008) und sind als solche ein Produkt von Machtverhältnissen. Gleichzeitig reproduzieren die Bedeu‐ tungen die Machtverhältnisse (Foucault 1972). Es geht also nicht darum, „einfach“ zwischen empirischen Phänomenen zu unterscheiden, nämlich zwischen solchen, die sich bewegen, und jenen, die sich nicht bewegen. Mobilität, Immobilität und die Praxis der Bewegung sind soziale Konstrukte und werden diskursiv konstituiert. Was zur Mobilität zählt (oder nicht), ist auf „Reiteration“ im Sinne von Butler (1997) zurückzuführen - d. h. auf Wiederholungen und Abänderungen vorgängig gesetzter Konventionen. Sprechen wir von Bildungsmobilität, mag es nicht verwundern, dass die meisten unter uns Ähnliches damit assoziieren. Vermutlich denken wir an junge, gut gebildete Menschen, die dank dieser Bewegung in den Genuss spezifischer Bil‐ dung kommen und gleichzeitig ihren kulturellen Horizont erweitern. Mit dieser Mobilität wird u. a. ein Gewinn an Erfahrung und Weltoffenheit verknüpft (Cresswell 2006; Croucher 2012), wogegen Migrationsströmen aus bestimmten 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 66 <?page no="67"?> 57 Dies gilt auch für die Prozesse, durch welche Personen als „illegale Migranten“, „Expats“, „Gastarbeiter“, „Nomaden“ bezeichnet werden (vgl. Skenderovic & D’Amato 2008). 58 Zusätzlich anzumerken ist, dass diese Arbeit - auch wenn sie versucht, die diskursiven Konstrukte bewusst zu machen - wiederum zum Diskurs (und zu dessen „Reiteration“) beiträgt. Man kann dem Diskurs sozusagen nicht entwischen. Gebieten aberkannt wird, dass sie dazu dienen, gewisse Gesellschaftsordnungen aufrechtzuerhalten, oder deren Mobilität als solche gar nicht erkannt wird. Stu‐ dentische Mobilität ist konventionalisiert; infolge von „Reiteration“ „wissen“ wir, wovon wir sprechen. Mobilität, Bewegung, Immobilität etc. und das, was wir darunter verstehen, basieren also auf vorherrschenden Diskursen. Es geht folglich nicht nur darum, zu ergründen, wer sich wie, wohin bewegen kann. Es geht auch darum, zu er‐ kennen, „who gets to tell the story? “ (Clifford 1997: 33), und somit darum, wel‐ cher Diskurs sich durchsetzt. Zusammengefasst: In der Mobilitätsforschung hat sich die Blickrichtung ver‐ schoben. Von der Ausrichtung auf eine „unbestrittene“ Distanz, die es mittels einer Bewegung zu überwinden gilt, auf den normativen Rahmen, welcher der (Im-)Mobilität zugeschrieben wird (Manderscheid et al. 2014). Forschende, die diesen normativen Rahmen einbeziehen, sind nun vorsichtiger, was vormals „gegebene“ Unterscheidungen anbelangt 57 , und berücksichtigen Elemente der Macht, die der (Im-)Mobilität anhaften. Diese Ausführungen sind für die vorliegende Arbeit insofern relevant, als sie bewusst machen, dass wir uns, wenn wir von Bildungsmobilität sprechen, be‐ reits einem vorherrschenden Diskurs verschrieben haben. Im Folgenden werden zwar der Einfachheit halber weiterhin Begriffe wie Bildungsmobilität, studen‐ tische Mobilität, akademische Mobilität u. ä. verwendet. Dies erfolgt aber erstens im Bewusstsein, dass diese Konzepte diskursiv konstruiert sind, und zweitens im Bestreben, zu ergründen, in wessen und welchem Interesse diese Konstruk‐ tion geschieht. Die Frage nach der Bewegung / Mobilität / Immobilität und ihrer Bedeutung für die verschiedenen Akteure schwingt in den analytischen Kapi‐ teln mit. Auch wird in der Analyse berücksichtigt, dass die Deutungshoheit er‐ heblich darauf wirkt, wie, wer oder was für mobil / immobil erklärt wird 58 . Denken wir an Studierende aus dem Tessin, die ihrer tertiären Bildung wegen in die Deutschschweiz „wandern“, lässt sich deren Mobilität in einem diskursiv konventionalisierten Sinne als eine privilegierte beschreiben (Croucher 2006). Das heisst nicht, dass sich nur privilegierte Menschen bewegen. Man denke an jene, die wir als Flüchtlinge bezeichnen. Jedoch haben Privilegierte wie z. B. Studierende in gewissem Masse die Wahl, sich (nicht) zu bewegen. Sie sind freier als andere in ihren Entscheidungen. Ihre Wahlfreiheit ist grösser (Bourdieu 2.2 Theoretisch-methodischer Rahmen 67 <?page no="68"?> 1979). Pennycook (2012: 25) bemerkt dazu: „to choose in certain ways is a re‐ flection of material well-being“, oder anders gesagt: Wer wählen kann, verfügt über gewisse Ressourcen. Massey (1991: 27) hält fest: „mobility and control over mobility both reflects and reinforces power“. Dies führt uns zur vorgängig er‐ läuterten Machtkomponente zurück. Studierende könnte man einer gesellschaftlichen Elite zuordnen und ihnen implizit die Freiheit der Wahl für oder gegen Mobilität zuschreiben. Dennoch wäre es unvorsichtig, wenn man studentische (Im-)Mobilität ausschliesslich auf eine „freie Wahl“ zurückführte. Selbst Eliten sind in ihrer (Im-)Mobilität ge‐ wissen Zwängen unterworfen. Ihre Entscheidungsfreiheit ist begrenzt; d. h.: „forces, mechanisms and institutional arrangements“ schränken ihre Wahl ein (Warde & Martens 1998: 129). Gerade unter Privilegierten, die ihren Lebensstil in gewissem Masse wählen können, gehört gemäss Urry (2002: 256) „being on the move“ sozusagen zum „way of life“. Trotz technologischen Fortschritten, die sublime Formen von Mobilität - wie etwa die virtuelle oder imaginäre - er‐ leichtern, nimmt die physische Mobilität zu. Individuen entscheiden sich für die Mobilität, um sich in der zunehmenden Komplexität des modernen Lebens zu‐ rechtzufinden (McIntyre 2006; Cohen et al. 2013). Wie wir unseren Lebensstil wählen und die damit verbundenen Konsumentscheidungen - z. B. die Mobilität betreffend - fällen, hängt mit Selbst-Konzepten zusammen (Featherstone 1987). Praktiken, die mit diesem Konsum verbunden sind, hat Giddens (1991: 81) als „decisions not only about how to act but who to be“ definiert. Laut Giddens impliziert dieses „project of the self “, dass unsere Wahl des Lebensstils unser Selbstbild beeinflusst. Konsumentscheidungen, darunter auch unsere Entschei‐ dung für die (Im-)Mobilität), und unser Lebensstil sind zentral geworden, wenn es um die Konstitution eines Selbstverständnisses geht. Dies bedeutet, dass die Wahl eines Lebensstils sich zunehmend mit Formen der Mobilität mischt und für die ausreichend Privilegierten, denen es vergönnt ist, sich mit solchen Ent‐ scheidungen zu befassen, wegweisend ist. Auch Tessiner MaturandInnen können zu den Privilegierten gezählt werden, die in ihrem „project of the self “ „on the move“ sind. Wie bereits erwähnt, ent‐ scheiden sich rund 80 % der Tessiner MaturandInnen für ein Studium ausserhalb des Kantons und „wandern“ in die Deutsch- oder Westschweiz. Verschiedene „Push- und Pull-Faktoren“ bestärken sie darin (Lee 1966). Die Push-Faktoren hängen mit den Bedingungen im Tessin zusammen. Die Immobilität - bzw. die Entscheidung, ein Studium im Tessin in Angriff zu nehmen - scheint für ein „project of the self “ nicht förderlich, das „on the move“ zu sein hat. Zudem bietet die im Tessin situierte Universität ( USI ) - wie einige andere kleinere Universitäten auch - ein beschränktes Studienangebot an, und 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 68 <?page no="69"?> 59 Die USI wird als privates Unternehmen geführt, wird aber aus privater wie auch öf‐ fentlicher Hand gespeist (vgl. http: / / www.usi.ch/ en/ container_target_press_area/ organizzazione.htm). [letzter Zugriff, 02. 10. 2015]. 60 Zum Vergleich: Studierende an der Universität Freiburg bezahlen 655 Schweizer Franken pro Semester, an der USI belaufen sich die Studiengebühren auf 2000 Schweizer Franken pro Semester. 61 Auch der Lebensstil kann als symbolisches Kapital erachtet werden. die Studiengebühren der USI sind wegen ihrer halbprivaten Organisations‐ form 59 vergleichsweise hoch 60 . Besucht wird die USI vorwiegend von Studie‐ renden aus dem Ausland (ca. 65 %); die Mehrheit davon stammt aus Italien. Mit dieser Studierendenpopulation gehen Statements einher, wie z. B.: Die reichen „Italiener“ hätten die USI okkupiert, weshalb sie für die TessinerInnen keine valable Option sei. Ein wirksamer Push-Faktor ist ferner, dass MaturandInnen erst seit 1996 die Wahl haben, ihrer tertiären Bildung wegen im Kanton zu bleiben, und vorher gezwungen waren, mobil zu werden. Die lokale Tradition spricht für die Mobilität. Pull-Faktoren hängen nicht nur damit zusammen, dass die studentische Mo‐ bilität unter Tessiner Studierenden zum „guten Ton“ bzw. zum Lebensstil gehört, den es unter Privilegierten zu wählen gilt. Mobilität kann unter gewissen Um‐ ständen eben auch zum Erwerb von symbolischem, ökonomischem und kultu‐ rellem Kapital oder aber räumlichem Kapital führen (Bourdieu 1983; Rérat & Lees 2011) 61 . Im Falle von Studierenden gehört dazu z. B. ein Diplom, das Zugang zum späteren Berufsleben verschaffen kann und dem dann ein gewisser öko‐ nomischer Wert zugeschrieben wird. Nicht jeder Form des „On-the-move-Seins“ wird aber gleichermassen Wert oder Aussicht auf Kapital beigeordnet. Für die TessinerInnen scheint etwa das nahe gelegene Italien keine ernsthafte Mobili‐ tätsoption zu sein, auch wenn ein dortiges Studium ebenfalls Mobilität impli‐ zieren würde. Der Wert der dort ausgestellten Diplome wird von Studierenden angezweifelt (vgl. Kapitel 5). Das „On-the-move-Sein“ der TessinerInnen muss zudem auf dem Hinter‐ grund der europäischen und nationalen Sprachpolitik (vgl. Rindler-Schjerve & Vetter 2012) und der politisch-ökonomischen (vgl. 2.2.4.2) Bedingungen be‐ trachtet werden. Der Erwerb von Sprachkompetenzen durch Mobilität während des Studiums wird im marktwirtschaftlich geprägten Zeitalter als äusserst wichtig erachtet (z. B. Murphy-Lejeune 2002; Yarymowich 2004). Studierende, welche mobil werden, bekommen die Chance, mehrsprachig zu werden, wozu freilich anzumerken ist, dass die Mehrsprachigkeit ihnen Mobilität erst gestattet (Lüdi et al. 1994; Takahashi 2013). So versuchen TessinerInnen während ihres Studiums Deutsch- oder Französischkenntnisse zu erwerben. Grundlage für ihre 2.2 Theoretisch-methodischer Rahmen 69 <?page no="70"?> Mobilität bilden die während des Gymnasiums erworbenen Deutsch- oder Fran‐ zösischkompetenzen. Aber ähnlich wie die Mobilität sind auch Sprachen nicht gegen hierarchische Zuordnungen gefeit (vgl. Broeder & Extra 1998). Es werden demnach nur eine gewisse Mobilität und mit ihr verbundene Sprachkompe‐ tenzen als willkommene zusätzliche Qualifikation bzw. zusätzliches Kapital er‐ achtet (vgl. Coffey 2011; Lan 2011). Im Kontext der Tessiner MaturandInnen sind dies die Mobilität in die Deutschbzw. Westschweiz und damit verbundene Deutschbzw. Französischkenntnisse. Die vorliegende Arbeit will v. a. bewusst machen, dass Mobilität diskursiv konstruiert wird, dass ihr eine Machtkomponente anhaftet und mit ihr Kapital‐ erwerbsprozesse verknüpft sind, die auf politisch-ökonomischen Bedingungen basieren. Sie geht Sprache und (Im-)Mobilität denn auch aus der Perspektive der kritischen Soziolinguistik an. So gelingt es, sich der Herausforderung der Mo‐ bilität zu stellen, nämlich „the dislocation of language and language events from the fixed position in time and space attributed to them by a more traditional linguistics and sociolinguistics“ (Blommaert 2010: 21) neu und angemessen zu begreifen. Regionen, z. B. dem Tessin oder der Deutschschweiz, durch die sich die Studierenden bewegen, fällt so eine neue Rolle zu. Pennycook (2012: 26) hält treffend fest: „Place or locality are not so much defined by physical aspects of context, by tradition or origins but by the flows of people, languages, cultures through the landscape.“ Diese Ansicht impliziert, dass unsere Analysen räumlich und zeitlich nicht mehr „unbewegt“ sind, sondern unsere Überlegungen über Sprache an Fragen festgemacht werden, die sich mit Bewegung und Ort befassen. Erst mit solchen Fragen im Hinterkopf sind wir darauf vorbereitet, dass „languages turn out to be floating around in unexpected places“ (Heller 2007: 343). 2.2.4.2 Politische Ökonomie Aus der Skizze der einstigen und heutigen Hochschullandschaft geht hervor, dass studentische Mobilität und mit ihr verbundene Destinationen sich je nach Machtapparat verändern. Ebenso sind es je nach Periode andere Sprachen, die es mittels der Mobilität zu erwerben gilt. Im spätmittelalterlichen Europa etwa ist es die Kirche, welche die Universi‐ täten dominiert. Sie finanziert aus Pfründen und anderen Einkünften den Be‐ trieb, diktiert die „doctrina sacra“ und den Gebrauch des Lateins, bestimmt den vom Klosterbetrieb übernommenen 45-Minuten-Rhythmus. Mit dieser kirchlich geprägten Vormachstellung zieht die Universität in ihren Anfängen angehende Kleriker aus dem gesamten christlichen Europa an. 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 70 <?page no="71"?> 62 Es ist erneut darauf zu verweisen, dass der neue Machtapparat nicht alle Elemente der Vergangenheit verstösst. Die heutige Vorlesung z. B. geht auf die „lectio“ aus dem Klos‐ terbetrieb zurück. Auch in der gegenwärtigen Hochschullandschaft gibt es einen Machtapparat, der sich auf die Struktur der Universität auswirkt 62 . So sind es vorwiegend öko‐ nomische Leitlinien, die den Betrieb und die inhaltliche Ausrichtung derselben prägen und im Zusammenhang mit der Wettbewerbsorientierung stehen, die sowohl den öffentlichen als auch den privaten Sektor dominiert. Die Universität ist ein Ort, an dem - in Konkurrenz zu ähnlichen (aber nicht identischen) Orten - gewisse Bildungsgüter konsumiert / erworben werden können. So erhalten Tes‐ siner Studierende dank ihrer Mobilität in der Deutsch- oder Westschweiz Zu‐ gang zu Bildung und zu Sprachen, welche den schweizerischen Markt beherr‐ schen, und sie bekommen dadurch die Chance, später jenem Teil der Bevölkerung anzugehören, der sich, z. B. als Arbeitnehmende, in diesen Markt eingliedern kann. Der Fakt, dass sich der Stellenwert von Sprachen, damit verbundene Sprach‐ ideologien und Mobilitätsrichtungen im universitären Kontext seit dem Hoch‐ mittelalter in Europa immer wieder wandeln, muss auf dem Hintergrund poli‐ tisch-ökonomischer Bedingungen betrachtet werden. Doch was ist unter politischer Ökonomie zu verstehen, und inwiefern bietet sich deren Konzept für diese Arbeit an? Die nächsten Abschnitte sollen Antwort auf diese Fragen geben. Der Begriff „politische Ökonomie“ bezieht sich auf die Bedingungen, unter denen die Produktion und Verteilung von materiellen und kulturellen Gütern in unserer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt geschieht. Diese Be‐ dingungen hängen mit wirtschaftlichen Gesetzmässigkeiten, Marktteilnehmern (z. B. Grossunternehmen) und amtlichen Entscheidungsträgern (z. B. Kanton, Nation) zusammen. Die „politische Ökonomie“ wirkt sich auf Menschen, deren sozialen Status, deren kulturelle Praktiken, Wertvorstellungen und Überzeu‐ gungen aus. Sprachen und SprecherInnen und die Art und Weise, wie diesen Wert zubzw. abgesprochen wird, sind davon nicht ausgenommen (Bourdieu 1977; Gal 1989; Irvine 1989; Bauman & Briggs 2003; Philips 2005; Heller & Boutet 2006; Duchêne & Heller 2012; Duchêne, Moyer & Roberts 2013; Martin-Rojo 2013). Unter den zahlreichen AutorInnen, die sich mit der politischen Ökonomie befassen, findet sich auch Pierre Bourdieu (1977, 1982, 1983). Er beschreibt, in‐ wiefern diese für den sprachlichen Gegenstand relevant ist und entwickelt die bereits erwähnte Idee des „sprachlichen Markts“. Sein Beitrag wird von anderen AutorInnen weiterentwickelt und ist für die vorliegende Arbeit zentral. Laut Bourdieu bewegen wir uns in einem Markt, in dem verschiedene Formen von 2.2 Theoretisch-methodischer Rahmen 71 <?page no="72"?> 63 Selbstverständlich legen schulische Institutionen zusammen mit Behörden nicht nur die zu unterrichtenden Sprachen fest, sondern bestimmen darüber hinaus, was als le‐ gitimes Wissen / Können gilt und demnach im Curriculum einen Platz hat. Kapital zirkulieren, die unter gewissen Bedingungen gegeneinander ein-/ austauschbar werden. So ist beispielweise symbolisches (kulturelles oder sozi‐ ales) Kapital in materielles Kapital überführbar (Bourdieu 1977: 195). Wem (z. B. SprecherInnen) oder welcher Sache (z. B. Sprachen), wann (z. B. jetzt), wo (z. B. in der Schweiz) wie viel Wert (z. B. Geld oder symbolischer Wert) zukommt, wird von der politischen Ökonomie oder eben dem sprachlichen Markt bestimmt. Diese Wertzuschreibungen führen dazu, dass gewisse SprecherInnen und ge‐ wisse Sprachen als legitimer, wertvoller oder nützlicher betrachtet werden als andere. Das heisst, dass eine Interaktion nicht bloss ein verbaler Austausch zwi‐ schen einem Zuhörenden und einem Sprechenden, sondern auch ein Austausch ökonomischer Natur darstellt. Im Austausch manifestiert sich, wie es um die Machtbeziehung steht und wer wie viel Kapital hat, das den gegenwärtigen Marktanforderungen entspricht (Bourdieu 1991). Entsprechend diesem Ver‐ ständnis von Sprachen und SprecherInnen sind die Unterschiede und Ungleich‐ heiten in der politischen Ökonomie und in den daraus resultierenden ökono‐ mischen und sozialen Bedingungen beschaffen. Bourdieu weist darauf hin, dass dem Bildungssystem in der Akzentuierung dieser Ungleichheiten eine wichtige Rolle zukomme (Bourdieu 1977; Erickson 2004; Bourdieu & Passeron 1971, 2006; Martin-Rojo 2010). Es favorisiere die von den Erziehungsbehörden für vorrangig erklärten Sprachen dadurch, dass diese (und keine anderen) unterrichtet werden, stütze somit die Behörden in ihrer Entscheidung und trage erheblich zur Legitimation gewisser Sprachen bei 63 . Die Macht, die Sprachen zugeschrieben wird, ist gemäss Bourdieu nicht in den Spra‐ chen an und für sich enthalten, sondern reflektiert die Macht einer dominier‐ enden Gruppe (z. B. der Regierung) (vgl. Gal 1989). Wie die historische Skizze zeigt, ist der Markt nicht für die Ewigkeit gegeben. Er verändert sich, wird von Menschen (Individuen und Gruppen) mit spezifischen Interessen und Ideologien produziert und geformt. Menschen verwenden die politisch-ökonomischen Strukturen und nutzen sie, um ihre Interessen zu wahren und in der Gesell‐ schaftsordnung ihren Platz beizubehalten (vgl. Duchêne & Heller 2007). Bourdieus Überlegungen und deren Weiterentwicklungen passen sehr gut zum Kontext der vorliegenden Arbeit. Im marktwirtschaftlich geprägten ter‐ tiären Bildungssystem geniesst die Sprache einen besonderen Status und dient den tertiären Institutionen, die dem Wettbewerbsprinzip gehorchen, als Unter‐ scheidungsmerkmal gegenüber Konkurrenz (vgl. Bourdieu 1979; Saunders 2010; Bodmer 2011; Block et al. 2012; Kauppi & Erkkilä 2011). Angehende Stu‐ 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 72 <?page no="73"?> dierende aus anderssprachigen Gegenden etwa versuchen die Universitäten über die Sprache zu akquirieren, indem sie ihnen in deren eigener Sprache auf‐ zeigen, dass Sprachkompetenzen, die sie sich während des Studiums erwerben, ihnen in ihrer Zukunft dienlich sein können. Dies gelingt, weil kommunikative Fertigkeiten und Sprachkompetenzen in der durch die Tertiarisierung geprägten Marktwirtschaft zur Ressource und zum eigentlichen Arbeitsinstrument ge‐ worden sind (Boutet 2008; Cameron 2000; Heller 2003). Beispielsweise erhoffen sich Tessiner Studierende dank ihrer Mobilität und den erworbenen Deutsch- oder Französischkenntnissen eine grössere Chance auf dem Arbeitsmarkt, um darin ihr symbolisches in monetäres Kapital zu verwandeln (vgl. Heller 2003, 2010; Philips 2005; Boutet 2008; Urciuoli 2008; Duchêne 2009, 2011; Duchêne & Piller 2011; Blommaert & Varis 2012). Des Weiteren kann die Sprache zum In‐ strument werden, um etwa potentielle Kunden - oder in diesem Kontext po‐ tentielle Studierende - in der ihnen geläufigen Sprache anzusprechen und wich‐ tige Informationen lokal publik zu machen, mit anderen Worten: um sich Zugang zu neuen Märkten (oder neuen Studierendenpopulationen) zu ver‐ schaffen (Piller 2001; Kelly-Holmes 2006). Bourdieus Überlegungen zum sprachlichen Markt erweisen sich im Rahmen dieser Untersuchung als fruchtbar, um zu ergründen, welchen Spreche‐ rInnen / Sprachen Wert zu-/ abgesprochen wird. Irvine und Gal (Irvine 1989; Gal 1989, 2011, 2012) bemerken jedoch kritisch, dass Bourdieus theoretische Aus‐ führungen kaum eine Handhabe enthielten, sie im sprachlich-sozialen Alltag erkennbar zu machen und festzumachen. Sie schlagen deshalb vor, neben dem Markt die darin vorherrschenden Ideologien zu ermitteln. Dem geht das nächste Unterkapitel auf den Grund. 2.2.4.3 Ideologie Werben tertiäre Bildungsanstalten aus der Deutschschweiz um angehende Stu‐ dierende aus dem Tessin, heben jene die zusätzlichen Deutschkenntnisse hervor, welche diese sich neben dem Studium „wie von selbst“ aneignen könnten (vgl. Kapitel 4). Wenn Tessiner Studierende die Wahl ihres Studienorts begründen, betonen sie die Wichtigkeit der deutschen Sprache und die Vorteile, welche die Mobilität - sie assoziieren diese z. B. mit zusätzlicher Lebenserfahrung und Selbständigkeit - mit sich bringe (vgl. Kapitel 5). Ideologien liegen diesen dis‐ kursiven Praktiken zugrunde. Diese zu analysieren trägt dazu bei, die Kon‐ struktion der sozialen Wirklichkeit, in der auch die studentische Mobilität über Sprachgrenzen hinweg ihren Platz hat, und die darin vorkommenden Macht‐ verhältnisse zu beleuchten. 2.2 Theoretisch-methodischer Rahmen 73 <?page no="74"?> Ideologie ist zum Alltagsbegriff geworden und wird als flexible Hülse ver‐ wendet. Der Begriff bedarf einer Definition, wenn wir uns im Rahmen dieser Arbeit dessen bedienen wollen. In sprach-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen hat die Auslegung des „Ideologiebegriffs“ eine Debatte in Gang ge‐ setzt (vgl. Asad 1979; Thompson 1984; Eagleton 1991; Kroskrity et al. 1992). Zwei unterschiedliche Stossrichtungen zeichnen sich in der Diskussion ab. Der einen zufolge ist Ideologie „a specific set of symbolic representations - discourses, terms, arguments, images, stereotypes - serving a specific purpose“ (Blommaert 2005: 158; Hervorhebung im Original) und wird von spezifischen Akteuren oder Gruppierungen verwendet, die durch den Gebrauch ihrer Ideo‐ logie gegen aussen erkennbar werden. Das heisst, dass damit spezifische, für oder gegen etwas Partei ergreifende Akteure und ihre Überzeugungen gemeint sind. Als Beispiel sei hier auf eine Gruppe von Studierenden verwiesen, die sich gegen die Erhöhung von Studiengebühren einsetzt. Zwecks ihrer Kampagne bringen sie Argumente vor, die für die Beibehaltung eines niedrigen Beitrags sprechen (z. B. Zugang zum Studium über Gesellschaftsschichten hinweg) und gebrauchen Diskurse und Bilder, die ihrem Unterfangen förderlich sind. AutorInnen, die in die Gegenrichtung stossen, legen Ideologie allgemeiner aus. Sie definieren das Konzept als „a general phenomenon characterizing the totality of a particular system or political system, and operated by every member or actor in that system“ (Blommaert 2005: 158; Hervorhebung im Original). Hierbei wird Ideologie einem gesellschaftspolitischen System in seiner Gesamt‐ heit zugeschrieben, einem System, welches sich über ideologische „grands ré‐ cits“ (Lyotard 1979) definiert, fortschreibt und sich so in seiner Struktur und Geschichte festigt. Solche „grands récits“ erheben Anspruch auf Exklusivität und haben Neutralisierungsprozesse zur Folge. Wenn beispielsweise die stu‐ dentische Mobilität aus dem Tessin zum guten Ton gehört, mit ihr also „ver‐ nünftigerweise“ Vorteile assoziiert werden, führt dies dazu, dass die Mobilität als „neutral“ gilt, sie also keiner Rechtfertigung bedarf. Dagegen muss mögli‐ cherweise die Immobilität legitimiert werden, da sie dem „grand récit“ nicht entspricht. Dass dieser nicht „universally and / or timelessly true“, sondern „con‐ testable […], contested, and interest-laden“ (Woolard & Schieffelin 1994: 58) ist, bleibt verborgen. Es kommt nur zum Vorschein, was der entsprechenden ideo‐ logischen Ausprägung zufolge den „grand récit“ aufrechterhält. Der Fokus auf Ideologie lädt zum Nachdenken darüber ein, wie es zu diesem „grand récit“ (und keinem anderen) kommt, der „die Summe der Annahmen umfasst, mit deren 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 74 <?page no="75"?> 64 Ideologien sind also keine in der Luft schwebenden Gebilde, sondern haben „echte“ Auswirkungen auf die soziale Wirklichkeit. Anhand der kollektiv akzeptierten „Logik“ (oder eben Ideologie) werden beispielsweise politische Aktionen legitimiert (vgl. Du‐ chêne 2008). Hilfe die Mitglieder eines Kollektivs soziale Wirklichkeit 64 konstruieren“ (Spitz‐ müller 2005: 254). Mit dem Blick auf den „grand récit“ wird es möglich, Macht‐ beziehungen auf den Grund zu gehen (Woolard & Schieffelin 1994). Im Zusammenhang mit dem Vorhaben, den Stellenwert der Sprache im Kon‐ text der akademischen Mobilität über intra-nationale Sprachgrenzen hinweg zu ergründen, ist neben dem allgemeinen Konzept der Ideologie die Sprachideo‐ logie besonders fruchtbar. Doch woher kommt dieser Begriff und was ist da‐ runter zu verstehen? Im Jahr 1994 halten Woolard und Schieffelin (1994: 56) fest: Es bilde sich ein Konsens, dass es sich lohne, das, was Menschen über Sprache und Kommuni‐ kation dächten oder als selbstverständlich betrachteten, zu erforschen. Zwar hat sich bis heute noch kein einheitlicher Begriff von Sprachideologie durchgesetzt, aber es tauchen vermehrt Arbeiten - vorwiegend aus der Anthropologie - auf, die sich mit der ideologischen Dimension von Sprache auseinandersetzen. Diese befassen sich mit dem „Commonsense“ allgemein, der als Ausdruck einer kol‐ lektiven Ordnung angesehen wird, und untersuchen diesen in Bezug auf das Wesen der Sprache, das Wesen und die Absicht der Kommunikation und das Kommunikationsverhalten (Woolard 1992). Rumsey (1990: 346) definiert Sprachideologien als „shared bodies of com‐ monsense notions about the nature of language in the world“. Gemäss ihm ist Sprachideologie nicht nur anhand einer Analyse expliziter metasprachlicher Äusserungen identifizierbar (vgl. Silverstein 1979), sondern zeigt sich auch in sozialen oder sprachlichen Praktiken, die auf implizit bleibenden Vorstellungen beruhen. Woolard (1998: 3) greift diesen Gedanken in ihrer Definition auf: „Re‐ presentations, whether explicit or implicit, that construe the intersection of language and human beings in a social world are what we mean by ‘language ideology’“. Beziehen wir die Komponente der Macht mit ein, die bei der Mobi‐ litätsrichtung der Studierenden und dem daraus sich ergebenden Spracherwerb mitspielt und in dieser Arbeit von Bedeutung ist, ist Sue Gals Definition beson‐ ders hilfreich: „Ideology is […] defined not as a neutral system of ideas, but rather as the way in which meaning, and thus language, serves to sustain relations of domination“ (Gal 1989: 359). Mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Neutralität gleicht diese Definition Judith Irvines Verständnis von Sprachideo‐ logie, welche die Interessen noch expliziter hervorhebt. Laut Irvine steht Ideo‐ logie für „cultural (or subcultural) system of ideas about social and linguistic 2.2 Theoretisch-methodischer Rahmen 75 <?page no="76"?> relationships, together with their loading of moral and political interests“ (Irvine 1989: 255). Sprachideologien - ob implizit oder explizit - haben Auswirkungen darauf, wie wir unsere Wirklichkeit erleben, darin sozial und sprachlich handeln und welcher Platz uns darin zusteht. Irvine und Gal (2000: 37-39) haben erkundet, wie Sprachideologien zu untersuchen und woran sie festzumachen sind. In An‐ lehnung an Charles Sanders Peirce listen sie drei semiotische Prozesse auf. Als „Iconization“ bezeichnen sie einen Prozess, der sich dadurch auszeichnet, dass Sprachgebrauch zur direkten Abbildung sozialer Zugehörigkeit herangezogen wird. Diese Verbindung scheint natürlich und zwingend. So werden z. B. italie‐ nisch Sprechende, die sich an der Universität Bern aufhalten, „automatisch“ als TessinerInnen, d. h. als aus dem Tessin stammend, kategorisiert. „Erasure“, der zweite Prozess, entfernt oder blendet jegliche soziolinguistische Heterogenität aus, um möglichst grosse Homogenität herzustellen. So könnte etwa einer der italienisch Sprechenden aus Bern stammen; dieser wird aber nicht beachtet, da er dem ideologischen Schema nicht entspricht. Schliesslich umfasst der Prozess der „fractal recursivity“ Übertragungen von ikonischen Beziehungen auf andere Ebenen. Die italienische Sprache, die in einer Gruppe junger Leute an der Uni‐ versität Bern gesprochen wird, wird etwa nicht nur mit dem Tessin verbunden, sondern auf gewisse Wesenszüge der italienisch Sprechenden überhaupt über‐ tragen. Die diesen Teil abschliessenden Ausführungen sollen dazu dienen, den Schweizer Kontext und die für den vorliegenden Forschungsgegenstand rele‐ vanten sprachideologischen Dimensionen zu umreissen. Die viersprachige Schweiz (mit ihren drei Amtssprachen Deutsch, Französisch und Italienisch) wird (je nach Interessen der „Erzählenden“ und je nach Adressat) als friedlicher Staat dargestellt, in dem vier (oder mehr) Sprachen harmonisch mit- und ne‐ beneinander gesprochen werden. Verschiedene AutorInnen zeigen, dass dieses Bild täuscht bzw. ideologisch geprägt ist (vgl. Lüdi 2007; Del Percio 2013; Du‐ chêne & Del Percio 2014; Flubacher 2014). Sie legen u. a. dar, dass die in der Verfassung definierte Schweizer Mehrsprachigkeit die Mehrsprachigkeit der in der Schweiz wohnhaften Anderssprachigen ignoriert. Zugleich arbeiten sie die ideologische Komponente, die der Mehrsprachigkeit anhaftet, heraus und de‐ cken auf, wie diese im institutionellen Kontext - in der Schweiz und in Europa - zur „neuen Norm“ erhoben worden ist und erhoben wird (vgl. Watts 1997; Maurer 2011; Perez & Materne 2015). Weiter weisen die AutorInnen darauf hin, dass das Territorialitätsprinzip in der Schweiz dazu führe, dass in einer Region - mit wenigen Ausnahmen - nur eine Sprache als Amtssprache gelten könne. Dies hat zur Folge, dass die Schweiz einem Mosaik von mehrheitlich einsprachigen 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 76 <?page no="77"?> 65 Daraus ergibt sich dann die Ideologie, dass der Dialekt nicht (oder kaum) gelernt werden könne. 66 Natürlich sind auch Standardsprachen idealisierte Konstrukte. Sie werden durch schu‐ lische Institutionen verstärkt, indem diese sich dem gegenüber intolerant zeigen, was nicht dem Standard zuzuschreiben ist (vgl. Tollefson 2007: 26). Im Schweizer Kontext könnte man sagen, dass schulische Institutionen indirekt auch den Dialekt stützen - dieser gilt als „more down-to-earth, more honest, more communicative, more direct“ als der Standard (Watts 1999: 75). Durch ihr Verhalten geben sie ihm einen spezifischen Wert ausserhalb des Schulsystems und akzentuieren so die Grenze zwischen Dialekt und Standard. Regionen gleicht, in welchen andere (Amts-)Sprachen einen eher geringen Stel‐ lenwert geniessen (Lüdi 2007: 160). Jene, welche in der Schweiz wohnen und eine der (drei) romanischen Spra‐ chen sprechen, stört zudem die diglossische Situation in der Deutschschweiz - in der punkto Flächen- und SprecherInnenanteil grössten Region. Ich könnte jetzt eine Diglossiedefinition (z. B. Ferguson 1959; Haas 2004) einbauen. Eine Definition dieses Begriffs müsste sogleich hinterfragt werden, da anzunehmen wäre, es handle sich dabei um eine „ideological naturalization of sociolinguistic arrangements“ (Woolard & Schieffelin 1994: 96). Ein knapper Hinweis mag den‐ noch hilfreich sein, um zu verstehen, worum es geht. Standarddeutsch und Schweizerdeutsch ko-existieren im Deutschschweizer Alltag. Kolde (1981) be‐ schreibt die Diglossie als medial, d. h., dass je nach Wahl des Mediums Standard (Schriftliches wie z. B. Zeitungsartikel) oder Dialekt (z. B. Mündliches wie etwa „volksnahe“ Radiosendungen) verwendet werde. Watts (1999) geht dieser wie‐ derum ideologisch geprägten und prägenden Kategorisierung kritisch auf den Grund und zeigt auf, dass die Verwendung der beiden Varietäten nicht bloss vom Medium abhängig sei. Vielmehr liessen sich dem Dialekt und der Standard‐ sprache verschiedene „Überzeugungen“ zuordnen, die sich dann auf die Wahl des Mediums auswirkten. So gilt etwa der Dialekt als „Mutter-“ 65 und der Stan‐ dard als „erste Fremdsprache“. Der Standard 66 wird vorwiegend für Schriftliches und somit „Schulisches“ verwendet. Die DeutschschweizerInnen machen sich „echt schweizerisch“, indem sie ihren Dialekt verwenden. Dieser gilt also als Emblem der Zugehörigkeit zur Schweiz (vgl. Watts 1988, 1999). Watts (1999) gebraucht in diesem Zusammenhang auch den Begriff „ideology of dialect“. Diese ideologischen Grundzüge, die dem Dialekt (und somit auch dem Stan‐ dard) und der Mehrsprachigkeit der Schweiz anhaften, sind für die vorliegende Arbeit insoweit relevant, als sie erkennen lassen, in welchem Kontext die Tes‐ siner Studierenden sich bewegen, wenn sie die Sprachgrenze zur Deutsch‐ schweiz überqueren. Sie geraten somit nicht nur in einen diglossischen Kontext, in dem sie sich sprachlich und sozial zurechtfinden müssen, sie bedienen sich 2.2 Theoretisch-methodischer Rahmen 77 <?page no="78"?> auch verschiedener Sprachideologien und begegnen gleichzeitig einer Her‐ kunftsgesellschaft, in der wiederum verschiedene (Sprach-)Ideologien (auch Tessiner Studierenden gegenüber) vorherrschen. Das Konzept der Sprachideo‐ logie ist somit nicht nur theoretisch, sondern auch analytisch fruchtbar. Es er‐ laubt erstens, unbewusste Annahmen über Sprache und Sprachverhalten zu theoretisieren, Annahmen, die sich darauf auswirken, wie Menschen Ereignisse interpretieren. Zweitens dient es als analytisches „Tool“, auf welches in der Da‐ tenanalyse anhand der drei erläuterten semiotischen Prozesse zurückgegriffen wird. 2 Seit jeher der Bildung wegen in die Ferne 78 <?page no="79"?> 3 Methodologische Grundlage Ethnographic research aims to see first-hand what occurs and through this provide knowledge as understanding. Altheide und Johnson (1994: 487) Während ich im vorausgehenden Kapitel im Zusammenhang mit der Positio‐ nierung die Methodologie skizzierte und kurz erläuterte, welche Daten zur Be‐ antwortung welcher Frage erhoben wurden, ist dieses Kapitel gänzlich der me‐ thodologischen Grundlage dieser Arbeit gewidmet. Die nachfolgenden Ausführungen beschreiben die Methodologie und legen offen, wie ich bei meinem ethnographischen Schaffen vorgegangen bin, um „knowledge as un‐ derstanding“ zu erlangen und somit die sozial und diskursiv konstruierte Rea‐ lität - zumindest ein Stück weit - besser zu verstehen. Das Kapitel besteht aus zwei Teilen. Der erste widmet sich der Datenerhe‐ bung, der zweite behandelt die Analyse. Zwar bedingen sich Erhebung und Analyse und wirken wechselseitig aufeinander. Auch impliziert diese Reihen‐ folge nicht, dass die beiden methodischen Schritte strikte nacheinander gemacht worden sind. Dennoch bietet sich eine separate Aufbereitung an. Diese erleich‐ tert zum einen die Übersicht für Lesende. Zum andern ermöglicht sie es, die erhobenen Daten verschiedener Natur erst darzustellen, bevor das gewählte analytische Vorgehen präsentiert wird. 3.1 Datenerhebung In der empirischen Wissenschaft wird oft der Begriff „Data collection“ ver‐ wendet, der auf Deutsch dem „Sammeln“ von Daten entspricht. „Sammeln“ weckt aber die Vorstellung, man könne das bereits Vorhandene „einfach“ zu‐ sammentragen, was auf die vorliegende Arbeit nicht zutrifft. Eine ethnographi‐ sche Herangehensweise bedingt eine aktive Rolle der Forschenden, weshalb stattdessen vom Erheben von Daten gesprochen wird. In den folgenden Abschnitten gehe ich auf wichtige Aspekte meiner Daten‐ erhebung ein. Ich lege dar, wie sich im Zuge der ethnographischen Feldfor‐ schung meine Herangehensweise weiterentwickelte, neue „Sites“ zentral <?page no="80"?> 1 Dieses Unterkapitel lehnt sich an Zimmermann (2017) an. 2 Vgl. Watts (1999). wurden und sich damit auch meine Quaestio und die damit verbundenen Leit‐ fragen herauskristallisierten (3.1.1). Es folgt ein Abschnitt zur Ethnographie in „heimischen Gefilden“ und zu meiner Rolle und meinen Beziehungen im Feld (3.1.2), bevor ich auf ethische Gesichtspunkte eingehe (3.1.3). Schliesslich prä‐ sentiere ich die erhobenen Daten und lege eine Übersicht vor (3.1.4). 3.1.1 Von der „mono-sited“ zur „multi-sited“ Ethnographie 1 Am Anfang meines ethnographischen Projekts stand mein Interesse für soziale und sprachliche Praktiken von Studentinnen und Studenten, die im Tessin ihre gymnasiale Ausbildung abgeschlossen haben, in ihrer neuen Deutschschweizer Umgebung. Ich überlegte mir, wo ich diesen Studienanfängerinnen und -anfän‐ gern begegnen könnte, machte mir also Gedanken zu einem potentiellen Ter‐ rain. Dabei wurde meine Aufmerksamkeit auf eine italienischsprachige Studie‐ rendenorganisation in Bern gelenkt. Aus verschiedenen Gründen hielt ich diese Studierendenorganisation für in‐ teressant. Ich hatte die Vorstellung, dass die deutschsprachige Umgebung (ins‐ besondere der in Bern zelebrierte Dialekt 2 ) die sozialen und sprachlichen Prak‐ tiken der Tessiner Studierenden beeinflussen müsse. Ich stellte mir vor, dass es aufschlussreich wäre, identitäre Aushandlungen innerhalb der italienischspra‐ chigen Studierendengruppe in Bern zu ergründen, Aushandlungen, die mit sprachlicher Minder-/ Mehrheitszugehörigkeit zusammenhängen. Ich glaubte ausserdem, im Studierendenverein diasporaähnliche Elemente zu erkennen. Ich überlegte mir z. B., inwiefern eine in der Schweiz als offiziell anerkannte Sprache zur Trennung sozialer Aggregate (italienischvs. deutschsprachige Studierende) beitrage. Gemäss Appadurai (1988) sind an die Wahl jedes Terrains gewisse Vorstel‐ lungen der Forschenden geknüpft, die diese aber nur selten offenlegen („pre‐ theorizing“). Zu diesen Vorstellungen gehört, welche theoretischen Konzepti‐ onen in welcher Gemeinschaft, an welchem Ort etc. ergründet werden können. Auf dem Hintergrund meiner „Vorfeld-Vorstellungen“ und Überlegungen pragmatischer Art (z. B. Sprachkenntnisse der Ethnographin, geographische Er‐ reichbarkeit) kontaktierte ich die italienischsprachige Studierendenorganisa‐ tion im September 2011 per E-Mail (auf Italienisch) und schilderte ihr mein In‐ teresse. Auf meine Anfrage erhielt ich nach kurzer Zeit eine positive Antwort und wurde eingeladen, am Eröffnungsapéro teilzunehmen, der zu Semesterbe‐ 3 Methodologische Grundlage 80 <?page no="81"?> 3 Zu einer Diskussion zum Konzept der „Site“ (wie auch zum Feld) vgl. Gupta und Fer‐ guson (1997). 4 Informationen zu allen Projektteilen: https: / / lettres.unifr.ch/ de/ sprachen-literaturen/ mehrsprachigkeitsforschung-und-fremdsprachendidaktik/ research/ sinergia.html [letzter Zugriff, 20. 10. 2015]. ginn in einer Cafeteria der Universität Bern stattfand. Dieser Apéro bildet den jährlichen Auftakt ins Vereinsjahr. Die Mitglieder des Vorstands stellten sich und den Zweck der Organisation - von einer erhöhten Galerie herunter - kurz vor, bevor sie Neumitglieder, mehrheitlich StudienbeginnerInnen, dazu auffor‐ derten, hochzukommen und sich zu präsentieren. An diesem Anlass wurde auch ich auf diese Galerie geschubst, wo ich in wenigen Sätzen erklärte, weshalb ich hier sei. Das Publikum, das aus rund 100 italienischsprachigen Studierenden bestand, applaudierte und johlte - das tat es nach der Vorstellung jedes Neu‐ mitglieds -, und somit war mein Zugang zum Feld besiegelt. Von da an nahm ich regelmässig an den Anlässen teil, was ich bis zum Ende des Vereinsjahrs tat. Ich dachte damals, meine „Site“ 3 gefunden zu haben. Allerdings führten wiederkehrende Konversationen mit und unter Vereins‐ mitgliedern darüber, dass das Schweizerdeutsche den Alltag in der Deutsch‐ schweiz erschwere, dazu, dass schliesslich weitere „Sites“ relevant wurden. Ich wunderte mich darüber, weshalb sich denn, trotz dieser angeblich so hohen Hürde, immerhin rund 40 % der MaturandInnen aus dem Tessin dafür ent‐ schieden, ein Studium in der Deutschschweiz aufzunehmen. Weiter fragte ich mich, wie es denn für andere Studierende aus dem Tessin sein müsse, die nicht auf einen Zirkel gleichsprachiger Studierender zählen konnten, die ihnen mit Rat und Tat zur Seite standen. Mithilfe eines Fragebogens, der über die Immatrikulationsstellen der Deutschschweizer Universitäten verschickt werden sollte, plante ich, an italie‐ nischsprachige Studierende in der Deutschschweiz zu gelangen, die nicht Mit‐ glieder eines solchen Vereins waren. Die Entscheidung, einen Fragebogen zu erstellen, war an den damals an der Universität Bern angesiedelten Projektteil 4 mit dem Titel „Bildungsmigration, Pensionierung und Mehrsprachigkeitskom‐ petenz am Beispiel der deutschen Schweiz“ gekoppelt, jenem Teil, dem ich wäh‐ rend zwei Jahren angehörte. Zugrunde lag diesem Projektteil die Idee der „lan‐ guage related major life events“ (de Bot 2007: 57) und die Untersuchung solcher 3.1 Datenerhebung 81 <?page no="82"?> 5 Während mein Projekt sich mit Studierenden beschäftigte, die nach dem Mittel‐ schul-Abschluss in der franko- oder italofonen Gegend ein Studium in der Deutsch‐ schweiz aufnahmen, setzte sich eine andere Person mit dem Übergang von der obliga‐ torischen Schulzeit in die Berufsausbildung und dem damit verbundenen Wechsel der Umgebungssprache auseinander. Eine dritte Person untersuchte Menschen, die sich vor dem, im, und nach dem Prozess der Pensionierung befinden und dabei Netzwerke ver‐ lieren, eventuell neue aufbauen und denen sich neue kommunikative Anforderungen stellen. . 6 Es galt den Inhalt über die drei Teilprojekte zu koordinieren, was dazu führte, dass alle Fragebogen Elemente enthielten, die für eines der anderen Projekte möglicherweise relevanter waren. Auch die Art der vorhandenen Fragen beruhte auf einem Kompro‐ miss. So enthielt der Bogen sowohl offene als auch geschlossene Fragen, quantifizier- und nicht quantifizierbare Antwortmöglichkeiten. 7 Im Projektteil B standen italienisch und französisch Sprechende im Fokus, weshalb auch französischsprachige Studierende in der Deutschschweiz angeschrieben wurden. Diese Daten sind aber für die vorliegende Arbeit nicht zentral und werden deshalb nicht auf‐ geführt. 8 Mit einigen dieser Studierenden führte ich mehr als ein Gespräch, wobei das erste möglichst früh, d. h. kurz nach dem ersten Semester, und das zweite im Verlauf des zweiten Studienjahrs stattfand. „events“ in naturalistischen Settings. 5 Innerhalb des Projektteams wurde ange‐ strebt, bei der Datenerhebung möglichst ähnlich vorzugehen, was zur Entschei‐ dung führte, Fragebogen einzusetzen und Interviews durchzuführen. Mittels des von mir erstellten Fragebogens 6 wollte ich ergründen, wo in der Deutschschweiz sich die Tessiner Studierendenschaft mit Vorliebe aus welchen Gründen einschreibt. Weiter sollte es mir der Fragebogen ermöglichen, mit Tes‐ sinerInnen in Kontakt zu treten und sie für ein Interview zu gewinnen. Die Informationen aus dem Fragebogen sollten zudem das Vorbereiten eines Inter‐ viewleitfadens erlauben. Da sich nicht alle Universitäten dazu bereit erklärten, den Fragebogen an die entsprechenden Studierenden zu verschicken und das Ausfüllen desselben freiwillig war, erreichte der Fragebogen nur einen Teil der sich zwecks ihres Studiums in der Deutschschweiz aufhaltenden Tessiner Stu‐ dentenschaft. Es muss davon ausgegangen werden, dass diejenigen, die sich die Zeit nahmen, den Fragebogen auszufüllen, an der Thematik interessiert waren (N = 130) und dass die noch Interessierteren die Frage „Wären Sie bereit, bei einem Interview mitzumachen? “ bejahten (N = 30) 7 . Die Interessierten waren italienischsprachig (einige davon bezeichneten sich als mehrsprachig) und hatten einen Grossteil ihres bisherigen Lebens im Tessin verbracht. Ich wählte auf Basis der im Fragebogen gemachten Angaben einige Studierende aus, schrieb sie an und führte schliesslich mit elf aus dem Tessin stammenden itali‐ enischsprachigen Studienbeginnerinnen und -beginnern Interviews in verschie‐ denen Deutschschweizer Universitätsstädten durch 8 . 3 Methodologische Grundlage 82 <?page no="83"?> 9 Im Gespräch stellte sich heraus, dass einige meiner InterviewpartnerInnen nicht daran gedacht hatten, die italienischsprachige Studierendenorganisation anzugeben. Andere konzeptualisierten diese nicht als institutionalisierten Verein, sondern eher als Verbund von FreundInnen. Diese Interviews waren in vieler Hinsicht aufschlussreich. U. a. gehörten wider Erwarten alle interviewten Studierenden einer italienischsprachigen Stu‐ dierendenorganisation an, die es inzwischen in jeder Deutschschweizer Uni‐ versitätsstadt gibt, obwohl sie ihre Vereinstätigkeit im Fragebogen nicht ange‐ führt hatten 9 . Nicht alle waren in gleichem Masse aktive Mitglieder. Weiter hielten die Studierenden ihre Vertrautheit mit der deutschen Sprache für einen deutlichen Vorteil für ihre berufliche Zukunft und machten ihre Studienorts‐ wahl - trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten, über die sie sich be‐ klagten - u. a. daran fest. Auf meine Frage, wie sie sich denn für welche Uni‐ versität in der Deutschschweiz entschieden hätten - zuweilen überschneiden sich die Angebote der Universitäten - antworteten die Studierenden, dass sie sich an Tagen, an denen Universitäten potentiellen Neustudierenden ihre Türen öffnen, ein Bild gemacht hätten. Auch erwähnten sie, sie hätten den Informati‐ onstag, an dem Delegierte sämtlicher Schweizer Universitäten im Tessin weilten, um dort ihre Hochschule (mehrheitlich auf Italienisch) vorzustellen, dazu genutzt, sich kundig zu machen. Bei solchen Anlässen hätten sie die Chance gehabt, mit Studierenden und StudienberaterInnen der jeweiligen Universität zu sprechen, einschlägige Broschüren zu sammeln und an Präsentationen der jeweiligen Fakultät / Universität teilzunehmen. Somit stellten sich mir neue Fragen: Wie wählt die Maturandin / der Maturand eine Universität, bevor sie / er das Tessin verlässt und sich in die Deutschschweiz begibt? Inwiefern spielt in diesem Prozess Sprache eine Rolle? Welche Rolle kommt den Universitäten in diesem Entscheidungsprozess zu? Diese Fragen führten mich zu einer zu Beginn nicht angedachten „Site“, bei der Universitäten und ihre Praktiken im Fokus standen. Ich nahm nach Mög‐ lichkeit an Informationstagen in der Deutschschweiz wie auch im Tessin teil, sprach in diesem Rahmen mit zukünftigen Studierenden, VertreterInnen ver‐ schiedener Fakultäten, sammelte Informationsbroschüren und Flyers. Zwar waren in meinem Fall mit dem Einbeziehen neuer „Sites“ auch neue Orte verbunden, und ich wurde dadurch - so wie die Studierenden - mobil, d. h. ich reiste u. a. ins Tessin und retour. Dennoch zeichnet sich für mich „multi-sited“ Ethnographie (Marcus 1995, 2011) nicht dadurch aus, sich als For‐ schende von Lokalität zu Lokalität zu bewegen. Vielmehr ging meine Mobilität daraus hervor, dass meine ethnographischen Daten, die ich als „contingent window into complexity“ (Candea 2007: 179) erachte, mir aufzeigten, dass die 3.1 Datenerhebung 83 <?page no="84"?> 10 Solche Züge zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Reisezeit auf kurvenreichen Stre‐ cken durch die Neigetechnik verkürzen. Bei einigen Reisenden bewirkt dieser Neige‐ effekt Übelkeit. 11 Falzon lehnt sich dabei an Clifford (1992) an. 12 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Dauer des Aufenthalts im Feld zuweilen eher für den Forschenden und dessen als wichtig erachtetes Training als für das Verständnis eines Phänomens zentral ist. So ist in gewissen Doktorandenpro‐ grammen die Dauer unabhängig vom Feld festgelegt. Auch heutzutage ist im mit der Feldforschung einhergehenden Diskurs die auf Malinowski zurückgehende Tradition der Ethnographie erkennbar. So werden DoktorandInnen zuweilen in „pre-“ bzw. „post-fieldwork“ eingeteilt, was eine gewisse fehlende oder bereits erlangte Felderfah‐ rung und eine Hierarchisierung impliziert. lokale „Realität“ der italienischsprachigen Studierenden in Bern von Prozessen geprägt wird, die sich anderswo abspielen (vgl. Marcus 2011: 20). Dass ich über meine erste „Site“ hinausging, gestattete mir erstens, die Dichotomie zwischen einem „closed past“ und einem „open present“ (Waldinger & Fitzgerald 2003: 24) zu überwinden. Die Frage nach einer der Gegenwart vorausgegangenen Entscheidung, die von den Tessiner Studierenden in Bezug auf ihre Studien‐ ortswahl gefällt worden war, erlaubte mir, den Ort und den Zeitpunkt vor der Mobilität miteinzubeziehen. Dies trug zum Verständnis der aktuellen Realität der Studierenden bei, indem ihre Mobilität re-historisiert wurde (Gallo 2009). Zweitens gelang es dank meiner eigenen Mobilität, die mit dem Erlangen der „Site“ verbunden war, die Mobilitätserfahrung der Studierenden nachzuvoll‐ ziehen, d. h. zu erleben, was sie damit meinten, wenn sie z. B. davon erzählen, dass sie regelmässig in überfüllten Neigezügen ins Tessin führen, in denen sie nichts machen könnten, ausser sich darauf zu konzentrieren, sich nicht zu über‐ geben 10 . In diesem Sinne reflektiert das Einbeziehen der Informationstage in verschiedenen Deutschschweizer Universitätsstädten und im Tessin auch die Mobilität der Studentinnen und Studenten, deren gesellschaftliche und sprach‐ liche Situation Gegenstand meiner Forschung ist. Sie erlaubt mir „fieldwork as travel practice“ (Falzon 2009: 9 11 ). In diesem Sinne berücksichtigt der „multi-sited“ Ansatz auch die für die Studierenden bedeutsame Bewegung und die damit verbundenen Orte, die mit der Mobilitätssituation einhergehen (vgl. dazu Hannerz 2003; Hage 2005; Fitzgerald 2006; Gallo 2009; Xiang 2013). Nach Malinowskischer Art ausgebildete EthnographInnen könnten die Er‐ läuterungen zu meiner Feldforschung und deren Entwicklung kritisieren. Sie könnten u. a. bemängeln, dass die von mir im Feld verbrachte Zeit (etwa die beobachtende Teilnahme an einzelnen Informationstagen) zu kurz 12 und somit kein tiefgründiges Verständnis möglich sei. Aus meiner Sicht repräsentieren aber kurze Aufenthalte im Feld zuweilen eben dessen Natur - ein Informati‐ 3 Methodologische Grundlage 84 <?page no="85"?> onstag an der Universität dauert, wie es die Bezeichnung bereits sagt, nicht länger als einen Tag. Ausserdem geht mit der längeren Dauer des Aufenthalts an einem Ort nicht zwingend ein besseres Verständnis des Untersuchungsob‐ jekts einher. Gerade bei den Fragen, die sich in meiner ersten „Site“ (Studieren‐ denorganisation) stellten, hätte ein längerer Aufenthalt wenig gebracht, da dort die Erkenntnis bereichernde Antworten nicht zu erwarten waren. Diese multiple Herangehensweise birgt nicht den Anspruch, meinen For‐ schungsgegenstand vollständig darzustellen (vgl. Giddens 1984). Wie es bei eth‐ nographischen Untersuchungen üblich ist, widmete ich mich einer „limited slice of action“ (Falzon 2009: 13). Da diese so und nicht anders beschaffen war (mobil und mehrfach verortet), schien es fruchtbar, sie „multi-“ statt „mono-sited“ an‐ zugehen. Dies war aber nur möglich, weil ich das Feld als etwas betrachte(te), das im Zuge der Forschung erst konstruiert und konstituiert werden muss(te), ohne im Vorfeld von einer abgeschlossenen oder homogenen Einheit auszu‐ gehen (vgl. Appadurai 1990; Amit 2000; Hendry 2003). Insgesamt brachte die Entwicklung meiner Feldforschung von „mono-“ zu „multi-sited“ (Studierendenorganisation in Bern, StudienbeginnerInnen in ver‐ schiedenen Deutschschweizer Universitätsstädten und Informationstage im Tessin wie auch in der Deutschschweiz) die über das anfängliche Interesse an sozialen und sprachlichen Praktiken hinausgehenden Leitfragen und die globa‐ lere Quaestio „Welchen Stellenwert hat die Sprache in Diskursen und Praktiken, die mit der studentischen Mobilität im schweizerischen Hochschulsystem zu‐ sammenhängen? “ hervor, jene Fragen und jene Quaestio also, die dieser Arbeit zugrunde liegen. 3.1.2 Die anderen und ich oder ich und die anderen: zu meiner Rolle und den Beziehungen im „heimischen“ Feld Des Chene (1997) weist darauf hin, dass v. a. in älterer anthropologischer For‐ schung nur die Wahl eines Felds in einer „nicht-westlichen Kultur“ als legitim angesehen wurde. Es galt, die „Distanz“ zwischen der „Kultur“ des Forschenden und derjenigen der Erforschten möglichst gross zu halten. Laut Chock (1986: 187) waren heimische Gefilde für Forschungszwecke fraglich: „The analyst wor‐ king at home has no need to learn much of what the natives know; the problem is in part the result of already knowing it.“ Die Neuauslegung von Begriffen wie „culture“ (z. B. Geertz 1983; Clifford 1988; Ortner 2000) und „community“ (z. B. Gumperz 1982a; Duranti 1997; Buchholtz 1999; Agar 2005; Muehlmann 2014) sowie das Hinterfragen der „nativeness“ (z. B. O’Reilly 2009) führten nach und nach dazu, dass AnthropologInnen, die ihre ethnographischen Projekte in ihrer 3.1 Datenerhebung 85 <?page no="86"?> eigenen Umgebung durchführten, weniger kritisch betrachtet wurden (z. B. Messerschmidt 1981; Agar 2005). Heutzutage ergründen wir kaum mehr „iso‐ lierte“ Gemeinschaften mit scheinbar unveränderten Traditionen, sondern setzen sie mit dem in Beziehung, was um sie geschieht. Wir erkennen die viel‐ schichtigen Identitäten der Mitglieder einer Gemeinschaft, gehen der Bedeutung von Praktiken nach, die in der Gemeinschaft ausgehandelt wird, und fragen uns, inwiefern diese (und keine andere) Bedeutung sich durchgesetzt hat. Wir er‐ kennen die aktive Rolle des Forschenden und verzichten auf die Vorstellung einer Realität, die nicht sozial konstruiert ist (Heller 2008). Auf diesem Hintergrund scheint die Distanz, die einst als Voraussetzung dafür galt, valide ethnographische Erkenntnisse gewinnen und Äusserungen machen zu können, heutzutage weniger zentral. Clifford (1997) beschreibt beispiels‐ weise, wie man sich den Akteuren im Feld trotz geringer geographischer Distanz sehr fremd fühlen kann. Umgekehrt ist es möglich, dass Forschende in einem Terrain, das (geographisch, kulturell, sprachlich) weit entfernt liegt, den Ak‐ teuren nahe sind. Es geht unabhängig von der Entfernung also darum, ob und wie wir zwischen uns und den Akteuren im Feld Grenzen ziehen (vgl. Barth 1969). Dies führt dazu, dass wir nicht mehr - wie es in der Vergangenheit der Fall war (Agar 2005) - nur über „sie“ (die Erforschten), sondern auch über „uns“ (die Forschenden) reden und unsere Rolle im Feld reflektieren. Nur so gelingt es zu klären, wie wir zu unseren Daten kommen, die nicht „vom Himmel fallen“, sondern mit der Zeit von uns aktiv konstruiert werden. Wie bereits erläutert habe ich mich im Zuge meiner Feldforschung an ver‐ schiedenen „Sites“ und Orten innerhalb der Schweiz aufgehalten. Man könnte also davon ausgehen, dass ich mich in „heimischem“ Kontext bewegte, den ich mit den mir im Feld begegnenden Akteuren teilte. Die folgenden beiden Ab‐ schnitte stellen dar, inwiefern dies (so gar nicht) stimmt und inwiefern die Doxa zu Fremdbzw. Heimisch-Sein gehaltlos wird. Denke ich zum Beispiel daran, was mich mit den Mitgliedern der italienisch‐ sprachigen Studierendenorganisation in Bern verband, kommt eine ganze Liste zustande. Wie sie war ich zum Zeitpunkt der Erhebung an der Universität Bern immatrikuliert. Wie viele von ihnen war ich mit dem universitären Kontext in Bern wenig vertraut - meinen Master hatte ich an der Universität Freiburg ( CH ) absolviert -, kannte also die organisatorischen Abläufe (Bibliothek, Sekretariat etc.) kaum. Auch waren mir viele Gebäude neu, und ich musste mich erst zu‐ rechtfinden. Wie sie war ich Studentin, hatte einen Stundenplan und Prüfungen (damals Finnisch), welche Ende des Semesters stattfanden. Wie sie verbrachte ich meine Mittags- und Kaffeepausen in der Mensa (zum Teil begegneten wir dort einander). Wie sie sprach ich italienisch (auch wenn Italienisch nicht meine 3 Methodologische Grundlage 86 <?page no="87"?> 13 Auch in Lausanne hätte es deutschsprachige Organisationen gegeben, denen ich hätte beitreten können. Allerdings lag mir dies fern - ich hatte damals eine richtige Abnei‐ gung gegenüber Vereinigungen, die sich über Sprache oder Herkunft definierten. 14 Agar (2005: 311) bemerkte in diesem Zusammenhang: „We have met the other and they are us.“ 15 In meinem Feld verschwimmen die Grenzen zwischen „daheim“ und „anderswo“. Meine Feldarbeit erlebte ich oft als „exotisch“, auch wenn sie teilweise im mir vertrauten Bern stattfand. Clifford (1988: 14) äusserte sich dazu folgendermassen: „one no longer leaves home confident of finding something radically new, another time or space. Difference is encountered in the adjoining neighborhood, the familiar turns up at the ends of the earth.“ Hauptsprache ist) und war des Berner Dialekts nicht mächtig. Wie sie hatte ich meine Matura in einem anderen Kanton nahe der Landesgrenze absolviert. Wie bei so vielen von ihnen wohnten auch meine Familienmitglieder nicht in Bern, was dazu führte, dass ich wie sie an manchem Wochenende viel Zeit im Zug verbrachte. Wie sie hatte ich in Bern einen Wochenaufenthalterstatus. Und doch waren mir die Mitglieder in vielerlei Hinsicht fremd - und ich ihnen wohl auch. Ich war nicht im Tessin, sondern im St. Galler Rheintal grossge‐ worden. Mein Italienisch wies keine Tessiner Merkmale auf, ich hatte die Sprache vorwiegend informell in Sizilien erlernt. Ich verstand sie dank meiner Romanischkenntnisse meistens, wenn sie Tessiner Dialekt sprachen, konnte aber nicht im Tessiner Dialekt antworten. Ausserdem war ich mit manchen di‐ alektalen Ausdrücken und dem tessinspezifischen Vokabular nicht vertraut. Ich galt als „Nicht-Muttersprachlerin“. Zwar hatte auch ich kurz nach der Matura in einer anderen Sprachregion studiert (nämlich in Lausanne), hatte dort aber meine Freizeit nicht vorwiegend mit DeutschschweizerInnen verbracht und war auch nie Mitglied einer deutschsprachigen Organisation 13 gewesen. Ich hielt mich in meiner Freizeit in Bern nicht in den Stammlokalen der Tessiner Stu‐ dierenden auf, mir waren fast alle Orte (Bars, Restaurants etc.) fremd, die ich im Rahmen meiner ethnographischen Arbeit mit der italienischsprachigen Studie‐ rendenorganisation besuchte. Die beiden Listen mit den Ähnlichkeiten und Unterschieden könnten fortge‐ setzt und auch für die anderen Sites erstellt werden. Sie bringen zum Ausdruck, dass sowohl die Distanz als auch der Unterschied zwischen emisch und etisch (vgl. Pike 1967) - beide vormals als gegeben erachtet - unsinnig werden 14 und weder das „Heimische“ noch das „Fremde“ ein Hindernis bzw. eine Vorausset‐ zung für ethnographisches Forschen darstellt. Als Ethnographin bewegte ich mich in derselben „interconnected global soup“ wie die Studierenden, denen ich mich in meiner Arbeit widmete (Agar 2005: 311). Unabhängig davon, ob wir „daheim“, „anderswo“ oder wie bei mir gleichzeitig „daheim“ und „anderswo“ 15 3.1 Datenerhebung 87 <?page no="88"?> 16 So kann in engen Beziehungen die Ethnographin z. B. in einen ethischen Konflikt ge‐ raten, weil sie nur dank der „Freundschaft“ zu gewissen Daten kommt. Gleichzeitig mag eine Akteurin im Feld vergessen, dass die Freundin zugleich auch Forscherin ist, der man nicht alles anvertrauen möchte (vgl. dazu auch Coffey 1999; de Laine 2000). 17 So waren z. B. die Begegnungen mit zukünftigen Studierenden an Informationstagen verschiedener Deutschschweizer Universitäten relativ kurz und einmalig. Dies will nicht heissen, dass es in diesem Rahmen meine Rolle als teilnehmende Beobachterin nicht zu reflektieren gilt. So wurde ich am Informationstag im Tessin beispielsweise viel mehr als „Erwachsene“ behandelt, als dies in Bern der Fall war. Oft siezten mich die MaturandInnen, was mir in Bern nie passierte. Dennoch war die „Site“ der Studie‐ rendenorganisation in Bern „beziehungsintensiver“. als EthnographInnen tätig sind, werden wir „always be somewhere on the con‐ tinuum between empathy and repulsion, home and strangeness, and seeing and not seeing“ (Sarsby 1984: 132). Wie wirkte sich also meine multiplexe Rolle auf die Beziehungen im Feld aus? Wie Marlene De Laine (2000: 209) beschreibt, bringen Beziehungen im Feld alle Herausforderungen mit sich, „that beset intimate human intercourse in everyday life (personal likes and dislikes, anomalies, jealousies, resentments and conflicts of interest)“. Wenn emotionale Bindungen enger werden, werden Be‐ ziehungen nicht nur komplexer, sondern auch vielschichtiger, was für die Eth‐ nographin (wie auch für die Akteure 16 im Feld) mit der Zeit zusätzliche Schwie‐ rigkeiten nach sich ziehen kann (vgl. Wang 2013). Die nächsten Abschnitte sollen einen Einblick in die Beziehungen zwischen Akteuren im Feld und zwi‐ schen mir und Akteuren im Feld geben. Dabei konzentriere ich mich auf die Studierendenorganisation in Bern, wo sich im Gegensatz zu den anderen „Sites“ 17 Beziehungen über längere Zeit entwickelten (Garner et al. 2006). Es muss vorausgeschickt werden, dass ich trotz der individuellen Charakteristika einzelner Beziehungen hier bloss auf allgemeine, im Studierendenverein vor‐ kommende Tendenzen eingehe. Das detaillierte Behandeln von Einzelbezie‐ hungen würde den Rahmen sprengen. Zwischenmenschliche Beziehungen, die sich im Zuge ethnographischer Feld‐ forschung entwickeln, sind gemäss Coffey (1999: 54) als Mix aus „falsehood“ und „reality“ zu verstehen. Der Begriff „falsehood“ wird nicht verwendet, um auf manipulative Beziehungen zu verweisen. Vielmehr steht er für jene „Ziele“, die sowohl Forscherin als auch Akteure im Feld mit dem Aufbauen, Entwickeln und Aufrechterhalten von Beziehungen verfolgen. Während Forschende (meist) ihre Ziele offenlegen, erklären sich Erforschte laut Peace (1993) normalerweise mit einer „versteckten Absicht“ zum Mitmachen bereit. So können in ethnogra‐ phischen Settings entstandene Beziehungen denn auch von „natürlich“ vor‐ kommenden Beziehungen abweichen. Dies gilt auch für meine Berner „Site“. Als 3 Methodologische Grundlage 88 <?page no="89"?> 18 Ich hatte nicht das Gefühl, mit der Äusserung meines Forschungsinteresses diese Er‐ wartung geschürt zu haben. Laut Heller (2011) lohnt sich aber der Versuch, zu verstehen, welchen Reim sich Akteure im Feld auf uns machen. 19 Diese Situation zeigt, dass das von Labov (1972) beschriebene positivistisch geprägte „Observer’s Paradox“, das die Soziolinguistik prägt(e), hinfällig wird. Die Sprachpro‐ duktion im Feld in Anbetracht der anwesenden Forscherin zu verstehen ist hingegen interessant. Dadurch wird nachvollziehbar, wie Akteure die Forscherin deuten. Ethnographin war ich - zumindest beim Etablieren der Beziehungen im Feld - am Leben der Mitglieder der Organisation überdurchschnittlich stark interes‐ siert. Umgekehrt kam es mir so vor, als hiessen mich die Studierenden mit of‐ fenen Armen willkommen, weil sie in mir jemanden sahen, der sich ihrer An‐ liegen (als VertreterInnen einer sprachlichen Minderheit) annahm. Daran gekoppelt waren unausgesprochene, aber merkliche Erwartungen (z. B. dank mir möge sich die Situation der TessinerInnen in der Deutschschweiz verbes‐ sern 18 ), die sich darauf auswirkten, wie ich im Feld empfangen wurde. Von An‐ fang an war meine Anwesenheit mehr als geduldet, sie wurde fast gefordert. Die Studierenden fragten mich bei jedem Abschied, ob ich am nächsten Anlass dabei sein würde. Verneinte ich - die Organisation war sehr aktiv, es fanden bis zu drei Treffen pro Woche statt -, fielen enttäuschte Kommentare wie „ma dai, vieni, ci diverteremo …“ (ach komm, komm auch, wir werden uns amüsieren …). Es war, als dürfe ich aus Sicht der Mitglieder nichts verpassen. Man könnte aus dieser fast pflichtmässigen Anwesenheit beinahe schliessen, dass ich als „eine von ihnen“ angesehen wurde. Dafür sprachen auch die „kri‐ tischen“ Äusserungen zu den „rücksichtslosen“ Deutschschweizern und dem „vermaledeiten, omnipräsenten Schweizerdeutsch“, Äusserungen, die in meinem Beisein fielen. Anfangs erstaunten mich solche Ausfälle, und ich fragte mich, weshalb die Studierenden aus der Südschweiz keine Hemmungen hatten, vor mir so negativ über DeutschschweizerInnen zu reden. Schliesslich wussten sie, dass auch ich Schweizerdeutsch sprach - ich tat dies regelmässig, z. B. wenn ich in einer Bar in Bern, in der wir uns aufhielten, Getränke bestellte 19 . Während mir von Anfang klar war, nicht als „eine von ihnen“ zu gelten, realisierte ich erst mit der Zeit, dass ich nicht durchgehend als Deutschschweizerin kategorisiert wurde. Meine anfänglich unbedachte Erklärung, dank meiner Rätoroma‐ nisch-Kenntnisse zuweilen den Tessiner Dialekt zu verstehen, hatte offenbar dazu geführt, dass mich einige der rätoromanischen Sprachgemeinschaft zuord‐ neten. Auch wenn ich protestierte, wenn mich jemand als „lei è la romancia“ (sie ist die Rätoromanin) vorstellte, blieb es bei dieser Kategorisierung. Es schien, als sei diese angenehmer und verkleinere aufgrund einer gewissen (wohl ge‐ wollten) Solidarität unter sprachlichen Minderheiten (in diesem Fall unter Ita‐ 3.1 Datenerhebung 89 <?page no="90"?> 20 Rätoromanischsprechende werden in der Regel mit dem Kanton Graubünden assoziiert, in dem Italienisch (wie im Tessin) als eine von drei offiziellen Sprachen gilt. 21 De Tona (2006) zeigt auf, dass Solidarität unter Frauen nie garantiert ist, sondern an‐ deren Themen (wie hier etwa der Konkurrenz) unterlegen sein kann. lienisch- und Romanischsprachigen in der Schweiz 20 ) die Distanz zwischen den Tessiner Studierenden und mir. Auch meine Beherrschung der italienischen Sprache hatte Auswirkungen auf die mir zugeschriebene Rolle und meine Beziehungen im Feld. Meine Italie‐ nischkenntnisse - ich würde sie als kommunikativ beschreiben - ermöglichten mir in der Regel, Konversationen zu folgen und mich daran zu beteiligen. Nicht selten aber musste ich nachfragen - oft drehten sich die Gespräche um univer‐ sitäre Belange und mobilisierten ein mir gänzlich unbekanntes Vokabular, oder sie handelten von Orten im Tessin oder von Ereignissen, die sich dort abspielten (z. B. von einer Bar oder vom Karneval). Vorteilhaft war, dass meine sprachliche Unsicherheit mein mehrmaliges und zum Teil naives Nachfragen legitimierte. Ausserdem zeigte sie regelmässig auf, dass ich „keine von ihnen“ war und mar‐ kierte dadurch meine Rolle als Forschende. Mein eher süditalienisch gefärbtes Italienisch trug zusätzlich dazu bei, mich als forschende „Nicht-Tessinerin“ zu kategorisieren. Trotz des schier bedingungslosen und kollektiven Willkommens, das mir beim Apéro entgegengebracht wurde, gestaltete sich das Etablieren von indivi‐ duellen Beziehungen anfangs schwierig (vgl. Harrington 2003). Dazu trug das ausgeprägte „Flirtklima“ bei, das ich in der Organisation wahrnahm. Es schien fast, als gelte in der Organisation das ungeschriebene Gesetz, sozusagen unter „seinesgleichen“ möglichst viele Pärchen zu formen (es gab auch etliche, und im Laufe meiner Feldforschung bildeten sich neue). Während also die männli‐ chen Mitglieder offensichtlich und zum Teil sehr offensiv mit mir flirten wollten (während ich mit ihnen zu reden und ihren Alltag zu verstehen wünschte), ver‐ hielten sich (wohl deshalb) die Frauen mir gegenüber kühl und zum Teil abwei‐ send (vgl. dazu Coffey 2005; De Tona 2006 21 ). Ich fragte mich, mit wem es auf gutem Fusse zu stehen galt, um die Beziehungen zu vereinfachen. Ich suchte bei der Präsidentin und einer anderen Studentin Schutz - sie waren wie ich aus‐ serhalb des Vereins liiert. Nach gut einem Monat wurden die mir unangenehmen Flirttiraden der jungen Männer seltener. Die jungen Frauen öffneten sich zuse‐ hends und wurden herzlicher, und wir tauschten bald einmal unsere Telefon‐ nummern aus. Das freundschaftliche Verhältnis unter uns Frauen veränderte schliesslich auch dasjenige zu den Männern. Auch diese behandelten mich - mit einigen Ausnahmen - kollegialer und verzichteten auf anzügliche Sprüche, während sie mir diese oder jene Tessiner Tradition erklärten. 3 Methodologische Grundlage 90 <?page no="91"?> 22 Die Stadt Bern hat rund 130 000 EinwohnerInnen und einen überschaubaren Kern. Das spontane Aufeinandertreffen im Zentrum ist somit nichts Ungewöhnliches. 23 Eine Übersicht bietet Akeroyd (1984). Nach diesen Einblick gewährenden Ausführungen - einige Beziehungsa‐ spekte werde ich in den analytischen Teilen wieder aufgreifen - ist zu bemerken, dass die Beziehungen im Zuge meiner Feldarbeit durch neue Facetten ergänzt wurden. Sie zeichneten sich durch Kameradschaftlichkeit, Machtgefälle, Igno‐ ranz, Herzlichkeit etc. aus. Gleichzeitig waren sie durch die „Forschende-Er‐ forschte-Beziehung“ einmal mehr und ein andermal weniger stark geprägt. Diese Facettenvielfalt wirkte auch über das Jahr, in welchem ich meine Daten erhob, hinaus. So begegne ich einigen Mitgliedern ab und zu heute noch (z. B. beim Einkaufen in der Innenstadt), grüsse sie und wechsle ein paar Worte mit ihnen 22 . Andere habe ich aus den Augen verloren. Mit Einzelnen bin ich nach wie vor lose verbunden, wir treffen uns hin und wieder oder machen uns ge‐ genseitig per Mail / SMS auf eine Veranstaltung aufmerksam. 3.1.3 Ethische Überlegungen Die ethnographische Vorgehensweise bringt intime und vielschichtige Bezie‐ hungen mit sich, die es dem Forschenden erlauben, die Welt der Erforschten mitzuerleben. Solche Beziehungen rufen ethische Fragen hervor, denen wir uns als Forschende stellen müssen. Auf einige davon wurde im vorausgehenden Teil bereits hingewiesen. Andere behandle ich in den folgenden Abschnitten. Gemäss Duranti (1997: 120-121) beinhaltet jedes anthropologisch orientierte Projekt eine Verantwortung gegenüber den Menschen, deren Praktiken wir er‐ gründen möchten. Während in der Anthropologie ethische Fragen seit geraumer Zeit diskutiert werden 23 , setzt sich die Soziolinguistik erst seit rund 20 Jahren mit der ethischen Komponente auseinander, die zu Forschungsprojekten gehört (vgl. Goebl 1988; Cameron et al. 1992, 1997; Wolfram 1998; Garner et al. 2006; Sercombe et al. 2008). Zwei Aspekte, die aus dieser noch jungen Diskussion hervorgehen, scheinen für die vorliegende Arbeit besonders relevant. Ein zentraler Aspekt hängt mit der Frage zusammen, auf Basis welcher Über‐ legungen ich Wissen produziere und wer über dieses Macht erlangt oder, in Camerons Worten, ob ich „on, for or with social subjects“ forsche (vgl. Cameron et al. 1997: 153). Anders gesagt: Wie und zu wessen Gewinn oder auf wessen Kosten wird das Wissen, das ich produziere, verwendet (Heller 2011)? Wissens‐ produktion und Macht werden somit in gegenseitiger Abhängigkeit verstanden (vgl. Foucault 1980). Ethische Überlegungen drehen sich also darum, wer (For‐ 3.1 Datenerhebung 91 <?page no="92"?> 24 Wenn Machtprozesse und soziale Ungleichheiten Teil des zu untersuchenden Phäno‐ mens sind, ist es zuweilen denkbar, dass Forschende - sozusagen auf Macht sensibili‐ siert - auf ethischer Ebene ebenfalls Machtprozesse sehen und diese möglicherweise überbewerten. schende / Erforschte) unter welchen Bedingungen an der Macht ist und inwie‐ fern solche Prozesse sich in der Datenerhebung und -auswertung widerspiegeln. Zweitens weisen AutorInnen darauf hin, dass sich das Machtkonzept zwar für Reflexionen ethischer Art anbietet, aber zwischenmenschliche Beziehungen im Feld nicht immer mithilfe dieses Machtkonzepts analysiert werden können 24 . Zuweilen ist ein sozial-psychologischer Fokus geeigneter, um zu verstehen, welche Beziehung zwischen wem weshalb zu einem gewissen Zeitpunkt besteht (Garner et al. 2006). Ich wage ausserdem zu behaupten, dass die sozial-psycho‐ logische Ebene nicht (immer) von der Machtebene zu trennen ist. Beispiele aus meiner Feldforschung mögen die beiden skizzierten Aspekte verdeutlichen. Wie bereits erwähnt bestand mein anfängliches Interesse darin, sprachliche und soziale Praktiken italienischsprachiger Studierender in der Deutschschweiz zu verstehen. Man könnte sagen, dass ich „research on social subjects“ im Sinne hatte. Mit der Weiterentwicklung meines Forschungsinte‐ resses gab ich aber an Kontrolle ab, indem ich mich gegenüber unerwartet auf‐ tretenden Fragen öffnete. Dies führte dazu, dass ich die Herausforderungen besser verstand, mit denen die Studierenden in ihrem Alltag in der Deutsch‐ schweiz konfrontiert waren. Ich fragte mich, ob meine Forschung deren Situa‐ tion verbessern könnte. Trotz solcher Überlegungen, die in Richtung „research for social subjects“ gingen, wurde ich nie zur direkten Advokatin der Tessiner Studierenden. Ich kam zum Schluss, dass meine Unterstützung nur im Rahmen eines vorgegebenen Systems geschehen könnte, das ich zu verstehen versuchte, aber auch zu kritisieren begann. In meiner Forschung erkenne ich die von Ca‐ meron et al. (1997) entwickelte Komponente „for“ in einer leicht abgeänderten Form. Erst aufgrund eines vertieften Verständnisses, das ich dank meiner Arbeit erlangte, konnte ich eruieren, weshalb wo wessen Herausforderungen liegen. Dieses Verständnis in eine eventuelle Intervention überzuführen, war aber nicht mein Ziel. Ausserdem wäre diese für Studierende, die ich in ihrem Vereinsjahr begleitete, zu spät gekommen (Viele Studierende der Organisation haben in‐ zwischen ihr Studium abgeschlossen und Bern verlassen.). Mit dem Mich-aus-dem-Feld-Zurückziehen war die Erhebung vollendet. Ethische Über‐ legungen beschäftigten mich aber über diese Periode hinaus. So sah ich rück‐ blickend, dass meine Arbeit im besten Fall dazu beitragen könnte, Ungleich‐ heiten gegenüber anderssprachigen Studierenden aufzuzeigen, was zukünftigen Studierenden zugute kommen könnte. Letzteres hängt aber nicht nur von mir 3 Methodologische Grundlage 92 <?page no="93"?> und davon ab, welche Daten ich wem wie kommuniziere. Potentielle Verände‐ rungen unterliegen sowohl Akteuren im Hochschulsystem und deren Willen, Ungleichheiten entgegenzuwirken, als auch politisch-ökonomischen Bedin‐ gungen. Während also einige ethische Handlungen nicht allein in der Hand der Forschenden liegen, können wir für andere mehr Verantwortung übernehmen. Bei meiner Arbeit im Feld realisierte ich, dass das methodologische Wissen eine gewisse Machtkomponente enthält. Die italienischsprachigen Studierenden in Bern waren zwar über meine qualitative Vorgehensweise informiert und hatten sich mit meiner Anwesenheit an ihren vereinsinternen Treffen einverstanden erklärt. Im Gespräch mit einigen Studierenden wurde mir aber bewusst, dass viele kaum verstanden, weshalb für mich etwa das Teilnehmen und anschlies‐ sende Anfertigen von Notizen wichtig war. Wenn Erforschte das methodologi‐ sche Vorgehen nicht genügend verstehen, können sie kaum abschätzen, womit sie sich einverstanden erklären (vgl. Hammersley & Atkinson 1995; Malone 2003; Wang 2013). Ausserdem bleibt für sie undurchsichtig, welche und wie viele Daten erhoben werden. In Einzelgesprächen versuchte ich SkeptikerInnen zu erklären, worum es bei der teilnehmenden Beobachtung gehe. Je nachdem, wie stark ich argumentierte und wie einsichtig die Studierenden waren, verliefen diese Gespräche mehr oder weniger erfolgreich. So fanden zwei Studierende naturwissenschaftlicher Fächer meine Erklärungen zu schwammig, und sie fragten nach den „Facts“. Eine Gruppe von geisteswissenschaftlichen Studie‐ renden hingegen fand mein Vorgehen interessant, und es schien, als könne sie nachvollziehen, weshalb ich diese und keine andere methodische Herangehens‐ weise gewählt hatte. In einer Organisation wie dem untersuchten Studieren‐ denverein ist es schier unmöglich, alle Teilnehmenden individuell zu infor‐ mieren, dennoch kann der Versuch unternommen werden, das methodologische Wissen zu teilen und das Vorgehen transparent zu machen. Ethische Abwägungen meinerseits waren, wie sich relativ rasch herausstellte, der Machtverteilung im Feld unterlegen. Um Zugang zu erhalten, kontaktierte ich den Vorstand, der dann - sozusagen über die Köpfe der Vereinsmitglieder hinweg - entschied, ich könne an den Anlässen dabei sein. Einzelne Mitglieder hatten hier de facto keine Gegenstimme. Eine persönliche Einverständniserklä‐ rung aller TeilnehmerInnen der Organisation einzuholen, wäre aber nicht machbar gewesen (vgl. Gobo 2008). Ähnlich verhielt es sich mit meiner Teil‐ nahme an Vorstandssitzungen (ich erachtete diese als „sacred space“), welche die Präsidentin des Vereins - wohl auch dank unserer freundschaftlichen Be‐ ziehung, die sich mit der Zeit entwickelte - guthiess. Hier mischten sich Kom‐ ponenten der Macht mit sozial-psychologischen Aspekten. 3.1 Datenerhebung 93 <?page no="94"?> 25 Solche Überlegungen sind auch für Beziehungen ausserhalb des Felds relevant. So war ich während meines Forschens auch Teil anderer sozialer Netzwerke, in denen ich wegen meiner intensiven Feldforschung weniger oft präsent war, was häufig die Frage mit sich brachte, was ich denn bei diesen „TessinerInnen“ täte. Auf solche Ad-hoc-Fragen als Freundin ehrlich Auskunft zu geben, ohne die im Feld getroffenen Abmachungen zu verletzen, fand ich nicht immer einfach. Sozial-psychologische Komponenten spielten auch dann mit, wenn ich dank freundschaftlicher Beziehungen zu Informationen gelangte, die mir sonst ver‐ wehrt geblieben wären. In diesem Zusammenhang stellten sich mir dann Fragen punkto „Fairness“, die ich kritisch zu beantworten versuchte, bevor ich mich für oder gegen das Einbeziehen dieser Informationen in meine Feldnotizen ent‐ schied. Ein Mal fiel es mir schwer, selbst zu eruieren, ob eine Aussage zum Ablauf einer vereinsinternen Abstimmung an der Generalversammlung „vertraulich“ war oder als Teil „gewöhnlicher“ Daten behandelt werden konnte. Beim nächsten Treffen erkundigte ich mich bei der entsprechenden Studentin. Sie bestätigte mir meine Annahme, sie habe mir dies im Vertrauen, sozusagen als Freundin, mitgeteilt und vergesse hin und wieder, wozu ich hier sei. Zwischen‐ menschliche Beziehungen in meinem Feld verlangten nach immer neuen ethi‐ schen Entscheidungen; es galt, dem Anspruch der Forschung gerecht zu werden und in den persönlichen Beziehungen fair zu bleiben 25 . Die obenstehenden Ausführungen verdeutlichen, dass ethische Überle‐ gungen über den kurzen Satz, dass die Anonymität der Erforschten garantiert sei, hinausgehe, über den Satz, der in soziolinguistischen Arbeiten gewöhnlich zu finden ist. Ich will nicht darauf verzichten, auf meine Handhabung der Ano‐ nymisierung einzugehen, die sich aufgrund der ethnographischen Arbeit mit der Studierendenorganisation entwickelt hat. In einer E-Mail, die ich einem Vorstandsmitglied anfangs schickte und worin ich mein Vorhaben erklärte und um Zugang zum Verein bat, bot ich an, sowohl den Verein als auch dessen Mit‐ glieder zu anonymisieren. Dies wiederholte ich auch, als ich im Rahmen des Apéros mein Projekt vorstellte. Im Verlauf der Forschung stellte sich aber he‐ raus, dass die Anonymisierung des Vereins nicht gewährleistet werden konnte. Es gibt nur einen Verein italienischsprachiger Studierender in Bern, dessen Homepage - abgesehen von einem geschlossenen Gästebuch - öffentlich zu‐ gänglich ist. Eine Anonymisierung hätte zur Folge gehabt, dass ich auf zu viele Informationen (Bern, Italienisch, Studierende …) hätte verzichten müssen, die für das Verständnis wichtiger Themen und Vorgänge zentral waren. An einer Vorstandssitzung, zu welcher ich nach rund vier Monaten eingeladen wurde, bemerkte ich, dass ich dies im Vorfeld nicht bedacht hatte und mein Versprechen, die Anonymität des Vereins zu wahren, nicht halten konnte. Während ich mir 3 Methodologische Grundlage 94 <?page no="95"?> 26 Dies verdeutlicht, dass Forschende nicht zwingend dieselben Punkte als ethische He‐ rausforderungen erachten wie die Akteure im Feld. 27 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern Forschende trotz einer ethi‐ schen Aushandlung, die beiden Parteien entspricht, eine ethische Verantwortung wahr‐ nehmen müssen, die über das Einverständnis der Erforschten hinausgeht. 28 Auch in dieser Situation fällte der Vorstand die Entscheidung im Namen der Mitglieder. vor dieser Sitzung den Kopf zerbrochen hatte, wie ich dies dem Vorstand „beichten“ könne, und bereits darüber nachgedacht hatte, wie ich allfällige Be‐ ziehungsbrüche reparieren könne, sahen die Vorstandsmitglieder zu meinem Erstaunen darin kein „Problem“ 26 . Vielmehr erachteten sie es als positiv, den Verein namentlich zu erwähnen, um dessen Visibilität zu verbessern 27 . Ich wies im Rahmen dieses Gesprächs darauf hin, dass ich nach wie vor die Anonymität der einzelnen Mitglieder wahren würde (auch im Zusammenhang mit dem ver‐ wendeten Bildmaterial, das auf der Vereinshomepage publiziert wurde, vgl. Pink 2001). Dies schien den Mitgliedern zu genügen 28 . Nach dieser Erfahrung ent‐ schied ich mich dafür, in meinem Forschungsprojekt Personen (Studierende, MaturandInnen, Universitätsmanager, Vereinsmitglieder etc.) zu anonymi‐ sieren. Institutionen werden alle namentlich genannt, sie sind alle öffentlich und fürs Verständnis der Prozesse im hochschulpolitischen Kontext wichtig. 3.1.4 Meine Daten und deren Produktion Bevor ich im Detail darstelle, welche Daten aus meiner ethnographischen Er‐ hebung hervorgehen, zeige ich in den folgenden Abschnitten auf, wodurch sich ethnographisches Arbeiten für mich auszeichnet. Diese Ausführungen ermög‐ lichen es, meine Daten und deren Produktion besser zu verstehen. Die Ethnographie basiert auf der sinnlichen Wahrnehmung der Forscher‐ Innen im Feld. Dabei sind sämtliche Sinne mitgemeint, welche die teilnehmende Beobachtung miteinschliesst (vgl. Burawoy et al. 1991; Hammersley & Atkinson 1995; Degen 2008). Das Wahrnehmen ist in erster Linie zwar ein Beobachten, es ist jedoch nicht nur ein rationales Zuschauen. Das Wahrnehmen ist immer auch körperlich oder, wie es Frers (2012: 214) ausdrückt: „es ist Teil des leiblichen Bezugs zur Welt“. Der Begriff Leib mutet je nach Lesart fast religiös an. Phäno‐ menologen wie Merleau-Ponty (1974) verwenden ihn aber, um ihn vom Körper abzugrenzen, den sie als naturwissenschaftlich objektivierend und als blossen Gegenstand der Wissenschaft sehen, der untersucht und in seine Einzelteile zerlegt werden kann. Den Leib stattdessen verstehen sie als körperlich-sinnli‐ chen Ausgangspunkt aller Erfahrung und Wahrnehmung. Ethnographie zeichnet sich u. a. durch teilnehmende Beobachtung aus. Die Teilnahme ermög‐ 3.1 Datenerhebung 95 <?page no="96"?> 29 In den vergangenen Jahrzehnten widmete sich die Anthropologie zunehmend der Ma‐ terialität (z. B. Miller 2005). licht es uns, zu beobachten (Körper) und wahrzunehmen (Leib). Der Leib und die damit verbundene sinnliche Erfahrung im Feld stehen quer zur „normalen Wissenschaft“, die, indem sie „nachvollziehbare“ Instrumente (wie z. B. stan‐ dardisierte Fragebogen) gebraucht, vorgibt, alles Beobachtbare sei da und man müsse es „bloss“ sammeln. Gegenwärtig zeigt sich jedoch, dass die Ansätze der Phänomenologie vermehrt Eingang in die Forschung verschiedener Disziplinen finden. Beispielsweise befasst sich die Neuropsychologie mit Phantomgliedern und deren Wahrnehmung (vgl. Guterstam et al. 2011). Dieses Beispiel zeigt auf, dass abwesende Dinge nicht zwingend bedeuten, dass sie sich der Wahrneh‐ mung entziehen. Während die soziale Einbindung der teilnehmenden Beobach‐ terin im Feld in der Sozialwissenschaft ihren festen Platz hat (Hammerlsey & Atkinson 1995; Hirschauer & Amman 1997; Shuttleworth 2001), ist deren sinn‐ liche (oder leibliche) Einbindung bisher wenig thematisiert worden (Frers 2012 liefert ein Gegenbeispiel). Wenn aber Zusammenhänge zentral sind, die sich im Zusammenspiel mit der materiellen Welt begründen, kann die sinnliche Wahr‐ nehmung nicht vernachlässigt werden 29 . Wird im Folgenden von „teilneh‐ mender Beobachtung“ o. Ä. gesprochen, sind sowohl physische als auch leibliche Komponenten mitgemeint. Auch wenn Körper und Leib bei der teilnehmenden Beobachtung eine Rolle spielen, hat die Ethnographie nicht den Anspruch, alles zu erfassen und festzu‐ halten. Bei jeder teilnehmenden Beobachtung gehen gewisse Parameter der Si‐ tuation verloren bzw. werden nicht wahrgenommen. Hilfsmittel wie Videoauf‐ nahmen, Fotografien etc. können dazu beitragen, die Situation auch zu einem späteren Zeitpunkt zugänglich zu machen bzw. sich diese zu vergegenwärtigen. Dennoch wird sie nie mehr so stattfinden. Dass „das Auftreten von Zusammen‐ hängen weder in den Dingen selbst noch im Cogito der Forschenden liegt“ (Frers 2012: 219), regt dazu an, kritisch über bestehende Annahmen in Bezug auf den Status der Wahrnehmung bzw. der Aufmerksamkeit im Forschungsprozess nachzudenken. Bezüglich vorhandener Hilfsmittel stellt sich die Frage, inwie‐ fern uns diese zuweilen eine Legitimität erteilen, die ihnen gar nicht zusteht. Müssten wir, die Forschenden, uns nicht vielmehr mit unserer eigenen Wahr‐ nehmung und Aufmerksamkeit auseinandersetzen und die Auseinandersetzung damit auch nachvollziehbar machen? Nur weil man auf dem Foto nicht sieht, dass die Atmosphäre von der Ethnographin als „flirty“ wahrgenommen wurde, heisst dies nicht, dass dies nicht wichtig gewesen sei. Diese Qualität der Atmo‐ 3 Methodologische Grundlage 96 <?page no="97"?> 30 Ellen (1984: 215) spricht in diesem Zusammenhang auch von „eavesdropping“. sphäre ist vielleicht gar der Schlüssel dazu, das situative soziale Handeln zu verstehen. Waldenfels (2004) beschäftigte sich mit der Wahrnehmung und Aufmerk‐ samkeit von EthnographInnen. Er ergründete die Aufmerksamkeit als eigenes Phänomen und zeigte auf, wie unstabil und offen sie sei und wie sie sich ständig verändere, da die Kräfte, die auf das Aufmerksamkeitsgeschehen wirkten, sich verschöben. Er kritisierte das gängige Verständnis von Aufmerksamkeit, das ungeprüft annehme, sie rücke Gesuchtes „einfach“ ins Scheinwerferlicht und kategorisiere Bekanntes. Laut Waldenfels geht es darum, dass die Forschung ein Mittel sei, etwas noch Unbekanntes herauszufinden, und er betont dabei, dass sowohl die / der Wahrnehmende als auch das Sich-Zeigende erfasst werden müssten. Zur Verdeutlichung mag ein Bild aus meiner Feldarbeit dienen: Am öffentli‐ chen Informationstag der Universität Luzern schmückte ein pink fluoreszie‐ rendes Plakat einen Informationsstand (Pink ist die Werbefarbe dieser Institu‐ tion.). Man könnte davon ausgehen, dass dieser Stand von italienischsprachigen MaturandInnen aus dem Tessin sowie von der Ethnographin wahrgenommen wurde. Allerdings hing dies z. B. davon ab, wie rasch diese Personen am Stand vorbeigingen, welche Erwartungshaltung sie mitbrachten etc. Sie beteiligten sich somit am Prozess, diesen Stand als auffällig wahrzunehmen und es für loh‐ nend zu halten, davor stehenzubleiben etc. Wenn wir also ethnographisch Daten erheben, gehen wir über die „Aufzeich‐ nung“ von Gegebenem hinaus und widmen uns dem, was emergiert. Solche Prozesse tragen entscheidend zum Verständnis davon bei, welche Rolle der ma‐ teriellen Welt in sozialen Prozessen beigemessen wird. Diese Ausführungen verdeutlichen, vor welchem Hintergrund meine ethno‐ graphische Datenerhebung betrachtet werden muss. Dieser liegen, etwas ver‐ einfacht gesagt, drei Schritte zugrunde. In einem ersten Schritt nahm ich an Events, Zusammenkünften etc. teil, machte und lauschte 30 bei allem mit, was in meinem Aufmerksamkeitsfeld lag. Die auf meiner Rolle als teilnehmende Be‐ obachterin basierenden Daten könnte man auch als „sense data“ beschreiben. Sie gehen auf körperliche und leibliche Wahrnehmungen und damit verbundene und diese bewahrende Erinnerungen zurück. In einem zweiten Schritt fand eine „mechanische Reduktion“ der Daten statt. Dies bedeutet, dass ich die Aufmerk‐ samkeit, die ich bei meiner teilnehmenden Beobachtung auf einige Hand‐ lungen / Äusserungen etc. gelenkt hatte, sozusagen verstärkte, indem ich das Wahrgenommene „festhielt“. So zeichnete ich z. B. mithilfe eines Tonaufnah‐ 3.1 Datenerhebung 97 <?page no="98"?> 31 Die hier erwähnten drei Schritte lehnen sich an Ellen (1984: 214) an. Sie präsentiert ein Modell, das aufzeigt, wie Daten in ethnographischen Settings „hergestellt“ werden. megeräts eine Vorstandssitzung auf, die ich später transkribierte, sammelte Do‐ kumente, die mit den Anlässen, an denen ich teilnahm, zusammenhingen (z. B. eine Traktandenliste der Generalversammlung oder Fotos, die auf der Vereins‐ homepage zu finden waren) und fertigte Notizen an, die das im Feld Wahrge‐ nommene in eine permanente und mir später zugängliche schriftliche Form brachten (z. B. Skizzen einer Sitzordnung und Sätze über meine Gefühle während eines Meetings). In einem dritten Schritt - nach dem Ordnen, Kodieren und Interpretieren meiner Daten - gewann ich diejenigen Daten, von denen einige in meinen Analysekapiteln ersichtlich sind, d. h. sozusagen den verschriftlichten Bericht über meine Feldarbeit. Dieses Dreischritt-Modell 31 wird der Komplexität, welcher man sich als Ethnographin zu stellen hat (so sind z. B. etliche Interpre‐ tationsschritte nötig, und man beginnt möglicherweise bereits bei den „sense data“ erste analytische Fragen an die eigene Wahrnehmung zu stellen), nicht gerecht. Dennoch verdeutlicht es erstens, dass der Begriff „Daten“ sehr breit ist und u. a. die eigene Aufmerksamkeit und das anfängliche Wahrnehmen im Feld, das Notieren und die Interpretation umfasst. Zweitens handelt es sich bei Daten um etwas Produziertes, d. h. um etwas, das so transformiert worden ist, dass es für Lesende, also für solche, die selbst nicht Teil des Felds waren, in schriftlicher Form zugänglich wird. Drittens sind Daten in ihrer endgültigen und präsen‐ tablen Form nicht davon zu trennen, dass sie einst von EthnographInnen mit der ihnen eigenen Aufmerksamkeit und Wahrnehmung „hergestellt“ wurden (vgl. Emerson et al. 1995). Die folgenden Abschnitte geben Auskunft über meine Daten. Dazu gehören erstens Notizen, die während meiner Feldarbeit entstanden sind, zweitens Do‐ kumente institutioneller Art und drittens Interviews, die ich mit Akteuren in den verschiedenen Sites führte. Table 2 bietet eine Übersicht. Dabei ist zu be‐ merken, dass darin nur Daten vorkommen, die dem bereits erwähnten zweiten Schritt zuzuordnen sind, d. h. solche, die „aufgezeichnet“ wurden. Allerdings ist es möglich, dass es mithilfe dieser Daten gelingt, erneut die ursprünglichen „sense data“ zu vergegenwärtigen (z. B. eine Situation, in der ich mich unsicher fühlte), die nicht immer einfach festzuhalten sind, aber für die Interpretations‐ arbeit der Ethnographin zentral sein können. 3 Methodologische Grundlage 98 <?page no="99"?> Notizen aus dem Feld: Jottings, Field notes Institutionelle Doku‐ mente Interviews: Audioauf‐ nahmen, Transkripte, Memos und Notizen der In‐ terviews Studierendenorganisation in Bern: 41 dokumentierte Anlässe Teilnehmende Beobach‐ tung: 4 Informationstage der Universitäten in Bern, Luzern, Zürich (ETH und Universität) und Lugano Studierendenorganisation in Bern: - Werbematerial: Flyers, Einladungen, Plakate und Werbemails - Dokumentierendes Material: Fotos von Partys, Apéros etc. (auf Vereinswebseite) - Informatives Material: Newsletter und Ge‐ schichte des Vereins, Mitgliederliste, Kor‐ respondenz (130 Mails, 200 SMS) - „Offizielle“ Doku‐ mente: Vereinssta‐ tuten, Protokolle Informationstage an ver‐ schiedenen Schweizer Uni‐ versitäten (Deutsch‐ schweiz und Tessin) - Werbematerial: Pla‐ kate, Flyer, Einladung an MaturandInnen, Kugelschreiber, Ta‐ schen … - Informatives Material: Tagesprogramm, Un‐ terlagen zu Studien‐ richtungen und Uni‐ versitäten … - Pressematerial: Zei‐ tungsartikel, Fernseh‐ beitrag, Fotos … Italienischsprachige Stu‐ dierendenorganisation in Bern: Interview mit Präsi‐ dentin (60 min) Studierende an Universi‐ täten in Luzern, Zürich und Lugano: 13 Interviews mit Studierenden aus dem Tessin (15h 30 min) Informationstage an Uni‐ versitäten in der Deutsch‐ schweiz und im Tessin): 6 Interviews im Tessin (ca. 20 min), 4 Kurzinterviews mit Delegierten (ca. 35 min) Im universitären Marke‐ ting-/ Kommunikationsbe‐ reich tätige Personen aus Luzern, dem Tessin, Bern (4h 20 min, 1 schriftliches Interview) Table 2: Übersicht über die erhobenen Daten 3.1.4.1 Notizen aus dem Feld Van Maanen (1988: ix) beschrieb Ethnographie als „the peculiar practice of re‐ presenting the social reality of others through the analysis of one’s own expe‐ rience in the world of these others“. Um diese Erfahrungen aus der Welt der 3.1 Datenerhebung 99 <?page no="100"?> 32 Ähnlich unstetig war das Setting, wenn Universitäten Informationstage für Maturan‐ dInnen veranstalteten. 33 Darüber hinaus wäre meine Präsenz als Notizen machende Forschende kaum akzeptiert gewesen. 34 Forsey (2010) betont die Wichtigkeit des „Participant listening“ als Teil der teilneh‐ menden Beobachtung. anderen festzuhalten, fertigen EthnographInnen Notizen an, welche die Akti‐ vitäten, Herausforderungen und Zufälle aufzeigen, die der Alltag mit sich bringt (Geertz 1973). Wer das Leben anderer Menschen, deren Routinen und die Be‐ deutung derselben subtil und komplex erfassen will, dem bieten solche Notizen eine nützliche Basis. Gewöhnlich bestehen diese aus Texten, in denen Gese‐ henes, Gehörtes und Wahrgenommenes wiederzufinden ist. Meine aus dem Feld mitgebrachten Aufzeichnungen bestehen aus „Head notes“, „Jottings“, „Feldnotizen“ und „Notes on notes“ (vgl. Clifford 1990; Sanjek 1990; Emerson et al. 1995, 2001). Diese werden im Folgenden kurz beschrieben. Meine ethnographische Arbeit war vom Geschehen in einem Feld geprägt, das sich durch Unbeständigkeit auszeichnete. So bewegten sich z. B. während dem Apéro des italienischsprachigen Studierendenvereins in Bern ca. 100 Per‐ sonen fortwährend hin und her zwischen Tischen, auf denen Snacks angerichtet waren, und einem Tresen, auf dem verschiedene Getränke zur Auswahl standen. Es formten sich immer neue Grüppchen von Studierenden 32 . Wie alle anderen Anwesenden hielt ich in der einen Hand einen Becher und in der anderen ein in eine Serviette eingewickeltes Käseküchlein. An solchen Anlässen wäre es für mich als teilnehmende Beobachterin nur schon physisch unmöglich gewesen, in einem Heft Beobachtungen schriftlich festzuhalten 33 . Ich machte an solchen Events also vorwiegend mentale Notizen („Head notes“, vgl. Sanjek 1990). Vor dem Weggehen oder auf dem Heimweg fertigte ich sogenannte „Jottings“ an (vgl. Emerson et al. 1995). Ich schrieb Statements oder Gesprächsfetzen, die ich aufgeschnappt hatte 34 , wortwörtlich nieder, skizzierte, wer in einer mir wichtig vorkommenden Szene wo stand, wie die Leute (und z. B. das Buffet, die Dekoration) im Raum angeordnet waren, und notierte stichwortartig Beobach‐ tungen und Wahrnehmungen („sense data“). So rasch wie möglich fertigte ich auf Basis dieser „Jottings“ und meiner „Head notes“ ausführlichere Feldnotizen in Form von Fliesstexten an. Diese sind ge‐ mäss Clifford (1990: 61) mit Fotografien vergleichbar. Sie haben eine „You are there“-Qualität und ermöglichen auch Aussenstehenden das Verstehen oder „Sehen“ der sozialen Praktiken. Die Metapher der Fotografie bewährt sich nur, wenn wir uns dessen bewusst sind, dass bei jeder Aufnahme FotografInnen am Werk waren, die einen spezifischen Fokus wählten. Ansel Adams, ein bedeut‐ 3 Methodologische Grundlage 100 <?page no="101"?> 35 Man könnte hier analog zu den „Sense data“ von „Sense notes“ sprechen. samer US -amerikanischer Fotograf und Lehrer, bemerkte: „you do not take a photograph, you make it“ (Adams & Street 1985). FotografInnen oder in vorlie‐ gendem Zusammenhang der Ethnographin fällt folglich beim Abdrücken oder beim Verfassen der Feldnotizen eine wichtige Rolle zu. Ein Ausschnitt der Welt wird abgelichtet oder beschrieben, wobei dieser ausgewählt und durch eine subjektive Linse betrachtet wird, womit die Beschreibung über das rein Visuelle hinausgeht (vgl. „sense data“). Auch wenn ich ausgiebig Feldnotizen anlegte, sind nicht alle „Head notes“ und „Jottings“ darin wiederzufinden. Die Feldnotizen stellen ein Hilfsmittel dar, mich an meine „Head notes“ und damit verbundene körperliche und leibliche Wahrnehmungen zu erinnern 35 . Das heisst, dass beim Lesen von Feldnotizen ein gewisses Gefühl reaktiviert wird, das in der Situation da war und für das Ver‐ ständnis des sozialen Tuns relevant sein kann. Die „Jottings“ - vor allem dieje‐ nigen visueller Art - dienen mir nach wie vor als mentale Stütze, um mir Szenen aus dem Feld (auch visuell) in Erinnerung zu rufen. Im Rahmen meiner Feldnotizen hielt ich auch Fragen fest, die ich an meine Beobachtungen stellte, oder vermerkte intuitive Gedanken, die mir bei meiner Verschriftlichung einfielen („Notes on notes“). Man könnte diese als erste Ver‐ suche einer interpretativen Analyse betrachten. „Head notes“, „Jottings“ und Feldnotizen habe ich aus zwei verschiedenen „Sites“ mitgebracht: Italienischsprachige Studierendenorganisation in Bern In der italienischsprachigen Studierendenorganisation in Bern konnte ich an 41 verschiedenen Events, d. h. institutionellen oder individuellen Treffen (Apéros, Eishockey-Match, Pendeln mit dem Zug, Sitzungen, Generalversammlung, Stammtischtreffen, Party etc.), teilnehmen - Treffen, die ich in der oben be‐ schriebenen Weise festhielt. Zwei dieser Anlässe - eine Vorstandssitzung (120 Minuten) und eine Generalversammlung (120 Minuten) - konnte ich auf Ton aufzeichnen. In meinen Notizen zu diesen zwei Anlässen konzentrierte ich mich auf Beobachtungen, die vom Aufnahmegerät nicht erfasst wurden. Informationstage an verschiedenen Schweizer Universitäten (Deutschschweiz und Tessin) An vier Informationstagen der Universitäten in Bern, Luzern, Zürich ( ETH und Universität) und Lugano war ich anwesend und wohnte in diesem Rahmen Prä‐ sentationen unterschiedlicher Fakultäten und Studienfächer bei. Auch bei diesen Anlässen habe ich Notizen angefertigt. 3.1 Datenerhebung 101 <?page no="102"?> 3.1.4.2 Institutionelle Dokumente Während Notizen aus dem Feld die Erfahrung der Ethnographin festhalten, geben von Akteuren im Feld produzierte und verwendete Unterlagen einen Einblick, wie diese ihr Leben organisieren, repräsentieren und dokumentieren. Im Zuge meiner ethnographischen Arbeit habe ich Dokumente verschiedener Art gesammelt, die mit den sprachlichen und sozialen Mobilitätspraktiken in der Hochschullandschaft zusammenhängen (Hammersley & Atkinson 1995). Diese geben Auskunft darüber, in welchen Rahmenbedingungen sich die Ak‐ teure bewegen und welche Rolle sie sich und anderen zuschreiben. Die gesetzlichen Grundlagen (v. a. Universitätsförderungsgesetz und Inter‐ kantonale Universitätsvereinbarung), welche die studentische Mobilität ermög‐ lichen und den Rahmen für die damit verbundenen Praktiken bilden, waren für alle „Sites“ zentral. Die anderen Dokumente sind am einfachsten mit den „Sites“ in Verbindung zu bringen, die in meiner multiplen Ethnographie relevant ge‐ worden sind. Nachfolgend sind deshalb die „Sites“ und die dazugehörigen Do‐ kumente aufgelistet. Italienischsprachige Studierendenorganisation in Bern • Werbematerial, das den Verein sowie die organisierten Anlässe gegenüber Mitgliedern und Nichtmitgliedern publik machte: Flyers, Einladungen, Plakate und Werbemails • Dokumente, die im Anschluss an Anlässe zirkulierten: Fotos von Partys, vom Apéro etc., die auf der Vereinswebseite zu finden waren • Informatives Material: Newsletter und Geschichte des Vereins, Mitglie‐ derliste, Korrespondenz (Mails, SMS ) • „Offizielle“ Dokumente, die den rechtlichen Status der Organisation be‐ legen: Vereinsstatuten, Protokolle Als Ethnographin wurde ich in die Mailverteilerliste des Vereins aufgenommen. So entstand ein Korpus von 130 Mails, das einen Teil der oben aufgelisteten Dokumente (Werbung, Informationen, Flyers, Einladungen, Korrespondenz …) enthielt. Wenn es darum ging, an zusätzliche Informationen zu einem Anlass zu gelangen oder mich z. B. für ein Essen anzumelden, kommunizierte ich mit den Mitgliedern des Vereins entweder per Mail oder per SMS (ca. 200). Diese quan‐ titativen Angaben widerspiegeln das aktive Vereinsleben. Informationstage an verschiedenen Schweizer Universitäten (Deutschschweiz und Tessin) • Werbematerial (Plakate, Flyer, Einladung an MaturandInnen, Werbege‐ schenke wie Kugelschreiber, Taschen …) 3 Methodologische Grundlage 102 <?page no="103"?> • Informationsmaterial (Tagesprogramm, Unterlagen zu verschiedenen Studienrichtungen und Universitäten, Broschüren …) • Pressematerial rund um die Informationstage im Vorfeld wie auch im Nachhinein (Artikel in Zeitungen, Fernsehbeitrag zum Informationstag, Fotos …) 3.1.4.3 Interviews Immersion im Feld kann dazu beitragen, als Ethnographin die Praktiken der Akteure zu verstehen. Kaum erfahren können wir dadurch aber, über welches Wissen sie verfügen, welche Überzeugungen sie haben, ob diese sich mit dem, was wir beobachten, decken oder davon abweichen. „In order to find out what we do not and cannot know otherwise“, lohnt es sich laut Hockey und Forsey (2014: 71), Interviews zu führen. Nur so gelingt es uns, zu ergründen, wie unsere Akteure zu sich und ihren Praktiken stehen und diese beurteilen (vgl. Burgess 2005). Laut Giddens (1990: 309) wissen nämlich Menschen über ihre Handlungen und deren Konsequenzen oft besser Bescheid, als Forschende ihnen zugestehen. Burgess (2005) und Skinner (2014) - beide schreiben dem Interview eine wich‐ tige Rolle zu - sehen dieses als Teil der teilnehmenden Beobachtung (statt ihm wie andere AutorInnen eine hierarchisch untergeordnete Rolle zuzuschreiben). Um meine Forschungsfragen zu beantworten, führte ich narrative Interviews durch, die semi-strukturiert waren und auf einem Leitfaden basierten. Den Leit‐ faden bereitete ich jeweils im Hinblick auf das Gespräch vor, wobei mir Be‐ obachtungen und Unterlagen aus dem Feld, Informationen aus dem für die Tes‐ siner Studierenden bestimmten Fragebogen und Publikationen über das qualitative Interview dienten (Briggs 1986, 2000; Mason 2002). Zu Beginn der Interviews wurde jeweils geklärt, ob die GesprächspartnerInnen mit der Auf‐ nahme des Gesprächs einverstanden seien. Am Ende wurde eine schriftliche Einverständniserklärung ausgefüllt. Allen Interviewten wurde Anonymität zu‐ gesichert. Diese bestätigte ich ihnen schriftlich. Im Anschluss an jedes Interview fertigte ich jeweils sogenannte Memos an, in denen ich mir wichtig Scheinendes notierte, das beim Abspielen der Aufnahme nicht wahrnehmbar sein würde. Dazu gehörten grundlegende Informationen wie Zeit, Ort und Dauer der Inter‐ views, aber auch kontextuelle Angaben zur räumlichen Anordnung während der Interviews, zu den Interviewten (Aussehen, Kleidung, Auftreten, Sprech‐ weise …) und zur Beziehung (zwischen befragter Person und Befragerin) wäh‐ rend der Gespräche (vgl. Briggs 1986: 104). Trotz Struktur und Leitfaden variierten die Interviews stark, was u. a. mit dem unterschiedlichen Grad an Vertrautheit zwischen der befragten Person und der sie Befragenden und der Rolle, welche die je interviewte Person vertrat (Stu‐ 3.1 Datenerhebung 103 <?page no="104"?> 36 Selbstverständlich spielten hier auch andere Faktoren mit. Interviews mit Studierenden waren weniger hierarchisch, was u. a. mit dem ähnlichen Alter von interviewter und interviewender Person zusammenhängen dürfte. Ebenfalls äusserten mehrere Studie‐ rende, sie seien aus Solidarität bereit, einer anderen Studierenden bei ihrer Arbeit zu helfen. dierende, Marketingmanager …), zusammenhing. Dies wirkte sich erheblich auf das Interview und dessen (In-)Formalität aus (vgl. Mason 2002). Mit der Präsidentin des Studierendenvereins hatte ich im Vorfeld bereits eine Beziehung aufgebaut und ihre sozialen Praktiken beobachtet. Ich konnte also einen Leitfaden erstellen, der auf meiner Erfahrung im Feld basierte. Auch wusste ich, dass wir uns nach dem Interview wieder begegnen würden. Ich konnte beispielsweise danach fragen, wie es zum Initiationsritual gekommen sei, welches ich am Eröffnungsapéro beobachtet hatte (alle Neumitglieder mussten sich von einer Galerie herunter den bestehenden Mitgliedern vor‐ stellen) und wie sie dazu stand. Andere InterviewpartnerInnen kannte ich im Vorfeld nicht, und unser Zusammentreffen war einmalig. An den Marketing‐ manager der Universität Luzern wandte ich mich, nachdem ich in Luzern an einem Informationstag für MaturandInnen beobachtend teilgenommen und Werbe- und Informationsmaterial gesammelt hatte; von ihm wollte ich erfahren, welche Überlegungen hinter dem Bild der Universität Luzern steckten, das zu‐ künftigen StudienanwärterInnen vermittelt wurde. Zusätzlich wurde der Charakter des Interviews durch den Ort, an dem es stattfand, mitbestimmt. Während ich mich etwa in die Stadt begab, in der die Studierenden sich aufhielten, und dort ein Café oder ein öffentliches Gebäude (wie etwa die Cafeteria der jeweiligen Universität) für das Interview vorschlug, empfing mich der Marketingmanager in seinem Büro in Luzern. Der Ort des Interviews brachte abgesehen vom räumlichen Arrangement (Holztisch und Bistrostühle versus Polsterstuhl im klinisch weissen Büro) eine bestimmte akus‐ tische Ausgangslage mit sich (vgl. Burgess 2005). In Cafés etwa durfte ich wegen der Nebengeräusche (z. B. Kaffeemaschine) öfters nachfragen, ohne dass dies unnatürlich wirkte. Im Büro der Organisatorin des im Tessin stattfindenden In‐ formationstags hingegen war es ruhig, und mein Nachfragen war aus ihrer Sicht - dem gab sie deutlich Ausdruck - auf mein non-natives Italienisch zu‐ rückzuführen, was mich im Verlauf des Gesprächs zunehmend verunsicherte 36 . Es war allerdings so, dass die akustische Ausgangslage, die ich etwa in Cafés als angenehm wahrnahm, den anschliessenden Transkriptionsprozess - fast alle Gespräche wurden aufgezeichnet - beeinträchtigte und deutlich verlangsamte. Die Interviewsprache (und die Sprache der Einverständniserklärung) war je‐ weils den Interviewten angepasst, d. h., dass die Interviews überwiegend in ita‐ 3 Methodologische Grundlage 104 <?page no="105"?> 37 Wenn keine Aufnahme gemacht werden konnte - was ein Mal geschah -, wurden aus‐ führliche Notizen angefertigt. lienischer Sprache geführt wurden. Im Interview mit dem Marketingmanager aus Luzern wurde Schweizerdeutsch gesprochen. Nicht selten wurde im Fort‐ gang des Interviews vorübergehend die Sprache gewechselt (Deutsch, Schwei‐ zerdeutsch, Italienisch, Englisch und Französisch). Für die Transkriptionen wurde unabhängig von der Interviewsprache dieselbe Konvention verwendet, die nicht auf einem spezifischen Transkriptionssystem (z. B. GAT oder HIAT ) beruht. Es wurde darauf verzichtet, für den Transkriptionsprozess eine Software anzuschaffen. Stattdessen wurde mithilfe der beiden Programme Word und Ex‐ press Scribe gearbeitet, die simultan verwendet werden können. Alle Interviews, die als interessant eingestuft wurden, wurden vollständig transkribiert 37 . Die Transkriptionen italienischer Gespräche orientieren sich an der italienischen Standardschreibweise. Transkripte schweizerdeutscher Interviews richten sich nach der Orthographie des Standarddeutschen. Im Schweizerdeutschen hat sich bisher keine einheitliche Schreibweise durchgesetzt. Bei der von Erwin Dieth (1986) vorgeschlagenen Schreibweise, die häufig in dialektalen Transkripten verwendet wird, steht die phonetische Realisierung des jeweiligen Dialekts im Fokus. Da in der vorliegenden Arbeit dialektale Differenzen nicht im Zentrum stehen und zudem die Lesbarkeit der Transkripte durch die Dieth-Schreibung erschwert wird, wurde auf deren Verwendung verzichtet. So wird etwa die Äus‐ serung „fʀɔɪ̯də“ nicht als „Froid“ sondern „Freud“ notiert. Table 3 stellt die Kon‐ vention dar. INT: Kürzel für SprecherIn, z. B. Interviewerin RG? : Es ist nicht sicher, aber wahrscheinlich, welche Person spricht ... …(5.0) kurze Pause längere Pause lange Pause dauert die Pause 5 Sekunden und länger, wird sie gemessen und no‐ tiert : Verlängerung einer Silbe, z. B. auf ga: r keinen fall.. a: : : lso wirklich & abrupter Unterbruch in der Äusserung, z. B. ver& .. ja sie haben es vermieden ( ) unsichere aber wahrscheinliche Transkription, z. B. das ist schon möglich .. aber (leider) hab ichs noch nirgends gesehen 3.1 Datenerhebung 105 <?page no="106"?> (()) Extralinguistische nonverbale Elemente des Sprechers / der Spre‐ cherin, z. B. ((lacht)) oder ((es klopft)) GROSS‐ BUCH‐ STABEN es wird lauter gesprochen, z. B. das ist TOTAL nutzlos °punkte° es wird leiser gesprochen als in der restlichen Konversation, z. B. das weiss ich nicht .. es kann zwar schon sein .. °vielleicht° > < < > raschere Äusserung als restliche Konversation langsamere Äusserung als restliche Konversation, z. B. RG: du kannst doch nicht weitermachen als > ob nix passiert < wäre NM: natürlich nicht .. aber <man muss doch nicht immer> alles auf den kopf stellen / steigende Intonation \ sinkende Intonation = Aneinanderreihung von Äusserungen versch. SprecherInnen ohne Unterbruch, z. B. AB: weisst du noch beim= CD: =ski fahren damals. ja klar .. [] gleichzeitige Äusserungen, z. B. AB: ich habe noch [nie auf einem] CD: [doch. ich habe] schon oft damals. ja klar (.h) hörbares Einatmen <de/ …/ de> <en/ …/ en> <it/ …/ it> <fr/ …/ fr> <sch/ …/ sch> Aussage in einer Sprache, die nicht derjenigen des Interviews ent‐ spricht, z. B. ho guardato un po’ più che altro erano <de / wohnge‐ meinschaft / de> (ich habe ein wenig geschaut vor allem waren es <de / wohngemeinschaft / de>) de: Deutsch, en: Englisch, it: Italienisch, fr: Französisch, sch: Schwei‐ zerdeutsch 00: 05: 29.9 Angabe, zu welchem Zeitpunkt während der Aufnahme die Aussage gemacht wurde, z. B. hier nach der 5. Minute, 29. Sekunde und dem 9. Hundertstel { } Anonymisierte Angabe (von Orten, Namen …) Table 3: Übersicht Transkriptionskonvention Werden Ausschnitte aus Transkriptionen verwendet, werden diese ins Stan‐ darddeutsche übersetzt. Original und Übersetzung werden so dargestellt, dass es beim Lesen möglich ist, beide parallel vor Augen zu haben. Bei der Überset‐ zung orientiere ich mich am Original, ohne die Struktur der Originalsprache zu übernehmen. D.h., dass ich bei der Übersetzung funktional-pragmatisch vorge‐ gangen bin und die Nachvollziehbarkeit der vollständigen Äusserung vor die 3 Methodologische Grundlage 106 <?page no="107"?> Nachvollziehbarkeit der Einzelfunktion einzelner sprachlicher Elemente gestellt habe. Ist für das Verständnis des Zusammenhangs eine Ergänzung notwendig, wird diese mittels eckiger Klammern [] in der Übersetzung eingebaut. Im Folgenden werden die Interviews anhand der „Sites“ aufgelistet. In Klam‐ mern ist jeweils die stark variierende Dauer der Interviews vermerkt. Während Interviews mit zukünftigen Studierenden am Informationstag im Tessin nur wenige Minuten dauerten, in denen ich ihnen, etwa nachdem ihnen ein Studi‐ enfach präsentiert worden war, einige Fragen stellte, besonders die, ob sie sich für oder gegen Mobilität entscheiden, beanspruchte das Interview mit der Or‐ ganisatorin des im Tessin stattfindenden Informationstags über zwei Stunden. Italienischsprachige Studierendenorganisation in Bern • Interview mit Präsidentin (120 min) Studierende an verschiedenen Universitäten (Luzern, Zürich, Lugano) • 13 Interviews mit Studierenden aus dem Tessin, die sich im Fragebogen dazu bereit erklärt hatten. Mit drei dieser Studierenden fand mehr als ein Mal ein Gespräch statt (15 h und 30 min). Informationstage an verschiedenen Schweizer Universitäten (Deutschschweiz und Tessin) • 6 Interviews mit potentiellen Studierenden am Informationstag im Tessin (ca. 20 min) • 4 Interviews mit Delegierten der verschiedenen Universitäten (ca. 35 min) Im Marketing-/ Kommunikationsbereich der Universitäten tätige Personen: • Marketingmanager Universität Luzern (85 min) • Organisatorin des im Tessin stattfindenden Informationstags (130 min) • Kommunikations- und Marketingverantwortliche der Università della Svizzera Italiana (45 min): dieses Gespräch entstand ad hoc in der Mensa am Informationstag im Tessin und wurde nicht aufgezeichnet. Stattdessen wurden Notizen gemacht. • Marketing Universität Bern: Wegen Zeitmangels musste dieses Interview in schriftlicher Form geführt werden. 3.1 Datenerhebung 107 <?page no="108"?> 3.2 Datenanalyse: ethnographisch, interaktionell, diskursiv und kritisch Wie erwähnt liefen bereits bei der Datenerhebung analytische Schritte ab. Die im Feld gewonnenen Erkenntnisse veranlassten mich dazu, die Erhebung lau‐ fend anzupassen. Im nächsten Schritt geht es nun darum, das Beobachtete zu kontextualisieren, mit den Rahmenbedingungen in Zusammenhang zu bringen und die produzierten Daten im Detail zu interpretieren und zu verstehen. Nur so gelangt man von einer „thick description“ (Geertz 1975) zu einer „thick ana‐ lysis“ (Evers & van Staa 2010). Die folgenden Abschnitte sollen aufzeigen, wie die Daten analytisch angegangen werden. Wie gelingt es, die sozial und diskursiv konstruierte Realität in ihrer Kom‐ plexität zu beschreiben? Gemäss Clifford Geertz zeichnet sich ethnographisches Analysieren dadurch aus, dass man Praktiken und deren über die Einzelhand‐ lung hinausgehendem Symbolcharakter auf den Grund geht. Dieses Unter‐ fangen ist nicht geradlinig. Doing ethnography is like trying to read (in the sense of ‘construct a reading of ’) a manuscript - foreign, faded, full of ellipses, incoherencies, suspicious emendations, and tendentious commentaries, but written in … transient examples of shaped beha‐ viour. (Geertz 1975: 10) EthnographInnen sind also gefordert, eine Lesart zu entwickeln, die ihren Daten, die aus der Buntheit des komplexen alltäglichen Lebens stammen, gerecht wird (Giddens 1984). In den folgenden Abschnitten wird erst die für diese Arbeit dienliche Lesart beschrieben, mit deren Hilfe die erhobenen Daten analysiert werden. Auch wird erläutert, wie der Status der Daten geprüft wird. Danach wird dargestellt, wie welche Daten operationalisiert werden. Eine Kombination analytischer Herangehensweisen scheint fruchtbar, um der heterogenen Materialität der Daten gerecht zu werden. Durch die Vereini‐ gung eines ethnographischen, eines interaktionellen und eines diskursanalyti‐ schen Ansatzes soll es gelingen, die Notizen aus dem Feld, die interaktionellen und diskursiven Daten kritisch zu untersuchen und danach die im voraus‐ gehenden Kapitel formulierten Leitfragen zu beantworten. Die Leitfragen ver‐ langen das Verstehen diskursiver (z. B. Wer wirbt wie für die studentische intra-nationale Mobilität? ) wie auch sozialer Praktiken (z. B. Wie kommen Tes‐ siner Studierende mit der Mobilitätssituation zurecht? ). Werden beide berück‐ sichtigt, gelingt es schliesslich, den Stellenwert der Sprache in diskursiven und 3 Methodologische Grundlage 108 <?page no="109"?> 38 SPEAKING steht für Setting, Participants, Ends, Act sequence, Key, Instrumentalities, Norms of interaction und Genres (vgl. Hymes 1972). sozialen Praktiken im Zusammenhang mit der studentischen Mobilität im schweizerischen Hochschulsystem zu beleuchten. Die Verknüpfung ethnographischer und diskursanalytischer Verfahren be‐ gann vor gut 50 Jahren, als Dell Hymes, Linguist und Anthropologe, die „eth‐ nography of speaking“ entwickelte, die er später als „ethnography of commu‐ nication“ (1962, 1964, 1974) bezeichnete. Davor war unter EthnographInnen das Aufzeichnen verbaler Daten kaum üblich gewesen. Stattdessen waren anhand von Beobachtungen Beschreibungen angefertigt worden. Diejenigen, die Sprache einbezogen hatten, hatten sich auf ritualisierte und monologische Formen von Sprache konzentriert. Hymes veränderte dies mit seinem SPEA‐ KING -Modell 38 , und zwar zu der Zeit, als das portable Aufnahmegerät sich ver‐ breitete. In den 70er-Jahren wurden mehrere ethnographische Projekte durch‐ geführt, die interaktionelle Daten beinhalteten und auf Hymes’ Modell basierten. Eine solche anthropologische Sicht auf Kommunikation hatte zur Folge, dass sprachliche Form und deren Funktion als Analyseeinheit behandelt wurden (vgl. Gumperz & Hymes 1972). Zudem wurden verbale, non-verbale und -vokale Kommunikation betrachtet, was bedeutete, dass Konversationsinternes und -externes aufgegriffen wurden (vgl. Cameron 2001; Saville-Troike 2003). Hymes’ Modell hilft EthnographInnen dabei, systematisch mit verbalen Daten umzugehen, ist aber nicht als „Rezept“ zu verstehen. Auch gestattet es kaum, zu ergründen, weshalb gewisse „speech events“ vorkommen und diese gewisse Eigenschaften aufweisen. Dennoch ermöglicht das Gerüst von Hymes EthnographInnen, die nicht nur an Sprache per se interessiert sind, Situationen, die Sprache involvieren (z. B. Interview oder teilnehmende Beobachtung), zu interpretieren und besser zu verstehen (Cameron 2001: 54-66). Dank Hymes’ Modell gelingt es, z. B. das Interview und die daran beteiligten SprecherInnen zu situieren, d. h. zu prüfen, welche Rolle diese darin übernehmen, wie sie sich positionieren und welcher sprachlichen Norm sie folgen (vgl. Atkinson et al. 2011). Mündliche Interaktion, wie sie in Interviews oder zwischen Akteuren im Feld vorkommt, kann ausserdem aus einer interaktionellen soziolinguistischen Per‐ spektive betrachtet werden. Dabei wird ersichtlich, wie sprachliche Variation gewisse SprecherInnen oder Gruppen von SprecherInnen kennzeichnet. Gumperz (1982b) etwa spricht in diesem Zusammenhang von „contextualization cues“. Damit meint er eine gewisse Prosodie (Betonung, Stimmlage, Intonation), einen parasprachlichen Hinweis (z. B. Sprechtempo, Pausen) oder einen Sprach- 3.2 Datenanalyse: ethnographisch, interaktionell, diskursiv und kritisch 109 <?page no="110"?> 39 Z. B. werde ich vom Interviewten als fremdsprachige Interviewerin behandelt (gemäs‐ sigtes Sprechtempo, Übersetzungen von Begriffen ins Deutsche …). oder Registerwechsel (z. B. Italienisch zu Schweizerdeutsch oder „verschwei‐ zerdeutschtes Italienisch“). Anhand solcher Hinweise wird erkennbar, wie an einer Konversation Beteiligte (Sprechende und Hörende) „foreground or make relevant certain aspects of background knowledge and underplay others“ (Gumperz 1982b: 131). Das Analysieren solcher „Cues“ ist fruchtbar, um zu ver‐ stehen, welche Art von „Talk“ von wem unter welchen Bedingungen gegenüber wem produziert wird, oder anders gesagt, welches situierte Verständnis in der vorliegenden kommunikativen Handlung Gültigkeit hat (vgl. Cicourel 1974; Briggs 1986; Heller 2008). „Cues“ geben z. B. in Interviews zwischen italofonen Studierenden und mir Einblick in die interpretative und ideologische Basis des kommunikativen Events 39 (vgl. Gumperz 2005). Dies erlaubt eine „contextuali‐ zation“ des kommunikativen Kontexts, ohne dass dieser als gegeben erachtet wird. Es lohnt sich aber, über die „contextualization cues“ hinauszugehen, wenn wir eine diskursive Realität ergründen wollen, wie sie im Zusammenhang mit der studentischen Mobilität konstruiert wird. Denken wir an eine Interview‐ situation, also eine Interaktion zwischen Forschenden und Erforschten, kann dieses Zusammentreffen auch als „performance“ gedeutet werden. Laut Goffman (1959) stellt die „performance“ irgendeine Aktivität dar, an der Per‐ sonen beteiligt sind. Durch die „performance of the self “ handeln diese inter‐ agierend Identitäten aus. In einem Interview etwa sind sowohl die interviewte Person als auch die Ethnographin in „framed activities“ eingebunden, „con‐ cerned with giving meaning to experience“ (Kapchan 1995: 483). Bauman und Briggs (1990: 72) zeigen auf, wie als Teil dieser „performance“ sprachliche Elemente aus „social and cultural contexts of production and re‐ ception“ dekontextualisiert werden („decontextualization“) und Eingang in neue Kontexte finden („recontextualization“), wobei ihrem neuen Gebrauch („entex‐ tualization“) oft noch etwas vom „vorausgehenden“ Kontext anhaftet (vgl. Sil‐ verstein & Urban 1996). So mögen etwa Studierende im Interview den Begriff „Mobilität“ benutzen, wobei dessen Interpretation, wenn sie ihn gebrauchen, auf vorausgehenden Auslegungen ruht (die z. B. in von den Universitäten pro‐ duzierten Broschüren vorkamen) und die jeweilige Verwendung u. a. mit dem Zweck und den Interessen der kommunikativen Situation und der darin zu er‐ füllenden „performance“ zusammenhängt. Das Ergründen von Prozessen, die beim Zusammentreffen von Ethnographin und AkteurInnen im Feld in der „performance“ und in der dabei verwendeten Sprache ablaufen, scheint ergiebig, 3 Methodologische Grundlage 110 <?page no="111"?> 40 Diese Freiheit ist zugleich die Herausforderung, eigene Möglichkeiten der Operationa‐ lisierung von Foucaults Lesart auszuarbeiten. um (Sprach-)Ideologien und Logiken zu verstehen, auf denen kommunikative Praktiken basieren. Um zu verstehen, was von den Akteuren im Feld „decontextualized“, „recon‐ textualized“ und „entextualized“ wird, muss der Diskurs rund um die studenti‐ sche Mobilität im Schweizer Hochschulkontext fokussiert werden. Zu diesem Zweck bediene ich mich eines auf Foucault basierten diskursanalytischen An‐ satzes. Aus mehreren Gründen ist die Art, wie Foucault einen Diskurs angeht, für den vorliegenden Kontext geeignet (für eine Übersicht der Ansätze vgl. Schiffrin et al. 2008). Erstens schlug Foucault eine bestimmte Sichtweise vor, mit der sich Diskurse lesen lassen. Er bot aber kein Modell an, dem es bei der Ana‐ lysearbeit zu folgen gilt, was den zahlreichen Forschenden, die sich seiner Lesart bedienten, die Freiheit liess, eine ihrem Vorhaben angepasste Vorgehensweise zu entwickeln 40 . Zweitens ist dieser Ansatz mit der im vorausgehenden Kapitel erläuterten kritischen Soziolinguistik insofern kompatibel, als sich Sprache und deren Funktion und Gebrauch in Bezug auf Prozesse des Machtausübens, -zu‐ schreibens oder -absprechens untersuchen lassen und somit vorliegende dis‐ kursive Praktiken (z. B. Vermarktung von Mobilität gegenüber Studierenden) mit umfassenderen gesellschaftlichen Prozessen in Verbindung gebracht werden können. Diese schliessen (Sprach-)Ideologien und politisch-ökonomi‐ sche Bedingungen mit ein. Drittens gestattet es Foucaults Ansatz, dominante und marginalisierte Diskurse herauszuarbeiten. Laut Foucault (1972: 67) können Diskurse nämlich als „pratiques“ angesehen werden, „qui forment systémati‐ quement les objets dont ils parlent“. Gemäss ihm befasst sich die Diskursanalyse folglich nicht „nur“ damit, wie - d. h. mithilfe welcher linguistischen Mittel - etwa über studentische Mobilität gesprochen, geschrieben etc. wird. Sie setzt sich auch damit auseinander, was zu einem bestimmten Zeitpunkt sagbar ist und wie über etwas (nicht) geredet wird oder werden darf / kann. Gemäss Foucault filtern Diskurse das Sagbare, d. h. die legitimen Aussagen eines bestimmten „Jetzt“. Aussagen - als Basis der Diskurse - werden dazu erhoben, gewisse Ord‐ nungen zu bilden, Grenzen des Sagbaren zu definieren und Wissensobjekte zu produzieren. Diese Aussagen bringen reale Konsequenzen mit sich, da sie zu einem spezifischen Zeitpunkt als gültiges Wissen - als „Wahrheit“ - gehandelt und somit mächtig werden (Foucault 1977). Foucaults Verständnis von Diskurs ist somit eng mit dem Machtbegriff ver‐ knüpft. Ihm zufolge strukturiert Macht Diskurse. Gleichzeitig legitimiert sich Macht über Diskurse. Diskurse sind laut Foucault als historisch veränderlich zu 3.2 Datenanalyse: ethnographisch, interaktionell, diskursiv und kritisch 111 <?page no="112"?> verstehen und basieren auf dem Zusammenspiel von Sprache, Macht und Wissen (Hall 2001). Dieses Zusammenspiel zeigt Foucault z. B. in seinem Werk „L’histoire de la Sexualité“ (Foucault 1976). In seiner Untersuchung der Entwicklung von Dis‐ kursen und Wissen über Sexualität stellt er dar, wie Macht funktioniert. „Gé‐ néalogie“ nennt Foucault seinen methodologischen Ansatz, der die in der „ar‐ chéologie“ entfaltete Machtfrage akzentuiert (Sarasin 2005). Sein Ansatz dient ihm dazu, Macht-Wissens-Verhältnisse in ihrer historischen Gewordenheit zu untersuchen. Foucault versteht Diskurse somit als Machteffekte, die historisch zu verorten sind. Diskurse, die heute die Maske der neutralen, universellen und wahren Evidenz tragen, lassen sich mit Foucaults Methode demaskieren, ein Vorgehen mit einer kritischen Komponente (vgl. Eribon 1991; Veyne 2003). Diese genealogischen Überlegungen sind für die vorliegende Arbeit gewinn‐ bringend, da sie eine Deneutralisierung der studentischen Mobilität bewirken. Die erhobenen Daten sollen dazu beitragen, die Macht, die der Sprache und der Mobilität heute im Hochschulkontext zukommt, zu erhellen. In Anlehnung an Foucault ist ein solches Begreifen nur möglich, wenn die Historizität der stu‐ dentischen Mobilität berücksichtigt wird. Dafür wurde im vorausgehenden Ka‐ pitel bereits Vorarbeit geleistet. Zudem findet sich in den Interviews eine weitere Form von Historizität. Diese ist an den (Re-)Konstruktionsprozess gekoppelt, den Gesprächspartner durchlaufen, wenn sie sich zu ihren mit der Mobilität zusammenhängenden Praktiken äussern. Anhand der Sprache können wir Interaktionen und Diskurse ergründen. Wie steht es jedoch mit Praktiken, die nicht über Sprache ablaufen? Wenn wir auf die Konsequenzen des mächtigen Diskurses achten, so erkennen wir, dass sich diese nicht „nur“ in Interaktionen widerspiegeln, sondern auch in anderen so‐ zialen Praktiken. Veranstaltet der italienische Studierendenverein in Bern z. B. eine Party, die vorwiegend auf DeutschschweizerInnen ausgerichtet ist, fördert diese zwar die Kommunikation; der Verein wirbt damit für sich selbst und den Anlass. Aber es spielen auch andere Praktiken eine Rolle, die sich nicht in In‐ teraktionen niederschlagen. An der Party legt ein DJ bestimmte Musik auf, wählt ein gewisses Volumen, die BesucherInnen tanzen dazu, verteilen sich auf be‐ stimmte Weise auf der Tanzfläche. Aufgezeichnet habe ich derartige Praktiken - wie bereits erwähnt - in meinen „Notizen aus dem Feld“. Wie lassen sich diese nun analysieren? Emerson et al. (1995, 2001) bieten eine inspirierende Grundlage, mit der man Feldnotizen angehen kann. Ihre analytische Herangehensweise orientiert sich nicht (wie so manche andere) an der „grounded theory“. Stattdessen betonen 3 Methodologische Grundlage 112 <?page no="113"?> 41 Die Analyse ist also zugleich inals auch deduktiv (Emerson et al. 1995: 142-144). sie, dass in der Analyse alle Phasen der Forschung erkennbar würden 41 . Dazu gehören: Die Theorie, der sich die Forschenden verpflichten, die Feldnotizen, die gemachten Beobachtungen, das Suchen nach Kategorien, das Entwickeln von Resultaten und theoretischen Entwürfen. Meine theoretischen Konzepte (Mobilität, politische Ökonomie, Sprachideologie) finden folglich ebenso Ein‐ gang in die Analyse wie Foucaults Diskurs-Ansatz. Letzterer ist insofern auch auf nicht-diskursive Praktiken übertragbar, als die realen Konsequenzen, welche die mächtigen Aussagen der Diskurse mit sich bringen, z. B. auch in der „per‐ formance“ auf der Tanzfläche sichtbar werden (Wer nimmt beim Tanzen wel‐ chen Raum ein und wer singt bei den gespielten Songs mit? Welche Handlung ist situativ legitim und gewissermassen diskurskonform? ). 3.2.1 Anwendung der analytischen Ansätze Nachdem ich ausgeführt habe, welche analytischen Ansätze für die vorliegende Arbeit kombiniert werden, zeige ich in den folgenden Abschnitten, wie ich diese für die jeweiligen Daten nutzbar mache und welche „analytischen Schritte“ ich dabei vornehme. Die Abfolge der drei Unterkapitel soll nicht den Eindruck er‐ wecken, die Daten seien strikt nacheinander analysiert worden. Bei der Analy‐ searbeit setzte ich mich simultan mit verschiedenen Datentypen auseinander, um die vorliegenden Praktiken zu interpretieren. 3.2.1.1 Analyse der Notizen und Aufnahmen aus dem Feld In einem ersten Schritt wurden die Notizen aus dem Feld geordnet und sowohl physisch als auch elektronisch so abgelegt, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt ohne Schwierigkeiten wiederauffindbar waren. Wer eine solche Ordnung ent‐ wickeln will, muss alle Notizen lesen und verschiedene Sortiersysteme auf ihre Tauglichkeit hin testen. Nach einigen Versuchen entschied ich mich dafür, die Feldnotizen meiner teilnehmenden Beobachtung chronologisch zu ordnen. Diese Organisation der Daten anhand der zeitlichen Achse war aus verschie‐ denen Gründen vorteilhaft: Erstens erleichterte sie es mir, die Verweise der Ak‐ teure auf vergangene und zukünftige Anlässe nachzuvollziehen. Zweitens war es für mich einfacher, jene Notizen und Skizzen zu deuten, die untereinander verknüpft sind. Aus ihrer chronologischen Ordnung wird ersichtlich, wie ich mit zunehmender Felderfahrung mit den Praktiken vertrauter wurde, ein Ge‐ winn, der sich in meinen Notizen widerspiegelt. Drittens lässt die chronologi‐ 3.2 Datenanalyse: ethnographisch, interaktionell, diskursiv und kritisch 113 <?page no="114"?> sche Lektüre erkennen, wie sich die Beziehungen im Feld mit der Zeit entwickelt haben. Nach dieser Ordnungsarbeit wurden die Notizen aus dem Feld als Set gelesen. Dies erlaubte mir, Berichte über Anlässe, die über mehrere Monate verteilt waren, in einigen Stunden zu lesen, und trug mir ein tieferes Verständnis des gesamten Sets ein (Emerson et al. 1995, 2001). Praktiken, die ich vorher für ein‐ malig gehalten hatte, erwiesen sich als vergleichbar. Und im Gegenzug gelang es mir so, Einzigartiges zu identifizieren. Nach dieser ordnenden und deutenden Lektüre stellte ich an meine Notizen Fragen, die darauf abzielten, zu verstehen, was im Feld passierte (z. B. Was ma‐ chen die Akteure? Welche Ziele verfolgen sie dabei? Wie gehen sie vor? Welche Strategien haben sie? Wie reden sie darüber, wie verstehen sie ihre eigenen Praktiken (vgl. Hymes’ Speaking Modell 1972)? Wie verstehe ich diese Vor‐ gänge? ). Diese Fragen - sie basieren auf Hymes (1972), Emerson et al. (1995: 146-148) und Hammersley und Atkinson (1995) - führten zur Annotation meiner Notizen bzw. zu Codes. Dadurch gelang es, über den einzelnen Anlass hinauszugehen und generellere theoretische Dimensionen zu erkennen. Auch hier muss angefügt werden, dass ich die Feldnotizen auf dem Hintergrund meiner theoretischen Konzepte und meines Forschungsinteresses kodierte. So lag das Augenmerk jeweils darauf, ob und welche Sprachideologien sich in den sozialen Praktiken zeigten, inwiefern die Akteure auf dem sprachlichen Markt (welche Form von) Kapital erwürben und wie soziale mit diskursiven Praktiken zusammenhingen (Welches Verhalten ist konform? ). Aus den zahlreichen Codes vermochte ich zentrale Themen zu identifizieren (Z. B. wurden Annotationen wie „spöttische Imitation der Deutschschweizer“, „Betrachten und urteilendes Kommentieren von Deutschschweizern beim Schwingfest“ unter dem mir zentral erscheinenden Thema „Normierung der DeutschschweizerInnen im Tessiner Verein“ zusammengefasst.). Nach dem He‐ rausarbeiten solcher Themen wurden die Notizen aus dem Feld neu organisiert. Ich kopierte meine Notizen, sortierte sie nach Themen und setzte sie demgemäss zusammen. Dies brachte den Vorteil mit sich, dass vormals separate Events unter dem Dach solcher Themen miteinander in Verbindung gebracht wurden. An‐ hand dieser Anordnung konnte ich erneut kodieren, und es liessen sich Sub‐ themen ableiten. Da es sich um Kopien der vormals chronologisch geordneten Notizen und Skizzen handelte, verfügte ich nun über zwei unterschiedlich or‐ ganisierte Sets derselben. Für die Analyse der Tonaufnahmen aus dem Feld (z. B. Vorstandssitzung), zu denen ich mir ergänzende Notizen gemacht hatte, war der erste Schritt das er‐ neute Anhören. Danach erfolgte die Transkription. Dieser sehr zeitaufwändige 3 Methodologische Grundlage 114 <?page no="115"?> Prozess bewirkte eine enge Vertrautheit mit den Daten. Es wurde beim Tran‐ skribieren auch deutlich, welche Angelegenheiten für die Akteure im Feld re‐ levant und wie diese miteinander verkettet waren. Ferner wurde z. B. erkennbar, dass den italienischsprachigen Studierendenverein in Bern seine finanzielle Lage beschäftigte. Dies ist nicht davon zu trennen, wie und wann der Verein sich wem gegenüber geöffnet hatte. Solche Beobachtungen wurden beim Tran‐ skribieren notiert. Danach erfolgten die mehrmalige Lektüre und die Annotation der Transkripte. Das SPEAKING -Modell von Hymes (1972) bot sich an, die kommunikativen Ereignisse, welche Gegenstand der Tonaufnahmen darstellten, global zu rekon‐ struieren, zu situieren und zu interpretieren. Das Beachten von „contextualiza‐ tion cues“ (vgl. Gumperz 1982b) trug dazu bei, zu verstehen, wie die Akteure die kommunikative Situation interpretierten. Mithilfe der „entextualization“ (vgl. Silverstein & Urban 1996) gelang es, über die Situation hinaus zu erkennen, welche Themen wie zirkulieren, wie sie sich wiederholen oder verändern. Aus‐ serdem dienten die auf Foucault basierenden diskursiven Konzepte der Er‐ kenntnis, welche „Wahrheiten“ an der Macht waren, in der vorliegenden „per‐ formance“ sag- und hörbar wurden bzw. welche „illegitimen“ Aussagen marginalisiert wurden. 3.2.1.2 Analyse der institutionellen Dokumente Auch die institutionellen Dokumente wurden nach mehrmaliger Lektüre erst sortiert und nach Möglichkeit den Anlässen zugeordnet, für welche sie produ‐ ziert worden waren. So wurden etwa die am Informationstag der Universität Zürich gesammelten Broschüren den Feldnotizen beigelegt, die an diesem Tag gemacht worden waren. Durch dieses Sortieren entstanden „Pakete“, die Doku‐ mente rund um einen Anlass enthielten (Werbung, Notizen, Presseartikel, Kor‐ respondenz etc.). In einem weiteren Schritt wurden an jedes Dokument Fragen nach der Autorschaft (z. B. Universitätsmarketing), den Adressaten (z. B. poten‐ tielle Studierende), dem Zweck (z. B. Anziehung von Studierenden) und der Form (z. B. Broschüre) gestellt. Die Antworten wurden auf dem jeweiligen Do‐ kument vermerkt, was es erlaubte, dessen Produktionshintergrund zu rekon‐ struieren. Die institutionellen Dokumente umfassen verschiedene Arten von Material (für eine Übersicht siehe Table 2): Einerseits gehören dazu Dokumente, die u. a. textbasiert sind: Werbematerial, informatives Material, „offizielle“ Dokumente, Pressematerial, SMS etc. Anderseits zählen dazu visuelle und gegenständliche Artefakte: Fotos, Plakate, Flyers etc. Selbstverständlich sind nicht alle Doku‐ mente ausschliesslich der einen oder der anderen Kategorie zuzuordnen. Viel‐ 3.2 Datenanalyse: ethnographisch, interaktionell, diskursiv und kritisch 115 <?page no="116"?> mehr bestehen sie etwa aus Text, Bild und einer gewissen Materialität (z. B. Poster, Werbeplakat, -tasche), Komponenten, die interagieren. Wie die fol‐ genden Abschnitte zeigen, hängen die Analysen sowohl textbasierter als auch jene visueller / gegenständlicher Dokumente zusammen. Nachdem ich ein ganzheitliches Gefühl für meine institutionellen Doku‐ mente, besonders für Elemente der Sprachgrenzen überschreitenden studenti‐ schen Mobilität erlangt hatte, begann ich erste Diskursobjekte und Themen zu identifizieren (z. B. Mobilität ist unabdingbar, Mobilität als ökonomische Absi‐ cherung, als Herausforderung …). Diese liessen sich in einem weiteren Schritt verfeinern (z. B. Finden eines Zimmers in einer Wohnungsgemeinschaft als Nicht-SchweizerdeutschsprecherIn). Dieses schrittweise Verfahren wiederholte ich, bis ich sogenannte Aussagen identifiziert hatte, die den herrschenden Dis‐ kurs ausmachten und darin zirkulierten (Z. B. erklärten sowohl Universitäten als auch Studierende, Sprachkompetenzen seien ein Vorteil auf dem Arbeits‐ markt.). Weiter ging ich den diskursiven Strategien auf den Grund, die dem Diskurs dienten. Dabei fragte ich mich, ob und - wenn ja - aus welchen Gründen es im Diskurs Lücken, d. h. mit der Thematik Verknüpftes gab, das in meinen Daten nicht zu finden war (Z. B. thematisierten die meisten Universitäten ausschliess‐ lich die sprachliche Unterstützung von TessinerInnen, nicht aber diejenige für Studierende aus der Westschweiz.). Ausserdem ging ich den Konsequenzen auf den Grund, welche die identifizierten, „mächtigen“ Aussagen für wen mit sich brachten (Z. B. begründeten Studierende eher das Im-Tessin-Bleiben als das Ver‐ lassen des Tessins.). Ich versuchte ausserdem, diese aktuellen und scheinbar „wahren“ Aussagen in ihrer Historizität zu verorten, d. h. sie auf dem Hinter‐ grund vergangener Diskurse zu betrachten (vgl. Kapitel 2). Für die Analyse der gegenständlichen und visuellen Artefakte orientierte ich mich an Methoden aus der visuellen Anthropologie und Soziologie. Ihre Per‐ spektiven auf Bilder, auf deren Materialität, Zirkulation und Interpretation er‐ wiesen sich als fruchtbar (vgl. Barthes 1964; Pink 2004, 2012). So gelang es u. a., das Verhältnis zwischen der Form und dem Inhalt visueller Elemente zu hinter‐ fragen. Ausserdem wurde die Materialität des visuellen Bildes und jene von dessen Kontext betrachtet, was zum Verständnis des sozialen Gefüges beitrug, in welcher das visuelle Dokument figurierte (vgl. Banks 2001: 52). Ebenso bezog ich in meiner Analyse die räumliche Anordnung von Text-, Typographie- und Bildelementen mit ein. Diese Betrachtungsweise beleuchtete, wie diejenigen, die diese visuellen Artefakte geschaffen haben, die Welt (und die darin vorherr‐ schenden Sprachideologien) interpretieren und welche Elemente sie darin vi‐ suell privilegieren (Z. B. welches Bild wird in welcher Umgebung wie platziert 3 Methodologische Grundlage 116 <?page no="117"?> 42 Briggs (2000) schlägt vor, Interviews nicht bloss als Instrumente zu behandeln, sondern sie als Forschungsobjekte zu betrachten. und von welchen sprachlichen Elementen in welcher Sprache und in welchem Schriftstil begleitet? ). Auch bei der Analyse visueller Elemente lag der Fokus darauf, zu verstehen, wie der Diskurs sich manifestiert. Somit ergründete ich, welche visuellen Aus‐ sagen Teil des herrschenden (oder allenfalls marginalisierten) Diskurses sind und geleitet von welchen Interessen dieser visuell betont wird (Z. B.: Unter wel‐ chen Bedingungen wird ein Farbfoto einer Tessiner Studentin relevant, die vor dem Vierwaldstättersee unter strahlend blauem Himmel posiert? ). Ausserdem wurde geprüft, welche visuellen Elemente worauf verweisen (Z. B.: Kann eine Flagge aus dem Tessin in einer Broschüre für „wir sprechen hier auch italienisch“ stehen? vgl. „iconization“, Kapitel 2), wie diese zirkulieren und deren Bedeutung sich verändert (vgl. „entextualization“, Silverstein & Urban 1996). 3.2.1.3 Analyse der Interviews Wie die Tonaufnahmen von Sprechanlässen im Feld wurden auch die Interviews erst nochmals angehört. Auf Basis der Notizen und Memos, die unmittelbar nach den Interviews verfasst worden waren, wurde entschieden, welche davon trans‐ kribiert werden sollten. Beim Transkribieren erwiesen sich die Memos und No‐ tizen als hilfreich, die unmittelbar nach dem Interview verfasst worden waren und auf einige von Hymes’ Fragen, die seinem SPEAKING -Modell zugrunde liegen, Antwort gaben. Diese Memos und Notizen erleichterten es ausserdem, akustisch undeutliche Stellen zu verstehen. Auch konnte mit deren Hilfe jedes Interview in seiner Ursprungssituation verankert werden (vgl. Skinner 2014). Teil dieser Situation waren u. a. die gestellten Fragen, die gegebenen Antworten, die Beziehung der Beteiligten und eben nicht bloss die „referential function“, wie sie Briggs (1986: 42) nennt. Verschiedene Interviews führen zu unterschied‐ lichen Ergebnissen. Diese sind aber nicht mehr oder weniger echt, sondern wi‐ derspiegeln verschiedenartige soziale Situationen (vgl. Briggs 1986; Mason 2002). Nach dem Transkribieren nützte mir ein „literal reading“ (Mason 2002: 149), zu verstehen, wie im je vorliegenden Interview „Sprache“ verwendet wurde. Ausserdem half dieses Vorgehen, meine Rolle im Interview zu reflektieren und die von mir mit ins Interview gebrachten Sprachideologien zu ergründen (vgl. Briggs 2000) 42 . Danach begann ich die Transkripte zu annotieren. Ähnlich wie bei den No‐ tizen aus dem Feld notierte ich anschliessend Codes, die ich in einem weiteren 3.2 Datenanalyse: ethnographisch, interaktionell, diskursiv und kritisch 117 <?page no="118"?> Schritt Themen zuordnete (Z. B. wurden die Codes „schwierig“, „unerlernbar“ in Bezug auf den Deutschschweizer Dialekt zum Thema „natives Schweizer‐ deutsch“ zusammengefasst.). Die Interviews, aus denen ich dieselben Themen herauslas, sortierte ich neu, wobei ich ein System entwickelte, mit dessen Hilfe es mir gelang, jede einzelne Äusserung in ihrer Ursprungssituation zu verorten. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, Äusserungen aus ihrem situativen Kontext zu reissen (vgl. Cicourel 1974; Heller 2008). Für die Analyse der Interviews waren zudem die Überlegungen zu „perfor‐ mance“ und Foucaults Ansatz fruchtbar. Letzterer gab Anhaltspunkte, wie Aus‐ sagen als Wahrheit verhandelt werden oder dazu gemacht werden. Auch er‐ laubte er, zu ergründen, welche diskursiven Möglichkeiten welchen Akteuren als Teil ihrer „performance“ zur Verfügung standen, wenn sie über die aktuelle studentische Mobilität sprachen, und welcher Stellenwert Sprache in diesem Kontext zukam. 3.3 Abschliessende Bemerkungen zur Datenerhebung und -analyse Mein ethnographisches Projekt nahm sich der Komplexität an, die meinen Leit‐ fragen eigen war. Dazu gehörten das Berücksichtigen verschiedener „Sites“ und die darin produzierten Daten. Mein methodologisches Kapitel stellte den Ver‐ such dar, das „Chaos“ in eine für lesende, nicht an der Erhebung beteiligte Per‐ sonen nachvollziehbare Form zu bringen. Basierend auf den Ausführungen zur Erhebung wie auch zur Analyse (und den dafür wichtigen Ansätzen) werden in den folgenden Kapiteln die Leitfragen angegangen. 3 Methodologische Grundlage 118 <?page no="119"?> 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem als Grundlage für die Vermarktung von (Im-)Mobilität und Sprache: eine Analyse der institutionellen Praktiken im Bestreben nach Einzigartigkeit Ziel dieses Kapitels ist es, die erste Leitfrage analytisch anzugehen. Es gilt also, Promotionsdiskurse und -praktiken im Zusammenhang mit der studentischen Mobilität zu verstehen, Diskurse und Praktiken, die von im heutigen schwei‐ zerischen Hochschulsystem involvierten Institutionen produziert werden, und zu analysieren, welche Rolle die Sprache dabei spielt. Ferner ziele ich darauf ab, die diskursive Konstruktion zu ergründen, mittels deren der Wunsch nach Mo‐ bilität über Sprachgrenzen hinweg kreiert wird. Dabei widme ich mich der intra-nationalen Mobilität und im Besonderen Diskursen und Praktiken von in der Deutschschweiz liegenden Institutionen gegenüber der Tessiner Studieren‐ denpopulation. Meinen Ausführungen liegen Daten aus meiner ethnographi‐ schen Erhebung zugrunde (Ausschnitte aus Interviews mit an Universitäten Tä‐ tigen, Studierenden und GymnasiastInnen sowie mit OrganisatorInnen universitärer Informationstage; Dokumente zur Promotion von Universitäten; Gesetzestexte; Feldnotizen zur teilnehmenden Beobachtung), die es mir er‐ lauben, die Gegenstände der gestellten Fragen analytisch zu prüfen. Im Allge‐ meinen stehen Daten im Zusammenhang mit Universitäten in der Deutsch‐ schweiz im Vordergrund, da sie die für diese Arbeit zentrale studentische Mobilität aus der italienischsprachigen Schweiz beleuchten. Ist es für die Nach‐ vollziehbarkeit der Ausführungen hilfreich, wird punktuell auch auf Universi‐ täten in der Westschweiz oder jenseits der Schweizer Landesgrenzen verwiesen. Als besonders aufschlussreich erwiesen sich die erhobenen Daten der jüngsten Universität (Luzern) und die mit der Hochschulwahl zusammenhängenden Praktiken im seit zwei Jahrzehnten ebenfalls über Tertiärbildung verfügenden Tessin. Deshalb kommen Daten dieser beiden Bildungsstätten häufig vor. Die Konzentration darauf gibt darüber Auskunft, wie Transformationen die beste‐ hende Hochschullandschaft verändern, in der Tertiärinstitutionen sich um po‐ tentielle Studierende bemühen. Gleichzeitig lässt sich anhand einer Analyse der Diskurse und Praktiken älterer Universitäten deren Umgang mit neuer Kon‐ kurrenz ergründen. <?page no="120"?> Das Kapitel besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil (4.1) zeige ich auf, inwiefern Bildung und Wirtschaft (seit jeher) miteinander verbunden sind und wie gegenwärtig marktwirtschaftliche Lo‐ giken in einen Bereich wie den Hochschulsektor Eingang finden, der sich vor‐ mals nicht in diesem Ausmass durch Profitorientierung und Wettbewerb aus‐ zeichnete. Danach (4.1.1) skizziere ich, wie die Gesetze der Schweizer Hochschulen sich entwickelt haben und wie die marktwirtschaftlichen Prinzi‐ pien dabei stärker und stärker geworden sind. Letztere münden in einen Wett‐ bewerb unter den Hochschulen und definieren deren Finanzierung neu. Die Analyse meiner Daten erhellt eine Reihe von Praktiken (4.1.2.1-4.1.2.6), die ge‐ setzes- und somit wettbewerbskonform sind und von den Universitäten dazu eingesetzt werden, je ihre „Einzigartigkeit“ hervorzuheben. Sie versuchen so, sich von anderen - sehr ähnlichen - Institutionen zu unterscheiden und schliesslich Studierende davon zu überzeugen, immobil zu bleiben bzw. mobil zu werden. Im Rahmen dieser Analyse zeige ich u. a. auf, dass auch Sprache den Institutionen als zentrales Unterscheidungsmerkmal (vgl. Bourdieu 1979) dient und mit Praktiken zusammenhängt, welche die (Im-)Mobilität fördern. Im zweiten Teil lege ich dar, wie universitäre Akteure auf dem Hintergrund dieser Wettbewerbskultur potentiellen Studierenden gegenübertreten und ihnen eine „sichere Zukunft“ dank Mobilität und Spracherwerb versprechen (4.2). Diese ist eng an marktwirtschaftliche Prinzipien gebunden. Das heisst, dass der „sicheren Zukunft“ ein Verständnis zugrunde liegt, das sich am Arbeitsmarkt orientiert, in dem verschiedene Kapitalformen eingesetzt werden können. Mit‐ tels diskursiver Praktiken wird das Bedürfnis geschaffen, dank Sprache und Mobilität einer sicheren Zukunft entgegenzublicken. Weiter präsentiere ich, ge‐ stützt auf eine Analyse der institutionellen Dokumente der verschiedenen Uni‐ versitäten und der geführten Interviews, wie Mobilität propagiert wird und an der Sprache festgemacht ist. Dabei zeige ich auf, welche sprachliche und soziale Unterstützung potentiellen Newcomern versprochen wird. Abschliessend halte ich die zentralen Punkte des Kapitels fest (4.3). 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 120 <?page no="121"?> 4.1 Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft MM: h. aso üsi . üsi strategie isch dass mer eifach üsi vorteil usehebe/ . und ebe das isch d grössi . das isch de zentrali standpunkt wo mer hei . mir hei es relativ es homogens studieagebot wo de ou underenand vernetzt isch/ MM: .h also unsere . unsere strategie ist dass wir einfach unsere vorteile hervorheben/ . und eben das ist die grösse . das ist der zentrale standort den wir haben . wir haben ein relativ homogenes studienangebot das auch untereinander vernetzt ist/ Ausschnitt 1: Vorteile betonen, Juli 2014, Marketingmanager, Universität Luzern In diesem Statement - es stammt aus dem Interview mit einem Marketingma‐ nager ( MM ) der Universität Luzern - begegnen wir einem Vokabular (üsi strategie, unsere strategien; vorteil usehebe, vorteile hervorheben), das wir aus dem Wirtschaftssektor kennen. Der In‐ terviewpartner zählt Eigenschaften auf, welche die Universität Luzern von ver‐ gleichbaren Institutionen abheben. Seine Äusserung muss im Zusammenhang mit Entwicklungen ausserhalb des Hochschulsystems betrachtet werden. Wie Kapitel 2 aufzeigt, waren und sind Universitäten keine nach aussen abge‐ schirmten Organisationen. Vielmehr wirken sich gesellschaftliche Prozesse seit jeher auf Universitäten und die dort vorzufindenden Praktiken aus. So ist es nicht erstaunlich, dass sich zurzeit allgegenwärtige marktwirtschaftliche Lo‐ giken auch in der Äusserung des im Marketingbereich einer Universität Tätigen wiederfinden. In jüngster Vergangenheit hat der Wirkungsgrad der Marktlogik im Bil‐ dungsbereich zugenommen (z. B. Ruhloff 2007). Jedoch waren Bildung und Wirtschaft schon immer miteinander verbunden (vgl. u. a. 2.2.4.2 zur politischen Ökonomie), und zwar auch ausserhalb der tertiären Bildung. So ist etwa die Einführung der Schulpflicht, die im 19. Jahrhundert in ganz Europa durchgesetzt wurde, weniger als demokratisierende Bestrebung und demokratische Errun‐ genschaft (für die Schweiz siehe Gonon 1997), sondern mehr als eine Antwort auf den Druck zu verstehen, den damals die Industrie ausübte, der es an Fach‐ kräften mangelte (Holborow 2012). Im Verlauf des 20. Jahrhunderts näherten sich Bildung und Wirtschaft noch mehr an. Bildungsprozesse wurden so rekonfiguriert und rekonzeptualisiert, 4.1 Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft 121 <?page no="122"?> 1 Spring (1998) zeigt dies in seinem Buch „Education and the rise of the global economy“, in dem er sich mit Bildungspolitik in Europa, Asien und den Vereinigten Staaten aus‐ einandersetzt. 2 Polanyi (1944: 60) hat bereits in den 40er-Jahren dazu folgendes Statement gemacht: „Instead of economy being embedded in social relations, social relations are embedded in the economy.“ dass sie mit Unternehmensstrukturen und -interessen kompatibel waren 1 . Mit diesen Veränderungen gewann das Humankapital an Wichtigkeit. Dies zeigte sich z. B. dadurch, dass das Bildungsniveau mit dem potentiellen Lohn in Be‐ ziehung gesetzt wurde. Becker (1962: 9) formulierte dies so: „the activities that influence future real income through the imbedding of resources in people“. Bildung wurde somit zur Investition, die überwiegend dazu diente, die Ver‐ dienstmöglichkeiten des Individuums zu verbessern, Verdienstmöglichkeiten, für die nicht die Gesellschaft, sondern das Individuum verantwortlich wurde (Holborow 2012: 102). Die tertiäre Bildung war im 20. Jahrhundert sehr exklusiv; einer Elite wurde beigebracht, Macht auszuüben oder, mit anderen Worten, zu „regieren“. Ausserdem dienten akademische Leistungen dazu, hierarchische Ge‐ sellschaftsstrukturen zu legitimieren, wie Bowles und Gintis (1976) und Foster (2011) darstellen. Im angebrochenen 21. Jahrhundert wird „der Mensch“ zunehmend als wirt‐ schaftlicher Akteur angesehen. D.h., dass er als „homo oeconomicus“ gilt, und zwar immer und überall (Brown 2015). Gemäss Lemke (2001) ist die Übertragung wirtschaftlicher Logiken auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche - u. a. auf die Bildung - beobachtbar 2 , auch auf Bereiche, in denen Profit nicht immer vor‐ rangig war. In diesem Zusammenhang sprechen verschiedene AutorInnen von einem neoliberalen Paradigma, dessen Verwendung im Spätkapitalismus auf‐ gekommen sei. Damit verbundene Begriffe (z. B. „neoliberal“ oder „Neolibera‐ lismus“) werden eher von Kritikern als von Verfechtern gebraucht. Letztere be‐ vorzugen Alternativen (oder Euphemismen? ) wie z. B. „freier Markt“ oder „reduzierter oder minimaler Staat“ (Sparke 2015). Etliche Konzeptualisierungen von „Neoliberalismus“ sind im Umlauf, wobei je nach AutorIn und je nach dis‐ ziplinärer Herkunft des-/ derselben unterschiedliche Facetten hervorgehoben werden (vgl. Biebricher 2012). So verweisen einige AutorInnen mit dem Begriff „Neoliberalismus“ auf im 18. und 19. Jahrhundert populäre liberale Marktideale und auf das Wiederaufgreifen der Idee, Staatsinterventionen und Umvertei‐ lungsgedanken von Wohlfahrtstaaten im 20. Jahrhundert zu minimieren (daher auch das Präfix „neo“). Laut Harvey (2005: 19) ist Neoliberalismus hingegen „as an antidote to threats to the capitalist social order and as a solution to capita‐ 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 122 <?page no="123"?> 3 Harvey (2005) verfolgt den Aufstieg des Neoliberalismus seit dem zweiten Weltkrieg und interessiert sich insbesondere für die Periode zwischen 1970 und 1990. lism’s ills“ zu verstehen 3 . Wieder andere AutorInnen verbinden neoliberales und kapitalistisches Gedankengut. Ihnen zufolge lässt sich der Neoliberalismus durch Keywords wie „Deregulierung“, „Privatisierung“, „Vermarktung“ und „freier Handel“ beschreiben (vgl. Bourdieu 1998). Dardot und Laval (2013) haben ebenfalls einen Definitionsversuch gewagt und sehen Neoliberalismus als Pa‐ radigma, das zur Steigerung sozialer Ungleichheiten unserer Gesellschaft bei‐ trägt: Neoliberalism defines a certain existential norm […]. This norm enjoins everyone to live in a world of generalized competition; it calls upon wage-earning classes and populations to engage in economic struggle against one another; it aligns social rela‐ tions with the model of the market; it promotes the justification of ever greater inequalities; it even transforms the individual, now called on to conceive and conduct himor herself as an enterprise. For more than a third of a century, this existential norm has presided over public policy, governed global economic relations, trans‐ formed society, and reshaped subjectivity. (Dardot & Laval 2013: 3) Meiner Ansicht nach ist diese Formulierung zwar treffend, ich möchte aber er‐ gänzen, dass ich mit der oben stehenden „certain existential norm“ den Ideolo‐ giebegriff (vgl. Kapitel 2.2.4.3) verbinde. D.h., dass die Ideologie als neutrale und exklusive „Norm“ gehandelt und in „grands récits“ aufgenommen wird, die dann das System und die darin vorherrschenden Ideen dominieren und Praktiken le‐ gitimieren. Gemäss dieser Definition hält neoliberales Gedankengut Einzug in sämtliche gesellschaftlichen (öffentlichen wie auch privaten) Bereiche. Der Hochschulsektor ist davon nicht ausgenommen (vgl. Lohmann 2002; Ruhloff 2007), wo Marktmechanismen sich z. B. in Äusserungen wie derjenigen des in‐ terviewten Marketingmanagers in Luzern widerspiegeln. Weiter zeigen ver‐ schiedene AutorInnen auf, dass Universitäten neue Evaluationsverfahren (z. B. Standardisierung oder Audit) einführen, während der Staat nach wie vor dafür zuständig bleibt, die notwendigen Möglichkeitsbedingungen zur Selbstregulie‐ rung aufrechtzuerhalten (cf. Wilkins 2012; Brown 2015). Im Folgenden geht es nun darum, einen Blick auf die Schweiz zu werfen und zu skizzieren, wie gegenwärtige marktwirtschaftliche Tendenzen im dortigen Hochschulsektor auf Nährboden stossen und Eingang in grundlegende Doku‐ mente finden. 4.1 Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft 123 <?page no="124"?> 4 Seit Beginn des Jahres 2015 ist das Bundesgesetz über die Förderung der Hochschulen und die Koordination im schweizerischen Hochschulbereich in Kraft. Es basiert auf der neuen Bildungsverfassung (2006), die Bund und Kantonen die gemeinsame Sorge „für eine hohe Qualität und Durchlässigkeit des Bildungsraums Schweiz“ (BV Art. 61a, Art. 63a) überträgt. Dieses Gesetz wird in dieser Arbeit nur am Rande berücksichtigt, da zur Zeit der Datenerhebung noch das Universitätsförderungsgesetz (1999) galt (vgl. Kapitel 7). Das neue Gesetz ist ausserdem gegenwärtig nicht vollständig (Ergänzungen insbesondere in Bezug auf die Finanzierung sind ab 2017 zu erwarten), weshalb es in einigen Bereichen nach wie vor auf das Universitätsförderungsgesetz (1999) verweist. 4.1.1 Marktwirtschaftliche Prinzipien in Gesetzestexten im Schweizer Hochschulsystem Das Schweizer Hochschulsystem und dessen Geschichte hängen stark mit der Entwicklung der Universitäten in den einzelnen Landesteilen zusammen (vgl. Kapitel 2). Weil die Universitäten mehrheitlich kantonal organisiert sind, war und ist das Hochschulsystem stark föderalistisch geprägt. Auf nationaler Ebene beschränkte sich der Bund lange darauf, die eidgenössischen Schulen (1845 ETH Zürich und 1969 EPF in Lausanne) zu unterstützen. Im Jahre 1880 erklärte der Bund die Maturität zum landesweiten Hochschulzulassungsausweis (vgl. Criblez 2008). Abgesehen davon übernahm er erst im Rahmen der Bildungsex‐ pansion in den 60er-Jahren eine aktivere Rolle. So verpflichtete er sich mit der Einführung des Hochschulförderungsgesetzes 1968 dazu, auch kantonale Hoch‐ schulen zu subventionieren, d. h. sich an Betriebskosten, Sachinvestitionen und an der Finanzierung des Hochschulbetriebs zu beteiligen. Koordiniert wurde diese Kooperation damals von der Schweizerischen Hochschulkonferenz ( SHK ) (seit 2000 Schweizerische Universitätskonferenz), in der Bund und Kantone ver‐ treten sind. Seit 1968 wurden verschiedene Revisionen durchgeführt und Verordnungen erlassen, die 1999 ins Universitätsförderungsgesetz ( UFG ) mündeten. Das UFG wurde ebenfalls mehrmals leicht revidiert, war aber bis Ende 2014 in Kraft 4 . Das Ziel des UFG 1999 bestand darin, „angesichts der zunehmenden Internationali‐ sierung und Globalisierung von Bildung und Wissenschaft […] die Kräfte besser zu bündeln, den Wettbewerb zu stärken und der Zusammenarbeit von Bund und Kantonen eine verbindlichere Form zu geben“ (Botschaft zum Bundesgesetz über die Förderung der Hochschulen und die Koordination im schweizerischen Hochschulbereich 2009: 18). Konkret führte diese Fokusverschiebung dazu, Beiträge des Bundes weniger vom Aufwand, sondern von der Leistung abhängig zu machen, was die Wett‐ bewerbskomponente unterstreicht. Laut UFG (2013, Art. 4) haben kantonale Universitäten und anerkannte Institutionen Anspruch auf drei verschiedene 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 124 <?page no="125"?> 5 Die Hochschule St. Gallen weicht am stärksten von diesem Durchschnitt ab. Rund die Hälfte ihres Aufwands wird über Drittmittel gedeckt. 6 Eine Ausnahme stellt die Universität Basel dar, die gemeinsam von den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft getragen wird. Beiträge des Bundes. Dazu gehören Grundbeiträge, Investitionsbeiträge und projektgebundene Beiträge. Vorausgeschickt werden muss, dass im Durch‐ schnitt 5 kantonale Hochschulen zu ca. 76 % aus öffentlicher Hand, zu 22 % aus Drittmitteln und zu rund 2 % aus Studiengebühren gespeist werden (vgl. Schmidt 2008; de Boer et al. 2010; Leitner et al. 2011). Der jährliche Grundbeitrag hängt im Wesentlichen von den Leistungen in Lehre und Forschung ab. Für den Anteil Lehre (ca. 70 %) werden Beiträge pro StudentIn ausgerichtet, wobei Regelstudienzeiten und Studienfach berücksich‐ tigt werden. Der Forschungsanteil (ca. 30 %) wird an den Forschungsleistungen und der Akquisition von Drittmitteln festgemacht ( UFG , 2013, Art. 14-15) (vgl. dazu Fritschi & Spycher 2003). Investitionsbeiträge dienen dazu, Gebäude zu erwerben oder umzubauen, Infrastruktur (z. B. Apparate) zu beschaffen, sofern diese Investitionen der Lehre und Forschung zugutekommen ( UFG , 2013, Art. 18). Mit projektgebundenen Beiträgen unterstützt der Bund Innovationen bzw. Kooperationen von gesamtschweizerischer Bedeutung. Nicht alle Kantone verfügen über eine Universität, und die Universitätskan‐ tone mussten bis Ende der 60er-Jahre auf Unterstützung seitens des Bundes warten. In den 70er- und 90er-Jahren wurden rechtliche Grundlagen geschaffen, die interkantonale Koordinationsbemühungen regeln sollten (Herren 2008). Ziel war es, Konkordate zu schaffen, die Standortkantone dazu verpflichteten, die Studierenden der übrigen Vereinbarungskantone zu den gleichen Bedingungen aufzunehmen wie die eigenen KantonseinwohnerInnen. Im Gegenzug entrich‐ teten die Herkunftskantone einen finanziellen Beitrag pro StudentIn 6 . Solche Vereinbarungen sollten also den Bildungswilligen und dem Bildungsangebot zugutekommen und den Interessenausgleich unter Kantonen garantieren (vgl. Botschaft zum Bundesgesetz über die Förderung der Hochschulen und die Ko‐ ordination im schweizerischen Hochschulbereich 2009: 22). Somit wurden so‐ wohl bildungspolitische als auch staatspolitische Zwecke verfolgt. 1981 trat eine erste Vereinbarung in Kraft, es folgten zwei weitere (1987-1992, 1993-1998), bevor 1997 eine vierte entwickelt wurde, die um einiges differenzierter war. In dieser Interkantonalen Universitätsvereinbarung ( IUV ) wurde nicht nur eine Studienzeitobergrenze festgelegt; es wurde auch die Beitragshöhe nach Fach‐ gruppe bestimmt, und einigen Kantonen wurden Abzüge für hohe Wande- 4.1 Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft 125 <?page no="126"?> 7 Auch diese wurde im Zuge der Einführung des HFKG 2015 ersetzt. Stattdessen ist nun die Vereinbarung zwischen dem Bund und den Kantonen über die Zusammenarbeit im Hochschulbereich (ZSAV-HS) in Kraft. 8 Das Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz (HFKG, 2015) macht es sich zum Hauptziel, den Status quo der Schweizer Hochschulen beizubehalten und weiterhin für eine „hohe Qualität“ der akademischen Bildung zu sorgen (vgl. auch BV, Art. 63a). Dies wird an prominenter Stelle im Zweckartikel (HFKG, Art. 1) festgehalten: „Der Bund sorgt zusammen mit den Kantonen für die Koordination, die Qualität und die Wettbe‐ werbsfähigkeit des gesamtschweizerischen Hochschulbereichs.“ Das skizzierte Span‐ nungsfeld wird hier noch stärker betont. rungsverluste gewährt (Kanton Uri, Tessin etc.) ( IUV , 1997). Diese IUV ist nach wie vor in Kraft und wurde von allen Kantonen (inkl. dem Fürstentum Liech‐ tenstein) unterzeichnet. Um diese Zusammenarbeit im universitären Hochschulbereich zu regeln, trat anfangs 2000 eine Vereinbarung zwischen dem Bund und den Universitätskan‐ tonen in Kraft (Zusammenarbeitsvereinbarung 2000) 7 . Die verschiedenen ge‐ nannten Gesetzestexte bildeten so ein bewusst kreiertes Spannungsfeld, das die Universitätsrealität prägte 8 . Auf der einen Seite bestehen Kooperationen unter den Kantonen sowie zwischen Bund und Kantonen, und auf der anderen Seite stehen Wettbewerbsforderungen ( IUV 1997; UFG 1999; Fritschi & Spycher 2003). Aus dieser komplexen rechtlichen Ausgangslage, auf deren zentralste Punkte ich einzugehen versuchte, ist zu schliessen, dass spätestens seit 1999 die Wett‐ bewerbsorientierung in den gesetzlichen Grundlagen der Schweizer Universi‐ tätsförderung ( UFG ) verankert ist und die universitären Praktiken dementspre‐ chend mitbestimmt. So zahlt es sich für Universitäten aus, viele Studierende aufzuweisen und reichlich zu forschen bzw. Drittmittel einzuwerben. Beides führt zu höheren Grundbeiträgen des Bundes, welche für die Universitäten zentral sind. Diese beeinflussbare finanzielle Unterstützung seitens der Kantone und des Bundes wirkt sich bei gewissen Universitäten auf die (Im-)Mobilitäts‐ förderung aus. Sind die bestehenden Strukturen ausreichend, um weitere Stu‐ dierende zu integrieren, sinken laut Bodmer (2011) die Durchschnittskosten. In diesem Fall ist es im Interesse der Universitäten, die vorhandenen Strukturen auszuschöpfen und Studierende aus nah und fern für sich zu gewinnen. Sind hingegen strukturelle Veränderungen wie zusätzliche Kurse oder Räumlich‐ keiten nötig, steigen die Kosten pro StudentIn, und ein Studierendenzuwachs wäre aus ökonomischer Sicht wenig sinnvoll. Die skizzierte Gesetzeslage schafft 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 126 <?page no="127"?> 9 Diese ist begrenzt. Wie in Kapitel 2 aufgezeigt wurde, schwankt die Maturitätsquote je nach Kanton zwischen 10 % und 30 %. 10 2014 / 2015 beträgt der Anteil internationaler Studierender in Basel 26.8 %, und die Kan‐ tone überlegen deshalb, die Studiengebühren anzuheben, weil die jährlich verursachten Ausbildungskosten für diese Studierenden über 550 Millionen Franken ausmachen. http: / / www.grosserrat.bs.ch/ dokumente/ 100381/ 000000381143.pdf [letzter Zugriff, 27. 11. 2015]. für die Universitäten Anreize, sich um den Ausbau der Lehre (und somit die Anzahl der Studierenden 9 ) und Forschung zu bemühen. Dabei ist zu bemerken, dass nicht nur die Anzahl der Studierenden, sondern auch deren Herkunft mitunter entscheidend dafür ist, welche StudentInnen bzw. MaturandInnen für welche Universität „attraktiv“ sind. Es lassen sich, wenn man vereinfacht, drei Kategorien unterscheiden. Zu den „lukrativsten“ Studier‐ enden gehören jene, welche aus dem Trägerkanton stammen. Für sie bleiben dem Trägerkanton Beiträge an andere Kantone erspart. Für Studierende, die aus anderen Kantonen an die Universität gelangen, leisten ihre Herkunftskantone Beiträge, welche aber laut Bodmer (2011) zusammen mit den Beiträgen des Bundes und den von den Studierenden zu entrichtenden Gebühren im Durch‐ schnitt nur die Kosten des Grundstudiums, nicht aber jene der Forschung de‐ cken. Die Studierenden aus dem Ausland stellen die letzte und aus finanzieller Sicht für die Universitäten die unattraktivste Kategorie dar, für welche mehr‐ heitlich die Trägerkantone aufkommen müssen. Der Bund übernimmt 10 % dieser Kosten. An manchen Universitäten werden wegen dieser finanziellen Belastung von ausländischen Studierenden höhere Semestergebühren ver‐ langt 10 . Den eidgenössischen Studierenden steht gemäss der landesweit gültigen Studienreife (Maturitätszeugnis) die freie Universitätswahl und somit die Ent‐ scheidung zur (Im-)Mobilität zu, wobei für sie die Studiengebühren unabhängig von ihrer kantonalen Herkunft gleich hoch sind. 4.1.2 Gesetzes- und somit wettbewerbskonforme Praktiken an Schweizer Universitäten Walther Ch. Zimmerli, Philosophieprofessor, der sich regelmässig zu Themen aus der Wirtschaft und zu Bildungsfragen äussert, hielt im Jahre 2006 fest, dass sich die Verantwortung für die Universitäten im historischen Prozess von der Kirche zum Staat verschoben habe, und postulierte, dass sie sich nun zur Wirt‐ schaft zu verschieben habe. Spätestens seit der Einführung des UFG 1999 und seit der Betonung des Wettbewerbs - und somit bevor Zimmerli seine Forderung erhob - beeinflussten und beeinflussen weiterhin wirtschaftliche Tendenzen 4.1 Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft 127 <?page no="128"?> 11 Wie im zweiten Kapitel dargestellt wurde, bieten einige Universitäten dieselben Studi‐ enfächer an. So kann an neun von 12 Institutionen ein Jura-Studium absolviert werden, wobei die variierenden Schwerpunkte u. a. der Betonung des jeweiligen Profils dienen (z. B. Internationales Recht: Basel und Genf, Völkerrecht: Fribourg und Zürich). den universitären Alltag. Auch wenn seither nicht die gesamte Lehre die Hand‐ schrift der Wirtschaft trägt, prägen Marktlogiken die Praktiken an den Univer‐ sitäten. Diese versuchen ihre Einzigartigkeit zu betonen, um sich von Konkur‐ renten mit zum Teil ganz ähnlichem Angebot 11 abzuheben. Solche Praktiken sind nur zu verstehen, wenn sie im Horizont der gesamtschweizerischen Hochschul‐ landschaft betrachtet werden. Zum Teil hebt nämlich eine Universität, wenn sie für sich wirbt, indem sie ihre Einzigartigkeit ins Feld führt, ein institutionelles „Merkmal“ hervor, das sozusagen den Gegenpol dessen darstellt, was eine an‐ dere Universität als ihre Besonderheit ausweist. So erhellt die Analyse der eth‐ nographischen Daten einige Praktiken, die Bezug auf die Konkurrenz nehmen. Im Folgenden stelle ich diese Praktiken vor, wobei ich sie thematisch bündle. 4.1.2.1 Statistische Daten als Orientierung für Werbepraktiken Der interviewte Marketingmanager der Universität Luzern ( MM ), der jüngsten Universität in der Schweiz, beschreibt die Akquise von Studierenden als knochearbet (knochenarbeit) und betont, S CHUNT NIEMERT EI- FACH ESO ( NIEMAND KOMMT EINFACH SO ). Er sagt, dass die Univer‐ sität Luzern sich jeweils gut überlege, ob sich die Teilnahme an einem Informationstag lohne oder nicht. Ich frage nach, wie die Entscheidung gefällt werde, ob eine Werbeaktion lohnenswert sei. Er verweist im Interview darauf, dass man mit Vorliebe dort aktiv werbe, wo gemäss Statistiken auch mit Erfolg zu rechnen sei (vgl. Ausschnitt 2). INT: ok . und hends sie do en bestimmte radius/ aso wenn sie seged jo jetzt döt und döt gömmer uf . weiss nid. uf sursee oder INT: ok . und haben sie da einen bestimmten radius/ also wenn sie sagen ja jetzt da und dort gehen wir hin nach . ich weiss nicht . nach sursee oder MM: jo de kanton luzern . wiu we mer iglade sind . selbstverständlich. de gömmer ou und ou i um. umliegendi i de . i de regel MM: ja den kanton luzern . weil wenn wir eingeladen sind . selbstverständlich . dann gehen wir auch und auch in um . umliegende in der . in der regel INT: jo INT: ja 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 128 <?page no="129"?> MM: ähm .. ((seufzt)) i moment isch es eso dass mer äh . jo mir si eigentlich nid gross .. mir tüe üs nid gross ischränke MM: ähm .. ((seufzt)) im moment ist es so dass wir äh . ja wir sind eigentlich nicht gross .. wir schränken uns nicht gross ein INT: mhm INT: mhm MM: jetzt rein geographisch . aber . i erschter linie probiere mer natürlich scho di umliegende zneh/ vor auem o aargau züri . äh . jo bern e biz und haut die k& gsamte innerschwyzer . weu mer haut doch weiss . und das gseht mer au us de statistik use . die geographisch nöchi spielt haut doch no e rechti rolle bi de studiewahl\ MM: jetzt rein geographisch . aber . in erster linie probieren wir natürlich schon die umliegenden zu nehmen/ vor allem auch aargau zürich . äh . ja bern und ein wenig und halt die k& gesamten innerschweizer . weil man halt doch weiss. und das sieht man in der statistik . die geographische nähe spielt halt doch noch eine ziemliche rolle bei der studienwahl\ INT: mhm mhm INT: mhm mhm Ausschnitt 2: Geographische Nähe und Hochschulwahl, Juli 2014, Marketingmanager, Universität Luzern Zwar äussert MM zunächst, man schränke sich geographisch nicht „gross“ ein. Im Weiteren kommt er aber auf proaktive Werbemassnahmen in der Zentral‐ schweiz zu sprechen (z. B. Besuch in Philosophielektionen in umliegenden Gymnasien, Teilnahme an der Zentralschweizer Bildungsmesse). MM begründet sein Tun damit, dass die geographische Nähe gemäss der Statistik ein Faktor sei, der die Studienwahl massgeblich beeinflusse. Er erwähnt ausserdem, dass die Zahlen, die das Bundesamt für Statistik jährlich zur Verfügung stelle, als Ori‐ entierung dienten, die an der Universität Luzern für Werbung begrenzt vorhan‐ denen Ressourcen für vielversprechende Werbeaktionen einzusetzen. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, wenn ich im Detail aufzeigte, weshalb Studierende eine Universität in ihrer Region wählen. Dies ist auch nicht der Fokus meiner Untersuchung. Dennoch lohnt es sich, Argumente zu nennen, die Studierende dazu bewegen, eine Universität in der Nähe ihres Wohnortes zu wählen, und solche, die ihre Mobilität restringieren. Kennt man nämlich diese Argumente, gelingt es einem, zu verstehen, weshalb MM sich auf die Statistik beruft. Vorteile einer Studienortswahl, die ohne das Verlassen der Region aus‐ kommt, widerspiegeln sich denn in der Statistik, welche der proaktiven regio‐ nalen Werbung der Universität Luzern zugrunde liegt. 4.1 Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft 129 <?page no="130"?> 12 Studiengebühren sind in der Schweiz zwar vergleichsweise tief, jedoch heisst dies nicht, dass alle potenziellen Studierenden ihre Entscheide völlig frei von finanziellen Rest‐ riktionen treffen können. In der Schweiz haben MaturandInnen freie Studienfach- und Hochschulwahl. Ihre Matura ist überall anerkannt, und ausser dem Numerus clausus für das Medizinstudium gibt es keine Zulassungsbeschränkungen. Abgesehen von et‐ lichen psychologischen, sozialen etc. Gründen, die dazu beitragen können, ein Studium an der nächstgelegenen Hochschule zu beginnen (vgl. Bieri et al. 2008), sind die Lebenshaltungskosten der Studierenden zentral. Solche, die wäh‐ rend ihres Studiums bei den Eltern wohnen, verursachen nur etwa halb so hohe Kosten (vgl. Denzler & Wolter 2010). Gerade Studierende aus sozioökonomisch bescheidenen Verhältnissen sind in ihrer Entscheidung eingeschränkt 12 . Denzler und Wolther (2010) zeigen auf, dass die Entscheidung für den Studienort wie sogar für das Studienfach von der Distanz zur nächstgelegenen Hochschule be‐ einflusst wird. Ihnen zufolge „nimmt die Wahrscheinlichkeit, ein Fach zu stu‐ dieren, welches nur an einer Hochschule angeboten wird, mit der Distanz zu dieser Hochschule ab“ (Denzler & Wolther 2010: 15). Gleichzeitig „nimmt die Wahrscheinlichkeit, ein ganz bestimmtes Fach zu studieren, zu, wenn man in der Nähe einer Universität wohnt, welche nur ein eingeschränktes Fächeran‐ gebot aufweist“ (ibid: 15). Zudem ist zu bemerken, dass die Möglichkeiten, Sti‐ pendien oder Darlehen zu erlangen, in der Schweiz relativ gering sind. Die Universität Luzern arbeitet eng mit dem Kanton - ihrem Träger - zu‐ sammen. Stammen die Studierenden aus dem Universitätskanton, bleibt es diesem erspart, Beiträge an Kantone zu bezahlen, in welche die Studierenden abwandern. So ist es aus kantonaler Sicht lukrativ, um Studierende aus der Re‐ gion zu werben. Aus diesem Beispiel ist ersichtlich geworden, inwiefern sich die Universität Luzern statistischer Daten zur Hochschulwahl bedient, um entsprechend zu werben. Man könnte sich natürlich die Frage stellen, weshalb sich die Univer‐ sität Luzern regional so sehr bemüht, wenn die Studierenden aus der Region gemäss der Statistik „automatisch“ nach Luzern kommen. Hier gilt es zu be‐ denken, dass der Kanton Luzern an sechs andere Kantone grenzt, welche ent‐ weder selber eine Universität aufweisen (z. B. Bern) oder aber wieder an andere Universitätskantone angrenzen. Wohnt man z. B. in der Stadt Zug, d. h. im an‐ grenzenden gleichnamigen Kanton, so sind die Reisezeit bis Zürich und dieje‐ nige bis Luzern vergleichbar (Dauer ca. 20 min), und es ist machbar, zwischen Zug und Zürich oder zwischen Zug und Luzern mit dem öffentlichen Verkehrs‐ mittel zu pendeln. Auch wenn die geographische Nähe gemäss der Statistik für die Hochschul- und Studienfachwahl ausschlaggebend sein mag, bringt sie noch 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 130 <?page no="131"?> 13 In Luzern sind laut BFS (2012) ca. 28 % kantonseigene Studierende eingeschrieben, aus der restlichen Zentralschweiz (Kantone Zug, Schwyz, Uri, Ob- und Nidwalden) stammen nochmals rund 15 %. Die Studierenden aus dem angrenzenden Kanton Zürich machen 14 % der Luzerner Studierendenschaft aus. 14 So bin ich beispielsweise in keinem der institutionellen Dokumente auf Zahlen ge‐ stossen, die besagen, wie viele Studierende ihr Studium nach einigen Jahren ohne Ab‐ schluss abbrechen (vgl. dazu Meyer 1999). nicht die eindeutige Wahl mit sich, sondern grenzt diese allenfalls ein. Werbung, die darauf abzielt, dass MaturandInnen innerhalb ihres näheren Umkreises die „richtige“ Wahl treffen, lohnt sich somit z. B. für die Universität Luzern 13 . Nicht in Vergessenheit geraten darf bei diesen Ausführungen, dass die Universität Lu‐ zern als jüngste Tertiärinstitution in der Schweizer Hochschullandschaft im Be‐ griff ist, eine Studierendenpopulation aufzubauen, ein Aufbau, für den noch Potential besteht. Dies hat zur Folge, dass sie - wie auf den folgenden Seiten ersichtlich wird - generell ein progressives Werbeverhalten zeigt und darüber hinaus - zum Teil über Sprache - spezifische Studierendengruppen anvisiert. Diese Praktiken sind im Zusammenhang mit dem vorliegenden Interesse am Thema Mobilität von besonderem Belang. 4.1.2.2 Die Vorteile der jeweiligen Zahlen: die Qualität der Quantität Alle Universitäten können auf Zahlen zurückgreifen, die sie zu Profilierungs‐ zwecken einsetzen. Dazu gehören u. a. die Anzahl Studierende, ProfessorInnen, Angestellte, Institute etc. Weiter werden z. B. Betreuungsverhältnisse in Zahlen ausgedrückt (z. B. 1: 40). Zahlen sind in unserem Alltag omnipräsent - mit ihrer Hilfe versuchen wir uns zu orientieren und die Welt zu verstehen. Zahlen er‐ halten aber erst Bedeutung, wenn sie in Beziehung gesetzt werden. Sprechen wir von 5’000 Studierenden, können wir nur beurteilen, ob es sich um „viele“ handelt, wenn wir diese neben eine vergleichbare Zahl stellen. Werden Zahlen zu universitären Werbezwecken eingesetzt, sind sie somit immer auch als Index zu verstehen (vgl. Maurer 2006). Sie machen zwar einen neutralen Eindruck - man könnte fast meinen, sie seien einfach da und würden auf „Facts“ ba‐ sieren -, doch ist die Auswahl der Zahlen, die etwa in Werbebroschüren oder auf Papiertüten gedruckt werden, keineswegs neutral. Sie basiert auf Überle‐ gungen dazu, welche Zahlen im vorliegenden Kontext z. B. von potentiellen Studierenden positiv rezipiert werden 14 . In den nächsten Abschnitten zeige ich anhand von Daten verschiedener Uni‐ versitäten, dass deren Gebrauch von Zahlen bei ihrem Bestreben, für sich zu werben, ein beliebtes strategisches Mittel ist. Universitäten setzen Zahlen auf unterschiedliche Art und Weise ein und kreieren sich so ein quantifizierbares 4.1 Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft 131 <?page no="132"?> Profil, welches letztendlich auch qualitative Differenzen ausdrückt (Maurer 2006). An der Universität Bern wurden am Informationstag allen Interessierten weisse Papiertüten ausgehändigt, in denen sich Broschüren und das Tagespro‐ gramm etc. befanden. Auf der Tasche war in schwungvoller Handschrift mit rotem Stift vermerkt: „160 Institute, 8 Fakultäten, 1 Universität.“ Drei schräg gestellte, graue Geraden versinnbildlichten diese drei Eigenschaften, und die Zahlen waren so untereinander platziert, als würde man sie schriftlich zusam‐ menzählen. Darunter stand in derselben roten Handschrift „Willkommen an der Universität Bern“. Zwei weitere Elemente zierten die Tüte: das Logo der Uni‐ versität Bern in der rechten oberen Ecke (rot, schwarz) und der Link (www.unibe.ch) oberhalb der Zahlen, auf den ein roter Cursor deutete, wie er auf Computerbildschirmen erscheint. Das Design wie auch die auf der Tüte verwendeten Farben Grau, Rot und Schwarz sind unverkennbar Teil des Cor‐ porate Designs der Universität Bern, denen man in sämtlichem Kommunikati‐ onsmaterial und auf der Homepage begegnet. Wie sind nun diese Zahlen zu verstehen? Meine Interpretation basiert nicht ausschliesslich auf der Analyse der abgebildeten Papiertüte. Vielmehr liegt ihr die Analyse institutioneller Dokumente, Feldnotizen von verschiedenen Infor‐ mationstagen (in Bern und im Tessin) und eines schriftlichen Interviews mit einer Person aus der Marketingabteilung der Universität Bern zugrunde. Auf diesem Hintergrund deute ich die „160 Institute“ als Hinweis auf eine grosse Auswahl an Studienfächern, die den acht Fakultäten der Universität Bern an‐ gegliedert sind. Zu allen Informationen über diese Universität - aus werbetech‐ nischer Sicht einem umfangreichen Angebot - gelangt man per Klick auf den aufgeführten Link. Auch in der Begrüssung am Informationstag im Dezember 2012 kamen die auf der Papiertüte gedruckten Zahlen vor, wobei sie zum Teil kommentiert wurden. So wurden gleich zu Beginn die acht Fakultäten erwähnt, und es wurde betont, die Universität Bern sei eine Volluniversität, die ausser den Ingenieurwissenschaften das ganze Fächerspektrum biete. Potentiellen Stu‐ dierenden gegenüber wurden diese Zahlen im Detail aufgeschlüsselt. So wurde erläutert, man könne im Bachelor-Studium aus 39 und im Master-Studium aus 67 Studiengängen auswählen. Weiter wurden 12 Forschungszentren genannt, die neben der Lehre zentral seien. Ausserdem wurde die Anzahl Studierender an der Universität Bern kommuniziert (16 000). In einer Broschüre, die in der Tüte zu finden war und einen Überblick über das Studienangebot gibt, sind die‐ selben Informationen aufgeführt. Die Broschüre enthält Kurzvorstellungen der acht Fakultäten, wobei jeweils ein kleiner, farbig gedruckter Absatz ähnlich wie auf der Papiertüte auflistet, wie viele Departemente, Institute und Studierende 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 132 <?page no="133"?> 15 All diesen Quantifizierungsdiskursen liegen Ideologien zugrunde, die im „grand récit“ soweit legitim sind, als sie von den RezipientInnen - hier von potentiellen Studie‐ renden - verstanden werden. der jeweiligen Fakultät angehören. Auf dem Titelblatt steht ausserdem in Gross‐ buchstaben „acht Fakultäten - ein Campus“. So wird nicht nur die Reichhaltig‐ keit betont, sondern auch die Anordnung der Universitätsgebäude, die in der Broschüre auf einer Karte rot eingezeichnet sind. Zudem ist die Gehdistanz zwischen den verschiedenen Gebäuden in Minuten (z. B. 8 Minuten vom Haupt‐ gebäude bis zum Bühlplatzareal) vermerkt. Um den Gebrauch dieser Zahlen besser zu verstehen, müssen Vergleichs‐ grössen hinzugezogen werden. Nicht alle Universitäten in der Schweizer Hoch‐ schullandschaft gelten als Volluniversitäten (z. B. trifft diese Bezeichnung auf Luzern nicht zu), nicht bei allen ist die Studienfachauswahl so breit (z. B. Neu‐ châtel), nicht bei allen befinden sich die Gebäude in Gehdistanz (z. B. Zürich). Mit dem Herausheben von Zahlen, welche die Universität Bern auszeichnen, wird angestrebt, sich von anderen Institutionen abzuheben. Am Informationstag, der im Februar 2014 an der Università della Svizzera Italiana ( USI ) stattfand, wurden ebenfalls reichlich Zahlen eingesetzt. Diese standen aber für andere Merkmale als jene der Berner Universität. So erklärte ein USI -Professor in seiner Präsentation des Studiengangs Informatik, das Be‐ treuungsverhältnis sei hier einzigartig. Eine Lehrperson sei für maximal 40 Stu‐ dierende zuständig, was personalisierte Betreuung ermögliche. Der Referent stellte diese Zahl dem Betreuungsverhältnis an der Informatikabteilung der Universität Bern gegenüber und wies darauf hin, dass er einer unter 120 Infor‐ matikstudierenden gewesen sei und wie alle anderen kaum Kontakt zu den Pro‐ fessoren gehabt habe. Diese Äusserung basiert auf einer Ideologie 15 , die besagt, Lernen sei ergiebiger, wenn weniger Studierende betreut werden müssten. Weiter legte der das Fach Informatik vorstellende Professor dar, dass die Über‐ schaubarkeit der USI es erlaube, strukturelle Anpassungen rasch vorzunehmen, was in Zürich, wo er vormals gearbeitet hatte, und in Bern nicht möglich sei. Dort würden kleinste Veränderungen im Studienprogramm viel Zeit beanspru‐ chen, während an der USI rasch reagiert werden könne. Zum Beispiel sei das Stoffprogramm Mathematik gemäss dem Bedarf der Informatik ohne grossen administrativen Aufwand umgestaltet worden. Im Gespräch mit den Kommunikations- und Marketingverantwortlichen der USI wurde zu ähnlichem Zwecke Gebrauch von Zahlen gemacht. So koppelten meine GesprächspartnerInnen die Gesamtzahl der Studierenden an die Qualität der Familiarität. Weiter betonten sie, dass die Studierenden und die Angestellten einander kennen würden. 4.1 Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft 133 <?page no="134"?> 16 Es wäre interessant, den Umgang mit universitären Rankings und die diesen zugrun‐ deliegenden Daten und Methoden im Detail zu ergründen. Allerdings würde dieses Unterfangen den Rahmen dieses Unterkapitels sprengen. Bemerkenswert ist, dass ei‐ nige Tertiärinstitutionen ihr Ranking zwar nennen, aber gleichzeitig dazu auffordern, diese Zahlen mit Vorsicht zu betrachten (z. B. Universität Fribourg, http: / / www3.unifr.ch/ uni/ en/ portrait/ rankings.html [letzter Zugriff, 21. 04. 2016]). Andere Hochschulen hingegen nehmen gegenüber Rankings keine kritische Haltung ein (z. B. Hochschule St. Gallen, http: / / www.unisg.ch/ de/ studium/ darumhsg/ anerkannte qualitaet [letzter Zugriff, 21. 04. 2016]). Auf Basis der gesichteten Werbedokumente ver‐ schiedener Universitäten in der Deutschschweiz und dem Tessin gewann ich zuneh‐ mend den Eindruck, dass kritische Stimmen gegenüber Rankings eher von Institutionen kommen, die keine „Spitzenplätze“ verzeichnen. 17 http: / / www.webometrics.info/ en/ Europe/ Switzerland%20 [letzter Zugriff, 02. 12. 2015]. Auch die Universität Luzern verwendet Zahlen, wobei sie - ähnlich wie die USI - mit ihnen die persönliche Atmosphäre hervorhebt. Auf Studierenden‐ zahlen folgen Ausführungen dazu, wie persönlich die Universität sei. Der in‐ terviewte Marketingmanager erklärte, dass Studierende, die in der Anonymität versinken wollten, in Luzern fehl am Platz seien und dass sie in Luzern - anders als in Zürich - nicht in einem Hörsaal zu sitzen brauchten, wo sie bloss in den Genuss der Videoübertragung einer Vorlesung kämen. Luzern hebt diese per‐ sönliche Note auch visuell hervor. In sämtlichen Broschüren, auf der Webseite wie auch an Informationstagen werden Portraits von ProfessorInnen gezeigt. Als die Luzerner Universität am Tessiner Informationstag das Jurastudium prä‐ sentierte, wurde jeweils ein grosses Portrait jener Person, die gerade sprach, auf die Leinwand projiziert. Unter dem Bild war deren Name vermerkt. Während die erwähnten Praktiken v. a. den Wettbewerb unter den Hoch‐ schulen im Schweizer Kontext beleuchten, spielen Zahlen und deren inhärente Qualität auch im europäischen und globalen Kontext eine Rolle. Eine Studentin, die am Informationstag die Universität Zürich ( UZH ) repräsentierte, ging nach ihren Ausführungen zur quantitativen (und somit qualitativen) Stellung der UZH in der Schweiz über die Landesgrenzen hinaus. Sie erwähnte, die UZH zähle weltweit zu den 50 besten und europaweit zu den 10 besten Universitäten. Solche Rankings werden von sämtlichen Universitäten eingesetzt, wenn es darum geht, sich international zu positionieren. Ihre Verwendung ist aber immer darauf ausgerichtet, die institutionelle Einzigartigkeit zu betonen 16 . So stösst man in Werbematerial auf keine vierstelligen Rankings wie z. B.: „die Università della Svizzera Italiana belegt weltweit den 1261. Rang 17 “. Vielmehr werden etwa spezifische Fakultäten, Studienfächer, die im Ranking weit vorne erscheinen, oder international hoch angesehene Leistungen publik gemacht. Die USI pro‐ pagiert z. B. das u. a. an sie angegliederte IDSIA (Istituto Dalle Molle di Studi sull'Intelligenza Artificiale), welches im Bereich der „articifical intelligence, ro‐ 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 134 <?page no="135"?> 18 Vgl. dazu das 1997 publizierte Ranking, auf das heute noch Bezug genommen wird: http: / / www.businessweek.com/ 1997/ 25/ b353222.htm [letzter Zugriff, 02. 12. 2015]. 19 Vgl. dazu http: / / www.idsia.ch/ idsia_en/ research/ ml/ competitions.html und http: / / people.idsia.ch/ ~juergen/ eu2009.html [letzter Zugriff, 02. 12. 2015]. 20 Dieses Statement stammt aus einer Broschüre der Universität Luzern, die sich an Stu‐ dieninteressierte richtet. botics, speech and interfaces“ weltweit zu den zehn besten Laboratorien gehöre 18 . Weiter wird erwähnt, das IDSIA habe seit 2009 neun internationale Wettbewerbe zum Thema „pattern recognition“ gewonnen 19 . Wie aus diesen Ausführungen hervorgeht, sagt der Einsatz von Zahlen nicht nur etwas darüber aus, welche „Facts“ diese Universität oder jene hervorhebt. Es lässt sich daraus auch schliessen, dass an anderen Universitäten diese „Facts“ nicht im selben Ausmass vorhanden sind. In diesem Sinne ist eine von einer Universität gewählte Werbestrategie, mittels deren sie ihre Einzigartigkeit be‐ tont, immer auch ein Indiz dafür, was andere Hochschulen nicht zu bieten haben. Die Quantität, die mithilfe dieser Zahlen ausgedrückt wird, enthält gleichzeitig qualitative Merkmale, die sich von anderen universitären Institutionen unter‐ scheiden. Nicht zu vergessen ist, dass es im Kontext der Akquise von Studie‐ renden darum geht, MaturandInnen bald zur bereits bestehenden Studieren‐ denzahl zählen zu können und somit von den entsprechenden finanziellen Trägern entsprechende Beiträge (wiederum quantifizierter Art) zu erhalten. 4.1.2.3 „Studieren, wo andere Ferien machen“: an Bekanntem anknüpfen Nach anfänglicher Irritation, was Statements wie „Studieren, wo andere Ferien machen“ 20 in offiziellen Broschüren zu suchen hätten, kam ich mittels Analyse zum Schluss, dass der Gebrauch bekannter - in diesem Fall „touristischer“ - Elemente Universitäten in ihrem Bestreben nach Einzigartigkeit diene. Im Fol‐ genden leite ich zu diesem analytischen Fazit hin. Potentielle Studierende informieren sich im zweitletzten oder letzten Jahr der Sekundarstufe II . Im Gespräch mit GymnasiastInnen am Informationstag im Tessin erkundigte ich mich nach den für sie zentralen Fragen, auf die sie sich im Rahmen der eintägigen Veranstaltung eine Antwort erhofften. Sie äusserten, abgesehen von der Frage nach der „Sprache“, auf die ich später eingehe, ganz allgemeine Fragen wie etwa: „Come funziona lo studio? “ (Wie funktioniert das Studium? ), „Cosa sono i crediti? “ (Was sind Credits? ), „Voglio sapere come era un po’ la vita dello studento.“ (Ich möchte ein wenig erfahren, wie das Studen‐ tenleben aussieht.), „C’è un esame tosto? “ (Gibt es eine schwierige Prüfung? ), „Che cosa offre un’università più rispetto que l’altra? “ (Welche Vorzüge hat eine Universität im Vergleich zu einer anderen? ), „I termini“ (Einschreibetermine) 4.1 Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft 135 <?page no="136"?> und „I costi“ (Kosten). Die GymnasiastInnen befinden sich zu diesem Zeitpunkt in einer Struktur mit fixem Stundenplan und beständigem Klassenverband und haben ein vages Wissen davon, wie die Universität funktioniert, was ein Stu‐ dium bedeutet und wie der universitäre Alltag aussieht. Ebenso bat ich die RepräsentantInnen der Universitäten, mir die Fragen zu nennen, mit welchen GymnasiastInnen an sie heranträten. Ausschnitt 3 zeigt einen solchen Austausch mit einem Studierenden ( SHZ ) der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, einem Austausch, der im Rahmen des In‐ formationstags in einer Halle der USI in Lugano stattfand, wo alle Schweizer Universitäten gegenwärtig waren. INT: e cioè .. e cosa sono cioè .. che domande: : [sono fatte/ ] INT: und also .. und was sind nun .. welche fragen: : [werden gestellt/ ] SHZ: [(domande) più frequenti] SHZ: [(die häufigsten) fragen] INT: sì INT: ja SHZ: anche durante la presentazione sicuramente la lingua\ () come funziona/ non è un problema/ chiedono lo studio/ che si studia tanto/ col tempo libero . comunque del tempo libero . o . pure dicono tutti . siamo a studiare dalla mattina alla sera SHZ: auch während der präsentation sicher die sprache \ () wie das funktioniert/ ist es kein problem/ sie fragen nach dem studium/ dass ob man viel lernen muss/ wie es mit der freizeit . überhaupt nach der freizeit . oder . sie sagen alle . lernen wir vom morgen bis am abend INT: okay INT: okay SHZ: essenzialmente questo . cioè . mi mi ricordo ai miei tempi penso che siano le domande che . ogni volta qualc& c’è le stesse domande () ogni volta SHZ: hauptsächlich das . also . ich ich erinnere mich an meine zeit ich denke das sind die fragen die . jedes ma& das sind die gleichen fragen () jedes mal INT: sì INT: ja SHZ: sono abbastanza standard e: sono più domande: = SHZ: sie sind ziemlich standard und: es sind eher fragen: = INT: =informali INT: =informeller art SHZ: informative ma niente di [specifico] SHZ: informativer art aber nichts [spezifisches] INT: [sì] INT: [ja] 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 136 <?page no="137"?> SHZ: non interessa molto lo specifico uno studente che .. deve ancora capire bene cosa studiare\ SHZ: das spezifische interessiert einen studenten nicht so .. er muss erst herausfinden was er studieren will\ INT: [sì sì chiare] INT: [ja ja klar] SHZ: [se poi li] spiego questa materia parla di questo e questo questo tema . poi non capiscono più . (quindi) non è anche quello che cercano SHZ: [wenn du ihm dann] eine materie erklärst und man von diesem und jenem thema spricht . dann verstehen sie nichts mehr . (also) es ist auch nicht das was sie suchen Ausschnitt 3: Zentrale Fragen zukünftiger Studierender aus dem Tessin, Februar 2014, Student ETH Zürich, Tessin Der Student betonte nicht nur, es seien immer die gleichen Fragen, die ihm ge‐ stellt würden, er verwies auch darauf, dass die Fragen ganz genereller Natur seien. Wenn angehende Studierende in Bezug auf ihr Studium kaum spezifische Fragen haben und wenig Vorwissen mitbringen, müssen Wege gefunden werden, sie dennoch anzusprechen und ihr Interesse zu wecken. Auf diesem Hintergrund verstehe ich den Gebrauch „touristischer“ Lokalwerte in der uni‐ versitären Werbepraxis. Neben grundsätzlichen Informationen (Studiendauer, Struktur mit Bachelor- und Master-Studium etc.), mit denen Universitäten an GymnasiastInnen herantreten, begegnen sie ihnen mit bekannten touristischen Elementen und knüpfen so an deren Konsumgewohnheiten an. So gelingt es, lokale Merkmale zu akzentuieren. Gerade beim Versuch, angehenden Studier‐ enden eine tertiäre Ausbildung in einer ihnen möglicherweise wenig bekannten Region schmackhaft zu machen und sie somit zur Mobilität zu verlocken, bieten sich touristische Elemente an (vgl. Thurlow & Jaworski 2011). Die folgenden Abschnitte zeigen eine kleine Auswahl an Werbepraktiken, in denen die tou‐ ristische Komponente eine Rolle spielt. Die Universität Luzern bedient sich des Tourismusdiskurses fleissig und setzt ihn in verschiedenen Formen (mündlich, schriftlich, visuell, materiell) ein. Am Informationstag in Lugano äusserte der Repräsentant begeistert, die Universität befinde sich unmittelbar neben dem Bahnhof. Ausserdem sei Luzern eine „città bellissima“ (eine wunderschöne Stadt), die noch dazu gut „raggiungibile“ (er‐ reichbar) sei, da sie sehr zentral gelegen und bestens ans Verkehrsnetz ange‐ schlossen sei. Der Repräsentant - vor seinem Studium wohnte er wie sein Pub‐ likum im Tessin - blendete nach diesen Ausführungen Auszüge aus dem Online-Fahrplan der Schweizer Bundesbahnen ein. Darauf war zunächst die 4.1 Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft 137 <?page no="138"?> 21 Diese Information basiert auf dem zwischen dem Referenten und dem Publikum scheinbar geteilten Verständnis, dass der Zug in erster Linie dazu da sei, einen so rasch wie möglich wieder ins Tessin zu befördern. Als Abfahrtsort wird Luzern eingeblendet, während das Ziel Lugano darstellt. 22 Vergleiche dazu z. B. die Homepage des Tourismusbüros in Luzern: http: / / www.luzern.com/ de/ sightseeing-fuehrungen [letzter Zugriff, 05. 12. 2015]. Verbindung ins Tessin zu sehen, wobei der Student darauf hinwies, dass man bis Lugano nicht umzusteigen brauche 21 . Danach wurde aufgelistet, wie lange die Fahrt von Lugano nach Bern, nach Zürich und nach Basel dauere. Wir müssen in Erinnerung behalten, dass der Student sich bei seiner Präsentation an GymnasiastInnen aus dem Tessin wandte, die sich mit ihrer Studienortswahl auseinandersetzten. Indem er Überzeugungsarbeit für die Wahl der Universität Luzern leistete - dieser Auftrag lag seiner Performanz zugrunde - legitimierte er auf glaubhafte Art und Weise zugleich seine eigene Wahl. Auch in Drucksachen der Universität Luzern kommen die geographische Lage und die Verkehrsanbindung vor. Daneben sind andere diskursive Elemente zu finden. In der Broschüre, die am Informationstag der Universität Luzern im November 2012 verteilt wurde, heisst es beispielsweise Folgendes: Nach der Vorlesung den Sommerabend am See geniessen, an einem freien Tag spontan in die Berge fahren, am Wochenende in das Nachtleben eintauchen oder einen Ab‐ stecher ins Tessin oder nach Mailand machen - die kleine Grossstadt in der Zentral‐ schweiz bietet auch ausserhalb der Universität studentisches Leben in grösstmöglicher Vielfalt. (Broschüre Studienangebot Bachelor 2012-2013, Universität Luzern). Neben diesem Text zeigt ein ganzseitiges Foto zwei lächelnde Studierende, die an der Sonne im Luzerner Seebad sitzen und etwas trinken. Am Kopf des Bilds ist ausserdem ein Statement des abgebildeten Studenten abgedruckt, der in der Broschüre mehrmals zu Wort kommt. Weiter setzt die Universität Luzern „Glücksgüter“ ein, die auch in Touris‐ musbroschüren der Stadt Luzern vorkommen. In der Informationsbroschüre der Rechtswissenschaftlichen Fakultät wird z. B. das vom Architekten Jean Nouvel entworfene Kultur- und Kongresszentrum abgebildet. Daneben heisst es: „Ar‐ chitektur der Avantgarde und eine Musikszene, die längst im 21. Jahrhundert angekommen ist. Luzern ist eine internationale Grösse.“ Ausserdem ist die Ka‐ pellbrücke mit dem Wasserturm, das Wahrzeichen von Luzern, omnipräsent (es ist nicht nur etliche Male auf Titelseiten von Broschüren, sondern sogar auf Bonbonverpackungen der Universität zu finden) 22 . Der Wasserturm mit seinem spitzen Dach zeigt dabei immer auf das darüber abgebildete pinkfarbene Logo der Universität Luzern. Die beiden Elemente bilden so eine visuelle Einheit. 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 138 <?page no="139"?> 23 Bei letzterem fügte der Student an, man könne das wohl etwa mit „la festa delle cipolle“ (das Zwiebelfest) übersetzen, aber die offizielle Bezeichnung existiere eben nur auf „Schwyzerdütsch“ (Schweizerdeutsch). 24 Vgl. dazu auch Nash et al. (1981), die sich aus anthropologischer Perspektive sehr früh mit dem Thema Tourismus beschäftigten. Aktuell befassen sich z. B. Thurlow und Ja‐ worski (2010) sowie Heller et al. (2014) aus soziolinguistischer Perspektive mit der The‐ matik des Tourismus. Am Informationstag im Tessin nahm ich ausserdem an einer Präsentation teil, bei der ein Medizinstudent aus dem Tessin (auch auf Italienisch) seinen Studi‐ engang und die Universität Bern vorstellte. Nach einigen allgemeinen Informa‐ tionen zum Studium ging er auf die Vorteile von Bern ein. Ähnlich wie bei der Vorstellung der Universität Luzern wies er erst auf das hervorragende Ver‐ kehrssystem und die zentrale Lage der Stadt hin. Daraufhin erwähnte er, Bern sei sauber und sicher, biete ein attraktives Nachtleben und sei zudem nicht so teuer wie Zürich. Ausserdem zählte er lokale Attraktionen bzw. Sehenswürdig‐ keiten auf, z. B. „la fossa degli orsi“ (der Bärengraben), „la notte dei musei“ (die Museumsnacht) und den „Zibelemärit“ 23 (Zwiebelmarkt). Wie im zweiten Kapitel aufgezeigt wurde, waren bereits frühe Formen der Bildungsmobilität mit „touristischen“ Attraktionen verbunden. Das Besichtigen spezifischer Bauten in Kulturstädten sowie Besuche von Ausgrabungsstätten gehörten im 17. und 18. Jahrhundert zur allumfassenden Bildung eines jungen Mannes. AutorInnen haben für Reisen zu einer Destination, die eine Lernerfah‐ rung involviert, auch den Begriff „education tourism“ (oder „edu-tourism“) ver‐ wendet (vgl. Yarymowich 2004). Wenn wir Dann (1996: 2) folgen, der sich dem Tourismus aus soziolinguistischer Perspektive widmete, ist Tourismus als „act of promotion“ zu verstehen, dem ein eigener Diskurs anhaftet. Die Sprache des Tourismus versucht laut Dann (ebd.) „to persuade, lure, woo and seduce millions of human beings, and, in doing so, convert them from potential into actual clients“ 24 .Tourismusdiskurse produzieren eine bestimmte Kultur; um diese zu konsumieren, begeben sich Touristen auf Reisen (vgl. Lash & Urry 1994; Thurlow & Jaworski 2011). Wie aus dieser Analyse hervorgeht, macht die Sprache des Tourismus auch vor dem „edu-tourism“ nicht Halt. Gegenwärtig sind der Standort und dessen mit der Zeit zu Wahrzeichen gemachte Merkmale zentrale Bestandteile univer‐ sitärer Werbepraktiken. Im Bestreben, sich erstens Ausseruniversitäres zu Nutze zu machen, um die Einzigartigkeit der Institution zu betonen, und zweitens die Bildungsmobilität zu fördern und Studierende zu akquirieren, werden „touris‐ tische“ Qualitäten in Werbepraktiken akzentuiert. Über Sprache, Bildmaterial etc. vermittelt die werbende Universität „Edu-TouristInnen“ auf bestimmte 4.1 Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft 139 <?page no="140"?> 25 Vgl. Franklin und Crang (2001: 10): „Touristic culture is more than the physical travel, it is the preparation of people to see other places as objects of tourism … the touristic gaze and imaginary shape and mediate our knowledge of and desires about the rest of the planet.“ 26 Vgl. http: / / www.warteck.ch/ [letzter Zugriff, 07. 12. 2015]. 27 Dies ist z. B. auf T-Shirts, Pullovern etc. vermerkt. Kleider verschiedener Universitäten unterscheiden sich diesbezüglich wenig. Der ursprünglich aus den USA bekannte „Hoodie“ hat in Europa Verbreitung gefunden. Meist wurde auf diese Kleidungsstücke das Gründungsjahr in Kombination mit „since“, „seit“, „est“ (Abkürzung von „estab‐ lished“) o. ä. gedruckt oder gestickt. Vgl. z. B. https: / / www.eth-store.ch/ index.php/ store#/ categories/ 378 oder http: / / www.unilushop.ch/ shirts-girls/ [letzter Zugriff, 07. 12. 2015]. Weise die Authentizität, die Unterschiedlichkeit und das Exotische ihres Stand‐ orts. Wie Crang (1999: 361) erklärt, werden so Erwartungen geweckt, die an Bildern (wie etwa dem Wasserturm in Luzern) festgemacht werden. Diese de‐ finieren, was es vor Ort zu besichtigen gilt bzw. was den Ort auszeichnet. Mit anderen Worten werden zukünftige Studierende anhand des Tourismusdis‐ kurses darauf vorbereitet, die um sie werbenden Universitätsstädte als (attrak‐ tive) touristische Objekte zu sehen 25 . Interessanterweise verwenden nicht alle Universitäten im gleichen Ausmass Tourismusdiskurse. Die Werbematerialien der Universität Zürich wie auch der ETH Zürich weisen keine Zürcher Wahrzeichen auf. Wie im nächsten Abschnitt zum Ausdruck kommt, stehen bei deren Werbepraktiken andere Strategien im Vordergrund. 4.1.2.4 „Zukunftsweisend seit 1855“: Die historische Basis der vielversprechenden Zukunft Wie Bieretiketten auf die lange Tradition einer Brauerei verweisen (z. B. Warteck Bier seit 1856 26 ), setzen Universitäten in der Deutschschweiz (z. B. ETH Zürich: „Zukunftsweisend seit 1855“ oder „ ETH Zürich est 1855“ oder „Univer‐ sity of Lucerne since 2001“ 27 ) ihre Vergangenheit ein, wenn es um die institu‐ tionelle Promotion geht. Ob bei Bier oder bei Universitäten, durch die Kombi‐ nation der Präposition „seit“ (oft auch im deutschsprachigen Raum „since“ oder „est“) mit einer Jahreszahl (meist dem Gründungsjahr) wird auf einen Zeitraum gedeutet, der in der Vergangenheit begonnen hat und bis zur Gegenwart (und wohl darüber hinaus) andauert. Dabei finden nicht nur Zahlen Verwendung, die auf längst vergangene Zeiten (z. B. vergangene Jahrhunderte oder Epochen) verweisen, sondern auch solche, die auf eine junge Vergangenheit deuten. Mög‐ lich ist, dass diese Elemente ( Jahreszahl plus „seit“) in einigen Fällen einfach 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 140 <?page no="141"?> 28 So ist z. B. bei der Universität Luzern, der jüngsten der tertiären Institutionen in der Schweizer Hochschullandschaft, das Gründungsjahr in römischen Zahlen ins Logo in‐ tegriert. Auch macht sie vom „since 2001“ Gebrauch und setzt es auf Merchandi‐ sing-Produkten wie z. B. T-Shirts ein. Bei der Universität Genf ist das Gründungsdatum ebenfalls im Logo vorzufinden. Es ist also keineswegs so, dass die Vergangenheit bloss in der Deutschschweizer Hochschullandschaft als Werbemittel eingesetzt wird. Freilich stehen die Universitäten in der französischsprachigen Schweiz nicht im Zentrum der vorliegenden Arbeit. dazugehören und sozusagen Teil des Corporate Designs sind 28 . In anderen Fällen wird explizit auf die Geschichte Bezug genommen, und es werden z. B. glanz‐ volle Leistungen aus der Vergangenheit im gegenwärtigen Diskurs aktiv ver‐ wendet. Exemplarisch zeige ich anhand des von der ETH Zürich produzierten Wer‐ bematerials, wie selektive Bruchstücke der Vergangenheit darin welche Ver‐ wendung finden. Für meine Ausführungen habe ich mich für diese Universität entschieden, da sie auf analysierten Promotionsdokumenten und teilnehmender Beobachtung basieren. In der Broschüre, die von der Hochschulkommunikation der ETH Zürich konzipiert wurde, um die Institution vorzustellen, befindet sich auf einer der ersten Seiten der Titel „Zukunftsweisend seit 1855“. Der Untertitel lautet: „Seit ihrer Gründung ist die ETH Zürich eine treibende Kraft für die Schweizer Wirt‐ schaft, die weltweit bekannt ist für innovative Produkte und Dienstleistungen.“ Darunter folgt ein kurzer Text zur Geschichte der Institution. Die gegenüber‐ liegende Seite zieren Portraits in Schwarz-Weiss und eine Tabelle, welche die Überschrift „Im Kreise der Besten: Nobelpreisträger“ trägt. Es sind chronolo‐ gisch 21 Nobelpreisträger aufgelistet, die einst an der ETH Zürich waren. Es wird nicht spezifiziert, wer an der Institution lehrte, forschte, erfolgreich stu‐ dierte oder diese ohne Diplom wieder verliess (z. B. Albert Einstein). Einige dieser in der Broschüre aufgelisteten Persönlichkeiten wurden auch bei der Präsentation der ETH Zürich am Informationstag für MaturanInnden eingeblendet und genannt. Dabei wurde betont, dass die ETH sehr erfolgreiche Köpfe ausbilde. Potentiellen Studierenden wird das Bild vermittelt, sie beträten, als Teil der Institution, den „Kreis der Besten“. Die ETH Zürich bedient sich der traditions‐ reichen Vergangenheit als Ausdruck von kontinuierlichem Erfolg, der implizit auch Garant für die Zukunft ist. Es ist, als könne Vergangenes - oder eine be‐ stimmte Ansammlung daraus, die den gegenwärtigen Ruf der Institution prägt - in die Zukunft projiziert werden. Auch explizite Verweise auf die Zukunft prägen die Praktiken. Die VertreterInnen der ETH Zürich stellten den Gymna‐ siastInnen am Informationstag etwa in Aussicht, dass der Arbeitsmarkt sie er‐ 4.1 Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft 141 <?page no="142"?> 29 Dieses Statement stammt von einem Chemiestudenten der Universität Bern und war in einer Informationsbroschüre abgedruckt. warte. Bei ihrer Studienortswahl werden potentielle Studierende so, mittels einer „gloriosen“ Geschichte und der Aussicht auf eine erfolgreiche Zukunft, zur Wahl für die ETH Zürich gelenkt. Auch bei anderen Hochschulen scheint sich Historizität als Qualitäts- und Unterscheidungsmerkmal anzubieten. Dabei werden nur historische „Fakten“ erwähnt, die im gegenwärtigen Diskurs die Exzellenz und die Beständigkeit der Institution hervorstreichen. Ferner wird über die selektive Retrospektive auf eine glorreiche Zukunft der Institution und von deren AbsolventInnen ver‐ wiesen. Gescheiterte Forschungsergebnisse, Durchschnittsstudierende oder die Anzahl Studierende, die in der Vergangenheit die Universitätsausbildung abge‐ brochen hat (vgl. Meyer 1999), gehören nicht zu diesem „grand récit“ und werden ausgeklammert. 4.1.2.5 „Die Chemie stimmt an der Uni Bern 29 ! “: Narrative und performative Bezeugungen gegenwärtiger Studierender Sämtliche Universitäten im Fokus lassen die von ihnen produzierten Werbedis‐ kurse durch glaubwürdige ZeugInnen für wahr erklären. Dabei werden „narra‐ tives“ von Studierenden und zuweilen von ProfessorInnen eingesetzt. State‐ ments von Studierenden, die bekräftigen, dass es an der Universität „wirklich so ist“ und es sich nicht nur um leeres Marketingvokabular handelt, kommen in Broschüren, auf Flyern etc. vor. Zuweilen dienen „narratives“ dazu, einen Aspekt der gesamten Institution zu qualifizieren. Ein Statement einer Psychologiestu‐ dentin namens Andrea, das in einer Broschüre für Studieninteressierte der Uni‐ versität Bern abgedruckt war, lautet folgendermassen: „Die Uni Bern hat genau die richtige Grösse. Man kennt sich und lernt viel in Gruppen. Das ist effektiv und macht Spass.“ Im Unterschied zu Andreas Aussage, in der die ideale Grösse der Hochschule mit Familiarität und effektivem Lernen begründet wird und somit sämtliche Studieninteressierte, egal welcher Studienrichtung, angespro‐ chen sind, werden andere Statements für spezifischere Zwecke bzw. Interes‐ sengruppen eingesetzt. So stossen potentielle Studierende der Chemie oder po‐ tentielle Newcomer aus dem Tessin auf sie abgestimmte Aussagen von Studierenden oder ProfessorInnen (vgl. 4.1.2.6). Über diese „narratives“ hinaus werden VertreterInnen der Universität an In‐ formationstagen eingesetzt. Es handelt sich in diesem Fall nicht mehr um ein „blosses“ Statement, das evtl. von einem Portrait begleitet wird, wie mir der interviewte Marketingmanager ( MM ) der Universität Luzern im Ausschnitt 4 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 142 <?page no="143"?> erklärt. Die „narratives“ werden in der Situation kreiert, in der es die Institution zu vertreten gilt. Darüber hinaus wird eine Ad-hoc-Performanz geleistet. Im nachfolgenden Interviewausschnitt wird ferner erkennbar, wie aus Sicht der Institution die Stimmen von Studierenden einen Mehrwert darstellen können. MM: was mir mache . si . mir setze . studierendi lo studierendi lo rede/ . wiu die sege wirklich das/ sisch de nid eso . das si nid eifach nu marketingsprüch . das isch wirklich eso MM: was wir machen . ist . wir setzen . studierende lassen studierende reden/ . weil die sagen wirklich das/ das ist dann nicht so . das sind nicht einfach nur marketingslogans . das ist wirklich so INT: mhm INT: mhm MM: das isch ganz es erfolgversprechends . äh . instrument MM: das ist ein ganz erfolgversprechendes . äh . instrument INT: mer lönd studierendi rede/ i welem rahme/ INT: wir lassen studierende reden/ in welchem rahmen/ MM: .h einersits ebe uf de video . andersits was sehr wichtig isch . we mer a die studiewahlverastaltige gö neme mer studierendi mit/ MM: .h einerseits eben auf den videos . anderseits was sehr wichtig ist . wenn wir an diese studienwahlveranstaltungen gehen nehmen wir studierende mit/ . INT: aha ok INT: aha ok MM: und das isch no interessant . de die de isch d hemmschwelle isch eifach äh gringer . und sisch ou gloubwürdiger . wenn das ähm . öpper im gliche alter oder wo no nid e so wit eweg isch . die könne ou die problem besser vo dene junge . die sie . die si . oder viufach wü& . di hei jo ke ahnig was anere ju& uni abgeit . die maturande . und wüsse ou nid was studiere . hei villicht so vagi idee . und wie mer näher e bachelorstudent oder studentin det here schicke . för die isch das no nid e so wit weg . die chöi sich i die ine versetze und und . und chö die derte de MM: und das ist noch interessant . dann diese dann ist die hemmschwelle einfach äh geringer . und es ist auch glaubwürdiger . wenn das ähm. jemand im gleichen alter oder der noch nicht so weit weg ist . die kennen auch die probleme besser von den jungen . die sie . die sie . oder vielfach wiss& . die haben ja keine ahnung was an einer ju& uni abgeht . die maturanden . und wissen auch nicht was sie studieren sollen . haben vielleicht so vage ideen . und weil wir dann einen bachelorstudenten oder eine studentin dorthin schicken . für die ist das noch nicht so 4.1 Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft 143 <?page no="144"?> eigentlich ou gueti tipps geh und . und weit weg . die können sich in diese reinversetzen und und . und können diesen dort dann eigentlich auch gute tipps geben und . und. INT: mhm INT: mhm MM: und gspüre die ou besser/ MM: und spüren diese auch besser/ Ausschnitt 4: Studierende als erfolgversprechendes Instrument, Juli 2014, Marketingma‐ nager, Universität Luzern Studierende dienen, gerade im Rahmen von Studienwahlveranstaltungen, als Personen, auf die sich GymnasiastInnen zuzugehen trauen. Sie sind Maturan‐ dInnen einen Schritt voraus, haben sich - in diesem Fall - für die Universität Luzern entschieden, und beraten auf dieser gemachten Entscheidung basierend potentielle Newcomer. Sie geben den Universitäten ein studentisches Gesicht, eine junge Stimme und - wie im folgenden Unterkapitel zum Ausdruck kommt - zuweilen auch ihre Sprache (letztere wird an ihre Herkunft gekoppelt, aus der zu schliessen ist, dass sie sich für die Mobilität entschieden haben). Indem diese Studierenden Ratschläge erteilen, legitimieren sie ihre eigene Hochschulwahl. Auf diesem Hintergrund produzieren sie Diskurse, in denen Elemente aus der universitären Werbepraxis wiederzufinden sind oder adaptiert werden. Die stu‐ dentischen Bekräftigungen unterscheiden sich insofern von jenen, die auf in‐ stitutioneller Ebene produziert werden, als ihnen eine persönliche Note an‐ haftet. Studierende begründen aus ihrer individuellen Warte und mit ihrer individuellen physischen Präsenz, weshalb dieser oder jener Vorteil die Univer‐ sität Luzern für sie ausmacht. Es ist dies, was der Marketingverantwortliche mit „glaubhaft“ bezeichnet. Studierende müssen glaubwürdig erscheinen, um ihr Gesicht zu wahren und ihre Entscheidung nachvollziehbar zu machen. Dies führt dazu, dass sie einen Diskurs (re-)produzieren, der diesem Unterfangen dient. 4.1.2.6 Sprache(n) als Werbeinstrument und -strategie Gegenwärtig ist der Dienstleistungssektor dominierend, und somit sind Kom‐ munikations- und Sprachkompetenzen zur Ressource und zum Arbeitsinstru‐ ment geworden (vgl. Cameron 2000; Boutet 2008; Heller 2003; Duchêne 2009, 2012; Heller & Duchêne 2012). Unternehmen gelingt es, über Sprachkompe‐ tenzen neue Märkte zu erschliessen und Zielgruppen zu erreichen (Piller 2001; Kelly-Holmes 2006). Es ist also nicht erstaunlich, dass Sprachkompetenzen - 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 144 <?page no="145"?> sowohl auf institutioneller als auch auf individueller Ebene - zum Unterschei‐ dungsmerkmal geworden sind (Bourdieu 1979). Sie erlauben es, sich im Ar‐ beitsmarkt als „anders“ zu positionieren (Irvine 1989). Darüber hinaus - und dies ist unter gegenwärtigen politisch-ökonomischen Bedingungen wichtiger - bringt die Sprachkompetenz den Vorteil mit sich, aus ihr ökonomischen Nutzen ziehen zu können. Dieser Trend ist auch im öffentlichen Sektor und somit im Hochschulbereich spürbar. Universitäre Akteure betrachten Sprache vermehrt aus diesem ökonomischen Blickwinkel und setzen sie bewusst entsprechend ein (vgl. Urciuoli 2003). Sprache kommt im Promotionsstreben der Universitäten eine zentrale Rolle zu. Sie ist fundamentaler Bestandteil des gesamten Werbematerials, womit Uni‐ versitäten an zukünftige Studierende gelangen. Auf Flyern, in Broschüren etc. wird über Sprache kommuniziert, welche Vorzüge eine bestimmte Hochschule aufweist. In Präsentationen versuchen die Universitäten potentielle Studierende über Sprache (mit den „richtigen“ Worten oder dem richtigen Register) in ihrem Entscheidungsprozess zu beeinflussen. Ferner werben verschiedene Instituti‐ onen um potentielle Newcomer nicht nur im „passenden“ Register, sondern auch in der „Sprache“, die sie ihnen zufolge am besten verstehen. Dies führt dazu, dass manche Hochschulen z. B. Werbebroschüren mehrsprachig gestalten oder in mehreren Sprachen drucken. Nicht immer handelt es sich dabei ausschliesslich um eine Übersetzung der z. B. auf Deutsch verfassten Texte. In einigen Fällen wird für eine spezifische Gruppe Studieninteressierter Material in „ihrer“ Sprache produziert. Die Schweizer Universitäten unterscheiden sich darin, wie und aus welchen Gründen sie Sprachen in ihrer Werbepraxis einsetzen. Dies hängt u. a. davon ab, ob es sich um eine kantonale oder eidgenössische Hochschule handelt. Während die erste auf die von Studierendenzahlen abhängige Finanzierung des Bundes ( UFG ) und die Beiträge der Herkunftskantone anderer Studierender ( IUV ), also jener aus anderen Kantonen als demjenigen, wo die Universität sich befindet, angewiesen ist, wird die zweite vom Bund getragen und unterliegt dem Bun‐ desgesetz über die Eidgenössischen Technischen Hochschulen ( ETH -Gesetz 1991). Die unterschiedliche Gesetzeslage widerspiegelt sich in institutionellen Werbepraktiken und wirkt sich - wie in vorliegendem Unterkapitel ersichtlich wird - darauf aus, welche Rolle Sprachen dabei zukommt. Um die Rolle der Sprache zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die bisher nur am Rande erwähnte, im Gesetz verankerte Unterscheidung der beiden Hochschultypen, die sich in der Hochschulsubventionierung niederschlägt. Für die ETH -Finanzierung wird jeweils auf vier Jahre ein Zahlungsrahmen festgelegt. Darin ist keine mathematische Formel punkto Finanzierung aufgrund 4.1 Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft 145 <?page no="146"?> 30 Vergleiche dazu etwa die Interpellation „Ungleichgewichtige Hochschulfinanzierung“ von Gian-Reto Plattner (1999). http: / / www.parlament.ch/ d/ suche/ seiten/ geschaefte. aspx? gesch_id=19993224 [letzter Zugriff, 08. 12. 2015]. Plattner war Sozialdemokrat und von 1991-2003 für den Kanton Basel-Stadt im Ständerat. von Studierendenzahlen zu finden, wie dies bei den Grundbeiträgen der kanto‐ nalen Hochschulen der Fall ist. Diese „Ungleichbehandlung“ wurde in politi‐ schen Diskussionen mehrmals vorgebracht, wobei etwa die Interpellation Plattner (1999) besagte, die kantonalen Universitäten hätten fünfmal mehr Stu‐ dierende und würden insgesamt dreimal weniger Geld pro Kopf und Jahr er‐ halten als die ETH 30 . Ferner sei es so, dass die IUV die ETH begünstige, da es für einen Nichthochschulkanton rentabler sei, wenn sich seine Studierenden für die ETH (und nicht für eine kantonale Universität) entschieden. Daraus lasse sich folgern, dass jenen GymnasiastInnen, die sich für einen sowohl an der ETH als auch an einer kantonalen Universität angebotenen Studiengang interes‐ sierten, die ETH empfohlen werde. Dies wiederum sei für die kantonalen Uni‐ versitäten, deren Grundbeiträge von Studierendenzahlen abhängig seien, un‐ günstig und benachteilige sie im Wettbewerb. Der Bundesrat antwortete Plattner, dass bisher kein Informationssystem existiere, das einen seriösen Ver‐ gleich der Geldmittelvergabe ermögliche (Interpellation [3224] Plattner 1999: 7), und nannte andere Zahlen, die auf einen geringeren Unterschied zwischen den Subventionen für die kantonalen und jenen für die eidgenössischen Hoch‐ schulen hindeuteten. Er räumte jedoch ein, dass die IUV durchaus ein Mittel sein könne, Studierende an die ETH s zu binden. Ebenfalls wies er darauf hin, dass es zwar nicht dem Willen des Bundes entspreche, eine Ungleichgewichts‐ situation zu fördern, dieser aber laut Bundesverfassung auch nicht den Auftrag habe, eine gleichmässige Verteilung der gesamten Geldmittel zu garantieren (Bundesverfassung 1999, Art. 63, Abs. 2). Auch wenn nicht im Detail klar wird, in welchem Ausmass die ETH gegen‐ über den kantonalen Hochschulen finanziell im Vorteil ist, liegt den beiden Hochschultypen ein je eigenes, auf die historische Entwicklung zurückzufüh‐ rendes Gesetz zugrunde, worin die Vergabe unterschiedlich hoher Ressourcen seitens des Bundes definiert ist ( OECD 2004). Diese unterschiedliche Gesetzes‐ lage zeigt sich in institutionellen Werbepraktiken und der darin den Sprachen zuteilwerdenden Rolle. So ist an der ETH Zürich die schriftliche Begrüssung des Rektors, worin er die GymnasiastInnen auf der ersten Seite der eigens für den Informationstag 2012 gedruckten Broschüre willkommen heisst, dreisprachig: Deutsch, Franzö‐ sisch und Italienisch. Inhaltlich sind die drei Fassungen identisch. Die restliche Broschüre ist, von einem Abschnitt abgesehen, auf Deutsch verfasst. Auch wenn 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 146 <?page no="147"?> 31 1848 war noch von einer Schule für das höhere Studium der exakten, politischen und humanistischen Wissenschaften und einer polytechnischen Schule die Rede. Aufgrund heftigen Widerstands seitens der Kantone, die über Universitäten verfügten und sich vor Konkurrenz fürchteten, wurde schliesslich nur das Polytechnikum realisiert. 32 Stefano Franscini (1796-1857) war von 1848 bis 1857 Bundesrat und engagierte sich stark für eine nationale Bildungsanstalt. 1847 bemerkte er, dass die lokale und konfes‐ sionelle Selbstsucht dem Vorhaben im Wege stehe (vgl. Scherrer 1955 zur politischen brisanten Gründungsgeschichte der ETH). 33 Die Bundesverfassung von 1848 anerkannte im Artikel 109 Französisch, Deutsch und Italienisch als gleichwertige Nationalsprachen. an der ETH Zürich kein Studium auf Französisch oder Italienisch angeboten wird - gelehrt wird im Bachelor v. a. auf Deutsch, im Master je nach Studiengang auf Deutsch und Englisch - findet sich neben dieser dreisprachigen Begrüssung in der Broschüre eine Seite, die den Titel „Präsentationen auf Italienisch und Französisch“ trägt. Dort sind einige Zeitfenster aufgelistet, in denen an diesem Orientierungstag etwa der Studiengang „Lebensmittelwissenschaft“ auf Fran‐ zösisch („Sciences alimentaires“) oder auf Italienisch („Scienze alimentari“) vor‐ gestellt wird. Lebensmittelwissenschaft ist ein Studiengang, der in dieser Form schweizweit nur an der ETH Zürich angeboten wird. Die Entscheidung, diesen Studiengang nicht bloss auf Deutsch zu erläutern, verstehe ich auf dem Hintergrund des ETH -Gesetzes. In Art. 12 steht: „Die ETH pflegen die Nationalsprachen und fördern das Verständnis für deren kulturellen [sic! ] Werte.“ Auch wenn im Studium in Zürich die anderen Nationalsprachen kaum vertreten sind, kommt die ETH Zürich interessierten MaturandInnen - GymnasiastInnen aus dem italienisch- oder französischsprachigen Gebiet, die weniger als ein Schuljahr von ihrer Studienreife trennt und die ein Studium in der Deutschschweiz in Betracht ziehen - am Informationstag sprachlich ent‐ gegen. Diese mehrsprachige Praktik interpretiere ich als Implementation des Gesetzesartikels. Es geht hier weniger darum, GymnasiastInnen mittels der Sprache für ein Studium an der ETH zu gewinnen bzw. den Gebrauch der Na‐ tionalsprachen in der Schweizer Hochschullandschaft zwecks Studierendenak‐ quirierung einzusetzen. Vielmehr ist Art. 12 als Ausdruck nationaler Interessen zu verstehen, die auf die Zeit der Gründung des schweizerischen Bundesstaates 1848 zurückgehen. Damals war es wichtig, mit einer überregionalen Institution zur inneren und äusseren Stärkung der politisch noch jungen Schweiz beizu‐ tragen. So wurde der Bund bereits in der Bundesverfassung 1848 dazu ermäch‐ tigt, staatliche Bildungsstätten zu errichten 31 (Bundesverfassung 1848, Art. 22). Diese Berechtigung war aber u. a. 32 wegen der Mehrsprachigkeit 33 des Landes äusserst kontrovers. 1854 mündeten die Anstrengungen, einen „geistigen Ei‐ nigungspunkt für die gesamte Nation“ (zitiert nach Scherrer 1955: 597) zu 4.1 Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft 147 <?page no="148"?> 34 „Bundesgesetz betreffend die Errichtung einer eidgenössischen polytechnischen Schule vom 7. Februar 1854“ (Schweizer Bundesarchiv). schaffen, schliesslich in einem auf Deutsch, Französisch und Italienisch ver‐ fassten Gesetz 34 . Im vierten Artikel der „Allgemeinen Bestimmungen“ wurde auf die Sprachen hingewiesen (vgl. Figure 2). Figure 2: Sprachenregelung im Bundesgesetz zur Errichtung einer eidgenössischen po‐ lytechnischen Schule (1854) Dies war notwendig, um alle Regionen und die damit verbundenen Sprachen in der nationalen Universität zu vereinen und die eingesetzten staatlichen Res‐ sourcen zu rechtfertigen (Scherrer 1955). Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die kantonale Universität Luzern, stellen wir fest, dass dort ebenfalls mehrsprachige Praktiken beobachtbar sind. Z. B. werden übersetzte oder gar auf italienischsprachige Studierende ausge‐ richtete Broschüren produziert. Ferner werden am Informationstag Präsentati‐ onen „per i Ticinesi“ (für die TessinerInnen) angeboten. Der interviewte Mar‐ ketingmanager aus Luzern erklärte mir, sie würden mit diesen sprachlichen Massnahmen den Zugang der Studierenden sicherstellen (es geit eifach 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 148 <?page no="149"?> drum de zuegang e chli äh sicherzsteue). Um den Zugang im Sinne einer Zulassungsberechtigung müssen die Universitäten sich nicht küm‐ mern. Das Maturazeugnis gewährt den Studierenden Zugang zu allen Schweizer Hochschulen. Es liegt aber im Interesse der kantonalen Universitäten, sich um möglichst grossen Zulauf zu bemühen. Dabei dienen ihnen nicht nur die „rich‐ tigen“, überzeugenden Worte, sondern eben auch die entsprechenden Sprachen (Bourdieu 1979). In Ausschnitt 5 spricht der Luzerner Marketingmanager darüber, inwiefern sich spezielle Sprachangebote gegenüber welcher Studierendenpopulation lohnen würden. MM: und e so gseh ääh . eigentlich ou d diversität vo de schwyz us . dass mer ääh . dass mer das hei\ . das würde mir durchus begrüesse . aso isch klar . aso mir si froh . u u & und positiv . gegenüber aune stud& äh studierende/ . aber . es isch natürlich . begrieflich dass mer jetzt gad us de westschwyz . dass det haut dsprochgrenze e e e grösseri barriere isch . und die hei haut anderi alternative i de westschwyz . wo s (jetzt) die studierende us em tessin nid unbedingt hei . und drum lohnt sich s dete meh . spezielli agebot zmache MM: und so gesehen ääh . eigentlich auch die diversität in der schweiz . dass wir ääh . dass wir diese haben\ . das würden wir durchaus begrüssen . also es ist klar . also wir sind froh . und und & und positiv . gegenüber allen stud& äh studierenden/ . aber . es ist natürlich . begreiflich dass wir jetzt nicht gerade aus der westschweiz . dass dort halt die sprachgrenze eine eine eine grössere barriere ist . und diese halt andere alternativen haben in der westschweiz . die (jetzt) die studierenden aus dem tessin nicht unbedingt haben . und darum lohnt es sich dort mehr . spezielle angebote zu machen Ausschnitt 5: Tessiner lohnen sich, Juli 2014, Marketingmanager, Universität Luzern So findet etwa die Vorstellung des juristischen Studiengangs am Informationstag auf Italienisch statt - dies, obwohl Italienisch im Studium nicht die Haupt‐ sprache darstellt. Auch Deutsch ist im Rahmen solcher Präsentationen Thema. Auf Italienisch wird erwähnt, wie hilfreich deutsche Sprachkenntnisse im Hin‐ blick auf die berufliche Zukunft seien und wie praktisch es sei, diese sich wäh‐ rend des Studiums, „sozusagen nebenher“, anzueignen. Somit wird - nach wie vor auf Italienisch - zukünftigen Studierenden implizit gezeigt, inwiefern sich ihre Mobilität - sollten sie sich für ein Studium an der Universität Luzern ent‐ 4.1 Die Annäherung von Bildung und Wirtschaft 149 <?page no="150"?> scheiden - abgesehen von anderen Vorteilen, die diese Institutionswahl mit sich bringe - auch auf sprachlicher Ebene lohne. Das Angebot, das Jura-Studium in Luzern auf Italienisch vorzustellen, entstand, weil die Institution davon ausging, die TessinerInnen - im Tessin existiert keine Rechtsfakultät - würden sich „aus‐ zahlen“ (d. h. immatrikulieren und somit Beiträge beisteuern). Der Marketing‐ manager tippt während dem Interview mit dem Finger auf eine Tabelle im Jah‐ resbericht und fügt an, die Studierenden aus dem Tessin machten rund 5 % der Studierendenschaft in Luzern aus. Wer sich den TessinerInnen so anpasst, han‐ delt gemäss der Strategie, sich im Schweizer Hochschulwettbewerb zu profi‐ lieren und zu positionieren. Auch wenn die mehrsprachigen Praktiken der kantonalen oder nationalen Hochschulen verschiedene Hintergründe haben, basieren sie auf einer gemein‐ samen Ideologie. So sind Präsentationen auf Französisch oder Italienisch darauf ausgerichtet, Romands bzw. TessinerInnen entgegenzukommen. Diese werden als homogene Gruppen aufgefasst, denen erstens je eine Sprache (Französisch bzw. Italienisch) zugeordnet werden kann und in denen alle Zugehörigen die gleichen Bedürfnisse haben. Es wird ihnen in „ihrer“ Sprache erklärt, was für Vorteile z. B. ein Studiengang mit sich bringe. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Sprachen Universitäten u. a. als Instrument dienen, ihren gesetzlichen Pflichten nachzukommen, sich im Wett‐ bewerb zu behaupten und zu profilieren. Mit dem Bestreben, im Wettbewerb zu bestehen, wird die Macht, die Sprache gegenwärtig zukommt, diskursiv unter‐ strichen und an die Mobilität - auch an ihr werden Vorteile festgemacht - ge‐ koppelt. Im nächsten Teil setze ich mich ausführlich damit auseinander, welcher Mehrwehrt Sprache und Mobilität beigeordnet und wie Sprache als Teil der universitären Werbepraktiken umgesetzt wird. 4.2 Mehrwert versprechen und Bedürfnisse schaffen: das diskursiv konstruierte Kapital, das der studentischen Mobilität und Sprache anhaftet Wie in 4.1 beschrieben, sind Universitäten zu Betrieben geworden, die markt‐ wirtschaftlichen Prinzipien folgen. Das heisst, dass heutige Hochschulreformen nicht darauf abzielen, etwa den Zusammenhang von Wissenschaft und Verant‐ wortung zu verstärken oder den Sinn hierarchischer Ordnung kritisch zu prüfen (vgl. Lohmann 2002: 2), sondern darauf, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu fördern. Weiter bedeutet dies, dass Universitäten - in ihrem Bestreben, im Markt zu be‐ stehen - ihren Studierenden gegenüber marktwirtschaftlich argumentieren (vgl. 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 150 <?page no="151"?> Ruhloff 2007). Diskursiv werden während der Studienzeit erworbene Kompe‐ tenzen unterschiedlichster Art zur Ressource, die auf dem Arbeitsmarkt valori‐ siert wird. Dabei spielen nicht nur „akademische“ Kompetenzen eine Rolle. Im Folgenden lege ich dar, wie universitäre Akteure auf dem Hintergrund dieser Wettbewerbskultur potentiellen Studierenden gegenübertreten und ihnen eine „sichere Zukunft“ unter der Bedingung versprechen, dass sie bereit seien, Mobilität als Chance wahrzunehmen und zum Erwerb bzw. zum sicheren Gebrauch einer Fremdsprache ja zu sagen (4.2.1). Dabei zeige ich auf, dass Stu‐ dierende als marktkonforme Akteure konstruiert werden, welche im Begriff sind, sich auf ihre berufliche Aktivität vorzubereiten. Mit dem Propagieren dieser „sicheren Zukunft“ wird das Bedürfnis kreiert, gewisse Kapitalformen zu erlangen, um für den Markt gerüstet zu sein. Für viele TessinerInnen geht damit eine Mobilitätssituation einher, die mit Spracherwerb verknüpft wird. Da verschiedene universitäre Akteure erkannt haben, dass die Aussicht, die eigene Sprachregion des Studiums wegen zu verlassen, an potentielle Newcomer einige Ansprüche stellt, bieten sie ihnen sprachliche und soziale Unterstützung. Diese Angebote sind mit der neoliberalen Logik konform. Wie aus der Analyse ersichtlich wird (4.2.2), sind diese vorwiegend dazu da, den Wettbewerbsvorteil der Universitäten in der Hochschullandschaft zu verstärken. Darüber hinaus erlauben sie Universitäten, Verantwortung an die Studierenden abzugeben. Dies gelingt deshalb, weil jede und jeder Studierende - ein Individuum in der Vor‐ bereitung auf den Wettbewerb - sich in ihrer bzw. seiner studentischen Mobi‐ litätssituation behaupten muss. Sie bzw. er ist sich dessen bewusst, dass sie bzw. er in der marktwirtschaftlich geprägten Gesellschaft als „corporate individual“ agiert, das sich mit seinem einsetzbaren Kompetenzenbündel selbst zu managen hat (vgl. Gershon 2011: 546). 4.2.1 Aussicht auf eine sichere Zukunft dank Sprache und studentischer Mobilität Die Vorteile, die diskursiv an Sprache und Mobilität festgemacht werden, sind fast nicht voneinander zu trennen. Ihnen liegen Ideologien zugrunde, die auf der Vorstellung beruhen, dass erstens in einer Region eine Sprache (oder im Fall von Fribourg zwei Sprachen) gesprochen werden und man zweitens durch einen Aufenthalt (z. B. ein Studium) in dieser Region sich die Sprache(n) „automatisch“ und noch dazu ausgesprochen gut aneigne. Diese scheinbar unantastbare Glei‐ chung „Mobilität = Spracherwerb“ bringt auch ein klares Verständnis mit sich, was als Mobilität zählt (und was nicht) und welche Sprachen als „erwerbens‐ 4.2 Mehrwert versprechen und Bedürfnisse schaffen 151 <?page no="152"?> wert“ gelten. Darüber hinaus gewährleistet sie universitären Akteuren eine Handlungsbasis, die nur selten expliziter Erläuterungen bedarf. Der Gleichung liegt eine Zukunftsorientierung zugrunde, wobei das Ver‐ ständnis der Zukunft eindeutig ist. Zukunft beginnt mit dem Eintritt in den Arbeitsmarkt, wo dann jegliche Formen von Kapital zum Einsatz kommen. Die Zeit davor - etwa die Studienzeit - zählt nicht zur Zukunft, sie liegt irgendwo zwischen Gegenwart und Zukunft. So werden während des Studiums erworbene Deutschkompetenzen im Hinblick auf die berufliche Tätigkeit / Position dis‐ kursiv als nützlich konstruiert. Diese Zukunftsvorstellung und die Ressourcen, die während des Studiums im Hinblick auf die Zukunft erlangt werden, bringen die Annäherung von Bildung und Wirtschaft erneut zum Ausdruck. Diese Aus‐ führungen mögen etwas abstrakt anmuten. Die folgenden Abschnitte sollen an‐ hand ethnographischer Daten Klärung bringen. Die Organisatorin des im Tessin stattfindenden Informationstags ( OK ) geht im Interview auf den Mehrwert ein, den sie an der Mobilität festmacht. In ihrer Anknüpfung wird die oben genannte Gleichung ersichtlich. OK: credo che questo faccia io credo che faccia tanto bene andar fuori di casa no/ perché diventano più indipendenti e cominciano a dirsi insomma .. il mondo è grande teniamo anche altre occasioni OK: ich glaube dass das ich glaube dass das sehr gut tut von zuhause wegzugehen nicht wahr/ weil sie werden so unabhängiger und beginnen sich zu sagen .. die welt ist gross und wir haben auch andere möglichkeiten INT: chiaro sì sì . poi parlando di questa questa mobilità anche cioè . lei dice sta dicendo infatti fa anche bene andarsene INT: klar ja ja . dann wenn wir von dieser mobilität sprechen auch also . sie sagen sie sagen dass es auch gut tut wegzugehen OK: impari la lingua .. perfettamente . io sono andata nella svizzera francese e sono praticamente bilingue adesso col francese . mi dispiace di non aver fatto così .. avrei voluto fare di più sul tedesco adesso ogni tanto me ne pento però è è veramente interessante questo . perché in teoria il ticino è molto bello ma siamo tanto pi: ccoli metter fuori il naso secondo me fa molto bene\ OK: du lernst die sprache .. perfekt . ich bin in die französische schweiz gegangen und ich bin jetzt praktisch zweisprachig mit dem franözsischen . es tut mir leid dass ich es nicht so gemacht hatte .. ich hätte gerne etwas mehr zum deutschen gemacht jetzt bedauere ich es manchmal aber das ist ist wirklich interessant . weil theoretisch ist das tessin schon sehr schön aber wir sind sehr kle: in ich finde es tut 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 152 <?page no="153"?> 35 Die Aufgaben dieses Amts sind im kantonalen „Regolamento sull’orientamento scolas‐ tico e professionale“ (1998) festgelegt. sehr gut etwas anderes zu sehen\ INT: mhm mhm INT: mhm mhm OK: uno apre un po’ gli orizzonti vede cose nuove dopo se torna va benissimo anzi torna arricchito\ OK: man erweitert so ein wenig seinen horizont sieht neue dinge danach wenn man retourkommt ist das auch bestens man kommt bereichert retour\ Ausschnitt 6: Vorzüge der Mobilität, 13. 02. 2014, OK (Organisationskomitee „Orientati“) Gemäss OK erlangt man mit einem Studium ausserhalb der eigenen Sprachre‐ gion sehr hohe Sprachkompetenzen (impari la lingua .. perfettamente; du lernst die sprache .. perfekt), erweitert den Horizont (uno apre un po’ gli orizzonti) und kommt bereichert retour (torna arricchito\). So wie OK haben viele, die für studentische Mobilität plädieren, ihre tertiäre Ausbildung ausserhalb des Tessins absolviert. Bevor ich weitere Beispiele anführe, die den Mehrwert der Mobilität (und des Spracherwerbs) aufzeigen, lohnt es sich, die Äusserungen von OK kritisch zu betrachten. Diese sind nicht bloss an ihrer persönlichen Geschichte festzuma‐ chen. Sie sind auch mit ihrer Position verbunden. Als Organisatorin des im Tessin stattfindenden Informationstags, an welchem alle Schweizer Universi‐ täten vertreten sind, ist sie dafür zuständig, für die gesamte Schweizer Hoch‐ schullandschaft zu werben, was zur Folge hat, dass sie auch für die Mobilität wirbt. Als ich sie im weiteren Verlauf des Interviews danach frage, welches aus ihrer Sicht das Ziel des Informationstags im Tessin sei, verweist sie denn auch ausdrücklich auf den weiten Horizont ihres Auftrags (noi gli diamo veramente un’ apertura a trecentosessanta gradi su tutta l’offerta che c’è . eh accademica in svizzera; wir geben ihnen wirklich einen überblick von dreihundertsechzig grad über das ganze . ähm akademische angebot das es in der schweiz gibt). Neben ihrer Tätigkeit als Organisatorin des Informationstags arbeitet OK im „Ufficio dell'orientamento scolastico e professionale“ (Amt für schulische und berufliche Beratung) 35 , welches dem „Dipartimento dell'educazione, della cul‐ tura e dello sport“ (Departement für Erziehung, Kultur und Sport) angehört. Die Verwaltung des Kantons Tessin gliedert sich in fünf Departemente, die je von 4.2 Mehrwert versprechen und Bedürfnisse schaffen 153 <?page no="154"?> 36 Neuste Berechnung des BFS haben ergeben, dass im Tessin im Vergleich mit anderen Bergkantonen eine rückläufige Abwanderung zu verzeichnen ist und gut 60 % derje‐ nigen, welche eine tertiäre Ausbildung ausserhalb des Tessins durchlaufen haben, wieder zurückkehren. Vgl. z. B. den Artikel in „20 Minuti“: http: / / www.tio.ch/ News/ Ticino/ Attualita/ 1022544/ -Fuga-dei-cervelli-il-60--dei-ticinesi-preferisce-il-cantone/ [letzter Zugriff, 28. 12. 2015]. 37 Ihre Publikation widmet sich dem Brain Drain in verschiedenen Schweizer Bergge‐ bieten. einem Mitglied des „consiglio dello stato“ (Staatsrat, Exekutive) geleitet werden. Während die einzelnen Departemente einige Autonomie haben, sind verschie‐ dene Themen departementsübergreifend relevant und deren Bearbeitung wird deshalb koordiniert. So sind etwa mehrere Departemente daran interessiert, die TessinerInnen, deren Studium der Kanton mitfinanziert hat, nach Vollendung ihrer Ausbildung im Tessiner Arbeitsmarkt zu integrieren, statt sie an Nach‐ barkantone oder ans Ausland zu verlieren. Dieses Interesse zeigt sich in immer wiederkehrenden politischen Debatten, vom Kanton veranlassten Berech‐ nungen des Bundesamts für Statistik und Studien zur „Fuga dei cervelli“ (besser bekannt als „Brain Drain“) im Tessin 36 (vgl. auch Egger et al. 2003 37 ). OK spricht in diesem Zusammenhang auch davon, dass der Kanton Tessin grosse Summen für Studierende ausgebe, wobei sie das Wort „ausgeben“ durch „investieren“ ersetzt (effettivamente vengono spesi tanti soldi non spesi . investiti; tatsächlich wird viel geld ausgegeben nicht ausgegeben . investiert). Der Kanton Tessin inves‐ tiert mit Vorliebe in die Ausbildung von Studierenden, wenn sie als Hochquali‐ fizierte in ihre engere Heimat retournieren und somit „zuhause“ mit ihrer Arbeitskraft einen wirtschaftlichen Beitrag leisten. Auf diesem politischen Hintergrund könnte das von OK geäusserte Statement se torna va benissimo anzi torna arricchito\ (wenn man retourkommt ist das auch bestens man kommt bereichert retour\) verstanden werden. „Bereichert zurückzukehren“ gehört offenbar zum Verständnis der Tessiner Studierendenmobilität, die auf politischer Ebene propagiert wird. Dem Diskurs rund ums „Weggehen, um (bereichert) wieder‐ zukommen“ begegnet man an etlichen Stellen. Eine für die Hochschulkommu‐ nikation und das Marketing des Informationstags im Tessin Mitverantwortliche sagt etwa zu mir, es seien schon etliche Generationen aus dem Tessin wegge‐ gangen und zurückgekommen. Das sei eine bewährte Tradition. Weiter äussert sie: „stare qua in ticino non ti apre la mente“ (hier im tessin zu bleiben öffnet dir den geist nicht). Es stellt sich hier die Frage, inwiefern trotz der USI , die seit 1996 eine tertiäre Ausbildung im Tessin anbietet, diese eine wirkliche (bzw. legitime) Option darstellt. Das limi‐ 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 154 <?page no="155"?> tierte Studienangebot im Tessin trägt zwar ohne Zweifel dazu bei, dass Tessiner GymnasiastInnen ihre Heimat verlassen. Es mag aber auch sein, dass die vormals inexistente Möglichkeit, im Kanton zu studieren, Auswirkungen darauf hat, wie ein Studium im Kanton heutzutage beurteilt wird und eine auf der Mobilitäts‐ tradition basierende Erwartungshaltung mit sich bringt (mehr dazu im Ka‐ pitel 5). Im Gespräch mit GymnasiastInnen bestätigt sich diese Vermutung. Die‐ jenigen, die ein Studium im Tessin ins Auge fassen, schieben sofort eine Erklärung hinterher. So erklärt mir eine GymnasiastIn, sie wolle möglicherweise Kindergärtnerin werden und denke deshalb daran, ihre Ausbildung im Tessin zu machen. Nach dem Bachelor habe man ein eidgenössisches Diplom und könne überall in der Schweiz unterrichten, aber man sei schon angesehener, wenn man im Tessin ausgebildet worden sei und sich in der lokalen Schulland‐ schaft auskenne. Während OK die Sprachkompetenzen an der Mobilität festmacht und ihr Blick sich auf die Zukunft des „tornare arricchito“ richtet, sind andere viel ex‐ pliziter, wenn es darum geht, den Mehrwert aufzuzeigen, den ein Studium aus‐ serhalb der eigenen Sprachregion einträgt. Der Manager der juristischen Fa‐ kultät Luzern etwa, der am Informationstag im Tessin einige deutsche Sätze an die GymnasiastInnen richtete, sprach vom „grossen Vorteil“, den das Deutsche mit sich bringe. Man mache während des Studiums grosse Fortschritte, die einem nachher zugutekommen würden. Das „Nachher“ war im Rahmen der‐ selben Präsentation von seiner italienischsprachigen Kollegin gleich zu Beginn erläutert worden. Die Professorin geht auf die verschiedenen Berufsmöglichkeiten ein, die sich einem nach dem Jura-Studium böten (eine Liste erscheint auf der Folie). Sie erwähnt die folgenden Berufe / Tätigkeitsfelder: avvocato (Anwalt); giudice (Richter); magistrato ( Justizbeamter); procuratore pubblico (Staatsanwalt); cancelliere (Gerichtsschreiber); giurista nell’amministrazione pubblica ( Ju‐ rist in der öffentlichen Verwaltung), in imprese private (in privaten Unter‐ nehmen), in politica (in der Politik); diplomatico (Diplomat); manager (Ma‐ nager); notaio (Notar); professore (Professor). 4.2 Mehrwert versprechen und Bedürfnisse schaffen 155 <?page no="156"?> Sie erwähnt weiterhin, dass ein juristisches Studium einem „ottime possibilità sul mercato del lavoro“ (beste Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt) biete und „stipendi alti“ (hohe Löhne) garantiert seien. Ausserdem gebe es verschiedene mögliche Berufsfelder, man könne sich aber auch spezialisieren und habe ein solides Ausbildungsfundament für zukünftige Tätigkeiten. Feldnotizen 1: Präsentation der juristischen Fakultät der Universität Luzern, 05. 02. 2014, Informationstag in Lugano Eine vielversprechende Perspektive im Hinblick auf den Arbeitsmarkt gehört zum obligaten Werbeelement und kommt an verschiedenen Universitäten in jeder Präsentation von Studienfächern vor. Als am Informationstag der Univer‐ sität Bern der Studiengang Veterinärmedizin vorgestellt wurde, folgte unmit‐ telbar auf die Begrüssung eine lange Auflistung von Jobaussichten (Professorin, Zootierarzt, Kleintierneurologe, Armeetierarzt, Produkt-Managerin, Pferdetier‐ arzt, Grosstierarzt, Labortierarzt, Entwicklungshelfer etc.). Weiter wurde darauf hingewiesen, dass man als VeterinärIn nicht arbeitslos werde und mit einem guten Einkommen rechnen könne. Weder bei der Präsentation von Jura (Luzern) noch bei derjenigen von Vete‐ rinärmedizin (Bern) - beide richten sich an Tessiner GymnasiastInnen - wird direkte Überzeugungsarbeit in Bezug auf Mobilität geleistet. Dies dürfte auch nicht nötig sein, da keiner der beiden Studiengänge im Tessin angeboten wird. Entscheidet sich eine Tessiner Gymnasiastin für einen für die berufliche Zukunft viel versprechenden Studiengang, bedingt dies nach universitärer Logik die Mobilität und bringt die Möglichkeit mit sich, die Sprachkompetenzen sozu‐ sagen nebenbei zu verbessern. Geworben wird also nicht für die Mobilität, son‐ dern für die Studiengänge selbst (zum Teil auch in der Sprache potentieller Newcomer), wobei der wirtschaftskonforme Diskurs als adäquat empfunden wird. Sind die Mobilität und die an sie geknüpften Vorteile Thema, ist die markt‐ wirtschaftliche Logik ebenso präsent. Den Marketingmanager der Universität Luzern ( MM ) fragte ich danach, wie Mobilität gegenüber Studierenden propa‐ giert werde. Seine nachfolgend zitierte Antwort bezieht sich freilich nicht ausschliesslich auf die intra-nationale Mobilität, sondern auch auf die interna‐ tionalen Mobilitätsprogramme, welche die Universität Studierenden „schmack‐ haft“ zu machen versucht. 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 156 <?page no="157"?> INT: <jetzt gad ebe villicht vo de uni> oder was . wie . wie versuecht mer die mobilität i dem sinn so zbewerbe [oder] INT: <jetzt gerade eben vielleicht von der uni> oder was . wie . wie versucht man die mobilität in diesem sinne zu bewerben [oder] MM: [de mehrwert] isch natürlich dass i de hütige arbetswelt eig& eigentlich die mobilität . äh . wenn nid verlangt wird doch e sehr gueti vorussetzig isch . we mer das [het] MM: [der mehrwert] ist natürlich dass in der heutigen arbeitswelt eig& eigentlich die mobilität . äh . wenn sie nicht verlangt wird doch eine sehr gute voraussetzung ist . wenn man das [hat] INT: [mhm] INT: [mhm] MM: we mer sich i verschiedene kulture cha bewege . we mer eifach a lüt anechunt . we mer sich i neui situatione cha ischaffe . äh . das isch eigentlich . z[hauptargument] MM: wenn man sich in verschiedenen kulturen bewegen kann. wenn man einfach an leute rankommt . wenn man sich in neue situationen hineinarbeiten kann . äh . das ist eigentlich . das [hauptargument] INT: [mhm] INT: [mhm] MM: wo mer gegenüber de de studierende [het] MM: das man den den studierenden gegenüber [hat] INT: [mhm] INT: [mhm] Ausschnitt 7: Mehrwert der Mobilität, Juli 2014, Marketingmanager, Universität Luzern Auch MM macht die Vorteile der Mobilität am Arbeitsmarkt fest. Seine Argu‐ mentation unterscheidet sich somit wenig von jenen Argumentationen, welche die Sprache oder das Studium in den Vordergrund rücken. Anscheinend nehmen die Mobilität (und die damit einhergehenden sozialen und kulturellen Erfah‐ rungen), die Sprachkompetenzen und das Studium überhaupt in dem auf eine sichere berufliche Zukunft ausgerichteten Diskurs eine wichtige Rolle ein. Sie werden als vielfältige und verschiedenartige Formen von „Kapital“ (Bourdieu 1983) konstruiert, die im Hinblick auf das erfolgreiche Mitwirken in der markt‐ wirtschaftlich geprägten Arbeitswelt dienen. Da der wirtschaftliche Aspekt in den Tertiärbereich längst Eingang gefunden hat, wird mittels dieser diskursiven Praktiken nicht nur Mehrwert konstruiert, sondern auch ein Bedürfnis ge‐ schaffen, nämlich dasjenige, auf eine sichere Zukunft hinzuarbeiten. 4.2 Mehrwert versprechen und Bedürfnisse schaffen 157 <?page no="158"?> 4.2.2 Aussicht auf sprachliche und soziale Unterstützung in der Mobilitätssituation Im Anschluss an eine italienische Präsentation des Medizinstudiums seitens der Universität Bern, eine Präsentation, die im Rahmen der Informationstage in Lu‐ gano 2014 stattfand, lädt der referierende Medizinstudent - selbst aus Lugano stammend - die GymnasiastInnen dazu ein, ihm alle Fragen zu stellen, die sie beschäftigen würden. Ein Gymnasiast streckt den Arm in die Luft, stellt sich vor - ich nenne ihn hier Sebastiano - und äussert, sein Deutsch sei rudimentär, und er wisse nicht, ob er fähig sei, ein Studium auf Deutsch zu absolvieren. Der Medizinstudent beruhigt ihn sogleich, sein Deutsch sei auch furchtbar schlecht gewesen und er habe es dennoch geschafft. Es sei also möglich. Er bietet Sebas‐ tiano an, ihm seine Notizen zu schicken, damit er sich anfangs besser orientieren könne, und schreibt seine private E-Mail-Adresse an die Wandtafel. Nach der Präsentation unterhalte ich mich mit Sebastiano ( SE ) auf dem Gang, wo er mir erneut erklärt, inwiefern seine Studienortswahl mit der Sprache verknüpft sei und welche Ängste daran gekoppelt seien. INT: cioè tu hai il tedesco al liceo [questo sì] INT: also du hast deutsch im gymnasium [das schon] SE: [sì . ne&] che comunque quattro ce lo . però capisco poco me& [poco o niente] SE: [ja . ()&] dass also eine vier habe ich schon . aber ich verstehe mehr ()& [wenig oder nichts] INT: [sì] mhm . okay . e s& hai un po’ paura come: INT: [ja] mhm . okay . und we& hast du ein bisschen angst wie : SE: e (principalmente di capire) NIENTE al inizio sì SE: äh (prinzipiell) am anfang NICHTS zu verstehen ja INT: okay . e come funziona perché la medicina la poi fare . a berna o . a INT: okay. und wie ist es mit der medizin das kannst du . in bern studieren oder . in SE: friburgo losanna ginevra= SE: fribourg lausanne genf INT: basilea no/ INT: basel nicht wahr/ SE: ma& magarì anche basilea sì sì SE: vie& vielleicht auch basel ja ja INT: okay INT: okay SE: cioè io vado appunto ginev& c’è quelle svizzere francese che son SE: also ich gehe eben nach gen& also diejenigen in der französischsprachigen schweiz die für mich ein- 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 158 <?page no="159"?> 38 Das Notensystem in der Schweiz verwendet die Ziffern 1 bis 6, wobei 6 die Bestnote darstellt und eine 4 genügend ist. quelle più facile per me perché parlo [francese] facher sind weil ich spreche [französisch] INT: [sì] mhm . okay . però hai lostesso il corraggio di forse andare: INT: [ja] . okay . aber vielleicht hast du doch den mut : SE: e: h sì . magarì sì SE: ää: h ja . vielleicht ja INT: okay INT: okay SE: anche perché mio papa mi consigliava d’andare in svizzera te& tedesca . così poi dopo . so l’italiano . so il francese semplice anche il tedesco anche m& molto meglio (mentre lui) i quanto medico che se sai tre lingue anche più semplice da medico sarebbero tre lingue\ SE: auch weil mein vater rät mir in die deu& deutschschweiz zu gehen. so kann ich danach . italienisch . ich kann französisch das ist einfach deutsch auch vie& viel besser (während er) er ist auch mediziner wenn du drei sprachen kannst ist es einfacher als arzt . drei sprachen Ausschnitt 8: Bedenken in Bezug auf die deutsche Sprache Sebastiano erklärt mir, seine „mamma“ (Mama) sei frankofon, weshalb er ei‐ gentlich die Westschweiz bevorzuge. Wieder kommt zum Ausdruck, dass Se‐ bastiano - noch mindestens sieben Jahre von einer eventuellen medizinischen Berufstätigkeit entfernt - die neoliberale Logik bereits verinnerlicht hat (oder sie von seinem Vater übernimmt) (vgl. Urciuoli 2010: 167). Allerdings befürchtet Sebastiano - trotz seiner genügenden 38 Note, - wegen seiner limitierten Deutschkompetenzen rein gar nichts zu verstehen. Interessanterweise reagiert der präsentierende Medizinstudent aus Bern mit einer persönlichen ad-hoc-Un‐ terstützung. Andere GymnasiastInnen, die sich wie Sebastiano mit der Studienwahl be‐ fassen, teilen seine Bedenken, sie seien der Sprache im Studium nicht ge‐ wachsen. Zwei SchülerInnen, die ich im Rahmen derselben Informationsveran‐ staltung in Lugano antreffe, beschreiben diese so: INT: e quali sono un po’ le im& le domande più importanti per voi che fate qua . che cioè () di informare piuttosto INT: und welche sind ein wenig& die wich& die wichtigsten fragen für euch die ihr hier stellt . dass also () vor allem zu informieren 4.2 Mehrwert versprechen und Bedürfnisse schaffen 159 <?page no="160"?> S1: e: : penso che più o meno siano sulle facoltà\ S1: ä: : h ich denke mehr oder weniger geht es um die fakultäten\ S2: sì anche . la lingue . se offrono dei corsi [perchè nel senso] S2: ja auch . die sprache . ob sie kurse anbieten [weil in diesem sinne] INT: [okay] INT: [okay] S2: noi i ticinesi siamo comunque partiamo svantaggiati rispetto agli altri . perchè per (andar studiare) dobbiamo comunque andare fuori dal cantone dunque . per forza dobbiamo sapere al meno un’altra lingua nazionale . cosa che altre persone in svizzera . non devono . non devono fare\ S2: wir die tessiner sind schliesslich wir beginnen benachteiligt im vergleich zu den andern . weil um (studieren zu gehen) müssen wir schliesslich den kanton verlassen folglich . müssen wir gezwungenermassen mindestens eine andere nationalsprache beherrschen . etwas das andere leute in der schweiz . nicht müssen . nicht machen müssen\ INT: okay INT: okay S2: e: più che altro la preoccupazione maggiore . al meno la mia è quello delle lingue S2: das ist vor allem die hauptbesorgnis . zumindest meine diejenige der sprachen INT: sì INT: ja Ausschnitt 9: Befürchtung sprachlicher Art Während Sebastiano im Gymnasium Deutsch lernt, verweist S2 im weiteren Gesprächsverlauf darauf, dass sie im Gymnasium keinen Deutschunterricht mehr geniesse. Sie hat sich aufgrund ihrer Schwerpunktfachwahl Spanisch be‐ reits im zweiten Gymnasialjahr gegen Französisch oder Deutsch entscheiden müssen. Sie belegt nun Französisch, möchte aber eventuell dennoch ein Studium in der Deutschschweiz absolvieren und äussert ihre Besorgnisse bezüglich der ungenügenden Sprachkenntnisse. Einige Universitäten haben die Befürchtungen der Tessiner Gymnasiast- Innen, der Herausforderung eines Studiums in einer ihnen fremden Sprache nicht gewachsen zu sein, erkannt und versprechen im Hinblick auf die Mobili‐ tätssituation Unterstützung sprachlicher und sozialer Art. Ihre Praktiken sind abgestimmt auf den Hintergrund der Studierenden aus dem Tessin, die - um einer sicheren beruflichen Zukunft willen - aus „triftigen“ Gründen in eine ihnen fremde Sprachregion umziehen. Dabei unterscheiden sich die Universi‐ 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 160 <?page no="161"?> täten in ihren Praktiken je nachdem, ob sie sich vom sprachlichen Entgegen‐ kommen einen Wettbewerbsvorteil versprechen oder nicht und ob sie auf an‐ derssprachige Studierende angewiesen sind oder nicht (aufgrund der mit Studierendenzahlen zusammenhängenden Grundbeiträge des Bundes). Wäh‐ rend der Medizinstudent nicht auf institutionelle Unterstützung verweist, son‐ dern individuell auf die Befürchtungen von Sebastiano reagiert, hat die noch junge Universität Luzern Massnahmen ergriffen, die im Hinblick auf Tessiner Studierende institutionell verankert sind. Die Universität Luzern stuft die Anwerbung von TessinerInnen als lohnend ein (vgl. 4.1.2.6) und kommt diesen entsprechend entgegen. Deshalb werben deren Fakultäten mit eigens für StudienanwärterInnen aus dem Tessin konzi‐ pierten Informationen. Diese zeigen neben den generellen Vorteilen, welche die Entscheidung für die Universität Luzern mit sich bringt, die TessinerInnen ge‐ botene Unterstützung auf. Die juristische Fakultät geht am aktivsten auf die TessinerInnen zu, was u. a. damit zusammenhängt, dass im Tessin kein Jura-Stu‐ dium absolviert werden kann. Sowohl online als auch in einer Broschüre wird die Unterstützung aufgelistet, in deren Genuss Tessiner Studierende kommen, falls sie sich für ein Studium in Luzern entscheiden. Während auf der Homepage der juristischen Fakultät - diese ist grösstenteils auf Deutsch verfasst - die ita‐ lienischsprachigen Informationen unter dem Titel „studenti italofoni“ (italofone Studierende) zu finden sind, zielt die italienischsprachige Broschüre auf ein en‐ geres Publikum. Darin heisst es „una scelta vantaggiosa per gli studenti ticinesi“ (eine vorteilhafte Wahl für Tessiner Studierende). Ansonsten sind die Informa‐ tionen online und auf Papier deckungsgleich, wobei die Broschüre etwas aus‐ führlicher ist. Potentielle Jura-Studierende werden auf spezifische Kurse aufmerksam ge‐ macht: „Apposite lezioni parallele in lingua italiana: nel primo semestre Intro‐ duzione alla scienza e alla prassi giuridica e nel terzo semestre Tedesco giuri‐ dico.“ (Entsprechende Parallellektionen in italienischer Sprache: im ersten Semester Einführung in die Wissenschaft und in die rechtliche Praxis und ju‐ ristisches Deutsch im dritten Semester). Weiter geniessen sie mildere Prüfungs‐ bedingungen: „Diritto al prolungamento della durata dell´esame“ (Recht auf Verlängerung der Zeit bei der Prüfung). Zudem wird auf den Lehrköper ver‐ wiesen: „Presenza di insegnanti italofoni“ (Anwesenheit italofoner Lehrper‐ sonen). Das Mentorat - ein System an der Universität Luzern, bei welchem alle Studierenden bei Studienbeginn einer / m ProfessorIn zugeteilt werden, wird für Tessiner Studierende angepasst: „Gli studenti ticinesi a differenza degli altri, creano un unico gruppo con un mentore di lingua italiana. Questo agevola il crearsi di amicizie in un ambiente ancora estraneo“ (Tessiner Studierende 4.2 Mehrwert versprechen und Bedürfnisse schaffen 161 <?page no="162"?> 39 Auch am Informationstag in Lugano wurde potentiellen Newcomern aus dem Tessin präsentiert, welche Vorteile die Entscheidung für die juristische Fakultät in Luzern mit sich bringe. Die genannten Vorteile fielen mit denjenigen in der Broschüre zusammen. Auffällig war jedoch, wie gut die Fakultät bei der Präsentation vertreten war. Den grössten Teil bestritten eine italofone Professorin und zwei Tessiner Jura-Studierende (auf Italienisch), wobei einer der beiden zugleich der Präsident des Tessiner Studieren‐ denvereins in Luzern war. Ganz am Schluss sagte der Fakultätsmanager auf Standard‐ deutsch wenige Sätze. Ähnlich wie in der Broschüre wird das Jura-Studium, das mehr‐ heitlich auf Deutsch zu absolvieren ist, fast ausschliesslich auf Italienisch propagiert. werden im Unterschied zu anderen in einer einzigen Gruppe mit einem italie‐ nischsprachigen Mentor zusammengefasst. Dies trägt dazu bei, Freundschaften in einer noch fremden Umgebung zu bilden). Es wird also auf verschiedenen Ebenen 39 versucht, den TessinerInnen ihre Vorteile aufzuzeigen. Durch spezielle Bedingungen in der Lehre (Einführungs‐ kurs auf Italienisch, mehr Zeit bei Prüfungen und italienischsprachiges Profes‐ sorat) soll ihnen das erfolgreiche Studieren in der deutschsprachigen Umgebung erleichtert werden. Weiter wird durch das Mentorat ein soziales Gefüge kreiert, dessen gemeinsamer Nenner die italienische Sprache darstellt. Es erlaubt Gleich‐ sprachigen, sich auszutauschen und einander zur Seite zu stehen. Diese unterstützenden Massnahmen können mit der Entscheidung, mobil zu werden, in Verbindung gebracht werden, der Entscheidung, die immer auch ein gewisses Risiko birgt (vgl. Forsey 2014). Es stellt sich die Frage, ob in Anbetracht dieses speziellen Angebots argumentiert werden könnte, die Universität habe das Risiko erkannt, das die Wahl, die eigene Sprachregion zu verlassen, für Tes‐ sinerInnen mit sich bringt. Die Frage zu bejahen wäre zu einfach. Zwar greift die juristische Fakultät die Befürchtungen der Studierenden auf, sich durch Mo‐ bilität dem Misserfolg auszusetzen. Allerdings sind die universitären Unterstüt‐ zungsangebote weniger als Massnahmen der Risikominimierung für Studie‐ rende zu verstehen. Vielmehr hat die juristische Fakultät in Luzern begriffen, dass sie sich über sprachliche Angebote von anderen vergleichbaren Studien‐ angeboten zu ihrem Vorteil abheben kann, indem sie der aus Sicht der Univer‐ sität lohnenswerten Tessiner Studierendenpopulation ein Stück weit entgegen‐ kommt. Getragen werden die aufgelisteten Strategien vom lokalen Lehrkörper, der u. a. aus italienischsprachigen ProfessorInnen besteht, die sowohl auf Deutsch als auch auf Italienisch unterrichten und sich im Mentorat der TessinerInnen annehmen können. In der Broschüre werden ihre Farbportraits und (italienisch klingenden) Namen aufgeführt. So werden einige ProfessorInnen - eben die italienischsprachigen - zu personalisierten Anlaufstellen für italofone Studie‐ rende und dienen der Universität im doppelten Sinne - als Teil des „herkömm‐ 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 162 <?page no="163"?> 40 Der Titel bedeutet „nahe dem Monte Ceneri“. „Monte Ceneri“ bezeichnet einen Tessiner Pass, der die Magadinoebene mit dem Vedeggiotal verbindet. Das Latein-Lehrbuch „Iuxta cineris montem“ wurde 1981 vom damaligen „Dipartimento dell’istruzione e della cultura“ (Erziehungs- und Kulturdepartement) in Bellinzona herausgegeben. lichen“ Lehrkörpers und als spezifisches Personal, das für TessinerInnen einge‐ setzt werden kann. Nicht nur ProfessorInnen sind TrägerInnen von Massnahmen, TessinerInnen entgegenzukommen. Ein Grossteil der Unterstützung wird von den Studie‐ renden selbst geleistet bzw. von der Universität auf die Studierenden abgewälzt. So findet sich in derselben Broschüre der juristischen Fakultät eine ganze Seite, die zukünftige Studierende auf die IUCIM hinweist (einen Ausschnitt zeigt Fi‐ gure 3). Die Abkürzung IUCIM geht auf „Iuxta cineris montem 40 “ zurück. So heisst das Lateinbuch, das im Tessin seit den 80er-Jahren an vielen Sekundar‐ schulen verwendet wurde (und heute vereinzelt auch noch gebraucht wird). Die zweite Bezeichnung ist weniger kryptisch und lautet „Associazione studenti italofoni Lucerna“ (Italofoner Studierendenverein Luzern). Die Seite fällt ins Auge, ihr Design weicht stark von der restlichen Broschüre ab. Zu den typographischen Unterschieden zählen andere Schriften, in Majus‐ keln gesetzte, zum Teil mit Schlagschatten versehene Titel und das Layout. Die Bilder haben abgerundete Ecken und sind anders platziert als auf den übrigen Seiten der Broschüre. Die Informationen zur IUCIM erscheinen auf einem far‐ bigen Hintergrund. Offensichtlich wurde diese Seite von Studierenden ge‐ staltet - was mit „ DA STUDENTE A STUDENTE “ (Von Student zu Student) in grossen Lettern untermalt wird. Trotz dieser markanten Unterschiede über‐ schneiden sich die von der Universität gestalteten Seiten und die IUCIM -Seite in mehreren Belangen. Dazu gehören die konsequent verwendete italienische Sprache, das Logo der Universität Luzern, die Farbe Pink als Teil der Corporate Identity der Universität (für den Hintergrund des Balkens oben und die zwei Zeilen unter „ DA STUDENTE A STUDENTE “) und die Bildsprache (die abge‐ druckte Kappelbrücke gilt als Wahrzeichen der Region und kommt auf dem Ti‐ telblatt der Broschüre wie auch auf der IUCIM -Seite vor). Es wird also zugelassen, dass die IUCIM in der offiziellen Broschüre der rechtswissenschaftlichen Fakultät ihre eigene Corporate Identity einbringt, die sich zwar nicht komplett von derjenigen der Universität unterscheidet, aber doch stark davon abweicht. Abgesehen von der IUCIM findet sich kein anderer studentischer Verein in der Broschüre, was die Frage mit sich bringt, weshalb der IUCIM ein so prominenter Platz eingeräumt wird, zumal sie nicht aus‐ schliesslich mit der juristischen Fakultät in Verbindung steht. 4.2 Mehrwert versprechen und Bedürfnisse schaffen 163 <?page no="164"?> 41 Auf die Aktivitäten von Studierendenorganisationen wie der IUCIM - vergleichbare Vereine existieren auch in anderen Universitätsstädten ausserhalb des Tessins - gehe ich im Detail im Kapitel 6 ein. Figure 3: Italofoner Studierendenverein Luzern Die in der Broschüre aufgeführten Ziele geben einen Einblick, weshalb die IUCIM für die rechtswissenschaftliche Fakultät von Interesse ist. Zu den Zielen gehören: „lo scopo primario di riunire e rappresentare gli studenti italofoni or‐ ganizzando varie attività ricreative e culturali, oltre a favorire l’integrazione“ (das primäre Ziel neben der Förderung der Integration besteht darin, italofone Studierende zu vereinigen und zu vertreten, indem verschiedene erholsame und kulturelle Aktivitäten organisiert werden). Weiter beschreibt die IUCIM : „Uno dei nostri obiettivi è l’aiuto reciproco, sia personale che a livello di studio. So‐ cializzare diventa più facile“ 41 (eines unserer Ziele ist die gegenseitige Unter‐ stützung, ob persönlicher Natur oder in Bezug auf das Studium. Kontakte knüpfen wird einfacher). In gewissem Sinne bietet die IUCIM das, was die Uni‐ versität nicht leistet. Die IUCIM sorgt dafür, dass Italofone auch im nicht mit 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 164 <?page no="165"?> dem Studium zusammenhängenden Alltag Anschluss haben und unterstützt werden. Wie im Kapitel 6 ersichtlich wird, spielen Vereine wie die IUCIM im Leben von Tessiner Studierenden in der Deutschschweiz eine wichtige Rolle. Sie sind sehr aktiv und bieten neben ihrer wichtigen Funktion als informelle An‐ laufstelle auch ein vielfältiges Freizeitprogramm. Die Universität Luzern verweist also eine spezifische potentielle Studieren‐ denpopulation an eine bestimmte Organisation. Dadurch wird nicht nur auf bestehende Unterstützung seitens der Studierenden aufmerksam gemacht. Es wird auch Verantwortung an die Studierenden ausgelagert. So wird bereits zu‐ künftigen Studierenden vermittelt, dass diese (und keine andere) Organisation ihnen von Anfang an ein bestehendes Netzwerk bietet und sowohl soziale als auch sprachliche (akademische) Unterstützung verspricht, von der sie Gebrauch machen können / sollen. Diese Handhabung ist unter neoliberalen Bedingungen verbreitet. „Zwischennetzwerke“, wie die IUCIM eines darstellt, werden propa‐ giert und als individuelle Initiativen gefördert, da sie systemische Programme entlasten (vgl. Giddens 1984). Die Befürchtungen von StudienanwärterInnen, die ein Studium in Luzern in Betracht ziehen, werden somit bereits im Voraus (auf Italienisch) aufgegriffen, einerseits durch den Hinweis auf eine spezifische Professorenschaft und auf die zu erwartende institutionelle Unterstützung, anderseits durch das Verweisen auf die IUCIM . Sie werden über Massnahmen informiert, aber gleichzeitig dafür verantwortlich gemacht, etwa auf ProfessorInnen zuzugehen, dem Verein bei‐ zutreten und dessen Hilfe für ein erfolgreiches Studium in Anspruch zu nehmen. Von Studierenden wird also erwartet, dass sie Eigenverantwortung über‐ nehmen, um auf beruflicher Ebene erfolgreich zu sein. So werden neoliberale Begriffe wie „self-care“ oder „self-responsability“ an Konzepten von „agency“ festgemacht, während potentielle und reale Unterschiede zwischen Studie‐ renden, deren soziale Hintergründe, finanzielle Möglichkeiten und sprachliche Kompetenzen missachtet werden. Basierend auf einigen Massnahmen seitens der Universität werden studentische Entscheidungen (z. B. für die Mobilität, für ein bestimmtes Studienfach) als Teil ihres eigenverantwortlichen Tuns („agency“) und als Teil ihres von ihnen zu tragenden Risikos verstanden (Ger‐ shon 2011). So gelingt es dann auch, Misserfolg im Studium oder berufliche Niederlagen auf individueller Ebene zu erklären, statt sie strukturell oder sys‐ temisch zu betrachten (vgl. Rossiter 2003). Es gilt in Erinnerung zu behalten, dass die Praktiken der juristischen Fakultät in Luzern damit verknüpft sind, dass sie noch im Begriff ist, ihre Studierenden‐ population auszubauen und die Tessiner Studierendenpopulation sich für sie „lohnt“. Nur auf diesem politisch-ökonomischen Hintergrund sind die skiz‐ 4.2 Mehrwert versprechen und Bedürfnisse schaffen 165 <?page no="166"?> zierten Massnahmen zu verstehen. Die Universität Bern hingegen engagiert sich auf institutioneller Ebene vergleichsweise wenig für italofone Studierende, auch wenn sie wie alle anderen Universitäten für einen Informationstag italienisch‐ sprachige Delegierte ins Tessin sendet, die für die Akquise von Newcomern zuständig sind und somit auch für die Bildungsmobilität plädieren. Das eingangs aufgeführte Beispiel des Medizinstudenten, der individuell auf Sebastianos Be‐ denken reagiert, indem er dem Publikum seine E-Mail-Adresse kommuniziert, bringt dies zum Ausdruck. 4.3 Abschliessende Bemerkungen Eine Analyse universitärer Promotionsdiskurse und -praktiken zeigte, inwie‐ fern Tertiärinstitutionen je ihre Vorteile in einem gesetzlich kompetitiv ge‐ prägten Setting hervorheben. Die Hochschulen im Fokus bedienen sich im Wettbewerb um eine beschränkte Anzahl MaturandInnen in der Schweiz der Sprache, mittels deren sie Vorzüge kommunizieren und sich von anderen ver‐ gleichbaren Bildungsstätten abzuheben versuchen. Mehrheitlich gelten diese Diskurse und Praktiken allen potentiellen Studierenden gleichermassen, wobei - wie etwa am Beispiel der Universität Luzern aufgezeigt wurde - sich die Universitäten in Bezug auf GymnasiastInnen aus gewissen Regionen statis‐ tisch gesehen mehr Erfolg versprechen. Um potentielle Studierende von insti‐ tutionellen Vorzügen zu überzeugen und im Bestreben, konkurrenzfähig zu werden bzw. in der veränderten Hochschullandschaft konkurrenzfähig zu bleiben, machen die Hochschulen Gebrauch von entsprechenden Zahlen, tou‐ ristischen Merkmalen, in der Vergangenheit liegenden und auf die Zukunft wei‐ senden Erfolgen und studentischen Bezeugungen. Diese Anstrengungen sind nicht darauf ausgerichtet, spezifische Studierendengruppen dazu aufzumun‐ tern, zwecks einer akademischen Ausbildung mobil zu werden, sondern New‐ comer ganz allgemein davon zu überzeugen, dass die Wahl der für sich wer‐ benden Hochschule hinsichtlich einer vielversprechenden Zukunft die richtige ist. Im Hinblick auf anderssprachige Newcomer, etwa diejenigen aus der italie‐ nischsprachigen Schweiz, verändern sich die genannten Diskurse und Prak‐ tiken. Die genannten Vorzüge werden erstens übersetzt und zweitens diskursiv so angepasst, dass nicht nur die Sprache, sondern auch der Inhalt auf die ange‐ steuerte Leser-/ Hörerschaft ausgerichtet ist. Drittens stellen italienischspra‐ chige VertreterInnen die Universitäten / Studiengänge vor und geben ihnen somit in der Sprache der Zielgruppe ein Gesicht. Viertens kommt hinzu, dass 4 Die Konkurrenz im Schweizer Hochschulsystem 166 <?page no="167"?> sich VertreterInnen der universitären Institutionen ein Mal pro Jahr in die Her‐ kunftsregion der Studierenden begeben und ihnen vor Ort die Vorzüge betonen, mit denen im Falle einer Wahl ihrer Institution zu rechnen sei. In dieser ange‐ passten Promotionsversion wird der Wunsch nach Mobilität über die italieni‐ sche Sprachgrenze hinweg konstruiert und an einer erfolgreichen Zukunft auf dem Arbeitsmarkt festgemacht. Dazu gehören ein Studium mit beruflich ein‐ setzbaren Kompetenzen, die Mobilitätserfahrung und die damit einhergehenden sozialen und kulturellen Erfahrungen und Sprachkompetenzen, die in der Mo‐ bilitätssituation erworben werden. Die Schwierigkeiten, mit denen bei einer be‐ vorstehenden Mobilität in die Deutschschweiz zu rechnen ist, werden in der Sprache der als lohnenswert kategorisierten potentiellen Newcomer aufge‐ griffen. Die Sprache wird so zum Distinktionsmerkmal, mit dessen Hilfe für ein Studium in der Deutschschweiz geworben wird, wobei Unterstützungsmass‐ nahmen in Bezug auf dieses Studium in Aussicht gestellt werden. Aus der Ana‐ lyse wird also ersichtlich, dass im Bestreben, jungen Menschen eine sprachre‐ gionsübergreifende Mobilität schmackhaft zu machen, Sprache zu einer wirtschaftlichen Komponente wird. Institutionen bedienen sich dominanter Sprachideologien, um Individuen die zukünftigen ökonomischen Vorteile zu kommunizieren, und machen einige dieser Vorteile an der Sprache (Sprach‐ kompetenzen) selbst fest. Diese Argumentation basiert auf Prinzipien, denen zufolge Akteure auf einen Arbeitsmarkt vorbereitet werden, der nach markt‐ wirtschaftlichen Regeln funktioniert. 4.3 Abschliessende Bemerkungen 167 <?page no="168"?> 1 Die Begriffe „legitimieren“, „Legitimation“ etc. werden in diesem Kapitel immer wieder verwendet und lehnen sich an Bourdieu (1977: 21) und dessen Ausführungen zum Sag‐ baren bzw. Nichtsagbaren an. Im vorliegenden Kapitel spielen Bourdieus Anregungen insofern eine Rolle, als GymnasiastInnen und Studierende sich in ihrer Rolle mir ge‐ genüber eines legitimen Diskurses bedienen, in dem sich „le monde social“ und damit auch die politisch-ökonomischen Bedingungen der gegenwärtigen Hochschulland‐ schaft widerspiegeln (vgl. Kapitel 2). 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird: Eine Analyse der Diskurse junger TessinerInnen und der Rolle von Sprache(n) in Bezug auf ihre Studienwahl Auf den folgenden Seiten gehe ich meiner zweiten Leitfrage nach, die ergründet, wie (welche) Studierende ihre Mobilität konstruieren und wie Sprache zum Ar‐ gument wird, die Entscheidung zu legitimieren. Bei der Analyse der Diskurse und Praktiken im Zusammenhang mit der bevorstehenden bzw. bereits getrof‐ fenen Studienwahl werden sowohl künftig als auch gegenwärtig Studierende aus dem Tessin berücksichtigt. Ihre produzierten Diskurse zur Studienwahl werden auf dem Hintergrund der Interpretation der regionalen wie auch nati‐ onalen politisch-ökonomischen Bedingungen kritisch betrachtet, und es wird problematisiert, unter welchen Bedingungen wem welche Mobilität (nicht) vor‐ schwebt (vgl. Forschungslücken in Kapitel 2). Das Kapitel enthält drei Teile. Im ersten Teil (5.1) geht es darum, die Sicht von GymnasiastInnen, also von zukünftig Studierenden, auf Mobilität und Sprache zu verstehen. Wie begründen sie die ihnen noch bevorstehende Wahl? Welche Interessen liegen ihrer voraus‐ sichtlichen Wahl zugrunde, und wie wird Sprache zu einem Argument, diese zu legitimieren 1 ? Anhand von Interviews und Feldnotizen aus der teilnehmenden Beobachtung zeige ich, wie GymnasiastInnen über die herannahende Entschei‐ dung, mobil zu werden bzw. immobil zu bleiben, nachdenken und wie sie diese fundieren. Ich lege dar, dass ihnen insbesondere die im Schulsystem vor Eintritt ins Gymnasium fällige Sprachenwahl als Argument dient, ihre bevorstehende Studienwahl zu stützen. Ebenso beleuchte ich, wie ein Studium „zu Hause“ be‐ gründet wird und welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei dessen Ver‐ gleich mit der diskursiv konstruierten Wahl eines Studiums ausserhalb des Tes‐ sins identifizierbar sind. Schliesslich weise ich darauf hin, dass die diskursiven Konstruktionen der SchülerInnen Vorstellungen der Zukunft enthalten, an der <?page no="169"?> sie ihre bevorstehende Wahl festmachen. In den Zwischenüberlegungen pro‐ blematisiere ich diese diskursiv prominenten Elemente im Zusammenhang mit der Wahl einer tertiären Ausbildung und verschränke sie mit den politisch-öko‐ nomischen Bedingungen innerhalb und ausserhalb des Tessins. Im zweiten Teil (5.2) analysiere ich, wie Tessiner Studierende in der Deutsch‐ schweiz, also junge Menschen, die ihre Herkunftsregion verlassen haben, ihre Wahl retrospektiv darstellen und inwiefern Sprache zum Argument wird, diese Wahl zu legitimieren. Somit soll untersucht werden, wie TessinerInnen, die sich für ein Studium in der Deutschschweiz entschieden haben, ihre Mobilität be‐ gründen (gerade im Zusammenhang mit der Veränderung der schweizerischen Hochschullandschaft seit der Gründung der USI ). Ich zeige auf, dass u. a. Sprache - ähnlich wie bei den universitären Institutionen - als diskursives Ele‐ ment dient, um die individuelle Einzigartigkeit hervorzuheben und sich im zu‐ künftigen Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Im dritten Teil (5.3) gehe ich abschliessend auf beide Gruppen von Inter‐ viewten ein - die GymnasiastInnen und deren prospektive Sicht der Studien‐ wahl und die Studierenden und deren retrospektive Sicht der Studienwahl - und führe aus, inwiefern ihre „narratives“ institutionelle Praktiken und Diskurse zum Ausdruck bringen, worin sich sprach-politische und politisch-ökonomische Bedingungen widerspiegeln. 5.1 Tessiner GymnasiastInnen und ihre Sicht auf Mobilität und Sprache INT: se lei dovesse cioè un po’ risumare/ no mhm l’obiettivo di questa giornata sarebbe/ cioè qual è un po’/ INT: wenn sie äh ein wenig zusammenfassen müssten/ nicht mhm das ziel dieses tags wäre/ welches wäre dieses so in etwa/ OK: è quella OK: es ist dieses INT: cioè dal dal suo punto di vista INT: also aus aus ihrer sicht OK: quando abbiamo immaginato orientati io . ho subito detto di far venirci le terze non le quarte . perché l’idea secondo me molto interessante di orientati è si comincia in terza a fare tutta questa fase di esplorazione . che è molto im- OK: als wir uns orientati vorgestellt hatten habe ich . sofort vorgeschlagen die dritten klassen nicht die vierten klassen kommen zu lassen . weil die interessante idee von orientati meiner meinung nach ist in der dritten mit 5.1 Tessiner GymnasiastInnen und ihre Sicht auf Mobilität und Sprache 169 <?page no="170"?> 2 Interessanterweise klammert OK die gesamte französischsprachige wie auch die itali‐ enischsprachige Schweiz in ihrem Beispiel aus. portante per arrivare a scegliere per scegliere bisogna conoscere\ dieser phase der erkundung anzufangen . die sehr wichtig ist fürs wählen um zu wählen muss man sich auskennen\ INT: mhm INT: mhm OK: ehm dopo loro da lì approfondiscono i loro progetti per cui a questo punto magari anDr.in quarta a sentire il pomeriggio la giornata di porte aperte di zurigo piuttosto che di basilea OK: mhm danach vertiefen sie von da aus ihre projekte darum gehe ich vielleicht in der vierten am nachmittag am tag der offenen tür eher nach zürich als nach basel INT: ahh INT: aha OK: però ci vado già come dire mirato . perché ho già un po’ capito cosa (come) funziona OK: aber ich gehe wie sagt man gezielt . weil ich schon ein wenig verstanden habe was (wie) funktioniert Ausschnitt 10: Die fundierte Wahl, 13. 02. 2014, OK (Organisationskomitee „Orientati“) Der Organisatorin ( OK ) des im Tessin jährlich stattfindenden Informationstags „Orientati“, der sich an GymnasiastInnen richtet, ist, wie im Ausschnitt 10 er‐ sichtlich wird, der Entscheidungsprozess wichtig. Sie betont, dass die Maturan‐ dInnen Zeit brauchten, um die Möglichkeiten auszuloten und sich gut zu infor‐ mieren. Wie bereits beschrieben, nahm ich im Februar 2014 zusammen mit SchülerInnen, die ca. eineinhalb Jahre von ihrer Studienreife trennten, an „Ori‐ entati“ teil. Fast alle Gymnasien aus dem Kanton verpflichteten ihre Schüle‐ rInnen zur Teilnahme - der Anlass fand während der Unterrichtszeit statt - und organisierten - je nach Distanz - auch die gemeinsame Anfahrt. Dies zeigt, welcher Wert diesem Informationsevent beigemessen wird. Ebenfalls wird im Ausschnitt 10 ersichtlich, welchen vorbereitenden Effekt der Tag gemäss OK haben soll. „Orientati“ soll die GymnasiastInnen dazu befähigen, sich für Infor‐ mationsanlässe an entsprechenden Universitäten zu entscheiden, die sie im nächsten Jahr besuchen können. OK führt beispielhaft an, dass so die Wahl, eher nach Zürich als nach Basel zu reisen, fundiert getroffen werde. 2 Die Daten, welche die Grundlage des folgenden Analyseteils bilden, stammen alle von meiner Teilnahme am „Orientati-Tag“, der an der Università della Sviz‐ zera Italiana in Lugano stattfand. Abgesehen von meiner beobachtenden Teil‐ 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 170 <?page no="171"?> 3 Daher enthalten die Auszüge aus meinen Transskripten zahlreiche ( ), die Nicht-Ver‐ ständliches oder bloss Erahntes signalisieren. nahme an Präsentationen verschiedener Studienfächer und an der „Fiera“ (Markt), die sich in einer grossen Halle abspielte, wo sämtliche anwesenden Institutionen über je einen Stand mit Broschüren etc. verfügten, sprach ich mit etlichen GymnasistInnen. Sechs dieser Gespräche konnten aufgezeichnet werden. Der Anlass fand fast ausschliesslich auf Italienisch in einer eher lär‐ migen 3 , Umgebung statt. Die Jugendlichen zirkulierten zwischen den Ständen und den verschiedenen Gebäuden und Räumen, worin die Studienfächer vor‐ gestellt wurden. Meinen Interviewpartnern begegnete ich z. B. beim Rundgang durch die Halle, bei einer Präsentation oder beim Mittagessen. Den Gesprächen mit den GymnasiastInnen lag ein kurzer semi-strukturierter Leitfaden zu‐ grunde, der Fragen zu ihrer Herkunft (welches Gymnasium), zum von ihnen zusammengestellten Tagesprogramm (Präsentationen), zu sie beschäftigenden Themen und zur ihnen bevorstehenden Wahl enthielt. Je nach Begeg‐ nungsort/ -situation stellte ich zusätzliche Fragen, die sich ad hoc ergaben (z. B. im Anschluss an eine spezifische Präsentation). In den folgenden Unterkapiteln verwende ich eine Auswahl aus den im Rahmen des „Orientati-Tags“ erhobenen Daten. Diese müssen als situative Aufnahmen von Momenten betrachtet werden, in denen SchülerInnen sich mir gegenüber im Rahmen von „Orientati“ äusserten. Ob ihre diskursiven Konstruktionen mit ihrer definitiv gefällten Ent‐ scheidung eineinhalb Jahre später übereinstimmen würden, ist nicht Gegen‐ stand dieser Arbeit. Im Unterschied zu anderen Teilen meiner Arbeit habe ich den Interviewten keine Pseudonyme, sondern Kürzel zugewiesen, die sich aus dem Buchstaben S (SchülerIn) und dem ersten Buchstaben des Namens ihres Gymnasiums zusammensetzen. Dies widerspiegelt die Flüchtigkeit der Begeg‐ nungen. So kam es etwa beim kurzen, im Flüsterton gehaltenen Austausch mit meiner Sitznachbarin, der kurz vor dem Beginn einer Studienfachpräsentation stattfand, gar nicht dazu, dass wir uns wechselseitig mit unseren Namen vor‐ stellten. In den folgenden Unterkapiteln gehe ich auf die eingangs angekün‐ digten Elemente ein, die im Zusammenhang mit der bevorstehenden Wahl aus der diskursiven Konstruktion der GymnasiastInnen hervorgehen. 5.1 Tessiner GymnasiastInnen und ihre Sicht auf Mobilität und Sprache 171 <?page no="172"?> 4 Siehe Badertscher (1997) zur Entstehung, Geschichte und Wirkung der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren und zum Maturitätsanerkennungs‐ reglement. 5 Hega (2000: 30) bemerkte fünf Jahre nach der Einführung dieses Reglements: „Despite the unifying influence of the federal maturity commission, regional and cantonal par‐ ticularism is still the predominant mode in most education sectors.“ Es sei hier exem‐ plarisch darauf verwiesen, dass neben dem Kurzzeitgymnasium (das nach der SEK I begonnen wird) das weit weniger verbreitete Langzeitgymnasium existiert. In jenes treten die SchülerInnen direkt nach der Grundschule über. Je nach Langzeitgymnasium wird der Schwerpunkt bereits früher gewählt. 5.1.1 Die Weichenstellung der Zukunft beginnt in der Vergangenheit: das Belegen des Schwerpunktfachs im „Liceo“ als Element der diskursiven Konstruktion der Studienwahl GymnasiastInnen erlangen mit dem Bestehen der lokalen Maturitätsprüfungen die schweizweit anerkannte Studienreife. Die Struktur der Gymnasien ist jedoch kantonal sehr unterschiedlich. Zwar sind seit der Einführung des Maturitätsan‐ erkennungs-Reglements 1995 4 gewisse Vereinheitlichungen zu verzeichnen (z. B. Maturitätsfächer), dennoch sind die lokalen Unterschiede beträchtlich 5 . So wird mancherorts am Ende der Sekundarschule ein sogenanntes Schwerpunkt‐ fach gewählt und ab dem ersten Jahr im Gymnasium gelernt. Anderswo - so auch im Tessin - wird das Schwerpunktfach („Opzione specifica“) erst ab dem zweiten Jahr im Gymnasium („Liceo“) unterrichtet. Die Wahl findet aber den‐ noch bereits in der Sekundarschule („Scuola media“) statt. Diese im Tessin vor‐ handene Struktur wird im Ausschnitt 11 von einer Schülerin aus Bellinzona ( SB 2) aufgegriffen und diskursiv mit ihrer getroffenen Entscheidung für die gymnasiale Stundentafel und das bevorstehende Studium in Verbindung ge‐ bracht. INT: quindi hai più o meno già deciso di andare nella parte francese\ INT: folglich hast du dich bereits mehr oder weniger für die französischsprachige region entschieden\ SB1: sì perché tedesco non … no ((ride)) SB1: ja weil deutsch . nicht … nein ((lacht)) SB2: ((ride)) SB2: ((lacht)) SB1: non è il mio forte . diciamo SB1: ist nicht meine stärke . sagen wir INT: sì okay . e tu invece/ INT: ja okay . und du hingegen/ 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 172 <?page no="173"?> 6 Eigentlich „die zweite Präsentation“. SB2: io . questo mattino ho fatto anch’io ginevra sulla traduzione e l’interpretazione\ SB2: ich . heute morgen bin ich mir genf anschauen gegangen übersetzen und dolmetschen INT: okay INT: okay SB2: e oggi pomeriggio . come lei lettere/ SB2: und heute nachmittag . wie sie geisteswissenschaften/ INT: sì INT: ja SB2: mentre la seconda anche come lei ginevra sulla psicologia\ e scienze della [educazione] SB2: während als zweites 6 auch wie sie genf psychologie\ und erziehungs[wissenschaften] INT: [okay] vuol dire anche tu vai [piuttosto ne& nella direz&] INT: [okay] das heisst du gehst [eher in die richtu&] SB2: [sì perché] ho lasciato il tedesco . al liceo/ SB2: [ja weil] ich habe deutsch . im gymnasium weggelassen/ INT: puoi& puoi lasciarlo/ no [non sapevo neanche] INT: kannst& kannst du das weglassen/ ich [das wusste ich nicht einmal] SB2: [sì sì] sì SB2: [ja ja] ja INT: ahh/ INT: aha/ SB2: sì si può SB2: ja das kann man INT: ah okay INT: ah okay SB2: è possibile SB2: das ist möglich SB1: in terz& prima la seconda devi togliere una lingua se non fai il lin& liceo linguistico\ SB1: in der dritt& ersten in der zweiten musst du eine sprache weglassen wenn du nicht das sprach& altsprachliche gymnasium machst\ INT: a: : : h e voi siete tutte e due [nel] INT: a: : : h und ihr seid beide [im] SB1: e noi facciamo . io faccio [l’economico lei fa spagnolo] SB1: und wir machen . ich mache [wirtschaft und sie macht spanisch] INT: [a: : : : h] INT: [a: : : : h] 5.1 Tessiner GymnasiastInnen und ihre Sicht auf Mobilität und Sprache 173 <?page no="174"?> 7 Für einen landesweiten Überblick zum Fremdsprachenunterricht in der obligatorischen Schule siehe http: / / www.edudoc.ch/ static/ web/ arbeiten/ sprach_unterr/ fktbl_ sprachen_d.pdf [letzter Zugriff, 16. 01. 2016]. 8 So können beispielsweise nur diejenigen SchülerInnen im „Liceo“ Latein als „Opzione specifica“ wählen, die im zweiten Zyklus der „Scuola media“ bereits Latein belegt hatten (vgl. dazu Art. 10 im „Regolamento degli studi liceali“ (Gymnasialverordnung, Stand 25. 06. 2008). SB2: [io ho fatto spagnolo] per quel& prendendo lo spagnolo ho dovuto lasciare o il francese o il tedesco . ho scelto di lasciare il tedesco\ SB2: [ich habe spanisch gemacht] desweg& wegen dem spanisch musste ich entweder französisch oder deutsch weglassen. ich habe entschieden deutsch wegzulassen\ INT: a: : : h okay INT: a: : : h okay SB1: ne& per (avere) almeno una lingua nazionale\ SB1: & um mindestens eine landessprache zu (haben) INT: okay INT: okay Ausschnitt 11: Die Auswahl der Sprachen im Gymnasium, 05. 02. 2014, SB1 und SB2, „Orientati“, Lugano Es scheint dienlich, das Schulsystem und die damit verknüpfte Sprachlernsitu‐ ation des Kantons Tessin 7 zu skizzieren, um zu verstehen, wie GymnasiastInnen, wenn sie ihre Entscheidung für oder gegen ein Studium in einer bestimmten Region konstruieren, beides, das Schulsystem und die Sprachlernsituation, dabei verwenden. Im Tessin wohnhafte Kinder besuchen fünf Jahre die Grundschule („Scuola elementare“). Ab dem ersten Schuljahr werden sie in der Umgebungs‐ sprache Italienisch unterrichtet. Ab dem dritten Jahr lernen sie Französisch als erste Fremdsprache, welche bis zum siebten Jahr zu den obligatorischen Fächern zählt. Zu Beginn des sechsten Jahres treten die Kinder in die „Scuola media“ über, die vier Jahre dauert und in zwei Zyklen zu je zwei Jahren eingeteilt ist. Dort kommt ab der siebten Klasse die Fremdsprache Deutsch und ab der achten Klasse Englisch hinzu. Im ersten Zyklus ist der Lehrplan für alle SchülerInnen vergleichbar. Ab dem zweiten (also mit ca. 13 Jahren) treffen die SchülerInnen bereits Entscheidungen im Hinblick auf die Zukunft 8 . Auf diesem Hintergrund sind die Aussagen der beiden SchülerInnen SB 1 und SB 2 zu verstehen, die beide erklären, sich im „Liceo“ zugleich mit ihrer Schwer‐ 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 174 <?page no="175"?> 9 Für eine Übersicht über die Stundentafeln und möglichen Schwerpunktfächer im Tessin vgl. die Broschüre „scuola media … e poi? Informazioni per gli allievi del ciclo di ori‐ entamento, per i loro genitori e per i docenti di classe“ (Ausgabe 2012-2013). 10 Wie im Kapitel 2 ausgeführt wurde, ist die Zuschreibung von Mobilität oder Immobilität eine Frage der Perspektive und Definition. Es sei deshalb erneut darauf hingewiesen, dass ein Studium innerhalb des Tessins nicht „Immobilität“ bedeutet. Denkt man bei Mobilität an einen Wohnortswechsel, kann es sein, dass auch die Entscheidung für ein Studium im Tessin einen Wohnortswechsel nach sich zieht. Z. B. dauert die Fahrt von Cevio (im Maggiatal) nach Lugano mit den öffentlichen Verkehrsmitteln rund zwei Stunden. punktfachfahl 9 für die Landessprache Französisch und damit gegen weiteren Deutschunterricht entschieden zu haben. Deutsch hätten sie an ihrem „Liceo“ ab dem zweiten Jahr fakultativ belegen können, d. h. mit zwei zusätzlichen Lek‐ tionen zum obligatorischen Pensum von 34 Lektionen pro Woche, was sie aber nicht taten. Nachdem SB 1 sich über ihre einstige Wahl und Abwahl geäussert hat, fügt sie ergänzend hinzu, Deutsch gehöre nicht zu ihren Stärken. Es mag also sein, dass Faktoren wie etwa eine Abneigung gegenüber der deutschen Sprache und gegenüber Lehrpersonen der „Scuola media“, die Erinnerung an schlechte Noten etc. dazu führten, dass SB 1 Deutsch schon gar nicht in Betracht zog, als es darum ging, neben der „Opzione specifica“ Wirtschaft entweder Französisch oder Deutsch zu wählen. Laut SB 1 und SB 2 fassten sie mit der Wahl von Französisch, die sie vier Jahre vor ihrer Studienreife treffen mussten, auch bereits den Beschluss, in der französischsprachigen Schweiz zu studieren. SB 2 antwortet auf meine Frage, nach welchen Kriterien sie sich für eine Universität entscheide, denn auch: io non ho proprio un criterio nel senso . ho scelto quelle in svizzera francese per la lingua principalmente (ich habe eigentlich kein kriterium in diesem sinn . ich habe diejenigen [universitäten] in der französischsprachigen schweiz gewählt hauptsächlich wegen der sprache). Ansonsten wisse sie noch nicht genau, auf welcher Grundlage sie ihre Entscheidung für welche universi‐ täre Institution treffen solle (però non so ancora bene quale scegliere in base a cosa). Weder für SB 1 noch für SB 2 scheint es zum Studium in der französischspra‐ chigen Schweiz Alternativen zu geben. Die lokale Università della Svizzera Ita‐ liana wird nicht erwähnt. Auch die Option, den Fremdsprachen Deutsch und Französisch nach der Matura auszuweichen und sich an einer Universität in Italien zu immatrikulieren, wird nicht thematisiert. Es scheint, als käme bei der Studienwahl nur eine klar definierte Region in Frage, an die eine gewisse Form von Mobilität 10 gekoppelt ist. 5.1 Tessiner GymnasiastInnen und ihre Sicht auf Mobilität und Sprache 175 <?page no="176"?> 11 Interessanterweise sind es oft andere, die darauf hinweisen, dass jemand Deutsch oder Französisch bereits von zuhause mitbekommen habe. Erwähnen es die als privilegiert betrachteten GymnasiastInnen / Studierenden selbst, tun sie dies erst nach mehrma‐ ligem Nachfragen und eher widerwillig. Auf deren Bemühen, sich nach Möglichkeit nicht von den anderen - jenen, die nicht über diesen Vorteil verfügen - abzuheben, gehe ich später nochmals ein (siehe 5.2.4 und Kapitel 6). 12 Eine Entscheidung gegen Englisch hätte zur Folge, dass Italienisch, Französisch und Deutsch gelernt würden. Ein anderes Beispiel zeigt, dass dieselben Überlegungen auch aufgegriffen werden, wenn es um die bevorstehende Wahl einer Studiendestination in der Deutschschweiz geht. So antwortete mir ein anderer Gymnasiast ( SB 3) aus Bel‐ linzona, den ich im Anschluss an eine Präsentation des Studienfachs Geschichte an der Universität Luzern fragte, wie er seine Wahl zu treffen gedenke, folgen‐ dermassen: preferirei la lingua tedesca visto che il francese non lo faccio . da tre anni (ich würde die deutsche sprache bevorzugen in anbetracht dessen dass ich kein französisch habe . seit drei jahren). Er besuchte an „Orientati“ v. a. Informationsanlässe, die ein Studium in der Deutschschweiz thematisierten. Dazu kommt bei SB 3, dass zuhause Deutsch gesprochen wird, wie seine Schulkameradin ( SB 4), die während des Gesprächs dazustiess, äus‐ serte 11 : lui è m& m& praticamente madrelingua tedesco quindi\ (er ist so gut wie deutscher muttersprache folglich\). Diese Ausführungen zeigen, dass einige GymnasiastInnen die Wahl eines Studiums in einer bestimmten Sprachregion mit der früher in der „Scuola media“ bzw. im „Liceo“ getroffenen Wahl in Verbindung bringen. Bemerkenswert ist ferner, dass Englisch von den genannten GymnasiastInnen nicht als abwählbar erachtet wird. Dies, obschon Englisch erstens in den meisten Gymnasien durch die zweite Landessprache ersetzt werden könnte 12 . Zweitens handelt es sich bei Englisch nicht um eine in einer Region der Schweiz gebräuchliche Sprache. Dementsprechend wird auch an keiner Schweizer Universität ausschliesslich in Englisch gelehrt und gelernt. Betrachtet man etwa die Empfehlungen, die in der „Scuola media“ herausgegeben werden, ist das Ja der GymnasiastInnen zu Eng‐ lisch nicht weiter erstaunlich. In einer an Tessiner SekundarschülerInnen ge‐ richteten und jährlich verteilten Broschüre findet man auf einer Doppelseite mit dem Titel „Le opzioni linguistiche al liceo e la scelta universitaria“ (Die sprach‐ lichen Optionen im Gymnasium und die Wahl der Universität) ein grosses Aus‐ rufezeichen und folgenden Hinweis: 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 176 <?page no="177"?> Per tutti gli studi accademici, soprattutto per il biennio di master, si sta delineando la tendenza all’insegnamento bilingue (lingua locale + inglese) o in inglese. L’inglese è la lingua in cui sono redatti i testi delle ricerche scientifiche (in qualsiasi settore). È la lingua „ufficiale“ dell’informatica e della diplomazia ed è la lingua „trasversale“ dell‐ ’economia, del turismo, delle scienze, della comunicazione e di molti altri settori. (Für alle akademischen Studiengänge, vor allem für den zweijährigen Master, gibt es eine Tendenz zum zweisprachigen (Lokalsprache + Englisch) oder englischsprachigen Unterricht. Englisch ist die Sprache, in welcher wissenschaftliche Texte verfasst werden (in jeder Disziplin). Es ist ausserdem die „offizielle“ Sprache der Informatik und der Diplomatie und die allgemeingültige Sprache der Wirtschaft, des Tourismus, der Kommunikationswissenschaften und vieler anderer Bereiche.) Ausschnitt aus der Broschüre „scuola media … e poi? Informazioni per gli allievi del ciclo di orientamento, per il loro genitori e per i docenti di classe“ (Ausgabe 2012-2013) Selbstverständlich zeigt nicht bloss dieser prominent platzierte Hinweis den GymnasiastInnen den Status der englischen Sprache auf. Er bringt aber in kom‐ primierter Form zum Ausdruck, welche Tätigkeitsfelder und Möglichkeiten im Allgemeinen mit dem Englischen assoziiert werden. Dieselbe Doppelseite trägt zwar den Kommentar „La conoscenza di tedesco, francese e inglese è molto importante per lo studente svizzero“ (Die Kenntnis von Deutsch, Französisch und Englisch ist sehr wichtig für den Schweizer Studenten). Jedoch ist dieser Kommentar nicht mit dem Hinweis zur englischen Sprache zu vergleichen. Weder wird er visuell so stark hervorgehoben, noch wird ihm ein separater Paragraph gewidmet. Neben diesen diskursiven Konstruktionen von SchülerInnen, die ihre Fremd‐ heit gegenüber der einen und ihre Nähe zur anderen Landessprache oder den genossenen oder gemiedenen Unterricht in der einen oder anderen Fremd‐ sprache für ihre Entscheidung, das Tessin des Studiums wegen in diese oder jene Richtung zu verlassen, verantwortlich machen, finden sich auch solche von GymnasiastInnen, die ein Studium im Tessin anvisieren. In ihrer diskursiven Entscheidungskonstruktion finden sich Elemente, die mit den bisher genannten kontrastieren, aber auch solche, die sie mit diesen gemeinsam haben, wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird. 5.1 Tessiner GymnasiastInnen und ihre Sicht auf Mobilität und Sprache 177 <?page no="178"?> 13 SD steht für SchülerIn des Gymnasiums „Diocesano“ in Breganzona. 14 Vgl. Studienordnung des „Liceo Diocesano“ unter: http: / / liceodiocesano.ch/ www/ piano-degli-studi/ [letzter Zugriff, 29. 01. 2016]. 5.1.2 Eine tertiäre Ausbildung im Tessin: eine legitimationsbedürftige Option GymnasiastInnen, die andeuten, ein Studium im Tessin in Erwägung zu ziehen, erfahren dabei einen stärkeren Legitimationsdruck, als dies bei SchülerInnen der Fall ist, die sich für ein Studium in der Deutsch- oder Westschweiz ausspre‐ chen. Man gewinnt den Eindruck, dass die Konstruktionen im Hinblick auf ein Ja zur Ausbildung ausserhalb des Tessins dem generellen Verständnis soliden Studierens entsprächen und Teil des legitimen Diskurses seien (vgl. Bourdieu 1977). Ein potentielles Studium im Tessin - wo die tertiäre Ausbildung zum Zeitpunkt der Gespräche rund 20 Jahre Tradition hat - bedarf hingegen offenbar einer besonderen Legitimation. Auszüge aus zwei Gesprächen mit Gymnasiast‐ Innen verdeutlichen, wie im einen Fall die Wahl, im Tessin zu studieren, als nicht ernst zu nehmende Option dargestellt und als flüchtige Idee abgetan und im andern Fall als provisorisch bezeichnet wird. SD 1 13 besucht das „Liceo Diocesano“, eine private, katholisch geprägte Insti‐ tution in Breganzona, deren AbgängerInnen am Schluss die eidgenössische Ma‐ turitätsprüfung absolvieren. Während etwa in den Gymnasien in Bellinzona oder Lugano die SchülerInnen bei ihrer Schwerpunktfachwahl zwischen Fran‐ zösisch und Deutsch entscheiden müssen, sind im „Diocesano“ die beiden Fremdsprachen Deutsch und Englisch obligatorisch. Französisch kann fakul‐ tativ gewählt werden 14 . Das Argument, wegen des fehlenden Deutschunter‐ richts nicht in der Deutschschweiz studieren zu können, fällt somit weg. SD 1 sagt mir am Ende unseres Gesprächs, das wir in der Halle mit den Informati‐ onsständen führen, er habe ursprünglich daran gedacht, im Tessin zu bleiben, fasse nun aber Zürich ins Auge, worüber wir uns im vorausgehenden Ge‐ sprächsteil bereits unterhalten haben. Im folgenden Ausschnitt äussert SD 1, wie er zu dieser Entscheidung steht. SD1: ho pensato . al inizio ho guardato per l’architettura/ poi SD1: ich habe gedacht . am anfang hab ich wegen architektur geschaut/ dann INT: okay [a mendrisio vero/ ] INT: okay [in mendriso nicht wahr/ ] SD1: [sì a] mendrisio\ per stare qua vicino SD1: [ja in] mendrisio\ um hier in der nähe zu bleiben 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 178 <?page no="179"?> INT: mhm INT: mhm SD1: e poi continuando . ho cambiato (idea) . sono andato più su geografia e. ingegneria\ SD1: und dann . hab ich meine meinung geändert . ich ging mehr in richtung geographie und ingenieurwissenschaften INT: mhm INT: mhm SD1: quindi ho guardato un po’ le opzioni e ho visto () ZURIGO col politecnico . è una buona scelta\ SD1: folglich habe ich ein wenig die optionen angeschaut und gesehen () ZÜ- RICH mit der ETH. ist eine gute wahl INT: mhm INT: mhm Ausschnitt 12: Im Tessin bleiben, um in der Nähe zu sein 05. 02. 2014, SD1, „Orientati“, Lugano Interessant ist, dass SD 1 dort, wo er den Studienort Mendrisio erwähnt, mit „per stare qua vicino“ (um in der Nähe zu bleiben) argumentiert. Es lässt sich ver‐ muten, dass man laut SD 1 im Tessin studiert, um nicht weggehen zu müssen, nicht in erster Linie des Studiums wegen. Um zu studieren hingegen, d. h. wegen Fächern wie etwa Geografie oder Ingenieurwissenschaften, geht man nach Zü‐ rich. Die von SD 1 einem Studium in Zürich zuliebe wieder verworfene Option muss auch auf dem Hintergrund der politisch-ökonomischen Bedingungen inner- und ausserhalb des Tessins betrachtet werden, auf dich ich in 5.1.3 näher eingehe. Eine Gymnasiastin aus Bellinzona ( SB 5), mit der ich im Anschluss an die Vorstellung des Jura-Studiums an der Universität Luzern sprach, erachtet eine Ausbildung im Tessin als ernsthafte Option (la prima scelta; die erste wahl). Sie führt zunächst Argumente an, die gegen ein Studium in der Deutschschweiz sprechen. So äussert sie als Erstes perché io . il tedesco non lo parlo molto bene/ (weil ich . ich spreche nicht gut deutsch). Weiter nennt sie ihr Ziel, Richterin zu werden, wenn sie Jura studieren würde (se d& andasse studiare diritto appunto un po’ in alto vorrei arrivare ad diventar giudice caso mai; würde ich jura studieren gehen etwas hoch gegriffen würde ich gerne richterin werden). Da‐ raufhin zählt SB 5 auf, was ihr zufolge gegen ein Jura-Studium sprechen könnte: però sono appunto tantissimi anni di studio . . e bisognerebbe entrare anche in politica/ . . e quindi non so (aber das heisst ein langjähriges studium .. und 5.1 Tessiner GymnasiastInnen und ihre Sicht auf Mobilität und Sprache 179 <?page no="180"?> man müsste auch in die politik eintreten/ .. und deshalb weiss ich nicht). Diesen Negativargumenten folgt die Äusserung (Ausschnitt 13), sie habe ja noch Zeit, bis die Entscheidung fällig sei, womit SB 5 unterstreicht, dass die Hierarchie zwischen der prima scelta maestra d’asilo (erste wahl kindergärtnerin) und der zweiten Wahl ( Jura) erst provisorisch sei. INT: e allora la prima scelta [sarebbe/ ] INT: und also die erste wahl [wäre/ ] SB5: [la prima sarebbe] maestra d’asilo/ SB5: [die erste wäre] kindergärtnerin/ INT: okay INT: okay SB5: però appunto visto che ho questa passione comunque per il diritto . sone due cose diciamo un po’ gli opposti/ SB5: aber eben weil ich doch diese leidenschaft habe für recht . es sind zwei sagen wir etwas gegensätzliche sachen/ INT: mhm INT: mhm SB5: volevo vedere un po’ quello che sarebbe il diritto all’università e magarì . non so abbiamo ancora un anno per decidere magarì cambio idea [appunto] SB5: ich wollte ein wenig schauen wie recht an der universität wäre und vielleicht . ich weiss nicht wir haben ja noch ein jahr um uns zu entscheiden vielleicht ändere ich meine meinung [eben] Ausschnitt 13: Sich ein Bild machen, 05. 02. 2014, SB5, „Orientati“, Lugano Weiter liefert SB 5 ungefragt eine ausführliche Erklärung zu ihrer ersten Wahl und den Vorteilen, die sie daran festmacht. INT: sì okay . però per la formazione di . dell’asilo sei anda& cioè dove potresti fare questa cosa . in ticino/ non so . non [conosco] INT: ja okay . aber für die ausbildung der . zur kindergärtnerin bist du geg& also wo könntest du dies im tessin machen/ ich weiss . ich [kenne nicht] SB5: [e: : si può] prendere appunto il bachelor in ticino . [e (poi)] SB5: [ä: : hm ja man kann] den bachelor eben im tessin machen . [und (dann)] INT: [a: : : h] INT: [a: : : h] 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 180 <?page no="181"?> 15 Interessant ist auch, was SB5 nicht sagt. Sie verweist z. B. nicht darauf, dass die Aus‐ bildung zur Kindergärtnerin im Tessin weniger kostspielig ist. Erstens verlangt die Fachhochschule, „Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana“, Studien‐ gebühren, die mit anderen Universitäten in der Deutsch- und Westschweiz vergleichbar sind (nicht aber mit der USI, deren Gebühren um einiges höher sind). Zweitens kann SB5 so vermutlich weiterhin bei ihren Eltern wohnen. SB5: si può andare in qualsiasi cantone svizzero \ .. basta la lingua che si [sa la lingua] SB5: man kann in jeden schweizer kanton gehen \ .. es reicht wenn man [die sprache kann]\ INT: [ah okay] INT: [ah okay] SB5: poi si può andare dappertut& è valido ovunque SB5: danach kann man überal& er ist überall gültig INT: okay . okay INT: okay . okay SB5: di& principalmente però in ticino () di rimanere ((ride)) SB5: um& letztlich aber im tessin () um hierzubleiben ((lacht)) INT: okay INT: okay Ausschnitt 14: Im Tessin bleiben, 05. 02. 2014, SB5, „Orientati“, Lugano Zu den Vorteilen, die SB 5 anführt, gehören ein landesweit gültiges Diplom und die Möglichkeit, überall in der Schweiz zu arbeiten. Es scheint, als wolle SB 5 ihr potentielles Im-Tessin-Bleiben dadurch begründen, dass sie sich die Perspektive eröffnet, nach Studienabschluss über die Sprachgrenze hinweg mobil zu werden. Nach diesen Erläuterungen schiebt die Gymnasiastin jedoch lachend nach, dass der Bachelor ihr letztlich auch ermögliche, im Tessin zu bleiben (principalmente però in ticino () di rimanere) 15 . Ich betrachte SB 5’s Äusserungen insofern als diskurskonform, als sie den Mobilitätsdiskurs kennt, den die universitären VertreterInnen etwa an „Orientati“ (re-)produzieren, und dessen Regeln beherrscht. Die möglicherweise gar nicht so provisorische Ent‐ scheidung von SB 5 verlangt nach einer fundierten Begründung, die der Mobi‐ litätsideologie widerspricht und deshalb Elemente aus dem Mobilitätsdiskurs aufgreift. SB 5’s Erklärung ist im Kontext von „Orientati“ umso wichtiger, als dort, abgesehen von zwei Angeboten ( USI und Fachhochschule im Tessin), nur Studienmöglichkeiten ausserhalb des Tessins vertreten sind. Die Anzahl von GymnasiastInnen, mit denen ich im Rahmen von „Orien‐ tati“ - diesem eintägigen Informationsevent - sprechen konnte, war begrenzt. Dennoch fällt beim Analysieren der geführten Interviews auf, dass diejenigen SchülerInnen, die ein Studium im Tessin anvisieren, ihre Wahl anders begründen 5.1 Tessiner GymnasiastInnen und ihre Sicht auf Mobilität und Sprache 181 <?page no="182"?> als diejenigen, die eine Tertiärausbildung in einer anderen Sprachregion der Schweiz erwägen. Jene führen im Zusammenhang mit einem Studium ausser‐ halb der Kantonsgrenzen Negativargumente an und unterstreichen schliesslich ihre (noch provisorische) Entscheidung für eine Ausbildung im Tessin mit Po‐ sitivargumenten. Diese hingegen nennen Negativ-/ Positiv-Argumente, wenn es darum geht, die Wahl eines Studiums in der französisch- oder deutschsprachigen Schweiz zu fundieren, wobei sie diese häufig mit ihrer fremdsprachlichen Vor‐ bildung in Verbindung bringen. Die Entscheidung gegen ein Studium im Tessin kommt mit einer Ausnahme in den Gesprächen nicht vor. Gemeinsam ist den diskursiven Konstruktionen, dass sie auf Mobilität und Sprache Bezug nehmen. Sie verweisen auf die Sprache und auf Sprachkompetenzen, die im Zusammen‐ hang mit dem Tessiner Schulsystem vorhanden sind oder fehlen, wenn sie die Wahl eines Studiums und Studienorts ausserhalb des Tessins und die damit ein‐ hergehende Mobilität begründen. Wenn GymnasiastInnen ihr Vorhaben, inner‐ halb des Tessins zu studieren, erläutern, erklären sie mir wiederholt, dass sie nach der Ausbildung das Tessin verlassen könnten. Das Überschreiten der Kan‐ tonsgrenzen scheint demzufolge bei allen befragten GymnasiastInnen zur legi‐ timen Lebensvorstellung zu gehören, wobei SchülerInnen, die diesen Schritt nicht unmittelbar nach ihrer Matura vorhaben, dessen Möglichkeit stärker be‐ tonen. Diese Gemeinsamkeit der ansonsten voneinander abweichenden Dis‐ kurse lässt mich den Stellenwert, der Mobilität und Sprache zugesprochen wird, erkennen. Um zu verstehen, weshalb diese angehenden Studierenden Mobilität und Sprache diskursiv einen solchen Stellenwert zuschreiben, erachte ich es als hilfreich, den Blick auf tessininterne und -externe politisch-ökonomische Be‐ dingungen zu lenken. Es sei (erneut) darauf hingewiesen, dass an „Orientati“ mehrheitlich Schweizer Ausbildungen präsentiert werden, die ausserhalb des Tessins angeboten werden. Demzufolge sind Optionen, die Mobilität nach sich ziehen, in diesem Rahmen die Regel. Darüber hinaus besteht erst seit rund 20 Jahren die Möglichkeit, innerhalb des Kantons auf universitärer Ebene zu studieren. Davor war die Mobilität an die Entscheidung für eine tertiäre Aus‐ bildung gekoppelt, eine Tradition, die mit der Gründung der USI nicht zu Ende war (vgl. Kapitel 2). Ferner ist ein allgemeiner Mobilitätsdiskurs zu verzeichnen (vgl. Kapitel 4), worin zum Ausdruck kommt, welche Vorzüge mit Mobilität und Sprachkompetenzen verbunden werden. Im nächsten Teil zeige ich, wie Gym‐ nasiastInnen an ihrer bevorstehenden Wahl eine „sichere“ Zukunft festmachen, und führe wiederum aus, wie in ihren Äusserungen auch ihre Interpretation von tessininternen und -externen Bedingungen mitschwingt. 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 182 <?page no="183"?> 5.1.3 Die sichere Zukunft: Die heutige Entscheidung für übermorgen An „Orientati“ fand ich heraus, dass nicht alle GymnasiastInnen zur Teilnahme an diesem Anlass verpflichtet waren. Deshalb wollte ich jeweils zu Beginn der kurzen Gespräche wissen, ob mein Gegenüber fakultativ oder obligatorisch an‐ wesend sei. Aus dieser Frage - sie zielte v. a. darauf ab, zu erfahren, welche Gymnasien ihre SchülerInnen zur Teilnahme an „Orientati“ verpflichteten und welche nicht - gingen Dialoge hervor, die weit über dieselbe hinausgingen. Wie im Ausschnitt 15 ersichtlich wird, fühlen sich die GymnasiastInnen für ihre Zu‐ kunft verantwortlich. INT: okay . e come va cioè . dovevate venire qua o: è stata la vostra scelta: : INT: okay . und wie geht also . musstet ihr hierherkommen oder: war das eure entscheidung: : SB1: no allora . la visita è obbligatoria SB1: nein also . die teilnahme war obligatorisch INT: okay INT: okay SB1: da noi . però penso che anche se non lo sarebbe stato . . sarebb& [saremmo venuti comunque] SB1: bei uns . aber ich denke auch wenn es nicht so gewesen wäre . . wär& [wir wären trotzdem gekommen] SB2: [sì . saremmo venuti lo stesso] SB2: [ja . wir wären dennoch gekommen] SB1: perché è una buona occasione SB1: weil es ist eine gute gelegenheit INT: sì INT: ja SB2: per raccogliere materi[ali] SB2: zum sammeln von materia[lien] SB1: [per informarsi] SB1: [um sich zu informieren] SB2: informazione . sì SB2: informationen . ja SB1: perché è importan[te/ ] SB1: weil es ist wicht[ig/ ] SB2: [è la scelta] per (il) mio futuro SB2: [es ist die wahl] für meine zukunft SB1: è una scelta che vale la pena (essere) giusta SB1: es ist eine entscheidung bei der es sich lohnt wenn sie richtig ist Ausschnitt 15: Die Wahl für die Zukunft, 05. 02. 2014, SB1 und SB2, „Orientati“, Lugano 5.1 Tessiner GymnasiastInnen und ihre Sicht auf Mobilität und Sprache 183 <?page no="184"?> 16 Eine Gymnasiastin des „Liceo Diocesano“, das den SchülerInnen die Teilnahme an „Ori‐ entati“ freigestellt hat, äussert, es seien trotzdem alle gekommen (tutti sono venuti; alle sind gekommen). Die beiden Gymnasiastinnen aus Bellinzona führen, ausgehend von ihrer obli‐ gatorischen Teilnahme an „Orientati“, aus, weshalb sie diesen Anlass für wichtig erachten und dass sie auch ohne Verpflichtung gekommen wären 16 . Die Rele‐ vanz von „Orientati“ machen sie an der ihnen bevorstehenden Wahl für die Zukunft fest. In der weiterführenden Konversation definieren die beiden Gym‐ nasiastinnen aus Bellinzona nur ansatzweise, wie sie ihre Zukunft sehen, und gestehen, dass sie noch nicht genau Bescheid wüssten, in welche Richtung ihre tertiäre Ausbildung gehe (z. B. SB 1: devo ancora informarmi ecco; ich muss mich noch informieren). Sie unterstreichen allerdings die Tragweite der Entscheidung, welche ihre Wahl mit sich bringt, und übernehmen dafür Verantwortung. Sie konstruieren ihre eigene Zukunft als eine Etappe, über die sie mit der richtigen Wahl (la scelta giusta) selbst bestimmen, und unterstreichen mit der für sie selbstverständlichen und wichtigen Teilnahme an „Orientati“ die Vorstellung, hauptsächlich sie seien für ihre Zukunft und ihren Erfolg zuständig. Das bereits in Kapitel 4 seitens der universitären Institutionen vorgebrachte Argument der „sicheren Zukunft“ wird also auch von GymnasiastInnen ver‐ wendet. Ihr Verständnis ist mit demjenigen der Universitäten vergleichbar, d. h., dass auch sie die Zukunft als Etappe konstruieren, die nach dem Abschluss des Studiums beginnt und mit dem Eintreten in den Arbeitsmarkt verknüpft ist. Im Folgenden zeige ich anhand zweier unterschiedlicher Themenaspekte auf, woran diese Sicht auf Zukunft erkennbar wird und welche Ideologien derselben dienen. 5.1.3.1 Die Vorteile für später und gegenüber andern Im Gespräch mit den GymnasiastInnen stellt sich heraus, dass sie mit ihrer Zu‐ kunft den Wettbewerb nach dem Studium assoziieren und bereits bei ihrer Ent‐ scheidung berücksichtigen. Sie legen z. B. dar, wie sie im Arbeitsmarkt bestehen wollen und nennen in diesem Zusammenhang Aussichten, die ihnen im Hinblick auf ihre berufliche Zukunft wichtig sind. Ich unterhalte mich mit einem Gymnasiasten des Diocesano ( SD 2), der sich, bevor an „Orientati“ das Medizinstudium präsentiert wird, neben mich setzt. Wir warten plaudernd darauf, dass die Informationsveranstaltung beginnt. Er fragt mich, ob ich schon sicher sei, dass ich Medizin wählen würde. Nach meinem „No“ (Nein), dem ich gerne eine Erklärung zu meiner Rolle angehängt hätte, unterbricht er mich und erläutert ausführlich, dass er schon ziemlich 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 184 <?page no="185"?> 17 Das Sprechtempo von SD2 und die lärmige Umgebung stellten trotz einem Aufnahme‐ gerät, das ein nachträgliches, mehrfaches und verlangsamtes Wiederholen erlaubte, eine Herausforderung für mich dar. Daher rühren auch die etlichen Klammern, welche die erahnten Äusserungen markieren. überzeugt sei. Medizin garantiere einem un lavoro sicuro (eine sichere arbeit), man müsse sich nie um Arbeit sorgen. Nach der Präsenta‐ tion fragt er mich: e adesso . che ne pensi/ (und jetzt . was hältst du davon/ ). Ich kläre ihn auf und bitte ihn, mir einige Fragen zu beantworten 17 . INT: okay . okay . e . cioè hai detto la medicina t’interessa però c’è anche qualcos’altro che: : . potrei immaginar& INT: okay . okay . und . also du hast gesagt medizin interessiert dich aber gibt es auch etwas anderes das: : . du dir vorstellen könnt& SD2: sì . (son stato a) sociologia psicologia psichiatria (c’è . fare) medicina la voglio fare anche per per per fare (poi) psichiatria SD2: ja . (ich war bei) der soziologie psychologie psychiatrie (weil . ) medizin zu machen ich will das machen auch um um um (dann) psychiatrie zu machen INT: ah okay [un po’ questa la tua] INT: ah okay [das ist ein wenig deine] SD2: [perché . perché] sai la psicologia proprio psicologia non togli molto lavoro. poi se fai psichiatria comunque hai . hai più cose . e sei me& fai più cose . lavori (comunque) come psicologia come psichiatria col cervello o così SD2: [weil . weil] weisst du psychologie rein psychologie da hast du nicht viel arbeit . wenn du jedoch psychiatrie machst . hast du mehr dinge . und bist wen& machst mehr sachen . du arbeitest eh in der psychologie wie in der psychiatrie mit dem hirn oder so INT: sì INT: ja SD2: (però) comunque sai qualcosa di più e . ed è più sicuro SD2: aber jedenfalls weisst du etwas mehr und . es ist sicherer INT: mhm . okay INT: mhm . okay Ausschnitt 16: Mehr Möglichkeiten dank bestimmter Studienwahl, 05. 02. 2014, SD2, „Orientati“, Lugano 5.1 Tessiner GymnasiastInnen und ihre Sicht auf Mobilität und Sprache 185 <?page no="186"?> SD 2 projiziert sich in die ferne Zukunft - es trennt ihn mindestens ein Jahrzehnt von einer potentiellen Tätigkeit als Psychiater - und prüft bereits, in welchem (mutmasslichen) Wettbewerb er sich dann werde behaupten müssen und wie er der Konkurrenz überlegen sein könnte. Diese Überlegungen sind mit der neo‐ liberalen Ideologie insofern kompatibel, als sie aufzeigen, wie ein Individuum wie SD 2 sich selbst im Hinblick auf den Markt zu managen versucht. Er hat eine marktwirtschaftlich geprägte Ideologie inkorporiert: seine tertiäre Ausbildung wählt SD 2 auf dem Hintergrund dessen, was ihm zufolge auf dem Arbeitsmarkt nach Abschluss seines Studiums valorisiert wird. Er antizipiert, welche Vorteile oder welche Skills (oder welche „marques de distinction“, vgl. Bourdieu 1979) ihm welche Ausbildung in diesem Kontext ermöglichen werde und wie er - als Individuum - im Markt kompetitiv bestehen könne (vgl. Bourdieu 1998). SD 2 stimmt in seiner Legitimation mit dem überein, was Giroux in seiner kritischen Überlegung zur universitären Bildung im neoliberalen Zeitalter aufzeigt; er deckt den Zusammenhang zwischen dem „purpose of education“ und dem Ver‐ ständnis von Zukunft auf. Ihm zufolge sind beide „determined largely by market forces“ (Giroux 2013: Abschnitt 5). Während sich SD 2 von einer gewissen Ausbildung den erwünschten Vor‐ teil / Vorsprung erhofft, sind es in anderen Fällen Sprachkompetenzen, durch deren Erwerb sich GymnasiastInnen einen Vorteil versprechen. Allerdings bleibt dieses Bestreben im folgenden Beispiel hypothetisch, wie in den Feldno‐ tizen erkennbar wird. Mehrere Gruppen von SchülerInnen (total rund 50 Personen) sitzen in einem grossen Vorlesungssaal, der einem Amphitheater gleicht. Darin beginnt in Kürze die Präsentation der ETH Zürich und der EPF Lausanne. Auf der Bühne sind vier Personen damit beschäftigt, zwei Power-Point-Präsentationen zu‐ sammenzufügen - diejenige der ETH und diejenige der EPF . Ich setze mich hinter eine Gruppe von vier GymnasiastInnen in die Mitte des Raums. Vor ihr auf dem Tisch liegen verschiedene Werbebroschüren. Zwei der Schüle‐ rInnen äussern, sie hätten Hunger, und fragen sich, was für ein Menü ihnen am Mittag in der Mensa offeriert werde. Die anderen beiden diskutieren mit‐ einander darüber, welcher der beiden Studienorte (Zürich oder Lausanne) denn nun besser wäre, und blättern in den Broschüren der beiden Instituti‐ onen. Diese Diskussion wird alsbald zu viert weitergeführt. Einer der Schüler äussert, es sei ja wohl klar, dass man dank der deutschen Sprache später im Vorteil sei und dies für Zürich spreche. Seine Sitznachbarin pflichtet ihm bei und sagt, da habe er schon Recht, nur stehe ihr diese Option nicht offen. Sie sagt weiter, es sei klar („evidente“), dass Deutsch vorteilhafter sei. Die anderen 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 186 <?page no="187"?> drei nicken indessen, und einer fügt an, er hoffe, dass erst die EPF Lausanne präsentiert werde, dann könnten sie nachher rausschleichen und wären früh‐ zeitig in der Mensa, um dem Mittagsansturm zu entkommen. Feldnotizen 2: Präsentation der nationalen Universitäten EPF und ETHZ, 05. 02. 2014, „Orientati“, Lugano Nach einer gemeinsamen Intro der beiden Institutionen wird erst die ETH Zü‐ rich vorgestellt, was von der vor mir sitzenden Gruppe mit einem kollektiven Seufzer und anschliessendem Gekicher (vermutlich aufgrund des arg lauten und synchronen Seufzers) begleitet wird. Dank dieser Reihenfolge gelingt es mir, im Anschluss an die Präsentation eine der Schülerinnen, die zur besagten Gruppe gehört, kurz zu befragen. Ich erkläre ihr, ich hätte ihr Gespräch zufälligerweise mitgehört und würde mich fragen, wie ihre Aussage zu verstehen sei, sie könne nicht in Zürich studieren gehen. Sie lacht und sagt, sie erkenne ja schon, welchen Vorteil Deutsch mit sich bringe, vor allem im Hinblick auf die Arbeit nach dem Studium, aber sie habe kein Deutsch im „Liceo“ und deshalb sei ein Studium in der Deutschschweiz für sie utopisch. Die deutsche Sprache wird von dieser Schülergruppe mit Blick auf den öko‐ nomischen Nutzen klar zuoberst platziert. An ihr wird die sichere Zukunft fest‐ gemacht, die nach dem Studium beginnt. Allerdings wird die Antizipation dieser „sicheren“ Zukunft - in welcher es darum geht, sich im Wettbewerb zu be‐ haupten - nicht in die Realität umgesetzt. Das „Liceo“ und die dort erworbenen (bzw. nicht erworbenen) Kompetenzen dienen den SchülerInnen als Legitima‐ tion, auf den „mutmasslichen“ Vorteil zu verzichten, den sie sich von der deut‐ schen Sprache versprechen. 5.1.3.2 Vom institutionellen Prestige zum eigenen Prestige Teil des Diskurses der GymnasiastInnen an „Orientati“ ist das „Prestige“, das diese mit der anvisierten Institution verbinden. So wurde in den Interviews et‐ liche Male die Absicht bekundet, die Universität mit dem meisten Prestige zu wählen (z. B. quella più prestigiosa: : entrerebbe primo; die prestigeträchtigste würde ich als erstes wählen; e il prestigio magari; und das prestige vielleicht). Es stellt sich die Frage, weshalb das Element des Prestiges auftaucht, wenn GymnasiastInnen erwägen, welche Universität sie wählen sollten. Einerseits ist die Verwendung dieses Elements vermutlich mit dem Werbediskurs verbunden, der seitens der Universitäten produziert wird (vgl. Kapitel 4). Anderseits lassen die GymnasiastInnen dadurch, dass sie diesen Diskurs reproduzieren und mit 5.1 Tessiner GymnasiastInnen und ihre Sicht auf Mobilität und Sprache 187 <?page no="188"?> ihrer eigenen Wahl in Verbindung bringen, erkennen, welches Gewicht sie dieser Hierarchisierung / diesem Ranking beimessen. Darüber hinaus ist das Element des Prestiges im Zusammenhang mit der angestrebten „sicheren Zu‐ kunft“ willkommen, wenn es darum geht, das Renommee der gewählten Insti‐ tution auf sich zu übertragen und zu seinem eigenen Vorteil zu machen. Man könnte dabei auch auf Bourdieus Kapitalformen zurückgreifen (Bourdieu 1983). Die GymnasiastInnen erhoffen sich, dass das symbolische Kapital einer be‐ stimmten Universität - ihr Prestige - auf sie abfärbe und sich später zu ihrem Nutzen in ökonomisches Kapital konvertieren lasse. In den Legitimationsdis‐ kursen der Studierenden, die ihre Wahl retrospektiv betrachten, ist diese dis‐ kursive Übertragung von institutionellem Prestige auf die individuelle Ebene noch ausgeprägter beobachtbar (vgl. 5.2.3). 5.1.4 Zwischenüberlegungen Die Tessiner GymnasiastInnen beschäftigen sich damit, wie es nach der Matura in eineinhalb Jahren mit ihrer Ausbildung weitergehe. Die Analyse der ethno‐ graphischen Daten zeigt, dass Sprache bei der Überlegung zur bevorstehenden Wahl als Element der Legitimation einer bestimmten Mobilität oder der Immo‐ bilität dient. Zwar wird ein potentielles Studium innerhalb oder ausserhalb des Tessins diskursiv auf unterschiedliche Weise erwogen, jedoch werden zu beiden Optionen Argumente vorgebracht, in denen Sprache und Mobilität (beim Stu‐ dium im Tessin: spätere Mobilität) eine Rolle spielen. Weiter deckt die Analyse auf, dass die bevorstehende Studienwahl - insbe‐ sondere diejenige eines Studiums an einer Universität in der Deutschschweiz - im Hinblick auf eine „sichere“ Zukunft diskursiv als vielversprechend verhan‐ delt wird. Die GymnasiastInnen machen ihre Überlegungen an einer Zukunft fest, für die sie erstens Verantwortung übernehmen und in die sie sich zweitens anhand von Vorteilen als konkurrenzfähige Akteurinnen / Akteure projizieren. Sparke (2015: 5) würde sie in diesem Zusammenhang als „highly successful neo‐ liberals“ bezeichnen, die verstanden haben, dass Ökonomisierung nach neoli‐ beralen Ansätzen nicht nur „Geld machen“ bedeutet. Vielmehr dehnt die Öko‐ nomisierung sich auch auf andere (nicht aufs Geld bezogene) Lebensbereiche aus, in denen das Marktmodell ebenfalls gilt und Menschen zu Marktakteu‐ rinnen/ -akteuren werden, die für ihren eigenen Marktwert zuständig sind und dafür Verantwortung übernehmen (vgl. Brown 2015). Es trägt zum Verständnis der diskursiven Konstruktionen und der darin vor‐ kommenden Elemente bei, wenn man diese aus einer politisch-ökonomischen tessininternen und -externen Perspektive betrachtet. Davon verspreche ich mir, 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 188 <?page no="189"?> 18 Aus „Der Kanton Tessin. Struktur und Perspektiven“ abrufbar unter http: / / www.ub.unibas.ch/ digi/ a125/ sachdok/ 2015/ BAU_1_6429558.pdf [letzter Zugriff, 22. 04. 2016]. 19 Die Statistik umfasst alle beim Amt der regionalen Arbeitsvermittlung registrierten Arbeitslosen, unabhängig davon, ob sie eine Arbeitslosenentschädigung beziehen oder nicht. 20 https: / / www.amstat.ch/ [letzter Zugriff, 22. 04. 2016]. 21 Der Schweizer Durchschnitt liegt bei 3.6 % (Stand Februar 2016, Staatssekretariat für Wirtschaft). die Aussage der GymnasiastInnen, sie seien für ihre Zukunft verantwortlich, und die Tatsache, dass sie ihre Entscheidung im Hinblick auf eine „sichere“ Zu‐ kunft fällen und legitimieren, besser zu verstehen. Wie bereits erwähnt, sind das Tessin und dessen regionale Wirtschaft stark von der Wirtschaftslage der rest‐ lichen Schweiz (und vom CHF -Wechselkurs) wie auch von der Wirtschaftslage des nahen Italien (und vom EUR -Wechselkurs) abhängig. 2014 gingen 55.1 % der Exportgüter aus dem Tessin in die Eurozone, auf Landesebene waren es 45.8 % (Stand Juni 2015 18 ). Die wirtschaftliche Position des Kantons Tessin wird dem‐ nach in hohem Ausmass durch die Wirtschaftslage ausserhalb der Kantons- und Landesgrenzen definiert. Im Vergleich zu anderen Kantonen hat das Tessin mit 4.4 % eine hohe Arbeitslosenquote 19 . Der Schweizer Durchschnitt - im interna‐ tionalen Vergleich ist er tief - liegt bei 3.4 % (Stand Februar 2016, Staatssekre‐ tariat für Wirtschaft 20 ). Zudem zählt das Tessin mit 5.7 % zu den Kantonen mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit 21 , wobei als „Jugendliche“ Menschen im Alter zwischen 15 und 24 gelten und somit UniversitätsabgängerInnen mit ein‐ gerechnet sind. Man könnte nun die im Tessin vergleichsweise hohe Maturi‐ tätsquote (vgl. Kapitel 2) mit der dortigen Arbeitslosenquote in Verbindung bringen. Wie Philipp Sarasin (2014) aufgezeigt hat, handelt sich dabei aber um eine Scheinkorrelation. Er kommt mittels einer Analyse der Arbeitslosenzahlen zum Schluss, dass der Anteil AkademikerInnen darunter verschwindend klein sei. Betrachtet man die Ergebnisse der aktuellsten Längsschnittbefragungen von Schweizer Hochschulabsolventinnen und Hochschulabsolventen auf dem Ar‐ beitsmarkt, wird in Bezug auf das Tessin - einen der am stärksten betroffenen Kantone - ersichtlich, dass die Arbeitslosenquote innerhalb von fünf Jahren stark abgenommen hat (von 7.5 % im Jahre 2007 auf 2.6 % im Jahre 2011) und der Unterschied zu den am wenigsten betroffenen Gebieten sich verringert hat (Weiss 2013; Gfeller & Weiss 2015). Winkelmann (2006) führt aus, dass Jugend‐ liche mit geringer Qualifikation im Allgemeinen eher gefährdet seien, arbeitslos 5.1 Tessiner GymnasiastInnen und ihre Sicht auf Mobilität und Sprache 189 <?page no="190"?> 22 Trotz dieser vergleichsweise tiefen Zahlen garantiert der Abschluss eines Studiums nicht immer einen reibungslosen Übertritt in die Erwerbstätigkeit, wie Neuen‐ schwander et al. (2012) zeigen. zu werden 22 . Trotz dieser für StudienabgängerInnen beruhigenden Zahlen ist die Korrelation zwischen Maturitätsquote und Arbeitslosigkeit junger Akade‐ mikerInnen ein Mythos, findet als oftmals unhinterfragter „Fact“ Eingang in Diskurse von Bildungspolitikern und dient Universitäten, die für Studiengänge werben, indem sie gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt in Aussicht stellen (vgl. Kapitel 4). Wie auf den vorausgehenden Seiten gezeigt worden ist, ist die Be‐ fürchtung, nach dem Studium arbeitslos zu sein, auch in Äusserungen von GymnasiastInnen erkennbar. In ihren Aussagen sehe ich die Interpretation dessen, was den gesellschaftlichen Diskurs in der Schweiz und insbesondere im Tessin im Zusammenhang mit beruflichen Aussichten prägt. 5.2 Die Rationalisierung und Legitimierung der studentischen Mobilität von TessinerInnen in der Deutschschweiz Nun wende ich den Blick den Studierenden zu, d. h. jungen Menschen, welche die Entscheidungsphase der GymnasiastInnen hinter sich und bereits ein Stu‐ dium in der Deutschschweiz in Angriff genommen haben. Die 13 Interviews, welche die Basis der folgenden Analyse bilden, müssen folglich auf dem Hin‐ tergrund dieser getroffenen Studienwahl und der damit verbundenen Mobilität Richtung Deutschschweiz betrachtet werden. „Decisions are not only about how to act but who to be“, schreibt Anthony Giddens (1991: 81), der sich ausgiebig mit Entscheidungen auseinandergesetzt hat (vgl. 2.2.4.1). In Bezug auf die ret‐ rospektiv konstruierte Sicht auf die Studienwahl muss also berücksichtigt werden, dass die Studierenden ihre Wahl mit Vorliebe so darstellen, dass ihre Aussagen mit ihrem Selbstbild im Einklang sind. Dementsprechend klammern sie ihrem Selbstbild Widersprechendes aus. Weil sie ein Studium an einer deutschschweizerischen Universität gewählt und damit gleichzeitig auch Al‐ ternativen abgewählt haben, stellen Studierende allenfalls verworfene Optionen so dar, dass ihre Darstellungen ihren Entschluss stärken. In diesem Zusammen‐ hang verwende ich die Begriffe „rationalisieren“/ „Rationalisierung“. Darunter verstehe ich das Sinngeben und Verbalisieren der in der Vergangenheit lie‐ genden Wahl in Einklang mit dem Selbstbild, dem Lebensstil und dem legitimen Diskurs (vgl. 5.1). Zum Zeitpunkt der Gespräche befinden sich die Studierenden in den ersten Semestern ihrer tertiären Ausbildung. Die Interviews mit ihnen 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 190 <?page no="191"?> sind Momentaufnahmen, worin die Studierenden - allen wurde ein Pseudonym zugeteilt - ihre Wirklichkeit konstruieren, d. h., dass sie „Konstrukteure“ ihres Jetzt, ihrer in der Vergangenheit liegenden Studienwahl und ihrer potentiellen Zukunft sind. Die Interviewdaten müssen somit als studentische Rationalisie‐ rungen gelesen werden. Ob etwa ihre Vorstellung der Zukunft mit der „tatsäch‐ lichen“ übereinstimmen werde, sei dahingestellt. Es kann sein, dass eine Stu‐ dentin ihr Studium abbricht, durchfällt, früher als geplant ins Tessin zurückkehrt etc. Aus der Analyse geht hervor, dass die interviewten Studierenden beim Rati‐ onalisieren ihrer Studienwahl und der damit verbundenen Mobilität Richtung Deutschschweiz sich verschiedener diskursiver Elemente bedienen. Diese habe ich in Unterkapiteln thematisch gebündelt, wobei die vorgenommene Gliede‐ rung nicht den Eindruck erwecken soll, dass manche Studierende diese Elemente nicht auch in Kombination verwenden. Mit Referenz auf die Bedingungen, die den studentischen Rationalisierungen zugrunde liegen, zeige ich, dass Studie‐ rende ihre Wahl an den Vorteilen festmachen, die ihnen zufolge die Mobilität an und für sich (5.2.1), ein mit dem Studium assoziierter Beruf (5.2.2) oder die Institutionswahl und das damit verbundene Renommee (5.2.3) eintragen. Weiter lege ich dar, wie Sprache im Rationalisierungsprozess der Studienortswahl und damit der Mobilität eine Rolle spielt (5.2.4-5.2.5). Darauf folgen Zwischenüber‐ legungen, in denen ich auf die marktwirtschaftliche Prägung in den Rationali‐ sierungen von Tessiner Studierenden hinweise (5.2.6). 5.2.1 Die Mobilität vom Tessin weg und ins Tessin zurück In den folgenden Abschnitten führe ich erstens aus, dass einige Studierende beim Rationalisieren ihres Entschlusses, an einer Universität in der Deutsch‐ schweiz zu studieren, auf die Mobilität an und für sich und auf die daran ge‐ koppelten Vorzüge verweisen. Zweitens zeige ich, dass etliche Studierende ihre Mobilität als vorübergehend erachten und ihre Zukunft nach dem Studium län‐ gerfristig im Tessin sehen. Drittens lege ich dar, wie einige Studierende die ihnen vorschwebende Rückkehrmobilität begründen. Schliesslich diskutiere ich die beiden Formen der Mobilität - diejenige vom Tessin weg und diejenige ins Tessin zurück - und interpretiere diese diskursiven Konstruktionen. Bis zur Eröffnung der USI 1996 erforderte die Mobilität von Tessiner Stu‐ dierenden kaum Legitimation. Nur dank ihr hatte man Zugang zu einer tertiären Ausbildung in der Schweiz. Aus den Interviews mit den Tessiner Studierenden in der Deutschschweiz geht hervor, dass die Mobilität aus ihrer Sicht nach wie vor keiner Legitimation bedarf und als „normal“ erachtet wird. Ihre Entschei‐ 5.2 Wie TessinerInnen studentische Mobilität rationalisieren 191 <?page no="192"?> dung gegen eine Ausbildung im Universitätskanton Tessin erläutern die Stu‐ dierenden erst auf mein Nachfragen hin, wobei sieben Interviewte die dortige Ausbildung negativ zeichnen (ohne je dort immatrikuliert gewesen zu sein). Stella ( STE ) zum Beispiel, eine Studentin an der Universität Bern, von der ich wissen wollte, ob sie sich ein Studium an der USI ebenfalls überlegt habe, erklärt mir, das dortige Angebot sei nicht überzeugend. Ausserdem seien die Studien‐ gebühren vergleichsweise hoch und das Ambiente eher unangenehm. Im fol‐ genden Ausschnitt aus einem Gespräch mit ihr wird ersichtlich, welche Vorzüge sie mit Mobilität verknüpft bzw. welche Vorzüge ihr zufolge jenen Studierenden entgehen, die sich für ein Studium im Tessin und gegen das Weggehen ent‐ scheiden. STE: e quindi meglio andare . ((ride)) andare fuori ma proprio per le persone in se è giusto andare via secondo me e trovarsi confrontati con un’altra città con un’altra lingua e tutto quanto\ perché aiuta un sacco a crescere e tutto poi non si può sempre stare . in casa fino non so quando hai finito gli studi o così no non trovo tanto è un po’ all’italiana così tipo mammoni\ STE: es ist folglich besser . ((lacht)) rauszugehen aber wirklich für die menschen als solche ist es meiner meinung nach richtig wegzugehen und mit einer anderen stadt einer anderen sprache und allem konfrontiert zu sein\ weil es zum erwachsenwerden und allem beiträgt und man kann nicht immer . zuhause bleiben bis man mit dem studium fertig ist oder so nicht ich finde das nicht so das ist ein wenig die italienische art so muttersöhnchenmässig\ INT: e come è. ci sono tanti ticinesi che ci vanno o non/ INT: und wie ist . gibt es viele tessiner die dort [USI ]hingehen oder nicht/ STE: tanti luganesi ci restano purtroppo.. perché secondo me comunque l’esperienza di vivere in un- ’altra città quando hai vent’anni tutto è da fare . infatti sarebbe da fare è un peccato STE: viele luganesen bleiben leider dort .. weil meiner meinung nach muss man die erfahrung in einer anderen stadt zu leben machen wenn du zwanzig bist . eigentlich müsste man diese machen es ist schade INT: mhm INT: mhm STE: avevo vent’anni sì . perché avevo finito . l’anno (dopo) il liceo sono stata in ticino poi ho cominciato a vent’anni STE: ich war zwanzig ja . weil ich beendete . da jahr (nach) dem liceo war ich im tessin dann habe ich begonnen mit zwanzig ja 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 192 <?page no="193"?> 23 Die Studiengebühren sind an der USI hoch. Aber eine Studentin, welche im Tessin, bei ihren Eltern, wohnt und an der USI studiert, braucht doch weniger Geld als eine andere, welche z. B. in Bern studiert, damit ausserhalb der Elternhauses wohnt und vergleichs‐ weise geringe Studiengebühren bezahlt. Monatlich muss beim auswärtigen Wohnen durchschnittlich mit zusätzlichen 500 Franken gerechnet werden (vgl. die Erhebungen des Bundesamts für Statistik 2005, 2008; Denzler & Wolther 2010). sì comunque è tardi perché c’è chi inizia già a diciotto o così gli svizzeri francesi che finiscono un anno prima la matura a diciott’anni sono fuori di casa . no comunque sì ci voleva\ eigentlich schon spät weil es gibt solche die fangen mit achtzehn oder so an die westschweizer die ein jahr früher die matura machen mit achtzehn sind sie weg von zuhause . nein es war jedenfalls wichtig\ Ausschnitt 17: Die Vorteile der Mobilität und die Nachteile des Im-Tessin-Bleibens, Stella, Universität Bern, 15. 05. 2012 Mobilität per se erlaubt Stella zufolge zu crescere (reifer zu werden) und ein selbständiges Leben fern vom Elternhaus. Sie ist Teil von Stellas ratio‐ nalisierter Entscheidung für ein Studium in der Deutschschweiz und gegen ein Studium im Tessin. Ihr Diskurs zeigt erstens, dass die Mobilität weg vom Tessin Stellas Norm entspricht. Der zeitweilige Kontakt mit einer Fremdsprache (un’altra lingua) und das Fremdsein in einer Stadt gehören für sie zum wichtigen Übergang zwischen Matura und Berufstätigkeit. Zwar behält Stella während ihres Studiums in Bern ihren Verkaufsjob in Lugano bei, den sie regelmässig am Wochenende ausübt. Auch sieht sie zum Zeitpunkt des Interviews ihre Zukunft im Tessin, wo ihr Freund wohnt. Jedoch erachtet sie die Erfahrung, welche die Mobilität mit sich bringt, als etwas, das ihren temporären Aufenthalt in Bern überdauert und positiv nachwirkt (vgl. Gyr 1989: 397). Stella spricht denjenigen, die „normwidrig“ handeln, d. h. das Tessin nicht verlassen, diese charakterliche Reife ab. Stattdessen werden sie abwertend als mammoni (Muttersöhnchen) nach „italienischer Art“ betitelt. Zweitens offenbart Stellas Diskurs, dass Bedingungen ausgeklammert werden, die der Mobilität im Wege stehen könnten. Nicht thematisiert wird etwa, dass ein Student - z. B. wegen der hohen Kosten, die entstehen, wenn er ausserhalb des Elternhauses wohnen muss - sich ein Studium ausserhalb des Tessins nicht leisten kann 23 . Dass jemand nicht die Freiheit hat, sich für oder gegen das „Mobil-Werden“ zu entscheiden, wird nicht thematisiert (vgl. Warde & Martens 1998; Adey 2006). Stattdessen verstehe ich Stellas Äusserung tanti 5.2 Wie TessinerInnen studentische Mobilität rationalisieren 193 <?page no="194"?> luganesi ci restano purtroppo (viele luganesen bleiben leider dort) als Ausdruck der selbst gewählten, komfortablen Studien‐ wahl, die sie den Luganesen zuschreibt, auch wenn es ihr zufolge diesen gut bekäme, das Tessin zu verlassen. Drittens lässt dieser Diskurs ausser Acht, dass auch innerhalb des Tessins Studierende zwecks ihres Studiums mobil werden. Stella ist in der Nähe von Lugano, der Universitätsstadt, aufgewachsen und hat in Lugano das Gymnasium besucht. Studierende aus entlegenen Tälern des Kantons aber müssen unter Umständen für ein Studium in Lugano weit pendeln, was auch als Mobilität angesehen werden kann. Andere müssen gar das Elternhaus verlassen und mögen den Umzug in die Stadt im heimatlichen Kanton als ebenso bedeutsam erleben wie den Wegzug in einen anderen Landesteil. Nur eine gewisse Form von Mobilität wird somit als solche erachtet, als eine Mobilität, welche die von Stella dargelegte Funktion erfüllt und legitimierend wirkt, während anderen Formen von Mobilität diese Wirkung abgesprochen wird (vgl. Kapitel 2). Wie Stella sich vorstellt, nach dem Studienabschluss im Tessin zu leben und dort berufstätig zu sein, so geht es auch acht anderen Studierenden. Sie führen an, ihren Aufenthalt in der Deutschschweiz als vorübergehend zu erachten und kurz- oder längerfristig wieder ins Tessin zurückzukehren. Die Vertreterin des „Circolo dei Giovani Giuristi“ der Universität Zürich (Verein Junger Juristen Zürich) beispielweise sagt: in un futuro (). sicuramente tornare in ticino (in der zukunft (). sicher ins tessin zurückkehren). Carla findet, es sei für sie denkbar, erst ein wenig anderswo zu arbeiten. Sie äussert: in ticino torno quando voglio fare una famiglia (ins tessin kehre ich zurück wenn ich eine familie gründen will). Viola bedenkt zwar, punkto Arbeit biete das Tessin weniger Möglichkeiten als die Deutschschweiz, beabsichtigt ihre Zukunft längerfristig aber dennoch dort zu verbringen: perché penso che qua ci sia più lavoro però l’idea di star qua tutta la vita: : non lo so . comunque eh non lo so .. il ticino è ticino per noi ci sono tutti (weil ich denke dass es hier mehr arbeit gibt aber die vorstellung für den rest des lebens hier zu sein ich weiss nicht . jedenfalls ähm ich weiss es nicht .. für uns bleibt das tessin das tessin dort sind alle). Für diese Studierenden ist die Mobilität in die Deutschschweiz vorübergehend trotz nachhaltigem Effekt. Sie haben sich dafür entschieden - bringen dafür verschiedene Gründe vor -, produzieren aber gleichzeitig den Diskurs einer voraussichtlichen „Rückkehr“ an ihren Herkunftsort. Dass in der Fremde Stu‐ 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 194 <?page no="195"?> 24 Selbstverständlich gibt es auch Studierende, die sich ihre Zukunft in der Deutsch‐ schweiz vorstellen können. Valeria beispielsweise findet, das Tessin sei für sie zu klein geworden. Nicht nur ihr Rückkehrdiskurs weicht von demjenigen ab, den etwa Stella oder Viola produzieren. Valeria hat auch eine andere Sicht der deutschen Sprache und ihrer Sprachkompetenzen (vgl. 5.2.5). dierende in ihre Heimat zurückzukehren beabsichtigen und sowohl am Ort ihrer Herkunft als auch an dem ihres Studienaufenthaltes Netzwerke aufrechter‐ halten und heimatliche Aktivitäten pflegen, das ist von Forschenden, die sich mit Transnationalismus und Rückmigration auseinandersetzen, bereits be‐ schrieben worden (für eine Übersicht siehe z. B. Cassarino 2004; Carling & Erdal 2014). Allerdings liegt den meisten Studien mit Fokus auf Transnationalismus und / oder Rückmigration eine Perspektive zugrunde, die das Queren von Län‐ dergrenzen voraussetzt (vgl. Portes et al. 1999; Vertovec 2004). Auch wenn im vorliegenden Kontext die transnationale Komponente nicht gegeben ist, sind bei der studentischen Binnenwanderung Parallelen zu verzeichnen. Die studentischen BinnenwanderInnen aus dem Tessin betonen im Zusam‐ menhang mit ihren Rückkehrdiskursen 24 etwa, was sie an ihrem vorüberge‐ henden Wohnort störe oder was im Tessin besser sei als in der Deutschschweiz. Dadurch unterstreichen sie ihren Wunsch, nach dem Studium in die ihnen ver‐ traute Umgebung zu retournieren, und bewerten das „Tessin“ und die „Deutsch‐ schweiz“ in einer sich klar voneinander unterscheidenden Weise. Eines der von acht interviewten Studierenden genannten Argumente, die ihnen nahelegen, den Aufenthalt in der Deutschschweiz zeitlich zu begrenzen, ist der klimatische Vorteil des Tessins. Simona (2. Semester Jura, Universität Luzern) etwa sagt: io sono abituata sempre al sole al caldo così vengo qua lunedì nevicava noi avevamo venti gradi in ticino qua nevicava .. e ogni tanto mi deprimo troppo (ich bin es gewohnt dass es ständig sonnig ist und warm am montag komme ich hierhin es schneite wir hatten zwanzig grad im tessin hier schneite es .. manchmal ist das einfach zu deprimierend). Der Vergleich mit dem Wetter wird auch von Carla (2. Semester Chemieingenieurwissenschaften, ETH Zürich) aufgegriffen. Sie äussert: c’è molto più sole soprattutto nei mesi invernali . qua è veramente triste.. novembre e dicembre è stato veramente terri& io partivo al mattino con la nebbia e uscivo la sera dal dal laboratorio con la nebbia ho fatto un mese e mezzo così ero tristissima (es ist viel sonniger vor allem in den wintermonaten . hier ist es wirklich trist .. november 5.2 Wie TessinerInnen studentische Mobilität rationalisieren 195 <?page no="196"?> und dezember war es wirklich schreckl& ich ging am morgen bei nebel aus dem haus und kam abends bei nebel aus dem labor ich habe eineinhalb monate so verbracht ich war sehr betrübt). Carla erklärt mir ausserdem, sie habe das Gymnasium in einer wunderschönen Umgebung am Seeufer in Lugano besucht. Damit verstärkt sie den Kontrast mit der von ihr als „trist“ wahrgenommenen Umgebung zusätzlich. Neben klimatischen Vergleichen, aus denen das Tessin immer als „Sieger“ hervorgeht, sind es Gründe sozialer Natur, die fünf Studierende anführen, wenn sie sagen, dass sie nur eine beschränkte Zeit in der Deutschschweiz verbringen wollten. So sagt Bruno (2. Semester Veterinärmedizin, Universität Zürich) im Zusammenhang mit seinem Wunsch, später im Tessin zu arbeiten: è più più familiare nel senso mhm vai in giro per strada e di sicuro incontri minimo una persona che che sai chi e con cui poi puoi parlare e quindi è una realtà differente (es ist familiärer im sinne mhm wenn du durch die strassen gehst triffst du sicher mindestens eine person die von der du weisst wer sie ist und mit der du dann sprechen kannst folglich ist es eine andere realität). Andere nennen die Familie, Freunde, Kollegen eines Sportvereins, denen sie gerne wieder näher wären. Zum einen rationalisieren Studierende ihre Studienwahl anhand von Vor‐ zügen, die sie an der Mobilitätserfahrung festmachen, oder an Nachteilen, die sie mit dem Im-Tessin-Bleiben assoziieren. Zum andern sagen einige von ihnen im Hinblick auf ihre Zukunft, ihr Aufenthalt in der Deutschschweiz werde be‐ grenzt sein und sie wollten kurz- oder längerfristig ins Tessin zurückkehren. Diese beiden Richtungen von Mobilität - diejenige aus dem Tessin und diejenige ins Tessin zurück -, die hier diskursiv konstruiert werden, sehe ich als inei‐ nander verschränkt. Die Rationalisierung der Wahl einer Universität in der Deutschschweiz und das damit verbundene, aber zeitlich limitierte Verlassen des Tessins erlaubt es den Studierenden zufolge, Lebenserfahrung zu sammeln und in den Genuss der gewünschten Bildung zu kommen. In der Deutschschweiz akquiriert die / der StudentIn Fähigkeiten und optimiert ihre / seine Chancen auf eine erfolgreiche Rückkehr ins Tessin, wo es zwar seit 20 Jahren eine Hoch‐ schule gibt, wo aber der Diskurs über die zu gewinnende Mobilitätserfahrung - wie wir ihm in Kapitel 4 begegnet sind - nicht verebbt ist. In Rückkehrdiskursen werden die Vorzüge des Tessins und die Nachteile der Deutschschweiz betont, wobei es zu bedenken gilt, dass letztere auch der Abgrenzung gegenüber der Deutschschweizer Aufnahmegesellschaft dienen, die im Schweizer Kontext die 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 196 <?page no="197"?> 25 „Vielleicht ist es besser, wenn ich einen Beruf wähle, für den Personal gesucht wird.“ politische, sprachliche und ökonomische Mehrheit darstellt. In diesen Aussagen zur Rückkehr, in denen die Deutschschweiz und das Tessin einander gegen‐ übergestellt und mit je unterschiedlichen Merkmalen bestückt (z. B. Klima) werden, sehe ich zum einen die Reproduktion von Diskursen, welche sich auch in der Promotion von Universitäten widerspiegelt (vgl. Kapitel 4). Zum andern zeigt sich darin, dass nach wenigen Semestern die Mehrheit der interviewten Studierenden dem Tessin positive Merkmale und gleichzeitig der Deutsch‐ schweiz negative Merkmale zuweisen. Diese Zuschreibungen sehe ich in Ver‐ bindung mit Herausforderungen, denen die Tessiner Studierenden in der Deutschschweiz, v. a. am Anfang ihres Studiums, begegnen (vgl. Kapitel 6) und die sie in sozialen Netzwerken zu bewältigen versuchen. 5.2.2 „Forse meglio che io vada a scegliermi una professione dove cercano persone“ 25 : Die Studienwahl im Hinblick auf den Arbeitsmarkt Alle interviewten Studierenden konstruieren ihre Entscheidung für ein Studium rückblickend auch im Hinblick auf ihre berufliche Zukunft. Sie äussern, sich mit dem Studium auf eine Berufstätigkeit vorbereiten und nach dem Studium ab‐ gesichert sein zu wollen. Sie projizieren aktuelle wirtschaftliche Tendenzen oder eher deren Interpretation in die Zukunft - die Zeit nach dem Studium -, eine Zukunft, an der sie sich orientieren und die sie mit der „richtigen Wahl“ zu beeinflussen versuchen. Mit diesen Interessen im Vordergrund geht das Ver‐ lassen des Tessins einher. Ich interviewe Dario ( DAR ), der aus Lugano stammt und in Zürich im zweiten Semester ist. Nach seiner Matura mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt immatrikulierte er sich an der ETH und wählte den Studiengang „Bauinge‐ nieurwissenschaften“. Ich frage ihn, wie es dazu gekommen sei (Ausschnitt 18). 5.2 Wie TessinerInnen studentische Mobilität rationalisieren 197 <?page no="198"?> 26 Opzione specifica fisica e applicazioni della matematica. 27 Schwerpunkt Physik und angewandte Mathematik. INT: okay mhm . e infatti cioè tu avevi detto che: cioè hai scelto questa fam 26 come opzione specifica però poi come hai fatto cioè come hai fatto la decisione di fare ingegneria civile o quando/ INT: okay mhm . und eigentlich also du hattest gesagt dass: also hast diese fam 27 als schwerpunktfach gewählt aber dann wie hast du also wie hast du die entscheidung getroffen bauingenieurwissenschaften zu machen und wann/ DAR: appunto all’inizio non sapevo benissimo cosa scegliere non è sempre facile scegliere cosa studiare perché il liceo ti da un’istruzione veramente generale mentre qua . quando scegli devi proprio scegliere una cosa specifica . all’inizio pensavo di andare a studiare matematica perché mi piaceva la matematica solo che col passare già mi sono accorto dalla terza lieco alla quarta che c’erano tanti teoremi e dimostrazioni in matematica un linguaggio un po’ non facile da capire a me più che altro piaceva fare i calcoli ecco poi alla fine grazie anche a un evento che hanno organizzato quelli del politecnico . fanno delle giornate informative DAR: eben am anfang wusste ich nicht wirklich was wählen es ist nicht einfach ein studium zu wählen weil das gymnasium gibt dir eine sehr allgemeine bildung während hier . wenn du wählst musst du wirklich etwas spezifisches wählen . am anfang dachte ich daran mathematik zu studieren weil mir mathematik gefiel nur mit der zeit habe ich festgestellt im dritten gymnasium in der vierten dass es in der mathematik viele theoreme und beweise gab eine sprache ein wenig nicht einfach zu verstehen mir gefiel es besser zu rechnen nun dann schliesslich auch dank einem anlass den die von der ETH organisierten . sie machen informationstage INT: sì e sei venuto qua/ INT: ja und da bist du hierhergekommen/ DAR: qui e anche mandano gente giù nei licei per fare un stand informativo e lì ho parlato con un con uno studente o con una studentessa credo e lì lei mi ha detto che anche a lei piaceva la matematica solo che se fai ingegnere civile fai . fai calcoli cioè fai veramente applichi teoremi non è che studi teoremi e la di- DAR: hier und sie schicken auch leute runter [ins tessin] in die gymnasien um einen informationsstand zu machen und da habe ich mit ein mit einem studenten oder mit einer studentin gesprochen glaube ich und dort hat sie mir gesagt dass auch ihr mathematik gefalle nur wenn du bauingenieurwissenschaften 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 198 <?page no="199"?> mostrazione perché alla fine un risolto pratico non c’è e poi: questa è una motivazione seconda motivazione perché: machst du . rechnest du also du wendest theoreme wirklich an du studierst nicht nur theoreme und deren beweise weil letztendlich gibt es kein praktisches ergebnis und dann: dies ist eine zweite motivation weil: INT: cioè volevi proprio questa parte pratica/ INT: also wolltest du wirklich diesen praktischen teil/ DAR: esatto poi seconda motivazione/ mi sono detto secondo l’attualità tanti giovani non riescono a trovare lavoro tanti giovani . e quindi mi son detto forse meglio che io vada a scegliermi una professione dove cercano persone\ dove manca personale\ e sentivo sempre che c’è sempre penurie di ingegneri in svizzera e quindi . mi son detto boh è anche un bel mestiere e quindi proviamo .. ecco è quello\ DAR: genau dann die zweite motivation/ ich sagte mir aktuell finden viele junge schaffen es nicht arbeit zu finden viele junge . und folglich habe ich mir gesagt vielleicht ist es besser wenn ich einen beruf auswähle wo sie personal suchen\ wo es an personal fehlt\ und ich hörte immer dass es in der schweiz an ingenieuren mangelt und folglich . hab ich mir gesagt naja es ist auch ein schönes metier und probieren wir’s also .. nun das ist es\ Ausschnitt 18: Mehrschichtige Rationalisierung einer getroffenen Wahl, 24. 04. 2012, Dario, ETH Zürich Erstens lässt Dario die Mathematik - seine ursprüngliche Wahl - fallen, was er mit dem Respekt vor sprachlich anspruchsvollen Theoremen und Beweissätzen und mit seiner Vorliebe fürs Rechnen begründet. Zweitens weist ihn eine Tes‐ siner Studentin an „Orientati“ darauf hin, dass er beim Studium der Bauinge‐ nieurwissenschaften die Mathematik nicht um ihrer selbst willen betreibe, son‐ dern anwende, eine Aussicht, die ihn lockt und überzeugt. Drittens verknüpft Dario seine Wahl mit den beruflichen Aussichten und mit der Sicherheit, die er sich von einem Studium der Bauingenieurwissenschaften erhofft. Ob Dario die drei Bestandteile seiner Rationalisierung hierarchisiert, wird in Ausschnitt 18 nicht deutlich. Jedoch sind zwei Aspekte - derjenige der Anwen‐ dungsorientierung und derjenige der beruflichen Sicherheit nach dem Stu‐ dium - utilitaristisch gefärbt. Auch verweist Dario im weiteren Gesprächsver‐ lauf erneut auf die Zukunft, in der er sich als tätiger Bauingenieur im Tessin sieht. 5.2 Wie TessinerInnen studentische Mobilität rationalisieren 199 <?page no="200"?> Zwar haben sich Darios Interessen von Mathematik zu Bauingenieurwissen‐ schaften verschoben. Im Tessin zu studieren, war jedoch nie ein Thema für ihn, obwohl an der dortigen Fachhochschule ( SUSPI ) ein Studium der Bauingenieur‐ wissenschaften angeboten wird. Auf meine Frage, ob es für ihn neben der ETH Zürich Alternativen gegeben habe, antwortet mir Dario mit mehreren non lo so (ich weiss es nicht). Er sagt schliesslich: ma un vero motivo perché ho scelto di venire a zurigo non lo so . tanti anche miei compagni hanno . forse ho seguito l’onda non lo so (einen eigentlichen grund weshalb ich zürich gewählt habe ich weiss es nicht . viele von meinen kameraden haben . vielleicht bin ich mit der menge mitgegangen ich weiss es nicht). Darios Schwerpunktwahl im „Liceo“ mag dazu geführt haben, dass seine na‐ turwissenschaftliche Orientierung fürs Studium bereits vorgespurt war. Seine ausführliche Erklärung zur Wahl des Fachs kontrastiert mit der Art, wie er seine Studienortswahl rationalisiert. Letztere macht er an der onda (eigentlich die Welle, hier eher die Menge, Masse) fest (vgl. Manderscheid et al. 2014). In dieser onda steckt eine gewisse tradierte Norm, diejenige nämlich, nach der Matura ein Studium an der ETH in Angriff zu nehmen. Ähnlich wie Dario rationalisieren auch andere Studierende ihre Wahl. So be‐ gründet Simona, im zweiten Semester an der Universität Luzern, ihre Entschei‐ dung für ein Jura-Studium damit, dass sie sich seit dem „Liceo“ für Jura interes‐ siert habe, weshalb sie „Wirtschaft und Recht“ zu ihrem gymnasialen Schwerpunkt machte. Weiter führt sie aus: ho fatto anche un ragionamento di tipo . anche se vuoi molto pratico è comunque uno studio che poi da tanti da tante possibilità (ich habe auch eine überlegung der art gemacht . wenn du willst auch sehr praktischer art es ist jedenfalls ein studium das dir später viel viele möglichkeiten bietet). Die Beispiele von Dario und Simona zeigen, dass die Antizipation der Zukunft im Tessin, basierend auf der Vorstellung gegenwärtiger Bedingungen im Tessin, in die Rationalisierungen zur Studienwahl miteinfliesst. Dem Diplom, welches man nach Absolvieren des entsprechenden Studiengangs erhält, wird ein po‐ tentieller Wert zugeschrieben. Dieser Wert - so nehmen die Studierenden an - entspricht demjenigen auf dem Arbeitsmarkt, den man im Tessin nach Studi‐ enabschluss vorfindet. Indem die Studierenden institutionalisiertes Kapital in Form eines Titels akquirieren, erhoffen sie sich Sicherheit (Bourdieu 1983). Sie zählen darauf, ihren erworbenen Titel auf dem Arbeitsmarkt in ihrer Herkunfts‐ 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 200 <?page no="201"?> region in ökonomisches Kapital umzuwandeln. Die Mobilität ist Teil dieser Ka‐ pitalakquirierung. Die Entscheidung, im Hinblick auf die berufliche Zukunft mobil zu werden, impliziert ferner, dass einem Studium im Tessin nicht die gleiche Menge an Kapitalzuwachs beigemessen wird. Ähnlich wie bei den GymnasiastInnen (5.1) reflektieren die auf berufsprak‐ tische Argumente gestützten Konstruktionen die studentische Interpretation des momentanen Arbeitsmarkts. Dario führt an, dass ihn die hohe Anzahl Junger ohne Arbeit zu seiner Fachwahl bewogen habe, während Simona etwas vage auf die vielen Möglichkeiten verweist, die ihr mit einem Jura-Studium offenständen. Die Fächerwahl der beiden Studierenden lässt sich auf dem Hintergrund der aktuellen Branchenstruktur der Tessiner Wirtschaft betrachten. Auch wenn in‐ nerhalb des heterogenen Kantons (Land-/ Berg-/ Stadtregionen) unterschiedliche Branchen dominieren, zählt das Baugewerbe, insbesondere in den nördlichen Kantonsteilen, zu den wichtigsten Arbeitgebern. Im Dienstleistungssektor, in dem die juristischen Berufe anzusiedeln sind, sind 70 % aller im Tessin Beschäf‐ tigten tätig. AdvokatInnen etwa haben laut einem Bericht zur Wirtschafts‐ struktur im Tessin dort überdurchschnittlich gute Chancen (Rühl et al. 2015). Basierend auf Diskursen zur potentiellen Arbeitslosigkeit wie auch zu deren Vermeidung (vgl. die Aufzählung von beruflichen Tätigkeiten seitens der Uni‐ versitäten, Kapitel 4), kommt bei Studierenden die Befürchtung auf, nach dem Abschluss den Übergang in die Arbeitswelt nicht zu schaffen. Die interviewten Studierenden rationalisieren ihre Studienwahl mit Blick auf Branchen, die sie für sicher halten. In diesen Branchen hoffen sie nach dem Studium berufstätig zu sein, und zwar im Tessin. Damit geht die Mobilität Richtung Deutschschweiz einher. Während z. B. ein Jura-Studium im Tessin nicht angeboten wird, ist es möglich, sich als Bauingenieurin/ -ingenieur ausbilden zu lassen. Dennoch folgt Dario der „Masse“ an die ETH in Zürich. Wie im folgenden Unterkapitel gezeigt wird, spielt nicht bloss der angestrebte Beruf bei der Wahl eine Rolle, sondern auch die Institution, an welcher die Legitimation zu dessen Ausübung erlangt wird. 5.2 Wie TessinerInnen studentische Mobilität rationalisieren 201 <?page no="202"?> 28 „Zuerst habe ich mich für die Institution entschieden.“ 5.2.3 „Prima ho scelto la scuola“ 28 : Die Wahl der vorteilhaften Institution Neun meiner InterviewpartnerInnen bringen ihre in der Vergangenheit getrof‐ fene Studienwahl mit den Vorteilen in Verbindung, die sie der von ihnen ge‐ wählten Institution zuschreiben. Dabei setzen sie zum einen Diskurselemente ein, welche die Hochschulen in ihren Werbematerialien ebenfalls verwenden (vgl. Kapitel 4). Zum andern gebrauchen sie Argumente, die sich dem „common sense“ zuordnen lassen. Carla, sie studiert im zweiten Semester Chemieingenieurwissenschaften, äus‐ sert mir gegenüber, die Bedeutung der ETH habe zu ihrer Wahl geführt (zurigo comunque il politecnico di zurigo è molto cioè è molto .. importante forse il più importante in svizzera; zürich ist jedenfalls die ETH ist sehr also sehr .. bedeutend vielleicht die bedeutsamste in der schweiz). Andrea, er studiert im zweiten Semester Physik, sagt, bezogen auf die ETH , ebenfalls, er habe sich erst für die Institution, dann fürs Fach (Physik) entschieden (prima ho scelto la scuola . poi ho detto fisica). Er verweist ausserdem aufs Ranking der ETH , das super sei. Neben solchen Argumentationen, welche die Exzellenz und das Prestige der gewählten Institution unterstreichen, stellen einige Studierende - so auch Viola ( VIO ) - ihre Universität anderen gegenüber. Viola studiert an der Universität Zürich. Sie erklärt mir, sie habe sich schon seit der Grundschule für die Ausbil‐ dung zur Tierärztin entschieden, weshalb ihr die Studienwahl nach der Matura leichtgefallen sei. Ich frage sie nach ihrer Studienortswahl. INT: okay … okay e perché hai scelto poi cioè sapendo che volevi fare medicina veterinaria perché hai scelto zurigo/ INT: okay … okay und warum hast du gewählt also dann im wissen dass du veterinärmedizin machen willst warum hast du zürich gewählt/ VIO: perché si poss& in svizzera si può studiare solo a berna o a zurigo … e in italia no VIO: weil man wir könn& in der schweiz kann man dies nur in bern oder in zürich studieren … und in italien nicht wahr INT: non volevi l’italia/ INT: nach italien wolltest du nicht/ 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 202 <?page no="203"?> 29 Die Reisezeit vom Tessin nach Zürich - also die Zeit, die man für die Reise in die Ge‐ genrichtung braucht - ist freilich identisch. Viola - so wie andere Studierende - er‐ wähnt aber nur die Reisezeit vom Studienort „nachhause“, d. h. in Richtung Tessin. 30 Zu bedenken gilt, dass Viola im zweiten Semester noch kaum Prüfungen hatte, demnach noch gar nicht durchfallen konnte, wie es diesem qualcuno (jemand) scheinbar pas‐ sierte. VIO: no no no si sente che non è che son così speciali ehm non non son così buone le scuole ma un nostro cioè un un . qualcuno ha bocciato qua a zurigo ha dovuto andare a milano però fa beh è tutta proprio un’altra cosa cioè organizzazione anche gli esami non sono così seri non non lo so preferisco la serietà svizzera ((ride)) VIO: nein nein nein man hört dass sie da nicht so besonders sind ähm sie sind nicht nicht so gut die schulen aber ein unser also ein ein . jemand ist hier in zürich durchgefallen der musste dann nach mailand gehen aber er macht nun es ist eine ganz andere sache also die organisation auch die prüfungen sind nicht so ernsthaft ich ich weiss es nicht ich bevorzuge die schweizer seriösität ((lacht)) Ausschnitt 19: Institutionen im Vergleich, 19. 03. 2012, Viola, Universität Zürich Wer in der Schweiz Veterinärmedizin studieren will, muss, weil die Zahl der Studienplätze beschränkt ist (Numerus clausus), einen Eignungstest durch‐ laufen. Besteht man diesen, wird einem ein Studienplatz zugeteilt. Eine Präfe‐ renz für den Studienort kann aber angegeben werden. Viola erklärt mir, sie habe sich für Zürich entschieden, weil die Reisezeit von da ins Tessin kürzer sei 29 . Neben Bern und Zürich nennt sie Italien, wobei sie sogleich anfügt, dass die dortige Ausbildung nicht mit derjenigen in der Schweiz vergleichbar sei. Viola unterstreicht mit ihrer Studienortswahl die Qualität, die sie mit einem Studium in der Schweiz verknüpft. Für sie ist die tertiäre Ausbildung innerhalb der Lan‐ desgrenzen wichtig. Den Hochschulen in Italien spricht sie die Qualität und das Prestige ab, die sie den Universitäten Zürich und Bern zuschreibt. Viola setzt nationale und internationale Ausbildungsangebote miteinander in Beziehung und legitimiert so nebenbei ihre Mobilität Richtung Deutschschweiz. In Italien hätte sie zwar auf Italienisch studieren können - mit Italienisch ist sie aufge‐ wachsen -, doch wäre sie - so Viola - nicht in den Genuss einer gleich hoch‐ stehenden Ausbildung gekommen 30 . In Violas Rationalisierung spielt Sprache keine vordergründige Rolle, wenn es um die Legitimation des Studienorts geht. Zieht man aber ihre Aussage über das Studium in Italien in Betracht, wird Sprache als Sekundärargument dennoch relevant. 5.2 Wie TessinerInnen studentische Mobilität rationalisieren 203 <?page no="204"?> Ebenso ist bei Simona ( Jura-Studentin, Universität Luzern) die Sprache of‐ fenkundig nicht Teil ihrer Rationalisierung. Sie erklärt mir, sie habe sich für die Universität Luzern entschieden, nachdem sie im Hinblick auf ihre berufliche Zukunft bereits Jura gewählt habe (vgl. 5.2.2). In Ausschnitt 20 verweist Simona ( SIM ) auf ihr Umfeld, das ihr zu dieser Wahl geraten habe. SIM: perché boh . io parlavo che volevo far diritto/ . mio paDr. conosce tanti avvocati/ SIM: weil keine ahnung . ich redete davon dass ich recht machen will/ . mein vater kennt viele anwälte/ INT: mhm INT: mhm SIM: parlando così durante delle cene è saltato fuori che avevan sentito parlare di lucerna che era molto buona e che è favorevole ai ticinesi eccetera eccetera\ SIM: davon redend während verschiedener abendessen ist herausgekommen dass sie gehört haben dass von luzern gesagt wird dass diese [uni] sehr gut sei und gegenüber den tessinern wohlwollend etc. etc. INT: sì mhm INT: ja mhm SIM: ho preso contatto con un paio di persone/ che non conoscevo personalmente ma che erano magari amici di amiche o qualcosa del genere SIM: ich habe mit einigen leuten kontakt aufgenommen/ die ich nicht persönlich kannte aber die vielleicht freunde von freundinnen waren oder so INT: okay che erano già/ = INT: okay die schon hier waren/ = SIM: =sì che erano già qui che mi hanno confermato che era molto buona e quindi tutto bene . poi era anche vicino SIM: =ja die bereits hier waren die mir bestätigt haben dass sie sehr gut ist und folglich alles klar . dann war sie auch nah INT: sì INT: ja Ausschnitt 20: Qualität und Wohlwollen gegenüber TessinerInnen, 23. 03. 2012, Simona, Universität Luzern Die Qualität, die der Universität Luzern (nicht von irgendwem, sondern von Anwälten und aktuell Studierenden aus dem Tessin) nachgesagt wird, die geo‐ graphische Nähe zum Tessin und die „Güte“ gegenüber TessinerInnen sind Teil von Simonas Rationalisierung. Auf mein Nachfragen, was sie mit der Aussage 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 204 <?page no="205"?> meine, Luzern sei den TessinerInnen gegenüber wohlwollend gesinnt, nennt Simona exakt die Punkte, die in den Werbebroschüren der Universität Luzern zu finden sind (vgl. Kapitel 4). INT: cioè in che senso senti/ que& cioè o che vuol dire questo in pratica/ INT: also in welchem sinne meinst du/ das& also oder was heisst das in der praxis/ SIM: allora secondo me siamo tanto favoriti nel senso ci aiutano molto . a differenza SIM: also meiner meinung nach werden wir sehr bevorzugt im sinne sie helfen uns sehr . im gegensatz INT: vuol dire/ cioè INT: das will heissen/ also SIM: a differenza per esempio io ho degli amici che stan studiando diritto a zurigo \ SIM: im gegensatz ich habe zum beispiel freunde die in zürich recht studieren INT: okay INT: okay SIM: e loro cioè . il fatto che non fossero di lingua maDr. che non abitassero lì e così non contava niente quindi loro han fatto tutto esattamente come gli svizzeri tedeschi SIM: und sie also . die tatsache dass sie nicht muttersprachler sind dass sie nicht dort wohnen und so zählte nichts folglich haben sie alles genauso gemacht wie die deutschschweizer INT: mhm INT: mhm SIM: mentre da noi per esempio in primo semestre abbiamo un’introduzione a una materia in italiano SIM: während bei uns zum beispiel wir haben im ersten semester eine einführung in ein fach auf italienisch INT: okay INT: okay SIM: abbiamo un esame in italiano SIM: wir haben eine prüfung auf italienisch INT: mhm INT: mhm SIM: abbiamo . e delle dei prolungamenti per gli esami che dobbiam dare e trascorriamo un’ora in più SIM: wir haben . und verlängerungen bei den prüfungen und haben eine stunde mehr zeit INT: okay INT: okay SIM: possiamo [tenere] SIM: wir können [gebrauchen] 5.2 Wie TessinerInnen studentische Mobilität rationalisieren 205 <?page no="206"?> INT: [per gli esami] scritti INT: [für die schriftlichen] prüfungen SIM: sì esatto possiamo tenere i codici in italiano oltre che in tedesco SIM: ja genau wir können neben den deutschen auch die gesetzesbücher auf italienisch gebrauchen INT: sì INT: ja SIM: e poi trovo che è molto bello il fatto che ci sono anche dei professori e degli assistenti ticinesi . quindi quando abbiamo dei problemi magari anche non strettamente legati alla loro materia però comunque ci facciamo dare una mano da loro . perché possiamo parlare in italiano SIM: und dann das finde ich sehr schön die tatsache dass es da auch tessiner professoren und assistenten gibt . folglich wenn wir vielleicht probleme haben auch solche die nicht direkt mit ihrem fach zusammenhängen lassen wir uns dennoch von ihnen helfen . weil wir können dann auf italienisch sprechen Ausschnitt 21: Vorteile für Tessiner Studierende, 23. 03. 2012, Simona, Universität Luzern Simonas Legitimation für Luzern ist aus verschiedenen Gründen interessant. Erstens schenkt sie Personen aus ihrem Umfeld Vertrauen. Sie hört im Tessin von TessinerInnen, dass Luzern sich für TessinerInnen eigne, ein Urteil, das sie in ihre Argumentation für Luzern einbaut. Sie verlässt sich folglich auf den Rat aus ihrem sozialen und sprachlichen Umfeld. Zweitens gibt sie den Diskurs wieder, den die Universität Luzern gegenüber potentiellen Studierenden aus dem Tessin produziert. So stützt sie die Tessiner Empfehlungen und bekräftigt diese durch „Fakten“ - d. h. luzernspezifische Vorteile für Studierende aus dem Tessin. Basierend darauf stellt sie ihre eigene Wahl als die „richtige“ dar. Die Gegenüberstellung von Luzern und Zürich - wo TessinerInnen keine speziellen Rechte geniessen - hilft Simona ausserdem, eine allfällige Entscheidung für Zü‐ rich zu delegitimieren. Es wäre naheliegend, aufgrund dieser Aussagen zu folgern, dass Mobilität für diese Studierenden aus dem Tessin, wenn sie ihre Wahl rationalisieren, kein Thema sei. Stattdessen sind die Vorteile, die der von ihnen gewählten Institution beigemessen werden, Teile der Legitimation. Im Bewusstsein, dass auch Alter‐ nativen möglich gewesen wären, argumentieren die Studierenden für die von ihnen gewählte Institution und / oder gegen eine nicht gewählte (und nie be‐ suchte) Hochschule. Dadurch, dass sie diese Vor- und Nachteile als „Fakten“ und unkritisch ins Feld führen, legitimieren sie nicht nur die eigene Studienwahl, sondern etablieren auch einen Diskurs über sich selbst und legen offen, wie sie 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 206 <?page no="207"?> 31 „Ich habe schon als Kind zuhause Deutsch gelernt.“ sich ihrer tertiären Bildung gegenüber positionieren. So widerspiegelt Violas Votum zur mangelhaften Qualität des Studiums in Italien nicht nur einen weiter reichenden Diskurs über die Qualität der Bildung in gewissen Teilen des Aus‐ lands. Es zeigt auch, welches Gewicht sie ihrer Ausbildung zuschreibt und dass sie nicht bereit ist, in diesem Zusammenhang qualitative Abstriche zu machen. Mobilität ist - wenn auch nicht vordergründig - inhärent Teil der studenti‐ schen Rationalisierungen im Zusammenhang mit der getroffenen Wahl der vor‐ teilhaften Institution. Man ist zwecks des Studiums nicht im Tessin geblieben, ist aber auch nicht in die Westschweiz, ins Ausland etc. gegangen. Das heisst, dass man sich für eine spezifische Mobilität - nämlich diejenige Richtung Deutschschweiz - entschieden hat. So wie der Mobilität bei der Wahl eine im‐ manente Rolle zusteht, verhält es sich z. T. auch mit der Sprache. Zuweilen wird jedoch die Sprache auch explizit Teil der studentischen Rationalisierungen, wie die folgenden Paragraphen zeigen, die ich eigens der Sprache und deren Rolle widme. 5.2.4 „Ho già parlato tedesco a casa da quando sono bambina“ 31 : Zuhause Gelerntes als Argument für die Studienwahl In zehn der 13 Interviews werden fehlende Sprachkompetenzen als Hindernis und Herausforderung dargestellt, mit denen man im Studium in der Deutsch‐ schweiz konfrontiert wird. So auch Carolina; sie studiert an der Universität Zü‐ rich Jura und ist Teil des „Circolo Giovani Giuristi Zurigo“ (Verein Junger Ju‐ risten Zürich), einem Studierendenverein, dessen Mitglieder angehende und bereits amtierende JuristInnen aus dem Tessin sind. Carolina begegne ich an „Orientati“ in Lugano, wo sie an einem Stand potentiellen StudienbeginnerInnen über das Jura-Studium und den „Circolo Giovani Giuristi Zurigo“ Auskunft gibt. Nachdem ich mich vorgestellt und mein Interesse für die studentische Mobilität in der Schweiz dargelegt habe, unterbricht sie mich und sagt: se non sai il tedesco/ veramente la lingua è principalmente l’ostacolo maggiore\ (wenn du kein deutsch kannst/ wirklich die sprache ist vor allem die hauptschwierigkeit \). Sie sagt aber auch, dass diese Herausforderung zu meistern sei: ci vuole buona volontà . bisogna mettersi lì a studiare questi vocaboli specifici/ (man braucht guten willen . man muss die spezifischen vokabeln einfach lernen). Sie führt weiter aus, Jura sei furchtbar schwierig (perché poi proprio diritto 5.2 Wie TessinerInnen studentische Mobilität rationalisieren 207 <?page no="208"?> 32 Hier wird ersichtlich, dass auch Studienfächer miteinander in Beziehung gesetzt werden und eine Hierarchisierung stattfindet. Carolina hält Mathematik, weil sie mit Zählbarem zu tun hat, für zugänglicher als Jura. è il peggio; weil recht ist dann wirklich das schlimmste), das sei nicht mit Mathematik vergleichbar 32 , wo man mit Zahlen hantiere (>ad esempio matematica così< hai tanti numeri). Das Studium der Rechtwissenschaften bringe eben eine eigene Sprache mit sich (perché è proprio una lingua a se). Carolina spricht hier im Namen der TessinerInnen. Sie benutzt in ihrer Re‐ deweise erst ein verallgemeinerndes Du (se non sai il tedesco; wenn du kein deutsch kannst) und später ein „Man“ (ci vuole buona volontà; man braucht guten willen). Im weiteren Ge‐ sprächsverlauf frage ich Carolina ( CGG ) nach ihrem „trajectoire“ und ihrer Wahl für Zürich. Erst dann macht sie von einem „Ich“ Gebrauch, in welches sie keine Gruppe TessinerInnen einschliesst. INT: e tu come mai . cioè hai deciso di fare il diritto . prima di andartene dal ticino/ . come hai fatto la tua scelta/ INT: und du wieso . also du hast entschieden recht zu machen . vor dem verlassen des tessins/ . wie hast du deine wahl getroffen/ CGG: ah già tutto il liceo dicevo voglio fare diritto voglio fare diritto poi dopo la scelta . e: dove lo faccio/ perché <comunque non volevo uscire dalla> svizz& cioè ovviamente studi diritto svizzero/ . poi c’è la divisione delle lingue francese o tedesco/ . io appunto . non posso dire bene alla gente perché io sono ho già parlato tedesco a casa da quando sono bam[bina] CGG: ah bereits im gymnasium sagte ich ich will recht machen ich will recht machen dann nach der wahl . ähm: wo mach ich das/ weil <ich wollte jedenfalls nicht die schweiz verlassen> also selbstverständlich studierst du schweizer recht . dann ist da die einteilung in die französische oder deutsche sprache/ . ich kann eben . den leuten nicht so gut raten weil ich habe zuhause schon als kind deutsch gesprochen INT: [ah/ okay] INT: [ah/ okay] 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 208 <?page no="209"?> CGG: quindi non sono molto .. rilevante se vuoi per le statistiche CGG: folglich bin ich nicht so .. relevant für die statistik wenn du willst CGG: mhm CGG: mhm Ausschnitt 22: Sprachen zuhause als Argument für die Wahl der Sprachregion, 05. 02. 2014, Carolina, „Orientati“, Lugano Als Vertreterin des „Circolo Giovani Giuristi“ nimmt Carolina sich und ihre ei‐ genen Vorbedingungen zurück, wenn sie für die TessinerInnen als homogenes Kollektiv spricht, in welchem das Aufwachsen mit der deutschen Sprache of‐ fenbar keinen Platz hat. Ihre eigene Studienortswahl macht sie an ihrer Aus‐ gangslage fest und klammert ein Jura-Studium in der französischsprachigen Schweiz und in Italien aus. Ähnliches ist bei Bruno beobachtbar, der an der Universität Zürich Tierme‐ dizin studiert. Auch er identifiziert sich klar mit den TessinerInnen, erwähnt im Interview, dass er im Tessin zuhause sei, in Zürich mit TessinerInnen zusam‐ menwohne und am Wochenende meistens ins Tessin zurückkehre (sono nato e cresciuto in ticino sono ticinese e mi piace stare a casa è bellissimo; ich wurde im tessin geboren und bin da aufgewachsen ich bin tessiner und es gefällt mir zuhause zu sein es ist wunderschön). Auch äussert er, er würde nach Möglichkeit nach seinem Studium sehr gerne ins Tessin zurückkehren, obwohl es da nicht viel Arbeit für Tiermediziner gebe, die sich wie er auf Pfer‐ demedizin spezialisierten. Schon lange hegte Bruno den Wunsch, Tiermedizin zu studieren (ma l’ho deciso da sempre; ich habe das seit jeher entschieden). Nach bestandenem Eignungstest durfte er an der Universität Zürich - diese hatte er als Präferenz angegeben - mit dem Studium beginnen. Ein anderer Studiengang kam für Bruno nie in Frage, was die Mobilität Richtung Deutschschweiz sozusagen „automatisch“ mit sich brachte. Im Unterschied zur Mehrheit meiner InterviewpartnerInnen spricht er nicht von Herausforde‐ rungen im Zusammenhang mit der deutschen Sprache. Gegen Ende des Inter‐ views blickt Bruno ( BRU ) auf seine Anfangszeit in Zürich zurück. BRU: se vuoi io ho avuto un pò la fortuna . che mia mamma è svizzero tedesca BRU: wenn du willst hatte ich ein bisschen das glück . dass meine mutter deutschschweizerin ist INT: mhm mhm INT: mhm mhm 5.2 Wie TessinerInnen studentische Mobilität rationalisieren 209 <?page no="210"?> BRU: questo non so mi sembra che l’avevo già scritto no/ BRU: das weiss ich nicht mir scheint dass ich das schon geschrieben hatte nicht wahr/ INT: no INT: nein BRU: ah eh quindi anche parlare . . no all’inizio mi vergognavo parlare svizzero tedesco BRU: ah ähm folglich auch sprechen .. nein am anfang schämte ich mich schweizerdeutsch zu sprechen INT: perché/ INT: warum/ BRU: perché pensavo che non ero al livello di risuscire a parlare sai con eh: che fosse troppo: : . . e non lo <en / slang / en> ma se vuoi il e: il gergo dei: : degli studenti giovanile o comunque come . io sapevo parlare ai miei nonni e mia mamma mio zio e miei famigliari no/ BRU: weil ich dachte dass ich das niveau nicht habe um sprechen zu können weisst du mit äh: das ich zu: : .. und ich kenne den <en / slang / en> nicht wenn du willst den äh: den jargon den der jungen studenten oder jedenfalls wie . ich konnte mit meinen grosseltern und meiner mutter meinem onkel und meinen familienangehörigen sprechen nicht wahr/ INT: mhm però INT: mhm aber BRU: con queste persone parlavo il tedesco quindi tutti vocaboli= BRU: mit diesen personen sprach ich deutsch also der ganze wortschatz= INT: =sempre/ INT: =immer/ BRU: sempre però: : se mag& parlare con dei giovani non avevo sempre tanta possibilità no quindi mi vergognavo un pò all’inizio se vuoi non so perché . infatti il primo semestre ho solo parlato <de / hochdeutsch / de> BRU: immer aber: : wenn viellei& mit jungen zu sprechen hatte ich nicht so viele möglichkeiten nicht wahr also schämte ich mich ein wenig am anfang weisst du ich weiss nicht wieso . im ersten semester habe ich tatsächlich nur <de / hochdeutsch / de> gesprochen INT: okay INT: okay Ausschnitt 23: Deutschschweizer Mutter und Verwendung des Hochdeutschen, 23. 03. 2012, Bruno, Universität Zürich Im Fragebogen, in dem Bruno seine Bereitschaft zum Interview erklärt hatte, hatte er Deutsch nicht als eine seiner Erstsprachen notiert. Erst im Gespräch 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 210 <?page no="211"?> 33 Es sei hier erneut darauf hingewiesen, dass in den Tessiner Schulen nicht das den Alltag oft dominierende Schweizerdeutsch, sondern die Unterrichtssprache Hochdeutsch ge‐ lehrt wird. erwähnt er seine schweizerdeutschsprachige Mutter. Trotz diesem Glück (la fortuna) fühlt er sich sprachlich unsicher, was ihn dazu veranlasste, im ersten Semester nur „Hochdeutsch“ zu sprechen. Nachdem Labov in den 60er-Jahren die sprachliche Unsicherheit untersucht und seine Schlüsse gezogen hatte, haben etliche AutorInnen gezeigt, dass diese Unsicherheit an normative Vor‐ stellungen von Sprachgebrauch und Stereotypisierung und Hierarchisierung von Varietäten / Dialekten gebunden ist (z. B. Labov 1966; Baron 1976; Romaine 1999; Boudreau & Dubois 1992, 2008; Bonfiglio 2010). Bei Bruno dürften min‐ destens zwei Normen seine Unsicherheit bewirken. Zum einen hat Bruno die Vorstellung eines legitimen schweizerdeutschen „Studierendenslangs“, dem er sich nicht gewachsen fühlt. In Anbetracht von Brunos Netzwerk - es besteht mehrheitlich aus TessinerInnen - und der starken Identifikation mit dem Tessin kann es zum andern sein, dass er sich seinem nächsten Umfeld gegenüber, d. h. den TessinerInnen, durch den Gebrauch des Hochdeutschen sprachlich loyal benimmt (und sich gleichzeitig durch das Hoch‐ deutsche von SchweizerdeutschsprecherInnen abgrenzt) und sich so - dank der gewählten Varietät - sozial weniger unsicher fühlt. Er äussert mir gegenüber: faccio più fatica ovviamente a parlare il <de / hochdeutsch / de> (ich habe mehr mühe mit dem hochdeutschen). Weiter sagt er: non parlo tedesco come uno svizzero tedesco ma come un ticinese [] quando parlo <de / hochdeutsch / de> ho l’accento ticinese (ich spreche nicht deutsch wie ein deutschschweizer sondern wie ein tessiner [] wenn ich hochdeutsch spreche habe ich den tessiner akzent). Bruno nimmt diese sprachliche Unsicherheit im Hoch‐ deutschen in Kauf. Unter Tessiner Studierenden in der Deutschschweiz gehört es nämlich zum guten Ton, Schweizerdeutsch als schier unlernbar, hässlich etc. darzustellen, als etwas, was einem den Studienalltag zusätzlich erschwere und worunter man zu leiden habe 33 . Dieser Diskurs ist nicht auf die Sprache be‐ schränkt. D.h., dass auch SprecherInnen des Schweizerdeutschen und die Deutschschweiz überhaupt als „anders“ dargestellt werden, wobei vorwiegend negative Zuschreibungen in diesem „Anderssein“ untergebracht werden (vgl. dazu Kapitel 6). Durch die Übertragung der negativen Zuschreibungen von der Sprache auf die sie sprechenden Personen, vom Schweizerdeutschen auf die Schweizerdeutschsprechenden (und deren Umgebung, die Deutschschweiz) wird es in einem sozialen Netzwerk, das von TessinerInnen dominiert wird, für 5.2 Wie TessinerInnen studentische Mobilität rationalisieren 211 <?page no="212"?> Bruno umso wichtiger, sich von der Mehrheit - den DeutschschweizerInnen - abzugrenzen. Die beiden Beispiele zeigen, dass das von klein auf gelernte Schweizerdeutsch sich auf die Rationalisierungen zur Studienortswahl auswirkt. Sie lassen aber auch erkennen, dass die Kategorie „TessinerIn“ relativ eng und homogen ist. In diese Kategorie passt nur, wer gewisse Bedingungen erfüllt. Carolina und Bruno geben in diesem Zusammenhang nicht sofort über ihre Sprachkompetenzen Auskunft, und Bruno benutzt trotz seines Hintergrunds die sprachliche Varietät, welche die „anderen“ TessinerInnen in der Deutschschweiz gegenüber Nicht-TessinerInnen verwenden. 5.2.5 Der Wert der Sprachen: Sprachideologisch gefärbte Studienwahl Nicht nur GymnasiastInnen, sondern auch Studierende, die sich bereits für ein Studium in der Deutschschweiz entschieden haben, verweisen beim Legiti‐ mieren ihrer Mobilität Richtung Deutschschweiz auf den Wert, den sie gewissen Sprachen beimessen. In sieben von 13 Interviews ziehen die Studierenden, mit den GymnasiastInnen vergleichbar, ihre Fächerwahl im „Liceo“ heran und / oder liefern allgemeinere sprachideologisch gefärbte Erläuterungen zur Frage, wel‐ chen Wert sie welcher Sprache aus welchen Gründen zuschreiben. Carla (2. Semester Chemieingenieurwissenschaften, ETH Zürich) berichtet von ihrer Wahl im „Liceo“ und assoziiert diese mit dem Arbeitsmarkt und den Erwartungen, die ihr zufolge darin vorherrschen. CAR: il tedesco cioè . non ho mai pensato di studiare il francese perché comunque il tedesco serve tanto . per qualsiasi posto di lavoro o di stage che vuoi fare la prima cosa che ti chiedono è se sai il tedesco . quindi tanto vale far fatica subito e poi essere avvantaggiati dopo CAR: das deutsche also . ich habe nie daran gedacht französisch zu lernen weil schliesslich ist deutsch so nützlich . für jede beliebige arbeits- oder praktikumsstelle die du machen willst fragen sie dich zuerst ob du deutsch kannst . folglich lohnt es sich jetzt mühe zu haben und später im vorteil zu sein Ausschnitt 24: Deutsch als Voraussetzung für Arbeit, 10. 05. 2012, Carla, ETH Zürich Meine Frage, ob sie etwa beim Bewerben bereits Deutschkenntnisse habe vor‐ weisen müssen, verneint Carla. Sie wisse einfach, wie wichtig Deutsch sei - nicht nur fürs, sondern auch nach dem Studium. 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 212 <?page no="213"?> Auch David ( DAV ) (2. Semester Maschineningenieurwissenschaften, ETH Zürich) erinnert sich an seine Wahl im „Liceo“. DAV: per la seconda liceo avevo scelto curricolo scientifico cioè . sì scientifico con avere più ore di matematica perché mi piaceva anche la matematica sai e ho dovuto abbandonare una lingua ho dovuto scegliere una seconda lingua tra francese e tedesco chiaramente ho scelto il tedesco CHIA- RAMENTE . () e terza lingua ho preso inglese e quindi (per) esclusione come all’inizio del primo liceo ho dovuto escludere il francese mi son detto boh il francese più o meno me la cavo perché alla fine non è molto diverso dall’italiano poi mi ti rimane in mente\ . e dopo francese però non ho voluto abbandonarlo del tutto c’era la possibilità di fare dei corsi facoltativi di due ore alla settimana () senza impegno l’unico: cosa (che) chiede(vano) ti davano la nota in base alle presenze perché tanta gente bigiava\ DAV: fürs zweite jahr im gymnasium hatte ich den naturwissenschaftlichen lehrplan gewählt also . ja naturwissenschaftlich mit mehr mathematiklektionen weil mir auch die mathematik gefiel weisst du und ich musste eine sprache aufgeben ich musste eine zweite sprache zwischen französisch und deutsch wählen selbstverständlich hab ich deutsch gewählt SELBSTVERSTÄNDLICH . () und als dritte sprache habe ich englisch genommen und also ich habe wie am anfang des gymnasiums ich musste französisch weglassen ich hab mir gesagt keine ahnung französisch mehr oder weniger kann ich das weil schliesslich ist es nicht so anders als das italienische dann bleibt es mir dir auch im gedächtnis\ . und dann wollte ich französisch nicht komplett weglassen es gab die möglichkeit einen freiwilligen kurs zu machen zwei stunden pro woche () ohne verpflichtungen das einzige: was sie erwarteten sie gaben dir die note gemäss deiner präsenz weil viele leute schwänzten\ Ausschnitt 25: Hierarchisierung von Deutsch und Französisch, 24. 04. 2012, David, ETH Zürich Für David war es ebenso klar wie für Carla, dass er Deutsch und Englisch bei‐ behalten würde. Er führt keine Gründe an, weshalb dies so war. Fakultativ lernt er weiterhin Französisch, was er weniger schwierig fand. Für Carla und David versteht sich ihre Wahl von selbst und bedarf keiner ausführlichen Begründung. Carla nimmt in ihrer globalen Argumentation le‐ diglich auf den Arbeitsmarkt Bezug, und Dario verweist auf das einfachere 5.2 Wie TessinerInnen studentische Mobilität rationalisieren 213 <?page no="214"?> Französisch. Beide haben sich „ CHIARAMENTE “ ( SELBSTVERSTÄND- LICH ) für Deutsch entschieden. Auch Viola (2. Semester, Veterinärmedizin, Universität Zürich) hat sich im „Liceo“ gegen Französisch entschieden. Sie führt weiter aus, welche Werte die verschiedenen Sprachen für sie hätten, und erstellt im Gespräch eine Hierarchie, die ich aufgreife und sie kommentieren lasse. Ihre Argumente mögen auf den ersten Blick widersprüchlich anmuten. Allerdings wird beim Betrachten der Ebenen, die Viola herbeizieht, deutlich, inwiefern die Argumente ihrer Legiti‐ mation dienen. INT: e tu dicevi infatti l’inglese è proprio utilissimo INT: und du sagtest dass englisch sehr nützlich sei VIO: sì VIO: ja INT: eh il tedesco anche poi il francese spagnolo svizzero poi l’italiano .. poi ticinese INT: ähm deutsch auch dann französisch spanisch schweizerdeutsch dann italienisch .. dann tessiner dialekt VIO: eh non servono a niente \ . ormai . e il tedesco ci serve solo perché studiamo qua\ VIO: ähm die nützen nichts\ . nun . und deutsch brauchen wir nur weil wir hier studieren\ INT: ah okay INT: ah okay VIO: ma di per sé nel mondo non è che serve\ . tipo il mio <de / masterarbeit / de> lo faccio in inglese che così se lo pubblichiamo . con () sennò VIO: aber eigentlich in der welt ist es nicht so dass es nützlich ist\ . zum beispiel für meine <de / masterarbeit / de> die mache ich auf englisch weil so wenn wir sie publizieren . mit () sonst INT: sì INT: ja VIO: chi lo legge in tedesco .. ma anche se fosse in francese o in italiano ormai l’inglese adesso .. se non sai in che lingua parlare in un posto .. provi con l’inglese VIO: wer liest schon auf deutsch .. aber auch wenn sie auf französisch wäre oder auf italienisch jetzt ist es englisch .. wenn du irgendwo die sprache nicht sprichst .. probierst du’s mit englisch INT: mhm INT: mhm VIO: meno male ti salvi VIO: zum glück rettest du dich so 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 214 <?page no="215"?> INT: sì INT: ja VIO: il ticinese non serve a niente ((ride)) e neanche l’italiano però VIO: der tessiner dialekt nützt überhaupt nichts ((lacht)) INT: e se un giorno torni per lavorare in ticino . potresti anche immaginarti che avresti bisogno del ticinese o/ o non tanto\ INT: und wenn du eines tages für die arbeit ins tessin zurückkehrst . könntest du dir vorstellen dass du den tessiner dialekt brauchst oder/ nicht besonders\ VIO: no: : . non penso . a meno che non fai <de / nutztiere / de> penso che .. nel <de / kleintierbereich / de> penso che l’italiano basta VIO: ne: : in . ich denke nicht . wenn man nicht <de / nutztiere / de> macht denke ich nicht dass .. im <de / kleintierbereich / de> denke ich dass italienisch reicht INT: sì INT: ja VIO: mhm sì anche se ovvio che con i ticinesi se ti metti a parlare in dialetto . c’è subito più confidenza però non penso sia necessario\ VIO: mhm ja auch wenn offensichtlich ist dass wenn du mit tessinern dialekt sprichst . ist da sofort mehr vertrautheit aber ich denke nicht dass es nötig ist\ INT: okay INT: okay Ausschnitt 26: Globale und lokale Sprachideologien, 19. 03. 2012, Viola, Universität Zürich Violas Perspektive verengt sich allmählich. Erst schreibt sie der englischen Sprache den höchsten Wert zu. Dann relativiert sie ihre Aussage eh non servono a niente\ (hm die sind nicht nützlich) gegenüber allen anderen Sprachen, als sie auf eine mögliche Zukunft im Tessin zu sprechen kommt. Viola wohnt in Zürich mit zwei TessinerInnen zusammen. Unterei‐ nander sprechen sie Italienisch. Ihre Sprachpraktiken - auch diejenigen am Studienort - unterscheiden sich demnach von der von ihr anfänglich einge‐ führten Hierarchie von Sprachen, in der v. a. Englisch zählt. Im weiteren Gespräch verfeinert und verändert Viola ihre Hierarchisierung der Sprachen. Zwar ist für sie zum jetzigen Zeitpunkt klar, dass sie nach dem Abschluss ins Tessin zurückkehren will. Dennoch hält sie das Deutsche sowohl für eine berufliche Tätigkeit in Zürich als auch im Tessin für unentbehrlich. 5.2 Wie TessinerInnen studentische Mobilität rationalisieren 215 <?page no="216"?> INT: okay .. ehm (2.0) ah sì . infatti hai detto che sei comunque proprio contenta di avere la possibilità di imparare bene il tedesco INT: okay .. ähm (2.0) ah ja . du hast gesagt dass du doch sehr zufrieden bist die möglichkeit zu haben gut deutsch zu lernen VIO: sì sì eh VIO: ja ja ähm INT: e cioè pensi che ti serve dopo quando avrai finito o/ INT: und also denkst du dass dir das etwas bringt wenn du fertig bist oder/ VIO: ma sì .. se voglio lavorare qui sì sì sì VIO: aber ja .. wenn ich hier arbeiten will ja ja ja INT: mhm e per il lavoro in ticino/ INT: mhm und für die arbeit im tessin/ VIO: sì anche .. perché boh almeno al corso mio ce ne son t& ci son tanti svizzeri tedeschi e così secondo me in ticino se non sai il tedesco sei già un po‘ <de / schwach / de> .. non lo so .. trovi sicuramente meno lavoro perché .. hai sempre a che fare anche con con gente di tutta la svizzera quindi VIO: ja auch .. weil keine ahnung zumindest in meinem kurs gibt es gibt es viele deutschschweizer und so meiner meinung nach wenn du im tessin kein deutsch kannst bist du bereits ein wenig <de / schwach / de> .. ich weiss es nicht .. du findest bestimmt weniger arbeit weil .. du hast immer auch mit mit leuten aus der ganzen schweiz zu tun folglich INT: mhm INT: mhm VIO: per me devi saperlo il tedesco sennò sei un po‘ be& . . debole o VIO: meiner meinung nach musst du das können das deutsche sonst bist du ein bisschen schw& .. schwach oder INT: okay INT: okay VIO: devi sempre chiedere a qualcuno (quando) (c’è uno che) parla solo svizzero tedesco o come fai/ VIO: du musst immer jemanden fragen (wenn) jemand nur schweizerdeutsch spricht oder wie machst du das/ INT: okay mhm INT: okay mhm VIO: io son contenta\ . cioè sicuramente/ (che) parlo il tedesco VIO: ich bin zufrieden\ . also sicher/ . (dass) ich deutsch spreche INT: mhm INT: mhm Ausschnitt 27: Deutsch als Voraussetzung, 19. 03. 2012, Viola, Universität Zürich 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 216 <?page no="217"?> Für Viola setzt das Beherrschen der deutschen Sprache - die sie aus einer glo‐ balen Perspektive als wertlos darstellt - für eine berufliche Zukunft im Tessin voraus. Die Ausschnitte aus dem Interview mit Viola zeigen, wie Sprachen und deren Werte in Bezug auf verschiedene Kontexte variieren. Darüber hinaus un‐ terstreichen sie, wie Viola ihre eigene Entscheidung für ein Studium ausserhalb des Tessins für normkonform erklärt. Auch Valeria (2. Semester Jura, Universität Luzern) misst bestimmten Spra‐ chen mehr oder weniger Wert zu. Sie erklärt mir auf mathematische Art und Weise, weshalb sie im „Liceo“ Deutsch statt Französisch belegte. VAL: tedesco invece è molto più importante . è parlato praticamente in tre quarti della svizzera e faccio ancora un po’ di fatica quindi preferisco fare gli studi in tedesco così miglioro .. la lingua e posso avere anche vantaggi per il per il futuro VAL: deutsch hingegen ist viel wichtiger . das wird praktisch von drei vierteln der schweiz gesprochen und ich habe noch etwas mühe damit folglich bevorzuge ich es auf deutsch zu studieren so verbessere ich . die sprache und habe auch vorteile für die für die zukunft INT: sì INT: ja VAL: per cui ho scelto il tedesco VAL: deshalb habe ich deutsch gewählt Ausschnitt 28: Vorteile für die Zukunft dank Deutsch, 26. 03. 2012, Valeria, Universität Luzern Valeria unterstreicht mit ihren Folgeäusserungen, welche Wichtigkeit sie der deutschen Sprache beimisst. Als sie mir ihre Wohnsituation beschreibt, sagt sie, sie habe bei der Zimmersuche darauf geachtet, nicht nur von TessinerInnen umgeben zu sein. Sie will im deutschsprachigen Luzern von den Sprachkompe‐ tenzen ihrer MitstudentInnen profitieren. VAL: e ti dirò all’inizio non non avevo minimamente pensato a a .. ticinese non ticinese mi son detta è uguale però alla fine mi son det& però alla fine appunto mi son detta . meglio se ci sono più svizzeri tedeschi VAL: und ich sage dir zu beginn habe ich nicht im geringsten daran gedacht .. ob tessiner nicht tessiner habe ich mir gesagt es ist egal aber schliesslich habe ich mir gesa& aber schliesslich habe ich mir eben gesagt . besser wenn da mehr deutschschweizer sind 5.2 Wie TessinerInnen studentische Mobilität rationalisieren 217 <?page no="218"?> INT: mhm INT: mhm VAL: perché se ci fossero troppi ticinesi alla fine parlerei solo italiano VAL: weil wenn da zu viele tessiner wären würde ich schliesslich nur italienisch sprechen INT: mhm INT: mhm VAL: e invece il fatto di vivere in una in una casa dove ci sono sono pochissimi a a parlare italiano è comunque un vantaggio che mi son detta . meno ticinesi meglio è ((ride)) VAL: und stattdessen die tatsache in einem haus zu wohnen wo nur ganz wenige italienisch sprechen ist doch ein vorteil dass ich mir gesagt habe . je weniger tessiner desto besser ((lacht)) INT: mhm INT: mhm Ausschnitt 29: Wohnsituation und sprachlicher Input, 26. 03. 2012, Valeria, Universität Luzern Interessant ist, dass Valeria Vorstandsmitglied der Tessiner Studierendenorga‐ nisation ist und viel Zeit mit TessinerInnen verbringt. Ihr ist aber die Verbesse‐ rung der Deutschkompetenzen sehr wichtig. So sagt sie mir: non voglio star sempre coi ticinesi (ich will nicht immer mit tessinern zusammensein). Sie befürchtet, im Gebrauch der deutschen Sprache keine Fortschritte zu machen, und hat sich, parallel zu ihrer bewusst gewählten Wohnsituation, zu Beginn eine Strategie zurechtgelegt. Valeria er‐ klärt mir: arrivavo generalmente dieci minuti prima delle lezioni (a) prendere un posto buono . mi metto un po’ dove capita e ogni volta ho quasi sempre un vicino diverso per cui a volte instauravo un po’ un dialogo così (ich kam normalerweise zehn minuten vor lektionsbeginn um einen guten platz zu haben . ich setze mich irgendwohin und jedes mal habe ich fast immer einen anderen sitznachbarn deshalb habe ich manchmal ein gespräch oder so initiiert). Valeria indexiert den Kontakt mit DeutschschweizerInnen stark mit dem Fortschritt der eigenen Sprachkompetenzen. Ihre Freizeitaktivitäten hingegen teilt sie vorwiegend mit TessinerInnen - Mitgliedern der Studierendenorgani‐ sation -, die sie im Interview kollektiv als „noi“ (wir) bezeichnet. Solche verbal spürbaren Selbstzuschreibungen kommen bei ihren Schilderungen des Kontakts mit DeutschschweizerInnen nicht vor. Diesen konstruiert sie als Quelle deutschsprachigen Inputs. 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 218 <?page no="219"?> Den Wert, den diese Studierenden den Sprachen (vorwiegend dem Deut‐ schen) zusprechen, wirkt sich auf ihre Praktiken aus. Sie priorisieren die deut‐ sche Sprache, um sich darin zu üben. Letztendlich versuchen die Studierenden den Wert einer Sprache zu inkorporieren. D.h., sie zielen darauf hin, den Wert der Sprache zu ihrem eigenen zu machen (vgl. Duchêne 2016). Diese eigene Wertsteigerung anhand zusätzlicher Sprachkompetenzen soll zu einer „si‐ cheren“ Zukunft beitragen, in der sie sich zu behaupten wissen. Dafür nimmt die Mehrheit der Studierenden (N=10) die Anstrengungen, die mit dem Erlernen der deutschen Sprache verbunden sind, in Kauf, wobei nicht in Vergessenheit geraten darf, dass der Hinweis auf dieselben auch dem Bekräftigen des erfolg‐ reichen Selbstbilds dienen mag (vgl. Kapitel 6). 5.2.6 Zwischenüberlegungen Tessiner Studierende, die sich an einer Universität in der Deutschschweiz im‐ matrikuliert haben, legitimieren ihre Wahl rückblickend als die „richtige“ und delegitimieren gleichzeitig Alternativen. Sie ziehen zu diesem Zweck unter‐ schiedliche Argumente heran. Die Mobilität und die daran geknüpften Vorzüge dienen der Rechtfertigung für das Verlassen des Tessins. Gleichzeitig wird der Aufenthalt in der Deutschschweiz als begrenzt erachtet und im Hinblick auf die Retourmobilität als sinnvoll konstruiert. Weiter erwähnen die Studierenden, wenn sie zu ihrer Studienwahl befragt werden, den Arbeitsmarkt, auf dem sie sich nach dem Studium zu behaupten haben, und die Vorteile, die sie sich mit der Wahl einer bestimmten tertiären Institution in Hinblick auf denselben ver‐ sprechen. Ferner sagen einige Studierende, sie hätten sich aufgrund ihrer Sprachkompetenzen, die ihnen vom Elternhaus mitgegeben worden seien, für eine Universität in der Deutschschweiz entschieden. Andere hierarchisieren die Sprachen und schreiben ihnen unterschiedliche Werte zu, die sie mit Vorstel‐ lungen einer zukünftigen erfolgreichen Berufslaufbahn verlinken. So wie die GymnasiastInnen machen die Studierenden von dem Gebrauch, was ihnen zur Verfügung steht, wenn sie zu ihrer Wahl befragt werden. Ihre Perspektive auf die Universität ist von der Erfahrung der ersten Semester ge‐ prägt. Beim Rationalisieren ihrer Wahl blicken sie auf den Entscheidungsprozess zurück und bereichern diesen mit ihren studentischen Erfahrungen und dem, was sie über das Studium an der eigenen oder an anderen Universitäten hören. In ihrer Rekonstruktion vergleichen sie etwa ihre Universität mit anderen Hochschulen - selbstverständlich streichen sie Vorteile der gewählten Institu‐ tion hervor - und berichten (basierend auf ihrer Erfahrung), was die Mobilität ihnen bringt. 5.2 Wie TessinerInnen studentische Mobilität rationalisieren 219 <?page no="220"?> Ähnlich wie bei den GymnasiastInnen sind die studentischen Rationalisie‐ rungen vorwiegend utilitaristisch geprägt, d. h., dass die Aussicht auf Erfolg und Sicherheit im Vordergrund steht. Dieser utilitaristische Diskurs könnte als „grand récit“ erachtet werden, dem eine zurzeit unumstössliche Legitimität zu‐ steht und der davon Abweichendes ausblendet. Ferner können die positive Dar‐ stellung der in der Vergangenheit liegenden Studienwahl bzw. die negative Dar‐ stellung verworfener Optionen insofern als wirkungsvoll gedeutet werden, als die Studierenden dadurch ihr Selbstbild bestärken und jegliche Zweifel diskursiv beheben. Dieses mehrheitlich utilitaristisch geprägte Aufwerten der gefällten Entscheidung und das Abwerten verworfener Optionen widerspiegeln die be‐ reits im Unterkapitel über die Aussagen der GymnasiastInnen skizzierte Wirt‐ schaftsstruktur. Zudem reflektiert die auf den Interviewausschnitten basierende Analyse, dass die Studierenden in erster Linie wirtschaftliche Argumente als legitim erachten und beim retrospektiven Begründen ihrer Studienwahl bei‐ ziehen. 5.3 Abschliessende Bemerkungen Die Analyse der Interviews geht über das Vorhaben hinaus, individuelle „Be‐ gründungen“ der Mobilitätswahl darzulegen. Sie zeigt, inwiefern sich poli‐ tisch-ökonomische Bedingungen in individuellen Rationalisierungen wider‐ spiegeln und bestimmte Diskurse und Praktiken legitimiert bzw. delegitimiert werden. Auf drei Punkte sei abschliessend hingewiesen. Die Interviews reflektieren erstens die sprach-politische Situation der Schweiz. Die sprachlichen Territorien in der Schweiz und ihre ungleiche öko‐ nomische Bedeutung bestimmen die Entscheidung, welche Fremdsprachen auf der Oberstufe und an Gymnasien unterrichtet werden. Während in den franzö‐ sisch- und deutschsprachigen Teilen der Schweiz v. a. Englisch und Deutsch respektive Französisch unterrichtet werden, müssen im Tessin, wo Italienisch Hauptsprache ist, die SchülerInnen aus Französisch, Deutsch oder Englisch aus‐ wählen. Damit ist im Schweizer Bildungssystem eine Werteskala gegenüber den Nationalsprachen und Englisch etabliert. GymnasiastInnen und Studierende im Tessin wachsen mit diesem Bildungssystem auf, werden darin sozialisiert und greifen in ihren Rationalisierungen die darin vorherrschende sprachliche Hie‐ rarchie auf. Zweitens wird ein Diskurs produziert, der die identitäre Verbindung mit dem Tessin betont. Dieser ist mit dem kompatibel, was die Tessiner Minderheit der sprachlichen Mehrheit im Lande als Reaktion entgegenhält. Die Loyalität der 5 Wie studentische Mobilität legitimiert wird 220 <?page no="221"?> eigenen Herkunftsregion gegenüber wird nicht in Frage gestellt. Auch die Mo‐ bilität Richtung Deutschschweiz tut dieser keinen Abbruch. Im Hinblick auf die oder in der Mobilitätssituation wird das Treusein dem Tessin gegenüber viel‐ mehr zelebriert. Unter Studierenden aus dem Tessin wird die Verbindung mit der Herkunftsregion betont und zieht gewisse Diskurse und Sprachpraktiken nach sich. Drittens geht aus den Interviews hervor, dass sich GymnasiastInnen und Stu‐ dierende Fragen zur Wahl des Studienorts, -fachs etc. stellen, die sie mehrheitlich aus einer Perspektive beantworten, die auf eine sichere Zukunft abzielt. Diese reflektiert die aktuelle Marktlogik, welche die jungen Menschen inkorporiert haben und bei ihrer Legitimation der Studienwahl beiziehen. Marktwirtschaft‐ liche Argumente in Bezug auf Studienorts- und -fachwahl, Mobilität und Sprache dominieren die Rationalisierungen. Die utilitaristische Prägung zeigt, dass GymnasiastInnen und Studierende auf ihre berufliche Zukunft Einfluss nehmen möchten und den politisch-ökonomischen Bedingungen nachkommen. Ihr multiples, utilitaristisches Argumentarium deutet darauf hin, dass sie sich eine Flexibilität aneignen wollen, die ihnen in ihrer Zukunft zugutekommt. Ihre Abicht, passfähig zu werden und sich zu diesem Zweck verschiedene Qualitäten zu erarbeiten („wertvolle“ Sprache, Kenntnisse in geeignetem Studienfach, Mo‐ bilitätserfahrung, Diplom an einer renommierten Universität etc.), verstehe ich als Strategie, sich auf den zukünftigen Markt, der auch eine gewisse Variabilität in sich birgt, vorzubereiten. Das Erlangen dieser Qualitäten kann gemäss Bour‐ dieu als Kapitalakquirierung betrachtet werden, wobei man sich erhofft, die einzelnen Kapitalformen in Zukunft zum eigenen Vorteil in andere Kapital‐ formen umwandeln zu können. 5.3 Abschliessende Bemerkungen 221 <?page no="222"?> 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist: eine Analyse der Diskurse sowie der sprachlichen und sozialen Praktiken junger TessinerInnen Ziel dieses Kapitels ist es, der dritten Leitfrage analytisch nachzugehen. Es geht darum, zu ergründen, welche Herausforderungen Studierende aus dem Tessin im Zusammenhang mit ihrer Mobilitätssituation in der Deutschschweiz kon‐ struieren und wie sie mit diesen zurechtkommen. Das Kapitel enthält drei Teile. Im ersten Teil (6.1) biete ich einen Überblick über die am häufigsten ge‐ nannten Herausforderungen, welche die Tessiner Studierenden in Bezug auf ihre Mobilitätssituation konstruieren, und führe aus, wie sie diesen begegnen. Ich illustriere anhand von Interviewdaten exemplarisch deren prominente Stra‐ tegie, Herausforderungen verschiedener Natur zu bewältigen (6.1.1-6.1.2). Die darauf folgenden Zwischenüberlegungen erinnern an die sprachpolitische Si‐ tuation, die zum Verständnis der prominenten Bewältigungsstrategie der Stu‐ dierenden in der Mobilitätssituation beiträgt (6.1.3). Im zweiten Teil (6.2) konzentriere ich mich auf eine Form der Bewältigung der Mobilitätsituation und der damit einhergehenden Herausforderungen. An‐ hand ethnographischer Daten aus der Studierendenorganisation in Bern zeige ich auf, inwiefern Tessiner Studierende im studentischen Zusammenschluss mit Link zur Herkunftsregion den Alltag in der ungewohnten und anderssprachigen Umgebung bestreiten. Erst verorte ich die Gründung der Berner Studierenden‐ organisation geschichtlich. So hoffe ich illustrieren zu können, wie der Studie‐ rendenverein als sozialer Raum in der Mobilitätssituation entstand und Bestand hat. Anschliessend gehe ich darauf ein, welche Rolle der Studierendenverein in der Mobilitätsituation seiner Mitglieder einnimmt und wie er durch seine Prak‐ tiken den individuellen Herausforderungen entgegenwirkt. Dadurch wird er‐ sichtlich, dass die Herausforderungen, die mit der Mobilitätssituation einher‐ gehen, sich im institutionellen Rahmen widerspiegeln und die Mobilität den Verein antreibt (6.2.2-6.2.4). In den anschliessenden Zwischenüberlegungen fasse ich meine Ergebnisse zusammen und zeige, dass die Beschäftigung mit einer prominenten Strategie, auf die sich etliche Tessiner Studierende zwecks Bewältigung ihrer Mobilitätssituation stützen, in Anbetracht der studentischen Herausforderungen aufschlussreich ist (6.2.5). <?page no="223"?> Im abschliessenden Teil (6.3) halte ich fest, auf welchem Hintergrund die dis‐ kursiven und sozialen Praktiken im Tessiner Studierendenalltag in der Deutsch‐ schweiz entstehen und inwiefern sich darin sprach-politische, politisch-ökono‐ mische und historische Dimensionen spiegeln. 6.1 Welche Herausforderungen junge TessinerInnen in der Mobilitätssituation konstruieren und wie sie diesen begegnen CAR: all’inizio ero demor& veramente demoralizzata perché comunque io . lugano è piccola cioè il liceo aveva mille studenti . però comunque io conoscevo così cioè di vista o comunque avevo parlato con quasi tutti gli studenti de& del mio anno . poi facevamo spesso delle attività . in con classi diverse quindi alla fine parlavo un po’ un po’ con tutti cioè ero vera& veramente interattiva con . con le altre persone son arrivata qua da sola . non conoscevo nessuno . le prime la prima settimana non avevo neanche in& individuato nessuno che parlava italiano vuol dire che ero in giro cercavo di di capire comunicare . non capivo niente mi (mandavano) <eng / e-mail/ eng> in tedesco che non capivo e inoltravo a mia sorella che mi traduceva .. è veramente bruttissimo eh poi non lo so . ce& cercavo di parlare così mi rispondevano in svizzero tedesco non capivo niente . poi all’inizio ero anche molto timida. no comunque l’istituto è enorme . le ore sono tante . le classi sono enormi e quindi ero veramente intimidita . venivo da da un paesino CAR: am anfang war ich entmuti& wirklich entmutigt weil eben ich . lugano ist klein also das gymnasium hatte tausend schüler . aber eben ich kannte so also vom sehen oder eben hatte mit fast allen schülern geredet vo& von meinem jahr . dann unternahmen wir auch oft etwas . in mit verschiedenen klassen schliesslich sprach ich ein wenig ein wenig mit allen also ich war wirk& wirklich interaktiv mit . mit anderen personen ich bin hier angekommen alleine . ich kannte niemanden . die ersten die erste woche habe ich niemanden identifiziert der italienisch spricht das heisst dass ich alleine unterwegs war ich versuchte zu zu verstehen zu kommunizieren . ich verstand nichts sie schickten mir <eng / e-mails / eng> auf deutsch die ich nicht verstand und an meine schwester weiterleitete die sie mir übersetzte .. es war wirklich schlimm ähm und dann ich weiss nicht . ich versuch& versuchte zu sprechen sie antworteten mir auf schweizerdeutsch ich verstand nichts . dann am anfang war ich auch sehr scheu . nein eben das institut ist riesig . es 6.1 Herausforderungen in der Mobilitätssituation 223 <?page no="224"?> grande così dove le aule s& venti persone si stava stretti . quindi è stato veramente (un) cambiamento enorme\ sind so viele lektionen . die klassen sind gross und also ich war wirklich eingeschüchtert . ich kam von von einem dörfchen das so klein ist wo die zimmer s& mit zwanzig personen eng waren . also es war wirklich ein gewaltiger wechsel\ Ausschnitt 30: Der Wechsel und dessen Herausforderungen, 10. 05. 2012, Carla, ETH Zürich Wie alle anderen interviewten TessinerInnen verweist Carla ( ETH Zürich) - sie ist im zweiten Semester - auf etliche Herausforderungen, denen sie in ihrem Alltag in der Deutschschweiz begegnet oder mit denen sie sich zumindest zu Beginn konfrontiert sah. Keinesfalls geht es darum, anzuzweifeln, dass Studie‐ rende wie Carla ihre Mobilitätssituation als herausfordernd erleb(t)en. Zu be‐ achten ist aber, dass die Herausforderungen, welche die Studierenden im Ge‐ spräch konstruieren, mit ihrer Rolle und ihrem Umfeld in Verbindung gebracht werden müssen. Erstens unterstreichen die Studierenden mit ihren Äusse‐ rungen, die von ihnen genannten Herausforderungen erfolgreich bewältigt zu haben oder sie zumindest auszuhalten. Zweitens repräsentieren Tessiner Stu‐ dierende in der Deutschschweiz diskursiv ihre Herkunftsregion. Dabei be‐ stärken sie in ihrer Konstruktion gewisser Herausforderungen die ihnen situativ wichtige Treue und identitäre Bindung zum Tessin (vgl. Androutsopoulos & Georgakopoulou 2003 und Kapitel 5). In Table 4 werden die in den 13 Interviews am häufigsten genannten He‐ rausforderungen aufgelistet. Diese hängen zum einen mit fehlenden Sprach‐ kompetenzen und zum anderen mit der ungewohnten Situation zusammen, in der sich die Studierenden nach dem Wechsel in die Universitätsstadt befinden. In Klammern ist jeweils die Anzahl Personen vermerkt, die im Gespräch auf eine Herausforderung hingewiesen hat. Bewältigungsstrategien sind in der Spalte daneben notiert. 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 224 <?page no="225"?> Herausforderungen Bewältigungsstrategien Fehlende Sprachkompetenzen (Deutsch und Schweizerdeutsch) (10): Verstehen des Inputs (10); Lerntempo (7); rasches Ermüden (4); Kopfschmerzen (2); fachliche Terminologie (5); Unsicherheit und Scham beim Sprechen (8); Diglossie (9) Bei Italofonen Unterstützung einholen; nachfragen; Online-Wörterbuch; mehr Zeit einplanen; sich mit Italofonen er‐ holen; viel Schlaf; schweigen; Deutsch‐ schweizerInnen ans Hochdeutsch-Spre‐ chen erinnern; Deutsch / Schweizerdeutsch zur Belusti‐ gung von DeutschschweizerInnen ein‐ setzen Ungewohnte Situationen am Studienort (10): Orientierungslosigkeit am neuen Ort (5); Grösse der Institution und der Studieren‐ dengruppen (6); Einsamkeit (5); wech‐ selnde Studierendengruppen (6); wenig Freizeit (6); Freizeitgestaltung (6); Wohn‐ situation (5); Zimmersuche (7) Sich an erfahrenere (u. a. gleichsprachige) Studierende wenden; Support im Studie‐ rendenverein; Kontakt mit Menschen in der Herkunftsregion; häufiges Zurück‐ kehren in Herkunftsregion; Kontakt mit Studierenden aus der Herkunftsregion am Studienort; zurückgreifen auf italofones Netzwerk und italofonen Wohnungs‐ markt Table 4: Die am häufigsten genannten Herausforderungen und daran geknüpfte Bewäl‐ tigungsstrategien Beim Herausarbeiten der Herausforderungen fiel auf, dass viele der inter‐ viewten Studierenden angeben, diese zu bewältigen, indem sie sich auf Kontakte aus dem Tessin, auf in der Deutschschweiz vorhandene Netzwerke, die mit dem Tessin oder der italienischen Sprache verlinkt sind, oder auf am Studienort an‐ getroffene TessinerInnen stützen. Auf einige Herausforderungen und diese Stra‐ tegie, die aus Sicht der Studierenden bei vielen Schwierigkeiten Abhilfe schafft, gehe ich nun ein und illustriere diese exemplarisch anhand von Interviewdaten. 6.1.1 Herausforderungen im Zusammenhang mit fehlenden Sprachkompetenzen Wie neun andere Studierende äussert Carla ( ETH Zürich), sie sei mit der deut‐ schen Sprache am Anfang völlig überfordert gewesen und habe sich mit vier anderen TessinerInnen zusammengetan. In den Kursen würden sie nebenei‐ nander sitzen und einander unterstützen, wenn sie nicht weiterkämen. Auch würden sie die wöchentlichen Übungsserien zusammen lösen und besprechen. 6.1 Herausforderungen in der Mobilitätssituation 225 <?page no="226"?> 1 Erst im Master-Studium, dessen Profil etwas internationaler ist, finden etliche Kurse auf Englisch statt. 2 Es sei darauf hingewiesen, dass auch Studierende der Universität Luzern - der jüngsten und im Aufbau begriffenen Schweizer Hochschule, die sich am meisten der Mass‐ nahmen rühmt, die Italienischsprachigen das Studium erleichtern sollen - von sprach‐ licher Heraus- oder gar Überforderung sprechen (Kapitel 4). Valeria beispielsweise, die ich im zweiten Studienjahr erneut zu einem Interview treffe, besteht die meisten der Prüfungen nicht und muss das Grundjahr wiederholen. Sie sagt, ihr sei bei der Prü‐ fungseinsicht mitgeteilt worden, dass ihre Wortwahl oft unpräzise gewesen sei, sie z. B. die falschen Verben verwendet habe. Sie habe versucht, sich sowohl beim Lernen als auch bei der Prüfung eher auf den Inhalt zu konzentrieren und weniger an Forma‐ litäten gedacht, was ihr zum Verhängnis geworden sei. Trotz ihrem Misserfolg ist ihr Diskurs der Hochschule Luzern gegenüber generell weiterhin unkritisch, und sie stellt ihre Wahl nicht in Frage, auch wenn sie erwähnt, dass es neben wenigen Massnahmen (mehr Zeit bei Prüfungen, einer Repetitionsveranstaltung auf Italienisch etc.) wenig Unterstützung für TessinerInnen gebe. An der ETH Zürich ist zumindest in Carlas Bachelorstudium Deutsch die Sprache der Lehre. Diese widerspiegelt die „Wir-sprechen-nur-eine- Sprache-Politik“ der Deutschschweiz, in der sich die Institution befindet. Ob‐ wohl die ETH Zürich vom Bund getragen wird, ist ihre Sprachpolitik stark re‐ gional gefärbt (vgl. Kapitel 4). Das Bachelorstudium ist somit nicht in erster Linie für Studierende konzipiert, die keinen deutschsprachigen Hintergrund haben 1 . Das Zusammenrücken unter Italienischsprachigen - Carla hatte die vier Tessi‐ nerInnen, mit denen sie eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen hat, vorher nicht gekannt und war ihnen dank der Tessiner Studierendenorganisation in Zürich begegnet - verstehe ich als Reaktion darauf, dass sie mit der rein deutschspra‐ chigen Lehrkultur der Institution nicht zurechtkommen 2 . Im Tessin, wo die fünf jungen Frauen und Männer ihre schulische Laufbahn absolvierten, existiert ein ebenso einsprachig angelegtes Schulsystem, wobei Italienisch (abgesehen vom Fremdsprachenunterricht) Umgebungs- und Unterrichtssprache darstellt. Die Fünf greifen also - mit der neuen Situation konfrontiert - auf ein ihnen be‐ kanntes System zurück, um sich zu unterstützen. Dazu kommt, dass im italo‐ fonen Rahmen ohne Ermüdungserscheinung parliert werden kann und ein Mo‐ ment der sprachlichen Erholung kreiert wird, wie Carla im Interview mit mir erläutert. Wie sieben andere Studierende bekennt Simona (Universität Luzern), sie fühle sich unsicher und schäme sich ihres Deutschs. Ähnlich wie Carla äussert sie, sich bei sprachlichen Schwierigkeiten an andere TessinerInnen zu wenden, die wie sie Mitglieder des lokalen Tessiner Studierendenvereins seien. Während Lehrveranstaltungen - diese finden auf Standarddeutsch statt - schwiegen sie und die anderen TessinerInnen jedoch. Sie sagt: [c’]è come un accordo 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 226 <?page no="227"?> 3 Das Schweigen könnte man dem Konzept „Language socialization“ von Schieffelin und Ochs (1986) zuordnen, die TessinerInnen lernen in ihrer neuen Umgebung, wann sie nicht zu sprechen haben. 4 Lippi-Greens wie auch Millers Beiträge sind zwar im amerikanischen Kontext ange‐ siedelt und befassen sich mit dem dortigen Bildungskontext und den nicht-anglofonen Akteuren darin. Die Auswirkungen der dominanten Sprache sind aber vergleichbar. 5 Hier ist anzufügen, dass Deutschsprachige im hochdeutsch geführten Gespräch selbst‐ verständlich ebenfalls Unterschiede wahrnehmen und gewisse Varietäten in einem Kontext als „unmarked“ gelten können. So ist es möglich, dass ein schweizerisch ge‐ färbtes von einem schwäbisch gefärbten Standarddeutsch abgegrenzt wird und je nach Kontext eine der beiden Varietäten mehr Legitimität geniesst. tacito che i ticinesi non parlano a lezione (es gibt wie eine stillschweigende vereinbarung dass tessiner während der vorlesungen nichts sagen). Durch das „gemeinsame Schweigen“ gesellt sich Simona zu einer Gemeinschaft, die spezifische Regeln befolgt 3 . Simonas sprachliche Unsicherheit und das Schamgefühl mögen auf einer Vorstellung von Sprachproduktion beruhen, einer Vorstellung, die Fremd‐ sprachige nicht miteinschliesst bzw. diese als unzulänglich beurteilt. Im Rahmen einer auf Deutsch gehaltenen Vorlesung, die sich an einem Publikum orientiert, bei dem keine Schwierigkeiten sprachlicher Art erwartet werden, scheint eine einsprachige und normative Sprachideologie des Deutschen vorzuherrschen. Diese löst bei TessinerInnen Passivität, Gefühle der Unterlegenheit oder Scham aus oder bringt sie zum Schweigen. Studierende, die nicht zur Gruppe gehören, welche die Sprache der Mehrheit sprechen, bleiben stumm. Würden sie spre‐ chen, befürchten sie (nicht ohne Grund), von den Zuhörenden wegen ihrer Sprechweise einer spezifischen Gruppe - nämlich der Gruppe der mit der deut‐ schen Sprache nicht gleichermassen vertrauten TessinerInnen - zugeordnet zu werden (vgl. Lippi-Green 1997 und Miller 2004 4 ). Spricht hingegen ein Mitglied der dominanten Sprachgruppe, werden dieses und dessen Produktion als „der Norm entsprechend“ oder als „unmarked“ wahrgenommen 5 . Bourdieu erwähnte in Bezug aufs Sprechen „le pouvoir d’imposer la réception“ (Bourdieu 1977: 20). Ihm zufolge werden somit das Sprechen und Hören insofern vereint, als die Bedingungen der Rezeption sich auf das Sprechen auswirken oder, wie im Fall von Simona, zum Vermeiden des Sprechens führen. Neben den Herausforderungen, die meine InterviewpartnerInnen am Stan‐ darddeutsch festmachen, der Sprache, in welcher Vorlesungen und Seminare abgehalten werden, weisen neun Studierende - darunter auch Stella (Universität Bern) - auf die Diglossie hin, welche die bereits schwierige Situation in der Deutschschweiz zusätzlich erschwere. Stella etwa führt aus, dass sie wegen di‐ alektaler Unterschiede innerhalb des Schweizerdeutschen Gesprächen zwischen 6.1 Herausforderungen in der Mobilitätssituation 227 <?page no="228"?> 6 Etliche positivistisch angelegte Forschungsprojekte im Bereich der Sprachwissenschaft reproduzieren diese Vorstellungen unaufhörlich, indem sie beispielsweise Unterschiede zwischen Varietäten hervorstreichen oder belegen, dass der Erwerb gewisser dialektaler Merkmale ab einem gewissen Alter schwierig sein soll. Solche Forschungsergebnisse werden auch gerne von den Schweizer Medien aufgegriffen (z. B. http: / / www.weltwoche.ch/ ausgaben/ 2014-27/ die-magie-des-berndeutsch-die-weltwocheausgabe-272014.html; http: / / www.nzz.ch/ gruezi-wohl-1.6166489; http: / / www.20min.ch/ wissen/ news/ story/ 21847925 [letzter Zugriff, 23. 02. 2016]). DeutschschweizerInnen nicht folgen könne. Sie äussert: il problema della svizzera tedesca è lo svizzero tedesco (das problem der deutschschweiz ist das schweizerdeutsche). An das Hochdeutsche könne man sich gewöhnen und verstehe es mit der Zeit auch besser, nicht aber das Schweizerdeutsche. Stella berichtet, dass sie mit Vorliebe aufs Italienische ausweiche - dieses gebraucht sie in ihrem sozialen Umfeld (sie ist Mitglied des Tessiner Studierendenvereins in Bern) und im Stu‐ dium (sie studiert im Hauptfach Italienisch) - oder aufs Englische hinüber‐ wechsle (Englisch ist ihr Nebenfach). Komme sie in Kontakt mit Deutschschwei‐ zerInnen, verwende sie ausschliesslich Hochdeutsch. Stellas Äusserungen hängen mit ihrer Aversion gegenüber dem Schweizerdeutschen und mit einem Diskurs über das Schweizerdeutsche zusammen. Dieser besagt, Schweizer‐ deutsch sei für Nicht-Muttersprachler schwierig erlernbar (vgl. Watts 1999) 6 und gewisse Dialekte seien spezieller und weiter vom Standarddeutschen entfernt. Darin enthalten ist ferner eine Standardideologie, d. h., dass das Hochdeutsche als homogen verhandelt und ihm keinerlei Heterogenität zugesprochen wird. 6.1.2 Herausforderungen aufgrund der ungewohnten Situation am Studienort Neben vier anderen Interviewten bemerkt Dario ( ETH Zürich), er habe sich anfangs sehr alleine gefühlt. Das sei ein für ihn neues Gefühl. Im Tessiner Stu‐ dierendenverein habe er dann aber bald Leute kennengelernt, mit denen er unter der Woche Zeit verbringe. Am Wochenende - Dario bleibt auch dann hin und wieder in Zürich - sei er aber nach wie vor etwas isoliert. In den Studierenden‐ vereinen geht es vorwiegend darum, im Studienalltag auf ein italofones Netz‐ werk zählen zu können. Das Wochenende ist davon ausgenommen. Darios Beispiel zeigt, dass manche TessinerInnen das Alleinsein - oder den Mangel an bedeutsamen Beziehungen - dadurch bewältigen oder zu bewältigen versuchen, dass sie sich mit TessinerInnen vergesellschaften. Diese Strategie widerspiegelt Resultate von Studien, die sich mit im fremdsprachigen Ausland Studierenden beschäftigen (z. B. Brown 2009). Diese haben im Gegensatz zu 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 228 <?page no="229"?> 7 Weder über Studierende, die mit dem Studienbeginn ihre Sprachregion verlassen, noch über solche, die in der gleichen Sprachregion bleiben, sind mir diesbezüglich Schweizer Forschungsarbeiten bekannt. 8 Janta, Lugosi und Brown (2014) konzentrieren sich insbesondere auf Doktorierende und deren Einsamkeit. 9 Für allgemeinere Ausführungen zu sozialer Isolation in modernen Gesellschaften vgl. Hortulanus et al. (2009). mobil gewordenen Studierenden in der Schweiz 7 einige Aufmerksamkeit er‐ fahren (z. B. Sawir et al. 2008; Brown 2009; Janta et al. 2014 8 ). Die Mitgliedschaft beim lokalen Studierendenverein kann dem Alleinsein von TessinerInnen tem‐ porär Abhilfe schaffen. Es ist aber zu einfach, ein bestehendes Netzwerk als Garant fürs Eliminieren von Einsamkeit zu sehen 9 . Ebenfalls wäre es simplifi‐ zierend, die Mobilität selbst, mit der ein Ortswechsel einhergeht, für den ein‐ zigen Grund des Gefühls, allein zu sein, zu halten. Persönlichkeitsmerkmale, Geschlecht, Alter, Sprachkompetenzen so wie Bedingungen in der Aufnahme‐ region gehören ebenso dazu (vgl. Sawir et al. 2008). 6.1.3 Zwischenüberlegungen Die von etlichen Studierenden angewandte Strategie, sich an gleichsprachige Studierende aus derselben Herkunftsregion zu wenden, ist u. a. auf dem Hin‐ tergrund der sprach-politischen Situation der Schweiz zu verstehen, in deren Hochschullandschaft sie mobil werden. In der Deutschschweiz „funktionieren“ die Universitäten hauptsächlich in der Umgebungssprache, und es wird keiner anderen Sprache derselbe Status beigemessen. Die monolinguale Sprachpolitik der Region und des Bildungssystems wirken sich darauf aus, welche Sprach‐ praktiken als legitim gelten. Ferner wird die Rezeption von Standard- und Schweizerdeutsch von einer „muttersprachlichen“ Ideologie dominiert. Diese trägt dazu bei, dass mobile Studierende aus dem Tessin erst gar nicht zu sprechen wagen oder auf gleichsprachige Kontakte ausweichen. In ihrer Mobilitätssitu‐ ation stützen sich Tessiner Studierende somit mit Vorliebe auf eine genauso monolinguale Sprachpolitik, die ihnen aus ihrer Region bekannt ist, und decken so in ihrer eigenen Sprache ihre Bedürfnisse ab. Sie dislozieren ihre italofonen Sprachpraktiken beim Mobil-Werden-in-die-Deutschschweiz und machen zu‐ mindest ausserhalb der institutionell vorgegebenen Tertiärbildung davon Ge‐ brauch (vgl. Heller 2007; Blommaert 2010). So bewältigen sie Herausforde‐ rungen, die ihnen zufolge mit den fehlenden Sprachkompetenzen zusammenhängen, aber auch solche, die mit der neuen Situation nach dem Wechsel in die Deutschschweiz ganz allgemein verbunden sind. Dem Tessiner 6.1 Herausforderungen in der Mobilitätssituation 229 <?page no="230"?> 10 Auch wenn sich Cattacin und Domenig (2012) auf Vereine in der Schweiz konzentrieren, die einen transnationalen Hintergrund haben, sind einige ihrer Ausführungen auch für den vorliegenden Kontext aufschlussreich. Studierendenverein, der im Zusammenhang mit den in den Gesprächen kon‐ struierten Herausforderungen mehrmals genannt wurde, ist das folgende Un‐ terkapitel gewidmet. Die teilnehmende Beobachtung im Studierendenverein in der Universitätsstadt Bern (vgl. Kapitel 3) ermöglicht eine Fokusverlagerung von der diskursiven Konstruktion der Herausforderungen und von den damit verknüpften Bewältigungsstrategien zu den Praktiken. Die Studierendenorga‐ nisation stellt einen Kontext dar, in dem ersichtlich wird, wie Tessiner Studie‐ rende auf die Herausforderungen in ihrer Mobilitätssituation reagieren. 6.2 Der Tessiner Studierendenverein in Bern und dessen historische Situierung Menschen in Mobilitätssituationen müssen lernen, mit der Spannung zwischen der räumlichen Mobilität und deren Kontrolle einerseits und der territorialen Einbettung (das heisst dem Engagement und der Inklusion vor Ort) andererseits umzugehen (Cattacin & Domenig 2012: 75 10 ). Auf die beliebte Strategie, sich als Tessiner Student / in mit dem Wechsel in die Universitätsstadt an einen Verein zu wenden, in dem die Sprache der Herkunft gesprochen wird bzw. dessen Mit‐ glieder aus derselben Region kommen, gehe ich in den folgenden Unterkapiteln ein. Der Fokus auf den Verein - einen italofonen und institutionalisierten sozi‐ alen Raum, der im Zusammenhang mit der Mobilität entstanden ist und fort‐ besteht - und auf dessen Praktiken ermöglicht es, dessen prominente Rolle für die Studierenden in der Mobilitätssituation zu verstehen. Um die gegenwärtigen Vereinspraktiken, welche die Basis der folgenden Analyse bilden, nachvollziehen zu können, situiere ich den Verein erst histo‐ risch. Die Gründung des Tessiner Studierendenvereins in Bern (in Folge STIB für „L’associazione Studenti Ticinesi a Berna“) geht aufs Jahr 1995 zurück. In der Vereinschronik werden die Überlegungen aufgezählt, die zur Gründung ge‐ führt haben sollen: il volere di alcuni studenti universitari dell’ateneo bernese con lo scopo, come lo ri‐ portano gli stessi statuti, di organizzare attività ricreative e culturali, così da permet‐ tere una migliore integrazione degli studenti ticinesi che si recano nella capitale per intraprendere i propri studi. 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 230 <?page no="231"?> 11 Ebenfalls im 12. Jahrhundert entstanden in Oxford und Cambridge die Kollegien, die nicht nach geographischer Herkunft, sondern nach fachlicher Zugehörigkeit organi‐ siert waren. der Wille einiger Studenten in der Berner Umgebung mit dem Ziel, wie es die Statuten bezeugen, kulturelle und unterhaltende Aktivitäten zu organisieren, um den Tessiner Studierenden, die sich in die Hauptstadt begeben, um ihr Studium zu ergreifen, eine bessere Integration zu ermöglichen. (Chronik STIB, 2012) Auch wenn die STIB erst seit gut zwei Jahrzehnten existiert, gehen deren grundlegende Parameter - das Zusammenschliessen von Studierenden in der Fremde, deren Unterhaltung und Integration - viel weiter zurück. Studentische Vereinigungen nach Herkunft gibt es seit den Anfängen der Universität, wie die folgenden Abschnitte zu skizzieren versuchen. Deren Geschichte ist demnach untrennbar mit derjenigen der Universität verbunden (vgl. Kapitel 2). Bereits an den Uruniversitäten schlossen sich Studenten zusammen. Nach Modellen der Handwerks- und Kaufmannsgilde oder religiöser Bruderschaften gründeten sie die religiös fundierten „nationes“ und „universitates“ (vgl. Fisch 2015). Die „nationes“ zielten darauf ab, Studierende aus anderen Regionen oder Ländern zusammenzubringen und dafür einzustehen, elementare Alltagsbe‐ dürfnisse zu befriedigen und Dringlichkeiten fürs Studium zu erledigen 11 . In Bologna etwa versuchten Studierende so gegen Missstände anzukämpfen. Der lokalen Bevölkerung waren sie zwar als Abgabenzahler und Verbreiter des Bo‐ logneser Rechtswissens willkommen, sozial und wirtschaftlich wurden sie je‐ doch schlecht behandelt. Ziel dieser studentischen Genossenschaften war es, unter gleichartig Tätigen gegen aussen Interessen zu vertreten und selbständig und eigenmächtig zu entscheiden. Die „universitates“ beschreibt Denley (2011: 24) auf Bologna bezogen als „regional groupings of students within broader coalitions of non-Bolognese students“. Diese grösseren, eher auf Studienrich‐ tungen basierenden Zusammenschlüsse nahmen z. B. alle Artisten- und Medi‐ 6.2 Der Tessiner Studierendenverein in Bern und dessen historische Situierung 231 <?page no="232"?> 12 So waren in Bologna verschiedene „universitates“ zu verzeichnen, die in „universitas ultramontanorum“ (dazu gehörten „nationes“ mit Studierenden von nördlich der Alpen, sozusagen „Nicht-Italiener“) bzw. „universitas citramontanorum“ (dazu zählten „itali‐ enische nationes“) eingeteilt waren (Rüegg et al. 1993). Die Verwendung des Begriffs „nationes“ kommt der heutigen „Nation“ schon recht nahe. Es wurden Personen ähn‐ licher regionaler Herkunft und weitgehend gemeinsamer Sprache zusammengefasst. Allerdings wurden Studenten, die der Herkunft und Sprache nach mit anderen bloss ein Grüppchen bildeten, bestehenden Nationen zugeteilt. In Paris gab es vier „nationes“, welche die vier Himmelsrichtungen andeuteten und als Sinnbild für die Welt standen (vgl. Kibre 1948). 13 In Frankreich wurden sie 1619 abgeschafft. Der Anteil Studenten nichtfranzösischer Herkunft nahm ab, und „die Zusammenfassung der Verbliebenen unter wechselnden Nationalbezeichnungen“ überzeugte wenig (Weber 2002: 90). Anderswo, wo die „na‐ tiones“ weiterhin existierten und mit jeder Einschreibung obligatorisch die Zuteilung zu einer „natio“ einherging (nicht immer war die Herkunft ausschlaggebend), lähmten konfessionelle und politische Konflikte interner Natur zunehmend das Funktionieren der Gemeinschaft. zinstudenten in eine „universitas artistarum et medicorum“ auf (Weber 2002: 17) 12 . Bis in die frühe Neuzeit waren die „nationes“ bedeutsam. Im 15. Jahrhundert wurde ihnen zumindest formal Mitsprache gewährt (z. B. bei der Rektorwahl). Auch war die Idee der Studentennation unter gegenreformatorischen und kon‐ fessionspolitischen Vorzeichen willkommen. Man versprach sich von ihr eine Optimierung des Sozialisations- und Bildungserfolgs. Ferner zogen Universi‐ täten mit starken Nationen fremde, auf der „peregrinatio academica“ sich be‐ findende Studierende am stärksten an (de Ridder-Symoens 1996). Im ausge‐ henden 16. Jahrhundert wurde die Nationenstruktur zunehmend nebensächlich. Im Zusammenhang mit der Verbreitung der Universität und der Tendenz, junge Männer für lokale / regionale Ämter und somit an der lokalen Universität aus‐ zubilden, verloren die „nationes“ zugunsten der „facultates“ an Macht (vgl. dazu Kapitel 2). Durch die territorialen Neuorganisierungen, die zu immer neuen Be‐ zeichnungen von Ländern und zu neuen Grenzziehungen führten, büssten die „nationes“ zusätzlich an Glaubwürdigkeit ein 13 . Dennoch gelang es verschie‐ denen, nun als Landsmannschaften bezeichneten Gruppierungen, bestehen zu bleiben. So wurden v. a. an protestantischen Universitäten neu eingeschriebene Studenten (auch als Pennäler bezeichnet) dazu gezwungen, sich einer Lands‐ mannschaft anzuschliessen und älteren Studenten verschiedene Dienste zu er‐ 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 232 <?page no="233"?> 14 Die Begriffe Pennäler, Pennalismus etc. gehen auf das lateinisch „penna“ = Feder, mit‐ tellateinisch „pennale“ = Federbüchse / Federkasten zurück. Seit Ende des 15. Jahrhun‐ derts als Fremdwort im Deutschen, im 17. Jahrhundert spöttische Bezeichnung für den angehenden Studenten, der immer seine Federbüchse mit sich trägt. Zum Pennalismus vgl. Hensel (2014). 15 An verschiedenen Orten waren das Bilden von Landsmannschaften, das Tragen von Farben und das Pennalisieren vorübergehend verboten. 16 Die Namensgebung war dabei uneinheitlich (Corps, Kränzchen, Landsmannschaft, Club etc.). 17 In deutschen Studentenverbindungen gab es schon vor 1933 antijüdische Tendenzen. weisen 14 . Landsmannschaften hatten im 18. Jahrhundert v. a. symbolischen Wert. Durch die Verwendung von „Landesfarben“ wurde z. B. die studentische Zuge‐ hörigkeit nach Herkunftsregionen sichtbar 15 . Während die Landsmannschaften an Bedeutung verloren, bildeten sich die Studentenorden als neue Formen des studentischen Zusammenschlusses. Von den Mitgliedern der Orden hatte ein Teil vorher den Landsmannschaften angehört. Die Orden identifizierten sich über geheime Merkmale und schworen sich über das Studium hinaus - bis ans Lebensende - Treue. Seit der Französischen Revolution 1789 verstärkten sich die Abneigung und das Misstrauen der Länder gegenüber studentischen Verbindungen. Sie be‐ fürchteten das Ausbreiten revolutionärer Ideen. 1793 wurden im Heiligen Rö‐ mischen Reich die Studentenorden - dort waren sie sehr verbreitet - verboten. Studentische Zusammenschlüsse hatten aber auch danach ihren Platz. So wurden Bündnisse populär, in denen Elemente aus der Ordenszeit mit Symbolen der Landsmannschaften verbunden wurden 16 . Den Studenten gelang es, neben dem relativ unstrukturierten Studium verschiedenen Interessen nachzugehen, die als Vereinigungsparameter dienten. So gab es etwa schlagende Korporati‐ onen (Fechtclubs) oder literarisch-historische Debattierclubs (vgl. Weber 2002). Nach der Französischen Revolution wurde ganz Europa - und wurden damit auch die Studentenvereinigungen - von einer nationalistischen Welle erfasst. Vereine um 1900 wiesen zunehmend „völkische“ Elemente auf, was dazu führte, dass die „soziale Wärme“ unter „seinesgleichen“ gehortet wurde 17 . Wie Weber (2002) aufzeigt, ist der hohe Organisationsgrad der Studenten in Europa nicht nur auf die gegenseitige Unterstützung während des Studiums zurückzuführen. Über ehemalige, aber dem Verein treu gebliebene Mitglieder, die schon längst berufstätig waren, versprach man sich bessere Chancen im Hinblick auf die Erwerbstätigkeit und Aufstiegsmöglichkeiten. Betrachtet man die STIB sowie deren Strukturen und Praktiken auf dem Hintergrund dieser historischen Skizze, stellt man, obschon sie erst zwei Jahr‐ zehnte alt ist, Parallelen zu studentischen Zusammenschlüssen in der Vergan‐ 6.2 Der Tessiner Studierendenverein in Bern und dessen historische Situierung 233 <?page no="234"?> 18 Manche protestantische Studenten aus der Schweiz, die sich in Deutschland in Lands‐ mannschaften zusammengeschlossen hatten (z. B. Helvetia), brachten deren Bräuche im 19. Jahrhundert auch in die Schweiz. 19 Diese Formel wird in der Soziolinguistik fälschlicherweise oft Herders „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (1770) zugeschrieben, obwohl Herder in seinem Werk diese Formel nie so vertreten hat (vgl. Baumann & Briggs 2003 vs. Piller 2016). 20 Die Daten zu den Gründungen stammen aus Vereinschroniken, Homepages etc. Aller‐ dings sind diese oft lückenhaft und zum Teil gar nicht vorhanden (Altermatt 2009 weist ebenfalls auf diese Schwierigkeit hin). So lässt sich etwa zur Tessiner Organisation in Genf nichts finden, auch wenn von anderen Tessiner Vereinen auf diese verwiesen wird. Beim 2007 in Neuchâtel gegründeten Verein stellt sich über Umwege heraus, dass der Verein seit 2012 nicht mehr existiert. Die „Schweizerische Vereinigung für Studenten‐ geschichte“ bemerkt in diesem Zusammenhang, dass die Geschichte aus vorherge‐ henden Jahrhunderten zum Teil besser zugänglich sei als das aktuelle studentische Vereinsleben, obwohl heutzutage das Aufbereiten von Daten einfacher wäre. genheit fest. Die Basis für ihre Gründung gleicht derjenigen der mittelalterlichen „nationes“, in denen sich Studenten in der Fremde mit ihresgleichen zusam‐ menschlossen. Dass die Farben des Tessiner Kantonswappens z. B. auf Flyern oder Plakaten der STIB (wenn auch nicht mehr wie einst auf Gewändern) sichtbar sind und die Zugehörigkeit zum Tessin visualisieren, das erinnert an das Auftreten studentischer Verbindungen territorialer Art in der frühen Neu‐ zeit. Damals trugen die Landsmannschaften ihre Farben, um ihr Herkunftster‐ ritorium zu repräsentieren 18 . Ebenfalls sind in den Praktiken der STIB Über‐ bleibsel des Pennalisierens zu erkennen (vgl. 6.2.2). Letztendlich widerspiegelt sich in der Gründungslogik der STIB sozusagen die Formel der Nation mit einer Kultur (und somit einer Sprache) 19 . Im Kontext der STIB wird diese Formel he‐ runtergebrochen, d. h., dass nicht die Grenzen der Nation die Sprach- und Kul‐ turregion definieren, sondern den Kantonsgrenzen diese Funktion zuge‐ schrieben wird (vgl. Hobsbawm 1992). Wie die verschiedenen studentischen Vereinigungen mit der Geschichte der Universität und derjenigen der Machtapparate, die das universitäre Geschehen mitbestimmten (z. B. Klerus, Landesherr), zusammenhingen, ist auch die Grün‐ dung der STIB 1995 in der aktuellen Hochschullandschaft zu verorten. Nur so werden die zeitnahen Gründungen anderer Tessiner Vereine in Schweizer Uni‐ versitätsstädten nachvollziehbar. Die Tessiner Studierenden riefen nämlich in‐ nerhalb von rund zwei Jahrzehnten etliche Zusammenschlüsse ins Leben: 1993 in Fribourg, 1995 in Basel und Bern, 1996 in Zürich, 2000 in Lausanne, 2007 in Luzern und Neuchâtel, 2010 in Biel und 2011 in Lugano. Ende 2015 wurde aus‐ serdem ein überregionaler Tessiner Studierendenverein gegründet, dem alle Studierenden, die bei einem lokalen Studierendenverein Mitglieder sind, auto‐ matisch angehören (Gründungsort ist Bellinzona) 20 . Meines Wissens sind nur 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 234 <?page no="235"?> 21 Diese Freiburger Organisation geht auf die „Couleurs tragenden“ Landsmannschaften zurück. Dabei werden die Farben der vertretenen Werte und nicht diejenigen einer gemeinsamen Herkunft getragen, auch wenn letztere für die Mitgliedschaft ausschlag‐ gebend ist. 22 Ausser in Fribourg wurden in Zürich (1921) und Bern (1931) weitere akademische Tes‐ siner Verbindungen gegründet (Stüchele & Eisele 2014). Diese verschwanden in den 1968er-Jahren, nahmen aber ihren Betrieb Ende der 80er wieder auf. Allerdings ist meines Wissens nur die Altherrenschaft aktiv. zwei noch aktive Tessiner Studentenvereine nicht in diesem Gründungsreigen entstanden und blicken auf eine längere Vergangenheit zurück. Dazu zählt eine 1915 gegründete Organisation in Fribourg, die einen katholischen Hintergrund hat 21 , und ein Verein in St. Gallen, der aufs Jahr 1948 zurückgeht und dessen Fokus v. a. ökonomischer Natur ist 22 . Die Häufung dieser Vereinsgründungen verstehe ich vor dem Hintergrund zweier nicht scharf voneinander zu trennender Gegebenheiten. Zum einen schufen in Freiburg Tessiner Studierende 1993 einen zweiten Tes‐ siner Verein, der sich klar vom bereits bestehenden unterschied. Sie wollten die Hegemonie der bereits bestehenden Organisation brechen und eine Alternative zur politisch und religiös imprägnierten Organisation bieten. Ihr Ziel, erklärten sie, sei ausschliesslich die Unterhaltung („il divertimento“). Diese Neugründung richtete sich nach dem „Geist“ jener lokalen Studierendenpopulation, die zwar weiterhin aus dem Tessin Richtung Freiburg wanderte, deren Werte sich aber nicht mehr am Glauben ausrichteten. Laut Umfragen ist zwar der Katholizismus bei der Entscheidung für ein Studium in Freiburg nicht mehr ausschlaggebend, dennoch ist die Mehrheit der Studierenden nach wie vor katholisch oder kommt aus katholischen Kantonen. Religion spielt also weiterhin eine Rolle, allerdings eher in Form einer Tradition und nicht hauptsächlich wegen der Konfession (Altermatt 2009; Metzger 2010). Die Gründungen von Tessiner Vereinen, die auf diejenige in Freiburg (1993) folgten, orientieren sich an derjenigen in Freiburg. Die Vereine in Basel und Bern etwa, die nur zwei Jahre später konstituiert wurden, bezogen sich in ihren Chroniken denn auch auf bereits bestehende Tessiner Zusammenschlüsse. Von diesen institutionell verankerten Vereinigungen versprach man sich, die mit der Mobilitätssituation einhergehenden Schwierigkeiten in der noch ungewohnten Umgebung zu reduzieren. Die Statuten, welche die rechtliche Basis der Tessiner Vereine in den verschiedenen Städten bilden, gleichen alle denjenigen der Tes‐ 6.2 Der Tessiner Studierendenverein in Bern und dessen historische Situierung 235 <?page no="236"?> 23 In der Schweiz ist die Gründung eines Vereins rechtlich sehr einfach. Die Vorausset‐ zungen finden sich im Zivilgesetzbuch ab Art. 60. Zentral sind die schriftlichen Statuten des Vereins, welche über den Zweck, die Mittel und die Organisation Aufschluss geben. https: / / www.admin.ch/ opc/ de/ classified-compilation/ 19070042/ index.html#id-1-2-2 [letzter Zugriff, 05. 03. 2016]. 24 Giorgio Salvadè, Mitglied der Partei Lega Ticinese, wurde 1992 in die Exekutive der Stadt Lugano gewählt und begann dort die Idee einer regionalen Universität zu ver‐ treten. siner Organisation in Freiburg 23 . Es ist also festzuhalten, dass die Gründung des Tessiner Vereins in Fribourg 1993 mehrmals nachgeahmt wurde. Offenbar er‐ füllen solche Vereine ein Bedürfnis, das in allen Universitätsstädten vorhanden ist. Sie versuchen, Studierende aus derselben Herkunftsregion in der ihnen un‐ gewohnten Umgebung zu vereinen und für deren Amüsement zu sorgen. Zum andern - und damit assoziiere ich den beschriebenen Gründungsreigen ebenfalls - gilt es zu bedenken, dass die Schaffung der rechtlichen Ausgangslage für die Università della Svizzera Italiana im Oktober 1995 erfolgte. Ein Studium im Tessin zu absolvieren, wurde im Herbst 1996 möglich. Die Gründung der tertiären Institution war seit 1993 öffentlich diskutiert worden (Bischoff 2001). 24 Mit der Option, zwecks einer tertiären Ausbildung im Tessin bleiben zu können, standen die MaturandInnen vor einer neuen Entscheidung. Ihr kollektives „Jam‐ mern“, die eigene Sprachregion verlassen zu müssen und sich wegen des Stu‐ diums in die „Svizzera interna“ (die TessinerInnen bezeichnen die Deutsch‐ schweiz im Volksmund so) oder in die „Svizzera Romanda“ (die französischsprachige Schweiz) begeben zu müssen, war nun nicht mehr auf gleiche Weise legitim. Mit diesem universitären Zuwachs in der Schweizer Hochschullandschaft veränderte sich auch die Selbst-Wahrnehmung der Italo‐ fonen an den Universitäten ausserhalb des Tessins. Waren sie vorher sozusagen gezwungenermassen in die Fremde gegangen, handelte es sich, wenn sie es taten, seit der Gründung der USI um eine bewusst getroffene Entscheidung. Ihre selbstverständliche Präsenz an den Schweizer Universitäten verlangte nun nach einer Legitimation, die sie, wie die folgenden Unterkapitel zeigen, zum Teil im Verein wiederfanden. 6.2.1 Das Bewältigen sich verändernder Herausforderungen im sozialen Raum des Vereins Die STIB in Bern beschreibt sich als Verein, der mit seinen Anlässen darauf abzielt, „una fetta del nostro Ticino anche nella capitale“ (ein Stück von unserem Tessin auch in die Hauptstadt) zu tragen. So wird versucht, dem Versprechen gerecht zu werden, dass die STIB sich selbst auferlegt hat und so formuliert: 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 236 <?page no="237"?> 25 Dies gilt bedingt für Vorlesungen, aber unbedingt für (Pro-)Seminare, Untersuchungen im Labor etc. Costruiamo e continueremo a costruire sulla già lunga esperienza [delle serate fra amici, le attività culturali, le grigliate, le feste, e i vari momenti d’incontro], e saremo sempre a disposizione di chi, perso in una città di lingua tedesca, si trova o troverà nella necessità di sentirsi parte di qualcosa, di trovare nuovi amici, di riuscire ad in‐ tegrarsi o semplicemente di chi ha voglia di qualcosa di diverso. Wir organisieren und werden, auf bereits langer Erfahrung basierend, fortfahren [Abende unter Freunden, kulturelle Anlässe, Grilladen, Feste und verschiedene Mo‐ mente des Beisammenseins] zu organisieren, und wir werden immer für diejenigen da sein, die in einer deutschsprachigen Stadt verloren sind, das Bedürfnis haben oder haben werden, sich als Teil von etwas zu fühlen, neue Freunde zu finden, sich erfolg‐ reich zu integrieren, oder die einfach Lust auf etwas Anderes haben. (Auszug aus der Beschreibung der STIB, Frühling 2012) Gemäss diesem Versprechen deckt die STIB eine ganze Palette von Bedürfnissen ab und begegnet damit vor allem jenen von den interviewten Studierenden ge‐ nannten Herausforderungen, die in Table 4 unter „Ungewohnte Situationen am Studienort“ aufgelistet worden sind. Wie im Folgenden ersichtlich wird, orien‐ tieren die von der STIB initiierten Events sich an den sich im Laufe der Zeit verändernden Herausforderungen und Bedürfnissen, die der Mobilitätssituation zugeschrieben werden. Um die anschliessende chronologisch aufgebaute Analyse zu verstehen, muss die Struktur des akademischen Jahrs in der Schweiz skizziert werden, da von ihr das Mobilitätsverhalten der Studierenden und somit die Aktivität des Vereins abhängen. Der Universitätsbetrieb läuft ganzjährig und dauert von Anfang Au‐ gust bis Ende Juli des folgenden Jahres. Im akademischen Kalender sind zwei Semester untergebracht. Die Lehrveranstaltungen im Herbstsemester beginnen in der 38. Kalenderwoche (September) und enden in der 51. Woche (kurz vor Weihnachten). Jene im Frühlingssemester fangen in der 8. Kalenderwoche (Feb‐ ruar) an und dauern bis zur 22. Woche (Ende Mai / anfangs Juni). Ein Semester dauert somit rund 14 Wochen. Anschliessend folgen die Prüfungen und das Verfassen von Arbeiten. Während der beiden Semester sind die Studierenden für gewöhnlich dazu verpflichtet, physisch anwesend zu sein 25 . In den Wochen zwischen den Semestern sind sie, abgesehen davon, dass sie Prüfungstermine o. ä. wahrzunehmen haben, frei, sich am Ort ihrer Wahl aufzuhalten. Beginnen Studierende eine universitäre Ausbildung nach Erlangen der Stu‐ dienreife, tun sie dies in der Regel im September. Findet eine Dislokation in eine Universitätsstadt statt, wie es bei den nach Bern ziehenden TessinerInnen der 6.2 Der Tessiner Studierendenverein in Bern und dessen historische Situierung 237 <?page no="238"?> Fall ist, erfolgt diese gewöhnlich kurz davor. StudienbeginnerInnen halten sich folglich per Semesterbeginn in der ihnen möglicherweise noch unvertrauten Stadt auf, in der sie sich mit den mit der Mobilitätssituation einhergehenden Herausforderungen konfrontiert sehen. Tessiner Studierende, die im Studium bereits weiter fortgeschritten sind, sind spätestens im September wieder in Bern anzutreffen. Diese „Anwesenheitspflicht bzw. -freiheit“ und das Mobilitätsverhalten, die sich nach dem akademischen Kalender richten, wirken sich auf die STIB und deren Jahresplanung aus. Die Vereinsanlässe finden alle ausserhalb der semes‐ terfreien Zeit statt. Während des akademischen Jahrs, in welchem ich die STIB ethnographisch begleitete, nahm ich an 41 verschiedenen Events, d. h. institu‐ tionellen oder individuellen Treffen, teil (vgl. Kapitel 3). Hätte ich an sämtlichen Veranstaltungen und Treffen mitgewirkt, wären noch etliche dazugekommen. Die STIB und deren Mitglieder sind also - vor allem während der relativ kurzen Semester - sehr aktiv, wogegen sie in der Zwischensemesterzeit pausieren. Diese vorübergehende Inaktivität basiert auf der Überzeugung, die Mehrheit der Vereinsmitglieder halte sich nach Semesterende nicht in Bern (sondern z. B. im Tessin) auf. Ferner finden die Anlässe der STIB vorwiegend unter der Woche statt. Die Wochenenden werden ähnlich wie die semesterfreie Zeit mit Abwe‐ senheit assoziiert. Das Vereinsleben der STIB passt sich also dem Jahreszyklus der Schweizer Hochschulen an. Zusätzlich zeichnet sich bei dieser regen Aktivität während der Vorlesungszeit eine Struktur ab, welche die Mobilitätserfahrung der Tessiner Studierenden und die damit verbundenen Herausforderungen und Bedürfnisse widerspiegelt und in den Anlässen und den Praktiken in Verbindung mit den Anlässen zum Ausdruck kommt. 6.2.2 Der zweckmässige Support zur Bewältigung anfänglicher Herausforderungen Die anfänglichen Herausforderungen, die am Wechsel vom Gymnasium zur Universität und der damit einhergehenden Mobilität festgemacht werden, greift die STIB auf und wirkt ihnen gleich zu Beginn des Herbstsemesters entgegen. Es muss bemerkt werden, dass das Programm jeweils vom Vorstand konzipiert wird, d. h., dass dessen Mitglieder und die Herausforderungen, die sie der Mo‐ bilität zuschreiben, den Gehalt und die Form der geplanten Anlässe bestimmen. Ebenso dienen die Programme aus den Vorjahren - also die von vorausgehenden Vorständen gesetzten Akzente - als Orientierung, wie mir die Präsidentin im Interview erklärt. 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 238 <?page no="239"?> 26 Der Gesang lehnte sich dabei an den Song von Totò Cutugno „Lasciatemi Cantare“ („Lasst mich singen“) an. Auf die Herausforderungen, die der Vorstand mit dem Semesteranfang in Verbindung bringt, antwortet er mit einer Unterstützung, der das Prinzip der Zweckmässigkeit zugrunde liegt, wie die folgenden Abschnitte zeigen. Interes‐ sant ist, dass die Mehrheit der Anlässe / Praktiken nicht ausschliesslich Neuan‐ kömmlinge anvisiert. So kommt denn auch den bereits erfahrenen Mitgliedern eine Rolle zu, die mit derjenigen der Neumitglieder zusammenhängt, aber sich dennoch von ihr unterscheidet. Den Semesterauftakt stellt der Willkommens-Apéro im September dar, an dem jeweils alle TessinerInnen in Bern willkommen geheissen werden. Dazu gehören diejenigen, die nach der Sommerpause zurückkehren, und insbeson‐ dere diejenigen, die ihr Studium in Bern aufnehmen (die Newcomer). Der Apéro - er erfolgt wie die Mehrheit der Anlässe der STIB ausschliesslich auf Italienisch - findet in einer Mensa der Universität Bern statt, die dem Verein zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt wird. Darin hat der Vorstand der STIB ein u-förmiges Buffet hergerichtet, auf dem Getränke und Snacks bereitstehen. An einer Holzgalerie über dem Saal hängt eine grosse Fahne in Rot und Blau (den beiden Farben, die das Wappen des Kantons Tessin zieren), worauf in breiten Lettern „ STIB “ steht. Die Studierenden - ich schätze, es seien 100 - zirkulieren rege: sie bedienen sich am Buffet, küssen oder umarmen einander zur Begrüs‐ sung und erzählen einander von ihren Sommerferien. Einige geben einander die Hand, stellen sich vor, erklären einander, was sie hier studieren, wo sie wohnen etc. Am Apéro stellt sich ausserdem der Vorstand vor. Dabei ist die Stimmung ausgelassen und locker. So plaudert das Publikum etwa munter weiter, inter‐ agiert aber dennoch mit dem Vorstand, während dieser einen Überblick über das Vereinsprogramm des angebrochenen Semesters gibt. So stimmt jemand „Non lasciatemi cantare“ 26 („Lasst mich nicht singen“) an, einige trällern mit, hängen sich beieinander ein und schaukeln hin und her, als auf den geplanten Ka‐ raoke-Anlass hingewiesen wird. Nach diesem kurzen Programmblock bleibt den Anwesenden viel Zeit, bei Freigetränken und Häppchen miteinander zu plau‐ dern. Newcomern bietet der Anlass die Möglichkeit, zahlreiche TessinerInnen in Bern gleich zu Beginn ihres Studiums kennenzulernen. Am Apéro begegne ich u. a. Tiziana, die in Lugano ihr Studium begann und dann mit einem intranationalen Austauschprogramm nach Bern wechselte, wo sie geblieben ist. Sie ist seit vier Jahren in Bern. Nachdem ich ihr mein Interesse am Tessiner-Verein in Bern erklärt habe, berichtet sie, der Apéro zu Beginn des 6.2 Der Tessiner Studierendenverein in Bern und dessen historische Situierung 239 <?page no="240"?> 27 Ein weiteres Beispiel für Unterstützung materieller Art besteht darin, dass Vereinsmit‐ glieder ihre gebrauchten Lehrbücher an Newcomer weitergeben. Semesters sei „mega importante“ (mega wichtig), sie habe dort ihre Freunde gefunden. Tiziana verdankt - wie zahlreiche andere Tessiner Studierende - ihr soziales Netzwerk dem Apéro. Sie ist in diesem Rahmen zu sozialem Kapital gekommen, das ihr seither erhalten geblieben ist und worauf sie sich stützt. Dank dem dichten Programm, das die STIB fürs Herbstsemester vorbereitet hat - es sind elf Anlässe geplant (neben dem wöchentlichen Stammtisch und individuellen Treffen) -, steht den StudienanfängerInnen ein Freizeitprogramm zur Verfügung, an dem sie grösstenteils kostenlos (bei wenigen Anlässen werden sie um einen Unkostenbeitrag gebeten) teilnehmen können, sofern sie Mitglied werden. Neben den konkreten materiellen Vorteilen, die dieses Freizeitpro‐ gramm mit sich bringt (Freibier, Gratis-Eintritte etc.), bietet es den Studierenden die Chance, ihre noch frischen Bekanntschaften zu vertiefen oder weitere Tes‐ sinerInnen kennenzulernen. Auch wird den Vereinsmitgliedern mit diesem Frei‐ zeitprogramm ein sozialer Rahmen geboten. Es deckt einen beachtlichen Teil der Freizeit der Vereinsmitglieder und bewahrt sie vor dem Alleinsein oder all‐ fälliger Langeweile in der noch ungewohnten Umgebung. Zudem geniessen Newcomer über die bestehenden Mitglieder materielle Vorteile, die nicht an die Anlässe gekoppelt sind. Am Apéro bekomme ich etwa mit, wie Flavio einem neuen Studenten anbietet, ihm sein Fahrrad auszuleihen. Er äussert, er brauche es selber nie, da er ein wenig ausserhalb der Stadt wohne und mit der S-Bahn alles viel schneller gehe 27 . 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 240 <?page no="241"?> 28 Um die Newcomer bereits vor ihrem Umzug in die Deutschschweiz zu unterstützen, hat die STIB ein Online-Forum eingerichtet, welches es auch TessinerInnen, die noch nicht Mitglieder sind, möglich macht, den Erfahrungsvorsprung der STIB zu nutzen. Das Forum wird ganzjährig betrieben (im Gegensatz zu den Vereinsanlässen ist keine physische Präsenz zu dessen Aufrechterhaltung nötig). Im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Wechsel aus dem Tessin nach Bern wird dieses etwa im Früh‐ ling / Frühsommer (d. h. vor Semesterbeginn) rege genutzt. Während meiner ethnogra‐ phischen Arbeit machten etliche zukünftige Studierende aus dem Tessin vom Forum Gebrauch; sie hofften von den bereits aktiven Mitgliedern der STIB auf freie Zimmer / Wohnungen hingewiesen zu werden. Einer der Einträge lautet so: Ciao a tutti, scrivo sul Forum perché sto cercando delle persone con cui andare ad abitare in un appartamento a Berna, siccome a partire da Settembre 2012 inizierò l’Uni lì. Oppure, ancora meglio, se c’è una possibilità di subentrare in una camera con altri studenti. Se qualcuno è interessato mi faccia sapere! (Hallo alle, ich schreibe auf dem Forum, weil ich Leute zum Zusammenwohnen in Bern suche, da ich ab September 2012 dort mit der Uni beginnen werde. Oder, das wäre noch besser, falls es eine Möglichkeit gibt, ein Zimmer zu übernehmen [in einer Wohnung mit anderen Studenten]. Falls jemand in‐ teressiert ist, lasst es mich wissen! ) (Gästebuch der STIB, Ende April 2012). Dieser noch im Tessin weilende Gymnasiast verfasst also zwecks einer Bleibe in Bern, die er im Zusammenhang mit seiner bevorstehenden Mobilität benötigen wird, einen Gäste‐ bucheintrag. 29 Der Terminus lehnt sich an „primo“, „prima“ an, was für Erster, Erste steht. „Prima“ wird auch im schulischen Kontext verwendet (in der ersten Klasse sein). In „Primini“ steckt auch „-ini“ (Verkleinerungssuffix, vergleichbar mit „-chen“ im Deutschen). Es wird also auf die „Kleinen“ im ersten Jahr verwiesen, wenn diese Bezeichnung ver‐ wendet wird. Neben diesen Vorzügen, die den Newcomern die Mobilitätssituation beim Start erleichtern sollen 28 , ist der Willkommensapéro auch für den Verein und die erfahrenen Mitglieder zentral. Die STIB gewinnt so neue Mitglieder und fordert bisherige dazu auf, ihre Mitgliedschaft zu erneuern und den jährlichen Beitrag zu begleichen. Am Apéro werden die Neuen - sie werden auch als „Primini“ 29 bezeichnet - aufgefordert, sich von einer Balustrade herunter vorzustellen. Dies hat für die Newcomer den Vorteil, als „Neue“ bekannt zu sein und somit Unter‐ stützung von bisherigen Mitgliedern in Anspruch nehmen zu dürfen. Die Mit‐ glieder ihrerseits sind verpflichtet, sich der „Primini“ anzunehmen. Diese Pflicht geht aber mit einem in der STIB traditionellen Initiationsritual einher, bei dem die „Primini“ sich vor versammeltem Publikum vorstellen müssen, während sich die erfahrenen Mitglieder auf deren Kosten unterhalten und den Akt zelebrieren. Als die StudienbeginnerInnen (die „Primini“) am Willkommensapéro aufge‐ fordert werden, auf die Galerie hochzukommen - es sind etwa 15 - steigen die bereits ausgelassene Stimmung und der Lärmpegel nochmals. Die 15 Neulinge rufen nacheinander dem Publikum ihre Namen, ihre Herkunft und ihr Studien‐ fach zu. Einige fügen an, seit wann sie in Bern seien (seit wenigen Wochen). 6.2 Der Tessiner Studierendenverein in Bern und dessen historische Situierung 241 <?page no="242"?> 30 Im Interview mit der Präsidentin äussert diese, dass die „Primini“ früher noch „schlim‐ mere“ Rituale hätten über sich ergehen lassen müssen. Sie seien dazu aufgefordert worden, auf einen Stuhl zu steigen und sich von diesem aus vorzustellen. Sie meint, dass das ja viel schlimmer sei, da könne man stürzen, der Stuhl könne kippen oder man könne einem evtl. unter den Rock sehen. Ihr zufolge ist das Initiationsritual also bereits abgeschwächt worden und nun zumutbar, auch wenn sie zugibt, dieses selber über‐ sprungen zu haben. Sie habe am ersten Apéro nicht teilgenommen und sei dann später direkt in den Vorstand gewählt worden. Nach jeder Vorstellung pfeift, grölt und applaudiert das Publikum. Einige werden bei ihrer Vorstellung unterbrochen, da erneut Lieder angestimmt werden. (So wird etwa ein Eishockey-Fangesang vom HC Lugano gejohlt, nachdem ein Student erwähnt hat, er stamme aus Lugano.) Einige der Neumit‐ glieder sind sehr gehemmt, sich vor so vielen, mehrheitlich unbekannten Leuten vorstellen zu müssen. Die junge Tessinerin, die neben mir auf der Galerie darauf wartet, dass die Reihe an ihr ist, flüstert mir zu, dass dies das Schlimmste sei, was sie bisher habe machen müssen. Ausserdem erröte sie vor Publikum immer (was wenig später geschieht). Am Schluss dieser Vorstellungsrunde tritt der Vorstand wieder an die Galerie heran und ruft: „Benvenuti a voi“ („Seid will‐ kommen“)! Darauf folgen lang anhaltender Applaus und Gejohle. Später äussert Tiziana mir gegenüber, sie fühle sich jedes Jahr schlecht bei dieser Vorstellungs‐ runde, und die Neuen täten ihr ein wenig leid, aber das sei nun mal Tradition bei der STIB . 30 Der am Willkommensapéro angekündigte Karaoke-Abend wird knapp zwei Wochen später durchgeführt. Auf dem Programm wird der Anlass so be‐ schrieben: Karaoke: ottima occasione per ritrovarci a bere cani incazzati* all’indistruttibile bar NELSON e per fare credere ai Primini che il rito di iniziazione della STIB consista nel cantare una canzone al Karaoke da soli! Scherzi a parte, il rito d’iniziazione della STIB per i Primini consiste nel cantare una canzone al karaoke da soli! *Riguardo agli ingredienti che compongono la bevanda chiedete ulteriori spiegazioni al membro die comitato Filippo. Karaoke: perfekte Möglichkeit, um uns in der unzerstörbaren Bar NELSON zum Trinken von stinksauren Hunden* zu treffen und um bei den „Primini“ den Eindruck zu erwecken, das Initiationsritual der STIB bestehe darin, beim Karaoke ein Lied al‐ leine zu singen! Spass beiseite, das Initiationsritual der STIB für die „Primini“ besteht darin, beim Karaoke ein Lied alleine zu singen! *Bittet das Vorstandmitglied Filippo um weitere Erklärungen bezüglich der Zutaten, aus denen das Getränk besteht. (Auszug aus Herbstsemesterprogramm 2011) 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 242 <?page no="243"?> 31 Zwar wurden in der Vergangenheit Novizen in studentischen Zusammenschlüssen weit dreister behandelt (vgl. Hensel 2014). Dennoch sehe ich auch in der STIB Merkmale des Pennalismus, die aufrechterhalten werden. Der Karaoke-Abend findet in einem im Zentrum von Bern gelegenen Pub statt, das regelmässig Karaoke-Singen anbietet. Die STIB hat die Karaoke-Ausrüstung und den zuständigen Techniker für den Vereinsanlass gemietet. Auf dem Tresen liegt neben den von der STIB offerierten Krügen mit Freibier eine Liste, worauf man Songtitel notieren kann, die man zu singen wünscht. Der Techniker spielt die entsprechende Musik ein und sorgt dafür, dass analog der Liedtext für die SängerInnen sichtbar projiziert wird, welchen diese dann verstärkt wiedergeben können. Der Vorstand macht am Karaoke-Abend den Auftakt und startet mit einem italienischen Lied. Nach und nach wagen sich auch Mitglieder in Klein‐ grüppchen ans Mikrofon. Am besagten Abend werden italienische und engli‐ sche Songs gespielt und interpretiert. Die anwesenden „Primini“ (ich habe zwei gesehen, die sich auf der Galerie vorgestellt hatten) wurden trotz der gemachten Ankündigung nicht dazu aufgefordert, Solos zu übernehmen. Darüber, ob die Beschreibung auf dem Semesterprogramm einige davon abgehalten hat, über‐ haupt aufzutauchen, kann nur spekuliert werden. Aus der Einladung zum Anlass wird aber ersichtlich, dass nicht alle Mitglieder der STIB gleich sind und die „Primini“ als spezielle Kategorie gelten. Auch scheint es den anderen Mitglie‐ dern zuzustehen, die „Primini“ ein wenig zu plagen oder in Verlegenheit zu bringen und damit die anderen Mitglieder zu unterhalten. 31 Durch diese Hie‐ rarchisierung stabilisieren bisherige Mitglieder ihren Status als erfahrene Stu‐ dierende und schreiben sich gleichzeitig eine Rolle zu, die es ihnen erlaubt, Un‐ terstützung anzubieten. An Anlässen, die am Anfang des Studienjahrs stattfinden, werden Studien‐ anfängerInnen nicht „nur“ soziales Kapital und Materielles angeboten. Die STIB trägt auch Informationen, die den Start erleichtern sollen, kompakt und auf Ita‐ lienisch an die „Primini“ heran bzw. beantwortet deren Fragen. So findet wenige Tage nach dem Willkommensapéro ein Anlass statt, der als „Serata Primini“ (Primini-Abend) bezeichnet wird. Im Newsletter, der an alle Mitglieder ver‐ schickt wird, wird dieser folgendermassen beschrieben: Serata Primini: serata informativa pensata per tutti coloro che dovranno affrontare per la prima volta la giungla burocratica dell’ Uni, le montagne dei libre e le ripide cascate di malumore dopo la prima sessione d’esami. 6.2 Der Tessiner Studierendenverein in Bern und dessen historische Situierung 243 <?page no="244"?> Primini-Abend: informativer Abend für all diejenigen, die zum ersten Mal den büro‐ kratischen Dschungel der Uni, die Bücherberge und die jähen Stimmungsschwan‐ kungen nach der ersten Prüfungssession in Angriff nehmen müssen. (Auszug aus Herbstsemesterprogramm 2011) Dieser Einladung liegt eine Karikatur in Schwarz-Weiss bei, die einen sichtlich gestressten Studenten mit Talar und Diplomhut zeigt, über dessen Kopf in Ma‐ juskeln „ QUO VADIS ? “ ( WOHIN GEHST DU ? ) steht. Zur Linken und zur Rechten des Studenten sind Pfähle zu sehen, an denen in verschiedene Rich‐ tungen deutende Wegweiser angebracht sind, die u. a. mit „ BOH ? “ ( KEINE AH‐ NUNG ? ) und „ DI LÀ ? “ ( DORTHIN ? ) beschriftet sind. Am geplanten Anlass, für den man sich bei einem Vorstandsmitglied im Vo‐ raus per Mail zu registrieren hat und angeben muss, welche Studienrichtung man eingeschlagen hat, werden individuelle Fragen beantwortet. Der Vorstand sucht nach Erhalt der Anmeldungen innerhalb der STIB Mitglieder, welche das gleiche Fach studieren wie die Registrierten. Auskunft geben kann, wer eben nicht mehr zu den „Primini“ zählt. Ivo, er ist im Vorstand und trägt für den Event die Verantwortung, sagt mir, möglicherweise komme der Abend nicht zustande. Ich bitte ihn, mich auf dem Laufenden zu halten. Von einer Teilnahme am „Pri‐ mini-Abend“ verspreche ich mir, besser zu verstehen, wie erfahrene Studierende Neuankömmlinge beraten. Ivo sendet mir am Vorabend eine SMS , in der er mir mitteilt, der Abend finde nicht statt. Es sei ihm bereits gelungen, die „Primini“, die sich bei ihm gemeldet hätten, mehrjährigen Mitgliedern zuzuweisen. Diese würden sich nun bilateral treffen. Am Eishockeymatch, zu welchem ich eine Gruppe der Vereinsmitglieder in der darauffolgenden Woche begleite, erzählt mir Marcella (Vorstandsmitglied und Jura-Studentin), sie habe zwei Newcomern beim heutigen Mittagessen ei‐ nige „fundamentale Dinge“ erklärt, die ihnen den Anfang erleichtern würden. Auf meine Frage, was sie für „fundamental“ halte, meint sie, dass es wirklich wichtig sei, von Anfang an zu wissen, worauf die verschiedenen Professoren beim Prüfen Wert legten. Einem sei die richtige Terminologie wichtig, ein an‐ derer stelle Fragen zu den Fussnoten. Diese habe sie im ersten Jahr - da habe sie bereits sehr viel Zeit gebraucht, den Haupttext zu verstehen - ignoriert und sei prompt durch die Prüfung gefallen. Sibilla (2. Studienjahr Biologie) schaltet sich ins Gespräch ein und sagt, ihr habe Fabiano (ein anderes Mitglied der STIB ) letztes Jahr das Institut gezeigt, sonst wüsste sie wohl immer noch nicht, wo man sich selbst Kaffee kochen könne. Ausserdem habe er ihr Tipps für die Arbeit im Labor und die damit verbundenen Berichte gegeben. Vier Wochen nach dem Willkommensapéro findet zudem ein „Tram Rally“ (Tram-Rennen) statt, das einem Postenlauf ähnelt, der mit den öffentlichen Ver‐ 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 244 <?page no="245"?> kehrsmitteln der Stadt Bern absolviert wird. Das Ziel lautet folgendermassen: „Per conoscere meglio la nostra bella capitale! ! Dopo questa attività orientarsi a Berna sarà un gioco da ragazzi“ (Um unsere schöne Hauptstadt besser ken‐ nenzulernen! ! Nach diesem Anlass wird die Orientierung in Bern ein Kinderspiel sein.). Auch wenn alle am „Tram Rally“ willkommen sind, ist dieses v. a. für diejenigen konzipiert, welche die Stadt noch kaum kennen. Filippo (Vorstands‐ mitglied) erzählt mir, er sei am Anfang so verloren gewesen, dass er hin und wieder sogar zu spät zu Vorlesungen gekommen sei. Er habe nicht nur die Vor‐ lesungssäle nicht gefunden, sondern sei sogar im falschen Gebäude gewesen. Auch sei er bei Verabredungen zum Joggen am Anfang ständig unpünktlich gewesen, weil er den falschen Bus genommen habe oder mit dem Tram in die Gegenrichtung gefahren sei. Vielen sei es so ergangen wie ihm; mit dem „Tram Rally“ wolle man diesen Pannen von Anfang an vorbeugen. Wie sich an diesen Praktiken erkennen lässt, nimmt der Verein in den ersten Wochen des Herbstsemesters eine Rolle ein, die sich für die Mitglieder unter‐ schiedlich auswirkt. Die StudienbeginnerInnen gilt es adäquat zu empfangen. Dazu bietet der Verein Hilfestellungen an, die den „Primini“ den Start in Bern, wo sie sich gerade erst niedergelassen haben und orientieren müssen, erleich‐ tern, und er wirkt den Herausforderungen entgegen, die gemäss seiner Erfah‐ rung mit diesem Wechsel einhergehen. Die STIB verhilft TessinerInnen in grossem Ausmass dazu, auf Italienisch soziales Kapital zu etablieren und auf‐ rechtzuerhalten. Dieses erlaubt es den Vereinsmitgliedern, Beziehungen zu bilden, die zu ihrem persönlichen Erfolg sowie demjenigen im Studium bei‐ tragen können (vgl. Granovetter 1983). Diese Beziehungen lassen sich im viel‐ fältigen Freizeitprogramm vertiefen, wo die Neulinge an Informationen in Ita‐ lienisch gelangen, die im noch ungewohnten Studienalltag in der Deutschschweiz nützlich sein können, und von materiellen Vorteilen profitieren (z. B. Büchern). Für den Verein sind diese zweckmässigen Massnahmen, die mit der Mobili‐ tätssituation der Neuankömmlinge zusammenhängen, auch von institutio‐ nellem Interesse. Sie stabilisieren die Vereinsstruktur, indem „Nachwuchs“ ak‐ quiriert wird, der Ausgetretene - z. B. jene Mitglieder, die nach ihrem Studienabschluss Bern verlassen - ersetzt. Mit dem Beibehalten einer kon‐ stanten Mitgliedschaft sorgt der Verein dafür, dass diese auch zukünftig zur Be‐ wältigung von Herausforderungen in der Mobilitätssituation beiträgt. Indem die STIB der noch frischen Mobilitätserfahrung der „Primini“ begegnet, gewinnt sie jeweils zu Beginn des Herbstsemesters an Stellenwert. Die Mobilität wird zum Element, das auch bisherigen Mitgliedern bekannt ist und ihnen in Erinnerung gerufen wird. Letztere werden von der STIB z. B. an der „Serata Primini“ (bzw. 6.2 Der Tessiner Studierendenverein in Bern und dessen historische Situierung 245 <?page no="246"?> 32 Auch unter erfahrenen Mitgliedern (d. h. solchen, die nicht mehr zu den „Primini“ ge‐ hören) wird dieser Support weitergepflegt, obgleich er nicht institutionalisiert ist. So lausche ich etwa am Karaokeabend einer Konversation zwischen zwei Mitgliedern, die beide Jura studieren. Mauro fragt Marcella, die im Studium weiter fortgeschritten ist als er, nach dem Unterschied zwischen fahrlässiger und vorsätzlicher Tötung. Marcella verdeutlicht diesen anhand von zwei Beispielen, wobei die ganze Erklärung, von juris‐ tischen Begriffen abgesehen, auf Italienisch erfolgt. 33 Vgl. dazu „Pride“ von Duchêne und Heller (2012). bilateralen Treffen) sehr explizit dazu eingeladen, mit den „Primini“ ihre Erfah‐ rungen zu teilen. Während meiner Feldarbeit habe ich eine ausgeprägte Unter‐ stützungskultur insbesondere gegenüber den „Primini“ 32 erlebt. Stolz darauf, die Hindernisse, die der Anfang mit sich bringt, schon hinter sich gebracht zu haben und nicht mehr am Anfang zu stehen, geben erfahrenere Studierende - natürlich auf Italienisch - Ratschläge 33 . Gleichzeitig steht es ihnen zu, sich über die un‐ erfahrenen Neuankömmlinge lustig zu machen und sich auf deren Kosten zu amüsieren. Dies bestätigt sie zusätzlich darin, die Initialphase hinter sich ge‐ lassen zu haben. 6.2.3 Identitäre Verunsicherung - und wie der Verein diese bewältigt oder ihr vorbeugt Wie aus den Interviews mit Studierenden ersichtlich wird, konstruieren Stu‐ dierende über die ersten Wochen hinaus Herausforderungen, mit denen sie sich in ihrer Mobilitätssituation konfrontiert sehen. Die anfänglichen Herausforde‐ rungen sind dank der STIB möglicherweise gemildert oder vielleicht gar be‐ hoben worden und machen neuen Platz. Beispielsweise erzählt Bianca (Neumitglied der STIB ) Filippo (Vorstandsmit‐ glied) und mir an einem der montäglichen Stammtischtreffen, ihr grösstes Problem sei nicht, der in Deutsch gehaltenen Vorlesung zu folgen. Es seien die Pausen, die sie sehr anstrengend finde, dann begännen alle Studierenden sofort in ihrem eigenen Dialekt zu parlieren, und sie habe keine Lust, die Umstehenden ständig daran zu erinnern, dass nicht die ganze Schweiz dieser Geheimsprache mächtig sei. Filippo - er ist seit gut drei Jahren in Bern - erwidert, dass es sowieso besser sei wegzuhören, man wolle schliesslich nicht dieses verschwei‐ zerdeutschte Deutsch annehmen, ansonsten werde man gar für einen Deutsch‐ schweizer gehalten. Dieser Ausschnitt aus einem Stammtischgespräch, das nach der ersten Se‐ mesterhälfte stattfand, ist insofern exemplarisch, als er zeigt, wie innerhalb des Tessiner Studierendenvereins mit Herausforderungen umgegangen wird bzw. welche Ratschläge Neumitgliedern zu deren Bewältigung erteilt werden. Die 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 246 <?page no="247"?> Gefahr, einen falschen Akzent anzunehmen, geht laut Filippo über rein sprach‐ liche Aspekte hinaus. Er befürchtet, dadurch den DeutschschweizerInnen zu‐ geschrieben zu werden, was es nach seiner Auffassung zu vermeiden gilt. Als TessinerIn kenntlich zu bleiben und nicht mit einer / einem DeutschschweizerIn verwechselt zu werden, ist in der Mobilitätsituation in der Deutschschweiz an‐ scheinend wichtig. Der Tessiner Herkunft und der Nichtbeherrschung des Schweizerdeutschen treu bleiben: Darin sehe ich Filippos Ratschlag und Lösung für Bianca; mit dieser Devise kann sie die von ihr beschriebene Herausforde‐ rung, eine sprachliche Schwierigkeit im noch fremden Umfeld, die Filippo auf eine identitäre Ebene transferiert, im Studienalltag bewältigen. Man könnte sich fragen, ob Filippo - in seiner im Verein wichtigen Position - nicht auch ver‐ hindern wolle, Bianca an die DeutschschweizerInnen zu verlieren (falls sie diesen „zu nahe käme“). Eine Analyse jener Anlässe und Situationen, die dann stattfinden bzw. sich ergeben, wenn die „Support-Aktivitäten“ (z. B. „Tram-Rally“) vorüber sind, legt die Deutung nahe, dass die STIB Studierenden wie Bianca bei ihrer Selbstver‐ gewisserung beisteht. Im deutschsprachigen Umfeld, worin sich die Tessiner Studierenden von Studienbeginn an bewegen, wird den Newcomern in der STIB angeraten, Herausforderungen durch den Rückbezug auf das „Eigene“ zu be‐ gegnen. Die STIB wirkt diesen sich alljährlich wiederholenden Herausforde‐ rungen durch Praktiken entgegen, welche die Tessiner Identität stabilisieren. Dieses Festhalten am „Eigenen“ oder an im Verein als Eigenes Definiertem ist besonders wichtig, da die Mobilitätserfahrung Lebensprüfungen und Brüche mit sich bringt (Soulet 2009), welche die Identität ins Wanken bringen können und deren (Neu-)Verhandlung bedingen. Im Verein gelingt es, eine gewisse Si‐ cherheit und Normalität zu schaffen, die der Identitätsvergewisserung dient (Cattacin & Domenig 2012). Identität verstehe ich als relationalen Begriff, dessen „inhaltliche Ausgestaltung erst in Abgrenzung zu anderen Identitätsentwürfen“ gelingt (Skenderovic & Späti 2008: 32). In Anlehnung an Zygmunt Bauman (2004: 16) ist Identität „revealed to us only as something to be invented rather than discovered“. In diesem Sinne ist Identität instabil, veränderlich und unbe‐ ständig. Bei meiner beobachtenden Teilnahme in der STIB wohnte ich einigen Ge‐ sprächen bei, die demjenigen zwischen Bianca und Filippo ähnelten. Entweder greifen erfahrene Vereinsmitglieder wie Filippo individuelle Herausforde‐ rungen, zumal identitäre Verunsicherungen in der Mobilitätssituation, auf, oder das Kollektiv geht sie gemeinsam an und versucht sie zu bewältigen. Ich be‐ obachtete bei etlichen Anlässen, dass in der STIB die Tendenz besteht, Identität situativ zu essentialisieren. Dies geschieht v. a. dadurch, dass anderen Gruppen 6.2 Der Tessiner Studierendenverein in Bern und dessen historische Situierung 247 <?page no="248"?> 34 Dies zeigt, dass in der STIB die Anzahl der Anwesenden stark schwankt. Einer der Teilnehmer bemerkt, dass seine MitbewohnerInnen (drei Mitglieder der STIB) auch gerne gekommen wären, aber in wenigen Wochen Prüfungen hätten. Er habe erst im August Examen und sei deshalb nicht so unter Druck. Ausserdem ist dies einer der wenigen Anlässe, die an einem Wochenende stattfinden, was dazu führt, dass weniger Teilnehmer zugegen sind. Identitäten zugeschrieben werden. Diese werden vereinheitlicht, kenntlich ge‐ macht und mit klaren Grenzen versehen. Zugleich werden so allfällig verunsi‐ cherte Studierende in ihrem Festhalten an der „Tessiner Identität“ bestärkt, oder es wird - wie immer auf Italienisch - an bestimmten Anlässen dieser Verunsi‐ cherung vorgebeugt, wie die folgenden Ausführungen zeigen. Anhand von zwei Anlässen lege ich dar, wie im Kollektiv erstens eine identitäre Definition aus‐ gehandelt wird, die in der Mobilitätssituation insofern nützlich ist, als sie mög‐ lichen Verunsicherungen entgegenwirkt und der Vergewisserung der individu‐ ellen Identität dient. Diese kollektive und homogene Identität im Verein, die auf dem Hintergrund der Mobilität entsteht, macht zweitens gewisse institutionelle Praktiken erst möglich. Im Frühlingssemester 2012 lädt die STIB ihre Mitglieder zu einem Ausflug nach Bigenthal ein. Dort findet das „Emmentalische Schwingfest“ statt. Das Schwingen ist ein v. a. in ländlichen Gegenden der Deutschschweiz verbreiteter Kampfsport. Dieser ähnelt dem auch in anderen Ländern praktizierten Ringen, wird jedoch auf einer kreisförmigen, mit Sägemehl gepolsterten Fläche im Freien ausgetragen. Er ist eng mit brauchtümlichen Elementen verknüpft (Treichler 2010). So finden sich u. a. Jodelchöre in Tracht und Alphornbläser am Schwinget. Die Einladung der STIB an ihre Mitglieder enthält neben Organisatorischem (Datum, Abfahrtszeit ab Bern etc.) folgendes Statement, das für den Anlass wirbt: E poi diciamocelo.. siamo in Svizzera.. almeno una volta nella vita BI‐ SOGNA vederla! ! ; ) (Und seien wir ehrlich.. wir sind in der Schweiz.. mindestens ein Mal im Leben MUSS man das gesehen haben! ! ; )) Der Hinweis auf die Schweiz, also ein grösseres Ganzes, von dem auch die STIB Teil ist, und darauf, dass es sozusagen Pflicht ist, einmal an einem Schwinget gewesen zu sein, ver‐ leihen der Einladung Nachdruck. Etwa 15 Mitglieder 34 der STIB nehmen die Einladung wahr. Nach der ge‐ meinsamen Zugfahrt nach Bigenthal treffen wir beim Festgelände ein, wo Giulia - sie ist Vorstandsmitglied und trägt die organisatorische Verantwor‐ tung - unter den Anwesenden Tickets verteilt. (Sowohl die Kosten fürs Zugti‐ cket als auch die für den Eintritt werden vom Verein übernommen.). Am Eingang kontrolliert ein kräftiger Mann in Tracht die Tickets. In stark schweizerdeutsch 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 248 <?page no="249"?> gefärbtem Standarddeutsch begrüsst er die Gruppe und fragt nach deren Her‐ kunft. Giulia erklärt ihm, sie seien Tessiner. Bereits beim Eintritt werden die TessinerInnen als sprachlich anders erkannt. Dem ist anzufügen, dass der gesamte Schwinget - etwa Durchsagen, wann wer gegen wen auf welchem Kampfplatz anzutreten habe - auf Berndeutsch durch‐ geführt wird. Nur die Drucksachen (z. B. Eintrittskarte) sind in Standarddeutsch verfasst. Reaktionen wie diejenige des Manns am Eingang sind häufig, wenn die STIB sich an einen Ort begibt, der von DeutschschweizerInnen dominiert wird. Erst dank der Präsenz an solchen Orten wird der Verein von aussen wahrge‐ nommen, was zu dessen vereinsinterner Festigung beiträgt. Auch motivieren solche Begegnungen mit Nicht-TessinerInnen dazu, die Diglossie zu diskutieren. So äussert Giulia kurz nach dem Austausch mit dem Festkassierer, man könne von den TessinerInnen ja wirklich nicht verlangen, dass sie anständig Deutsch lernen würden, wenn sie Vorbilder wie den Mann hätten, dem sie, die Tessiner Gruppe, soeben begegnet sei. Der könne ja kaum Hochdeutsch. Normative Sprachideologien prägen Giulias Statement und bringen zum Ausdruck, dass das Standarddeutsch des Ticket-Kontrolleurs ihrer Normvorstellung nicht ge‐ recht wird. Während einiger Minuten stehen die Vereinsmitglieder nahe beim Kampf‐ platz und lauschen dem Gesang eines Jodelchors. Sonst aber zeigen sie sich dem Schwinget gegenüber desinteressiert. Die Gruppe verbringt den Nachmittag ganz am Rand des Geschehens im Gras, von wo man den Kampfplatz kaum noch sieht und nur hin und wieder berndeutsche Durchsagen herüberscheppern. Die Gesprächsthemen orientieren sich an Erlebnissen aus der Mittelschulzeit im Tessin - etwa werden Sportwochen des Gymnasiums verglichen -, am „Tessiner Leben“, das parallel zur territorialen Einbettung in Bern weiterläuft - es wird z. B. ein Konzert besprochen, das vor kurzer Zeit in einem Lokal im Tessin statt‐ gefunden hat -, oder am studentischen Alltag - z. B. wird darüber geredet, wie viel Vorbereitung man für welche Prüfung benötige. Ist der Schwinget Thema, werden ihm Merkmale wie „merkwürdig“ und „primitiv“ zugeschrieben. Weiter werden die DeutschschweizerInnen, die am besuchten Anlass die Mehrheit aus‐ machen, grundsätzlich als „anders“ definiert. Die Vereinsmitglieder diskutieren etwa deren übertriebene Formalität (tägliches Händeschütteln unter Studie‐ renden, Verwendung des Wortes Universität statt des ihnen zufolge informel‐ leren „Scuola“ etc.). Diese Verhandlung über das „Andersartige“ zeigt gleich‐ zeitig, was die STIB als „Norm“ definiert, und trägt zu deren Festigung in Abgrenzung zu den DeutschschweizerInnen bei. Als der Schwingerkönig (so lautet die Bezeichnung für den Sieger) feststeht und der Schwinget sich dem Ende neigt, sammeln sich - trotz des den ganzen 6.2 Der Tessiner Studierendenverein in Bern und dessen historische Situierung 249 <?page no="250"?> 35 Wie so oft in der STIB kommen auch hier die von Irvine und Gal (2000) beschriebenen Prozesse vor, die sie den Sprachideologien zuschreiben. Simone schliesst von den Schwingern auf die DeutschschweizerInnen („iconization“) und fasst diese als homo‐ gene Mehrheit zusammen („erasure“) (vgl. dazu Kapitel 2). Nachmittag schon fast zelebrierten Desinteresses - die Mitglieder der STIB in einem der nun ungenutzten Sägemehlkreise und machen einige Gruppenfotos. Beat schlägt vor, bei einem der Fotos die Schwinger zu imitieren, und versucht, eine möglichst ernste und furchteinflössende Mimik aufzusetzen. Simone tut es ihm gleich und bemerkt, dass das sehr anstrengend sein müsse, als Deutsch‐ schweizer ständig so dreinzuschauen 35 . Alle lachen. Die Fotos - sie werden später auf der Homepage der STIB zu finden sein - halten fest, dass man da war, teilgenommen und sich diesen Wettkampf angesehen hat. Sie haben also neben der Funktion, die Tätigkeit der STIB zu dokumentieren, Beweischarakter. Von der Einladung bis zum besuchten Anlass geht es für die TessinerInnen darum, die authentische Deutschschweiz zu beschnuppern, in der sie sich zwecks des Studiums aufhalten, wobei sie unter sich bleiben und Distanz wahren. Sie sind gleichsprachige, aus derselben Region stammende Studierende mit einer vergleichbaren Geschichte und erkunden als Verein in der Fremde (Bern) diese Fremde (Levitt 2003; Snel et al. 2006). Dabei stellen sie fest, dass die Fremde eben fremd ist und von dem, was im Verein als „normal“ gilt, abweicht. Dies gilt für die Menschen, die Sprache und die Praktiken, denen sie begegnen. Interessanterweise sucht sich die STIB nicht irgendeinen Deutschschweizer Anlass, sondern den Schwinget aus und besucht diesen mit ihren Mitgliedern. Anhand dieses Anlasses mit seinen Traditionen - auch für einige Deutsch‐ schweizerInnen mag er befremdlich sein (ich war vor dieser ethnographisch bedingten Erfahrung noch nie am Emmentalischen Schwingfest gewesen) - ra‐ dikalisiert und homogenisiert der Verein seine identitären Referenzsysteme, wodurch allfällige individuelle Identitätsverunsicherungen behoben werden bzw. die Identität innerhalb des Vereins gefestigt wird. In lockerer Umgebung gelingt es unter Menschen, mit denen man Gemeinsamkeiten - d. h. mehrere Aspekte der sozialen Identität - teilt, Gemeinsamkeiten, die man situativ kon‐ struiert, in den Vordergrund rückt oder gar zelebriert, sich seiner Identität in der Fremde zu vergewissern (vgl. Pujolar 2008). Die STIB wird zu einem Raum, in dem Stigmatisierung, die mit der Mobilitätssituation einhergehen kann, um‐ gekehrt wird (Goffman 1963). D.h., dass Fremdheitserfahrungen nicht nur ver‐ ständlich gemacht werden, sondern über die Gruppe normalisiert und „entin‐ dividualisiert“ werden. Fühlt man sich unwohl, werden die Gründe dafür nicht mehr nur bei sich, sondern bei den anderen gesucht, was sich zusätzlich bestär‐ kend auf das Kollektiv, die darin gesprochene Sprache und Kultur auswirkt. 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 250 <?page no="251"?> 36 Die Abkürzungen für die im Ausschnitt vorkommenden Vorstandsmitglieder stehen für: VPR: Vizepräsident; PRE: Präsidentin; VM1-4: Vorstandsmitglied 1-4. Dazu gehört etwa: Sprachliche Unsicherheiten, mit denen man in der Mobili‐ tätssituation zu Beginn allenfalls zu kämpfen hat, werden damit erklärt, dass die Fremden nicht so sprechen, dass man von ihnen profitieren könnte / möchte oder dass Praktiken, die man nicht gewohnt ist, als nicht-norm-konform ge‐ deutet werden. An einem anderen Anlass - dem Tessiner Fest - wird ersichtlich, wie die identitären Definitionen, die im Verein ausgehandelt werden und zur Bewälti‐ gung identitärer Verunsicherungen beitragen, dazu dienen, sich als Verein in der Mobilitätssituation den DeutschschweizerInnen gegenüber zu positio‐ nieren, von ihnen abzugrenzen und finanziell zu profitieren. Erst durch die Kommodifizierung der Tessiner Identität gelingt es, die nötigen Mittel zu haben, auch zukünftige Newcomer beim Bewältigen ihrer Herausforderungen zu un‐ terstützen. In der Eventreihe der STIB sind die Tessiner Feste besonders wichtig; ein kleineres findet im Herbst-, ein grösseres im Frühlingssemester statt. Nicht wie bei anderen exklusiv für Tessiner Studierende konzipierten Anlässen sind dabei auch Deutschschweizer Studierende und Nicht-Studierende willkommen (vgl. Zimmermann 2014). Jenen wird vorwiegend eine ökonomische Rolle zuge‐ schrieben. Von ihrer Anwesenheit erhofft sich die STIB , die Vereinskasse zu speisen (Eintritte und Getränkekonsum). Die Vorbereitung eines dieser Feste findet an einer Vorstandssitzung statt. In diesem Rahmen wird ersichtlich, wie die Anwesenden 36 versuchen, die Bedürfnisse der TessinerInnen und der DeutschschweizerInnen zu konstruieren und ihnen gerecht zu werden. 6.2 Der Tessiner Studierendenverein in Bern und dessen historische Situierung 251 <?page no="252"?> 37 Etliche Bezeichnungen für die DeutschschweizerInnen sind in der STIB gebräuchlich. Dazu gehören „Zucchini“ wie auch „Dobermann“. Woher der Begriff „Zucchini“ kommt, weiss ich nicht. „Dobermann“ geht - gemäss einem Mitglied der STIB - auf die deutsche Hunderasse zurück, mit welcher man eine gewisse „Kaltschnäuzigkeit“ und „Strenge“ assoziiert, die auch den DeutschschweizerInnen eigen sei. Die Erklärung wird mir ge‐ genüber mit „lo diciamo per scherzare“ (wir sagen das im Scherz) abgeschwächt. 38 Bei einer Toga-Party - einem beliebten Thema für Motto-Partys - tragen die Partygäste nach römischem Vorbild eine Toga und Sandalen. VPR: poi filippo direbbe proporrebbe gruppi ticinesi più che svizzeri tedeschi siccome la festa è ticinese e filippo invece per la festa a tema dipende dal tema che si propone\ la sua opinione dipende dal tema che si propone perché per gli zucchini non è gettonatissima quindi sarebbe meglio fare un tema sciallo di modo che se qualcuno non si veste non è un problema VPR: dann filippo würde sagen er würde tessiner bands vorschlagen eher als schweizerdeutsche da es ja ein tessiner fest ist und punkto mottoparty findet filippo es hänge vom thema ab das vorgeschlagen wird\ seiner meinung nach hängt es vom vorgeschlagenen thema ab weil bei den zucchini 37 ist das nicht sooo gefragt folglich wäre es besser ein offenes thema zu wählen damit es kein problem ist wenn jemand sich nicht verkleidet VM1: mhm VM1: mhm PRE: sì PRE: ja VPR: perché è vero gli svizzeri tedeschi non hanno l’usanza di farlo alla fine noi in ticino ne facciamo sempre quindi per noi è diverso cioè VPR: weil es ist wahr die deutschschweizer sind es schliesslich nicht gewohnt wir im tessin machen das immer für uns ist es somit anders also VM2: ah tedeschi VM2: ah die deutschen VM4: doberman ((ride)) VM4: doberman ((lacht)) VPR: eh sì noi con . ma parti solo con il toga party c’è una discoteca che ha il toga party ci sono su mille persone ce ne sono . cento non vestite e da noi invece eh su mille ce ne sarebbero cento vestite . eh poi eh VPR: nun ja wir mit . aber du machst bloss eine toga party 38 es gibt eine diskothek die eine toga party veranstaltet da sind von tausend personen . hundert nicht verkleidet und bei uns hingegen mhm wären von tausend hundert verkleidet . mhm dann mhm 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 252 <?page no="253"?> VM3: da noi cos& VM3: bei uns was& PRE: il contrario sì PRE: das gegenteil ja Ausschnitt 31: Die Party für sie und uns, November 2011, Vorstandssitzung Bern In diesem Ausschnitt wird Filippos Meinung, wie zukünftige Partys auszusehen hätten - er ist ebenfalls im Vorstand, kann aber an der Sitzung nicht teil‐ nehmen - vom Vizepräsidenten kundgetan. Sein Vorschlag findet unter den Vorstandsmitgliedern Zustimmung. Er wird insbesondere vom Vizepräsidenten und der Präsidentin begrüsst, die im Komitee einen hohen Status geniessen. Tessiner Bands sollen den Anlass musikalisch umrahmen - die Präsidentin be‐ merkt wenig später, dass es wichtig sei, die Tessiner Kultur nicht zu ver‐ gessen -, die Tessiner sollten sich verkleiden dürfen, aber es solle keine Motto-Party im strengen Sinne sein, bei der das Maskieren Pflicht sei (vgl. Wi‐ cker 1998). Die Tessiner werden als Einheit erfasst, die Party-Gewohnheiten teilen. Auch die Deutschschweizer werden als homogen wahrgenommen, wobei man sich von ihnen - über den Gebrauch verschiedener Bezeichnungen (doberman, zucchini) - distanziert. Diese Distanzierung über sprachliche Merkmale in‐ terpretiere ich als „acts of identity“ (Le Page & Tabouret-Keller 1985). Trotz dieser identitären Zuschreibungen und der klaren Haltung gegenüber den DeutschschweizerInnen greifen die TessinerInnen die diesen zugeschriebenen Bedürfnisse auf. Schliesslich geht es darum, eine Tessiner Party zu veranstalten, an der die DeutschschweizerInnen - sie stellen in Bern die Mehrheit dar und sind somit die ökonomisch interessanteste Gruppe - teilnehmen. Dabei soll die „Ticinità“ sicht-, hör- und somit „kommodifizierbar“ sein. Die „kleinere“ Tessiner Party, die im Herbst 2011 stattgefunden hatte - also vor derjenigen, die an der Vorstandssitzung besprochen wurde - war ebenfalls Teil meiner ethnographischen Arbeit. Im Vorfeld war für diese Party fleissig geworben worden: per Mail, auf der Homepage, mit Flyern und Plakaten, an der Universität und an von Studierenden stark frequentierten Orten in der Stadt Bern. Die Plakate und Flyer waren in Rot und Blau - den Farben des Tessiner Kantonswappens - gehalten und trugen die gelbe Überschrift: „ FESTA TICI‐ NESE “. Informationen wie Datum, Ort, Zeit und Eintrittspreis waren gut sichtbar auf Deutsch vermerkt. Auf Englisch stand in leuchtendem Orange auf blauem Hintergrund in einer wurzelhaft anmutenden Schrift „ HALLO‐ WEEN - PARTY “ und darunter „ LET’S GET DRESSED UP “. Verschiedene Sym‐ bole, die mit Halloween assoziiert werden, zierten den Flyer. Dazu gehörten Kürbisse, eine Hexe auf dem Besen, Fledermäuse und ein Spinnennetz. Zudem 6.2 Der Tessiner Studierendenverein in Bern und dessen historische Situierung 253 <?page no="254"?> waren in der Fusszeile des Flyers verschiedene Logos aufgeführt, die der Orga‐ nisatoren ( STIB und des Veranstaltungsorts) und die einiger Sponsoren. Während sich bei meiner ethnographischen Arbeit bei der STIB (von münd‐ lichen Ansagen über Druckmaterial bis zum Stammtischtreffen) bisher Italie‐ nisch als einzige legitime Sprache erwiesen hatte, war die soeben beschriebene Einladung vorwiegend auf Deutsch und Englisch verfasst. Diese beiden Spra‐ chen dominierten nicht nur, ihr Status wurde auch typografisch betont (Schrift‐ grösse, -stärke, -farbe, Position des Texts auf dem Flyer). Die Einladung warb vor allem um die Aufmerksamkeit von Deutschsprachigen in Bern, vermittelte ihnen aber dennoch, dass es sich um ein von TessinerInnen organisiertes Fest handle, an dem das v. a. im angelsächsischen Raum verbreitete Halloween ge‐ feiert werde. An dieser Party halfen einige TessinerInnen an der Bar, viele andere nahmen zusammen mit den DeutschschweizerInnen am Anlass teil. Im geräumigen Club, der dem Motto Halloween entsprechend dekoriert war - Spinnweben, Skelette, Schädel und Knochen aus Plastik, Kürbisse, Hexenhüte etc. hingen von der Decke herunter, lagen auf Stehtischen etc. -, warfen farbige Schweinwerfer Licht auf eine grosse, von einigen Tresen gerahmte Tanzfläche. Die Studie‐ renden zirkulierten zwischen der Bar und der Tanzfläche. Die Musik dröhnte so laut, dass kaum ein Gespräch möglich war. Im Club wurde nicht sichtbar, dass es sich um eine Tessiner Party handelte. Allerdings wurden hin und wieder italienischsprachige Hits gespielt, wobei die Tessiner Studierenden - die meisten waren mir aus der STIB bekannt; ich hatte jedoch bei einigen wegen ihrer Ver‐ kleidung Mühe, sie zu identifizieren - lauthals mitsangen, während die mehr‐ heitlich mit nur wenigen Halloween-Accessoires ausstaffierten Deutschschwei‐ zerInnen sich dem Tanzen widmeten. Ich fragte mich, was Deutschschweizer Studierende dazu bewege, den Samstagabend an einer Halloween-Party zu ver‐ bringen, die sich, abgesehen von den erwähnten italienischen Hits, von anderen Halloween-Partys nicht unterscheide. Eine Studentin, die ich beim Schlange‐ stehen am Eingang angetroffen hatte, hatte mir erklärt, sie studiere mit Tessi‐ nerInnen, und deren Partys seien legendär. Diese Aussage habe ich schon mehr‐ fach von DeutschschweizerInnen gehört, wenn über Studentenpartys gesprochen und diese evaluiert wurden. Die ausgelassene Stimmung scheint an eine gewisse „Ticinità“ gebunden zu sein. Auch Mitglieder der STIB haben mir im Vorfeld ihres Festes schon gesagt, dass ihre Partys einfach die besten seien. In dieser Äusserung spiegeln sich die erwähnten ökonomischen Interessen. Es geht den STIB -Mitgliedern aber zugleich darum, die eigene „Ticinità“ in Bern zu zelebrieren (vgl. mit „Pride“ Duchêne & Heller 2012) und sie wie auch sich selbst in der fremden Umgebung territorial einzubetten. 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 254 <?page no="255"?> 39 Dieser Begriff geht auf Max Weber zurück (vgl. dazu Lichtblau 2000). An der geplanten Party - die Evaluation des vorausgehenden Fests ist in der Planungsdiskussion erkennbar -, an der DeutschschweizerInnen als Eintritt‐ zahlende und Konsumierende willkommen sind -, soll mit dem Beschluss, eine Tessiner Band zu engagieren, der kulturelle Aspekt stärker hervorgehoben werden. Man erhofft sich davon, sowohl DeutschschweizerInnen als auch Tes‐ sinerInnen anzuziehen. Die Verkleidung (als Teil einer vermeintlich ausschliess‐ lich Tessinerischen Partykultur) bleibt jedoch fakultativ - die Deutschschwei‐ zerInnen könnten ansonsten fernbleiben oder nicht in genügender Zahl erscheinen. Nach der Abrechnung der Halloween-Party im Herbst - von ihr hatte man sich höhere Einnahmen versprochen - wird die recht strenge Auf‐ forderung, sich zu verkleiden, als abschreckend interpretiert. Im Frühlingssemester, zum Zeitpunkt der grösseren Party, sind individuelle identitäre Verunsicherungen behoben, denen die „Primini“ am Anfang ihrer Mobilitätsituation begegnet sind. Dazu tragen die klaren identitären Zuschrei‐ bungen bei, welche im Verein bis dann etabliert worden sind. An der Tessiner Party kann die Tessiner Identität, die vom Vorstand geprägt wird, gelebt und zelebriert werden. Ausserdem gelingt es der STIB , ihre fassbare, homogenisierte Tessiner Identität gegenüber DeutschschweizerInnen zu vertreten und für diese konsumierbar zu machen. Auch diese hat der Verein inzwischen genauer defi‐ niert und ihre homogenisierten Vorlieben zu erfassen versucht. Füllen die DeutschschweizerInnen den von der STIB gemieteten und bespielten Club, so speisen sie die Vereinskasse. Damit ist garantiert, dass auch zukünftige New‐ comer und erfahrene Mitglieder beim Bewältigen ihrer Herausforderungen wei‐ terhin unterstützt werden können. Der Gewinn der Party wirkt sich direkt da‐ rauf aus, dass der Verein seinen Mitgliedern kostenlos oder zu reduziertem Preis Unterstützung (z. B. Tram-Rally), Verpflegung (z. B. Freibier) oder Unterhaltung (z. B. Karaoke-Abend) anzubieten vermag. Darüber hinaus trägt die stabilisierte Identität im Verein dazu bei, dass die „Primini“ nach den Sommerferien von einer Mitgliedschaft empfangen werden, die ihnen in ihrer anfänglichen Verunsiche‐ rung beistehen kann. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass im Alltag der TessinerInnen im Rahmen unterschiedlicher Anlässe eine Identitätsreduktion stattfindet. So ge‐ lingt es etwa, an „tessinerischen“ Anlässen, bei denen die STIB nicht nach aussen tritt, vereinsintern eine homogene Identität zu kreieren, die zur Vergemein‐ schaftung 39 unter Vereinsmitgliedern führt. Anlässe wie der Schwinget hin‐ gegen, die mit der lokalen Umgebung zusammenhängen, gewähren dem Verein Visibilität nach aussen und ermöglichen es, sich gegen aussen abzugrenzen und 6.2 Der Tessiner Studierendenverein in Bern und dessen historische Situierung 255 <?page no="256"?> somit die eigene Identität in der Mobilitätssituation zu festigen. Ferner dient die Definition einer homogenen Identität der DeutschschweizerInnen dazu, sich von diesen zu distanzieren. Schliesslich nimmt bei der Tessiner Party die Tole‐ ranz gegenüber vormals unanfechtbaren identitären Gesetzmässigkeiten situ‐ ativ zu (Blommaert & Verschueren 1998). Diese Toleranz hängt mit der ökono‐ mischen Abhängigkeit von den DeutschschweizerInnen zusammen. Erst dank einem möglichst grossen finanziellen Gewinn, der bei den Partys erwirtschaftet wird, wird es der STIB möglich, ihr Programm, das auf die Herausforderungen antwortet, denen die Tessiner Studierenden ausgesetzt sind, aufrechtzuerhalten. In diesem Sinne spiegeln sich die individuellen Herausforderungen der mobilen Studierenden in den Praktiken der Institution wider. 6.2.4 Stabilisierende Beziehungen inner- und ausserhalb des Vereins Mit ihren zahlreichen Anlässen, welche die STIB während der beiden Semester durchführt, bietet sie all jenen Studierenden, die sich aufgrund ihres Wechsels nach Bern sozial verloren fühlen, einen Raum, der ihnen in der von dieser Ver‐ änderung geprägten Situation Stabilität gewährt. Darin können - ohne sprach‐ lich herausgefordert zu sein - Freundschaften entwickelt und konsolidiert werden, die im Alltag in der anderssprachigen Umgebung emotionalen und so‐ zialen Halt geben. Diese gehen über das soziale Kapital hinaus, welche die STIB den „Primini“ zu Beginn anbietet. Gewisse Mitglieder des Vereins haben Freun‐ deskreise gebildet. Das ist an Anlässen Ende des Frühlingssemesters, die sozu‐ sagen ohne unterhaltendes Programm auskommen, bemerkbar. Zu diesem Zeit‐ punkt ist das Noviziat der „Primini“ beendet und die Vereinsidentität gefestigt. Einer der letzten Anlässe im Vereinsjahr (und zugleich im Frühlingssemester) ist die „Grigliata“ (die Grillade), die an einem Mittwochabend am Ufer der Aare in Bern durchgeführt wird. Etwa 60 Mitglieder stehen um einen langen, weissen, auf dem Boden liegenden Papierstreifen herum, auf dem mit Salat und Chips gefüllte Schüsseln, Pappgeschirr, Servietten und Getränke platziert sind. Die Studierenden diskutieren in Grüppchen bei Speis und Trank. Es wird über die gemeinsam verbrachten Osterferien in Prag geplaudert, es werden Menüs von genossenen oder anstehenden Abendessen abgewogen und es wird besprochen, wer für die Zugfahrten ins und aus dem Tessin welchen Reiseproviant beschaffe. Auch die nahende Sommerpause ist Thema, einige Mitglieder der STIB - da‐ runter einige Pärchen - wollen zusammen verreisen. Die zahlreichen Beziehungen, die nicht nur im Rahmen der Anlässe der STIB gepflegt werden, fallen bei der Grillade im räumlich wenig vorstrukturierten 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 256 <?page no="257"?> 40 Ganz anders bei einem Kinoabend im Berner Universitätsgebäude. Da ist mit dem un‐ verrückbaren Mobiliar das Sitzen in Reihen bereits vorgegeben. Dabei fällt zwar auf, wer zusammensitzt, dies ist aber nicht zwingend Ausdruck einer freundschaftlichen Beziehung. In solchen Settings spielt z. B. auch eine Rolle, wer wann eintrifft, wie viele Plätze in einer Reihe schon besetzt sind. 41 Dies erklärt auch, dass einzelne der im Frühlingssemester interviewten Studienbegin‐ nerInnen den institutionellen Aspekt des Vereins gar nicht mehr erkannten (vgl. Ka‐ pitel 5). Man verbringt seine Freizeit mit Vereinsmitgliedern, die mit der Zeit nicht mehr als solche wahrgenommen werden. Sie sind zu FreundInnen geworden. 42 Die 60 anwesenden Personen machen zwar einen beachtlichen Anteil der Mitglieder der STIB aus. Dennoch blieben etliche Mitglieder der Grillade fern. Über die Gründe ihre Abwesenheit kann nur spekuliert werden. Gestützt auf meine regelmässige Teil‐ nahme an den Anlässen, nehme ich aber an, dass nicht alle Mitglieder, die ihren Jah‐ resbeitrag im September bezahlt haben, aktiv sind. So kann es sein, dass jemand sich gegen die Teilnahme entscheidet, weil sie / er keiner dieser freundschaftlichen Forma‐ tionen angehört, die sich im Laufe des Jahrs / der Jahre gebildet haben. Setting auf 40 . Das von der STIB organisierte Freizeitprogramm wird durch et‐ liche Treffen und Unternehmungen in Kleingrüppchen und Duos ergänzt. Der Verein, in dessen Rahmen man auf Italienisch kommunizieren und sich der ei‐ genen Identität vergewissern kann, ist zwar nach wie vor eine Institution. Sein Fundament aber sind Freundschaften, die sich übers Jahr (bzw. über die Jahre) gebildet haben. 41 Individuelle Freundschaften und Liebschaften, die erst dank dem Verein entstanden sind, tragen zur Stärkung und Aufrechterhaltung des‐ selben bei (vgl. Cattacin & Domenig 2014). 42 In solch persönlichen Beziehungen werden kleine Liebenswürdigkeiten wie etwa das Korrigieren eines auf Deutsch geschriebenen Briefs, das Zuspielen eines Sommerjobs im Tessin oder die Teil‐ nahme an einer Umfrage bei einer Datenerhebung für die bevorstehende Ba‐ chelorarbeit zur Selbstverständlichkeit unter „FreundInnen“. 6.2.5 Zwischenüberlegungen Die Beschäftigung mit einer der Strategien - dem Sich-Vereinigen von Studier‐ enden gleicher geographischer, sprachlicher und kultureller Herkunft - zeigt, wie bedeutend diese Strategie für diese ist. Das im Studierendenverein allen gemeinsame „Aus-dem-Tessin-Herkommen“ birgt die allen gemeinsame, mit dem Studium verbundene Mobilität und somit Herausforderungen, die in der fremden Umgebung zu bewältigen sind. Die STIB definiert ihre Praktiken über diese Herausforderungen, bietet jungen Menschen aus dem Tessin, die in Bern studieren und sich auf Italienisch im geschaffenen sozialen Raum eingliedern, Unterstützung und schafft gemeinsame Orientierungspunkte. 6.2 Der Tessiner Studierendenverein in Bern und dessen historische Situierung 257 <?page no="258"?> Im Verein gelingt es, gemeinsam einen Link zur Herkunftsregion aufrecht‐ zuerhalten und eine regionale Kultur zu zelebrieren, ohne physisch dort zu sein. Auch werden die Herausforderungen, denen man in der Mobilitätssituation be‐ gegnet, im vorwiegend monolingualen (italienischen) und sozialen Raum durch gegenseitige Unterstützung abgefedert. Dieser Support basiert auf einem Kreis‐ lauf, in dem Mitglieder mit unterschiedlichem Status verschiedene Rollen über‐ nehmen, die sich Jahr für Jahr reproduzieren. Damit bleibt dem Verein in Bern die Unterstützung über einen längeren Zeitraum hinweg erhalten, und es gelingt ihm, die Anzahl Mitglieder und das soziale Kapital zu bewahren. Dieser Kreislauf schliesst mit ein, dass Neuankömmlinge aufsteigen, sobald sie das erste Jahr hinter sich haben. In der Regel ist mit dem Statuswechsel im Verein auch der Erfolg an der Universität zu verzeichnen. Das Grundjahr - die als am heraus‐ forderndsten verhandelte Periode - ist überstanden. Wechselt jemand das Fach oder wiederholt er das Grundjahr, sitzt er - der schon Ortskundige - zwar mit Newcomern in denselben Vorlesungen. Aber im Tessiner Verein hat er den No‐ vizen-Status hinter sich gelassen. Scheitert jemand hingegen und ist gezwungen abzubrechen, ist dies mit der Rückkehr ins Tessin verbunden, was den still‐ schweigenden Austritt aus dem Verein zur Folge hat. In diesem Sinne basiert der Kreislauf innerhalb des Vereins auf denjenigen, die im Studium erfolgreich sind und dank ihrem Erfolg dem Netzwerk Stabilität verleihen. Anhand der Analyse der im Verein beobachteten Situationen und des Pro‐ gramms, das dieser seinen Mitgliedern im Herbst- und Frühlingssemester bietet, wird ersichtlich, welche Rolle den Vereinsmitgliedern und dem Verein wann zukommt und mit welchen Herausforderungen diejenigen, die einst selbst in der noch ungewohnten Mobilitätssituation waren und jetzt das Vereinsprogramm zusammenstellen, wann rechnen. Auch wird in dieser Analyse ersichtlich, wie in diesem sozialen Raum, der sich über die alle verbindende Mobilitätssituation definiert, die Mobilität sich in den Vereinspraktiken reflektiert und den Verein und seine Struktur prägt. Den anfänglichen Herausforderungen, die mit der Mobilität assoziiert werden, begegnet der Verein (mithilfe seiner bisherigen Mitglieder) mit entge‐ genwirkenden Massnahmen. Darauf folgt eine Periode, in der die möglicher‐ weise destabilisierte Identität im Zusammenschluss gefestigt wird, was zu es‐ sentialisierenden Praktiken führt, denen Identitätsentwürfe der TessinerInnen wie auch der DeutschschweizerInnen in der universitären Umgebung zugrunde liegen. Erst durch das Schaffen separierender Identitätsentwürfe gelingt es, die vereinsinterne Hilfe zur Bewältigung der in der Mobilitätssituation angetrof‐ fenen Herausforderungen längerfristig aufrechtzuerhalten. Eine vorüberge‐ hende Öffnung des Kollektivs, ja sogar eine der Forderung der Vereinskasse 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 258 <?page no="259"?> gehorchende Akkomodation an das Zielpublikum - nämlich die Deutschschwei‐ zerInnen -, dient dazu, die Sprache einerseits und die regionalen Komponenten andererseits zu kommodifizieren (Heller 2003, 2010). Diese Kommodifizierung ist aber nur deshalb möglich, weil den Sprachregionen gewisse stereotype Cha‐ rakteristika nachgesagt werden, welche die von dort Herkommenden verkör‐ pern. Wenn die Studierenden mit ihrer Mobilität eine gewisse „Ticinità“, die sie im Verein definieren, zementieren und zelebrieren, in die Deutschschweiz trans‐ ferieren, trägt dies dazu bei, das gewünschte Publikum anzuziehen. Ferner sind in der letzten Periode des Vereinsjahrs Freundschaften und Liebschaften etab‐ liert, die auch unabhängig von der institutionellen Komponente funktionieren und so zur institutionellen Stabilität beitragen. 6.3 Abschliessende Bemerkungen Abschliessend sei festzuhalten, dass die studentischen Herausforderungen, die mit der Mobilität verbunden werden, und deren Bewältigung im Zusammen‐ hang mit den historischen, sprach-politischen und politisch-ökonomischen Be‐ dingungen betrachtet werden müssen. Erst so gelingt es, die studentischen Dis‐ kurse und Praktiken zu verstehen. Das Schweizer Territorialitätsprinzip, die damit verbundene Sprachpolitik und politisch-ökonomische Bedingungen wi‐ derspiegeln sich in der Mobilität der TessinerInnen, die seit jeher zwecks hö‐ herer Bildung in die Deutschschweiz wandern, in den Herausforderungen, die die TessinerInnen im Zusammenhang mit ihrem Wechsel in die Deutschschweiz konstruieren, und in den Praktiken im studentischen Zusammenschluss, die der Bewältigung dieser Herausforderungen dienen. Im Bildungssystem, das nach lokalpolitischen Regelungen funktioniert, wird eine sprachliche Hierarchie reproduziert. Mit dem Definieren einer Sprache, die als Norm (z. B. Amts-, Unterrichtssprache) gilt, geht auch das Definieren dessen einher, was nicht dieser Norm entspricht. SprecherInnen, die der Sprache der Norm zuordenbar sind, gelten als „normal“ oder „unmarked“. SprecherInnen hingegen, die der zweiten Kategorie zuzuschreiben sind, bekommen zu spüren, dass ihre Sprachproduktion nicht dieser lokalen Norm entspricht. Diesem Normverständnis liegt ein Sprechermodell zugrunde, das sich am „nativen“ Sprecher orientiert (vgl. Pennycook 2012). Dieser Terminus impliziert, dass wir in Sprachen hineingeboren werden, dass unsere Sprachkompetenzen weder von Klasse oder Bildung abhängen, dass Sprachen separate Einheiten sind, denen wir als „natives“ oder „non-natives“ zugehörig sind. Diese Vorstellung bringt eine „Wir-versus-sie-Unterteilung“ der sprachlichen Umgebung mit sich, in 6.3 Abschliessende Bemerkungen 259 <?page no="260"?> welcher „natives“ und „non-natives“ einer Sprache so verhandelt werden, als würden sie sich gegenseitig ausschliessen und als liessen sie sich fraglos iden‐ tifizierbaren Gruppen zuteilen. Diese Unterscheidung zwischen „wir“ und „sie“ prägt das Bildungssystem, die Schule als Ort der Reproduktion (vgl. Bourdieu 1971). Das Deutsche als Sprache der universitären Lehre in der Deutschschweiz und dessen ökonomisch privilegierter Status bringen auch die Reproduktion von Ungleichheiten mit sich. Anderen Sprachen - z. B. dem Italienischen - wird lokal nicht dieser hohe Status zugeschrieben, was sich auf die SprecherInnen des Italienischen und deren Situation an der Universität auswirkt. In den mehrheitlich monolingualen Angeboten (auf Deutsch) werden die Tessiner Studierenden als „non-natives“ rezipiert und sind gefordert. Mit der Neugründung der ersten Bildungsinstitution in der italienischspra‐ chigen Schweiz in den 90er-Jahren erhielten die TessinerInnen die Möglichkeit, in der Region zu bleiben, in welcher sie ihre Studienreife erlangt hatten, und ein Studium auf Italienisch in Angriff zu nehmen. Die Mehrheit der MaturandInnen bevorzugt aber nach wie vor eine Ausbildung in der Deutsch- oder Westschweiz und nimmt dabei Herausforderungen in Kauf. Dank der (zwar herausfordernden) Mobilität Richtung Deutschschweiz können die Tessiner Studierenden bei erfolgreichem Abschluss neben dem Diplom auch mehrjährige Mobilitätserfahrung in der Deutschschweiz aus‐ weisen. In Anbetracht der Schweizer Sprachenhierarchie, in der Deutsch einen politisch-ökonomischen Sonderstatus geniesst, und des prominenten Diskurses zur Mobilität und der damit assoziierten Fähigkeiten sind diese Formen kultu‐ rellen Kapitals im Hinblick auf den bevorstehenden Arbeitsmarkt besonders bedeutsam. Die trotz Studienangebot im Tessin weitergeführte Tradition der Mobilität Richtung Deutschschweiz muss auch vor diesem Hintergrund be‐ trachtet werden. Von ihr versprechen sich die Studierenden eine weit erfolgrei‐ chere Zukunft, als wenn sie ein Studium im Tessin absolvieren. Die Herausforderungen - ich bezweifle, dass die studentischen Binnenwan‐ derInnen erst seit den 90er-Jahren von ihnen betroffen sind -, denen die Tessiner Studierenden aufgrund des Wechsels in die Deutschschweiz begegnen, erhalten mit der Entscheidung für die Mobilität einen neuen Status. Mit der Wahl einer tertiären Ausbildung in der Deutschschweiz steht es einem zu, sich über He‐ rausforderungen zu beklagen und sich dadurch gegenüber denjenigen, die einen Studiengang im Tessin gewählt haben, abzuheben. In diesem Zusammenhang kam in den 90er-Jahren unter TessinerInnen fern vom Tessin das Bedürfnis auf, sich institutionell zu organisieren, wobei sie konfessionelle oder politische Pa‐ rameter, auf denen bisherige studentische Zusammenschlüsse basierten, ver‐ 6 Wie studentische Mobilität herausfordert und dennoch zu bewältigen ist 260 <?page no="261"?> warfen. Man kam so dem Wunsch nach, sich unter „seinesgleichen“ seiner Ent‐ scheidung für die Mobilität zu versichern. Trotz der Idee, die neu gegründeten Studierendenvereine zu modernisieren, zeigen etwa die Praktiken der STIB Spuren vergangener Zusammenschlüsse (vgl. 6.2). Jene tragen dazu bei, von anderen Studierendenvereinen als eigene Organisation erkannt zu werden (Fahnen, Farben des Vereins etc.). 6.3 Abschliessende Bemerkungen 261 <?page no="262"?> 1 Beispiele einiger Journals, die sich dem Thema Bildungsmobilität verschrieben haben: Journal of Studies in International Education (seit 1997), Journal of Research in Inter‐ national Education (seit 2002), The Journal of International Education (seit 1999), Fron‐ tiers: The Interdisciplinary Journal of Study Abroad (seit 1994). 7 Distinktion durch Sprache? Diskussion und (erste) Schlussfolgerungen Die Quaestio „Welchen Stellenwert hat die Sprache in Diskursen und Praktiken, die mit der studentischen Mobilität im schweizerischen Hochschulsystem zu‐ sammenhängen? “ leitete die vorausgehenden Kapitel. Auf meine Einleitung, in der ich mein Forschungsinteresse erläuterte und mein Forschungsvorhaben skizzierte, folgten im zweiten Kapitel Ausführungen zur Geschichte und Ge‐ genwart der Hochschulen und der akademischen Mobilität. Diese zeigten, dass Mobilität zwecks Bildung kein neues Phänomen darstellt, auch wenn die ge‐ genwärtigen Publikationsreihen 1 , die sich vorwiegend der internationalen Mo‐ bilität widmen, diesen Eindruck erwecken könnten. Ausgehend von den iden‐ tifizierten Forschungslücken, erklärte ich, dass meine Untersuchung die intranationale Mobilität über Sprachgrenzen hinweg - insbesondere diejenige aus der italienischsprachigen Schweiz (dem Tessin) Richtung Deutschschweiz - erforschen wolle und dass ich dies aus einer Perspektive täte, die auf Prämissen der kritischen Soziolinguistik beruhe. Ferner führte ich Leitfragen an, die sich aus der Quaestio ableiten liessen und von meiner wissenschaftlichen Positio‐ nierung abhingen. Mithilfe dieser Fragen untersuchte ich, wie in einer sich ver‐ ändert habenden Schweizer Hochschullandschaft der Wunsch nach Mobilität kreiert und legitimiert wird und wie Mobilität und damit verbundene Heraus‐ forderungen bewältigt werden. Weiter diskutierte ich die Konzepte Mobilität, Politische Ökonomie und Sprachideologie, die im Zusammenhang mit dem ge‐ planten Vorhaben sinnvoll erschienen. In Kapitel 3 führte ich aus, wie mein ethnographisches Vorgehen im Detail beschaffen war, und beschrieb u. a., wie die Entscheidung, eine „multi-sited“ Ethnographie durchzuführen, mit den im Feld gemachten Beobachtungen, die über eine „site“ hinausgingen, zusammenhing. Weiter legte ich meine Rolle im Feld dar und diskutierte ethische Fragen, mit denen ich bei meiner Datenerhe‐ bung konfrontiert war. Ferner ging ich auf meine Datenanalyse ein, die ethno‐ graphisch, interaktionell, diskursiv und kritisch geprägt war. <?page no="263"?> In den Analysekapiteln 4-6 zeigte ich anhand meiner ethnographischen Daten erstens, dass Tertiärinstitutionen in ihren universitären Promotionsdis‐ kursen und -praktiken ihre je eigenen Vorteile in einem gesetzlich kompetitiv geprägten Setting hervorheben und Sprache in Bezug auf italofone Studierende unter Umständen zum Instrument wird, mittels dessen der Studierendengruppe die für sie besonders relevanten Vorteile kommuniziert werden. Zweitens liessen die Entscheidungen, welche die TessinerInnen bezüglich ihrer Mobilität Richtung Deutschschweiz fällen oder fällten, die sprach-politische Situation der Schweiz, deren Konsequenzen für die Bildungssysteme der verschiedenen Sprachregionen und die markt-wirtschaftliche Dimension erkennen. Drittens zeugten die Herausforderungen, welche die Tessiner Studierenden rückblickend konstruieren, und die häufig genannte Strategie, etliche dieser Herausforde‐ rungen im Tessiner Studierendenverein abzufedern, davon, dass die individuelle Erfahrung der Mobilität Richtung Deutschschweiz Bedürfnisse schafft, denen der Verein begegnet. Die Dislokation und die damit einhergehenden Heraus‐ forderungen / Bedürfnisse lenken denn auch die Praktiken des Vereins und dessen Umgang mit Sprache(n). In den drei analytischen Kapiteln wurde ersichtlich, welche Akteure im Hochschulsystem mit Mobilität und Sprache wie umgehen. Im Folgenden setze ich mich mit dem situativ variablen Stellenwert auseinander, der Sprache im Zusammenhang mit studentischer Mobilität zukommt. Mit diesen Ausfüh‐ rungen möchte ich abschliessend darlegen, wie die Ergebnisse meiner Unter‐ suchung zu erklären erlauben, welche Sprache(n) unter welchen Bedingungen und zu welchem Zweck als nützlich angesehen wird (werden). Diese Überle‐ gungen lassen erkennen (7.1), wie die Praktiken der studentischen Mobilität marktwirtschaftliche Interessen lokaler, nationaler, europäischer und globaler Natur widerspiegeln, Interessen also, die mittels Analysen wie der vorliegenden herausgearbeitet werden können, aber erst vor dem Hintergrund grösserer Zu‐ sammenhänge nachvollziehbar werden. Danach (7.2) zeige ich, welche weiter‐ führenden Fragen aus meiner Arbeit hervorgehen, die zukünftige Forschungs‐ arbeiten anregen könnten. 7.1 Der variable Stellenwert von Sprachen im Kontext studentischer Mobilität Die Vorzüge, die Männern von Adel nachgesagt wurden, die sich im 17./ 18. Jahrhundert auf „Grand Tour“ begeben hatten, stimmen nicht mit den‐ jenigen überein, die im gegenwärtigen Mobilitätsdiskurs vorkommen. So gehört 7.1 Der variable Stellenwert von Sprachen im Kontext studentischer Mobilität 263 <?page no="264"?> 2 Kellerman (2009: 47) stellt dar, wie sich v. a. von 1997 (Lissabon) bis 1999 (Bologna) die Haltung gegenüber den Universitäten verschob - von einem „primär universitären Pa‐ radigma des Strebens nach Wissen und Wissenschaft“ zu einem Paradigma, das sich dem politischen Zeitgeist entsprechend an der Entwicklung von Märkten orientierte. etwa die damals als bedeutsam erachtete Kunst des Fechtens nicht zur heutigen Palette der für wichtig befundenen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Dennoch weisen die Mobilitätsdiskurse und -praktiken von einst und jetzt Parallelen auf. Es geht darum, junge Menschen auf eine Zukunft vorzubereiten, in der die in der einen und andern Epoche geschätzten und erworbenen Fähigkeiten einen Wert haben, der ihre Positionen verstärkt oder ihnen das Erlangen bestimmter Positionen ermöglicht. Denn individuelle Kompetenzen sind erst dann fruchtbar, wenn passende Möglichkeiten ihrer Anwendung in der Gesellschaft vorhanden sind. Mit anderen Worten: „Abilities ohne opportunities sind ebenso wirkungslos wie umgekehrt strukturelle Gelegenheiten ohne individuelle Be‐ fähigungen“ (Kellermann 2009: 57). Gegenwärtig zählen in der von Marktwirtschaft und Tertiarisierung ge‐ prägten Gesellschaft unter anderen Fähigkeiten die Sprachkompetenzen. Solche können Studierende in der Mobilitätssituation erlangen. Wie die analytischen Kapitel veranschaulicht haben, variiert der Wert, der Sprachen zugeschrieben wird, unter gewissen Umständen. Wer definiert nun aus welchen Interessen die als wichtig erachteten Qualitäten und wer profitiert davon? Geht man über die studentische Mobilität der TessinerInnen hinaus und lenkt den Blick auf den hochschulpolitischen Kontext und dessen Nähe zur Wirtschaft, lassen sich auf diese Fragen Antworten formulieren. Bologna wurde 1988, also 900 Jahre nach der Gründung der Universität, er‐ neut zu einem wichtigen Ort in der Geschichte der europäischen Universität. Anlässlich der Jubiläumsfeier wurde dort die „Magna Charta Universitatum“ unterzeichnet. Elf Jahre später, nämlich mit der „Joint Declaration of the Euro‐ pean Ministers of Education. Convened in Bologna on the 19th of June 1999“, fing der „Bologna-Prozess“ an. Davor hatten Treffen in Lissabon (1997) und an der Sorbonne (1998) stattgefunden und waren massgebende Dokumente ausge‐ arbeitet worden (die „Lisbon Recognition Convention“ und die „Sorbonne-Dec‐ laration“). Mit der Bologna-Deklaration (1999) sollte ein einheitlicher europä‐ ischer Hochschulraum geschaffen werden, der die Vergleichbarkeit und damit die Mobilität von Wissenschaftlern und Studierenden erhöhe, „der Nachfrage des Arbeitsmarkts nach hoch qualifizierten Kräften [entspreche] und in der weltweiten Konkurrenz um Studierende und Ressourcen besteh[e]“ (Boni et al. 2009: 7). Darin 2 heisst es z. B.: „We must in particular look at the objective of increasing the international competitiveness of the European system of higher 7 Distinktion durch Sprache? Diskussion und (erste) Schlussfolgerungen 264 <?page no="265"?> education. […] in order to promote European citizens’ employability and the international competitiveness of the European higher education system […] The degree awarded after the first cycle shall also be relevant to the European labour market as an appropriate level of qualification.“ (Bologna Declaration 1999: 2 u. 3) 2000 wurde, auf der „Bologna-Deklaration“ basierend, die „Lissabon-Stra‐ tegie“ verabschiedet, die das hochschulpolitische Vorhaben Europas festhielt. Darin stand für die Universitäten folgendes Ziel fest: „to become the most dy‐ namic and competitive knowledge based economy of the world“ (Presidency Conclusion 2000). Das europäische Bildungssystem wurde diesem volkswirt‐ schaftlichen Ziel wie selbstverständlich untergeordnet (vgl. Kellermann 2009: 57). An Nachfolgekonferenzen (Prag 2001, Berlin 2003, Bergen 2005, London 2007, Leuven / Louvain-la-Neuve 2009, Budapest/ Wien 2010, Bukarest 2012, Je‐ revan 2015) wurden die in der Lissabon-Strategie beschlossenen Massnahmen weiter präzisiert und ergänzt. Exemplarisch seien die Bestrebungen genannt, die Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern (2007) und das kreative und unter‐ nehmerische Denken zu verstärken (2012). Aus diesen Beispielen wird er‐ kennbar, dass der Bildungsstandort Europa Ziele formulierte, mit denen es ge‐ lingen sollte, im globalen Wettbewerb zu bestehen. Mit diesen hochschulpolitischen Veränderungen - in Europa zwar, aber mit globaler Absicht - gingen eine Restrukturierung und eine Vereinheitlichung der bisher auf nationaler / kantonaler Ebene organisierten Bildungssysteme einher (z. B. dreistufiges Studiensystem mit Bachelor, Master und Doktorat, Leistungs‐ punktesystem ECTS ). Ausserdem fand die Forderung der Förderung studenti‐ scher Mobilität Eingang in Programme und Diskurse (vgl. Kapitel 2 und 4). In der Schweiz erfolgten die Revisionen des Universitätsgesetzes ( UFG ) pa‐ rallel zum Bologna-Prozess. Wie in Kapitel 4 diskutiert wurde, war auch im UFG eine verstärkt marktwirtschaftliche Stossrichtung feststellbar. Revisionen des UFG mündeten in das Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz ( HFKG ), welches anfangs 2015 in Kraft trat und nicht mehr Gegenstand dieser Arbeit war. Dessen genaue Lektüre erlaubt es zu sehen, welche Entwicklungen seit Abschluss meiner Datenerhebung auf Gesetzesebene stattgefunden haben und mit welchen zukünftigen Entwicklungen zu rechnen ist. Das Ziel des HFKG besteht darin, die Schweizer Hochschulen (inkl. Fach‐ hochschulen) nach einheitlichen und leistungsorientierten Grundsätzen zu fi‐ nanzieren (Art. 3). Die neuen Finanzierungsbestimmungen sind noch nicht ab‐ schliessend geklärt (Stand Mai 2016); sie werden ab 2017 in den noch fehlenden Artikeln 36-44 und 47-61 zu finden sein. Sicher ist, dass der Bund auch in Zu‐ kunft Grundbeiträge, Bauinvestitions- und Baunutzungsbeiträge sowie projekt‐ 7.1 Der variable Stellenwert von Sprachen im Kontext studentischer Mobilität 265 <?page no="266"?> 3 Eine Übergangsregelung, gemäss der durch die Änderung der öffentlichen Hochschul‐ finanzierung stark betroffene Institutionen von Kohäsionsbeiträgen (Art. 74) profi‐ tieren können, ist bis 2025 in Kraft. 4 Das Dokument „Richtlinien des Hochschulrates für die koordinierte Erneuerung der Lehre an den universitären Hochschulen der Schweiz im Rahmen des Bologna-Pro‐ zesses“ (Bologna-Richtlinien UH, Stand am 1. Januar 2015) zeigt, dass die Schweiz in ihrem verstärkt leistungsorientierten HFKG auf den Bologna-Prozess Rücksicht nimmt. Die beiden Dokumente HFKG und Bologna-Deklaration (wie auch die an Folgekonfe‐ renzen ergriffenen Massnahmen) weisen - trotz ihres je unterschiedlichen Zwecks - in dieselbe Richtung. gebundene Beiträge leistet. Alle drei Beitragskategorien sind dabei aber stärker leistungs- und resultatorientiert auszugestalten als bisher. Die jährlichen Grund‐ beiträge etwa sind den Leistungen in Lehre und Forschung entsprechend zu bemessen. Zurzeit sieht es so aus, als wären die Veränderungen der Kategorie Grundbeiträge am folgenreichsten (Leitner et al. 2011; Studinger 2015). Auf‐ grund von sogenannten „Referenzkosten“ sollen die Grundbeiträge bemessen werden. Auch wenn die Gleichung „Referenzkosten = Notwendige Aufwen‐ dungen für eine Lehre von hoher Qualität pro Student / in“ einfach klingt, wird für mich nicht ersichtlich, was diese im Detail bedeutet. Im Zusammenhang mit den „Referenzkosten“ wurden neben vorwiegend aufwandorientierten Kriterien wie Anzahl Studierender, Zugehörigkeit der Studierenden zu bestimmten Dis‐ ziplinen oder Fachbereichen leistungs-/ resultatorientierte Kriterien wie Anzahl Studienabschlüsse, durchschnittliche Studiendauer sowie Betreuungsverhält‐ nisse diskutiert. Es bleibt abzuwarten, wie die Grundbeiträge sich schliesslich zusammensetzen 3 . Fakt ist, dass die Ausgestaltung des HFGK sich in ihrer Ziel‐ setzung nicht von derjenigen der europäischen Hochschulpolitik unter‐ scheidet 4 . Im HFGK werden lediglich auch lokale Gegebenheiten (die historisch gewachsenen Bildungssysteme, -stätten mit ihren Eigenheiten etc.) berücksich‐ tigt. Wendet man sich der lokalen Ebene zu, erstaunt es nicht, dass die einzelnen Universitäten in diesem leistungsorientierten und kompetitiven Setting ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber andern hervorheben wollen. Je nach institu‐ tionellen Voraussetzungen (eidgenössisch oder kantonal getragen; Grösse, Ge‐ schichte, Studierende und deren traditionelle Herkunft etc.) stellen die Univer‐ sitäten ihre je vorteilhaften Eigenschaften zu Promotionszwecken in den Vordergrund. In einer Gesellschaft, in der Sprachkompetenzen - im Schweizer Kontext insbesondere Deutsch - als wertvoll gelten, wird auch Sprache zu einem Parameter, der in Promotionspraktiken Verwendung findet. Dabei ist Sprache eben nicht gleich Sprache. So werden potentielle Studierende sprachlich so empfangen, wie es den Werbenden am adäquatesten erscheint. Das heisst: Man 7 Distinktion durch Sprache? Diskussion und (erste) Schlussfolgerungen 266 <?page no="267"?> macht zum einen von einem Vokabular Gebrauch, von dem man annimmt, es werde GymnasiastInnen gerecht. Zum andern produzieren Universitäten Pro‐ motionsmaterialien/ -diskurse in Fremdsprachen (z. B. Italienisch) - und zwar für jene SprecherInnen derselben, bei denen es wahrscheinlich ist, dass sie sich an der um sie werbenden Hochschule immatrikulieren. In der Schweiz sind vor‐ wiegend die Nationalsprachen Mittel der Promotion; in Bezug auf die Zielgruppe der Studierenden aus dem Tessin ist es die Nationalsprache Italienisch. Weiter wird im Zusammenhang mit der internationalen Studierendenmobilität Eng‐ lisch verwendet. Das Wettbewerbs- und Konkurrenzdenken prägt auch die Diskurse und Prak‐ tiken von Studierenden. Wie die Interviews mit Tessiner Studierenden gezeigt haben, streben sie vor allem nach einer Zukunft, in der sie wettbewerbsfähig sind und sich gegenüber KonkurrentInnen behaupten können. Sie wollen Kenntnisse - nämlich ein Universitätsdiplom - und - in der Mobilitätssitua‐ tion - Fähigkeiten und Fertigkeiten - d. h. Sprachkompetenzen - erlangen, von denen sie sich im Hinblick auf die Zukunft, wie sie diese sich vorstellen, am meisten versprechen. Eine Analyse der Praktiken von Tessiner Studierenden in der Deutschschweiz hat gezeigt, dass diese die Beziehung zu ihrer Herkunftsregion aufrechterhalten. In der Mobilitätssituation - in der sie von den tertiären Bildungsstätten mit Rücksicht auf ihre „Nicht-Muttersprachlichkeit“ keine / nur wenig Unterstüt‐ zung erfahren - suchen und finden sie diese im Studierendenverein. Dort wird die italienische Sprache, gekoppelt an die Tessiner Herkunft, zum „Einlasskri‐ terium“. Ferner ist sie für die Studierenden aus dem Tessin ein Instrument, sich als Verein zu etablieren und sich über die Sprache (und die daran gekoppelte Kultur) finanziell zu behaupten. Von muttersprachlichen Sprachideologien ge‐ prägte Praktiken und Diskurse sind dabei an der Tagesordnung. Sie erlauben es den Studierenden, sich als „muttersprachliche“ Italienisch-SprecherInnen von „muttersprachlichen“ DeutschschweizerInnen abzugrenzen und eine gewisse Authentizität zu leben, die unter Umständen - dann, wenn ökonomische Inte‐ ressen im Vordergrund stehen - den sonst zum Verein nicht zugelassenen DeutschschweizerInnen angeboten wird. Die Frage nach dem variablen Stellenwert von Sprache muss vor dem Hin‐ tergrund dieser Ausführungen beleuchtet werden. Globale, europäische, natio‐ nale und lokale Interessen stehen in einem komplexen Zusammenspiel. Das Einbeziehen dieses komplexen Kräftespiels trägt dazu bei, ethnographische Be‐ obachtungen in einem bestimmten „Hier und Jetzt“ zu verstehen und zu er‐ kennen, was auf das beobachtete Objekt einwirkt. Wenn es darum geht, den Stellenwert zu eruieren, den verschiedene Qualitäten (darunter auch Sprachen) 7.1 Der variable Stellenwert von Sprachen im Kontext studentischer Mobilität 267 <?page no="268"?> 5 Vgl. dazu Smith (2007) [1776] „The Wealth of Nations“, Buch I, Kapitel III und Butler (2011). in der gegenwärtigen Tertiärbildung haben, ist z. B. die lokale Geschichte der einzelnen Universität ebenso wichtig wie die nationale Sprachenpolitik, sind die europäischen hochschulpolitischen Bestrebungen mit ihren globalen Zielset‐ zungen ebenso wichtig wie die Sprachideologien, die aus dem politisch-ökono‐ mischen Kontext der Schweiz hervorgehen. Den unterschiedlichen Interessen gemeinsam ist die marktwirtschaftliche Logik. Deren Omnipräsenz und beinahe bedingungslose Akzeptanz bewirken, dass trotz der verschiedenen Interessen, die in diesen Bereichen gelten, lokale, nationale, europäische und globale Ziel‐ setzungen kompatibel sind. Ob aber diese Kompatibilität dazu führt, dass alle von dieser Marktlogik pro‐ fitieren, ist fraglich. Gemäss Adam Smith, dem Ethiker und einem der Väter der modernen Wirtschaftswissenschaft, trägt der freie Markt 5 zum Wohl aller bei, wenn individueller Wettbewerb nicht verhindert werde, wenn das Kapital lokal bleibe und kein Käufer oder Verkäufer so gross sei, dass er den Marktpreis be‐ herrschen könne. Die Ideen von Smith - er publizierte sie 1776 in seinem Werk „The Wealth of Nations“ - wurden von neoklassischen Ökonomen aufgegriffen, wobei diese Smith’s Ausrichtung auf das Allgemeinwohl durch jene des Ein‐ zelnen auf Profitmaximierung ersetzten. Das reduzierte Modell, das auf der An‐ nahme basiert, gesellschaftliches Wohl werde durch individuellen Wettbewerb im freien Markt erzielt, wurde mehrmals scharfsinnig kritisiert (vgl. Stiglitz 2002: 74). Die analytischen Kapitel dieser Arbeit bestärken die kritische Sicht auf die vereinfachte Version des Smith’schen Modells. Wie gezeigt worden ist, kommen die Universitäten etwa den italofonen Studierenden nur dann sprach‐ lich entgegen, wenn sie sich von ihnen einen ökonomischen Nutzen verspre‐ chen. Ferner ist dieses Entgegenkommen nur vorübergehend und nur darum so ausdrücklich, weil es beim Vergleich mit der Promotion anderer Universitäten herausragt. Die Universität hingegen, die sich dieser Strategie bedient, profitiert von höheren Studierendenzahlen und damit von höheren Grundbeiträgen sei‐ tens des Bundes und behauptet sich so in der Konkurrenz mit anderen Bil‐ dungsstätten in der Schweiz. Analog zur europäischen Hochschulpolitik hält so auch im Schweizer Bildungsbereich die Leistungs-/ Resultatorientierung Einzug, die ursprünglich der Marktwirtschaft angehörte. Die Marktwirtschaft kann als Hauptprofiteurin erachtet werden, nach der sich das Bildungssystem richtet. Wie die Retrospektive zur Entwicklung der Universitäten (Kapitel 2) gezeigt hat, ist es kein neues Phänomen, dass wichtige Akteure einer Epoche das Bildungs‐ wesen beeinflussen. Was hingegen der Gegenwart eigen sein mag, ist der 7 Distinktion durch Sprache? Diskussion und (erste) Schlussfolgerungen 268 <?page no="269"?> Rhythmus, mit dem sich die freilich variablen Bedürfnisse der Marktwirtschaft im Bildungssystem abbilden. Diese Bedürfnisse bestimmen, wie ich in meiner Arbeit zu zeigen versucht habe, den Stellenwert von Sprachen, der sowohl in‐ dividuelle als auch institutionelle marktwirtschaftlich geprägte Diskurse / Prak‐ tiken im Universitätswesen nach sich zieht. Schliesslich stellt sich die Frage, welchen Beitrag diese Arbeit im Feld der Soziolinguistik leistet. Der Linguist Émile Benveniste äusserte in den 70er-Jahren zur Beziehung zwischen Sprache und Gesellschaft: „[…] c’est la langue qui contient la société“ (Benveniste 1974: 62). Die vorliegende Arbeit - vierzig Jahre nach Benvenistes radikaler Position - schenkt der Sprache zwar Aufmerksamkeit, jedoch wird ihr in Anbetracht der sozialen Prozesse kein au‐ tonomer Status zugemessen. Vielmehr hat sie gezeigt - den Prämissen einer kritischen Soziolinguistik folgend -, wie gesellschaftliche Prozesse miteinander interagieren und welche Rolle Sprache dabei spielt. Sie beteiligt sich damit an der soziolinguistischen Auseinandersetzung darüber, wie Sprache in einer Ge‐ sellschaft bewertet wird, die sich gegenwärtig durch Marktwirtschaftlichkeit auszeichnet. Mit diesem Interesse reiht sie sich an einige jüngere Arbeiten aus jener soziolinguistischen Disziplin, die Sprache, Sprachgemeinschaft, Mehr‐ sprachigkeit etc. nicht als autonome Strukturen erforscht, sondern als soziale Konstrukte (mit realen Konsequenzen) ergründet, mit denen Prozesse und Prak‐ tiken einhergehen, die nicht für alle Mitglieder der Gesellschaft gleich vorteil‐ haft sind. Diese Perspektive trägt zum einen dazu bei, im Feld etablierte (und nicht als unbedingt obsolet erachtete) Konzepte zu überdenken (z. B. dasjenige von Sprache als separates und neutrales System). Zum andern regt die Arbeit dazu an, soziolinguistische Konventionen / Praktiken vermehrt auf ihre histori‐ schen, strukturellen und sozialen Bedingungen hin zu prüfen, um zu verstehen, was diese sozialen Akteure ermöglichen oder verunmöglichen und wie beste‐ hende Konventionen reproduziert oder neu produziert werden. 7.2 Ausblick Mit meiner Arbeit bin ich ein Stück weit Forderungen von KritikerInnen nach‐ gekommen, die äusserten, die Universität müsse ihre Rolle als kritische Beob‐ achterin ernst nehmen, wenn es um Bildung gehe, statt sie anderen zu über‐ lassen (z. B. Ross & Gibson 2006; Giroux 2013; Piller & Cho 2013). Dieser Appell bedarf auch zukünftiger Forschung. Basierend auf der vorliegenden Arbeit, lassen sich einige Forschungsdesiderata formulieren. 7.2 Ausblick 269 <?page no="270"?> In meiner Arbeit habe ich nur einen Teil des „Trajectoire“ erfasst, den Tessiner Universitätsstudierende zurücklegen. Zwar konzentrierte ich mich auf die Zeit, die der zu fällenden Entscheidung vorausgeht - d. h. auf die Gymnasialzeit -, und auf die Periode nach der Dislokation in die Deutschschweiz - d. h. die Stu‐ dienzeit. Die Zeit nach Studienabschluss war jedoch nicht Teil meiner Arbeit, würde es aber verdienen, ebenfalls ergründet zu werden. Gemäss dem Bun‐ desamt für Statistik kehren rund 60 % der HochschulabsolventInnen aus dem Tessin in ihre Herkunftsregion zurück. Mit erneuter ethnographischer For‐ schung könnte eruiert werden, welche Tessiner Studierende - entgegen ihrer mehrheitlich klaren Vorstellung, ins Tessin zurückzukehren - an ihrem Studi‐ enort bleiben. Dieses Folgeprojekt würde es erlauben, Fragen zu beantworten, die über die vorliegende Arbeit hinausgehen und die bisher wenig erforschte Grauzone zwischen temporärer Mobilität und permanenter Migration be‐ leuchten. Ferner wäre es spannend zu sehen, wie jene Hochschulabsolventen, die an einen anderen Ort in der „Fremde“ wechseln (z. B. wegen einer Arbeits‐ stelle), und jene, welche in ihre Herkunftsregion zurückkehren, mit ihrer ver‐ änderten Situation umgehen. Ausserdem wäre es aufschlussreich zu sehen, ob die Zukunft der Absolventen so „rosig“ aussieht, wie sie in Promotionsdiskursen den Studierenden dargestellt worden ist (vgl. dazu Park 2011). Die Frage, ob sich ihre als vielversprechend propagierte Mobilität und der Erwerb der „richtigen“ Sprachkompetenzen „lohnten“, könnte Teil zukünftiger empirischer Forschung sein. Die bereits vorhandenen Teile des neuen Hochschulförderungsgesetzes und deren Stossrichtung lassen vermuten, dass marktwirtschaftliche Tendenzen weiter zunehmen. Es wird sich zeigen, wie sich die Neuerungen im Gesetz (ins‐ besondere die noch ausstehenden Artikel) auf die Diskurse und Praktiken in der schweizerischen Hochschullandschaft auswirken und wie sich im Zusammen‐ hang mit studentischer Mobilität bereits vorhandene Trends verstärken. Zu‐ künftige Forschungsarbeiten könnten diesen Fragen nachgehen. Insbesondere wäre es interessant zu ergründen, ob und - wenn ja - wie die leistungsorien‐ tierten Finanzierungsbestimmungen sprachliche Praktiken an den Hochschulen beeinflussen. Durchaus vorstellbar wäre, dass, falls sich das Einhalten von Normstudienzeiten und ein tiefes Betreuungsverhältnis finanziell lohnen sollten, Hochschulen vermehrt Lehrende hinzuziehen, die mehrsprachig sind und deren Sprachkompetenzen im Hinblick auf die Unterstützung andersspra‐ chiger Studierender „dienlich“ scheinen. Solche Spekulationen könnte eine em‐ pirische Herangehensweise erhellen. Dass diese Arbeit eine der Nationalsprachen in den Brennpunkt rückt, mag insofern hilfreich sein, als damit die Diskussion um die schier unumstössliche 7 Distinktion durch Sprache? Diskussion und (erste) Schlussfolgerungen 270 <?page no="271"?> 6 http: / / www.aargauerzeitung.ch/ dossier/ Gotthard-Basistunnel [letzter Zugriff, 04. 06. 2016]. territoriale Sprachpolitik, die sich in den Praktiken an den Schweizer Universi‐ täten widerspiegelt, erneut entfacht wird. Vielleicht gelingt es, die von der Um‐ gebungssprache (und zuweilen von der „Weltsprache Englisch“) dominierte Sprachpolitik der tertiären Bildungsstätten zu hinterfragen, und zwar aus der Einsicht in die Schwierigkeiten / Herausforderungen, mit denen Studierende aus der Schweiz - also sozusagen aus den „eigenen Reihen“ - konfrontiert sind. Möglicherweise wird in einem weiteren Schritt die Frage nach Unterstützung von Studierenden legitim, die anderer Sprachen als der offiziellen Sprachen der Schweiz und des Englischen mächtig sind. Weiterführende Forschung könnte aufzeigen, ob allenfalls eine Begleitung von Studierenden denkbar wäre, die nicht „bloss“ den in der Schweiz beschulten GymnasiastInnen gerecht wird, und wie eine solche aussehen könnte. Seit 1993 wurden, wie meine Arbeit darlegt, an Schweizer Universitäten zahl‐ reiche Tessiner Studierendenorganisationen gegründet. Darüber hinaus fanden sich Ende 2015 im Tessin alle „aussertessiner“ Zusammenschlüsse in einem Dachverein zusammen (vgl. Kapitel 6). Wie sich dieser auf die Praktiken der einzelnen Organisationen auswirkt und welche Rolle diesem in Zukunft bereits im Tessin - also vor einer Entscheidung für oder gegen das Verlassen der Her‐ kunftsregion - zukommt, wären Fragen, die weiterführender Forschung be‐ dürften. Offen ist ferner, ob Universitäten mit „starken Vereinen“ eine grössere Anziehung auf TessinerInnen haben. Dies war bereits vor einigen Jahrhunderten bei den „nationes“ der Fall (vgl. Kapitel 6). Mit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels am 01. Juni 2016 wird erwartet, dass sich die Reisezeit per Zug zwischen dem Tessin und der Deutschschweiz ab 2017 um rund eine halbe Stunde und ab 2020, dann wird der Ceneri-Basis‐ tunnel 6 in Betrieb genommen, um rund eine Stunde verkürzen soll. Ab 2020 ist es voraussichtlich möglich, in einer Stunde und dreiundzwanzig Minuten von Lugano nach Luzern zu gelangen. Diese Verbindung soll in Zukunft im Halb‐ stundentakt gewährleistet sein. Es wird sich zeigen, ob dies das Mobilitätsver‐ halten von Studierenden aus dem Tessin verändert. Denkbar wäre, dass Studie‐ rende aus dem Tessin vermehrt Richtung Deutschschweiz pendeln, statt zu dislozieren. Zu eruieren wäre im Zusammenhang mit der verkürzten Reisezeit auch, ob sich das Promotionsverhalten der Universitäten wandelt und univer‐ sitäre Strukturen allenfalls PendlerInnen aus dem Tessin angepasst werden. 7.2 Ausblick 271 <?page no="273"?> Abstract in English This project analyses discourses and practices related to intra-national student mobility across language borders in multilingual Switzerland and the value given to language. Inspired by premises from critical sociolinguistics and with the aid of a multi-sited ethnography, I investigate how the desire for mobility is created in a transforming higher education system, how students legitimate their mobility and how they cope with challenges they are confronted with due to mobility. The focus lies on student mobility from the Ticino, the Italian-spea‐ king region of the country, towards German-speaking Switzerland. In the Ticino, tertiary education has been offered since 1996. Despite this relatively new pos‐ sibility to access higher education in Italian, the tradition of becoming mobile continues. The study shows that tertiary institutions in Switzerland - all constrained by a legal setting defined by competition - put forward their advantages in pro‐ motional discourses and practices, making use of strategies suitable to advertise their institution as the ‘right one’. For Italian-speaking students, under certain conditions language becomes an instrument and a marker of distinction that serves as means to communicate relevant advantages to target students. An analysis of interviews with Italian-speaking high school and university students reveals their prospective and retrospective reasoning of moving from the Ticino to German-speaking Switzerland for their education, reflecting Swiss language policy, its consequences for education systems in the different language regions as well as a growing marketization of university education. These interviews also show the different challenges constructed by students from the Ticino in relation to their mobility to German-speaking Switzerland. One prominent stra‐ tegy students adopt to cope with these challenges is to join an Italian-speaking student association. An analysis of associative practices reveals that students readily seek help and advice from these associations, frequently also to cope with their migration experience to the German-speaking part of the country. Here, the associations’ institutional practices reflect the individual experience of mobility, which justifies the continuous existence of the institution as such. This ethnographic research allows for a detailed understanding of sociolin‐ guistic practices and underlying language ideologies of different interdependent actors in higher education. Against the backdrop of historic and political-eco‐ nomic conditions in Switzerland and beyond, the results show how the observed discourses and practices related to student mobility reflect market-oriented local, national, European and global interests. The variable value that is assigned <?page no="274"?> to language reflects those interests and highlights an instrumentalization of language in higher education. Abstract in deutscher Sprache Die vorliegende Arbeit ergründet, welcher Stellenwert der Sprache in Diskursen und Praktiken zukommt, die mit der intra-nationalen studentischen Mobilität über schweizerische Sprachregionen hinweg einhergehen. Mittels einer „multi-sited“ Ethnographie, die auf Prämissen der kritischen Soziolinguistik ba‐ siert, analysiert die Untersuchung, wie in der sich verändert habenden Schweizer Hochschullandschaft der Wunsch nach Mobilität kreiert und legiti‐ miert wird und wie Mobilität und damit verbundene Herausforderungen be‐ wältigt werden. Im Zentrum der Forschung steht die Mobilität Richtung Deutschschweiz aus dem Tessin - der italienischsprachigen Region -, wo erst seit der Gründung einer Universität (1996) die Möglichkeit besteht, ein Studium auf tertiärem Niveau abzuschliessen. Dennoch besteht die Tradition der stu‐ dentischen Mobilität im Tessin ungebrochen fort. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen erstens, dass Tertiärinstitutionen in ihren universitären Promotionsdiskursen und -praktiken ihre je eigenen Vor‐ teile in einem gesetzlich kompetitiv geprägten Setting hervorheben. Dabei greifen sie auf Strategien zurück, die ihre Hochschule als die „richtige“ er‐ scheinen lassen. In Bezug auf italofone Studierende wird die Sprache unter be‐ stimmten Bedingungen zum Instrument, mit welchem der umworbenen Stu‐ dierendengruppe die für sie besonders relevanten Vorteile kommuniziert werden. Zweitens legt eine Analyse von Interviews mit Tessiner Gymnasias‐ tInnen und Studierenden dar, dass in ihren Begründungen der fälligen bzw. ge‐ fällten Entscheidung für ein Studium in der Deutschschweiz die sprach-politi‐ sche Situation der Schweiz, deren Konsequenzen für die Bildungssysteme der verschiedenen Sprachregionen sowie die markt-wirtschaftliche Dimension der universitären Bildung zum Ausdruck kommen. Drittens diskutiere ich die zahl‐ reichen Herausforderungen, auf die Tessiner Studierende im Zusammenhang mit ihrer Dislokation in die Deutschschweiz hinweisen, und gehe der von ihnen befolgten prominenten Strategie, diesen Herausforderungen im Tessiner Stu‐ dierendenverein zu begegnen, auf den Grund. Eine Analyse der Vereinsprak‐ tiken zeigt, dass die Individuen wegen ihrer Mobilitätserfahrung im Verein Un‐ terstützung suchen und bekommen. Die individuelle Mobilitätserfahrung widerspiegelt sich in den institutionellen Praktiken des Vereins und rechtfertigt dessen Fortbestand. Abstract in deutscher Sprache 274 <?page no="275"?> Die ethnographische Untersuchung erlaubt ein tiefgründiges Verständnis so‐ ziolinguistischer Praktiken und der ihnen zugrunde liegenden Sprachideologien verschiedener voneinander abhängiger Akteure in der tertiären Bildung (Hoch‐ schulen, GymnasiastInnen, Studierende). Das Deuten der Ergebnisse vor dem Hintergrund historischer und politisch-ökonomischer Bedingungen inner- und ausserhalb der Schweiz gibt ausserdem Aufschluss darüber, wie sich in Prak‐ tiken der studentischen Mobilität marktwirtschaftliche Interessen lokaler, nati‐ onaler, europäischer und globaler Natur widerspiegeln. Diese Interessen haben Einfluss darauf, welcher Stellenwert Sprache zukommt und wie Sprache instru‐ mentalisiert wird. Abstract in deutscher Sprache 275 <?page no="276"?> Literaturverzeichnis Adams, A., & Street Alinder, M. (1985). Ansel Adams: An autobiography. Boston: Little, Brown. Adey, P. (2006). 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Schweizer Bundesarchiv. 148 Figure 3: Italofoner Studierendenverein Luzern. Quelle: Facultà di Gi‐ urisprudenza, Università di Lucerna (S. 8, 2011). Luzern: Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universität Luzern. Mit freundlicher Genehmigung des Dekans der rechtswissen‐ schaftlichen Fakultät. 164 <?page no="305"?> www.narr.de TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Mehrsprachigkeit gilt als Pfeiler der „Schweizer Identität“. Universitäten halten sich in der Lehre jedoch ans Territorialitätsprinzip; Vorlesungen erfolgen in der lokal gesprochenen Sprache, was Studierende aus anderen Sprachregionen der Schweiz überfordern kann. Die Autorin ergründet, welcher Stellenwert der Sprache in Diskursen und Praktiken zukommt, die mit der intranationalen studentischen Mobilität über schweizerische Sprachregionen hinweg einhergehen. Mittels einer Ethnographie erfasst und interpretiert sie, wie in der sich wandelnden Hochschullandschaft der Wunsch nach Mobilität kreiert und legitimiert wird und wie Mobilität und damit verbundene Herausforderungen bewältigt werden. Die soziolinguistischen Daten zeichnen ein komplexes Bild der aufeinander einwirkenden universitären Akteure in einem mehrsprachigen Land und erhellen exemplarisch das Spannungsfeld zwischen zelebrierter Mehrsprachigkeit und praktizierter „Einsprachigkeit“ sowie daraus hervorgehende Ungleichheiten. 562 Zimmermann Distinktion durch Sprache? Distinktion durch Sprache? Eine kritisch soziolinguistische Ethnographie der studentischen Mobilität im marktwirtschaftlichen Hochschulsystem der mehrsprachigen Schweiz Martina Zimmermann