eBooks

Handbuch des Deutschen in West- und Mitteleuropa

Sprachminderheiten und Mehrsprachigkeitskonstellationen

0624
2019
978-3-8233-9154-8
978-3-8233-8154-9
Gunter Narr Verlag 
Rahel Beyer
Albrecht Plewnia

Dieses Handbuch liefert einen Überblick über Beschaffenheit und soziolinguistische Situation des Deutschen am Rande des geschlossenen deutschen Sprachgebietes in West- und Mitteleuropa. Dabei werden in einer Zusammenschau sowohl deutschsprachige Minderheiten als auch Mehrsprachigkeitskonstellation unter Beteiligung des Deutschen in den Blick genommen. Gemein ist allen Szenarien, dass sie unmittelbar an ein Gebiet mit deutschsprachiger Mehrheitsbevölkerung grenzen, Deutsch einen offiziellen Status besitzt, jedoch nicht unbedingt die volle Funktionsbreite abdeckt. In sieben Gebietsartikeln wird jeweils ein Überblick über Demographie, Geschichte sowie politische und rechtliche Lage der Minderheiten gegeben. Zusätzlich wird für jedes Gebiet eine Beschreibung der Kompetenz- und Sprachgebrauchssituation wie auch der soziolinguistischen Situation mit ihren je spezifischen Standard-Substandard-Verteilungen geboten. Schließlich werden auch Spracheinstellungen der Sprecher und die visuell realisierte Sprache im öffentlichen Raum (Linguistic Landscapes) erläutert.

<?page no="0"?> Rahel Beyer & Albrecht Plewnia (Hrsg.) Handbuch des Deutschen in West- und Mitteleuropa Sprachminderheiten und Mehrsprachigkeitskonstellationen - -- - -- - • • - ===-=== - narr <?page no="1"?> Handbuch des Deutschen in West- und Mitteleuropa <?page no="2"?> Dr. Rahel Beyer ist wissenschaftliche Angestellte am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Dr. Albrecht Plewnia ist Leiter des Programmbereichs Sprache im öffentlichen Raum am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. <?page no="3"?> Rahel Beyer / Albrecht Plewnia (Hrsg.) Handbuch des Deutschen in West- und Mitteleuropa Sprachminderheiten und Mehrsprachigkeitskonstellationen <?page no="4"?> Umschlagabbildung: www.shutterstock.de, © Max Broszat Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Bernd Rudek Design GmbH, www.rudek.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8154-9 (Print) ISBN 978-3-8233-9154-8 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0174-5 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Rahel Beyer / Albrecht Plewnia Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Heinz Bouillon Deutsch in Ostbelgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Mélanie Wagner Luxemburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Rahel Beyer / Fernand Fehlen Der germanophone Teil Lothringens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Dominique Huck / Pascale Erhart Das Elsass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Helen Christen / Regula Schmidlin Die Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl Südtirol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 <?page no="7"?> Vorwort Rahel Beyer / Albrecht Plewnia Die heutige Ausdehnung des zentralen (geschlossenen) germanophonen Sprachraums in der Mitte Europas ist das Ergebnis mehrerer Jahrhunderte Besiedlungs- und Expansionsgeschichte germanischer Stämme, die im Frühmittelalter Territorien einnahmen und dort auch ihre Sprache etablierten (Roelcke 2009: 17 f.). So kamen etwa die Alemannen im 9. Jahrhundert bis ins Wallis, die Siedlungen der Baiern erstreckten sich schließlich bis über das ganze heutige Österreich. Mit dem Ende des Mittelalters waren die Sprachgrenzen in Europa dann konsolidiert und haben sich seitdem nur wenig verändert. Indessen hielten Annexionsbewegungen, Staatenbildung und Grenzverschiebungen von Staaten (z. B. im Rahmen des Wiener Kongresses 1814/ 1815) bis ins 20. Jahrhundert an. Die neuen Grenzziehungen orientierten sich nun überwiegend nicht an sprachlichen Räumen, sondern durchquerten und zerteilten sie vielmehr. Dementsprechend gibt es heute eine Reihe von Staaten, in denen das Deutsche (bzw. bestimmte dem Deutschen zuzuordnende oder eng mit ihm verwandte Varietäten) in Minderheitsund/ oder Mehrsprachigkeitsverhältnissen steht, d. h. in Ko-Existenz mit anderen Sprachen in je unterschiedlichen Konstellationen, sei es mit einer anderen (weiteren) Amtssprache, sei es in territorialer Mehrsprachigkeit. Solche Fälle finden sich in mehreren Gebieten am Rande des geschlossenen deutschen Sprachraums, also jenseits der Grenzen der Staaten mit deutscher Mehrheitssprache. Diesen widmet sich das vorliegende Handbuch. Es reiht sich ein in eine Serie von Handbüchern, die Minderheiten mit Beteiligung des Deutschen systematisch in einer Zusammenschau erfasst und eine Grundlage für einen Vergleich „in grundsätzlicher Hinsicht“ (Eichinger 2008: VIII) liefert. Den Anfang dieser Serie bildet das Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten (Hinderling/ Eichinger 1996), in dem deutsche Minderheiten in Mitteleuropa und anderssprachige Minderheiten in deutschsprachigem Mehrheitsgebiet vergleichend gegenübergestellt wurden. Ergänzt wurde dieses Handbuch in den Folgejahren durch je einen Band zu deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa (Eichinger/ Plewnia/ Riehl 2008) und zu deutschen Sprachminderheiten in Übersee (Plewnia/ Riehl 2018). Mit diesem Band liegt nun der erste von zwei Teilen einer vollständig überarbeiteten und erweiterten Neufassung des Ausgangsbandes vor (der zweite Teil wird die Sprachminderheiten mit Deutsch als Mehrheitssprache zum Gegenstand haben). Der Fokus dieses Bandes liegt auf West- und Mitteleuropa; dabei bilden Geographie und Entstehungsbedingungen die verbindende Klammer. Über die Dichotomie von Mehrheit und Minderheit 1 hinaus sind hier weitere Ausprägungen gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit zu finden. So bilden etwa die Deutschsprachigen in Belgien - gewissermaßen ein Prototyp einer Grenzminderheit - eine 1 Ohnehin ist zur Beschreibung einer Sprechergemeinschaft als Minderheit jeweils die Bezugsgröße zu bestimmen (Pusch 2010: 377 ff.). Einer verbreiteten Praxis folgend orientieren wir uns an (National-)Staaten. <?page no="8"?> nationale Minderheit, da die Verwendung und Reichweite des Deutschen räumlich auf neun Gemeinden in Ostbelgien beschränkt ist. Dort stellt es wiederum eine regionale Mehrheitssprache dar, und ist aufgrund dessen auf nationaler Ebene Amtssprache. Luxemburg dagegen hat gar keine allochthonen Deutschsprecher, sodass man im eigentlichen Sinne nicht vom Deutschen als Minderheitensprache sprechen kann - dort ist heute das mit dem Deutschen eng verwandte Luxemburgische die meistgesprochene Sprache. Historisch gesehen ist das Deutsche jedoch ohne Zweifel Teil des kulturellen Erbes des Großherzogtums (Sieburg 2013: 95) und hat auch gegenwärtig durchaus seinen Platz in der Sprachlandschaft, jedoch mit differenzierterem Status. Ähnliches gilt für die deutschsprachige Schweiz: Einerseits wird vorherrschend das deutsche Diasystem verwendet, andererseits geht mit der stark ausgeprägten Standard-Dialekt-Diglossie eine distanzierte Haltung gegenüber dem „Schriftdeutschen“ bis hin zur Entfremdung einher, so dass auch hier das Deutsche nicht unbedingt als die „natürliche Sprache“ (Haas 2000: 106) gilt. Gemein ist allen Szenarien, dass sie unmittelbar an ein Gebiet mit deutschsprachiger Mehrheitsbevölkerung angrenzen, dass das Deutsche einen offiziellen Status besitzt und neben (mindestens) einer anderen Sprache, d. h. in einer Mehrsprachigkeitskonstellation, existiert. Entsprechend der Einordnung in die erwähnte Serie orientiert sich auch die Gliederung des Buches bzw. der Beiträge an den Vorgängerarbeiten. Pro Beitrag wird ein Gebiet überblicksartig beschrieben, und dabei jeweils ein „gewisser Kernbestand an Problembereichen“ (Hinderling/ Eichinger 1996: XII) behandelt. Die Beschreibungsdimensionen erstrecken sich von den historischen Entwicklungen über die aktuelle demographische und rechtliche Situation bis hin zur Rolle und Präsenz des Deutschen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Darüber hinaus wird für jedes Gebiet eine Beschreibung der Kompetenz- und Sprachgebrauchssituation, der soziolinguistischen Situation mit ihren je spezifischen Standard-Substandard-Verteilungen sowie der Spracheinstellungen der Sprecherinnen und Sprecher geboten. Im Vergleich zu den vorherigen Bänden neu hinzugekommen ist schließlich eine Erläuterung der Verteilung und Verwendung visuell realisierter Sprache(n) im öffentlichen Raum ( linguistic landscape ) in Form von Straßen- und Verkehrsschildern, Plakaten, Ladenbeschriftungen usw. Gliederung und Ausführlichkeit der einzelnen Kategorien variieren dabei in gewissem Umfang je nach den Gegebenheiten in den behandelten Gebieten. Die Herausgeber danken allen beteiligten Autorinnen und Autoren für ihren Beitrag und den kollegialen Austausch. Ein großer Dank gilt auch Heike Kalitowski-Ahrens und Julia Smičiklas, die eine große Stütze bei Erstellung, Satz und Korrektur der Manuskripte waren. Wir danken dem Gunter-Narr-Verlag für die Aufnahme des Handbuchs in das Verlagsprogramm und insbesondere Tillmann Bub für seine immer währende Geduld und Freundlichkeit in der Betreuung auch dieses Bandes. Literatur Eichinger, Ludwig M. (2008): Vorwort. In: Eichinger, Ludwig M./ Plewnia, Albrecht/ Riehl, Claudia M. (Hrg.): Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa. Tübingen: Narr, S. VII-X. Eichinger, Ludwig/ Plewnia, Albrecht/ Riehl, Claudia M. (Hrg.) (2008): Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa. Tübingen: Narr. 8 Rahel Beyer / Albrecht Plewnia <?page no="9"?> Haas, Walter (2000): Die deutschsprachige Schweiz. In: Bickel, Hans/ Schläpfer, Robert (Hrg.): Die viersprachige Schweiz. 2., neu bearb. Aufl. Aarau/ Frankfurt a.M./ Salzburg: Sauerländer, S. 57-138. Hinderling, Robert/ Eichinger, Ludwig M. (Hrg.) (1996): Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten. Tübingen: Narr. Hinderling, Robert/ Eichinger, Ludwig M. (1996): Einleitung. In: Hinderling, Robert/ Eichinger, Ludwig M. (Hrg.): Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten. Tübingen: Narr, S. IX-XVII. Plewnia, Albrecht/ Riehl, Claudia M. (Hrg.) (2018): Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Übersee. Tübingen: Narr. Pusch, Claus D. (2010): Old Minorities within a Language Space. In: Auer, Peter/ Schmidt, Jürgen E. (Hrg.): Language and Space. An International Handbook of Linguistic Variation. Bd. 1. Theories and Methods. Berlin/ New York: Mouton de Gruyter, S. 375-390. Roelcke, Thorsten (2009): Geschichte der deutschen Sprache. München: Beck. Sieburg, Heinz (2013): Die Stellung der deutschen Sprache in Luxemburg. Geschichte und Gegenwart. In: Sieburg, Heinz (Hrg.): Vielfalt der Sprachen - Varianz der Perspektiven. Zur Geschichte und Gegenwart der Luxemburger Mehrsprachigkeit. Bielefeld: transcript, S. 81-106. Vorwort 9 <?page no="11"?> Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung 1 Geographische Lage 2 Demographie und Statistik 3 Geschichte 4 Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung 4.1 Wirtschaftliche Situation 4.2 Politische Situation 4.3 Rechtliche Stellung des Deutschen 4.4 Schulsystem 4.5 Kulturelles Leben, Verbände, Institutionen und Medien 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Kontaktsprachen 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen 5.3 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Allgemeines 6.2 Sprachkompetenz 6.3 Sprachgebrauch (Schriftsprache) 6.4 Sprachgebrauch in den Minderheitenorganisationen 7 Spracheinstellungen 8 Linguistic Landscapes 8.1 Die Minderheitensprache in der Mehrheitsgesellschaft 8.2 Zweisprachige Straßenschilder 9 Zusammenfassung Literatur 1 Geographische Lage Die deutsche Minderheit in Dänemark ist ein Produkt der Geschichte; sie befindet sich auf der dänischen Seite des deutsch-dänischen Grenzraums. Dieses Gebiet wird von der deutschen Volksgruppe Nordschleswig genannt - eine Bezeichnung, die daran erinnert, dass das Gebiet ursprünglich den nördlichen Teil des Herzogtums Schleswig bildete. Die dänische Mehrheit nennt diesen Raum hingegen Sønderjylland (Südjütland). Offiziell ist Nordschleswig einsprachig, was u. a. in den einsprachig-dänischen Orts- und Straßennamen zum Ausdruck kommt. Das schließt jedoch nicht aus, dass die deutsche Minderheit intern ihre eigenen Bezeichnungen für Orte und Straßen verwendet und sie einen großen Wunsch nach zweisprachigen dänisch-deutschen Beschilderungen hat. In Bezug auf das Siedlungsgebiet der deutschen Minderheit wird im Folgenden von Nordschleswig gesprochen; bei Ortsnamen werden die <?page no="12"?> deutschen und die dänischen Bezeichnungen genannt. Nordschleswig umfasst heute die vier südjütischen Kommunen Tondern/ Tønder, Apenrade/ Aabenraa, Hadersleben/ Haderslev und Sonderburg/ Sønderborg. Diese Kommunen sind Teil der Region Syddanmark, die aus 22 Kommunen besteht. 1 Abb. 1: Nordschleswig und die Institutionen der deutschen Minderheit 2 Demographie und Statistik 2017 hatten die vier südjütischen Kommunen insgesamt 227.777 Einwohner auf einer Fläche von 3.436 km 2 , d. h. 66 Einwohner pro km 2 . Die deutsche Minderheit stellt mit ungefähr 15.000 Einwohnern 6,5 Prozent dieser Bevölkerung. Die Volksgruppe bildet keine geographische Einheit, sondern lebt in mehreren konzentrierten Ansiedlungen verstreut unter der Mehrheitsbevölkerung. In Nordschleswig lag das Durchschnittseinkommen im Jahr 2014 um 10 Prozentpunkte unter dem Landesdurchschnitt; die Einwohnerzahl ging zurück. Im Jahr 2016 machte die Bevölkerung von Nordschleswig 4 Prozent der dänischen Gesamtbevölkerung aus; im Jahre 2030 werden es voraussichtlich nur noch 3,7 Prozent sein (Sørensen 2016). Dieser Rückgang könnte negative Folgen für die Zukunft der Minderheit haben. Schon heute verlassen viele junge Leute die Region und ziehen bevorzugt in größere Städte außerhalb Nordschleswigs. Es 1 Vgl. www.regionsyddanmark.dk (Letzter Zugriff 29.10.2018). 12 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="13"?> ist zu erwarten, dass sich dieser Prozess noch verstärkt und die Minderheit damit ihre Basis verliert. Eine solche Entwicklung ist für Streuminderheiten durchaus typisch. Eine Analyse der deutschen Schulen und der deutschen Gymnasiasten mit dänischer Personenkennzahl (CPR-Nummer) zeigt, dass sie sich in Bezug auf Bildung nicht von der Mehrheit der Jugendlichen unterscheiden. Die große Mehrheit (87 %) lebt in Dänemark, nur 9 Prozent in Deutschland (Deutscher Schul- und Sprachverein für Nordschleswig 2016a). 3 Geschichte Die deutsche Minderheit ist das Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung des Herzogtums Schleswig. Schleswig war ursprünglich ein fester Bestandteil des dänischen Königreiches, wurde aber im Laufe des 13. Jahrhunderts - als Folge der Belehnungspraxis der dänischen Könige - ein eigenes Herzogtum, das bis 1864 durch Personalunion mit Dänemark verbunden blieb. Über Jahrhunderte lebten Dänen und Deutsche friedlich zusammen, und es wurden als Volksprachen sowohl Dänisch, d. h. ein südjütischer Dialekt, als auch Niederdeutsch und später Hochdeutsch gesprochen. Die überwiegend südjütischsprechenden Deutschgesinnten in Nordschleswig haben ihre Wurzeln in den Volkstumskämpfen, während derer der nationale Gedanke des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewann. Im Königreich Dänemark traten die Nationalliberalen, unterstützt von den Führern der dänischgesinnten Schleswiger, für die Eidergrenze ein und damit für die Eingliederung des Herzogtums Schleswig nach Dänemark. Die Schleswig-Holsteiner und die Deutschgesinnten hingegen verfolgten die Eingliederung Schleswigs und Holsteins nach Preußen. Die Schleswig-Holsteinische Erhebung 1848 bis 1851 (Treårskrigen) führte zu keiner Lösung der Probleme. Der Deutsch-Dänische Krieg 1864 und die folgende Abtretung Schleswigs an Österreich/ Preußen (ab 1866 Preußen allein) brachte hingegen radikale Veränderungen. Während die deutschgesinnte Bevölkerung in Schleswig sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr als nationale Minderheit innerhalb der dänischen Monarchie verstand, waren gleichzeitig umgekehrt die Dänischgesinnten zur Minderheit in Preußen geworden. Die preußische Obrigkeit versuchte die Dänen bezüglich Sprache und Kultur zu assimilieren. Seit 1888 wurde Deutsch überall als Schulsprache durchgesetzt; Dänisch dagegen wurde zu einem Schulfach. Amtssprache und die Sprache in den Kirchen waren schon Deutsch. Diese Politik führte dazu, dass sich die Dänischgesinnten in mehreren nationalen Vereinen in den Bereichen Sprache, Kultur und Schule zu organisieren begannen, in denen sie trotz der preußischen Annexion und Assimilationspolitik am Wunsch nach der Vereinigung mit Dänemark festhielten. Nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg wurde die Grenzfrage 1920 auf der Grundlage der Prinzipien des Selbstbestimmungsrechtes der Völker mit Volksabstimmungen angegangen. In der damaligen Zone 1, die sich nördlich der heutigen deutsch-dänischen Grenze erstreckte, nahmen 1920 91,5 Prozent der Stimmberichtigten teil, von denen zirka 75 Prozent für einen Anschluss an Dänemark votierten - in Städten, die nahe der heutigen Staatgrenze liegen wie Hoier/ Højer, Tondern/ Tønder und Tingleff/ Tinglev, stimmte die Mehrheit jedoch für Deutschland. Dieses Resultat führte zur Abtretung Nordschleswigs an Dänemark und zur Wiedereinführung von Dänisch als Amts-, Schul- und Kirchensprache in diesem Gebiet. Die Deutschgesinnten organisierten sich daraufhin als nationale Minderheit mit deutschen Verbänden und Vereinen. Sie bekamen kommunale und private Schulen, un- Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 13 <?page no="14"?> abhängige Kirchengemeinden und ihre eigene deutschsprachige Presse. Sie organisierten sich außerdem in einer politischen Partei, die eine Grenzrevision forderte. Die deutsche Minderheit bestand teils aus Familien, die sich seit Generationen, angezogen von der deutschen Kultur und der deutschen Sprache, als Deutsche verstanden, auch wenn sie zu Hause den dänischen Dialekt Sønderjysk sprachen; teils stammten sie aus Familien, deren Vorfahren als Handwerker, Kaufleute, Landwirte oder Verwaltungsbeamte vor allem aus Holstein eingewandert waren und ihre deutsche Identität bewahrt hatten. Während des nationalsozialistischen Regimes 1933 bis 1945 wurden viele Mitglieder der Minderheit stark nazifiziert. Sie wurden nach Ende des Krieges 1945 interniert und manche zu Freiheitsstrafen verurteilt. Im selben Jahr erklärte die Minderheit ihre Loyalität gegenüber dem dänischen Staat und erkannte die Grenze von 1920 an. Auf demokratischer Grundlage fand jetzt eine Neuorganisation der Minderheit statt. Der Bund deutscher Nordschleswiger wurde die Dachorganisation für kulturelle und politische Vereine sowie für die Zeitung Der Nordschleswiger . Die geschlossenen deutschen Schulen wurden wieder geöffnet und als private Schulen auf der Basis des dänischen Gesetzes Lov om frie skoler eingerichtet. Nach der Kopenhagener Erklärung 1955 bekamen sie auch das Examensrecht. Eine deutschsprachige Kirche wurde mit vier staatlichen Pastoren in der dänischen Volkskirche etabliert. Später wurde die Versorgung mit Pastoren auch durch die Nordelbische Kirche unterstützt. Die dänischen Reaktionen auf die Entwicklung waren unterschiedlich. Einige wollten, dass die Minderheit - insbesondere durch dänische Schulbildung - vollständig assimiliert wurde. Andere jedoch - vor allem auf nationaler Ebene - verstanden den Wunsch der Minderheit, die deutsche Kultur und Identität zu bewahren. Die Beziehung zwischen Dänisch und Deutsch war immer noch angespannt. Obwohl die Minderheit nun nicht mehr den Anschluss Nordschleswigs an Deutschland anstrebte, war die nationale Frage damit nicht beantwortet. Im Schulwesen konzentrierte man sich darauf, den Kindern und Jugendlichen ein klares Bewusstsein für ihre Verbindung mit Deutschland und ihre deutsche Identität zu vermitteln. Besonders Schulrat Fr. Christensen betonte, dass die Kinder der Minderheit deutsche Schulen zu besuchen hätten und bezeichnete Eltern, die ihre Kinder auf dänische Schulen schickten, als Verräter. Die Minderheit versuchte, diejenigen, die sie für ihrer Gruppe zugehörig hielten, an sich zu binden. Christensen und die Minderheit der Nachkriegszeit waren dabei nicht eigentlich anti-dänisch eingestellt, dachten aber in dänischen und deutschen nationalen Gegensätzen. In gegenseitiger Achtung für einander und für die jeweiligen Unterschiede sollte man in Nordschleswig zusammen, aber getrennt voneinander leben. In den 1960er Jahren begannen einige Jugendliche der Minderheit, die Idee der Isolation und des nationalen Kampfes in Frage zu stellen. Ein junger Student, Günter Weitling, schrieb im Nordschleswiger , die Minderheit solle sich als Brückenbauer zwischen dänischer und deutscher Kultur sehen. Ihm zufolge gehörte der nationale Kampf der Vergangenheit an, während die Zukunft in der entstehenden europäischen Zusammenarbeit lag. Auch die ersten Abiturienten mit dem deutschen und dänischen Abitur des neuen Deutschen Gymnasiums für Nordschleswig erregten Aufsehen mit den rot-weißen dänischen Abiturienten-Mützen, die in Deutschland unbekannt waren. Mehrere der Abiturienten brachten zum Ausdruck, der nationale Kampf gehöre jetzt vor dem Hintergrund des Kalten Krieges der Vergangenheit an. Hinzu kam, dass einige Jugendliche begannen, Interessen zu entwickeln, die über die traditionellen und national aufgeteilten Aktivitäten wie Sport, Pfadfinder und Abendvorträge hinausgingen. 14 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="15"?> Diese Jugendlichen wollten ihre Freizeitaktivitäten selbst arrangieren und planen und nicht von den Dänen isoliert werden. Sowohl politische als auch kulturelle Veränderungen in der Welt außerhalb der Grenzregion fanden Anklang bei der Minderheit. In den 1970er und 1980er Jahren wurden die Ideen der Jugendlichen in der Minderheit generell akzeptiert und übernommen, und die offizielle Zielsetzung des Schulwesens war jetzt, dass die Schüler Verständnis und Verbundenheit sowohl zur dänischen als auch zur deutschen Sprache und Kultur entwickeln sollten. Die Jugendlichen erhielten mehr Mitbestimmung in Bezug auf die Freizeitaktivitäten für Jugendliche, und eine Zusammenarbeit mit dänischen Institutionen und Jugendzentren wurde ermöglicht. Trotz dieser Entwicklung verschwand der alte Gegensatz zwischen Deutsch und Dänisch nicht völlig. Insbesondere ältere Dänen hegten immer noch Skepsis und Gegenwillen der deutschen Minderheit gegenüber. In den folgenden Jahren erreichte die Minderheit eine formale Gleichbehandlung mit der Mehrheit. Dabei war die Minderheit insgesamt zurückhaltend und hat keine Forderungen an die Mehrheit gestellt, die sich ihrerseits für die Mitglieder der Minderheit kaum interessierte. Diese wurden zwar akzeptiert, aber erst in den 1990er Jahren fühlten sie sich respektiert. Zu den Jubiläumsfeiern der dänischen Wiedervereinigung 1995 wurde auch der Vorsitzende des Bundes Deutscher Nordschleswiger, Hans Heinrich Hansen, eingeladen. Das trug dazu bei, das Eis zu brechen, und Hansen sagte anschließend in einem Interview, dass die Minderheit jetzt nicht mehr nur gleichberechtigt, sondern auch gleichwertig mit der Mehrheit sei. Im selben Zeitraum nahm die deutsche Minderheit auch die Zusammenarbeit mit der dänischen Minderheit in Südschleswig auf, insbesondere in finanziellen Angelegenheiten und im Zusammenhang mit der Arbeit der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) und dem Minderheitenschutz des Europarates. 4 Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung 4.1 Wirtschaftliche Situation Die deutsche Minderheit hat keine eigene wirtschaftliche Infrastruktur; nur in der Landwirtschaft ist sie durch ihren eigenen Landwirtschaftlichen Hauptverein für Nordschleswig genügend vertreten. Insgesamt ist die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft in Nordschleswig jedoch gering; im Jahr 2014 waren nur 5,7 Prozent der Beschäftigten in diesem Bereich tätig (Sørensen 2016). Angesichts einer starken Strukturentwicklung mit Spezialisierung und Konzentration der Produktion, die einen großen und fachlich hoch qualifizierten Beratungsbedarf mit sich bringt, wurde 2016 von dänischer Seite vorgeschlagen, den Verein der deutschen Minderheit mit dem dänischen Landwirtschaftsverein zusammenzulegen. Der Vorschlag wurde von deutscher Seite jedoch als Bedrohung für die Minderheit angesehen und dementsprechend abgelehnt. 4.2 Politische Situation Die Schleswigsche Partei (SP) ist der politische Arm des Bunds Deutscher Nordschleswiger (BDN). Sie war von 1920 bis 1943, von 1953 bis 1964 und (zusammen mit einer dänischen Partei) von 1973 bis 1979 mit einem Sitz im dänischen Folketing (Parlament) vertreten. Im Zuge einer Kommunalreform entstand im Jahr 1970 Sønderjyllands Amt (das Amt Südjütland). Die deutsche Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 15 <?page no="16"?> Minderheit erhielt mit 7.501 Stimmen (ein Anteil von 6,6 Prozent) ein Mandat im Amtsrat. 1997 ging der Stimmenanteil auf 3,3 Prozent zurück; die Minderheit blieb aber im Amtsrat vertreten, bis das Amt Südjütland 2007 aufgelöst wurde. Der Landesteil Nordschleswig wurde in vier Großkommunen aufgeteilt, die ein Teil der Region Syddanmark wurden. Die dänische Regierung hat aber der Minderheit ihre Loyalität auf ihrem traditionellen Siedlungsgebiet zugesichert. Die ersten zehn Jahre nach der Aufteilung hatte die SP keinen Kandidaten für den Regionalrat. Nach Erfolgen bei den Kommunalwahlen versuchte die SP 2017, auch in den Regionalrat zu kommen. Ihr Kandidat bekam aber nur 5.202 Stimmen, ein Drittel der für ein Mandat notwendigen Stimmen. Auf kommunaler Ebene war die SP in der Vergangenheit von 1920 bis 1943 sowie 1953 in Stadträten vertreten. Auch aktuell sitzen Vertreter der Partei in den Stadträten aller vier Großkommunen. Seit 2009 betont die SP bei Kommunalwahlen ihre Regionalität. Auf ihrer Webseite heißt es: Als unabhängige und pragmatische Partei der Mitte - frei von übergeordneten Bindungen und Ideologien - setzen wir uns für das Wohl und die Entwicklung in Nordschleswig ein. 2 Ihre politischen Ziele sind grenzüberschreitende Zusammenarbeit, offene Grenzen, Unterstützung der lokalen Industrie, sprachliche und kulturelle Vielfalt und eine ganze Reihe weiterer regionaler Anliegen. Diese wurden seit 2009 in einer Werbekampagne auch auf Sønderjysk (dem dänischen Dialekt der Region) präsentiert. Diese regionale Profil- und Sprachkampagne führte bei den folgenden Wahlen zu einer Verdoppelung der Stimmen von 4.368 (2001) auf 8.620 (2013) bzw. 9.708 (2017). Mehr als die Hälfte der Stimmen entfiel auf einen Kandidat in Sonderburg/ Sønderborg. Seine 4.944 Stimmen gaben zusammen mit 849 Stimmen für andere Kandidaten fünf Mandate im Stadtrat. In Tondern/ Tønder und in Hadersleben/ Haderslev erhielt die SP jeweils ein Mandat, in Apenrade/ Aabenraa zwei. Auf diese Weise ist die SP in den vier Stadtverwaltungen in Nordschleswig vertreten. Das Sekretariat der Volksgruppe in Kopenhagen Nachdem die deutsche Minderheit seit 1979 nicht mehr im dänischen Folketing (Parlament) vertreten ist, wurde ein Kontaktausschuss zum Folketing und zur Regierung gebildet, in dem innerdänische Fragen, die die Minderheit mitbetreffen, behandelt werden. Der Leiter des Sekretariats wird vom Hauptvorstand des BDN gewählt. Mitglieder des Ausschusses sind Repräsentanten des BDN und der Parteien im Folketing; den Vorsitz hat der Minister bzw. die Ministerin des für Minderheitenfragen zuständigen Ministeriums. 3 Der Kontakt zur Bundesrepublik ist durch das 1975 eingerichtete Gremium für Fragen der deutschen Minderheit in Nordschleswig beim Schleswig-Holsteinischen Landtag in Kiel gesichert, das sich aus Mitgliedern des Schleswig-Holsteinischen Landtags und des Bundestags sowie Vertretern des BDN zusammensetzt; den Vorsitz hat der Landtagspräsident bzw. die Landtagspräsidentin. Das Gremium ist für alle Fragen zuständig, die die deutsche Volksgruppe in Nordschleswig betreffen, insbesondere für Informationen über die Minderheit und ihre Haushaltsangelegenheiten, aber zum Beispiel auch für Fragen der deutsch-dänischen Grenzregion. 4 2 www.schleswigsche-partei.dk/ profil-der-sp.16364.aspx (Letzter Zugriff 29.10.2018). 3 www.bdn.dk/ der-kopenhagener-kontaktausschuss.37487.aspx (Letzter Zugriff 29.10.2018). 4 www.nordschleswigwiki.info/ index.php? title=Gremium_f%C3%BCr_Fragen_der_deutschen_Minderheit_beim_Landtag_in_Schleswig-Holstein (Letzter Zugriff 4.12.2018). 16 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="17"?> 4.3 Rechtliche Stellung des Deutschen Die Kopenhagener Erklärung von 1955 Die Kopenhagener Erklärung für die deutsche Minderheit von 1955 ist eine parallele Erklärung zur Bonner Erklärung für die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein. Mit den fast gleichlautenden unilateralen Bonn-Kopenhagener-Erklärungen wurden die zwei Minderheiten gleichberechtigt anerkannt. Die Erklärungen garantieren den beiden Minderheiten ihre allgemeinen Rechte und die formelle Gleichberechtigung, und eine subjektive Definition des Nationalitätsprinzips wurde festgestellt. Wörtlich heißt es: „Das Bekenntnis zum deutschen/ dänischen Volkstum und zur deutschen/ dänischen Kultur ist frei und darf von Amts wegen nicht bestritten und nachgeprüft werden“ (Art. II.1). Auch der Gebrauch der deutschen Sprache von den Angehörigen der deutschen Minderheit ist in der Kopenhagener Erklärung wie folgt garantiert: „Angehörige der deutschen Minderheit und ihre Organisationen dürfen am Gebrauch der gewünschten Sprache in Wort und Schrift nicht behindert werden“ (Art. II.2). Die Erklärung macht keine Aussage über die Minderheitensprache als Verbindung zum Verwandtschaftsstaat oder als Muttersprache der Mitglieder. Darin heißt es lediglich, dass die Mitglieder der deutschen Minderheit und ihre Organisationen nicht daran gehindert werden dürfen, die Sprache ihrer Wahl zu sprechen und zu schreiben. Es wird jedoch hinzugefügt, dass die Verwendung der Minderheitensprache „in Gerichten und Verwaltungsbehörden den einschlägigen Rechtsvorschriften unterliegt“ (Art. II.3). Die Verwendung der Formulierung „die gewünschte Sprache“ anstelle von „die Minderheitensprache“ macht den Absatz interpretierbar. Aus heutiger Sicht bestand jedoch 1955 kein Zweifel daran, dass die Absicht der Erklärung zur Sprachverwendung darin bestand, den Mitgliedern der Minderheit die Wahl der Minderheitensprache zu gewähren. Zu dieser Zeit waren Sprachpolitik und Sprachplanung in den meisten europäischen Nationalstaaten von der Idee des Sprachnationalismus dominiert. Ihr zufolge sind nationale Identität und eine nationale Sprache naturgemäß und untrennbar miteinander verbunden. Die Nationalsprache gilt in diesem Konzept als Ausdruck der Solidarität des Volkes sowie der Einheit der Nation und ist das Bindeglied zwischen dem Verwandtschaftsstaat und den nationalen Minderheiten. Andererseits beinhaltet die Idee des Sprachpluralismus ein Konzept von Mehrsprachigkeit und sprachlicher Vielfalt und akzeptiert, dass jede Sprache oder jeder Dialekt eine Reihe von Bereichen hat, in denen ihr bzw. ihm ein hoher Stellenwert zukommt. Wenn der Wortlaut der Kopenhagener Erklärung „die gewünschte Sprache“ sprachpluralistisch interpretiert wird, könnten die deutschen Minderheitsmitglieder bis auf wenige Ausnahmen Deutsch oder eine deutsche Variante, Dänisch oder den dänischen Dialekt Sønderjysk verwenden. Im täglichen Leben zeigt sich ein Sprachverhalten, das diesen Sprachpluralismus widerspiegelt. Einige ältere Mitglieder der Minderheit interpretieren den Wortlaut jedoch eher sprachnationalistisch und plädieren für die alleinige Verwendung der Minderheitensprache. Das Nebeneinander dieser beiden Konzepte führt zu einer anhaltenden Sprachdebatte. Der Minderheitenschutz des Europarates Die Kopenhagener Erklärung ist kein völkerrechtlich bindendes Dokument. Erst einige Jahrzehnte später hat Dänemark zwei Abkommen ratifiziert, die völkerrechtliche Bindung haben und die deutsche Minderheit erfassen: das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 17 <?page no="18"?> Minderheiten (Rahmenkonvention) im Jahre 1997 und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (Sprachencharta) von 2001. Die Rahmenkonvention bestätigt die Rechte, die die deutsche Minderheit in der Kopenhagener Erklärung schon bekommen hatte: die Zugehörigkeit zur Minderheit ist frei, und Angehörige einer nationalen Minderheit haben das Recht, sich zu versammeln, sich frei zusammenzuschließen; sie haben Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie Zugang zu den Medien. 5 Diese generellen Rechte werden in der deutschen Minderheit nicht so oft diskutiert wie die Sprachencharta, die Regionalsprachen oder Minderheitensprachen schützt und fördert. In Dänemark umfasst sie Deutsch als Minderheitensprache in Nordschleswig und nicht Deutsch als Fremdsprache. 6 Die Charta bestätigt die bereits in der Kopenhagener Erklärung verankerten Rechte. Die Minderheit hat jedoch erklärt, dass die Charta die Minderheit in psychologischer und spezifischer Weise in ihren Bemühungen unterstützt, Deutsch in der Minderheit am Leben zu erhalten (Hansen 2003: 71). Die Minderheit ist auch der Ansicht, dass die Charta einen zusätzlichen Schutz der bestehenden Rechte bietet und sogar eine verstärkte Nutzung der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit begünstigt (Hansen 2002: 82). Sie enthält Pflichten für die Staaten, aber keine Rechte für Einzelpersonen oder Personengruppen. Daher können die Mitglieder der Minderheit nicht das Recht geltend machen, innerhalb der Mehrheitsbehörden und vor Gericht in deutscher Sprache verstanden und angesprochen zu werden. Der Staat hat jedoch die Pflicht, sich darum zu bemühen, Wünschen zur Verwendung der deutschen Sprache nachzukommen. Auch wenn Artikel 1 der Charta erklärt, dass Regional- oder Minderheitensprachen Sprachen sind, die von Staatsangehörigen des Staates verwendet werden, d. h. nicht Sprachen von Migranten, wurde in der parlamentarischen Debatte in Dänemark festgestellt, dass niemand anders behandelt wird, zum Beispiel wegen einer deutschen Staatsbürgerschaft, solange er sich selbst als Angehöriger der deutschen Minderheit betrachtet. Vor diesem Hintergrund will die Minderheit den Gebrauch der deutschen Sprache in den dänischen Medien, wo sie derzeit keine Rolle spielt, sowie in Behörden und in den Institutionen der Mehrheit, insbesondere in der Altenpflege, verbessern. Hier könnten Mitglieder, die Deutsch als Muttersprache haben, zurzeit auf eine Sprachbarriere stoßen. Der Sachverständigenausschuss der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen hat Dänemark dafür kritisiert, in diesen Bereichen nicht genug getan zu haben. 4.4 Schulsystem Der deutsche Zweig der dänischen Gemeindeschule wurde 1945 genauso wie die deutschen Privatschulen geschlossen. In der Folge fand die schulische Bildung der deutschen Minderheit in deutschen Privatschulen statt, gesetzlich verankert in dem dänischen Friskolelov (Gesetz für freie und private Schulen) 7 und errichtet unter dem Dach des Deutschen Schul- und Sprachvereins für Nordschleswig (DSSV) . Die ersten wiedererrichteten deutschen Privatschulen 5 www.bdn.dk/ rahmenuebereinkommen-zum-schutz-nationaler-minderheiten.37509.aspx (Letzter Zugriff 29.10.2018). 6 www.bdn.dk/ europaeische-charta-der-regional-oder-minderheitensprachen.37520.aspx (Letzter Zugriff 29.10.2018). 7 Lov om efterskoler og frie fagskoler www.retsinformation.dk/ Forms/ R0710.aspx? id=192097 (Letzter Zugriff 29.10.2018). Lov om friskoler og private grundskoler www.retsinformation.dk/ Forms/ R0710. aspx? id=192033 (Letzter Zugriff 29.10.2018). 18 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="19"?> entstanden 1946 in den vier größten Städten mit damals 174 Schülern. Andere Schulen in den Dörfern folgten; bis 1955 hatte die Minderheit 29 Schulen mit 962 Schülern, darunter die Deutsche Nachschule Tingleff, die 1951 eröffnet wurde. Sie ist nach dänischer Tradition eine private Schule mit Internat und Unterricht in den Klassen 9 und 10. 8 Durch die Kopenhagener Erklärung hat die deutsche Minderheit 1955 ihr Recht auf die Anerkennung der Abschlussprüfungen (Mittlere Reife, Realschulabschluss, Abitur) wiedererlangt; 1959 wurde das Deutsche Gymnasium für Nordschleswig in Apenrade/ Aabenraa eröffnet. Nun stieg die Zahl der Schüler in den drei Schultypen allmählich auf insgesamt 1.376 im Jahr 1960, auf 1.530 im Jahr 1965 und 1.589 im Jahr 1975. Im Schuljahr 2016/ 17 hatte die Minderheit 14 Schulen und 1.294 Schüler. Fünf dieser Schulen unterrichten die Klasse 0 bis 9/ 10, neun Schulen in den ländlichen Gebieten die Klasse 0 bis 7. Danach wechseln die Schüler die Schule. Das Deutsche Gymnasium hatte 180, die Nachschule 99 Schüler. Insgesamt ergibt sich eine Summe von 1.573 Schülern - eine Zahl, die zeigt, dass sich die Schülerzahl nicht mehr wesentlich verändert. Die öffentliche Schule der deutschen Minderheit Die Schulen der deutschen Minderheit sind seit 2010 faktisch öffentliche Schulen. Im Sinne des dänischen Gesetzes handelt es sich bei den Schulen um Privatschulen; sie werden jedoch - im Gegensatz zu anderen Privatschulen - zu 100 Prozent vom Staat finanziert, während andere Privatschulen nur zu 85 Prozent finanziert werden (und die Eltern selbst die restlichen 15 % bezahlen müssen). Vom Staat bekommen die deutschen Schulen wie andere Freie Schulen auch Zuschüsse für den Betrieb der Schulgebäude; der Deutsche Schul- und Sprachverein bekam 2015 außerdem Zuschüsse aus Deutschland (vom Bund und vom Land Schleswig-Holstein). Diese deutschen Zuschüsse zu den Betriebsmitteln machen zirka 14 Prozent der gesamten Einnahmen aus. Mit den Zuschüssen von Dänemark und Deutschland erreichte der Verein 2015 einen ausgeglichenen Haushalt (während 2014 noch ein Defizit bestand) (Deutscher Schul- und Sprachverein für Nordschleswig 2016b: 90 f.). Der DSSV hat 2013 eine neue Zielsetzung formuliert. Sie lautet: Der Verein hat zum Ziel, deutsche Sprache und Kultur sowie das deutsche Erziehungs- und Bildungswesen in Nordschleswig zu erhalten und zu pflegen. Das Ziel wird erreicht durch die Förderung - von örtlichen Trägervereinen für deutsche Kindergärten und andere selbstständige deutsche sozialpädagogische Einrichtungen - von örtlichen Schulvereinen und ihren deutschen Einrichtungen - des Deutschen Gymnasiums für Nordschleswig - von anderen deutschen kulturellen Einrichtungen und Arbeiten. Auf dieser Grundlage will der Verein aktiv an der kultur- und gesellschaftspolitischen Entwicklung des Grenzlandes mitwirken. (Deutscher Schul- und Sprachverein für Nordschleswig 2013: 1) Diese Zielsetzung zeigt, dass die deutsche Sprache und Kultur im Fokus stehen. 8 Vgl. www.nachschule.dk (Letzter Zugriff 29.10.2018). Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 19 <?page no="20"?> Struktur, Lehrpläne und Sprache in den Schulen Die deutsche Schule ist wie die dänische Volksschule eine Gesamtschule mit 10 Klassenstufen (0. bis 9. Klasse) und einer freiwilligen 10. Klasse. Die Abschlusszeugnisse nach der 9. bzw. 10. Klasse sind sowohl in Dänemark als auch in Deutschland anerkannt. In den Vorbemerkungen zu den Lehrplänen der Grundschule wird ausdrücklich betont, dass die Schüler Fähigkeiten und Kenntnisse in deutscher und dänischer Sprache und Kultur entwickeln sollen (Deutscher Schul- und Sprachverein für Nordschleswig o.J.a). Die Lehrkräfte sollen in Dänemark und Schleswig-Holstein pädagogische, fachliche und akademische didaktische Trends rezipieren. Da die Unterrichtssprache Deutsch ist, wird in allen Fächern außer Dänisch Unterrichtsmaterial aus Schleswig-Holstein verwendet. Deutsche Lehr- und Lernmittel können Lehrkräfte über die Deutsche Medienbank an der Deutschen Zentralbücherei Apenrade/ Aabenraa beziehen; dort gibt es auch ein Beratungsangebot sowie einen Online-Katalog. Dänisches Unterrichtsmaterial ist über das Zentrum für Bildungsressourcen in Hadersleben/ Haderslev erhältlich. Die Fortbildung von Lehrkräften findet an mehreren Orten statt, unter anderem am Institut für Minderheitenpädagogik. Dieses Institut hat der DSSV zusammen mit dem Dänischen Schulverein für Südschleswig in Schleswig-Holstein und dem UC Syd (University College South Denmark) in Hadersleben/ Haderslev eröffnet. 9 Ziel des Instituts ist die Entwicklung und Vermittlung fachlicher Kompetenzen für die pädagogische Arbeit mit Kindern, die in der deutschen und dänischen Minderheit in der deutsch-dänischen Grenzregion aufwachsen. Die Lehrer an den deutschen Schulen haben entweder einen deutschen Lehramts-Abschluss (nach vier Jahren Studium) oder einen dänischen Lehramts-Abschluss (der ein dreijähriger Bachelor-Abschluss ist). Von den rund 125 Lehrern sind zirka zwei Drittel deutsche und ein Drittel dänische Absolventen; heute können beide Gruppen deutsche Beamte werden. Zuvor waren die in Deutschland ausgebildeten Lehrer Einwanderer, aber da es inzwischen keine Residenzpflicht mehr gibt, wohnen heute viele als Grenzpendler in Schleswig-Holstein. Das bedeutet, dass die Minderheit Lehrer in ehrenamtlichen Tätigkeiten verliert, aber auf der anderen Seite gewinnt man Lehrer, die täglich mit deutscher Sprache und Kultur leben. 2017 gab es sechs Wochenstunden Deutschunterricht und fünf Wochenstunden Dänischunterricht in den Klassen 1 bis 4, danach für beide Fächer fünf Wochenstunden. Englisch wird ab der 3. oder 4. Klasse gelehrt. 10 Es gibt also in der deutschen Schule einen starken Fokus auf Mehrsprachigkeit, aber da alle Fächer außer Dänisch und Englisch auf Deutsch unterrichtet werden, gibt es Fachbegriffe, die die Schüler nur auf Deutsch lernen. Im Anfangsunterricht wird dieser Tatsache Rechnung getragen, indem im Lehrplan sowohl für Dänisch als auch für Deutsch ein gemeinsamer Unterrichtsplan für den Sprachunterricht sowie für Lesen und Schreiben empfohlen wird, der grundsätzlich auf Deutsch durchgeführt werden soll, was für die meisten die Zweitsprache ist. Der Lese- und Schreibunterricht, der hauptsächlich in den Deutschstunden stattfindet, wird durch dänische Lese- und Schreibübungen ergänzt. Die Dänisch- und die Deutschlehrer behandeln ein gemeinsames Thema, so dass die Schüler früher oder später die Begriffe in beiden Sprachen lernen; die Erfahrungswelt der Kinder wird 9 Vgl. www.ucsyd.dk/ forskning/ center-mindretalspaedagogik (Letzter Zugriff 29.10.2018). 10 www.dssv.dk/ files/ dssv/ dateien/ DSSV%20Stundentafel%20Neu%20ab%2001_08_2014.pdf (Letzter Zugriff 29.10.2018). 20 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="21"?> damit in den beiden Sprachen einbezogen und erweitert. Dieser sogenannte integrierte oder koordinierte Anfangsunterricht findet seit 25 Jahren mit schuleigenen Lehrmaterial statt (Pedersen 2010). Für 2018 ist ein Projekt des Zentrums für Minderheitenbildung zur Erarbeitung gemeinsamen Unterrichtsmaterials geplant. Unterrichtsgespräche zwischen Lehrern und Schülern und die schriftliche Kommunikation finden auf Deutsch statt; die Schüler untereinander kommunizieren jedoch in den Pausen und oft auch während des Unterrichts auf Sønderjysk. In den Klassen mit Dänisch als Unterrichtsfach sprechen Lehrer und Schüler Standarddänisch. Sønderjysk wird dagegen als die private Sprache der Schüler angesehen und selten zum Unterrichtsgegenstand gemacht, obwohl Unterrichtsmaterial für das Sprachbewusstsein und den Dialekt zur Verfügung steht (Pedersen et al. 1993). Deutsches Gymnasium und die Nachschule Der DSSV betreibt seit 1959 auch das Deutsche Gymnasium für Nordschleswig (DGN) in Apenrade/ Aabenraa. Es umfasst drei Klassen. Die Abschlussprüfung, das Abitur, ist sowohl in Dänemark als auch in Deutschland anerkannt. Es handelt sich um ein privates Gymnasium, gefördert durch den dänischen Staat und die Bundesrepublik Deutschland, wodurch es für die Eltern kostenlos ist. Heute besucht etwa die Hälfte der Schüler der deutschen Minderheitenschulen das Gymnasium. Zweisprachigkeit ist ein zentrales Element des Gymnasiums: Sowohl Deutsch als auch Dänisch werden auf muttersprachlichem Niveau vermittelt mit Deutsch als verbindlicher Unterrichtssprache. Die Schule hat den Anspruch, ihre Schüler in die deutsche und dänische Kultur ein[zu]führen. Dabei ist unsere Schule offen auch für Schüler, die nicht aus Nordschleswig kommen. Unsere Lage im Grenzland unterstützt ein vorurteilsfreies Miteinanderumgehen. 11 Die meisten Schüler studieren danach in Dänemark, wo sie keine Studiengebühren bezahlen müssen und unabhängig vom Einkommen der Eltern eine dänische Studienunterstützung vom Staat ( Statens Uddannelsesstøtte , SU) bekommen. Die Nachschule Tingleff wurde 1951 gegründet. Heute sollen die Schüler die dänische und deutsche Kultur und Sprache kennen und schätzen lernen. Es ist eine private Schule für die 9. und 10. Klasse mit Internat nach dem Gesetz der freien Internatsschulen ( Lov om efterskoler og frie fagskoler ). Sie wird teilweise vom Staat unterstützt, und die Eltern bezahlen den Rest. An der Nachschule können die Schüler sowohl das dänische Abschlussexamen mit 9.- oder 10. Klasse-Prüfungen ablegen als auch einen deutschen Hauptschul- und Realschulabschluss erwerben. 2016 schlossen 49 Prozent der Schüler eine gymnasiale Ausbildung an. Die Entwicklung der Kindergärten Obwohl die meisten Kinder nicht die Minderheitensprache als Muttersprache haben, kommen sie bereits mit Deutschkenntnissen in die Schule. Diese werden typischerweise ab einem Alter von drei Jahren in den Kindergärten der Minderheit erworben, in denen sowohl Deutsch als auch der dänische Dialekt gesprochen werden. Die Lehrerinnen und Lehrer sprechen Deutsch 11 www.deutschesgym.dk/ category/ gymnasium/ (Letzter Zugriff 29.10.2018). Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 21 <?page no="22"?> im Zusammenhang mit Aktivitäten wie Singen, Spielen und Essen, ebenso wie im Dialog mit Kindern, die Deutsch als Muttersprache haben oder seit etwa einem Jahr im Kindergarten sind. Dagegen sprechen sie mit den jüngsten, dialektsprechenden Kindern Sønderjysk. Beim Verlassen des Kindergartens im Alter von sechs Jahren haben die Kinder Deutsch als Minderheiten-Zweitsprache erworben. Im Jahr 2016 hatte der DSSV 20 Kindergärten mit 635 Kindern. Im Jahr 2004 wurde das Recht der deutschen Minderheit auf eigene Kindergärten von einem Bürgermeister in einer Kleinstadt in Nordschleswig in Frage gestellt. Er schlug vor, den dänischen und den deutschen Kindergarten zusammenzulegen, da ohnehin alle Kinder zu Hause Dänisch sprächen. Die Minderheit lehnte dieses Ansinnen mit Verweis auf die Kopenhagener Erklärung ab und stellte fest, dass die Bildung ein entscheidender Faktor für die Aufrechterhaltung der deutschen Sprache sei. Im selben Jahr lud ein deutscher Minderheitenkindergarten in einer anderen Stadt die Kinder der Mehrheit ein, in den Kindergarten der Minderheit zu gehen, um eine Zweisprachigkeit in Dänisch und Deutsch zu erwerben. Diese beiden Fälle zeigen, dass die Minderheit einerseits ihre Integrität bewahren will, andererseits aber auch offen für die Mehrheit ist und bereit ist, die Vorteile der Zweisprachigkeit zu teilen. Und es signalisiert, dass Zweisprachigkeit ein erklärtes Ziel der Minderheit ist. Dieses Ziel dürfte ein Grund dafür sein, warum auch dänische Eltern sich für deutsche Kindergärten entscheiden und die Zahl der Kinder steigt. Ein charakteristischer Trend ist die Offenheit der Bildungseinrichtungen der Minderheit (Kindergarten, Schule, Gymnasium und Nachschule) gegenüber der dänischen Mehrheit. Die Tatsache, dass auch die Eltern der Mehrheit ihre Kinder in die Institutionen der Minderheit schicken, zeigt, dass eine Denationalisierung stattfindet und dass Zweisprachigkeit und der Anschluss an zwei Kulturen für viele Eltern attraktiv sind. Andererseits ist der Rückgang der nationalen Zugehörigkeit auch auf Eltern zurückzuführen, die selbst in die Schulen der deutschen Minderheit gegangen sind. Einige von ihnen wählen eine Mehrheitsschule für ihre Kinder, um sich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, obwohl eine Minderheitenschule in der Nähe wäre. Früher hätten die Großeltern gegen diese Entscheidung protestiert, aber wie in einem Interview im Jahr 2012 gesagt wurde, treffen alle Eltern ihre autonomen Entscheidungen (Pedersen 1983-2013). Ein weiteres Beispiel für diese Denationalisierung ist, dass ein Leiter einer dänischen Minderheiteneinrichtung in Schleswig-Holstein 2017 Leiter eines deutschen Minderheitenkindergartens in Nordschleswig wurde. Traditionell standen die Minderheiten beiderseits der Grenze in diametralem Widerspruch zueinander; heute kooperieren sie in Bildung, Politik und finanziellen Angelegenheiten. 4.5 Kulturelles Leben, Verbände, Institutionen und Medien Der BDN Der Bund Deutscher Nordschleswiger (BDN) ist die Hauptorganisation der deutschen Volksgruppe. Er wurde 1945 gegründet und umfasst die Bereiche Kultur, Bildung, Religion, Sport, Soziales und finanzielle Angelegenheiten, Politik und Presse. Alle diese Bereiche haben ihre eigenen unabhängigen Verbände, die Delegierte für die BDN-Versammlung benennen. Name, Zielsetzung und Aufgaben des Bunds werden in der Satzung von 2015 folgendermaßen beschrieben: 22 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="23"?> Der Verein führt den Namen Bund Deutscher Nordschleswiger . Der Hauptsitz des Vereins ist Apenrade. Ziel und Zweck des Bundes ist - in Übereinstimmung mit der dänischen Verfassung und Gesetzgebung, der Kopenhagener Minderheitenerklärung vom 29. März 1955, der Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten (1998) und der Sprachencharta (2001) - die Förderung der deutschen Volksgruppe in Nordschleswig und die Mitwirkung an einer einträchtigen Entwicklung des deutsch-dänischen Grenzlandes. (Bund Deutscher Nordschleswiger 2015a: 1) Der BDN gliedert sich in vier Bezirke (Hadersleben, Apenrade, Sonderburg und Tondern) bzw. 18 Ortsvereine im Jahr 2017. 2015 zählte der BDN zirka 2.800 Mitglieder. Neben dem Hauptvorsitzenden gibt es einen Generalsekretär. Der Hauptvorstand ist das übergeordnete Leitungsgremium und zuständig für grundsätzliche Angelegenheiten sowie für den Gesamthaushalt der Minderheit. Unter dem Dach des BDN sind die Schleswigsche Partei, der Deutsche Schul- und Sprachverein, der Sozialdienst, die Bücherei, der Jugendverband, der Presseverein, die Nachschule sowie der Ruderverband vertreten. Zentrale Geschäftsstelle des BDN ist das Deutsche Generalsekretariat im Haus Nordschleswig in Apenrade/ Aabenraa. In diesem Haus befinden sich auch die Schleswigsche Partei, der Deutsche Schul- und Sprachverein, der Jugendverband, die Bücherei und der Sozialdienst. Abb. 2: BDN/ SP Struktur 12 Neujahrstagung und „Deutscher Tag“ Der BDN hat jedes Jahr zwei Veranstaltungen, an denen die deutsche Minderheit zusammenkommt und sich seinen Nachbarn präsentiert. Im Januar findet eine mehrtägige Neujahrstagung in einer Bildungsstätte des Deutschen Grenzvereins in Sankelmark (bei Flensburg) in Schleswig-Holstein statt. Hierbei treffen sich Gäste des Grenzvereins mit Mitgliedern und Freunden der deutschen Minderheit. Auf dem Programm stehen Vorträge über die Minder- 12 Quelle: www.bdn.dk/ struktur (Letzter Zugriff 29.10.2018). Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 23 <?page no="24"?> heit sowie politische und kulturelle Themen in Dänemark und Deutschland, Diskussionen, gemütliches Zusammensein der rund 150 Teilnehmer und jedes zweites Jahr auch das Kabarett „Heimatmuseum“ mit Parodien über die Minderheit. Der „Deutsche Tag“ findet immer am ersten Sonnabend im November in der Turnhalle in Tingleff/ Tinglev statt. 13 Diese Tradition wurde 1921 gegründet und im Jahr 1948 wieder aufgenommen. Vormittags findet eine Informationsveranstaltung mit Referaten zur Situation der deutschen Minderheit und der politischen Lage in Dänemark statt. Nachmittags nehmen rund 500 Gäste der deutschen Minderheit, der Mehrheitsbevölkerung Dänemarks und Schleswig-Holsteins und andere Minderheiten an einer Festveranstaltung teil. Das Programm umfasst einen Festvortrag, Grußworte deutscher und dänischer Politiker und musikalische Beiträge. Das jährlich wechselnde Motto nimmt aktuelle Entwicklungen auf und soll das Selbstverständnis der Volksgruppe ausdrücken. Das Motto von 2017 „Vielfalt wählen - SP unterstützen! ” war mit der offenen Werbung für die Schleswigsche Partei ein ungewöhnlich politisches Motto mit Bezug zur Kommunal- und Regionalwahl im selben Monat. Früher waren die Mottos nicht so direkt politisch, sondern unterstrichen eher Werte, wie zum Beispiel „Gemeinschaft stärken - Mitglied werden! “ (2016), „Minderheit: Toleranz und Verantwortung“ (2015) oder „Minderheit: Menschen machen’s möglich“ (2014). Das Motto hängt während der Veranstaltung als Banner in der Turnhalle. An einer anderen Wand hängen die EU-Flagge, die blau-gelbe Flagge der Minderheit, die schleswig-holsteinische, die deutsche und die dänische Fahne nebeneinander. Damit wird symbolisiert, wer die deutsche Minderheit ist, und dass Gäste willkommen sind. In Verbindung mit dem „Deutschem Tag“ finden auch lokale und regionale BDN-Veranstaltungen statt. Abb. 3: Flaggen Deutscher Tag 13 www.bdn.dk/ deutschertag (Letzter Zugriff 29.10.2018). 24 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="25"?> Deutsche Bibliotheken Heute gibt es eine Zentralbücherei in Apenrade/ Aabenraa und vier Filialen in Hadersleben/ Haderslev, Sonderburg/ Sønderborg, Tondern/ Tønder und Tingleff/ Tinglev. Die Zentralbücherei versorgt auch fünfzehn Schulbibliotheken und zwei Büchereibusse für Angehörige der Minderheit, die mehr als fünf Kilometer von einer deutschen Bibliothek entfernt leben. Die deutschen Bibliotheken unterliegen dem dänischen Recht und werden zu zirka 35 Prozent vom dänischen Staat und zu 65 Prozent vom deutschen Staat finanziert. (Die dänischen öffentlichen Bibliotheken werden dagegen von den Gemeinden finanziert.) Ein neues Bibliotheksgesetz aus dem Jahr 2000 hat die dänischen und deutschen Bibliotheken stark verändert. Es besagt, dass öffentliche Bibliotheken freien Zugang zu Musik, Internet und elektronischem Material sowie zu gedrucktem Material gewähren müssen. Das hat neue Nutzer gefunden, die die Medien auf der Webseite der deutschen Bibliotheken finden oder die Bibliothekare in der Bibliothek befragen. Die deutschen Bibliotheken verzeichnen mittlerweile über 350.000 Ausleihen im Jahr. Aus sprachlicher Sicht ist es für die Entwicklung der rezeptiven Deutschkompetenz wichtig, dass deutsche Medien für jeden zugänglich sind. Da die Bibliothekare mit den Ausleihern Deutsch sprechen, gehört die Bibliothek zu den Einrichtungen außerhalb von Kindergarten, Schule und Kirche, in denen Deutsch die Regel ist. So haben die Bibliotheken auch Einfluss auf die produktive Kompetenz in deutscher Sprache. Medien Die deutsche Minderheit verfügt über keine eigenen Fernsehprogramme. Mit finanzieller Unterstützung des Kultusministeriums kauft sie Sendezeit bei den dänischen Sendern, um von Montag bis Freitag drei Mal täglich eineinhalb Minuten Nachrichten auf Deutsch zu senden. Diese medienpolitische Begrenzung wird heute teilweise durch die digitale Verfügbarkeit der Minderheitenzeitung Der Nordschleswiger aufgefangen. Diese Tageszeitung vertritt die offizielle Position der Minderheit in politischen und kulturellen Angelegenheiten nach außen und informiert über die Belange der Minderheit. Sie erscheint in deutscher Sprache; Städtenamen werden jedoch auf Deutsch und Dänisch genannt; dänische Begriffe, die schwer übersetzbar sind, bleiben auf Dänisch und werden kursiv gesetzt. Bei offiziellen Titeln wird oft die dänische Entsprechung als Erläuterung in Klammern ergänzt, zum Beispiel „Regierungschef (Statsminister)“. Die dänische Sprache ist in geringem Umfang außerdem zum Beispiel in Leserbriefen und in Werbeanzeigen vertreten. Der Nordschleswiger ist seit 2001 online, anfangs nur mit ausgewählten Artikeln der aktuellen Tagesausgabe; seit 2009 sind E-Abos möglich. Seit 2017 sind auf der neugestalteten Webseite auch Reportagen und Videos von aktuellen regionalen Ereignissen auf Dänisch mit deutschen Untertiteln eingestellt. Diese Umstellung und Entwicklung zum Online-Journalismus mit kürzeren Texten, Faktenboxen, Fotos und Videos bekommt seit einigen Jahren Unterstützung vom Kultusministerium in der Hoffnung, dass die Minderheit auf diese Weise gute Online-Angebote statt Radio und Fernsehen bekommt. Darüber hinaus bekommt Der Nordschleswiger - wie andere Zeitungen in Dänemark auch - staatliche Medienunterstützung in Höhe von 3 Mio. DKK (2017) sowie 18 Mio. DKK vom BDN. 2013 begann Der Nordschleswiger eine umfassende Zusammenarbeit mit deutschen und dänischen Medien, worin alle Texte und Fotos frei zugänglich sind. Dies Zusammenarbeit Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 25 <?page no="26"?> umfasst in Schleswig-Holstein den Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag und die dänische Minderheitenzeitung Flensborg Avis und in Dänemark JydskeVestkysten , die einzige dänische regionale Zeitung in Nordschleswig. Damit werden die ökonomischen Ressourcen aller Zeitungen besser ausgenutzt. Trotzdem hindert es die Minderheitenzeitung nicht daran, eigene Aspekte und Auffassungen mitzuteilen. Im Jahr 2014 bekam diese Zusammenarbeit einen neuen Rahmen, als ein neues deutsch-dänisches Medienhaus in Apenrade/ Aabenraa für Den Nordschleswiger, JydskeVestkysten und Syddanske Medier (heute Teil von Jysk Fynske Medier ) eingeweiht wurde. An einem Turm des Gebäudes laufen Nachrichten je eineinhalb Minuten auf Deutsch und auf Dänisch auf einem Lichtband. Zwei Jahre später (2016) konnte Der Nordschleswiger sein 70-jähriges Jubiläum feiern. Die deutschsprachige Zeitung erschien ab 1946 als Wochenzeitung; sie war die erste freie deutsche Zeitung in Westeuropa. Seit 1951 ist sie eine Tageszeitung, mit aktuell rund 2.000 Abonnenten und vermutlich einem Leserkreis von bis zu 10.000 Menschen - im Vergleich zu der Anzahl der Mitglieder in der Minderheit eine hohe Anzahl. Der Nordschleswiger redigiert auch die Zeitung WIR , die sich an Schulkinder und ihre Eltern richtet. Sie wird seit 2016 vier Mal im Jahr kostenlos an Kinder verteilt. Die Artikel der Zeitung sind auf Deutsch geschrieben mit einer kurzen Zusammenfassung auf Dänisch, so dass sowohl die Sprache als auch die Minderheitenidentität gefördert werden. Der Deutsche Jugendverband für Nordschleswig (DJN) Der Deutsche Jugendverband für Nordschleswig wurde 1947 gegründet. In der Satzung des Jugendverbandes von 2017 ist als Ziel und Zweck des Jugendverbands festgesetzt, im Rahmen der deutschen Sprache Kultur, Sport und politische Bildung zu pflegen und zu fördern. 14 Mitglied kann jeder Verein und Klub werden, der den Zielen zustimmt. 2017 hatte der DJN 21 Mitglieder, darunter Freizeit- und Jugendclubs, Sportclubs aller Art, eine Blaskapelle, den Club der Rappes (für Kinder aus Rapstedt/ Ravsted) oder die Jungschützen Tondern (aus Tondern/ Tønder). Der Jugendverband ist Träger der Jugend- und Bildungsstätte „Knivsberg“. Sie ist kulturelles Zentrum und Treffpunkt der Minderheit. Hier finden Seminare zur politischen Bildung, Konzerte, Klassenfahrten und eine Reihe von Kursen in den Bereichen Kunst und Handwerk oder auch Erste-Hilfe-Kurse statt. In Zusammenarbeit mit dem DSSV wurde 2017 ein Lerngarten realisiert. Dabei handelt es sich um ein Projekt für Kinder aller Altersgruppen, das es ermöglicht, die Natur mit allen Sinnen zu erleben. Knivsbergfest Jedes Jahr im Juni organisiert der DJN das Knivsbergfest. Früher war dieses Fest eine politische Manifestation der Minderheit, heute ist es ein Familienfest für Jung und Alt. In der Broschüre der Bildungsstätte Knivsberg heißt es: Auch 2017 findet das Fest der Feste statt. Der Knivsberg lädt alle Verbände, Vereine, Institutionen, Freunde und Interessierte auf den Knivsberg ein. Kommt und genießt diesen Tag zusammen mit uns. Gemeinsam bieten wir Jungen sowie erwachsenen Sport-, Musik- und Kulturinteressierten einen Tag voller Spiel und Spaß. Alle sind willkommen, diesen Tag in vollen Zügen gemeinsam zu genießen. 14 http: / / djfn.dk/ satzung (Letzter Zugriff 29.10.2018). 26 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="27"?> So macht Nordschleswig mit einer vielfältigen Mischung aus Sport, Kunst & Kultur, Offiziellem, Kulinarischem, Information & Unterhaltung das Knivsbergfest zu einem jährlichen Highlight. Dabei ziehen alle Akteure an einem Strang, um das Knivsbergfest als Fest der gesamten Minderheit zu gestalten. Seid dabei, habt Spaß und genießt mit uns die Vielfalt Nordschleswigs! (Brücke 2017: 11) Für die Schüler der Minderheitenschulen war das Knivsbergfest 2016 und 2017 ein regulärer Schultag; die Schüler trugen T-Shirts mit Schullogo, sie wurden mit Bussen nach Knivsberg/ Knivsbjerg gebracht und anschließend von ihren Eltern abgeholt. Diese Aktion erhöhte die Teilnehmerzahl beträchtlich. Sozialdienst Nordschleswig Der Sozialdienst Nordschleswig ist ein Dachverband für 15 Ortsvereine mit über 4.500 Mitgliedern. Er leistet eine Familienberatung und Besuchsfreunde und ist Träger des Hauses Quickborn, einer Begegnungs- und Erholungsstätte an der Flensburger Förde. 15 Die Ortsvereine unterstützen Kurse, Veranstaltungen und Reisen für Familien, Jugend und Senioren. Das Leben der Minderheit ist für manche Mitglieder eng an den Sozialdienst geknüpft, so dass in vielen Orten das Aktivitätsniveau sehr hoch ist. Wie in Kindergärten und Schulen sind auch hier Majoritätsdänen willkommen. Während gemeinsame Aktivitäten - zum Beispiel im Rahmen des Sozialdienstes - früher wegen der nationalen Gegensätze undenkbar waren, nehmen heute durchaus einige Dänen daran teil. Die Familienberatung erfolgt in enger Zusammenarbeit mit Behörden, Gesundheitswesen, Selbsthilfegruppen und den Ortsvereinen. Eine deutschsprachige Kirche Die Minderheit hat volle Religions- und Sprachfreiheit. Sowohl die deutsche Minderheit als auch die dänische Mehrheit sind evangelisch-lutherisch und teilen sich auch die bestehenden Kirchengebäude der dänischen Folkekirke . Seit 1920 werden die Gottesdienste und kirchlichen Amtshandlungen in deutscher Sprache durchgeführt. Die kirchliche Versorgung erfolgt einerseits durch deutschsprachige Stadtgemeinden in der dänischen Volkskirche ( Folkekirke ) in den vier größten nordschleswigschen Städten Apenrade/ Aabenraa, Hadersleben/ Haderslev, Sonderburg/ Sønderborg und Tondern/ Tønder und andererseits in den ländlichen Gebieten durch die Nordschleswigsche Gemeinde , die - 1923 als Freikirche nach dänischem Recht gegründet - selbständig ist, aber durch einen Anschlussvertrag eng mit der Nordkirche (früher Nordelbische Kirche ) verbunden ist. Sie hat fünf Pfarrbezirke, und zwar Burhkall/ Burkal, Gravenstein/ Gråsten, Hoyer/ Højer zusammen mit Lügumkloster/ Løgumkloster, Süder Wilstrup/ Sønder Vilstrup und Tingleff/ Tinglev, wo sich auch ein Kirchenbüro befindet. Früher gab es sieben Pfarrbezirke im ländlichen Bereich, heute sind es wegen gesunkener Einnahmen der Kirchensteuer in der Nordkirche, von der der Lohn des Pastors bezahlt wird, nur noch fünf. Die Pastorinnen und Pastoren unterstehen der geistlichen Aufsicht des Bischofs in Schleswig in Schleswig-Holstein. Die deutschsprachige kirchliche Versorgung in Nordschleswig ist nach Meinung der Nordschleswigschen Gemeinde für den Zusammenhalt der Volksgruppe von nicht zu unterschät- 15 www.sozialdienst.dk (Letzter Zugriff 29.10.2018). Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 27 <?page no="28"?> zender Bedeutung, da sie auch solche Menschen an die Minderheit bindet, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht den politischen oder kulturellen Organisationen der deutschen Volksgruppe anschließen möchten. Dazu kommt die Förderung der deutschen Sprache durch die Kirche, da sowohl mündlich als auch schriftlich nur Deutsch gebraucht wird. 16 Das kulturelle Leben der Minderheit Der BDN hat einen Kulturausschuss, der für die Gesamtplanung der Kulturarbeit der Volksgruppe zuständig ist. Jährlich findet eine Kulturkonferenz für alle Mitglieder und Interessierten statt. Die Veranstaltungen des „Festivals Deutscher Kultur“, die von den verschiedenen Verbänden arrangiert werden, spielen zusammen mit der Kirche eine große Rolle für das kulturelle Leben der Minderheit. Dazu kommt eine Reihe von kulturellen Traditionen, die die Minderheit mit der dänischen Majoritätskultur in Nordschleswig oder der deutschen Majoritätskultur in Schleswig-Holstein oder beiden gemeinsam hat. Minderheit und Mehrheit in Nordschleswig teilen den Mutterschaftsstorch (barselsstork) , das Katzenschlagen zu Fasching, Ostereier an Zweigen zur Dekoration, den Osterbrief, das Sankt-Hans-Feuer (am Abend des 23. Juni), Lanternelaufen, Wünsche für ein Frohes Neues Jahr mit Knallern vor der Tür und die Abiturientenmütze. Schultüten zur Einschulung hingegen und die Feier der deutschen Wiedervereinigung teilt die Minderheit allein mit der Majoritätskultur in Deutschland. Diese Zweiströmigkeit gehört zu der Besonderheit der Kultur der Minderheit. Sie ist sowohl mit der deutschen als auch der dänischen Kultur verwoben, die ihrerseits miteinander eng verwoben sind in Traditionen, die sich immer über die deutsch-dänische Grenze bewegen. In der Literatur bekennen sich einige Schriftsteller Nordschleswigs eindeutig zur deutschen Minderheit und schreiben dementsprechend auch in deutscher Sprache. Oft haben Schriftsteller im Deutschen Volkskalender Nordschleswig debütiert und hier in den folgenden Jahren Novellen und Gedichte publiziert. Diese Möglichkeit existiert nicht mehr; 2011 ist das letzte Jahrbuch erschienen, der Volkskalender wurde nach 85 Jahren wegen Sparmaßnahmen eingestellt. Digitale Medien können vielleicht ihre Rolle als Kulturvermittler übernehmen. Westergaard (2000) schreibt, dass drei Autoren den Kern bilden: Hans Schmidt-Gorsblock (1889-1982), Harboe Kardel (1893-1982) und Ingrid Brase Schloe (geb. 1925), die alle Lyrik, Kurzprosa und Romane publiziert haben. In ihren Werken wird zum einen sehr viel Toleranz, zum anderen Identitätsfindung thematisiert. Letzteres bewegt nicht nur die Minderheit, sondern alle Menschen in dieser Grenzregion, in der zwei Kulturen und Sprachen aufeinander treffen. Der Autor Hans Schmidt Petersen (geb. 1962) gehört auch zur deutschen Minderheit, wohnt aber in Berlin. Sein Debüt-Roman erschien in dänischer Sprache, danach folgte eine Reihe von Kriminalromanen in deutscher Sprache. Auch bildende Künstler und Musiker gehören zur Minderheit, doch ist es in diesen Kunstformen schwerer auszumachen, ob sich darin die Identität der Minderheit niederschlägt oder ob nicht eher übernationale Stimmungen bzw. individuelle Haltungen und Stile zum Ausdruck kommen. 16 www.kirche.dk (Letzter Zugriff 29.10.2018). 28 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="29"?> 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Kontaktsprachen In Nordschleswig werden mehrere Nationalsprachen, Regionalsprachen und Dialekte gesprochen. Dänisch ist die offizielle Sprache, Deutsch ist als Minderheitensprache anerkannt, und sowohl die Dänen als auch die deutsche Minderheit sprechen den dänischen Dialekt Sønderjysk (Südjütisch). Dazu kommen weitere dänische und deutsche regionale Varietäten und die Sprachen und Dialekte von Migranten. 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen 5.2.1 Regionaler Standard Die offizielle Sprache der deutschen Minderheit ist Hochdeutsch, mündlich und schriftlich. Als Norm gilt dabei weithin ein am norddeutschen Regionalstandard orientierter Standardbegriff. Am ehesten wird diese Standardsprache von denjenigen Mitgliedern der Minderheit gebraucht, die in Schleswig-Holstein aufgewachsen sind. Die Mitglieder, die in Nordschleswig geboren sind, aber in Deutschland studiert oder gearbeitet haben, beherrschen ebenfalls sehr oft diesen Standard; er ist aber nicht ihre tägliche Umgangssprache. 5.2.2 Umgangssprache Nordschleswigdeutsch - eine regionale Minderheiten-Kontaktvarietät Die meisten Mitglieder der Minderheit, die in Nordschleswig geboren sind und dort leben und deren Eltern dänische Staatsbürger sind, sprechen Nordschleswigdeutsch. Sie sprechen diese regionale Kontaktvarietät unabhängig davon, ob ihre Muttersprache Deutsch oder Sønderjysk ist. Mitglieder der Minderheit mit deutscher Staatsbürgerschaft, die als Erwachsene nach Nordschleswig gezogen sind, passen sich selten der regionalen Minderheitsvielfalt an. Sie selbst verwenden Hochdeutsch oder eine am norddeutschen Regionalstandard orientierte Varietät. Ihre Kinder, die in Nordschleswig in der Minderheit aufwachsen, neigen jedoch dazu, sich an Nordschleswigdeutsch zu gewöhnen; sie erwerben es typischerweise von ihren Freunden im Kindergarten und in der Schule. In der Minderheit und bei ihren Repräsentanten besteht ein Bewusstsein dafür, dass Nordschleswigdeutsch anders ist als Hochdeutsch, und es besteht die Tendenz, diese Vielfalt als regionale Varietät zu pflegen. Die wichtigsten Merkmale, die diese Varietät charakterisieren, liegen in der Prosodie. Zunächst wird das dänische Intonationsmuster auf das Deutsche übertragen. Das dänische Intonationsmuster unterscheidet sich vom deutschen vor allem in Fragen und in nicht-abschließenden Sätzen. Der deutsche Aufwärtston, der lokal für die letzten Worte der Phrasen verwendet wird, wird durch ein fallendes Grenztonmuster in den Fragen und einen geraden Ton in den nicht-abschließenden Phrasen ersetzt. Im Bereich der Lexik wird das dänische Betonungsmuster oft auf Wörter mit ähnlicher Schreibweise in dänischer und deutscher Sprache übertragen. Die Wörter aktiv und Asphalt zum Beispiel werden dem Dänischen entsprechend oft auf der ersten Silbe betont und nicht auf der zweiten Silbe wie im Hochdeutschen. Die Wörter elendig und konservativ folgen dem dänischen Betonungsmuster, indem sie auf der zweiten Silbe betont werden, nicht auf der ersten Silbe. Dabei kann die Betonung unabhängig von ihrer Position in einem Lexem abweichen (Pedersen 2000: 213). Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 29 <?page no="30"?> Auf der segmentalen phonetischen Ebene können die Vokale nach dem dänischen Vokalsystem mit 25 Vollvokalen ausgesprochen werden, während Hochdeutsch nur 14 Vollvokale hat. Deutsche Konsonantencluster, die es im Dänischen nicht gibt, zum Beispiel initiales / sch-/ und finales / -ch/ weichen in ihrer Realisierung leicht von der hochdeutschen Form ab (Pedersen 2000: 213, Westergaard 2008: 361). Innerhalb der Semantik zeichnet sich das deutsche Lexikon durch lexikalischen Transfer von Sønderjysk und Standarddänisch ins Deutsche aus. Die gebräuchlichsten Arten sind Lehnwörter, Lehnübersetzungen und Lehnübertragungen. Dänische Namen oder Bezeichnungen von Mehrheitsinstitutionen werden in Nordschleswigdeutsch häufig verwendet, entweder als Lehnwörter, wie zum Beispiel statsminister , oder als Lehnübersetzungen, wie zum Beispiel ‚Regionsrat‘ für das dänische regionsråd . Sie gelten als kreative Ausdrucksformen, die den Anwendungsbereich der Minderheitensprache um ein Vokabular erweitern, das für die sprachliche und soziale Situation der Minderheit nützlich ist und oft kein Äquivalent im binnendeutschen Standard hat. Ein Beispiel für Lehnübertragung ist das deutsche Wort ‚Frucht‘, das dem dänischen Wort frugt ähnlich ist und anstelle von ‚Obst‘ verwendet wird (Pedersen 1988: 6). Ein weiteres Beispiel ist das dänische Wort kamp (‚Kampf ‘). Diese Bezeichnung, die auf Dänisch nicht nur den kriegerischen Kampf oder einen Wettkampf bezeichnet, sondern hier auch für Spiele zwischen Mannschaften verwendet wird, erhält beispielsweise im Deutschen eine Erweiterung des Inhalts, so dass sie in der gleichen Bedeutung wie ihr dänisches Äquivalent verwendet werden kann. In der Deutschen Volksgruppe gehört es demnach zur Alltagssprache vieler, zum Beispiel ein Handballspiel als „Kampf “ zu bezeichnen. Beispiel 9.4: ja also wir haben nur einen kampf verloren. (Westergaard 2008: 437 f.) Lehnübersetzungen von ganzen dänischen Verbalphrasen ins Deutsche sind oft erfolgreiche Strategien, aber manchmal ergeben sich auch unidiomatische Ausdrücke. Sie sind typisch für die Minderheitensprache, wie zum Beispiel die Phrase ‚Sie sagt Entschuldigung‘, die auf Dänisch hun siger undskyld basiert und weniger auf Standarddeutsch (‚Sie bittet um Entschuldigung‘) (Pedersen 1988: 6). Im Deutschen Volkskalender Nordschleswig werden solche Beispiele von Lehnwörtern und Lehnübersetzungen oft unter der Rubrik „Sprachblüten“ aufgeführt, was eine positive Einstellung widerspiegelt. Einige Beispiele aus dem Jahr 2004: „Echte nordschleswigsche Worte: sippen (‚Tau springen‘), cykeln (‚Fahrrad fahren‘), Gehstrasse (‚Fußgängerzone‘)“ (Deutscher Volkskalender Nordschleswig 2004: 62; die zugrundeliegenden dänischen Etyma sind sjippe , cykle und gågade ). Auch wenn Nordschleswigdeutsch eine mündliche Varietät ist, erscheinen solche Sprachkontaktphänomene auch in geschriebenen Texten. Viele Jahre lang stand auf dem Schild des Kirchenbüros in Tingleff/ Tinglev ‚Kirchenkontor‘ (dän. kirkekontor ), eine Kombination von Deutsch Kirchen und dem dänischen Lehnwort kontor . Inzwischen wurde die Bezeichnung in ‚Kirchenbüro‘ geändert. Auch im Volkskalender sind viele Beispiele für Lehnübersetzungen wie Gehstrasse, Apenrade (in einer Bildunterschrift im Volkskalender 1972: 95) zu finden. Auch in Werken von Schriftstellern aus der Minderheit finden sich Lehnübersetzungen aus dem Dänischen, zum Beispiel Eisenkratt zu dänisch egekrat oder kämpft mit den Weinen (Westergaard 2000: 28). Beim Nomen ‚Weinen‘ handelt es sich um eine direkte Übersetzung des Dänischen 30 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="31"?> gråden , das anstelle des deutschen ‚Tränen‘ verwendet wird. In der Zeitung Der Nordschleswiger erscheinen Lehnwörter wie Borgmester und Statsminister , die wie deutsche Substantive mit initialer Majuskel geschrieben werden. Solche dänischen Wörter, die zum politischen Wortschatz gehören, werden heute oft als Doppelformen geschrieben, etwa „Regierungschef (Statsminister)“, um auch die Leser außerhalb der Grenzregion über dänische Bezeichnungen zu informieren. Abb. 4: Kirchenkontor 5.3 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung In zweisprachigen Minderheitsfamilien gibt es in der Regel eine vorherrschende Muttersprache, jedoch können zu bestimmten Anlässen auch andere Sprachen zu Hause gebraucht werden. Wenn Deutsch die Muttersprache ist, können sie zu Sønderjysk oder Standarddänisch wechseln, wenn Familienangehörige, Freunde oder Nachbarn, die der dänischen Mehrheit angehören, ihre Wohnung oder ihr Haus betreten. Auch wenn die Besucher Deutsch als Fremdsprache beherrschen, ist der Wechsel zu Dänisch in vielen Haushalten eine häufige Reaktion. Umgekehrt ist es auch typisch für Minderheitenfamilien mit Sønderjysk als Muttersprache, zu Deutsch zu wechseln, wenn ihre Besucher aus Deutschland kommen oder neu angesiedelte deutsche Migranten sind - unabhängig davon, ob die Neuankömmlinge Dänisch als Zweitsprache beherrschen. In solchen Situationen wird die Sprachwahl in hohem Maße von der Muttersprache des Besuchers bestimmt und nicht von der Alltagssprache des Hauses. Trotz gemeinsamer Merkmale bei der Wahl der Muttersprache unterscheidet sich die Entwicklung bezüglich Standarddänisch als Muttersprache innerhalb der deutschen Minderheit von derjenigen der Mehrheit. Während die Kinder der Mehrheitsgesellschaft, die nach dem Jahr 2000 geboren wurden, inzwischen eher einsprachig in Standarddänisch statt bivarietär (Sønderjysk und Standarddänisch) aufwachsen, werden die Kinder der Minderheit immer noch bivarietär in Dänisch und zweisprachig mit Deutsch und Dänisch sozialisiert. Die Min- Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 31 <?page no="32"?> derheit betont oft den hohen Stellenwert des Sønderjysk-Dialekts innerhalb der Minderheit. Sie ist sehr stolz darauf, als zukünftiger Träger des dänischen Dialekts angesehen zu werden (Pedersen 1992: 135) - eine Annahme, die daher rührt, dass die meisten dänischen Eltern, obwohl sie noch immer Sønderjysk sprechen, mit ihren Kindern zunehmend zu Standarddänisch als Muttersprache wechseln. In einigen Minderheitsfamilien geschieht dies jedoch auch, was die Zeitspanne der Ehre, Träger des dänischen Dialekts zu sein, verkürzen dürfte. Die mehrsprachige Minderheit Obwohl etliche Eltern Deutsch bzw. Dänisch als Muttersprache haben, erziehen sie ihre Kinder nicht zweisprachig. Simultane Zweisprachigkeit tritt in der Minderheit selten auf. Traditionell ist es Aufgabe der Minderheiteninstitutionen, bei den Kindern die Zweisprachigkeit aufzubauen. Die Kinder, deren Muttersprache Sønderjysk ist, erwerben Deutsch als Minderheitenzweitsprache in Kindergärten und Schulen. Gleichzeitig erwerben die deutschsprachigen Kinder hier Sønderjysk von den mundartsprechenden Kindern. Standarddänisch erwerben beide Gruppen über das Fach Dänisch in den Minderheitenschulen, wo sie sukzessive eine Mehrsprachigkeit ungeachtet von ihrer Muttersprache entwickeln. Obwohl Standarddänisch noch immer nicht in großem Umfang als Muttersprache verwendet wird, wird es zu einem Kommunikationsmedium innerhalb der Minderheit. Bis vor kurzem galt es als eine Sprachform, die nicht zu einer deutschen, sondern zu einer dänischen Identität gehörte. Es wurde nur der dänische Dialekt Sønderjysk gesprochen. So hielten sich Minderheitenmitglieder an den Dialekt, wenn sie mit dialekt- oder standardsprechenden Mitgliedern der Mehrheit sprachen. Heute hat sich diese Sprachwahl geändert. Jetzt wechseln die Mitglieder der Minderheit zu Standarddänisch, wenn es in öffentlichen Mehrheitskontexten gesprochen wird, zum Beispiel bei Versammlungen, an denen die Minderheit und die Mehrheit teilnehmen, in der persönlichen Kommunikation oder in einer Arbeitsstelle in der Mehrheitsgesellschaft. Standarddänisch wird somit zur dritten Sprache der Minderheit. Dies kann als Ausdruck eines abnehmenden Glaubens an eine Übereinstimmung zwischen nationaler Zugehörigkeit und einer nationalen Standardsprache interpretiert werden. Die Minderheit hat ein Kabarett namens Heimatmuseum , das alle zwei Jahre eine Vorstellung veranstaltet, bei der die Sprachsituation eine Rolle spielt. Im Jahr 2000 wurde ein Schauspieler gefragt, ob er seine Sprache gut genug beherrsche. Er antwortete mit “Ja, zumindest auf der Delegiertenversammlung vom Bund Deutscher Nordschleswiger“: R: Aber du da, beherrschst du denn auch deine Sprache genug? H: Aber sicher doch, ich spreche deutsch - wenigstens auf der Delegiertenversammlung. Da melde ich mich, stehe auf, stelle meine Frage auf Deutsch, setze mich dann wieder hin und diskutiere das Problem mit meinem Nachbarn - auf Sønderjysk. Alle: Aber weshalb? H: Weshalb? Weil man auf ‘ne Antwort doch gar nicht zu warten brauchst, denn irgend ein anwesender Lehrer hat sicherlich schon festgestellt, dass meine Fragestellung falsch war. Und dann fragt ein Pastor noch mal richtig, und das wird im Saal dann von der Versammlung geklärt. Als noch einmal: Deutsch im Stehen - Sønderjysk im Sitzen - Rigsdansk in der Firma. (Deutscher Volkskalender Nordschleswig 2004: 44) 32 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="33"?> Diese Satire veranschaulicht nicht nur die Verteilung und den Status der drei Sprachen, sondern spiegelt auch die Zugehörigkeit von Lehrern und Pastoren zu einer Gruppe von Menschen mit guten Deutschkenntnissen wider. Sie benutzen Deutsch bei ihrer Arbeit, und Deutsch ist für viele von ihnen die Muttersprache, weil sie in Deutschland geboren und ausgebildet wurden. Code-Switching Die meisten Mitglieder der Minderheit erwerben Deutsch als Zweitsprache im deutschen Kindergarten und entwickeln die Minderheitensprache während der Schulzeit. Während dieser Zeit ist der Wechsel in die Muttersprache Sønderjysk ein charakteristisches Sprachkontaktphänomen. Eine Längsschnittstudie (Pedersen 1983-2013) hat ergeben, dass sich das Code-Switching in Minderheiteninstitutionen im Laufe der Zeit verändert. Im Kindergarten wird es von den Kindern spontan in allen möglichen Situationen benutzt, während die ältesten Schülerinnen und Schüler es vermeiden, auf Sønderjysk oder Standarddänisch umzuschalten, wenn Deutsch als Kommunikationsmedium erwartet wird. Sie verwenden es aber unter Umständen privat. Innerhalb eines offiziellen deutschen Minderheitenkontextes ist ein ähnliches Muster zu beobachten. Code-Switching auf Dänisch wird vermieden. Eine kommunikative Kompetenz in Nordschleswigdeutsch, Sønderjysk und Standarddänisch in Kombination mit Code-Switching befriedigt jedoch die kommunikativen Bedürfnisse der Minderheitenmitglieder in der Gemeinschaft, in der sie leben. Daher wird sie als funktionale regionale Zweisprachigkeit definiert (Pedersen 1993: 463). Im privaten Bereich in der Familie und unter Freunden in der deutschen Gesellschaft ist Code-Switching ebenfalls ein alltägliches Phänomen, da die meisten Mitglieder beide Sprachen verstehen und sprechen. Aus der teilnehmenden Beobachtung in Minderheitenfamilien beurteilt, scheint es sich dabei um intrasententielles Code-Switching und Lehnwörter zu handeln und nicht um eine vollständige Verflechtung der beiden Sprachen. Im Volkskalender 1975 werden - in karikierender Weise - Beispiele für diese Art von Sprache gegeben, die von Angehörigen von Minderheiten in den Straßen und Häusern in Tondern/ Tønder gesprochen wird: Sag mal, hat Tiddes Tochter sich verlobt? - Nä, das blieb zu nichts, er hat sie geschnürt, ist gar nicht wiedergekommen. Ich fragte Tidde, um man gratulieren konnte. Da blieb sie doll: Was ragt es Dir? Da sollst Du Dich gar nicht um brüen! Schrie sie mich gerade ins Gesicht. (Deutscher Volkskalender Nordschleswig 1975: 58) Für die Neuen Medien wie Facebook zeigt Westergaard (2013, 2014, 2015), dass die Angehörigen der Minderheit sowohl den dänischen Dialekt Sønderjysk als auch Standarddänisch und Deutsch gebrauchen. Die Sprachenwahl hängt davon ab, ob es sich um Statusmeldungen mit unbekannten Adressaten oder Pinnwanddialoge mit bekannten Adressaten handelt. Statusmeldungen auf der eigenen Seite sind auf Standarddänisch oder auf Hochdeutsch verfasst, wenn es sich um die Minderheit oder die Minderheitenschule dreht. Der dänische Dialekt Sønderjysk ist hier selten. In den Pinnwanddialogen erfolgt die Sprachwahl adressatenspezifisch und orientiert sich am mündlichen Sprachgebrauch der Kommunikationspartner. Der Dialekt Sønderjysk wird häufig als schriftliche Kommunikationssprache gewählt. Und hier ist Code-Switching zwischen Sønderjysk und Deutsch erlaubt, wenn die Adressaten bilingual sind. Anhand dieser Beobachtungen lässt sich die Frage formulieren, inwieweit die Neuen Medien zu einer Revitalisierung des Dialekts beitragen. Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 33 <?page no="34"?> 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Allgemeines Umfragen von Sievers (1975), Toft (1982), Byram (1986), Pedersen (1986) und vom Deutschen Schul- und Sprachverein (2004) zeigen, dass Deutsch, die offizielle Minderheitensprache, die Familiensprache von weniger als einem Drittel der Minderheit ist. Diese Zahl bestätigt, dass die nationale deutsche Zugehörigkeit und Angehörigkeit zur Minderheit auf dem Bekenntnisprinzip und nicht auf der Familiensprache beruhen. Toft (1982) wertete die Antworten aus 412 Fragebögen von Mitgliedern der wichtigsten Minderheitenorganisation aus: Die Ergebnisse (72,4 % und 70,7 %) zeigen, dass der dänische Dialekt Sønderjysk die am häufigsten in der Familie verwendeten Varietät ist. Häufigste Umgangssprache Deutsch Sønderjysk (Dialekt) Dänisch N mit den Eltern 23,7 72,4 3,9 644 mit den Kindern 27,8 70,7 1,5 273 Tab. 1: Sprachverhalten innerhalb der Familie (nach Toft 1982: 44, Tabelle 19.b) Der Deutsche Schul- und Sprachverein hat im Jahr 2003 309 Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern in elf Schulen zu ihrer Muttersprache befragt. Die Schlussfolgerung in Bezug auf die vorherrschende Familiensprache war: Im Zusammenhang mit einer Unterrichtsmilieuuntersuchung wurde 2003 der Sprachgebrauch der Schüler der 5.-10. Kl. und deren Eltern ermittelt. Bei Vater und Mutter wurde nach der Haussprache, beim Kind nach der „bevorzugten Sprache“ gefragt. Den Schülern, die auch die Frage nach der Haussprache der Eltern zu beantworten hatten, waren die Kategorien „Deutsch“ - „Dänisch“- „Sønderjysk“ - „andere“ vorgegeben. Einige Schüler machten aber auch ihr Bewusstsein von ihrer Zwei-/ Mehrsprachigkeit deutlich, indem sie mehrere Sprachen ankreuzten. Das Ergebnis zeigte starke regionale Unterschiede. Es ergab für 11 Schulen (309 Schüler) folgendes Ergebnis: Sprachsituation Zusammenfassung in % ausgewählte Schulen Vater Mutter Kind S’burg Apenr. Gr. stein Lunden Buhrkann O’hoist Pattburg Deutsch 31 29 28,5 29 34 39 55 17 0 82 Dänisch 32 37 41,5 62 59 59 45 18 Sonderjysk 29 26 24 83 100 andere 8 8 6 9 7 2 0 0 0 0 Tab. 2: Sprachgebrauch in den Familien in ausgewählten Schulen (Deutscher Schul- und Sprachverein für Nordschleswig 2004: 4) 34 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="35"?> Deutsch wird am ehesten als Muttersprache in Familien verwendet, in denen ein Elternteil oder beide Elternteile oder Großeltern südlich der deutsch-dänischen Grenze aufgewachsen sind. Zu diesen Familien gehören Lehrer, Minister, Bibliothekare und Journalisten, die in der Minderheit arbeiten. Sie sind Deutsch-Muttersprachler und geben Deutsch als Muttersprache an ihre Kinder weiter. Je kürzer die lokalen Wurzeln, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Deutsch eine Haussprache ist. Das ist wahrscheinlich in Pattburg/ Padborg an der Grenze zu Deutschland der Fall. Die Familien mit tiefen Wurzeln in Nordschleswig sprechen eher den dänischen Dialekt Sønderjysk als Muttersprache. Dieser Dialekt wird auch von der Mehrheitsbevölkerung gesprochen und gilt inzwischen als neutral hinsichtlich der nationalen Zugehörigkeit. In der Mehrheit der Bevölkerung nimmt die Verwendung dieses Dialektes als Muttersprache jedoch ab, und Standarddänisch wird übernommen. Diese Entwicklung hat in der Minderheit noch nicht stattgefunden, aber in der DSSV-Umfrage von 2004 hat Standarddänisch schon bemerkenswert hohe Werte. Dies ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass die dänischsprachigen Mehrheitskinder in Minderheitenschulen gehen, um zweisprachig in Dänisch und Deutsch zu werden. Die Schulen haben in den letzten zehn Jahren ihre Türen für diese Gruppe geöffnet und werben auch in dänischen Tageszeitungen, um solche Schüler anzuziehen. (Familien, die in der Umfrage eine andere Sprache als Familiensprache angeben, zum Beispiel Migranten, könnten ebenfalls zur Mehrheit gehören.) 6.2 Sprachkompetenz Die Längsschnittstudie „Mødet mellem sprogene i den dansk-tyske grænseregion“ (‚Treffen zwischen den Sprachen der dänisch-deutschen Grenzregion‘) (Pedersen 1983-2013) hat unter anderem einen qualitativen Einblick ergeben in die individuelle Sprachkompetenz im Deutschen von Kindheit an im deutschen Kindergarten, in der Schule sowie im Erwachsenenalter. Die Schüler, die mit Deutsch als Zweitsprache die Minderheitenschule verließen, beherrschten Nordschleswigdeutsch mündlich und Standarddeutsch schriftlich, aber als Erwachsene war ihre Deutschkompetenz abhängig von ihrer Verbindung mit den Minderheiteninstitutionen und -verbänden. Mehrere Personen ohne engeren Kontakt hatten Schwierigkeiten, fließend Deutsch zu sprechen, hatten lexikalische Lücken und Unsicherheiten in der Syntax. Diejenigen, die in Minderheitenarbeit tätig waren, beherrschten Nordschleswigdeutsch immer noch. 6.3 Sprachgebrauch (Schriftsprache) Beim Schreiben wird die Wahl zwischen Hochdeutsch, Standarddänisch und Sønderjysk durch den Kontext bestimmt. Hochdeutsch wird intern in der Minderheit und im Kontakt mit Deutschland verwendet. Standarddänisch wird für Adressaten innerhalb der Mehrheit verwendet. Die Minderheit möchte jedoch auch ihre Minderheitensprache Deutsch im Kontakt mit Behörden verwenden können; manchmal wird es akzeptiert, manchmal nicht, offenbar in Abhängigkeit von der Sprachkompetenz des Empfängers. Der Dialekt Sønderjysk hat keine standardisierte Schrift. Er wird jedoch in verschiedenen Kontexten verwendet, um eine regionale Identität und einen Gruppenzusammenhalt zu unterstreichen. In der Öffentlichkeit wird er vor allem von der Schleswigschen Partei in der Kommunikation mit den Wählern (Pedersen 2011) und in den sozialen Medien genutzt. In einer Studie über die Sprachwahl junger Minderheitsmitglieder bei Facebook (Westergaard 2013, 2014, 2015) wird gezeigt, dass ihre Kommu- Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 35 <?page no="36"?> nikationsstrategien vielfältig sind. Sie verwenden ihre drei Sprachen für verschiedene Zwecke und Adressaten: Standarddänisch für einen gemischten Mehrheit- und Minderheitenkontext, Sønderjysk für sønderjysksprechende Freunde aus der Minderheit und Deutsch, wenn es um die Minderheitenschule geht. Vor allem im Dialekt sind Code-Switching zu Deutsch und deutsche Lehnwörter ebenso präsent wie in der mündlichen Sprache in dieser dreisprachigen Gruppe. Der Gebrauch von Sønderjysk bei Facebook durch die jungen Mehrheitsmitglieder ist nach Westergaard (2015) hingegen ein anderer. Der Dialekt ist nicht die wichtigste Sprache der Kommunikation, sondern wird nur symbolisch verwendet. Dieser Unterschied kann ein Indiz dafür sein, dass Sønderjysk für die Minderheit noch stärker als Wir-Code fungiert und in höherem Maße Gruppenzusammenhalt impliziert als für die Jugendlichen der Mehrheitsgesellschaft. 6.4 Sprachgebrauch in den Minderheitenorganisationen Aus Interviews und teilnehmenden Beobachtungen geht hervor, dass sich der Sprachgebrauch im BDN seit 1955 nicht verändert hat und Deutsch nach wie vor das bevorzugte Kommunikationsmittel ist. In Bezug auf die Minderheit als solche war die Sprachpolitik des BDN stets darauf ausgerichtet, die deutsche Sprache zu fördern und zu schützen. Dänisch wird für Informationen wie zum Beispiel auf den Webseiten des BDN und in der Kommunikation mit den Mitgliedern der Mehrheit verwendet. Deutsch ist die offizielle Sprache der Organisation in Wort und Schrift. In seinem Verwaltungszentrum, dem Deutschen Generalsekretariat, wird Deutsch auch in der alltäglichen Kommunikation gesprochen, wobei es zu Abweichungen zwischen dem offiziellen Sprachgebrauch der deutschen Sprache und der informellen Kommunikation zwischen den Delegierten in der BDN-Delegiertenversammlung kommen kann. So können informelle Gespräche in Deutsch oder im dänischen Dialekt Sønderjysk stattfinden. Eine ähnliche Sprachverteilung ist bei der Neujahrstagung und beim „Deutschen Tag“ zu beobachten. Innerhalb des Dachverbandes Deutscher Jugendverband für Nordschleswig (DJN) und seines Jugend- und Sportverbandes ist Deutsch die dominierende Sprache in der schriftlichen Kommunikation. Aber es gibt auch Beispiele für die Verwendung von Sønderjysk und auch eine Kombination von Sønderjysk und Deutsch wie beispielsweise in der Bezeichnung Æ Mannshaft für die Fußballmannschaft für die Europeada, die Fußballeuropameisterschaft der autochthonen, nationalen Minderheiten, organisiert von der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) . Darüber hinaus wirbt der DJN auf der Homepage 2017 für Æ Trainingstag Faustball und Æ Trainingstag Fussball . In den drei Beispielen kommt der definitive Artikel Æ aus dem dänischen Dialekt Sønderjysk. Die teilnehmende Beobachtung zeigt auch eine Verwendung von Sønderjysk unter den Teilnehmern im Sport. Eine gleichmäßige Sprachverteilung in Schrift und Sprache soll in der Pflege, Altenpflege und Beratung im Sozialdienst Nordschleswig stattfinden. Die Sprachwahl in der persönlichen Kommunikation hängt jedoch in erheblichem Maße von der Muttersprache der Sprecher in den Organisationen ab. Wenn es Deutsch ist, wird die Minderheitensprache gewählt. Laut Byram (1986) sprechen die meisten Minderheitsmitglieder nur bei einer sehr begrenzten Anzahl von Kulturveranstaltungen Deutsch. Er kommt zu dem Schluss, dass Deutsch in der alltäglichen Kommunikation unter den Mitgliedern keine große Rolle spiele und eher ein Symbol der Zugehörigkeit zur Minderheit sei. 36 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="37"?> Im Minderheitenkontext haben die Politiker der Minderheit immer in deutscher Sprache geschrieben, und Deutsch dominiert auch die Rede auf höchster Ebene, während die Politik auf lokaler Ebene auch auf Sønderjysk stattfinden kann. Im Kontext der Mehrheitsgesellschaft benutzen die Politiker entweder Sønderjysk oder heute auch Standarddänisch. Dies ist die einzige Änderung in der Wahl des gesprochenen Dänisch nach 1955. Seit 1920 wurde auch Dänisch gewählt, weil Wahlplakate für das Folketing (Parlament) sowohl die Minderheit als auch die Mehrheit ansprachen. Für die Kommunal- und Regionalwahlen in den 1990er Jahren veröffentlichte die Schleswigsche Partei in dänischen Tageszeitungen auch zweisprachige Anzeigen auf Deutsch und Sønderjysk und signalisierte damit ihre regionale Zugehörigkeit. Obwohl die Verwendung von Sønderjysk als Muttersprache in der Mehrheit der Bevölkerung rückläufig ist, vor allem bei den nach 2000 Geborenen, gibt es immer noch eine große Gruppe, die sich mit dem Dialekt identifiziert. Zwar ist der Dialekt nicht unbedingt die Alltagssprache, aber er gehört zur lokalen und regionalen Kultur und zur Identität als Sønderjyder (Südjütländer). Die Schleswigsche Partei hat im Wahlkampf im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen 2009, 2013 und 2017 das Beste aus diesem Identitätsmerkmal in Minderheit und Mehrheit gemacht. Auf Sønderjysk wurden Reden gehalten, die SP-Kandidaten verteilten kleine, persönliche Kochbücher mit regionalen Gerichten geschrieben in Dialekt und 16 Lektionen im Dialekt Sønderjysk, die jeweils ein neues Wort mit der Übersetzung ins Standarddänische enthielten. Junge Rapper traten auf lokalen Bühnen mit Raps über die SP auf Sønderjysk auf, die von der Juniorenvereinigung der SP, den Jungen Spitzen , produziert wurden. Der Appell an das regionale Selbstbewusstsein war sehr deutlich und richtete sich an Jung und Alt, Minderheit und Mehrheit. Die Partei hat bei diesen drei Wahlen in den vier Gemeinden Nordschleswigs ihre höchste Zahl an Mandaten erreicht. 7 Spracheinstellungen Die offizielle Haltung der Minderheit gegenüber Nordschleswigdeutsch ist die einer breiten Akzeptanz. Solange die Kommunikation in Nordschleswig stattfindet, haben Nordschleswigdeutsch und Standarddeutsch einen äquivalenten Status. Innerhalb des Bildungssystems der Minderheit ist Hochdeutsch jedoch nach wie vor die unbestrittene Norm, mit dem Lehrer als Vorbild. In der Praxis wird allerdings der Sprachgebrauch der Schülerinnen und Schüler nur teilweise in Richtung der Standardnorm korrigiert. Änderungen finden nur in kommunikativen Veranstaltungen statt, bei denen Form und Inhalt im Vordergrund stehen, zum Beispiel in einer vorbereiteten Rede eines Schülers vor der Klasse. Diese billigende Politik wird befolgt, um den Schülern den Schulbesuch zu ermöglichen, positive Gefühle für die Zugehörigkeit zur Minderheit zu stabilisieren und die Zweisprachigkeit zu fördern. Der Status von Hochdeutsch ist objektiv hoch, aber Nordschleswigdeutsch konkurriert im mündlichen Gebrauch um eine ähnliche Position. Im schriftlichen Bereich ist aber Hochdeutsch die einzige Norm, und das geschriebene Deutsch der Schülerinnen und Schüler wird auf diese Norm hin korrigiert. Diese Spracheinstellungen führen zu einem Bewusstsein für die verschiedenen Funktionsbereiche der Sprachen, und je höher die Forderung nach einer funktionalen Trennung der beiden Varietäten ist, desto geringer ist die Zahl von auftretenden Sprachkontaktphänomenen wie Code-Switching - während die Sprachkontaktphänomene in der Prosodie unverändert bleiben (Pedersen 1993, 1983-2013). Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 37 <?page no="38"?> Die Sprachpolitik der Minderheit Die Sprachenpolitik der Minderheit war bis 2015 durch eine eher sanfte Linie geprägt, wie sie etwa in Leitbild und Zielsetzung zur Verwendung von Deutsch von BDN und DSSV zum Ausdruck kommt, die Wünsche in Bezug auf die Rolle der deutschen Sprache innerhalb der Minderheit und extern gegenüber der Mehrheit formuliert haben. Nach der Ratifizierung der Europäischen Charta für Regional- oder Minderheitensprachen durch Dänemark im Jahr 2000 gab es jedoch verstärkte Initiativen für eine engagiertere Sprachenpolitik, verbunden mit der Aufforderung an die Mitglieder der Minderheit, Deutsch zu sprechen. Auf dem „Deutschen Tag“ 2002, der unter dem Motto „Identität erhalten - Europa gestalten“ stand, betonte der BDN-Vorsitzende Hans Heinrich Hansen die Bedeutung der deutschen Sprache: Zu unserem Leitbild gehört an ganz zentraler Stelle die deutsche Sprache. Sie ist unsere Identifikation nach aussen, aber auch nach innen. Heute vernachlässigten einige als falsch verstandene Anpassung das Deutsche zugunsten von Dänisch bzw. Sønderjysk. Ich schätze beides sehr und bin in beiden zu Hause, aber die Vernachlässigung der deutschen Sprache untergräbt unsere Arbeit und unsere Identität, denn die deutsche Sprache ist unser wichtigstes Erkennungszeichen. (Deutscher Volkskalender Nordschleswig 2002: 24) Diese Rede macht den Zusammenhang zwischen Sprache und Identität sehr deutlich und bringt Hansens Auffassung zum Ausdruck, dass die nationale Identität parallel mit der Nationalsprache ist, es aber andererseits gleichgültig ist, ob es sich dabei um eine Muttersprache oder eine Zweitsprache, eine Familiensprache oder eine Minderheitensprache, die im Zuge der formalen Bildung erworben wurde, handelt. Insofern ist es eher ein sprachpluralistischer als ein sprachnationalistischer Standpunkt. Im Jahr 2003 veröffentlichte der BDN das „Leitbild des Bundes deutscher Nordschleswiger“. Hier wird noch einmal die Bedeutung der Minderheitensprache betont. Darin heißt es: Die deutsche Sprache ist das wichtigste Erkennungsmerkmal der deutschen Volksgruppe. […] Die deutsche Volksgruppe pflegt die deutsche Sprache und Kultur und erhält sie lebendig in ihren Institutionen - unter anderem in Schulen, Kindergärten, Büchereien, in ihrer Tageszeitung ‚Der Nordschleswiger‘ und in ihren Vereinen. (Deutscher Volkskalender Nordschleswig 2003: 22) Bemerkenswert ist, dass dieses BDN-Leitbild aus dem Jahr 2003 und auch seine „Sprachpolitische Zielsetzung“ aus dem Jahr 2010 nichts über die Familiensprache aussagen. Offensichtlich wird akzeptiert, dass die meisten Mitglieder den dänischen Dialekt Sønderjysk zu Hause und als Familiensprache verwenden, und dass die Kinder die Minderheitensprache erst innerhalb des von der Minderheit organisierten Bildungswesens erwerben. Die Diskussion über eine Verschiebung der Familiensprache scheint aufgehört zu haben. Die Zweisprachigkeit wird in diesen sprachpolitischen Positionierungen nicht explizit erwähnt; im jüngsten Sprachförderungskonzept, das 2004 vom DSSV veröffentlicht wurde, wird die Bedeutung der deutsch-dänischen Zweisprachigkeit aber deutlich betont. Hier ist Spracherwerb Zweisprachigkeitserwerb. Sprachpolitik 1920-2000 Die Wahrnehmung eines rückläufigen Deutschgebrauchs und die ernste Aufforderung, die Minderheitensprache in stärkerem Umfang zu nutzen, ist nichts Neues. Schon 1920 war die Einstellung zur sprachlichen Situation ähnlich. In der Zeitung Nordschleswig plädierte ein 38 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="39"?> Redakteur dafür, dass Eltern mit ihren Kindern Deutsch sprechen sollten; ein Debattenteilnehmer favorisierte hingegen Sønderjysk als natürliche Alltagssprache. Zehn Jahre später sagte der Leiter der Minderheit, Johannes Schmidt-Wodder, in einem Interview in der Nordschleswigschen Zeitung , dass der Sønderjysk-Dialekt eines der Elemente sei, die die Heimatdeutschen mit dem Heimatboden verbanden und die Minderheit ihn deshalb als Muttersprache behalten solle. Andererseits sollten sie darauf abzielen, ihre Kenntnisse der deutschen Sprache zu vertiefen. Im schriftlichen Bereich war Deutsch laut Schmidt damals die einzig akzeptierte Varietät (Becker-Christensen 1990, I: 97 f.). In dieser Sprachdebatte hatten die beiden Standpunkte ein gemeinsames Ziel: das Deutsche sollte geschützt und gefördert werden. Die Befürworter des Deutschen als Familiensprache drückten die Idee einer Eins-zu-Eins-Korrespondenz zwischen der Nationalsprache als Muttersprache und der nationalen Zugehörigkeit aus. Eine deutsche Lebensweise wurde nicht als ausreichend angesehen, um die nationale Zugehörigkeit zu sichern. Die deutsche Sprache galt als Voraussetzung für den Zugang zur deutschen Kultur, zur deutschen Literatur und Geschichte, die von Deutschen in deutscher Sprache geschrieben wurde. Für die andere Gruppe in der Sprachdebatte war Deutsch ebenfalls an die nationale Zugehörigkeit gebunden, allerdings als Zweitsprache, die in der Schule erlernt wurde. Der dänische Dialekt wurde hier nicht als Hindernis für das Fühlen, Handeln und Denken auf deutsche Weise gesehen. Nach Ansicht dieser Gruppe sollten die Kinder die deutsche Sprache durch Bildung erlernen und die deutsche Hochkultur durch Literatur und Geschichte kennen lernen. Aber die Schule war auch verpflichtet, sie dazu zu bringen, die deutsche Sprache in Wort und Schrift zu gebrauchen. Spracheinstellungen in der Mehrheitsbevölkerung Im Zusammenhang mit der Ratifizierung der Charta waren in der regionalen Mehrheitstageszeitung JydskeVestkysten einige Leserbriefe mit negativen Aussagen zur deutschen Sprache zu lesen. Es wurden (völlig abwegige) Befürchtungen geäußert, dass die Mehrheit bei bestimmten Gelegenheiten Deutsch sprechen müsste. Dies war ein indirekter Hinweis auf die preußische Herrschaft in der Region in den Jahren 1864 bis 1920, als Deutsch die Amtssprache war, und auf die nationalsozialistische Besetzung Dänemarks während des Zweiten Weltkriegs. Eine solche negative Einstellung zur deutschen Sprache ist oft mit negativen Stereotypen von Deutschen im Allgemeinen verbunden, die in den dänischen Medien noch immer vorhanden sind (Hansen/ Pedersen/ Schack 2002). Im Grenzgebiet wird die dänisch-deutsche Zweisprachigkeit jedoch aus Sicht der einsprachigen Mehrheit als Vorteil angesehen, und zwar nicht nur, weil Deutschland der Nachbarstaat ist. Auch in der Handelskommunikation und im Exportgeschäft ist Deutsch von entscheidender Bedeutung, wobei die Bundesrepublik Deutschland der wichtigste Handelspartner Dänemarks ist. Die Mehrheit benötigt die Minderheitenmitglieder für die Kommunikation auf Deutsch, zumal die Deutschkenntnisse der Mehrheit in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren drastisch zurückgegangen sind; Englisch ist inzwischen die einzige Fremdsprache, die noch von Interesse ist. Politisch gesehen ist die Haltung der dänischen Regierung gegenüber der deutschen Minderheit und ihrer Minderheitensprache seit der Kopenhagener Erklärung positiv; die Sprachencharta hat daran nichts geändert. Bisher war die Regierung nur verpflichtet, der einseitigen Kopenhagener Erklärung zu folgen, jetzt hat sie darüber hinaus Verpflichtungen Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 39 <?page no="40"?> im internationalen Kontext übernommen. Der dänische Staat muss dem Europäischen Rat regelmäßig Berichte vorlegen, und der Rat verfolgt die Umsetzung der Charta. 8 Linguistic Landscapes 8.1 Die Minderheitensprache in der Mehrheitsgesellschaft Trotz Minderheitenorganisationen, Schulen, Kindergärten, Bibliotheken und der örtlichen Redaktionen von Der Nordschleswiger war die Minderheit in der Nachkriegszeit im öffentlichen Leben fast unsichtbar. Es gab kaum Schilder der deutschen Institutionen, und deutsche Straßenschilder, die aus der Zeit der preußischen Herrschaft vor 1920 übriggeblieben waren, wurden entfernt. Unter sich verwendet die Minderheit die deutschen Namen von Straßen und Städten. Um diese Namen in der Minderheitenpresse und in deutschen Organisationen zu vereinheitlichen, veröffentlichte die Zeitung Der Nordschleswiger 1969 eine Liste von Ortsnamen in dänischer und deutscher Sprache. 1982 erschien diese in einem Buch (Kardel 1982), 1994 wurde sie im Deutschen Volkskalender Nordschleswig nachgedruckt. Diese Liste war in erster Linie ein Element der internen Minderheitensprachenplanung. Erst in den späten 1980er Jahren begann die Minderheit, den Anspruch zu erheben, als Minderheit sichtbar zu sein, etwa durch deutsche oder zweisprachig dänisch-deutsche Schilder und die Verwendung der deutschen Sprache bei Behörden und in den öffentlichen Medien. Vor allem Kindergärten und Schulen brachten sichtbare Schilder an, und in mehreren Städten wurden einige öffentliche Schilder für deutsche Einrichtungen aufgestellt. Davon waren jedoch einige auf Dänisch, andere auf Deutsch und einige in einer Art neutralen Sprache, die sozusagen nur die halbe Wahrheit sagt, zum Beispiel das Schild „Museum“ am Deutschen Museum für Nordschleswig - im Dänischen wie im Deutschen wird dieses Wort gleich geschrieben. Ein ähnlicher Fall ist das deutsche Schild „Bibliothek“, das dem dänischen Bibliotek so nahe kommt, dass nicht unbedingt auf Anhieb erkennbar ist, dass es sich auf eine deutsche Bibliothek bezieht. In den 1990er Jahren diente die Kopenhagener Erklärung von 1955 als Argument für die Anbringung öffentlicher Schilder in deutscher Sprache für die Minderheiteninstitutionen; seit 2001 wurde die Sprachencharta dafür verwendet. Nun begann die Minderheit unter Berufung auf die Charta auch, öffentliche zweisprachige dänisch-deutsche Schilder für Städte in der Region zu fordern. Abb. 5: Deutsche Institutionen, Tingleff/ Tinglev 40 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="41"?> 8.2 Zweisprachige Straßenschilder Auf eine Frage bezüglich des Wunsches der Minderheit nach zweisprachigen Schildern erwiderte der politische Sekretär der Minderheit noch 2004, dass man die Mehrheit nicht provozieren wolle. Der Vorsitzende des BDN plädierte dagegen für eine Sprachenpolitik, die zumindest zweisprachige Ortsschilder zulässt. In einem Schreiben an den BDN im Jahr 2003 stellte das dänische Verkehrsministerium fest, dass zweisprachige Schilder in Dänemark nicht gesetzlich verboten sind, jedoch von der dänischen Straßenverkehrsbehörde genehmigt werden müssen. Das Ministerium vertrat die Auffassung, dass zweisprachige Schilder bei den Verkehrsteilnehmern zu Verunsicherung und Verwirrung führen können, d. h. zu einer verminderten Lesbarkeit und Orientierungslosigkeit, die wiederum ein erhöhtes Risiko von Verkehrsunfällen verursachen können. Der Verkehrsdirektion lagen zu diesem Zeitpunkt jedoch noch keine Anträge auf Genehmigung zweisprachiger Verkehrszeichen vor, so dass sie keine Stellung bezog. Im Jahr 2017 kam das Verkehrsministerium schließlich zu dem Schluss, dass zweisprachige Zeichen möglich sind. Innerhalb der postalischen Adressen ist die Verwendung deutscher Ortsnamen durch die Minderheit in Dänemark nur noch selten anzutreffen. Die Minderheit verwendet die dänischen Namen, um die Adresse erkennbar zu machen. Dies wird von der Post verlangt, die ansonsten nicht garantiert, dass der Brief an die richtige Adresse zugestellt wird. Alle Briefe innerhalb Dänemarks, zum Beispiel vom BDN, werden mit dänischen Ortsnamen adressiert. Im mündlichen Gebrauch ist die Tradition der Verwendung deutscher Ortsnamen in Bezug auf Städte auf jeden Fall stabil; im Zusammenhang mit Straßennamen ist die Situation jedoch eine andere. Welche Rolle hierbei externe Vorgaben des Postwesens spielen, ist schwer zu beurteilen. Jedenfalls sind aber die traditionellen deutschen Straßennamen Mitgliedern der Minderheit, die jünger als 60 Jahre sind, inzwischen kaum bekannt, und aus der Minderheit werden auch keine offiziellen Wünsche nach zweisprachigen Straßenschildern geäußert. Im Jahr 2016 beschloss der Bürgermeister von Hadersleben/ Haderslev, dem Wunsch der Minderheit entsprechend, zweisprachige Ortsschilder aufzustellen. Darauf war oben in größerer Schrift der dänische Namen Haderslev und darunter etwas kleiner der deutsche Name ‚Hadersleben‘ abgedruckt. Aufgrund von Vandalismus wurden diese Schilder jedoch schon nach einer Woche wieder entfernt. Dieser Vorfall zeigt, dass durchaus eine nationalistische Ideologie existiert, die nur dänische Städtenamen akzeptiert, und dass es noch immer Ressentiments gegenüber den deutschen Städtenamen gibt, die mit der preußischen Herrschaft oder auch mit dem Deutschland des Zweiten Weltkriegs verbunden werden. Andererseits werden die deutschsprachigen Schilder, die auf deutsche Institutionen hinweisen, nicht mehr zerstört. Abb. 6: Haderslev/ Hadersleben Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 41 <?page no="42"?> Forderungen der Hardliner aus dem Jahr 2015 Angesichts der Erkenntnis, dass es seit der „Sprachpolitischen Zielsetzung“ aus dem Jahr 2010 und trotz Unterstützung durch den Europarat (das Expertenkomitee der Sprachencharta und der Rahmenkonvention) keine Fortschritte in Bezug auf die Verwendung des Deutschen gab, hat die Minderheit beschlossen, eine Arbeitsgruppe Sprachenpolitik einzurichten. Im Jahr 2015 präsentierte der BDN seine „Sprachpolitischen Forderungen der deutschen Minderheit. Strategie 2015-20“, die sich auf den Gebrauch des Deutschen in öffentlichen Einrichtungen und im öffentlichen Raum konzentrieren. Es sind keine Wünsche mehr, sondern Forderungen, und die Minderheit bezieht entschlossen Stellung. Wann dies zu Ergebnissen führt, ist noch nicht absehbar, aber es zeigt, dass die verhältnismäßig kleine Gruppe inzwischen eine Stärke gewonnen hat, die sie vorher nicht hatte. Einer der Gründe für diese Stärke ist, dass die Minderheit, auch mit Hilfe der Sprachencharta des Europarats, in den vier südjütischen Kommunen und im Folketing (Parlament) eine stärkere politische Vertretung erreicht hat. Das Strategiepapier des BDN setzt zur Erreichung seiner Ziele ausdrücklich auf die Unterstützung der Stadtratsmitglieder der Schleswigschen Partei, des Kopenhagener Kontaktausschusses und des Europarats. Die Bedeutung der deutschen Sprache für die Minderheit wird in dem Strategiepapier besonders hervorgehoben: Die deutsche Sprache ist das wichtigste Erkennungsmerkmal der deutschen Nordschleswiger. Sie ist nicht nur das wichtigste Werkzeug der Kommunikation, sondern verbindet und zeigt Zugehörigkeit. Die Förderung und Pflege der deutschen Sprache gehört zu den wichtigsten Aufgaben der deutschen Volksgruppe. Dies gilt nicht nur in den eigenen Einrichtungen und Vereinen, sondern auch im öffentlichen Raum, um so auch die Wahrnehmung der deutschen Minderheit zu verbessern. (Bund Deutscher Nordschleswiger 2015b: 1) Die sieben konkreten Ziele (die durchaus eine unterschiedliche Granularität aufweisen) lauten: - Benennung von deutschsprachigen Ansprechpartnern in den Kommunen - Erstellen einer Sprachstrategie für kommunale Pflegeheime und regionale Krankenhäuser - Produktion einer Broschüre über die Möglichkeit der Vorlage von relevanten Dokumenten auf Deutsch gegenüber der öffentlichen Verwaltung und den Gerichten - Aufstellung eines Autobahnhinweisschildes „Knivsbjerg/ Knivsberg“ - Aufstellung von zweisprachigen Ortstafeln - Förderung der Deutschen Museen. 9 Zusammenfassung Insgesamt ist die fast hundertjährige Geschichte der deutschen Minderheit in Nordschleswig von Kontinuität und Wandel geprägt. Seit 1920 ist die Zukunft der Minderheit ungewiss, aber die Minderheit existiert auch heute noch, wobei sich ihr heutiger Charakter von dem früherer Zeiten unterscheidet. Die alten Bestrebungen, die Grenze zu revidieren, sind verschwunden und wurden durch eine breite Zusammenarbeit in der gesamten Region, sowohl nördlich als auch südlich der Grenze, ersetzt. Im Allgemeinen hat die Mehrheit in Nordschleswig eine positive Einstellung gegenüber der deutschen Minderheit entwickelt, seit sie in den 1990er Jahren begann, sich mit der dänisch- 42 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="43"?> deutschen Zweisprachigkeit als positives Phänomen zu identifizieren und als eine Gruppe zu betrachten, die den dänischen Dialekt Sønderjysk bewahrte. Viele Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft sehen das Deutschsein nur als eine Frage der deutschen Sprache, die zum dänischen Dialekt Sønderjysk und zu Standarddänisch hinzukommt; die nationale Identität steht nicht im Mittelpunkt. Dies kann als ein allgemein abnehmendes Interesse an der nationalen Identität angesehen werden, dem nur einige wenige offene Nationalisten entgegenstehen. Diese wenden sich auch gegen die jungen Mitglieder der Minderheit, die sich selbst als deutsche Südjütländer betrachten. Für diese nationalgesinnten Dänen ist hingegen Südjütländer ein regionaler Identitätsmarker, der nur Dänen umfasst. Anders herum lehnt auch die ältere Generation der Minderheit die Selbstbeschreibung als deutsche Südjütländer ab und sieht sich eher als Nordschleswiger, was die Zugehörigkeit zur Minderheit betont. Die Kombination aus zunehmender Regionalisierung und Denationalisierung hat die Barrieren zwischen der Mehrheit und der Minderheit abgebaut, und beide haben sich wiederum füreinander geöffnet. Minderheitenkindergärten und -schulen werben um die Kinder der Mehrheit; einige ihrer Eltern wählen diese Einrichtungen aktiv, vor allem, damit ihre Kinder als dänische und deutsche Zweisprachige aufwachsen. Darüber hinaus nutzen insbesondere einige Senioren aus der Mehrheitsbevölkerung die Angebote des Sozialdienstes. Auch im Bereich der Politik wurden die Grenzen zwischen Dänisch und Deutsch durchbrochen, v. a. durch die regionale Profil- und Sprachkampagne der SP, die zu einer Verdoppelung der Stimmen für die SP geführt hat. Von der Mehrheit wurde vorgeschlagen, dass die Wahllokomotive der SP in Sonderburg/ Sønderborg Bürgermeister im Stadtrat sein sollte. Letztlich wurde er jedoch nicht dazu gewählt. Die Offenheit der Minderheit hat aber auch zu einigen Missverständnissen geführt. Einige Dänen haben vorgeschlagen, einen dänischen und einen deutschen Kindergarten zusammenzulegen, da die Kinder zu Hause dieselbe Sprache sprechen. Darüber hinaus haben einige vorgeschlagen, den Landwirtschaftlichen Hauptverein für Nordschleswig in sein dänisches Pendant einzugliedern, um die finanziellen und fachlichen Ressourcen optimal zu nutzen. Die Ablehnung beider Vorschläge ist jedoch ein Ergebnis des Wunsches der Minderheit, Integrität zu wahren und Assimilation zu vermeiden, so dass die Offenheit am besten als solche verstanden wird, die auf Initiative der Minderheit und nicht der Mehrheit ersucht werden sollte. Literatur Becker-Christensen, Henrik (1990): Det tyske mindretal i Nordslesvig 1920-1932, I +II. Aabenraa: Institut for Grænseregionsforskning. Brücke 2017/ 2018. Abrufbar unter: http: / / knivsberg.dk/ files/ layout/ Knivsberg/ Die%20Brücke%20 2017_2018.pdf. (Letzter Zugriff 29.10.2018). Buck, Anna/ Bonhoff, Lena/ Clausen, Ruth/ Rasmussen, Réne (2011): Auf den Spuren des Minderheitenlebens 2009-10. Sønderborg: Museum Sønderjylland-Sønderborg Slot. Bund Deutscher Norschleswiger (2015a): Satzung des Bundes Deutscher Nordschleswiger. Abrufbar unter: http: / / www.bdn.dk/ files/ $misc/ BDN%20Satzungen%202015.pdf. (Letzter Zugriff 29.10.2018). Bund Deutscher Norschleswiger (2015b): Sprachpolitischen Forderungen der deutschen Minderheit. Strategie 2015-20. Abrufbar unter: http: / / www.nordschleswig.dk/ files/ $misc/ Sprachpolitische%20 Forderungen2015-HV-Endfassung-redigiert.pdf. (Letzter Zugriff 5.12.2018). Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 43 <?page no="44"?> Byram, Michael (1986): Minority Education and Ethnic Survival: Case Study of a German School in Denmark. Clevedon: Multilingual Matters. Deutscher Schul- und Sprachverein für Nordschleswig (o.J.a): Lehrpläne für die Deutschen Schulen in Nordschleswig. Vorbemerkungen. Abrufbar unter: http: / / www.dssv.dk/ files/ dssv/ dateien/ Lehrpläne/ Vorbemerkungen%20Lehrplan.pdf. (Letzter Zugriff 5.12.2018). Deutscher Schul- und Sprachverein für Nordschleswig (o.J.b): Lehrpläne für die Deutschen Schulen in Nordschleswig. Lehrplan Dansk 99. Abrufbar unter: http: / / www.dssv.dk/ files/ dssv/ dateien/ Lehrpläne/ Lehrplan%20Dansk%2099.pdf Deutscher Schul- und Sprachverein für Nordschleswig (2004): Sprachförderung in den Institutionen des Deutschen Schul - und Sprachvereins für Nordschleswig. Abrufbar unter: http: / / www.dssv.dk/ files/ dssv/ dateien/ Dokumente_Sprache/ Sprachf%C3%B6rderung%20in%20den%20Institutionen.pdf. (Letzter Zugriff 29.10.2018). Deutscher Schul- und Sprachverein für Nordschleswig (2013): SATZUNG des Schul- und Sprachvereins für Nordschleswig DSSV. Abrufbar unter: http: / / www.dssv.dk/ files/ dssv/ dateien/ DSSV%20SAT- ZUNG%202013-04-24.pdf. (Letzter Zugriff 29.10.2018). Deutscher Schul- und Sprachverein für Nordschleswig (2016a): En fortælling i tal om elever fra de tyske skoler i Sønderjylland. Abrufbar unter: www.dssv.dk/ epinion-analyse.69142.aspx. (Letzter Zugriff 29.10.2018). Deutscher Schul- und Sprachverein für Nordschleswig (2016b): Jahresbericht 2016. Abrufbar unter www.dssv.dk/ files/ dssv/ DSSV_Jahresbericht_2016.pdf. (Letzter Zugriff 1.11.2017). Deutscher Volkskalender Nordschleswig (1975, 2002, 2003, 2004). Fredsted, Elin (2016): Language contact in the German-Danish border area in the twenty-first century. Multilingualism at the interface between oral and written language use. In: STUF, 69, 3, S. 437-465. Hansen, Carsten Yndigegn/ Pedersen, Karen Margrethe/ Schack, Michael (2002): Unges holdninger til nabolandet. Aabenraa: Institut for Grænseregionsforskning. Henningsen, Lars N./ Lubowitz, Frank (2011): Stemmer fra mindretallene/ Stimmen aus den Minderheiten. Flensborg/ Apenrade: Studieafdelingen ved Dansk Centralbibliotek/ Archiv der deutschen Volksgruppe. Kardel, Harboe (1982): Fortegnelse over nordslesvigske stednavne på dansk og tysk. Rødovre: ROLV forlag. Pedersen, Karen Margrethe (1983-2013): Længdesnitsundersøgelsen: Mødet mellem sprogene i den dansk-tyske grænseregion. Unpublished. Pedersen, Karen Margrethe (1986): Mødet mellem sprogene i den dansk-tyske grænseregion. Entoog flersprogede børn i Sønderjylland. Aabenraa: Institut for Grænseregionsforskning. Pedersen, Karen Margrethe (1987): German Minority Children in the Danish Border Region: Code-switching and Interference. In: Journal of Multilingual and Multicultural Development, 8, 1 & 2, S. 111-120. Pedersen, Karen Margrethe (1988): Second Language Learners in the German Minority in Denmark. In: Holmen, Anne et al. (Hrg.): Bilingualism and the Individual. Clevedon/ Philadelphia, Pa: Multilingual Matters, S. 1-13. Pedersen, Karen Margrethe (1992): Det levende sprog. In: Sønderjysk Månedsskrift, 4, S. 131-135. Pedersen, Karen Margrethe (1993): Functional Regional Bilingualism. In: Journal of Multilingual and Multicultural Development, 14, 6, S. 463-481. Pedersen, Karen Margrethe et al. (1993): Vi bor i Sønderjylland. Sprog og kultur i lokalsamfundet - et materiale til dansk og tværfaglig undervisning. Aabenraa: Amtscentralen i Sønderjylland. Pedersen, Karen Margrethe (2000): German as First Language and Minority Second Language in Denmark. In: Hogan-Brun, Gabrielle (Hrg.): National Varieties of German outside Germany. German Linguistic and Cultural Studies. A European Perspective. Oxford/ Bern: Peter Lang, S. 195-221. 44 Karen Margrethe Pedersen / Tobias Haimin Wung-Sung <?page no="45"?> Pedersen, Karen Margrethe (2000b): A National Minority with a Transethnic Identity - the German Minority in Denmark. In: Wolff, Stefan (Hrg.): German Minorities in Europe. Ethnic Identity and Cultural Belonging. New York/ Oxford: Berghahn Books, S. 15-29. Pedersen, Karen Margrethe (2005): Languages and Identities in the National Minorities in the Danish-German Border Region and in the Bonn-Copenhagen Declarations. In: Kühl, Jørgen/ Weller, Marc (Hrg.): Minority Policy in Action. The Bonn-Copenhagen Declarations in a European Context 1955-2005. Aabenraa: Institut for Grænseregionsforskning, S. 91-139. Pedersen, Karen Margrethe (2010): Das Erlernen von Minderheiten- und Nachbarsprachen im Lichte von Sprachnationalismus und -pluralismus im deutsch-dänischen Grenzraum. In: Geiger-Jaillet, Anemone (Hrg.): Lehren und Lernen in deutschsprachigen Grenzregionen. Bern/ Wien: Peter Lang, S. 47-57. Pedersen, Karen Margrethe (2011): Valgkamp på sønderjysk. In: Arboe, Torben/ Hansen, Inger Schoonderbeek (Hrg.): Jysk, ømål, rigsdansk mv. Festskrift til Viggo Sørensen og Ove Rasmussen. Aarhus: Peter Skautrup Centret for Jysk Dialekt forskning, S. 185-206. Pedersen, Karen Margrethe (2011): Sønderjysk sang og rap. In: Schoonderbek Hansen, Inger/ Widell, Peter (Hrg.): 13. Møde om Udforskningen af Dansk Sprog. Aarhus: Aarhus Nordisk Institut/ Aarhus Universitet, S. 237-251. Sievers, Kai Detlev (1975): Beiträge zur Frage der ethnischen Identifikation des Bundes deutscher Nordschleswiger. Flensburg: Akademie Sankelmark. Sørensen, Nils Karl (2016): Gyngerne og karrusellen. Sønderjyllands økonomi i næsten 5 årtier. In: Pluk, S. 11-14. Toft, Gösta (1982): Die bäuerliche Struktur der deutschen Volksgruppe in Nordschleswig. Flensburg: Institut für Regionale Forschung. Tästesen, Anke (2015): German. The German Language in Eucation in Denmark. Ljouwert/ Leeuwarden: Mercator Education. Abrufbar unter: https: / / www.mercator-research.eu/ fileadmin/ mercator/ documents/ regional_dossiers/ german_in_denmark.pdf. (Letzter Zugriff 29.10.2018). Westergaard, Astrid (2008): Strukturelle und pragmatische Verwendungsmuster im bilingualen Sprachgebrauch bei Jugendlichen. Hamburg: Verlag Dr. Kovac. Westergaard, Astrid (2013): De unge og sønderjysk - åbner Facebook nye muligheder for bevarelse af dialekt? In: Schoonderbek Hansen, Inger/ Hougaard, Tina T./ Widell, Peter (Hrg.): 14. Møde om Udforskningen af Dansk Sprog. Aarhus: Aarhus Nordisk Institut/ Aarhus Universitet, S. 485-500. Westergaard, Astrid (2014): Om sammenhængen mellem sprogvalg og kommunikativ rækkevidde på facebook. In: NyS, 46, S. 65-101. Westergaard, Astrid (2015): Revitalisierung von Dialekt in neuen Medien. In: Fredsted, Elin/ Langhanke, Robert/ Westergaard, Astrid: Modernisierung in kleinen und regionalen Sprachen. Hildesheim/ Zürich/ New York: Georg Olms. Westergaard, Niels (2000): Die Literatur der deutschen Minderheit in Nordschleswig, Dänemark. Eingrenzung und Übersicht. Flensburg: Futura Edition. Wung-Sung, Tobias Haimin (2017): We Remain What We Are - Wir bleiben was wir sind? North Schleswig German Identities in Children’s Education After 1945. In: Venken, Machteld (Hrg.): Borderland Studies Meets Child Studies. A European Encounter. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 139-165. Die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Dänemark 45 <?page no="47"?> Deutsch in Ostbelgien Heinz Bouillon 1 Einleitung 2 Geographische Lage und Demographie 3 Geschichtliche Gegebenheiten 3.1 Vor 1919 3.2 Vom Versailler Vertrag bis zum Zweiten Weltkrieg 3.3 Der Zweite Weltkrieg 3.4 Vom Zweiten Weltkrieg bis 1963 3.5 Die verschiedenen Staatsreformen in Belgien 4 Die Politik und die rechtliche Stellung der DG heute 4.1 Überblick 4.2 Befugnisse 4.3 Offene Frage: Separatismus 4.4 Eine siebte Staatsreform? 5 Die wichtigste Kompetenz: das Schulsystem 6 Medien und Kultur 6.1 Treffen der Staatsoberhäupter der Länder mit Amtssprache Deutsch 6.2 Rat für deutsche Rechtschreibung 6.3 Die Medien 6.4 Kultur in Ostbelgien 7 Soziolinguistische Aspekte 7.1 Sprache und Dialekt 7.2 Qualität der Sprache und schulische Leistungen 7.3 Zweisprachigkeit 8 Linguistic Landscape 9 Schlussfolgerung Literatur 1 Einleitung 1 Deutsch ist die Muttersprache einer kleinen Minderheit in Belgien. Es geht im Folgenden darum, diese Deutschsprachigen geografisch zu situieren und auf ihre jüngste sehr bewegte Geschichte einzugehen. Ihre jetzige Sonderstellung in einem sich stetig wandelnden belgischen Staat soll in einem weiteren Teil beschrieben werden. Anschließend werden einige mögliche Wege perspektivisch für diese Minderheit angezeigt. Die Autonomie der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG) drückt sich vor allem im Schulunterricht aus, weshalb die Kompetenzen 1 Teile der vorliegenden Darstellung liegen auch dem Beitrag von Bouillon (2016/ 17) zugrunde. <?page no="48"?> in diesem Bereich näher untersucht werden müssen. Schließlich wird die verwendete Sprache, auch im weiteren Kontext der Zweisprachigkeit, aus soziolinguistischer Perspektive näher beschrieben. Abschließend wird die Identität dieser kleinen Bevölkerungsgruppe ansatzweise charakterisiert. 2 Geographische Lage und Demographie Im Vergleich mit der Weltbevölkerung ist die Bedeutung der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens mit ihren zirka 77.000 Einwohnern verschwindend klein. Abb. 1: Die Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien 2 Die neun Gemeinden, die die heutige Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens bilden, liegen im Osten Belgiens und grenzen an die Niederlande, Deutschland und Luxemburg an. Ihre Fläche beträgt 854 km 2 . Der Sitz der Regierung und des Parlaments ist Eupen. Zwischen dem Norden, wo sich mehrere Industrieschwerpunkte befinden (Kabelwerke, NMC, präzisionsmechanische Betriebe usw.), und dem Süden, mit dem Zentrum Sankt Vith, liegt das Hohe Venn. Diese Landschaft, die oft als belgische Eifel bezeichnet wird, ist hauptsächlich durch Forst- und Landwirtschaft charakterisiert. Die Deutschsprachige Gemeinschaft ist Mitglied der Euregio Maas-Rhein. Zum grenzüberschreitenden Verbund der Euregio Maas-Rhein gehören folgende Regionen: die Deutschsprachige Gemeinschaft, die Provinz Lüttich, die Provinz Belgisch-Limburg, die Provinz Niederländisch-Limburg und die Region Aachen. Die Euregio umfasst insgesamt etwa 3,8 Millionen Einwohner. Ziel der Euregio Maas-Rhein ist es, die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Grenzregionen zu fördern. Dazu werden Partnerschaftsprojekte in Bereichen wie Tourismus, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Katastrophenschutz, Sprachen- 2 Quelle: http: / / www.cartograf.fr/ pays/ img/ belgique/ carte_de_la_belgique.png (Letzter Zugriff 24.10.2018). 48 Heinz Bouillon <?page no="49"?> projekte, Technologietransfer und Gesundheitsversorgung entwickelt. Als Entscheidungsinstanz für die Vergabe von europäischen Mitteln (Interreg-Gelder) hat die Euregio Maas-Rhein beträchtliche Mittel zur Mitfinanzierung von grenzüberschreitenden Projekten in der Deutschsprachigen Gemeinschaft beigesteuert. 3 3 Geschichtliche Gegebenheiten 3.1 Vor 1919 Das, was man heute Belgien nennt, entstand nach den Religionskriegen 1648, als die damaligen protestantischen Niederlande ihre Unabhängigkeit errangen und den flämischen und südlichen Teil weiteren Besetzern überließen. Damals gehörte der Norden der deutschsprachigen Territorien der heutigen DG hauptsächlich zu Limburg und der südliche Teil zu Luxemburg (Hecking 1875/ 2 1977: 38). Die Regionen, die einmal Belgien werden sollten, standen nacheinander unter spanischer, österreichischer, französischer und schließlich bis 1830 unter niederländischer Herrschaft, wobei ein nicht unwichtiger Teil, das Fürstbistum Lüttich, bis 1789 dem Heiligen Römischen Reich angehörte. Ohne auf die vielen Herrschaftswechel der Gebiete einzugehen, sei ein Datum der jüngsten Geschichte mit besonderer Wichtigkeit herausgegriffen: Nach der Niederlage Napoleons wurden 1815 auf dem Wiener Kongress diese Territorien, Eupen-Malmedy-Sankt Vith genannt, die zum französischen Departement „Ourthe“ gehörten, Preußen zugeschlagen, das französischsprachige Malmedy einbegriffen (Maxence 1951: 15). Als Belgien sich 1830 von den Niederlanden loslöste und ein selbständiger Staat wurde, gehörte die deutschsprachige Minderheit also nicht dazu - wohl aber das heutige Großherzogtum Luxemburg, das Areler Land und die sogenannten altbelgischen Gemeinden um die Dörfer Beho und Bocholz. Der unabhängige belgische Staat zählte zirka 250.000 germanophone Einwohner (Bergmanns 1986: 12), darunter bildeten die luxemburgischen Dialekte die größte Gruppe. Im Jahr 1838 kam es zur endgültigen Einigung über die territoriale Teilung zwischen Belgien und den Niederlanden. Es war das Jahr, als das Großherzogtum Luxemburg als selbständiger Staat geschaffen wurde: Belgien trat einige Gebiete wie Südlimburg an die Niederlande ab und behielt nur einige germanophone Gemeinden im Areler Land (Witte 2005: 100-108), die Letzeburgisch sprachen, sowie die sogenannten altbelgischen Gemeinden. So ging natürlich auch die Bedeutung der deutschen Sprache stark zurück, denn die Gebiete der heutigen Deutschsprachigen Gemeinschaft mit Malmedy lagen in Preußen. 3.2 Vom Versailler Vertrag bis zum Zweiten Weltkrieg Die Bevölkerung der heutigen DG erlebte den Ersten Weltkrieg also auf deutscher Seite. Die Denkmäler in den Dörfern, die an die Gefallenen erinnern, zeigen heute auf belgischem Boden die Namen der Soldaten, die für Deutschland gekämpft haben und gefallen sind. Das Datum 1919 ist dennoch entscheidend, denn durch den Versailler Vertrag wurden die Gebiete Eupen-Malmedy-St.Vith Teil des belgischen Staatsgebiets. Durch die Volksbefragung 3 http: / / www.ostbelgienlive.be/ desktopdefault.aspx/ tabid-1068/ 1554_read-45685/ (Letzter Zugriff 24.10.2018). Deutsch in Ostbelgien 49 <?page no="50"?> von 1922 wurde dies bestätigt. Heute sind sich fast alle einig, dass es damals eine Scheinbefragung war. Wer nämlich nicht mit der Zugehörigkeit zum belgischen Staat einverstanden war, musste sich namentlich in eine Liste eintragen, was natürlich äußerst riskant war, da jeder mit Vergeltungsmaßnahmen rechnete. Kaum jemand hat also gegen die belgische Integration protestiert (Lejeune 2005: 27). Somit hatte Belgien eine neue deutschsprachige Minderheit von damals zirka 50.000 Personen. Der von Belgien eingesetzte Generalkommissar Baltia verfügte 1920, dass alle deutschen Bestimmungen, die den alleinigen Gebrauch der deutschen Sprache vorschreiben, aufgehoben werden. Seitdem waren Deutsch und Französisch Amtssprachen in Neubelgien (Henkes 2012: 8). Die auf Französisch formulierten Gesetze wurden durch einen Übersetzungsdienst ins Deutsche übersetzt. So wie bis 1919 eine „Germanisierung“ der Bevölkerung von Malmedy stattgefunden hatte, erleben die Neubelgier jetzt eine Romanisierung. Deutsch wurde zweitrangig, da die maßgebende Gesetzgebung auf Französisch abgefasst war. Wer also in dieser Zeit gesellschaftlich weiterkommen wollte, musste die französische Sprache erlernen. Es gab einen Druck, seine Denkweise zu ändern; gleichzeitig wurde der deutschen Sprache Rechnung getragen. Im Areler Land war indessen der Gebrauch der deutschen Sprache auf dem Rückzug. In den 1930er Jahren drückte die Bevölkerung sich dort lieber auf Französisch aus, obwohl das Moselfränkische nebenbei noch lebendig blieb (Mitteilung meines Vaters, der dort aufgewachsen ist). Die Hauptursachen scheinen in den Kriegsgeschehen des Ersten Weltkriegs zu liegen, denn die Zivilbevölkerung hatte in diesen Dörfern stark gelitten (Hinrichtung von 125 Zivilisten in dem nahe gelegenen Rossignol am 22. August 1914). Nach 1933 entstanden dagegen im sogenannten Neubelgien wie in anderen Ländern Bewegungen, wo der Ruf „Heim ins Reich“ zu hören war. Ein Teil der Bevölkerung verfolgte mit großem Interesse den Aufstieg der Nationalsozialisten und übernahm, in der „Heimattreuen Front“, die nationalistischen und ideologischen Vorstellungen der NSDAP. Heute wird dieses Thema immer mehr aufgearbeitet, dennoch ist zahlenmäßig nicht klar, inwieweit die ostbelgische Bevölkerung sich eine Integration ins Hitler-Deutschland wünschte. 3.3 Der Zweite Weltkrieg Als Hitler Belgien nach wenigen Tagen erobert hatte, erließ er am 18. Mai 1940: „Die Kreise Eupen-Malmedy werden annektiert“. Dies bedeutete für die jungen Männer der Region, als auch die Staatszugehörigkeiten entsprechend angepasst wurden, dass sie in die Wehrmacht eingezogen wurden und für Deutschland zu kämpfen hatten. So änderten manche in kurzem Zeitraum gezwungenermaßen die Uniform, nachdem sie vorher in die belgische Armee eingezogen worden waren. Sie kamen in neuer Uniform mit den deutschen Truppen an allen Fronten zum Einsatz. Später im Verlaufe des Krieges sind die meisten „Zwangseingezogenen“ an die Ost-Front versetzt worden, wo eine große Anzahl der ostbelgischen Männer fiel. Andere meldeten sich freiwillig bei der Schutzstaffel (SS) oder der Sturmabteilung (SA), was natürlich nach Kriegsende ganz anders als die Rolle der Zwangseingezogenen eingestuft wurde, da in gewissen Fällen die Todesstrafe gegen ehemalige SS-Mitglieder ausgesprochen wurde. Wie die Zivilbevölkerung 1944 die Ardennenoffensive erlebte, möchte ich hier an einem Bericht aus dem Dorf Büllingen illustrieren: 50 Heinz Bouillon <?page no="51"?> Ende Januar 1945 wusste man, dass der Amerikaner bald wieder ins Dorf einziehen würde. Die Deutschen schienen aber nicht so leicht das Feld zu räumen. Frau Johann Mertens-Schmitz berichtet: ‚Die Deutschen wollten uns mit zurücknehmen. Wir wehrten uns sehr dagegen. Einem Deutschen, der mich hierzu aufforderte, sagte ich: ‚Dann können sie mich auch gleich hier an der Kirchhofsmauer erschießen. Es ist doch überall Krieg.‘ Ein SS-Soldat war oben im Haus in einem Schlafzimmer mit seinem MG in Stellung gegangen. Es war der 29. Januar. Während einer kurzen Feuerpause hörten wir ihn rufen ‚Los Amis, nun kommt doch! ‘ Nach einiger Zeit hatten sich die Amerikaner an das Haus herangearbeitet und es vollends umzingelt. Sie forderten alle Insassen auf herauszukommen. Der MG-Schütze war inzwischen zu uns in den Keller geflüchtet. Nach längerem Bitten und Flehen ergab er sich und stellte sich den Amerikanern. Auch wir Zivilisten wurden aufgefordert, das Haus zu verlassen und mussten mit den Gefangenen draußen im Schnee stehen. Da in der Nacht das Dorf mit Phosphorgranaten beschossen worden war, sahen wir, als wir draußen im morgendlichen Halbdunkel standen, überall Brände schwelen. Sogar der Schnee schien zu brennen. Es war ein furchtbarer Anblick. Anschließend wurden wir zum Verhör in das Haus Legros gebracht. (Geschichtsverein „Zwischen Venn und Schneifel“ 1969: 107) Die deutsche Annexion und die anschließende Niederlage haben nachhaltige Spuren in der ostbelgischen Bevölkerung hinterlassen. Zum zweiten Male gehörte die ostbelgische Bevölkerung zu den Verlierern. 3.4 Vom Zweiten Weltkrieg bis 1963 Nach Kriegsende kamen die Bezirke Eupen-Malmedy nach Belgien zurück. Die örtlichen „deutschgesinnten“ Machthaber wurden ersetzt. So kamen Lehrer und Gendarmen aus dem Areler Land nach Eupen-Malmedy: Sie waren der Sprache mächtig und konnten nicht verdächtigt werden, Nationalsozialisten gewesen zu sein. Es gab eine Periode der Säuberung, wobei allerdings die Zwangssoldaten der Wehrmacht, die vorerst verhaftet wurden, sehr bald entlassen wurden. (Lejeune 2005: 187) Die ostbelgische Bevölkerung passte sich wieder einmal an. Der belgische Staat war damals noch ein Zentralstaat mit neun Provinzen. Das Gebiet Eupen-Malmedy-St.Vith war Teil der Provinz Lüttich. Langsam lebten sich jedoch Flamen und Wallonen auseinander, was 1962/ 1963 durch ein Sprachengesetz besiegelt wurde. Der Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten wurde gesetzlich geregelt, und so entstand de facto nebenbei auch ein deutsches Sprachgebiet. Es entstanden zum ersten Mal administrative Sprachgrenzen zwischen Flamen, Wallonen und Deutschsprachigen, wobei Brüssel als zweisprachig galt. 3.5 Die verschiedenen Staatsreformen in Belgien Belgien geriet in eine Transformationsphase mit mehreren Gesetzesänderungen, um die Befugnisse, die vom Zentralstaat ausgeübt wurden, an andere Einheiten zu übertragen. Diese Entwicklung hat Belgien nach und nach in einen Föderalstaat umgewandelt. Gegenwärtig scheint diese Transformation keineswegs zu Ende zu sein. Wir wollen kurz auf die Staatsreformen eingehen, die zu einer Veränderung des Status der Deutschsprachigen Gemeinschaft geführt haben. Deutsch in Ostbelgien 51 <?page no="52"?> Die Staatsreform von 1968-1973 Das Jahr 1968 ist ein Krisenjahr: Die alte Universität Löwen (1425 gegründet) wird geteilt, und der frankophone Teil muss die Stadt, die auf flämischem Territorium liegt, verlassen. So entstand Louvain-la-Neuve, eine auf dem Reißbrett geplante Stadt, in der sich der französischsprachige Teil der Universität seitdem niedergelassen hat. Gleichzeitig bekommen Flamen, Wallonen aber auch die Deutschsprachigen eine kulturelle Autonomie, und so wird die deutsche Kulturgemeinschaft geschaffen. Die erste Sitzung des neu geschaffenen Rats ( Rat der deutschen Kulturgemeinschaft ) findet am 23. Oktober 1973 statt. Die Zweite Staatsreform von 1980-1983 Die Gemeinschaften bekommen autonome Dekretbefugnisse in kulturellen und personenbezogenen Angelegenheiten sowie in den zwischengemeinschaftlichen und internationalen Beziehungen; der Staat gibt diese Befugnisse unwiderruflich ab. Für die Deutschsprachigen bedeutet dies den effektiven Anfang einer nicht mehr vom belgischen Staat bestimmten Politik. Die politischen Parteien können jetzt vor Ort einen politischen Kurs ansteuern, der von „nationalen“ Interessen abgekoppelt ist. Das Gesetz vom 31. Dezember 1983 ist in dieser Hinsicht entscheidend: Am 30. Januar 1984 wird der Rat der Deutschsprachigen Gemeinschaft geschaffen. Außerdem entsteht die erste Exekutive, nämlich eine Regierung mit insgesamt drei Ministern. Die Dritte Staatsreform von 1988-1990 Für Ostbelgien stellt diese Staatsreform, bei der die Befugnisse in Sachen Unterrichtswesen übertragen werden, einen weiteren entscheidenden Schritt dar. Seit dieser Reform ist die Deutschsprachige Gemeinschaft autonom in der Regelung ihres Unterrichtswesens. Die Finanzierung verläuft allerdings so, dass der Zentralstaat der Gemeinschaft jedes Jahr eine Summe zur Verfügung stellt, die diese dann ausgeben kann, wie sie es autonom bestimmt. Dies führte zum Ausbau einer Verwaltung. Durch Dekrete regelt die Gemeinschaft die jeweiligen Aspekte wie die Rahmenpläne, die Lehrerausbildung usw., wie sie es demokratisch wünscht. Es folgten weitere Staatsreformen, von denen die Deutschsprachige Gemeinschaft ebenfalls - aber in geringerem Maße - betroffen war. Diese Punkte werden, wenn nötig, in den folgenden Abschnitten erörtert. 4 Die Politik und die rechtliche Stellung der DG heute 4.1 Überblick Der belgische Staat hat sich, wie gesagt, in den letzten Jahrzehnten grundsätzlich neu organisiert; und zwar in Richtung Föderalstaat. Der Zentralstaat behält gewisse Befugnisse (Armee, Währung, belgische Außenpolitik usw.), doch kommen den neu geschaffenen Einheiten exklusive vom Zentralstaat abgegebene Befugnisse zu. Die Steuergelder werden jedoch größtenteils weiter vom Zentralstaat erhoben, was den neuen Einheiten bisher nur eine begrenzte finanzielle Autonomie überlässt. So dürfen die Regionen zum Beispiel die Erbschaftssteuer kassieren; doch werden die sogenannten „Dotationen“ des Staates nach einer festen Regel (Einwohnerzahl plus Territorium) verteilt. 52 Heinz Bouillon <?page no="53"?> Die aktuellen politisch-administrativen Einheiten in Belgien umfassen: - drei Regionen: die flämische Region, die wallonische Region und Brüssel - drei Gemeinschaften: die flämische Gemeinschaft, die französische Gemeinschaft und die Deutschsprachige Gemeinschaft Die Befugnisse werden, grob formuliert, nach territorialen Aspekten (auf Ebene der Regionen) und personengebundenen Aspekten (auf Ebene der Gemeinschaften) verteilt. Die Umverteilung der Befugnisse geht nur schleppend voran, da Brüssel ja ein Territorium ist, das sich in der flämischen Region befindet, die Bevölkerung jedoch in einer großen Mehrheit aus Frankophonen besteht. Deshalb wurde Brüssel zu einer eigenständigen Region im Sinne der Verfassung. Das Gleiche gilt für gewisse Randgemeinden von Brüssel, die ganz auf flämischem Territorium liegen, aber von einer Mehrheit von Frankophonen bewohnt werden, so dass das territoriale und das personengebundene Prinzip in Konflikt miteinander geraten. Diese Auseinandersetzungen haben mehr als eine belgische Regierung zum Sturz gebracht. Wie wurde in diesem Kontext die Deutschsprachige Gemeinschaft behandelt? Sie besteht heute aus neun Gemeinden. Malmedy ist aus dieser Problematik herausgenommen worden, die Stadt gehört ganz der wallonischen Region und der französischen Gemeinschaft an, es gibt allerdings noch sogenannte „Fazilitäten“ (facilités), die einem Deutschsprachigen dort erlauben, sich auf Deutsch an die Verwaltung zu wenden. Ferner liegt in Malmedy das Hauptübersetzungszentrum der wallonischen Region, das verpflichtet ist, für die Region eine gewisse Anzahl Dekrete ins Deutsche zu übersetzen. Das liegt an der besonderen Situation der Deutschsprachigen Gemeinschaft. Hier sei auch vermerkt, dass eine Kommission von Spezialisten aus Sprach- und Rechtswissenschaftlern eine französisch-deutsche Rechtsterminologie festgelegt hat, die für jedermann zugänglich ist in der Terminologiedatenbank SEMAMDY. 4 Wie die Bezeichnung verrät, verfügt die Deutschsprachige Gemeinschaft heute über alle Befugnisse, die in Belgien einer Gemeinschaft zustehen. Doch die Deutschsprachige Gemeinschaft ist im belgischen Sinne keine Region. Sie liegt sprachlich am Rande der französischsprachigen Wallonie, doch ihr Territorium liegt im Territorium der Wallonie. Die Deutschsprachige Gemeinschaft ist also keine Region im Sinne des Grundgesetzes und ist deshalb nur teilweise autonom. Dies hat einmal den damaligen Ministerpräsidenten der Wallonie Jean-Claude Van Cauwenberghe zu der Aussage veranlasst „Die DG, das sind deutschsprachige Wallonen“ ( Le Soir , 16.8.2002). Juristisch war es - und ist es noch - zutreffend, doch die Deutschsprachigen fühlten sich durch diesen Ausdruck verletzt, da sie gefühlsmäßig keine Wallonen sind. Auf Landesebene verfügt die Deutschsprachige Gemeinschaft über einen Gemeinschaftssenator, zur Zeit Karl-Heinz Lambertz, der übrigens darüber hinaus seit 2017 den Vorsitz des europäischen Ausschusses der Regionen innehat. Die Vertretung im Senat ist also garantiert, was nicht der Fall ist für das belgische Parlament. Die verschiedenen Parteien versuchen allerdings im Wahlbezirk Verviers, dem einen oder anderen Deutschsprachigen zu einem Sitz im Parlament zu verhelfen, wie zum Beispiel für die deutschsprachige Abgeordnete Kattrin Jadin. 4 http: / / www.scta.be/ Terminologiedatenbanken/ Semamdy? lang=FR-be (Letzter Zugriff 24.10.2018). Deutsch in Ostbelgien 53 <?page no="54"?> Abb. 2: Das Gebiet der Deutschen Gemeinschaft 5 Die Deutschsprachige Gemeinschaft verfügt über ein Parlament (PDG), das in Eupen tagt. Es besteht aus 25 Mitgliedern und verabschiedet Dekrete, die Gesetzeskraft haben. Die Instrumente der Autonomie der DG selber beruhen auf den drei Säulen: Legislative, Exekutive, Judikative. Die Exekutive, die Regierung, wird geführt von einem Ministerpräsidenten, gegenwärtig Oliver Paasch. In der Regierung sind insgesamt vier Minister (am Anfang waren es nur drei). Wir werden im Folgenden noch kurz auf ihre Befugnisse eingehen. Auch im Gerichtswesen gibt es eine gewisse Autonomie. Es gibt einen für Belgien 27. Gerichtsbezirk mit zwei Kantonen Eupen und Sankt Vith. Die Gerichtssachen bis zur ersten Instanz werden also örtlich in deutscher Sprache behandelt. Die Einstellung der Richter wird in Belgien vom Hohen Justizrat vorgenommen. Das Bewerbungsverfahren im Hohen Justizrat kann ganz in deutscher Sprache durchlaufen werden. Sowohl im Hohen Justizrat als auch in den höchsten juridischen Instanzen (die höchste ist der Kassationshof) kann die deutsche Sprache verwendet werden (Henkes 2012: 13). Zwei Hohe Magistrate des Kassationshofes sind gebürtige Ostbelgier: André Henkes und Tamara Konsek. 5 Quelle: https: / / upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ e/ e4/ Ostbelgien2.png (Letzter Zugriff 24.10.2018). 54 Heinz Bouillon <?page no="55"?> 4.2 Befugnisse Die Befugnisse der verschiedenen Minister zeigen, inwiefern Ostbelgien über seine eigene Entwicklung bestimmen kann: - Der Ministerpräsident (Oliver Paasch) führt seine Regierung und kümmert sich ebenfalls um die lokalen Behörden. - Harald Mollers ist Minister für Unterricht, Ausbildung und Beschäftigung. - Isabelle Weyckmans ist Ministerin für Kultur, Medien und Tourismus. - Antonios Antoniadis ist Minister für Familie, Gesundheit und Soziales. 6 Die Deutschsprachige Gemeinschaft ist bisher im Wesentlichen für kulturelle Angelegenheiten, personenbezogene Angelegenheiten und Bildung zuständig, außerdem für die zwischengemeinschaftlichen und internationalen Beziehungen in den eigenen Kompetenzen. Dies heißt, dass die DG befugt ist, im Rahmen ihrer Autonomie internationale Abkommen und Verträge abzuschließen. Zu den personenbezogenen Angelegenheiten gehören u. a. Familie, Gesundheit, Sozialhilfe, Empfang und Integration von Einwanderern, Behindertenfürsorge, Seniorenpolitik, Jugendhilfe, Wiedereingliederung von Gefangenen. Auf die heutige Politik im Unterrichtswesen und auf die kulturellen Kompetenzen werden wir später noch näher eingehen. Schließlich soll noch kurz vermerkt werden, dass es laut Artikel 139 der belgischen Verfassung jederzeit möglich ist, ein Abkommen mit einer anderen Region bzw. Gemeinschaft abzuschließen, um einen Teil derer Befugnisse zu übernehmen. Auf diesem Weg hat die DG gewisse Befugnisse von der Wallonischen Region übernommen, und zwar: - Denkmal- und Landschaftsschutz (1994) sowie Ausgrabungen (2000), - Beschäftigung (2000), - Aufsicht und Finanzierung der neun deutschsprachigen Gemeinden (2005). 4.3 Offene Frage: Separatismus Belgien fällt, wie gesagt, international dadurch auf, dass sich seine Institutionen in stetigem Wandel befinden. Damit gibt diese Politik dem Ausland den Eindruck, die Existenz des Landes wäre in regelmäßigen Abständen bedroht. Bisher wurde jedes Mal eine Lösung gefunden, auch wenn das Land den Weltrekord der längsten Regierungsbildung (541 Tage) hält. Das liegt daran, dass jede Neuordnung des Staates, die ja friedlich stattfindet, eine ganze Reihe von Mutationen in Verwaltung und Ämtern nach sich zieht, deren Konsequenzen nicht immer bei Abschluss der Regierungsverträge sichtbar waren. Für die Deutschsprachige Gemeinschaft gab es im Rahmen dieser Mutationen meistens nur Nebenprodukte, da sie, wenn sich die beiden großen Gemeinschaften einigen konnten, von den Prinzipien der Neuverteilung profitieren konnte. Politisch ist das Gewicht der DG bisher jedoch zu gering, um eigene radikale Forderungen durchzusetzen. Als Belgien vor Kurzem zu explodieren drohte, machten die eigenartigsten Szenarien die Runde. Sollte Flandern sich als unabhängig erklären, wurden in informellen Gesprächen u. a. folgende Lösungen erörtert: 6 http: / / www.ostbelgienlive.be/ desktopdefault.aspx/ tabid-218/ 8563_read-50493/ (Letzter Zugriff 24.10.2018). Deutsch in Ostbelgien 55 <?page no="56"?> 1. Die DG bleibt im Reststaat Belgien (Wallonien mit Brüssel) 2. Die DG wird ein autonomer Staat (wie Luxemburg oder Liechtenstein) 3. Die DG beantragt eine Einverleibung in Deutschland 4. Die DG beantragt eine Einverleibung in Luxemburg Doch im Grunde hatte bis dato niemand ernsthaft daran geglaubt, dass es so weit wie in Katalonien kommen könnte. Die belgischen Bürger haben sich mittlerweile an eine extreme Dramatisierung der Sprachenkonflikte im Land gewöhnt, die von den einen oder anderen herbeigeführt wird, um diese oder jene Änderung in der Struktur des Staates durchzusetzen. Indessen haben fast alle begriffen, dass zwei Dinge wahrscheinlich nicht friedlich teilbar sind: Brüssel und die belgische Staatsschuld. Und so wurde auch nach der längsten Regierungskrise, die Belgien mitgemacht hat, ein demokratisch verabschiedeter Kompromiss gefunden, der sich in einer sechsten Staatsreform konkretisieren ließ. 4.4 Eine siebte Staatsreform? In den letzten Staatsreformen (4. bis 6.) sind also weitere Befugnisse an die Regionen oder Gemeinschaften übertragen worden. Dabei wurde auch der Deutschsprachigen Gemeinschaft jeweils das zugewiesen, was auch auf die anderen Einheiten übertragen worden ist. Ein Beispiel ist hier u. a. das Kindergeld, das fortan von den Gemeinschaften ausbezahlt wird. Wenn die letzte Staatsreform, die sechste, vollständig ausgeführt sein wird, werden Gemeinschaften und Regionen mehr Gelder zur Verfügung haben als der Zentralstaat. Mit den neuen Aufgaben wächst dann gleichermaßen die Verwaltung. Die Verlegung vieler Arbeitsplätze in diesen Bereichen nach Eupen stellt die Regierung vor neue logistische Probleme, denn die zur Verfügung stehenden Gebäude stoßen langsam an ihre Grenzen. Vor Kurzem ist es zu weiteren Verhandlungen zwischen der Deutschsprachigen Gemeinschaft und der wallonischen Region zur Übernahme von neuen Bereichen, wie zum Beispiel dem Verkehr oder der Energiepolitik, gekommen; diese Verhandlungen sind noch nicht abgeschlossen. Zwischendurch hat die Regierung der DG beschlossen, den Terminus „Ostbelgien“ zu verwenden. Dies weist eher auf ein Territorium hin, wobei das Gebiet der Deutschsprachigen Gemeinschaft sich ja wie gesagt auf dem Territorium der Wallonie befindet. Es wurden ebenfalls Stimmen laut, bei einer siebten Staatsreform dann die Einrichtung einer vierten Region (neben Flandern, der Wallonie und Brüssel) für die Deutschsprachigen einzufordern. Ostbelgien als vierte Region hätte dann die gleichen Befugnisse wie die anderen Regionen. Dies würde ebenfalls eine Übertragung vieler neuen Aufgaben mit sich bringen, die wiederum sehr hohe Kosten verursachen würden. So bleibt diese Frage ganz offen; sie wäre sowieso erst fällig, sollte diese siebte Staatsreform von den beiden großen Gemeinschaften angepeilt werden. 5 Die wichtigste Kompetenz: das Schulsystem Ganz deutlich steht im Dekret vom 19. April 2004 über die Vermittlung und den Gebrauch der Sprachen im Unterrichtswesen Artikel 4 § 1: „Deutsch ist Unterrichtssprache“. Dies ist heute so, war in der Geschichte der DG jedoch nicht immer selbstverständlich. 56 Heinz Bouillon <?page no="57"?> Als die deutschsprachigen Gebiete zu Belgien gekommen waren, sind viele deutschsprachige Lehrer ausgewiesen worden. Obwohl Gouverneur Baltia um das Jahr 1920 versucht hat, einen deutschsprachigen Unterricht aufrechtzuerhalten, „wurde vor allem in den oberen Klassen und den höheren Schulen Französisch die Unterrichtssprache“ (Greten 2008: 12). Dies änderte sich wieder nach der Annexion Eupen-Malmedys durch das Dritte Reich, wo selbstverständlich alle Unterrichte auf Deutsch waren. Nach dem Krieg wurde anders herum der größte Teil des Unterrichts an den Gymnasien und in der Sekundarschule auf Französisch erteilt, um so eine Distanz zur jüngsten Geschichte herzustellen. Doch wie schon erwähnt, wurde durch die Sprachgesetzgebung Deutsch im Jahr 1963 offiziell zur dritten Landessprache und somit de facto auch zur Unterrichtssprache in der DG. Durch die Staatsreform von 1988-1990 bekam die DG die Befugnisse im Unterrichtswesen. Dieser Kompetenzbereich ist umfassend: Unterrichtsinhalte, Sprachengebrauch, Schülertransport, Feriendauer, Studienbeihilfen, Lehrergehälter, Schulbauten, Internate usw. Finanziell ist dies einer der wichtigsten Kompetenzbereiche der DG. Wie im übrigen Belgien werden drei verschiedene Schulnetze in ihrer eigenen Organisation respektiert: das freie subventionierte Unterrichtswesen (FSUW), das offizielle subventionierte Unterrichtswesen (OSUW) und das Gemeinschaftsunterrichtswesen (GUW). 7 Das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft legt den rechtlichen Rahmen für alle drei Schulnetze fest: - Bei den Schulen des freien subventionierten Unterrichtswesens handelt es sich um privatrechtliche Schulen, die von Organisationen oder privaten Personen betrieben und von der DG subventioniert werden. - Die Schulen des offiziellen subventionierten Unterrichtswesens sind öffentlich-rechtliche Schulen, die in der Regel von den Gemeinden organisiert und von der DG subventioniert werden. Im OSUW übernehmen die neun Gemeinden der DG die Trägerschaft der Primarschulen. Die überwiegende Mehrheit der Primarschulen in der DG ist in kommunaler Trägerschaft. - Bei den Schulen des Gemeinschaftsunterrichtswesens handelt es sich um öffentlich-rechtliche Schulen, die von der DG organisiert werden und Dotationen erhalten. Das GUW steht unter der direkten Trägerschaft des Ministers für Unterricht und wissenschaftliche Forschung der DG. Dies betrifft sowohl die Primarschulen wie die Sekundarschulen. Schließlich hat die Deutschsprachige Gemeinschaft sogar eine eigene Hochschule. Die Autonome Hochschule in der Deutschsprachigen Gemeinschaft (AHS) ist von ihrer Form her einzigartig in Belgien. Sie ist durch die Zusammenlegung der ehemaligen Hochschulen der drei Unterrichtsnetze entstanden und steht unter der Trägerschaft eines autonomen Verwaltungsrates. Es gibt drei Bachelor-Abschlussmöglichkeiten: Kindergärtner(in)/ Grundschullehrer(in), Krankenpfleger(in) und Buchhalter(in). Insgesamt gibt es 58 Kindergärten, 57 Primarschulen, 9 Sekundarschulen und eine Hochschule (Senster 2010). Somit organisiert die DG ihren Unterricht in deutscher Sprache vom Kindergarten bis zur Hochschule in der Form, wie sie es demokratisch selbst beschließt. Die Abiturienten, die später Jura, Medizin, Germanistik usw. studieren wollen, besuchen meistens die belgischen Universitäten von Lüttich, Neulöwen, Brüssel, Namur usw. Des Öfteren 7 Bildungsserver der DG: http: / / www.ostbelgienbildung.be/ desktopdefault.aspx/ tabid-2188/ 4267_read-31598/ (Letzter Zugriff 24.10.2018) Deutsch in Ostbelgien 57 <?page no="58"?> immatrikulieren sich Studenten auch an deutschen Universitäten, wenn es um Abschlüsse geht, die nicht zu rechtlich geschützten Berufen führen (wie zum Beispiel die Lehrbefähigung). Den Rahmen der Arbeit im Unterricht bilden die Dekrete. Für die Ausführung sorgt der Fachbereich Pädagogik des Ministeriums. Zu den wesentlichen Aufgabenbereichen des Fachbereichs gehört die Ausarbeitung von Kernkompetenzen, von Rahmenplänen sowie der schul- und netzübergreifenden Anforderungen für das Lernen und Lehren. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Implementierung von Rahmenplänen oder Entwicklungszielen. Dabei geht es nicht darum, völlig neue didaktische und methodische Wege zu entwickeln. Ziel ist es vielmehr, einen fortdauernden Veränderungsprozess in den Schulen zu initiieren, um den nachhaltigen Kompetenzzuwachs bei Schülern bestmöglich zu fördern. Diese Arbeit unterstützt die Ausarbeitung von Dekreten, wie zum Beispiel das am 16. Juni 2008 vom PDG verabschiedete Dekret zu den Kernkompetenzen und Rahmenplänen. Das oberste Ziel all dieser Bemühungen ist natürlich, die Abiturienten und Hochschulabsolventen so auszubilden, dass sie sich mit ihresgleichen aus der Wallonie oder Deutschland vergleichen können. 6 Medien und Kultur 6.1 Treffen der Staatsoberhäupter der Länder mit Amtssprache Deutsch Am 8. September 2016 hat König Philippe die Staatsoberhäupter der deutschsprachigen Länder - hierzu gehören neben Belgien auch Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Österreich und die Schweiz - zum 13. informellen Gipfeltreffen nach Eupen eingeladen. Seit 2004 gibt es diese Treffen der deutschsprachigen Länder. 2014 hat der König die Initiative ergriffen und dafür gesorgt, dass auch Belgien beitritt und kurz darauf direkt nach Belgien eingeladen (Neumann 2016). So wurde für die Öffentlichkeit ein Zeichen gesetzt, dass Belgien auch ein deutschsprachiges Land ist. 6.2 Rat für deutsche Rechtschreibung Die DG hat ihren Platz in den internationalen Gremien, wo Belgien regional vertreten ist. Es war deshalb überaus wichtig, dass die Deutschsprachige Gemeinschaft sich sprachlich anderen Ländern anschließt. Die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens hat seit 2006 einen festen Platz im Rat für deutsche Rechtschreibung (40 Mitglieder: der Vorsitzende, 18 Vertreter aus Deutschland, 9 aus Österreich, 9 aus der Schweiz, 1 aus Südtirol, 1 aus Liechtenstein, 1 aus der DG Belgiens; Luxemburg entsendet einen Beobachter). Der Rat für deutsche Rechtschreibung tagt normalerweise in Mannheim, doch in der ersten Amtszeit hat er mindestens ein Mal in allen deutschsprachigen Ländern getagt - so zweimal in Eupen (2008 und 2014), was für die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens einen überaus symbolischen Charakter hatte. Die Beschlüsse des Rates sind vom Parlament der DG übernommen und verabschiedet worden, sodass die einheitliche Rechtschreibung, wie sie vom Rat vorgelegt wurde, in Belgien in Schule und Verwaltung gesetzlich gültig ist (Bouillon 2011: 49). Im Bereich der deutschen Orthografie haben die Beschlüsse des Parlaments der DG einen verpflichtenden Charakter für das ganze Land. 58 Heinz Bouillon <?page no="59"?> 6.3 Die Medien Es gibt in der DG hauptsächlich eine Tageszeitung, das GrenzEcho , und einen Rundfunk- und Fernsehsender, den BRF . Beide werden intensiv von der Bevölkerung rezipiert. Doch die Reichweite, vor allem des BRF , geht weit über die Landesgrenzen hinaus. Das GrenzEcho Das GrenzEcho wurde am 4. Juni 1927 von Pierre Van Werveke und dem aus Eupen stammenden Henri Michel gegründet. Anfangs erschien es nur ein Mal pro Woche. 1920 gab es insgesamt fünf Zeitungen in Ostbelgien, die alle Belgien gegenüber eher feindlich gestimmt waren. 1929 wurde die Katholische Partei Eigentümer der Zeitung GrenzEcho . Von 1932 bis 1985 gehörte sie dem katholischen Verein „Action Catholique“ in Verviers. Das GrenzEcho war die erste Zeitung in deutscher Sprache, die sich zum noch weitgehend ungeliebten, weil aufgezwungenen Vaterland und zur belgischen Politik bekannte, sagt uns die Webseite des GrenzEcho. 8 Das GrenzEcho positionierte sich eindeutig gegen den Nationalsozialismus, wurde deshalb auf deutschem Boden ab April 1933 verboten, und Henri Michel wurde nach Kriegsausbruch ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Nach Kriegsende übernahm er als Chefredakteur wieder die Leitung der Zeitung. Die Weiterführung der Zeitung ging damals einher mit einer starken Distanzierung von der jüngsten Vergangenheit. Die heutigen Aktivitäten der GrenzEcho AG, die neben der Tageszeitung auch den Buchverlag GrenzEcho Verlag (GEV), die Druckerei und das Internet-Portal grenzecho . net besitzt, werden von den jeweiligen Besitzern geprägt - aktuell mehrheitlich von der Rossel-Gruppe. Dabei handelt es sich um eine Presse-Gruppe, der verschiedene Medien in Belgien und Nord-Frankreich angehören. Sie übernahm 1996 Kapitalanteile im GrenzEcho ; seit Oktober 2017 hält sie 75 Prozent der Anteile und wird in absehbarer Zeit die bestimmende Kraft sein. Journalistisch ist das GrenzEcho heute wie viele Medien in anderen Regionen oder Staaten eine vierte Macht geworden. Für jeden Politiker vor Ort ist es wichtig, darin präsent zu sein. Manch eine politische Diskussion wird öffentlich in den Medien geführt. Auch wenn die Zeitung bescheiden ausfällt, so ist sie dennoch mitentscheidend in der Meinungsbildung in Ostbelgien. Ferner berichtet die Tageszeitung intensiv über die örtlichen Sportereignisse und das kulturelle Geschehen. Aber auch über die innerbelgischen Geschehen wird ausführlich berichtet - das GrenzEcho hat einen erfahrenen Korrespondenten in Brüssel, Gerd Zeimers, was ja ein deutschsprachiger Leser kaum in einer deutschen Zeitung finden könnte. Es soll allerdings bemerkt werden, dass die geschriebene Presse eine finanzielle Unterstützung von der DG erhält, denn „Tageszeitungen mit einer Mindestauflage von 7500 Exemplaren kommen in den Genuss von Subventionen“. 9 Auch wenn der Zeitung kaum vorgeworfen werden kann, sie sei ein politisches Organ, soll doch festgestellt werden, dass das finanzielle Überleben durch das eventuelle Verschwinden der Dotation gefährdet wäre. Neben dem GrenzEcho hat sich seit fünf Jahren auch ein Internet-Medium durchgesetzt: Ostbelgien Direkt . 10 8 http: / / www.grenzecho.net/ (Letzter Zugriff 24.10.2018). 9 http: / / www.ostbelgienlive.be/ desktopdefault.aspx/ tabid-3918/ catid-100 (Letzter Zugriff 15.11.2018) 10 https: / / ostbelgiendirekt.be/ (Letzter Zugriff 24.10.2018). Deutsch in Ostbelgien 59 <?page no="60"?> Der BRF Kurz nach Ende des Krieges, am 1. Oktober 1945, wurde die erste Sendung in deutscher Sprache von Brüssel aus ausgestrahlt. Es ging darum, die ostbelgischen Bürger in ihrer Muttersprache über Rundfunk zu informieren. 1977 wurde das Belgische Rundfunk- und Fernsehzentrum der Deutschsprachigen Gemeinschaft (BRF) in Eupen gegründet. Anfangs wurde nur vier Stunden pro Tag gesendet, nämlich von 12 bis 14 Uhr und von 18 bis 20 Uhr. Die Sendungen wurden in der Maison de la Radio in Brüssel produziert. Später, in den 1990er Jahren, zog der Sender nach Eupen um, wo das Angebot ständig ausgebaut wurde. Seit Oktober 1999 sendet der BRF ein Fernsehmagazin über das Kabelnetz der Deutschsprachigen Gemeinschaft. Seit dem 25. November 2001 übernimmt der BRF auf der Brüsseler Frequenz 95,2 MHz Programme des Deutschlandfunk (DLF) . Heute bietet der BRF zwei Radioprogramme und ein Fernsehprogramm an. Über Kabelfernsehen können die deutschsprachigen Belgier heute eine ganze Menge Rundfunk- und Fernsehsendungen in deutscher Sprache empfangen. Die Resonanz der hiesigen Medien ist dennoch groß; auch grenzübergreifend werden die BRF -Programme gehört und angeschaut, sehr viel in Flandern, aber auch in Deutschland und in den Niederlanden, wie mir der frühere BRF -Direktor Hans Engel gesagt hat. Und über Internet bleiben die ausgewanderten Ostbelgier in Kontakt mit der Heimat. 6.4 Kultur in Ostbelgien In kulturellen Angelegenheiten drücken sich die verschiedensten Empfindungen von Künstlern und kulturfördernden Verbänden oder Gemeinschaften frei aus. Gibt es so etwas wie eine „ostbelgische Kultur“? Es ist schwierig, sich hier einen kohärenten Überblick zu verschaffen, denn in diesem Tätigkeitsfeld gibt es zwar eine Menge Beiträge in Belgien, wo es eine Reihe Künstler und kulturschaffende Persönlichkeiten gibt, doch bei einem derartigen Überblick könnten Beiträge vergessen oder schlecht eingeordnet werden. Deshalb können hier nur schemenhaft einige Ansätze aufgezeigt werden. Einer der ersten, der sich in den anfänglichen belgischen Jahren mit Geschichte, Sprachwissenschaft und Kultur befasst hat, war Bernard Willems. Dieser Doktor der Königsberger Universität, gebürtiger Elsenborner, hat zwischen 1948 und 1949 seine Ostbelgische Kronik veröffentlicht, in der er sich mit den verschiedensten Problemen befasste, die ihm als relevant für die ostbelgische Gemeinschaft erschienen. Zum Beispiel: „Die Reims-Kölner Heerstraße, besonders im Kanton St. Vith“ oder „Die Waldnamen ‚Wald‘ und ‚Busch‘ in den Orts- und in den Flurnamen der Nordardennen (Thommen bis Konzen)“. In den letzten Jahren haben sich mehrere Forscher den historischen Gegebenheiten der DG zugewandt, darunter Alfred Minke, Carlo Lejeune, Bruno Kartheuser und Christoph Brüll. Diese und noch etliche mehr (wie die Autoren der Zeitschrift Zwischen Venn und Schneifel ) haben das Schicksal der deutschsprachigen Minderheit so beschrieben, dass die Ostbelgier selber, aber auch die anderen Mitbewohner des Landes ihre besonderen Erlebnisse in korrekteren Zusammenhängen sehen konnten. Klaus Pabst hat diesem Zweck aus deutscher Perspektive ebenfalls sehr gedient. 60 Heinz Bouillon <?page no="61"?> Literarisch konnte sich eine Zeitschrift durchsetzen, die Künstlern zur Veröffentlichung ihrer Gedichte oder Beiträge verhilft: Der Krautgarten 11 wird von Bruno Kartheuser seit 1982 herausgegeben. Zu beachten ist auch eine bemerkenswerte Dissertation von Philippe Beck zu zwei bedeutenden Schriftstellern aus Ostbelgien: Peter Schmitz und Joseph Ponten. Ferner sollte auch erwähnt werden, dass das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft in diesen Bereichen jährlich einen Preis verleiht. 12 Der Preis des Parlaments wird zur Förderung der wissenschaftlichen Begleitung der Entwicklung der Deutschsprachigen Gemeinschaft jährlich für Werke im Bereich Staatswissenschaften, insbesondere Politik-, Rechts-, Finanz- und Verwaltungswissenschaften ausgelobt. Zusätzlich werden in zwei weiteren Fachbereichen Preise ausgelobt. Die Auslobung erfolgt [seit] dem Jahr 2016 in nachstehender Reihenfolge: 1. Jahr: Heimatgeschichte sowie Bibliotheks- und Archivwesen; 2. Jahr: Geschichte sowie Architektur, Raum- und Landschaftsplanung; 3. Jahr: Sprachwissenschaften sowie Humanwissenschaften; 4. Jahr: Literatur sowie Wirtschaft; 5. Jahr: Kunst und Kultur sowie Biografien. In allen Bereichen muss ein spezifisches Thema aus dem deutschen Sprachgebiet Belgiens behandelt werden, mit Ausnahme des Bereiches Literatur, für den lediglich die Bedingung gilt, dass der Autor Belgier ist oder seinen Wohnsitz in Belgien [hat]. Als Beispiel führen wir die 2016 preisgekrönten Werke an: - Johannes Weber: Scheunentore - Portes de granges - Fotografien von Johannes Weber - Textbeiträge von Klaus-Dieter Klauser und Albert Moxhet - Paul Schmitz: Kriegskind - Die Suche nach meinem amerikanischen Vater (GrenzEcho Verlag) Und schließlich sollte auch vermerkt werden, dass eine der großen belgischen Banken, die Belfius-Bank, jährlich zehn Preise an belgische Journalisten verleiht. Diese Preise gelten als die begehrtesten in der belgischen Medienlandschaft. Einer dieser Preise geht an die deutschsprachige Presse in Belgien, was natürlich eine außergewöhnliche Anerkennung des Minderheitenstatus der deutschsprachigen Medien darstellt. 7 Soziolinguistische Aspekte 7.1 Sprache und Dialekt Fast alle Ostbelgier können heute Hochdeutsch sprechen, zumal Deutsch seit jeher Unterrichtssprache in der Grundschule war und heute ausschließlich die Unterrichtssprache in der Sekundarschule sowie an der Autonomen Hochschule ist. Rosensträter (1985: 388) hatte schon, wie Ammon (1991: 70) zitiert, in schriftlichen Texten den gleichen Korrektheitsgrad im Standarddeutsch wie in der Bundesrepublik Deutschland festgestellt. Französisch wird als erste Fremdsprache unterrichtet, bildet allerdings eine Ausnahme in dem Pilotprojekt des Athénée 11 http: / / www.krautgarten.be/ (Letzter Zugriff 24.10.2018). 12 http: / / www.pdg.be/ desktopdefault.aspx/ tabid-4108/ 7288_read-41709/ (Letzter Zugriff 24.10.2018). Deutsch in Ostbelgien 61 <?page no="62"?> César Franck La Calamine/ César-Franck-Athenäum Kelmis, dem ein bilingualer Unterricht offiziell zugestanden wurde. In den Dörfern sind die Dialekte allerdings noch sehr lebendig, auch wenn sie zugunsten der Hochsprache zurückgehen. Auf diesem sehr engen Gebiet laufen eigentlich zwei germanische Sprachengrenzen aus, die drei ganz kleine Sprachgebiete aufzeigen: norddeutsche Mundarten im Norden und um Eupen, Ripuarisch in der Mitte um Bütgenbach und Büllingen, und Moselfränkisch im Süden (Ammon 1991: 70). Dialektal ist die Grenze mit Luxemburg und dem Luxemburgischen fließend. Es sind die Ausläufer der benachbarten Dialekte, die sich von Limburg aus im Norden, von Aachen aus im Westen und von Trier aus im Südwesten bis in die Deutschsprachige Gemeinschaft ausdehnen (Stedje 2007: 113). Was die Alltagssprache betrifft, so ähnelt die Aussprache im Hochdeutschen der der angrenzenden deutschen Gebiete. Zum Beispiel wird gekommen zu jekommen wie im ganzen Rheinland. Es ist erstaunlich, dass relativ wenig Studenten sich heute noch mit der Untersuchung derartiger Themen wissenschaftlich befassen wollen - generell gibt es in diesen Bereichen wenige Untersuchungen zur jetzigen Situation. Den Einfluss von Dialekten auf die Hochsprache zu untersuchen, scheint den Studierenden in der Germanistik aus Ostbelgien heute weniger attraktiv als synchronische Themen. Das Thema war allerdings schon gut von Nelde (1979) und Kern (1999) erforscht worden. Dialekte haben dennoch politisch einen wichtigen Stellenwert, wie Bourdieu (1982: 76) es festgestellt hatte. Politiker reden nämlich mit den Mitbewohnern ihres Dorfes im engeren Kreis so oft wie möglich „Platt“, um eine engere Verbundenheit aufzubauen und potenzielle Wähler besser zu erreichen. Auch gab es im BRF bis vor einigen Jahren eine Sendung auf Platt, deren zurückgehender Erfolg letztendlich die Tendenz zu einem immer größeren Einfluss des Hochdeutschen zeigt. Ob die Dialekte in Ostbelgien irgendwann verschwinden werden, kann heute nicht eindeutig beantwortet werden. Im Kontakt mit der französischen Sprache oder mit den Dialekten haben sich einige lexikalische Besonderheiten in der Umgangssprache herausgebildet, die Franz-Josef Heinen und Edie Kremer (2011) in ihrem Buch „Mostert, Bics und Beinchen stellen“ zusammengetragen haben. Hier einige Beispiele daraus: der Knupp (‚der Zuckerwürfel‘), die Möhn (‚ältere Frau‘), der Kuschelemusch (‚Wirrwarr‘), der Schöffe (‚Mitglied mit exekutiver Funktion im Gemeinderat‘), das i-grec (‚Ypsilon‘) usw. Dialekte werden in den Kneipen, auf dem Arbeitsplatz und in Situationen gesprochen, wo beide den gleichen Dialekt sprechen und es voneinander wissen. Die Varianten in den Dialekten haben dazu geführt, dass die Sprecher im Norden der DG die des ripuarischen Raumes als „Mottes“ bezeichnen. „Mottes“ kommt von der Aussprache „mot“ statt „mit“ in Küs’te mot? (‚Kommst du mit? ‘): wer so spricht, ist ein „Mottes“. So gibt es auch auf engstem Raum eine Differenzierungsmöglichkeit mit dem Hintergedanken: „Deine Sprache verrät dich ja! “. Hochdeutsch wird in allen offiziellen Situationen gesprochen, auch auf allen institutionellen Versammlungen (vom Gemeinderat bis zum Parlament, im Gerichtswesen, in allen Schulbereichen). König Philippe hat den Eid auf die Verfassung in den drei Landessprachen ausgesprochen, und er hält seine Weihnachtsrede ganz auch auf Deutsch, während sein Vater, Albert II., nur drei Sätze am Ende seiner französischen Amtssprache auf Deutsch sagte. 62 Heinz Bouillon <?page no="63"?> Am 23. Oktober 1991 erhielt der Verfassungstext in deutscher Sprache den offiziellen, rechtsverbindlichen Charakter wie im Französischen und Niederländischen. Es war ein symbolischer Tag, denn die deutsche Sprache steht in Sachen Verfassung jetzt nicht mehr in einer Übersetzung hinter einer französischen oder flämischen Fassung, die beide gleichrangig waren (Henkes 2012: 29). Verfassungsmäßig hat die hochdeutsche Sprache also eine vollendete Gültigkeit erreicht. 7.2 Qualität der Sprache und schulische Leistungen Was die Qualität der Sprache angeht, haben sich viele Ostbelgier die Frage gestellt, wie sie im Vergleich zu anderen Gruppen abschneiden. Es gibt wenig wissenschaftliche Untersuchungen in diesem Bereich. Im Folgenden kann uns dennoch eine Untersuchung über das Niveau der Schüler gewisse Hinweise geben. Bos/ Sereni/ Stubbe haben 2008 eine tiefgreifende Studie zu den Lese- und Orthografiekompetenzen von Grundschulkindern in der Deutschsprachigen Gemeinschaft veröffentlicht. IGLU Belgien (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung in der Deutschsprachigen Gemeinschaft) hatte Ergebnisse in der Lesekompetenz der Viertklässlerinnen und Viertklässler geliefert. Dabei schnitten die Kinder der Deutschsprachigen Gemeinschaft eher gut ab: Im Vergleich der drei belgischen Gemeinschaften liegt die Deutschsprachige Gemeinschaft auf der Gesamtskala Lesen zwischen den beiden anderen Gemeinschaften. Die Flämische Gemeinschaft schneidet bei einer Differenz von 16 Punkten Unterschied signifikant besser ab und die Französische Gemeinschaft liegt mit 32 Punkten Unterschied signifikant hinter der Deutschsprachigen Gemeinschaft. […] Sehr gering ist in der Deutschsprachigen Gemeinschaft die Streuung der Leistung. Nur wenigen Staaten gelingt es, die Differenz zwischen den leistungsschwachen und den leistungsstarken Schülerinnen und Schülern so gering zu halten. (Bos/ Stubbe 2008: 94) Wenn wir auf jüngere Erhebungen zurückgreifen, stellen wir fest, dass bei der PISA-Studie 2015 die Schüler aus der Deutschsprachigen Gemeinschaft in allen drei Bereichen Naturwissenschaften, Mathematik und Lesen überdurchschnittlich gut abgeschnitten haben. In der Deutschsprachigen Gemeinschaft nahmen alle Sekundarschulen mit insgesamt 382 von 779 Schülerinnen und Schülern aus dem Geburtenjahrgang 1999 an der PISA-Studie teil. Erstmals wurde die Studie am Computer durchgeführt; der Schwerpunkt lag auf dem Bereich Naturwissenschaften. Die Deutschsprachige Gemeinschaft ist hierbei signifikant besser als der Durchschnitt aller 72 teilnehmenden Länder und Regionen. Im Landesvergleich liegt die Deutschsprachige Gemeinschaft vor der Französischen Gemeinschaft, aber hinter der Flämischen Gemeinschaft. Im Vergleich zu den Vorjahren erzielte die Deutschsprachige Gemeinschaft jedoch ein schlechteres Resultat. Für das Lesen liegt die Deutschsprachige Gemeinschaft mit 501 Punkten über dem OECD-Durchschnitt (493 Punkte) und der Französischen Gemeinschaft (483), aber unter der Flämischen Gemeinschaft (511). Sollte man sich auf diese Zahlen verlassen, stünde fest, dass die Qualität der Muttersprache der deutschsprachigen Schülerinnen und Schüler in Ostbelgien, wie sich zumindest für das Lesen feststellen lässt, im europäischen Rahmen leicht über dem Durchschnitt liegt. Deutsch in Ostbelgien 63 <?page no="64"?> Abb. 3: Entwicklung der PISA-Ergebnisse im Bereich Lesen 13 7.3 Zweisprachigkeit Die Hauptkontaktsprache ist Französisch. Französisch wird übrigens laut Dekret als erste Fremdsprache unterrichtet. In diesem Bereich werden hohe Anforderungen sowohl an die Lehrer als auch an die Lernenden gestellt. Einerseits sollen Abiturienten in der Lage sein, an den französischsprachigen Hochschulen und Universitäten ein erfolgreiches Studium (selbstverständlich auf Französisch) abzuschließen. Andererseits weiß jeder in Ostbelgien, dass gute Französischkenntnisse für das Berufsleben unverzichtbar sind. Die allermeisten Studenten mit Hochschulabschluss sind fast gezwungen, Ostbelgien zu verlassen, zumal sie meistens mehrere Fremdsprachen neben ihrem Diplom nutzen können. Der Druck auf den Französischunterricht ist also entsprechend hoch. Der Fremdsprachenunterricht spielt in der Deutschsprachigen Gemeinschaft eine essentielle Rolle. Zur Verbesserung des Fremdsprachenunterrichtes hat die Regierung das Amt des Fachlehrers in der ersten Fremdsprache geschaffen. Auch die Klassenlehrkräfte dürfen weiterhin die erste Fremdsprache unterrichten unter der Bedingung, dass sie zwei wichtige Voraussetzungen erfüllen. Sie müssen zum einen die sprachlichen Kenntnisse vorweisen können und zum anderen nachweisen können, dass sie über fremdsprachliche Didaktikkenntnisse verfügen. Die Französischkenntnisse werden durch das international angewendete DELF-Programm nachgewiesen. (Sereni 2008: 54) Deshalb ist das frühe Erlernen der Fremdsprache von großer Bedeutung in der DG, und schon im Kindergarten werden Kontaktstunden dazu eingesetzt. Es gibt sogar ein Pilotprojekt im Athénée César Franck La Calamine/ César-Franck-Athenäum Kelmis, wo ein bilingualer Unterricht organisiert wird, der den dekretalen Forderungen entspricht. Dieses Projekt ist bisher das einzige dieser Art. Die Vorstellung im Portal der Schule lautet wie folgt: 13 Quelle: http: / / www.ostbelgienstatistik.be/ desktopdefault.aspx/ tabid-5365/ 9307_read-50556/ (Letzter Zugriff 24.10.2018). 64 Heinz Bouillon <?page no="65"?> Die Grundschule des César-Franck-Athenäums in Kelmis verfügt über zwei getrennte Sprachabteilungen. In beiden Abteilungen sind mehr und mehr Schüler eingeschrieben, die diese bewusst besuchen möchten, um die Unterrichtssprache gründlich zu erlernen, obwohl es nicht ihre Muttersprache ist. Ein Teil der Schüler ist von Haus aus zweisprachig. Diese Tatsache erfordert einen angepassten, differenzierten Unterricht. Die Erwartungen der Eltern und Schüler an diese Abteilungen unterscheiden sich wesentlich von den Erwartungen an einsprachige Abteilungen in den anderen Landesteilen. Die Sekundarschule des César-Franck-Athenäums verfügt seit dem Inkrafttreten des Dekretes über die Vermittlung und den Gebrauch der Sprachen im Unterrichtswesen vom 19. April 2004 über eine deutschsprachige und über eine bilinguale Abteilung. Im Laufe der Zeit stellte sich bei vielen Eltern und Schülern die Frage nach der Kohärenz zwischen der Grundschule und der Sekundarschule. Einerseits besteht die Befürchtung, dass Schüler nicht genügend Deutschkenntnisse haben, um eine bilinguale Sekundarschulabteilung zu absolvieren oder andererseits, dass Schüler, die gründliche Kenntnisse der französischen Sprache erwerben möchten, diese Sprache in der bilingualen Abteilung der Sekundarschule nicht ausreichend erwerben können. 14 In dem Pilotprojekt soll also gezeigt werden, dass ein bilingualer Unterricht durchaus zu einer relativ guten Zweisprachigkeit führen kann. Wie steht es nun mit dem Angebot je nach Sprache? Ab dem Schuljahr 2011-2012 bietet der gesamte Kindergarten der Grundschule folgenden Anteil an fremdsprachlichen Aktivitäten an: In der deutschsprachigen Abteilung erfolgen 60 % der Aktivitäten in deutscher Sprache, 40 % der Aktivitäten in französischer Sprache. In der französischsprachigen Abteilung sind 60 % der Aktivitäten in französischer Sprache, 40 % der Aktivitäten in deutscher Sprache. […] Damit werden die Vorgaben aus dem „Dekret über die Vermittlung und den Gebrauch der Sprachen im Unterrichtswesen“ erfüllt. Es gilt die Regel eine Person, eine Sprache. Dies bedeutet konkret, dass immer zwei Kindergärtnerinnen beziehungsweise zwei Primarschullehrer im Team zusammen arbeiten und die beiden Schülergruppen für bestimmte Aktivitäten beziehungsweise Unterrichtsstunden übernehmen. Die Lehrpersonen unterrichten dann in ihrer Muttersprache und gewährleisten somit ein korrektes sprachliches Vorbild. Die jeweiligen Teams planen und bereiten die Aktivitäten beziehungsweise die Unterrichte gemeinsam vor, treffen verbindliche Absprachen und betreuen die Schüler in gemeinsamer Verantwortung. 15 Das Projekt wird zurzeit evaluiert, doch erste Ergebnisse zeigen schon einen deutlichen Erfolg. Bleibt noch die (politische) Frage offen, ob dieses Modell in der ganzen Deutschsprachigen Gemeinschaft verallgemeinert werden könnte. 14 http: / / www.grundschule.cfa-kelmis.be/ de/ philosophie/ zweisprachigkeit.php (Letzter Zugriff 24.10.2018). 15 http: / / www.grundschule.cfa-kelmis.be/ de/ philosophie/ zweisprachigkeit.php (Letzter Zugriff 24.10.2018). Deutsch in Ostbelgien 65 <?page no="66"?> 8 Linguistic Landscape Die Analyse der Verteilung und Verwendung visuell realisierter Sprache im öffentlichen Raum ( linguistic landscape ) in Form von Straßen- und Verkehrsschildern, Plakaten, Ladenbeschriftungen usw. kann als Indikator dafür dienen, wie in einer Gesellschaft das Rederecht organisiert ist. 16 Dieser Aspekt ist besonders interessant in Mehrsprachigkeitskontexten, da hiermit sehr gut der Status der koexistierenden Sprachen und v. a. ein eventuelles Spannungsverhältnis zwischen Mehrheit- und Minderheitensprache erfasst werden kann (Androutsopoulos 2008, Gorter et al. 2012). Ein solches Spannungsverhältnis ist gerade für die Deutschprachige Gemeinschaft angesichts ihrer Autonomie bei gleichzeitiger Situierung im Territorium der Wallonie anzunehmen. In einer Untersuchung der visuellen Sprachlandschaft der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens (Verhiest 2015) wurden die Verhältnisse in Eupen und Sankt Vith vergleichend gegenübergestellt. In der Auswertung von jeweils „etwa 600 Metern im kommerziellen Herzen der betreffenden Stadt“ (Verhiest 2015: 58) zeigte sich, „dass Französisch in Eupen quantitativ-statistisch stärker präsent ist als in St. Vith“ (Verhiest 2015: 67). Die konkreten Zahlen sind in Tabelle 1 zusammengefasst: Sprachenkombination Vorkommen Eupen (n=123) % Vorkommen Sankt Vith (n=118) % Deutsch 63 51,22 72 61,02 Französisch 4 3,25 4 3,39 Deutsch - Französisch 36 29,27 19 16,10 Deutsch - Englisch 5 4,06 12 10,17 Deutsch - Französisch - Englisch 6 4,88 2 1,64 Deutsch - Französisch - Niederländisch 4 3,25 4 3,39 Deutsch - Italienisch 2 1,63 2 1,64 Deutsch - Französisch - Italienisch 2 1,63 1 0,85 Deutsch - Französisch - Chinesisch 0 0 1 0,85 Deutsch - Französisch - Spanisch 0 0 1 0,85 Französisch - Englisch 1 0,81 0 0 Tab. 1: Ergebnisse Sprachenkombinationen gesamt (Verhiest 2015: 59) Zwar entfällt in beiden Städten die absolute Mehrheit auf die einsprachig deutschen Einheiten, in Eupen kommt jedoch in 43 Prozent der Einheiten Französisch vor (St. Vith 27 Prozent). Ver- 16 Dieser Absatz wurde mit Unterstützung von Rahel Beyer verfasst. 66 Heinz Bouillon <?page no="67"?> hiest führt dies auf die unterschiedlichen Kontexte zurück, in denen die beiden Städte stehen. Dabei kann die Gegend um Eupen als eher städtisch, stärker französisch orientiert und die um Sankt Vith als ländlich, stärker deutsch geprägt charakterisiert werden (Verhiest 2015: 67). In einem weiteren Analyseschritt wurden die Sprachenkombinationen auf Schildern und Beschriftungen nach Diskurstypen getrennt ausgewertet. Für den regulatorischen sowie den infrastrukturellen Diskursbereich ergeben sich sehr niedrige Fallzahlen (sodass nur schwerlich verallgemeinernde Aussage darüber getroffen werden können); die weitaus meisten Einheiten stammen aus dem kommerziellen Diskursbereich. Dort finden sich ähnliche Verhältnisse wie im Gesamtergebnis wieder (Tab. 2): Sprachenkombination Vorkommen Eupen (n=98) % Vorkommen Sankt Vith (n=101) % Deutsch 51 52,04 62 61,38 Französisch 3 3,06 2 1,98 Deutsch - Französisch 28 28,57 17 16,83 Deutsch - Englisch 5 5,10 12 11,88 Deutsch - Französisch - Englisch 6 6,12 2 1,98 Deutsch - Französisch - Niederländisch 0 0 1 0,99 Deutsch - Italienisch 2 2,04 2 1,98 Deutsch - Französisch - Italienisch 2 2,04 1 0,99 Deutsch - Französisch - Chinesisch 0 0 1 0,99 Deutsch - Französisch - Spanisch 0 0 1 0,99 Französisch - Englisch 1 1,02 0 0 Tab. 2: Ergebnisse Sprachenkombinationen im kommerziellen Diskursbereich (Verhiest 2015: 59) Verhiest (2015) ergänzt: Hinzu kommt ein qualitativer Unterschied: Während die Informationen in Eupen in den meisten Fällen vollständig zweisprachig vorliegen […], werden in Sankt Vith nur die Kerninformationen zweisprachig präsentiert und sind die deutschsprachigen Informationen insgesamt vollständiger. (Verhiest 2015: 64) Sein abschließendes Fazit lautet: Es entsteht der Eindruck, dass es vor allem darum geht, die französischsprachige Minderheit öffentlich überhaupt in Erscheinung treten zu lassen, dass hier also jenseits funktionaler Erwägungen vor allem der ‚rechtlichen‘ Funktion öffentlicher Schriftlichkeit […] genüge getan werden soll. (Verhiest 2015: 67 f.) Deutsch in Ostbelgien 67 <?page no="68"?> 9 Schlussfolgerung Es wird oft behauptet, die Deutschsprachige Gemeinschaft Ostbelgiens sei eine der bestgeschützten Minderheiten der Welt. Da mag etwas Wahres dran sein. Als deutschsprachige Minderheit haben die Ostbelgier eine tragisch beladene Geschichte: Sie wurden zwischen den Mächten hin und her geschoben, ein Spielzeug der großen Politik. Einige dieser Menschen haben ihre Staatsangehörigkeit mehrmals gewechselt. Das hat den Ostbelgier vorsichtig gemacht. Man konnte ja nie wissen, ob sich das Blatt nicht wieder einmal wenden würde. So hat die deutschsprachige Minderheit sich erst langsam zu einer - wenn auch kleinen - Einheit herangetastet. Als der belgische Staat mehrmals reformiert wurde, hat die Deutschsprachige Gemeinschaft von den großen Prinzipien der Umverteilung profitiert. Es war schwer zu übersehen, dass sie nicht mehr assimiliert werden konnte und dass ihr die gleichen Personenrechte zukommen sollten wie den beiden größeren Gemeinschaften. Dies war alles optimal, solange der Staat ihr die sogenannte Dotation zukommen ließ. Doch wie sähe die Lage aus, wenn diese Autonomie auch „von unten“ finanziert werden müsste? Könnte die DG diesen Schritt finanziell überleben? Die Schaffung einer vierten Region „Ostbelgien“ wäre logisch, doch wären die Ostbelgier strukturell damit nicht überfordert? Die Entwicklung der belgischen Staatsstruktur sowie die politischen Vorstellungen der ostbelgischen Politiker werden darüber entscheiden. Wenn es um die Identitätsbildung des Ostbelgiers geht, spricht Christoph Brüll (2009) von einer Nicht-Identität. Was macht einen „Ostbelgier“ aus? Die meisten Einwohner der DG haben sich heutzutage auf diese beiden Bezugspunkte eingestellt: politisch mit Blick auf das belgische System, kulturell und sprachlich mit Blick auf die deutsche Kultur und Sprachgemeinschaft. Viele haben eine Art Janus-Identität aufgebaut, wo beide Aspekte, der romanische und der deutsche, eher harmonisch in der gleichen Person zusammenleben. Der römische Gott Janus mit den zwei Gesichtern könnte symbolisch sein für die Identität der deutschsprachigen Belgier. Eben diesen Identitätsfragen sind die Ostbelgier in ihren politischen Aktivitäten, wissenschaftlichen Untersuchungen und vielfältigen kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten bewusst oder unbewusst nachgegangen. Was die Eigenart der meisten Einwohner der Deutschsprachigen Gemeinschaft ausmacht, ist schließlich diese Vereinigung in einer Person des deutschen Kulturerbes und einer gewissen Integration in belgische Begebenheiten mit regionaler französischsprachiger Dominanz. Durch die Janus-Identität werden beide Aspekte ständig verschmolzen, funktionieren nur in Bezug auf ihren Gegenpart und dies mit individueller Anpassung. Das Minderheitenbewusstsein hält klein, erlaubt allerdings meistens doppelte Ausblicke, was persönlich für die Ostbelgierinnen und Ostbelgier eine ständige Bereicherung darstellt. Auch in der Diaspora bleibt dies erhalten. Literatur Ammon, Ulrich (1991): Die internationale Stellung der deutschen Sprache. Berlin/ New York: Walter de Gruyter. Androutsopoulos, Jannis (2008): Linguistic Landscapes: Visuelle Mehrsprachigkeitsforschung als Impuls an die Sprachpolitik. Beitrag zum Internationalen Symposium Städte - Sprachen - Kulturen, Mannheim, 17.-19. September. Abrufbar unter: https: / / jannisandroutsopoulos.net/ writing/ smallstuff/ . (Letzter Zugriff 29.11.2018). 68 Heinz Bouillon <?page no="69"?> Beck, Philippe (2010): Peter Schmitz und Josef Ponten: zwei Schriftsteller aus dem deutsch-belgischen Grenzland, 1918-1940: Eine kulturhistorische Studie unter besonderer Berücksichtigung der komparatistischen Imagologie. Dissertation unter Leitung von Hubert Roland und Michel Dumoulin. Faculté de philosophie, arts et lettres, Université catholique de Louvain. Bitsch, Marie-Thérèse (2004): Histoire de la Belgique. De l’Antiquité à nos jours. Bruxelles: Éditions Complexe. Bergmanns, Bernhard (1986): Die rechtliche Stellung der deutschen Sprache in Belgien. Louvain-la-Neuve: Cabay. Bos, Wilfried/ Sereni, Sabrina/ Stubbe, Tobias (Hrg.) (2008): IGLU Belgien. Lese- und Ortografiekompetenzen von Grundschulkindern in der Deutschsprachigen Gemeinschaft. Münster: Waxmann. Bos, Wilfried/ Stubbe, Tobias (2008): Lesekompetenzen von Viertklässlerinnen und Viertklässlern in der deutschsprachigen Gemeinschaft im internationalen Vergleich. In: Bos, Wilfried/ Sereni, Sabrina/ Stubbe, Tobias (Hrg.): S. 51-109. Bouillon, Heinz (2008): Belgien: offizielle Einsprachigkeit, individuelle Mehrsprachigkeit. In: Eichinger, Ludwig/ Plewnia, Albrecht (Hrg.): Das Deutsche und seine Nachbarn. Über Identitäten und Mehrsprachigkeit. Tübingen: Narr (= Studien zur deutschen Sprache; 46), S. 135-155. Bouillon, Heinz (2011): Les turbulences apaisées de l’orthographe allemande. In: Revue Générale, 3, S. 47-51. Bouillon, Heinz (2015): La réforme de l’écriture en allemand: des enseignements pour la politique linguistique francophone. In: Service de la langue française et Conseil de la langue française et de la politique linguistique (Hrg.): S’approprier le français. Pour une langue conviviale. Bruxelles: De Boeck supérieur, S. 25-32. Bouillon, Heinz (2016/ 17): Deutsch als Minderheitensprache in Belgien. In: Neue Fruchtbringende Gesellschaft (Hrg.): Unsere Sprache. Bd. 7/ 8, S. 96-113. Bourdieu, Pierre (1982): Ce que parler veut dire. L’économie des échanges linguistiques. Paris: Fayard. Brüll, Christoph (2009): L’identité des Belges germanophones est une non-identité. Quelques réflexions à propos de publications récentes sur l’histoire de la Communauté germanophone de Belgique. In: Cahiers d’Histoire du Temps Présent, 21, S. 211-226. Geschichtsverein „Zwischen Venn und Schneifel“ (Hrg.) (1969): Kriegsschicksale 1944-45. Beiträge zur Chronik der Ardennenoffensive zwischen Venn und Schneifel. St. Vith: Geschichtsverein „Zwischen Venn und Schneifel“. Gorter, Durk et al. (Hrg.) (2012): Minority Languages in the Linguistic Landscape. New York u.a.: Palgrave Macmillan. GrenzEcho-Redaktion (2006): Belgien 1830-2005. Deutschsprachige Gemeinschaft 1980-2005. Eupen: Grenz-Echo. Greten, Verena (2008): Unterricht und Ausbildung in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Eupen (= Schriftenreihe des Ministeriums der DG; 3). Abrufbar unter: http: / / www.ostbelgienbildung.be/ PortalData/ 21/ Resources/ downloads/ home/ publikationen/ WEB_Band3-2Auflage.pdf. (Letzter Zugriff 29.11.2018). Hecking, Anton (1875/ 2 1977): Geschichte der Stadt und ehemaligen Herrschaft St. Vith. Brüssel: Éditions Culture et Civilisation. Heinen, Franz-Josef/ Kremer, Edie (2011): Mostert, Bics und Beinchen stellen. Alltagssprache in Ostbelgien. Eupen: Grenz-Echo. Henkes, André (2012): Die (Weiter)Entwicklung der deutschen Rechtssprache in Belgien. Online-Dokument. Abrufbar unter: http: / / www.ostbelgienrecht.be/ Portal-Data/ 30/ Resources/ dokumente/ Henkes_-_Die_Entwicklung_einer_deut-schen_Rechtssprache_in_Belgien.pdf. (Letzter Zugriff 29.11.2018). Deutsch in Ostbelgien 69 <?page no="70"?> Jenniges, Hubert (2001): Hinter ostbelgischen Kulissen. Stationen auf dem Weg zur Autonomie des deutschen Sprachgebiets in Belgien (1968-1972). Eupen: Grenz-Echo. Kartheuser, Bruno (2001): Die 30er Jahre in Eupen-Malmedy. Einblick in das Netzwerk der reichsdeutschen Subversion. Neundorf: Krautgarten Orte. Kern, Rudolf (1999): Beiträge zur Stellung der deutschen Sprache in Belgien. Louvain-la-Neuve: Collège Érasme/ Bureau du Recueil u. a. (= Recueil de Travaux d’Histoire et de Philologie; Sér. 7, 9). Lejeune, Carlo (2005): Die Säuberung. Bd. 1: Ernüchterung, Befreiung, Ungewissheit (1920-1944). Büllingen: Lexis-Verlag (= ZVS-Reihe: Auf dem Weg zur Deutschsprachigen Gemeinschaft). Maxence, Pierre (1951): Les Atouts gaspillés ou le drame des Cantons de l’Est. St. Niklaas: Jos. D’Hondt. Minke, Alfred (1995): Entre deux mondes: les „Cantons de l’Est“. In: La Revue Générale, 10, S. 17-24. Michel, Henri (1985): Oranienburg-Sachsenhausen. KZ-Erinnerungen und Hungermarsch in die Freiheit eines politischen Gefangenen. Eupen: Grenz-Echo. Nelde, Peter (1979): Volkssprache und Kultursprache. Die gegenwärtige Lage des sprachlichen Übergangsgebietes im deutsch-belgisch-luxemburgischen Grenzraum. Wiesbaden: Steiner (= Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik: Beihefte; 31). Neumann, Uta (2016): König Philippe hat nach Ostbelgien eingeladen. Abrufbar unter: http: / / deredactie.be/ cm/ vrtnieuws.deutsch/ nachrichten/ 1.2761726#. (Letzter Zugriff 6.11.2018). Pabst, Klaus (1964): Eupen-Malmedy in der belgischen Regierungs- und Parteienpolitik 1914-1940. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins, Bd. 76, S. 206-514. Rosensträter, Heinrich (1985): Deutschsprachige Belgier. Geschichte und Gegenwart der deutsche Sprachgruppe in Belgien. 3 Bde. Aachen: Selbstverlag. Schmitz-Reiners, Marion (2006): Belgien für Deutsche. Einblicke in ein unauffälliges Land. Berlin: Links Christoph Verlag. Senster, Corina (2010): Das Bildungswesen in der Deutschsprachigen Gemeinschaft und ein Konzept der Mehrsprachigkeit. Powerpoint. Eupen. Abrufbar unter: http: / / www.rml2future.eu/ NR/ rdonlyres/ 7D142316-BC21-4DBA-84F7-6A01D76EAA6F/ 0/ BildungswesenDGBelgienSenster.pdf. (Letzter Zugriff 24.10.2018). Sereni, Sabrina (2008): Lehr- und Lernbedingungen in der Primarschule in der Deutschsprachigen Gemeinschaft. In: Bos Wilfried/ Sereni, Sabrina/ Stubbe, Tobias (Hrg.): S. 41-51. Stangherlin, Katrin (Hrg.) (2005): La Communauté germanophone de Belgique - Die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens. Coll. Projucit. Bruges: La Charte. Stedje, Astrid (2007): Deutsche Sprache gestern und heute. 6.Aufl. Paderborn: Wilhelm Fink. Verhiest, Glenn (2015): Die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens als visuelle Sprachlandschaft. In: Germanistische Mitteilungen. Zeitschrift für Deutsche Sprache, Literatur und Kultur, 41.2, S. 51-72. Willems, Bernhard (Hrg.) (1948-1949): Ostbelgische Chronik. Bd. I 1948, Bd. II 1949. Selbstverlag. Witte, Els (2005): De constructie van België. In: Witte, Els/ Gubin, Eliane/ Nandrin, Pierre/ Deneckere, Gita (Hrg.): Nieuwe geschiedenis van België. Tielt: Lannoo, S. 29-230. 70 Heinz Bouillon <?page no="71"?> Luxemburg Mélanie Wagner 1 Geographische Lage 2 Demographie und Statistik 3 Geschichte 4 Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung 4.1 Wirtschaftliche Situation 4.2 Politische Situation 4.3 Offizielle Sprachregelungen 4.4 Schulsystem 4.5 Medien, Literatur, Werbung 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Kontaktsprachen 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten 6.2 Kommunikationssituationen des Deutschen 7 Spracheinstellungen 8 Linguistic Landscape 9 Faktorenspezifik Literatur 1 Geographische Lage Mit einer Einwohnerzahl von 590.700 (Statec 2017: 12) und einer geographischen Fläche von 2.586 km ² liegt Luxemburg zwischen den Nachbarländern Deutschland, Frankreich und Belgien. Das Großherzogtum Luxemburg ist ein Staat und eine Demokratie in Form einer konstitutionellen Monarchie (Thewes 2018) im Westen Mitteleuropas. Luxemburg ist das letzte Großherzogtum in Europa: Seit dem 7. Oktober 2000 ist Henri von Nassau Großherzog des Landes. Nationalsprache ist Luxemburgisch, Verwaltungs- und Amtssprachen sind Luxemburgisch, Französisch und Deutsch. Gemeinsam mit Belgien und den Niederlanden bildet Luxemburg die Beneluxstaaten; es ist außerdem eines der sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Union. Luxemburg grenzt im Süden über 73 km an Frankreich, im Westen über 148 km an Belgien und im Osten über 135 km an Deutschland. Der Norden des Landes ist ein Teil der Ardennen und wird (das) Ösling genannt. Dieser Teil liegt auf durchschnittlich 400 bis 500 m über dem Meeresspiegel. Die Landschaft im Ösling ist geprägt von bewaldeten Bergen, Hügeln und tiefen Flusstälern, zum Beispiel dem Sauertal. Im Süden liegt das fruchtbare Gutland, das zum Lothringer Stufenland gehört. Dieses Gebiet weist eine höhere Bevölkerungs- und Industriedichte <?page no="72"?> als das Ösling auf. Entwässert wird das Land durch die west-östlich verlaufende Sauer, die Klerf und die Our im Norden und die Alzette im Süden. Der niedrigste Punkt des Landes, Spatz genannt (129 m), befindet sich am Zusammenfluss von Sauer und Mosel in Wasserbillig. Wichtige Flüsse Luxemburgs sind die Mosel, die im Südosten den Grenzfluss zu Deutschland bildet, die Sauer, die Our und die Alzette. 2 Demographie und Statistik In Luxemburg leben laut den letzten Zählungen aus dem Nationalregister am 1. Januar 2017 590.700 Personen (Statec 2017: 12). Ihre Nationalitäten setzen sich folgendermaßen zusammen: Luxemburger 309.200 Ausländer 281.500 Davon: Portugiesen 96.800 Franzosen 44.300 Italiener 21.300 Belgier 20.000 Deutsche 13.100 Briten 6.100 Niederländer 4.300 Sonstige EU-Länder 34.400 Sonstige 41.200 Ausländer in % 47,7 % Tab. 1: Bevölkerungsstruktur (Statec 2017: 12) Wie anhand von Tabelle 1 ersichtlich wird, leben in Luxemburg fast genauso viele Luxemburger (52,3 %) wie Nicht-Luxemburger. Der Großteil der Nicht-Luxemburger stammt aus der EU, darunter stellen die Portugiesen mit 96.800 die größte Minderheit, gefolgt von den Franzosen, Italienern und Belgiern. An fünfter Stelle stehen dann die Einwohner aus Deutschland mit 13.100 Personen - sie stellen die größte Bevölkerungsgruppe ohne romanischsprachigen Hintergrund dar. Die bevölkerungsreichste Gemeinde ist die Hauptstadt Luxemburg-Stadt mit 114.300 Einwohnern, gefolgt von Esch/ Alzette mit 34.400 Einwohnern (Statec 2017: 12). Laut Statec (2017: 13) sind 69,5 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (d. h. zwischen 15 und 64 Jahren); rund 49 Prozent der Bevölkerung sind Frauen. Zu den 281.500 ansässigen Ausländern in Luxemburg kommen noch die Grenzgänger, die täglich nach Luxemburg zum Arbeiten pendeln. 72 Mélanie Wagner <?page no="73"?> Grenzgänger insgesamt 180.900 Aus Frankreich 88.600 Deutschland 44.200 Belgien 43.800 Tab. 2: Grenzgänger in Luxemburg (Statec 2017: 16) Anhand von Tabelle 2 wird deutlich, dass rund 75 Prozent der Pendler aus dem französischsprachigen Grenzgebiet und nur 25 Prozent aus dem deutschsprachigen Gebiet kommen. Dies führt in verschiedenen Arbeitsfeldern, wie zum Beispiel dem Dienstleistungssektor, zu einem vermehrten Gebrauch der französischen Sprache. Wenn man sich die Zahlen für die Deutschen in Luxemburg etwas genauer ansieht, bemerkt man, dass bei der letzten Volkszählung im Jahr 2011 12.049 Deutsche in Luxemburg leben - dies macht 2,4 Prozent der Gesamtbevölkerung aus (Statec 2013), im Jahr 2017 sind es 13.100 (Statec 2017: 12). Heinz et al. (2013) zeigen in ihrer Studie über die Deutschen in Luxemburg, dass seit der Volkszählung 1970 die Zahl der Deutschen schwach, aber stetig gestiegen sei, so dass der Prozentsatz von 2,4 Prozent hingegen fast konstant geblieben sei. Der Großteil (78,2 %) der in Luxemburg lebenden Deutschen wurde in Deutschland geboren und ist erst später nach Luxemburg gezogen - 12,4 Prozent wurde in Luxemburg geboren. Der Großteil der Deutschen lebt nah der deutschen Grenze, nämlich im Dreieck Niederanven-Echternach- Schengen. Gegenüber anderen Ausländern und Luxemburgern zeigt sich, dass die in Luxemburg lebenden Deutschen überproportional häufig hohe formale Bildungsabschlüsse haben. 1 3 Geschichte Das im Jahr 963 gegründete Luxemburg war aufgrund der geographischen Randlage bereits früh durch anhaltenden kulturellen und politischen Einfluss aus dem germanischen und romanischen Sprachraum geprägt. So entstand schon bald eine multilinguale Situation (Gilles/ Moulin 2003), die bis heute anhält. Offiziell betrachtete man die Sprachensituation in der Mitte des 19. Jahrhunderts als bilingual mit den Amtssprachen Deutsch und Französisch. Die Verfassung von 1848 schrieb die fakultative Verwendung des Französischen und des Deutschen in diesem Sinne fest (Kramer 1996: 130). Da die lokale Sprachvarietät als eine Variante des Deutschen angesehen wurde, vertrat man allgemein noch die Auffassung, sie könne nicht den Status einer eigenen (Schrift-)Sprache für sich beanspruchen (Gilles/ Moulin 2003: 4). Die Ereignisse im 19. und 20. Jahrhundert, besonders der Erste und Zweite Weltkrieg, die demographischen Veränderungen der 1970er Jahre und die wachsende Anzahl der Grenzgänger hatte eine Aufwertung der lokalen Sprachvarietät Luxemburgisch zur Folge (Horner/ Weber 2008). Die Anerkennung der multilingualen Situation Luxemburgs führte 1984 zur Verabschiedung des Gesetzes Loi sur le régime des langues und zur offiziellen Festsetzung des Luxemburgischen als Nationalsprache. In dem genannten Gesetz wurden zunächst alle drei gebräuchlichen Idiome Luxemburgs als Sprachen der Verwaltung anerkannt, wobei dem Französischen der 1 Vgl. Heinz et al. (2013) für Details. Luxemburg 73 <?page no="74"?> zentrale Status als Sprache der Gesetzgebung zukam. Luxemburgisch wurde gleichzeitig in Artikel 1 als alleinige Nationalsprache der Luxemburger festgelegt und sein besonderer Status somit hervorgehoben: „La langue nationale des Luxembourgeois est le luxembourgeois” 2 (‚Die Nationalsprache der Luxemburger ist das Luxemburgische‘) (Gilles/ Moulin 2003: 6). Grundsätzlich fällt die französische Form des Gesetzes im Rahmen einer juristischen Aufwertung des Luxemburgischen als Paradoxon auf. Zwar legt das Gesetz das Luxemburgische als Nationalsprache fest, belässt es allerdings, den öffentlichen Status betreffend, in der Rangfolge hinter dem Französischen und dem Deutschen an letzter Stelle. Ein zentrales Ziel dieser vornehmlich politischen Aufwertung war die Steigerung des soziolinguistischen Status des Luxemburgischen gegenüber dem Französischen und dem Deutschen (Naglo 2007). Jedoch hatte diese Erhebung zur Nationalsprache bislang kaum praktische Konsequenzen auf offizieller Ebene - weder hinsichtlich einer (weiteren) Standardisierung 3 noch bezüglich eines vermehrten Gebrauchs im Schulsystem, in dem es lediglich als Hilfssprache im Unterricht dient (Gilles 1999: 9, Kraemer 1993). Vielmehr wurde die Sprache politisch und juristisch als Symbol und Ausdruck einer nationalen luxemburgischen Identität festgelegt. Hoffmann weist schon 1988 darauf hin, dass die Erhebung des Luxemburgischen zur Nationalsprache sowie die auch immer weiter fortschreitende Kodifizierung des Luxemburgischen den Status des Deutschen in Luxemburg geschwächt haben. Das deutschländische Standarddeutsch ist und war in Luxemburg nie gesprochene Sprache (Clyne 1992: 122); und auch wenn es als Norm in der Schule angesehen wird, wird es in keinen Bereichen genutzt, die mit der nationalen oder persönlichen Identität in Verbindung gebracht werden. In verschiedenen Bereichen, in denen man vor nicht weniger als zwanzig Jahren noch Deutsch benutzte, verdrängt das Luxemburgische die deutsche Sprache (z. B. persönlicher Schriftverkehr, neue Medien, E-Mail-Verkehr in Administrationen). 4 Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung Im Gegensatz zu der Situation des Deutschen in anderen Ländern, wie zum Beispiel Dänemark, ist Deutsch in Luxemburg keine Minderheitensprache, sondern auf Grund der geschichtlichen und politischen Situation Luxemburgs (siehe Punkte 1 bis 3) eine der drei durch das Sprachengesetz von 1984 anerkannten administrativen Sprachen. Deutsch stellt eine plurizentrische Sprache mit mehr als einer nationalen Norm dar (Ammon et al. 2016); Luxemburg wird im plurizentrischen Modell nicht als Vollzentrum (Ammon et al. 2016: XXXIV), sondern als Halbzentrum ohne anerkannte nationale Varietät angesehen (Ammon et al. 2016: XLVIII). Im Folgenden soll nun die Rolle der deutschen Sprache in den Bereichen Wirtschaft, Politik, Schule und Kultur beleuchtet werden. 4.1 Wirtschaftliche Situation Mit dem Ausbau als Finanzplatz und der Ansiedlung der europäischen Institutionen in Luxemburg hat Luxemburg seit den 1980er Jahren eine starke wirtschaftliche Entwicklung sowie ein großes Wachsen der Bevölkerung, bedingt durch starke Einwanderung, erlebt. Die Wohnbe- 2 Die Nationalsprache der Luxemburger ist das Luxemburgische. (Übersetzung MW) 3 Vgl. Gilles & Moulin 2003 zur Standardisierung des Luxemburgischen. 74 Mélanie Wagner <?page no="75"?> völkerung besteht zu 47,7 Prozent aus Ausländern. Die große Anzahl derer, die Französisch als Erstsprache beherrschen oder aus anderen romanischsprachigen Ländern wie Portugal oder Italien stammen, sowie die implizite Sprachpolitik, dass Französisch als Integrationssprache für neue Einwanderer gesehen wird, haben dazu geführt, dass Französisch zur Verkehrssprache im öffentlichen Raum und der Wirtschaft geworden ist (Pigeron-Piroth/ Fehlen 2015: 5). Dies stand der Stärkung des Status der luxemburgischen Sprache keinesfalls im Weg - auch diese wird als Integrationssprache gewertet, und die Sprecherzahlen steigen ständig. Soziolinguistische Studien aus den Jahren 2008 (Fehlen 2009) und 2009 (IDENT 2010) haben bestätigt, dass Luxemburg ein mehrsprachiges Land ist: 98 Prozent der Luxemburger gaben an, Luxemburgisch, 96 Prozent Französisch und 92 Prozent Deutsch zu sprechen. Eine Umfrage vom Mai 2011 (Etude Berlitz-Quest) bei 256 Führungskräften aus der Wirtschaftsbranche ergab, dass für 55,8 Prozent der befragen Unternehmen Französisch die meist benutzte Sprache war, gefolgt von Luxemburgisch an zweiter Stelle mit 20 Prozent und Deutsch an dritter Stelle mit 4,9 Prozent. Die meisten Firmen nutzen neben der meist benutzten Sprache allerdings noch eine oder mehrere andere Sprachen, und hier liegt Deutsch mit 77,7 Prozent an der Spitze. Als Grund für die Sprachwahl wurde meist angegeben, dass die Sprache benutzt wird, die von den meisten beherrscht würde. 4.2 Politische Situation Unter den Punkten 1 und 3 wurde bereits erläutert, dass es sich beim luxemburgischen Staat um eine Demokratie in Form einer konstitutionellen Monarchie handelt und dass seit dem Sprachengesetz von 1984 Luxemburgisch Nationalsprache, Französisch gesetzgebende Sprache und Luxemburgisch, Französisch und Deutsch administrative Sprachen des Landes sind. Der Großherzog hat hauptsächlich eine repräsentative und beratende Funktion, und das Land wird von einer Regierung geführt, die alle fünf Jahre von der Bevölkerung gewählt wird. 4 Bei den Wahlen zur Abgeordnetenkammer gilt das allgemeine Wahlrecht, um die 60 Abgeordneten zu bestimmen (23 für den Wahlbezirk Süden, 7 für den Wahlbezirk Osten, 21 für den Wahlbezirk Zentrum und 9 für den Wahlbezirk Norden), die im luxemburgischen Einkammersystem das nationale Parlament bilden. Die Abgeordneten werden per Listenwahl nach dem Verhältniswahlsystem gewählt. Die politischen Gruppierungen müssen für jeden der vier Wahlbezirke eine Liste von Kandidaten aufstellen, deren Anzahl nicht größer sein darf als die zu wählende Anzahl von Abgeordneten im Wahlbezirk. Die Sitzverteilung erfolgt nach den Regeln der Verhältniswahl und in Übereinstimmung mit dem Prinzip des kleinsten Wahlquotienten. 4.3 Offizielle Sprachregelungen In den letzten Jahren hat sich die Sprachensituation in Luxemburg weiter verändert: Das Deutsche ist immer noch Alphabetisierungs- und Unterrichtssprache in der Grundschule und neben Französisch auch Unterrichtssprache im Gymnasium, Französisch ist einerseits gesetzgebende Sprache und andererseits die Sprache vieler Grenzgänger 5 und Migranten. Das 4 http: / / www.luxembourg.public.lu/ de/ le-grand-duche-se-presente/ systeme-politique/ systeme-electoral/ index.html (Letzter Zugriff 29.1.2018). 5 Mehr zu dem Thema Grenzgänger in Abschnitt 2. Luxemburg 75 <?page no="76"?> Luxemburgische wird von vielen politischen und gesellschaftlichen Akteuren neben Französisch als Integrationssprache 6 angesehen, und in den letzten Jahren wurde der Druck auf die Regierung vonseiten der luxemburgisch-stämmigen Bevölkerung immer größer, den Status der Nationalsprache weiter zu festigen und die Bereiche, in denen Luxemburgisch benutzt werden soll und kann, auszubauen. Dieser Nachfrage kam die Regierung im Jahr 2017 nach: Im März 2017 stellten Vertreter der Bildungs- und Kulturministerien einen Plan zur Förderung der luxemburgischen Sprache vor 7 , der im Juni 2018 in einem gleichnamigen Gesetz eine legale Basis bekam. 8 Dieser auf 20 Jahre angelegte Plan sieht sowohl eine Stärkung des Stellenwerts der luxemburgischen Sprache vor als auch die weitere Standardisierung und Kodifizierung der Sprache und die Förderung des Lehrens und Lernens der luxemburgischen Sprache und Kultur. Wie unter Punkt 3 aufgeführt, stellt die deutsche Sprache in Luxemburg seit 1984 eine der drei administrativen Sprachen Luxemburgs dar. Vor dem Sprachengesetz von 1984 war Luxemburg ein zweisprachiges Land mit den Amtssprachen Deutsch und Französisch (Beyer et al. 2014). Da Deutsch eine der drei Amtssprachen ist, kann Deutsch sowohl schriftlich wie mündlich als Kommunikationssprache bei Ämtern und Behörden benutzt werden. Formulare, wie zum Beispiel die Steuererklärung, liegen auf Deutsch und Französisch vor. Da Französisch die legislative Sprache ist, liegen Gesetzestexte ausschließlich auf Französisch vor - falls es eine Übersetzung geben sollte, wird sich entsprechend immer auf den Originaltext in französischer Sprache berufen. Bei Gericht werden die drei Amtssprachen verwendet. Laut der Pressestelle des Gerichts finden Verhandlungen in der Praxis meist auf Französisch und/ oder Luxemburgisch statt; Deutsch wird seltener verwendet. Dabei handelt es sich um den tatsächlichen Sprachgebrauch, jedoch nicht um eine gesetzliche Verpflichtung. Dies wird somit erklärt, dass einerseits viele Anwälte französischsprachig seien und andererseits die luxemburgischen Gesetze und juristischen Urkunden (Schriftsätze der Anwälte, Urteile usw.) auf Französisch verfasst sind. In Strafsachen werden in den Beschlüssen der Richter hingegen oft Zitate aus den Protokollen der Polizei wiedergegeben, die wiederum auf Deutsch verfasst sind. 9 4.4 Schulsystem Ein Gesetz von 1843 schrieb die Zweisprachigkeit (Französisch und Hochdeutsch) bereits für die Grundschule fest (Davis 1994). Luxemburgisch wurde im Jahr 1912 als Unterrichtsfach eingeführt. Als Lehrbuch setzte man das Buch von Nikolaus Welter (1914) Das Luxemburgische und sein Schrifttum ein. Es enthielt eine Einführung in die Geschichte des Luxemburgischen, eine Literaturgeschichte, eine Auswahl luxemburgischer Texte und eine kurze Beschreibung der Rechtschreibung. 6 www.luxembourg.public.lu/ de/ actualites/ 2017/ 05/ 15-gewosst-wei/ index.html (Letzter Zugriff 6.11.2018), www.lessentiel.lu/ de/ luxemburg/ story/ Luxemburgisch-ist-die-Sprache-der-Integration--27760550 (Letzter Zugriff 6.11.2018). 7 www.men.public.lu/ fr/ actualites/ articles/ communiques-conference-presse/ 2017/ 03/ 09-strategie-letzebuergesch-lu/ index.html (Letzter Zugriff 6.11.2018). 8 www.men.public.lu/ fr/ actualites/ grands-dossiers/ systeme-educatif/ letzebuerger-sprooch/ index.html (Letzter Zugriff 6.11.2018). 9 Für Details: https: / / guichet.public.lu/ de/ citoyens/ citoyennete/ voies-recours-reglement-litiges/ frais-avocat/ langues-tribunaux.html (Letzter Zugriff 6.11.2018). 76 Mélanie Wagner <?page no="77"?> Die Schulpflicht beginnt in Luxemburg mit vier und endet mit 16 Jahren. Die Primarstufe umfasst die ersten neun Schuljahre, die in vier Lernzyklen unterteilt sind: - Zyklus 1: ein Jahr nicht-obligatorische Kinderfrüherziehung ( Précoce , Kinder ab 3 Jahre), 2 Jahre Schulpflicht (Kinder zwischen 4 und 5 Jahren). In Zyklus 1, vergleichbar mit der Vorschule ( Spillschoul ), wird hauptsächlich auf Luxemburgisch kommuniziert. Nach Abschluss des Zyklus 1 sollen alle Kinder Luxemburgisch sprechen und verstehen. - Zyklus 2 für Kinder von 6 bis 7 Jahre. In Zyklus 2 werden die Kinder auf Deutsch alphabetisiert. Deutsch wird außerdem während der Zyklen 2 bis 4 als Unterrichtssprache verwendet. - Zyklus 3 für Kinder von 8 bis 9 Jahren - Zyklus 4 für Kinder von 10 bis 11 Jahren Die Zyklen 2 bis 4 sind an der Grundschule angesiedelt. Darauf folgt der Sekundarunterricht (7. Klasse bis 12. oder 13. Klasse) 10 , vergleichbar mit dem deutschen Gymnasium, der je nach Orientierung sechs oder sieben Jahre dauert. Er ist in zwei große Unterrichtsordnungen unterteilt: - der allgemeine Sekundarunterricht (sieben Jahre), der die Schüler in erster Linie auf ein Hochschulstudium vorbereitet; - der technische Sekundarunterricht (sechs Jahre), der die Schüler vor allem auf das Berufsleben vorbereitet, aber auch den Zugang zu Hochschulstudien ermöglicht. 11 Aus Tabelle 3 wird ersichtlich, dass das Sprachenlernen auch heute in luxemburgischen Schulen eine große Rolle spielt. Im Durchschnitt sieht der Lehrplan der Grundschule in jedem Unterrichtsjahr ungefähr ein Drittel der Gesamtunterrichtszeit für das Sprachenlernen vor. Deutsch wird von Anfang an in der Schule gelehrt. Im Zyklus 2 werden, wie oben erwähnt, die Kinder in deutscher Sprache alphabetisiert, die gleichzeitig auch als Unterrichtssprache dient (u. a. Berg/ Weis 2005). Im zweiten Jahr des Zyklus 2 kommt im zweiten Halbjahr Französisch als zweite „Fremdsprache“ hinzu. Luxemburgisch wird sowohl in der Grundschule wie im ersten Jahr des Gymnasiums nur eine Stunde unterrichtet. Dies hat sich seit der Einführung als Unterrichtsfach im Jahr 1912 nicht geändert. Berg/ Weis (2005: 76) führen verschiedene Gründe für die niedrige Stellung des Luxemburgischen in der Schule auf. Sie erläutern, dass Luxemburgisch nie als Unterrichtssprache in Erwägung gezogen wurde, da diese Sprache lange als „Dialekt“ gesehen wurde; da Luxemburgisch außerdem fast ausschließlich als mündliches Kommunikationsmittel genutzt würde, sei diese Sprache kein adäquates Unterrichtsmittel (Berg/ Weis 2005: 76). Auch im Gymnasium nimmt der Sprachenunterricht einen Großteil der Unterrichtszeit in Anspruch. Überdies verändert sich die Situation bezüglich der Unterrichtssprache, die bisher ja hauptsächlich Deutsch war. Im ersten Jahr des Gymnasiums, der siebten Klasse, wird Französisch Unterrichtssprache für das Fach Mathematik, ab der 10. Klasse wird diese Sprache Unterrichtsprache für alle Sach- und Nebenfächer. Englisch kommt im zweiten Jahr des Gymnasiums, also der 8. Klasse, als dritte Fremdsprache (Berg/ Weis 2005: 76) hinzu. 10 Trotz des verpflichteten Besuchs der Vorschule fängt die Zählung der Klassen erst mit dem ersten Jahr der Grundschule an, d. h. auch wenn ein Kind bei Eintritt in den Sekundarunterricht schon 8 bzw. 9 Lernjahre hinter sich hat, fängt das Gymnasium mit der 7. Klasse an. Allerdings geht die Zählung ab dann rückwärts: Das achte Schuljahr wird somit als sixième (6e), das neunte Schuljahr als cinquième (5e) usw. bezeichnet. 11 Für Details: http: / / luxembourg.public.lu/ de/ etudier/ systeme-educatif-luxembourgeois/ systeme-educatifdetail/ index.html (Letzter Zugriff 6.11.2018). Luxemburg 77 <?page no="78"?> Horaire Répartition des leçons par année d’études 1ere 2e 2e 3e 4e 5e 6e 1er semestre 2e semestre Langue allemande 8 9 8 5 5 5 5 Langue française - - 3 7 7 7 7 Mathématiques 6 6 6 5 5 5 5 Éveil aux sciences 3 4 2 2 2 - - Sciences naturelles - - - - - 1 1 Géographie - - - - - 1 1 Histoire - - - - - 1 1 Langue luxembourgeoise 1 1 1 1 1 1 1 Éducation morale et sociale/ 2 2 2 2 2 2 2 Instruction religieuse et morale Activités créatrices 1 1 1 1 1 1 1 Éducation artistique 1 1 1 1 1 1 1 Éducation musicale 1 1 1 1 1 1 1 Éducation physique et sportive 3 3 3 3 3 2 2 Activités dirigées 2 - - - - - - 28 28 28 28 28 28 28 Tab. 3: Aufteilung der Unterrichtsstunden in der Grundschule nach Schuljahr (Berg/ Weis 2005) 4.4.1 Der Lehrplan für Luxemburgisch Luxemburgisch wird offiziell nicht als Unterrichtssprache benutzt, jedoch greifen LehrerInnen oft darauf zurück, um weitergehende Erklärungen zu geben. Für Luxemburgisch ist sowohl im Lehrplan der Grundschule wie in dem des ersten Jahres des Gymnasiums eine Unterrichtsstunde pro Woche vorgesehen. Berg/ Weis (2005: 77) weisen darauf hin, dass in den meisten Schulbibliotheken kaum luxemburgische Literatur zu finden ist. Sie führen dies unter anderem darauf zurück, dass die Luxemburger sich in der luxemburgischen Sprache unsicher fühlten und auch ihren literarischen Wert nicht einzuschätzen wüssten. Diese Unsicherheit 78 Mélanie Wagner <?page no="79"?> dem Luxemburgischen gegenüber ist zum Teil auf die Lehrsituation dieser Sprache zurückzuführen: Der Lehrplan für Luxemburgisch in der Grundschule ist recht vage gehalten. Die Hauptregeln der Rechtschreibung sollen gelernt, die Kinder an die luxemburgische Literatur herangeführt werden, zudem soll über das Leben in Luxemburg diskutiert werden. In den ersten zwei Grundschuljahren wird vor allem Wert auf den Ausbau der sprachlichen Kompetenz im mündlichen Bereich sowie im Wortschatz gelegt (MEN 1989: 4). An das Lesen des Luxemburgischen sollen die Kinder ab dem dritten Schuljahr herangeführt werden: „Ihr Blick soll geschult werden, so dass sie typisch luxemburgische Wortbilder nach und nach erfassen, und dadurch lernen, fließend zu lesen“ (MEN 1989: 5). 12 Im Lehrplan wird hervorgehoben, dass das Lesen im Luxemburgischen auf keinen Fall schon vor Mitte des dritten Schuljahrs begonnen werden sollte, begründet wird dies jedoch nicht (Plan d’études 1989: 6). Vermutlich würde früheres Lesenlernen auf Luxemburgisch auch einen Großteil der Kinder überfordern, da sie im ersten Schuljahr Deutsch lesen lernen und ab der zweiten Hälfte des zweiten Schuljahrs auch anfangen, Französisch zu lernen. In den letzten beiden Jahren der Grundschule wird weiterhin Wert auf den Erwerb des flüssigen Lesens des Luxemburgischen gelegt: „Während das Kind die Hauptregeln der luxemburgischen Schreibweise lernt, soll es auch Texte flüssig lesen können“ (MEN 1989: 8). Zusätzlich sollen die Schüler mit der luxemburgischen Literatur vertraut gemacht werden. Dieser Punkt des Lehrplans steht jedoch in direktem Konflikt mit der oben erwähnten Situation, dass in den Schulbibliotheken kaum luxemburgische Literatur vorhanden ist. Die Analyse des Lehrplans für Luxemburgisch im ersten Jahr des Gymnasiums 13 fällt ähnlich aus. Auch dieser Lehrplan ist recht vage: Ziele und Inhalte für das Fach Luxemburgisch werden aufgeführt, und auch hier besteht das Ziel vor allem darin, die Schüler mit der luxemburgischen Sprache, deren Literatur und der Kultur des Landes vertraut zu machen. Eine weitere Einführung in die Rechtschreibung des Luxemburgischen soll es Schülern erleichtern, die luxemburgische Sprache besser zu verstehen und zu lesen. Das kompetente Lesen wird auch hier wieder als eines der Hauptziele des Unterrichts definiert. Wie diese Lesekompetenz erreicht werden soll, anhand welcher Texte und wie die Schüler in ihrem Lesen gefördert werden können, wird nicht näher ausgeführt. Interessant ist, dass in der Grundschule schriftliche Übungen nicht in die Note einfließen dürfen und im Gymnasium bei Prüfungen maximal ein Sechstel der Gesamtpunktzahl für Orthographiefehler abgezogen werden darf. Leider gibt es bis jetzt noch keine Studien über den tatsächlichen Ablauf des Luxemburgischunterrichts. Daher weiß man nicht, was während dieser Stunden unterrichtet wird. Bekannt ist, dass die Stunden oft benutzt werden, um versäumten Stoff anderer Fächer aufzuarbeiten. 4.4.2 Deutsch an luxemburgischen Schulen Nach einer kurzen Einführung in die Rolle, den Status und die Funktion(en) der deutschen Sprache an luxemburgischen Schulen werde ich zu einer Analyse einer Auswahl von Dokumenten und Aussagen zur Sprachplanung und -politik an Schulen übergehen. Wie schon in Abschnitt 3 erwähnt wurde, spielt Deutsch an luxemburgischen Schulen eine sehr wichtige 12 Zitate aus dem Lehrplan sind im Original auf Luxemburgisch. 13 http: / / content.myschool.lu/ sites/ horaires/ start.html (Letzter Zugriff 11.8.2008). Luxemburg 79 <?page no="80"?> Rolle, da es als Alphabetisierungssprache dient, auch wenn es für den Großteil der SchülerInnen nicht die erste Sprache ist. Hoffmann (1979: 41) schreibt: Ein Luxemburger Sechsjähriger, der eingeschult wird, spricht und denkt ausschließlich auf Lëtzebuergesch. Indessen ist die Sprache, in der er unterrichtet wird, von der ersten Stunde an das Hochdeutsche und zwar nicht eine standardisierte Umgangssprache, sondern das Schriftdeutsche. Immer noch dient Deutsch während der ersten neun Schuljahre als Unterrichtssprache in Fächern wie Erdkunde oder Geschichte. Als Argument für Deutsch als Alphabetisierungs- und Unterrichtssprache dient die linguistische Nähe zwischen Luxemburgisch und Deutsch (Weber/ Horner 2012: 4, vgl. Berg/ Weis 2005: 76). Mit diesen Hintergrundinformationen über die Rollen und Funktionen der deutschen Sprache im luxemburgischen Schulwesen im Hinterkopf ist eine der Fragen, die in diesem Kapitel beantwortet werden sollen, jene nach der Unterrichtsmethode: Wird Deutsch als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache unterrichtet? Eine Analyse der vom Bildungsministerium veröffentlichten Lehrpläne für den Sprachenunterricht in Luxemburg sowie der Aussagen von einer Schulinspektorin und von Lehrkräften sollen Einblick in die Art und Weise, wie Deutsch (als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache) in Luxemburg unterrichtet wird, liefern und zeigen, ob etwaige Widersprüchlichkeiten zwischen den Vorgaben des Bildungsministeriums und der Handhabung im Unterricht bestehen. Außerdem soll untersucht werden, inwiefern das Konzept der Plurizentrik in diesen Dokumenten aufgegriffen wird und in den Deutschunterricht einfließt. Die Lehrpläne Auf der Internetseite des Luxemburgischen Bildungsministeriums 14 findet man unter der Rubrik horaires et programmes für die ersten drei Schulstufen im Gymnasium (7. bis 9. Klasse bzw. 7e bis 5e) einen Lehrplan für ein Fach namens ALLEM - Allemand 15 (Deutsch) und einen für ein Fach namens ALLET - Allemand langue étrangère 16 (Deutsch als Fremdsprache). Bei genauerer Betrachtung der beiden Lehrpläne stellt sich heraus, dass das Fach ALLET - Allemand langue étrangère 17 nicht von allen SchülerInnen belegt wird, sondern sich nur an „lernwillige und wissbegierige“ Kinder richtet, „die gute Kenntnisse in Französisch und Mathematik mitbringen“ (Markierung im Original), deren Leistungen im Deutschunterricht aber (und nur dort! ) aus unterschiedlichsten Gründen als defizitär gewertet werden. Hier wird im Gegensatz zum Lehrplan ALLEM - Allemand auch auf die Unterrichtsmethode eingegangen und erklärt, es handele sich um eine Vermittlung von Deutsch als Fremdsprache. Dies lässt darauf schließen, dass sich der „normale“ Deutschunterricht nicht als Fremdsprachenunterricht versteht. Ziel des Fachs ALLET ist es, SchülerInnen, die Schwierigkeiten im Deutschen haben, durch individuelle Unterstützung und gezielten Sprachenunterricht innerhalb von drei Jahren eine 14 www.men.lu (Letzter Zugriff 6.11.2018). 15 Ministère de l’éducation nationale et de la Formation professionnelle (Version 2011-2012) Enseignement secondaire. Division inférieure. ALLEM-Allemand. 16 Ministère de l’éducation nationale et de la Formation professionnelle (Version 2011-2012) Enseignement secondaire. Division inférieure. ALLET-Allemand langue étrangère. 17 Das Kürzel ALLET steht für allemand langue étrangère. Damit ist eine andere als die übliche Herangehensweise des Faches Deutsch gemeint. Es handelt sich nicht um einen vereinfachten Deutschunterricht oder gar um einen Förderunterricht (cours d’appui). 80 Mélanie Wagner <?page no="81"?> Integration in den normalen Deutschunterricht zu ermöglichen. Eine Analyse des Lehrplans des Fachs ALLEM macht nicht nur deutlich, dass dies das Curriculum ist, das SchülerInnen im Deutschunterricht im Laufe ihrer Gymnasialzeit normalerweise behandeln, sondern auch, dass sich das Programm hauptsächlich auf den Inhalt des Lernens und Lehrens während der einzelnen Schulstufen beschränkt. Der Lehrplan gibt keinen Aufschluss über die angewandte Methode des Sprachenunterrichts, und es wird nicht klar, ob Deutsch hier als Erst- oder Zweitsprache unterrichtet werden soll. Des Weiteren wird im Lehrplan auch nicht auf die Varietät der zu unterrichtenden Sprache eingegangen - es scheint offensichtlich zu sein, dass es sich hier um deutschländisches Standarddeutsch handelt. Die Hauptidee, die in der Einleitung des Lehrplans des Faches Deutsch für die ersten vier Gymnasialjahre vermittelt wird, ist die der luxemburgischen Sprachensituation und -tradition, also der Dreisprachigkeit und der fundamentalen Rolle, die Deutsch und Französisch in den Bereichen Kommunikation, Lernen, Auseinandersetzung mit der Umwelt und Schulung des Verstandes spielen. Darüber hinaus wird die Wichtigkeit der deutschen Sprache dadurch verdeutlicht, dass sie Alphabetisierungs- und Unterrichtssprache ist und für viele SchülerInnen die erste Sprache, in der sie (Welt-)Literatur und Medien begegnen. Außerdem fungiert Deutsch während der ersten drei Jahre des Gymnasiums als Unterrichtssprache, was dazu führt, dass die sprachliche Kompetenz der SchülerInnen es ihnen erlaubt, sich angemessen in Wort und Schrift auszudrücken sowie Lehrwerke und -materialien produktiv zu nutzen. 18 Neben dem Erlernen der kommunikative Kompetenzen wird auch verdeutlicht, wie wichtig der Erwerb von interkulturellen Kompetenzen ist und dass die deutsche Sprache nicht nur im „Hinblick auf ihren reinen Gebrauchswert gelernt und gelehrt werden darf “ (MEN 2013: 2). In den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb in den Klassen 7e bis 4e liest man des Weiteren, dass „moderner Deutschunterricht“ sich um drei Achsen gruppieren müsse: - systematisches und vernetztes Lernen der Einzelelemente der Sprache (Wortschatz, Grammatik, Orthographie, Satzbau und Satzzeichen), da letztere erst dann erfolgreich als Kommunikationsmedium eingesetzt werden kann, wenn ein Großteil ihrer Elemente in vernetzter und geordneter Weise 19 zur Verfügung steht; - Erwerb kommunikativer und interkultureller Kompetenzen in den drei Bereichen Deutsch als Alltagssprache, Deutsch als Mediensprache, Deutsch als Kultursprache; - Aufbau einer umfassenden Methodenkompetenz, die lebenslanges Lernen im fremdsprachlichen Bereich 20 ermöglicht (MEN 2013: 2). Wie Deutsch in luxemburgischen Gymnasien unterrichtet werden soll, wird in diesem Leitfaden nicht angesprochen - es gibt lediglich einen Hinweis auf die Tatsache, dass der Unterricht meist nicht in der Erstsprache stattfindet, da der Unterricht weder in der Nationalsprache 18 „Deutsch ist in den ersten neun Schuljahren - also auch in den Klassen 7 (7e O), 8 (6e) und 9 (5e) des Gymnasiums - die grundlegende Unterrichtssprache , in der die Lerninhalte der anderen Fächer (= Nicht-Sprachenfächer, mit Ausnahme der Mathematik) vermittelt werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Schülerinnen und Schüler im Deutschen möglichst rasch an ein sprachliches Niveau heranzuführen, das es ihnen ermöglicht, produktiv mit den Lehrwerken und Unterrichtsmaterialien in den Nicht-Sprachenfächern umzugehen und auch komplexe Zusammenhänge zu verstehen und mündlich wie schriftlich angemessen und korrekt darzustellen“ (MEN 2013: 2) (Markierung im Original). 19 D.h., Sprache soll nicht in einzelnen voneinander isolierten Elementen beherrscht werden, sondern als komplettes Paket. 20 Gemeint ist hier ein Transfer auf das Lernen weiterer Fremdsprachen. Luxemburg 81 <?page no="82"?> Luxemburgisch noch in den Erstsprachen der Nicht-Luxemburger stattfindet. Nach der allgemeinen Einführung in das Fach ALLEM-Allemand und einer Aufzählung der verschiedenen Funktionen, die die deutsche Sprache an luxemburgischen Schulen einnimmt, wird der Lehrplan für die einzelnen Schuljahre vorgestellt. Hier wird großer Wert auf den Ausbau der verschiedenen Kompetenzen (Sprechen, Hörverstehen, Schreiben und Lesen) sowie auf den Unterricht von Rechtschreibung und Grammatik gelegt. In diesem Lehrplan gibt es keinen Hinweis auf die Plurizentrik der deutschen Sprache, auch Sprachvariation wird kaum erwähnt. Variation wird zum ersten Mal im Lehrplan für die dritte Stufe (9. Klasse bzw. cinquième ) des Gymnasiums angeführt - unter Lernzielen findet man: Der Schüler/ Die Schülerin […] kann Sprachvarianten identifizieren: Standardsprache, Umgangssprache, Dialekt, Gruppen-/ Jugendsprache, Fachsprache (z. B. Anglizismen im Fachvokabular), gesprochene und geschriebene Sprache. (MEN 2013: 22) Dieses Lernziel, dass SchülerInnen verschiedene Varietäten der deutschen Sprache erkennen sollen, wird von dieser Schulstufe an in jedem Jahr aufgeführt - es bleibt jedoch bei dieser Erwähnung, und Sprachvariation wird nicht weiter im Lehrplan behandelt. Der Lehrplan gibt auch keine Erklärungen dafür, was unter den verschiedenen Kategorien zu verstehen ist: Der Begriff „Standardsprache“ wird benutzt; da dieser jedoch weder genau definiert noch deutlich gemacht wird, in welchen Referenzwerken oder Situationen „Standardsprache“ zu finden ist, scheint dies als Alltagsbegriff verstanden zu werden. Es bleibt zu vermuten, dass man sich auf deutschländisches Standarddeutsch bezieht. Nach dieser Analyse des Lehrplans für das Fach Deutsch im Gymnasium werde ich nun zu einer Studie der Veröffentlichungen übergehen, die sich auf den Sprachenunterricht an luxemburgischen Schulen beziehen und die von Didaktikern, Pädagogen und Sprachwissenschaftlern in Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium veröffentlicht wurden. Unterrichtsbezogene Veröffentlichungen Bei der ersten Veröffentlichung, die ich vorstellen möchte, handelt es sich um Bildungsstandards Sprachen: Leitfaden für den kompetenzorientierten Sprachenunterricht an Luxemburger Schulen (Kühn 2008). Im Vorwort dieser Publikation schreibt die damalige Bildungsministerin Mady Delvaux-Stehres, dass es Ziel dieses Leitfadens sei, den Sprachenunterricht in Luxemburg kompetenzorientiert und zielgerichtet zu gestalten. Sie führt weiter an, dass die in der Veröffentlichung präsentierten Ansätze sich auf das Konzept der Mehrsprachigkeit beziehen und die neuesten didaktischen und methodischen Vorgehensweisen, die in internationalen Studien wie PISA oder PIRLS gefordert werden, aufgreifen würden. Peter Kühn, Leiter des Instituts Deutsch als Fremdsprache an der Universität Trier, erklärt (2008: 16-18), dass [a]uf Grund der besonderen Sprachensituation in Luxemburg ist es müßig und vergebliche Liebesmüh, die verschiedenen Sprachen mit linguistischen Begriffen wie „Muttersprache“, „Fremdsprache“, „Erstsprache“, „Zweitsprache“, „Herkunftssprache“, „Familiensprache“, „Begegnungssprache“, „Partnersprache“, „Umgebungssprache“ usw. „einfangen“ zu wollen. Dies gilt besonders auch für das Deutsche, das auf Grund der Sprachverwandtschaft zum Luxemburgischen keine Fremdsprache ist. Es ist jedoch auch keine Zweitsprache, da das Deutsche in Luxemburg nicht als kommunikative Verkehrssprache gebraucht wird. Allerdings wird das Deutsche via Medien stark rezipiert. Seine besondere Bedeutung hat das Deutsche als Alphabetisierungssprache und als Kommunikationssprache 82 Mélanie Wagner <?page no="83"?> in der Schule, besonders auch in den Sachfächern. Dem Deutschunterricht fällt bis zur neunten Klasse die Aufgabe zu, Kompetenzen zu vermitteln, die normalerweise im Muttersprachenunterricht erworben werden. Im Deutschen werden zum einen sprachliche Handlungskompetenzen vermittelt, zum anderen hat das Deutsche auch grundlegende Bedeutung für die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung der Kinder. In diesem Abschnitt verdeutlicht Peter Kühn die Komplexität der luxemburgischen Sprachensituation und insbesondere die der deutschen Sprache in Luxemburg. Er behauptet, dass es fast unmöglich sei, den Status und die Rolle der deutschen Sprache in Luxemburg zu bestimmen. Nach Kühn (2008: 16-18) stellt Deutsch in Luxemburg durch seine Nähe zum Luxemburgischen keine Fremdsprache dar. Da es als Unterrichts- und beliebte Mediensprache benutzt wird, aber in der Alltagskommunikation nicht als lingua franca fungiert, sieht er es auch nicht als Zweitsprache an. Da Deutsch für den Großteil der Luxemburger auch nicht die Sprache von zu Hause darstellt, kann es auch nicht als Erstsprache angesehen werden. Kühn (2008: 16 ff.) zählt alle verschiedenen Funktionen des Deutschen in Luxemburg auf und erklärt, dass man Deutsch in Luxemburg nicht kategorisieren kann. Des Weiteren zeigt er auf, dass die Kategorien, mit denen gemeinhin das Nebeneinander und Nacheinander von Sprachen und Sprachenunterricht gefasst werden, untauglich sind, um die Luxemburger Situation zu erfassen. Die zweite Veröffentlichung, die ich in diesem Kapitel ausführlicher vorstellen möchte, ist jene von Charles Berg und Christiane Weis (2005) Sociologie de l'enseignement des langues dans un environnement multilingue . In dieser gemeinsamen Veröffentlichung des Bildungsministeriums mit dem Zentrum für Studien über Jugendliche CESIJE stellen die zwei Autoren den nationalen Bericht zur Ausarbeitung von Luxemburgs Sprachenunterricht vor. Ziel dieses Berichts war es, dem Europarat die damalige Situation Luxemburgs vorzustellen, die sprachliche Zusammenstellung des Landes zu beleuchten sowie die Unterrichtspolitik zu erläutern (Berg/ Weis 2005: 7). Die Autoren beziehen jedoch keine klare Stellung in Bezug auf den Sprachenunterricht in Luxemburg. In der Sektion „Sprachen und Mehrsprachigkeit in Lehrplanausarbeitung“ (Berg/ Weis 2005: 74) sprechen sie bei der Behandlung des Themas Sprachenunterricht in Luxemburg von Zweitspracherwerb, sowohl für Deutsch wie Französisch. Sie führen aus, dass Zweitsprachen in der Grundschule eingeführt werden - dies lässt darauf schließen, dass die Erstsprache vor dem Schuleintritt erworben wird: In der Grundschule werden die Zweitsprachen eingeführt. Deutsch ist die Sprache, in der Kinder eingeschult werden. Das Erlernen des Französischen beginnt im zweiten Grundschuljahr. (Berg/ Weis 2005: 74 f.) Nach dieser kurzen Einführung, in der erklärt wird, dass Deutsch Alphabetisierungssprache ist und Französisch im zweiten Grundschuljahr eingeführt wird, stellen sie die Art und Weise vor, wie die Sprachen gelehrt werden: L’allemand L’allemand est la langue dans laquelle les élèves sont scolarisés. Le contact avec la langue allemande se fait de manière progressive. L’instituteur est censé tenir compte des différences de niveaux des élèves. Dans la première phase de l’apprentissage l’élève se trouve dans un conflit permanent entre besoins et capacités d’expression. L’allemand remplit donc une fonction double. D’un côté il permet aux élèves le contact avec une langue étrangère, de l’autre côté il sert de médium à l’apprentissage de la lecture et de l’écriture. Luxemburg 83 <?page no="84"?> L’allemand n’est pas seulement la langue d’alphabétisation ; elle joue en effet aussi le rôle de langue véhiculaire pour un certain nombre de matières. (Berg/ Weis 2005: 74 f.) 21 In diesem Absatz erklären die Autoren die doppelte Funktion der deutschen Sprache in luxemburgischen Schulen: Deutsch ermöglich den Kontakt mit einer Fremdsprache, ist jedoch auch Alphabetisierungssprache. Diese Idee, dass Deutsch eine Fremdsprache sei, wird auch im Text über Französisch weitergeführt, wo die Autoren schreiben, dass im zweiten Grundschuljahr die zweite Fremdsprache Französisch eingeführt werde (Berg/ Weis 2005: 74 f.). Die Tatsache, dass beide Autoren im nationalen Bericht über Sprachpolitik im Unterricht erst von Zweitspracherwerb sprechen und später dann im Fall der gleichen Sprachen von Fremdsprachenerwerb, zeigt, wie schwierig es ist, Sprachen in Luxemburg zu kategorisieren und somit auch klare Methoden für den Sprachenunterricht zu definieren. Diese Hypothese der schwierigen Klassifikation der Sprachen in Luxemburg wird nochmals bei der Fernsehdiskussionsrunde Kloertext 22 um das Thema „Mehrsprachigkeit in Luxemburg“, ausgestrahlt am 3. April 2011 im nationalen Fernsehen, bestätigt. Eine der Gäste war die Schulinspektorin Jeanne Letsch, die die Frage der Moderatorin Caroline Mart nach der Beschaffenheit des Deutschunterrichts wie folgt beantwortete: C. M.: Wie wird Deutsch unterrichtet? Als Fremdsprache, oder etwas dazwischen, so wie Französisch oder trotzdem anders? Wie kann man das definieren? J. L.: Es ist nicht mehr so wie früher, früher sind wir davon ausgegangen, dass wir fast alle Luxemburgisch konnten und Deutsch per se eigentlich verstanden und auch recht schnell nachsprechen konnten. Heutzutage wird es als Zweitsprache unterrichtet, aber nicht als Fremdsprache. Französisch wird als Fremdsprache unterrichtet. Zweitsprache auch dadurch, und das dürfen wir nicht vergessen, dass es bei uns Alphabetisierungssprache ist. Wir haben ja nicht unsere Muttersprache als Alphabetisierungssprache. Laut Jeanne Letsch wird Deutsch in Luxemburg als Zweit- und nicht als Fremdsprache unterrichtet, da es Alphabetisierungssprache ist - es bleibt jedoch Zweitsprache, da es nicht die Erstsprache der meisten SchülerInnen ist. Die Schulinspektorin differenziert zwischen Deutsch und Französisch und unterstreicht, dass Französisch, anders als Deutsch, als Fremdsprache unterrichtet würde. Die Komplexität um das Thema Deutschunterricht in Luxemburg wurde schon im Jahr 1984 aufgeworfen: das Sprachbuch und Arbeitsheft für den Deutschunterricht in Luxemburg wurde von einer Gruppe von Deutsch-Lehrpersonen an luxemburgischen Gymnasien ausgearbeitet und herausgegeben - 2005 wurde eine Neuauflage veröffentlicht. In ihrem Vorwort weisen 21 Deutsch Deutsch ist die Sprache, in der Schüler unterrichtet werden. Der Kontakt mit der deutschen Sprache wird auf progressive Art und Weise eingeführt. Die Lehrperson muss sich die unterschiedlichen Kompetenzen der Schüler vor Augen halten. In dieser ersten Phase sind Schüler ständig hin- und hergerissen zwischen ihren sprachlichen Bedürfnissen und ihrer Fähigkeit, sich auszudrücken. Auf der einen Seite erlaubt die deutsche Sprache Schülern Kontakt mit einer Fremdsprache, auf der anderen fungiert Deutsch als Unterrichtssprache zum Lesen und Schreiben. Deutsch ist nicht nur Alphabetisierungssprache, es ist auch noch Unterrichtssprache für eine Reihe anderer Fächer. (Übersetzung MW) 22 Kloertext: Villsproochegkeet zu Lëtzebuerg (gesendet am 3.4.2011 auf dem nationalen Fernsehsender RTL ). 84 Mélanie Wagner <?page no="85"?> die AutorInnen darauf hin, dass es dem Deutschunterricht in Luxemburg an einem Lehrwerk fehlt, das speziell für den luxemburgischen Markt konzipiert wurde und nicht für den Deutschunterricht in Deutschland. Doemer et al. (2005: III) erklären, dass die selbstverständliche Voraussetzung dieser (deutschen) Lehrbücher, Deutsch als „Muttersprache“ zu unterrichten, für Luxemburg ebenso wenig zutreffend [sei]. Die Voraussetzungen, die ein Luxemburger Kind in den postprimären Unterricht mitbringt, können nur von einem Luxemburger Schulbuch berücksichtigt werden, das auf langjähriger Unterrichtspraxis gründet. In diesem für Luxemburg konzipierten Lehrwerk soll vor allem grammatisches Wissen kontrastiv zum Luxemburgischen vermittelt und geübt werden. Die Autoren weisen darauf hin - und dies bestätigt den vorher gewonnenen Eindruck einer Orientierung an der deutschländischen Standardsprache -, dass als Grundlage der Grammatik die Dudengrammatik als Norm gedient habe. Zusätzlich dazu sollen luxemburgisch-deutsche Interferenzen korrigiert und das Sprachbewusstsein gefördert werden. Auch in diesem Lehrwerk wird der Begriff der Plurizentrik nicht aufgegriffen, und es wird in keiner Weise auf eine mögliche Varietät des luxemburgischen Standarddeutschen eingegangen. Im Gegenteil - Einflüsse des Luxemburgischen ins Deutsche werden als Interferenzen und diese als Fehler gesehen, da sie nicht der deutschländischen Standardnorm entsprechen (vgl. Clyne 1992: 132). Rolle und Sicht der Lehrpersonen Nach der vorangegangenen Analyse verschiedener Textquellen, die allesamt wenig Aufschluss über die Methodik des Deutschunterrichts in Luxemburg geben, möchte ich nun zur Analyse einer Lehrpersonenumfrage übergehen, die im Rahmen der Untersuchung mit dem Titel „Deutsch im gymnasialen Unterricht: Deutschland, Luxemburg und die deutschsprachige Schweiz im Vergleich“ unter Beteiligung von Eva L. Wyss, Winifred V. Davies und mir im Jahr 2011 durchgeführt wurde. Ein Ziel dieser Untersuchung war es, unser Verständnis der Rolle von Deutschlehrenden als SprachnormvermittlerInnen und Sprachnormautoritäten in drei verschiedenen deutschsprachigen Ländern - Deutschland, Luxemburg und der deutschsprachigen Schweiz - zu vertiefen und in diesem Zusammenhang auch den Grad der Vertrautheit mit dem plurizentrischen Modell der Sprachvariation und dessen Akzeptanz unter Nicht-SprachwissenschaftlerInnen zu untersuchen. In Luxemburg wurde diese Lehrpersonenumfrage an allen 35 Gymnasien des Landes (im Jahr 2011) durchgeführt. Von den verschickten Fragebögen kamen 50 ausgefüllt wieder zurück. 23 Details über die Informanten finden sich in Tabelle 4: Männer Frauen Unter 30 30-39 40-49 50-65 Keine Angabe 16 34 6 15 14 13 2 Tab. 4: Zusammensetzung der befragten Lehrpersonen 23 In der Schweiz und in Deutschland wurden die Fragebögen ebenfalls an Gymnasien geschickt, und in beiden Fällen wurden jeweils 50 ausgefüllte Fragebögen zurückgeschickt. Luxemburg 85 <?page no="86"?> Um einen Eindruck in die Sicht der Lehrpersonen über die Art des Deutschunterrichts in Luxemburg zu bekommen, wurde ihnen folgende Frage gestellt: Wie wird Deutsch Ihrer Meinung nach an luxemburgischen Gymnasien unterrichtet? ( ) als Fremdsprache; ( ) als Erstsprache; ( ) als Zweitsprache; ( ) anders. Die Uneinigkeit darüber, wie Deutsch in Luxemburg unterrichtet würde und zu kategorisieren sei, die sich bereits nach der Dokumentenanalyse herauskristallisiert hat, spiegelt sich in den Resultaten der Lehrpersonenbefragung wider. Anzahl der Lehrpersonen Prozentsatz Fremdsprache 11 22 % Erstsprache 17 34 % Zweitsprache 11 22 % Anders 11 22 % Total 50 100 % Tab. 5: Kategorisierung der deutschen Sprache in Luxemburg durch die Lehrpersonen Wie man aus Tabelle 5 herauslesen kann, behaupten 11 Lehrpersonen (22 %) Deutsch werde in Luxemburg als Fremdsprache unterrichtet, 17 Lehrpersonen (34 %) sehen den Unterricht als Erstsprachenunterricht, und 11 Lehrpersonen (22 %) sind eher der Meinung, Deutsch würde als Zweitsprache unterrichtet. Für 11 Lehrpersonen (22 %) jedoch hat der Deutschunterricht eine noch andere Form, die entweder eine Mischung aus den eben genannten Formen ist oder sich an der SchülerInnengruppe orientiert. Fremdsprache Erstsprache Zweitsprache Anders Großteil der Schüler- Innen erlangt „Muttersprachniveau“ nicht in der Grundschule Deutsch ist nicht die Muttersprache Deutsch ist die erste Sprache, die Schüler- Innen in der Schule lernen, doch mussten viele schon vorher Luxemburgisch lernen Alphabetisierungssprache Erlernen der Sprache auf Muttersprachlerniveau Vieles muss nach „Sprachgefühl“ erarbeitet werden Klare Vorgabe der Lehrpläne, dass Deutsch als Erstsprache zu unterrichten ist Traditionsbedingt Muttersprache ist selten Deutsch Deutsch ist Alphabetisierungs- und Unterrichtssprache Hoher Medienkonsum auf Deutsch Unterschiedlicher Unterricht nach Schulart Mischung zwischen Erstsprache und Fremdsprache: Grammatik teilweise wie bei einer Fremdsprache, Wortschatz und Satzbau oft als bekannt vorausgesetzt Adressatenspezifisch Tab. 6: Begründungen für die Kategorisierung des Deutschen an luxemburgischen Schulen 86 Mélanie Wagner <?page no="87"?> Tabelle 6 ist eine Synopse der von den Lehrpersonen gegebenen Begründungen für ihre Kategorisierung des Deutschen an luxemburgischen Schulen. Die Einstufung ist vielen Unterrichtenden schwergefallen, und für manche gilt ein ähnliches Argument, wie zum Beispiel das der Alphabetisierungssprache, als Grund, das Fach Deutsch unterschiedlich zu kategorisieren. Anhand der Erklärungen sieht man, dass für Lehrpersonen, die den Deutschunterricht als Fremdsprachenunterricht sehen, die Tatsache, dass Deutsch nicht die Sprache ist, mit der SchülerInnen zu Hause aufwachsen, von Relevanz ist. Außerdem weisen die Lehrpersonen darauf hin, dass viele SchülerInnen das angestrebte „Muttersprachlerniveau“ nie erreichen, da das Deutsch eben nicht ihre Muttersprache sei, auch wenn es Alphabetisierungs- und Unterrichtssprache ist. Für die Lehrpersonen, die den Deutschunterricht als Erstsprachenunterricht sehen, spielt gerade die Tatsache, dass Deutsch Alphabetisierungssprache ist, eine Rolle in der Kategorisierung sowie die in ihren Augen klar vorhandene Vorgabe in den Lehrplänen. Die Lehrpersonen, die eine Kategorisierung schwierig fanden, machten dies teilweise am Publikum fest und erklärten, dass ihr Unterricht adressatenspezifisch sei und von SchülerInnengruppe zu SchülerInnengruppe angepasst würde. Für andere war es von Relevanz, dass Teile des Unterrichts (wie Grammatik) eher wie bei einer Fremdsprache und andere (wie Wortschatz und Satzbau) wie bei einer Erstsprache vermittelt würden. 4.5 Medien, Literatur, Werbung Laut Sieburg (2013: 87) ist Deutsch die beliebteste und am meisten benutzte Pressesprache Luxemburgs: Das Luxemburger Wort (seit 1848) ist die älteste, renommierteste und zugleich auflagenstärkste Zeitung, aber auch andere Tages- und Wochenzeitungen wie das Tageblatt ( Zeitung für Lëtzebuerg , seit 1913), das Lëtzebuerger Journal ( seit 1948), die Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek (seit 1946), D’Lëtzebuerger Land (seit 1954), Lëtzebuerg Privat ( unabhängige Wochenzeitschrift für Luxemburg , seit 2006), Den neie Feierkrop ( onofhängege Knaschtebeschmotzer, seit 1993) sind als deutschsprachige Zeitschriften zu identifizieren. Es ist keine Ausnahme, dass in diesen Zeitschriften und Zeitungen aber auch Beiträge auf Französisch, seltener auch auf Luxemburgisch gedruckt werden; Familienanzeigen sind in der Regel auf Luxemburgisch. Sieburg (2013: 87) ergänzt, dass auch Illustrierte wie die Revue ( de Magazin fir Lëtzebuerg , seit 1945) oder der Télécran (seit 1978) vorwiegend auf Deutsch verfasst seien. Natürlich gibt es auch französischsprachige Zeitungen wie zum Beispiel den Quotidien (seit 2001) oder den Jeudi (seit 1997). In anderen Zeitschriften wie dem forum für Politik, Gesellschaft und Kultur (seit 1976) oder der WOXX (seit 1988) werden Beiträge sowohl in deutscher wie auch in französischer und manchmal auch in englischer oder luxemburgischer Sprache veröffentlicht. Auch in der Werbung spielt die deutsche Sprache in Luxemburg eine Rolle, wenn auch eine sekundäre (Reddeker 2011: 254). Die Supermarktkette Cactus und die Fastfoodkette Mc- Donald’s nutzen primär die deutsche Sprache für Werbebeilagen respektiv Beschilderungen oder Belege. Laut der IDENT-Studie (IPSE 2010) ist Deutsch auch beim Medienkonsum die beliebteste Sprache: 50 Prozent der Befragten bevorzugen Deutsch als Sprache beim Fernsehkonsum, vor Luxemburg 87 <?page no="88"?> Französisch (29 %) und Luxemburgisch (9 %). 24 In luxemburgischen Kinos werden deutschsprachige Filme gezeigt, und auch bei der Literatur genießt das Deutsche einen hohen Stellenwert. Luxemburgische Autoren publizieren in den drei Sprachen des Landes, manche bevorzugt in einer, andere in mehreren. Außerdem findet man in den Buchläden auch eine große Auswahl an deutschsprachiger Literatur. Vergleicht man die aktuellen Bestsellerlisten Luxemburgs mit jenen von vor fünf Jahren (vgl. Sieburg 2013: 91) fällt allerdings auf, dass hier in den Top 5 fast ausschließlich Werke auf Luxemburgisch zu finden sind - und dies sowohl in den Kategorien „Fiction“, „Non-Fiction“ und „Kannera Jugendbuch“. 25 5 Soziolinguistische Situation Sieburg (2013: 95) weist auf die Legitimität hin, das heutige Luxemburger Territorium in sprachgenetischer Hinsicht dem deutschsprachigen Raum zuzuordnen, genauso wie das österreichisch-bairische oder das schweizerisch-alemannische Gebiet. Er erklärt (2013: 95), dass Luxemburg dialektgeografisch und sprachhistorisch ein Teil des Westmitteldeutschen bzw. des Moselfränkischen sei. Gilles (2009: 186) erklärt, dass das Luxemburgische, das ursprünglich von der eigenen Bevölkerung als Dialekt des Deutschen verstanden wurde (vgl. Bezeichnungen wie luxemburger Deutsch oder onzer Däitsch [Wagner 2009: 206]), im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Aufwertung erlebte, die damit zusammenhing, dass die autochthone germanische Varietät immer stärker mit dem nationalstaatlichen Bewusstsein und einer wachsenden nationalen Identität in Zusammenhang gebracht wurde. Das Luxemburgische, die Erstsprache aller Luxemburger, erlebte einen Prestigeaufschwung und avancierte zur alleinigen Sprache der mündlichen Kommunikation (Gilles 2009: 186). Dieser Prestigeaufschwung sowie die überaus positiven emotionalen Einstellungen gegenüber dem Luxemburgischen (Wagner 2009: 210) manifestierten sich nicht nur im wachsenden Gebrauch des Luxemburgischen in allen mündlichen Bereichen (sogar dem Parlament), sondern auch im konkreten Ausbau der linguistischen Struktur des Luxemburgischen. Im 19. Jahrhundert entstanden die ersten Wörterbücher (Gangler 1847), grammatische Beschreibungen der Sprache (Meyer 1845) sowie die ersten Werke der luxemburgischen Literatur (Meyer 1829). Gilles (2009: 186 ff.) erklärt, dass damit die ersten Schritte hin zu einer Schriftsprache zurückgelegt waren und das Luxemburgische sich von nun an funktional und linguistisch vom vormals überdachenden (Standard-)Deutschen wegentwickelte. Laut Gilles (2009) ist es: diese Ausgliederung aus dem weiteren moselfränkischen und standarddeutsch überdachten Varietätengefüge (Gilles 1998), die m. E. dazu berechtigt, das Luxemburgische als vom Deutschen weitgehend eigenständige Sprache anzusehen. Dass das Deutsche nicht mehr als Matrixsprache fungiert, zeigt sich u. a. an der Tatsache, dass sich die deutschländischen moselfränkischen (auch unmittelbar an der Staatsgrenze befindlichen) Dialekte unter standarddeutschem Einfluss linguistisch und soziolinguistisch verändern, während das nur wenige Kilometer entfernte Luxemburgische davon weitgehend unbeeinflusst bleibt. Für viele Dialektsprecher des Moselfränkischen und ganz besonders für Hochdeutschsprecher ist das heutige Luxemburgische weitgehend unverständlich. (Gilles 2009: 186) 24 Hier muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass es nur einen luxemburgischen Fernsehsender, RTL , gibt, und dass dieser kein Vollprogramm anbietet, sondern lediglich ein paar Stunden am Abend sendet. 25 Bestseller Luxemburg Januar 2018: www.luxorr.lu/ bestseller/ 30.html (Letzter Zugriff 6.11.2018). 88 Mélanie Wagner <?page no="89"?> Diese langsam beginnende Entwicklung während des 19. Jahrhunderts resultierte dann in den 1980er Jahren in einer Veränderung der Sprachensituation - 1984 wurde Luxemburg dank des neuen Sprachengesetzes zu einem dreisprachigen Land, wie schon in Kapitel 4 erklärt wurde. Mit dem Erheben des Luxemburgischen zur Nationalsprache wurde der Status dieser Sprache gestärkt und verankert - auch wenn Luxemburgisch für den Großteil der Bevölkerung lange die hauptsächlich gesprochene Sprache blieb. Diese Situation hat sich in den letzten Jahren verändert: Luxemburgisch wird mittlerweile von fast allen Luxemburgern geschrieben und auch als Schriftsprache in verschiedensten Domänen benutzt. 2018 wurde das Gesetz zur Erschaffung eines Zentrums für die luxemburgische Sprache verabschiedet - dieses Zentrum wird sich maßgeblich mit der weiteren Normierung und Standardisierung des Luxemburgischen beschäftigen - ein weiteres Zeichen dafür, dass dem Luxemburgischen auf sprachideologischer und -politischer Ebene ein zunehmend wachsender Stellenwert beigemessen wird. 5.1 Kontaktsprachen Aufgrund der Mehrsprachigkeit sowie des hohen Ausländeranteils gestalten sich die Sprachkontakte in Luxemburg zunehmend komplexer und entziehen sich einer einheitlichen Dynamik. Geht man von den drei Landessprachen aus, bleibt zu entscheiden, bzw. im Detail zu untersuchen, ob sich für die plurizentrischen Sprachen Französisch und Deutsch eigene nationale Varietäten herausbilden. Da die Institution Schule jedoch den Anspruch erhebt, sowohl deutschländisches Deutsch wie auch französisches Französisch zu unterrichten und den SchülerInnen diese Varietäten abzuverlangen, denke ich nicht, dass man von einem luxemburgischen Deutsch oder Französisch sprechen kann (vgl. Wagner 2016). Sowohl beim Französischen wie auch beim Deutschen gibt es Sprachkontakt mit dem Luxemburgischen, und in beiden Fällen können auf der Ebene von Prosodie und Phonetik Eigenschaften von luxemburgischer Aussprache, abhängig von Sprachpraxis und -kompetenz, als Transferenzen auftauchen (Gilles 2009: 194). Außerdem gibt es zahlreiche Einflüsse auf lexikalischer Ebene. Ich werde mich im Folgenden auf den Sprachkontakt zwischen Luxemburgisch und Deutsch beschränken. Das schriftsprachige Deutsch in luxemburgischen Presseerzeugnissen entspricht heute zu weiten Teilen dem deutschländischen Deutsch; man stößt nur auf wenige nationale Varianten, und laut Gilles (2009: 194) findet eine bewusste oder unbewusste Orientierung an deutschländischen Normen statt. Nach Auskunft von Redakteuren wird oft darauf geachtet, Luxemburgismen (z. B. sich basieren auf anstelle von ‚basieren auf') bewusst zu vermeiden. Die Nähe zu einem deutschländischen Deutsch wird auch durch die nicht geringe Zahl von muttersprachlich deutschen Redakteuren erreicht. Für die 1960er Jahre liegt mit Magenau (1964) eine Analyse der luxemburgischen Zeitungssprache vor, in der einige auch heute noch anzutreffende Luxemburgismen verzeichnet sind. Dazu gehört zum Beispiel absterben ‚versterben‘. Im Variantenwörterbuch des Deutschen (Ammon et al. 2004) wurden u. a. die folgenden Wörter aufgenommen: Automobilist (‚Autofahrer‘), Autostopper (‚Anhalter‘), Bancomat (‚Geldautomat‘), Benevolat (‚gemeinnützige Tätigkeit‘), Bering (‚Gelände‘), Clochard (‚Bettler‘), Bijoutier (‚Juwelier‘), Fanfare (‚Blasmusikverein‘), Bulletin (‚Bericht‘), Staatsstraße (‚Bundesstraße‘), Cupfinale (‚Meisterschaftsendspiel‘), Dossier (‚Angelegenheit‘), Ehrenwein (‚Umtrunk‘), Erkennungstafel (‚Nummernschild‘), Parking (‚Parkplatz‘), Schlussresultat (‚Endresultat‘), Billet (‚Fahrkarte‘), Fahrradpiste (‚Fahrradweg‘), Luxemburg 89 <?page no="90"?> Schöffenrat (‚Gemeinderat‘). Leichendienst (‚Totenmesse‘) (Gilles 2009: 194, Sieburg 2017). Über die Frequenz dieser Luxemburgismen liegen derzeit noch keine Forschungsergebnisse vor. 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen 5.2.1 Allgemeines Deutsch wird in Luxemburg hauptsächlich in der Schule erworben, und hier gilt das Ziel, bundesdeutsches Deutsch zu erwerben. Derzeit ist weder eine luxemburgische Norm des Deutschen anerkannt, noch besteht ein Wunsch nach einer solchen Variante, und daher gibt es in Luxemburg weder einen anerkannten regionalen Standard noch Dialekte des Deutschen. Wie unter 5.1 erläutert, gibt es aber Interferenzen, die aus dem Luxemburgischen ins Deutsche einfließen. 5.2.2 Kontrastive Analyse ausgewählter Konstruktionen Um das Normbewusstsein der Lehrpersonen zu untersuchen und um herauszufinden, ob so etwas wie eine luxemburgische Varietät des Deutschen existiert, beinhaltete der unter 4.3.2 bereits erwähnte Fragebogen eine Liste mit 27 Beispielsätzen mit jeweils einem bekannten Zweifelsfall. Der Fragebogen wurde 2011 an alle zu diesem Zeitpunkt existierenden staatlichen Gymnasien geschickt mit dem Ziel, 50 Deutschlehrende zu befragen, um Informationen über ihre Praxis, ihre Einstellungen und ihre Einschätzung der jeweiligen aktuellen soziolinguistischen Lage zu sammeln. Davies (2017: 134) erläutert die Methodik der Studie und die damit verbundenen Überlegungen sowie Probleme im Detail. Sie erklärt: Alle [Informanten] unterrichten an Gymnasien. Wir sind uns der Probleme, die mit Fragebogenerhebungen verbunden sind, durchaus bewusst, es lässt sich aber trotzdem auf diese Weise am ehesten eine vergleichbare und standardisierbare Auswertung durchführen. Wir hätten auch lieber ein größeres und repräsentativeres Sample gehabt, da wir aber aus früheren Untersuchungen wussten, dass Lehrende nicht immer bereit sind, an soziolinguistischen Untersuchungen teilzunehmen, hatten wir uns von Anfang an auf 50 Gewährspersonen pro Land geeinigt (die Zahl hing auch mit der niedrigeren Anzahl von Gymnasien in Luxemburg zusammen). In der Tat war es in keinem der drei Länder besonders einfach, Lehrende zur Teilnahme zu bewegen, was sich möglicherweise durch schlechte Erfahrungen mit den Pisa-Untersuchungen erklären lässt bzw. auf die Befürchtung zurückgeht, die Ergebnisse der Untersuchung könnten weitere Kritik an den Kompetenzen und Kenntnissen der Lehrenden anfachen. Die Lehrpersonen sollten diese Konstruktionen sowohl auf grammatikalische Richtigkeit als auch auf deren Akzeptabilität in spezifischen Kontexten oder Textsorten beurteilen, indem sie eine Einschätzung der Grammatizität sowie eine Korrekturabsicht angaben. Dabei wurde in drei Dimensionen unterschieden, ob eine Konstruktion (1) stets korrigiert werden muss; (2) stets uneingeschränkt akzeptierbar ist; (3) teilweise akzeptierbar (d. h. für gewisse Konstellationen oder Textsorten), die Note aber negativ beeinflussen könnte. Wyss (2017: 169) erklärt die Auswahl der 27 Konstruktionen wie folgt: Bei den getesteten Beispielen (bin gelegen; am Bügeln; in 1996; den Polizist; den Autoren; es lohnt nicht; der Tag, wo; das Auto, wo; der Mann, der wo; weil + V2; anrufen + DAT; nachdem CAUS; flech- 90 Mélanie Wagner <?page no="91"?> tete; brauchen + INF ohne ZU; es lohnt nicht X; produktive Nutzung des s-Plural; […]) handelt es sich um standardnahe und standardisierte Konstruktionen, die in der Literatur unter dem Aspekt (1) des Übergangs von Nonstandard zu Standard beschrieben werden (Elspaß 2015), eine grammatisch unklare Position hinsichtlich der Zuordnung zu Schriftlichkeit oder Mündlichkeit einnehmen (Günthner 2011) oder die hinsichtlich der diatopischen Ausdehnung in der Forschungsliteratur als über- oder grossregional (Ágel/ Hennig 2010) diskutiert werden. Getestet wurden zudem (2) grammatikhistorisch als stigmatisierte Konstruktionen bekannte Fälle (wie wegen + DAT; trotz + DAT; kausales nachdem; temporales wo; tun + INF; doppelte Perfektform; am-Progressiv; vgl. Davies/ Langer 2006) sowie (5) Varianten der plurizentrischen Standardvarietäten wie zum Beispiel Helvetismen (der Entscheid; das Kamin; bräuchte; sich den Gästen annehmen; Bögen; der Mann, welcher; focht (vgl. Meyer 2006, Bickel/ Landolt 2012) sowie ein Luxemburgismus (bei die Tante bringen). Im Folgenden wird eine Auswahl von drei Konstruktionen vorgestellt, um einen Einblick in die Perzeption der luxemburgischen Lehrpersonen bezüglich der Natur des Standarddeutschen zu gewinnen. Diese drei Konstruktionen wurden aus den 27 ausgewählt, da sie aus folgenden Gründen interessant sind (die einzelnen Konstruktionen werden in diesem Kapitel weiter unten im Detail beschrieben): das Relativpronomen welcher ist Teil des Standards und trotzdem markiert - luxemburgische Studierende, die auf Deutsch schreiben, werden oft durch ihren häufigen Gebrauch dieses Relativpronomens erkannt. Bei der Konstruktion Anrufen + Dativ kommt es häufig zu Interferenzen mit dem Luxemburgischen, und vorherigen Untersuchungen (Davies 1995) der Konstruktion brauchen + zu in Deutschland haben gezeigt, dass das Wissen der Lehrpersonen nicht der kodifizierten Norm entsprach. Die Ergebnisse werden dann mit denen aus der Schweiz und Deutschland verglichen, um zu sehen, ob es Übereinstimmung zwischen den drei Lehrpersonengruppen gibt oder ob unterschiedliche nationale Normen akzeptiert werden. Diese Analyse wird helfen, die Frage nach der Existenz einer luxemburgischen Norm des Deutschen zu beantworten, die vielleicht von den Deutschlehrpersonen in Luxemburg anerkannt, aber noch nicht als solche kodifiziert ist. Der Gebrauch von welcher Die Konstruktion ‚Der Mann, welcher mich für die Stelle empfahl, ist inzwischen in eine andere Stadt gezogen‘ wurde den Lehrpersonen vorgelegt, um ihre Reaktion auf den Gebrauch des Relativpronomens welcher zu untersuchen, d. h. ob der Gebrauch des Relativpronomens welcher von Lehrpersonen als korrekt bzw. angebracht gewertet wurde oder nicht. Durrell (2002: 98) erklärt, dass das Relativpronomen welcher hauptsächlich als stilistische Variante von der genutzt wird. Der Gebrauch ist viel seltener als der von der und hauptsächlich auf förmliches Deutsch beschränkt, und auch dort kann es gestelzt wirken (Durrell 1992: 173). Die Schwerfälligkeit des Relativpronomens welcher wird auch im Duden Richtiges und Gutes Deutsch (RGD) (2001: 933.3) beschrieben: Das Relativpronomen welcher, welche, welches wirkt im Allgemeinen schwerfällig und sollte gemieden werden Der Mann, mit dem (statt, welchem) er sprach . Relativpronomen. Luxemburg 91 <?page no="92"?> Der Duden 4 (2005: 403) 26 ist weniger negativ bezüglich des Gebrauchs des Relativpronomens welcher und stellt diesen eher als fakultativen Gebrauch zu der da: Relatives welcher. (…) Daneben kann welcher wie der/ die/ das als Relativpronomen gebraucht werden. Es gehört vornehmlich der geschriebenen Standardsprache an und wird am ehesten gebraucht, wenn durch die Verwendung von der/ die/ das mehrere gleichlautende Pronomen oder Artikel nebeneinander stünden. Zwingend ist dieser Gebrauch aber nicht. Resultate der Lehrpersonenbefragung: (1) generell verbesserungswürdig; Sie würden immer korrigieren; der Fehler beeinflusst die Note negativ (2) völlig akzeptabel, egal in welcher Textsorte (3) die Konstruktion ist akzeptabel in bestimmten geschriebenen Textsorten, könnte aber die Note negativ beeinflussen, wenn sie unangemessen verwendet würde Keine Antwort Luxemburg 19 (38 %) 17 (34 %) 11 (22 %) 3 (6 %) Schweiz 24 (48 %) 14 (28 %) 10 (20 %) 2 (4 %) Deutschland (NRW) 5 (10 %) 31 (62 %) 12 (24 %) 2 (4 %) Tab. 7: Resultate aus der Lehrerbefragung zum Gebrauch von welcher Die Auswertung der Daten zeigt, dass 38 Prozent der in Luxemburg befragten Lehrpersonen diese Konstruktion in allen Fällen als verbesserungswürdig werten. Für 34 Prozent der befragten Lehrpersonen ist der Gebrauch von welcher in allen Textformen akzeptabel und für 22 Prozent ist die Akzeptanz der Konstruktion von der Textform abhängig. Ein ähnliches Bild findet man in der Schweiz, wo sogar 48 Prozent der befragten Lehrpersonen die Konstruktion verbessern würden. Im Gegensatz zu den befragten Lehrpersonen aus Luxemburg und der Schweiz, reagierten die befragten Lehrpersonen in Deutschland durchweg positiver auf die Konstruktion, die auch im Duden als Standarddeutsch beschrieben wird. In Deutschland würden nur 10 Prozent die Konstruktion verbessern, 62 Prozent würden sie immer stehenlassen. Die Konstruktion anrufen + Dativ Die Akzeptabilität der Konstruktion anrufen + Dativ wurde anhand des Beispielsatzes ‚Wir rufen meiner Schwester an‘ getestet. Im Luxemburgischen wird das Verb uruffen (‚anrufen‘) mit dem Dativ gebraucht, was häufig zu Interferenzen im Deutschen führt. 26 Die Beschreibung der Konstruktionen beruht auf den Aussagen des Grammatikduden (2005) oder dem Duden Richtiges und Gutes Deutsch (2001). In der letzten Ausgabe des Grammatikduden (2016) nimmt Duden teilweise eine andere Position ein, und erklärt zudem explizit, keine Normgrammatik zu sein. 92 Mélanie Wagner <?page no="93"?> Der Duden online 27 beschreibt das Verb anrufen als starkes Verb, das in der Standardsprache mit Akkusativ zu benutzen ist. Weiter wird ausgeführt: „südwestdeutsch und schweizerisch umgangssprachlich auch mit Dativ: du kannst mir heute Abend noch anrufen“. Resultate der Lehrpersonenbefragung: (1) generell verbesserungswürdig; Sie würden immer korrigieren; der Fehler beeinflusst die Note negativ (2) völlig akzeptabel, egal in welcher Textsorte (3) die Konstruktion ist akzeptabel in bestimmten geschriebenen Textsorten, könnte aber die Note negativ beeinflussen, wenn sie unangemessen verwendet würde Keine Antwort Luxemburg 38 (76 %) 4 (8 %) 6 (12 %) 2 (4 %) Schweiz 43 (86 %) 5 (10 %) 2 (4 %) 0 Deutschland (NRW) 50 (100 %) 0 0 0 Tab. 8: Resultate aus der Lehrerbefragung zur Konstruktion anrufen + Dativ In Deutschland besteht 100 Prozent Einigkeit zwischen den befragten Lehrpersonen, dass die Konstruktion in allen Fällen zu verbessern sei. Dies ist jedoch nicht der Fall in Luxemburg und der Schweiz, obwohl auch hier ein Großteil der Lehrpersonen diese Meinung teilt: 76 Prozent in Luxemburg und 86 Prozent in der Schweiz. In Luxemburg sehen 8 Prozent der befragten Lehrpersonen die Konstruktion als komplett akzeptabel an, und in der Schweiz tun dies 10 Prozent. Die Tatsache, dass diese Konstruktion eher von Lehrpersonen aus Luxemburg und der Schweiz akzeptiert wird, kann mit der Regionalität der Konstruktion und dem Einfluss der lokalen Varietät erklärt werden. Die Konstruktion brauchen + zu Die Konstruktion ‚Du brauchst nicht gehen, wenn du keine Lust dazu hast‘ wurde den Lehrpersonen vorgelegt, um ihre Reaktion auf den Gebrauch des zu-Infinitivs zu erforschen. Bei vorherigen Studien zu dieser Konstruktion (Davies 1995) wurde festgestellt, dass das Normwissen (norm awareness) der Lehrer lückenhaft ist, da viele den Gebrauch von brauchen ohne zu als unangemessen einstufen, obwohl dem Duden (2005: 591 ff.) nach das Verb brauchen + Infinitiv mit oder ohne zu benutzt werden kann. 27 http: / / www.duden.de/ zitieren/ 10117467/ 1.8 (Stand: 21.10.2011). Luxemburg 93 <?page no="94"?> Resultate der Lehrpersonenbefragung: (1) generell verbesserungswürdig; Sie würden immer korrigieren; der Fehler beeinflusst die Note negativ (2) völlig akzeptabel, egal in welcher Textsorte. (3) die Konstruktion ist akzeptabel in bestimmten geschriebenen Textsorten, könnte aber die Note negativ beeinflussen, wenn sie unangemessen verwendet würde Keine Antwort Luxemburg 34 (68 %) 2 (4 %) 12 (24 %) 2 (4 %) Schweiz 30 (60 %) 6 (12 %) 14 (28 %) 0 Deutschland (NRW) 23 (46 %) 9 (18 %) 14 (28 %) 4 (8 %) Tab. 9: Resultate aus der Lehrerbefragung zur Konstruktion brauchen + zu Die Resultate dieser Studie unterstreichen klar die Uneinigkeit der Lehrer in Bezug auf diese Konstruktion. In Luxemburg und der Schweiz würden 68 Prozent respektive 60 Prozent der Lehrpersonen diese Konstruktion immer verbessern, in Nordrhein-Westfalen nur 46 Prozent. Nur 4 Prozent der luxemburgischen Lehrer finden die Konstruktion so in Ordnung, in der Schweiz und NRW sind es 12 Prozent respektive 18 Prozent. Vorläufige Schlussfolgerungen Die Analyse der von den Lehrpersonen gesammelten Daten hat gezeigt, dass es keine klare Einigkeit über den Status oder die Funktion der deutschen Sprache im luxemburgischen Klassenzimmer gibt. Die in einem vorherigen Kapitel vorgestellten Meinungen der luxemburgischen Lehrpersonen, ob Deutsch als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache unterrichtet wird bzw. werden soll, sind geteilt. Wenn man sich die Resultate der Lehrpersonenbewertung der hier vorgestellten Konstruktionen ansieht, fällt auf, dass die Bewertungen nicht immer den Empfehlungen der kodifizierten Norm entsprechen und dass auch hier Uneinigkeit herrscht. Da es keine klare Einigkeit zwischen den luxemburgischen Lehrpersonen gibt, kann man derzeit weder von einem kodifizierten luxemburgischen Standard des Deutschen noch von einem Gebrauchsstandard 28 sprechen. 28 Vgl. Ammon (1995: 401): „Wie bei allen Halbzentren bewegt sich die nationale Varietät des Deutschen in Luxemburg ganz überwiegend auf der Ebene des Gebrauchsstandards.“ 94 Mélanie Wagner <?page no="95"?> 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten Bei der 2011 in Luxemburg durchgeführten Volkszählung wurden erstmals Fragen zur Spracheinschätzung und zum Sprachverhalten der Wohnbevölkerung gestellt. Die Bewohner Luxemburgs wurden dazu aufgefordert, anzugeben, welche ihre am besten beherrschte Sprache sei sowie welche Umgangssprachen sie in ihren verschiedenen Lebensbereichen (zu Hause, Schule, Arbeit) benutzen. Bei der Frage „In welcher Sprache denken Sie und welche Sprache können Sie am besten? “ (Übersetzung RB) 29 konnte nur eine Sprache genannt werden; diese wurde dann als Hauptsprache bezeichnet. Als Antwortmöglichkeiten wurden die Sprachen Luxemburgisch, Französisch, Deutsch, Portugiesisch, Italienisch, Englisch, eine andere Sprache, nämlich: … vorgegeben. Wie man aus Tabelle 10 herauslesen kann, steht Luxemburgisch mit deutlich über der Hälfte der Nennungen (55,8 %) an der Spitze, gefolgt von Portugiesisch an zweiter (15,7 %), Französisch an dritter (12,1 %) und Deutsch an vierter Stelle (3,1 %). Sprache Häufigkeit Prozent Luxemburgisch 265.731 55,8 % Portugiesisch 74.636 15,7 % Französisch 57.633 12,1 % Deutsch 14.658 3,1 % Italienisch 13.896 2,9 % Englisch 10.018 2,1 % Sonstige Sprachen 40.042 8,4 % Summe 476.614 100,0 % Tab. 10: Hauptsprache der luxemburgischen Wohnbevölkerung (Quelle: Fehlen et al. 2013a) Laut Einschätzung von Fehlen et al. (2013a) gibt es eine starke Beziehung zwischen der Hauptsprache und der Nationalität der Befragten. Der Sprachgebrauch der Wohnbevölkerung wurde in der Volkszählung von 2011 mit folgender Frage erhoben: „Welche Sprache(n) sprechen Sie üblicherweise? “ Gefragt wurde hier jeweils nach dem Sprachgebrauch zu Hause, mit den Angehörigen und in der Schule bzw. am Arbeitsplatz. Zur Auswahl standen Luxemburgisch, Französisch, Deutsch, Portugiesisch, Italienisch, Englisch und „eine andere Sprache“, wobei in diesem Fall Mehrfachnennungen möglich waren. Mit dieser Frage wurden nicht die Sprachkenntnisse, sondern die üblicherweise gesprochene Sprache erhoben. Es ist anzunehmen, dass die Befragten mehr Sprachen beherrschen, als sie in den in der Frage vorgegebenen Kontexten sprechen. Ebenso sagen die Auswertungen nichts darüber aus, wie gut die jeweiligen Sprachen beherrscht werden. 29 „Quelle est la langue dans laquelle vous pensez et que vous savez le mieux? “ Luxemburg 95 <?page no="96"?> Wie man in Tabelle 11 sehen kann, haben 70,5 Prozent der Befragten Luxemburgisch als Umgangssprache angegeben, gefolgt von Französisch (55,7 %) und Deutsch (30,6 %). Umgangssprache Häufigkeit Prozent Luxemburgisch 323.557 70,5 % Französisch 255.669 55,7 % Deutsch 140.590 30,6 % Englisch 96.427 21,0 % Portugiesisch 91.872 20,0 % Italienisch 28.561 6,2 % Sonstige Sprachen 55.298 12,1 % Summe 458.900 100,0 % Tab. 11: Umgangssprache der luxemburgischen Wohnbevölkerung (Quelle: Fehlen et al. 2013b) Wenn man sich die Zahlen der Sprachen ansieht, die zu Hause oder bei der Arbeit gesprochen werden, fällt auf, dass bei 39,8 Prozent der Befragten eine Sprache und bei allen anderen mehr als eine Sprache gesprochen wird. Der Großteil der Bevölkerung Luxemburgs spricht in seinem Alltag also mehr als eine Sprache und wechselt zwischen diesen. Laut Fehlen et al. (2013b) ist die häufigste paarweise Kombination der Umgangssprachen „Luxemburgisch und Französisch“ (35,3 %), gefolgt von „Luxemburgisch und Deutsch“ (27,1 %) und „Deutsch und Französisch“ (25,9 %). 30 Leider gibt es keine Gründe oder Erklärungen für die Sprachwahl oder Sprachwechsel. 6.2 Kommunikationssituationen des Deutschen Deutsch ist in Luxemburg selten Sprache der mündlichen Kommunikation, es sei denn diese Kommunikation findet im schulischen Kontext statt, oder aber es sind deutschsprachige Gesprächspartner dabei. Im privaten oder geschäftlichen Bereich wird in Luxemburg hauptsächlich Luxemburgisch, Französisch oder Englisch gesprochen. Im privaten Bereich wird zunehmend auf Luxemburgisch und dadurch weniger auf Deutsch geschrieben. In vielen Bereichen ist Deutsch eine der Sprachen, die sowohl mündlich wie schriftlich zum Einsatz kommen; ein Beispiel hierfür ist die Wissenschaft: Laut Sieburg (2017: 27) rangiert Deutsch an zweiter Stelle (19 %) der wissenschaftlichen Veröffentlichungen an der Universität Luxemburg - hinter dem Englischen mit 65 Prozent und vor dem Französischen mit 13 Prozent. Domänen, die mit der deutschen Sprache in Verbindung gebracht werden können, sind die Kirche und, wie schon erwähnt, die Schule. Als Amtssprache hat Deutsch nach wie vor eine wichtige Funktion, besonders im Bereich der öffentlichen Kommunikation auf kommunaler Ebene (Scheer 2017). Im Allgemeinen muss man sagen, dass Deutsch in Luxemburg eine wichtige Rolle spielt, aber sicher nicht die Hauptrolle. 30 Die Befragten nannten bis zu sieben verschiedene Umgangssprachen. Allerdings wurden nur die Zweierkombinationen ausgewertet bzw. veröffentlicht. 96 Mélanie Wagner <?page no="97"?> 7 Spracheinstellungen Sieburg (2016) weist darauf hin, dass in Luxemburg die historische Erfahrung mit den großen Nachbarstaaten keineswegs unbelastet sei - insbesondere die Okkupation durch Nazi-Deutschland sei im kollektiven Bewusstsein noch fest verankert und habe auch Nachwirkungen auf das Prestige der deutschen Sprache. Dies ist vor allem bei den älteren Generationen der Fall, die die deutsche Sprache in Verbindung mit der Besetzungszeit und dem Zweiten Weltkrieg bringen. Eine Studie zum Schriftverkehr zur Zeit des Zweiten Weltkriegs (Wagner 2011) hat gezeigt, dass für Schreiber dieser Generationen Luxemburgisch die Rolle und Funktionen der Nähesprache (Koch/ Oesterreicher 1985) einnimmt. Die luxemburgische Sprache ist die Sprache, in der Schreiber Emotionen, Gefühle und Sorgen ausdrücken können und in der man an seine Lieben schreibt. Es wird als einfacher empfunden, sich in dieser Sprache auszudrücken und mit Angehörigen in der Sprache schriftlich zu kommunizieren, in der man auch mit ihnen verbal kommuniziert. Die luxemburgische Sprache vermittelt vielen Schreibern ein „Wir-Gefühl“, ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und von Solidarität, ein Gefühl, das von „den Anderen“ und deren Sprachen und Identitäten bedroht zu sein scheint. Die deutsche Sprache wurde eher als Distanzsprache gesehen - es war die Sprache der Anderen, der Besetzer und derer, die einem versuchten, ihre Sprache aufzuzwingen (für Details vgl. Wagner 2011). Diese negative Einstellung gegenüber der deutschen Sprache relativierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder etwas. Auch wenn die Besetzung in Erinnerung blieb und die Einstellung gegenüber den Deutschen und der deutschen Sprache noch eine längere Zeit beeinflusste, blieb Deutsch in Luxemburg sehr lange Schriftsprache für viele Luxemburger, die das Schreiben des Luxemburgischen scheuten, und ist auch heute noch Alphabetisierungs- und Unterrichtssprache (Wagner 2011). Allerdings hat sich diese Situation in den letzten Jahren etwas verändert. In einem Interview mit der luxemburgischen Tageszeitung Luxemburger Wort erklärte Peter Gilles im Jahr 2012: Die ganz große Chance [für das Luxemburgische] bieten aber die neuen Medien und das Internet: Beim Verfassen von SMS, beim Schreiben von E-Mails, bei Einträgen im Facebook benutzen Luxemburger sozusagen nur noch das Luxemburgische - hier herrscht die Einsprachigkeit. 31 Luxemburgisch wird demnach häufig als schriftliches Kommunikationsmittel in den neuen Medien genutzt, und auch Privatpersonen greifen immer häufiger auf Luxemburgisch als geschriebene Sprache zurück. Dies führt dazu, dass das Luxemburgische das Deutsche in immer mehr Domänen zurückdrängt. Die Tatsache, dass Deutsch als Schriftsprache in Luxemburg an Boden verliert, gepaart mit der Tatsache, dass Deutsch in Luxemburg auch nicht gesprochene Sprache der luxemburgischen Bevölkerung bzw. Umgebungs- oder Zweitsprache ist, wirft die Frage auf, ob Luxemburg tatsächlich noch ein Halbzentrum wie in Ammons vorgestelltem Modell der Plurizentrik des Deutschen (Ammon et al. 2004: XLVIII) darstellt. 31 https: / / www.wort.lu/ de/ lokales/ professor-peter-gilles-luxemburgisch-ist-eine-success-story-4f61f8e8e- 4b0860580ac19de (Letzter Zugriff 8.11.2018). Luxemburg 97 <?page no="98"?> 8 Linguistic Landscape Eine Untersuchung zur Linguistic Landscape Luxemburgs aus dem Jahr 2010 (Gilles et al. 2010: 91) hat gezeigt, dass die Beschilderung in Luxemburg mehrsprachig ist. Insgesamt wurden zirka 600 digitale Fotos, die in fünf Ortschaften (Luxemburg-Stadt, Wiltz, Vianden, Esch/ Alzette und Junglinster) zwischen Oktober 2007 und Juni 2009 aufgenommen wurden, untersucht. Bei den meisten analysierten Zeichen handelt es sich um offizielle Beschilderung, Geschäftsbeschilderung, Aushänge, Poster oder private Schilder. Ausgeschlossen blieben Adressschilder, Speisekarten, Reklamen für bestimmte Produkte oder Graffiti. Im Folgenden werde ich kurz auf die Resultate der Studie eingehen. Die Zeichen wurden danach untergliedert, ob es sich um ein- oder mehrsprachige Zeichen handelte sowie ob es top-down- (von staatlichen, oder quasi staatlichen Institutionen) oder bottom-up-Zeichen (von Privatpersonen, Geschäften oder Firmen) waren. Hinsichtlich dieser Merkmale setzte sich das Korpus wie in Tabelle 12 zusammen: Top-down-Zeichen Bottom-up-Zeichen Einsprachig 95 227 Mehrsprachig 103 159 Tab. 12: Verteilung von ein-/ mehrsprachigen und top-down-/ bottom-up-Zeichen Hier zeichnet sich ab, dass top-down-Zeichen häufiger mehrsprachig sind als bottom-up-Zeichen. Als mehrsprachig wurden solche Zeichen gewertet, die zwei- oder dreisprachig waren. Die Analyse der Sprachenverteilung bei den einsprachigen top-down-Zeichen hat ergeben, dass das Französische mit 67 Prozent am meisten vorkommt, während das Luxemburgische mit großem Abstand (17 %) an zweiter Stelle liegt. Deutsch liegt mit 6 Prozent an vierter Stelle, hinter Englisch mit 8 Prozent. Interessant ist auch, dass die Sprachenverteilung sich im top-down- und im bottom-up-Bereich unterscheidet: Im bottom-up-Bereich liegt Französisch auch klar an erster Stelle (58 %), Englisch (15 %) jedoch vor Luxemburgisch (13 %) und Deutsch (11 %). Luxemburgisch Französisch Deutsch Englisch Portugiesisch Italienisch Chinesisch Total Topdown 16 64 6 8 1 0 0 95 Proportion in % 18 67 6 8 1 0 0 100 Bottomup 30 132 25 33 2 3 2 227 Proportion in % 13 58 11 15 1 1 1 100 Tab. 13: Sprachverteilung bei einsprachigen Zeichen 98 Mélanie Wagner <?page no="99"?> Für die mehrsprachigen Zeichen ergab die Analyse, dass es eine Vielzahl von unterschiedlichen Sprachkombinationen gibt: Es wurde hier zwischen zwei- und dreisprachigen Zeichen unterschieden. Die Reihenfolge der Sprachen wurde auch untersucht und durch die Sprachenfolge in der Kombination gekennzeichnet. Auffällig ist, dass es keine Zeichen gibt, auf denen Luxemburgisch zusammen mit Deutsch präsentiert wird. Bei den top-down-Zeichen ist die häufigste Kombination Französisch-Deutsch (50 %) bzw. Französisch-Deutsch-Englisch (52 %). Der heterogene Charakter der luxemburgischen Sprachlandschaft fällt auf jeden Fall durch die verschiedenen möglichen Sprachenkombinationen auf. FR- LU LU- FR LU- DE FR- DE DE- FR FR- EN EN- FR DE- EN FR- NL Andere Total Topdown 4 10 0 40 3 13 7 0 0 3 80 Proportion in % 5 12 0 50 4 16 9 0 0 4 100 Bottom-up 16 5 0 25 4 18 13 6 15 26 128 Proportion in % 12 4 0 20 3 14 10 5 12 20 100 Tab. 14: Sprachverteilung bei zweisprachigen Zeichen Auch bei der Sprachenverteilung bei den dreisprachigen Zeichen wird klar, dass Französisch immer präsent ist, Luxemburgisch jedoch kaum. Deutsch ist im Gegensatz zu Englisch nie an erster Position auszumachen. FR-DE-EN FR-EN-DE EN-FR-DE EN-DE-FR Andere Total Topdown 12 3 2 2 4 23 Proportion in % 52 13 8 8 17 100 Bottomup 11 1 3 4 9 28 Proportion in % 39 3 10 14 32 100 Tab. 15: Sprachverteilung bei dreisprachigen Zeichen Mit Hilfe der App Lingscape (Purschke 2017) , die 2016 an der Universität Luxemburg entwickelt wurde, werden derzeit ständig Daten zur Sprachenlandschaft Luxemburgs gesammelt, die in Zukunft ein genaueres Bild der Sprachenverteilung im öffentlichen Raum in Luxemburg liefern werden. Luxemburg 99 <?page no="100"?> 9 Faktorenspezifik Die Mehrsprachigkeit Luxemburgs ist historisch gewachsen und durch die geographische und demographische Situation begünstigt. Das Sprachengesetz von 1984 regelt den Status der luxemburgischen, französischen und deutschen Sprache in Luxemburg und erkennt diese drei Sprachen als administrative Sprachen des Landes an. Deutsch spielt eine wichtige Rolle im luxemburgischen Schulsystem, da Deutsch Alphabetisierungsund, vor allem in den ersten Schuljahren, Unterrichtssprache ist. Im Alltag spielt die deutsche Sprache vor allem als geschriebene Sprache eine nicht unerhebliche Rolle - ein Großteil der geschriebenen Presse wird auf Deutsch gedruckt, und auch im geschäftlichen oder privaten Bereich entscheiden Teile der Bevölkerung sich dafür, auf Deutsch zu schreiben. Hier konkurriert die deutsche Sprache allerdings auch mit den anderen Sprachen des Landes und mit Englisch, einer Sprache die durch die Internationalisierung des Landes eine immer größere Rolle spielt. Im privaten Bereich wird das Deutsche immer weiter durch das Luxemburgische zurückgedrängt, da in immer mehr Bereichen, die bis vor wenigen Jahren mit der deutschen Sprache in Verbindung gebracht wurden, nun Luxemburgisch geschrieben wird (z. B. E-Mails, Notizen, Briefe, Leserbriefe, SMS, Blogs, Facebook). Literatur Ágel, Vilmos/ / Hennig, Mathilde (Hrg.) (2010): Nähe und Distanz im Kontext variationslinguistischer Forschung. Berlin/ New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin/ New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich/ Bickel, Hans/ Lenz, Alexandra N. (Hrg.) (2016): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Berlin: de Gruyter. Berg, Charles/ Weis, Christiane (2005): Sociologie de l’enseignement de langues dans un environnement multilingue. Rapport national en vue de l’élaboration du profil des politiques linguistiques éducatives luxembourgeoises. Luxemburg: Ministère de l’Education nationale et de la Formation professionnelle et Centre d’études sur la situation des jeunes en Europe. Berg, Guy (1993): Mir wëlle bleiwe, wat mir sin: Soziolinguistische und sprachtypologische Betrachtungen zur luxemburgischen Mehrsprachigkeit. Tübingen: Max Niemeyer. Beyer, Rahel/ Gilles, Peter/ Moliner, Olivier/ Ziegler, Evelyn (2014): Sprachstandardisierung unter Mehrsprachigkeitsbedingungen. Das Deutsche in Luxemburg im 19. Jahrhundert. In: Schmid, Hans Ulrich/ Ziegler, Arne (Hrg.): Jahrbuch für germanistische Sprachgeschichte. Berlin: de Gruyter, S. 283-298. Bickel, Hans/ Landolt, Christoph (2012): Duden Schweizerhochdeutsch. Wörterbuch der Standardsprache in der deutschen Schweiz. Mannheim/ Zürich: Dudenverlag. Clyne, Michael G. (1984): Language and Society in the German-speaking Countries. Cambridge: Cambridge University Press. Clyne, Michael G. (1992): German as a Pluricentric Language. In: Clyne, Michael G. (Hrg.): Pluricentric Languages: Differing Norms in Different Nations. Berlin: Mouton de Gruyter, S. 117-147. Cornelissen, Georg (2005): Rheinisches Deutsch. Wer spricht wie mit wem und warum. Köln: Greven. Davies, Winifred V. (1995): Linguistic Variation and Language Attitudes in Mannheim-Neckarau. Stuttgart: Franz Steiner. 100 Mélanie Wagner <?page no="101"?> Davies, Winifred V. (2000): Linguistic Norms at School: a Survey of Secondary-school Teachers and Trainee Teachers in a Central German Dialect Area. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, 67, S. 129-147. Davies, Winifred V. (2005): Deutschlehrer und Deutschlehrerinnen (in Deutschland) als Geber und Vermittler von sprachlichen Normen. In: Roggausch, Werner (Hrg.): Germanistentreffen. Deutschland - Großbritannien - Irland. Dresden 2004. Tagungsbeiträge. Bonn: DAAD, S. 323-338. Davies, Winifred V. (2017): Gymnasiallehrkräfte in Nordrhein-Westfalen als SprachnormvermittlerInnen und Sprachnormautoritäten. In: Davies, Winifred V./ Häcki Buhofer, Annelies/ Schmidlin, Regula/ Wagner, Melanie/ Wyss, Eva L. (Hrg.): Standardsprache zwischen Norm und Praxis. Tübingen: Narr Francke Attempto, S. 123-146. Davis, Kathryn A. (1994): Language Planning in Multilingual Contexts. Amsterdam: John Benjamins. Doemer, Leon/ Groben, Joseph/ Hurt, Jean-Paul (2005): Sprachbuch und Arbeitsheft für den Deutschunterricht in Luxemburg. Luxemburg: Ministère de l’Education nationale et de la Formation professionnelle. Duden. Richtiges und gutes Deutsch (2001): Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle. Hrg. von der Dudenredaktion. Mannheim: Dudenverlag. Duden. Die Grammatik (2005): Unentbehrlich für richtiges Deutsch. Mannheim: Dudenverlag. Durrell, Martin (2002): Hammer’s German grammar and usage. London: Arnold. Elspaß, Stephan (2015): Der Wert einer Sprachgeschichte von unten für die Erforschung regionaler Sprachen und Varietäten. In: Fredstedt, Elin/ Langhanke, Robert/ Westergaard, Astrid (Hrg.): Modernisierung in kleinen und regionalen Sprachen. Hildesheim u.a.: Olms, S. 151-177. Fehlen, Fernand (2009): BaleineBis: Une enquête sur un marché linguistique multilingue en profonde mutation. Luxemburgs Sprachenmarkt im Wandel. Luxemburg: Sesopi. Fehlen, Fernand/ Heinz, Andreas/ Peltier, François/ Thill, Germaine (2013a): Recensement de la population 2011. Premiers résultats N°17. Juin 2013. La langue principale, celle que l’on maîtrise le mieux. Abrufbar unter: https: / / statistiques.public.lu/ catalogue-publications/ RP2011-premiers-resultats/ 2013/ 17-13-FR.pdf. (Letzter Zugriff 8.11.2018). Fehlen, Fernand/ Heinz, Andreas/ Peltier, François/ Thill, Germaine (2013b): Recensement de la population 2011. Premiers résultats N°13. Avril 2013. Umgangssprache(n). Abrufbar unter: https: / / statistiques.public.lu/ catalogue-publications/ RP2011-premiers-resultats/ 2013/ 13-13-DE.pdf. (Letzter Zugriff 8.11.2018). Gilles, Peter (1999): Dialektausgleich im Lëtzebuergeschen. Zur phonetisch-phonologischen Fokussierung einer Nationalsprache. Tübingen: Niemeyer. Gilles, Peter/ Moulin, Claudine (2003): Luxembourgish. In: Deumert, Ana/ Vandenbussche, Wim (Hrg.): Germanic Standardizations - Past to Present. Amsterdam: de Gruyter, S. 303-329. Gilles, Peter (2008): Luxemburgisch in der Mehrsprachigkeit - Soziolinguistik und Sprachkontakt. In: Elmentaler, Michael (Hrg.): Deutsch und seine Nachbarn. Frankfurt: Peter Lang, S. 185-200. Gilles, Peter/ Seela, Sebastian/ Sieburg, Heinz/ Wagner, Melanie (2010): Sprachen und Identitäten. In: IPSE - Identités, Politiques, Sociétés, Espaces (Hrg.): Doing Identity in Luxembourg. Bielefeld: Transcript, S. 63-104. Günthner, Susanne (2011): Übergänge zwischen Standard und Non-Standard - welches Deutsch vermitteln wir im DaF-Unterricht? In: Bulletin VALS ASLA. Sprachkompetenz in Ausbildung und Beruf. Übergänge und Transformationen, 94, S. 24-47. Hannappel, Hans/ Herold, Theo (1985): Sprach- und Stilnormen in der Schule. Eine Umfrage unter Gymnasiallehrern. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 16, S. 54-66. Heinz, Andreas/ Thill, Germaine/ Peltier, François (2013): Recensement de la population 2011. Premiers résultats N° 27. Deutsche in Luxemburg. Luxembourg: Statec. Luxemburg 101 <?page no="102"?> Hoffmann, Fernand (1979): Sprachen in Luxemburg. Sprachwissenschaftliche und literaturhistorische Beschreibung einer Triglossie-Situation. Wiesbaden: Franz Steiner. Hoffmann, Fernand (1988): Letzebuergisch. Mundart und Nationalsprache. In: Brücher, Franke (Hrg.): Problem von Grenzregionen. Saarbrücken: Philosophische Fakultät, Universität des Saarlandes, S. 49-66. Horner, Kristine/ Weber, Jean-Jacques (2008): The Language Situation in Luxembourg. In: Current Issues in Language Planning, 9, 1, S. 69-128. Jäger, Siegfried (1981): Zum Problem der sprachlichen Norm und seiner Relevanz für die Schule. In: Muttersprache, 81, S. 162-175. Kloss, Heinz (1978): Die Entwicklung neuer germanischer Kultursprachen seit 1800. 2., erw. Aufl. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann. Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf (1985): Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch, 36, 85, S. 15-43. Kühn, Peter (2008): Bildungsstandards Sprachen. Leitfaden für den kompetenzorientierten Sprachenunterricht an Luxemburger Schulen. Luxemburg: Ministère de l’éducation nationale et de la Formation professionnelle. Kraemer, Jean-Pierre (1993): Luxembourg. In: Nelde, Peter H. (Hrg.): Multilingual Concepts in the Schools of Europe. Tübingen: Niemeyer, S. 162-173. Kramer, Johannes (1994): Lëtzebuergesch. Eine Nationalsprache ohne Norm. In: Fodor, Istvân/ Hagège, Claude (Hrg.): Sprachreform. Geschichte und Zukunft. Volume IV. Hamburg: Buske, S. 391-405. Legilux (2013): Loi du 24 février 1984 sur le régime des langues. Abrufbar unter: http: / / www.legilux. public.lu/ leg/ a/ archives/ 1984/ 0016/ a016.pdf#page=6 (Letzter Zugriff 28.11.2018). Meyer, Antoine (1829): E’ Schrek ob de’ Lezeburger Parnassus. Luxembourg: J. Lamort. Meyer, Antoine (1854): Règelbüchelchen vum Lezeburger Orthœgraf. En Uress, als Prôv, d’ Fraèchen aus dem Hâ, a Versen. Liège: Dessain. Meyer, Kurt (2006): Schweizer Wörterbuch. So sagen wir in der Schweiz. Frauenfeld/ Stuttgart/ Wien: Huber. MEN (1989): Plan d’études. Luxembourg. MEN (2011): Liste der luxemburgischen Gymnasien. Abrufbar unter: http: / / www.men.public.lu/ ministere/ ecoles_services_externes/ 110504_lycees_publics.pdf. (Stand: September 2011). MEN (2013): Horaires et Programmes. Abrufbar unter: http: / / portal.education.lu/ programmes/ ProgrammeSecondaire.aspx. (Stand: September 2013). Menge, Heinz H. (2000): Sprachgeschichte des Ruhrgebiets. In: Macha, Jürgen et al. (Hrg.): Rheinisch-Westfälische Sprachgeschichte. Köln: Böhlau, S. 337-347. Naglo, Kristian (2007): Rollen von Sprache in Identitätsbildungsprozessen multilingualer Gesellschaften in Europa. Eine vergleichende Betrachtung Luxemburgs, Südtirols und des Baskenlands. Frankfurt am Main: Peter Lang. Pigeron-Piroth, Isabelle/ Fehlen, Fernand (2015): Les langues dans les offres d’emploi au Luxembourg (1984-2014). Working Paper Juin 2015. Walferdange: Université du Luxembourg. Purschke, Christoph (2017): Crowdsourcing the Linguistic Landscape of a Multilingual Country. Introducing Lingscape in Luxembourg. In: Linguistik Online, 85, S. 181-202. Scharloth, Joachim (2005): Asymmetrische Plurizentrizität und Sprachbewusstsein: Einstellungen der Deutschschweizer zum Standarddeutschen? In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik, 33, S. 236-267. Scheer, Fabienne (2017): Deutsch in Luxemburg. Positionen, Funktionen und Bewertungen der deutschen Sprache. Tübingen: Narr Francke Attempto. 102 Mélanie Wagner <?page no="103"?> Sieburg, Heinz (2013): Die Stellung der deutschen Sprache in Luxemburg. In: Sieburg, Heinz (Hrg.): Vielfalt der Sprachen - Varianz der Perspektiven. Zur Geschichte und Gegenwart der Luxemburger Mehrsprachigkeit. Bielefeld: Transcript, S. 81-106. Sieburg, Heinz (2016): Die Rolle der deutschen Sprache bei der Herausbildung der luxemburgischen National-Identität. In: Zhu, Jianhua/ Zhao, Jin/ Szurawitzki, Michael (Hrg.): Germanistik zwischen Tradition und Innovation. Akten des XIII. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG), Shanghai, 23.-30.8.2015. Bd. 2: Angewandte Fachsprachenforschung - Konstruktionen im Sprachvergleich - Deutsch in Bewegung: Grammatische Variation in der Standardsprache - Sprache und Identität: kulturelle, politische und soziale Perspektiven - Zweisprachige Lexikografie: Entwicklung, Stand, Tendenzen - Text und (hyper)mediale Kultur. Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 333-337). Sieburg, Heinz (2017): Funktionen, Wertungen und Perspektiven der deutschen Sprache in Luxemburg. Mit Beobachtungen zur Rolle als Wissenschaftssprache. In: Muttersprache, 127, 1-2, S. 22-29. Sieburg, Heinz (2017): Luxemburger Standarddeutsch? Hintergründe und Perspektiven. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie, 136, S. 125-143. Statec (2017): Le Luxembourg en Chiffres. Luxemburg: Statec. Abrufbar unter: https: / / statistiques. public.lu/ catalogue-publications/ luxembourg-en-chiffres/ 2017/ luxembourg-chiffres.pdf. (Letzter Zugriff 6.11.2018). Thewes, Guy (2018): Apropos… Geschichte Luxemburgs. Luxemburg: Informations- und Presseamt der Luxemburger Regierung. Wagner, Melanie (2009): Lay Linguistics and School Teaching: An Empirical Sociolinguistic Study in the Moselle-Franconian Dialect Area. Stuttgart: Franz Steiner. Wagner, Melanie M. (2010): Lesenlernen. Die Situation in Luxemburg. In: Lutjeharms, Madeline/ Schmidt, Claudia (Hrg.): Lesekompetenz in Erst-, Zweit- und Fremdsprache. Tübingen: Gunter Narr, S. 117-128. Wagner, Melanie (2011): Private Literacies - Strategies for Writing Luxembourgish in World War II. In: Gilles, Peter/ Wagner, Melanie (Hrg.): Linguistische und soziolinguistische Bausteine der Luxemburgistik. Frankfurt: Peter Lang, S. 203-228. Wagner, Melanie (2016): German at Secondary Schools in Luxembourg. A First, Second or Foreign Language? Pluricentricity on Test. In: Muhr, Rudolf (Hrg.): Pluricentric Languages and Non-Dominant Varieties Worldwide. Part I: Pluricentric Languages across Continents. Features and Usage. Weber, Jean-Jacques/ Horner, Kristine (2012): The Trilingual Luxembourgish Schoolsystem in Historical Perspective: Progress or Regress? In: Language, Culture and Curriculum, 25, 1, S. 3-15. Welter, Nikolaus (1914): Das Luxemburgische und sein Schrifttum. Luxemburg: Gustave Soupert. Wyss, Eva L. (2017) Sprachnormurteile im Dilemma. Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer an Deutschschweizer Gymnasien beurteilen Sprachkompetenzen, Sprachgebrauch und Zweifelsfälle. In: Davies, Winfred V./ Häcki Buhofer, Annelies/ Schmidlin, Regula/ Wagner, Melanie/ Wyss, Eva L. (Hrg.): Standardsprache zwischen Norm und Praxis. Tübingen: Narr Francke Attempto. Luxemburg 103 <?page no="105"?> Der germanophone Teil Lothringens Rahel Beyer / Fernand Fehlen 1 Geographische Lage 2 Demographie und Statistik 3 Geschichte 3.1 Die Sprachgrenze als diskursives Konstrukt 3.2 Ancien Regime 3.3 Von der Französischen Revolution bis 1870 3.4 Eine Region als Spielball im Machtkampf verfeindeter Nachbarn 3.5 Nach dem Zweiten Weltkrieg 4 Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung 4.1 Wirtschaftliche Situation 4.2 Politische Situation 4.3 Rechtliche Stellung des Deutschen, Schulsystem, offizielle Sprachregelungen 4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien, Literatur 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Kontaktsprachen 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen 5.3 Sprachenwahl und Code-Switching 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Allgemeines 6.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten 6.3 Sprachgebrauch: Sprecherkonstellationen und -typen 6.4 Monologische Sprechsituationen, schriftlicher Sprachgebrauch und Mediennutzung 6.5 Kommunikationssituationen des Deutschen 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation 7.3 Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache als Identitätsmerkmal 8 Linguistic Landscape 9 Zusammenfassung Literatur 1 Geographische Lage 1 Zusammen mit den drei Departements Meurthe-et-Moselle, Meuse und Vosges bildete das Departement Moselle über lange Jahre die Region Lothringen (Lorraine). Diese ist seit einer 1 Abschnitte 1-4 verfasst von Fernand Fehlen, Abschnitte 5-9 von Rahel Beyer. <?page no="106"?> kürzlich erfolgten Territorialreform (1.1.2016) zusammen mit den beiden ehemaligen Regionen Elsass (Alsace) und Champagne-Ardenne in einer neuen Region Grand-Est aufgegangen. Abb. 1: Lage des Departements Moselle in der Region Grand-Est 2 Die germanisch-romanische Sprachgrenze trennt das Departement Moselle in zwei Hälften: eine romanophone und eine germanophone. Letztere erstreckt sich über eine Fläche von zirka 3.335 km 2 und grenzt im Norden an das Saarland, im Osten an das Elsass (Departement Bas- Rhin) und im Nordwesten an Luxemburg. Es handelt sich um eine über lange Zeit hinweg ländliche Gegend mit wenigen kleinen Städten, die nie mit den Kultur- und Verwaltungszentren von Metz und Nancy im frankophonen Gebiet konkurrieren konnten: Die schon früh zur französischen Sprachinsel gewordene Garnisons- und Verwaltungsstadt Thionville (Diedenhofen/ Didenhueven), das für seine Keramikmanufakturen bekannte Sarreguemines (Saargemünd/ Saargemìnn) und die am Ende des 19. Jahrhunderts im Kohlebecken entstandenen Industriesiedlungen Forbach (Forbach/ Fuerboch) und Saint-Avold (Sankt Avold/ Sänt Avuur). Das Fehlen eines urbanen, intellektuellen Zentrums im germanophonen Teil Lothringens und die damit einhergehende geringe kulturelle Produktion ist vermutlich einer der Gründe, weshalb diese sprachliche Landschaft sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft allzu oft übersehen und nicht weiter beleuchtet wurde (vgl. Ammon 2015: 313) oder gänzlich unberücksichtigt blieb (Hughes 2005: 138). Oft wird das deutschsprechende Lothringen zusammen mit dem Elsass behandelt, obwohl es sich sowohl dialektologisch als auch soziolinguistisch um ein eigenständiges Gebiet mit spezifischen Verhältnissen handelt. 2 Quelle: https: / / commons.wikimedia.org/ w/ index.php? curid=65980217 (Letzter Zugriff 13.11.2018). 106 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="107"?> 2 Demographie und Statistik Das Departement Moselle hat heute ungefähr eine Million Einwohner. Etwa die Hälfte seiner Gemeinden befindet sich im traditionell deutschsprachigen Gebiet, wo auch etwa die Hälfte seiner Einwohner leben. Französischer Name Deutscher Name Name auf Lothringer Platt Einwohner Metz Metz 119.775 Thionville Diedenhofen Didenhueven 41.961 Forbach Forbach Fuerboch 22.102 Montigny-lès-Metz 21.974 Sarreguemines Saargemünd Saargemìnn 21.956 Saint-Avold Sankt Avold Sänt Avuur 16.345 Yutz 16.253 Hayange 15.956 Fameck 14.328 Woippy 13.875 Creutzwald Kreuzwald Kreizwald 13.623 Freyming-Merlebach Freimingen- Merlenbach Ménge-Merlebach 13.494 Sarrebourg Saarburg Saarbuerj 12.652 Stiring-Wendel Stieringen-Wendel Stiringe 12.569 Departement Moselle 1.065.894 Lorraine 2.397.322 Grand-Est 5.679.943 Frankreich 67.357.997 Tab. 1: Größere Ortschaften (Einwohner >12.000) im Departement Moselle (Namen von Ortschaften im traditionell deutschsprachigen Gebiet sind auf Deutsch und Platt angegeben) Bis nach dem Zweiten Weltkrieg beherrschte dort die Bevölkerung weitgehend das Lothringer Platt sowie Deutsch und Französisch, wie durch zahlreiche Volkszählungen belegt ist. Tabelle 2 zeigt das Ergebnis der vier letzten Volkszählungen, in denen Sprachenfragen gestellt wurden. 3 Die angegebenen Prozentsätze beziehen sich auf die Gesamtheit des Departements Moselle, schließen also die traditionellen französischsprachigen Gebiete mit ein. Für das deutschsprachige Gebiet ist somit ein deutlich höherer Wert anzusetzen. 3 In diesem Abschnitt liegt der Fokus auf den historischen Verhältnissen bezüglich der Verteilung der Sprachformen innerhalb der Sprechergemeinschaft. Für die aktuelle Situation s. Abschnitt 5.2.5. Der germanophone Teil Lothringens 107 <?page no="108"?> Mundart Französisch Deutsch 1931 44,5 % 64,6 % 69,0 % 1936 43,1 % 74,3 % 67,6 % 1946 48,2 % 80,7 % 74,0 % 1962 39,0 % 91,0 % 41,6 % Tab. 2: Die im Departement Moselle gesprochenen Sprachen nach vier Volkszählungen (Prozentsatz der Gesamtbevölkerung) (Quelle: Laumesfeld 1996: 20) An den Ergebnissen lässt sich ein Rückgang der Mundartsprecher seit dem Zweiten Weltkrieg ablesen - ihr Anteil fiel von 48 Prozent im Jahre 1946 auf 39 Prozent im Jahre 1962 - und den noch stärkeren Rückgang derer, die Deutschkenntnisse angaben - von 74 Prozent auf 42 Prozent. Dabei muss allerdings bedacht werden, dass diese Angaben weder reale Sprachkenntnisse noch den alltäglichen Sprachgebrauch beschreiben, sondern oftmals ein Loyalitätszeugnis gegenüber einer durch die Sprache symbolisierten Gemeinschaft widerspiegeln (siehe 3.5). Abbildung 2 zeigt die traditionellen deutschsprachigen Bezirke mit dem Anteil der Mundartsprecher im Jahre 1962, der vor allem in den ländlichen Gebieten des Bitscherlandes und um Sarreguemines/ Saargemünd mit Werten bis 90 Prozent noch sehr hoch war. Abb. 2: Prozentanteil der Platt-Sprecher nach der Volkszählung von 1962 4 Die beiden Nachkriegszählungen nennen für das Jahr 1954 364.966 und für das Jahr 1962 313.000 Mundartsprecher. Seither wurde in Volkszählungen keine Sprachenfrage mehr gestellt. Die einzige weitere amtliche - allerdings nur stichprobenbasierte - Erhebung stammt 4 Quelle: Auburtin 2002: 110. 108 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="109"?> aus dem Jahre 1999 (Héran 2002). Sie schätzt die Zahl der Mundartsprecher für das Departement Moselle auf 78.000 (siehe 5.2.5). Danach wurden keine Sprachenerhebungen mehr durchgeführt, so dass alle aktuelleren Sprecherzahlen auf empirisch nicht belegten Schätzungen diverser Sprachvereine beruhen, die auch Eingang in amtliche Veröffentlichungen finden. So zum Beispiel in eine dem Lothringer Platt gewidmeten Nummer des Newsletters des dem Kulturministerium unterstellten Observatoire des pratiques linguistiques (Beobachtungstelle des Sprachgebrauchs), das auf eine Schätzung zwischen 200.000 und 500.000 Sprechern verweist (Rispail 2014: 2). Abweichend davon geht das sich auf eine Weiterschreibung von Héran (2002) berufende Comité consultatif pour la promotion des langues régionales (Beirat für die Förderung der Regionalsprachen) von 100.000 regelmäßigen und 80.000 gelegentlichen Sprechern aus (Comité 2013: 94). 3 Geschichte 3.1 Die Sprachgrenze als diskursives Konstrukt In der lokalen Erinnerungskultur und auch in rezenten populärwissenschaftlichen Publikationen wird der Ursprung des Lothringer Platts auf die Besiedlung der Region durch die salischen Franken im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. zurückgeführt. Der germanische Ursprung praktisch aller Ortsnamen des Arrondissement Thionville - 35 Prozent der 72 Gemeinden haben einen auf -ingen (frz. -ange ) endenden Namen (Hutting, Malling, Buzing), 11 Prozent einen auf -om , -em , -heim oder -ham (Cattenom, Fixem, Basse-Ham) - muss als Beleg herhalten, um dieses Territorium als Siedlungsgebiet der freien „fränkischen Bauernkrieger“ (paysans-guerriers francs) zu reklamieren (Rispail et al. 2012: 50). Der Verweis, dass „frank“ freier Mensch heißt (‚frank‘ veut dire homme libre) (Rispail et al. 2012: 41), dient - genauso wie die Beschwörung von einst mächtigen Herrschern und die Negierung des deutschen Charakters des Platt - der Herstellung einer eigenen positiven Identität. Auf einer nichtoffiziellen Webseite der Stadt Thionville kann man lesen: Il y a quinze siècles, les Francs apportèrent avec eux cette langue germanique bien différente et plus ancienne que l’allemand. Clovis et Charlemagne parlaient déjà le Platt. 5 Der „Mythos von der fränkischen Besiedlung“ (Simmer 2015) und die Vorstellung der Sprachgrenze als Frontlinie zwischen germanischen und romanischen Volksstämmen finden ihren hauptsächlichen Ursprung im 19. Jahrhundert als Rückprojektion des damals schwelenden Konfliktes zwischen dem noch jungen Nationalstaat Deutschland und dem bereits seit Jahrhunderten etablierten Zentralstaat Frankreich. Nach der Reichsgründung 1871 nahmen die nationalistischen Diskurse auch in der Wissenschaft zu, zum Beispiel durch die Amalgamierung von Mundarten und Stämmen, um einen als deutsch beanspruchten „imaginierten Westen“ (Müller 2009) reklamieren zu können. Haubrichs (1996) spricht von einem regelrechten „Krieg der Professoren“. In Deutschland entstand gar in den 1920er Jahren mit der „Westforschung“ eine neue auf eine völkisch-nationale Interpretation von Geschichte, Archäologie, Topono- 5 Vor fünfzehn Jahrhunderten brachten die Franken eine germanische Sprache mit, die sich stark von der deutschen unterscheidet und älter als diese ist. Chlodwig oder Karl der Große sprachen bereits Platt. (Übersetzung F.F.) (www.thionville.com/ html/ histoire/ francique.htm; letzter Zugriff 15.11.2018; zitiert nach Fehlen 2004: 24). Der germanophone Teil Lothringens 109 <?page no="110"?> mastik, Sprachgeschichte und Dialektologie zurückgreifende Forschungsdisziplin (Dietz 2003), um die territorialen Ansprüche des Deutschen Reiches auf ein weit über die Sprachgrenze hinausgehendes putatives frühes Siedlungsgebiet germanischer Stämme zu legitimieren. Heute sind diese Forschungen zur Sprachgrenze, zur Ausbreitung germanischer Mundarten im heutigen Frankreich oder zum ‚geschichtlichen Recht der deutschen Sprache‘, […] nicht nur ideologisch disqualifiziert, sondern […] auch methodisch überholt. (Schneider 2010: 285) Festzuhalten ist vorerst, dass eine veritable germanisch-romanische Sprachgrenze im engeren Sinne in Lotharingien offenbar nicht existiert hat, auch kein Grenzgürtel, innerhalb dessen sich germanische und romanische Sprecher gegenübergestanden hätten, sondern vielmehr bilinguale Zonen unterschiedlicher Ausdehnung, die mehr oder minder von Sprachinseln durchsetzt waren. (Schneider 2010: 287) Der aktuelle Forschungsstand - sowohl der Mediävistik (Schneider 2010), der historischen Sprachgeografie und Namenforschung (Haubrichs 2005, Pitz 2005) wie der frühgeschichtlichen Archäologie (Fehr 2010, 2003) - zeichnet in Anlehnung an die moderne Kontaktlinguistik ein komplexeres Modell der Sprachgrenze […] [mit ursprünglichen] breiten gestaffelten Bilingualitäts- und Interferenzzonen […], die erst allmählich, in einem langandauernden Prozeß zur Linearität hin abnehmen. (Fehr 2003: 307) Diese „durch romanische beziehungsweise germanische Sprachinseln strukturierte […] bilinguale Zone“ hat Schneider (2010: 287) mit dem „Bild des Leopardenfells“ beschrieben, während Pitz (2005: 3) von einem ‚Harlekin-Kleid‘ ( habit d’Arlequin ) spricht. 3.2 Ancien Regime Lotharingien, auch Reich des Lothar (855-869) genannt, wird als Vorläufer von Lothringen angesehen. Es war ein Teil des vormaligen Reiches Karls des Großen und Ergebnis von Erbstreitigkeiten zwischen dessen drei Enkeln, deren Beilegung im Vertrag von Verdun (10. August 843) besiegelt wurde. Dabei entstanden drei Reiche: das Reich von Ludwig dem Deutschen im Osten und Karl dem Kahlen im Westen, die in den traditionellen nationalen Meistererzählungen als Präfiguration von Frankreich und Deutschland angesehen werden, und dazwischen das Reich des Lothar, ein vielsprachiger Pufferstaat, der von Friesland bis in die Lombardei reichte. Obschon es keine territoriale Identität oder dynastische Kontinuität zwischen letzterem und dem Herzogtum Lothringen gibt, wird es oft als Ursprung der heutigen Region Lothringen oder gar der grenzüberschreitenden Saar-Lor-Lux-Region angesehen (Pauly 2008). Die Straßburger Eide von 842, mit denen sich die zwei Brüder Karl und Ludwig feierlich gegen Lothar verbündeten, stellen zwar nur eine von vielen Episoden im Bruderzwist dar, sind aber sprachgeschichtlich von Bedeutung, da sie in der altfranzösischen und althochdeutschen Vernakularsprache innerhalb einer zeitgenössischen lateinischen Chronik, genauer deren Abschrift aus dem 10. Jahrhundert, überliefert sind und somit zum frühen Sprachdenkmal für die zwei Volkssprachen wurden. Die in der Sprache des jeweiligen Gegners abgelegten Eide der zwei Brüder wurden anschließend von ihren Vasallen in der jeweiligen eigenen Sprache bekräftigt. Daraus wurde geschlossen, dass die Elite des Reiches im Gegensatz zu ihren Gefolgsleuten zweisprachig war. In französischen Sprachgeschichten wird diese Episode oft als 110 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="111"?> Geburtsstunde der französischen Sprache und deren erste schriftliche Überlieferung dargestellt (Perret 2016: 42 f.). Jedoch stellt diese Sichtweise eine „vorschnelle Kontinuitätsstiftung“ zwischen „(nord-gallo-)romanischen Idiomen“ und der modernen französischen Standardsprache (Selig 2011: 263) dar, die in der Regel mit einer anachronistischen Uminterpretation des Familienstreits zwischen den fränkischen Fürsten in einen Konflikt zwischen zwei sich durch verschiedene Amtssprachen unterscheidende Nationen Hand in Hand geht. Um das 10. Jahrhundert hatte sich die Sprachengrenze stabilisiert und blieb bis auf eine einzige Ausnahme bis heute erhalten: einer im Dreißigjährigen Krieg verwüsteten Region um die Ortschaft Dieuze, die mit Siedlern aus dem Inneren des Königreichs Frankreich neubesiedelt wurde. Im Lauf der Zeit stand das Territorium des heutigen Departements Moselle unter der Herrschaft von verschiedenen Vasallen des deutschen Kaisers. Die sich oft verändernden politischen Grenzen hatten jedoch keinen Einfluss auf die sprachlichen Gegebenheiten. Das gemeine Volk behielt seine Umgangssprache bei, während die Eliten sich nach Frankreich orientierten und mehr oder weniger Französisch lernten. 6 Der nordwestliche Teil des heutigen Departements Moselle um Thionville/ Diedenhofen war Teil des Herzogtums Luxemburg. Dort, wie in anderen Teilen des Herzogtums, können bereits im 13. Jahrhundert erste volkssprachliche Urkunden auf Französisch nachgewiesen werden, da dieses lange vor dem Deutschen auch in den „deutschsprachigen Randgebieten des Deutschen Reiches für eine gewisse Zeit die Funktion der Urkunden- und Verwaltungssprache“ (Völker 2000: 37) übernahm, was sein Prestige bei den lokalen Eliten steigerte. Im 15. und 16. Jahrhundert wird das Deutsche zunehmend in den Urkunden verwendet, worin ein Zeichen für die Emanzipation des Bürgertums gesehen werden kann, das mit der Forderung nach verständlichen Amtsschreiben die Kontrolle über die Kommunikation zurückgewinnen wollte. Zusätzlich sieht Levy (1923: 435) hierin „erste Anfänge eines Sprachpatriotismus“ (premier frémissement de patriotisme linguistique) und den Ausdruck einer lokalen bzw. einer regionalen Identität gegenüber einem französischsprachigen, in Burgund residierenden Herrscher. Mit dem Pyrenäenvertrag (1659) wurde die Gegend um Thionville/ Diedenhofen endgültig Teil des französischen Königreichs. Als Loyalitätsbezeugung gegenüber dem neuen Herrscher erklärte die Stadtverwaltung, in Zukunft für alle öffentlichen und rechtlichen Schriftstücke nur noch Französisch benutzen zu wollen. Diese Selbstverpflichtung wurde im Jahre 1661 in einem Dekret von Ludwig XIV. aufgegriffen und verbindlich gemacht. Levy (1923: 440) sieht darin den Ausgangspunkt einer sprachlichen Zentralisierungspolitik, die mit weiteren Dekreten auf andere Regionen ausgedehnt wird (Flandern 1684; Elsass 1685; Roussillon 1700). 7 6 In den nächsten Abschnitten lassen wir uns von dem immer noch aktuellen „epochalen Klassiker von Paul Lévy“ (Kramer 2009: 525) leiten. Parisse (1984) ist immer noch die rezenteste Übersichtsdarstellung über die Lothringer Geschichte in deutscher Sprache. 7 Die Festschreibung des Französischen als Rechts- und Verwaltungssprache wird in der Regel auf das Edikt von Villers-Cotterêts aus dem Jahre 1539 zurückgeführt, doch wandte sich dieses eigentlich gegen den Gebrauch des Lateins als Urkundensprache, das durch die „französische Muttersprache“ (langage maternel francoys) zu ersetzen sei. Mit dieser Formulierung ist nicht notwendigerweise die „Sprache des Königs“ gemeint. Für einige zeitgenössische Kommentatoren, wie Pierre Rebuffe, konnten auch die Regionalsprachen als „französische Muttersprachen“ gelten. Diese Interpretation wurde jüngst von Boucheron (2017: 272-276) in Erinnerung gerufen, und die hier erwähnten Dekrete aus dem späten 17. Jahrhundert können, wenn nicht als Beleg für diese Lesart des Dekretes von 1539, so doch zumindest als Beweis für dessen eingeschränkte Umsetzung gelten. Der germanophone Teil Lothringens 111 <?page no="112"?> Auch wenn Urkunden und andere Amtshandlungen der Stadtverwaltung auf Französisch verfasst wurden, änderte das den Sprachgebrauch der Bevölkerung zunächst nicht. Dieser wandelte sich nur langsam im Kontakt mit der Garnisonsbesatzung und zahlreichen, in die aufstrebende Verwaltungsstadt ziehenden Neubürgern. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts waren die Hälfte der Familiennamen Französisch, und die Schreibweise der alten Namen begann sich zu französisieren (z. B. wurde die Endsilbe -burg zunehmend -bourg geschrieben). Ein Jahrhundert nach der Vereinigung mit Frankreich konnte man im Dictionnaire universel de la France lesen, dass „nur noch die Alten und die kleinen Leute [in Thionville] Deutsch sprechen. Die Garnison und die anderen [Bürger] sprechen allgemein Französisch“ (Il n’y a plus que les anciens et le peuple qui [à Thionville] parlent la langue allemande, la garnison et les autres [les bourgeois] parlent communément la langue française) (zitiert nach Lévy 1929: 442). Das im südöstlichen Teil des Departements liegende Herzogtum Lothringen kam erst später zum Königreich Frankreich. Der etwa von einem Drittel der Bevölkerung bewohnte deutschsprachige Teil bildete seit Beginn des 13. Jahrhunderts eine unter dem Namen Deutsches Bellistum (Baillage d’Allemagne) bekannte Verwaltungseinheit, die im Laufe der Zeit drei verschiedene Hauptstädte hatte: Wallerfangen, Saarlouis - beide heute im Saarland - und ab 1698 Sarreguemines/ Saargemünd - heute in Frankreich. Noch bevor das Herzogtum Lothringen 1766 Teil des französischen Königreichs wurde, schrieb 1748 Herzog Stanislas I. Französisch zwingend als alleinige Verwaltungs- und Rechtssprache vor. In der Verordnung wurde es unzutreffend als „natürliche Sprache aller Untertanen unseres Herzogtums“ (Langue naturelle des Sujets de notre Duché) bezeichnet (Lévy 1929: 351). 3.3 Von der Französischen Revolution bis 1870 Nach der Revolution erklärte der französische Staat die Nationalsprache zum Instrument des politischen und sozialen Zusammenhalts und begann eine auf diesem Konzept beruhende Französisierungspolitik, deren Auswirkung auf den politischen Diskurs stärker als auf die reale Sprachlandschaft war. Das Patois wurde als politische Zentrifugalkraft, Fortschrittsbremse und Modernisierungshindernis stigmatisiert und sollte ausgemerzt werden. Die neugeschaffene statistische Behörde zeigte allerdings, dass die Mehrheit der Bevölkerung keineswegs der französischen Standard-/ Hochsprache mächtig war, sondern romanische und nicht romanische Mundarten sprach. Trotzdem war eine Publikation des Statistischen Amtes aus dem Jahre 1801 (zitiert nach Brunot 1927: 416 f.) zuversichtlich: In Metz, wo ein Jahrhundert zuvor die französische (Hoch-)Sprache fast unbekannt gewesen sei und selbst in den besten bürgerlichen Häusern noch Mundart (patois messin) gesprochen wurde, sei ein entscheidender Durchbruch erzielt worden. Selbst im deutschsprachigen Teil, wo man früher kein Wort Französisch gehört hätte, seien Fortschritte zu verzeichnen. Auch wenn er sich der Trägheit dieses Wandels bewusst ist, begründet der Autor seinen Optimismus mit dem Beispiel von Thionville/ Diedenhofen, in dem es keine Spur mehr vom Deutschen gäbe. Eigentlich sollte Französisch die alleinige Amtssprache sein, doch in den nicht-französischsprachigen Gebieten verlangte die Verwaltungspraxis Kompromisse, so dass Übersetzungen der Gesetze in verschiedene Sprachen angefertigt wurden. Es gab sogar eine Diskussion zwischen der Pariser Übersetzungsbehörde und verschiedenen Übersetzungsbüros auf Departementebene über die Qualität der zu geschwollenen und hölzernen Übersetzungen, die von der Zentralverwaltung geliefert wurden. Der Generalrat der Moselle fragte gar nach einer „dem 112 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="113"?> in den deutschen Teilen gebrauchtem falschen Idiom Rechnung tragendenden“ Übersetzung (traduction appropriée à l’idiome incorrect usité dans les parties allemandes de ce département) (zitiert nach Brunot 1927: 37). Das eigentliche Übersetzungsproblem war jedoch nicht qualitativer, sondern quantitativer Natur, da in dieser Umbruchszeit die Übersetzungsarbeit nicht mit den gesetzgeberischen Aktivitäten Schritt hielt. 1806 wurde im Auftrag von Napoleon und unter Leitung von Charles Étienne Coquebert de Montbret eine ambitionierte Sprach-Enquete unternommen, um die Sprecherzahlen und territorialen Grenzen der jeweiligen Idiome sowie die sprachliche Verwandtschaft der Dialekte zu bestimmen (Ködel 2015). Im heutigen Departement Moselle wurden 260.457 Deutschsprecher gezählt. 8 Im Departement Vosges gab es eine einzige deutschsprachige Ortschaft mit 609 Einwohnern, in den zwei elsässischen Departements wurden 846.866 Deutschsprachige gezählt (Ködel 2015: 199). Die feingliedrige Erhebung der in den Dörfern jeweils vorherrschenden Sprache ermöglichte es Coquebert, einen genauen Verlauf der Sprachgrenze anzugeben (s. Abb. 3). Abb. 3: Sprachengrenze 1806 nach der Coquebert-Enquete im Departement Meurthe (heute aufgeteilt auf Moselle und Meurthe-et-Moselle) 9 8 Zur Zeit der Enquete lebten 218.662 Deutschsprachige im damaligen Departement Moselle sowie 41.795 Sprecher in dem im Jahre 1871 aufgelösten Departement Meurthe, dessen deutschsprachiger Teil 1919 dem Departement Moselle zugeordnet wurde. 9 Quelle: Brunot (1927: 577). Der germanophone Teil Lothringens 113 <?page no="114"?> Dass die Französisierungspolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wenig Ergebnisse aufzuweisen hatte, zeigt ein Schreiben des Präfekten von Sarrebourg/ Saarburg aus dem Jahre 1853, in dem die Mundart sowie die deutsche Sprache überhaupt als eine „auszurottende Schande“ (une tare à éradiquer) gebrandmarkt wird. L’idiome tudesque […] empêche le rayonnement d’un grand nombre d’institutions auxquelles la France doit sa richesse et sa prospérité, il laisse les populations allemandes étrangères à l’impulsion du pouvoir central, au mouvement industriel qui entraîne le reste de la Nation ; […] Je n’hésite donc pas à attribuer à l’usage de la langue allemande la situation arriérée d’une partie notable de l’arrondissement. (zitiert nach Bodé 1999: 29) 10 Zu den wichtigsten Hemmnissen der Französisierungspolitik gehörten: der Mangel an Französischlehrern, die Opposition der Kirche und der allgemeine Verfall des Bildungssystems. In der Mitte des Jahrhunderts waren lediglich die weiterführenden Schulen und das diese besuchende (Bildungs-)Bürgertum französisiert worden. Der sich in den 1860er Jahren erhöhende Druck auf die Grundschulbildung provozierte 1867 den Widerstand der Bevölkerung in Form einer Petition für den gleichzeitigen Unterricht von Französisch und Deutsch in den Grundschulen Deutschlothringens (Moselle) (Pétition en faveur de l’enseignement simultané du français et de l’allemand dans les écoles primaires de la Lorraine allemande (Moselle)). Die Behörde reagierte mit einer in dieser Form in Frankreich einmaligen Umfrage beim Lehrkörper, die wertvolle Informationen über die sprachliche Situation und den Unterricht sowie Einsichten in die Methodendiskussion lieferte: So wurde zum Beispiel die Frage gestellt, ob Französisch unmittelbar in dieser Sprache unterrichtet werden sollte oder ob ein Umweg über Übersetzungen aus der deutschen Muttersprache effizienter sei (Bodé 1990: 37-45). Die Mädchen, die meist von nicht-französischsprachigen Nonnen unterrichtet wurden, lernten sehr wenig Französisch. Auch sonst ließ ihre Bildung zu wünschen übrig, und sie mussten mit einem für die Katechismuslektüre notwendigen, jedoch rudimentären Deutsch vorliebnehmen. Die Jungen wurden zwar von prinzipiell zweisprachigen Lehrern ausgebildet, deren Französischkenntnisse jedoch oft nicht ausreichten, um diese Sprache systematisch zu unterrichten. Französisch blieb für die Schüler eine Fremdsprache, und die Jungen verlernten die mühsam angeeignete Lesefertigkeit wieder in ihrem beschwerlichen Bauernleben und wurden oft wieder zu Analphabeten. Einige Lehrer betonten in ihren Antworten die zusätzliche Schwierigkeit, die für den Unterricht aus der Diskrepanz zwischen Dialekt und „gutem Deutsch“ erwuchs: Im moselfränkischen Sprachgebiet beklagt man sich auch darüber, daß das Übersetzen aus dem Deutschen ins Französische, wie es die Instruktionen vorsehen, gerade deshalb nicht gelinge, weil die Kinder auch das Hochdeutsche nicht verstehen. (Pitz 1999: 25) Das Kind, das Papp in seinem Dialekt sagt, kennt weder das deutsche Wort Vater noch das französische père , steht in einer Zuschrift aus einem Dorf bei Sierck (ebd.). 10 Das deutsche Idiom […] verhindert die Ausstrahlung einer großen Zahl von Institutionen, denen Frankreich seinen Reichtum und Wohlstand verdankt, es entfremdet die deutsche Bevölkerung vom durch den Zentralstaat initiierten Fortschritt, vom allgemeinen Aufbruch und Erfindungsgeist, der den Rest der Nation mitreißt. […] Deshalb zögere ich nicht, die Rückständigkeit eines bedeutenden Teils des Bezirks der Verwendung der deutschen Sprache zuzuschreiben. (Übersetzung F.F.) 114 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="115"?> In einem Land mit einer überwiegend analphabetischen und dialektophonen ländlichen Bevölkerung waren die Geistlichen die Hauptwidersacher der Französisierungsbemühungen des jakobinischen Staates. Durch ihre Predigten propagierten sie Deutsch und wehrten sich gegen einen französischen Katechismusunterricht, da sie glaubten, religiöse Gefühle würden am besten in der Muttersprache ausgedrückt. Doch ihre politische Zugehörigkeit zu Frankreich stellte die Bevölkerung, trotz des Festhaltens an ihren sprachlichen und kulturellen Besonderheiten, zu Beginn des Deutsch-Französischen Krieges keineswegs in Frage. 3.4 Eine Region als Spielball im Machtkampf verfeindeter Nachbarn Nach der Niederlage Frankreichs im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/ 71 wurden das Elsass und ein Teil des Departements Moselle, einschließlich einiger französischer Territorien, mit Metz als Verwaltungszentrum, von Deutschland annektiert und, im Gegensatz zu den anderen deutschen Bundesstaaten, unmittelbar vom Kaiser als Reichsland Elsass-Lothringen verwaltet. Unter den politischen und sozialen Eliten, besonders unter der Bourgeoisie von Metz, entschieden sich viele für Frankreich und wanderten dorthin aus, insbesondere nach Nancy. Sie wurden durch hauptsächlich protestantische Einwanderer aus Deutschland ersetzt. Eine große Garnison zur Bewachung der neuen Grenzen trug zusätzlich zur Germanisierung von Metz bei. Roth (2011, 2012) beschreibt die verschiedenen Phasen der Reaktion auf die Annexion. Der Verweigerung folgte Resignation, danach Anpassung an die vollendeten Tatsachen. Diese Besatzungszeit war nicht nur durch eine mehr oder weniger aufgezwungene Germanisierung, sondern auch durch den wirtschaftlichen Fortschritt und eine die Auflösung der traditionellen ländlichen Strukturen bewirkende Industrialisierung gekennzeichnet. Im Gegensatz zum Elsass kannte das annektierte Lothringen keine sprachliche, wohl aber eine religiöse Einheit. So wurde die katholische Kirche „als Bollwerk gegen die preußisch-protestantische Invasion“ (défense catholique contre l’invasion protestante prussienne) (Roth 2011: 48) und - besonders in der französischen Zone mit ihren Predigten und dem Katechismusunterricht - auch als Bastion gegen die Germanisierung gesehen. In dieser Zeit verstärkte sich der Lothringer Partikularismus und fand seinen Ausdruck in der Formel „Franzose darf ich nicht sein. Deutscher will ich nicht sein. Lothringer bin ich“ ( Français ne peux, Allemand ne veux, Lorrain je suis). Da in den französischbzw. deutschsprachigen Gemeinden verschiedene Sprachpolitiken verfolgt wurden, bedurfte es häufiger Volkszählungen zum Sprachgebrauch, um die Fortschritte der Germanisierungspolitik zu messen. Im Jahr 1871 waren 346 Gemeinden nur deutsch-, 37 gemischt- und 369 nur französischsprachig. Die Zahl dieser letzteren, von der Verwendung des Deutschen als Verwaltungssprache ausgenommenen Gemeinden, nahm stetig ab und erreichte 1914 die Zahl von 266. 11 Dans la zone germanophone, on avait coupé les ponts qui conduisaient au français sans susciter, des protestations; l’école, le service militaire, la presse, la vie quotidienne jouaient peu à peu en faveur de l’allemand. (Roth 2011: 171) 11 Ausführliche Statistiken und eine Diskussion der spezifischen Schwierigkeiten der demolinguistischen Erhebungen finden sich bei Berschin (2006: 79-82, 123-134). Der germanophone Teil Lothringens 115 <?page no="116"?> Entre 1870 et 1918, les progrès de la germanisation politique, linguistique et culturelle y furent d’autant plus spectaculaires qu’ils furent appuyés par de puissants mouvements de population et la disparition presque totale des élites de langue française. (Roth 2011: 682) 12 Der Krieg von 1914-18 brachte, trotz der Warnungen der Zivilverwaltung, eine von der Auslöschung der französischen Sprache und der totalen Germanisierung besessene, für die deutsche Sache jedoch kontraproduktive Militärdiktatur. Diese Behandlung als „Feindesland“ stellt nach Polenz (1999: 118) das implizite Eingeständnis dar, „daß die ideologisch geplante ethnische und politische Rückeindeutschung der elsaß-lothringischen Bevölkerung im Wesentlichen mißlungen war“. Die Rückkehr nach Frankreich nach 1918 wurde von vielen Bewohnern der deutschsprachigen Moselle als Rückeroberung durch einen sich weder um soziale Gegebenheiten noch um sprachliche und kulturelle Besonderheiten kümmernden Kolonialstaat erlebt. Französisch wurde die einzige Schulsprache, die Lehrerausbildung wurde in das frankophone Gebiet verlegt, und viele Lehrer und andere Beamte, die keine Ahnung von der regionalen Kultur hatten, wurden aus Frankreich „importiert“. Dagegen setzte sich 1924 eine von der Kirche unterstützte Protestbewegung zur Wehr, und es kam zu Schulstreiks. Im Jahr 1927 genehmigte das Poincaré-Pfister-Dekret ein paar Stunden Deutschunterricht und den deutschen Katechismus in der Grundschule. Die Autonomie-Bewegung erreichte in Lothringen jedoch nicht das gleiche Ausmaß wie im Elsass: so waren zum Beispiel bei den Parlamentswahlen von 1938 zwei Drittel der elsässischen Abgeordneten Autonomisten gegenüber einem Drittel in Lothringen. (Boulanger 1997: 45) Im Jahr 1929 folgert Lévy rückblickend, dass „die Langsamkeit eines der Kennzeichen des sprachlichen Wandels ist“ (la lenteur est bien l’un des traits marquants de l’évolution linguistique). Blinder Aktionismus führte vor 1919 zur Verlangsamung der Germanisierung der französischsprachigen Bevölkerung, wie nach 1919 zur Verlangsamung der Französisierung der deutschsprachigen. Derselbe Gedanken findet sich bei dem auf eine weitere Gemeinsamkeit der Sprachpolitiken beider Staaten hinweisenden Kramer: Die ortsfremden Preisse aus fernen Gefilden Ditschlands und die Stackwelsche aus der France de l’Intérieur verstanden, wenn sie - meist gegen ihren Willen - nach Lothringen versetzt wurden, die sprachlichen Landeseigentümlichkeiten nicht, gewöhnten sich aber nach einiger Zeit daran (Kramer 2009: 524). Aus seinen historischen Beobachtungen folgert Levy, dass der Sprachenwandel ein Resultat von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und demografischen Mechanismen ist. Die „Infiltration“ der neuen Sprache geschieht immer von oben nach unten. Der Wandel beginnt immer in den industriellen Gebieten und nicht auf dem von der Kommunikation abgeschnittenen Lande, deshalb plädiert er dafür, „Geduld und Selbstaufopferung“ (la patience et l’abnégation) bei der Französisierung der nach dem Ersten Weltkrieg rückeroberten Gebiete walten zu lassen. Mit Gesetzen und Verordnungen, ja sogar mit Schulunterricht kann man seiner Meinung nach 12 Im deutschsprachigen Gebiet waren die zum Französisch führenden Brücken abgebrochen worden, ohne Proteste zu provozieren. Schule, Wehrdienst, Presse, das Alltagsleben förderten die deutsche Sprache. Zwischen 1870 und 1918 war der Fortschritt der sprach- und kulturpolitischen Germanisierung umso spektakulärer, als er von starken Bevölkerungsbewegungen [Zuzug aus dem Altreich] und dem fast völligen Verschwinden der französischsprachigen Eliten unterstützt wurde. (Übersetzung F.F.) 116 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="117"?> wenig erreichen. Deshalb setzt er schlichtweg auf eine innere Kolonisierung: „Auf Geburten, Immigration, Arbeitsbedingungen und Arbeitsangebote, wirtschaftliche Anforderungen, soziale Beziehungen und gesellschaftliches Prestige kommt es an“ 13 (Levy 1929: 507 ff.). Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden 300.000 in der Nähe der Maginot-Linie lebende Menschen von der französischen Verwaltung ins Landesinnere evakuiert, wo ihre Mitbürger ihnen oft mit Feindseligkeit begegneten und sie als Boche brandmarkten. 1940 wurden die Moselle und das Elsass von der deutschen Wehrmacht besetzt und faktisch annektiert. Es wurde einer sog. Entwelschung, einer Politik der Germanisierung durch den Terror, unterworfen, die auf die Unterdrückung all dessen abzielte, was eine Verbindung mit Frankreich besaß. Die französische Sprache musste aus der sprachlichen Landschaft und aus den Bibliotheksregalen verschwinden. Sogar die Vor- und Nachnamen wurden germanisiert. Doch die tiefgreifenden, vom Besatzer so nicht intendierten Auswirkungen dieser Politik sollten sich erst nach der Befreiung manifestieren. 3.5 Nach dem Zweiten Weltkrieg Scham und Selbstabwertung bildeten bei den Plattsprechern nach dem Zweiten Weltkrieg den fruchtbaren Nährboden für eine offensive Französisierungspolitik. Im offiziellen Diskurs wurde das deutsche Patois als Sprache des Feindes, Hochdeutsch als Nazisprache stigmatisiert und Französisch als moderne Zukunftssprache präsentiert: Il est chic de parler français (‚Es ist schick, Französisch zu sprechen‘). Die Verwaltung kannte nur die „Sprache der Republik“, und im öffentlichen Leben wurde das Deutsche unterdrückt. So wurden einsprachige deutsche Tageszeitungen verboten. Der Anteil der französischen Artikel musste mindestens 25 Prozent betragen und der Sportteil ganz auf Französisch verfasst sein. Der Dialekt wurde an den Schulen geächtet und massiv unterdrückt, was viele Eltern dazu bewog, ihren Dialekt auch zu Hause aufzugeben, um den sozialen Aufstieg ihrer Kinder nicht zu behindern. Der Dichter und Sänger Daniel Laumesfeld (1955-1991), einer der Hauptprotagonisten der regionalistischen Bewegung, die sich in den 1970er Jahre im Windschatten der AKW-Proteste für eine Wiederbelebung der Regionalsprache einsetzte, konnte als ein in Soziolinguistik promovierter Sprachwissenschaftler diesen Mechanismus gut beschreiben, da er ihn am eigenen Leibe erlebt hatte. Er hatte Platt als Muttersprache und lernte Französisch als Fremdsprache in der Schule. Laumesfeld erinnert sich nicht an explizite pädagogische Maßnahmen gegen das Platt in der Schule, wohl aber an den sozialen Druck, der durch dessen Ignorieren geschaffen wurde. Im katholischen Kindergarten, wo er ab seinem zweiten Lebensjahr „gute Manieren und das Alphabet“ (les bonnes manières et l’alphabet) lernen sollte, sprach die Nonne kein einziges Wort Platt, obwohl sie es als Einheimische beherrschte. „Die Repression entsteht implizit durch den Schatten des Todes, in den die Muttersprache durch ihren Nicht-Gebrauch gestellt wird“ 14 (Laumesfeld 1996: 62, Übersetzung F.F.). Auch die Ferienlager und Jugendfreizeiten - die sog. colonies de vacances , denen in Frankreich als Sozialisationsinstanz eine wesentlich bedeutendere Rolle zukam als in Deutschland - trugen ihren Teil zur Verdrängung des Platts bei. So erinnert sich Laumesfeld daran, wie er als Neunjähriger 13 C’est une question de natalité, d’immigration, de conditions et d’offres de travail, d’exigences économiques, de relations sociales, de prestige mondain. 14 La répression est implicitement conduite par l'ombre de mort dans laquelle on maintient la langue maternelle: l'ombre du non-emploi. Der germanophone Teil Lothringens 117 <?page no="118"?> bei seiner Rückkehr aus einer colonie den ihn auf Platt begrüßenden Eltern auf Französisch antwortete. Damit war die sprachliche Entfremdung von seiner Familie definitiv vollzogen, wie er rückblickend schreibt (Laumesfeld 1995: 61). Als er 10 oder 11 Jahre alt war, hörten er und seine Eltern endgültig auf, zu Hause Platt zu sprechen. Sein zwei Jahre jüngerer Bruder beherrschte die Mundart nur rudimentär, und seine acht Jahre jüngere Schwester hat sie nie gelernt (Laumesfeld 1996: 68 f.). Der Mundartdichter Jean-Louis Kieffer schildert in der Geschichte Der Knopp eine Art Schwarzer-Peter-Spiel, mit dem ihm das Platt in der Schule ausgetrieben wurde. Sein aus Südfrankreich stammender Lehrer hat am ersten Tage dekretiert: „Die Franzosen sprechen Französisch, und wir sind Franzosen“ (Les français parlent français et nous sommes français). Wer als erster am Tage Platt geredet hat, bekam einen dicken Knopf (in anderen Klassen konnte es auch ein Stock sein), den er einem Mitschüler, wenn er ihn beim Plattsprechen - und dies nicht nur im Klassenzimmer - erwischte, weitergeben durfte. Wer am Abend in Besitz des Knopfs war, musste als Strafe hundertmal Les français parlent français (‚Die Franzosen sprechen Französisch‘) schreiben (Kieffer 1988: 15 f.) oder Je n’ai pas le droit de parler allemand dans la cour de récréation (‚Ich darf nicht Deutsch im Schulhof sprechen‘), wie Roland Pfefferkorn (1998: 58) es in der Grundschule in Bitche/ Bitsch, die er von 1958 bis 1964 besuchte, erlebte. Im Klassenzimmer hing ein Plakat: Défense de cracher par terre et de parler allemand (‚Auf den Boden spucken und Deutsch sprechen verboten‘). Diese auch in anderen regionalsprachlichen Gegenden Frankreichs weitverbreitete Schwarze-Peter-Methode wurde laut Jo Nousse - Sprachaktivist, Sänger und Grundschullehrer - erst im Jahre 1987 offiziell in Lothringen verboten. 15 Laumesfeld (1996) hat die Aufgabe der Volkssprache als schmerzhafte Entfremdung von seiner fränkischen Identität beschrieben. Dem widerspricht der praktisch gleichaltrige Pfefferkorn, heute Soziologieprofessor an der Universität Strasbourg, der ähnliche Erfahrungen anders verarbeitet hat. Er hat seine Schulzeit als emanzipatorische Öffnung auf eine universelle (Hoch-)Kultur erlebt, deren Zugang seiner Meinung nach nur über die geschriebene Sprache, sei es Französisch oder Deutsch, möglich ist. Damit bemüht er einen im französischen politischen Diskurs weitverbreiten Topos einer binären Gegenüberstellung von Universalismus und Partikularismus bzw. communautarisme , einen am besten mit Ethnisierung übersetzbaren Begriff, der nicht mit Kommunitarismus im angelsächsischen Sinne verwechselt werden darf. Das Hohelied auf den Universalismus geht in der Regel einher mit dem Vorwurf des Rückzugs in die eigene Identität (repli identitaire); im deutschen diskursiven Kontext könnte man von „Abschottung in Parallelgesellschaften“ oder gar Heimattümelei reden. Pfefferkorn (1998: 59 ff.) wirft Laumesfeld vor, die bei Aufsteigern aus bildungsfernen Schichten gängigen Erfahrungen der Entfremdung vom familiären Milieu und die daraus resultierende Zerrissenheit als sprachliches, identitäres Problem zu überhöhen und so ein soziales Problem zu ethnisieren. Die „Abschottung in der Mundart“ (particularisme dialectal) würde nur zu einer zum Scheitern verurteilten „Suche nach einer imaginierten fränkischen Sprache“ (quête de la langue impossible) führen. Die hier für den ländlichen Raum beschriebenen Französisierungsprozesse wurden im Kohlebecken zunächst durch eine flüchtige Konsolidierung des Platt bzw. einer regionalen Ausgleichsvarietät als sog. Bärschmannsprooch (‚Bergmannsprache‘) verlangsamt (s. Abschnitt 15 Gespräch mit Jo Nousse am 8. August 2017. 118 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="119"?> 5.2.2). Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg kannte Lothringen einen von der Kohle- und Stahlindustrie getragenen Wirtschaftsboom, der im Departement Moselle ein Bevölkerungswachstum von 62 Prozent in 30 Jahren (1946-1975) bewirkte. Trotz der starken Einwanderungswellen aus Polen und Italien hatte sich das Platt im östlichen Kohlegebiet um Forbach als (Umgangs-)Sprache der Bergleute etabliert; weil dort „die soziale Integration der eingewanderten Arbeiter über den Dialekt“ erfolgte, wurde „die gesellschaftlich bedeutende Stellung des Bergmanns […] ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Aufrechterhaltung des fränkischen Dialekts auch nach dem 2. Weltkrieg bis in die sechziger Jahre“ (Stroh 1993: 61). Mit dem Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie sank das Prestige des Bergarbeiters und seiner Sprache. Die für Lothringen typische Tradition des ouvrier-paysan , des Arbeiters, der gleichzeitig Nebenerwerbsbauer war, verschwand, und drei weitere Faktoren führten zur definitiven Französisierung der Arbeiterschaft: die Zahl der deutschsprachigen Grenzgänger aus dem Saarland nahm rapide ab, eine neue Generation nunmehr nordafrikanischer Einwanderer war von Haus aus tendenziell des Französischen mächtig, und die jungen Lothringer waren beim Arbeitseintritt bereits durch eine monolinguale Schule geprägt. 4 Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung 4.1 Wirtschaftliche Situation Wie in Abschnitt 5 verdeutlicht wird, spielen Platt und Standarddeutsch heute nur mehr eine marginale Rolle auf dem Arbeitsmarkt. Im Gegensatz zum benachbarten Saarland, das Anfang 2014 unter dem Schlagwort Frankreichorientierung einen ambitionierten Plan zur Förderung der Zweisprachigkeit als Alleinstellungsmerkmal unter den Bundesländern und als wirtschaftlichen Standortvorteil auf die politische Agenda setzte, wurde amtlicherseits in der Region Lorraine die historische Sprachensituation nicht als wirtschaftliche Chance wahrgenommen (Fehlen 2015: 54 f.). Ende 2017 arbeiteten 18.000 Einwohner des Grand-Est im Saarland und 100.000 in Luxemburg (CESER Grand-Est 2018). Dabei geht die Zahl der nach Deutschland Auspendelnden stetig zurück, was teilweise auch mit dem Rückgang der Deutschkenntnisse der jungen Lothringer zusammenhängt, während die Zahl der Grenzpendler nach Luxemburg, wo große Teile der Wirtschaft frankophon ausgerichtet sind, stetig zunimmt. Die Beherrschung der luxemburgischen Sprache ist zwar nur für wenige Stellen im öffentlichen Dienst zwingend erfordert, stellt aber auf dem boomenden mehrsprachigen Luxemburger Arbeitsmarkt eine händeringend gesuchte (Zusatz-)Qualifikation dar, besonders im Gesundheitswesen und in der Altenpflege. Um dieser Nachfrage gerecht zu werden, werden sowohl im Großherzogtum als auch in seinen Grenzregionen zahlreiche Luxemburgisch-Kurse für Arbeitnehmer angeboten, in denen mancher aus dem Dreiländereck Stammende die verlorene Familiensprache, das weitestgehend mit dem Luxemburgischen übereinstimmende Platt, als Fremdsprache lernt. 4.2 Politische Situation Seit der Französischen Revolution ist die politische und kulturelle Zentralisierung der Republik sowie die Herstellung der sprachlichen Einheit die Leitvorstellung jeglichen staatlichen Handelns. Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht Ende des 19. Jahrhunderts wurden Der germanophone Teil Lothringens 119 <?page no="120"?> „alle französischen Bürger […] mit der Staatssprache (mehr oder weniger) vertraut gemacht“ (Kremnitz 2015: 17). Damit einher ging eine Abwertung aller regionalsprachlichen Besonderheiten und deren Zurückdrängen in die Privatsphäre. Diese Entwicklung wurde in Lothringen zunächst durch die Annexion ins Deutsche Reich (1871-1919) gebremst und dann durch das Trauma der Nazibesatzung beschleunigt. In den 1970er Jahren kam es in weiten Teilen Frankreichs zu regionalistischen Bewegungen, deren Auslöser oft der Kampf gegen die Ansiedlung eines Kernkraftwerks war oder auch, wie im Larzac, gegen die Militarisierung der Region gerichtet war. Sie gingen häufig mit einer kulturellen Renaissance der Regionalsprachen insbesondere des Okzitanischen und Bretonischen einher. In der von einer starken Rechts-Links-Dichotomie geprägten politischen Landschaft der Fünften Republik wechselte damit das Engagement für das Lokale und Regionale, dem seit der Revolution das Stigma des rückwärtsgewandten Antirepublikanismus anhing, das politische Lager, und als 1981 die Linke mit Mitterand die Macht übernahm, kam es zu einer zögerlichen Abkehr vom sprachlichen und kulturellen Zentralismus (siehe den 1982 im Auftrag des Kulturministeriums vorgelegten Bericht: Demokratie und Recht auf kulturelle Unterschiede [Démocratie culturelle et droit à la différence]). Seither wird das Spannungsverhältnis zwischen der bislang betonten Gleichheit aller Bürger und der Freiheit, diese verschieden auszuleben, immer wieder neu ausgehandelt, wobei die regionalistischen Wahlversprechen meist an der über zwei Jahrhunderten eingeübten sprachlichen Zentralisierungspolitik scheitern. Die Einschreibung des Französischen als Staatssprache in die Verfassung im Jahre 1992 („La langue de la République est le français.“ 16 ) als Reaktion auf die Liberalisierungsbestrebungen der Linken stellt bis zum heutigen Tage das größte Hemmnis für weitere Reformen dar. So unterschrieb Frankreich zwar 1999 die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen mit der Zusicherung, 39 der 98 Verpflichtungen umzusetzen, betonte aber gleichzeitig, dadurch den Sprechern keine kollektiven Rechte einzuräumen. Alle Ratifizierungsversuche sind bis heute gescheitert, trotz einer vorbereitenden Verfassungsänderung im Jahre 2008, die einräumt, dass die Regionalsprachen Bestandteil des französischen Kulturerbes sind. 17 In Sorge über die zunehmende weltweite Konkurrenz des Englischen hat Frankreich sich etliche Sprachengesetze gegeben (z. B. Loi Toubon 1994) und 2009 mit der DGLFLF (délégation générale à la langue française et aux langues de France) eine Behörde zur Förderung der französischen Sprache und der Sprachen Frankreichs geschaffen. 18 Die 2012 mit François Hollande erneut an die Macht gekommene Linke startete einen weiteren Ratifizierungsversuch der Charta, der jedoch im Sande verlief, und beim nachfolgenden Präsidentschaftswahlkampf 2017 spielte das Thema keine Rolle mehr. Im Gegensatz zu Lothringen, wo es bis zur Territorialreform keine Sprachenpolitik gab, hat das Elsass mit dem Amt für Sprache und Kultur im Elsass (Office pour la Langue et la Culture d’Alsace [OLCA]/ Elsassisches Sprochàmt)“ eine Institution, die sich „für eine stärkere Präsenz der elsässischen Sprache in allen Bereichen des Lebens ein[setzt]“ und Initiativen von Vereinen, Gebietskörperschaften, Verwaltungen und Unternehmen unterstützt. 19 Sie ist nach der Territorialreform auch für Lothringen zuständig, und trotz anfänglicher Skepsis der Loth- 16 Die Sprache der Republik ist das Französische (Übersetzung F.F.). 17 „Les langues régionales appartiennent au patrimoine de la France.“ 18 www.culture.gouv.fr/ Thematiques/ Langue-francaise-et-langues-de-France (Letzter Zugriff 13.11.2018). 19 Selbstdarstellung auf www.olcalsace.org/ de (Letzter Zugriff 13.11.2018). 120 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="121"?> ringer Sprachaktivisten scheint dies zu einer Aufwertung ihrer Aktivitäten und Erweiterung ihrer Möglichkeiten zu führen, wie es zum Beispiel die Förderung des traditionellen Mir redde Platt -Festivals in Sarreguemines/ Saargemünd zeigt. Rückblickend kann man sagen, dass das in den 1990er Jahren diskutierte Konzept des „Europa der Regionen“ und die damit einhergehende Aufwertung der Regionalsprachen, so wie sie sich in der Charta ausdrückt, durch den Aufstieg von linken und rechten Populismen (zumindest in Frankreich) von der politischen Agenda verdrängt wurden. Die Bekämpfung jedweder Partikularismen, ob sprachlich, kulturell oder religiös, ist ein dominierender Topos des französischen politischen Diskurses, gegen den alle lokalen Initiativen ankämpfen müssen und gegen den sich selbst bescheidene Reformen der Schulpolitik nur mühsam durchsetzen lassen, wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird. 4.3 Rechtliche Stellung des Deutschen, Schulsystem, offizielle Sprachregelungen Deutsch als solches hat in Frankreich keine offizielle rechtliche Stellung, obschon es allgemein als „langue de référence“ (Referenzsprache) für Elsässisch und Lothringisch gilt. Dieser Begriff wird im Französischen sowohl in juristischen, politischen als auch didaktischen Kontexten praktisch als Synonym für Schriftsprache, Bildungssprache oder die Dialekte überdachende Standardsprache gebraucht und als solcher steht er im Zentrum der Diskussionen um das Statut der Regionalsprache. Daneben bezeichnet er auch die in internationalen diplomatischen, wirtschaftlichen usw. Zusammenhängen akzeptierte bzw. dominierende Verkehrssprache. Wo es darum geht, die Konkurrenz zwischen Englisch und Französisch zu diskutieren, wird er in dieser Bedeutung verwendet. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Gebrauch von Regionalsprachen bzw. Dialekten des Französischen in ganz Frankreich als Patois stigmatisiert. Erst 1951 wurde mit der Loi Deixonne der fakultative Unterricht einiger Regionalsprachen zugelassen. Korsisch genauso wie Flämisch, Elsässisch und Lothringer Platt blieben ausgeschlossen, da sie als Dialekte von den im französischen Bildungssystem präsenten Fremdsprachen - Italienisch und Deutsch - angesehen wurden. Der im Elsass 1972 als Pilotprojekt eingeführte freiwillige, dialektgestützte Deutschunterricht in der Grundschule ( Holderith-Methode ) wurde in Lothringen erst 1976 in wenigen Klassen übernommen. Die weitere zaghafte Öffnung der Schule für die Regionalsprachen durch die Linksregierung ( Circulaire Savary 1982) wurde in Lothringen erst mit Verzögerung und unter dem Druck von Eltern und Lehrkräften umgesetzt. 20 1991, mir drei Jahren Verspätung auf andere Regionen, wurde ein Optionsfach „regionale Sprache und Kultur“ (Langue et Culture Régionales, LCR) im Gymnasium, inklusive der Möglichkeit einer freiwilligen Zusatzprüfung im Abitur eingeführt. Dieses Fach wurde für drei verschiedene Mundarten (Luxemburgisch-Fränkisch, Moselfränkisch, Rheinfränkisch) angeboten. Nicht zuletzt dadurch und durch die begleitenden Unterrichtsmaterialien, wie zum Beispiel Martin (1994), haben sich diese Bezeichnungen und das generische Fränkisch ( francique ) allmählich eingebürgert und bestimmen heute die offizielle Sprachregelung (s. Abschnitt 5.2.3). Heute heißt die Option: 20 Einen Überblick findet sich in Morgen/ Zimmer (2009) und Auburtin (2002: 114 ff.). Aktuelle Informationen auf der Internetseite des Centre de documentation et de formation pour l’apprentissage et l’enseignement de la langue du voisin : www4.ac-nancy-metz.fr/ ctf57/ (Letzter Zugriff 13.11.2018). Der germanophone Teil Lothringens 121 <?page no="122"?> langue regionale des pays mosellans (LRPM). In einer von den Sprachaktivisten des Dreiländerecks als großen Erfolg gefeierten Verordnung vom 26.12.2007 (Ministère 2008) wird dem francique luxembourgeois eine Sonderstellung eingeräumt. Nicht das Standarddeutsche wie für alle anderen Dialekte soll als Referenzsprache gelten, sondern das Luxemburgische. Die Zahl der am LRPM-Unterricht teilnehmenden Schüler lag im Schuljahr 2017-2018 bei 322 für francique rhénan . Die Mundart francique mosellan wurde nicht angeboten. 808 Schüler nahmen am Unterricht für francique luxembourgeois teil; davon allerdings nur 97 in Thionville/ Diedenhofen, die anderen außerhalb des Departement Moselle und somit des traditionellen deutschsprachigen Lothringens. 21 Unter der Bezeichnung „Sonderweg des Departement Moselle“ ( Voie spécifique mosellane , VSM) wurde 1991 die Möglichkeit geschaffen, vom Kindergarten bis zur vierten Klasse der Grundschule während drei Wochenstunden über die Mundart eine Einführung in die deutsche Sprache zu erhalten. Diese wurde im Laufe der Zeit ausgebaut, wobei eine 1997 aufgrund privater Elterninitiative gegründete, dem Elsässer Beispiel der ABCM-Schulen 22 folgende zweisprachige Schule in Sarreguemines/ Saargemünd als Vorreiter gilt. Das Ideal einer gleichgewichteten, nicht hierarchisierten Beherrschung beider Sprachen (bilinguisme non hiérarchisé et à parité de compétence) wird durch den Unterricht von Nichtsprachenfächern auch in Deutsch und gleiche Wochenstundenzahl für beide Sprachen erreicht. Die Krönung dieses Unterrichtes bildet das AbiBac, eine heute in Sarreguemines/ Saargemünd, Saint-Avold/ Sankt Avold und Thionville/ Diedenhofen angebotene Reifeprüfung, die gleichzeitig als deutsches Abitur und französisches Baccalauréat anerkannt wird. Es gibt keine durchgängigen statistischen Reihen zum Regionalsprachenunterricht in Frankreich. Punktuelle Erhebungen ermöglichen aber einen Einblick in Größenordnungen, die man nicht aus den Augen verlieren darf: In ganz Frankreich einschließlich der Überseegebiete nahmen im Schuljahr 2011-2012 vom Kindergarten bis zum Gymnasium 272.177 Schülerinnen und Schüler an Unterricht in 13 verschiedenen Regionalsprachen teil. Im Elsass waren es 72.765 und in Lothringen 6.179 (Ministère 2013: 22). Letztere Zahl muss auf die Gesamtheit der zirka 400.000 Schüler vom Kindergarten bis zum Gymnasium der Académie de Nancy-Metz bezogen werden. Dieses Zahlenverhältnis kombiniert mit der zentralistischen Staatsphilosophie Frankreichs erklärt den mangelnden Einsatz der in Metz angesiedelten Behörde, die oft erst unter dem Druck von Lehrern und Eltern mit Hilfe des Pariser Ministeriums zur Einhaltung nationaler Gesetze und Verordnungen angehalten werden musste. 23 Dies hat sich im Laufe der Zeit gebessert, und heute gibt es neben zwei Grundschulen mit paritätischem Unterricht von je 13 Wochenstunden für Deutsch und Französisch vom Kindergarten bis zum Gymnasium verschiedene Angebote mit verstärktem Deutschunterricht ( Dispositif d’Enseignement Approfondi de l’Allemand ) von 3, 6 bzw. 9 Wochenstunden. Diese werden teilweise durch einen im Rahmen des europäischen Interreg-Programms geförderten Lehrer- und Erzieheraustausch unterstützt. Die Zahl der an einem solchen sog. bikulturellen 21 Die Zahlen beziehen sich auf die drei oberen Klassen des Gymnasiums. 2017 wurden insgesamt 100 Schüler in dieser Option im Abitur sowie 20 im Fachabitur geprüft (Mitteilung der Schulbehörde an die Autoren). 22 ABCM = Association pour le Bilinguisme en Classe dès la Maternelle : www.abcmzwei.eu/ abcm-zweisprachigkeit/ (Letzter Zugriff 13.11.2018). 23 So Jo Nousse, der selbst 2005 den ersten Posten als Vollzeitlehrer für Luxemburgisch eingenommen hat, im Gespräch mit den Autoren (8.8.2017). 122 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="123"?> Unterricht teilnehmenden Schüler hat sich vom Schuljahr 2008-2009 von 499 auf 784 im Jahre 2017-2018 erhöht. 24 Die neue Politik der Metzer Schulbehörde sieht neuerdings in der Regionalsprache nicht mehr primär ein zu förderndes Kulturerbe, sondern ein „Sprungbrett“ (tremplin) für den Deutschunterricht. Deutsch soll als die Sprache des Nachbarn und als Arbeitsmarktressource gelehrt werden (Rectorat 2010: 3). Diese von manchen Sprachaktivisten kritisch bewertete Entwicklung wird von Schulpraktikern eher befürwortet. Neben praktischen Überlegungen - etwa die Unmöglichkeit eine der drei Varietäten zur Schriftsprache auszubauen oder der Lehrermangel auf Grund der geringen Sprecherzahlen (Mouraux, 2015) - führen sie auch historische Argumente an. Seit jeher wurde zur Verschriftlichung der Mundart auf das Standarddeutsch zurückgegriffen. Dazu schreibt Pierre Gabriel (2005: 12), ein Mitgründer von Culture et Bilinguisme de Lorraine : Das ‚alles‘ überdachende Schriftdeutsch [ist] in Lothringen mindestens seit 1700 fest verankert [und gehört somit] zur Regionalsprache, ob wir es wollen oder nicht. 4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien, Literatur Mehrere Vereinigungen haben sich der Verteidigung der regionalen Sprache und Kultur Lothringens verschrieben. 25 Die erste, Hemechsland a Sprooch (‚Heimatland und Sprache‘), wurde 1975 in der Region Thionville gegründet, ihr folgte 1979 in derselben Gegend, um den Sprachaktivisten und Soziolinguisten Daniel Laumesfeld, eine weitere, mit dem etwas defätistischen Namen Wéi Laang Nach? (‚Wie lange noch? ‘) . 26 Im Kohlebecken um Freyming- Merlebach/ Freimingen-Merlenbach wurde 1980 Bei Uns Dahäm ( Défense du dialecte francique = ‚Verteidigung des fränkischen Dialekts‘) gegründet; in der Gegend von Boulay/ Bolchen, Bouzonville/ Busendorf und Saarlouis 1986 Gau un Griis 27 (Association pour la défense et la promotion du francique = ‚Verein zur Erhaltung und Förderung der fränkischen Sprache‘) . Dieser Verein veröffentlicht seit 2001 auch unter Mitwirkung von Saarländern die literarische Zeitschrift Paraple (< frz. parapluie ‚Regenschirm‘) in Französisch, Deutsch und Platt. Die im Saarland angesiedelte, 2000 gegründete Bosener Gruppe, ein Zusammenschluss von moselfränkischen und rheinfränkischen Mundartschriftstellern diesseits und jenseits der Grenze will u. a. „Mundarten der Region in ihrer herausragenden Wertigkeit und Schönheit darstellen [und die] Dialektsprache als Möglichkeit einer anspruchsvollen literarischen Gestaltungsform präsentieren.“ 28 Der jüngste, 2008 gegründete Verein Association Culture et Bilinguisme de Lorraine-Zweisprachig, unsere Zukunft (CBL) versteht sich als überregionale Vereinigung aller Lothringer „mit dem Ziel, die Volkssprache und die Volkskultur Deutschlothringens zu pflegen und zu 24 Die Zahlen beziehen sich auf Collège und Lycée . Mitteilung der Schulbehörde an die Autoren. 25 Nach Anon. (2014) mit eigenen Ergänzungen. 26 http: / / francique.eklablog.com/ (Letzter Zugriff 14.11.2018). 27 „Mit ‚Gau‘ ist die mergelhaltige Ebene zwischen Boulay und Bouzonville, mit ‚Griis‘ (aus dem französischen „le grès“ = Buntsandstein) das sandige Gebiet zwischen Falck-Merten und Saarlouis gemeint. Der geologische Raum deckt sich mit dem sprachlichen, politische Grenzen existieren nicht. Aus diesem Grund reicht unser Verein über die Landesgrenzen hinaus; im Vorstand arbeiten auch Saarländer mit.“ (http: / / gaugriis.com/ frankisch/ wer-sind-wir/ ; letzter Zugriff 30.11.2018). 28 www.bosenergruppe.saar.de (Letzter Zugriff 14.11.2018). Der germanophone Teil Lothringens 123 <?page no="124"?> fördern“. 29 Aus Protest gegen die Territorialreform wurde 2015 die Partei der Mosellothringer gegründet. 30 Mit ihren gut 20.000 Einwohnern ist die Grenzstadt Sarreguemines/ Saargemünd das kulturelle Zentrum der Region. Ihre Mediathek, die auch viele Aktivitäten rund um das Lothringer Platt organisiert, beherbergt eine Bibliothek und ein Dokumentationszentrum, dessen Vorstellung im Internet als Sprachprobe zitiert werden soll: Ìn Lottrìnge ìsch dìss de érschde Zentrùm, wù sisch gònz schbézièll mét Regionalspròòch ùn -Kultur abgìbbt. Dìss ìsch also de Bewahrùngsmìddelpùnkt vòn all mééschlische Dokumènde iwwer Regionalspròòch ùn -Kultur. 31 Ihr Katalog gibt Auskunft über eine kulturelle Produktion, die sich vornehmlich kleineren Formen wie Dichtung, Mundarttheater, Kabarett usw. widmet. In früheren Zeiten wurde die Lothringer Kultur mündlich tradiert in den sogenannten „Meistuben“, Spinnstuben, in denen sich die Nachbarn abends trafen. Angelika Merkelbach-Pinck (1885-1972) hat diese „Sagen, Schwänke, Legenden, Bauerngeschichten, Redensarten, Sprichwörter“, so der Untertitel eines ihrer zahlreichen Bücher, aufgeschrieben. Ihr Bruder, der Pfarrer Louis Pinck (1873-1940), hat als Musikethnologe 2.500 Volkslieder aufgezeichnet und unter dem Titel „Verklingende Weisen“ veröffentlicht. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts werden die ersten Mundartgedichte veröffentlicht (Morck 2004). Umfangreichere Werke in Hochdeutsch sind selten. Unter diesen sollen zwei das wechselhafte Schicksal der Region spiegelnde Romane hervorgehoben werden. Adrienne Thomas (1897- 1980), geboren in Saint-Avold/ Sankt Avold als Tochter von aus dem Altreich zugewanderter Eltern, verarbeitete in ihrem Roman Kathrin wird Soldat ihre während des Ersten Weltkriegs als junge Freiwillige des Roten Kreuzes in Metz gemachten traumatischen Erfahrungen. Das 1930 erschienene Buch wurde in Deutschland zu einem großen Erfolg und in rund fünfzehn Sprachen übersetzt. Wegen seines pazifistischen Charakters wurde es von den Nazis verbrannt. Der in Metz geborene Ernst Moritz Mungenast (1898-1964), dessen Vater aus einer aus Tirol eingewanderten Familie und dessen Mutter aus Bitche/ Bitsch stammte, lebte nach einer Verwundung im Ersten Weltkrieg zuerst in Berlin und dann in Stuttgart als Journalist und freier Schriftsteller. Sein Werk ist jedoch durch seine Lothringer Jugend geprägt; so auch das im Jahr 1939 erschienene Familienepos Der Zauberer Muzot , in dem er eine Chronik der Jahre 1848 bis 1939 liefert. Heute gibt es keine deutsche Tageszeitung oder Zeitschrift mehr. Deutsch taucht allenfalls marginal in Publikationen auf, um die regionale Verankerung zu betonen, beispielsweise in Form einer Witzerubrik in der Wochenzeitung L’Ami hebdo . 32 In regionalen Radio- und Fernsehsendern finden sich vereinzelte Mundartsendungen, zum Beispiel die Radiosendung Platt rede isch gesund bei Radio Mélodie 33 oder Platt Bande , ein wöchentliches Magazin im Saargemünder lokalen Fernsehsender. 34 Das mittlerweile seit zwanzig Jahren an der Mediathek von 29 www.culture-bilinguisme-lorraine.org (Letzter Zugriff 14.11.2018). 30 www.57pdm.org (Letzter Zugriff 14.11.2018). 31 www.mediatheque-agglo-sarreguemines.fr/ ? s=francique (Letzter Zugriff 14.11.2018). 32 https: / / www.ami-hebdo.com/ (Letzter Zugriff 7.1.2019). 33 http: / / www.radiomelodie.com/ podcasts-liste/ 13-platt-redde-isch-gesund.html (Letzter Zugriff 7.1.2019). 34 Bei dem Namen der Sendung handelt es sich um ein zweisprachiges Wortspiel: la plate-bande heißt auf Deutsch ‚das Gartenbeet‘ (https: / / www.mosaik-cristal.tv/ category/ le-supplement/ platt-bande/ ; letzter Zugriff 27.11.2018). 124 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="125"?> Sarreguemines angesiedelte Mir redde Platt -Festival ist das Schaufenster für alle kulturellen Aktivitäten um die Regionalsprache. 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Kontaktsprachen Erste und omnipräsente Kontaktsprache ist Französisch: Es ist die Dachsprache, die die Funktionen als Standard-, Schrift-, Schul- und Amtssprache übernimmt (Pitz 2003: 136). Wie oben beschrieben wurde die Französisierung Lothringens nach dem Zweiten Weltkrieg massiv vorangetrieben. Außerdem haben die sozio-ökonomischen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Dialektrückgang verstärkt. Nachdem regional ausgerichtete Landwirtschaft und produzierendes Gewerbe bzw. Bergbau an Bedeutung verloren haben, ist es der am nationalen Markt orientierte Wirtschaftszweig der Dienstleistungen, der dem Französischen Vorschub leistet (Stroh 1993: 99). So ist es die Sprache des wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs geworden und mit hohem sozialen Prestige verbunden (Stroh 1993: 38). Dabei ist in der Moselle germanophone eine Form des Französischen mit einigen kontaktinduzierten typischen Merkmalen auf sämtlichen sprachlichen Ebenen zu finden, zum Beispiel in der Prosodie: „[E]s wird nach deutschem Muster die erste Silbe akzentuiert“ (Stroh 1993: 38). Walter (2012: 90) nennt in diesem Zusammenhang die Ersetzung der Nasalvokale durch orale Vokale wie zum Beispiel in Pardò für pardon (‚Verzeihung‘). Rispail et al. (2012: 61) beobachten bezüglich phonetisch-phonologischer Merkmale eine eher geschlossene Realisierung des [ɛ], zum Beispiel in lait (‚Milch‘). Auf grammatischer Ebene findet sich mitunter der Einsatz eines Artikels vor Eigennamen (Rispail et al. 2012: 62). Auch im Bereich der Präposition kann es im Vergleich zum Standardfranzösischen zu Variation kommen: So folgt im Französischen auf das Verb attendre (‚warten‘) regulär das Akkusativ-Komplement, in Lothringen dagegen wird die Präposition sur (‚auf ‘) verwendet (Rispail et al. 2012: 75). So entstehen Äußerungen wie „ J’ai attendu sur lui (Ich habe auf ihn gewartet)“ (Stroh 1993: 38). Schließlich werden auf lexikalischer Ebene viele Entlehnungen aus dem Dialekt bzw. dem Deutschen übernommen, zum Beispiel Katz für chat , Schnuddel (‚Nasenschleim‘) für morve , rätsche (‚reden‘, ‚plaudern‘) für bavarder usw. (Rispail et al. 2012: 78 ff.). Häufig werden auch ganze Wendungen aus dem Dialekt wortwörtlich ins Französische übersetzt wie etwa „ Je l’ai terriblement dans la croix ( Ich honns schrecklisch im Kritz )“ (Pitz 2003). 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen 5.2.1 Regionaler Standard Historische Dokumente belegen für das deutsche Bellistum von den 1330er Jahren bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts eine „Dominanz des Deutschen als Urkunden- und Verwaltungssprache - und zwar durchweg des Rheinfränkischen in einer spezifisch westlichen Variante“ (Pitz 2007: 350 f.). Ähnliches gilt für das Geschäftsschriftgut Oberlothringens (Herrmann 1995). Für über 200 Jahre musste es dem Französischen weichen, bevor es ab Ende des 17. Jahrhunderts/ Anfang des 18. Jahrhunderts als „Sprache der Predigt und der religiösen Unterweisung“ (Moser 1962: 9) bzw. generell als „Sprache der Kirche“ (Gabriel 2005: 12) und später auch als Schriftsprache in der Schule zurückkehrte bzw. sich durch und über die Schule Der germanophone Teil Lothringens 125 <?page no="126"?> erst richtig in der Bevölkerung verbreitete. Während der Phase der politischen Zugehörigkeit zu Deutschland war es jeweils die Schulsprache; seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat Französisch diese Funktion übernommen. Heute ist ein regionaler Standard als gesprochenes Phänomen im normalen Alltag nicht relevant; dessen Funktionen wurden vollständig vom Französischen übernommen. Aktuell kommt es teilweise über den Schulunterricht als Fremdsprache bzw. als Sprache des Nachbarn zurück (s. Abschnitt 4.3), aber eben nicht als regionsgenuines Phänomen. Dementsprechend wird es nur zu bestimmten Anlässen in mündlichen Interaktionen verwendet: Ein regional gefärbtes Deutsch wird vor allem von den Ost-Lothringern, die in der ‚deutschen Zeit‘ zur Schule gingen, in Situationen in Deutschland gebraucht, die ein anderes Register als den Dialekt erfordern, etwa beim Einkauf in Saarbrücken oder in Gesprächen mit deutschen Standardsprechern. (Stroh 1993: 40) In jüngeren Generationen ist die regionale Färbung angesichts des Erwerbskontexts als Transferenz eher aus dem Französischen denn aus dem Dialekt einzuordnen. Zur Unterfütterung der Darstellung der soziolinguistischen Situation in der Moselle germanophone wurden zwischen September 2017 und Juni 2018 im Rahmen eines Projekts des Instituts für Deutsche Sprache (IDS) Datenerhebungen durchgeführt. In diesen Daten wurde die fehlende Vitalität des Standarddeutschen v. a. im schriftlichen Bereich deutlich. So wurde u. a. ein deutscher Text vorgelegt, der von den Informanten vorgelesen werden sollte. Angesichts der fehlenden Routine gelang nur Wenigen ein flüssiges, sinnerfassendes Lesen. Die aktuelle Rolle des Standarddeutschen im Sprachrepertoire in Ost-Lothringen ist im lokalen wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs umstritten: So sprechen einerseits die genetische Nähe und die historische Praxis (s. Gabriel 2005) für seine Berücksichtigung im Sprachenrepertoire basierend auf der Annahme einer medialen Diglossie (vgl. Kolde 1981: 65 ff.): La langue régionale de Lorraine germanophone est composée de l’ensemble des dialectes franciques et alémaniques parlés en Moselle, dialectes de l’allemand, et de l’allemand standard, forme écrite traditionnelle et forme normée de la langue régionale. (www.culture-bilinguisme-lorraine. org/ fr/ le-platt/ definition-langue-regionale; letzter Zugriff 24.10.2018; Hervorhebungen im Original) 35 Unter dieser Perspektive würde die Regionalsprache Lothringens aus verschiedenen Sprachlagen mit verschiedenen Funktionen bestehen, die Platz für die deutsche Standardsprache ließen. Andererseits gibt es eine Reihe von Regionalisten, 36 die das Standarddeutsche ausgeklammert wissen möchten (Ammon 2015: 119; Hughes 2005: 137). 37 Auch in den Interviews aus unseren Datenerhebungen waren beide Positionen vertreten: 35 Die Regionalsprache des deutschsprachigen Lothringens besteht aus allen fränkischen und alemanischen Dialekten, die in der Moselle gesprochen werden, aus Dialekten des Deutschen und aus Standarddeutsch, traditionelle Schriftform und normierte Form der Regionalsprache (Übersetzung R.B.). 36 Plus den französischen Staat (s. Abschnitt 4.3). 37 So beobachtet Ammon (2015: 119) etwa: „Speziell bei den elsässischen und lothringischen Varietäten ist die - wenngleich schwache - zusätzliche Überdachung seitens des Standarddeutschen ein kaum abzuweisender weiterer Grund für die Zuordnung zur deutschen Sprache. Jedoch sind manche Formulierungen in Frankreich auffällig darauf bedacht, diese Zuordnung zu vermeiden.“ 126 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="127"?> (1) Das ist ja weil wir halt einen, einen germanischen Dialekt haben, das ist ja was, was noch schwieriger war, um unseren Dialekt zu verteidigen. Da war ja immer das Missverständnis zwischen deutscher Sprache und Dialekt. Ich kämpfe heute immer noch da-, dagegen, dass man das nicht alles in einen Sack tut. Das ist ja Unsinn, hat ja - das bringt ja zu nichts. (SL-w3: 00: 04: 54) Während in Beleg (1) ein Zusammenhang mit dem Deutschen - und somit auch mit dem Standarddeutschen - geleugnet wird, wird in der folgenden Aussage ausgehend von der Bezeichnung „déitsch“ eine Brücke vom Dialekt zum Standard geschlagen. (2) Aber mir honn immer gsat: ‚Mir redde déitsch.‘ Un sch fin das noch am beschde. Da‘sch trotzdem s beschde Begriff. Für misch. Mir redde déitsch oder mir redde Platt. Jo. Mit Platt, Platt kann isch misch oanfreunde. Weil das heischt, ‘s gibt die Hochsprache, Schriftsprache. Un es gibt diese verschiedene Dialekte, wenn man das jetzt Platt nennt, warum nischt. (BL-m2: 00: 31: 20) Angesichts der weitgehenden Irrelevanz des Standarddeutschen im Alltag und der eingeschränkten Kompetenz der Sprecher ist der Platz der deutschen Standardsprache im Sprachgefüge unsicher. 5.2.2 Umgangssprache Eine Umgangssprache im Sinne einer intermediären Sprachlage zwischen den Polen Standardsprache und Dialekt gibt es als flächendeckendes gesprochenes Phänomen ebenfalls nicht (Magenau 1962: 26). Als einzige in einem größeren Gebiet verständliche Verkehrssprache, d. h. Koiné, kann das sog. Berschmònnsplatt (‚Bergmannsplatt‘) (Stroh 1993) oder die Bärschmannsprooch (‚Bergmannsprache‘) (Crévenat-Werner 1998) angeführt werden. Dabei handelt es sich um eine Ausgleichssprache ohne tiefe basisdialektale Merkmale, die bis in die 1960er Jahre im Kohlebecken verwendet wurde, „wo Bergleute aus den unterschiedlichsten Regionen Ost-Frankreichs, aus dem Saarland und Rheinland-Pfalz zusammenkamen“ (Stroh 1993: 5), aber auch aus dem europäischen Ausland und den Maghreb-Staaten. In typischen Grubenstandorten (Freimingen-Merlenbach/ Freyming-Merlebach, Petite-Rosselle/ Kleinrosseln) verdrängte das Berschmònnsplatt teilweise die angestammten Ortsdialekte. Letztlich brachte jedoch auch der Ausgleich jeweils verschiedene Varietäten hervor. In Crévenat-Werners Feldforschung bzw. in ihren Interviews mit Bergleuten kam der Variantenreichtum der Ausgleichssprache vor allem in der Lexik zum Vorschein. So ließen sich systematische Unterschiede zwischen zwei Schächten (Schacht Simon (Forbach) und Schacht Fünf/ Vouters (Merlebach)) herausarbeiten, derart etwa, dass derselbe Gegenstand zum Beispiel einmal pïckel und einmal hack genannt wird (Crévenat-Werner 1998: 81). Das Berschmònnsplatt konnte sich allerdings nicht bis zum Ende des Bergbaus im Jahr 2004 behaupten, sondern wurde ab den 1960er Jahren nach und nach durch Französisch ersetzt (Crévenat-Werner 1998: 56). In Situationen, in denen unterschiedliche Dialekte zusammenkommen, reicht die strukturelle Ähnlichkeit oft für die gegenseitige Verstehbarkeit aus, so dass jeder in seinem Dialekt bleibt. Andernfalls - v. a. bei Beteiligung eines Elsässers - wird auf Französisch zurückgegriffen (Rispail et al. 2012: 28). Den Informanten aus meinen Erhebungen gelingt die Kommunikation mit Sprechern aus anderen Gebieten unterschiedlich gut: Der germanophone Teil Lothringens 127 <?page no="128"?> (3) Der Dialekt ist ein bisschen anders, aber die [Bitscherländer] verstehen uns (.) trotzdem sehr gut. Wir haben vielleicht mehr Mühe für - enfin, manche von hier haben vielleicht mehr Mühe, sie zu verstehen, aber sie verstehen uns besser. (KG-w2: 00: 19: 43) (4) Und aber was ich nicht verstehe, das sind die Lothringer von Nord-Lothringen äh, die äh, die äh, der YY. […] Äääh, ab-, als wir uns trafen dann äh, dann sprachen wir Französisch, weil wir, ich verstander versteht mich, aber ich versteh’ ihn nicht ganz. Ja. Weil die, die is’ ja schon mehr luxemburchischer wie der - Luxemburjer versteh’ ich auch nicht so gut. (BL-m6: 00: 33: 14) Insgesamt lässt sich hinsichtlich der Verstehbarkeit und der Kommunikationsgebiete eine Zweiteilung der Moselle-Est beobachten: So gibt es einerseits das Saargemünder- und Bitscherland, deren Bewohner trotz einiger untergeordneter dialektaler Unterschiede in regem Austausch miteinander stehen, wobei jeweils Platt gesprochen werden kann. Von dort ist die Handlungsgrenze zum Elsass teilweise durchlässig. Andererseits gibt es das Niedland und das Dreiländereck im Westen, mit deren Bewohnern Sprecher aus dem Osten weniger zu tun haben - wenn, dann auf Französisch. Dies gilt umso mehr für das angrenzende Luxemburg mit seiner westmoselfränkischen Nationalsprache. Aus der Sicht von Sprechern aus dem Westen gibt es dagegen weniger Verständigungsprobleme mit Saargemündern und Bitscherländern; sie sind aber in ihrem Bewegungsradius eher Richtung Luxemburg orientiert. Das Kohlegebiet bildet ein Übergangsgebiet mit nicht ganz klarem Muster. 5.2.3 Dialekte Mit Lothringer Platt soll die im nördlichen und östlichen Teil des Departements Moselle gesprochene französische Regionalsprache bezeichnet werden. Sie wird auch oft von ihren Sprechern einfach Platt genannt, wobei diese Bezeichnung, glaubt man einem aktuellen Sprachführer (Rispail et al. 2012) bzw. einem Heimatkundeschulbuch (Curin 2012), im Gegensatz zum französischen patois , keine negative Konnotation hat. 38 Besonders im östlichen Teil des Gebietes wird es auch als Ditsch bezeichnet (Moureaux 2015). In der französischen Wissenschafts- und Verwaltungssprache hat sich in letzter Zeit der Begriff francique sowohl als Substantiv wie als Adjektiv eingebürgert, etwa la Moselle francique , le francique (de Lorraine) . Von dessen wortwörtlicher Übersetzung ins Deutsche ist abzuraten, da sowohl die Worte Fränkisch wie Moselfränkisch im Deutschen andere sprachliche Gegebenheiten bezeichnen. Der eigene Sprachname deutet auf den beanspruchten eigenständigen Status der Varietäten hin (vgl. 4.3). So gibt es eine starke Bewegung, die - unter Berufung auf Daniel Laumesfeld (1996) - für das germanophone Lothringen „das ʻFränkischeʼ als ( Regional- ) Sprache Lothringens deklarieren und das ‚Deutsche‘ aus dieser Rolle verdrängen“ (Gabriel 2005: 11) will. Der Argumentation zufolge handelt es sich beim Francique (sowie dem Elsässischen) und beim Deutschen zwar in beiden Fällen um germanische Sprachen. Diese verfügten jedoch über unterschiedliche Geschichten - nach denen das Deutsche (i.S.v. Standarddeutsche) jünger als das Francique sei (Laumesfeld 1996: 87 ff.), so dass zwischen den beiden kein Überdachungsverhältnis aufgrund einer historischen Genese bestehe. Vielmehr handele es sich um zwei eigenständige Sprachen, wobei Francique sämtliche westmitteldeutschen Varietäten (auch in Deutschland) umfasse. 38 Als Beleg sei auf zwei rezente Einführungen in diese Regionalsprache verwiesen: Rispail et al. (2012), Curin (2012). 128 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="129"?> Ein Sonderfall ist außerdem das Luxemburgisch-Fränkische, das im Nachbarstaat Luxemburg Nationalsprache ist. Mit dem Nachbarstaat teilt es nicht nur das unverschobene p im Auslaut (im Gegensatz zum Rest von Lothringen, der die verschobene Variante zeigt), sondern bis 1659 auch seine Geschichte. Bis zu diesem Jahr bildete das Gebiet um Thionville/ Diedenhofen den Süden des Herzogtums Luxemburg, kam jedoch im Kontext des Pyrenäenfriedens zu Frankreich (Pauly 2011: 57). „Die sprachliche [und emotionale] Bindung an Luxemburg blieb auch nach dem territorialen Übergang an Frankreich weiter bestehen“ (Stroh 1993: 37, Fußnote 8). Dialektgeographisch lässt sich das Lothringer Platt dem Westmitteldeutschen zuordnen, das im Osten an das alemannische (oberdeutsche) Gebiet grenzt, und anhand von Isoglossen in mehrere kleinere Dialektgebiete unterteilen. Über die genaue Einteilung bzw. Bezeichnung besteht jedoch Uneinigkeit. So lässt sich zunächst als strukturierendes Modell der sog. Rheinische Fächer heranziehen. Dabei handelt es sich um ein Bündel von Isoglossen (der gestaffelten Verschiebung der germanischen Verschlusslaute in der Zweiten Lautverschiebung), das im Rheinland fächerartig auseinanderläuft und mit dessen Hilfe das westliche germanophone Sprachgebiet gegliedert wird. Unter anderem wird auf der Basis der dat-das -Linie das Moselfränkische ( dat ) vom Rheinfränkischen ( das ) unterschieden. Diese Isoglosse geht nordöstlich von Siegen von der Benrather Linie ( maken-machen ) ab und zieht sich dann kontinuierlich herunter in den Südwesten bis zur germanisch-romanischen Sprachgrenze in Lothringen (vgl. Abbildung 4). Abb. 4: Rheinischer Fächer 39 Dementsprechend teilt sie Ost-Lothringen in einen moselfränkischen Westen und einen rheinfränkischen Osten (König 2007: 230; Niebaum/ Macha 2014: 248), entlang einer Linie (nord-) 39 Quelle: Niebaum/ Macha 2014: 113. Der germanophone Teil Lothringens 129 <?page no="130"?> westlich von Saarbrücken - nördlich von Forbach - westlich von Saint-Avold/ Sankt Avold - östlich von Falkenberg/ Faulquemont. Die Analysen der Verteilung der Konjugationsformen der Verben sein und haben von Philipp/ Weider (2002) bestätigen diese „althergebrachte Einteilung in einen moselfränkischen und einen rheinfränkischen Mundarttyp“ (Philipp/ Weider 2002: 80). Auch Wiesinger (1983) nennt Mosel- und Rheinfränkisch als zwei zentrale Dialektgruppen im germanophonen Westen. Allerdings setzt er keine trennscharfe Unterteilung, sondern vielmehr eine breite Übergangszone zwischen den beiden Räumen an, die nördlich und südlich die dat-das -Linie säumt. Demzufolge würde der Großteil von Ost-Lothringen in diesem Übergangsgebiet liegen. Am weitesten verbreitet ist jedoch das Modell einer Dreiteilung des Gebiets. So befindet sich im Osten (der dat-das -Linie) der rheinfränkische, in der Mitte (westlich der dat-das -Linie; um die Städtchen Boulay/ Bolchen und Bouzonville/ Busendorf) der moselfränkische und im Nordwesten schließlich - getrennt durch die op-of -Linie - der sog. luxemburgisch-fränkische Teil (um die Orte Thionville/ Diedenhofen und Sierck herum) (s. Botz 2013: 61-65; Rispail et al. 2012: 12). 40 Hudlett (2004a: 224) weist basierend auf mikrodialektalen und feinstatistischen Untersuchungen jedoch darauf hin, „dass im ALMOGERM 41 -Gebiet Fränkisch und Alemannisch räumlich nicht klar getrennt sind.“ Dieses Ergebnis steht allerdings diametral zur inneren subjektiven Wahrnehmung der Lothringer, die die Unterschiede betonen (vgl. Botz 2013: 65, Philipp 2003: 49; Rispail et al. 2012: 16 f.). Diese Unterschiede lassen sich durchaus auch linguistisch-strukturell untermauern. 42 So gibt es weitere sprachliche Phänomene, die nicht flächendeckend verbreitet sind, sondern nur in bestimmten Teilen auftreten. Das Moselfränkische zeichnet sich durch einen „maximalen Formenreichtum“ (Philipp/ Weider 2002: 90) aus, und viele aus dem Norden kommende Isoglossen laufen im moselfränkischen Teil Ost-Lothringen zusammen (vgl. Wiesinger 1983: 87 (Karte 47.8)). Unter anderem ist zu beobachten, dass nach Liquid westlich der Linie S Saaralben - Saargemünd - S und W Saarbrücken - W Ottweiler - St. Wendel - Baumholder - S und W Birkenfeld - Idarwald - Hunsrück - S Boppard/ Rhein normalmhd. -rb und -rf in / f / zusammenfallen und östlich als / b / : / f/ getrennt bleiben, zum Beispiel / kǫr(ə)f/ = / -dǫr(ə)f/ gegenüber / kǫr(ə)b/ : / dǫr(ə)f/ ‚Korb‘, ‚Dorf ‘. (Wiesinger 1983: 848) Quer dazu verläuft von Westen nach Osten fast horizontal beginnend zwischen den Orten Boulay/ Bolchen und Bouzonville/ Busendorf und dann weiter nördlich vom restlichen Ost-Lothringen die Grenze des Diphthongierungsgebiets (Botz 2013: 63 ff., König 2007: 146). Die Gebiete nördlich dieser Grenze wurden zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert von der Diphthongierung erfasst, sodass aus Win Wein und aus Hus Haus wurde, während südlich der Grenze, d. h. im Großteil der Moselle germanophone , die monophthonge Form beibehalten wurde. Des Weiteren ist in einer Ecke des Bitscherlands (Rheinfränkisch) der sog. Rhotazismus vorzufinden (Rispail et al. 2012: 187). Dabei handelt es sich um ein typisch rheinfränkisches Merkmal, das v. a. in der westlichen Vorderpfalz und der Nord- und der Westpfalz zu finden ist. „Dieser Rhotazismus hat […] in der Regel die auf germanisch d und þ (= Thorn, ein dentaler 40 Außerdem gibt es auch noch einen kleinen vierten Teil im äußersten Südosten, in dem ein Zipfel des Alemannischen in das Départment Moselle ragt. Dieser bleibt hier wie im gesamten Text unberücksichtigt. 41 ALMOGERM = Alsace et Moselle germanophone 42 Indes haben die Unterschiede unterschiedlichen großen Einfluss auf die Kommunikation innerhalb des Gebietes (vgl. 5.2.2). 130 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="131"?> Reibelaut, vergleichbar englisch th ) zurückgehenden Dentale [d. h. d und t / tt ] in zwischenvokalischer Stellung sowie alle d in der Verbindung Vokal plus del erfaßt“ (Post 1992: 90). Ein klassisches Beispiel für das Phänomen ist die Realisierung von stdd. Bruder als Bruurer . Auch auf morphologischer Ebene gibt es grundlegende Formengegensätze, die zu einer strukturellen Heterogenität im Lothringer Platt führen. So wird östlich von Bouzonville/ Busendorf in Nominalphrasen mit attributivem Adjektiv im Maskulin zwischen Nominativ und Akkusativ overt unterschieden, d. h. der alte Apfel kontrastiert mit den alten Apfel . Westlich der Linie gibt es dagegen vereinheitlichte Formen nach dem Muster des Akkusativs, so dass es in beiden Kasus den alten Apfel heißt (Wiesinger 1983: 848). Hinzu kommt der Formengegensatz beim Diminutivsuffix als lein gegen chen (/ l/ : / ꭓə / ) […], der sich an der Linie SW und W Saaralben - N Bitsch - W Pirmasens - O Kaiserslautern - S Grünstadt - Worms/ Rhein - Bensheim - Michelstadt - Klingenberg/ Main scheidet, zum Beispiel / šdigl / : / šdig ꭓ ə / ‚Stücklein‘. (Wiesinger 1983: 847 f.) Für die Ebene der Lexik, die typischerweise am variationsreichsten ist, seien beispielhaft die Bezeichnungen für „sprechen“ angeführt. So heißt es westlich von Sarreguemines/ Saargemünd und Saaralbe/ Saaralben schwätze ( n ); ab diesen beiden Orten und bis ans östliche Ende dagegen redde . Dabei handelt es sich um eine sehr saliente Variation, die nicht zuletzt durch das Festival Mir redde platt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt ist. Da in dem Festival sämtliche Dialekte der Moselle germanophone repräsentiert werden sollen, kam es bezüglich des Namens zu großen Diskussionen, die ohne Einigung blieben. In Forbach gibt es inzwischen eine parallele Veranstaltung unter dem Titel „Mir schwätze platt“. Im Bereich der Wortfelder des menschlichen Körpers, der Krankheiten und Haustiere zeigt der Atlas linguistique et ethnographique de la Lorraine germanophone von Philipp et al. (1977) sehr anschaulich die diatopische Variation. 5.2.4 Sprachliche Charakteristika Wie in Abschnitt 5.2.1 beschrieben ist die Verwendung einer standardnahen Varietät innerhalb der Sprachgemeinschaft inzwischen eher ein historisches Phänomen. Alle Funktionen einer Standardsprache werden heute vom Französischen ausgefüllt. Es ist außerdem davon auszugehen, dass es keine Sprecher mehr gibt, die ihre gesamte Schulzeit auf Deutsch verlebt haben. Als älteste lebende Generation kann vielmehr die Kriegsgeneration angesetzt werden, die während der Zeit des Zweiten Weltkriegs einige Jahre auf Deutsch beschult wurde, sich danach jedoch unter massivem Druck auf Französisch umstellen musste. Dementsprechend ungeübt sind sie und alle nachfolgenden Generationen im Schreiben des Deutschen. Die meisten (eigenen) Schriftstücke werden daher auf Französisch verfasst. Auch genuin lothringische Druckerzeugnisse auf Deutsch gibt es nicht mehr (s. Abschnitt 4.4). Dementsprechend können über aktuelle sprachliche Charakteristika des Standarddeutschen, die über individuelle Performanzphänomene hinausgehen, kaum Aussagen gemacht werden. Für die Verhältnisse um die Mitte des 20. Jahrhunderts im Bereich der Zeitungssprache bietet die Untersuchung von Magenau (1962) einen guten Überblick. Die Situierung Lothringens an der Peripherie des deutschen Sprachgebiets mit einer exolektalen Staatssprache wirkt sich ihr zufolge in dreierlei Weise aus: Erstens kann man „einen gewissen Stillstand Der germanophone Teil Lothringens 131 <?page no="132"?> in der Entwicklung der heimischen Sprachmittel und eine wachsende Unsicherheit in deren Gebrauch“ (Magenau 1962: 150), d. h. Konservativismus diagnostizieren (Sprachstand der Zeit von 1870-1918). Zweitens gibt es eine enge Verbundenheit mit den Mundarten, so dass sich auch in der Schriftsprache dialektaler Einfluss zeigt. Schließlich sind v. a. auf der Ebene der Lexik französische Entlehnungen zu finden. Dabei handelt es sich zum großen Teil um Wörter, die auch in Deutschland bekannt sind, dort jedoch relativ wenig gebraucht werden. In der Syntax fallen (in beschränktem Maße) abweichender Gebrauch der Kasus und der Präpositionen sowie Unsicherheit in der Wortstellung auf, die allesamt ab 1944 (wieder) zunehmen (Magenau 1962: 146). 5.2.5 Sprachformen: Verteilung innerhalb der Sprechergemeinschaft 43 Frühere Maßnahmen zur Französisierung Ost-Lothringens zeigten nur geringe Effekte. Jedoch haben die Ereignisse v. a. des Zweiten Weltkriegs ein kollektives Trauma bei der Bevölkerung ausgelöst, das eine eigenständige Identität auf der Basis ihres germanophonen Dialekts massiv erschwerte. In der Folge wurde die Förderung des Französischen mit wenig Widerstand hingenommen und in vielen Familien die Weitergabe des Lothringer Platt aufgegeben (Dorner 2012). Eine Umfrage des französischen Statistikamtes (INSEE) aus dem Jahr 1999 ( Enquête Famille ) belegt diesen Bruch der intergenerationellen Weitergabe mit Zahlen. Sie ergab, dass über 70 Prozent der Väter mit ihren 5-jährigen Kindern nicht gewöhnlicherweise Lothringer Platt sprachen, obwohl ihre eigenen Väter dies getan hatten (Héran et al. 2002: 3). Im Juli 2007 hat Daniela Dorner im Rahmen des EU-Projekts LINEE (Languages in a network of European Excellence 2006-2010) eine quantitative Erhebung zur Vitalität des Francique und von Spracheinstellungen in Freyming-Merlebach/ Freimingen-Merlenbach (Kohlegebiet) durchgeführt. Dazu wurden 700 Fragebögen ausgeteilt, 44 von denen 200 ausgefüllt zurückgegeben wurden (Rücklaufquote ca. 28,6 %). Dabei zeigte sich, dass vor allem Frauen, d. h. Mütter, sich damit zurückhalten, mit ihren Kindern Platt zu sprechen. Außerdem gab es einen signifikanten Unterschied, ob die Befragten selbst mit (mindestens) einem Elternteil Platt gesprochen haben oder nicht und ob sie mit dem jeweiligen Partner Platt sprechen. Ist dies der Fall, wurde umso mehr auch mit den Kindern Platt gesprochen. Französisch war die häufigste Muttersprache der Befragten; die Muttersprache ihrer Eltern hingegen eher Platt oder Deutsch (Dorner 2009). Hughes (2005) hat eine delivery/ collection -Umfrage unter 120 grenzüberschreitenden Berufspendlern aus dem Gebiet zwischen Saargemünd/ Sarreguemines und Lemberg gemacht, die im angrenzenden Saarpfalzkreis arbeiten. Für diese Gruppe sind ihre Ergebnisse repräsentativ; jedoch nicht für sämtliche germanophonen Dialektsprecher aus der Moselle, „da erwartet wurde, dass der Dialekt von den Grenzgängern besser gepflegt wird als von anderen Gruppen“ (Hughes 2005: 145; Übersetzung R.B.). Es stellte sich im Wesentlichen heraus, dass die meisten Befragten den Dialekt sprechen oder - im Fall von Jüngeren - zumindest verstehen. Trotzdem gibt es eine große Tendenz, Französisch zu sprechen -, besonders unter Jüngeren und besonders mit (den eigenen) Kindern (Hughes 2005: 146 f.). 43 Für die historischen Verhältnisse s. Abschnitt 2. 44 Grundlage für die Auswahl der Teilnehmer war das Telefonbuch: Hier wurde jeder zehnte Eintrag ausgesucht (öffentliche Einrichtungen wurden übersprungen), d. h. an die entsprechende Adresse jeweils ein Fragebogen samt frankiertem und adressiertem Rückumschlag gesendet. 132 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="133"?> Stroh (1988) liefert eine kurze generationsgebundene Analyse des Sprachgebrauchs ebenfalls für das Kohlegebiet. Ihre jüngste Generation waren damals die 20bis 30-Jährigen, d. h. die zwischen 1959 und 1968 Geborenen. Strohs Einordnung der Lebensumstände der Generationen waren folgendermaßen: Die 50-Jährigen haben z.T. Deutsch, z.T. Französisch in der Schule gelernt. Sie sprechen im allgemeinen besser deutsch als französisch, da sie im Mundartmilieu aufgewachsen sind. Sie gelten als „Kriegsgeneration“. Die 40-50-Jährigen haben die Nachkriegszeit mit ihrer antideutschen Einstellung während ihrer Schulzeit miterlebt. Ihnen war es verboten, in der Schule deutsch zu sprechen. Für sie ist zudem das sichere Beherrschen der französischen Sprache Voraussetzung für den sozialen Aufstieg. (Stroh 1988: 98) In ihrer Dissertation von 1993 ergänzt sie: Die Kriegs- und Nachkriegsgeneration, die dem sozialpsychologischen Druck der Nachkriegszeit verstärkt ausgesetzt waren und mit dem vielzitierten Schuldkomplex der Elsaß-Lothringer zu kämpfen hatten, unterbrachen die Tradition der Dialektweitergabe. (Stroh 1993: 99) Bei der [jüngeren] Generation der 20bis 30-Jährigen beschränkt sich der Gebrauch des Dialekts auf das Elternhaus. (Stroh 1988: 93) Ihre kurze, impressionistische Einschätzung lautet: „Kinder verfügen heute nur noch über passive Dialektkenntnisse“ (Stroh 1988: 98). Rispail (2003) und Laumesfeld (1996) greifen noch einmal die Volkszählung von 1962 auf (vgl. Abb. 2) und stellen eine geografische Differenzierung hinsichtlich der Sprachvitalität fest: En effet, d’après les enquêtes récentes, la population d’habitants parlant le francique et le pratiquant va de 48 % (région de Thionville-Sierck) à 90 % (régions de Saarebourg, Bitche, etc.). (Rispail 2003: 16; vgl. Laumesfeld 1996: 28) 45 Unsere eigene Feldforschung kann die bisherigen Beobachtungen teilweise bestätigen. Es sei an dieser Stelle betont, dass es grundsätzlich relativ einfach war, Informanten zu finden, was dem allgemein vorherrschenden Bild einer bereits gestorbenen Varietät widerspricht. Am Ende der Datenerhebungen (Frühsommer 2018) waren Informanten aus verschiedenen Gebieten der Moselle-Est befragt; hauptsächlich aus den Jahrgängen 1940-1960. Angesichts der niedrigen Fallzahlen (n = 30) lässt sich zwar keine belastbare Systematik der Verteilung der Sprachformen beschreiben. Tendenziell sind jedoch die Faktoren Alter/ Generation und Herkunftsgebiet ausschlaggebend. Die älteste Gewährsfrau aus dem Jahr 1928 war auch diejenige mit den umfassendsten Kompetenzen, d. h. in Französisch, Platt und Standarddeutsch. Die vor 1928 Geborenen gehören der Vorkriegsgeneration an, die ihre Schulzeit vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs absolvierte. Inzwischen gibt es nur noch sehr wenige dieser Generation der heute 90bis 100-Jährigen; im Rahmen der Datenerhebungen des IDS konnte daraus niemand befragt werden. Die Sprecher der Geburtenjahrgänge 1940-1960 sind in einem plattsprachigen Elternhaus aufgewachsen und wurden auf Französisch unterrichtet. Die Schärfe des Deutschbzw. Plattverbots und die Ahndung von Verstößen fielen laut ihren Berichten 45 Jüngsten Erhebungen zufolge liegt die Zahl der fränkisch sprechenden und praktizierenden Einwohner zwischen 48 % (Region Thionville-Sierck) und 90 % (Regionen Saarburg, Bitsch usw.). (Übersetzung R.B.) Der germanophone Teil Lothringens 133 <?page no="134"?> sehr unterschiedlich aus. Die Plattkompetenz gibt ihnen eine gute Basis v. a. für das Verstehen von Standarddeutsch, Quantität und Qualität der Interferenzen fallen sehr individuell aus. In der Generation der 40bis 60-Jährigen (geboren zwischen 1959 und 1978) wird der Faktor „Region“ relevant: Während im Westen vom Dreiländereck bis hin ins Kohlegebiet kaum noch jemand mit Platt als Erstsprache aufgewachsen ist, war dies im Osten noch sehr verbreitet. Passive Kenntnisse erwarben jedoch auch die Kinder im Westen noch. Ab den Geburtenjahrgängen der 1980er verstärkt sich der Regioneneffekt bzw. verschiebt sich weiter in den Osten ins ländliche Gebiet des Bitscherlandes. Dort gibt es bis heute zweisprachige Sprachsozialisation in Französisch und Platt. Standarddeutschkenntnisse nehmen jedoch immer mehr ab: zwar wird der Deutschunterricht ab den 1970er Jahren (Holderith-Methode) immer mehr ausgebaut und um Angebote wie das AbiBac erweitert (s. Abschnitt 4.3), durch die fehlende Relevanz im alltäglichen Leben bleibt Standarddeutsch für die meisten jedoch eine Fremdsprache. Deren Kenntnisse werden u. U. durch berufliche Ausbildung oder berufliche Praxis („professionelle Sprecher“) im Lauf des Lebens gut ausgebaut - sofern diese Kontakt mit deutschen Standardsprechern mit sich bringt; dabei handelt es sich aber um kein selbstverständliches und flächendeckendes Phänomen mehr, wie es früher einmal der Fall war. Generell scheint sich die rezeptive Kompetenz noch sehr viel länger zu erhalten als auch von den Sprechern selber vermutet: (5) Germain Müller […] hat vor 50, 60, 70 Jahren gsat: „Wir sind d’Leschde“. […] Also gab ein Lied „Wir sind d’Ledschde, d’Allerleschde, wo redde wie uns der Schnawwel gewachse isch“ […] Es ist noch da! Und alle die Leute, die in der Mediathek arbeiten… Es ist noch, es ist noch da! […] Sowieso: was wir machen. Es bleibt immer mehr übrig, als man nur glaubt. (BL-m1: 01: 30: 48) Es lässt sich also einerseits feststellen, dass in den meisten Fällen der jüngeren Generationen die L1 Französisch ist (vgl. auch Dorner 2011: 33); andererseits ist zu konstatieren, dass sich der Sprachwechsel keinesfalls so eindeutig und abrupt vollzieht, wie noch vor 20 oder 30 Jahren beschrieben und lange vermutet wurde (vgl. auch Botz 2013: 53; Hemker 2014). 5.3 Sprachenwahl und Code-Switching Auch in Gesprächen unter Dialektsprechern kommt es zum Wechsel zu Französisch. Dieser kann zwischen verschiedenen Redebeiträgen erfolgen, jedoch auch in verschiedenen Formen innerhalb eines Satzes: In ausschließlich auf platt geführten Gesprächen können französische Interjektionen vorkommen: ‚Voyons, wie hamma das gemach.‘ […] Recht häufig sind Unterhaltungen in der Öffentlichkeit zu hören, bei denen lediglich für die Grußformeln die französische Sprache gewählt wird. (Stroh 1993: 39) Genauso häufig ist auch die umgekehrte Konstellation, d. h. dass die Begrüßung auf Platt stattfindet, danach jedoch recht schnell ins Französische gewechselt wird. Ein Gespräch kann auch von ständigen Code-Switchings gekennzeichnet sein. In einer Fallstudie hat sich Anne Fischer (1982) mit der Systematik des Code-Switchens einer Sprecherin wohnhaft in Saarburg, geboren und aufgewachsen in Schiltigheim (Elsass), beschäftigt. Das zentrale Erkenntnisinteresse lag darin, „festzustellen, ob bei unserem Informanten der Sprachwechsel nach definierbaren syntaktischen Einheiten erfolgt.“ (Fischer 1982: 134 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="135"?> 130, Übersetzung R.B. 46 ). In ihrem Korpus fand sie Belege für Code-Switchings an folgenden Stellen (Fischer 1982: 131 ff.): - Nach einem Satz: „Non, non, s’fehlt’m nix. Elle est en bonne forme.“ - Innerhalb eines Satzes, d. h. zwischen Verbalgruppen 47 : „Mais non, elle emmène les enfants, sie schlafe im Hotel.“ oder „Wenn ani affaire fertig isch, alors je commence une autre.“ - Innerhalb einer Verbalgruppe, in der Regel nach der Konjunktion: „Mais qu’est-ce qu’il y a, poupée? Mais was isch? “ - Innerhalb einer Nominalgruppe: „Wenn ani affaire fertig isch, alors je commence une autre.“ Bezüglich des Inhalts der „geswitchten“ Satzteile werden wiederum drei verschiedene Kategorien angesetzt (Fischer 1982: 133 f.): 1. Wörtliche Übersetzung: „Mais qu’est-ce qu’il y a, poupée? Mais was isch? “ 2. Übertragung in sprachspezifische idiomatische Wendungen: „Non, non, s’fehlt’m nix. Elle est en bonne forme.“ 3. Normale Fortführung der Äußerung, ohne den Gesprächsgegenstand zu ändern: In diesen Fällen finden sich in den anderssprachigen Satzteilen Präzisierungen, Erklärungen, Begründungen/ Rechtfertigungen, Schlussfolgerungen oder Anzeige der chronologischen Abfolge der Fakten. Es sei jedoch betont, dass diese Ergebnisse auf den Äußerungen einer einzigen Person beruhen und damit als vorläufig einzustufen sind. Ähnlich und noch viel mehr als im (früheren) regionalen Standarddeutsch sind im Dialekt viele Entlehnungen aus dem Französischen v. a. im Bereich der Lexik und der Interjektionen zu finden - jeweils an die dialektale Lautstruktur angepasst. Rispail et al. (2012: 146-157) nennen u.a.: - Merci (‚Danke‘) - Bòschur (< frz. Bonjour ‚Guten Tag‘) - Awwa/ Auar (< frz. Au revoir ‚Auf Wiedersehen‘) - Ça géht (< frz. Ça va ‚Es läuft‘: teilweise Übernahme des französischen Wortmaterials, teilweise lehnübersetzt) - Allez hop ! (‚Kommt schon, los geht’s! ‘) - Téllévissiò (< frz. télévision ‚Fernseher‘) 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Allgemeines In Gesprächssituationen zwischen verschiedenen Generationen tritt nicht selten eine asymmetrische Kommunikation auf, wenn zum Beispiel die Eltern Platt sprechen und die Kinder auf Französisch antworten. In Gesprächen mit mehreren Teilnehmern reicht die Anwesenheit eines monolingualen Französischsprechers aus, dass die gesamte Unterhaltung auf Französisch geführt wird. So 46 „de déterminer si, chez notre informatrice, l'alternance des langue intervient après des unités syntaxiques définissables.“ 47 Definiert als „Einheit, die einen verbalen Kern enthält, um den sich Akteure wie das Subjekt oder die Objekt- und Indiziengruppe herum befinden“ (Fischer 1982: 131, Übersetzung R.B.). Der germanophone Teil Lothringens 135 <?page no="136"?> ist beispielsweise von einer geselligen Runde von zirka 50-Jährigen auf einem Bauernhoffest im Bitscherland zu berichten - eine Konstellation, bei der eigentlich Platt zu erwarten wäre. Tatsächlich wurde aber Französisch geredet. Später konnte von fast allen Beteiligten in der Adressierung Dritter außerhalb der Runde Platt vernommen werden. Es ist also anzunehmen, dass bei mindestens einer Person in der ersten Gruppe keine Platt-Kenntnisse vorhanden waren. Je größer die Gruppe, umso unüberschaubarer werden die verfügbaren Sprachkenntnisse, so dass auf die lingua franca Französisch zurückgegriffen wird. Dabei lassen sich regionale Unterschiede feststellen. So schlägt sich der stärkere Rückgang im Dreiländereck, d. h. in der Gegend um Thionville/ Diedenhofen und Sierck, auch in der Sprachenwahl nieder: So kann es dort durchaus vorkommen, dass auch in Konstellationen mit nur Platt-L1-Sprechern ausschließlich Französisch gesprochen wird: (6) Und eh, wenn man nicht aufpasst, aah, unter uns […] und meine Freundin, die kommt auch daher, spricht man automatisch Französisch.“ (DE-m1: 00: 12: 34) Beides führt dazu, dass die eigentlich bestehende Mehrsprachigkeit immer mehr verdeckt wird. 6.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten Bei der erwähnten Umfrage von Dorner (2009) stellte sich heraus, dass Mehrsprachigkeit und sprachliche Vielfalt im Kohlebecken eine Tatsache, etwas „Normales“ sind. Nur 10 Prozent der Befragten gaben an, nur eine einzige Sprache zu können. Über 80 Prozent können sogar eine regionale Varietät. 48 In einer weiteren Frage wurde nach der Beherrschung einer oder mehrerer der vier sprachlichen Fertigkeiten (Verstehen, Sprechen, Lesen, Schreiben) gefragt. Für die statistische Analyse wurde die Kompetenz wie folgt definiert bzw. gestuft: Stufe 0: Ich beherrsche keine der vier Fertigkeiten Stufe 1: Ich beherrsche eine der vier Fertigkeiten Stufe 2: Ich beherrsche zwei der vier Fertigkeiten Stufe 3: Ich beherrsche drei der vier Fertigkeiten Stufe 4: Ich beherrsche alle vier Fertigkeiten In über 50 Prozent der Antworten wurde Stufe 3 oder sogar Stufe 4 angegeben, nur rund 5 Prozent erklärten, sie beherrschten nur eine Fertigkeit. Zwischen Frauen und Männern ist ein Unterschied zu beobachten: Die Männer beherrschen nach eigener Einschätzung häufiger alle 4 Fertigkeiten, während sich die Frauen häufiger bei der Kompetenzstufe 0 ansiedeln. Auch das Alter spielt eine Rolle für die Kompetenzen: Die älteren Leute erreichen höhere Kompetenzstufen als die Jüngeren, was für eine Sprachwechselsituation typisch ist. Dieses Gefälle in der Kompetenz von älteren zu jüngeren Generationen wurde auch für die Grenzpendler bei Hughes (2005: 150) beschrieben. Unsere bisher durchgeführten Datenerhebungen erfassen nur aktive Plattsprecher (überwiegend der Jahrgänge 1940-1960), die sich selbst auch als solche identifizieren und sich daher für die Aufnahmen zur Verfügung gestellt haben. Ihre Plattkompetenz war daher kein Thema in den Interviews. Es wurde aber durchaus die Standardbzw. Hochdeutschkompetenz 48 Im Original als „lokale linguistische Varietät“ bezeichnet. 136 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="137"?> kommentiert. Die Einschätzungen fielen unterschiedlich aus, wobei ein Generationenunterschied auffällt: (7) (Auf die Frage, wie er mit dem Deutschunterricht in der Schule zurechtkam) Kein Problem, kein Problem. Und das hat mich dann immer interessiert. Deswegen konnt isch das Deitsch och lese, konnt’s schreibe und bin heit soweit, dass isch heit nach das Spitzdeutsch 49 übersetze […] Spitzdeutsch, kein Problem. (KG-m1: 00: 09: 22) (8) Ja, wir haben auch Probleme Hochdeutsch für Hochdeutsch zu sprechen, das geht nit sooo die Grammatisch, das ist nicht so einfach. (SB-m1: 00: 19: 22) (9) Deutsch, also Hochdeutsch, ist für misch doch etwas wie eine Fremdsprache. Also ich muss doch mehr überlegen, Platt ist bei mir fließend. Das Hochdeutsche, wie du’s auch hörs, da muss isch trotzdem etwas die Wör-, also die Wörter doch mehr oder weniger suchen, zusammensetzen und Ach-, Achtung, das hab ich jetzt falsch rumgedreht und so weider. Im Platt ist das überhaupt kein Problem. (BL-m2: 00: 40: 23) Während die Äußerung (7) von einem Informanten Jahrgang 1941 geäußerte wurde, stammen die anderen Einschätzungen von Sprechern Jahrgang 1961 und jünger. Die bei Weitem überwiegende Mehrheit war jedoch mit der Führung des Interviews „auf Deutsch“ einverstanden, was für eine selbst zugeschriebene Kompetenz zumindest auf der rezeptiven Ebene spricht. Insgesamt fallen die Selbsteinschätzungen bezüglich der Standarddeutschkompetenz somit „vorsichtig optimistisch“ aus. 6.3 Sprachgebrauch: Sprecherkonstellationen und -typen Der Alltag der bilingualen Sprecher mit Kompetenz im Platt ist geprägt von einer mehrsprachigen Praxis. Die Sprachenwahl richtet sich u. a. nach den Kommunikationskontexten und -partnern, mit denen man Deutsch bzw. Platt sprechen kann. Jegliche offizielle Situationen (z. B. bei Behörden) werden auf Französisch bewältigt. Im privaten (oder bei Kundenkontakt auch im beruflichen) Bereich werden individuelle Konstellationen relevant, v. a. das (vermutete) sprachliche Profil des Gesprächspartners (auch Hughes 2005: 147). (10) Also für uns kommt es grade drauf an, wer wir, mit wem wir sprechen. (BL-m2: 00: 38: 36) Auch das Thema spielt eine Rolle: Where the subject matter was technical, and there were fewer dialect expressions, there was a greater tendency to use French. If the subject was one which the respondents had learnt about at school, such as religion, or one they had learnt about from media, through the medium of French, such as politics, then there was a higher tendency to use French. (Hughes 2005: 148) 50 49 Mit „Spitzdeutsch“ referiert der Informant auf Standardbzw. Schriftdeutsch. Bei dem Begriff handelt es sich vermutlich um eine Übertragung des Terminus „Spitzschrift“ (für die deutsche Kurrentschrift) auf die gesprochene Sprache. 50 Wo das Thema technisch war und es weniger Dialektausdrücke gab, bestand eine größere Tendenz, Französisch zu verwenden. Wenn es sich um ein Thema handelte, das die Befragten in der Schule gelernt hatten, z. B. Religion, oder um ein Thema, von dem sie in den Medien durch das Medium Französisch, z. B. Politik, erfahren hatten, dann gab es eine höhere Tendenz, Französisch zu verwenden (Übersetzung R.B.). Der germanophone Teil Lothringens 137 <?page no="138"?> Es gilt jedoch zu bedenken, dass nicht alle Generationen „[e]ine echte Sprachwahl haben“ (Stroh 1993: 75). Jüngere Generationen können sich u. U. noch aussuchen, welche Sprache sie rezipieren möchten (Fernsehen/ Radio), in der Sprachproduktion sind sie jedoch weitestgehend auf Französisch beschränkt. Andererseits schränkt die inzwischen verbreitete französische Einsprachigkeit der Jüngeren in intergenerationellen Gesprächen auch die Sprachwahl der Älteren immer weiter ein. Zu den häufigsten Einflussfaktoren auf die Dialektkompetenz gehört das Alter. Je älter die Sprecher, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Plattkompetenz haben. 6.4 Monologische Sprechsituationen, schriftlicher Sprachgebrauch und Mediennutzung Beim Zählen scheint die Sprachenwahl insgesamt relativ ausgeglichen zu sein. In den Interviews wurden ähnliche Argumentationen für die Präferenz unterschiedlicher Sprachen angeführt: (11) Und im Deutsch muss du ja die Zahlen verwechseln und im Französischen ist es von der Logik her einfacher (BL-w1: 00: 36: 59) (12) Egal, egal, egal. Ähm. S, s geht mir vielleicht noch leichter, noch leichter uff Deitsch, wie uff Franseesch, so mol, was, was große Summe sinn. Was klääne Summe sinn, isch jo dix oder zehn, do isch jo kään Problem, aber wenn se tausendfünfhunnertsechseseschzisch, äh mille-neufcents-soixante-six… (KG-m1: 00: 17: 51) Viele zählen aber nach eigenen Angaben sowohl auf Französisch als auch auf Deutsch bzw. Platt. Ab den Geburtsjahrgängen der späten 1960er wird dafür einheitlich Französisch genutzt. Wie in Abschnitt 5.2.1 beschrieben war Standarddeutsch bis zum Zweiten Weltkrieg relativ selbstverständlich die schriftliche Varietät des lokalen Sprachrepertoires. In dieser Funktion ist es heute so gut wie nicht mehr anzutreffen, zum einen ganz praktisch bedingt durch stark eingeschränkte Ausbildung der schriftlichen Fertigkeiten im Deutschen in der Schule, zum anderen aus ideologischen Gründen. Zwar gibt es noch einige Wenige, die eine systematische Beziehung zwischen dem gesprochenen Dialekt und dem geschriebenen Standarddeutsch sehen (s. Zitat Abschnitt 5.2.1), die Zahl derer, die sich davon distanzieren, mehrt sich jedoch. Kritische Äußerungen in diese Richtung fielen auch bei den Interviews: (13) Das [vor dem 16. Jahrhundert bzw. in der französischen Dichtung] war ungefähr dasselbe Problem: Man sprach Französisch, aber man schrieb Latein. Und so - man spricht Platt, aber man schreibt Hochdeutsch. Das ist ja die Parole im Elsass an der Schule […] Also, das ist ein klarer Unsinn, klarer Unsinn. Wenn man sagen würde, Französisch wird Lateinisch geschrieben. So ist das. Nicht ganz so, aber…“ (BL-m1: 01: 36: 00) Vielmehr wird automatisch (außer von professionellen Sprechern) auf Französisch zurückgegriffen, die Sprache der Alphabetisierung für die meisten der heutigen Generationen. Daneben wird vermehrt auch Platt in schriftlicher Form verwendet. Vielen fällt es zwar schwer, weil es nicht schulisch erlernt wurde: (14) Auf Platt läse isch schwer. Oh je. Sogar fir mech. Isch muss langsam lese. Ah ja! (SL-m1: 00: 52: 09) 138 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="139"?> Aber einige finden für sich individuelle Lösungen der Schreibung, die v. a. zum Verfassen von Kurznachrichten unter Freunden und nahen Verwandten genutzt wird. (15) Aber jetzt unter uns […], mit dem Nachbor […], Freunde so, deckmols schriewe isch em e SMS uff platt. Un, un. Ma versteht’s. Awer, awer, mir schriewe’s, sinn kän Regeln. Wie mer’s herre. (SLm2: 00: 48: 17) Hier sind es einmal mehr die neuen Medien, die eine zuvor ausschließlich mündliche Varietät schreibbar und damit sichtbar machen. Regionalisten verfolgen eine mehr und mehr systematische Einführung einer normierten Schreibweise der Dialekte Ost-Lothringens. Zu diesem Zweck wurde 2004 unter der Federführung von Albert Hudlett eine Charte de la graphie harmonisée des parlers francique de Moselle germanophone (‚Charta für eine einheitliche Schreibweise der mosel- und rheinfränkischen Dialekte im deutschsprachigen Lothringen [Departement de la Moselle]‘) entworfen. Dabei handelt es sich nicht um eine klassische Rechtschreibregelung, sondern vielmehr um eine Liste von Phonem-Graphem-Korrespondenzen, mit Hilfe derer die gesprochene Sprache möglichst detailliert verschriftlicht werden kann bzw. der Leser möglichst genau dekodieren kann, wie der Schreiber spricht, indem jedem Laut genau ein Zeichen (oder eine Zeichenfolge) zugeordnet ist und umgekehrt. Es sollen bewusst dialektale Unterschiede transportiert werden (können). Notre principe est d’écrire rigoureusement ce que l’on entend en fonction de la manière dont on prononce dans sa proper variante dialectale. (Rispail et al. 2012: 87) 51 Zum Einüben des Schreibens auf Platt kann einmal im Monat die sog. Schriebschdubb (Schreibstube) in der Mediathek von Saarguemines/ Saargemünd besucht werden. Diese geht zurück auf eine Art Diktatübung auf Platt ( Dictée en Platt ), die 2006 im Rahmen des Festivals Mir redde platt durchgeführt wurde und großen Zuspruch fand: Die Leute waren so begeistert, dass man allgemein der Meinung war, man müsse so etwas regelmäßig wiederholen… Das Konzept habe ich der damals neueröffneten Mediathek vorgeschlagen. Es wurde sofort angenommen, und so kam alles ins Rollen ab September 2007. (Interview mit Marianne Haas-Heckel in Hahn 2015: 42) Fast alle Gewährspersonen geben an, deutschsprachiges Fernsehen zu rezipieren. Zwar gibt es keine eigenen Kanäle auf Deutsch oder Platt, sondern nur eingeschränkte Sendezeit auf regionalen Sendern; die Grenznähe und die Digitalisierung machten und machen es aber möglich, die deutschen Sender zu empfangen. (16) Ah bé, do Medien, Telvisioun grad sou gutt franséisch wie deitsch. Ich kucken dacks des Zed-Ef, ZDFinfo, äh, die machen viel Ex, äh viel Geschichte. (DE-m1: 00: 21: 38) (17) Deutschland wie, wie Französisch, also -durchnanner. Was kommt. Mir verstehen alles. (SL-w1: 00: 32: 11) 51 Unser Prinzip ist es, rigoros zu schreiben, was wir hören, entsprechend der Art und Weise, wie wir es in unserer eigenen Dialektvariante aussprechen. (Übersetzung R.B.) Der germanophone Teil Lothringens 139 <?page no="140"?> Besonders gerne wird davon berichtet, wenn mit dem (deutschen) Fernsehen Kindheitserinnerungen verknüpft werden: (18) Isch bin mit deutsche Sender groß gewachsen. Papa un Mama, die haben nur deutsch geguckt, hein? Wir waren alleine, wo, wo französisch geguckt haben. Un wenn wir als französisch geguckt haben, da isch Papa komm, na saht er: ‚Ah, französisch! ‘ Bumm - deutsch! Un - Eltern war nur deutsche Sender. (SL-w5: 00: 48: 43) 6.5 Kommunikationssituationen des Deutschen Eine standardnahe Varietät wird im Wesentlichen nur mit Sprechern aus Deutschland verwendet - sei es, dass sich diese in Ost-Lothringen aufhalten, sei er während eigener Besuchen in deutschsprachigen Ländern. Die am häufigsten genannte Gelegenheit, Deutsch zu sprechen, war das Einkaufen in Saarbrücken oder anderen grenznahen deutschen Städten. (19) Mer kreie auch die Angebote von Deutschland: vom Globus, von Karstadt. Also, wem er eppes sehen, hopp, fah mer riwwer. (SL-w1: 00: 35: 30) Ost-Lothringen ist eher ländlich strukturiert. Da ist es von Vorteil, dass jenseits der Staatsgrenze eine viel urbanere Infrastruktur zu finden ist. Je näher der Wohnort an der deutschen Grenze liegt, desto eher werden urbane Zentren wie Trier, Saarlouis, Saarbrücken, Zweibrücken oder Pirmasens angesteuert. Das gilt in jüngeren Generationen genauso für die Freizeit- und Abendgestaltung. Da diese aber v. a. in Freundesgruppen verbracht werden, ist fraglich, inwiefern es bei solchen Gelegenheiten wirklich zu Gesprächen mit Einheimischen kommt. Viel berichtet wird auch von Urlauben in deutschsprachigen Gebieten, wie zum Beispiel im Schwarzwald oder in Österreich. Hier wird die Gelegenheit genutzt, Urlaub im Ausland zu machen, in dem man sich trotzdem in einer bekannten Sprache verständigen kann. Außerdem gibt es eine Vielzahl an professionellen Sprechern. Neben Lehrern, die (u. a.) Deutsch unterrichten, d. h. als Studienfach hatten, sind auch viele Arbeitnehmer dazu zu rechnen, die zwar keine gezielt sprachorientierte Berufsausbildung absolviert haben (wie Übersetzer o. ä.), deren berufliche Tätigkeit aber angesichts der Grenznähe Kontakt mit Deutschen und somit professionell bedingtes Deutschsprechen mit sich bringt - sei es mit grenzüberschreitenden Kooperationspartnern, durch ein deutsches Arbeitsverhältnis (Berufspendler) oder mit deutschen Kunden, die ihrerseits für Restaurantbesuche oder Dienstleistungen nach Frankreich kommen, jedoch kein Französisch sprechen. 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung In der Umfrage in Freyming-Merlebach/ Freimingen-Merlenbach von Dorner (2009) wurden auch Spracheinstellungen abgefragt. 75 Prozent der Befragten waren der Meinungen, dass es wichtig sei, eine regionale Varietät zu beherrschen. Die mit Abstand häufigste Begründung lag in der Tradition bzw. dem kulturellen Erbe, außerdem in der Kommunikation mit Älteren; eine lokale (linguistische) Varietät wird jedoch weder aus beruflichen Gründen noch als Basis für das Erlernen des Deutschen als wichtig erachtet. 140 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="141"?> Auch in unseren Erhebungen kristallisierte sich die Eigenschaft des Dialekts als in vielerlei Hinsicht verbindendes Element heraus. Erstens als verbindendes Element in der Geschichte der Region: Über die übliche Verbindung von Dialekt und Tradition hinaus kann über Platt Beständigkeit und Kontinuität in der konkreten (sprachlichen) Geschichte konstruiert werden: Französisch ist als tatsächlich verwendete Sprache erst relativ spät dazugekommen, Standarddeutsch war früher als Schriftsprache sehr viel vitaler, kann seit dem Zweiten Weltkrieg aber nicht mehr als Erbe angesehen werden und wird mehr und mehr aus dem aktiven Sprachenrepertoire hinausgedrängt. So bleibt Platt als sprachliche Verbindung zwischen früher und heute, das die Geschichte mit einer Klammer der Einheit umschließt. Zweitens ist es das verbindende Element zwischen Generationen - nicht nur für die Kommunikation, sondern auch in der familiären Identitätskonstruktion. Vorherige Generationen wurden oft in andere Herrschaftsverhältnisse hineingeboren. Eine nationalbasierte Identität würde dann bedeuten, dass es in derselben Familie verschiedene Identitäten gibt. Eine lokal verortete Identität schafft dagegen Einheitlichkeit und verhindert (zu große) Inkonsistenzen bzw. Brüche in der Identitätskonstruktion über Generationen der Familie. Schließlich kann das Platt den Austausch mit dem grenznahen Teil des Saarlands (v. a. Saarbrücken) aufrechterhalten. Je näher der Ort an der Staatsgrenze liegt, desto größer wird eine Verbindung zum Saarland verspürt, und desto mehr gibt es persönliche grenzüberschreitende Netzwerke. (20) Ja, Saarbrücke gehört zu uns. Ja, natürlich! Ja! Oder wir zu Saarbrücken! (KG-w1: 00: 33: 05) Eine Trennung, gefördert durch die Überdachung von unterschiedlichen (National-)Sprachen wird als unnatürlich und unglücklich empfunden. Der Dialekt bildet dann eine willkommene Brücke. (21) Für mich die Mundart […] ist interessant insofern, dass es die Zusammenarbeit über die Grenze erlaubt. (BL-m1: 01: 12: 46) Angesichts der historischen Zerrissenheit ist für viele der Befragten Platt die Varietät, die ihnen eine lokale Verortung, eine Heimat gibt. Während der Aufbau einer nationalgebundenen Identität zumindest in der Vergangenheit aufgrund der immer wieder wechselnden Staatszugehörigkeiten schwierig war, wird der lokale Dialekt dagegen als etwas Beständiges wahrgenommen, auf das man sich stützen kann. Wo die übergeordnete nationale Zugehörigkeit leicht wechseln kann, wird der kleinräumige Bezug gewählt: 52 (22) Und dann kamen ‘n paar Franzosen, und für mich war das kein Problem. Ich sprach das Eine und das Andere, ja. Und da war meistens die, die Leute von der, von dem äh, Quartier, die da wohnen - Kappelberg oder hier und so und eh, oui. Ja, do war keen Problem. Warst Forbacher und, und basta. (KG-w1: 00: 30: 07) (23) Also, die Ereignisse von, zwische Déitschland a Fronkreisch, wo gemach honn, mir sinn jetzt fronseesch und im Saarland sind se déitsch. Des hätt könne a de oner Wee lafe. [Zitate vom Opa: ] „Un wenn jetzt de Hottetotte kumme, da wäre ma Hottetotte. […] Déitsch, Franseesch, das‘ doch mir egal, ich wohn do.“ (BL-m2: 00: 10: 00) 52 Der Anfang dieses Lothringer Partikularismus geht zurück auf die Zeit der Zugehörigkeit zum Deutschen Reich (1871-1914) (s. Abschnitt 3.4). Der germanophone Teil Lothringens 141 <?page no="142"?> Standarddeutsch wird dagegen in den meisten Fällen mit Arbeit und Verdienstmöglichkeiten in Zusammenhang gebracht. Vor allem von den jüngeren Generationen wird es nicht als eine zu Ost-Lothringen dazugehörige Sprache gesehen, aber als eine, die berufliche Perspektiven eröffnet. Fast alle befragten Gewährspersonen haben früher oder später in den Interviews darauf verwiesen. (24) Ja, ich finde, dass die Jungen das behalten sollen, weil mir haben viel Möglichkeit, zu, in Deutschland zu arbeiten und so weiter. Das ist gut. Oder wenn wir mit einer deutschen Firma arbeiten müssen, dann haben wir kein Problem. (SB-m1: 00: 43: 41) Bei vielen Gewährspersonen der Jahrgänge bis zirka 1970 war Standarddeutsch jedoch auch Bestandteil der Kindheit. Einige erinnern sich an gemeinsame Lektürestunden mit insbesondere der Großmutter: (25) Mit ihr [habe ich] nur deutsche Zeitung gelesen, deutsche Literatur kennengelernt und Sprüche und die deutsche Autore eigentlich kennengelernt. Durch die Oma, bevor ich die französische Autore kennengelernt habe. (BL-w1: 00: 03: 47) (26) Und die [Oma] hat mir auch das Zeitunglesen beigebracht; also mit 5 Jahren, weil sie schlecht lesen konnte. Und damals gab es auch noch ne Version auf Deutsch. Also ne französische Zeitung, die hieß France Journal, war aber auf Deutsch ausgedruckt. (BL-w2: 00: 30: 47) Daneben haben die meisten in ihrer Kindheit deutsches Fernsehen verfolgt (s. Abschnitt 6.4). Während mit dem Platt also Tradition und Emotionen in Verbindung gebracht werden, steht bei Standarddeutsch die Funktionalität im Vordergrund. Diese fehlt beim Platt weitestgehend. 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation Die Gründe gegen die Beherrschung der regionalen Varietät in Dorners Befragung lagen v. a. im funktionalen Bereich: d. h. die geografische wie demografische Begrenzung sowie die Nutzlosigkeit sprechen dagegen, Platt zu erwerben. Die Zukunft wird zeigen, ob Tradition und Heimatverbundenheit ausreichen, die Kosten des Lernens aufzuwiegen, oder ob die fehlende Nützlichkeit die Anstrengungen zu hoch erscheinen lassen. Außerdem wird auch die Funktion des Dialekts als dritte Möglichkeit zur Herstellung einer Verbindung immer weniger relevant. Für viele jüngere Generationen ist die Zeit Ost-Lothringens in deutscher Annexion außerhalb der greifbaren Vergangenheit, es gibt keine persönlichen Bezüge zur wechselhaften Periode in der lothringischen Geschichte, meistens sind schon ihre Großeltern nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Dementsprechend wird die französische Identität immer plausibler, und die emotionale Verbundenheit mit dem germanophonen Platt nimmt ab. Hinsichtlich Nützlichkeit steht Standarddeutsch (wie oben schon angedeutet) sehr viel höher auf der Skala. Bezüglich der Fremdsprachen, die in der Schule unterrichtet werden sollten, besetzt Deutsch - entgegen dem allgemeinen Trend - den ersten Platz, was sich durch die Grenznähe zu Deutschland erklären lässt. Neben der Tatsache, dass in den älteren Generationen noch eine Verbundenheit mit dem Saarland verspürt wird, gibt es dort vieles, was das praktische Alltagsleben erleichtert bzw. bereichert. Während der grenznahe Teil der Moselle sehr ländlich ist, ist das angrenzende Gebiet des Saarlandes bzw. von Rheinland-Pfalz sehr viel 142 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="143"?> urbaner - und außerdem näher als die französischen urbanen Zentren wie Metz oder Nancy. Dementsprechend werden in Saarbrücken (usw.) viele Erledigungen und Einkäufe getätigt, bei denen die Deutschkenntnisse von großem Nutzen sind: (27) Aber ich bin doch froh, dass ich Deutsch kann ich bissche spreche. Das helft doch viel, weil wir bei Saarbrécke do sinn. (SL-w1: 00: 34: 16) Neben alltagspraktischen Aspekten (Einkaufen, Freizeitaktivitäten usw. bekommen durch die Deutschkenntnisse einen weiteren Radius) wird v. a. der ökonomische Vorteil gesehen. Gerade angesichts der ländlichen Struktur und der hohen Arbeitslosigkeit im Departement Moselle erscheint Deutschland bzw. das Saarland als attraktive Möglichkeit für eine Arbeitsstelle. Trotzdem wird von den Gewährspersonen abnehmendes Interesse berichtet, was von den dialektkompetenten Sprechern mit Unverständnis zur Kenntnis genommen wird. Trotz des viel mittelbareren Nutzens des Englischen wird dieses dem globalen Trend entsprechend auch in Ost-Lothringen immer mehr favorisiert. (28) Wenn heit in der Schul, wenn sie soe ‚Ei, mir wolle Platt, Platt lerne, Platt lerne‘, ‚Jo‘, soen die Eltern, ‚s Platt Quatsch, lehrt mol Sponisch oder Italienisch, das Platt bringt jo nix‘. Selbst bei mir, mit meim, mit meim, ähm, Sohn v-, Sohn meines, äh, meines Sohnes: ‚Lass de, lass den doch Deutsch lerne. ‚Ah jo, gut, Deutsch lerne. Aber…‘. Ich soht: „Komm zu mir, komm zu dem Papi, äh, wenn Probleme has, mer machen das zesamm.“ Beißt nicht an, beißt nicht an. Englisch gut, aber Deutsch… (KG-m1: 00: 24: 22) Ein dritter Nutzen des Deutschen wird in der Stützung des Platt, der „eigentlichen“ Regionalsprache gesehen: (29) Das Deutsch hat dann dazu geführt, dass ich das Platt weiterhin ohne Probleme sprechen kann, auch in der heutigen Situation (00: 12: 48). Also zweisprachige Schulen führen schon dazu, äh, dass des Platt beibehalten wird. Wenn ich Kinder hab, die noch gutt Platt redde jetzt, also die jetzt, äh, sogar 2000 geboren sind, gibt ja noch Gott sei Dank welche, äh, die haben dann immer gleich, die waren in einer zweisprachige Schule oft oder haben die K-, Eltern das einfach durchgezogen, so wie ich jetzt. (BL-w1: 00: 26: 25) Unter dem Flügel des großen Verwandten tut sich auch für das Platt wieder eine Nische auf. Dem Unterricht von Platt in der Schule stehen die Befragten sehr geteilt gegenüber: (30) (erzählt vom Plattunterricht ihrer Töchter) Und ich finde, ich fande das sehr gut. Weil isch, dann sagte ich mir, ich hatte es nur gelernt sprechen, aber nie schreiben. […] Doch, das fand ich sehr gut. (BL-w5: 00: 36: 57) (31) Ah, Platt nicht unterrichten, nein. Nein. Entweder lernen sie das so, aber Deutsch auf alle Fälle. (KG-w1: 00: 38: 28) Insgesamt wird das Lernen mehrerer Sprachen jedoch als Last angesehen: (32) Aber wie gsagt, die ganze Gesellschaft äh, treibt dazu, dass man es einfach sozusagen macht. Und drei Sprachen ist schon komplex. Es ist zwar von Vorteil aber […] am Anfang ist es doch leichter eine Sprache zu ler-, zu benutzen. (BL-m2: 01: 19: 26) Der germanophone Teil Lothringens 143 <?page no="144"?> 7.3 Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache als Identitätsmerkmal Das Verhältnis von Dialekt und Hochsprache ist sehr schwierig. Wie in Abschnitt 5.2.3 schon erläutert, gibt es eifrige Bestrebungen von Teilen der Aktivisten und auch der ihnen nahestehenden Wissenschaftler, Platt und Deutsch zwei unterschiedlichen Sprachfamilien zuzuordnen. Das lässt sich mit einer Identitätskrise erklären: Die einzige Möglichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg, sich mit dem germanophonen Platt zu identifizieren, ist eine strikte konzeptionelle Trennung und Verdrängung des (Standard-)Deutschen. Es ist zwar eine verwandte Sprache, steht jedoch nicht mehr in der (vertikalen) Überdachung des Platt, sondern in der horizontalen Nachbarschaft. Damit avanciert das Platt zur eigenständigen Sprache, dem Francique (‚Fränkisch‘), das zur Identitätsgrundlage wird. Es gibt jedoch durchaus auch noch die Wahrnehmung der Verbindung der beiden Varietäten über ein Kontinuum, die mal explizit beschrieben wird („weil das heischt, ‘s gibt die Hochsprache, Schriftsprache. Un es gibt diese verschiedene Dialekte, wenn man das jetzt Platt nennt, warum nicht“ [SL-m2: 00: 31: 25]) und sich mal in der synonymen Verwendung von Platt und Deutsch widerspiegelt (s. Bsp. 28). Dahinter steht die mehr oder weniger bewusste Idee, dass Sprachen nicht aus einer einzigen Varietät bestehen, sondern aus einem Gefüge, „wobei das überdachende Standarddeutsch dem Verstand näher steht, die Mundarten aber den Herzen“ (Gabriel 2005: 12). Diese parallel vorhandenen Konzeptionen sorgen durchaus auch für Verwirrung: (33) Was isch nischt verstehn: Unser Platt is für euch, isch deutschsprachig und, et en France c’est du Francique. C’est pas pareil. Weil unser Platt auch französische Wörter drin sind. Für euch ist das deutsch et en France, c’est du Francique. (SL-m1: 00: 49: 56) In der Praxis wird Standarddeutsch doch immer mehr zur Fremdsprache. Angesichts der Zugehörigkeit zum französischen Diasystem erfüllt Französisch die Funktionen der Hochsprache, ist also Prestigesprache, Unterrichtssprache und Sprache in der offiziellen Öffentlichkeit. Dialekt, d. h. Platt als Sprache der Nähe und der privaten Gespräche kommt damit weniger in Konflikt, Standarddeutsch findet dagegen keine native Verwendung innerhalb der Moselle germanophone . In der Konsequenz bedeutet dies eine wortwörtliche Entfremdung von der Standardsprache. (34) Misch interessiert mehr Platt jetz, ne oder so. (SL-m1: 00: 51: 50) (35) Deutsch als Fremdsprache als Franzose. Trotzdem. (BL-m2: 01: 05: 45) 8 Linguistic Landscape Gezielt der Linguistic Landscape Lothringens gewidmete Forschung gibt es noch nicht. Dabei lässt sich durchaus die Geschichte und soziolinguistische Situation Lothringens in der visuell realisierten Sprache widergespiegelt finden. Angesichts der Überdachung durch und des Prestiges von Französisch ist dies die Sprache, die den öffentlichen Raum prägt. Quantitative Untersuchungen erübrigen sich, da mit einem Ergebnis um die 99 Prozent Französisch gerechnet werden müsste. Standardmäßig findet öffentliche visuelle Kommunikation auf Französisch statt. Dementsprechend liefern in diesem Kontext qualitative Analysen auf Basis von Ethnographien aufschlussreichere Ergebnisse. Deutsche oder dialektale Beschriftungen sind hervorste- 144 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="145"?> chende Ausnahmen, die angesichts ihres Vorkommens einen umso höheren Symbolcharakter haben. Ihre Vorkommenskontexte, Verfasser und Adressaten sind charakteristisch distribuiert: Deutsch lässt sich zum Beispiel als in Stein gemeißelte Häuser-Inschriften finden. Dort sind sie historische Relikte vergangener Zeiten. Abb. 5: Früheres Kaiserliches Landgericht Sarreguemines/ Saargemünd In der Abbildung 5 ist ein Gebäude älteren Datums zu sehen, das über der Eingangstür dessen frühere Bestimmung nennt: „Kais[erliches] Landgericht“. Als solches wurde das Gebäude von 1790-1910 genutzt, heute beherbergt es unter dem Namen Institution Sainte-Chrétienne ein Collège und ein Lycée (Schulen) (Barmbold 2009: 1). Die Inschrift wurde vermutlich zwischen 1871 und 1910 eingelassen, d. h. in der Zeit, als das Departement Moselle dem Deutschen Reich angeschlossen war und die deutsche Sprache dementsprechend in öffentlichen Einrichtungen des Staatswesens verwendet wurde. Bei diesem Fall handelt es sich um ein regionsgenuines Phänomen. Es richtete sich damals an die dort wohnende Bevölkerung, hat heute jedoch keine informierende Funktion mehr. In Schildern der heutigen Zeit wird die Rolle des Deutschen als Fremdsprache und als Sprache des Nachbarn deutlich. So lassen sich zum Beispiel vereinzelt Werbeplakate für Immobilien auf Deutsch finden. Der germanophone Teil Lothringens 145 <?page no="146"?> Abb. 6: Verkaufsangebot in Wœlfling-lès-Sarreguemines Neben der Verkaufsnotiz auf Französisch im linken Fenster des Hauses gibt es auch eine von einem Makler auf Deutsch im mittleren (oberen) Fenster. Der Hintergrund zu diesem Schild ist das Phänomen, dass das Departement Moselle angesichts der niedrigeren Preise bei Deutschen aus der Grenzregion/ Saarländern für Immobilienkäufe beliebt ist. Gewährspersonen aus dem Ort haben zum Beispiel von solch einem Nachbarn erzählt. In diesem Fall steht hinter dem Schild also ein externer Verfasser, der regionsexterne Kunden adressiert. Ein weiteres Beispiel für grenzüberschreitende Mobilität, die zu deutscher bzw. zweisprachiger Beschriftung im öffentlichen Raum führt, kommt aus dem kulturellen Sektor. So findet sich beim Theater in Forbach die Beschriftung „Entrée/ Eingang“. Hier stehen vermutlich lokale Verfasser dahinter, die sich jedoch an externe Adressaten - die deutschsprachigen Besucher - wenden. Abb. 7: Le carreau in Forbach Außerdem gibt es v. a. in der Gastronomie Schilder, die deutschsprachige Gäste in die Lokale anwerben sollen. Diese entsprechen dann in Aufmachung und sprachlicher Form denen, die 146 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="147"?> es typischerweise in vielen touristischen Gebieten mit einem hohen Anteil an deutschen Besuchern zu sehen gibt. Der abgebildete Aufsteller in Abbildung 8 wurde vermutlich von den Betreibern des Restaurants verfasst und richtet sich - angesichts der englischen Werbung - offensichtlich an Touristen. Die Verfasser dieses Schilds haben jedoch offensichtlich keine hohe Deutschkompetenz, so dass sich einige Fehler in der Orthografie und im Stil finden. Das Schild wurde in einem Ort direkt an der Sprachgrenze gesehen, wo es auch laut Schätzungen nur noch wenige germanophone Sprecher gibt. Es wird deutlich, dass Deutsch hier nicht zum nativen Sprachrepertoire gehört. Vielmehr ist es (wenn überhaupt) eine Fremdsprache, die mit Gästen aus dem deutschsprachigen Mehrheitsgebiet zum Einsatz kommt. Abb. 8: Aufsteller in Sarrebourg/ Saarburg Schließlich wird auch der lokale Dialekt visuell realisiert. So finden sich in einigen Orten - wenn auch nicht flächendeckend, aber doch verbreitet - Straßenschilder, auf denen der Straßenname auf Platt geschrieben steht. Da es sich dabei nicht um offizielle Schilder handelt, können diese ohne großen administrativen Aufwand aufgestellt werden - amtlich registriert sind nur die französischen Namen. Es lassen sich verschiedene Umsetzungen der Beschilderungen finden: In vielen Fällen ist unterhalb des offiziellen Schildes ein gesondertes Schild mit dem Namen auf Platt angebracht. Diese haben häufig auch eine etwas folkloristischere Aufmachung, wenn sie zum Beispiel aus Ton gefertigt und handbeschrieben sind (Abb. 9). Daneben finden sich Orte, in denen der französische und der dialektophone Name untereinander auf einem Schild stehen. Dabei werden - das Primat des Französischen kennzeichnend - die verschiedensprachigen Namen auch typografisch unterschiedlich dargestellt (Abb. 10). Der germanophone Teil Lothringens 147 <?page no="148"?> Abb. 9: Saargemünd/ Sarreguemines Abb. 10: Woelfling-lès-Sarreguemines In seltenen Fällen sind auch einsprachige Straßenschilder auf Platt zu finden, wobei auch in diesen Fällen für offizielle Zwecke und postalische Adressierungen der französische Name verwendet werden muss. Weniger häufig sind Ortsschilder mit Platt. Zweisprachige Ortsschilder bzw. Ergänzungen eines Schildes mit dem dialektalen Ortsnamen sind eher rezente Phänomene. Die Schilder gehen auf lokale (z. B. kommunale) Initiativen und Verfasser zurück und erfüllen eher eine sozialsymbolische als eine informative Funktion. Adressaten sind sowohl die Einheimischen (Stärkung der Gruppenidentität) als auch Auswärtige (Sichtbarmachung der germanophonen Gemeinschaft). Auch lokale traditionelle Feste werden typischerweise auf Platt betitelt, zum Beispiel Grumbeere Fescht (‚Kartoffelfest‘) oder Schlachtfest . Diese finden sich dann zu gegebener Zeit auf Flyern oder Transparenten in Ortschaften oder auf den umliegenden Feldern. Auch diese Feste dürften Teil des Selbstverständnisses sein und das Gemeinschaftsgefühl stärken. Während alle weiteren Angaben zum Programm u. ä. auf Französisch gegeben werden, transportiert der dialektale Name die Traditionalität der Veranstaltung und ihren identifikatorischen Aspekt. Andererseits trägt diese Aufteilung zum musealen Charakter des Plattgebrauchs bzw. zu seiner Etablierung als Kulturgut bei (vgl. für Niederdeutsch Spiekermann/ Weber 2013). Dieser findet sich auch, wenn Begriffe oder Phrasen aus dem Dialekt auf Tassen, T-Shirts oder ähnlichem gedruckt werden. Diese werden typischerweise in Touristen-Informationen verkauft, richten sich somit auch an externe Adressaten und dienen dem Stadtbzw. Regionenmarketing. Verschriftete germanophone Sprache im öffentlichen Raum ist in Ost-Lothringen selten anzutreffen und erfüllt sehr wenige, sehr spezifische Funktionen. Standarddeutsche Beschriftung stellt eher einen Bezug zu Auswärtigen her oder ist ganz funktionslos geworden. Der Dialekt wird sozialsymbolisch genutzt, um regionale bzw. lokale Identität herzustellen, die sich auch aus traditionellen Festen und Gebräuchen speist. In geringem Umfang werden damit 148 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="149"?> auch ökonomische Ziele verfolgt, insgesamt bleibt das Platt jedoch im privaten, mündlichen Sprachgebrauch. 9 Zusammenfassung Mit dem Ende des Mittelalters waren die Sprachgrenzen in Europa konsolidiert und haben sich seitdem nur wenig verändert - so auch im heutigen Departement Moselle. Wenn auch die politischen Grenzen oft neu gezogen wurden, wobei die Sprache als politisches Instrument zur Herstellung nationalstaatlicher Loyalität gebzw. missbraucht wurde, hielt die Bevölkerung an ihren romanischen und v. a. auch nicht-romanischen Mundarten fest. Frühere Maßnahmen zur Französisierung Ost-Lothringens zeigten nur geringe Effekte. Dies lag zum einen an einer schlechten Konstitution des französischen Bildungssystem und der starken Position der Kirche, die das Deutsche unterstützte, sowie an der fehlenden Mobilität und fehlenden überregionalen Kommunikation früherer Zeiten, die noch durch den durchwegs ländlichen Charakter der Region verstärkt wurden. Zum anderen dürften aber v. a. die positive Einstellung und die mit der Sprache verbundene Identität der Bevölkerung eine tragende Rolle beim Festhalten am germanophonen Idiom gespielt haben. Die Ereignisse v. a. des Zweiten Weltkriegs, d. h. die Zwangsrekrutierungen und die Germanisierung durch den Terror, haben jedoch ein kollektives Trauma bei der Bevölkerung ausgelöst, das eine eigenständige Identität auf der Basis ihres germanophonen Dialekts nahezu unmöglich machte. In der Folge wurde die Förderung des Französischen mit wenig Widerstand hingenommen und in vielen Familien die Weitergabe des Lothringer Platt aufgegeben (Dorner 2012). Noch gibt es aber die Kriegs- und Nachkriegsgeneration, die in einem plattsprachigen Elternhaus aufgewachsen sind, und je ländlicher die Region, desto länger reicht die Kette der intergenerationellen Weitergabe - bis in die Gegenwart. Heute gibt es einige Vereinigungen, die die Unabhängigkeit der germanophonen Varietäten in Ost-Lothringen von der deutschen Standardsprache bzw. von der Gesamtsprache Deutsch propagieren. Auch in den tatsächlich vorhandenen Kompetenzen bei den Sprechern kommt eine Art Aufspaltung der germanophonen Sprachkompetenzen zum Vorschein: Während in der ältesten noch lebenden Generation ein Kontinuum zwischen Dialekt und Standarddeutsch besteht, ist für die jungen Generationen Deutsch eine Fremdsprache - auch wenn sie dialektophon sprachsozialisiert wurden. Dies erklärt sich - neben der identitätsbasierten Abgrenzung zum Deutschen - aus dem in höhere Schulklassen verlagerten Erwerb und der erst später aufkommenden Relevanz, zum Beispiel in beruflichen Kontexten. Im Grenzgebiet zu Luxemburg wird heute durch die starke Wirtschaft Luxemburgisch als relevante Sprache des Nachbarn und als Referenzsprache gesehen, die zudem mit dem Platt im Dreiländereck enger verwandt ist, allerdings angesichts der noch früher geschehenen Aufgabe des innerfamiliären Transfers ebenfalls als Fremdsprache erlernt werden muss (und kann). Es gibt jedoch auch Bevölkerungsteile, die diese Ausgliederung des Standarddeutschen kritisch betrachten. Als weiteres wichtiges Element ist die große sprachliche Heterogenität anzuführen. Die germanophonen Dialekte Ost-Lothringens lassen sich drei unterschiedlichen deutschen Dialektgebieten zuordnen. Dies erschwert eine großräumige Kommunikation, den Ausbau einer Schriftsprache (was bei Ablehnung des Standarddeutschen notwendig wäre) und bildet die Grundlage für ein subjektives Heterogenitätsbewusstsein in der Bevölkerung, welches wiederum die Ausbildung eines Wir-Gefühls behindert. Der germanophone Teil Lothringens 149 <?page no="150"?> Literatur Ammon, Ulrich (2015): Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mexiko. Berlin/ Boston: de Gruyter. Anonym (2014): Langue et culture franciques: quelques dates importantes. In: Langues et cité, 25, S. 6-7. Auburtin, Éric (2002): Langues régionales transfrontalières dans l’espace Saar-Lor-Lux. In: Hérodote, 105, S. 102-122. Barmbold, Sigrid (2009): Kaiserliches Landgericht und Palais de Justice, Sarreguemines. In: Hudemann, Rainer et al. (Hrg.): Stätten grenzüberschreitender Erinnerung, Spuren der Vernetzung des Saar- Lor-Lux-Raumes im 19. und 20. Jahrhundert. Lieux de la mémoire transfrontalière. Traces et réseaux dans l’espace Sarre-Lor-Lux aux 19e et 20e siècles. 3., techn. überarb. Aufl. Saarbrücken. Publiziert als CD-ROM sowie im Internet abrufbar unter: www.memotransfront.uni-saarland.de. (Letzter Zugriff 31.10.2018). Berschin, Benno (2006): Sprach- und Sprachenpolitik. Eine sprachgeschichtliche Fallstudie (1789-1940) am Beispiel des Grenzlandes Lothringen (Moselle). Frankfurt: Peter Lang (= Bonner romanistische Arbeiten; 93). Bodé, Gérard (1999): Du bon usage des patois dans la lutte pour le français et l’enquête de 1868-1869. In: Friedrich-Ebert Stiftung/ Centre national de littérature (Hrg.): Dialekt und Mehrsprachigkeit. Tagung im Centre national de littérature Mersch, 23. Mai 1998. Saarbrücken, S. 27-42. Bodé, Gérard (1990): L’enseignement du français en Lorraine allemande sous le second Empire. In: Christ, Herbert/ Coste, Daniel (Hrg.): Contributions à l’histoire de l’enseignement du français. Actes de la section 3 du Romanistentag d’Aix-la-Chapelle du 27 au 29 septembre 1989. Tübingen: Günther Narr, S. 30-50. Botz, Gérard (2013): Histoire du francique en Lorraine. Lothringer Platt. Busendroff: Gau un Griis. Boucheron, Patrick (2017): 1539. L’empire du français. In: Boucheron, Patrick/ Delalande, Nicolas (Hrg.): Histoire mondiale de la France. Paris: Seuil, S. 272-276. Boulanger, Gérard/ Kieffer, Jean-Louis (1997): Petite histoire de la langue francique. Bouzonville: Gau un Griis. Brunot, Ferdinand (1927): Histoire de la langue française des origines à 1900. Bd. 9: La Révolution et l’Empire. Paris: Armand Colin. CESER Grand-Est (2018): Tableau de bord, 9. Abrufbar unter: www.ceser-grandest.fr/ IMG/ pdf/ tdb_9. pdf. (Letzter Zugriff 8.12.2018). Comité consultatif pour la promotion des langues régionales et de la pluralité linguistique interne (2013): Redéfinir une politique publique en faveur des langues régionales et de la pluralité linguistique interne. Paris: La Documentation française. Crévenat-Werner, Danielle (1998): Bärschmannschprooch. Langage et travail dans les mines du Bassin houiller lorrain. Salde. Curin, Pascal (2012): Langues de Lorraine. Bd. 2: Le platt. Romorantin: Ed. CPE (= Mémoire du patrimoine oral lorrain; 2). Dietz, Burkhard/ Gabel, Helmut/ Tiedau, Ulrich (Hrg.) (2003): Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960). Münster/ New York: Waxmann (= Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas; 6). Dorner, Daniela (2009): Sprachwechsel im germanophonen Lothringen. Résultats d’une thèse de doctorat. Vortrag auf dem Festival „Mir redde Platt“ am 3. April 2009. PowerPoint-Präsentation. Dorner, Daniela (2011): Vitalité du francique en Lorraine germanophone? Revue de linguistique et de didactique des langues. In: Lidil, 44|2011, S. 27-41. 150 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="151"?> Dorner, Daniela (2012): Social Actors and the Language Policy and Planning process. A Case Study from German-speaking Lorraine (France). In: Studer, Patrick/ Werlen, Iwar (Hrg.): Linguistic Diversity in Europe. Current Trends and Discourses. Berlin/ Boston: de Gruyter, S. 157-175. Fehlen, Fernand (2004): Le „francique“: dialecte, langue régionale, langue nationale? In: Glottopol, 4, S. 23-46. Fehlen, Fernand (2015): Sprachenpolitik in der Großregion SaarLorLux. In: Lorig, Wolfgang H./ Regolot, Sascha/ Henn, Stefan (Hrg.): Die Großregion SaarLorLux. Politischer Anspruch, Wirklichkeiten, Perspektiven. Wiesbaden: Springer, S. 73-93. Fehr, Hubert (2010): Germanen und Romanen im Merowingerreich. Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen. Berlin/ New York: de Gruyter (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde; 68). Fehr, Hubert (2003): Romanisch-Germanische Sprachgrenze. In: Hoops, Johannes/ Beck, Heinrich (Hrg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Bd. 25. Berlin: de Gruyter, S. 304-310. Fischer, Anne (1982): De quelques aspects du „code-switching“ à Sarrebourg (Moselle). In: Dupuy, Hiltraud/ Bothorel, Arlette / Brunet, Louis (Hrg.): Recherches linguistiques. Articles offerts à Marthe Philipp. Göppingen: Kümmerle, S. 127-137. Gabriel, Peter (2005): Regionalsprache Schriftdeutsch? ! In: Land un Sproch, Sondernummer 8, 35, S. 11-18. Hahn, Lutz (2015): Die „Saargemìnner Schriebschdubb“. In: mundart post saar, 57, S. 42. Haubrichs, Wolfgang (1996): Der Krieg der Professoren. In: Marti, Roland (Hrg.): Sprachenpolitik in Grenzregionen. Saarbrücken: Saarbrücker Druckerei und Verlag (= Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung; 29), S. 213-249. Haubrichs, Wolfgang (2005): Grenzen und Interferenzen. Zur Genese der deutsch-französischen Sprachgrenze. In: Béhar, Pierre/ Grunewald, Michel (Hrg.): Frontières, transferts, échanges transfrontaliers et interculturels. Actes du XXXVIe Congrès de l’Association des Germanistes de l’Enseignement Supérieur. Bern: Peter Lang (= Convergences; 38), S. 79-107. Hemker, Gero (2014): Sprachbewusstsein und regionale Identität in Ost-Lothringen. In: Ehrhart, Sabine (Hrg.): Europäische Mehrsprachigkeit in Bewegung. Treffpunkt Luxemburg. Berlin u.a.: Peter Lang, S. 35-56. Héran, François/ Filhon, Alexandra/ Deprez, Christine (2002): La dynamique des langues en France au fil du XXe siècle. In: Population et Sociétés, 376, S. 1-4. Herrmann, Hans-Walter (1995): Volkssprache und Verwaltung in Oberlothringen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Gärtner, Kurt/ Holtus, Günter (Hrg.): Beiträge zum Sprachkontakt und zu den Urkundensprachen zwischen Maas und Rhein. Trier: Kliomedia, S. 129-171. Hudlett, Albert (2004a): Komputergestützte Mikro-Geolinguistik. Alemannisch-fränkisches Kontinuum im Sprachraum ALMOGERM (Alsace et Moselle germanophones). In: Glaser, Elvira/ Ott, Peter/ Schwarzenbach, Rudolf (Hrg.): Alemannisch im Sprachvergleich. Wiesbaden: Steiner, S. 215-226. Hudlett, Albert (2004b): Charte de la graphie harmonisée des parlers franciques (Platt) de la Moselle germanophone. Mulhouse: Centre de Recherche sur l’Europe littéraire. Hughes, Stephanie (2005): Bilingualism in North-East France with Specific Reference to Rhenish Franconian Spoken by Moselle Cross-border (or Frontier) Workers. In: Preisler, Bent (Hrg.): The Consequences of Mobility. Linguistic and Sociocultural Contact Zones. Roskilde: Roskilde University, Department of Language and Culture, S. 135-153. INSEE (2017): Populations légales 2014 dans les limites territoriales du 1er janvier 2017. Arrondissements - cantons - communes. Abrufbar unter: www.insee.fr/ fr/ statistiques/ 2525755. (Letzter Zugriff 13.11.2018). Kieffer, Jean-Louis (1988): Gedichter un Gechichter of Muselfränkisch. Bouzonville: Gau un Griis. Der germanophone Teil Lothringens 151 <?page no="152"?> Kolde, Gottfried (1981): Sprachkontakte in gemischtsprachigen Städten. Vergleichende Untersuchungen über Voraussetzungen und Formen sprachlicher Interaktion verschiedensprachiger Jugendlicher in den Schweizer Städten Biel/ Bienne und Fribourg/ Freiburg i.Ue. Wiesbaden: Steiner. Ködel, Sven (2015): Die Enquête Coquebert de Montbret (1806-1812). Die Sprachen und Dialekte Frankreichs und die Wahrnehmung der französischen Sprachlandschaft während des Ersten Kaiserreichs. Bamberg: University of Bamberg Press (= Bamberger Beiträge zur Linguistik; 8). König, Werner ( 16 2007): dtv-Atlas Deutsche Sprache. München: Deutscher Taschenbuchverlag. Kramer, Johannes (2009): Kurzrezension Benno Berschin. In: Romanische Forschungen, 121, 2, S. 523-575. Kremnitz, Georg (2015): Frankreichs Sprachen. Berlin/ München/ Boston: de Gruyter. Laumesfeld, Daniel (1996): La Lorraine francique. Culture mosaîque et dissidence linguistique. Paris/ Montréal: L’Harmattan. Lefèvre, Cécile/ Filhon, Alexandra (Hrg.) (2005): Histoires de famille histoires familiales. Les résultats de l’enquête Famille de 1999. Paris: Institut national d’Etudes démographiques (= Les cahiers de l’INED; 156). Lévy, Paul (1929): Histoire linguistique d’Alsace et de Lorraine. Paris: Éd. Les Belles Lettres. Magenau, Doris (1962): Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache im Elsaß und in Lothringen. Mannheim: Bibliographisches Institut. Ministère de l’éducation nationale (2013): Apprendre et enseigner les langues et les cultures régionales dans l’école de la république. Abrufbar unter: http: / / cache.media.eduscol.education.fr/ file/ Langues_ vivantes/ 85/ 4/ 2013_langues_regionales_guide_web_293854.pdf. (Letzter Zugriff: 31.7.2018). Ministère de l’Éducation nationale (2008): Arrêté du 26 décembre 2007. In: Bulletin officiel, 3. Morck, Pierre (2004): Schriftum in fränkischer und hochdeutscher Sprache. In: Land un Sproch, Sondernummer 7, S. 33-45. Morgen, Daniel/ Zimmer, Armand (2009): L’enseignement de la langue régionale en Alsace et en Moselle. In: trema, 31, S. 109-118. Moser, Hugo (1962): Geleitwort des Herausgebers. In: Magenau, Doris: Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache im Elsaß und in Lothringen. Mannheim: Bibliographisches Institut, S. 9-11. Mouraux, Philippe (2015): Que norma para a língua regional da Lorena germanófona? Entre tradiç-o linguística, „renascentismo“ étnico e pragmatismo. In: Baxter, Robert (Hrg.): Quem fala a minha língua? Santiago de Compostela: Através Editora. Frz. Version abrufbar unter: www.alsace-lorraine. org/ images/ pdf/ Publication_galicienne_revisee18.01.2015.pdf. (Letzter Zugriff 13.11.2018). Müller, Thomas (2009): Imaginierter Westen. Das Konzept des ‚deutschen Westraums‘ im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsozialismus. Bielefeld: transcript (= Histoire; 8). Niebaum, Hermann/ Macha, Jürgen (2014): Einführung in die Dialektologie des Deutschen. 3., überarb. und erw. Aufl. Berlin u.a.: de Gruyter. Parisse, Michel (1984): Lothringen. Geschichte eines Grenzlandes. Saarbrücken: Saarbrücker Druckerei und Verlag. Pauly, Michel (2008): De l’Austrasie à Sarre-Lor-Lux. La „Grande Région“, une entité historique? In: Roth, François (Hrg.): Lorraine, Luxembourg et pays wallons. Mille ans d’histoire partagée du Moyen Âge à nos jours. Actes du colloque tenu les 22 et 23 février 2007 au Conseil régional de Lorraine. Nancy: Comité d’histoire régionale (= Annales de l’est; Sondernummer), S. 307-326. Pauly, Michel (2011): Geschichte Luxemburgs. München: Beck. Perret, Michèle (2016): Introduction à l’histoire de la langue française. 4. Aufl. Paris: Armand Colin. Pfefferkorn, Roland (1998): Moselle germanophone: Contradictions linguistiques. In: Passerelles, 17, S. 55-62. 152 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="153"?> Philipp, Marthe/ Bothorel-Witz, Arlette/ Levieuge, Guy (1977): Atlas linguistique et ethnographique de la Lorraine germanophone. Tome I: Corps humain, Maladies, Animaux domestiques. Paris: Éd. du CNRS. Philipp, Marthe/ Weider, Erich (2002): Sein und haben im elsass-lothringischen Mundartraum. Ein organisiertes Chaos. Stuttgart: Steiner. Pitz, Martina (1999): Französiche Sprachpolitik im deutschsprachigen Lothringen (1789-1870). In: Friedrich-Ebert Stiftung/ Centre national de littérature (Hrg.): Dialekt und Mehrsprachigkeit. Tagung im Centre national de littérature Mersch, 23. Mai 1998. Saarbrücken, S. 11-26. Pitz, Martina (2003): Mei Sprooch és en klän Insel. Zur identitätsstiftenden Funktion des Dialekts im östlichen Lothringen und im Saarland. In: Schmeling, Manfred/ Duhem, Sandra (Hrg.): Sprache und Identität in frankophonen Kulturen. Opladen: Leske-Budrich, S. 127-148. Pitz, Martina (2005): Géolinguistique ou linguistique des variétés? L’exemple de la Lorraine dite „francique“. In: Marges linguistiques, 10, S. 1-18. Pitz, Martina (2007): Sprachentwicklung im Sprachgrenzbereich. Zu den methodischen und quellenkundlichen Voraussetzungen einer Sprachgeschichte des germanophonen Lothringen in Spätmittelalter und früher Neuzeit. In: Kuhn, Bärberl/ Pitz, Martina/ Schorr, Andreas (Hrg.): „Grenzen“ ohne Fächergrenzen. Interdisziplinäre Annäherungen. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, S. 345-370. Polenz, Peter von (1999): Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 2: 19. und 20. Jahrhundert. Berlin/ New York: de Gruyter. Post, Rudolf (1992): Pfälzisch. Einführung in eine Sprachlandschaft. 2., aktual. und erw. Auflage. Landau: Pfälzische Verlagsanstalt. Rectorat de l’académie de Nancy-Metz (o. J.): Plan pluriannuel de développement des langues régionales 2010-2015. Académie de Nancy-Metz. Abrufbar unter: www4.ac-nancy-metz.fr/ allemand/ langues_regionales.html. (Letzter Zugriff 13.11.2018). Rispail, Marielle (2003): Le Francique. De l’étude d’une langue minorée à la socio-didactique des langues. Paris: l’Harmattan. Rispail, Marielle (2014): Le francique, une langue sans frontières. Le francique (platt lorrain). In: Langues et cité, 25, S. 2. Rispail, Marielle/ Haas-Heckel, Marianne/ Atamaniuk, Hervé (2012): Le Platt lorrain pour les nuls. Guide de conversation. Paris: First Edition. Roth, François (2012): Histoire politique de la Lorraine de 1900 à nos jours. Metz: Éd. Serpenoise. Roth, François (2011): La Lorraine annexée. 1871-1918. Metz: Éd. Serpenoise. Schneider, Jens (2010): Auf der Suche nach dem verlorenen Reich. Lotharingien im 9. und 10. Jahrhundert. Köln: Böhlau (= Publications du Centre Luxembourgeois de documentation et d’études médiévales CLUDEM; 30). Selig, Maria (2011): Distanzsprachliche Mündlichkeit. Zur (rustica) romana lingua im Konzil von Tours und in den Straßburger Eiden. In: Overbeck, Anja/ Schweickard, Wolfgang/ Völker, Harald (Hrg.): Lexikon, Varietät, Philologie. Romanistische Studien. Günter Holtus zum 65. Geburtstag. Berlin: de Gruyter, S. 255-282. Simmer, Alain (2015): Aux sources du germanisme mosellan. La fin du mythe de la colonisation franque. Metz: Éditions des Paraiges (= Mémoires de l’Association Française d’Archéologie Mérovingienne; 30). Spiekermann, Helmut H./ Weber, Kathrin (2013): Niederdeutsch in der Stadt. Schriftsprachliche öffentliche Zeichen als Kultursymbole. In: Niederdeutsches Jahrbuch, 136, S. 139-158. Stroh, Cornelia (1988): Sprachwahl in Petite-Rosselle (Ost-Lothringen). In: Blick, 1, S. 91-98. Abrufbar unter: www.fb10.uni-bremen.de/ iaas/ blick/ blick1/ stroh.pdf. (Letzter Zugriff 13.11.2018). Stroh, Cornelia (1993): Sprachkontakt und Sprachbewusstsein. Eine soziolinguistische Studie am Beispiel Ost-Lothringens. Tübingen: Günther Narr. Der germanophone Teil Lothringens 153 <?page no="154"?> Völker, Harald (2000): Altfranzösisch in deutscher Feder? Sprache und Verwaltung in der Grafschaft Luxemburg im 13. Jahrhundert. In: Dahmen, Wolfgang et al. (Hrg.): Schreiben in einer anderen Sprache. Zur Internationalität romanischer Sprachen und Literaturen. Tübingen: Günther Narr (= Romanistisches Kolloquium; 13), S. 35-51. Walter, Henriette (2012): Le Platt lorrain. In: Walter, Henriette (Hrsg.): Aventures et Misaventures des Langues de France. Preface de Jean Pruvast. Paris: Honoré Champion. S. 86-93. Wiesinger, Peter (1983): Die Einteilung der deutschen Dialekte. In: Besch, Werner et al. (Hrg.): Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. 2. Halbbd. Berlin/ Boston: de Gruyter, S. 807-900. 154 Rahel Beyer / Fernand Fehlen <?page no="155"?> Das Elsass Dominique Huck / Pascale Erhart 1 Einleitung 2 Geographische Lage 3 Demographie und Statistik 4 Geschichte 4.1 5. Jahrhundert bis Ende 17. Jahrhundert 4.2 18. und 19. Jahrhundert (bis 1870) 4.3 Seit 1871 5 Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung 5.1 Rechtliche Stellung des Deutschen und offizielle Sprachregelungen 5.2 Wirtschaftliche Situation (Rolle des Deutschen in der Wirtschaft/ auf dem Arbeitsmarkt) 5.3 Politische Situation 5.4 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien, Literatur 6 Soziolinguistische Situation 7 Sprachgebrauch und -kompetenz 7.1 Allgemeines 7.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Varietäten 7.3 Sprachgebrauch 7.4 Kommunikationssituationen des Deutschen 8 Spracheinstellungen 8.1 Affektive Bewertung; Dialektverlust 8.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation 8.3 Einstellung gegenüber Hochsprache und Dialekt (als Identitätsmerkmal) 9 Linguistic Landscapes 9.1 In der offiziellen Öffentlichkeit 9.2 In der privaten Öffentlichkeit 10 Faktorenspezifik Literatur 1 Einleitung Im heutigen Elsass wäre es nicht vertretbar, die verschiedenen vorhandenen Sprachvarietäten getrennt zu behandeln, da sie alle in ein enges Geflecht verstrickt sind, aus wenigstens zwei Gründen: - Der geschichtliche Hintergrund des Elsass (seit Mitte des 19. Jahrhunderts, und noch intensiver seit 1870/ 1871) stellt die Sprachvarietäten in ein objektives und subjektives Konkurrenzsystem, das es unabdingbar macht, die verschiedenen vorhandenen Sprachvarietäten miteinander auftreten zu lassen; <?page no="156"?> - Die Sprachpolitik Frankreichs nach 1918 und insbesondere nach 1945, die sich de facto stark auf die ideologischen Wertvorstellungen der Französischen Revolution stützt, verdrängt die nicht französischen Varietäten aus den Rollen, die ihnen zuvor beschieden waren. Dazu kommt, dass der Terminus „Deutsch“, in Bezug auf die Mundarten im Elsass, als teilweise problematisch bewertet werden muss: Unter „Deutsch“ wird heute im gewöhnlichen gesellschaftlichen Sprachgebrauch die deutsche Standardsprache verstanden, die als offizielle und Amtssprache im Nachbarland, der Bundesrepublik Deutschland, gebraucht wird. Auch das verschriftete Deutsch in einigen elsässischen Medien und in literarischen Veröffentlichungen oder das mündliche, noch in Gottesdiensten gebrauchte standardnahe Deutsch wird als Standarddeutsch kategorisiert und als solches anerkannt. Immerhin aber handelt es sich um ein endogenes Deutsch, das oft im Elsass produziert wird, im Gegensatz zum Deutsch der Deutschen, das insgesamt als exogen betrachtet wird; doch kann aber auch „Deutsch“ als relativ exogen gelten, wenn es sich um das mehr oder weniger regiolektale Deutsch handelt, das im nahen rechtsrheinischen deutschen Grenzstreifen gesprochen wird. Die fränkischen und alemannischen Dialekte hingegen, die im Elsass noch gesprochen werden und die aus diachronischer Sicht deutsche Dialekte ausmachen, werden von den Sprechern nicht (mehr) als Deutsch oder als deutsche Dialekte bezeichnet, sondern als Elsässisch (frz. ‚alsacien‘) (manchmal noch als Elsässerditsch ) oder als elsässische Mundarten. Immerhin können die Mundarten noch in einzelnen Orten oder in den vor den 1930er Jahren geborenen Generationen noch als „deutsch“ im generischen Sinn bezeichnet werden. Diese Differenzierung, die politisch und ideologisch eine hohe Bedeutung einnimmt, ist in der jüngeren Geschichte (um 1900) entstanden. Im Übrigen wird des Öfteren Elsässisch ganz einfach durch die Bezeichnung „ der Dialekt“ (frz. ‚ le dialecte‘) ersetzt, auch wenn es paradox klingen mag. 2 Geographische Lage Das Elsass liegt im Osten Frankreichs. Der Rhein bildet die östliche Grenze zu Deutschland, die Lauter die nördliche. Im äußersten Süden grenzt das Elsass an die Schweiz. Die westliche Seite des Elsass greift nach Lothringen über; südwestlich ist die Franche-Comté die Nachbarregion (Abb. 1). 3 Demographie und Statistik Mit 8.280 km 2 macht das Elsass 1,5 Prozent des französischen Gesamtgebietes aus. Es zählt zirka 1,9 Million Einwohner (zirka 2,8 % der frz. Gesamtbevölkerung [66 Millionen]). Mit 224 Einwohnern/ km ² ist die Bevölkerungsdichte im Elsass fast doppelt so hoch wie der Durchschnitt im übrigen Frankreich (118 Einwohner/ km ² ). 1 1 Mit der neuen Einteilung der frz. Verwaltungsregionen (seit dem 1. Januar 2016) gehört das Elsass einer größeren Region („Région Grand Est“) an. Daher wurden die Angaben aus verschiedenen nicht immer vergleichbaren Dateien des staatlichen Institut National de la Statistique et des Études Économiques (= IN- SEE) entnommen (z.B.: www.insee.fr/ fr/ statistiques/ 1893198; Letzter Zugriff 3.11.2017). 156 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="157"?> Abb. 1: Übersichtskarte (von Anne Horrenberger erstellt) Das Elsass 157 <?page no="158"?> 4 Geschichte 4.1 5. Jahrhundert bis Ende 17. Jahrhundert Nach dem Untergang des Römischen Reichs und während der Völkerwanderung wurden Germanen, insbesondere Alemannen und zum Teil auch Franken, im damaligen elsässischen Raum ansässig (5. Jahrhundert). Da die Neuankömmlinge wahrscheinlich der autochthonen übriggebliebenen Bevölkerung zahlenmäßig überlegen waren, ging die sprachliche „Germanisierung“ rasch voran. Die Alemannen und Franken setzten ihre Mundarten schnell durch, so dass der (heutige) Streifen zwischen Rhein und Vogesen in relativ kurzer Zeit sprachlich vom Keltischen und Galloromanischen ins Germanische überging. Politisch gehörte somit das Elsass dem Frankenreich an, zuerst unter der Herrschaft der Merowinger (5.-8. Jahrhundert), dann der Karolinger (8.-9. Jahrhundert). Nach der Zerteilung des Reichs durch die Enkelkinder Karls des Großen ging das Elsass an Ludwig den Deutschen (9. Jahrhundert) über. Bis ins 17. Jahrhundert teilte das Elsass das politische Schicksal des im 10. Jahrhundert gegründeten deutschen Kaiserreichs (Heiliges römisches Reich deutscher Nation) und gehörte weiter dem deutschen Kultur- und Sprachraum an. Die erste ausschlaggebende Wende erfolgte nach dem Dreißigjährigen Krieg bzw. dem Westfälischen Frieden (1648), als ein größerer Teil des damaligen elsässischen Raumes (die habsburgischen Besitzungen im Oberelsass) an Frankreich überging. Die übrigen Teile des Elsasses wurden im Laufe der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts auch an Frankreich angeschlossen (insbesonders Straßburg 1681) 2 . Das französische Königtum gliederte das damals noch territorial zersplitterte Elsass in eine Provinz um und führte durch die Einführung des französischen Verwaltungssystems und Justizwesens eine politische Angleichung an Frankreich herbei. Wirtschaftlich blieb das Elsass jedoch „fremdes Land“, da die ökonomische Grenze immer noch auf dem Vogesenkamm festgesetzt war. Sprachen Die meist verbreitete und gebrauchte sprachliche Varietät blieb vom hohen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, - wie das überall in Europa der Fall war - die Mundart, sowohl als mündliches Kommunikationsmittel und Alltagssprache als auch als Volk ssprache, d. h. als Kommunikationssprache der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Bis Ende des 17. Jahrhunderts konnte nur eine gesellschaftliche und intellektuelle Elite Französisch, wie auch die übrigen oberen Schichten im sonstigen Europa. Das französische Königreich betrieb keine wirkliche Sprachpolitik, doch drang aber de facto langsam Französisch in gewisse Schichten ein, da Französisch zur Notwendigkeit wurde für alle, die ein öffentliches Amt bekleiden wollten und/ oder auf sozialen Aufstieg bedacht waren. 4.2 18. und 19. Jahrhundert (bis 1870) Den zweiten entscheidenden Wendepunkt bildete die Französische Revolution von 1789. Das Elsass erlebte mit allen anderen französischen Provinzen die Bildung der Nation , die Entstehung eines Staates, in welchem nicht die formale Zugehörigkeit wichtig ist, sondern die ideologischen und politischen Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, zu welchen 2 Mülhausen/ Mulhouse verlässt die schweizerische Eidgenossenschaft erst 1798. 158 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="159"?> sich jeder Einwohner, der zum „Bürger“ (‚citoyen‘) avanciert war, zu bekennen hatte. Wie auch immer die Gesinnung der damaligen Elsässer der Revolution gegenüber gewesen sein mag, stellt sie den Anstoß zur persönlicheren und subjektiven Bindung zu Frankreich dar. Die Menschen im Elsass fingen im Laufe des 19. Jahrhunderts an, sich als Franzosen zu fühlen . Auch wirtschaftlich wurde das Elsass in der Revolutionszeit eingegliedert, so dass sowohl die politische Grenze als auch die wirtschaftliche Grenze zusammenfielen und die letzte formale Verbindung zum (1806 aufgelösten) deutschen Kaiserreich aufgehoben wurde. Sprachen Bis ins 17. Jahrhundert hinein blieben die Schriftsprachen Latein, verschriftete Dialekte und Gemeindeutsch. Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts veränderte sich die Lage allmählich. Als „offizielle“ Amtssprache wurde Französisch eingesetzt, doch im amtlichen Schriftverkehr mit der mittleren oder unteren Schicht wurde meistens auch Deutsch von der Verwaltung benutzt. Auch was die Schulsprachen angeht, ist die Lage nicht einheitlich. Insofern ein Schulwesen oder Schulen überhaupt vorhanden waren, wurde Deutsch gebraucht, in höheren Schulen Latein und/ oder Deutsch, an der katholischen Universität Französisch und an der evangelischen Universität Deutsch (bzw. Latein). Veröffentlichungen ohne wissenschaftlichen Anspruch erfolgten in der gemeindeutschen Sprache. Die Sprachsituation kann für das Ende des 18. Jahrhunderts so skizziert werden (vgl. Lévy 1929, I: 345): - Die Immigranten aus Frankreich sprechen Französisch und können kein Deutsch, d. h. keine Mundarten und kein geschriebenes Deutsch; - das Volk spricht nur Dialekt, bzw. wenn es nötig ist, eine Art gemeindeutsche Varietät; - das mittlere Bürgertum spricht immer noch Dialekt, bzw. wenn es sein muss, in einer gemeindeutschen Varietät, versteht bzw. kann aber bereits Französisch; - der Adel und das höhere Bürgertum spricht Französisch, kann aber noch einen Dialekt, bzw. eine gemeindeutsche Varietät. Die Entstehung des nationalen und republikanischen Gedankens, der Einheit und der Gleichheit durch die Französische Revolution sollte auch sprachlich umgesetzt werden. Als Träger dieses Gedankenguts sollte Französisch die einzig und allein gültige Sprache werden. Patois , Mundarten und andere Sprachvarietäten sollten als mögliche Zwistverursacher und Hindernisse, die dem Erlernen des Französischen im Wege standen, bekämpft und ausgerottet werden. Französisch wurde zur emblematischen Sprache der politischen Loyalität und zum Inbegriff des Patriotismus. Durch das Erlernen von Französisch sollten die Bürger symbolisch ihre politische Gesinnung bekunden. Kurzfristig hatte diese Sprachpolitik jedoch keinen Erfolg. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts und nur in einzelnen Domänen gewann die französische Sprache an Gewicht. Durch die Einführung eines eigentlichen Schulsystems, das bis Mitte des Jahrhunderts oft oder meistens Deutsch als Unterrichtssprache benutzte, danach immer öfter und mehr Französisch, 3 auch durch den Wehrdienst, fing die französische Sprache an, in breitere Be- 3 Grund dafür war eine regionale Sprachpolitik des damaligen recteur . Das Elsass 159 <?page no="160"?> völkerungsschichten zu dringen. Jedoch fand Französisch eher Anhänger beim mittleren Bürgertum, das nach sozialem Aufstieg drängte sowie bei den Intellektuellen als bei den Arbeitern und Bauern, die in ihrem Alltag eigentlich wenig Gelegenheit hatten, das erlernte Französisch weiter zu pflegen. Die Volkssprache blieb die Mundart, und für einen großen Teil der Bevölkerung blieb Deutsch die Sprache der Kirche und der Religion (sowohl für die Protestanten als auch für die Katholiken - für Letztere zumindest was den Religionsunterricht und die Predigt angeht) sowie die meist gelesene Schriftsprache. Immerhin hatte sich aber Französisch fest etabliert, erfuhr unbestreitbare Fortschritte und war auf gutem Wege, neben den gesprochenen Mundarten und dem geschriebenen Deutsch, einen wichtigeren Platz einzunehmen. Als Schriftsprache gelang dem Französischen ein bemerkenswerter Durchbruch, besonders im Bereich der Wissenschaften, in der Belletristik hingegen nur sehr bedingt. 4.3 Seit 1871 Durch den Krieg zwischen Frankreich und Preußen (1870/ 71), der mit der französischen Niederlage endete, wurde das Elsass mit einem Teil Lothringens an das frisch gegründete zweite Deutsche Reich als „Reichsland Elsass-Lothringen“ zwangsweise abgetreten. Nach dem Sieg der Alliierten über das kaiserliche Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges (1918) ging das Elsass wieder an Frankreich zurück. Doch bereits 1940 wurde es von Hitlerdeutschland besetzt und de facto bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges (1944/ 45) annektiert, wo das Elsass wieder französisch wurde. 4.3.1 1871-1918: Reichsland Elsass-Lothringen Die Rollen der Sprachen wurden durch den 1870er Krieg umgekehrt: Die ehemalige Amtssprache Französisch wurde zur Fremdsprache und Deutsch zur Amtssprache erklärt. Die Schulsprache war (spätestens ab 1874) ausschließlich Deutsch. Aus praktischer, alltäglicher Sicht bildete diese Umstellung keine größere Schwierigkeit, da die überwiegende Mehrheit sich sehr schnell an die deutsche Schriftsprache anpassen konnte. Nur in zirka 4 Prozent der elsässischen Gemeinden waren romanische Mundarten gebräuchlich (in einigen Vogesentälern und in sich im äußersten Süden des Elsasses befindenden Dörfern). Doch emotional war eine solche Umstellung nicht selbstverständlich. Um die Jahrhundertwende entwickelte sich eine kulturelle Bewegung, die die Eigenart in den herkömmlichen Bräuchen, in Trachten und Werkzeugen, aber auch in der Sprache zur Geltung zu bringen suchte. Ganz besonders neu und prägend trat eine literarische Mundartlyrik auf sowie eine anspruchsvollere Dialektbühne, die Jahr um Jahr immer neue Erfolge verbuchen konnte. Eine der entscheidenden Folgen dieses hohen Stellenwerts der Mundarten bestand darin, dass ihnen allmählich eine politisch-kulturelle Rolle zukam: „[Der Dialekt] wurde das Ausdrucksmittel des nicht zur französisierten Oberschicht gehörigen, aber auch dem Hochdeutschen nicht zugewandten Elsässers, der damit seine Eigenart und kulturelle Selbständigkeit betonte“ (Rimmele 1996: 21). Dadurch fing ein allmählicher Prozess an, der die Mundarten von der Schriftsprache abkoppelte (vgl. Abschn. 1 die heutigen Benennungen). Sprachpolitisch duldete das Deutsche Reich zwar Veröffentlichungen in französischer Sprache, führte aber aus zum Teil innenpolitischen Gründen zu gewissen Zeitpunkten einen schikanösen Feldzug gegen französische Schilder, Aufschriften, Ortsnamen, Geschäfts- und 160 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="161"?> Firmenschilder, auch gegen auf Französisch verfasste Schriftstücke von Kirchen und Unternehmen im amtlichen Briefverkehr. Sogar französische Vornamen wurden zeitweise vom Standesamt abgelehnt. Alle Benennungen und Schriftstücke sollten in deutscher Sprache verfasst werden. Die höheren gesellschaftlichen Schichten (ob einheimisch oder zugewandert) pflegten aufgrund des Prestiges die französische Sprache weiter und ließen ihre eigenen Kinder in Französisch unterrichten. Ein Teil der höheren und mittleren Bourgeoisie wählte denselben Weg, teilweise aus Prestigegründen, teilweise auch als Ausdruck ihrer politischen Ablehnung Deutschland gegenüber und als Symbol ihrer Frankreichtreue. Aus politischen Gründen (weil eben ein Teil des Reichslands romanische Mundarten und z.T. die französische Standardsprache gebrauchte) wurden Sprachzählungen vorgenommen, in welchen nach der Muttersprache gefragt wurde, die für das Elsass folgende Ergebnisse erbrachten (Tab. 1): Bevölkerung Deutsch (einschließlich der Mundarten) Deutsch und Französisch Französisch (einschließlich der romanischen Mundarten) 1878 1.034.122 88,23 % 7,84 % 3,92 % 1900 1.144.641 95,54 % 0,29 % 4,64 % 1905 1.198.774 94,76 % 0,23 % 4,48 % 1910 1.218.803 94,58 % 0,19 % 4,77 % Tab. 1: Angegebene Sprachkenntnisse im Elsass, 1878-1910 4.3.2 1918-1940: Rückkehr nach Frankreich Mit der Rückkehr des Elsasses nach Frankreich liefen die sprachlichen Regelungen in die umgekehrte Richtung: Französisch wurde wieder Amtssprache. Obwohl politisch der Wille zur sofortigen sprachlichen Angleichung vorherrschend war, musste in der Praxis eingelenkt werden. Die offizielle Verwaltungssprache war selbstverständlich Französisch, doch gingen zum Beispiel die meisten Formulare und Dokumente zweisprachig an die Bürger. Im Justizwesen war die Praxis weniger flexibel: In vielen Fällen musste der nicht des Französischen mächtige Angeklagte und/ oder Kläger die Dienste eines Dolmetschers in Anspruch nehmen. Im Schulwesen trat nicht nur die Sprachumstellung, sondern auch der politische Wille am deutlichsten zum Vorschein. Bereits im Januar 1920 wurde Französisch in allen Volksschulen als Unterrichtssprache bestätigt. Ein dreistündiger Deutschunterricht blieb bestehen, wurde jedoch zuerst ab dem 4. Schuljahr erlaubt (ab 1927 bereits ab dem 2. Semester des 2. Schuljahres). Der Religionsunterricht (4 Stunden in einer Woche mit 27 Unterrichtsstunden) durfte in deutscher Sprache oder in der Mundart abgehalten werden. Sowohl der Platz, der dem Deutschen eingeräumt wurde, als auch die Art und Weise, wie Französisch eingeführt wurde, waren in der Gesellschaft und von mehreren politischen Parteien stark umstritten. Das Elsass 161 <?page no="162"?> In den mittleren und oberen Schularten sowie an der Universität Straßburg wurde nach einer kurzen Übergangszeit nur noch Französisch als Unterrichtssprache benutzt, und Deutsch blieb - wie in allen übrigen französischen Schulen und Universitäten - nur als Fremdsprache erhalten. Als Schriftsprache gewann Französisch eine starke Position, obwohl im Zeitungswesen das Deutsche dominierte. Auch in den sonstigen, aufkommenden Medien (Kino, Radio) spielte Deutsch eine bedeutende Rolle, wobei die Zweisprachigkeit an Bedeutung gewann. Nach wie vor blieb die Volkssprache die Mundart. Aber die Zahl derjenigen, die Französisch verstanden und auch zum Teil Französisch aktiv beherrschten, stieg in einem noch nie zuvor existierenden Maße an. Bei 1931 und 1936 amtlich durchgeführten Befragungen wurde nach der Kenntnis der jeweiligen Varietäten gefragt. Wie bei allen amtlichen Sprachzählungen oder -untersuchungen, ging es darum zu messen, wie und in welchem Umfang die französische Sprache sich einbürgerte. Das Ergebnis kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Geben an, die jeweilige Varietät sprechen zu können: Bevölkerung Nur Französisch Französisch und Dialekt Französisch und Deutsch Französisch + Dialekt + Deutsch Nur Dialekt Dialekt und Deutsch Nur Deutsch Andere Antworten 1931 1.199.915 Einwohner 5,60 % 4,78 % 2,93 % 35,16 % 7,44 % 32,70 % 3,79 % 0,65 % 1936 1.206.658 Einwohner 6,23 % 5,42 % 3,18 % 40,79 % 6,53 % 29,37 % 2,72 % 0,23 % Tab. 2: Angegebene Sprachkenntnisse, 1931-1936 Die Kenntnis der jeweiligen Varietät wurde 1936 wie folgt angegeben: Der Dialekt lag mit akkumuliert 82,11 Prozent der Befragten voran, Deutsch wurde von 76,07 Prozent angegeben und an dritter Stelle kommt Französisch mit immerhin 55,63 Prozent, was das Fortschreiten des Französischen hervorhebt. Doch bleibt die Kenntnis der Mundart und der deutschen Schrift- und Standardsprache immer noch stark vorherrschend. 4.3.3 1940-1944/ 5: Annexion durch Nazideutschland Ziel der Naziherrschaft war es, das Elsass zu „entwelschen“. Selbstverständlich betraf diese Politik vor allem die Sprachenfrage. Durch eine Anordnung (16.8.1940) wurde Deutsch als Amtssprache an Stelle des Französischen ins vom Dritten Reich annektierte Elsass eingeführt: 162 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="163"?> Alle öffentlichen Dienststellen im Elsaß einschließlich der Gemeinde-, Körperschaft-, Anstalts-, Kirchen- und Stiftsverwaltung und die Gerichte verwenden in Wort und Schrift ausschließlich die deutsche Sprache. Die elsässische Bevölkerung bedient sich bei mündlichen oder schriftlichen Anträgen an die genannten Dienststellen ausschließlich ihrer deutschen Muttersprache (Dritte Anordnung zur Wiedereinführung der Muttersprache vom 16. August 1940, §. 1). Auch die anderen Bereiche des öffentlichen Lebens wurden sprachlich „entwelscht“: Ortsnamen, Ortstafeln, Straßen-, Platz- und Gebäudebezeichnungen, Geschäftsaufschriften, u. v. a. m., und sogar in die Privatsphäre der Bürger wurde eingegriffen (z. B. „Entwelschung“ von Vor- und Familiennamen). Auch die Mundarten, die doch zum deutschen Dialektsprachraum gehörten, wurden nicht verschont. Alle Wörter und Ausdrücke, die sich aus dem Sprachkontakt zwischen Französisch und den Mundarten eingebürgert hatten, sollten als erstes einmal getilgt werden: Alle - meist schon älteren - Entlehnungen aus dem Französischen sollten durch „deutsche“ Wörter ersetzt werden (vgl. Kettenacker 1973: 163-173). Was die Anordnungen unter „Deutsch“ verstanden und was mit dem Spruch „Elsässer, sprecht eure deutsche Muttersprache“ gemeint war, waren selbstverständlich nicht die Mundarten, sondern das Standarddeutsche. Die Feindseligkeit den elsässischen Mundarten gegenüber, die wahrscheinlich aus taktischen Gründen nicht so brutal zum Vorschein kommen konnte und sollte, darf jedoch vom ideologischen Standpunkt des Nazismus aus nicht wundern. Es wurde angepeilt, die Mundarten allmählich aus dem Wege zu schaffen, damit nur eine eher standardnahe Umgangssprache benutzt würde. 4 Verstöße gegen diese sprachliche Säuberung wurden, wie alle sonstigen Verstöße jeglicher Art, bestraft, insofern sie bekannt wurden. Die knapp fünf Jahre dauernde leidvolle Naziherrschaft sollte auch auf sprachlichem Gebiet verhängnisvolle Folgen haben. 4.3.4 1945-1970 Wie in vielen westlichen Staaten kam auch in Frankreich ein unaufhaltsamer Entwicklungsprozess in Gang, der das herkömmliche gesellschaftliche Geflecht strukturell grundsätzlich veränderte. Dieser Prozess steht in enger Verbindung mit Modernisierungstrends und -phänomenen, die sich in allen Lebensbereichen erkennen lassen. Darüber hinaus fand auch ein Generationenwechsel statt, der sich rasch vollzog, da der Krieg neue Verhältnisse geschaffen hatte. Mitte der 1960er Jahre wurden die Umwandlungen, die bis dahin nur schleichend vor sich gingen, ersichtlich und beschleunigten sich innerhalb von zehn Jahren, so dass dreißig Jahre nach dem Krieg grundlegende Veränderungen eingetreten waren: - Einzug der Modernität ( vs. Tradition): Durch die Mechanisierung der Landwirtschaft sinkt die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten von 40 Prozent (1962) auf 14,4 Prozent (1975); dadurch verändert sich auch das Wesen der Ländlichkeit, und die Mobilität der 4 Bereits 1942 wurde überlegt, wie man Veröffentlichungen und Theateraufführungen in elsässischer oder badischer Mundart aus dem Presse- und Theaterwesen zurückdrängen könnte (Philipps 1996: 86). 1944 geht das Vorhaben klar aus einem Schreiben hervor, in dem es heißt: „Der Entwicklung unseres Volkes zur einheitlichen Nation stehen zweifellos auch die Mundarten im Wege. Es kann deshalb nur das Ziel des Reiches sein, die Einheit auch in der Sprache anzustreben“ (Kettenacker 1973: 182). Das Elsass 163 <?page no="164"?> Menschen bezieht sich dadurch sowohl auf den Beruf als auch auf die soziale Gruppenzugehörigkeit usw. und beeinflusst stark ihre Sprachpraktiken; - Anfänge einer Umstrukturierung in der Gesellschaft, die ganz besonders die soziale Stellung der Frauen, ihre gesellschaftliche Funktion, ihr Recht auf Anerkennung und Selbständigkeit usw. betrifft (vgl. unten die Rolle der Frauen in der Verbreitung des Französischen); - der Habitus eines Teils der mittleren Gesellschaftsklasse: Ihr Anspruch auf einen sozialen Aufstieg bringt sie dazu, die Lebensart der Vorfahren und die gesellschaftlichen herkömmlichen Funktionsweisen (d. h. Tradition) teilweise nicht weiterzuführen und den Lebensstil der unmittelbar höher gestellten Gesellschaftsklasse anzunehmen usw. (Huck 2015: 320-325). Sprachen Durch eine scharf durchgeführte Sprachpolitik zugunsten des Französischen in allen möglichen Bereichen und einen öffentlichen und institutionellen Diskurs über die Schäden der Zweisprachigkeit und die Mundart als Hindernis im Erlernungsprozess des Französischen veränderte sich die Sprachenlage ab Mitte der 1960er Jahre immer rascher zugunsten des Französischen. All diese Prozesse betrafen vor allem das sprachliche Verhalten in der verbalen Interaktion und die Spracheinstellungen und -einschätzungen der betroffenen Menschen: Französisch gewann immer mehr an Gewicht, der Gebrauch der Mundarten ging allmählich in allen Benutzungsdomänen zurück, die deutsche Standardsprache wurde - da wo sie noch eine Rolle spielte - nach und nach durch das Französische ersetzt, um nur noch als Statist auf der sprachlichen Bühne mitzuspielen. Gleichzeitig wurde eine langfristige Sprachpolitik betrieben, die Französisch begünstigte, die Mundarten und das Deutsche dagegen bewusst benachteiligte. Einen ersten Überblick über die veränderte Sprachsituation gibt die amtliche Befragung von 1946, die mit derselben Fragestellung wie 1936 5 durchgeführt wurde: - Französisch wird von akkumuliert 62,69 Prozent der Befragten angegeben, - Dialekt wird von akkumuliert 85,79 Prozent der Befragten angegeben, - Deutsch wird von akkumuliert 79,83 Prozent der Befragten angegeben (nachgerechnet nach INSEE 1956: 82). Sprachpolitik zur Verbreitung, zum Erlernen und Gebrauch des Französischen Bereits am 13. September 1945 wurde ein Beschluss erlassen, der die monolinguale deutschsprachige autochthone Presse verbot. Diese Regelung wurde erst 1984 explizit (gesetzlich) wieder aufgehoben. Deutsch durfte nur in zweisprachigen Zeitungen erscheinen und auch dort nur unter ganz bestimmten Bedingungen. Der Beschluss stieß auf wenig Widerstand, erstens weil die vorgebrachten Argumente, dem Französischen müsse den Vorrang gegeben werden, da es die künftige Sprache der Kinder und der Jugendlichen in einem französischen Elsass sei, überzeugend geklungen haben müssen, zweitens da Standarddeutsch unmittelbar nach dem Krieg als Sprache der Nazis empfunden und als solche schwer verfechtbar wurde und drittens 5 Die Bürger werden nach den Sprachen gefragt, die sie können: nur Französisch; Französisch und Dialekt; Französisch und Deutsch; Französisch, Dialekt und Deutsch; nur Dialekt; Dialekt und Deutsch; nur Deutsch; andere Sprachen. 164 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="165"?> weil Unmutsbekundungen an der patriotischen Loyalität Frankreich gegenüber Zweifel gelassen hätten, da Sprache und politische Gesinnung - der Theorisierung der Französischen Revolution zufolge - eng miteinander verknüpft wurden und zum Teil immer noch werden. Auch im schulischen Bereich wurde eine praktische und zugleich symbolische Maßnahme ergriffen: Der Deutschunterricht im Primarbereich wurde vorerst aufgehoben, damit die Kinder mehr und besser Französisch lernten. Zum ersten Mal in der Schulgeschichte des Elsass wurde in der Volksschule kein Deutsch unterrichtet. Erst ab Dezember 1952 konnte wieder in den damals zwei letzten Volksschulklassen (mit 12bis 14-jährigen Schülern) der mundartsprechenden Gemeinden Deutsch unterrichtet werden. Bis in die Mitte der 1960er Jahre behielten aber sowohl die Mundarten als auch der deutsche Standard starke Positionen. Als Alltagssprache der mittleren und unteren Schichten blieben die Mundarten das mehrheitlich gebrauchte Kommunikationsmittel; der deutsche Standard, der tatsächlich zwanzig Jahre nach dem Krieg politisch und gesellschaftlich viele Funktionen hat aufgeben müssen, fand sich noch in den Gottesdiensten, in den autochthonen Zeitschriften (viele waren immer noch zweisprachig) und teilweise in den amtlichen Formularen. Auch die Bestände der Pfarrbibliotheken (und z.T. der öffentlichen Bibliotheken) wiesen noch eine beträchtliche Anzahl an Büchern in deutscher Sprache auf. Deutsch war damit klar mit dem Geschriebenen verbunden. Außerdem muss es auch mit dem Alter korreliert werden: Deutsche Schriften wandten sich vor allem an Bürger, die vor dem Krieg eingeschult worden waren oder während des Krieges die Schule besuchten. Für die jüngeren Generationen (Elsässer etwa unter 30 Jahren) gehört Deutsch zu einer vergangenen Zeit, die nicht der Innovation oder der Modernität angehört, da ihr schriftliches Leben auf Französisch abgelaufen ist, auch wenn sie noch über gute passive Deutschkenntnisse verfügen. Diese Assoziation mit der Vergangenheit und Überkommenem spiegelt sich auch in der Kinowelt wider 6 : Bei den deutschsprachigen Filmen (ob im Originalton oder in deutscher Fassung), die mit großem Erfolg aufgeführt werden, handelt es sich um Heimatfilme und andere Schnulzen sowie um Actionfilme. Die bestbesuchten Vorstellungen bleiben allerdings durchaus diejenigen, die in deutscher Sprache stattfinden. Die jeweilige Stellung der drei Varietäten wurde während eines weiteren, Anfang der 1960er Jahre durchgeführten Zensus gemessen. Daraus ging Folgendes hervor: - 77,90 Prozent der in der Volkszählung erfassten Menschen gaben an, Französisch zu können, - 81,81 Prozent gaben an, Dialekt zu können, - 59,65 Prozent gaben an, Deutsch zu können (zusammengestellt nach INSEE 1962: III und 8 f.). Auch bei der Tagespresse nahm der Absatz der französischen Ausgaben zu: Für die Tageszeitung Les Dernières Nouvelles d'Alsace stieg sie von 19,43 Prozent (1950) auf 49,78 Prozent (1969) der Gesamtauflage, wenn sie nicht gar die zweisprachige überholte (die französische Ausgabe der Tageszeitung L'Alsace lag bereits 1965 bei 51 Prozent der Gesamtauflage [Huck 2015: 308 f.]). 6 Die Zahl der Filme auf Deutsch unterliegt einem von der Verwaltung sehr niedrig festgesetzten Quotensystem (Huck 2015: 271-279). Das Elsass 165 <?page no="166"?> 4.3.5 1970-1990 Die eigentliche sprachliche Wende scheint in den siebziger Jahren einzusetzen. Die Kinder des Nachkrieg-Babybooms sind in einer französisch geprägten und frankreichorientierten Welt aufgewachsen. Sozialer Aufstieg kann auch nur über die französische Sprache erfolgen. Die Schriftsprache, die sie in der Schule gelernt haben, ist Französisch, ihre Alltags- und Umgangssprachen sind Französisch und der Dialekt. Deutsch wird zu einer (vertrauten) Fremd sprache. Die Kirchen geben nach und nach die Zweisprachigkeit zugunsten des Französischen auf, Deutsch verschwindet völlig aus dem öffentlichen Leben. Der soziopolitische und gesellschaftliche Kontext in den 1970er Jahren schafft ein neues sprachpolitisches und kulturelles Moment: Die Auflehnung gegen die Konsumgesellschaft, gegen den triumphierenden, den Menschen zermalmenden Kapitalismus, der Kampf um den Umweltschutz, u. v. a. m. werden eng mit einer Wiederentdeckung des eigenen Seins verkoppelt, das aufs Engste mit der „angestammten“ Sprache, der Mundart, verbunden wird. Die Mundart wird zum Banner einer Bewusstwerdung, eines weltoffenen Protests gegen die Entmachtung des Volkes und der Völker, des kleinen Mannes, gegen die Enteignung der eigenen Sprache, der Mundart. Der Rückgang der Mundarten und deren Gebrauch erfolgt tatsächlich langsam aber unaufhörlich, da auch er eher mit Vergangenem und Tradition verbunden wird, im Gegensatz zum Französischen, das Innovation und Modernität darstellt. Der empfundene Rückgang des Mundartgebrauchs wird durch eine 1979 (Seligmann) und 1980 (INSEE) veröffentlichte staatliche Erhebung belegt: Geben an Elsässisch zu sprechen (in %) Elsässisch zu verstehen aber nicht zu sprechen (in %) kein Elsässisch zu verstehen (in %) 16bis 24-Jährige 65,5 13,1 21,4 25bis 34-Jährige 64,3 11,0 24,7 35bis 44-Jährige 71,5 8,7 19,8 45bis 54- Jährige 84,2 5,3 10,5 55bis 64-Jährige 84,4 5,3 10,3 65bis 74-Jährige 88,3 3,7 8,0 ab 75 Jahre 87,4 2,3 10,3 Zusammen 74,7 % 8,2 % 17,1 % Tab. 3: Mundartkenntnis der Elsässer, 1979/ 1980 Der Prozentsatz der elsässischen Familien, bei welchen beide Elternteile angeben, Dialekt zu können , beläuft sich zwar auf 91,7 Prozent, doch der Prozentsatz der elsässischen Familien, bei welchen beide Elternteile angeben, fast immer im Dialekt zu sprechen liegt nur bei 60,3 Pro- 166 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="167"?> zent. Der errechnete Dialektgebrauchsverlust beläuft sich somit auf 31,4 Prozentpunkte 7 . Die Tatsache, dass die Mundart zu Hause viel weniger eingesetzt wird als es möglich wäre, lässt die Frage nach der Weitergabe aufkommen, die dadurch de facto stark beeinträchtigt wird. 8 Was die Standardsprache anbelangt wurde ab 1976 wieder ein zweibis dreistündiger Deutschunterricht in den zwei letzten Klassen der Grundschule (9bis 11-jährige Schüler) eingerichtet. Doch wurde das Unternehmen nur ungern bewilligt, da die Meinung, die Kinder könnten vom Französischen zum Deutschen übergehen, immer noch kursierte, obwohl sie weder kulturgesellschaftlich noch soziopolitisch zu vertreten war und keineswegs der sprachlichen täglichen Wirklichkeit entsprach. Dazu blieb auch die Lehrerschaft eher misstrauisch gesinnt, da ein großer Teil immer noch die Ansicht vertrat, ein vorgezogenes Erlernen des Deutschen (d. h. vor der Sekundarstufe) könnte eine Gefahr für eine solide Aneignung des Französischen und eine zu große sprachliche Unterstützung der Mundart darstellen. 5 Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung 5.1 Rechtliche Stellung des Deutschen und offizielle Sprachregelungen 5.1.1 Rechtliche Stellung des Deutschen Laut Paragraph 2 der französischen Verfassung ist „Französisch die Sprache der Republik“ 9 . Demzufolge ist für den Gebrauch jeglicher anderer Sprache in einer staatlichen Institution eine besondere Sprachregelung vonnöten. 2008 wurde die Verfassung um einen neuen Paragraphen (75-1) ergänzt, der erklärt: „Die Regionalsprachen sind Teil des Kulturguts Frankreichs.“ 10 Wie dieser Paragraph zu verstehen ist, ist jedoch nicht eindeutig. Immerhin erlaubt er einen gewissen Gebrauch der Regionalsprachen im öffentlichen Leben, solange Französisch nicht als zweitrangig erscheint. Im Elsass wurde 1984 das Verbot einer monolingualen deutschsprachige Presse von 1945 gesetzlich aufgehoben (vgl. Absch. 4.3.4). Der Anteil der französischsprachigen endogenen Presse lag sowieso bereits an der 80-Prozent-Marke. In den anderen Medien sind Sendezeiten für Sendungen in Regionalsprachen vorgesehen, jedoch nur als Möglichkeit, nicht als Pflicht. Seit 1919 war es bei allen Wahlen üblich, die Wahlunterlagen auf Wunsch der Kandidaten sowohl auf Französisch als auch auf Deutsch den Wählern zu verschicken. Diese an und für sich heute praktisch nicht mehr nötige, aber geschätzte sym- 7 Das Ergebnis wird wie folgt errechnet: Es ist der Unterschied zwischen den Ehepaaren, bei denen beide Partner angeben, Mundart sprechen zu können, und eben den Ehepaaren, die ebenfalls angeben, immer die Mundart tatsächlich zu Hause zu gebrauchen. Der Unterschied zwischen dem abstrakt potenziellen Gebrauch und dem angegebenen Gebrauch zu Hause zeigt, dass ein größerer Teil der Mundartsprecher ihre Mundart zu Hause (laut Aussagen) nicht benutzt (Veltman 1980: 41). 8 Ein ähnlicher Vorgang ist in der zweisprachigen Tagespresse zu beobachten: so verringert sich z. B. zwischen 1970 und 1990 die Auflage der zweisprachigen (d. h. auf Deutsch und Französisch geschriebenen) Ausgabe der Tageszeitung Les Dernières Nouvelles d'Alsace von 47,54 Prozent auf 10,82 Prozent der Gesamtauflage (Huck 2015: 384). 9 „Loi constitutionnelle n°92-554 du 25 juin 1992 ajoutant à la Constitution un titre: ‚Des Communautés européennes et de l'Union européenne‘, article 2: La langue de la République est le français“, in Journal Officiel de la République Française n°147 vom 26.6.1992, S. 8406. 10 Article 75-1 durch die Loi constitutionnelle n°2008-724 du 23 juillet 2008 de modernisation des institutions de la V e République eingeführt: „Les langues régionales appartiennent au patrimoine de la France“, in Journal Officiel de la République Français e n°171 vom 24.7.2008, S. 11890, Text Nr. 2. Das Elsass 167 <?page no="168"?> bolische Maßnahme wurde im Dezember 2007 von der Verwaltung unter heftiger Debatte unerwartet abgeschafft. In allen übrigen Bereichen wird Deutsch wie alle anderen Fremdsprachen behandelt, außer zum Teil im Schulbereich. Zum Teil im Primarbereich und voll und ganz in den bilingualen Zügen (Primar- und Sekundarbereich) wird Deutsch als Regionalsprache eingestuft, sodass alle für die Regionalsprachen im Schulbereich gültigen Regelungen, in diesem Falle auch für das Deutsche im Schulbereich im Elsass, ihre Gültigkeit haben. Somit gibt es im heutigen Elsass keine spezifischen Regelungen - weder für Deutsch noch für die Mundarten. 5.1.2 Sprachregelungen im Schulsystem Anfang der 1980er Jahre, zu einer Zeit, in welcher das Leben immer mehr auf Französisch ablief und sich der Gebrauch der Mundarten eher auf die Privatsphäre beschränkte, zu einem Zeitpunkt, zu dem fast alle Elsässer Französisch wenigstens passiv beherrschten, da die monolingual Mundart sprechenden oder Deutsch schreibenden Generationen am Aussterben waren, in einer Zeitspanne (1972/ 1976-1981), da die Wiedereinführung des Deutschen in der Grundschule keine besonders guten Ergebnisse brachte, was die Sprachkompetenzen und -kenntnisse der Schüler anbelangte, wurde durch einen politischen Wechsel in Frankreich eine andere schulische Sprachpolitik angestrebt: Die „regionalen“ Sprachen sollten gefördert werden, insbesondere im Schulwesen. Für das Elsass bedeutete dies, dass die Lehrer dazu ermutigt wurden, die Mundart mit den Kindern in den Vorschulen zu benutzen und neben dem Erlernen der französischen Sprache zu pflegen, den Deutschunterricht in der Grundschule neu zu beleben und zu erneuern. Das Vorhaben wurde mit allen politischen und gesellschaftlichen Partnern ausgehandelt und stieß auf einen sehr breiten Konsens. Nur bedeutete dies eine sprachpolitische Kehrtwendung bei vielen Lehrern, die nicht ohne Weiteres zu vollziehen war. Es lassen sich nämlich Sprachverhalten, -attitüden und -gepflogenheiten sowie festgefahrene gesellschaftlich akzeptierte Stereotypen nicht durch einen Erlass oder ein behördliches Rundschreiben in kurzer Zeit verändern: Die Zahl der Dialektsprecher nimmt unaufhörlich ab, Deutsch wird - wenn auch als vertraute Sprache - immerhin aber als Fremd sprache empfunden. Als autochthone Sprache wird sie von den jüngeren Generationen bestenfalls als eine Sprache der Vergangenheit, der älteren Jahrgänge und einer vergangenen Welt eingestuft. Als Sprache des Nachbarn - wie die deutsche Sprache ab 1986 von den Grundschulbehörden in der Neubelebungsphase benannt wurde - findet exogenes, d. h. Bundes-Deutsch, eher Anklang, da Sprachkenntnisse in Deutsch dazu dienen können, sich in der Arbeitswelt besser zu vermarkten. 2018 wird fast allen Schülern der Grundschule ein drei- oder zweistündiger Deutschunterricht erteilt (außer den Schülern des bilingualen Zuges). Die aufsehenerregendste Maßnahme bleibt die Einrichtung von „bilingualen Zügen“, die 1992 von staatlicher Seite ins Leben gerufen wurden. Der Unterricht erfolgt während der einen Hälfte des Wochenstundenplans auf Französisch und während der anderen Hälfte auf Deutsch. Der „bilinguale Zug“ beginnt in der Vorschule (mit Kindern von 3 bis 4 Jahren) und wird allmählich Jahr um Jahr weiter ausgebaut. 2018 sitzen 16 Prozent aller Kinder der Vor- und Grundschule (d. h. zirka 29.000 Schüler) in einem solchen „bilingualen“ Zug. Zugleich bleibt zu vermerken, dass die überwiegende Mehrheit dieser Kinder keinen Dialekt spricht bzw. versteht, und nur ein Teil bilingual in der weiterführenden Schule (collège) weitermacht. 168 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="169"?> 5.2 Wirtschaftliche Situation (Rolle des Deutschen in der Wirtschaft/ auf dem Arbeitsmarkt) In internationalen Unternehmen spielt Deutsch - wenn überhaupt - an und für sich nur die Rolle einer Fremd sprache, in deutschen oder deutschsprachigen Firmen eventuell die der Unternehmenssprache. Insgesamt fällt der Status des Deutschen in der Wirtschaft jedoch sehr unterschiedlich aus, je nach Unternehmen, hergestellten Produkten, Absatzmarkt usw. In internationalen Unternehmen scheint Deutsch des Öfteren durch Englisch abgelöst bzw. ersetzt zu werden. 11 Die Frage stellt sich anders, wenn es um regionale und ortsgebundene Unternehmen geht, die eng mit dem regionalen Arbeitsmarkt in Verbindung stehen. Ältere Studien haben bereits gezeigt, dass im grenznahen Elsass Arbeitnehmer mit Sprachkompetenzen im Elsässischen und/ oder Deutschen weit öfter gesucht werden als anderswo in Frankreich (Mekaoui 2009). Da noch in den 2010er Jahren 65.000 elsässische Arbeitnehmer in der Schweiz oder in Deutschland arbeiteten und im benachbarten Baden-Württemberg immer mehr Arbeitsstellen nicht besetzt wurden, drang die regionale Politik und Wirtschaft sowohl auf französischer als auf deutscher Seite darauf, dass Deutsch mehr und besser gelernt werde, in der Erwartung, dass das eine berufliche Zukunft für viele Jugendliche sichern würde (Huck 2015: 434 f.). In kleineren und lokalen Unternehmen, insbesondere im Handel, konnte und kann es auch vorkommen, dass Mundartsprecher gesucht werden. Doch insgesamt wird vor allem die „Sprache des Nachbarn“ benötigt, um im deutschen oder schweizerischen Grenzland arbeiten zu können, und viel weniger die Mundarten oder die Standardsprache im Elsass an sich. 5.3 Politische Situation Da heutzutage davon ausgegangen wird, dass die überwiegende Mehrheit der Bürger Französisch kann und in ihrem Alltag benutzt, wird die Frage nach der Mundart, bzw. dem endogenen Deutsch eher als Randfrage, als nahezu symbolische, bzw. identitätsbezogene oder patrimoniale Frage betrachtet. Die meisten Vertreter der nationalen Parteien im Elsass befürworten, dass die Mundarten unterstützt werden und dass die Schüler besser und intensiver Deutsch lernen als anderswo im Land. Die Département-Räte sowie der ehemalige elsässische und jetzige Grand-Est-Regionalrat finanzieren einen Teil der sprachlichen Maßnahmen (Mundart, Deutsch), die in der Schule und in kulturellen Vereinen zugunsten der Kinder und Jugendlichen sowie zugunsten der Entwicklung von mundartlichen Veranstaltungen für alle Altersstufen getroffen werden. Es kann aber nicht die Rede von einer Sprachpolitik zugunsten der Regionalsprachen im Allgemeinen oder der Regionalsprache im Elsass an und für sich sein. In den Programmen der nationalen politischen Parteien und in denen ihrer regionalen Zweige gibt es diesbezüglich keinen besonderen Abschnitt. Die Parteien oder Gewählten beziehen nur Stellung, wenn etwas aus Schule oder Kultur ins Rampenlicht gerät oder Streit auslöst, sei es auf regionaler Ebene oder in der Nationalversammlung. Die vom damaligen Regionalrat einberufene (2013-2014) Konferenz der regionalen Sprache und Kultur (‚Assises 11 Vgl. das europäische Forschungsprogramm DYLAN (www.dylan-project.org/ Dylan_fr/ home/ home.php; Letzter Zugriff 25.10.2018), Bothorel/ Choremi 2009, Truchot/ Huck 2009, Bothorel/ Tsamadou-Jacoberger 2009. Das Elsass 169 <?page no="170"?> de la langue et de la culture régionales‘) hat zwar einen umfangreichen Bericht vorgelegt 12 , der u. a. Vorschläge beinhaltet, wie die Mundarten bzw. die Standardsprache im öffentlichen Leben, in Kultur und Politik, im Erziehungsbereich usw. schriftlich oder mündlich eingesetzt werden könnten bzw. sollten, doch scheint sich die Politik kaum bzw. überhaupt nicht dafür zu interessieren. 5.4 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien, Literatur 5.4.1 Medien Presse Im Bereich der elsässischen Tageszeitungen gibt es für die Leser die Möglichkeit, auf Wunsch die französische Ausgabe mit einer deutschen achtseitigen Beilage zu beziehen 13 . Die Leser-Quote, die diese Beilage anfordert, muss bei 5 Prozent liegen. Daneben enthalten einige kirchliche Wochen- oder Monatszeitschriften noch einige Artikel auf Deutsch. Immerhin ist in Kiosken ein Teil der deutschsprachigen Presse aus Deutschland und der Schweiz erhältlich. Sonntags befindet sich in der elsässischen französischsprachigen Tagespresse (jede Woche oder zwei Mal im Monat) eine Spalte im Dialekt. Andere Medien Der öffentlich-rechtliche Radiosender France Bleu Elsass , der nur im Dialekt sendet, ist seit dem 1.1.2016 nicht mehr über das Radio zu hören, sondern nur noch über eine Webseite. Einige private Lokalsender enthalten einige Chroniken oder vereinzelte Sendungen im Dialekt. Eigene Sendungen auf Deutsch gibt es keine mehr. Im öffentlichen-rechtlichen Regionalfernsehen gibt es noch drei wöchentliche Sendungen (Talkshow, Magazin, Kochsendung) im Dialekt, die über das Wochenende ausgestrahlt werden, sowie eine tägliche fünfminütige Informationssendung. Die Stundenzahl von Sendungen im Dialekt im Regionalfernsehen bleibt selten von einem Jahr auf das andere dieselbe. 14 Obwohl die Zuschauerzahl nicht veröffentlicht wird, scheinen die Sendungen - je nach Ausstrahlungszeiten - eine ziemlich gute Einschaltquote zu haben. 5.4.2 Kulturelle Institutionen Es gibt durchaus eine ganze Reihe von kulturellen Institutionen, von denen sich aber kaum eine ausschließlich um sprachlich-kulturelle Fragen kümmert. Die einzige Ausnahme bildet das Elsässische Sprachamt (‚Office pour la langue et les cultures d’Alsace et de Moselle‘), das 12 Les Assises de la langue et de la culture régionales , [Strasbourg] mai 2015, édité par la Région Alsace, 436 S. 13 Weder in den gedruckten noch in den digitalen Ausgaben machen die Tageszeitungen Werbung für ihre deutschsprachige tägliche Beilage. Somit bleibt sie vielen Lesern unbekannt. 14 Nach den Berichten der zuständigen und unabhängigen Behörde ( Conseil Supérieur de l’Audiovisuel ) wurden im regionalen Fernsehsender France 3 Alsace im Jahre 2000 72 Stunden im Dialekt ausgestrahlt, 2013 112,5 Stunden, 2015 93,5 Stunden und 2016 94 Stunden (wenn die zweisprachigen Sendungen miteinbezogen werden). Das Elsass allein strahlt somit zirka 24 Prozent des Stundenvolumens aus, das für ganz Frankreich für in einer Regionalsprache konzipierte Sendungen zur Verfügung steht. 170 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="171"?> 1994 von den regionalen Gebietskörperschaften gegründet und seither von denselben finanziert wird. Alle anderen Institutionen kümmern sich meistens nur um Kultur. Die offiziellen Theater-Institutionen interessieren sich nur selten für Mundart-Theater oder für Stücke auf Deutsch, die nicht zu der „anerkannten“ deutschsprachigen Literatur zu zählen sind. Mundart-Theatergruppen sowie mundartliches oder zweisprachiges Kabarett sind aber besonders zahlreich (insgesamt etwa 200) und versammeln noch eine größere Anzahl von Zuschauern (etwa 200.000 jährlich). Die Theatertruppen bestehen meistens aus nicht professionellen Schauspielern. Stücke, die von Berufsschauspielern im Dialekt aufgeführt werden, werden nur mit einer gewissen Skepsis bezüglich ihrer Zuschauer-Anziehungskraft oder fast gar nicht von Theatersälen ins Programm aufgenommen. 15 5.4.3 Verbände Es gibt mehrere bzw. viele Vereine, die sich nur (oder auch) für die Mundart und für Deutsch im Elsass einsetzen. Einer der ältesten, Culture et bilinguisme d’Alsace et de Moselle/ René-Schickele-Gesellschaft , wurde 1968 gegründet und bietet wöchentlich Vorträge, Debatten, Lesungen, Kurse u. v. a. m. an. Dieser Verein bezieht auch Stellung zur Sprachpolitik, insbesondere im Schulbereich, indem er für mehr Klassen in den bilingualen Zügen eintritt und für einen verstärkten, immersiveren Teil in der deutschen Sprache in diesem Zusammenhang. Des Weiteren gibt es einen Lehrerverein ( Lehrer [ Association professionnelle des instituteurs et professeurs dans les académies de Strasbourg et de Nancy-Metz ]) und einen Elternverein ( Eltern Alsace ), die sich hauptsächlich für die zweisprachigen Kurrikula einsetzen. Dreizehn Vereine 16 haben sich zum Verband zweisprachiges Elsass (‚Fédération Alsace bilingue‘) zusammengeschlossen. Jedoch scheint der Verband Mühe zu haben, sich Gehör zu verschaffen, da seine Tätigkeit in den Medien unterschiedlich oder nur über die Stellungnahmen eines Vereins und leserbriefartige Texte erwähnt wird. 15 Als Paradebeispiel sei hier das packende und metaphorische dreisprachige Stück oder epische Gedicht (mit frz. Übertiteln) De Zopf von Sylvie Reff genannt, das in der Spielzeit 2016/ 2017 nur in zwei Institutionstheatern aufgeführt worden ist. 16 U.a.: ABCM-Zweisprachigkeit (der Verein hat bereits 1991 zweisprachige Vor- und Grundschulklassen gegründet); Alsace - Junge fers Elsassische (AJFE; der Verein wendet sich an junge Leute, welchen er Elsässisch-Unterricht anbietet); Association des parents d’élèves de l’enseignement public en Alsace (APEPA; allgemeiner regionaler im Erziehungswesen tätiger Elternverband); Culture et Bilinguisme d’Alsace et de Moselle; Eltern Alsace (Elternverband, der sich um die zweisprachigen Klassen bemüht); Fonds international pour la langue alsacienne - Internationaler Fonds zur Förderung der elsässischen Sprache (FILAL); Foyer de l’étudiant catholique (FEC; allgemeiner Verein, der Unterkunft, Mensa, usw. für Studenten bietet und ein kulturpolitisches Programm mit Vorträgen und sonstigen Veranstaltungen für jedermann anbietet); Grenz’up „hat es sich zum Ziel gesetzt, die grenzüberschreitende berufliche Mobilität am südlichen Oberrhein zu fördern“; Heimetsproch un Tradition (setzt sich für die Förderung der Mundart ein); Initiative Citoyenne Alsacienne versteht sich als „eine Vereinigung von Bürgerinnen und Bürgern, die sich engagieren für die Förderung einer offenen und vielfältigen französischen Identität, für die Verteidigung elsässischer Interessen, wobei es sich um Sprachen, um Kulturen, um Wirtschaft, um Umwelt, um Gesellschaft… handelt“ usw. (http: / / www.ica2010.fr/ conseil/ qui-sommes-nous-que-voulons-nous/ ; Letzter Zugriff 7.12.2018). Das Elsass 171 <?page no="172"?> 5.4.4 Literatur Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich hauptsächlich die herkömmliche Mundartliteratur (Gedichte, Theaterstücke) entwickelt, aber auch modernere Formen dieser Literatur haben sich behauptet, besonders nach 1945, hauptsächlich mit Schriftstellern, die in drei Sprachformen tätig waren, auf Französisch, auf Deutsch und in der Mundart. Ganz besonders sind André Weckmann (1924-2012) und Conrad Winter (1931-2007) zu nennen, die sprachlich und künstlerisch die Mundart auf neue Schienen gebracht haben. Ihr Werk wurde eher im deutschsprachigen Ausland als im Elsass anerkannt und ausgezeichnet. Claude Vigée (geb. 1921), der als französischsprachiger Dichter gefeiert und ausgezeichnet wurde, fand ebenfalls zur Mundart zurück und dichtete zwei episch-üppige längere Texte in der Mundart seiner jungen Jahre, mit einer eigenen französischen Fassung. Auch Liedermacher wie René Egles (geb. 1939) haben mit viel Talent entweder Gedichte von Schriftstellern vertont, selber Kinderlieder gedichtet oder ihre eigenen Texte gesungen. Unter den elsässischen Künstlern, die nach 1945 geboren sind, gebraucht nur Sylvie Reff (geb. 1946) manchmal Deutsch, aber auch sie schreibt vornehmlich auf Französisch und in Mundart. Pierre Kretz (geb. 1950), der lange Jahre im Theater (auch für die und auf der Dialektbühne) tätig war, ebenfalls mehrere Bücher auf Französisch herausgegeben hat, ist in seiner jüngsten Veröffentlichung zur Mundart (mit französischer Übertragung) zurückgekehrt. Einige jüngere Dichter, wie Ronald Euler (geb. 1966), Yves Rudio (geb. 1971) oder Jean- Christophe Meyer (geb. 1978), und LiedermacherInnen wie Isabelle Grussenmeyer (geb. 1979) melden sich auch in der Mundart zu Wort - der Liedermacher Nicolas Fischer (geb. 1978) schreibt und vertont u. a. Texte für Kinder auf Deutsch und in seiner Mundart - , doch müssen sie sich qualitativ noch bewähren. Nach und nach scheint die kreative literarische Seite auch eher über das Französische zu laufen. Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg blühte das politische mundartliche Kabarett durch und mit Germain Muller (1923-1994) und seinem Barabli auf, sowie das satirische Kabarett mit Gaston Goetz (1914-1988) und dem Cabaret Bonjour . Andere Künstler, wie Tony Troxler (1918-1998) und Freddy Willenbucher (1922-2009) schrieben ebenfalls Dialektstücke, sind aber ganz besonders als Verfasser der Sketche der Mülhauser Herra-Owa bekannt. Satire und Kabarett (in der Mundart oder zweisprachig) werden immer noch von zahlreichen Gruppen weitergeführt. 6 Soziolinguistische Situation In der heutigen Zeit, Ende der 2010er Jahre, wird wohl das Französische die meist eingesetzte Sprache in den verbalen Interaktionen ausmachen. Insofern ist das Französische zur meist benutzten Sprache geworden. Dies bedeutet aber nicht, dass das Elsässische nicht mehr gebraucht wird, allerdings nicht mehr in allen Sprechsituationen, nicht mit allen Gesprächspartnern und nicht für alle Gesprächsthemen. Das Standarddeutsche wird unter Landsleuten nicht mehr schriftlich (Briefe, Emails usw.) benutzt. Allerdings sollte das mündliche exogene Standarddeutsche, das in der Schule von fast allen Grundschülern (2017: 99 %) und von einem nicht zu unterschätzenden Teil der Schüler der meist besuchten weiterführenden Schule (collège) (2017: 89 %) gelernt wird, nicht außer Acht gelassen werden. Obwohl es gesellschaftlich eine äußerst spärliche Rolle spielt, kann das erlernte Deutsch, im Zusammenspiel der Sprach- 172 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="173"?> kontakteffekte und -phänomene, die manchmal zu beobachten sind, eine Auswirkung auf das Elsässische haben (z. B. Lexik, Relativpronomina). Die Annahme liegt nahe, dass Elsässisch, obwohl es heute nur von weniger als der Hälfte der Menschen im Elsass gesprochen wird, immer noch einen ziemlich engen Kontakt mit dem Französischen haben muss. Der Ort des Kontakts kann natürlich der Sprecher selber sein (Weinreich 1977 [1953]: 15), aber auch eine Interaktion oder eine Situation, in der alle oder die meisten Teilnehmer über ein mehrsprachiges Repertoire verfügen. Einfluss des Elsässischen auf das Französische Dass sich die Sprachen gegenseitig beeinflussen liegt auf der Hand. Nach 1945 war unter anderem eine der Aufgaben der Schule, den Schülern eben das „richtige“ Französisch beizubringen und alle Lehnübersetzungen aus dem Elsässischen auszutilgen (vgl. z. B. Pellat 1985, Matzen 1985). Pierre Rézeau zeigt anhand von etwa 500 Beispielen, wie breit und groß der Umfang der „Regionalismen“ im Französischen ist, der aus dem Sprach- und Kulturkontakt mit dem Elsässischen bzw. dem Deutschen hervorgegangen ist (Rézeau 2007) und sich wahrscheinlich weiterentwickelt. Viele Elsässer erkennt man am „Akzent“, den sie haben (Wort- und Gruppenakzent; Satzprosodie usw.), wenn sie Französisch sprechen. Einfluss des Französischen auf das Elsässische Doch dadurch, dass Französisch immer intensiver und allgemeiner benutzt wird, gibt es im dialektalen lexikalischen Bereich viele Lehnwörter 17 , Transfers (Riehl 3 2014: 35 ff.) aber auch zum Beispiel Entlehnungs- und Transferprozesse von Kollokationen aus dem Französischen, die sich einbürgern oder idiolektal bleiben. Die Anzahl und Erscheinungsweisen solcher transkodischen Marker (‚marques transcodiques‘, Lüdi/ Py 2003: 7) und Transfers auf verschiedenen Ebenen (Riehl 3 2014: 35-42) scheinen immer zahlreicher zu werden, umso mehr als es sich um Kontakterscheinungen handelt, die Sprachen anbelangen, die nicht eng miteinander „verwandt“ sind (Lüdi/ Py 2003: 141-144, Py/ Gajo 2013: 86). Doch konnte dies noch nicht genau untersucht werden. 18 Die erste erarbeitete Typologie der Sprachkontaktprozesse in der Mundart wurde von Koehler 2017 vorgelegt; sie stützt sich auf die „Entlehnungsskala“ von Riehl 2001 (nach Riehl 3 2014: 37 f.) und setzt sich folgendermaßen zusammen: A. Lexik, Kollokationen, stehende Wendungen 1. dem Dialekt phonologisch angepasste Lehnwörter (u. a. Verben auf - iere [frz. Morphem er ], wie z. B. schànschiere < frz. changer , riskiere [frz. risquer ], pressiere [nur im Sinne von ‚(be)eilen‘ < frz. presser ] usw.); 19 17 Am Institut für Dialektologie an der Straßburger Universität wurde zwischen 1969 und 1986 eine ganze Reihe von meistens unveröffentlichten Magisterarbeiten mit dem Thema „Die Entlehnungen aus dem Französischen in der Mundart von [Name einer Ortschaft]“ oder „im literarischen Werk von [Name des Schriftstellers]“ verfasst. Schon frühere Arbeiten waren dem Thema gewidmet, insbesondere Roos (1903). 18 Eine aktuell laufende Dissertation an der Straßburger Universität wird die Frage näher untersuchen. 19 Birken-Silverman (1997: 198) ordnet die Lexeme in zwei sehr breit angelegte Kategorien: „adaptierte lexikalische Transfers“ vs. „unadaptierte lexikalische Elemente“. Die Beispiele der letzteren Kategorie, die aus Wörterbüchern stammen, hätten mindestens nach dem (elsässischen/ deutschen) Wortakzent untersucht werden müssen, da dieses Element die letzte Spur eines Entlehnungsprozesses sein kann. Das Elsass 173 <?page no="174"?> 2. soziolektale und idiolektale Entlehnungen aus dem Französischen, obwohl Lexeme im Dialekt vorhanden sind (z. B. Serviette , obwohl Hàndtuech bzw. Zwäl immer noch benutzt werden); 3. kulturelle oder kulturpolitische Entlehnungen, aus der französischsprachigen Umwelt, da die Referenzen auf Französisch erschienen sind und/ oder sie es im Dialekt (oder im Standarddeutschen) nicht gibt (z. B. Mobylettel < frz. mobylette ‚Moped‘; collège ‚weiterführende Schule für die meisten Schüler, nach der Grundschule‘); 4. Transferprozesse: wortwörtliche Übernahmen, Teilübernahmen, Kollokationen mit machen (frz. faire ) usw. (z. B. No hàw i e Johr Recht gemàcht ‚Dann hab ich ein Jahr Recht studiert‘ < frz. j’ai fait un an de droit ); B. auf kommunikativer und pragmatischer Ebene: Partikeln, Strategien, „tags“ usw., die eine weit unterschätzte Rolle spielen (z. B. enfin (im Sinne von ‚na ja‘); bon usw.); C. Code-Switching: fehlendes Wort, Zögerung, Zitat, Redundanz usw. (Koehler 2017: 65-69). Aus dem Französischen können auch andere sprachliche Elemente übernommen werden wie Präpositionen, die es zwar im Dialekt gibt, aber anders verwendet werden: z. B. sie komme füer Wihnàchte (frz. pour Noël ), anstatt des herkömmlichen uf/ àn Wihnàchte ; bis in 1980 (frz. jusqu’en 1980 ) anstatt bis 1980 usw. Einfluss des Standarddeutschen auf das Elsässische Auch lexikalische Übernahmen aus dem Standarddeutschen kommen mehr oder weniger regelmäßig vor, oft um eine mundartliche Lücke zu überbrücken oder weil das erlernte Deutsch die wenig benutzte Mundart zurückdrängt. Angesichts der genetischen Nähe betreffen die Transfers auch tiefere Ebenen der Grammatik, zum Beispiel Pluralmorpheme des Deutschen (bei Nomina), die in den Mundarten eingesetzt werden (z. B. Frinde ‚Freunde‘ anstatt der üblichen Form Frindø) oder des Öfteren Relativpronomina (herkömmlich: S Kind, wo i im e Velo gschenkt hàb vs. S Kind, dem i e Velo gschenkt hàb ). Einfluss des Elsässischen auf das Standarddeutsche Je nach Ausbildung der Sprecher im Deutschen bleiben selbstverständlich mehr oder weniger zahlreiche Marker vom Elsässischen in dem von Elsässern gesprochenen Deutsch. Radio, Fernsehen und digitale Medien können immer wieder Beispiele bieten. Es gibt aber keine besondere Studie, die sich mit dem Deutschen von mundartsprechenden Elsässern befasst hätte. Ältere Arbeiten, die einen pädagogischen Wert haben sollten, zeigen, dass sich die Frage des Einflusses vom Elsässischen auf das Deutsche immer wieder gestellt hat, sei es bereits durch die Herausgabe von Menges‘ und Stehles Deutsches Wörterbuch für Elsässer (1911) oder durch die kontrastiven Hinweise der Deutschbücher für mundartsprechende Collège-Schüler Z wie Zwirbel (Weckmann et al. 1988, 1989). Die Einflüsse des Elsässischen (und auch des Französischen) werden eingehender in der deutschen Pressesprache der elsässischen Zeitungen von Doris Magenau (1962) in ihrem Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache im Elsaß und in 174 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="175"?> Lothringen und von Carola Becker-Dombrowski (1981) dokumentiert. 20 Die letzten Jahrgänge des deutschen Teils der beiden zweisprachigen Auflagen der elsässischen Tageszeitungen (mit der 1986 eingegangen Le Nouvel Alsacien/ Der Elsässer ) bieten immerhin allerlei Material, das aufzuarbeiten wäre, damit man sich einen ersten Überblick über den Einfluss des Elsässischen auf das Schriftdeutsche im Elsass verschaffen könnte. Doch weder das mündliche Deutsch der Elsässer noch das geschriebene Deutsch in den elsässischen zweisprachigen Tageszeitungen wurde systematisch untersucht. Dies gilt auch für den Einfluss des Französischen (über das Elsässische) in der zweisprachigen Tagespresse. Beides bleibt ein Desiderat der Forschung. Code-Switching Das Code-Switching setzt voraus, dass alle Gesprächspartner über dieselben Varietäten verfügen (in diesem Fall zumindest Mundart und Französisch). In vielen (den meisten? ) Fällen fängt das Gespräch auf Elsässisch an; während des Gesprächs setzt dann ein Switchen ein. Das Abgrenzen des Code-Wechsels von Entlehnungen bleibt noch unklar: Nicht jedes Lehnwort aus dem Französischen zum Beispiel ist als Switch-Erscheinung zu bewerten; doch kann in situ ein Lehnwort als Switch analysiert werden, je nach Kontext, Intention u.v.a.m. Wie in jedem Sprachkontakt kann der Code-Wechsel (fast) an jeder Stelle einer Aussage stattfinden. Der Grund, der zum Wechsel führt, der Auslöser („trigger“) bleibt das wichtigste Element, ist vielfältig und kann auch dazu führen, dass der Sprecher für kurze oder längere Zeit auf Französisch weiterfährt. Auslöser kann sein: ein Wort, das dem Sprecher nicht gleich auf Elsässisch einfällt (mit oder ohne Zögerung, mit oder ohne Pause); Zitate, Iterationsbzw. Redundanzverfahren (dasselbe wird anscheinend in den zwei Sprachen geäußert); evaluierende und/ oder erklärende (eingefügte, vorgezogene oder nachgestellte) Kommentare über das Gesagte; polylexikalische Syntagmen, die ihre Referenzen zu der außersprachlichen Wirklichkeit in der französischsprachigen Umwelt haben; polylexikalische Syntagmen, die praktisch als stehende Wendung im französischen Alltag funktionieren usw. „Tags“, Partikeln oder sonstige kurze Kommunikationswörter müssen nicht unbedingt oder können nicht ohne Weiteres in die Code-Switching-Logik involviert werden, da einerseits eine nicht geringe Menge bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts belegt und phonologisch völlig der Mundart angeglichen worden ist, und es andererseits eher die Kommunikationsstrategien sind, die entlehnt werden, und die Lexeme eigentlich nur die Marker dieser globalen Entlehnung sind. Dazu kommt, dass die Mundart nicht immer über gerade diese kommunikativen Lexeme verfügt. 20 „Als wesentliche Interferenzquelle kann man auch die Mundart(en) bezeichnen, deren Einfluss mit nur knapp 5 % in dem vorliegenden Material nachgewiesen werden kann. Zusammengefasst jedoch stellen die Abweichungen in der Schreibung und in der Morphologie sowie Mundartinterferenzen etwa 16 % aller Verletzungen dar, die im geschriebenen Zeitungsdeutsch des ‚ Nouvel Alsacien ‘ gefunden worden sind, was natürlich ein erheblicher Störfaktor für jeden standarddeutschen Leser ist. Unsicher bleibt, ob der Elsässer selber in der Lage ist zu entdecken, wie durchgreifend die Veränderungen in der elsässischen-deutschen Zeitungssprache sind“ (Becker-Dombrowski 1981: 176). Das Elsass 175 <?page no="176"?> 7 Sprachgebrauch und -kompetenz 7.1 Allgemeines Seit der Wilhelminischen Zeit bis 1962 wurden die Bewohner immer wieder nach ihren Sprachen befragt. Bei den Befragungen (z. B. Volkszählungen) durch die französischen Behörden sollten die Bürger angeben, welche Sprachen sie können. Nach deren Gebrauch oder dem Grad der Sprachkompetenz wurde nicht explizit gefragt. Vielmehr ging es den französischen Behörden darum, die Verbreitung des Französischen zu messen, und damit auch den Erfolg der Sprachpolitik zu bewerten oder die Sprachpolitik zu überdenken. Außer der Erhebung von 1979 wurden alle nach 1962 gewonnenen Daten durch von privaten Instituten geführte repräsentative Umfragen ermittelt. Obwohl die Fragestellung nicht immer dieselbe war, wurde meistens nur nach der Mundartkenntnis gefragt. Ab Anfang der 1970er Jahre wäre es von der Bevölkerung als beleidigend empfunden worden, wenn sie nach ihrer Kenntnis des Französischen gefragt worden wäre. Dazu kommt, dass sich die Meinungsforschungsinstitute sehr selten für die Kenntnis des Standarddeutschen interessiert haben. Folgende Tabelle soll einen Überblick über die Ergebnisse der Erhebungen und Umfragen sowie die Entwicklung der angegebenen Kenntnis der Sprachen geben. Geben an, Mundart, Französisch und Deutsch zu können: 21 22 Veröffentlichung oder Erhebung Mundart Französisch Deutsch 1931 86,7 % 52,4 % ca. 80 % 1936 ca. 87 % 55,6 % ca. 80 % 1946 90,8 % 66,5 % ca. 84 % 1962 84,7 % 80,7 % 80,29 % 1979 74,7 % - 79,7 % 1986 71,7 % - - 1989 62 % - 62 % 1992 60 % - - 1998 62 % - - 2001 61 % - - 2012 43 % 22 - - Tab. 4: Angegebene Sprachkenntnisse der Elsässer seit 1931 23 21 Akademische Arbeiten zum Sprachgebrauch, die - wie bei den Befragungen der Behörden oder der Meinungsforschungsinstitute - das ganze Elsass erfassen, gibt es keine. Sie beziehen sich auf einzelne Teile der Bevölkerung und auf geografisch begrenzte Gebiete. 22 43 Prozent entsprechen den Informanten, die behaupten, „gut“ Elsässisch zu sprechen. Würde man den Prozentsatz der Elsässer, die erklären „ein bisschen“ Elsässisch zu sprechen“ (33 %) miteinbeziehen, würde die Anzahl der Mundartsprecher auf 76 Prozent steigen. 23 Quellen: INSEE 1956, INSEE o. J., Seligmann 1979, Meinungsumfragen ISERCO 1986, 1989, 1992, 2001; Meinungsumfrage OLCA/ EDInstitut avril 2012. 176 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="177"?> Nach Altersstufen aufgeschlüsselt ergibt sich hinsichtlich des Gebrauchs für das Jahr 2012 folgendes Bild (OLCA/ EDInstitut 2012): Geben an, Mundart zu sprechen, Menschen im Alter von zu 60 Jahren 74 % 45-59 Jahren 54 % 30-44 Jahren 24 % 18-29 Jahren 12 % 3-17 Jahren 3 % (laut Angaben der Eltern) Tab. 5: Mundartsprecher nach Altersstufen, 2012 Der Trend der Abnahme der Weitergabe der Mundart ist seit 1979 (Seligmann 1979) belegt, doch wird die Weitergabe immer noch seltener. So wurde die Kenntnis der Mundart 1998 noch von 37 Prozent der 18bis 24-Jährigen bejaht (Sondage DNA/ CSA opinion 1998). Im Jahr 2012 liegt der Wert bei dieser Altersgruppe nur noch bei 12 Prozent (OLCA/ EDInstitut 2012). In der Gliederung der Ergebnisse nach dem Geschlecht wird ab 1986 ein klarer Unterschied ersichtlich: INSEE 1956 INSEE 1962 Seligmann 1979 ISERCO 1986 DNA/ CSA 1998 OLCA/ EDInstitut 2012 Männer 89,6 % 85,6 % 73,7 % 70,7 % 66 % 50 % Frauen 91,8 % 88,8 % 75,6 % 62,7 % 58 % 36 % Tab. 6: Mundartsprecher nach dem Geschlecht Ist die Abnahme der Zahl der Dialektsprecher konstant und nicht besonders schnell bei den Männern, verhält sich die Dialektsituation bei den Frauen ganz anders. Bereits 1979 wurde festgestellt, dass der Dialektsprecherprozentsatz in der Altersstufe der 16bis 24-Jährigen im Geschlechtervergleich völlig anders, bzw. umgekehrt lief als dies herkömmlich der Fall war 24 : Bei den Männern lag er bei 70,9 Prozent, bei den Frauen aber bereits schon bei 61,5 Prozent. Von diesem Zeitpunkt an nahm die Sprecherzahl bei den Frauen schneller und radikaler ab als bei den Männern. Die Frauen, insbesondere die Mütter von Mädchen, sind sich dessen bewusst geworden, dass der soziale Aufstieg, der für Frauen viel schwerer ist als für Männer, nur über die Sprache des sozialen Prestiges und der dominierenden Schicht gehen könne, dass eine gewisse Emanzipation und Selbstständigkeit auch nur über den Erwerb des Französischen (und 24 In allen Altersstufen war die Zahl der Mädchen und Frauen, die angaben, Dialekt zu sprechen, etwas höher als die der Jungen und Männer; manchmal lag sie auch im selben Prozentsatzbereich (vgl. z. B. INSEE 1962: 41). Das Elsass 177 <?page no="178"?> die eventuelle Aufgabe der Mundart) möglich sei und dass es somit auch darum gehe, sich die Sprache der Modernität und (wahrscheinlich) der Zukunft anzueignen (Huck 2015: 324 f.). 7.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Varietäten Laut der letzten repräsentativen Umfrage (OLCA/ EDInstitut 2012) behaupten 43 Prozent der Bewohner „gut“ Elsässisch zu sprechen, 33 Prozent der Informanten erklären, dass sie „ein bisschen“ Elsässisch sprechen oder dass sie es verstehen, im Gegensatz zu 25 Prozent, die Elsässisch weder sprechen noch verstehen. Das Standarddeutsche können laut einer amtlichen Erhebung nur 16,2 Prozent der Befragten (Duée 2002) - doch bezogen sich die Fragen eher auf die Weitergabe und den Gebrauch im Familien- und im Bekanntenkreis. Daher ist anzunehmen, dass die tatsächliche Zahl höher liegt. Fünfzehn Jahre nach dieser Veröffentlichung können vermutlich immer noch mindestens 20 Prozent der elsässischen Bevölkerung Standarddeutsch. 25 Es gibt kein Gesamtbild der Einschätzung der Kompetenz im Dialekt und im Standarddeutschen. Aus zahlreichen halbgesteuerten Interviews 26 geht hervor, dass viele Informanten der Meinung sind, sie sprächen die Mundart nicht mehr so gut wie ihre Vorfahren. Ein oft zitierter Grund liegt darin, dass die Mundart nicht mehr die Hauptsprache vieler Informanten ausmacht. Die 2012 durchgeführte Untersuchung ergab folgende Ergebnisse bei der Frage an die Mundartsprecher nach ihrem Gebrauch der Mundart: Benutzen die Mundart systematisch 34 % wenn es sich ergibt 58 % wenn es nicht anders geht 7 % nie 1 % Tab. 7: Interaktionen auf Elsässisch, 2012 In den Gesprächen, die seit Anfang der 1990er Jahre geführt worden sind, erklären die Mundartsprecher mehrheitlich, sie würden sich im Standarddeutschen durchschlagen - je nach Biographie und Lebensprofil der Informanten ohne besondere Schwierigkeit oder doch mehr 25 Die Schätzung beruht auf den Aussagen der Enqueten-Informanten und den verschiedenen Angaben, die die Medien (insbesondere die Tagespresse) veröffentlichen. 26 Die Gespräche wurden im Rahmen von zwei Forschungsprogrammen, die teilweise vom Département de dialectologie alsacienne et mosellane der Universität Straßburg betreut wurden, durchgeführt: das vom frz. Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) unterstützte Programm La conscience linguistique des locuteurs dialectophones alsaciens (‚Sprachbewusstsein der Mundartsprecher im Elsass‘) (GdR 09, 1989- 1996) und das FLARS-Projekt ( Frontière linguistique au Rhin supérieur/ Auswirkungen der Staatsgrenze auf die Sprachsituation im Oberrheingebiet , 2012-2016), das durch die Agence Nationale de la Recherche (ANR) und die DFG gefördert wurde. 178 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="179"?> oder weniger gut. Immerhin aber reichte es nach eigenen Angaben bei fast allen für die alltägliche Kommunikation. Sprachkompetenz als solche im Französischen ist kein Thema mehr, da die überwiegende Mehrzahl der Menschen jeden Tag Französisch benutzt. Immerhin bleibt die Frage nach dem „Akzent“, die je nach Informant in die Sprachkompetenz miteinbezogen wird oder nicht. 7.3 Sprachgebrauch 7.3.1 In den mündlichen Interaktionen Da Französisch in fast allen Situationen von der ganzen Bevölkerung im heutigen Elsass gesprochen werden kann, wurden seit den sechziger Jahren keine amtlichen Erhebungen mehr durchgeführt. Die Statistiker, die die Volkszählung von 1962 auswerteten, hatten hochgerechnet, dass die Bevölkerung im Elsass um 1976 zu 99 Prozent Französisch kennen würde (INSEE 1962: VIIf.), was sich auch in der Tat erwiesen hat. Deswegen haben sich nur private Meinungsforschungsinstitute - oft im Auftrag einer Tageszeitung oder Zeitschrift - für die Sprachsituation im Elsass interessiert (mit Ausnahme der vom staatlichen Institut INSEE durchgeführten Studien von 1979 und 1980 [Seligmann 1979, INSEE 1980]). Ihr Interesse galt fast ausschließlich dem Elsässischen und dessen Sprechern. 27 Die jüngsten, 2012 von OLCA/ EDInstitut erhobenen Daten, ergaben folgendes Bild: Antwort auf die Frage: „Wie oft sprechen Sie in der Mundart mit…? “ nie oder fast nie gelegentlich immer oder fast immer ihren Großeltern 5 % 4 % 91 % ihrem Vater 6 % 12 % 81 % ihrer Mutter 6 % 15 % 79 % ihrem Ehepartner 6 % 25 % 69 % ihrem Kind/ ihren Kindern 23 % 38 % 39 % anderen Familienmitgliedern 8 % 31 % 61 % Tab. 8: Gebrauch der Mundart im Familienkreis (bei den Informanten, die sich als Mundartsprecher bezeichnen) 27 Akademische Arbeiten haben eher mikro-soziolinguistische Situationen bearbeitet. Das Elsass 179 <?page no="180"?> Antwort auf die Frage: „Wie oft sprechen Sie in der Mundart mit…? “ nie oder fast nie gelegentlich immer oder fast immer Freunden, Nachbarn 16 % 37 % 47 % Kollegen im Arbeitskreis 28 % 37 % 37 % Verkäufern in Geschäften 29 % 36 % 35 % dem Personal in Restaurants, Gasthäusern 31 % 36 % 33 % mit dem Personal in Verwaltungen 67 % 18 % 15 % Tab. 9: Gebrauch der Mundart in verschiedenen Sprechsituationen (bei den Informanten, die sich als Mundartsprecher bezeichnen) 7.3.2 Im schriftlichen Sprachgebrauch Da die Mundarten im Elsass hauptsächlich mündlich benutzt werden, bleibt ihr schriftlicher Gebrauch bei den meisten Dialektsprechern ziemlich normenfrei. Zwar gibt es einige Vorschläge für formelle Regelungen der Schriftlichkeit, so wie zum Beispiel die ORTHAL-Methode (Zeidler/ Crévenat-Werner 2008) 28 , die versucht, alle verschiedenen Varianten des Elsässischen zu integrieren; doch konnte sich bis jetzt keine gemeinsame, standardisierte Schriftform durchsetzen. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurden die elsässischen Mundarten vor allem von Dichtern, Theaterautoren oder Schriftstellern, d. h. zu einem literarischen Zweck verschriftet, so dass das Korpus des geschriebenen Elsässisch begrenzt ist. Die Verfasser von Lexika oder Elsässisch-Lehrwerke, die in den letzten Jahren erschienen sind, tun sich mit der Schreibweise schwer. 29 Viele Mundartsprecher - so auch die FLARS-Informanten - klagen darüber, dass sie das Elsässische nur schwer lesen bzw. schreiben können. Dies lässt sich wahrscheinlich teilweise durch den Abkoppelungsprozess erklären 30 , der sich in den Spracheinstellungen (vgl. Abschn. 8) zwischen den Mundarten und der deutschen Standardsprache abspielt, obwohl der Standard den meisten Grundschulkindern im Elsass unterrichtet wird. Da die Schule aber als Ort des schriftlichen Spracherwerbs, d. h. des Standards, gilt, haben die Mundarten im Deutschunterricht im Elsass kaum einen Platz. Seit dem Anfang des 21. Jahrhunderts, mit der Entwicklung der digitalen Mittel und der neuen Kommunikationsmedien, stehen den Mundartsprechern neue Möglichkeiten offen, Elsässisch zu schreiben, zum Beispiel in SMS oder in sozialen Netzwerken. Wie auch in anderen 28 Auch über www.orthal.fr/ abrufbar (Letzter Zugriff 25.10.2018). 29 Über u. a. diese Aspekte, vgl. Huck/ Erhart (im Druck). 30 Die meisten Literaten stützen sich nolens volens oft auf die Graphie des Deutschen, dessen Schriftbild ihnen am nächsten zu sein scheint, doch nicht unbedingt allen Lesern noch vertraut ist. Andere Dialektschreiber, besonders jüngere, stützen sich teilweise auch auf die Graphie, die sie besser kennen: die des Französischen. 180 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="181"?> Dialektgebieten wie Luxemburg, der Schweiz oder auch Bayern 31 sind „Posts“ in Mundart immer häufiger, sei es bei privaten Benutzern oder auch bei institutionellen Strukturen wie zum Beispiel dem bereits erwähnten „elsässischen Sprachamt “ (OLCA) oder dem Radio-Sender auf Elsässisch France Bleu Elsass . Dieser ganz neue Sprachgebrauch spiegelt die problematischen Verhältnisse der elsässischen Mundartsprecher zu ihren verschiedenen Varietäten wider: Einerseits ist die größte Mehrheit von ihnen gewöhnt, nur auf Französisch zu schreiben, andererseits nimmt die Kenntnis des Schriftdeutschen immer mehr ab. Deswegen müssen sich viele Dialektsprecher selbst helfen, wenn sie in einer SMS schreiben oder in einem sozialen Netzwerk etwas auf Elsässisch veröffentlichen möchten. Dies führt manchmal zu komischen schriftlichen Formen, in denen Dialektwörter mit französischer Schreibweise zusammengebastelt werden. In einem Kommentar, der auf einer Facebook-Page vom Radiosender France Bleu Elsass (23.9.2017) zu lesen ist, wird zum Beispiel Folgendes geschrieben: Wàs steht in de Dittsche Zittunge iwer’s Elsass die wour? (‚Was steht in den deutschen Zeitungen über das Elsass diese Woche? ‘) Das letzte Wort in der Frage „Woche“, das im Dialekt [vʊx] ausgesprochen wird, ist hier mit grafischen Vokalen und Konsonanten des Französischen geschrieben (<ou> für [ʊ], <r> für [x]), so dass ein deutscher Leser ohne Kenntnis der französischen Graphie-Regeln nur schwer verstehen kann, was damit gemeint ist. Ein anderer sehr häufiger Fall ist die Graphie des Verbs machen , das unter verschiedenen Formen wie <màche>, <màrre>, <moche> oder noch <morre> auftauchen kann. Folgendes Bild von der Facebookseite von André Muller, dem Moderator der sonntäglichen Kochsendung A Gueter im regionalen Fernsehen France 3 Alsace , veranschaulicht das Phänomen beispielhaft: Abb. 2: Screenshot der Facebook-Page von André Muller 31 Vgl. die Arbeit von Burghardt et al. (2016). Das Elsass 181 <?page no="182"?> Solche unerwarteten Formen findet man sehr oft in diesem sozialen Netzwerk. Nicht selten werden sie von einem metalinguistischen Kommentar begleitet, der die Unsicherheit des Gelegenheitsschreibers zeigt, in der Art von: „ich weiß nicht, ob man das so schreiben kann, ich versuch’s einfach so“. 7.4 Kommunikationssituationen des Deutschen Standarddeutsch wird in einigen wenigen Zeitschriften für einzelne Artikel benutzt: So in der achtseitigen täglichen Beilage der beiden Tageszeitungen ( Les Dernières Nouvelles d’Alsace, L’Alsace ) und eher plakativ in sehr wenigen Blättern, die von Kommunen oder anderen Institutionen herausgegeben werden. Im schriftlichen Sprachgebrauch spielt Deutsch eine völlig untergeordnete Rolle. Manchmal wird Deutsch plakativ eingesetzt, nur oder besonders um die Zweisprachigkeit des Elsass zu behaupten. Im Wesentlichen wird Deutsch - sowohl schriftlich als auch mündlich - nur mit Deutschsprachigen aus dem Ausland benutzt. 32 8 Spracheinstellungen Wie bereits angedeutet, wurden die Einstellungen zu den im Elsass vorhandenen Sprachvarietäten durch die Annektierung an das Dritte Reich stark verändert (vgl. Abschn. 4.3.4). Französisch wurde allmählich „politisch (als Staatsprache) und gesellschaftlich (als National- und Kultursprache) zur natürlichen legitimen Sprache (vgl. Bourdieu 1982)“ (Bothorel-Witz/ Huck 2000: 144) und gilt seit Ende der 1940er Jahre bis in die heutige Zeit als Symbol der Modernität, während die Mundarten und Standarddeutsch in die Traditionssphäre verschoben wurden. Dies wurde bereits in den ersten Untersuchungen zu den Spracheinstellungen im Elsass 33 in den 1990er Jahren herausgearbeitet: Französisch ist in der subjektiven Sicht der Sprecher der Träger der Modernität, d. h. das intrinsische Symbol der heutigen und der künftigen Welt: alle anderen Varietäten (Mundart, Standarddeutsch) gehören der Tradition oder der Vergangenheit an oder werden mit ihnen je nach Standpunkt mehr oder weniger eng verknüpft; die Zukunft, d. h. die Modernität kann nur im Französischen artikuliert werden. (Bothorel-Witz/ Huck 2000: 144) Im Rahmen des deutsch-französischen ANR/ DFG-Projekts „Auswirkungen der Staatsgrenze auf die Sprachsituation im Oberrheingebiet“ (Elsass, Baden-Württemberg 2012-2016) wurde den Spracheinstellungen mittels Erhebungen in 21 Gemeinden entlang des Rheins weiter nachgegangen. In den halbgesteuerten Interviews wurde untersucht, wie sich die elsässischen Dialektsprecher mit den Sprachen, d. h. vor allem den Mundarten auf beiden Seiten des Rheins auseinandersetzen, wie die gesprochenen Sprachen eingeschätzt werden, wie und was die Informanten auf beiden Seiten eigentlich zu sprechen angeben, ob und welchen Zusammenhang sie zwischen Standard und Mundart herstellen usw. Eine rezente Untersuchung (Sperandio 2017) beschäftigt sich mit dem Sprachgebrauch und den Spracheinstellungen dem Dialekt gegenüber von jüngeren Informanten, die nach 1990 geboren sind. 32 Was die endogene deutschsprachige Literatur anbelangt, vgl. oben. 33 Im Rahmen des bereits erwähnten Forschungsprojekts „Sprachbewusstsein der Mundartsprecher im Elsass“ (1989-1996). 182 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="183"?> 8.1 Affektive Bewertung; Dialektverlust In all diesen verschiedenen Erhebungsdaten kommt die affektive Bewertung der elsässischen Mundarten deutlich zum Vorschein: „der Dialekt“ gilt für die meisten Informanten als Sprache der Familie, die zu Hause gesprochen wird („wenn i dheim bin red i elsässisch“) und als solche wird er auch als ein Bestandteil der Beziehung zu den älteren Familienmitgliedern betrachtet. Im Allgemeinen scheint die Mundart als Bindeglied zwischen verschiedenen Generationen zu fungieren, wie man es folgender Äußerung entnehmen kann: FLARS-Informantin aus Plobsheim, 60: I: àlles wàs e bissel intim isch / isch elsässisch / un öij mit minnem bàbe / mit minni schweschtere wenijer / àwwer àà mit de eldere litt / un ich hàb s garn elsässisch / fer mich isch euh e sproch euh fir euh nah ze sin bi de litt Obwohl die befragten Informanten den Rückgang des Dialektgebrauchs fast immer bedauern (es sei „doch schade“), scheinen sie sich damit abzufinden, und glauben kaum daran, dass er einzudämmen wäre, wie es folgender Auszug aus dem FLARS-Korpus zeigt: FLARS-Informantin aus der Wantzenau, 29: I: ja ich find s wär doch schàd dàss die die sproch euh so dàss se nimm ‘ fin gredt isch àwwer euh bon im im àllgemeine isch so schwer fer elsässisch ze redde Um den Dialektverlust zu verhindern, wird nicht die Weitergabe in der Familie, sondern die Einführung von Sprachstunden in den Schulen als einzige Lösung ins Auge gefasst. Im folgenden Auszug wird sogar die vorgeschlagene Lösung auf Französisch formuliert (! ): FLARS-Informant aus Munchhouse M, 64: I: ich sàg es esch schàd defer wenn / wenn de / de strom e wag geht hein / / (…) E: un sott mr do ebs degeje màche / geje de / des / des àbgehn enfin / / I: nit s esch euh / des kommt uf d fàmili à un deno kenn i sàge / i dad sàge ah il faut réintroduire l'alsacien dans les cours oder ding / / (….) wenn / wenn d jetza / wenn d jetza / nitt sur le plan national / l'éducation nationale / / kànnsch in salle àj nitt velànge àss sie jetzer / nitt il faudrait l'faire dans toutes les régions / ou y a un patois / / il faudrait réintroduire leur langue / que ce soit en général nit / Die Schule wird auch in der 2012 durchgeführten Untersuchung immer an erster Stelle unter den möglichen Weitergabe-Instanzen genannt: 87 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass die Schule „auf die Zukunft des Dialekts einwirken könne“ (OLCA/ EDInstitut 2012: 52). Die Befragten sind außerdem zu 38 Prozent der Überzeugung, dass das Schulwesen etwas tun kann, um den Dialekt zu fördern und stellen damit die Schule wiederum an die erste Stelle aller möglichen Institutionen oder Personen, die die Mundart fördern könnten (OLCA/ EDInstitut 2012: 54). Somit wird überhaupt nicht mehr dem Familienkreis die Weitergabe-Rolle zugewiesen, sondern fast einstimmig der Schule. 8.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation Laut Sperandio (2017), die die Meinungen der Informanten zusammenfasst, gibt es bei der jüngeren Generation, was den Dialektverlust anbelangt, zwei Erklärungstendenzen: Das Elsass 183 <?page no="184"?> - ein Mangel an Interesse für die Mundart, der sich viel weniger durch die Abwertung der Mundart erklären lässt als vielmehr durch den Mangel an Aufwertung, sei es auf privater oder öffentlicher Ebene, besonders im Kosten-Nutzen-Verhältnis; - die früheren negativen Einstellungen der Mundart gegenüber, die den Rückgang des Sprachgebrauchs mitverursacht haben, obwohl sie nicht mehr aktuell sind. Dass die Mundart aus sozialer Sicht kaum rentabel sei, wird mehrheitlich eingesehen und hingenommen. Aus einer ganz anderen Perspektive hingegen wird höchster Wert auf Mundartkenntnisse gelegt, und zwar auf wirtschaftlicher Ebene. 34 Dort werden sie als Sprungbrett zum Standarddeutschen, gegebenenfalls sogar zum Englischen gesehen. 35 Als Dialekte der Sprache der unmittelbaren Nachbarstaaten stellen die elsässischen Mundarten „ein Mittel dar, um sich in Deutschland [und in der Schweiz] vermarkten zu können“ (Bothorel-Witz/ Huck 2000: 145). Für die größte Mehrheit der Informanten aller Untersuchungen liegt es auf der Hand, dass die Mundartkenntnisse das Erlernen des deutschen Standards erleichtern, wie man es auch in folgendem FLARS-Gesprächsauszug lesen kann: FLARS-Informantin aus der Wantzenau, 59: E: un gibt s e ze’ e zàmmehàng / ihr hàn gsajt ghet euh im ditsche in de schüel hàn ihr güeti note ghet I: ja E: isch s au weil ihr elsassisch geredt hàn I: ja / des sowieso / des euh ja s het doch viel euh werter wie wie uf s ditsche rüskomme / lüeje doch s englische isch jo selwe Umgekehrt wird der Rückgang des Dialektgebrauchs als Erklärung für die abnehmende Anzahl der Grenzpendler 36 gegeben, wie in folgender Äußerung: FLARS-Informant aus Munchhouse M, 64: I: s esch même schàd defir dàss d jungi nimm àri elsässisch redde / / sie hän meh no miej fer in s ditschlànd ze schàffe / Um diese scheinbar widersprüchlichen Einstellungen zu erklären, muss auf die Einstellungen der Elsässer der deutschen Sprache gegenüber zurückgegriffen werden. 8.3 Einstellung gegenüber Hochsprache und Dialekt (als Identitätsmerkmal) Aus verschiedenen Erhebungen geht hervor, dass außer den Pendlern eigentlich wenig mundartsprechende Elsässer Gelegenheit haben, Deutsch aktiv zu benutzen. Doch sollte sich die Gelegenheit bieten, versucht die Mehrheit der Befragten sich auf Deutsch zu „verständigen“. Damit wird gemeint, dass der Mundartsprecher sich dessen bewusst ist, kein Standarddeutsch zu sprechen, sondern sich eines Notbehelfs bedient, einer idiolektalen Zwischenvarietät, die auf der Mundart fußt und Deutsch klingen soll. Vor diesem Hintergrund rückt die Eigen- 34 Laut der 2012 durchgeführten Erhebung sind 79 Prozent aller Befragten der Meinung, dass „Elsässisch ein Vorteil im Beruf sei“ (OLCA/ EDInstitut 2012: 47). 35 In derselben Studie vertreten 84 Prozent aller Befragten die Meinung, dass „Elsässisch das Erlernen anderer Sprachen erleichtere“ (OLCA/ EDInstitut 2012: 49). 36 1990 arbeiteten zirka 22.000 Elsässer in der Bundesrepublik und zirka 30.000 Elsässer in der Deutschschweiz, 1999 waren es zirka 36.500 in der Bundesrepublik und zirka 33.000 in der Deutschschweiz, 2009 zirka 30.600 in der Bundesrepublik und zirka 32.600 in der Deutschschweiz (Huck 2015: 435). 184 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="185"?> einschätzung zu den Deutschkenntnissen in ein anderes Licht: Die Befragten, die angeben, Deutsch sprechen zu können, geben höchstwahrscheinlich diese Antwort, da sie den Eindruck haben, sie besäßen potentiell diese Fähigkeit aufgrund ihrer Dialektkenntnisse. Insgesamt aber mutet sich die Mehrheit der befragten Mundart sprechenden Elsässer nicht zu, Deutsch zu schreiben. Darüber hinaus entsteht ein Konflikt bei den Mundartsprechern zwischen dem intuitiven Wissen über die „deutsche“ linguistische Grundlage und dem Wunsch, die Mundarten vom Deutschen zu emanzipieren und auch zum Teil von der „deutschen“ Vergangenheit abzukoppeln. Selbstverständlich wird dieser Konflikt von dem Drang, nicht für einen Deutschen und/ oder deutschfreundlich/ franzosenfeindlich gehalten zu werden, überdacht. Der Befragte muss hier eine Rückinterpretation vornehmen („Wie kann man die Mundart mit ihrer „deutschen“ linguistischen Grundlage mit der soziolinguistisch empfundenen Autonomie der Mundart vereinen? “), von der er ahnt, dass sie, zum einen, keine Kohärenz aufweist und zum anderen, ihn in Bedrängnis bringt, da die Frage als eine Loyalitätsfrage aufgenommen wird. Des Weiteren könnte die - im weitesten Sinne - deutschsprachige Welt für viele mundartsprechende Elsässer (besonders der mittleren und jüngeren Jahrgänge) eine terra incognita sein, die bestenfalls über Radio oder Fernsehen ein Bild des exogenen Deutsch abgibt. Das negative Bild, das die Mundartsprecher vom deutschen Standard haben, wenn er in direktem Bezug zu den elsässischen Mundarten gebracht wird und als endogen kategorisiert zu werden droht, kehrt sich in ein positives oder gar sehr positives um, wenn es um Deutsch als exogene Sprache, d. h. als Sprache des Nachbarlandes, geht. Beinahe 70 Prozent der Befragten sind der Meinung, Deutschkenntnisse seien wegen der geographischen und wirtschaftlichen Lage des Elsasses sehr wichtig. Mit anderen Worten: Endogenes Deutsch wird abgelehnt, exogenes d. h. fremdes Deutsch wird befürwortet, und die Mundarten werden als autonom betrachtet. Kann eine Einstellung zum deutschen Standard überhaupt ersichtlich werden, je nachdem er entweder als Fremdsprache, als Sprache des unmittelbaren Nachbarstaates und/ oder als Schrift- und Kultursprache der älteren Generation eingeordnet wird? Diese Abkoppelung zwischen Dialekt und Standard kommt auch bei der Bezeichnung der vorhandenen Varietäten zum Vorschein: das „Elsässische“ wird deutlich vom „Ditsche“ (‚Deutschen‘) getrennt (vgl. Abschn. 1), sogar in der Klassifizierung der alemannischen Mundarten, die direkt auf der anderen Seite des Rheins gesprochen werden und die auch vom „Elsässischen“ abgegrenzt werden, obwohl sie zu demselben Dialektkontinuum gehören. Eigentlich erkennen die meisten Informanten aus den FLARS-Erhebungen die gegenseitige Verstehbarkeit der Dialekte auf beiden Seiten des Rheins; trotzdem wird das, was auf der anderen Seite gesprochen wird („Dialekt“? „Regiolekt“? ), selten als „das Gleiche“ oder „dasselbe“ dargestellt, sondern meistens relativiert als „ungefähr“, „fast“ dasselbe usw.: FLARS-Informantin aus der Wantzenau, 59: E: mh un ihr hàn gsait uf de ànder sit rede se ungfahr salwe wie do (…) I: ja es müss àlleweij àà bissel euh euh s isch e ditsch / euh s isch nit ditsch / es isch nit hochdeutsch I: es isch e bissel aa wie mir aa elsässisch redde (…) s isch s isch fàscht selwe Auffällig ist bei der Auswertung der Aussagen, wie stark diese „mentale“ Grenze zwischen den Mundarten diesseits und jenseits des Rheins die Wahl der Wörter prägt und wie schwer Das Elsass 185 <?page no="186"?> es manchen Informanten fällt, die Varietäten im Oberrheingebiet einzuordnen (vgl. folgendes Beispiel): FLARS-Informantin aus der Wantzenau, 29: E: un redde se uf de ànder sitt vum Rhin salwe wie do hiwwe * oder wie redde se derde I: euh ehnder ditsch euh / / enfin euh villicht ö nit hochditsch àwwer euh s isch doch ditsch Für die Informanten liegt die Schwierigkeit darin, diese nahestehende sprachliche Alterität in Worte zu fassen, um sowohl die Verschiedenheit als auch die Ähnlichkeit abzustecken. Und je nach Sprecher auf der badischen Seite kann die Verschiedenheit oder die Ähnlichkeit stärker zum Vorschein kommen. Der Mundart kommt also eine Rolle zu, die weder vom Französischen noch vom Standarddeutschen eingenommen werden kann; sie bleibt mehr oder minder ein Bestandteil, wenn nicht gar für die Generation der Eltern und der Großeltern das Merkmal einer gewissen Identität, das Symbol einer fiktiven, konstruierten oder erfahrenen Zugehörigkeit, die den Sprecher von den übrigen französischen (und z.T. deutschen) Sprechern abgrenzt, (Bothorel-Witz/ Huck 2000: 144) wie es zum Beispiel wie folgt formuliert wird: FLARS-Informant aus Scheibenhard, 64: I: Ja ich bin ziemlich / meiner meinung bin ich àllewaj nit allein / ich hàb gedenkt es gibt e mol e gewissi / e gemeinsàmi identität wenn mol die grenz uf sin / àwer e Daitscher bleibt e Daitscher / un e Elsasser e Elsasser / un e Frànzos e Frànzos In der Erhebung von 2012 (OLCA/ EDInstitut 2012: 44) wurde den Gewährspersonen die Frage gestellt, ob sie der Meinung seien, dass „das Elsass seine Identität verlieren würde, wenn der elsässische Dialekt verschwinden würde“. Die Dialektsprecher bejahen die Frage zu 95 Prozent, diejenigen, die den Dialekt ein bisschen sprechen oder verstehen, zu 71 Prozent und diejenigen, die den Dialekt nicht verstehen, zu 61 Prozent (im Durchschnitt: 90 %). 9 Linguistic Landscapes 9.1 In der offiziellen Öffentlichkeit In vielen Ortschaften, allen voran Straßburg und Mülhausen/ Mulhouse, gibt es zweisprachige Straßenschilder mit sowohl den französischen als auch den älteren oder mundartlichen Straßennamen. Die standarddeutschen Straßennamen (vor allem aus der Reichsland-Zeit) wurden nicht beibehalten. Obwohl die Verschriftung der mundartlichen Odonyme Schwierigkeiten bereitet hat, schien es politisch angemessener, der mundartlichen Bezeichnung den Vorzug zu geben, da die standarddeutschen Bezeichnungen keine Akzeptanz in der Bevölkerung fanden (Bogatto 2010: 170). Vielerorts wurde die Bevölkerung nach den Straßennamen (in der jeweiligen Mundart) gefragt. In Straßburg wurden hauptsächlich die Stadtmitte und die älteren Vororte mit den mundartlichen Bezeichnungen versehen. Neuere Straßen werden vorläufig nur auf Französisch ausgeschildert (Bogatto 2010). Andere Ortschaften und Gemeinden haben sich für eine umfangreichere zweisprachige Namensgebung entschieden. 186 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="187"?> Abb. 3: Lembach; © Fotothek des elsässischen Sprachamts OLCA Auch Ortsnamenschilder sind des Öfteren um die dialektale Benennung und/ oder Aussprache ergänzt worden, insofern sie sich von der offiziellen Namensgebung unterscheidet. Abb. 4: Zabern © Fotothek des elsässischen Sprachamts OLCA Jedoch beschränken sich die zweisprachigen Schilder auf ortsbezogene Angaben (Straßennamen: Französisch/ Mundart; Ortsnamen: offizieller Name/ Mundart). Wegweiser oder sonstige offizielle Beschilderungen in einer Gemeinde bleiben meistens einsprachig (auf Französisch). 9.2 In der privaten Öffentlichkeit Zweisprachige Bezeichnungen mit u. a. Mundart oder deutscher Standardsprache sind vor allem bei Geschäften zu finden, hauptsächlich an Restaurants oder Gaststätten. Solche Na- Das Elsass 187 <?page no="188"?> mensgebungen gibt es besonders im Straßburger Stadtzentrum, wo sie 4 Prozent aller Namen der Geschäfte dieses Viertels ausmachen (Bogatto/ Bothorel 2012: 332). Aber auch in vielen anderen Ortschaften im Elsass befinden sich Restaurants oder Gaststätten, die bereits längere Zeit existieren, mit zweisprachigen Namen. Der nicht-französische Name soll die Bodenständigkeit und die Zuverlässigkeit des Restaurants zum Ausdruck bringen. Abb. 5: Restaurant in Straßburg 10 Faktorenspezifik Wie sich die Sprachensituation entwickelt hätte, wenn das Elsass durchgehend vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis 1940 französisch geblieben wäre, ist äußerst schwer zu beurteilen, da eigentlich Frankreich erst nach 1918 eine Sprachpolitik zugunsten des Französischen verfolgt hat. Ein erster, entscheidender Faktor, der zu einer ziemlich radikalen Sprachpolitik explizit gegen das Deutsche und implizit gegen die Mundarten einerseits und für das Französische andererseits geführt hat, liegt in der politisch bewegten Zwischenkriegszeit, doch ganz besonders in der Tatsache, dass das Elsass 1940 von Hitlerdeutschland annektiert wurde. Als Reaktion auf den „offiziellen“ Vorwand zur Annexion unter dem Motto „Heim ins Reich“ veranlasste die französische Regierung, die Zugehörigkeit des Elsass zu Frankreich nach 1945 über die Sprache zu behaupten. Der Prozess, der die Verbreitung des Französischen im Elsass ermöglichte, ist vielseitig: 1. Frankreich entwarf und vollzog eine wohl überdachte und ziemlich radikale Sprachpolitik zugunsten des Französischen und explizit gegen die deutsche Sprache (auch implizit gegen die Mundarten) bis anfangs der 1980er Jahre (Presse, sonstige Medien, Volksschule, Öffentlichkeit usw.) 2. In verschiedenen Kreisen (Verwaltungen, aber hauptsächlich in den dominierenden gesellschaftlichen Schichten) wurde ein Diskurs über das vermeintliche Unheil lanciert, dass eine „Zweisprachigkeit“ (Mundart/ Französisch) für die Kinder und Jugendlichen nur Nachteile bringen würde und zum personellen, beruflichen, gesellschaftlichen, kulturellen, sozialen usw. Verhängnis zu werden drohte, da sie bestenfalls nur „halbsprachig“ sein würden und nur ungenügend Französisch erlernen würden. Die Ansicht, die Mundart auszusparen und mit den Kindern und Jugendlichen nur auf Französisch zu sprechen war die pädagogisch dringende Empfehlung jener Schichten. 188 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="189"?> 3. Durch die gesellschaftlichen Umwandlungen, die alle Industrieländer betrafen, bekamen die Nationalsprachen eine immer wichtigere Rolle in der Gesellschaft, die auch über die audiovisuellen Medien weit verbreitet wurde, so dass im Elsass das Französische als die Sprache der Modernität und der Zukunft galt (im Gegensatz zum Deutschen, das als Sprache der älteren Generationen bewertet wurde, und zu den Mundarten, von denen behauptet wurde, dass sie nicht die Funktionen des modernen gegenwärtigen Zeitalters übernehmen könnten). Die Verflechtung von zwingender Sprachpolitik, Diskurs über Sprachen ( für Französisch/ gegen Mundarten und Deutsch), Wandel der gesellschaftlichen Strukturen durch Modernität (gesellschaftlich und technologisch) und später Globalisierung, führte dazu, dass die Nationalsprache zur dominierenden Sprache geworden ist und die Mundarten in allen Sprechsituationen ersetzen kann. Wie in allen Situationen, in denen zwei Sprachen zu denselben Zwecken oder Funktionen dienen, kann eine Sprache ausgeschaltet und weggelassen werden. Die elsässischen Mundarten sind nach und nach in diese „unnütze“ Rolle geraten und können jederzeit vom Französischen abgelöst werden. Immerhin aber übernehmen sie noch eine symbolische Identitätsfunktion, die in Zukunft jedoch auch vom „regionalen“ Französisch im Elsass abgelöst werden könnte (Sperandio 2017). Literatur Auer, Peter/ Breuninger, Julia/ Huck, Dominique/ Pfeiffer, Martin (2015): Auswirkungen der Staatsgrenze auf die Sprachsituation im Oberrheingebiet (Frontière linguistique au Rhin Supérieur, FLARS). In: Kehrein, Roland/ Lameli, Alfred/ Rabanus, Stefan (Hrg.): Regionale Variation des Deutschen. Projekte und Perspektiven. Berlin/ New York: de Gruyter Mouton, S. 323-347. Becker-Dombrowski, Carola (1981): Zur Situation der deutschen Sprache im Elsaß. In: Ureland, P. Sture (Hrg.): Kulturelle und sprachliche Minderheiten in Europa. Aspekte der europäischen Ethnolinguistik und Ethnopolitik. Akten des 4. Symposions über Sprachkontakt in Europa Mannheim 1980. Tübingen: Max Niemeyer (= Linguistische Arbeiten; 109), S. 149-179. Birken-Silverman, Gabriele (1997): Erscheinungsformen des elsässisch-französischen Codeswitching: Eine typologische Klassifikation. In: Linguistische Berichte: Forschung, Information, Diskussion, 169, S. 196-210. Bogatto, François-Xavier (2010): Le paysage linguistique de la Robertsau. Une étude de cas. In: Huck, Dominique/ Choremi, Thiresia (Hrg.): Parole(s) et langue(s), espaces et temps. Mélanges offerts à Arlette Bothorel-Witz. Strasbourg: Université de Strasbourg, S. 167-176. Bogatto, François-Xavier/ Bothorel-Witz, Arlette (2012): La cartographie du paysage linguistique comme outil d’analyse du plurilinguisme de l’espace urbain strasbourgeois. In: Hélot, Christine/ Barni, Monica/ Janssens, Rudi/ Bagna, Carla (Hrg.): Linguistic Landscapes, Multilingualism and Social Change. Frankfurt am Main [u. a.]: Peter Lang, S. 329-339. Born, Joachim/ Dickgießer, Sylvia (1989): Deutschsprachige Minderheiten. Ein Überblick über den Stand der Forschung für 27 Länder. Mannheim: Institut für deutsche Sprache im Auftrag des Auswärtigen Amtes, S. 87-102. Bothorel-Witz, Arlette/ Choremi, Thiresia (2009): Le plurilinguisme dans les entreprises à vocation internationale. Comment saisir ce phénomène pluridimensionnel à travers le discours des acteurs? In: Ammon, Ulrich/ Darquennes, Jeroen/ Wright, Sue (Hrg.): Sprachwahl in Europäischen Unternehmen/ Language choice in European companies/ Choix linguistiques dans les entreprises en Europe. Tübingen: Max Niemeyer (= Sociolinguistica; 23), S. 104-130. Das Elsass 189 <?page no="190"?> Bothorel-Witz, Arlette/ Huck, Dominique (2000): Die Dialekte im Elsaß zwischen Tradition und Modernität. In: Stellmacher, Dieter (Hrg.): Dialektologie zwischen Tradition und Neuansätzen. Stuttgart: Steiner (= ZDL Beiheft 109), S. 143-155. Bothorel-Witz, Arlette/ Tsamadou-Jacoberger, Irini (2009): Les processus de minoration et de majoration dans le discours sur les langues et les pratiques dans des entreprises à vocation internationale (implantées en Alsace). In: Huck, Dominique/ Kahn, René (Hrg.): Langues régionales, cultures et développement. Etudes de cas en Alsace, Bretagne et Provence. Paris: L’Harmattan, S. 43-91. Bourdieu, Pierre (1982): Ce que parler veut dire. L’économie des échanges linguistiques. Paris: Fayard. Burghardt, Manuel/ Granvogl, Daniel/ Wolff, Christian (2016): Creating a Lexicon of Bavarian Dialect by Means of Facebook Language Data and Crowdsourcing. Abrufbar unter: www.lrec-conf.org/ proceedings/ lrec2016/ pdf/ 820_Paper.pdf. (Letzter Zugriff 26.2.2018). Dritte Anordnung zur Wiedereinführung der Muttersprache vom 16. August 1940, im Verordnungsblatt des Chefs der Zivilverwaltung im Elsass, Nr. 1, 24. August 1940, S. 2. Duée, Michel (2002): L’alsacien, deuxième langue régionale de France. In: Chiffres pour l’Alsace, 12, décembre 2002, S. 3-6. Erhart, Pascale (2017): Les effets de la frontière sur les pratiques linguistiques dans le Rhin supérieur. In: Les Cahiers du GEPE, 9, Migration(s) et langues; langues et espace(s). Abrufbar unter: http: / / cahiersdugepe.misha.fr/ index.php? id=3003. (Letzter Zugriff 25.10.2018). Fischer, Anne (1979): Les bilingues et le code-switching. Etude de l’alternance français-dialecte à Sarrebourg, mémoire de maîtrise inédit. Strasbourg: Université des Sciences Humaines de Strasbourg. Gardner-Chloros, Penelope (1991): Language Selection and Switching in Strasbourg. Oxford: Clarendon. Gardner-Chloros, Penelope (2009): Code-switching. Cambridge: Cambridge University Press. Gumperz, John J. (1989): L’alternance codique dans la conversation. In: Gumperz (Hrg.): Sociolinguistique interactionnelle. Une approche interprétative. Paris: L’Harmattan, S. 57-99. Harnisch, Rüdiger (1996): Das Elsass. In: Hinderling, Robert/ Eichinger, Ludwig M. (Hrg.): Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten. Tübingen: Gunter Narr, S. 413-457. Huck, Dominique (2015): Une histoire des langues de l’Alsace. Strasbourg: La Nuée Bleue. Huck, Dominique/ Bothorel-Witz, Arlette/ Geiger-Jaillet, Anemone (2007): L’Alsace et ses langues. Eléments de description d’une situation sociolinguistique en zone frontalière. In: Abel, Andrea/ Stuflesser, Mathias/ Voltmer, Leonhard (Hrg.): Aspects of Multilingualism in European Border Regions: Insights and Views from Alsace, Eastern Macedonia and Thrace, the Lublin Voivodeship and South Tyrol. Bozen/ Bolzano: EURAC Research (Europäische Akademie/ Accademia Europea/ European Academy), S. 13-101. Huck, Dominique/ Erhart, Pascale (i. Druck): Enseigner l’alsacien. Mais „lequel“? In: Forlot, Gilles/ Ouvrard, Louise (Hrg.): La question de la variation dans l’enseignement des langues ‘modimes’. Paris: Presses de l’INALCO. INSEE 1956: Aspects particuliers des populations alsacienne et mosellane. Langues - Personnes déplacées - Religions. Etudes et documents démographiques, 7, Paris. INSEE - Direction régionale de Strasbourg o.J.: Recensement général de la population - 1962: Langues parlées et religions déclarées en Alsace. Vol. I, Strasbourg. INSEE 1980: Etude du mode vie en Alsace. Documents pour l'Alsace 1, Strasbourg. ISERCO 1986 = Dialecte: Le déclin se confirme. In: Dernières Nouvelles d'Alsace, 17.4.1986, S. RéI. ISERCO 1989 = Quelle est la demande? Sondage auprès de 300 personnes. In: Land un Sproch - Les cahiers du bilinguisme, 101-102 (1991/ 1992), S. 21-37. ISERCO 1992 = Le problème du bilinguisme en Alsace et en Moselle germanophone. Etude des motivations, attitudes et comportement du public. In: Land un Sproch - Les cahiers du bilinguisme, 101-102 (1991/ 1992), S. 11-17. 190 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="191"?> ISERCO 2001 = Erosion naturelle. La pratique de l’alsacien. In: Les Dernières Nouvelles d’Alsace, 21.9.2001. Kettenacker, Lothar (1973): Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt (= Studien zur Zeitgeschichte; herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte). Koehler, Anaïs (2017): Quelques effets du contact de langues et de la pression du français sur les dialectes alsaciens: une première approche/ Einige Sprachkontakterscheinungen durch den Sprachkontakt und den Druck des Französischen auf die elsässischen Dialekte: Beschreibung und Überlegungen im Ansatz. Strasbourg: Université de Strasbourg/ ESPE (Travail d’étude et de recherche), Master MEEF, unveröffentlichtes Manuskript. Lévy, Paul (1929): Histoire linguistique d’Alsace et de Lorraine. 2 Bde. Paris: Les Belles-Lettres. Lüdi, Georges/ Py, Bernard (2003): Être bilingue. Bern [u. a.]: Peter Lang. Magenau, Doris (1962): Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache im Elsaß und in Lothringen. Mannheim: Bibliographisches Institut. Matzen, Raymond (1985): Les emprunts du dialecte alsacien au français. In: Salmon, Gilbert-Lucien (Hrg.): Le français en Alsace. Paris/ Genève: Champion/ Slatkine, S. 61-70. Maurer, Johanna (2002): Elsässisch und Französisch. Die Funktion ihrer Alternanz im Diskurs. Kiel: Westensee. Mekaoui, Frédéric (2009): Langues et emplois dans l’espace du Rhin Supérieur. Approche quantitative et subjective. In: Huck, Dominique/ Kahn, René (Hrg.): Langues régionales, cultures et développement. Etudes de cas en Alsace, Bretagne et Provence. Paris: L’Harmattan, S. 244-265. Menges, Heinrich/ Stehle, Bruno (1911): Deutsches Wörterbuch für Elsässer. Gebweiler: Verlag der J. Bolzeschen Buchhandlung. OLCA/ EDInstitut (2012): Etude sur le dialecte alsacien. Pellat, Jean-Christophe (1985): Comment doit-on parler le français en Alsace? (Etude critique de relevé de fautes et de traités normatifs). In: Salmon, Gilbert-Lucien (Hrg.): Le français en Alsace. Paris/ Genève: Champion/ Slatkine, S. 235-251. Philipps, Eugène (1996): L’ambition culturelle de l’Alsace. Débats. Strasbourg: SALDE/ MEDIA. Py, Bernard/ Gajo, Laurent (2013): Bilinguisme et plurilinguisme. In: Simonin, Jacky/ Wharton, Sylvie (Hrg.): Sociolinguistique du contact. Dictionnaire des termes et concepts. Lyon: Editions de l’Ecole Normale Supérieure de Lyon, S. 71-93. Rézeau, Pierre (2007): Dictionnaire des régionalismes du français en Alsace. Strasbourg: Presses Universitaires de Strasbourg. Riehl, Claudia Maria (2014): Sprachkontaktforschung. Eine Einführung. 3. Auflage. Tübingen: Gunter Narr. Rimmele, Eva (1996): Sprachenpolitik im Deutschen Kaiserreich vor 1914. Frankfurt am Main: Peter Lang. Roos, Karl (1903): Die Fremdwörter in den elsässischen Mundarten. Ein Beitrag zur elsässischen Dialektforschung. Straßburg: J. H. E. Heitz. Rossé, Joseph/ Stürmel, Marcel/ Bleicher, Albert/ Deiber, Fernand/ Keppi, Jean (Hrg.) (1938): Das Elsass von 1870-1932. IV. Band: Karten, Graphiken, Tabellen, Dokumente, Sach- und Namenregister. Colmar: Alsatia. Seligmann, Nicole (1979): Connaissance déclarée du dialecte et de l'allemand. In: Chiffres pour l'Alsace, 4, S. 21-30. Sondage DNA/ CSA opinion 1998 = Le dialecte: état des lieux. In: Les Dernières Nouvelles d’Alsace, 2.7.1998, S. Ré1. Sperandio, Chloé (2017): Représentations des langues, accents et régionalismes d’Alsace. Étude empirique et sociolinguistique. In: Les Cahiers du GEPE, 9, Migration(s) et langues ; langues et espace(s). Das Elsass 191 <?page no="192"?> Strasbourg: Presses universitaires de Strasbourg. Abrufbar unter: http: / / cahiersdugepe.misha.fr/ index.php? id=3118. (Letzter Zugriff 25.10.2018). Truchot, Claude/ Huck, Dominique (2009): Le traitement des langues dans les entreprises. In: Ammon, Ulrich/ Darquennes, Jeroen/ Wright, Sue (Hrg.): Sprachwahl in Europäischen Unternehmen/ Language choice in European companies/ Choix linguistiques dans les entreprises en Europe. Tübingen: Max Niemeyer (= Sociolinguistica; 23), S. 1-31. Veltman, Calvin (1982): La régression du dialecte. In: Chiffres pour l’Alsace, 3/ 1982, S. 39-42. Weckmann, André et al. (1988): Z wie Zwirbel. L’allemand en classe de 6e. Voie spécifique régionale, illustrations de Raymond Piela, Strasbourg: Editions Oberlin. Weckmann, André et al. (1989): Z wie Zwirbel. L’allemand en classe de 5e. Voie spécifique régionale, illustrations de Raymond Piela, Strasbourg: Editions Oberlin. Weinreich, Uriel (1977): Sprachen in Kontakt. Ergebnisse und Probleme der Zweisprachigkeitsforschung. München: Beck’sche Elementarbücher [englische Originalausgabe 1953]. Zeidler, Edgar/ Crévenat-Werner, Danielle (2008): Orthographe alsacienne. Bien écrire l’alsacien de Wissembourg à Ferrette. Colmar: Jérôme Do Bentzinger. 192 Dominique Huck / Pascale Erhart <?page no="193"?> Die Schweiz Dialektvielfalt in mehrsprachigem Umfeld Helen Christen / Regula Schmidlin 1 Geographische Lage 2 Demographie, Statistik, Wirtschaft 3 Geschichte 3.1 Von den Pfahlbauern zu den Alemannen 3.2 Von der Alten Eidgenossenschaft zum modernen Bundesstaat 3.3 Zur Geschichte der Schriftsprache in der Deutschschweiz 4 Politik, Kultur und rechtliche Stellung der Sprachen 4.1 Politische Lage 4.2 Rechtliche Stellung des Deutschen, Schulsystem, offizielle Sprachregelung 4.3 Sprachenlernen an Schweizer Schulen, die Bedeutung von Deutsch in nicht-deutschsprachigen Landesteilen 4.4 Kulturelle Institutionen, Medien, Literatur 5 Soziolinguistische Situation, Sprachgebrauch, Sprachkompetenz 5.1 Varietäten und Varianten in den verschiedenen Sprachgebieten 5.2 Die Standardsprache in der Deutschschweiz 5.3 Die schweizerdeutschen Dialekte 5.4 Sprachkontakt zwischen Deutschsprachigen und Anderssprachigen 6 Einstellungen 6.1 Einstellungen gegenüber den Dialekten 6.2 Einstellungen gegenüber der Standardsprache 6.3 Einstellungen zwischen den Sprachgruppen 7 Sicht- und Hörbarkeit von Sprachen im öffentlichen Raum 7.1 Linguistic Landscape 7.2 Linguistic Soundscape 8 Ausblick Literatur 1 Geographische Lage Die Schweiz (dt. Schweiz , frz. Suisse , it. Svizzera , rätorom. Svizra ), die ihren Namen einem der sog. Urkantone ( Schwyz ) verdankt, ist ein europäischer Binnenstaat, der zwischen dem 46. und 48. nördlichen Breitengrad und dem 6. und 9. östlichen Längengrad liegt. Sie hat eine Fläche von 41.285 km 2 und weist eine maximale Nord/ Süd-Ausdehnung von 220 km sowie eine maximale West/ Ost-Ausdehnung von 348 km auf. Der höchste Punkt der Schweiz ist die Dufourspitze (4.634 m ü. M.), der tiefste Punkt liegt am Ufer des Lago Maggiore (196 m <?page no="194"?> ü. M.). Die Schweizer Landesgrenze misst 1.935 km, wovon die längste Staatsgrenze jene zu Italien (im Süden) ist. Kürzer sind die Grenzen zu Frankreich (im Westen), Deutschland (im Norden), Österreich und zum Fürstentum Liechtenstein (beide im Osten). Die Schweiz wird geographisch in die fünf Hauptregionen Jura, Mittelland, Voralpen, Alpen und Alpensüdseite gegliedert. Im Zentrum - mit der Älggi-Alp in Obwalden als ihrem geografischen Mittelpunkt - liegt die Alpenregion. Dort befinden sich die verkehrstechnisch wichtigen Alpenüber- und -durchgänge sowie die europäischen Hauptwasserscheiden. Die Flüsse Rhein, Rhone, Tessin und Inn nämlich, die ihr Quellgebiet in den Schweizer Alpen haben, entwässern in die Nordsee, das Mittelmeer und das Schwarze Meer. Obwohl die Alpen ungefähr 40 Prozent der Gesamtfläche des Landes ausmachen und die Siedlungsflächen insgesamt nur 7,5 Prozent beanspruchen, ist die Schweiz mit 204 Einwohnern pro km 2 ein relativ dicht besiedeltes Land (s. die Werte für die Nachbarn Italien mit 201 Personen/ km 2 , Frankreich mit 122/ km 2 , Deutschland mit 232/ km 2 , Österreich mit 105/ km 2 ). Dies ist dem Umstand zuzuschreiben, dass die meisten Menschen im Mittelland und dort vor allem in den Agglomerationsgürteln leben, wo die Siedlungsflächen mehr als doppelt so gross sind wie im schweizerischen Durchschnitt. 74 Prozent der Bevölkerung leben gegenwärtig in Städten. Die Bevölkerung der französischsprachigen Schweiz ist durchschnittlich etwas städtischer 1 als diejenige der Deutschschweiz, aber nicht so städtisch wie die Bevölkerung in der italienischsprachigen Schweiz. Städtische Ballungszentren gibt es v. a. am westlichen Ende des Genfersees, in der Region Basel, im Grossraum Zürich und Zug sowie im Kanton Tessin. Die einzige Sprachregion, die keine städtischen Kernräume aufweist, ist die rätoromanische Sprachregion. 2 Demographie, Statistik, Wirtschaft Seit 1900 hat sich die Bevölkerungszahl der Schweiz mehr als verdoppelt, wobei zwischen 1961 und 1963 die jährliche Wachstumsrate mit 2,4 Prozent am höchsten war. Seit 2007 liegt sie bei ungefähr einem Prozent pro Jahr. Im Jahr 2016 zählte die Schweiz 8.419.550 Einwohnerinnen und Einwohner, wobei rund ein Viertel der ständigen Wohnbevölkerung kein Schweizer Bürgerrecht besitzt. Mit je über einer Viertelmillion Menschen bilden die Einwohnerinnen und Einwohner mit einem italienischen, deutschen und portugiesischen Pass die grössten nicht-schweizerischen Bevölkerungsgruppen. Im Jahr 2016 sind rund 4,5 Mio. Menschen erwerbstätig. Ein Anteil von 3,1 Prozent arbeitet im primären, landwirtschaftlichen Sektor. Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Mehrheit der Erwerbstätigen in diesem Sektor beschäftigt, während sich der Anteil vorerst zugunsten des zweiten Sektors, der Industrie, und schliesslich des dritten Sektors, des Dienstleistungssektors, stetig verkleinerte (um 1900 ist von 30 %, um 1950 noch von 16 % in der Landwirtschaft Tätigen auszugehen). Heute beträgt der Anteil der in der Industrie Beschäftigten zirka 20 Prozent (besonders produktive Gewerbezweige sind die chemische, pharmazeutische und Nahrungsmittelindustrie, daneben der Maschinen- und Apparatebau, die Metallverarbeitung sowie die Uhrenindustrie), während mittlerweile über drei Viertel der Erwerbstätigen 1 Die Definition des Raums mit städtischem Charakter stützt sich auf die Zahl der ständigen Wohnbevölkerung, die Zahl der Beschäftigten und die Zahl für Logiernächte in Hotel- und Kurbetrieben. Vgl. dazu den Erläuterungsbericht „Raum mit städtischem Charakter 2012“ vom Bundesamt für Statistik (2014). 194 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="195"?> im Dienstleistungssektor arbeiten. Neben dem Tourismus und der Industrie bildet dieser den wichtigsten Zweig der Schweizer Wirtschaft, die zu den stabilsten Volkswirtschaften der Welt gehört. Die Firmendichte ist in der Deutschschweiz etwas höher als in den übrigen Sprachgebieten. Die Erwerbsquote der Männer im Alter zwischen 15 und 64 Jahren beträgt im Jahr 2015 89 Prozent, jene der Frauen 80 Prozent, wobei 59 Prozent der Frauen und 16 Prozent der Männer Teilzeiterwerbstätige sind. Trotz eines konjunkturellen Einbruchs in den 1970er Jahren gehört die Schweiz vom statistischen Einkommen her zu den wohlhabenden Industrienationen, was sich sowohl in der geringen Armuts- und Arbeitslosenquote (3,3 % im Januar 2018) als auch in der hohen Lebenserwartung spiegelt. Diese beträgt für 2016 geborene Knaben 81,5 Jahre, für Mädchen 85,3 Jahre. Die Religionslandschaft der Schweiz hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. Gehörten um 1900 fast 60 Prozent der Bevölkerung der evangelisch-reformierten Kirche an, so sank dieser Anteil zugunsten der Angehörigen der römisch-katholischen Kirche, die durch Immigrantinnen und Immigranten aus katholisch geprägten Regionen ab den 1930er Jahren Zuwachs erhielt. Seit den 1970er Jahren muss vor allem die reformierte Landeskirche wegen zunehmender Konfessionslosigkeit Einbussen hinnehmen. Gerade in städtischen Gebieten wächst die Zahl der Konfessionslosen an, die schweizweit zwischen 2000 und 2016 um über 13 Prozentpunkte zugenommen hat. Ausserdem hat sich der Anteil der Angehörigen einer der muslimischen Glaubensgemeinschaften auf 5,1 Prozent erhöht, während jener von jüdischen Glaubensgemeinschaften seit Jahren unverändert bei zirka 0,2 Prozent liegt. 2 Die Wohnbevölkerung gibt unterschiedliche Hauptsprachen an (in neueren Befragungen kann auch mehr als eine Sprache genannt werden), wobei das Deutsche im Laufe der letzten Jahrzehnte wenige Prozentpunkte verloren, das Französische dagegen wenige Prozentpunkte gewonnen hat. Das Italienische hat einen Anteil von unter 10 Prozent, und das Rätoromanische wird 2015 nur von einem halben Prozent der Wohnbevölkerung als Hauptsprache angegeben. Beachtlich ist mit über 20 Prozent der Anteil jener, die eine Nicht-Landessprache als (eine ihrer) Hauptsprache(n) angeben. In städtischen Gebieten sprechen 21 Prozent der Bevölkerung keine der vier Landessprachen als Hauptsprache. 2 https: / / www.bfs.admin.ch/ bfs/ de/ home/ statistiken/ bevoelkerung/ sprachen-religionen/ religionen.html (Letzter Zugriff 25.7.2018). Die Schweiz 195 <?page no="196"?> 1970 1980 1990 2000 2015 Gesamtbevölkerung 6.011.469 6.160.950 6.640.937 7.100.302 8.131.033 Deutsch/ Schweizerdeutsch 66,1 66,5 64,6 64,1 63,0 Französisch 18,4 18,6 19,5 20,4 22,7 Italienisch und Tessiner-/ Bündner-italienischer Dialekt 11,0 9,6 7,7 6,5 8,1 Rätoromanisch 0,8 0,8 0,6 0,5 0,5 andere Sprachen 3,7 5,5 7,7 8,5 21,5 Gesamt 100,0 100,0 100,0 100,0 115,90 3 3 Tab. 1: Ständige Wohnbevölkerung der Schweiz nach Hauptsprache(n) in Prozent (nach: Bundesamt für Statistik 2017a) Abbildung 1: Sprachenkarte der Schweiz (aus Christen/ Glaser/ Friedli 2013: 23) Nur eine Minderheit der in der Schweiz lebenden Personen wächst mehrsprachig auf - mit Ausnahme der durchwegs Romanisch-Deutsch zweisprachigen Bündnerromanen. Die meisten Schweizerinnen und Schweizer erwerben ihre Kenntnisse in einer oder mehreren weiteren Landessprachen und dem Englischen in Schule und Ausbildung, was durch die kantonalen Erziehungsdepartemente - unterschiedlich - festgelegt ist (s. Kap. 4.1 und 4.2). 3 Das Total überschreitet 100 Prozent, weil einige Personen mehrere Hauptsprachen angegeben haben. 196 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="197"?> 3 Geschichte 3.1 Von den Pfahlbauern zu den Alemannen Für viele Schweizerinnen und Schweizer setzt die Geschichte ihres Landes mit den sog. Pfahlbauern ein, die in der Jungsteinzeit als sesshafte, Viehzucht und Ackerbau betreibende Bauern in zahlreichen Ufersiedlungen fassbar werden. Im 19. Jahrhundert als früheste ‚Schweizer‘ zu nationalen Identifikationsfiguren geprägt, weiss man kaum etwas über deren alteuropäische Sprache, wie auch die spätere Indogermanisierung, die wohl ab dem 4. Jahrtausend v. Chr. in Wellen stattgefunden hat, weitgehend im Dunkeln bleibt (zu den sprachgeschichtlichen Grundlagen s. Haas 2000a, Sonderegger 2003a, Christen/ Glaser/ Friedli 2013). Es wird vermutet, dass im Gebiet der heutigen Schweiz die im Alpenraum lebenden Räter für das Überleben einer alteuropäisch-vorindogermanischen Sprache gesorgt haben dürften (s. die Sprachenbezeichnung Rätoromanisch ). Erst ab der römischen Zeit dokumentieren schriftliche Zeugnisse die (Sprach-)Geschichte der nachmaligen Schweiz. In seiner Beschreibung des Gallischen Kriegs erwähnt Julius Cäsar die Sequaner, die Rauraker, die Allobroger und schliesslich die besiegten Helvetier als Keltenstämme auf dem Territorium der heutigen Schweiz. Letztere haben sich in der offiziellen lateinischen Bezeichnung des Landes - Confoederatio Helvetica - verewigt. Diese fungiert seit der Gründung des Bundesstaates im Jahre 1848 als über den vier Landessprachen stehende Bezeichnung, die auch in die offizielle Abkürzung CH eingegangen ist. Spätestens ab 15 v. Chr., d. h. mit der Eroberung Rätiens, war das gesamte Gebiet der heutigen Schweiz für über vierhundert Jahre Teil des Römischen Reichs. Das Keltische, das noch in einigen Ortsnamen wie Thun , Olten oder Zürich greifbar ist (Zinsli 1975), wurde durch die allmähliche Romanisierung nach und nach zurückgedrängt, freilich nicht ohne erheblichen Substrateinfluss auf das gesprochene Latein, was zu den unterschiedlichen heutigen regionalen Varietäten, wie zum Beispiel den rätoromanischen, lombardischen, frankoprovenzalischen und französischen Dialekten, führte. Ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. sind von Norden her erste Einfälle von Angehörigen des germanischen Stammes der Alemannen zu verzeichnen, deren Ansiedlung in der nachmaligen Schweiz nach heutigem Kenntnisstand nicht - wie lange angenommen - als Folge des Rückzugs der römischen Truppen aus Helvetien zu sehen ist. Vielmehr verstärkte sich der Zuzug der Alemannen, nachdem diese von den Franken siegreich unterworfen worden waren und wohl noch im 5. Jahrhundert nach Süden flohen. Ein Jahrhundert später, als das Gebiet der Burgunder sowie jenes der Alemannen unter fränkische Herrschaft geriet, kam es zu einer nachhaltigen alemannischen Besiedlung im Nordosten der heutigen Schweiz, während der burgundische Westen unbehelligt blieb. Dies führte zu einer West/ Ost-Gliederung der nachmaligen Schweiz, in der sich nicht nur die fränkische Reichsteilung von 561 in ein östliches und westliches Gebiet spiegelte, sondern die bis heute als deutsches und französisches Sprachgebiet greifbar bleibt. Die Alemannisierung der späteren Deutschschweiz erfolgte dabei über mehrere Jahrhunderte hinweg: War das gut zugängliche schweizerische Mittelland bis zum Ende des 8. Jahrhunderts weitgehend alemannisch besiedelt, war dies bei den höher gelegenen voralpinen und alpinen Gebieten erst im Hochmittelalter der Fall. Die Grenzen zwischen Deutsch, Französisch und Italienisch haben sich dabei seit dieser Zeit nur noch geringfügig verändert: Bloss im Wallis rückte später das Französische auf Kosten des Deutschen vor, in der Region Murten das Deutsche auf Kosten des Französischen, während sich die Berner Die Schweiz 197 <?page no="198"?> Stadt Biel/ Bienne von einer einsprachig deutschen zu einer heute zweisprachigen Stadt entwickelte. Anders sehen die Verhältnisse für das Rätoromanische aus, das bis gegen die zweite Jahrtausendmitte im Norden bis zum Bodensee, im Westen bis an den Walensee (‚See bei den Welschen‘) gesprochen wurde. Das Churer Rheintal wurde erst im 15./ 16. Jahrhundert alemannisiert und das Rätoromanische dabei zunehmend in einzelne Täler des Kantons Graubünden zurückgedrängt (zur Entstehung der Sprachgrenzen s. Haas 2000a: 42-46). Ab dem 7. Jahrhundert wurde der alemannische - ebenso wie der fränkische und bairische - Raum von den britischen Inseln aus missioniert. Um 611 dürfte Gallus, zusammen mit anderen irischen Wandermönchen, im Bodenseeraum angekommen sein und später an der Steinach seine Klause errichtet haben, wo im Jahre 719 das Kloster St. Gallen gegründet wurde. Dieses entwickelte sich unter fränkischem Einfluss zu einer der herausragenden Stätten der frühen deutschen Sprachkultur. Zum Bestand der St. Galler Stiftsbibliothek gehören heute so herausragende Sprachdenkmäler wie der sog. Abrogans, die Abschrift eines lateinisch-deutschen Wörterbuchs, das als ältestes deutsches Buch überhaupt gilt (Sonderegger 2003b). Zudem dokumentieren die um das Jahr 1000 entstandenen umfangreichen Übersetzungsarbeiten Notkers III. von St. Gallen das späte Althochdeutsch alemannischer Prägung und damit die Vorstufen zu den heutigen schweizerdeutschen Dialekten, die (fast) allesamt zu den alemannischen gezählt werden (zur Sprachgeschichte der deutschen Schweiz s. Sonderegger 2003a). 3.2 Von der Alten Eidgenossenschaft zum modernen Bundesstaat Die sog. Eidgenossenschaft reicht ins Mittelalter zurück, wobei seit dem 19. Jahrhundert der Bundesbrief von Anfang 1291 als Gründungsurkunde der Schweizerischen Eidgenossenschaft gilt. In diesem Dokument sichern sich die innerschweizerischen Talgemeinschaften Uri, Schwyz und Unterwalden (auch als Urkantone oder Waldstätte bezeichnet) gegenseitige Hilfe zu. Um diese Anfänge rankt sich der „Gründungsmythos mit den Elementen Rütlischwur, Tellsage, Burgenbruch und Tyrannenmord“ (Würgler 2012), der mit Friedrich Schillers Drama Wilhelm Tell (1804) grosse Bekanntheit erlangen sollte, von den historischen Wissenschaften jedoch als ein „produktiver Mythos“ (Reinhardt 2010: 7) vornehmlich aus dem 19. Jahrhundert betrachtet wird. Der eidgenössische Bund kontrollierte die wichtigsten Alpenpässe, stellte sich den Hegemonie-Ansprüchen Habsburgs entgegen und betrieb ein aktives Söldnerwesen, das im 16. Jahrhundert durch militärische Niederlagen in Norditalien allerdings zurückgebunden wurde. Ab 1353 bestand die Eidgenossenschaft aus acht, von 1513 bis zu ihrem Untergang 1798 aus dreizehn gleichberechtigten Stadt- und Länderorten, aus etwa einem Dutzend minderberechtigten sog. Zugewandten Orten sowie sog. Gemeinen Herrschaften, die von mehreren Orten gemeinschaftlich verwaltet wurden (Stadler 2008). Erst nach dem Wiener Kongress (1815) nahmen die Schweiz und die Schweizer Kantone ungefähr ihre heutige Form an, wobei Genf, Neuenburg und Wallis als (fast) letzte Kantone hinzukamen. Erst 1979 wurde der Kanton Jura durch Trennung vom Kanton Bern gegründet. Was die sprachlichen Bezeichnungen für die eidgenössischen Bündnispartner betrifft, so wurden diese vorerst als Länder und Städte bezeichnet, ab dem 15. Jahrhundert wurde die Bezeichnung Ort gängig. Länder hat sich zum Teil bis heute im Dialekt gehalten und meint dann die Urschweizer Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden. Im Jahre 1475 taucht in Freiburg/ Fribourg der aus dem Französischen übernommene Ausdruck canton (‚Ecke, Landstrich, Be- 198 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="199"?> zirk‘) auf. Freiburg wird 1481 zu einem Ort der Eidgenossenschaft, die damit - obwohl Freiburg mit seinen Bündnispartnern vornehmlich auf Deutsch verkehrte - erstmals auch eine französischsprachige Bevölkerung mit einschloss (Haas 2000a: 53). Die Bezeichnung Kanton konnte sich freilich (noch) nicht durchsetzen, sondern wurde vorerst von der Bezeichnung Stand konkurrenziert. Diese nahm ab Mitte des 16. Jahrhunderts an Beliebtheit zu und gilt selbst seit den Bundesverfassungen ab 1848 neben Kanton als offizielle Bezeichnung für die Gliedstaaten des Bundes (Kley 2016). Die Kleine Kammer (frz. Chambre Haute , it. Camera Alta , rätorom. Chombra pitschna ) des Eidgenössischen Parlaments, die die Kantone vertritt, wird denn auch bis heute als Ständerat (frz. Conseil des Etats , it. Consiglio degli Stati , rätorom. Cussegl dals chantuns ), die Stimme, die ein Kanton in dieses Gremium einbringen kann oder die als kantonales Ergebnis aus einer eidgenössischen Volksabstimmung zustande kommt, als Standesstimme (frz. vote de l’état , it. voto del cantone , rätorom. vusch dal chantun ) bezeichnet. Dass seit der Gründung des Bundesstaates im 19. Jahrhundert nun auch offizielle französisch- und italienischsprachige Bezeichnungen zum Beispiel für politische Institutionen existieren, ist der institutionellen Mehrsprachigkeit zu verdanken, die erst mit der Bundesverfassung von 1848 als solche verankert wurde: Die „drei Hauptsprachen“ Deutsch, Französisch und Italienisch wurden dort als „Nationalsprachen des Bundes“ deklariert - das Rätoromanische sollte diesen Status erst am 20. Februar 1938 durch eine überwältigende Stimmenmehrheit in einer Volksabstimmung erlangen. Die Alte Eidgenossenschaft war bis 1789 institutionell einsprachig deutsch, allerdings schloss das Bündnis Menschen unterschiedlicher Zunge ein. Nicht nur, dass sich mit Freiburg schon früh ein Stand mit einer deutsch- und französischsprachigen Einwohnerschaft der Eidgenossenschaft anschloss, sondern die Zugewandten Orte, die Gemeinen Herrschaften und die Untertanengebiete umfassten auch Territorien mit französisch-, italienisch- oder rätoromanischsprachiger Bevölkerung. Obwohl diese in Verlautbarungen durchaus in ihrer Sprache angeschrieben werden konnte, blieb dies ohne Einfluss auf die offizielle Deutschsprachigkeit der Eidgenossenschaft. Das Französische hatte sich im 17. und 18. Jahrhundert zwar als internationale Verkehrs- und Kultursprache bei den politischen Eliten etabliert, deren individuelle Mehrsprachigkeit blieb jedoch für die ‚Amtssprachlichkeit‘ der Eidgenossenschaft im Ancien régime ebenfalls ohne grössere Bedeutung. Mit der Helvetischen Republik (1798-1803), die unter französischem Druck eingerichtet wurde und die Alte Eidgenossenschaft beendete, sollte sich dies ändern, erlangte das Französische doch im nunmehr zentralistischen Staatsgebilde erstmals auch institutionellen Einfluss (Fankhauser 2011) - gemäss Mehrheitsprinzip wurde Französisch beispielsweise zur offiziellen Freiburger Amtssprache. Da bei der Wiederherstellung föderativer Strukturen die ehemaligen, vielfach nicht-deutschsprachigen Untertanengebiete der Eidgenossen ihre Eigenständigkeit erlangten, war der Weg für eine auch institutionell mehrsprachige Schweiz jedoch endgültig geebnet. Der weitgehende Sprachenfrieden, der in der Schweiz herrscht, verdankt sich nach allgemeiner Einschätzung nicht nur der Institutionalisierung der vier Landessprachen und dem Territorialitätsprinzip (s. Kap. 4.2), sondern es wird dafür überdies der Umstand geltend gemacht, dass die Sprachgruppen nicht zusätzlich mit anderen identitätsstiftenden kulturellen oder politischen Gruppen zusammenfallen, sondern es zu sog. cross-cutting cleavages (McRae 1974) kommt: So sind beispielsweise die Konfessions- und Sprachräume nicht deckungsgleich. Das unterschiedliche Abstimmungsverhalten, das sich gelegentlich zwischen dem germanophonen und frankophonen (nicht jedoch dem italophonen) Teil der Schweiz zeigt, wird in Die Schweiz 199 <?page no="200"?> den Medien gerne mit dem Schlagwort „Röstigraben“ gefasst, das die binnenschweizerischen Differenzen vor allem an den Sprachgebieten festmacht: Das Bild des Grabens, der die beiden grossen Landesteile trenne, kam mit der Verstärkung des bereits vor 1914 bestehenden Binnengegensatzes durch die gegenläufigen Parteinahmen in der franz. Schweiz für Frankreich und in der dt. Schweiz für Deutschland in den ersten Monaten des 1. Weltkriegs auf und beherrscht seither die gegenseitige Wahrnehmung. (Kreis 2012) Es bleibt eine Frage der Interpretation, ob der Gegensatz zwischen den Sprachgebieten von den Medien nicht doch hochgespielt wird und dadurch andere Gegensätze, wie etwa jenen zwischen Stadt und Land, in den Hintergrund gerückt werden. 3.3 Zur Geschichte der Schriftsprache in der Deutschschweiz Was die regionale Sprachgeschichte der Deutschschweiz betrifft, so war die volkssprachliche Schriftlichkeit im Mittelalter noch deutlich regional geprägt. Ab dem 16. Jahrhundert - vor allem mit dem Aufkommen des Buchdrucks - zeigte sich jedoch eine zunehmende Tendenz zu sprachlicher Vereinheitlichung des geschriebenen Deutsch. Am Ausgleichsprozess, der von den frühneuzeitlichen Schreibsprachen hin zu einem einheitlichen Hochdeutsch führte, nahm auch die deutschsprachige Schweiz teil. Die Auseinandersetzung etwa mit Luthers Bibeltext in den reformierten Gebieten der Schweiz führte dazu, dass nicht nur die Basler den Luthertext übernahmen, sondern dass auch schon früh zum Beispiel in der zwinglianischen Zürcher Bibel von 1527 - zunächst für den ökonomisch lukrativen Export - quasi ‚fremde‘ Diphthongschreibungen gedruckt wurden, wodurch sich die strukturelle Distanz zwischen gesprochener und geschriebener resp. gedruckter Sprache vergrösserte (Haas 2000b: 124). Die Schweizer Druckschriften begannen sich ab dieser Zeit zunehmend am mitteldeutsch geprägten Schrifttum zu orientieren, was sich auch nach der juristischen Loslösung der damals die Eidgenossenschaft formierenden „dreizehn Orte“ vom Heiligen Römischen Reich im Westfälischen Frieden von 1648 nicht änderte. Im Gegenteil war es vielmehr so, dass sich im 18. Jahrhundert namhafte Schweizer Schriftsteller wie Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger in die Debatte um die entstehende Literatursprache einbrachten und auf diese Weise die selbstverständliche Teilhabe an der deutschen Kultur bekundeten, wie dies auch ein Jahrhundert später, zum Beispiel bei Gottfried Keller, gleichermassen der Fall sein sollte: Keller trennte scharf zwischen Kultur und Politik, wenn es um sein Verhältnis zu Deutschland ging. Politisch fasste er sich als schweizerischer Staatsbürger auf, kulturell aber empfand er sich - wie das im 19. Jahrhundert für die Deutschschweiz üblich wurde - dem Sprach- und Kulturraum Deutschland zugehörig. (Andermatt 2016: 273) Erst im Zuge der Geistigen Landesverteidigung zur Zeit des Nationalsozialismus entstand die Schwyzertütschi Sproochbiwegig , und die Schaffung einer eigenen alemannischen Schriftsprache sollte erneut zum Thema werden (Baer 1936). Deren Nachteile waren und sind aber offensichtlich derart evident, dass bis heute die deutsche Standardsprache nicht nur als Alphabetisierungssprache der Deutschschweizer Kinder fungiert, sondern - bis auf die informelle Kommunikation vor allem in den neuen sozialen Medien - letztlich unangefochten ist. Freilich spiegelt sich die Geschichte der deutschen Schriftsprache, an der die Deutschschweiz von Beginn an teilhatte, nicht unbedingt in den Einstellungen zu dieser Sprachform. Das Hochdeut- 200 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="201"?> sche wird von vielen mitunter als (eine Art von) Fremdsprache, als exogene Varietät, betrachtet. Diese Einschätzung dürfte vornehmlich ihrem eingeschränkten mündlichen Gebrauch geschuldet sein (s. Kap. 5.2), da - anders als in anderen deutschsprachigen Gebieten - das Hochdeutsche nie und für keine soziale Gruppe zur Alltagssprache wurde. Vielmehr erfuhr der Dialekt insbesondere im 19. Jahrhundert eine zunehmende Wertschätzung. Wurde der Dialekt zuvor von vielen zeitgenössischen Gelehrten als minderwertige Sprachform betrachtet, so trug zum einen die historische Sprachwissenschaft dazu bei, die Dialekte als eigenständig und historisch ‚wertvoll‘ zu betrachten (Weiteres dazu Kap. 6.1). Zum anderen erlangte der Dialekt nach der Gründung des Bundesstaates im Jahre 1848 auch gesellschaftlich-politische Bedeutung: Der Dialekt wurde je länger, je stärker an die Schweiz als Nation geknüpft. Als Volkssprachen kam den Mundarten so eine neue symbolische Bedeutung zu. Sie verkörperten das, was das Schweizervolk vermeintlich ausmachte. Sie galten als Produkt des Volksgeistes und als Spiegel des Volkscharakters. Das Schweizerdeutsche wurde als wesentliches Moment der (deutsch-)schweizerischen Identität verstanden und als wesentliches Merkmal, das die (Deutsch-)Schweizerinnen und Schweizer von ihren sprachlichen Verwandten nördlich des Rheins unterschied. (Ruoss/ Schröter im Druck) 4 Politik, Kultur und rechtliche Stellung der Sprachen 4.1 Politische Lage Das politische System der Schweiz ist stark föderalistisch geprägt. Die 26 Kantone mit ihren insgesamt über 2.000 Gemeinden geniessen eine relativ starke Autonomie gegenüber dem Bundesstaat. Die drei Ebenen Bund, Kanton und Gemeinde werden zum Beispiel bei der Besteuerung wirksam: Je nach Wohnort können sehr unterschiedliche Steuern anfallen, da sowohl die Kantone als auch die Gemeinden unterschiedliche finanzielle Ansprüche geltend machen. Das Bildungs- und Polizeiwesen ist weitestgehend Sache der Kantone. Ebensowenig gibt es ein einheitliches schweizerisches Schulsystem, sondern kantonale Bestimmungen - allerdings verlangte das Schweizer Stimmvolk am 21. Mai 2006 mit einer überwältigenden Mehrheit nach einer gewissen Harmonisierung der Lehrpläne der Volksschule. Was das Fremdsprachenlernen anbelangt, so hat sich die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) 2004 darauf geeinigt, dass in der Schweiz alle Jugendlichen zwei Fremdsprachen lernen - eine zweite Landessprache und Englisch. Das Parlamentssystem auf der Ebene des Bundes ist ein sog. Zweikammersystem, das bei der Gründung des Bundesstaates 1848 nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika übernommen wurde. Die zwei Räte, die beide aus Milizparlamentariern bestehen, haben eine unterschiedliche Repräsentationsfunktion: Der Nationalrat mit seinen 200 Mitgliedern vertritt die Gesamtbevölkerung, der Ständerat mit seinen 46 Mitgliedern die Kantone (Graf 2015). Die beiden Räte verhandeln getrennt, wobei die Debatten im Nationalrat auf Deutsch, Französisch und Italienisch erfolgen und die Ratsmitglieder per Kopfhörer auf eine Simultanübersetzung in diese Sprachen zurückgreifen können. Anders ist es im Ständerat, wo auf Deutsch und Französisch (selten auf Italienisch) debattiert wird. Da dort auf eine Übersetzung verzichtet wird, muss jedes Ratsmitglied Deutsch und Französisch verstehen. Die Schweiz ist vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg als Konkordanzdemokratie angelegt, bei der nicht das Mehrheitsprinzip den zentralen Entscheidungsmechanismus abgibt, sondern die verschiedenen politischen Kräfte in Entscheidungsfindungen und Verantwort- Die Schweiz 201 <?page no="202"?> lichkeiten eingebunden werden. So sind heute die politischen Parteien im Verhältnis zu ihrer Stärke im Bundesrat vertreten. Diese als Kollegialbehörde agierende Exekutive besteht aus sieben Ministern, den Bundesrätinnen und Bundesräten, bei deren Wahl durch die Vereinigte Bundesversammlung sich die ungeschriebene Regel durchgesetzt hat, dass mindestens zwei Bundesrätinnen oder Bundesräte aus der lateinischen Schweiz stammen sollten. 4 Auch bei der Besetzung von Führungspositionen in der Verwaltung, der Armee und der Justiz wird sowohl auf die anteilsmässige Vertretung der politischen Parteien geachtet als in der Regel auch auf die sprachregionale Herkunft der Amtsinhaberinnen und Amtsinhaber. 4.2 Rechtliche Stellung des Deutschen, Schulsystem, offizielle Sprachregelung Die institutionelle Mehrsprachigkeit ist in der Schweizer Bundesverfassung verankert. Als Landessprachen (im Sinne von Nationalsprachen) gelten gemäss Artikel 4 Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. Deutsch, Französisch und Italienisch sind überdies Amtssprachen. Das heisst, dass jeder Bürger das Recht hat, in seiner Muttersprache, sofern diese eine Landessprache ist, mit den Bundesverwaltungen zu kommunizieren. Rätoromanisch gilt nur im Verkehr mit der romanischsprachigen Bevölkerung als Amtssprache. Das Vorherrschen einer Landessprache in der Bevölkerung bestimmt die Zugehörigkeit einer Gemeinde zu einem Sprachgebiet (= Territorialprinzip oder Territorialitätsprinzip, ius soli ) . Das Territorialitätsprinzip gesteht den Kantonen damit das Recht zu, die Homogenität der vier angestammten Sprachgebiete dadurch zu erhalten, dass es in den meisten Kantonen und in den meisten Gemeinden nur eine einzige anerkannte Sprache gibt, die im Kontakt mit den Behörden und Gerichten sowie als Unterrichtssprache zum Zuge kommt. Die Volksschulen sind in der Regel einsprachig, die anderen Landessprachen werden als Fremdsprachen gelehrt. Als Folge des Territorialitätsprinzips sind die Sprachgrenzen über die Zeit hinweg sehr stabil geblieben. Gleich mehrere Artikel der schweizerischen Bundesverfassung (BV) betreffen sprachliche Belange. So werden in Artikel 4 jene Sprachen genannt, die den besonderen Status einer Landessprache haben. In der Gesamtrevision der Bundesverfassung von 1999 wurde ein Artikel über die individuelle Sprachenfreiheit eingeführt (BV Art. 18) und Rätoromanisch zur Teilamtssprache des Bundes aufgewertet (BV Art. 70, Wyss 1997). In Artikel 70 der Bundesverfassung wird der institutionelle Sprachgebrauch wie folgt geregelt: 1 Die Amtssprachen des Bundes sind Deutsch, Französisch und Italienisch. Im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache ist auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes. 2 Die Kantone bestimmen ihre Amtssprachen. Um das Einvernehmen zwischen den Sprachgemeinschaften zu wahren, achten sie auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten. 3 Bund und Kantone fördern die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften. 4 Der Bund unterstützt die mehrsprachigen Kantone bei der Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben. 5 Der Bund unterstützt Massnahmen der Kantone Graubünden und Tessin zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und italienischen Sprache. 4 2018 stammen vier Magistratspersonen aus der Deutschschweiz, zwei aus der französischen und eine aus der italienischen Schweiz. 202 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="203"?> Dieser Artikel 70 macht zum einen deutlich, dass das Rätoromanische nur in beschränktem Ausmass Amtssprache ist, und zum anderen, dass die Kantone ihre jeweiligen Amtssprachen selber bestimmen. Dadurch erfährt die individuelle Sprachenfreiheit, die in Artikel 18 der Bundesverfassung als Grundrecht gewährleistet ist, eine gewisse Einschränkung zugunsten einer Regelung, die zum Sprachenfrieden beitragen soll. In 17 Kantonen ist Deutsch die Amtssprache (Aargau, Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Glarus, Luzern, Nidwalden, Obwalden, St. Gallen, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Thurgau, Uri, Zug, Zürich), in vier Kantonen Französisch (Genf, Jura, Neuenburg, Waadt), in einem Kanton Italienisch (Tessin). Von den 26 Kantonen sind nur drei offiziell deutsch-französisch zweisprachig (Bern/ Berne, Fribourg/ Freiburg, Valais/ Wallis) und nur einer offiziell dreisprachig (Graubünden mit Deutsch, Italienisch und Rätoromanisch). Das Territorialitätsprinzip hat zur Folge, dass eine deutschsprachige Solothurnerin, die in den Kanton Neuenburg zieht, mit den Behörden ihres Wohnkantons auf Französisch kommunizieren muss und dass die Kinder einer französischsprachigen Genfer Familie, die im Tessin lebt, in eine italienischsprachige Schule gehen - in der Französisch als Fremdsprache auf dem Stundenplan steht. Die Entscheidungshoheit der Kantone über die Schulsprachen hat dazu geführt, dass man in einzelnen Regionen mit romanisch-deutsch zweisprachiger Bevölkerung an den Schulen von Romanisch zu Deutsch übergegangen ist. Dadurch wurde das Bündnerromanische territorial durch das Deutsche zurückgedrängt. Die Amtssprachlichkeit ist nicht mit dem Anspruch verbunden, den Sprachgebrauch auch in der Wirtschaft oder in der Kultur festzulegen. Freilich entfaltet das Territorialitätsprinzip insofern eine integrative Wirkung, als auch die Bevölkerung in den jeweiligen Sprachgebieten mehrheitlich die jeweilige Sprache als die am häufigsten regelmässig verwendete Sprache angibt. Das heisst, dass Zuzüger aus den anderen Sprachgebieten sich in der Regel dem Territorialitätsprinzip beugen. Von den Nicht-Landessprachen sind im deutschsprachigen Gebiet das Spanische und die Sprachen des ehemaligen Jugoslawien häufig, im französisch- und italienischsprachigen Gebiet das Portugiesische und Spanische. 5 Die Bedeutung der Sprachenfrage in der Schweiz verdeutlicht das 2007 verabschiedete Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften (SpG), das „die Viersprachigkeit als Wesensmerkmal der Schweiz stärken“ und „den inneren Zusammenhalt des Landes festigen“ (Artikel 2) soll. Ausserdem kennt die Schweiz neben dem Status einer Landessprache und einer Amtsprache auch jenen einer „Minderheitensprache“, dies vor dem Hintergrund des im Jahre 1998 ratifizierten Rahmenübereinkommens des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten. Zu diesen gehören in der Schweiz neben den landessprachlichen Minderheiten die Mitglieder der jüdischen Gemeinde, die Schweizer Jenischen und Sinti/ Manouches, wobei bisher nur dem Jiddischen und Jenischen der Status einer territorial nicht gebundenen Minderheitensprache zukommt (Schmidlin/ Franceschini i. Druck). Die Anerkennung einer Gruppe als nationale Minderheit schliesst die Anerkennung ihrer Sprache als Minderheitensprache also nicht ein. 6 5 https: / / www.bfs.admin.ch/ bfs/ de/ home/ statistiken/ kataloge-datenbanken/ grafiken.assetdetail.1902151. html (Letzter Zugriff 25.7.2018). 6 Zum Stand dieser Diskussion im Fall von Romanes s. Aebischer 2016: https: / / www.parlament.ch/ de/ ratsbetrieb/ suche-curia-vista/ geschaeft? AffairId=20164000. (Letzter Zugriff 25.7.2018). Die Schweiz 203 <?page no="204"?> Die institutionelle Mehrsprachigkeit der Schweiz widerspiegelt sich nicht in den individuellen Repertoires der Schweizerinnen und Schweizer. Abgesehen davon, dass manche Sprachwissenschaftler die doppelte Kompetenz in einer Mundart und der deutschen Standardsprache als eine Form von Zweisprachigkeit betrachten (Berthele 2004, Werlen 1998), sind Schweizerinnen und Schweizer von Hause aus mehrheitlich einsprachig und sprechen weitere, schulisch erworbene Landessprachen mehr oder weniger gut. In den 1990er Jahren gab nur ein Achtel der in der Volkszählung befragten Personen an, zweisprachig aufgewachsen zu sein (Niederhauser 1997). Fast durchwegs zweisprachig sind allerdings die Bündnerromanen (Rätoromanisch-Deutsch); die italienischsprachige Tessiner Bevölkerung ist häufiger mehrsprachig als die französisch- und deutschsprachige. 4.3 Sprachenlernen an Schweizer Schulen, die Bedeutung von Deutsch in nichtdeutschsprachigen Landesteilen Deutsch (= Standarddeutsch) wird in der Schweiz in unterschiedlichen Kontexten gelehrt und gelernt: als Zweit- oder Fremdsprache auf unterschiedlichen Stufen und in verschiedenen Lernumgebungen sowie als Studienfach. In den Westschweizer Kantonen (und einigen Regionen des Kantons Graubünden) wird Deutsch als erste Fremdsprache ab der dritten Klasse eingeführt, im italienischsprachigen Kanton Tessin als zweite Fremdsprache ab der fünften Klasse (EDK 2016). Auf universitärer Stufe gibt es, teilweise in Zusammenarbeit mit angegliederten Sprachzentren, zahlreiche zielgruppenspezifische Angebote. Das Fach DaF/ DaZ wird als universitärer Studiengang auf Bachelor- und Masterstufe in der Schweiz einzig an der Universität Fribourg/ Freiburg angeboten. Weiterbildungen in DaZ gibt es jedoch zunehmend auch an Fachhochschulen und pädagogischen Hochschulen. 7 Welche Landessprachen bzw. Fremdsprachen werden von den Schweizer Kindern in der Schule gelernt? Nur für den Zeitpunkt, ab wann Fremdsprachen an Schweizer Schulen unterrichtet werden, gibt es Rahmenbedingungen: Die erste Fremdsprache wird in der dritten Primarschulklasse eingeführt, wenn die Kinder acht bis neun Jahre alt sind, die zweite kommt in der fünften Klasse dazu, wenn die Kinder zehn bis elf Jahre alt sind. Ob die Kantone nach diesem Rahmen vorgehen oder nicht, und insbesondere welche Sprache sie als erste und welche als zweite einführen, entscheiden diese selbst. Gegenwärtig geben 14 von 26 Kantonen Englisch als erster Fremdsprache den Vorzug und nicht einer anderen Landessprache. Diskussionen zur Änderung der Reihenfolge, in der Fremdsprachen in der Schule eingeführt werden, führen oft zu politischen Spannungen, die gerne medial ausgetragen werden, wobei in den Diskussionen stets die nationale Kohäsion ins Feld geführt wird (Schmidlin/ Franceschini i. Druck). An weiterführenden Schulen sind zweisprachige Lehrgänge möglich. Eine zweisprachige Maturität Deutsch-Englisch ist an 52 Kantonsschulen bzw. Gymnasien möglich, Deutsch-Französisch bzw. Französisch-Deutsch an 26 Schulen, Französisch-Englisch an vier Schulen, Deutsch-Italienisch an elf Schulen und Deutsch-Romanisch an vier Bündner Kantonsschulen. 7 Für weitere Aspekte von DaF/ DaZ in der Schweiz s. Krumm et al. 2010, Studer/ Schneider 2004, Gick 2013, Clalüna/ Tscharner 2013 sowie die laufend aktualisierten Dokumentationen des wissenschaftlichen Kompetenzzentrums für Mehrsprachigkeit am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg und der Pädagogischen Hochschule Freiburg (Schweiz). 204 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="205"?> Nicht immer kommen Klassen zustande, die die Möglichkeit, eine zweisprachige Maturität zu erwerben, bieten würden. 4.4 Kulturelle Institutionen, Medien, Literatur Die nationalen Medien (mit 17 Radio- und 7 Fernsehprogrammen) werden dezentral in den vier Sprachgebieten produziert. In Informationssendungen, die Interviews in anderen Landessprachen enthalten, werden die betreffenden Sequenzen in der Regel mit dem Voiceover-Verfahren synchronisiert. Einige deutschsprachige Sendungen werden auf Schweizerdeutsch produziert und werden, versehen mit Untertiteln, zum Teil ins deutschsprachige Ausland exportiert. Der hörerstärkste Radiosender SRF 1 hat in seinen Beiträgen einen Dialektanteil von 80 Prozent, der Fernsehsender SRF 1 von 50 Prozent (Havel 2012, Weiteres zur Varietätenwahl in Deutschschweizer Medien s. Kap. 5.2.1). Die standardsprachliche Deutschschweizer Literatur ist im internationalen deutschsprachigen Büchermarkt sehr gut vertreten. Was die Deutschschweizer Dialektliteratur anbelangt, so besteht diese schon lange nicht mehr vorwiegend aus idyllisch heimatverbundenen Texten, sondern nimmt die Strömungen und Formen der Gegenwartsliteratur auf und erlebt seit Beginn des 21. Jahrhunderts in verschiedenen Genres von Romanen (Pedro Lenz, schreibt in Langenthaler Mundart) bis Rap (Steffe la Cheffe, verwendet Stadtberner Mundart) einen grossen Aufschwung (Schmid 2016). Aagfange hets eigetlech vüu früecher. Aber i chönnt jetz ou grad so guet behoupte, es heig a däm einten Ooben aagfange, es paar Tag nachdäm, dasi vo Witz bi zrügg cho. Vilecht isches öppe zähni gsi, vilecht e haub Stung spöter. Spüut ke Roue. Uf au Fäu hets Bise gha wi d Sou. Schummertau. Novämber. Und ig es Härz so schwär, wi nen aute, nasse Bodelumpe. 8 (Lenz 2010: 4) Das Schreiben im Dialekt ist für die jüngeren Generationen auch im Alltag für den privaten Schriftverkehr zunehmend gebräuchlich, wie diese SMS-Nachricht im Basler Dialekt eines 12-jährigen Mädchens an seine Mutter (= R.S.) (Mai 2018) zeigt: „Es goht mr besser, ich ha numme no 37 grad. Aber jetz han ich au no buchweh.“ 9 Grund für die Bevorzugung der Mundart im privaten Schriftverkehr dürften die sozialen Medien sein, die (im Sinne von Koch/ Oesterreicher 1985) eine konzeptionell mündliche Kommunikationsform auch in der medialen Schriftlichkeit nahelegen (Dürscheid et al. 2010, Christen 2004). 5 Soziolinguistische Situation, Sprachgebrauch, Sprachkompetenz 5.1 Varietäten und Varianten in den verschiedenen Sprachgebieten 5.1.1 Die Varietäten in den vier Sprachgebieten Das Varietätengefüge sowie die soziolinguistischen Arrangements des Gebrauchs der Varietäten sehen in den vier Sprachgebieten sehr unterschiedlich aus. In der französischsprachigen Schweiz 8 In der Übersetzung von Raphael Urweider (2014): „Angefangen hat es eigentlich viel früher. Geradeso gut kann ich aber auch behaupten, es hat an diesem einen Abend angefangen, ein paar Tage, nachdem ich aus Witz zurück war. Ungefähr zehn, vielleicht halb elf. Spielt keine Rolle. Auf alle Fälle ein saukalter, beissender Wind. Schummertal. November. Und mein Herz so triefend schwer wie ein alter, feuchter Lappen.“ 9 „Es geht mir besser, ich hab nur noch 37 grad. Aber jetzt hab ich auch noch bauchweh.“ Die Schweiz 205 <?page no="206"?> sind die - dem südlichen Frankoprovenzalischen oder der nördlichen langue d’oïl zugehörigen - Dialekte bis auf vereinzelte Sprecherinnen und Sprecher in Walliser und Freiburger Dorfgemeinschaften weitgehend verschwunden (s. Knecht 2000, Grüner 2010). Das im Alltag gesprochene français régional , das Frankophone als Westschweizer erkennen lässt, zeichnet sich durch einige lexikalische Besonderheiten und Ausspracheeigenheiten aus (Thibault/ Knecht 1997). In der italophonen Schweiz verfügen die lombardischen Dialekte nach wie vor über eine gewisse Vitalität, wenn auch Angleichungsprozesse die kleinräumigen Dialekte durch eine Koine zu ersetzen beginnen (Lurati 2000, Moretti/ Casoni 2016). Daneben hat die italienische Hochsprache ihren Gebrauchsradius in den letzten Jahren ausweiten können, und sie kann in der Form eines italiano regionale zunehmend auch im Alltag verwendet werden. Das Rätoromanische wird heute in fünf unterschiedlichen Idiomen - Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Puter, Vallader - gesprochen und geschrieben (Liver 2000). Die Standardsprache Rumantsch Grischun wurde in den 1980er Jahren als schriftliche Ausgleichsvarietät mit dem Ziel geschaffen, die Idiome mit ihrer kleinen ‚Schreiberzahl‘ zu überdachen und damit dem Rätoromanischen eine Zukunft - auch als Schriftsprache - zu sichern. Allerdings trifft Rumantsch Grischun, das von den eidgenössischen und den bündnerischen Behörden verwendet sowie in den Schulen instruiert wird (Berthele/ Lindt-Bangerter 2011), auf teils massiven Widerstand in der Bevölkerung, die nicht auf ihre bisherigen Schriftidiome verzichten mag. 10 5.1.2 Mehrsprachige Benennungsvielfalt Die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit der Schweiz bleibt erwartungsgemäss nicht ohne Auswirkungen auf die daran beteiligten Sprachen (s. Kap. 5.4). Vorweg genommen seien hier die Selbst- und Fremdbezeichnungen, die es für die schweizerischen Sprachgebiete und ihre Bewohnerinnen und Bewohner in den vier Landessprachen gibt und die von Spottbezeichnungen (z. B. frz. toto ‚Deutschschweizer‘) bis hin zu wissenschaftlich konnotierten Bezeichnungen reichen (z. B. it. Svizzera germanofona ‚germanophone Schweiz‘). Nachfolgend sind gängige neutrale Bezeichnungen für die vier Sprachgebiete (Tab. 2) und deren Bewohner (Tab. 3) in den vier Landessprachen aufgelistet 11 , wie sie etwa in den Medien verwendet werden. Dabei ist zu erwähnen, dass Tessin/ Tessiner oft - verkürzend und die Italienischbündner übersehend - gleichgesetzt wird mit ‚italienischsprachige Schweiz‘ resp. ‚italienischsprachiger Schweizer‘, dies obwohl die Bündner Täler Puschlav (Val Poschiavo), Bergell (Val Bregaglia), Misox (Val Mesolcina) und Calanca (Val Calanca) sowie der Ort Bivio zur italienischsprachigen Schweiz gehören. Die Bezeichnungen welsch und Welschland , die in der Deutschschweiz für ‚französisch‘ (s. welsch sprechen ‚französisch sprechen‘) und ‚französischsprachige Schweiz‘ gebräuchlich sind, wurden früher auch für ‚italienisch‘, ‚rätoromanisch‘ oder allgemein ‚fremdsprachig‘ verwendet. Etymologisch lässt sich das Wort welsch auf den Namen des gallischen Volksstamms der Volcae zurückführen und meinte ursprünglich ‚keltisch‘ (s. englisch Welsh ‚walisisch‘). Mit den deutschen Bezeichnungen Westschweiz und Westschweizer/ in sind in der Regel ebenfalls die französischsprachige Schweiz und deren Bewohner gemeint - und nicht etwa deutschsprachige Gebiete in der Nordwestschweiz oder im westlichen Kanton Bern. 10 s. Schlagzeile „Immer Ärger mit Rumantsch Grischun“ aus dem Jahre 2012 http: / / www.20min.ch/ schweiz/ ostschweiz/ story/ Immer--rger-mit-Rumantsch-Grischun-18888881 (Letzter Zugriff 25.7.2018). 11 Wir danken den Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Mehrsprachigkeit (Freiburg/ Fribourg) herzlich für die Sichtung der Tabellen 2 und 3. 206 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="207"?> Deutsch Französisch Italienisch Rätoromanisch Deutschsprachiger Landesteil Deutschschweiz Suisse alémanique, Suisse allemande Svizzera tedesca Svizra tudestga Französischsprachiger Landesteil Französische Schweiz, Welschland, Westschweiz Suisse romande, Romandie Svizzera romanda, Svizzera francese Svizra franzosa, Svizra romanda Italienischsprachiger Landesteil Italienische Schweiz, Tessin und Italienischbünden, Tessin (metonymisch) Suisse italienne, Tessin (metonymisch) Svizzera italiana, Ticino e Grigioni italiano, Ticino (metonymisch) Svizra taliana, Tessin e Grischun talian, Tessin (metonymisch) Rätoromanischsprachiger Landesteil Rätoromanische Schweiz, Romanischbünden Suisse rhétoromane, Suisse rhéto-romanche, Suisse romanche, Grisons romanches Svizzera romancia Svizra rumantscha, Rumantschia, Svizra retorumantscha, Grischun rumantsch Tab. 2: Neutrale Selbst- und Fremdbezeichnungen der vier Sprachgebiete (Selbstbezeichnungen grau schattiert) Deutsch Französisch Italienisch Rätoromanisch Bewohner/ in des deutschsprachigen Landesteils Deutschschweizer/ in Suisse alémanique, Suisse allemand/ e, Alémanique Svizzero tedesco, Svizzera tedesca Svizzer tudestg, Svizra tudestga Bewohner/ in des französischsprachigen Landesteils Welsche/ r, Romand/ e, Westschweizer/ in Suisse romand/ e, Romand/ e Svizzero francese, Svizzera francese Svizzer franzos/ Svizra franzosa, Svizzer/ Svizra da lieunga franzosa Bewohner/ in des italienischsprachigen Landesteils Italienischbündner/ in, Tessiner/ in (auch metonymisch) Grison/ ne italophone, Grison/ ne de langue italienne, Tessinois/ e (auch metonymisch) Grigionitaliano/ a, Grigionese/ Grigione di lingua italiana, Ticinese (auch metonymisch) Grischun/ a talian/ a, Grischun/ a italofon/ a, Tessinais/ a (auch metonymisch) Bewohner/ in des rätoromanischsprachigen Landesteils Rätoromane/ Rätoromanin, Romane/ Romanin Rhéto-roman/ e, Romanche Retoromancio/ a, Romancio/ a Retorumantsch/ a, Rumantsch/ a Tab. 3: Neutrale Selbst- und Fremdbezeichnungen der Bewohnerinnen und Bewohner der vier Sprachgebiete (Selbstbezeichnungen grau schattiert) Die Schweiz 207 <?page no="208"?> Ebenfalls erwartungsgemäss gibt es im mehrsprachigen Land mit seinen vier Sprachgebieten für viele Örtlichkeiten nicht nur Endonyme, Namen also, mit denen die Bewohnerinnen und Bewohner ihr Dorf, ihre Stadt, ihre Region in ihrer eigenen Sprache bezeichnen. Die binnenschweizerische Zusammengehörigkeit und die kontinuierlichen Kontakte über die Sprachgrenzen hinweg führten auch zur Ausformung von Exonymen, zu Namen also, die von jenen benutzt werden, denen der Ort ‚nicht gehört‘ ( Jordan 2011). Exonyme kommen durch so unterschiedliche Verfahren wie beispielsweise der Übersetzung bei transparenten Namen (sekundär Neuenburg zu primär Neuchâtel ) oder der Anpassung an eigene Lautmuster (sekundär Bruck zu primär Broc) zustande. Zu bedeutsamen Schweizer Örtlichkeiten gibt es Namen in zwei, drei oder sogar, wie für Zürich, in allen vier Landessprachen: Zürich, Zurich, Zurigo, Turitg . Allonymie mit Endonymen und Exonymen ist vornehmlich in Sprachgrenzgebieten festzustellen. So gibt es im Kanton Freiburg mit seinen beiden Sprachterritorien für viele Orte sowohl endoals auch exonymische Namen ( Gruyère/ Greyerz; Plaffeien/ Planfayon ). Freilich scheint sich heute - mit Ausnahme der etablierten Exonyme für grosse Städte wie frz. Bâle (Basel) oder dt. Genf (Genève) - die Allonymie zugunsten der Einnamigkeit zurückzubilden (Christen 2018). 5.2 Die Standardsprache in der Deutschschweiz 5.2.1 Das Nebeneinander von Standardsprache und Dialekt In der Deutschschweiz wird der Dialekt primär (aber nicht ausschliesslich) gesprochen und die Standardsprache primär (aber nicht ausschliesslich) geschrieben. 12 Kolde (1981) sprach daher im Falle der Deutschschweizer Situation (aus heutiger Sicht vereinfachend) von einer medialen Diglossie. Gesprochen wird Standarddeutsch in der Regel gegenüber Fremdsprachigen und Nichtdialektsprechern sowie in formellen, öffentlichen Kommunikationssituationen. Dazu gehört die Kommunikation in Bildungsinstitutionen, in politischen Debatten, in der Kirche sowie in Informationssendungen im überregionalen Radio und Fernsehen. Die theoretische Diskussion der Deutschschweizer Sprachsituation war lange dominiert von Fergusons Modell (Ferguson 1959) mit Hochdeutsch als high variety und Dialekt als low variety . 13 Konsens herrscht darüber, dass Ferguson 1959 manche Merkmale der Deutschschweizer Sprachsituation gut erfasst (s. Berthele 2004). Dazu gehört, dass die Standardsprache - im Gegensatz zu anderen Standard-mit-Dialekt-Situationen - nie für alltägliche Kommunikation verwendet wird, dass die literarische Tradition standardsprachlich ist und dass nur die high variety standardisiert ist. Es gibt jedoch einige Inkongruenzen zwischen Fergusons Diglossie-Modell und der Deutschschweizer Sprachsituation. So gibt es keine genetische Abstammung der low variety von der high variety , wie es von Ferguson für typische Diglossiesituationen postuliert wurde, denn Schweizerdeutsch hat sich nicht aus dem Standard entwickelt und ist in Bezug auf einzelne Merkmale sogar die ältere der beiden Sprachformen. Die Dialekte sind strukturell 12 Mit dem Aufkommen der neuen sozialen Medien hat die Verwendung des Dialekts als geschriebene Sprache zugenommen (Christen 2004). Im Vergleich zur Verwendung des Standarddeutschen als Schriftsprache stellt die dialektale Schriftlichkeit jedoch noch immer eine Ausnahme dar und ist der informellen Kommunikation vorbehalten. 13 Mit diglossia bezeichnet Ferguson eine relativ stabile Sprachsituation, in der es zusätzlich zu den primären Dialekten der Sprache, denen der Status einer low variety zugeschrieben wird, eine divergente, hochkodierte, grammatikalisch oft komplexere, übergeordnete Varietät gibt, die so genannte high variety . 208 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="209"?> nicht durchwegs weniger komplex als die Standardsprache. Es gibt sprachstrukturelle Bereiche, in denen die Dialekte eine höhere Komplexität aufweisen als die Standardsprache. Ein Beispiel ist die obligatorische Verbdoppelung von ‚gehen‘ und weiterer Verben in Kurzform in Sätzen wie Ich goo go ässe ‚Ich gehe essen‘ (Lötscher 1993, Glaser/ Frey 2011). Schliesslich können die Dialekte durch die Aufnahme standardsprachlicher Lexik und von Konstruktionen, die für die konzeptionelle Schriftlichkeit typisch sind, auch für distanzsprachliche Bereiche verwendet werden, die in der klassischen Diglossie die exklusive Domäne des Standards darstellt (s. Kap. 5.3.2). Diese Inkongruenzen mit Fergusons Diglossie-Konzept (s. ausführlicher dazu Schmidlin/ Franceschini i. Druck, Studler 2017) lassen die Deutschschweizer Diglossie in manchen Dimensionen als Bilingualismus erscheinen (Sieber/ Sitta 1986: 21, Ris 1990, Berthele 2004). Auch Werlen (1998) argumentiert für Zweisprachigkeit als Beschreibungsmodell und präzisiert, dass es sich im Falle der deutschen Varietäten in der Deutschschweiz um eine asymmetrische Zweisprachigkeit handelt insofern, als die Dialekte primär gesprochen, die Standardsprache primär geschrieben, jedoch beide Varietäten gelesen und gehört werden (Werlen 1998: 26, s. auch Hägi/ Scharloth 2005, Berthele 2004). Im Gegensatz zu manchen anderen Regionen des deutschen Sprachraums, in denen Dialekte verwendet werden, ist der Dialektgebrauch in der Deutschschweiz nicht sozial markiert oder gar stigmatisiert. Im Alltag wird von Deutschschweizer Sprecherinnen und Sprechern aller Bildungsschichten ein lokaler Dialekt gesprochen. Dies gilt für Deutschschweizer Bundesräte im Gespräch unter einander ebenso wie für Deutschschweizer Professorinnen, die als Unterrichts- und Vortragssprache zwar stets Standardsprache sprechen, aber ihren jeweiligen Dialekt auch in ihren informellen Fachgesprächen benutzen, sofern nur Deutschschweizer Sprecherinnen und Sprecher bzw. solche, von denen bekannt ist, dass sie Schweizerdeutsch verstehen, am Gespräch beteiligt sind. Diglossischer Spracherwerb Dass die Erstsprache von Deutschschweizer Kindern immer ein schweizerdeutscher Dialekt ist - im Gegensatz zu deutschen Kindern, die zuweilen auch in Dialektregionen in der Standardsprache primärsozialisiert werden (Scholten 1988) - wirkt stabilisierend auf die Deutschschweizer Diglossie-Situation. Empirische Studien zum diglossischen Spracherwerb liegen jedoch erst vereinzelt vor. In der Forschung werden unterschiedliche kognitive Prozesse und Strategien (z. B. Transferstrategien zwischen den Varietäten) diskutiert, die die Kinder möglicherweise anwenden, um, ausgehend von ihrem Dialekt als Erstvarietät, die Standardsprache zu erwerben (Häcki Buhofer/ Burger 1998). Allerdings kann bei der gegenwärtigen medialen Präsenz des Hochdeutschen im Deutschschweizer Alltag und aufgrund von vielfältigen Sprachkontaktsituationen davon ausgegangen werden, dass der Hochdeutscherwerb bei Deutschschweizer Kindern nicht einfach ihrem Dialekterwerb nachgelagert ist, sondern dass sie schon früh und lange vor Schuleintritt mit Hochdeutsch vertraut werden. Der Standard wird in der Deutschschweiz von Vorschulkindern nicht ausschliesslich gesteuert, sondern auch ungesteuert erworben (Häcki Buhofer et al. 1994, Häcki Buhofer/ Burger 1998). Entsprechend schwierig zu beantworten ist die Frage, ob es sich beim Hochdeutscherwerb von Deutschschweizer Kindern um einen (erweiterten) Erstspracherwerb oder um einen Zweitspracherwerb handelt. Erwiesen ist, dass Deutschschweizer Vorschulkinder Hochdeutsch schon sehr gut verstehen und ein Hochdeutsch produzieren, das in vielen Bereichen bereits zielsprachlich ist. Auf- Die Schweiz 209 <?page no="210"?> grund der strukturellen Ähnlichkeit von Hochdeutsch und Dialekt können in vielen Fällen erfolgreiche Entsprechungsregeln gebildet werden, die aus einem hochdeutschen Wort ein dialektales machen und umgekehrt. Dasselbe gilt zum Beispiel auch für die Perfektbildung: i bi döt gsi (‚ich bin dort gewesen‘), i has gmacht (‚ich hab es gemacht‘). Als besondere Herausforderungen für Deutschschweizer Kinder bei der Produktion des Standarddeutschen erweisen sich die Bildung des Präteritums, spezifische Bereiche der Wortstellung, Kasusmarkierungen sowie lexikalische Kontraste, bei denen Transferregeln nicht oder kaum angewendet werden können, um bei der spontanen Sprachproduktion vom dialektalen Wort auf die nächste standardsprachliche Entsprechung schliessen zu können. Schweizerdeutsch-hochdeutsche, kindersprachlich relevante Beispielpaare, die dies veranschaulichen, sind: abe (‚hinunter‘) , rüere (‚werfen‘), gheie (‚fallen‘) , luege (‚schauen‘) , lüpfe (‚heben‘) , schaffe (‚arbeiten‘) , gorpse (‚rülpsen‘) , grusig (‚eklig‘) , Böögg (‚Popel‘) , Nuggi (‚Schnuller‘) , gumpe (‚springen‘) , töibele (‚trotzen‘) , Muul (‚Mund‘) , Finken (‚Pantoffeln‘) und Anke (‚Butter‘). Typisch für die Hochdeutschproduktion bei Deutschschweizer Primarschulkindern sind Entlehnungen aus dem Schweizerdeutschen, die die Lücken in ihrem standardsprachlichen Lexikon überbrücken: der Hund geheit aus dem Fenster […] der Hirsch rührt beide ins Wasser (Bsp. aus Häcki Buhofer/ Burger 1998: 119). Auf den Schriftspracherwerb scheint sich der diglossische Spracherwerb insofern auszuwirken, als Deutschschweizer Kinder im Vergleich zu deutschen Kindern, die in der Standardsprache primärsozialisiert worden sind, bis zum Alter von ungefähr 11 Jahren in ihren geschriebenen Texten 14 einen kleineren Wortschatzumfang aufweisen und weniger Redewendungen produzieren (Schmidlin 1999). Hingegen verfügen Deutschschweizer Kinder über eine breitere Auswahl an kausalen und subordinierenden Konjunktionen und setzen in ihren schriftlichen Erzählungen weniger häufig den typisch mündlichen Konnektor „und dann“ ein (Schmidlin 1999) als ihre gleichaltrigen Kameraden aus Deutschland. Ihre Schreibsprache scheint sich im Vergleich zu deutschen Kindern in typisch schulischen Textsorten wie der Nacherzählung einer Bildergeschichte also bereits früher an prototypischen Merkmalen der Literalität auszurichten. Diglossie in der Schule Die eingangs erwähnte domänenspezifische Aufteilung - Dialekt als Normalfall der gesprochenen Sprache, Standarddeutsch in formell-öffentlichen Ausnahmesituationen sowie als Schriftsprache - hat lediglich Modellcharakter. Je nach Gesprächspartner und Spezifik der kommunikativen Situation (z. B. in Bezug auf Öffentlichkeits- oder Formalitätsgrad) stehen sowohl Dialekt als auch Standardsprache zur Wahl. Besonders gut sichtbar ist dies in der schulischen Kommunikation. Adressieren die Lehrkräfte die ganze Klasse und wird über den Lehrstoff gesprochen, kommt grundsätzlich die Standardsprache zur Anwendung. Geht es um Organisatorisches oder werden Schülerinnen und Schüler einzeln adressiert, kommt es oft zum Code-Switching von der Standardsprache in den Dialekt. Auch wenn seit Mitte der 1990er Jahre in den Deutschschweizer Kantonen als Schulsprache die Standardsprache vorgesehen ist und die EDK die Position vertritt, dass Hochdeutsch schon in den Kindergärten benutzt 14 Erhoben wurden schriftliche und mündliche Nacherzählungen einer Bildergeschichte bei 124 siebenbis elfjährigen Schulkindern. Davon waren 60 Deutschschweizer Kinder aus dem Raum Zürich und 64 deutsche Kinder aus dem Raum Freiburg im Breisgau (Schmidlin 1999: 107). 210 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="211"?> werden soll, sind die Diglossie und der wechselnde Varietätengebrauch im schulischen Alltag nach wie vor der Regelfall. Auf der Mikro-Ebene hängt das Code-Switching-Verhalten jedoch in hohem Masse von den individuellen Lehrkräften ab. Umstritten ist der didaktische Umgang mit der Diglossie bei der Einschulung fremdsprachiger Kinder besonders auf Kindergartenstufe. Können diese früh eine Dialektkompetenz entwickeln, fördert dies ihre Integration in die Peer-Group und damit in die Gesellschaft. Ein Fokus auf die Standardsprache könnte ihnen hingegen das Lesen- und Schreibenlernen erleichtern. Aufgrund der geringen Fallzahlen in bisherigen Studien (Landert 2007, Gyger et al. 2011, Montefiori 2018) liegen diesbezüglich aber noch keine generalisierbaren Befunde vor (weitere Hinweise dazu in Schmidlin/ Franceschini i. Druck). Die Frage nach dem Umgang mit dem Varietätenspektrum und dem Code-Wechsel stellt sich nicht nur beim kindlichen (sukzessiven) DaZ-Erwerb, sondern auch beim DaF-Erwerb sowie beim DaZ-Erwerb durch Erwachsene. 15 Die schweizerdeutschen Dialekte (s. Kap. 5.3) sowie die Besonderheiten der Schweizer Standardsprache (s. Kap. 5.2.2) werden in Westschweizer und Tessiner Schulen nur vereinzelt thematisiert, und dies, obwohl Konzepte für die Förderung des dialektalen Hörverstehens durchaus schon länger bestehen (Studer 2002, Müller et al. 2009). Hingegen gibt es in der Erwachsenenbildung einen Bedarf und entsprechende, v. a. private Angebote für Unterricht in Schweizerdeutsch. 16 Diglossie im Arbeitsalltag Was die Verwendung von Dialekt und Standardsprache in den elektronischen Medien anbelangt, so ist die Sprachwahl nur einer von vielen Bestandteilen des Sendekonzepts. Sie ist u. a. abhängig vom Thema, den beteiligten Personen und dem anvisierten Zuschauer- und Zuhörersegment. In der Regel wird, wie im Bundesgesetz für Radio und Fernsehen (RTVG) festgehalten, in „wichtigen, über die Sprach- und Landesgrenze hinaus interessierenden Informationssendungen“ (RTVG Art. 24 5 ) die Standardsprache verwendet: Dies bedeutet aber nicht, dass die Wahl der Varietäten in den einzelnen Sendemandaten vorgeschrieben wäre. Seit den 1980er Jahren nahm der Dialektgebrauch am Deutschschweizer Radio und Fernsehen insgesamt zu. Dies ist mit neuen Sendeformaten zu erklären, die zur Informalisierung tendieren (Haas 2004: 85). Die Varietätenwahl hängt zudem nicht nur von der Art der Sendungen, sondern auch von den einzelnen Sequenzen und Sprecherkonstellationen ab. Beispielsweise sind in der Tagesschau sowohl Moderation, Interviews und Beiträge in Standardsprache. Unter Beiträgen sind Filmberichte zu verstehen sowie weitere Präsentationsformen, die nicht im Studio produziert werden und keine Interviews sind (Burger/ Luginbühl 2014: 397). In 10 vor 10 , der zweiten abendlichen Nachrichtensendung an Werktagen, sind Moderation und Beiträge ebenfalls standardsprachlich, die Interviews hingegen dialektal. Im Sportpanorama sind Moderation und Interviews dialektal, die Beiträge standardsprachlich. Im Kassensturz , einer kritischen Konsumentensendung, sind die Beiträge teilweise dialektal, teilweise standardsprachlich, Moderation und Interviews dialektal. In Schweiz aktuell , einer Nachrichtensendung mit Regionalbezug, ist alles im Dialekt. Diese für Nicht-Deutschschweizer vielleicht willkürlich wirkende Wahl gesprochener Varietäten in den Medien widerspiegelt die Dynamik und den Aushandelbedarf des Varietätengebrauchs, wie er auch in nicht-medialen Kommunikations- 15 Für aktuelle Befunde zum diglossischen Spracherwerb bei Erwachsenen s. Ender 2017. 16 Über Schweizerdeutschkurse an der Universität berichtet Brohy 2017. Die Schweiz 211 <?page no="212"?> situationen zu beobachten ist - etwa am Arbeitsplatz und in der Schule. Das ist auch daran ersichtlich, dass das Deutschschweizer Publikum auf medialen Varietätenwechsel in beide Richtungen sensibel reagiert. So reichten die Publikumsreaktionen auf die Umstellung der Wettervorhersage auf SRF 1 von Standard auf Dialekt von Ablehnung („peinlich“, „arrogant“, „Zeichen eines Minderwertigkeitskomplexes“) bis Zustimmung („Wärme und Geborgenheit durch Dialekt“) (Luginbühl 2012, Burger/ Luginbühl 2014: 383-403). Die mediale Diglossie (Kolde 1981), in der Dialekt primär gesprochen und Standardsprache primär geschrieben wird, scheint sich, wie an der Varietätenverwendung in den Medien besonders gut ersichtlich wird, zu einer nicht nur von kommunikativen Nähe- und Distanzfaktoren (s. auch Studler 2017: 43), sondern auch multifaktoriell geprägten Diglossie (adressateninduziert, oral/ literal, stilistisch) entwickelt zu haben. Die „Wechselfreudigkeit“ der Varietäten in der Arbeitskommunikation ist bei verschiedenen Personen unterschiedlich stark ausgeprägt. So beobachtete Bürkli (1999) in einem internationalen Basler Chemieunternehmen je nach Mitarbeiter oder Mitarbeiterin individuell sehr unterschiedliche Frequenzen von Code-Switching. Die unmarkierte Option blieb aber stets der Dialekt. Der Wechsel in die Standardsprache war primär adressaten- und nicht etwa situationsinduziert, was einmal mehr anzeigt, dass der Dialekt, um mit Ferguson (1959) zu sprechen, in der Deutschschweiz auch für Funktionen verwendet wird, die über die Sprache der Nähe, die den low varieties gewöhnlich anhaftet, hinausgeht - solange der Gesprächspartner den Dialekt versteht. Als flexible Sprecher erwiesen sich auch die von Christen et al. (2010) beobachteten Polizisten, die im Polizeinotrufdienst im Gespräch mit allochthonen Anrufern, die erkennbar keinen schweizerdeutschen Dialekt als Erstsprache sprechen, die Standardsprache präferieren: Die fehlende oder genauer: die als fehlend eingeschätzte muttersprachliche Schweizerdeutsch-Kompetenz des Gegenübers ist notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für den adressateninduzierten Gebrauch des Hochdeutschen. (Christen 2017: 93) Auch die Varietätenwahl von Pfarrpersonen ist situations- und adressateninduziert (Oberholzer 2014). In den Dialekt gewechselt wird bspw. bei Mitteilungen, Taufen, Markierungen eines Bibeltexts als Zitat, als Schlusssignal nach dem Segen oder in Abhängigkeit von der beruflichen Rolle, die der Pfarrer in der entsprechenden Situation gerade ausübt (z. B. Liturge oder Gemeindearbeiter, s. Oberholzer 2014: 224). Heterogen zeigt sich die Varietätenverwendung in politischen Debatten. So konstatierte Löffler (1997: 1858) für die Parlamente unterschiedliche Handhabungen, wobei im National- und Ständerat sowie in den zweisprachigen Kantonen Standardsprache dominiert, auf Kantons-, Stadt- und Gemeindeebene aber auch der Dialekt vorkommt. Code-Switching Die Deutschschweizer Dialekte und die Standardsprache sind nahe verwandt und strukturell und lexikalisch durchlässig. Die beiden Varietäten stehen in engem Kontakt, was die Beurteilung von Code-Switching zu einer komplexen Aufgabe macht. Gerade was die Lexik anbelangt, kann in vielen systemlinguistisch nicht (mehr immer) trennscharf zwischen Standardsprache und Dialekt unterschieden werden, nämlich dann, wenn Dialekt- und Standardformen übereinstimmen ( ja , und , Tor ). Dass der Code-Wechsel von den Sprechern dennoch als solcher empfunden wird, dürfte damit zusammenhängen, dass die Varietäten morphologisch und 212 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="213"?> phonologisch trotz des engen Kontakts nach wie vor weitgehend eindeutig spezifiziert sind (Haas 2004: 92, Christen 2009a: 147 f.). Das führt dazu, dass sogar Äusserungen, die lexikalisch und syntaktisch standardsprachlich sind, als Dialektäusserungen aufgefasst werden, sobald sie phonologisch-morphologisch angepasst werden (Berthele 2004, Hove 2008). Dies kann bis zur phonetisch in den Dialekt umgesetzten Standardsprache führen. Christen (2000: 256) spricht hier von einem dialektalisierenden Zugriff auf die Standardsprache. Werlen (1998: 33) zitiert folgendes Beispiel aus einem Interview der Sendung Menschen Technik Wissenschaft am Fernsehen DRS zum Thema Infektionen durch Fuchsbandwurm und nennt diese Sprechweise dialektal phonetisiertes Hochdeutsch. Glogger Her Gotschtäi mir hend gsee das jède dritti Fuchs infitsiert isch aber trotzdem nu so wenik Mendsche erchraŋchet hènd si en Erkchlèèrig für daas? Gottstein versuech mer maal di t Sitwatsioon das efekch’tiif gants vili Lüt i de Schwits sich infitsiere. infitsiere heist no nid gliichtsiitig erchraŋkche + u wè me das eso betrachtet mues me outomaatisch t Schlusfolgerig zie der möndsch isch ja warschiinlech ganz e schlächte Wirt für e Para’sit. aso mit andere Woorte är isch warschiinlech vo Grund uuf + rèsi’schtänt oder natüürlecrèsi’schtänt und e Teil vo der Bivölkcherig het e sogenanti kchonschtitutsio’nelli Rèsi’schtänts seit der Fachma wem e das soo aaluegt mues me de natüürlech t Fraag ander Schtelle wa’rum git s überhoupt Patsi’änte-n i der Schwiiz. Trotz der Dynamisierung des Varietätengebrauchs ist die Deutschschweizer Diglossie insgesamt aber nach wie vor relativ stabil geblieben. Diese Stabilität ist nicht zuletzt mit dem „Willen zur Diglossie“ der Sprecherinnen und Sprecher zu erklären (Petkova 2012: 137, s. Haas 2004) und ihrer stärkeren horizontalen Normorientierung an der Mehrheit der Sprecherinnen und Sprecher. Gesellschaftlich-ständische Unterschiede werden von der Elite nicht etwa durch Standardgebrauch markiert (s. dazu schon Schwarzenbach 1969: 109 f.), sondern durch Stratifizierungen innerhalb der Dialekte (Kap. 5.3.2). Für nicht-formelle, nicht-öffentliche Kommunikationssituationen bleibt die pragmatische Norm des Dialektgebrauchs rigide (Berthele 2004: 128). Neuere Untersuchungen zum Code-Switching und zur Code-Hybridisierung (Petkova 2016, Christen 2014) stellen zwar strukturelle Übergangsbereiche zwischen den Varietäten fest, dennoch besteht zwischen Dialekt und Standardsprache in der Deutschschweiz nach wie vor kein Kontinuum. Vielmehr kommt es zum „gefühlten“ Code-Wechsel, wenn es die Situation oder die Adressatenspezifik erfordert (Sieber 2001). 5.2.2 Merkmale des Schweizerhochdeutsch Die Deutschschweiz hat im deutschen Sprachraum nicht nur wegen ihrer spezifischen Diglossiesituation, sondern auch wegen ihrer Figurierung des Standards eine soziolinguistische Sonderstellung inne. Da ist im Anschluss an das vorangehende Kapitel das Code-Switching und Code-Mixing zu nennen, das den Gebrauch der Standardsprache in der Deutschschweiz charakterisiert. Überdies weist die Deutschschweizer Standardsprache auch strukturell eine Reihe von spezifischen Merkmalen auf und kann als Varietät des Standarddeutschen innerhalb Die Schweiz 213 <?page no="214"?> eines plurizentrischen Modells beschrieben werden. 17 Lexikographisch werden die als Helvetismen bekannten Varianten des Schweizerhochdeutschen (neben den Varianten der anderen Varietäten der deutschen Standardsprache) einerseits als Sammlungen von so genannten Besonderheiten der deutschen Standardsprache (Meyer 2006, Ebner 2009, Ammon et al. 2004, 2016) aufgezeichnet und sind andererseits als lexikographische Einträge mit regionaler Markierung bspw. im DUDEN Universalwörterbuch 2015 oder im Grossen Wörterbuch der deutschen Sprache (DUDEN 1999) sowie in Wörterbüchern für Deutsch als Fremdsprache belegt. Zahlreiche lexikalische Varianten des Schweizerhochdeutschen wie Majorz oder Volksinitiative gehen auf die schweizerische Form der Demokratie und des Parlamentarismus zurück (Löffler 1997, Haas 2000b: 102 f.). Morphologische Unterschiede sind teilweise durch ihre französischen und italienischen Entsprechungen zu erklären. So ist im Schweizerhochdeutschen das Suffix -ation ( Identifikation , Reservation ) häufiger als -ierung ( Identifizierung , Reservierung ), weil die Entsprechungen in den anderen lateinischen Landessprachen auf -ation bzw. -azione lauten (Löffler 1997: 1859). Haas (2000b und passim) unterscheidet lexikalische Helvetismen wie Falle (‚Klinke‘), parkieren (‚parken‘), Traktandenliste (‚Tagesordnung‘); semantische Helvetismen, wenn in der Schweiz eine spezifische Bedeutung eines im deutschen Sprachraum gebräuchlichen Worts auftritt, zum Beispiel Busse (‚Bussgeld‘), sowie Frequenzhelvetismen, wenn bestimmte Ausdrücke in der Schweiz besonders häufig vorkommen, zum Beispiel angriffig (‚draufgängerisch‘). Dieser Typologie hinzuzufügen sind die von Ammon (1995) als unspezifisch bezeichneten Varianten, die, im Gegensatz zu den spezifischen, nicht nur in der Schweiz, sondern auch in anderen Regionen des deutschen Sprachgebiets vorkommen. So ist allfällig (‚etwaig‘) sowohl in Österreich als auch in der Deutschschweiz gebräuchlich. Peperoni in der Bedeutung ‚längliche oder rundliche hohle Frucht der Paprikapflanze von gelber, roter oder grüner Farbe‘, in Deutschland Paprika oder Gemüsepaprika genannt, ist in der Schweiz und in Südtirol gebräuchlich. In der Bedeutung ‚Gewürzpulver aus der getrockneten Paprikaschote‘ ist Paprika hingegen gemeindeutsch. Zusätzlich liegt eine semantische Variante vor: Peperoni ist in Deutschland auch gebräuchlich, bezieht sich dort aber auf eine Chilischote - welche in der Deutschschweiz und Südtirol hinwieder Peperoncino und in Österreich Pfefferoni genannt wird (Ammon et al. 2016: 532). Dass eine Durchfahrt für Personen, die an der betreffenden Strasse wohnen, trotz generellem Fahrverbot erlaubt ist, wird in der Schweiz mit Anwohner gestattet ausgedrückt, in Deutschland mit Anlieger frei oder Anwohner frei und in Österreich mit ausgenommen Anrainer (Ammon et al. 2016: 40). Erst ansatzweise untersucht sind regionale und nationale Varianten von Phraseologismen, zum Beispiel der Helvetismus mit abgesägten Hosen dastehen ‚blossgestellt sein; den Kürzeren gezogen haben‘ (Schmidlin 2007). Ein Beispiel für eine syntaktische Variante des Schweizerhochdeutschen ist die Konstruktion kommt hinzu/ dazu am Satzanfang (ohne vorangestelltes es ) oder Ende Jahr wie zum Beispiel in folgendem Beleg: 17 Zur Diskussion, ob die Variation der deutschen Standardsprache mit einem plurizentrischen oder pluriarealen Modell zu erfassen sei, s. Elspaß/ Niehaus 2014, Scheuringer 1996, Schmidlin 2011. Aufgrund aktueller empirischer Befunde (Schmidlin 2011, Niehaus 2016, Kleiner 2015) trifft der Begriff nationale Varietät und damit das plurizentrische Beschreibungsmodell für das Schweizerhochdeutsche mit seinem kleinen Areal (im Vergleich zu den Standardvarietäten in Deutschland und Österreich, wo nationale Unterschiede von regionalen Unterschieden überlagert werden) u. E. eher zu. Löffler (1997) schätzt, dass die Deutschschweizer Standardsprache unter allen Standard-Varietäten des Deutschen das auffälligste Eigengepräge aufweist. 214 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="215"?> Viel Arbeit, wenig Ertrag: Landwirt Christian Kohler hat genug. Ende Jahr steigt er aus der Milchproduktion aus - als einer von jährlich rund 800 Milchbauern. (Schweizer Bauer, 19.8.2017) Analytische Formen der Verben liegen , sitzen , stehen , hängen werden im Schweizerhochdeutschen mit sein und nicht mit haben gebildet. 18 Eine orthographische Besonderheit des Schweizerhochdeutschen ist die orthographische Wiedergabe dialektal fallender Diphthonge in Personen- und Ortsnamen, zum Beispiel in Ruedi / ˈruəd̥i/ . Noch bekannter dürfte aber das Fehlen des Graphems <ß> sein. Für <ß> wird in der Schweiz konsequent <ss> geschrieben, mit Ausnahme von internationalen Buchverlagen. Seit den 1930er Jahren wird in den Schweizer Schulen das <ß> nicht mehr gelehrt. Die Neue Zürcher Zeitung war die letzte Deutschschweizer Tageszeitung, die das <ß> im Jahre 1974 abschaffte. Gallmann (1997) hält die oft genannten technischen Erklärungen (frühe Bevorzugung der Antiqua in der Schweiz, Platzmangel in der Schreibmaschinentastatur wegen französischer Akzentbuchstaben) für vorgeschobene Gründe, warum man in der Schweiz auf das <ß> verzichtet. Stattdessen führt er phonologische Gründe ins Feld: Die Schreibung mit Doppel-s nach Langvokal und Diphthong entspreche der Syllabierung in den schweizerdeutschen Dialekten bzw. in der schweizerisch gefärbten Standardsprache. Für die übrigen, bisher erwähnten Variationsebenen, auf denen sich Besonderheiten der Standardsprache in der Deutschschweiz zeigen, gilt, dass die Frequenz von lexikalischen, morphologischen und syntaktischen Helvetismen je nach Textsorte unterschiedlich ausfällt. Am geringsten ist die Variantendichte in literarischen Texten, mit Abstand gefolgt von Sachtexten und diese wiederum mit Abstand gefolgt von Illustrierten und Zeitschriften. Am höchsten ist die Variantendichte in Zeitungen. Festzuhalten gilt es, dass Varianten des Standarddeutschen im ganzen deutschen Sprachraum auch in Zeitungen gehobener Qualität und grosser Reichweite regelmässig vorkommen. Eine diachrone Analyse zeigt zudem, dass der Anteil an Helvetismen in untersuchten Texten, die zwischen 1950 und 2000 erschienen sind, mit einzelnen Schwankungen, generell konstant blieb (Schmidlin 2013). Die nationalen und regionalen Ausprägungen der deutschen Standardsprache auf der einen Seite und die Bereiche der Einheitlichkeit des Gemeindeutschen auf der anderen scheinen im Gleichgewicht zu sein. Dennoch ist bei den Sprecherinnen und Sprechern die fortbestehende Skepsis an der Standardsprachlichkeit von Helvetismen zu konstatieren (s. dazu Kap. 6.2). Am deutlichsten erkennbar ist das Schweizerhochdeutsche an der Aussprache und an seinen suprasegmentalen Eigenschaften. Als prototypisch schweizerisch wahrgenommen werden der apikale r- Laut, bestimmte Morphemgrenzen überschreitende Assimilationen wie Gopfried für ‚Gottfried‘, achstatt ich- Laute oder affrizierte k- Laute. Die letzteren beiden Merkmale werden allerdings von vielen Deutschschweizern selbst als nicht normgerecht empfunden. Nach wie vor charakteristisch für das Schweizerhochdeutsche dürfte aber auch bei professionellen Sprecherinnen und Sprechern eine im Vergleich zum Norddeutschen weniger staccatohaft wirkende Aussprache sein. Diese entsteht vor allem durch die Abwesenheit von Glottalstopps und Auslautverhärtung sowie durch grössere Intonationskurven (Stock 2000). Deutschschweizer zeigen zudem die Tendenz zur Erstsilbenbetonung (z. B. im Wort Labor ), zu nicht-reduzierten Endsilben (z. B. im Wort machen ), zu als stimmlose Lenes gesprochenen 18 Für aktuelle Befunde zur grammatischen Variation der deutschen Standardsprache s. www.variantengrammatik.net sowie Elspaß/ Kleiner (i. Druck). Die Schweiz 215 <?page no="216"?> Verschlusslauten (z. B. im Wort baden ) sowie generell zu einer stärker ausgeprägten Silbensprachlichkeit - im Gegensatz zu norddeutscher Akzentsprachlichkeit. Häufig ist zudem Vokallänge für sonst standarddeutsch übliche Vokalkürze in brachte , dachte sowie [i] für <y> in Ägypten. Nicht alle im laienlinguistischen Urteil stereotypisierten Aussprachebesonderheiten des Schweizerhochdeutschen, darunter die konsequente Realisierung von <ch> als [x], sind jedoch tatsächlich empirisch als frequent belegbar (Guntern i. Druck). Zudem realisieren viele Sprecherinnen und Sprecher das Hochdeutsche variabel: Beim situationsinduzierten Hochdeutsch-Gebrauch, wie er in schulischen Kontexten eingefordert wird, kommt dabei eine Aussprache ins Spiel, die in der Regel mehr typische Deutschschweizer Lautungen aufweist, als dies beim adressateninduzierten Hochdeutschgebrauch im Kontakt mit deutschländisch Sprechenden der Fall ist. Es gibt starke Indizien dafür, dass dann Loyalität, Angst vor sprachlicher Unterlegenheit resp. davor, ausgelacht zu werden, und der Wunsch, Selbstbewusstsein oder Kompetenzen zu demonstrieren, einen Einfluss auf die Aussprache des Hochdeutschen haben (Guntern i. Druck). Mit Ulbrich (2005), Hove (2002), Krech et al. (2010), Guntern (i. Druck) liegt zwar eine Reihe von deskriptiven Arbeiten zur Aussprache des Schweizerhochdeutschen vor. Eine orthoepische Norm des Schweizerhochdeutschen gibt es allerdings nicht. Hingegen werden die Moderatoren der öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsender mithilfe von Richtlinien der gesprochenen Mediensprache in der Deutschschweiz ausgebildet (Geiger et al. 2006), in denen die orthophonischen Besonderheiten des Schweizerhochdeutschen, die ein Grossteil des Publikums erwartet, berücksichtigt werden. Dennoch haben sich im letzten Jahrzehnt zunehmend Konvergenzen hin zu einer von manchen Sprecherinnen und Sprechern als „deutschländisch“ empfundenen Aussprache beobachten lassen. So ist am Radio SRF 2 die Aussprache des Hochdeutschen bei einigen Moderatoren nicht mehr immer als Schweizerhochdeutsch erkennbar (Werlen 2004) - auch dann, wenn diese einen Deutschschweizer Hintergrund haben. Offen ist, ob der Wandel der Aussprachepraxis ein supranationales Phänomen oder eine zunehmende Orientierung an der nord-/ mitteldeutschen Praxis ist (Herrgen 2015, Kleiner 2015). 5.3 Die schweizerdeutschen Dialekte 5.3.1 Dialektale Strukturen, dialektale Vielfalt Nieder-, Hoch- und Höchstalemannisch In der historisch orientierten Dialektologie werden die schweizerdeutschen Dialekte dem Alemannischen zugerechnet, zu dem auch die Dialekte im Elsass, in Südbaden, in der Bodensee-Region, in Liechtenstein und Vorarlberg gehören - einzig am früher ausschliesslich über das Tirol zugänglichen Schweizer Ort Samnaun wird ein bairischer Dialekt gesprochen. Die alemannischen Dialekte weisen die sog. Althochdeutsche Lautverschiebung auf, bei der die germanischen Plosive p ( Pfeife , vgl. engl. pipe ), t ( zehn , vgl. engl. ten ) und k ( machen , vgl. engl. make ) - anders als etwa im Englischen - je nach lautlicher Umgebung zu Affrikaten oder Frikativen modifiziert wurden. Das Alemannische grenzt sich von den anderen oberdeutschen Dialekten Schwäbisch, Bairisch und Fränkisch dadurch ab, dass die mittelhochdeutschen Diphthonge ie ( lieb ), uo ( gruoʒ ‚Gruss‘) und üe ( grüeʒen ‚grüssen‘) sowie die mittelhochdeutschen Langvokale î ( lîb ‚Leib‘), û ( hûs ‚Haus‘) und iu ( liut ‚Leute‘) erhalten geblieben sind oder es allenfalls zu Sonderentwicklungen gekommen ist. Ein sprachliches Merkmal, das die ale- 216 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="217"?> mannischen Dialekte der Deutschschweiz von jenen ihrer Nachbarländer abgrenzen würde, existiert nicht. Selbst die weitere Aufgliederung des Alemannischen in Nieder-, Hoch- und Höchstalemannisch hält sich an keine Staatsgrenzen. Das Niederalemannische, das den alten, unverschobenen k- Laut im Anlaut bewahrt hat ( Kind ), kommt vor allem jenseits der Schweizer Landesgrenze, aber auch in der Stadt Basel vor. Das Hochalemannische, das die Lautverschiebung von anlautendem / k/ zu / ch/ ( Chind ) oder - bei jüngeren Entlehnungen - zu / kch/ ( Kchultuur ‚Kultur‘) kennt, ist auch nördlich des Rheins greifbar. Das Höchstalemannische - massgebliches Kriterium ist die ausbleibende Diphthongierung der mhd. Langvokale î , û und iu in Hiatusstellung ( frî ‚frei‘, bû(w)en ‚bauen‘, niu ‚neu‘) - bleibt auf den alpinen Raum beschränkt. Nord/ Süd- und West/ Ost-Gegensätze Mit Hotzenköcherle (1961) kann von einer Reliktstaffelung mit einer nach Süden zunehmenden Zahl an Relikten ausgegangen werden, die zu einem deutlichen dialektalen Nord/ Süd-Gegensatz führen. Im Höchstalemannischen haben sich - vor allem im Wallis - gar Formen erhalten, die althochdeutschen Sprachstand reflektieren, so zum Beispiel die teilweise Aufrechterhaltung schwacher Verbklassen (s. Infinitivendungen heftn ‚heften‘ [ jan - Verb], salbu ‚salben‘ [ ôn -Verb], losä ‚losen‘ dt. ‚hören‘ [ ên -Verb]), ein dreiformiger Verbplural ( wir mache , ir machet , schi machunt ‚wir/ ihr/ sie machen/ macht‘), der Erhalt von Rückumlaut ( gsatzt ‚gesetzt‘), der Plural von starken Maskulina auf -a ( taga ‚Tage‘) oder die Beihaltung der Umlautlosigkeit ( uber ‚über‘, Schlussil ‚Schlüssel‘). Diese Formen sorgen mit dafür, dass die schweizerdeutschen Dialekte insgesamt für ‚altertümlich‘ gehalten werden. Freilich darf nicht übersehen werden, dass auch im Höchstalemannischen Neuerungen zu verzeichnen sind, deren Geltung allerdings auf ein kleines Areal beschränkt geblieben ist oder sich im Laufe der Zeit gar wieder vermindert hat. Hotzenköcherle (1961) bezeichnet diese Abweichungen vom mittelhochdeutschen Stand, die nicht Reliktstatus beanspruchen können, als Sonderformen. Dazu gehören u. a. die Sprossvokalbildung bei rn -Lautung ( gern > geren > ger(e) ) oder die Frikativierung von k in nk -Verbindungen und nachfolgender Entfaltung des sog. Staubschen Gesetzes mit Nasalschwund und Ersatzdehnung resp. Diphthongierung des vorangehenden Vokals ( trinken > trinche(n) > triiche(n) resp. treiche(n) ). Bei der Flexion des prädikativen Adjektivs ( si isch jungi ‚sie ist jung‘), die oft als Relikt genannt wird, handelt es sich um ein äusserst schwierig zu beurteilendes Phänomen, das im Althochdeutschen seinen Anfang nahm, und, allenfalls gestützt durch romanisches Substrat, in höchstalemannischen Dialekten ausgebaut wurde (Fleischer 2007). Neben den Nord/ Süd-Gegensätzen zeigen sich auch West/ Ost-Gegensätze, die sich auf verschiedenen linguistischen Beschreibungsebenen manifestieren, lautlich vornehmlich an der Vokalqualität des Primärumlauts (geschlossene Qualität im Osten, offene Qualität im Westen) und morphologisch am Gegensatz von zweiformigem Verbalplural im Westen gegenüber einformigem Verbalplural im Osten illustriert ( mir mache , [d]ir machet , si mache vs. mir/ ir/ si mached ). Aber auch im Bereich der Syntax zeigen sich einige West/ Ost-Unterschiede, bspw. bei der Serialisierung von Personalpronomen in Sätzen wie ‚hast du’s gern‘ ( du-es im Westen, es-du im Osten) oder bei der Serialisierung der Verbalteile des Perfekts in Nebensätzen ( ha gmacht im Westen, gmacht ha ‚habe gemacht‘ im Osten). Neueste Untersuchungen zur syntaktischen Raumbildung bestätigen in einigen Fällen die West/ Ost-Struktur ebenfalls (z. B. Die Schweiz 217 <?page no="218"?> Finalsatzanschlüsse mit dem westlichen Typ für…z [ für es Billet z löse ] und einem östliche Typ zum… (z) [ zum es Billet (z) löse ] ‚um eine Fahrkarte zu lösen‘) (Glaser 2014). Relikte und Neuerungen Über die bereits erwähnten Eigenheiten hinaus seien noch einige Merkmale angeführt, die sowohl die Relikthaftigkeit als auch die Neuerungsfreudigkeit schweizerdeutscher Dialekte illustrieren mögen. Was die Relikthaftigkeit betrifft, ist die Bewahrung von Kurzvokal in offener Silbe (z. B. in Schtube ‚Stube‘) zu erwähnen, die bis auf die Nordwestschweiz und vereinzelt im alpinen Raum fast flächendeckend anzutreffen ist. In einem kleinen höchstalemannischen Gebiet ist selbst die Einsilberdehnung vor Leniskonsonanten ausgeblieben (z. B. [tak] ‚Tag‘ in Obwalden vs. [ta: k] im Hochalemannischen). Die Bewahrung von Vollvokalen in Nebentonsilben ist im Höchstalemannischen ausgeprägt und zeigt sich in verschiedenen Vokalqualitäten ( Schtuba ‚Stube‘ [Freiburg], schi machunt ‚sie machen‘ [Wallis]); im Hochalemannischen ist nebst Schwa bloss -i im Nebenton vertreten ( grossi Fraue ‚grosse Frauen‘). Der Reliktcharakter zeigt sich auch bei der teilweise noch greifbaren Genus-Sensitivität der Zahlwörter zwei und drei (z. B. zwee Manne , zwoo Fraue , zwäi Chind ‚zwei Männer, Frauen, Kinder‘, Zürichdeutsch). Als neuere Entwicklung können die Kasussynkretismen gelten, die im Vergleich zum Mittelhochdeutschen zahlreicher geworden sind. So werden bei maskulinen Artikelwörtern die beiden Kasus Akkusativ und Nominativ nicht auseinander gehalten, sondern in den verschiedenen Dialekten entweder durch die frühere Nominativ- oder die frühere Akkusativform realisiert ( de Maa ‚der/ den Mann‘, dr Maa ‚der/ den Mann‘; mi Maa ‚mein/ meinen Mann‘, mine Maa ‚mein/ meinen Mann‘). Der Kasussynkretismus, der bei den Personalpronomen der 1. und 2. Person Plural schon seit mittelhochdeutscher Zeit zum Zusammenfall von Akkusativ und Dativ geführt hat ( uns , euch Akkusativ = Dativ), hat sich in einem westlichen höchstalemannischen Areal im Kanton Freiburg auf die 1. und 2. Person Singular ausgeweitet, wo die ehemalige Dativform ( mir, dir ) den einzig verbliebenen Kasus obliquus kodiert. Als neuere Erscheinung kann auch der Ersatz flektierender Relativpronomen durch die Relativpartikel wo betrachtet werden. Apokopierungen und Synkopierungen, die im Laufe der Sprachgeschichte des Deutschen eine massgebliche Rolle gespielt haben, konnten sich in den schweizerdeutschen Dialekten noch weiter entfalten ( lache ‚lachen‘, glachet ‚gelacht‘; mit zusätzlicher Assimilation des Präfixes gan den Lenisplosiv des Wortstammes: tänkt ‚gedacht‘). Bemerkenswert ist ausserdem die Entwicklung von freien Artikelwörtern zu Pro- und Enklisen ( d Frau [assimiliert zu Pfrau ], ir Chilche ‚in der Kirche‘, Bern) (Nübling 1992). Die erwähnten Entwicklungen sind jedoch nicht bei allen alemannischen Dialekten der Deutschschweiz gleichermassen festzustellen: Im Höchstalemannischen etwa haben sich Apokopierungen, Synkopierungen und Klitisierungen zum Teil weniger entfaltet (z. B. lachen im südlichen Kanton Bern; gideicht ‚gedacht‘, di fröi ‚die Frau‘ im Wallis). Ausserdem sind diese Entwicklungen nicht auf die Deutschschweiz beschränkt, sondern auch in anderen Dialekten zu beobachten. Die allfällige Besonderheit Deutschschweizer Dialekte verdankt sich also nicht einzelnen Merkmalsausprägungen, sondern der spezifischen Kookkurrenz dialektaler Varianten. Für die unterschiedlichen Ausprägungen der Dialekte wurden und werden Gegebenheiten unterschiedlicher historischer Tiefe geltend gemacht. So wird die grundlegende Raumstruktur des Schweizerdeutschen u. a. mit den alemannischen Besiedlungsschüben in einen erklärenden Zusammenhang gebracht. Die Unzugänglichkeit der alpinen und voralpinen Regionen 218 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="219"?> sorgte für eine späte Besiedelung und sowohl für die Bewahrung sprachlicher Relikte als auch für Sonderformen, die sich nicht bis ins Mittelland haben ausbreiten können. Ausserdem sieht Hotzenköcherle (1986) in den dialektalen Verhältnissen Reflexe der territorialen Gegebenheiten der Alten Eidgenossenschaft, wie sie bis Ende des 18. Jahrhunderts bestanden. Diese Territorialgeschichte macht dialektologisch laut Hotzenköcherle (1986: 56) „nicht nur den Gegensatz zwischen Zürich und Bern verständlich, sondern auch den zwischen einem relativ großflächigen Westen und einem oft aufgesplitterten Osten“. Auch der Kantonsstruktur wird Relevanz für die dialektale Raumbildung zugeschrieben: Nicht nur werden die Dialekte im Alltag gemeinhin nach Kantonen eingeteilt, sondern dialektometrisch erhobene Isoglossenbündel „fallen sehr oft mit Kantonsgrenzen zusammen und befinden sich meistens am westlichen, südlichen und östlichen Rand des SDS-Gebietes“ (Goebl 2012-2013). In neueren Untersuchungen deutet sich an, dass die Kantonsterritorien selbst bei aktuellem Dialektwandel eine Rolle spielen und Neuerungen an den Kantonsgrenzen halt machen (Haas 1999, Leemann et al. 2014). Diese Befunde sind Indizien dafür, dass die politischen Räume - in der bestens erschlossenen Schweiz - nicht als faktische Verkehrs- und Kommunikationsräume für die Herausbildung von Dialekträumen sorgen, sondern als mentale Räume, die durch die Vorstellungen von gesellschaftlich relevanten Räumen und Grenzen geprägt sind und sprachlich wirksam werden (Auer 2004, Schiesser 2018). Die Ausführungen sollten deutlich gemacht haben, dass ein einheitliches Schweizerdeutsch nicht existiert. Schweizerdeutsch ist vielmehr eine Sammelbezeichnung für verschiedene dialektale Ausprägungen und verfügt als Oberbegriff - aus der Sicht der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer selbst - nicht über eine Gestalt im psychologischen Sinne. Diesen Status beanspruchen eher die Kantonsmundarten, was zum Beispiel durch entsprechende Hinweise schon im Allgemeinen Signalement-Buch für die Schweizerische Eidgenossenschaft (Bern 1809-1848, zit. nach Furrer 2002: 275) evident wird: Eine Angabe wie „redet Luzernerisch“ trägt nur dann zu „Beschreibungen und Warnungen von verdächtigen Individuen“ bei, wenn von einer konkreten Vorstellung von „Luzernerisch“ ausgegangen werden kann. Die dialektale Alltagsorientierung scheint von einem „Gesamteindruck“ (Schwarzenbach 1969: 100) oder aber von einzelnen Merkmalen auszugehen, die man als typisch für einen Kanton hält und die sowohl die segmentale als auch die suprasegmentale Ebene betreffen können (Schwarzenbach 1969: 101, Leemann/ Siebenhaar 2008). Die oftmals kontinuierlichen dialektalen Übergänge sprechen nicht gegen Kantonsmundarten, wenn man sich diese als radiale Kategorien mit einem Kern und einer Peripherie denkt. 5.3.2 Dialekt und Diglossie Die Diglossie-Situation schweizerischen Zuschnitts, bei der mündlich meistens im Dialekt kommuniziert wird (s. Weiteres zur Diglossie Kap. 5.2.1), zeichnet sich aufgrund eines fehlenden „Gemeinschweizerdeutschen“ dadurch aus, dass jeder und jede mit anderen Deutschschweizern seinen oder ihren angestammten Dialekt spricht. Dies führt in einer mobilen Welt zwangsläufig zu einem „polydialektalen Dialog“ (Ammon 1995) zwischen Verschiedendialektalen, für dessen Gelingen eine „passive Polydialektalität“ (Glaser 2014: 52) unabdingbar ist. Voraussetzungen für eine passive Polydialektalität sind einerseits die gesellschaftliche Erwünschtheit dialektaler Variation und die damit verbundenen positiven Einstellungen gegenüber dem Phänomen Dialekt, andererseits die strukturelle Ähnlichkeit der Dialekte. Die Schweiz 219 <?page no="220"?> Dem Verstehen anderer Dialekte ist zudem die Routine förderlich, die sich aus der Praxis des polydialektalen Dialogs und der Rezeption verschiedener Dialekte durch die elektronischen Medien zwangsläufig ergibt. Die die Diglossie konstituierenden Varietäten Dialekt und Standardsprache sind bipolar wie zwei Sprachen organisiert, und in beiden Varietäten kommt - als Folge ihrer Polyfunktionalität - Registervariation vor (Haas 2004), d. h. die Sprecherinnen und Sprecher schneiden ihre Sprechweisen - seien sie dialektal oder allenfalls hochdeutsch - auf die Bedürfnisse der situativen Gegebenheiten zu. „Umgangssprache“ - formal als Bereich ‚zwischen‘ Dialekt und Hochdeutsch aufgefasst - existiert somit nicht, „Umgangssprache“ im Sinne eines informellen Stils zeigt sich dagegen als ein Ausschnitt aus dem intradialektalen Variationsspektrum (s. Titel einer Gedichtsammlung von Kurt Marti (1967): „Rosa Loui - vierzg gedicht ir bärner umgangsschprach“). Die dialektalen Register sind - vor allem auch aus der Sprecherperspektive - also gerade nicht als Kontinuum, aufgespannt zwischen den Polen Basisdialekt und Hochsprache, zu modellieren. Auch wenn dem Hochdeutschen eine wichtige Rolle vor allem als Spender neuer oder adäquater lexikalischer Einheiten zukommt, so ist es nur ein Bezugspunkt für die intrapersonale Register-Variation. Auf dem ‚Variantenmarkt‘, der für situative Bedürfnisse genutzt werden kann, stehen auch die Varianten der jeweils anderen Deutschschweizer Dialekte zur Disposition. In Christen (2009b) wird vorgeschlagen, zwei Dimensionen der intrapersonalen Dialektvariation zumindest analytisch auseinanderzuhalten: eine vertikale Dimension, die das stilistische Variationsspektrum betrifft, und eine horizontale Dimension, die die Ausrichtung auf andersdialektale Sprecherinnen und Sprecher betrifft. Die vertikale Dimension - so hat bspw. das Basler Stadtsprachen-Projekt erbracht - entfaltet sich vor allem in Unterschieden auf der lexikalischen, syntaktischen und thematischen Ebene (Hofer 1997). Dies kann bemerkenswerte indirekte lautliche und morphologische Folgeerscheinungen zeitigen: Da themenabhängig lexikalische Entlehnungen aus der Standardsprache notwendig werden und die formale Integration in den Dialekt suboptimal bleiben kann, entstehen teilweise neue Standard/ Dialekt-Entsprechungsklassen. So kann dialektales [tœif] ‚tief ‘ (zu altoberdeutsch io ) neben [tiəfgfry: rə] ‚tieffrieren‘ stehen. Der ‚neue‘ Diphthong [iə] in ‚tief ‘ verdankt sich einer Umsetzungsregel, wonach geschriebenem, standardsprachlichem <ie> (<Liebe>) dialektales [iə] ([liəbi]) entspricht (zu Standard/ Dialekt-Interferenzen s. Oglesby 1992). Auch komplexer syntaktischer Stil, wie er für konzeptionell schriftlichen Dialekt typisch ist, hat strukturelle Auswirkungen: Das Bedürfnis nach bspw. konzessiven Konjunktionen wie obwohl oder obschon , die problemlos dialektal lautiert werden können, führt zu deren Integration in das dialektale Lexikon. Solche Lexeme werden allerdings aus normativer dialektpflegerischer Warte als (zu) hochdeutsch beurteilt. Sie sind jedoch der Preis, der für einen „Ausbaudialekt“ 19 (Kloss 1976) zu zahlen ist, der alle stilistischen Bedürfnisse seiner Sprecherinnen und Sprecher zu erfüllen vermag. Was sich als Standardannäherung zeigt, ist bei genauem Besehen die Übernahme stilistischer Eigenheiten, wie sie sich in der Standardsprache eingespielt haben (z. B. Funktionsverbgefüge wie in Erwägung ziehen ) und die dann dergestalt in den Dialekt eingebaut werden ( i(n) erwäägig zie ), dass ausreichend formale Indizien für die Zuweisung zu 19 Der „Ausbaudialekt“ (Kloss 1976) ist „nicht eine feste Form“, sondern „eine Technik“, die es erlaubt, den hochdeutschen Wortschatz auch im Dialekt „zu bewirtschaften“ (Haas 2004: 102). 220 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="221"?> einer der beiden Sprachformen vorhanden sind. Tatsächlich gefährden weder die Zuweisung der Lexeme zu neuen lautlichen Entsprechungsklassen noch die Integration neuer Lexeme die formale Trennung von Dialekt und Standardsprache - die Sprecherinnen und Sprecher wissen in aller Regel verlässlich, welche Sprachform sie produzieren oder perzipieren (s. Hove 2008 zum formalen Auseinanderhalten von Dialekt und Hochdeutsch). Was die horizontale intrapersonale Variation betrifft, so ist die Anpassung an Andersdialektale auch ein Alltagsthema: Es gibt Sprecherinnen und Sprecher, von denen gesagt wird, dass sie trotz vielfältigen Dialektkontakten und/ oder trotz Daueraufenthalt in einer andersdialektalen Region bei ihrem angestammten Dialekt bleiben würden. Bei anderen dagegen glaubt man, eine schnelle und/ oder auf Dauer angelegte Anpassung feststellen zu können. Es gibt erstaunlich wenig empirische Forschung zu diesem Thema, was sowohl wissenschaftsideologische als auch praktische Gründe haben dürfte. Die auf sesshafte Sprecher mit kleinräumigem Kommunikationsradius ausgerichtete traditionelle Dialektologie befasste sich mit dem Sprachgebrauch von Idealsprecherinnen und Idealsprechern, bei denen das Fehlen von Akkommodationserscheinungen gerade vorausgesetzt wurde (Britain 2016). Akkommodierendes Dialektverhalten in wechselnden Konstellationen erweist sich als Herausforderung, wenn dessen (z. B. psychologische) Steuerungsfaktoren erfasst werden sollen. Eine Ausnahme bilden aber Untersuchungen, die sich mit Sprecherinnen und Sprechern aus dem Wallis auseinandersetzen (Schnidrig 1986, Werlen 2006). Diese Untersuchungen bestätigen, dass sich nicht alle in einem heimischen Umfeld bei punktuellen Begegnungen an Andersdialektale ausrichten (sog. short term accommodation , Trudgill 1986) und dass sich nicht alle dialektalen Emigrantinnen und Emigranten langfristig gleichermassen von ihrem angestammten Dialekt entfernen (sog. long term accommodation , Trudgill 1986). Die in diesen Studien fassbare dialektale short- oder long term accommodation äussert sich dabei nicht zwingend in der Übernahme von Varianten des andersdialektalen Gegenübers oder der neuen Lebensumgebung, sondern ebenso in der Wahl von grossräumig gültigen Deutschschweizer Varianten. Neueste experimentalphonetische Untersuchungen erhärten zudem die Annahme, dass es kurzfristige Anpassungen an andere Dialekte geben kann, dass aber der Ausgangsdialekt - und damit wohl seine sozialpsychologischen Zuschreibungen - eine Rolle spielt, ob man dies tut oder nicht (Ruch 2015). Wie man im deutsch-schweizerischen und deutsch-österreichischen Grenzraum miteinander kommuniziert, ist nicht erforscht. Es kann aber wohl davon ausgegangen werden, dass die Einheimischen diesseits und jenseits der politischen Grenzen bei Alltagsbegegnungen auf dem Markt oder auf dem Tennisplatz jene Varietät wählen, die sie auch ‚unter sich‘ gebrauchen. Bei der Begegnung mit Unbekannten, die erkennbar eine deutschländische Varietät sprechen, wird - so hat eine Untersuchung des Polizeinotrufs erbracht (Christen et al. 2010) - , mehrheitlich ins Hochdeutsche gewechselt, und dies selbst dann, wenn die Sprachform der adressierten Person eine regionale Prägung hat. Dieses sprachliche Verhalten birgt in pragmatischer Hinsicht ein beträchtliches Konfliktpotential: Mit dem Wechsel ins Hochdeutsche ist zwar die Verständigung gesichert, er macht aber gleichzeitig evident, dass die so Adressierten nicht als zur Deutschschweizer in group zugehörig betrachtet werden - was der Befindlichkeit für einen Teil der bundesdeutschen oder österreichischen Wohnbevölkerung durchaus abträglich sein kann (Koller 1992). Dass auch die Deutschschweizer Sprecherinnen und Sprecher selbst verunsichert sind, zeigen (wiederkehrende) Anfragen auf medialen Ratgeberseiten: Die Schweiz 221 <?page no="222"?> Lebenshilfe. Einer meiner Arbeitskollegen stammt aus Deutschland. Wenn ich mit ihm spreche, verfalle ich immer automatisch ins Hochdeutsche, obwohl ich mir dann immer etwas eigenartig vorkomme und mich mit meinem schweizerdeutschen Akzent minderwertig fühle. Er hat mir auch schon gesagt, dass ich Schweizerdeutsch mit ihm sprechen solle, er verstehe es sehr gut. Bin ich zu ‚unterwürfig‘? Müsste sich eher der Deutsche anpassen? (Luzerner Zeitung 28.5.2018: 15) 5.4 Sprachkontakt zwischen Deutschsprachigen und Anderssprachigen Das Territorialitätsprinzip (vgl. Kap. 4.2) führt zu Gebieten mit starker Dominanz der betreffenden Sprache. Das langjährige Nebeneinander der Landessprachen bringt aber auch konstanten Sprachkontakt mit sich, der in den Sprachsystemen seine Spuren hinterlassen hat. Deutsch bzw. Schweizerdeutsch und Französisch, Deutsch bzw. Schweizerdeutsch und Italienisch, Deutsch bzw. Schweizerdeutsch und Rätoromanisch sowie Standarddeutsch und Schweizerdeutsch wirken durch den Sprachkontakt wechselseitig aufeinander ein. In den folgenden Abschnitten wird der Kontakt in der Schweiz zwischen Deutsch bzw. den schweizerdeutschen Mundarten mit den anderen Sprachen beschrieben. 5.4.1 Deutsch und Französisch im Kontakt Der Einfluss des Französischen auf die deutschen Varietäten in der Schweiz hat eine lange Tradition. Er hat sich in zahlreichen Helvetismen im Schweizerhochdeutschen niedergeschlagen: Velo , Billett , der Franken (Schweizer Währung), der/ das Perron (‚Bahnsteig‘), das Trottinett (‚Tretroller‘), merci (‚danke‘), Pneu (‚Reifen‘) (Ammon et al. 2016), reparieren (‚flicken‘), blockieren (‚unterbinden‘), kalkulieren (‚berechnen‘), rar (‚selten‘) (Schmidlin/ Franceschini i. Druck). Geringer ist der Einfluss des Deutschen auf das Französische, Beispiele dafür sind hydrant , witz , zwieback , attendre sur quelqu’un (statt à quelqu’un ), poutser (von putzen ), jubilaire (von Jubilar ) (Thibault/ Knecht 1997, Knecht 2000: 169, Schmidlin/ Franceschini i. Druck). Es gibt unterschiedliche Einschätzungen darüber, wie der interaktive Sprachkontakt zwischen Deutschschweizern und Romands abläuft. Eine Befragung von Rekruten im Jahre 1985 ergab, dass 63,5 Prozent der befragten Romands die Aussage „Les Suisses allemands parlent toujours leur dialecte, également avec des gens d’une autre langue“ mit „plutôt juste“, 36,5 Prozent mit „plutôt fausse“ bewerteten (Schläpfer et al. 1991, s. Christen 2017: 90). Ob und inwiefern sich diese Einstellungsgrössen gewandelt haben, ist nicht bekannt. Hingegen formulieren vor allem Zugewanderte aus den deutschsprachigen Nachbarländern, dass die Deutschschweizer gegenüber Allochthonen immer Hochdeutsch wählen würden, wodurch sie sich ausgeschlossen fühlten (Christen 2017, Koller 1992). Das tatsächliche Verhalten dürfte je nach Ort des Sprachkontakts zwischen Romands und Deutschschweizern sehr verschieden ausfallen. 20 Empirische Studien dazu liegen keine vor. Über die deutsch-französische Sprachgrenze hinweg schwindet die Interaktion mit Personen der anderssprachigen Landesteile mit zunehmender geografischer Distanz. 15 Prozent von 14.174 im Februar 2016 befragten Personen gaben an, die Sprachgrenze noch nie überschritten zu haben, und ein Drittel der Romands und zwei Drittel der Deutschschweizer reisen weniger als ein Mal pro Jahr in die andere Sprachregion (Forschungsstelle Sotomo 2016). 20 Für den Sprachkontakt in asymmetrisch zweisprachigen Freiburger Gemeinden s. Veillette 2017. 222 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="223"?> 5.4.2 Deutsch und Italienisch im Kontakt Deutschschweizer können sich im Sprachkontakt mit Tessinern in der Regel auf deren Deutschkenntnisse verlassen. Die Motivation der Tessiner, gut Deutsch zu sprechen, ist aufgrund der Beziehungen zur Deutschschweiz in Wirtschaft und Hochschulbildung oft hoch. 10,7 Prozent der Wohnbevölkerung des italienischsprachigen Kantons Tessin geben Deutsch als ihre Erstsprache an. 21 Bei vielen davon dürfte es sich um Deutschschweizer handeln, die aufgrund des angenehmen Klimas ihren Alterssitz ins Tessin verlegt haben. Das Tessin ist eine Tourismusregion. Seit der Eröffnung des Neat-Basistunnels am Gotthard im Jahre 2016, der noch schnellere Zugverbindungen für Reisende aus Regionen nördlich der Alpen ermöglicht, haben die Logiernächte stark zugenommen. Jährlich halten sich im Tessin über 20 Millionen Touristen auf, davon 58 Prozent mit Übernachtung(en). Im Jahr 2017 verbrachten 741.088 Schweizer Touristen durchschnittlich 2,1 Tage im Tessin, 88.475 Deutsche blieben 2,6 Tage und 8.473 Österreicher 2,2 Tage. Als einziger Kanton führt das Tessin in der Primarschule Deutsch und Französisch vor Englisch ein. Anfang der 1990er Jahre schlossen fast 50 Prozent der Tessiner Studierenden ihr Studium in Zürich ab (Niederhauser 1997: 1845). Mittlerweile gibt es mit der Università della Svizzera Italiana (gegründet 1995) sowie mit der Scuola Professionale delle Svizzera Italiana (gegründet 1997) für manche Studienfächer eigene Hochschulen. Während Niederhauser (1997) einen Anteil von 50 Prozent der Tessiner Maturanden nannte, die für ihr Studium in die Deutschschweiz gehen, nennt Zimmermann (2017) noch einen Anteil von 40 Prozent. Für den Einfluss des Deutschen auf das Tessiner Italienisch nennt Lurati (2000: 188 f.) folgende Beispiele: tippare (‚auf einer Kasse tippen‘), il formato (‚das Format‘ - im Sinne einer persönlichen Eigenschaft, sonst im Italienischen statura oder stoffa ), costellatione (Zusammenspiel verschiedener Umstände). Ferner zu nennen sind rolladen (im Italienischen sonst tapparella ), mosto ( succo di mela ) . 22 Manche Helvetismen im Tessiner Italienischen - dasselbe trifft auch auf Helvetismen im Schweizer Französisch zu - entstammen dem administrativen Viersprachen-Parallelismus: magistrato (dt. Magistrat - frz./ rom. magistrat ), lista delle trattande (dt. Traktandenliste , frz. liste des tractandes , rom. glista de tractandas ), weitere Beispiele s. Lurati (2000: 190), andere entstammen den (lombardischen) Dialekten. Für das italienischsprachige Puschlav im Kanton Graubünden sind als Folge des Sprachkontakts dialektale Germanismen wie zum Beispiel sci’nora ( schnure ‚schwatzen‘), vindiaca (‚Windjacke‘), sciufla ( Schufle ‚Schaufel‘) belegt (Pedretti 2000: 290). Zum Sprachkontakt Deutsch-Italienisch kommt es nicht nur aufgrund der Binnenmigration (Lüdi et al. 1994), sondern auch durch die Immigration aus Italien seit den 1950er Jahren (Schmidlin/ Franceschini i. Druck). Noch bis in die 1990er Jahre war Italienisch die am meisten verbreitete Immigrantensprache. Im Baugewerbe wurde Italienisch teilweise als lingua franca benutzt (Berruto 1991, Schmid 1995). Italienische Ausdrücke werden in informellen Gesprächen unter Deutschsprachigen verwendet ( ciao! ), sind aber auch als Helvetismen in die Standardsprache eingegangen: Pasta (‚Teigwaren‘, ‚Nudeln‘), Secondo / Seconda (‚Einwanderersohn‘/ ‘Einwanderertochter‘). Ein Elternverein für Menschen mit Behinderung heisst Insieme (ital. ‚gemeinsam‘); der Name einer Bäckereikette ist Panissimo , mit dem produktiven Suffix 21 https: / / www.bfs.admin.ch/ bfs/ de/ home/ statistiken/ regionalstatistik/ regionale-portraets-kennzahlen/ kantone/ tessin.html. 22 Weiterführend Moretti (2004), Savoia/ Vitale (2008), Berruto/ Burger (1987). Die Schweiz 223 <?page no="224"?> -issimo ; produktiv ist auch -eria , so etwa in Ticketeria als Bezeichnung von (Fahr)kartenschaltern (Blass 2012, Franceschini 2002). 5.4.3 Deutsch und Rätoromanisch im Kontakt Rätoromanisch (Bünderromanisch, Romanisch, Rumantsch) steht seit jeher in intensivem Sprachkontakt mit dem Deutschen und Italienischen, dies sowohl im Sinne der institutionellen sozialen Mehrsprachigkeit als auch im Sinne der individuellen Zweisprachigkeit. Alle Bündnerromanen sind zweisprachig. Deutsch und Romanisch stehen aber auch in Konkurrenz zueinander. Das Fehlen städtischer romanischer Zentren, die Abwanderung aus den Berggemeinden und die Überdachung durch die deutsche Sprache führten dazu, dass das Romanische kein zusammenhängendes Sprachgebiet mehr darstellt und insgesamt im Schwund begriffen ist (Furer 2005, Schmidlin/ Franceschini i. Druck). Der Zurückdrängung des Rätoromanischen durch das Deutsche versucht man seit 2006 mit dem Sprachgesetz des Kantons Graubünden entgegenzuwirken. 23 Rätoromanisch ist ausgesprochen entlehnungsfreudig (Willi/ Solèr 1990). Viele deutsche Lexeme werden für den Sprachausbau verwendet. Zahlreiche Bezeichnungen für technische und kulturelle Neuerungen werden aus dem Deutschen übernommen: festnetz , far il skypen (Grünert 2011). 5.4.4 Sprachkontakt mit Deutsch aus Deutschland Im Jahre 2016 hielten sich 315.535 deutsche Staatsbürger permanent in der Schweiz auf, die meisten davon in städtischen Kernräumen in der Deutschschweiz, besonders im Raum Zürich und in der Nordwestschweiz. Der Kontakt zu deutschen Staatsbürgern erhöht den adressateninduzierten Hochdeutschgebrauch seitens der Deutschschweizer, wobei individuelle Personenkonstellationen zu unterschiedlichem Varietätengebrauch führen. Die meisten Deutschen in der Schweiz gehen auch nach längerem Aufenthalt in ihrem eigenen Sprachgebrauch nicht zu einem Dialekt über, selbst wenn sie die meisten Schweizer Dialekte problemlos verstehen dürften. Untersuchungen darüber liegen keine vor. 24 Die deutschschweizerisch-deutsche Grenze ist keine Sprachgrenze, wohl aber eine sprachpragmatische Grenze. Es trifft auf Schweizer Seite die Diglossie auf eine Sprachsituation auf deutscher Seite, die als Mundart-Dialekt-Kontinuum bezeichnet werden kann. Wenn ein Deutschschweizer Sprecher in Basel am deutschen Bahnhof (Badischer Bahnhof) 25 seine Fahrkarte kauft, tut er dies, da er in seinem Repertoire keine regionale Ausgleichsmundart hat und 23 Wenn mindestens 40 Prozent der Bevölkerung einer bestimmten Gemeinde primär der romanischen Sprachgemeinschaft zugeordnet werden kann, gilt diese Gemeinde als romanisch, mit den entsprechenden Konsequenzen für die schulische Unterrichtssprache und die Kommunikation mit den Behörden. Bei bis zu 20 Prozent Romanischsprachigen gilt die Gemeinde als zweisprachig, entsprechend werden Romanisch und Deutsch als Unterrichtssprachen angewendet. Sinkt der Anteil der angestammten Romanischsprachigen unter 10 Prozent, ist die Schulsprache Deutsch. Jedenfalls wachsen die bündnerromanischen Kinder zweisprachig romanisch-deutsch auf (Grünert et al. 2008: 387 ff., Coray 2009, Solèr 1997: 1880, Solèr 1998: 152). 24 Weiterführend zum deutsch-deutschschweizerischen Varietätenkontakt Koller 1992, Werlen 1998. 25 Die schweizerische Stadt Basel, beim deutsch-französisch-schweizerischen Dreiländereck gelegen, hat einen schweizerischen, französischen und deutschen Bahnhof. 224 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="225"?> sich auf deutschem Territorium befindet, unter Umständen auf Hochdeutsch, obwohl ihn die Schalterbeamtin (aus dem alemannischen Raum) problemlos verstünde. Als weiteres deutschschweizerisch-deutsches Kontaktphänomen kann die Rezeption deutscher Oralisierungsnormen (Herrgen 2015) über die Medien betrachtet werden. Deutschschweizer sind also sowohl mit dem Schweizerhochdeutschen als auch mit „deutschländischem“ Hochdeutsch vertraut und können die Unterschiede oft sehr genau benennen (Guntern i. Druck). Manche Deutschschweizer Sprecherinnen und Sprecher versuchen, beim Hochddeutschsprechen wie eine Person aus Deutschland zu tönen und Helvetismen zu vermeiden - mehr dazu in den Kap. 5.2.2 und 6.2. Ähnlich kann man beobachten, dass einige Schreiberinnen und Schreiber in ihrem hochdeutschen Schriftverkehr, wenn dieser informell wirken soll, Merkmale einer deutschen Umgangssprache verwenden. Das zeigt sich zum Beispiel in Klitisierungen: nen (einen), son (so ein). 5.4.5 Deutsch und Nicht-Landessprachen im Kontakt Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine starke Zuwanderung aus Italien und der iberischen Halbinsel. In den 1990er Jahren kamen Einwanderer aus Ex-Jugoslawien und der Türkei dazu. Betrug der Ausländeranteil 1980 14,5 Prozent, so stieg er 1990 auf 18,1 Prozent und bis 2015 auf einen Viertel der Bevölkerung (24,6 %). Der sprachliche Assimilationsdruck auf Einwandererfamilien ist in den französisch- und italienischsprachigen Regionen deutlich höher als in der Deutschschweiz (Schmidlin/ Franceschini i. Druck). Franceschini (2011) zeigt, dass in fremdsprachigen Familien in der Deutschschweiz die deutsche Sprache weniger Einzug hält, als dies in der Romandie das Französische tut. Seit 2003 ist die Schweiz Teil des Schengen-Raums. Durch die Globalisierung und die Personenfreizügigkeit hat die Bedeutung des Englischen am Arbeitsplatz zugenommen. In manchen internationalen Firmen wird Englisch, auch wegen der englischen Fachsprachlichkeit in vielen beruflichen Bereichen, als Verkehrssprache benutzt (Andres/ Watts 1993, Dürmüller 2002). Aber auch in solchen Betrieben werden die Landessprachen weiterhin verwendet (Lüdi et al. 2013). Der starke Status des Englischen als Weltsprache, dessen Präsenz in der Musik, der Werbung und in Filmen schlägt sich auch im Deutschschweizer Alltag nieder. Dies zeigt sich in Entlehnungen in der Deutschschweizer Jugendsprache ( nice , fail , omg [ oh my god ], what the fuck , easy , dude , sick , chill , safe , bro(ther)). Diese wird jedoch auch durch sekundäre Ethnolekte charakterisiert (Tissot et al. 2011), in den Medien zuweilen Jugodeutsch oder Balkan-Slang genannt. Ebenfalls ein eher jugendsprachliches und schon älteres Phänomen ist italienisch-schweizerdeutsches Code-Switching der zweiten Generation italienischer Einwanderer (Franceschini 1998). 6 Einstellungen Der Frage, welche Einstellungen Deutschschweizer gegenüber dem Dialekt und der Standardsprache hegen, ist die Frage vorgelagert, wie die beiden Varietäten von Laien im Verhältnis zueinander überhaupt konzeptualisiert werden. 26 Sehen die Sprecherinnen und Sprecher die schweizerdeutschen Dialekte als Varietätenbündel einer eigenständigen, vollwertigen Sprache 26 Nach den drei Einstellungsdimensionen von Baker (1992) (kognitiv, emotiv, konativ) entspricht die Konzeptualisierung der Varietäten der kognitiven Dimension. Die Schweiz 225 <?page no="226"?> oder als Deutsch mit bestimmten regionalen Merkmalen (s. Kap. 5.2.1, 5.3.2)? Trifft ersteres zu, sind sie eher geneigt, die strukturellen Unterschiede zwischen Standard und Dialekt stark zu gewichten und aus der Erwerbsperspektive die Standardsprache sogar als Fremdsprache 27 zu konzeptualisieren (Studler 2017). Trifft letzteres zu, sind sie näher bei jener linguistischen Sicht, die in den schweizerdeutschen Dialekten ein dem Oberdeutschen zuzuordnendes Varietätenbündel sieht. 6.1 Einstellungen gegenüber den Dialekten Über den Status der schweizerdeutschen Dialekte sinnierte schon Jacob Grimm in der Vorrede zum Deutschen Wörterbuch, war für ihn Schweizerdeutsch doch „mehr als bloszer dialect, wie es schon aus der freiheit des volks sich begreifen läszt“ (1854: XVII). Der Dialekt wird bis zum heutigen Tag immer wieder mit (deutsch)schweizerischer Identität verknüpft, und aus Alltagssicht gelten die verschiedenen Dialekte u. a. als ein Abbild des föderativ organisierten Bundesstaates. Allerdings erfahren diese Dialekte keineswegs die gleichen Einschätzungen. Die Sichtweise, wonach den Dialekten ein inherent value aufgrund ihrer materiellen, ausdrucksseitigen Qualität zukomme, ist zwar nicht ganz von der Hand zu weisen, da zumindest bestimmte Qualifizierungen schweizerdeutscher Dialekte mit deren Vokalqualitäten in Zusammenhang gebracht werden können: Dass die Ostschweizer Dialekte als „spitz“ gelten, verdankt sich wohl ihren geschlossenen Hochzungenvokalen (s. Berthele 2007). Dialektevaluationen hängen jedoch nachweislich auch von aussersprachlichen Eigenschaften eines Territoriums resp. von den Eigenschaften ab, die den Bewohnerinnen und Bewohnern einer Örtlichkeit und - davon meist untrennbar - auch ihren Dialekten zugeschrieben werden (Siebenhaar 2000, Leemann et al. 2015). Die Stereotypen zu Kantonen oder zu kleineren Regionen gehören zum kulturellen Gedächtnis und spiegeln einerseits die politischen und sozioökonomischen Verhältnisse der sog. Alten Eidgenossenschaft (d. h. der Zeit vor 1798) oder aber andererseits die topographischen und ökonomischen Eigenheiten der jeweiligen Örtlichkeiten. Roland Ris (1992) erwägt, dass sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts feste Kantonsstereotypen herausbildeten, die nun erstmals auch die Dialekte mit einbezogen. Von diesem Zeitpunkt an kann ein Dialekt, der auf eine bestimmte Örtlichkeit verweist, dessen stereotypische Zuschreibungen abrufen. Die Koppelung von Kantonsstereotyp und Dialektstereotyp - die „langsamen Berner“, der „langsame Berner Dialekt“ als bekanntestes Beispiel - deutet sich in mehreren empirischen Untersuchungen an: Wenn Dialekte areal zugeordnet werden können, kommen derartige Kantons- oder Regions-Stereotypen auch tatsächlich zum Tragen (Werlen 1985). Es sind nun unterschiedliche evaluative Komponenten zu unterscheiden, die bei den Bewertungen schweizerdeutscher Dialekte ins Spiel kommen: Neben den von der Wahrnehmungsdialektologie geltend gemachten Dimensionen „Gefallen“ und „Korrektheit“ (s. Preston 2010) sind Bewertungen in Bezug auf „Verständlichkeit“ und „Besonderheit“ von Dialekten gängig. Zur Komponente von „Gefallen“ lassen sich Befunde von Meinungsforschungsinstituten anführen, die regelmässig nach den beliebtesten/ unbeliebtesten Dialekten fragen und dann beispielsweise hohe Beliebtheitswerte für den Berner, Bündner und Walliser Dialekt ausweisen. 27 80 Prozent von den von Hägi/ Scharloth (2005) befragten Informanten (N = 98) vermuten, dass Hochdeutsch für Deutschschweizer generell eine Fremdsprache sei, aber nur 30 Prozent sagen dasselbe von sich selbst. 226 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="227"?> Die sprachlichen Kategorienbezeichnungen, die in solchen Befragungen als Stimuli fungieren, begünstigen das Abrufen entsprechender Stereotypen. Umfangreichere wissenschaftliche Untersuchungen, bei denen evaluative Reaktionen sowohl auf Hörproben als auch auf sprachliche Kategorienbezeichnungen miteinander verglichen würden, stehen leider (noch) aus. Was die Dimension „Korrektheit“ betrifft, so spielt diese selbst bei nicht-kodifizierten Dialekten eine Rolle, wo Dialektideale dafür sorgen, dass gewisse dialektale Ausprägungen zwar durchaus als Dialekt gelten, allerdings ohne das Gütesiegel des richtigen, authentischen, reinen Dialekts (s. Haas 1992). Dergestalt „reiner“ Dialekt wird in Ausprägungen gesehen, die für alt und exklusiv gehalten werden, die sich von der Standardsprache unterscheiden und die man sich aus dem Munde von idealtypischen Sprecherinnen und Sprechern (Menschen aus einem bäuerlich-handwerklichen Kontext im ländlichen Raum) verspricht. Nicht-reiner Dialekt wird im Alltag mit Attributen wie „gemischt“ oder „abgeflacht“ versehen (Christen 2010). Die Evaluationsdimension „Verstehbarkeit“ ist essentiell für den polydialektalen Austausch, den man in der Deutschschweiz im Kontakt mit Unbekannten nachgerade erwartet, und diesen erfolgreich zu meistern zu den selbstverständlichen soziolinguistischen Anforderungen gehört. Für das Gelingen der Kommunikation zwischen Verschiedendialektalen ist Variantentoleranz unabdingbare Voraussetzung. Der exegetische Aufwand, insbesondere selten gehörte Dialekte tatsächlich verstehen zu können, ist jedoch unterschiedlich gross (zu Strategien im Umgang mit ‚Unverständlichem‘ s. Christen 2008). So gehört zum Auto- und Heterostereotyp des Walliserdeutschen dessen geltend gemachte Unverständlichkeit. Tatsächlich weisen die höchstalemannischen Dialekte Relikt- und Sonderformen auf (s. Hotzenköcherle 1961), die bei mangelnder Hörroutine zu Verstehensproblemen führen, die dann auch für Sprecherinnen und Sprecher dieser Dialekte selbst Anlass sein können, im ‚Aussenkontakt‘ auf Merkmale zu verzichten, die als ‚unverständlich‘ gelten (Schnidrig 1986). Bemerkenswert an diesem Stereotyp des unverständlichen Dialekts ist, dass er für den Walliserdialekt gilt, nicht aber für die Dialekte im Berner Oberland oder im Kanton Freiburg, die für ungewohnte Ohren strukturell gleichermassen herausfordernd sein dürften. Unverständlichkeit ist nicht zwingend eine negative Zuschreibung, sondern kann im Gegenteil eine Facette von Dialektstolz sein, der sich gerade aus dem Umstand seiner Unzugänglichkeit nährt. Der Erfahrung im Umgang mit verschiedenen Dialekten verdankt sich eine Evaluationsdimension, die hier mit „Besonderheit“ bezeichnet wird. Eine Befragung hat erbracht, dass Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer mit Dialekten Vorstellungen darüber verbinden, ob diese gewöhnlich oder besonders sind. Die gewöhnlichen Dialekte - sie erhalten Attribute wie neutral , nicht ausgeprägt , nicht speziell , Durchschnitt oder diplomatischer Dialekt - werden ins schweizerische Mittelland, in den Raum der Kantone Aargau, Zürich und Luzern verortet (Christen et al. 2015, Schiesser 2018). Bezeichnenderweise handelt es sich bei diesen Dialekten um solche, die nicht nur viele Sprecherinnen und Sprecher zählen, sondern auch sog. zentrale Dialekte sind, d. h. aus dialektometrischer Sicht im Durchschnitt viele Gemeinsamkeiten mit vielen anderen Dialekten aufweisen. Die dialektometrischen Befunde verfügen über ein Gegenstück im Alltagswissen, das sich der Erfahrung aus der polydialektalen Kommunikation verdankt. Während Zentralität ein objektiver dialektometrischer Sachverhalt ist, sind mit den Alltagskonzepten „neutraler“ resp. „besonderer“ Dialekte Qualitätsurteile verbunden, die bestimmte - zeitgebundene - gesellschaftliche Dialektideale erkennen lassen. Die Schweiz 227 <?page no="228"?> Dass die vier hier angesetzten Evaluationsdimensionen „Gefallen“, „Korrektheit“, „Verstehbarkeit“ und „Besonderheit“ nicht unabhängig voneinander sind, liegt auf der Hand - freilich fehlen auch dazu entsprechende empirische Studien. Neben den Einstellungen zu arealen Varietäten ist auch damit zu rechnen, dass einzelne dialektale Varianten Bewertungen auf sich ziehen, die - wie das Baumgartner (1940: 21) noch eher impressionistisch darlegt - nicht die dialektalen Merkmale an sich betreffen, sondern mit sozialen Gegebenheiten verknüpft werden: In meiner Heimatstadt Biel beurteilen die Angehörigen der Oberschicht eine Sprache als unfein, grob, wenn in ihr die l in bestimmten Stellungen (vor Konsonant, in der Verdoppelung zwischen Vokalen und im Auslaut) als u erscheinen. […] Noch gröber empfindet man in der Oberschicht den Ersatz eines nd durch den nasalen Verschlusslaut. Eine experimentelle Studie, die Werlen (1980) u. a. mithilfe der matched-guise-Technik zur Bewertung des apikalen und uvularen / r/ vorlegt, erbringt eine unterschiedliche Einschätzung der beiden Realisierungsformen: Das uvulare / R/ wird als vornehmer, jedoch emotional negativer bewertet als das apikale / r/ . Wie bei den Dialekteinstellungen, so spiegeln sich auch bei den Einstellungen zu Dialektvarianten soziale Gegebenheiten, die aufgrund der diglossischen Verhältnisse in der Deutschschweiz auf intradialektaler Ebene - und nicht auf einem Dialekt/ Standard-Kontinuum - angesiedelt werden. 6.2 Einstellungen gegenüber der Standardsprache Die in Kap. 6.1 zu den Einstellungen gegenüber den Dialekten erwähnten evaluativen Komponenten Gefallen , Korrektheit , Verständlichkeit , Besonderheiten können nicht tel quel auf die Einstellungen gegenüber der Standardsprache übertragen werden, sind die Einstellungen gegenüber der Standardsprache doch stark geprägt von den teilweise komplementären kommunikativen Funktionen von Standardsprache und Dialekt. Dem diglossischen Gebrauch der Varietäten in der Schule dürfte es zuzuschreiben sein, dass die Standardsprache mit Arbeit und Leistung assoziiert wird und hohe Normerwartungen auslöst, die Dialekte dagegen als Sprache der Freizeit und Vertrautheit gelten (Sieber/ Sitta 1986). Zu beachten ist, dass sich negative Einstellungskomponenten (wenn die Standardsprache von Informanten als kalt , unvertraut , unsympathisch , schnell und kühl charakterisiert wird, s. Studler 2017) nicht auf das Lesen und Schreiben der Standardsprache, sondern auf das Hören und das Sprechen bezieht. Ältere Studien zeigen, dass sich eine gewisse Polarisierung der Einstellungen gegenüber Dialekt und Standardsprache im Verlauf der Primarschule entwickelt (Häcki Buhofer/ Studer 1993), aktuelle Befragungen von Erwachsenen weisen allerdings in Richtung eines Abbaus negativer Einstellungen gegenüber der Standardsprache (Studler 2013). Was die eigene Sprachproduktion in der Standardsprache anbelangt, gibt es ältere Befunde, wie zum Beispiel aus der Schweizerischen Rekrutenbefragung 1985, welche ergab, dass sich ein Viertel der befragten jungen Männer beim Hochdeutschsprechen dumm vorkam (Schläpfer et al. 1991: 156). Scharloth (2005: 245) weist nach, dass von 98 befragten Deutschschweizer Gewährspersonen über 33 Prozent beim Standardsprechen ein ausgeprägtes Defizienzempfinden haben, 45 Prozent ein schwach ausgeprägtes Defizienzempfinden und 22 Prozent keines. Als ambivalent erweisen sich die Einstellungen der Sprecherinnen und Sprecher gegenüber Merkmalen des Schweizerhochdeutschen, also gegenüber den Besonderheiten der deutschen 228 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="229"?> Standardsprache in der Schweiz (s. Kap.5.2.2). Obwohl Deutschschweizer Sprecherinnen und Sprecher täglich Texte rezipieren, die Helvetismen enthalten, und obwohl diese lexikografisch als standardsprachlich verzeichnet sind, zweifeln sie an deren Standardsprachlichkeit, wenn sie ihnen innerhalb einer Reihe von Varianten aus dem ganzen deutschen Sprachraum präsentiert werden. Die nördlichen Varianten werden dabei, vor dem Hintergrund der Dominanz des deutschen Sprachmarkts durch Deutschland, auf einer höheren Hierarchiestufe der Standardsprachlichkeit angesetzt. Aber auch aus der Aussenperspektive werden Helvetismen für eher dialektal befunden. So halten Gewährspersonen aus Deutschland die Variante sich besammeln (‚zusammentreffen‘, oft im schulischen Kontext verwendet - die Klasse besammelt sich auf dem Pausenhof ) für eher dialektal bis dialektal. Und selbst die Gewährspersonen aus der Schweiz geben der Variante besammeln , die empirisch nachweisbar und stilistisch neutral in standardsprachlichen Texten vorkommt, nicht den Höchstwert für Standardsprachlichkeit. In eine ähnliche Richtung weisen jüngste Studien zur Korrekturpraxis von Texten durch Lehrerinnen und Lehrer (Davies et al. 2017). Helvetismen werden von Lehrerinnen und Lehrern auch dann in vielen Fällen für Dialektinterferenzen gehalten, wenn sie lexikographisch als standardsprachlich ausgewiesen sind. Wie in Bezug auf die Standardsprache generell, so gilt auch in Bezug auf das Schweizerhochdeutsche, dass die Einstellungen gegenüber dieser Varietät differenziert werden müssen, je nachdem, welche Variationsebene und welche Repräsentationsform der Sprache betroffen ist. Scharloth (2005: 258) konnte zeigen, dass lexikalische und syntaktische Helvetismen viel eher akzeptiert werden, wenn sie den Gewährspersonen in „deutschländisch“ geprägter Lautung präsentiert werden, und dass umgekehrt deutschländische Standardformen weniger akzeptiert werden, sobald sie in erkennbar schweizerischer Lautung präsentiert werden. Bei der Wahrnehmung der Standardsprache scheint die Lautung alle anderen Variationsebenen zu überlagern. 6.3 Einstellungen zwischen den Sprachgruppen Trotz relativ spärlicher Kontakte zwischen den Sprechern der verschiedenen Sprachgebiete gibt es gut ausgebaute Stereotype über die eigene und die anderen Sprachgruppen (Haas 2006: 1780, Pedretti 2000). Aus Deutschschweizer Sicht wurden die Romands in der mündlichen pädagogischen Rekrutenprüfung 1986 etwa als léger , unkompliziert , oberflächlich , sympathisch beschrieben, die Deutschschweizer umgekehrt als stur , gut organisiert , umweltbewusst , unsympathisch. Insgesamt beziehen sich in Einstellungsbefragungen hohe negative Werte auf die Deutschschweizer. Als am sympathischsten gelten die Romands und die Tessiner, diese selbst verteilen aber in Bezug auf die Deutschschweizer und die Rätoromanen die schlechtesten Bewertungen. Dass die Romands insbesondere das Schweizerdeutsche negativ bewerten, dürfte mit der rigiden monozentrischen Norm des Französischen zusammenhängen, die die Einstellungen der Sprecherinnen und Sprecher prägt und damit zur Skepsis gegenüber Regionalsprachen und Dialekten führt. Der Dialekt-Standardgebrauch in der Deutschschweiz bleibt für die französisch- und italienischsprachigen Schweizerinnen und Schweizer oft schwer nachvollziehbar und wird im Sprachkontakt als Hindernis beim Hochdeutscherwerb empfunden und schliesslich für den als mangelhaft empfundenen eigenen Lernerfolg verantwortlich gemacht, wobei letzterer auch mit übersteigerten Lernerwartungen zusammenhängen dürfte sowie dem Vorurteil, die Schweizer Dialekte seien nicht erwerbbar. Brohy (2017) hingegen zeigt, dass frankophone Studierende, die einen Dialektkurs besuchen, nach einem Semester 60 bis 80 Prozent des auf Dialekt Gesagten verstünden. Die geringeren Vorbehalte der Italie- Die Schweiz 229 <?page no="230"?> nischsprachigen gegenüber der Deutschschweizer Sprachsituation führt Haas (2006) auf das grössere Machtgefälle zurück, aber auch auf die vergleichbarere Situation in der Südschweiz mit ihren noch immer vitalen Dialekten. 7 Sicht- und Hörbarkeit von Sprachen im öffentlichen Raum Trotz der Sprachenterritorialität sind die Landessprachen in den jeweils anderssprachigen Landesteilen präsent - dies nicht nur aufgrund der Mobilität der Bevölkerung und Binnenmigration, sondern auch durch sicht- und hörbare Sprachen im (öffentlichen) Raum. Diesen kommt mehr als nur informative Funktion zu, haben diese doch immer auch symbolische Funktion, weil durch die Wahl einer oder mehrerer Sprachen deren Sprecherinnen und Sprecher in den Vordergrund gerückt werden. Nachfolgend werden einige Beobachtungen zur noch wenig erforschten Linguistic landscape resp. Linguistic soundscape der Schweiz zusammengetragen. 7.1 Linguistic Landscape Der lateinische Wahlspruch unus pro omnibus, omnes pro uno ‚einer für alle, alle für einen‘ ist auf zwei Spruchbändern zu lesen, die sich, nebst dem Schweizer Wappen, in der Glaskuppel, dem architektonischen Mittelpunkt des sog. Bundeshauses, befinden. An dieser prominenten Stelle im Bundeshaus, dem Sitz von Regierung und Parlament der Schweizerischen Eidgenossenschaft, steht für einmal das Lateinische über den vier Landessprachen - anders etwa die Aufschrift im Eingangsbereich der Schweizerischen Nationalbibliothek, die wie das Bundeshaus im deutschsprachigen Bern, in der sog. Bundesstadt (frz. ville fédérale , it. capitale federale , rätorom. citad federala ‚Landeshauptstadt‘), liegt. Hier nimmt die deutsche Bezeichnung das gesamte Glasfenster über den Glastüren ein, eine französische und italienische (jedoch keine rätoromanische) Entsprechung finden sich links und rechts in den Glasfenstern neben den Türen, allerdings in weniger prominenter Schrift. Tatsächlich stellt die offizielle Sprachwahl nicht nur für die direkte schriftliche und mündliche Kommunikation zwischen Behörden, Institutionen und der Bevölkerung in einem gesellschaftlich mehrsprachigen Land eine Herausforderung dar, sondern ebenso die Sprachwahl für die ding- und ortsfeste Schriftlichkeit. Diese ist Ausdruck der offiziellen Sprachpolitik, und sie macht Sprachen resp. Sprechergruppen sichtbar oder allenfalls unsichtbar. So stehen auf der Umschlagseite des Schweizer Passes, untereinander und rechtsbündig, die Bezeichnungen Schweizer Pass , Passeport suisse , Passaporto svizzero , Passaport svizzer und Swiss passport , die neben den vier Landessprachen, deren der Besitzer oder die Besitzerin des Passes vermutlich eine sprechen wird, zusätzlich - und für ein Reisedokument durchaus motiviert - die Teilhabe an der Weltsprache Englisch ausweisen. Der Gleichberechtigung der vier Landessprachen wird zum Beispiel auch bei der Beschriftung der Banknoten Rechnung getragen, deren eine Seite deutsch und rätoromanisch, die andere französisch und italienisch beschriftet ist. Dabei wird darauf geachtet, dass die Platzierung dieser Sprachenpaarungen auf der Vorder- oder der Rückseite des Geldscheins jeweils auf den unterschiedlichen Noten wechselt und damit keine der vier Sprachen benachteiligt wird. Die Bundesbahnen, mittlerweile eine vom Bund getragene Aktiengesellschaft, heissen offiziell Schweizerische Bundesbahnen (SBB), Chemins de fer fédéraux suisses (CFF), Ferrovie federali svizzere (FFS) und Viafiers federalas svizras (VFS). Als sichtbares Markenzeichen - zum Beispiel im Internet oder auf den Bahnwagen selbst - fungiert jedoch ausschliesslich SBB CFF 230 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="231"?> FFS . Die elektronischen Anzeigetafeln in den Bahnhöfen und in den Zügen weisen die Ziel- und Herkunftsorte mit ihren Endonymen aus ( Genève und nicht Genf , Basel und nicht Basilea ). Da die Kantone ihre Amtssprachen bestimmen, obliegt ihnen auch die Ausgestaltung der Schriftlichkeit im öffentlichen Raum. So versteht sich der Sprachgebrauch in den offiziell einsprachigen Kantonen von selbst. In den Kantonen Bern, Wallis, Freiburg und Graubünden mit mehr als einer offiziellen Sprache ist es eine Frage des politischen Willens, wie auf den Wunsch nach der Gleichberechtigung der Sprachgruppen eingegangen wird. Hier birgt gerade die Sichtbarkeit von Sprache, wie sie sich auf Orts- und Strassenbeschilderungen oder Hinweistafeln manifestiert, ein Konfliktpotential, wenn der Raum ausschliesslich oder hauptsächlich von einer Sprache „kolonialisiert“ (Auer 2010) wird. Dem Anliegen, die offiziellen Sprachen sichtbar zu machen, wird etwa die Berner Stadt Biel/ Bienne gerecht, die als grösste zweisprachige Stadt der Schweiz nicht nur Unternehmen und Institutionen auszeichnet, die die Zweisprachigkeit pflegen, sondern auch, indem sie, durch entsprechende Gesetze gestützt, für zweisprachige Ortsschilder sorgt. Stadt und Kanton Freiburg/ Fribourg, die zwar beide seit ihrer Gründung immer eine deutsch- und französischsprachige Bevölkerung besassen, galten bis ins 20. Jahrhundert als französischsprachig, was zunehmend zu Unmut bei den Deutschsprachigen führte. Das Aufbegehren der zahlenmässig kleineren Gruppe von Germanophonen war insofern von politischem Erfolg gekrönt, als dieses zur Ausarbeitung einer Sprachencharta (s. Charte des langues/ Sprachencharta 1969) und im Jahr 1990 schliesslich dazu führte, dass der Kanton Freiburg offiziell zu einem zweisprachigen Kanton mit zwei gleichberechtigten Sprachen wurde. Allerdings hat die Stadt Freiburg nach wie vor den rechtlichen Status einer französischsprachigen Stadt; seit August 2012 trägt am Bahnhof das zweisprachige Ortsschild Fribourg/ Freiburg dem Umstand Rechnung, dass die Stadt seit ihrer Gründung faktisch über zwei Sprachgemeinschaften verfügt. Dieses Ortsschild bildet den vorläufigen Abschluss einer längeren Episode sprachpolitischen Engagements, bei dem sich die Protagonisten vor allem auch für die zweisprachige Beschriftung von Strassen und Plätzen stark machten (Christen 2018). Besucherinnen und Besucher der Stadt Freiburg können heute - innerhalb der Gemarchungen der mittelalterlichen Stadt - zweiundzwanzig Schildern begegnen, die einen französisch- und einen deutschsprachigen Namen enthalten; die restlichen Namen sind französischsprachig (Schneuwly 1995). Das Beispiel Freiburgs zeigt deutlich, dass sich das harmonische und gleichberechtigte Zusammenleben verschiedener Sprachgruppen auch in einem demokratischen Gefüge nicht zwingend von selbst ergibt, sondern den Willen und die Aushandlung der Beteiligten erfordert (Altermatt 2003). Die Sichtbarkeit von Sprache wird nicht allein durch top-down -Zeichen von Behörden und Institutionen geprägt, sondern Sprachen und Sprachgemeinschaften werden gleichermassen durch bottom-up -Zeichen sichtbar, sei dies durch - ortsfeste - Beschilderungen von Restaurants, Geschäften, Dienstleistungen oder durch Werbung, sei es durch - dingfeste - Aufschriften auf Warenerzeugnissen. Die Detailhändlerin Migros beschriftet ihre hauseigenen Produkte in der Regel dreisprachig: Der Kaffee mit dem italienischen Namen Boncampo Classico wird als „kräftig und rassig/ corsé et racé/ forte e deciso“ angepriesen; sowohl die Angaben zur Mischung und Röstung sowie zur Aufbewahrung sind auf Deutsch, Französisch und Italienisch vermerkt. Bei der Zahnpasta Candida erfolgt die Spezifizierung „Für strahlend weisse Zähne“ auf Deutsch, Französisch und Italienisch, ebenso der Hinweis, dass sich das Produkt nicht für kleine Kinder eignet. Die Angaben zur Zusammensetzung dagegen erfolgen nur auf Deutsch Die Schweiz 231 <?page no="232"?> und Französisch. An diesen beiden Beispielen zeigt sich die unterschiedliche Präsenz der Landessprachen auf Warenerzeugnissen: Das Rätoromanische ist dort fast inexistent - im Frühling 2017 gab sich die vormalige Bank Coop jedoch den vom rätoromanischen inspirierten Namen Bank Banque Banca Cler -, Französisch und Deutsch werden durchgehend verwendet, das Italienische ist mehr oder weniger vertreten. Diese Praxis wird dem Umstand von gleichwertigen Landessprachen nicht gerecht, sondern spiegelt eher den Markt mit unterschiedlich grossen Sprachgruppen sowie den Sachverhalt, dass bei den Rätoromanen wohl mit deren faktischer individueller Zweisprachigkeit gerechnet wird. Soll allerdings die regionale Herkunft von Produkten als besondere Qualität geltend gemacht werden, kann dies durch den Gebrauch der vier Landessprachen unterstrichen werden, wie bei der eingetragenen Marke Schweizer Honig - Miel Suisse - Miele Svizzero - Mel Svizzer . Zu den ortsfesten Sprachzeichen liegen (noch) keinerlei Untersuchungen vor; das zunehmende Interesse, das sich in der internationalen Forschungslandschaft für soziolinguistische Fragen der sprachlichen Sichtbarkeit manifestiert, dürfte zukünftigen Forscherinnen und Forschern die nötigen Impulse liefern, um sowohl das visuelle Zusammentreffen verschiedener Sprachen im urbanen Raum oder in Sprachgrenzgebieten als auch das Nebeneinander von Dialekt und Standardsprache in der Deutschschweiz in den Blick zu nehmen. Eine kleinere studentische Arbeit hat für Fribourg/ Freiburg erbracht, dass in der unmittelbaren Umgebung des Bahnhofs die Sprachen Französisch, Deutsch, Italienisch und Englisch sichtbar sind (Bieri 2014). Während die Gastronomie ihre Beschilderungen und ihre Speisekarten ausschliesslich auf Französisch verfasst, finden sich bei den Geschäften vor allem Französisch, aber auch Deutsch und teils auch Englisch. Dabei kann es vorkommen, dass Deutsch im Namen vorkommt (z. B. Apotheke ), die Öffnungszeiten dann aber nur auf Französisch angegeben sind. 7.2 Linguistic Soundscape Neben Fragen der linguistic landscape ist - insbesondere im Zusammenhang mit dem öffentlichen Verkehr 28 - auch die linguistic soundscape von Interesse, also beispielsweise die Durchsagen auf den einzelnen Strecken des nationalen Bahnnetzes. Die Auskünfte der Abteilung Kommunikation der SBB machen deutlich, dass der Einsatz verschiedener Sprachen für die Zug- und Bahnhofdurchsagen nach einem durchdachten Konzept erfolgt, das sowohl den Sprachgebieten als auch der Schweiz als Tourismusdestination und als Ort mit internationalem Austausch Rechnung trägt. So wird in den Zügen - mehrheitlich per automatischem Durchsagesystem - immer die Sprache der entsprechenden Region verwendet, in der Westschweiz also Französisch, im Tessin Italienisch und in der Deutschschweiz Deutsch. Zweisprachige Durchsagen erfolgen dann, wenn der Zug die resp. eine Sprachgrenze durchfährt, wobei auch die Reihenfolge der verwendeten Sprachen wechselt. So hört man im Intercity-Zug Genève - Zürich, aus der Westschweiz kommend, zuerst Fribourg und nachher Freiburg , in umgekehrter Fahrtrichtung dagegen zuerst Freiburg und dann Fribourg . Liegt auf der Strecke der Flughafen Zürich oder Genf, erfolgt zusätzlich eine englische Durchsage. Verkehrt der Zug in eine touristische Region, ist auch hier zusätzlich eine englische Durchsage zu hören - wie im Intercity-Zug von Basel nach Interlaken mit deutsch-englischer Durchsage. Selbst für die 28 Wir danken Herrn Rudolf Blankschön (SBB) und Frau Yvonne Dünser (Rhätische Bahn) ganz herzlich für die bereitwilligen Auskünfte. 232 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="233"?> aus unterschiedlichen Gründen notwendig werdenden Livedurchsagen ist vorgesorgt: Dem Zugpersonal steht eine App zur Verfügung, die für viele mögliche Situationen Textvorlagen auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch bereithält. Die Lautsprecherdurchsagen in den Bahnhöfen sind für den Regional- und auch für den nationalen Fernverkehr grundsätzlich in der Ortssprache. Für Züge Richtung Ausland (wie u. a. TGV oder ICE) erfolgen die Lautsprecherdurchsagen in der Orts- und der jeweiligen Zielsprache (wenn diese Deutsch, Französisch oder Italienisch ist) und zusätzlich auf Englisch. In den ‚zweisprachigen‘ Bahnhöfen Biel/ Bienne, Biel Bözingenfeld/ Bienne Champs-de-Boujean, Biel Mett/ Bienne Mâche, Fribourg/ Freiburg, Fribourg/ Freiburg Poya, Murten/ Morat und Sierre/ Siders erfolgen die Lautsprecherdurchsagen auf Deutsch und Französisch oder umgekehrt. In den Bahnhöfen von Bellinzona, Lugano und Locarno sind die Durchsagen auf Italienisch und Deutsch zu hören, in den beiden Bahnhöfen Genève Aéroport und Zürich Flughafen in der Ortsprache und auf Englisch. In der Rhätischen Bahn (rätoromanisch Viafier retica , italienisch Ferrovia retica ), deren Streckennetz den Kanton Graubünden erschliesst, werden die Ansagen je nach Bündner Sprachgebiet und Zielort auf Deutsch oder Italienisch (Berninalinie) gemacht. Abhängig von der Zugstrecke erfolgen die Ansagen auch auf Rätoromanisch, wobei die unterschiedlichen rätoromanischen Idiome - und nicht etwa das Rumantsch Grischun - zum Tragen kommen. Für bestimmte Zugslinien (z. B. die touristisch attraktive Bernina Express- oder die Glacier Express-Linie) werden zudem englische Ansagen eingesetzt. 8 Ausblick Wie sich das Deutschschweizer Sprachleben in Zukunft ausgestalten wird, ist nur bedingt prognostizierbar. Die Nützlichkeit der Standardsprache und der Identitätswert der Dialekte in der Deutschschweiz stehen in einem Konkurrenzverhältnis, das die Diglossie zumindest bislang nicht zu entstabilisieren vermochte (Snow 2013: 74). Stabilität schliesst allerdings nicht aus, dass sich die Diglossie verändern und anders ausgestaltet werden könnte. So könnte die Standardsprache durch ihre Präferenz im schulischen Kontext eine Stärkung erfahren, ebenso durch adressateninduzierte Wahl des Hochdeutschen: Ob ein solches Hochdeutsch mit zunehmender Migration immer öfters nachgefragt werden wird, nicht nur in Dienstleistungskonstellationen, sondern auch im Bereich von Arbeit und Freizeit, hängt wohl auch davon ab, ob Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer Hochdeutschsprechen als ein nur temporäres ‚Sondersetting‘ mit Migranten oder Fremden veranschlagen oder aber dazu übergehen, mit (mutmasslich) Allochthonen initiativ Hochdeutsch zu sprechen. Dies würde die Steuerungsfaktoren des Dialekt-/ Hochdeutschgebrauchs erheblich verändern und die kommunikative Reichweite des Dialekts vermindern. (Christen 2017: 100) Zudem ist es nicht ganz unwahrscheinlich, dass die mediale Rezeption von - verschiedenen - Arten des Hochdeutschen einen Einfluss auf die Oralisierungsnormen hat und zu Konvergenzen mit einer eher deutschländischen Ausprägung des Hochdeutschen und letztlich zu einer „Entnationalisierung des Standards“ (Herrgen 2015) führt. Ob sich die Ambivalenz gegenüber Hochdeutsch(sprechen), wie sie sich heute zeigt, mit einer allfälligen Stärkung des Hochdeutschen verändert, ist ungewiss. Die Schweiz 233 <?page no="234"?> Dass die Kosten des „Ausbaudialekts“ (Kloss 1976) mit lexikalischen Anleihen aus der Standardsprache zu bezahlen sind, die sich auch in phonologischer und morphologischer ‚vertikaler‘ Konvergenz zur Standardsprache auswirken, zeichnet sich ab, ebenso, dass es zwischen Dialekten zu ‚horizontalen‘ Ausgleichstendenzen kommen kann. Freilich kann in neueren Arbeiten ausgewiesen werden, dass kleinräumige dialektale Varianten dazu genutzt werden, um lokale Zugehörigkeiten zum Ausdruck zu bringen (Schiesser 2018). Das Szenario des unmittelbar bevorstehenden Verschwindens der verschiedenen Dialekte, das schon im 19. Jahrhundert Konjunktur hatte, scheint auch heute wenig plausibel zu sein, zumindest solange nicht, als räumliche Identität von Relevanz ist - und mit Dialektvarianten ausgedrückt werden kann. Die zunehmende Wichtigkeit des Englischen als Arbeitssprache zeichnet sich bereits heute in den Volksbefragungen ab, und der ökonomische Nutzen des Beherrschens der englischen Sprache wird auch die Debatte um die als erste zu lernende Fremdsprache weiterhin befeuern. Wie sich dagegen das politische Seilziehen um das zeitliche Vorverlegen des Fremdsprachenunterrichts entwickeln wird, dürfte von der Bilanz abhängen, ob die Massnahme zu einer Steigerung der individuellen Mehrsprachigkeit geführt hat, oder aber davon, ob man allein schon die Erfahrung anderer (Landes)Sprachen für einen Gewinn hält. Literatur 20 Minuten (2012): Immer Ärger mit Rumantsch Grischun. Abrufbar unter: https: / / www.20min. ch/ schweiz/ ostschweiz/ story/ Immer--rger-mit-Rumantsch-Grischun-18888881. (Letzter Zugriff: 13.11.2018). Aebischer, Matthias (2016): Annerkennung des Romanes als Minderheitssprache. Abrufbar unter: https: / / www.parlament.ch/ de/ ratsbetrieb/ suche-curia-vista/ geschaeft? AffairId=20164000. (Letzter Zugriff: 25.7.2018). Altermatt, Bernhard (2003): La politique du bilinguisme dans le canton de Fribourg/ Freiburg (1945‒2000). Entre innovation et improvisation. Fribourg: Université de Fribourg. Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin/ New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich et al. (Hrg.) (2004): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Berlin/ New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich/ Bickel, Hans/ Lenz, Alexandra Nicole (Hrg.) (2016): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen. Berlin/ Boston: de Gruyter. Andermatt, Michael (2016): Gottfried Keller. Zeitgeschichte - Politik. In: Amrein, Ursula (Hrg.): Gottfried-Keller-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler, S. 262-273. Andres, Franz/ Watts, Richard J. (1993): English as a Lingua Franca in Switzerland: Myth or Reality? In: Bulletin CILA, 58, S. 109-127. Auer, Peter (2004): Sprache, Grenze, Raum. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft, 23, S. 149-179. Auer, Peter (2010): Sprachliche Landschaften. Die Strukturierung des öffentlichen Raums durch die geschriebene Sprache. In: Deppermann, Arnulf/ Linke, Angelika (Hrg.): Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton. Berlin: de Gruyter (= Jahrbuch 2009 des Instituts für Deutsche Sprache), S. 271-300. 234 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="235"?> Baer, Emil (1936): Alemannisch. Die Rettung der eidgenössischen Seele. Zürich: Rascher & Cie. Baker, Colin (1992): Attitudes and Language. Clevendon/ Philadelphia/ Adelaide: Multilingual Matters. Baumgartner, Heinrich (1940): Stadtmundart. Stadt- und Landmundart. Beiträge zur bernischen Mundartgeographie. Bern: Lang. Berruto, Gaetano (1991): Fremdarbeiteritalienisch: fenomeni di pidginizzazione dell’italiano nella Svizzera tedesca. In: Rivista di linguistica, 3, 2, S. 333-367. Berruto, Gaetano/ Burger, Harald (1987): Aspekte des Sprachkontaktes Italienisch-Deutsch im Tessin. In: Linguistische Berichte, 111, S. 367-380. Berthele, Raphael (2004): Vor lauter Linguisten die Sprache nicht mehr sehen. Diglossie und Ideologie in der deutschsprachigen Schweiz. In: Christen, Helen (Hrg.): Dialekt, Regiolekt und Standardsprache im sozialen und zeitlichen Raum. Beiträge zum 1. Kongress der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen, Marburg/ Lahn, 5.-8. März 2003. Wien: Praesens, S. 111-136. Berthele, Raphael (2007): Wie sieht das Berndeutsche so ungefähr aus? In: Klausmann, Hubert (Hrg.): Raumstrukturen im Alemannischen: Beitrag zur 15. Arbeitstagung zur alemannischen Dialektologie, Schloss Hofen, Lochau (Vorarlberg) vom 19.-21.9.2005. Graz: Neugebauer, S. 163-175. Berthele, Raphael/ Lindt-Bangerter, Bernhard (2011): Evaluation des Projekts „Rumantsch Grischun in der Schule“. Sprachstandserhebungen 3. und 4. Klassen in den Fertigkeiten Leseverstehen, Schreiben und Sprechen. Fribourg/ Freiburg: Institut de Plurilinguisme. Abrufbar unter: www.institut-mehrsprachigkeit.ch/ sites/ default/ files/ documents_projets/ 111026_rg_evaluation_2011_de.pdf. (Letzter Zugriff: 20.12.2018). Bieri, Lisa (2014): Die visuelle Sprachlandschaft des Bahnhofs Fribourg/ Freiburg. Unveröff. Seminararbeit. Universität Freiburg i. Ü. Blass, Domenico (2012): Züri-Slängikon. 4. Aufl. Zürich: Bonus. Bundesamt für Statistik (2014): Raum mit städtischem Charakter 2012. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik. Bundesamt für Statistik (2017a): Bilanz der ständigen Wohnbevölkerung. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik. Bundesamt für Statistik (2017b): Statistischer Bericht zur Integration der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik. Bundesamt für Statistik (2017c): Schweizerdeutsch und Hochdeutsch in der Schweiz. Analyse von Daten aus der Erhebung von Sprache, Religion und Kultur 2014. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik. Britain, David (2016): Sedentarism and Nomadism in the Sociolinguistics of Dialect. In: Coupland, Nikolas (Hrg.): Sociolinguistics. Theoretical Debates. 2. Aufl. Cambridge: Cambridge University Press, S. 217-241. Brohy, Claudine (2017): „Le suisse-allemand, ça s’apprend pas, ça s’acquiert“? Suivre des cours de dialectes alémanique à l’Université de Fribourg. In: Revue transatlantique d’études suisses. Diglossies suisses et caribéennes. Retour sur un concept (in)utile, 6-7, S. 123-136. Burger, Harald/ Luginbühl, Martin (2014): Mediensprache. Eine Einführung in Sprache und Kommunikationsformen der Massenmedien. Berlin/ New York: de Gruyter. Bürkli, Beatrice (1999): Sprachvariation in einem Grossbetrieb. Eine individuenzentrierte Analyse anhand sprachlicher Tagesläufe. Tübingen: Francke. BV = Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12. September 1848. Bern: Bundeskanzlei. BV = Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999. Bern: Bundeskanzlei. Abrufbar unter: www.admin.ch/ opc/ de/ classified-compilation/ 19995395/ index.html#a1. (Letzter Zugriff: 11.12.2018). Die Schweiz 235 <?page no="236"?> Charte des langues/ Sprachencharta (1969): Actes de la Commission des langues de l’Institut fribourgeois/ Akten der Sprachekommission des Freiburger Instituts. Fribourg/ Freiburg i.Ü.: Etat de Fribourg/ Staat Freiburg. Christen, Helen (2000): Standardsprachliche Varianten als stilistische Dialektvarianten? In: Häcki Buhofer, Annelies (Hrg.): Vom Umgang mit sprachlicher Variation. Soziolinguistik, Dialektologie, Methoden und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Heinrich Löffler zum 60. Geburtstag. Tübingen/ Basel: Francke, S. 245-260. Christen, Helen (2004): Dialekt-Schreiben oder sorry ech hassä Text schribä. In: Glaser, Elvira/ Ott, Peter/ Schwarzenbach, Rudolf (Hrg.): Alemannisch im Sprachvergleich. Beiträge zur 14. Arbeitstagung für alemannische Dialektologie in Männedorf (Zürich) vom 16.-18.9.2002. Wiesbaden: Steiner, S. 71-84. Christen, Helen (2008): „…wiu mer das vilich nid ir ganze schwiz verschteit“ - Empirische Erkundungen zur sozialen Praxis des polydialektalen Dialogs. In: Sociolinguistica, 22, S. 24-47. Christen, Helen (2009a): Sprachliche Vielfalt im Alltag. Neue Zugänge. In: Tschofen, Bernhard/ Keller-Drescher, Lioba (Hrg.): Dialekt und regionale Kulturforschung. Traditionen und Perspektiven einer Alltagssprachforschung in Südwestdeutschland. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde, S. 125-150. Christen, Helen (2009b): Vertikale und horizontale Variation. Beobachtungen zum Schweizerdeutschen. In: Gilles, Peter/ Scharloth, Joachim/ Ziegler, Evelyn (Hrg.): Variatio delectat. Empirische Evidenzen und theoretische Passungen sprachlicher Variation. Für Klaus J. Mattheier zum 65. Geburtstag. Frankfurt a.M.: Lang, S. 145-159. Christen, Helen (2010): Was Dialektbezeichnungen und Dialektattribuierungen über alltagsweltliche Konzeptualisierungen sprachlicher Heterogenität verraten. In: Anders, Christina Ada/ Hundt, Markus/ Lasch, Alexander (Hrg.): Perceptual Dialectology. Berlin: de Gruyter, S. 269-290. Christen, Helen (2014): Hybride Dialekte? Zu sprachlichen Kontakterscheinungen in der Deutschschweiz. In: Haupt, Sabine (Hrg.): Tertium datur! Formen und Facetten kultureller Identität. Zürich: LITT, S. 85-97. Christen, Helen (2017): „Grü(e)zi“ trifft „Grüss Gott“. Unter welchen Bedingungen in der Deutschschweiz (doch) Hochdeutsch gesprochen wird. In: Revue transatlantique d’études suisses. Diglossies suisses et caribéennes. Retour sur un concept (in)utile, 6-7, S. 87-102. Christen, Helen (2018): Freiburg oder Fribourg? Die unterschiedlichen Karrieren von Allonymen in einem mehrsprachigen Kontext. In: Ernst, Peter et al. (Hrg.): Mehrnamigkeit zwischen Sprachwissenschaft, Sprachgeschichte und Sprachpolitik. Wien: Praesens (= Österreichische Namenforschung Beiheft, 6), S. 11-36. Christen, Helen/ Bucheli, Nadja/ Guntern, Manuela/ Schiesser, Alexandra (2015): Länderen. Die Urschweiz als Sprach(wissens)raum. In: Kehrein, Roland/ Lameli, Alfred/ Rabanus, Stefan (Hrg.): Regionale Variation des Deutschen. Projekte und Perspektiven. Berlin: de Gruyter, S. 619-641. Christen, Helen/ Glaser, Elvira/ Friedli, Matthias (Hrg.) (2013): Kleiner Sprachatlas der deutschen Schweiz. 5. Aufl. Frauenfeld: Huber. Christen, Helen/ Guntern, Manuela/ Hove, Ingrid/ Petkova, Marina (2010): Hochdeutsch in aller Munde. Eine empirische Untersuchung zur gesprochenen Standardsprache in der Deutschschweiz. Stuttgart: Steiner (=Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik; Beiheft 140). Clalüna, Monika/ Tscharner, Barbara (Hrg.) (2013): Beurteilen im DaF-/ DaZ-Unterricht. Testen - Evaluieren - Prüfen. Akten der Vierten Gesamtschweizerischen Tagung für Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer 29. und 30. Juni 2012. Universität Bern. Luzern: AkDaF. Coray, Renata (2009): Rätoromanische Sprachbiographien. Sprache, Identität und Ideologie in Romanischbünden. Schlussbericht zum NFP 56 Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz. Nationales Forschungsprojekt. Abrufbar unter: www.nfp56.ch/ d_projekt.cfm? Projects.Com- 236 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="237"?> mand=download&file=26_02_2009_02_05_57-Schlussbericht_Coray.pdf&name=Schlussbericht_Coray.pdf. (Letzter Zugriff: 14.7.2017). Davies, Winifred/ Häcki Buhofer, Annelies/ Schmidlin, Regula/ Wagner, Melanie/ Wyss, Eva Lia (2017): Standardsprache zwischen Norm und Praxis: Theoretische Betrachtungen, empirische Studien und sprachdidaktische Ausblicke. Tübingen: Narr. Duden (1999): Grosses Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin: Dudenverlag. Duden (2015): Deutsches Universalwörterbuch. 8. Aufl. Berlin: Dudenverlag. Dürmüller, Urs (2002): English in Switzerland. From Foreign Language to Lingua Franca. In: Allerton, David John/ Skandera, Paul/ Tschichold, Cornelia (Hrg.): Perspectives on English as a World Language. Basel: Schwabe, S. 115-123. Dürscheid, Christa/ Wagner, Franc/ Brommer, Sarah (2010): Wie Jugendliche schreiben. Schreibkompetenz und neue Medien. Mit einem Beitrag von Saskia Waibel. Berlin: de Gruyter (= Linguistik - Impulse und Tendenzen; 41). Ebner, Jakob (2009): Duden. Wie sagt man in Österreich? Mannheim: Bibliographisches Institut. EDK = Erziehungsdirektorenkonferenz (2016): Faktenblatt. Fremdsprachenunterricht in der obligatorischen Schule. Bern: Pressedienst Generalsekretariat EDK. Elspaß, Stephan/ Kleiner, Stefan (i. Druck): Forschungsergebnisse zur arealen Variation im Standarddeutschen. In: Herrgen, Joachim/ Schmidt, Jürgen Erich (Hrg.): Sprache und Raum - Deutsch. Ein internationales Handbuch der Sprachvariation. Bd. 4./ Language and Space - German. An International Handbook of Linguistic Variation. Vol. 4. Berlin/ Boston: de Gruyter (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 30.4). Elspaß, Stephan/ Niehaus, Konstantin (2014): The Standardization of a Modern Pluriareal Language: Concepts and Corpus Designs for German and beyond. In: Orð og tunga, 16, S. 47-67. Ender, Andrea (2017): The Diverse Effects of Standard-Dialect Variation in Second Language Acquisition. In: Katerbow, Matthias/ de Vogelaer, Gunther (Hrg.): Acquiring Sociolinguistic Variation. Amsterdam: John Benjamins, S. 155-184. Fankhauser, Andreas (2011): Helvetische Republik. Kap. 1. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Abrufbar unter: http: / / www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D9797.php. (Letzter Zugriff: 29. 10. 2018). Ferguson, Charles A. (1959): Diglossia. In: Word, 15, S. 325-340. Fleischer, Jürg (2007): Zur Herkunft des flektierten prädikativen Adjektivs im Höchstalemannischen. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, 74, 2/ 3, S. 196-240. Forschungsstelle Sotomo (2016): Vernetzte Schweiz 2016. Wie sich Schweizerinnen und Schweizer vernetzen. Studienbericht zur grossen Umfrage. Abrufbar unter: https: / / sotomo.ch/ site/ vernetzte-schweiz-2016/ . (Letzter Zugriff: 20.12.2018). Franceschini, Rita (1998): Code-Switching and the Notion of Code in Linguistics. Proposals for a Dual Focus Model. In: Auer, Peter (Hrg.): Code-Switching in Conversation. London: Routledge, S. 51-74. Franceschini, Rita (2002): Umgang mit Fremdheit. mixed style und Quasi-italienisch bei Deutschschweizer Händlern in Gundeldingen (Basel). In: Keim, Inken et al. (Hrg.): Soziale Welten und kommunikative Stile. Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60. Geburtstag. Tübingen: Gunter Narr, S. 217-232. Franceschini, Rita (2011): Die ‚mehrsprachigsten‘ Bürger Europas. Sprecher von historischen und neuen Minderheitensprachen und ihr Beitrag zur Multikompetenz. In: Eichinger, Ludwig M./ Plewnia, Albrecht/ Steinle, Melanie (Hrg.): Sprache und Integration. Über Mehrsprachigkeit und Integration. Tübingen: Narr, S. 29-53. Furer, Jean-Jacques (2005): Die aktuelle Lage des Romanischen. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik. Furrer, Norbert (2002): Die vierzigsprachige Schweiz. Bd. 2: Materialien. Zürich: Chronos. Gallmann, Peter (1997): Warum die Schweizer weiterhin kein Eszett schreiben. Zugleich: Eine Anmerkung zu Eisenbergs Silbengelenk-Theorie. In: Augst, Gerhard/ Blüml, Karl/ Nerius, Dieter/ Sitta, Horst Die Schweiz 237 <?page no="238"?> (Hrg.) (1997): Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Begründung und Kritik. Tübingen: Niemeyer (= Reihe Germanistische Linguistik; 179), S. 135-140. Geiger, Werner/ Hofer, Madeleine/ Kropf, Thomas/ Schmid, Robert (2006): Sprechen am Mikrofon bei Schweizer Radio DRS. Basel: Schweizer Radio DRS. Gick, Cornelia (2013): Institutionelle Perspektive auf DACH: Ledafids - Verein der Lehrenden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (DaF/ DaZ) an Hochschulen in der Schweiz. In: Demmig, Silvia/ Hägi, Sara/ Schweiger, Hannes (Hrg.): DACH-Landeskunde. Theorie - Geschichte - Praxis. München: Iudicium, S. 166-172. Glaser, Elvira (2014): Wandel und Variation in der Morphosyntax der schweizerdeutschen Dialekte. In: Taal en Tongval. Tijdschrift voor Taalvariatie, 66, 1, S. 21-64. Glaser, Elvira/ Frey, Natascha (Hrg.) (2011): Empirical Studies on Verb Doubling in Swiss German Dialects/ Empirische Studien zur Verbverdoppelung in schweizerdeutschen Dialekten. Linguistik online, 45, 1. Goebl, Hans (2012-2013): Isoglossenkarten. In: Schweizerdeutsche Dialektometrie. Abrufbar unter: http: / / dialektkarten.ch/ dmviewer/ isogloss.de.html. (Letzter Zugriff: 29.10.2018). Graf, Martin (2015): Bundesversammlung. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Abrufbar unter: http: / / www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D10081.php. (Letzter Zugriff: 29. 10. 2018). Grimm, Jacob (1854): Vorrede. In: Grimm, Jacob/ Grimm, Wilhelm (Hrg.): Deutsches Wörterbuch. Bd. 1. Leipzig: Hirzel, Sp. I-LXVIII. Grüner, Laure (2010): Les patois valaisans. Bern: Schweizerische Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften. Grünert, Matthias (2011): Varietäten und Sprachkontakt in rätoromanischen SMS. In: Linguistik Online, 48, 4. Grünert, Matthias/ Picenoni, Mathias/ Cathomas, Regula/ Gadmer, Thomas (2008): Das Funktionieren der Dreisprachigkeit im Kanton Graubünden. Tübingen/ Basel: Francke. Guntern, Manuela (i. Druck): Variables Schweizerhochdeutsch. Warum die Standardsprache in der Deutschschweiz wie gesprochen wird und wie sie gesprochen werden könnte. Unveröff. Dissertation. Freiburg i.Ü. Gyger, Mathilde/ Besset, Sophie/ Montefiori, Nadia/ Zenhäusern, Helene (2011): Sprachliche Orientierungskompetenz von Kindern mit Migrationshintergrund. Schlussbericht des SNF DORE-Projekts Lernersprache zwischen Mundart und Hochdeutsch. Brugg: FHNW. Haas, Walter (1992): Reine Mundart. In: Burger, Harald/ Haas, Alois M./ Matt, Peter von (Hrg.): Verborum amor. Studien zur Geschichte und Kunst der deutschen Sprache. Festschrift für Stefan Sonderegger zum 65. Geburtstag. Berlin: de Gruyter, S. 578-610. Haas, Walter (1999): Sprachwandel in Apparent Time und in Real Time. Einige Beobachtungen anhand des Senslerdeutschen, zugleich eine hommage an die tempora Friburgensia necnon Supramontana Seeboldii. In: Schindler, Wolfgang/ Untermann, Jürgen (Hrg.): Grippe, Kamm und Eulenspiegel. Berlin/ New York: de Gruyter, S. 125-144. Haas, Walter (2000a): Sprachgeschichtliche Grundlagen. In: Bickel, Hans/ Schläpfer, Robert (Hrg.): Die viersprachige Schweiz. 2. Aufl. Aarau: Sauerländer, S. 17-56. Haas, Walter (2000b): Mundart und Standardsprache. In: Bickel, Hans/ Schläpfer, Robert (Hrg.): Die viersprachige Schweiz. 2. Aufl. Aarau: Sauerländer, S. 75-209. Haas, Walter (2004): Die Sprachsituation in der deutschen Schweiz und das Konzept der Diglossie. In: Christen, Helen (Hrg.): Dialekt, Regiolekt und Standardsprache im sozialen und zeitlichen Raum. Wien: Praesens, S. 81-110. Haas, Walter (2006) Die Schweiz/ Switzerland. In: Ammon, Ulrich et al. (Hrg.): Sociolinguistics/ Soziolinguistik. 2. Auflage. Berlin/ Boston: de Gruyter (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 3), S. 1772-1787. 238 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="239"?> Häcki Buhofer, Annelies/ Burger, Harald (1998): Wie Deutschschweizer Kinder Hochdeutsch lernen. Der ungesteuerte Erwerb des gesprochenen Hochdeutsch durch Deutschschweizer Kinder zwischen sechs und acht Jahren. Wiesbaden: Steiner. Häcki Buhofer, Annelies/ Burger, Harald/ Schneider, Hansjakob/ Studer, Thomas (1994): Früher Hochspracherwerb in der Deutschen Schweiz. Der weitgehend ungesteuerte Erwerb durch sechsbis achtjährige Deutschschweizer Kinder. In: Burger, Harald/ Häcki Buhofer, Annelies (Hrg.): Spracherwerb im Spannungsfeld von Dialekt und Hochsprache. Bern: Lang, S. 147-198. Häcki Buhofer, Annelies/ Studer, Thomas (1993): Zur Entwicklung von Sprachdifferenzbewusstsein und Einstellungen zu den Varianten des Deutschen in der Deutschen Schweiz. In: Bulletin CILA, 58, S. 179-199. Hägi, Sara/ Scharloth, Joachim (2005): Ist Standarddeutsch für Deutschschweizer eine Fremdsprache? Untersuchungen zu einem Topos des sprachreflexiven Diskurses. In: Linguistik online, 24, 3. Havel, Nina (2012): Wie sich Mundart und Standardsprache im Schweizer Radio und Fernsehen SRF zueinander verhalten. Eine linguistische Untersuchung am Beispiel des Programms SF1 und DRS1. Lizentiatsarbeit Universität Zürich. Herrgen, Joachim (2015): Entnationalisierung des Standards. Eine perzeptionslinguistische Untersuchung zur deutschen Standardsprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In: Lenz, Alexandra Nicole/ Glauninger, Manfred M. (Hrg.): Standarddeutsch im 21. Jahrhundert. Theoretische und empirische Ansätze mit einem Fokus auf Österreich. Göttingen: Vienna University Press (= Wiener Arbeiten zur Linguistik; 1), S. 139-164. Hofer, Lorenz (1997): Sprachwandel im städtischen Dialektrepertoire. Eine variationslinguistische Untersuchung am Beispiel des Baseldeutschen. Tübingen/ Basel: Francke. Hotzenköcherle, Rudolf (1961): Zur Raumstruktur des Schweizerdeutschen. Statik und Dynamik. In: Zeitschrift für Mundartforschung, XXVIII, S. 207-227. (auch in: Hotzenköcherle, Rudolf [1986]: Dialektstrukturen im Wandel. Aarau: Sauerländer, S. 33-69). Hove, Ingrid (2002): Die Aussprache der Standardsprache in der deutschen Schweiz. Tübingen: Niemeyer. Hove, Ingrid (2008): Zur Unterscheidung des Schweizerdeutschen und der (schweizerischen) Standardsprache. In: Christen, Helen/ Ziegler, Evelyn (Hrg): Sprechen, Schreiben, Hören. Zur Produktion und Perzeption von Dialekt und Standardsprache zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wien: Praesens, S. 63-82. Institut für Mehrsprachigkeit (laufend): Dokumentationen des wissenschaftlichen Kompetenzzentrums für Mehrsprachigkeit am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg und der Pädagogischen Hochschule Freiburg i.Ü. Jordan, Peter (2011): The Endonym - Name from within a Socia Group. In: Jordan, Peter/ Bergmann, Hubert/ Burgess, Caroline/ Cheetham, Catherine (Hrg.): Trends in Exonmy Use. Hamburg: Kovač, S. 9-20. Kleiner, Stefan (2015): „Deutsch heute“ und der Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards. In: Kehrein, Roland/ Lameli, Alfred/ Rabanus, Stefan (Hrg.): Regionale Variation des Deutschen. Projekte und Perspektiven. Berlin/ Boston: de Gruyter, S. 489-518. Kley, Andreas (2016): Kantone. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Abrufbar unter: http: / / www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D26414.php. (Letzter Zugriff: 29.10.2018). Kloss, Heinz (1976): Abstandsprachen und Ausbausprachen. In: Göschel, Joachim/ Nail, Norbert/ van der Elst, Gaston (Hrg.): Zur Theorie des Dialekts. Wiesbaden: Franz Steiner, S. 301-322. Knecht, Pierre (2000): Die französischsprachige Schweiz. In: Bickel, Hans/ Schläpfer, Robert (Hrg.): Die viersprachige Schweiz. 2. Aufl. Aarau: Sauerländer, S. 139-176. Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf (1985): Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Gernert, Folke/ Jacob, Die Schweiz 239 <?page no="240"?> Daniel/ Nelting, David/ Schmitt, Christian/ Selig, Maria/ Zepp, Susanne (Hrg.): Romanistisches Jahrbuch. Bd. 36. Berlin/ NewYork: de Gruyter, S. 15-43. Kolde, Gottfried (1981): Sprachkontakte in gemischtsprachigen Städten: Vergleichende Untersuchungen über Voraussetzungen und Formen sprachlicher Interaktion verschiedensprachiger Jugendlicher in den Schweizer Städten Biel/ Bienne und Fribourg/ Freiburg i.Ü. Wiesbaden: Franz Steiner. Koller, Werner (1992): Deutsche in der Deutschschweiz. Eine sprachsoziologische Untersuchung. Mit einem Beitrag von Heinrich Hänger. Aarau/ Frankfurt a.M./ Salzburg: Sauerländer (= Reihe Sprachlandschaft; 10). Krech, Eva-Maria/ Stock, Eberhard/ Hirschfeld, Ursula/ Anders, Lutz-Christian (2010): Deutsches Aussprachewörterbuch. Berlin/ New York: de Gruyter. Kreis, Georg (2012): Röstigraben. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Abrufbar unter: http: / / www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D47131.php? topdf=1. (Letzter Zugriff: 29.10.2018). Krumm, Hans-Jürgen/ Fandrych, Christian/ Hufeisen, Britta/ Riemer, Claudia (Hrg.) (2010): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Ein internationales Handbuch. Berlin: De Gruyter Mouton (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 35.1). Landert, Karin (2007): Hochdeutsch im Kindergarten? Eine empirische Studie zum frühen Hochdeutscherwerb in der Deutschschweiz. Bern: Lang. Leemann, Adrian/ Kolly, Marie-José/ Nolan, Francis (2015): It's not Phonetic Aesthetics that Drives Dialect Preference. The Case of Swiss German. In: Proceedings of ICPhS 2015. Leemann, Adrian/ Kolly, Marie-José/ Werlen, Iwar/ Britain, David/ Studer-Joho, Dieter (2014): The Diffusion of / l/ -vocalization in Swiss German. In: Language Variation and Change, 26, S. 191-218. Leemann, Adrian/ Siebenhaar, Beat (2008): Perception of Dialectal Prosody. Proceedings of Interspeech 2008. Brisbane: ISCA, S. 524-527. Lenz, Pedro (2010): Dr Goalie bin ig. Luzern: der gesunde Menschenverstand. Liver, Ricarda (2000): Das Bündnerromanische. In: Bickel, Hans/ Schläpfer, Robert (Hrg.): Die viersprachige Schweiz. 2. Aufl. Aarau: Sauerländer, S. 211-234. Löffler, Heinrich (1997): Deutsche Schweiz. In: Goebl, Hans/ Nelde, Peter H./ Starý, Zdeněk/ Wölck, Wolfgang (Hrg.): Kontaktlinguistik. Bd. 2. Berlin: de Gruyter, S. 1854-1862. Lötscher, Andreas (1993): Zur Genese der Verbdoppelung bei gaa, choo, laa, aafaa („gehen“, „kommen“, „lassen“, „anfangen“) im Schweizerdeutschen. In: Linguistische Berichte, Sonderheft, 5, S. 180-200. Lüdi, George/ Höchle, Katharina/ Yanaprasart, Patchareerat (2013): Multilingualism and Diversity Management in Companies in the Upper Rhine Region. In: Berthoud, Anne-Claude/ Grin, François/ Lüdi, Georges (Hrg.): Exploring the Dynamics of Multilingualism. Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins Publishing Company, S. 59-82. Lüdi, Georges/ Py, Bernard/ de Pietro, Jean-François/ Franceschini, Rita/ Matthey, Marinette/ Oesch-Serra, Cecilia/ Quiroga-Blaser, Christine (1994): Fremdsprachig im eigenen Land. Wenn Binnenwanderer in der Schweiz das Sprachgebiet wechseln und wie sie darüber reden. Basel/ Frankfurt a.M.: Helbing & Lichtenhahn. Luginbühl, Martin (2012): „Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, uf Widerluege“. Dialekt und Standard in Schweizer Medien. In: Jaczak, Barbara/ Jungbluth, Konstanze/ Weydt, Harald (Hrg.): Mehrsprachigkeit aus deutscher Perspektive. Tübingen: Narr, S. 195-211. Lurati, Ottavio (2000): Die sprachliche Situation in der Südschweiz. In: Bickel, Hans/ Schläpfer, Robert (Hrg.): Die viersprachige Schweiz. 2. Aufl. Aarau: Sauerländer, S. 177-210. Luzerner Zeitung (2018): Ratgeber Anfrage vom 28.5.2018, S. 15. Marti, Kurt (1967): Rosa Loui. Vierzg gedicht ir bärner umgangsschprach. Neuwied/ Berlin: Luchterhand. McRae, Kenneth Douglas (1974): Consociational Democracy. Political Accomodation in Segmented Societies. Toronto: McClelland and Stewart. 240 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="241"?> Meyer, Kurt (2006): Schweizer Wörterbuch. So sagen wir in der Schweiz. Mit einem Beitrag von Hans Bickel. Frauenfeld: Verlag Huber. Montefiori, Nadia (2018): Präpubertärer Zweitspracherwerb im Deutschschweizer Kontext. Eine empirische Untersuchung der Präpositionalphrase in Dialekt und Hochdeutsch. Dissertation. Universität Freiburg. Moretti, Bruno (Hrg.) (2004): La terza lingua. Aspetti dell’italiano in Svizzera agli inizi del terzo millennio. Vol. I: Norma e varietà di lingua in Ticino. Il cannocchiale. Vol. 7. Locarno: Dadò. Moretti, Bruno/ Casoni, Matteo (2016): L'italiano in Svizzera: una panoramica fra dati statistici e varietà sociolinguistiche. In: Studi italiani di linguistica teorica e applicata: L'italiano in Svizzera, 16, 3, S. 395-417. Müller, Martin/ Wertenschlag, Lukas/ Gerhartl, Sabrina/ Halilbasic, Anisa/ Kaiser, Irmtraud/ Peyer, Elisabeth/ Shafer, Naomi/ Berthele. Raphael (2009): Chunsch druus? Schweizerdeutsch verstehen - die Deutschschweiz verstehen. Bern: Schulverlag blmv. Niederhauser, Jürg (1997): Schweiz. In: Goebl, Hans/ Nelde, Peter H./ Starý, Zdeněk/ Wölck, Wolfgang (Hrg.): Kontaktlinguistik. Bd. 2. Berlin: de Gruyter, S. 1836-1854. Niehaus, Konstantin (2016): Areale Variation in der Syntax des Standarddeutschen: Ergebnisse zum Sprachgebrauch und zur Frage Plurizentrik vs. Pluriarealität. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, 82, 2, S. 134-168. Nübling, Damaris (1992): Klitika im Deutschen. Schriftsprache, Umgangssprache, alemannische Dialekte. Tübingen: Narr (= ScriptOralia; 42). Oberholzer, Susanne (2014): Wie Deutschschweizer Pfarrpersonen die Möglichkeiten der Diglossie nutzen. In: Huck, Dominique (Hrg.): Alemannische Dialektologie. Dialekte im Kontakt. Beiträge zur 17. Arbeitstagung für alemannische Dialektologie in Straßburg vom 26.-28.10.2011. Stuttgart: Steiner (= Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Beihefte; 155), S. 215-226. Oglesby, Stefan (1992): Mechanismen der Interferenz zwischen Standarddeutsch und Mundart in der Schweiz. Eine empirische Untersuchung mit Einwohnern der Agglomeration Luzern. Bern u.a.: Lang (= Europäische Hochschulschriften; Reihe 21/ Linguistik; 107). Pedretti, Bruno (2000): Die Beziehungen zwischen den schweizerischen Sprachregionen. In: Schläpfer, Robert/ Bickel, Hans (Hrg.): Die viersprachige Schweiz. Aarau u.a.: Sauerländer, S. 269-307. Petkova, Marina (2012): Die Deutschschweizer Diglossie: eine Kategorie mit fuzzy boundaries. In: LiLi: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 42, 166, S. 126-154. Petkova, Marina (2016): Multiples Code-Switching. Ein Sprachkontaktphänomen am Beispiel der Deutschschweiz. Die Fernsehberichterstattung zur „Euro 08“ und andere Vorkommenskontexte aus interaktionsanalytischer Perspektive. Heidelberg: Winter (= OraLingua; 14). Preston, Dennis R. (2010): Perceptual Dialectology in the 21st Century. In: Anders, Christina Ada/ Hundt, Markus/ Lasch, Alexander (Hrg.): Perceptual Dialectology. Neue Wege der Dialektologie. Berlin: de Gruyter, S. 1-29. Reinhardt, Volker (2010): Kleine Geschichte der Schweiz. München: C.H.Beck. Ris, Roland (1990): Diglossie und Bilingualismus in der deutschen Schweiz. Verirrung oder Chance? In: Vogua, Jean-Pierre (Hrg.): La Suisse face à ses langues. Aarau: Sauerländer, S. 40-49. Ris, Roland (1992): Innerethik der deutschen Schweiz. In: Hugger, Paul (Hrg.): Handbuch der schweizerischen Volkskultur. 3 Bde. Zürich: Offizin, S. 749-766. RTVG = Bundesgesetz über Radio und Fernsehen vom 24. März 2006. Bern: Bundeskanzlei. Abrufbar unter: https: / / www.admin.ch/ opc/ de/ classified-compilation/ 20001794/ index.html. (Letzter Zugriff: 8.9.2018). Ruch, Hanna (2015): Vowel Convergence and Divergence between Two Swiss German Dialects. In: The Scottish Consortium for ICPhS 2015 (Hrg.): Proceedings of the 18th International Congress of Phonetic Sciences. Paper 0404. Glasgow: The University of Glasgow. Die Schweiz 241 <?page no="242"?> Ruoss, Emanuel/ Schröter, Juliane (i. Druck): Schweizerdeutsch. Geschichte der Einstellungen zu den Mundarten in der Deutschschweiz. Zürich: NZZ Libro. Savoia, Sergio/ Vitale, Ettore (2008): Lo Svizzionario. Splendori, miserie e segreti della lingua italiana in Svizzera. Bellinzona: Torriani. Scharloth, Joachim (2005): Asymmetrische Plurizentrizität und Sprachbewusstsein. Einstellungen der Deutschschweizer zum Standarddeutschen. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik, 33, 2, S. 236-267. Scheuringer, Hermann (1996): Das Deutsche als pluriareale Sprache: Ein Beitrag gegen staatlich begrenzte Horizonte in der Diskussion um die deutsche Sprache in Österreich. In: Die Unterrichtspraxis, 29, 2, S. 147-153. Schiesser, Alexandra (2018): Dialekte machen. Konstruktion und Gebrauch arealer Varianten im Kontext sprachraumbezogener Alltagsdiskurse. Unveröff. Dissertation. Universität Freiburg i.Ü. Schläpfer, Robert/ Gutzwiller, Jürg/ Schmid, Beat (1991): Das Spannungsfeld zwischen Mundart und Standardsprache in der deutschen Schweiz. Spracheinstellungen junger Deutsch- und Welschschweizer: Eine Auswertung der pädagogischen Rekrutenprüfung 1985. Aarau/ Frankfurt a.M.: Sauerländer. Schmid, Christian (2016): Dialektliteratur: Deutschschweiz. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Abrufbar unter: http: / / www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D11206.php. (Letzter Zugriff: 7.9.2017). Schmid, Stephan (1995). Zum Italienisch Spanischsprachiger Arbeitsimmigranten in der deutschen Schweiz. In: Babylonia: Zeitschrift für Sprachunterricht und Sprachenlernen, 1, S. 45-51. Schmidlin, Regula (1999): Wie Deutschschweizer Kinder schreiben und erzählen lernen. Textstruktur und Lexik von Kindertexten aus der Deutschschweiz und aus Deutschland. Tübingen/ Basel: Francke. Schmidlin, Regula (2007): Phraseme in standardsprachlichen Varietäten des Deutschen/ Phraseological expressions in German standard varieties. In: Burger, Harald/ Dobrovol’ski, Dmitrij/ Kühn, Peter/ Norrick, Neal (Hrg.): Phraseologie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung/ An International Handbook of Contemporary Research. Berlin/ New York: de Gruyter, S. 551-562 Schmidlin, Regula (2011): Die Vielfalt des Deutschen: Standard und Variation: Gebrauch, Einschätzung und Kodifizierung einer plurizentrischen Sprache. Berlin/ New York: de Gruyter. Schmidlin, Regula (2013): Gebrauch und Einschätzung des Deutschen als plurizentrische Sprache. In: Kellermeier-Rehbein, Birte/ Haselhuber, Jakob/ Schneider-Wiejowski, Karina (Hrg.): Vielfalt, Variation und Stellung der deutschen Sprache. Berlin/ New York: de Gruyter, S. 23-41. Schmidlin, Regula/ Franceschini, Rita (im Druck): Komplexe Überdachung I: Schweiz. In: Herrgen, Joachim/ Schmidt, Jürgen Erich (Hrg.): Language and Space. An International Handbook of Linguistic Variation. Bd. 4: Areale Sprachvariation im Deutschen. Berlin/ New York: de Gruyter (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 30/ 4). Schneuwly, Rainer (1995): Balmgasse/ Rue de la Palme. Geschichtliches und Geschichten zu den zweiundzwanzig zweisprachig beschrifteten Strassen und Plätzen in Freiburg i.Ü. Freiburg i.Ü.: Paulusverlag. Schnidrig, Kurt (1986): Das Dusseln. Ein Subsidiärdialekt im Deutschwallis. Freiburg i.Ü.: Paulusverlag. Scholten, Beate (1988): Standard und städtischer Substandard bei Heranwachsenden im Ruhrgebiet. Tübingen: Niedermeyer (= Reihe Germanistische Linguistik; 88). Schwarzenbach, Rudolf (1969): Die Stellung der Mundart in der deutschsprachigen Schweiz. Frauenfeld: Huber. Schweizer Bauer (2017): Ende Jahr ist Schluss. Abrufbar unter: www.schweizerbauer.ch/ politik--wirtschaft/ kampf-um-milchpreis/ ende-jahr-ist-schluss-37131.html. (Letzter Zugriff: 24.10.2018). Siebenhaar, Beat (2000): Sprachvariation, Sprachwandel und Einstellung. Der Dialekt der Stadt Aarau in der Labilitätszone zwischen Zürcher und Berner Mundartraum. Stuttgart: Franz Steiner Verlag (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Beihefte; 108). 242 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="243"?> Sieber, Peter (2001): Das Deutsche in der Schweiz. In: Helbig, Gerhard/ Götze, Lutz/ Henrici, Gert/ Krumm, Hans-Jürgen (Hrg.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin/ New York: de Gruyter (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 19/ 1), S. 491-504. Sieber, Peter/ Sitta, Horst (1986): Mundart und Standardsprache als Problem der Schule. Aarau: Sauerländer. SKBF = Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung (2014): Bildungsbericht Schweiz 2014. Aarau: SKBF. Snow, Don (2013): Revisiting Ferguson’s Defining Cases of Diglossia. In: Journal of Multilingual and Multicultural Development, 34, 1, S. 61-76. Solèr, Clau (1997): Rätoromanische Schweiz. In: Goebl, Hans/ Nelde, Peter H./ Starý, Zdeněk/ Wölck, Wolfgang (Hrg.): Kontaktlinguistik. Bd. 2. Berlin: de Gruyter, S. 1879-1886. Solèr, Clau (1998): Sprachkontakt = Sprachwechsel. Deutsch und Romanisch in Graubünden. In: Werlen, Iwar (Hrg.): Mehrsprachigkeit im Alpenraum. Aarau: Sauerländer, S. 149-163. Sonderegger, Stefan (2003a): Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz. In: Besch, Werner/ Betten, Anne/ Reichmann, Oskar/ Sonderegger, Stefan (Hrg.): Sprachgeschichte. 3. Teilbd. Berlin/ New York: de Gruyter, S. 2825-2888. Sonderegger, Stefan (2003b): Althochdeutsche Sprache und Literatur. 3. Aufl. Berlin/ New York: de Gruyter. SpG (2017): Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften vom 5. Oktober 2007. Bern: Bundeskanzelei. Abrufbar unter: https: / / www.admin.ch/ opc/ de/ federal-gazette/ 2007/ 6951.pdf. (Letzter Zugriff: 8.9.2018). Stadler, Hans (2008): Länderorte. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Abrufbar unter: http: / / www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D9918.php. (Letzter Zugriff: 29.10.2018). Stock, Eberhard (2000): Zur Intonation des Schweizerdeutschen. In: Habermann, Mechthild/ Müller, Peter O./ Baumann, Bernd (Hrg.): Wortschatz und Orthographie in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Horst Haider Munske zum 65. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer, S. 299-314. Studer, Thomas (2002): Dialekte im DaF-Unterricht? Ja, aber … Konturen eines Konzepts für den Aufbau einer rezeptiven Varietätenkompetenz. In: Linguistik online, 10, 1. Studer, Thomas & Schneider, Günther (Hrg.) (2004): Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache in der Schweiz. Bulletin VALS/ ASLA, 79, S. VII-X. Studler, Rebekka (2013): Einstellungen zu Standarddeutsch und Dialekt in der Deutschschweiz. Erste Ergebnisse einer Fragebogenstudie. In: Hettler, Yvonne/ Jürgens, Carolin/ Langhanke, Robert/ Purschke, Christoph (Hrg.): Variation, Wandel, Wissen. Studien zum Hochdeutschen und Niederdeutschen. Frankfurt a.M.: Lang (=Sprache in der Gesellschaft; 32), S. 203-222. Studler, Rebekka (2017): Diglossia or Bilingualism. High German in German-speaking Switzerland from a Folk Linguistic Perspective. In: Revue transatlantique d’études suisses. Diglossies suisses et caribéennes. Retour sur un concept (in)utile, 6-7, S. 39-57. Eidgenössisches Departement des Innern EDI. (Hrg.) (2017): Taschenstatistik der Schweiz. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik BfS. Thibault, André/ Knecht, Pierre (1997): Dictionnaire Suisse-romand. Particularités lexicales du français contemporain. Carouge-Genève: Zoé. Tissot, Fabienne/ Schmid, Stephan/ Galliker, Esther (2011): Ethnolektales Schweizerdeutsch. soziophonetische und morphosyntaktische Merkmale sowie ihre dynamische Verwendung in ethnolektalen Sprechweisen. In: Glaser, Elvira/ Schmidt, Jürgen Erich/ Frey, Natascha (Hrg.): Dynamik des Dialekts. Wandel und Variation. Akten des 3. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie (IGDD). Stuttgart: Steiner, S. 319-344. Trudgill, Peter (1986): Dialects in Contact. Oxford: Blackwell. Die Schweiz 243 <?page no="244"?> Ulbrich, Christiane (2005): Phonetische Untersuchungen zur Prosodie der Standardvarietäten des Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland, in der Schweiz und in Österreich. Frankfurt a.M.: Lang. Urweider, Raphael (2014): Der Goalie bin ich. Übersetzung von „Dr Goalie bin ig“. Zürich: Kein und Aber. Veillette, Josianne (2017): Dynamiques de cohabitation et relations asymétriques entre groupes linguistiques en terre fribourgeoise: la diglossie, une question secondaire? In: Revue transatlantique d’études suisses. Diglossies suisses et caribéennes. Retour sur un concept (in)utile, 6-7, S. 103-121. Werlen, Iwar (1980): R im Schweizerdeutschen. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, 47, 1, S. 52-76. Werlen, Iwar (1985): Zur Einschätzung von schweizerdeutschen Dialekten. In: Werlen, Iwar (Hrg.): Probleme der schweizerischen Dialektologie. Freiburg i. Ü.: Paulusverlag, S. 195-266. Werlen, Iwar (1998): Mediale Diglossie oder asymmetrische Zweisprachigkeit? Mundart und Hochsprache in der deutschen Schweiz. In: Babylonia, 1, 98, S. 22-35. Werlen, Iwar (2004): Zur Sprachsituation der Schweiz mit besonderer Berücksichtigung der Diglossie in der Deutschschweiz. In : Bulletin VALS/ ASLA suisse de linguistique appliquée, 79, S. 1-30. Werlen, Iwar (2006): Zwischen „Grüessech“ und „Tagwoll“. Das Sprachverhalten und die Lebenssituation der Oberwalliser und Oberwalliserinnen in Bern. Bern: Universität Bern. Willi, Urs/ Solèr, Clau (1990): Der rätoromanisch-deutsche Sprachkontakt in Graubünden. In: Kremer, Ludger/ Niebaum, Hermann (Hrg.): Grenzdialekte. Studien zur Entwicklung kontinentalwestgermanischer Dialektkontinua. Hildesheim: Olms Weidmann (= Germanistische Linguistik; 101-103), S. 445-475. Würgler, Andreas (2012): Eidgenossenschaft. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Abrufbar unter: http: / / www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D26413.php. (Letzter Zugriff: 29.10.2018). Wyss, Martin Philipp (1997): Das Sprachenrecht der Schweiz nach der Revision von Art. 116 BV. In: Zeitschrift für schweizerisches Recht, 116, S. 141-177. Zimmermann, Martina (2017): Distinktion durch Sprache? Eine kritisch soziolinguistische Ethnographie der studentischen Mobilität im marktwirtschaftlichen Hochschulsystem der mehrsprachigen Schweiz. Tübingen: Narr Francke Attempto. Zinsli, Paul (1975): Ortsnamen. Strukturen und Schichten in den Siedlungs- und Flurnamen der deutschen Schweiz. 2. Aufl. Frauenfeld: Huber. 244 Helen Christen / Regula Schmidlin <?page no="245"?> Südtirol Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl 1 Geographische Lage 2 Demographie und Statistik 3 Geschichte 4 Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung 4.1 Wirtschaftliche Situation 4.2 Politische Situation 4.3 Rechtliche Stellung des Deutschen, Schulsystem, offizielle Sprachregelungen 4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien, Literatur 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Allgemeines 5.2 Kontaktsprachen 5.3 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen 5.4 Sprachkontakt 5.5 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Allgemeines 6.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten 6.3 Sprachgebrauch in einzelnen Domänen 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation 7.3 Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache (als Identitätsmerkmal) 8 Linguistic Landscapes 9 Faktorenspezifik (Zusammenfassung) Literatur 1 Geographische Lage Südtirol (ital. ‚Alto Adige‘, ‚Sudtirolo‘), amtlich ‚Autonome Provinz Bozen-Südtirol‘, die nördlichste Provinz Italiens, liegt in den Alpen und grenzt an die italienischen Provinzen Sondrio (Region Lombardei), Trentino (Region Trentino-Südtirol) und Belluno (Region Venetien), an die österreichischen Bundesländer Tirol und Salzburg (zu einem kleinen Teil) und an den Schweizer Kanton Graubünden an. Mit einer Gesamtfläche von 7.400 km 2 ist Südtirol zwar flächenmäßig eine der größten Provinzen Italiens, jedoch fallen 94 Prozent der Fläche in Berggebiet, wodurch Südtirol relativ dünn besiedelt ist. Der größte Teil seiner Gesamtfläche (49 %) liegt zwischen 1.000 und 2.000 m über dem Meeresspiegel, 37 Prozent liegen über 2.000 m und 14 Prozent unter 1.000 m. <?page no="246"?> Insgesamt gibt es acht Gemeinden mit Stadtrecht. Dabei weist die Landeshauptstadt Bozen mit 107.317 Einwohnern die höchste Einwohnerzahl auf, gefolgt von Meran (40.485), Brixen (22.011), Leifers (17.954), Bruneck (16.580), Sterzing (6.956), Klausen (5.235), und mit 887 Einwohnern folgt abschließend, als kleinste Stadt Südtirols, Glurns (Stand 31.12.2017; ASTAT 2018a: 10 ff.). 2 Demographie und Statistik Obwohl Südtirol zwar flächenmäßig eine der größten Provinzen Italiens ist, ist das Land aufgrund seiner geografischen Lage relativ dünn besiedelt. Im Jahr 2018 waren 528.918 Einwohner in Südtirol wohnhaft (ASTAT 2018b: 1). Sprachlich ist Südtirol durch eine offizielle Dreisprachigkeit (Deutsch, Italienisch, Ladinisch) gekennzeichnet. Bei der letzten Volkszählung von 2011 1 gab bei der Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung die überwiegende Mehrheit (69,6 %) der 445.647 2 Bürger an, der deutschen Sprachgruppe anzugehören, 25,8 Prozent der italienischen, und knapp 4,5 Prozent erklärten sich der ladinischen Sprachgruppe zugehörig (ASTAT 2018a: 15). Die Ergebnisse der Sprachgruppenzählung, die alle zehn Jahre stattfindet, werden für die Berechnung des Sprachgruppenproporzes herangezogen. Durch den sogenannten ethnischen Proporz - die drei Sprachgruppen werden im Verhältnis zu ihrer zahlenmäßigen Stärke berücksichtigt - soll garantiert werden, dass zum Beispiel Stellen in den öffentlichen Ämtern gleichmäßig unter den drei Sprachgruppen aufgeteilt werden (Dekret des Präsidenten der Republik vom 31. August 1972, Nr. 670, Art. 89; vgl. Südtiroler Landesregierung 2010: 90-123). Dabei sind die drei Sprachgruppen nicht homogen auf das Land verteilt. Die Mehrheit (73,8 %) der Einwohner der Landeshauptstadt Bozen erklärt sich der italienischen Sprachgruppe zugehörig. Weitere Gemeinden mit einer italienischsprachigen Mehrheit sind Leifers (71,5 %), Branzoll, Pfatten und Salurn (jeweils über 60,0 %). In Meran ist die Verteilung ausgeglichen, 49,1 Prozent der dortigen Bevölkerung sind der italienischen und 50,5 Prozent der deutschen Sprachgruppe zugehörig. Abgesehen von den acht Gemeinden im Gadertal und in Gröden, in denen die Mehrheit der ladinischen Sprachgruppe angehört (mehr als 84,0 % der dortigen Bevölkerung), überwiegt die deutschsprachige Bevölkerung in den übrigen Südtiroler Gemeinden (ASTAT 2018a: 16 ff.). Der Gesamtausländeranteil beträgt in Südtirol 9,1 Prozent, das sind in absoluten Zahlen 48.018 Einwohner (Stand: 31.12.2017). Der größte Anteil ausländischer 1 Seit 1961 wird bei der Volkszählung auch die Sprachgruppenzugehörigkeit abgefragt. Seit 1991 wird die Sprachgruppenzählung getrennt von der eigentlichen offiziellen Volks- und Wohnungszählung durchgeführt. Dadurch sind, außer dem Wohnsitz, keine weiteren Informationen (Geschlecht, Alter, Beruf usw.) zur Person bekannt. Sollte sich jemand zu keiner der drei vorgesehenen Sprachgruppen (deutsch/ italienisch/ ladinisch) bekennen, kann man eine Zuordnungserklärung zu einer der drei Sprachgruppen abgeben. Im Jahr 2011 gaben 7.625 (1,7 %) Südtiroler eine solche Sprachgruppenzuordnungserklärung ab (ASTAT 2018a: 15). Kontrolliert wird die Aussage über die Sprachgruppenzugehörigkeit in der Regel nicht. In einigen Fällen kann sie aber verlangt bzw. muss sie abgegeben werden, wie etwa bei den Landtagsabgeordneten oder beim Einschulen der Kinder durch die Eltern. 2 Insgesamt waren im Jahr 2011 453.272 Bürger berechtigt, eine Erklärung abzugeben, davon gaben 445.647 (98,3 %) eine Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung ab und 7.625 (1,7 %) eine Sprachgruppenzuordnungserklärung (ASTAT 2018a: 15). 246 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="247"?> Personen kommt aus Albanien (11,1 %), gefolgt von Deutschland (9,1 %), Marokko (7,0 %), Pakistan (7,0 %) und Rumänien (6,7 %) (ASTAT 2018c). 3 Mit einer Lebenserwartung von 81,1 Jahren bei den Männern und 85,9 Jahren bei den Frauen liegt Südtirol über dem gesamtstaatlichen Durchschnitt (80,6 für Männer und 85,0 für Frauen) (ASTAT 2018a: 20). 3 Geschichte Südtirol war bis zum Ersten Weltkrieg durchgehend ein Teil von Gesamttirol, das seit dem 8. Jahrhundert bis an die Poebene reichte und zunächst zum Herzogtum Bayern gehörte. Aufgrund eines Erbvertrages fiel es 1363 an das Haus Habsburg und wurde Habsburgisches Erbland. Die sogenannte ‚Gefürstete Grafschaft Tirol‘ war bis 1806 Teil des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, danach bis 1867 Teil des Kaisertums Österreich - mit einer Unterbrechung in den napoleonischen Koalitionskriegen, von 1805 bis 1814, als das Land zum neuen Königreich Bayern gehörte. In der Zeit zwischen 1867 und 1918 war Tirol als Kronland Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Nach dem für Österreich-Ungarn verlorenen Ersten Weltkrieg wurden das überwiegend deutschsprachige Südtirol (1910 zu 89 % deutschsprachig) ebenso wie das vornehmlich italienischsprachige Welschtirol (Trentino) im November 1918 von Italien besetzt und mit dem Vertrag von Saint-Germain am 10. September 1919 endgültig an den italienischen Staat angegliedert. Die deutschsprachigen Gebiete südlich des Brenners wurden gemeinsam mit dem vormaligen Welschtirol (Trentino) zu einer mehrheitlich italienischsprachigen Verwaltungseinheit Provincia di Venezia Tridentina (entspricht etwa der heutigen Region Trentino-Südtirol) vereint. Damit war die deutschsprachige Gruppe in dieser Verwaltungseinheit in der Minderheit (vgl. Steininger 2003). Mit der Machtergreifung Benito Mussolinis begannen dann einschneidende Maßnahmen zur Italianisierung der Südtiroler Bevölkerung. Dabei war ein Drei-Phasen-Konzept vorgesehen: 1. Vollständige Assimilation der dort ansässigen Bevölkerung 2. Massive Einwanderung von Italienern 3. Vertreibung der Einheimischen Erste Maßnahme war die zunehmende Zurückdrängung der deutschen Sprache: Diese begann mit der Italianisierung sämtlicher Orts- und Flurnamen bis hin zur völligen Italianisierung von Schule und Religionsunterricht im Schuljahr 1929/ 1930 (vgl. Villgrater 1984: 35, Mall/ Plagg 1990: 220 f.). Vor 1922 fehlte an fast allen Schulen das Fach Italienisch, das dann im Schuljahr 1922/ 1923 mit 5 Wochenstunden (ab der 3. Klasse) eingeführt wurde (Seberich 2000: 53). Im Oktober 1923 erfolgte durch das Gentile-Gesetz ( Lex Gentile ) die schrittweise Italianisierung der Schulen. Im Zuge dessen wurde verfügt, dass an allen Volksschulen ausschließlich Italienisch als Unterrichtssprache gelten sollte, mit Ausnahme des Religionsunterrichts (Seberich 2000: 69, Eberhöfer 2009: 29 f.). Im darauffolgenden Jahr, 1924, wurde auch an den deutschsprachigen 3 Auf nationaler Ebene beträgt im Jahr 2018 der Ausländeranteil 8,4 Prozent der gesamtitalienischen Bevölkerung bei knapp 60.500.000 Einwohnern (ISTAT 2018a: 1). Südtirol 247 <?page no="248"?> Kindergärten die italienische Sprache vorgeschrieben (Villgrater 1984: 40). Die deutschsprachigen Lehrpersonen wurden sukzessive entlassen und durch italienischsprachige ersetzt. 4 Eine weitere Maßnahme war die Ansiedlung von Italienischsprachigen aus dem strukturschwachen Süden Italiens, hauptsächlich aus Kalabrien, Lukanien und Sizilien. Die Faschisten versprachen den armen Bauern aus dem Süden fruchtbares Land, mit dem sie aber aufgrund der extremen Bedingungen des Hochgebirges kaum zurande kamen, oder aber Arbeitsplätze in der neu angesiedelten Industrie. Da sich die Industriebetriebe fast ausschließlich in der größten Stadt, nämlich Bozen, befanden, war dort der Zuzug besonders groß. Dies schlägt sich auch heute noch in den Einwohnerzahlen nieder (75 % Italienischsprachige, vgl. oben Abschnitt 2). Die dritte Phase, nämlich die Vertreibung der einheimischen deutschen Bevölkerung, sollte ihren Anfang in der sogenannten ‚Option‘ haben, einem von Hitler und Mussolini getroffenen Abkommen (22.6.1939), das die Südtiroler vor die Wahl stellte, entweder im Lande zu bleiben und sich völlig zu assimilieren oder aber in den deutschen Sprachraum auszusiedeln. 75.000 der damaligen deutschsprachigen Südtiroler entschieden sich dafür, Südtirol zu verlassen; nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten nur einige von diesen wieder zurück (vgl. Kopfsguter 1989: 275 f., Eichinger 1996: 208 ff.). Nach dem Zweiten Weltkrieg hofften viele Südtiroler, dass sie im Rahmen einer Neugründung des Staates Österreichs wieder mit Nordtirol vereinigt werden könnten. Der 1946 von den Südtirolern gestellte Antrag zur Selbstbestimmung wurde jedoch von den Alliierten abgelehnt; stattdessen wurde auf der Pariser Friedenskonferenz ein Schutz-Abkommen für die Minderheit getroffen, das von den beiden Außenministern von Österreich (Gruber) und Italien (De Gasperi) unterzeichnet wurde (sogenanntes ‚Gruber-De Gasperi-Abkommen‘). Dieses Abkommen wurde 1947 als Anhang IV in den Pariser Friedensvertrag aufgenommen. Im Anschluss daran wurde die Region ‚Trentino-Alto Adige‘ eingerichtet, die aber aufgrund der größeren Bevölkerungszahlen im Trentino „fest in italienischer Hand“ (Héraud 1989: 85) blieb. Diese Tatsache führte zu Auseinandersetzungen mit Österreich, das als Schutzmacht für die Minderheit auftrat und die Südtirolfrage 1960/ 1961 vor die UN brachte. Parallel zu den diplomatischen Verhandlungen zwischen der Südtiroler Volkspartei und italienischen und österreichischen Regierungsvertretern kam es seit 1956 zu einer Serie von Bombenattentaten von radikalen Aktivisten, die allerdings nicht für eine Autonomie, sondern die Loslösung von Italien eintraten (Steininger 1999). Eine auf internationalen Druck gebildete Kommission (‚Kommission der XIX‘) erarbeitete daraufhin das 2. Autonomiestatut, das unter dem Namen ‚Paket‘ ( pacchetto ) bekannt wurde und ab 1972 (teilweise) in Kraft trat (Dekret des Präsidenten der Republik vom 31. August 1972, Nr. 670). Seither verfügt Südtirol als ‚Autonome Provinz Bozen‘ ( Provincia Autonoma di Bolzano ) über eine Reihe von Minderheitenrechten. Deren wichtigste Inhalte sind: 1. Die Proporzregelung (Zuweisung von öffentlichen Zuschüssen für Kultur und soziale Fürsorge und Zuteilung der Stellen im öffentlichen Dienst nach dem Zahlenverhältnis der Sprachgruppen) 4 Um den Kindern dennoch einen deutschsprachigen Unterricht zu ermöglichen, wurden sogenannte Katakombenschulen (Geheimschulen) eingerichtet, in denen die Kinder - zum Teil aufgrund negativer Faktoren wie etwa ungünstiger Unterrichtszeiten oder ungünstigem Unterrichtsort, mangelnder Lehrmittel, unterschiedlicher Fortbildung der Lehrpersonen - allerdings nur für begrenzte Zeit (meist 2-3 Wochenstunden) unterrichtet werden konnten (Eberhöfer 2009: 35 f.). 248 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="249"?> 2. Zweisprachigkeit (Deutsch ist dem Italienischen gleichgestellt, Deutschsprachige haben das Recht, mit allen Stellen jederzeit Deutsch zu sprechen) 3. Die ethnische Präsenz (alle Körperschaften setzen sich ebenfalls nach dem Proporz zusammen). 4 Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung 4.1 Wirtschaftliche Situation Wie bereits Eichinger (1996: 204) erwähnt, fällt die hohe Quote (71,6 %) der im Dienstleistungssektor beschäftigten Südtiroler auf (ASTAT 2018a: 27). Von diesen arbeiten 18,0 Prozent im Schul-, Sozial- und Gesundheitswesen, 15,5 Prozent im Handel und 12,5 Prozent im Tourismusbereich (Beherbergungsbetriebe und Gaststätten). Jeweils weniger als 10,0 Prozent sind in den übrigen Dienstleistungssektoren, wie etwa Informatik/ Forschung/ Dienstleistungen für Unternehmen (7,9 %), in der öffentlichen Verwaltung (5,7 %) oder in Verkehr und Nachrichtenübermittlung (4,6 %), beschäftigt (ASTAT 2018d: 208). Aufgrund der Proporzgesetzgebung (vgl. Abschnitt 2) gehören die öffentlich Bediensteten der Lokalverwaltungen (wie etwa in der Landesverwaltung, Lehrpersonen in Schulen, Beamte in den Gemeinden und im Sanitätsbetrieb) überwiegend der deutschen Sprachgruppe an (70,8 %), gefolgt von der italienischen (25,8 %). Mit 3,4 Prozent bilden die Ladiner das Schlusslicht (ASTAT 2018d: 211). Ein besonders wichtiger Wirtschaftsfaktor für Südtirol ist der Tourismus. Laut dem Landesinstitut für Statistik (ASTAT 2017: 6) verzeichnete Südtirol im Jahr 2015/ 2016 31,4 Millionen Übernachtungen. Der größte Anteil entfällt auf bundesdeutsche Gäste (49,1 %), gefolgt von inländischen Gästen (31,4 %), Gästen aus der Schweiz und Liechtenstein (5,1 %), den Beneluxstaaten (3,4 %) und Österreich (3,1 %); 8,0 Prozent der Urlaubsgäste kommen aus anderen Ländern (ASTAT 2017: 10). Neben den Dienstleistungen bildet mit 21,8 Prozent das produzierende Gewerbe (v. a. Bauwesen, Metall- und Nahrungsmittelindustrie) den zweitgrößten Wirtschaftsbereich, gefolgt von der Landwirtschaft, in der 6,6 Prozent der Beschäftigten tätig sind (ASTAT 2018a: 27). Dabei leben die Landwirte im Tal vor allem vom Obst- und Weinbau, während sich die Bauern am Berg auf die Milchwirtschaft konzentrieren. Im Jahr 2018 waren etwa drei Viertel der Bevölkerung (252.000 Einwohner; 72,5 %) im Alter von 15 bis einschließlich 64 Jahren erwerbstätig und 3,3 Prozent arbeitssuchend (8.600 Einwohner) (ASTAT 2018e). Mit einer Arbeitslosenquote von 3,3 Prozent liegt Südtirol im Jahr 2018 weit unter dem nationalen Durchschnitt von 10,9 Prozent (ISTAT 2018b: 3). Im Gegensatz zu den meisten anderen italienischen Regionen hat die Region Trentino-Südtirol einen Autonomiestatus (vgl. Abschnitt 4.3) und erhält somit zusätzliche Kompetenzen. So obliegen zum Beispiel das Südtiroler Gesundheitswesen, Sozialwesen, Kommunikations- und Transportwesen und auch zirka 90 Prozent der Steuern, die im Landesgebiet eingetrieben werden, nicht dem italienischen Zentralstaat, sondern der Südtiroler Landesregierung. 5 Ab den 1990er Jahren wurden in Südtirol verschiedene Forschungseinrichtungen eröffnet. Das Forschungszentrum Eurac Research , das 1992 gegründet wurde und 12 Institute umfasst, ist ein Zentrum für angewandte Forschung mit Sitz in Bozen. Die dreisprachige Freie Uni- 5 Siehe „Sonderstatut für Trentino-Südtirol“. Abrufbar unter: www.regione.taa.it/ codice/ statuto.aspx (Letzter Zugriff 1.3.2018). Südtirol 249 <?page no="250"?> versität Bozen (ital. ‚Libera Università di Bolzano‘, engl. ‚Free University of Bozen-Bolzano‘) - mit den Unterrichtssprachen Deutsch, Italienisch, Englisch (und Ladinisch 6 ) - wurde 1997 in Bozen eröffnet und umfasst fünf Fakultäten. Neben Bozen gibt es noch zwei weitere Standorte, nämlich in Brixen und Bruneck. Von 2004 bis 2016 gab es an der Freien Universität Bozen das Kompetenzzentrum Sprachen , und im Jahr 2013 wurde in der Außenstelle in Brixen das Zentrum für Regionalgeschichte gegründet. Im Jahr 2017 wurde der NOI Techpark Südtirol/ Alto Adige , ein Technologie- und Wissenschaftspark in Bozen eröffnet. 4.2 Politische Situation Eine Besonderheit im politischen System Südtirols ist, dass es - aufgrund mehrerer hier lebender Sprachgruppen - eine teilweise verdoppelte Parteienlandschaft gibt. Auf der deutschsprachigen Seite gibt es mit der Südtiroler Volkspartei 7 (SVP), die seit Jahrzehnten die zahlenmäßig größte Fraktion im Landtag stellt, eine konservative christdemokratische Partei sowie mit den Freiheitlichen , der Süd-Tiroler Freiheit und der Bürgerunion für Südtirol drei Parteien, die als rechtspopulistisch und separatistisch bezeichnet werden können. Eine ähnliche Konstellation gibt es auf italienischer Seite, wobei die Mitte hier eher von Partito Democratico (PD, Mitte-Links), Scelta Civica per l’Alto Adige (Liberal) und Forza Alto Adige (Mitte-Rechts) besetzt wird. Auch auf italienischsprachiger Seite gibt es mehrere rechtspopulistische Parteien wie beispielsweise L’Alto Adige nel cuore , Unitalia und Lega Nord oder gar faschistische Parteien wie CasaPound . All diese Parteien definieren sich mehr oder weniger stark durch ihren ethnischen Vertretungsanspruch. Eine sogenannte interethnische Partei gibt es in Südtirol in Form der Grünen , wobei aber auch der PD und der Movimento 5 Stelle immer wieder Kandidaten der deutschen Sprachgruppe aufgestellt haben. Die ladinische Sprachgruppe wird in Südtirol vorrangig durch die SVP vertreten. Zudem hat die Region Trentino-Südtirol Vertreter im italienischen Senat 8 , in der Abgeordnetenkammer 9 sowie im europäischen Parlament. 4.3 Rechtliche Stellung des Deutschen, Schulsystem, offizielle Sprachregelungen 4.3.1 Rechtliche Stellung des Deutschen Das Gruber-De Gasperi-Abkommen (oder auch Pariser Vertrag 10 ), das 1946 im Rahmen der Pariser Friedenskonferenz zwischen Italien und Österreich unterzeichnet wurde (vgl. Abschnitt 3), bildet die Basis der heutigen Autonomie Südtirols. Maßnahmen für die Schutzbestimmung der deutschsprachigen Bevölkerung und deutschen Kultur sind zum einen die Gleichstellung der deutschen Sprache in der Region Trentino-Südtirol, aber auch die Gewähr- 6 Das Ladinische wird allerdings nur in der Fakultät für Bildungswissenschaften als Unterrichtssprache verwendet. 7 Seit den Landtagswahlen von 1948 ist die Südtiroler Volkspartei die stärkste Partei im Südtiroler Landtag. Gegründet wurde sie im Frühjahr 1945 in Bozen. 8 Das römische Parlament besteht aus dem Senat und der Abgeordnetenkammer, die gleichberechtigt Gesetze und Dekrete beschließen. Abrufbar unter: https: / / parlamento17.openpolis.it/ lista-dei-parlamentari-in-carica/ senato/ nome/ asc (Letzter Zugriff: 1.3.2018). 9 Abrufbar unter: https: / / parlamento17.openpolis.it/ lista-dei-parlamentari-in-carica/ camera/ nome/ asc (Letzter Zugriff: 1.3.2018). 10 Im Pariser Vertrag wurden die Ladiner noch nicht berücksichtigt. Der Originaltext findet sich unter Südtiroler Landesregierung (2009: 12 f.). 250 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="251"?> leistung der jeweiligen Muttersprache im Unterricht (Art. 1 des Pariser Vertrages 1946, vgl. Südtiroler Landesregierung 2009: 9 f., 12 f.). Somit ist - zumindest regional - das Deutsche dem Italienischen als Amtssprache gleichgestellt, was die Gleichberechtigung beider Sprachen in der Verwaltung und vor Gericht miteinschließt (Dekret des Präsidenten der Republik vom 31. August 1972, Nr. 670, Art. 100). Aufgrund unzureichender Umsetzung des ersten Autonomiestatuts trat im Jahr 1972 das zweite - oder auch „neue“ - Autonomiestatut in Kraft, worin zahlreiche Maßnahmen zum besseren Schutz der sprachlichen und kulturellen Bedürfnisse der Südtiroler enthalten sind (vgl. Abschnitt 3). 4.3.2 Offizielle Sprachregelungen 30 Jahre nach Abschluss des Pariser Vertrages wurde im Jahr 1976 das Proporzdekret (Dekret des Präsidenten der Republik vom 26. Juli 1976, Nr. 752, Art. 1) umgesetzt. Somit muss nun die Beherrschung der jeweils anderen Landessprache (Deutsch bzw. Italienisch) in Form einer eigenen Prüfung, der sogenannten Zweisprachigkeitsprüfung 11 , nachgewiesen werden. Die Prüfung ist Zulassungsvoraussetzung für die Aufnahme in den öffentlichen Dienst. 4.3.3 Schulsystem Während der Zeit des italienischen Faschismus (von 1922 bis 1943) wurde die Verwendung der deutschen Sprache an den Schulen verboten (vgl. Abschnitt 3). Nach jahrelanger präfaschistischer und faschistischer Italianisierungspolitik wurde zur Zeit der deutschen Besatzung (von 1943 bis 1945) der Unterricht in deutscher Sprache wieder eingeführt (Seberich 2000: 100-103). In der Nachkriegszeit wurde versucht, die wiederaufgebaute deutsche Schule zu erhalten und ihr eine rechtliche Grundlage zu verschaffen (Seberich 2000: 169). Im ersten Autonomiestatut von 1948 wurde die Errichtung von Schulen mit Deutsch als Unterrichtssprache verankert und die Beibehaltung der deutschen Sprache und Kultur für die Bevölkerung garantiert. Mit dem zweiten Autonomiestatut von 1972 wurden, zusätzlich zu den Gesetzgebungskompetenzen des ersten Autonomiestatuts, sekundäre Gesetzgebungskompetenzen (z. B. im Bereich Schulbau, Kindergarten, Schulfürsorge, Berufsbildung) primär auf das Land übertragen. Durch die Durchführungsbestimmungen von 1996 erfuhr das Land eine weitere wichtige Kompetenzerweiterung, im Zuge derer auf dem Gebiet der Personalverwaltung der Schule Kompetenzen vom Staat auf die Autonome Provinz übertragen wurden und man sich dadurch einer echten Schulautonomie weiter angenähert hat (Seberich 2000: 410 ff.). Das Südtiroler Schulsystem sieht eine Dreiteilung der Schulverwaltung vor - Deutsch, Italienisch, Ladinisch -, wodurch den Kindern jeder Sprachgruppe eine Ausbildung in der eigenen Erstsprache gewährleistet werden soll (Dekret des Präsidenten der Republik vom 31. August 1972, Nr. 670, Art. 19). Die Schulen mit deutscher und italienischer Unterrichtssprache sind monolingual ausgerichtet, und es gilt der muttersprachliche Unterricht, d. h., dass der Unterricht in deutschsprachigen Schulen von deutschsprachigen Lehrkräften und in italienischsprachigen Schulen von italienischsprachigen Lehrkräften durchgeführt wird. Dabei wird ab der 1. Klasse der Grundschule die jeweils andere Landessprache (Italienisch bzw. Deutsch) 11 Wird auch noch die dritte Landessprache abgefragt, also das Ladinische, so handelt es sich um die sogenannte Dreisprachigkeitsprüfung. Südtirol 251 <?page no="252"?> ebenso von Muttersprachlern als Zweitsprache 12 unterrichtet. In den paritätischen Schulen mit ladinischer Unterrichtssprache sind beide Landessprachen in gleichem Maße vertreten, wobei das Ladinische, das ebenso einige Wochenstunden unterrichtet wird, als Behelfssprache herangezogen werden kann. Englisch - in der Funktion als Fremdsprache 13 - wird an allen Schulen spätestens ab der 4. Klasse Grundschule unterrichtet (Deutsches Schulamt 2007: 26). Trotz - oder gerade wegen - des getrennten Schulsystems wurden und werden immer wieder auch Forderungen nach zweisprachigen Schulen bzw. nach Immersion erhoben, v. a. von italienischsprachiger Seite, um zum einen bessere Sprachkompetenzen erreichen zu können, zum anderen aber auch, damit das Zusammenleben der Sprachgruppen erleichtert wird (Egger 1977: 78 f., 131 ff., Bonell/ Winkler 2010: 202). Seit einigen Jahren werden an Südtiroler Schulen verschiedene Initiativen sowie Pilotprojekte zur Förderung der Mehrsprachigkeit umgesetzt. Im Rahmen von Pilotprojekten wird an Schulen mit deutscher und italienischer Unterrichtssprache verschiedener Schulstufen der Unterricht mit der CLIL-Methode ( Content and Language Integrated Learning ) erprobt. 14 Dabei werden nichtsprachliche Fächer in der zweiten Landessprache (Deutsch/ Italienisch) und/ oder einer Fremdsprache vermittelt. Zur Verbesserung der jeweils anderen Landessprache gibt es außerdem noch zahlreiche Projekte und Initiativen, wie etwa den Aufenthalt von Schülern an einer Schule mit italienischer bzw. deutscher Unterrichtssprache in Südtirol oder Austauschprogramme im In- und Ausland. 4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien, Literatur 4.4.1 Kulturelle Institutionen, Verbände So wie die Schulämter sind auch die kulturellen Institutionen, die Verbände und die verschiedenen Einrichtungen (z. B. das Amt für Kultur, Amt für Jugendarbeit, Amt für Weiterbildung) sprachlich voneinander getrennt. 1954 wurde das Südtiroler Kulturinstitut in Bozen gegründet, das sich zur Aufgabe gemacht hat, den Kontakt zum deutschen Sprachraum zu pflegen sowie Autorenlesungen, Ausstellungen, Theateraufführungen und Konzerte zu organisieren. 2001 wurde die Sprachstelle im Kulturinstitut damit beauftragt, die Bevölkerung für sprachliche Belange zu sensibilisieren und eine beratende Funktion einzunehmen. 15 4.4.2 Medien Mit einer Auflage von zirka 48.000 Exemplaren 16 ist die deutschsprachige Tageszeitung Dolomiten die auflagenstärkste Zeitung in der Region Trentino-Südtirol. Die zweite deutschsprachige Tageszeitung, Die Neue Südtiroler Tageszeitung , verkauft zirka 12.000 Stück. Wöchentlich erscheint noch die deutschsprachige Wochenzeitschrift ff - Das Südtiroler Wochenmagazin . Bei den italienischsprachigen Tageszeitungen sind, neben den nationalen Zeitungen, auch lokale 12 Italienisch wird als Zweitsprache betrachtet, da sie zwar im Unterricht vermittelt und erworben wird, allerdings kann sie - abhängig von verschiedenen Faktoren - auch in der Alltagskommunikation regelmäßig verwendet werden. 13 In Bezug auf Englisch spricht man von einer Fremdsprache, da sie zwar auch im Unterricht vermittelt wird, allerdings findet sie im Alltag nur selten Verwendung. 14 Abrufbar unter: www.bildung.suedtirol.it/ unterricht/ clil/ (Letzter Zugriff 1.3.2018). 15 Abrufbar unter: www.kulturinstitut.org/ (Letzter Zugriff 1.3.2018). 16 Abrufbar unter: www.athesia.com/ de/ werben/ dolomiten/ (Letzter Zugriff 1.3.2018). 252 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="253"?> vertreten, wie etwa Alto Adige (Auflage zirka 10.000 17 ) und Corriere dell’Alto Adige , der täglich als Beilage im Corriere delle Sera erscheint. 1975 wurde die Rundfunkanstalt Südtirol (RAS) gegründet, mit dem Auftrag, das Land flächendeckend mit Hörfunk- und Fernsehprogrammen aus dem deutsch- und ladinischsprachigen Kulturraum zu versorgen 18 (Egger 1977: 61). Dadurch ist der Empfang von deutschen, österreichischen und schweizerischen Fernsehprogrammen möglich. Zudem gibt es in Südtirol auch eigene deutschsprachige Radio- und Fernsehstationen bzw. Fernsehsendungen (einen Überblick über die Anfänge der Medienlandschaft gibt Alcock 1982: 70-73). Sowohl die audiovisuellen Medien 19 als auch die Printmedien sind sprachlich voneinander getrennt: So gibt es deutsch- und italienischsprachige Sender bzw. Sendungen, Zeitungen und Zeitschriften, die sich primär auf eine der beiden Sprachgruppen konzentrieren, was auch in einer Studie des Südtiroler Landesinstituts für Statistik (ASTAT) zum sprachlichen Verhalten der Südtiroler Bevölkerung bestätigt wird. In der 2014 durchgeführten Studie, in der insgesamt 1.514 Südtiroler befragt wurden, gaben 35,3 Prozent der deutschsprachigen Südtiroler an, dass sie nie italienischsprachige Fernsehprogramme sehen würden, während der Anteil italienischsprachiger Südtiroler, die nie deutschsprachige Sendungen sehen, mit 48,3 Prozent deutlich höher lag. Nur 2,4 Prozent der deutschsprachigen und 5,0 Prozent der italienischsprachigen Befragten gaben an, dass sie nie in der eigenen Muttersprache fernsehen würden (ASTAT 2015: 162). Auf die Frage nach der Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften (auch im Internet) gaben 32,6 Prozent der deutschsprachigen Südtiroler an, dass sie nie italienischsprachige Zeitungen lesen würden, während in der italienischen Sprachgruppe 51,8 Prozent nie deutschsprachige Zeitungen lesen. Nur 1,9 Prozent der deutschsprachigen Befragten und 4,2 Prozent der italienischsprachigen gaben an, dass sie nie Zeitungen in der eigenen Muttersprache konsumieren würden (ASTAT 2015: 163). Obwohl also der Zugang zu Medien in beiden Sprachen, Deutsch und Italienisch, möglich ist, beschaffen sich die Südtiroler ihre Informationen vorwiegend in der eigenen Muttersprache. 4.4.3 Literatur Zu den bedeutendsten Dichtern oder Schriftstellern aus Südtirol zählen unter anderem Helene Flöss (*1954), Bettina Galvagni (*1976), Claus Gatterer (1924-1984), Sabine Gruber (*1963), Norbert Conrad Kaser (1947-1978), Gerhard Kofler (1949-2005), Kurt Lanthaler (*1960), Sepp Mall (*1955), Josef Oberhollenzer (*1955), Anita Pichler (1948-1997), Herbert Rosendorfer (1934- 2012), Luis Trenker (1892-1990) und Joseph Zoderer (*1935). Neben den Schriftstellern, die sich nach dem Krieg noch mit der Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft Südtirols auseinandergesetzt haben, wie etwa Norbert C. Kaser, Gerhard Kofler und Joseph Zoderer, gibt es auch eine neuere Generation von Schriftstellern, die das Land früh verlassen hat und es thematisch oft auch nicht berücksichtigt, wie etwa Sabine Gruber und Bettina Galvagni (Holzner 1997: 7). 17 Abrufbar unter: www.blitzquotidiano.it/ media/ vendite-giornali-ottobre-2017-2801688/ (Letzter Zugriff 1.3.2018). 18 Seit 1945 gibt es in Südtirol Nachrichten in deutscher Sprache (Eichinger 1996: 220 ff.). 19 In einer Studie, in der 2017 2.685 Personen zu ihrem Umgang mit Radio und Fernsehen befragt wurden, gaben 69,2 Prozent der Südtiroler an, täglich oder fast täglich fernzusehen, während hingegen 5,0 Prozent angaben, nie fernzusehen (ASTAT 2018f: 1). In derselben Studie gaben 60,6 Prozent an, täglich oder fast täglich Radio zu hören, während 15,0 Prozent angaben, nie Radio zu hören (ASTAT 2018f: 14). Südtirol 253 <?page no="254"?> Häufig behandelte Themen sind, gerade in den Nachkriegsjahren, der Faschismus und Nationalsozialismus, die Italianisierungsmaßnahmen unter Mussolini, die Konflikte zwischen Optanten und „Dableibern“ (vgl. Abschnitt 3) sowie die Identitäts- und Zugehörigkeitsfrage, mit denen sich ein Individuum in einem multiethnischen Umfeld oft auseinandersetzen muss. Die multiethnische und multilinguale Sprachrealität Südtirols spiegelt sich auch in der literarischen Landschaft wider, wobei Autoren ihre Sprachfertigkeit dadurch unter Beweis stellen, dass sie zweisprachige Erzählungen (Zoderer 2004) oder mehrsprachige Gedichte (Oberhollenzer 1994) verfassen, die eigenen Werke vom Deutschen ins Italienische (oder umgekehrt) übertragen (Kofler 1988, 2000), Texte oder Gedichte im Südtiroler Dialekt verfassen (Kofler 1988, Zoderer 2001) oder italienische und/ oder ladinische Textpassagen in deutsche Romane einbauen (Flöss 2000). Neben einzelnen Autoren gibt es seit einigen Jahren auch gemeinsame multiethnische literarische Kollaborationen, wie etwa die 1999 erschienene Anthologie Leteratura-Literatur-Letteratura (Bernardi et al. 1999) oder die 2001 gegründete Zeitschrift filadrëssa. Kontexte der Südtiroler Literatur . Somit übernimmt auch die Südtiroler Literatur eine Vermittlungsfunktion zwischen den drei Bevölkerungsgruppen. Neben dem größten einheimischen Verlag Athesia in Bozen gibt es noch zahlreiche weitere Verlage (z. B. Edition Raetia in Bozen, Folio Verlag in Bozen und Wien), die deutschsprachige Literatur publizieren. 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Allgemeines Die sprachliche Situation in Südtirol ist mit derjenigen anderer in diesem Handbuch beschriebener Gebiete nur eingeschränkt vergleichbar. Südtirol ist eine offiziell zweibzw. dreisprachige Provinz der Republik Italien, in der Deutsch - neben Italienisch und (auf Gröden und das Gadertal beschränkt) Ladinisch - den Status einer regionalen Amtssprache besitzt und daher in allen Bereichen der Verwaltung verwendet wird (vgl. 4.3). Es wird zudem nicht nur an Schulen mit deutscher Unterrichtssprache als Erstsprache, sondern auch an Schulen mit italienischer bzw. (teilweise) ladinischer Unterrichtssprache ab der ersten Klasse der Grundschule als Zweitsprache unterrichtet. Gleiches gilt für das Italienische in der umgekehrten Konstellation (vgl. 4.3). Dies bedeutet einerseits, dass nativ deutschsprachige Südtiroler zumindest sukzessive bilingual sind, andererseits, dass zumindest die deutsche Standardsprache auch von nativ italienischbzw. ladinischsprachigen Südtirolern beherrscht wird bzw. werden sollte (vgl. 6.2). Während die deutschsprachige Bevölkerung in fast allen Gegenden der Provinz die Bevölkerungsmehrheit bildet, trifft dies für die italienischsprachige Bevölkerung nur auf Bozen und einzelne Gemeinden im Südtiroler Unterland zu. In Meran sind beide Gruppen ungefähr gleich stark vertreten. Das Kerngebiet der ladinischsprachigen Bevölkerung liegt in Gröden und im Gadertal (vgl. 2). Daneben gibt es eine Gruppe simultan bibzw. multilingualer Südtiroler, über die wenig Aussagen getroffen werden können, da die alle zehn Jahre durchgeführte Erhebung der Sprachgruppenzugehörigkeit nicht die Möglichkeit bietet, sich mehr als einer bzw. einer separaten bilingualen Gruppe zugehörig zu erklären (vgl. 2). Die Komplexität dieser Situation steht im Gegensatz zu ihrer wissenschaftlichen Erforschung. Lanthaler bemängelt schon 1990 das Fehlen deskriptiver Darstellungen der deutschen und italienischen bzw. italo-romanischen Varietäten in Südtirol und bilanziert, „daß weder das 254 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="255"?> Deutsche noch das Italienische in Südtirol zufriedenstellend erforscht sind“ (Lanthaler 1990: 59). Und noch 2015 stellen Ciccolone und Franceschini mit Blick auf die deutschen Varietäten in Südtirol fest, dass es nicht einfach sein könnte, von Basis- und Ortsdialekten über Ausgleichsformen bis hin zu standardnahem Sprechen und (regionalem) Standard das Varietätenrepertoire in Südtirol genau zu bestimmen […], da es hierzu wenige systematische Untersuchungen gibt. (Ciccolone/ Franceschini 2015: 459) Die folgenden Ausführungen müssen daher teilweise dem Kursorischen, bisweilen auch Anekdotischen verhaftet bleiben. Lediglich für die ladinischen Varietäten liegt eine nennenswerte Anzahl deskriptiver wie auch präskriptiver Werke vor. Neben diesen drei autochthonen Sprachen treten in Südtirol mittlerweile auch Migrantensprachen auf, die bzw. deren Einfluss bisher ebenfalls nicht untersucht wurde(n), weswegen sie im Folgenden auch unberücksichtigt bleiben. So bilden Kinder mit albanischer, marokkanischer oder pakistanischer Staatsbürgerschaft an allen Schulformen die größten Gruppen ausländischer Schüler (ASTAT 2016), und auch gesamtgesellschaftlich betrachtet stammen - zusammen mit Deutschland - die meisten Zuwanderer aus Albanien, Marokko und Pakistan (vgl. 2). 5.2 Kontaktsprachen 5.2.1 Italienisch Das Italienische stellt die mit Abstand am schlechtesten untersuchte autochthone Sprache Südtirols dar. Während deskriptive Darstellungen des Standarditalienischen größtenteils fehlen (vgl. aber Mioni 2001, Spreafico/ Vietti 2016), werden italienische bzw. italo-romanische Non-Standard-Varietäten vielfach gar nicht wahrgenommen. Dies ist umso erstaunlicher, als im Südtiroler Sprachbarometer von 2014, einer repräsentativen Meinungsumfrage des Südtiroler Landesinstituts für Statistik (ASTAT), 24,3 Prozent der italienischsprachigen Bevölkerung angeben, bereits im Vorschulalter einen italo-romanischen Dialekt gesprochen zu haben (AS- TAT 2015: 44). Bezogen auf die Situation im Erhebungsjahr bescheinigen sich 31,6 Prozent uneingeschränkte Sprechfertigkeit, 52,2 Prozent gar uneingeschränktes Hörverständnis in einem italo-romanischen Dialekt (ASTAT 2015: 138). Besonders aufschlussreich ist dabei die Vorgängerstudie von 2004, die zusätzlich den Sprachgebrauch mit Arbeitskollegen in den einzelnen Bezirksgemeinschaften Südtirols darstellt und zeigt, dass die Verwendung italo-romanischer Dialekte nicht auf Bozen und das Südtiroler Unterland, also Gebiete mit italienischsprachiger Bevölkerungsmehrheit, beschränkt ist, sondern sich auch im Wipp- und Eisacktal sowie im Burggrafenamt in nennenswertem Umfang findet (ASTAT 2006: 73). Hierbei wurden die italo-romanischen Dialekte allerdings nicht genauer unterschieden. Eine Zusammenstellung für Bozen zeigt, dass die meisten Zuwanderer aus der Nachbarprovinz Trentino und der Nachbarregion Veneto stammen (Vietti 2017: 191). Zumindest in Bozen scheint sich dadurch auch eine Koine herausgebildet zu haben, die phonetische (Vietti 2017: 196-203) und lexikalische (Cagnan 2011) Merkmale aufweist, die in dieser Kombination nicht nur einzigartig sind, sondern auch das Selbstverständnis der Sprecher prägen (Meluzzi 2015: 8-13). Ob hier allerdings eine horizontale Koine - durch Ausgleich unterschiedlicher Herkunftsdialekte - oder eine vertikale Koine - durch Ausgleich der Herkunftsdialekte mit dem Standarditalienischen -, also eine Art Südtiroler italiano regionale , vorliegt, lässt sich aufgrund der Datenlage ebenso Südtirol 255 <?page no="256"?> wenig entscheiden, wie die Frage, ob bzw. inwieweit die bereits vor der Zugehörigkeit zu Italien im heutigen Südtirol ansässige italienischsprachige Bevölkerung zu dieser Koineisierung beigetragen hat. Lediglich für das direkt ans Trentino grenzende Südtiroler Unterland ist die Existenz trentinischer Varietäten bzw. - je nach wissenschaftlicher Überzeugung - lombardisch-venetischer Mischvarietäten unstrittig (Mioni 1990: 24). 5.2.2 Ladinisch Das Grödnerische und das Gadertalische bilden mit den ladinischen Varietäten in den an Südtirol angrenzenden Provinzen Trentino und Belluno das Dolomiten- oder Sellaladinische. Letztlich liegen historisch eng verwandte und geographisch zusammenhängende Varietäten vor, die im Bewusstsein ihrer Sprecher aber durchaus unterschieden werden, weswegen die Schaffung einer gemeinsamen Norm für alle ladinischen Varietäten (SPELL 2001, SPELL 2002) bisher nicht den erwünschten Erfolg erzielt hat. Hierzu haben allerdings nicht zuletzt auch politische Entscheidungen der Provinz Südtirol beigetragen, die zwei ladinische Varietäten als regionale Amtssprachen anerkennt (Tanzmeister 2008: 345-348). So liegen mittlerweile für das Grödnerische (Forni 2002, 2013) und das Gadertalische (Miscì 2001, Moling et al. 2016) auch jeweils eigenständige Wörterbücher vor. Für eine deskriptive Darstellung der gesamten Ladinia ist neben einer Fülle von Einzeldarstellungen (vgl. Videsott 2011) v. a. ein monumentaler Sprachatlas (Goebl 1998-2012) einschlägig. 5.3 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen Das Verhältnis der deutschen Varietäten zueinander ist in Anlehnung an die Situation und die Terminologie in der Schweiz meist als mediale Diglossie beschrieben worden (Lanthaler 2001: 38). Dies würde bedeuten, dass Standard und Dialekt funktional streng geschieden sind, wobei die Medialität das ausschlaggebende Kriterium für die Sprachwahl darstellt. Für die rezente Situation ist diese Ansicht allerdings nicht zu bestätigen, da Dialekte zumindest in digitaler Kommunikation ganz selbstverständlich auch medial schriftlich verwendet werden (Huber/ Schwarz 2017: 18 ff., Glaznieks/ Frey 2018: 870 ff.). Die Existenz einer deutschen Umgangssprache ist schon aufgrund des Festhaltens am Diglossie-Konzept umstritten, was aber auch mit dem notorisch vieldeutigen Terminus Umgangssprache zu tun haben mag. Einzelbeobachtungen legen den Verdacht nahe, dass mit einer Vielzahl von Varianten bzw. Varietäten zu rechnen ist, deren Konventionalisierungsgrad unklar ist (vgl. 5.3.2). Einen kursorischen Überblick über das deutsche Varietätenspektrum in Südtirol - mit Audiobeispielen (! ) - gibt Rabanus (2018). 5.3.1 Regionaler Standard Südtirol wird in Ammons Plurizentrik-Konzeption (Ammon 1995: 73-82) als sogenanntes Halbzentrum geführt (Ammon 1995: 405-411). In solchen Halbzentren ist Deutsch zwar als regionale Amtssprache anerkannt (vgl. 4.3), aber nicht „in eigenen Nachschlagewerken, vor allem Wörterbüchern“ (Ammon et al. 2016: XXXIX), die „im Zentrum selbst erarbeitet und verlegt (aber nicht notwendigerweise dort auch gedruckt)“ (Ammon 1995: 96) wurden, „beschrieben und veröffentlicht“ (Ammon 1995: 74) bzw. „festgehalten und autorisiert“ (Ammon et al. 2016: XXXIX). Ein deskriptives Wörterbuch des Standarddeutschen in Südtirol (Ab- 256 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="257"?> falterer 2007) wird in dieser Sichtweise, obwohl es auf der Auswertung von Modelltexten (Ammon 1995: 79) beruht (Abfalterer 2007: 61, 255-262), nicht berücksichtigt, da es in Innsbruck erarbeitet und verlegt wurde und vom Südtiroler Landesrat für Bildungsförderung und Deutsche Kultur nicht explizit für den Schulunterricht empfohlen wird. In diesem Wörterbuch wird zwischen primären - auf Südtirol beschränkten - und sekundären - auch in anderen, nicht aber in allen deutschen Standardvarietäten bezeugten - Südtirolismen unterschieden (Abfalterer 2007: 66-69). Bei ersteren handelt es sich nur teilweise um Entlehnungen - v. a. Lehnübersetzungen bzw. -übertragungen - aus dem Italienischen, die auch nur zum Teil der Verwaltungssprache angehören (Abfalterer 2007: 167-192). Sekundäre Südtirolismen weisen andererseits keine eindeutige Präferenz für Gemeinsamkeiten mit dem Standard eines bestimmten Zentrums auf (Abfalterer 2007: 195) und scheinen ebenfalls in verschiedenen Domänen auf (Abfalterer 2007: 216). Gemeinsamkeiten mit dem Standard in Deutschland könnten auf die jahrelange Berücksichtigung der einschlägigen Werke des Duden-Verlags in Schule und Medien zurückzuführen sein (Daniel et al. 2001: 213, 227). Eine Untersuchung der Akzeptanz solcher Lexeme durch Sprecher bzw. Schreiber selbst hat allerdings gezeigt, dass sie nur eingeschränkt als Standard anerkannt, vielmehr teils dem Dialekt zugewiesen, teils als gemeindeutsch betrachtet werden (Ciccolone 2010: 138 f.). 5.3.2 Umgangssprache Moser (1982: 85 f.) berichtet von einer Studentin aus dem Ahrntal, einem Nebental des Pustertals, die in der Kommunikation mit Personen aus dem Ahrntal und aus Bruneck, dem Hauptort des Pustertals, auf verschiedene phonetische und lexikalische Varianten zurückgreift. Dabei scheinen die jeweiligen basisdialektalen Varianten auf. Die Sprecherin verwendet (Varianten) eine(r) existierende(n) Varietät, nämlich des/ den Dialekt(s) von Bruneck, für die überlokale Kommunikation, während diese Varietät für ihren Brunecker Gesprächspartner natürlich dessen Basisdialekt darstellt. Dies hat allerdings keine erkennbaren Auswirkungen auf ihren Ahrntaler Basisdialekt. Sie ist quasi (sukzessive) bidialektal, wobei sie den beiden Varietäten eine unterschiedliche kommunikative Reichweite zuschreibt. Lanthaler (2001: 138-142) andererseits zeichnet den hypothetischen, sich aber wohl aus persönlichen Erfahrungen als Oberschullehrer speisenden Weg einer Schülerin aus dem Passeier, einem Nebental des Etschtals, nach Meran, dem Hauptort des Etschtals nach. Diese verwendet als Folge des Schulbesuchs in Meran ebenfalls phonetische, morphologische und lexikalische Varianten des Meraner Dialekts, ersetzt damit aber ihre Passeirer Varianten, wodurch der Meraner Dialekt zu ihrem Basisdialekt wird. Lanthaler wertet diesen Meraner Dialekt als durch horizontalen Ausgleich entstandene Koine, die für einen Meraner Sprecher, der diese Koine als Erstsprache erlernt, aber natürlich den Basisdialekt darstellt. Diese beiden Fallbeispiele zeigen bereits, wie schwierig die Frage zu beantworten ist, was als Umgangssprache zu gelten hat. Die Ahrntaler Studentin verwendet in Bruneck einen Dialekt, der für ihren Brunecker Gesprächspartner den Basisdialekt darstellt, als Umgangssprache. Gleiches gilt für die Passeirer Schülerin in Meran im Gespräch mit Meranern. Während dies für die Ahrntaler Studentin allerdings keinen Einfluss auf ihren Basisdialekt nach sich zieht, eignet sich die Passeirer Schülerin einen neuen Dialekt an, der damit zu ihrem Basisdialekt wird, auch wenn er nicht dem Passeirer Basisdialekt entspricht. Südtirol 257 <?page no="258"?> Ein ähnlich uneinheitliches Bild zeigen Gespräche zwischen Sprechern aus dem Ahrntal, also dem nordöstlichsten Südtirol, und Sprechern aus dem Vinschgau, also dem westlichsten Südtirol, im Rahmen einer Map-Task-Studie. Während einer der beiden Ahrntaler Sprecher dabei teils auf großräumiger verbreitete Pustertaler Varianten zurückgreift, die in seinen Gesprächen mit anderen Ahrntaler Sprechern nicht aufscheinen, allerdings auch in keiner Weise Vinschgauer Varianten entsprechen (Seeber 2017: 142-146), wechselt der andere Ahrntaler Sprecher teilweise gleich in die Standardsprache (Seeber 2017: 134-139). Beide Sprecher verwenden daneben jedoch auch kleinräumig verbreitete Ahrntaler Varianten. Neben horizontalem Ausgleich von verschiedenen Dialekten ist auch mit vertikalem Ausgleich von Dialekt und Standard zu rechnen. In den 1980er Jahren aufgezeichnete Gespräche zwischen Einheimischen und deutschen Touristen weisen hochgradig variable Realisierungen auf (Moser 1982: 85), die entweder als Variation innerhalb einer Varietät oder als nicht konventionalisierter Ad-hoc-Ausgleich interpretiert werden können. 5.3.3 Dialekte Die deutschen Dialekte in Südtirol werden zum Verband der (süd-)bairischen Dialekte gerechnet, sind somit Teil des diatopischen Kontinuums des Deutschen. Im Hinblick auf die Binnengliederung des Dialektraums wird in der Regel von einer Zweigliederung in einen westlich und einen östlich der Achse Innsbruck-Bozen gelegenen Raum (Kühebacher 1962: 154-157) bzw. von einer Dreigliederung in einen westlichen (i. W. Vinschgau), einen zentralen (i. W. Etsch- und Eisacktal) und einen östlichen (i. W. Pustertal) Raum ausgegangen (Meraner/ Oberhofer 1982: 28), wobei der zentrale Raum als „Neuerungsschneise“ (Scheutz 2016: 30) für Prestigeformen fungiert. Daneben zeichnet sich eine Gliederung in verkehrsintensivere Talschaften und verkehrsfernere Hochtäler ab (Kühebacher 1962: 157-160). Außerdem weisen die städtischen Zentren Bozen, Brixen und Meran eine Strahlkraft in ihr jeweiliges Hinterland auf (Kühebacher 1962: 160 ff.). Wie bei vergleichbaren dialektgeographischen Gliederungen ist hier die Abgrenzung dialektaler Räume in hohem Maße von der Auswahl der hierfür herangezogenen sprachlichen Merkmale abhängig. In der Wahrnehmung der Sprecher selbst ist v. a. die topographische Gliederung in Talschaften ausschlaggebend für die Abgrenzung und Benennung von Dialekträumen (Schwarz/ Stöckle 2017: 266 ff.). Extern scheinen die Übergänge zu den nördlich und östlich angrenzenden südbairischen Dialekten im österreichischen Tirol fließend zu verlaufen, die heutige Staatsgrenze also nur eine sehr untergeordnete Rolle zu spielen (Scheutz 2016: 27-30). Im Westen und Süden grenzen die deutschen Dialekte in Südtirol an bündnerromanische Varietäten in der Schweiz sowie lombardische, trentinische, venetische und dolomitenladinische Varietäten in Italien an. Deskriptive Darstellungen der deutschen Dialekte in Südtirol umfassen - meist ältere und meist unpublizierte - Ortsgrammatiken (vgl. aber Kollmann 2012) sowie Gebietswörterbücher (Schatz 1955-1956, Fink 1972), mittlerweile aber auch eine ganze Reihe von Laienwörterbüchern unterschiedlicher Qualität. Für sprachgeographische Fragestellungen sind vor allem ein älterer und ein neuerer Sprachatlas (Klein/ Schmitt 1965-1971, Scheutz 2016) einschlägig. Letzterer beinhaltet auch eine vergleichende Darstellung einer älteren und einer jüngeren Probandengruppe. Daneben existieren Unterrichtsmaterialien für die ergänzende Verwendung von Dialekt (nicht nur) im Erst- und Zweitsprachunterricht (Knapp et al. 1996, Colleselli et al. 258 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="259"?> 2009, Gurschler/ Tscholl 2015a, 2015b), aber auch für die Sensibilisierung für regionale Unterschiede in der Standardsprache (Hofer 2013a, 2013b). 5.3.4 Sprachliche Charakteristika Der deutsche Standard in Südtirol weist phonetische, morphosyntaktische und lexikalische Merkmale auf, die ihn von anderen deutschen Standardvarietäten unterscheiden. Im phonetischen Bereich sind vor allem die Stimmlosigkeit wortinitialer prävokalischer s , die Lenisierung wortinitialer p und t sowie die unterbliebene Vokalisierung postvokalischer r in Stammsilben charakteristisch. Diese Merkmale werden allesamt aus dem Dialekt in den Standard übernommen, während andere typische Dialektmerkmale wie die dialektale Velarisierung von a im Standard nicht aufscheinen. Die offene Realisierung langer e und o in offener Tonsilbe stellt ein phonetisches Merkmal dar, das nicht auf dialektalen Einfluss zurückgeht, sondern den Standard exklusiv kennzeichnet (Scheutz 2016: 246-251). Im lexikalischen Bereich sind Entlehnungen aus dem Italienischen auffällig, bei weitem aber nicht so zahlreich, wie in der Vergangenheit oft vermutet (vgl. 5.3.1). Daneben existiert aber auch eine Reihe autochthoner Lexeme wie Griffelschachtel ‚Federmäppchen‘ (Abfalterer 2007: 108) oder Notspur ‚Standstreifen‘ (Abfalterer 2007: 128). Ausgewählte morphosyntaktische Merkmale des deutschen Standards (u. a.) in Südtirol sind der soeben erschienenen Variantengrammatik des Standarddeutschen (Dürscheid et al. 2018) zu entnehmen. Die deutschen Dialekte in Südtirol weisen im phonetischen und lexikalischen Bereich diejenigen Kennzeichen auf, die als konstitutiv für den (süd-)bairischen Dialektraum betrachtet werden. Im phonetischen Bereich sind dabei die unterbliebene Monophthongierung fallender mhd. Diphthonge (Scheutz 2016: 44 ff., 48 ff.) und die Velarisierung von mhd. a/ â (Scheutz 2016: 36-39) als gesamtbairische Merkmale sowie die Diphthongierung der mittleren mhd. Langvokale (Scheutz 2016: 41-44) und die unterbliebene Vokalisierung postvokalischer mhd. Liquida in Tonsilben (Scheutz 2016: 28) als südbairische Merkmale zu nennen. Im lexikalischen Bereich sind der Erhalt der bairischen Kennwörter es ‚ihr‘ und enk ‚euch‘ (Scheutz 2016: 75-78), im morphosyntaktischen Bereich besonders die präpositionale Dativmarkierung durch in (Scheutz 2016: 67-71, vgl. auch Seiler 2003: 94-113) und das weitgehende Fehlen des Ersatzinfinitivs im Partizip von Modalverben in komplexen Verbalphrasen (Scheutz 2016: 113 ff.) kennzeichnend. 5.4 Sprachkontakt Im lexikalischen Bereich reichen Kontakteinflüsse aus dem Italienischen von unassimilierten ( Carabiniere ‚Militärpolizist‘ < ital. carabiniere ‚Militärpolizist‘) und assimilierten ( Hydrauliker ‚Installateur‘ < ital. idraulico ‚Installateur‘) Lehnwörtern über rein ausdrucksseitige ( Lido ‚Freibad‘ < ital. lido ‚(Sand-)Strand‘) oder rein inhaltsseitige ( Linie ‚Telefonleitung‘ < ital. linea ‚Telefonleitung‘) Entlehnungen bis zu Lehnübersetzungen ( Identitätskarte ‚Personalausweis‘ < ital. carta d’identità ‚Personalausweis‘) und Lehnübertragungen ( Autobüchlein ‚Kraftfahrzeugschein‘ < ital. libretto di circolazione ‚Kraftfahrzeugschein‘) (Abfalterer 2007: passim). Abgesehen von der Rechts- und Verwaltungsterminologie, die großteils auf offizieller Sprachplanung durch das Amt für Sprachangelegenheiten der Provinz Südtirol und die Paritätische Südtirol 259 <?page no="260"?> Terminologiekommission bei Eurac Research 20 beruht (Lanthaler 2012: 169), ist dabei aber in den allermeisten Fällen nicht zu entscheiden, ob direkt ins Standarddeutsche entlehnt wurde oder Entlehnungen in die deutschen Dialekte sekundär in die Standardsprache übernommen wurden. 21 Bei der überwiegenden Zahl der Fälle handelt es sich um Inhaltswörter, wohingegen Funktionswörter bedeutend seltener entlehnt werden. Ein hochfrequentes, aber nicht unumstrittenes Beispiel (Abel 2018: 298) für letztere ist die Verwendung von innerhalb (ital. entro ) (Abfalterer 2007: 114) zur Bestimmung des Endpunkts einer Zeitspanne (vgl. (1)). (1) Zugelassen werden alle Bewerber und Bewerberinnen, die innerhalb 31. Dezember des Jahres, in welchem der Kurs beginnt, das 16. Lebensjahr vollenden. (Abfalterer 2007: 114) In medial mündlicher Sprache ist zudem das Auftreten aus dem Italienischen entlehnter Interjektionen wie ma (vgl. (2) und (4)) - zur Unterscheidung von der Konjunktion ma teils auch als mah verschriftet - sowie beh und boh (vgl. (3) und (5)) kennzeichnend (Dal Negro 2011: 210-219), die im Standarddeutschen (vgl. (2) und (3)) und in den deutschen Dialekten (vgl. (4) und (5)) gleichermaßen auftreten. (2) mah jede sprache die man lernt kann nützlich sein (KOMMA_B19) (3) boh ich glaub sie konnte besser deutsch als kroatisch (KOMMA_B40) 22 (4) ma die schaun brutal guat aus (Dal Negro 2011: 209) ‚ma, die schauen brutal gut aus‘ (5) boh jetz tuats ir obår net wäa (Dal Negro 2011: 211) ‚boh, jetzt tut es ihr aber nicht weh‘ Die Verwendung von dass (ital. che ) als Relativpronomen (vgl. (6)) ist wohl sowohl auf die dialektale Ebene, als auch auf das Südtiroler Unterland (vgl. 5.2), möglicherweise sogar auf einzelne Sprecher beschränkt. (6) es gib nirgends ondersch af der gonzen welt leit dass so redn wia mir (Tartarotti 2010: 101) ‚es gibt nirgendswo anders auf der ganzen Welt Leute, die so reden wie wir‘ Im syntaktischen Bereich sind Kontakteinflüsse bedeutend schwerer nachzuweisen als im lexikalischen, da Konstruktionen häufig auch als Blendings deutscher Konstruktionen interpretiert werden können, die auf eine Änderung des Satzplans während des Sprechens bzw. Schreibens zurückzuführen sind (vgl. auch Glück/ Leonardi [im Druck]). In vielen Fällen ist dabei zudem ihr Grammatikalisierungsgrad unklar. Eine Ausnahme hierzu könnten w -Infinitive als valenznotwendige Akkusativobjekte zu wissen darstellen, die ein syntaktisches Muster des Italienischen (ital. sapere + Interrogativum + Infinitiv) reproduzieren (vgl. (7)). 20 Vgl. http: / / bistrosearch.eurac.edu/ (Letzter Zugriff 1.3.2018). 21 Einen Überblick über vorromanisches und italo-romanisches Lehngut in den deutschen Dialekten aufgrund historischen Sprachkontakts geben - mit Blick auf Gesamttirol - Schneider (1963) und jüngst - mit Blick speziell auf Südtirol - Lanthaler (2018). 22 Die Belege (2) und (3) stammen aus einem Korpus, das schriftliche Texte und mündliche Diskurse von Südtiroler Maturanten enthält. Eine ausführliche Korpusbeschreibung ist Glück/ Leonardi (im Druck) zu entnehmen. 260 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="261"?> (7) Wenn ich mir diese Collage anschaue, weiß ich im ersten Augenblick gar nicht was sagen (Riehl 2001: 256, ergänzt aus dem Anhang) Situationsbedingte - also eindeutig nicht konventionalisierte - Kontakteinflüsse sind in der Phonetik an der Allophonie von / r/ bei Probanden mit unterschiedlichem sprachlichem Hintergrund untersucht worden. So produzieren nativ italienischsprachige (sukzessiv bilinguale) Probanden im Standarditalienischen hauptsächlich alveolare Taps (67 %) neben alveolaren Approximanten (22 %) (Vietti/ Spreafico 2018: 55), während nativ deutschsprachige (sukzessiv bilinguale) und simultan bilinguale Probanden gleichermaßen im deutschen Dialekt hauptsächlich uvulare Frikative (56,8 %) neben uvularen Approximanten (20,2 %) und uvularen Taps (14,8 %) produzieren (Vietti/ Spreafico 2018: 60 f.). Dabei ist das Auftreten uvularer Taps bei letzterer Gruppe nicht vom Grad der Zweisprachigkeit (simultan vs. sukzessiv) abhängig, sondern von der Häufigkeit italienischsprachiger Kontakte direkt vor der Datenerhebung (Vietti/ Spreafico 2018: 63 f.). 5.5 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung Code-Switching i. w. S. wurde bisher v. a. an Daten aus dem Südtiroler Unterland untersucht, wo die Verwendung von deutschem und italo-romanischem Dialekt durch dieselben Sprecher innerhalb derselben Kommunikationssituation weit verbreitet ist (vgl. 5.2). In narrativen Interviews finden sich dabei sowohl Belege für Code-Switching (in anderer Terminologie i. W. intersentential code-switching ) an prosodisch-syntaktischen Grenzen (vgl. (8)), als auch Belege für Code-Mixing (in anderer Terminologie i. W. intrasentential code-switching ) innerhalb von Äußerungen (vgl. (9)). (8) i versteas ober i konns nit gscheid redn è quello il problema (Tartarotti 2010: 66) ‚ich verstehe es, aber ich kann es nicht gescheit reden, das ist das Problem‘ (9) leifers isch a razza per sè (Tartarotti 2010: 87) ‚Leifers ist eine Rasse für sich‘ Dabei tritt der alternierende Typ ( alternational code-switching ) (vgl. (8) und (9)) bedeutend häufiger als der inserierende ( insertional code-switching ) (vgl. (10)) auf. (10) sel isch meahr als freid soddisfazion wenn epes schians fongsch (Tartarotti 2010: 75) ‚das ist mehr als Freude, Befriedigung, wenn du etwas Schönes fängst‘ Eine ausführliche Diskussion der verschiedenen Arten von Code-Switching i. w. S. anhand von Daten aus Südtirol bieten Ciccolone (2014) und Dal Negro/ Ciccolone (2018). 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Allgemeines Nach der Annektierung durch Italien und unter dem Einfluss des italienischen Faschismus war die deutsche Sprache in Südtirol zunehmend in die Domänen von Familie und Freundeskreis zurückgedrängt worden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die deutschsprachige Gruppe zunächst zögerlich, aber seit Inkrafttreten des ‚Pakets‘ 1972 immer deutlicher, nahezu Südtirol 261 <?page no="262"?> alle Domänen wieder zurück, besonders den für den Erhalt der Sprache so wichtigen Schulunterricht in der Muttersprache (vgl. Abschnitt 4.3). Dabei ist allerdings von einer diglossischen Verteilung von Dialekt und Hochsprache auszugehen, da der Dialekt fast ausschließlich im Bereich der mündlichen Kommunikation verwendet wird und nahezu alle Domänen abdeckt (vgl. Lanthaler 2006). Das Standarddeutsche in seiner spezifisch regionalen Prägung (vgl. Ammon et. al. 2016) wird nur in formellen Sprechsituationen (auf Ämtern, im Unterricht, in der Kirche, bei offiziellen Ansprachen, vor Gericht u. ä.) und im Umgang mit Touristen oder den italienischsprachigen Mitbürgern verwendet. Allerdings wird gerade in der Kommunikation mit Angehörigen der italienischsprachigen Gruppe in allen Domänen viel häufiger die italienische Sprache gebraucht, da diese entweder die deutsche Sprache weniger gut beherrschen, oder aber den Dialekt nicht sprechen, und es für die deutschsprachigen Südtiroler offensichtlich eine größere Hemmschwelle bedeutet, Standarddeutsch zu sprechen als Italienisch (vgl. Lanthaler 1990: 73 f.). Typisch zweisprachige Domänen sind v. a. Politik, öffentliche Verwaltung und andere Institutionen (wie Post, Bahn usw.) (vgl. Egger/ Heller 1997: 1350). Je nach Lebensort (Italienischsprachige leben hauptsächlich in den Städten und im Unterland) und Beruf (z. B. Kontakte zu inneritalienischen Firmen und Institutionen) gebrauchen die deutschsprachigen Südtiroler die Zweitsprache mehr oder weniger häufig. Insgesamt kann man davon ausgehen, dass der weitaus größte Teil der Deutschsprachigen die deutsche Sprache (bzw. den Dialekt) in fast allen Domänen häufiger verwendet als die italienische (vgl. auch ASTAT 2015). 6.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten In der Vergangenheit wurden diverse empirische Studien zu den Erst- und Zweitsprachkompetenzen 23 der Südtiroler Bevölkerung durchgeführt, wobei die Daten entweder durch Selbsteinschätzung der Befragten gewonnen wurden oder durch Fremdbeurteilung. Fokus solcher Untersuchungen waren eine bestimmte Sprachgruppe, etwa die Deutschkompetenzen von italienischsprachigen Südtirolern (Benedikter et al. 1987: 129-136, Vettori 2004), die Kompetenzen der jeweils anderen Landessprache durch die Sprecher selbst (Gubert 1978, Dall’O 1987: 138-142, 145 f., Buson 1992: 102 ff., CENSIS 1997: 102-110, ASTAT 2015: 125-140, Vettori/ Martini 2017: 110 f.) oder der Vergleich der Deutschkompetenzen mit anderen deutschsprachigen Gebieten, wie etwa Österreich und Deutschland (Abel/ Glaznieks 2017). In den letzten Jahren wurden vor allem L1-Kompetenzen (vgl. Abel/ Glaznieks 2017) bzw. L2-Kompetenzen (vgl. Abel et al. 2012a, 2012b, Vettori/ Abel 2017) von Schülern an Schulen mit deutscher bzw. italienischer Unterrichtssprache untersucht, wobei jeweils die standardsprachlichen Kompetenzen im Deutschen bzw. Italienischen analysiert wurden. Im Folgenden soll kurz auf die empirischen Studien von KOLIPSI und KoKo eingegangen werden. Im Projekt KOLIPSI: Die Südtiroler SchülerInnen und die Zweitsprache: eine linguistische und sozialpsychologische Untersuchung wurden im Schuljahr 2007/ 2008 die rezeptiven und produktiven Fertigkeiten in der jeweiligen Zweitsprache (Italienisch bzw. Deutsch) an Südtiroler Oberschulen mit deutscher bzw. italienischer Unterrichtssprache analysiert (Abel et al. 2012a, 2012b). Zusätzlich zu den Sprachkompetenzen in der Zweitsprache (L2) wurden auch außer- 23 Die (Selbst)Einschätzungen der Kompetenzen im Ladinischen bzw. der Ladiner selbst werden in diesem Kapitel nicht berücksichtigt. 262 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="263"?> sprachliche Faktoren ermittelt, um mögliche Zusammenhänge zwischen den Kompetenzen und diesen Variablen zu eruieren. Sieben Jahre nach der ersten Erhebung wurde im Schuljahr 2014/ 2015 eine zweite Studie, KOLIPSI II, durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass in schriftlichen Tests Schüler mit Italienisch als L2 das Niveau B1 24 (50,73 %) und Schüler mit Deutsch als L2 das Niveau A2 (37,6 %) am häufigsten erreichen. Auf B2-Niveau und darüber liegen 25,9 Prozent der Schüler mit Italienisch als L2, bei den Schülern mit Deutsch als L2 sind es 18,0 Prozent 25 (Abel 2017: 45-55). An der Untersuchung der mündlichen Sprachproduktion in der L2 hat nur eine kleine Teilstichprobe (n=136) teilgenommen, weshalb Abel (2017: 65) daher auch betont, dass die Ergebnisse dieses Testteils als nicht repräsentativ gelten können. Hierbei ist sowohl bei Schülern mit Italienisch als L2 (64,9 %), als auch bei Schülern mit Deutsch als L2 (32,0 %) das B1-Niveau am stärksten vertreten. Während Schüler mit Deutsch als L2 allerdings auch auf A2-Niveau und darunter (27,0 %) bzw. auf B2-Niveau und darüber (39,0 %) nennenswert vertreten sind, liegen - neben 28,6 Prozent mit B2-Niveau und darüber - nur 6,5 Prozent der Schüler mit Italienisch als L2 auf A2-Niveau (Abel 2017: 65 ff.). Aufgrund von standardisierten Methoden und vergleichbaren Testformaten in den Studien KOLIPSI I und II ergibt sich zudem die Gelegenheit, Aussagen über die Entwicklung und Veränderung der L2-Kompetenzen von Südtiroler Oberschülern in einem Zeitraum von sieben Jahren zu treffen (Vettori/ Abel 2017). Im Rahmen der Vergleichsstudie KoKo: Bildungssprache im Vergleich: Korpusunterstützte Analyse der Sprachkompetenz bei Lernenden im deutschen Sprachraum wurden die Schreibprodukte an Oberschulen mit deutscher Unterrichtssprache in Südtirol untersucht und mit Schülertexten aus Tirol in Österreich und Thüringen in Deutschland verglichen, wobei die Textqualität (Orthographie, Grammatik, Wortschatz und Textebene) im Mittelpunkt der Analysen stand (Abel/ Glaznieks 2017). Beide Studien, KoKo und KOLIPSI, analysieren standardsprachliche Kompetenzen. Einschätzungen der dialektalen Kompetenzen im Deutschen sowie im Italienischen wurden - zumindest nach Wissen der Autoren - bis zum heutigen Zeitpunkt nur wenig untersucht. Dabei bilden das Südtiroler Sprachbarometer (ASTAT 2015), KOLIPSI II (Vettori/ Martini 2017) und Benedikter et al. (1987: 131, 133) eine Ausnahme, wobei es sich allerdings ausschließlich um Selbsteinschätzungen der Probanden handelt. In einer repräsentativen Meinungsumfrage des Südtiroler Landesinstituts für Statistik (ASTAT) wurde im Jahr 2014 nach den Sprachkenntnissen der Südtiroler gefragt, wobei sowohl die Standardvarietäten als auch die Non-Standard-Varietäten in die Erhebung miteinbezogen wurden. Bei den rezeptiven Fähigkeiten im gesprochenen deutschen Standard gibt eine knappe Mehrheit der italienischsprachigen Südtiroler 26 an, entweder „alles“ (21,5 %) oder „Zusammenhänge“ zu verstehen (32,0 %), während hingegen die überwiegende Mehrheit der deutschsprachigen Südtiroler angibt, im gesprochenen Italienischen entweder „alles“ (55,1 %) oder „Zusammenhänge“ zu verstehen (28,8 %) (ASTAT 2015: 125-136). Die Dialektkenntnisse sind eindeutig sprachgruppenbezogen. Wäh- 24 Für die Beschreibung der Sprachkompetenzen im Deutschen und Italienischen wurde der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (GERS) (Trim et al. 2001) herangezogen. 25 Betrachtet man die Verteilung der L2-Kompetenzen nach gefühlter Sprachgruppenzugehörigkeit der Probanden, so zeigt sich ein ähnliches Bild. Die deutschsprachigen Schüler (55,5 %) erreichen B1-Niveau, die italienischsprachigen Schüler (42,6 %) weiterhin A2-Niveau am häufigsten (Abel 2017: 48 f.). 26 Es handelt sich dabei um eine gefühlte Sprachgruppenzugehörigkeit der Probanden, die nicht notwendigerweise mit der Erklärung der Sprachgruppenzugehörigkeit (vgl. Abschnitt 2) übereinstimmen muss. Südtirol 263 <?page no="264"?> rend 93,0 Prozent der deutschsprachigen Südtiroler erklären, dass sie sich „fließend“ in einem deutschen Dialekt ausdrücken können, und 93,4 Prozent angeben, dass sie „alles“ verstehen, geben nur 31,6 Prozent der italienischsprachigen Südtiroler an, einen italo-romanischen Dialekt „fließend“ zu beherrschen. Immerhin erklären aber 52,2 Prozent der italienischsprachigen Probanden, dass sie in den italo-romanischen Dialekten „alles“ verstehen (ASTAT 2015: 136-140). Wenngleich bei der deutschsprachigen Bevölkerung die rezeptiven und produktiven Sprachfertigkeiten gleichauf liegen, zeigen diese Ergebnisse, dass es bei der italienischsprachigen Bevölkerung ein starkes Ungleichgewicht - zugunsten der rezeptiven Fertigkeiten - gibt. Im Rahmen der Studie KOLIPSI II wurden die Schüler der deutsch- und italienischsprachigen Oberschulen auch nach der Einschätzung ihrer L2-Kompetenzen gefragt. Die Mehrzahl der deutsch- (51,0 %) und italienischsprachigen Schüler 27 (43,4 %) sieht sich auf der Niveaustufe B1, wobei in beiden Gruppen jeweils ein Drittel der Probanden ihre L2-Kompetenzen höher einschätzen würde (B2-C2: 33,5 % der deutschsprachigen Schüler und 35,3 % der italienischsprachigen Schüler) (Vettori/ Martini 2017: 110). Obwohl der Erwerb der L2 und der Fremdsprachen an Südtiroler Schulen besonders gefördert wird und trotz der vielen Initiativen innerhalb und außerhalb der Schule (z. B. Erwerb der L2 ab der ersten Klasse Grundschule, Partnerschaften mit Schulen anderer Unterrichtssprache, Einsatz von CLIL-Methoden; vgl. Abschnitt 4.3), sind die L2-Kompetenzen sowohl bei Schülern (Baur 2000: 294-300, Vettori 2004) als auch bei Erwachsenen bis heute nicht immer zufriedenstellend, wie verschiedene Studien und Umfragen zur Selbsteinschätzung der eigenen Sprachkenntnisse gezeigt haben (siehe Ergebnisse der Zweisprachigkeitsprüfung ASTAT 2018a: 26, Selbsteinschätzung der Sprachkenntnisse im Standard ASTAT 2015: 125-136). Es verwundert daher auch nicht, dass immerhin 15,5 Prozent der deutschsprachigen und sogar 21,3 Prozent der italienischsprachigen Schüler, die an der Studie KOLIPSI II teilgenommen haben, ihre Italienischbzw. Deutschkenntnisse auf A2- oder sogar A1-Niveau ansiedeln (Vettori/ Martini 2017: 110). Im Rahmen der Erhebung sollten auch die Kompetenzen in den in Südtirol gebräuchlichen deutschen Dialekten von den Oberschülern selbst eingeschätzt werden - allerdings nur von jenen Probanden, die einen italienischen Fragebogen 28 ausgefüllt haben (n=397). Dabei geben 27,1 Prozent an, dass sie keine deutschen Dialektkompetenzen besitzen, 40,9 Prozent geben geringe Kompetenzen an (A1-A2), und 17,8 Prozent schätzen ihre Kompetenzen auf B1 ein. Mit 14,2 Prozent ist die Anzahl jener, die angeben den Südtiroler Dialekt auf B2-Niveau oder höher zu können, relativ gering (Vettori/ Martini 2017: 110 f.). 27 Die Einteilung in die deutschbzw. italienischsprachige Gruppe erfolgte nach gefühlter Sprachgruppenzugehörigkeit (deutschsprachigeR SüdtirolerIn, italienischsprachigeR SüdtirolerIn, ladinischsprachigeR SüdtirolerIn, zweisprachigeR SüdtirolerIn (deutsch-italienisch), anderes) und ist nicht mit der offiziellen Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung zu verwechseln, die nur drei Wahlmöglichkeiten zulässt (deutsch, italienisch, ladinisch; vgl. Abschnitt 2) (Abel 2017: 47). 28 Die Schüler hatten die Wahl den Online-Fragebogen in deutscher oder italienischer Sprache auszufüllen. Von den 1.692 ausgefüllten Fragebögen wurden 71,8 Prozent auf Deutsch und 28,2 Prozent auf Italienisch ausgefüllt (Vettori/ Martini 2017: 79). 264 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="265"?> 6.3 Sprachgebrauch in einzelnen Domänen 6.3.1 Sprecherkonstellationen und -typen Für eine Darstellung der domänenabhängigen Sprachwahl sind v. a. die Erhebungen des Südtiroler Sprachbarometers von 2014 (vgl. 5.2) einschlägig. Die deutschsprachige Bevölkerung - die Zuordnung erfolgt hier auf der Grundlage des Zugehörigkeitsgefühls zu einer Sprachgruppe (ASTAT 2015: 20 f.) - erklärt dabei mehrheitlich, im familiären Umfeld mit Vater (74,1 %), Mutter (81,1 %) und Geschwistern (87,9 %) in der Regel einen deutschen Dialekt zu verwenden, während dies mit dem Partner bzw. mit den eigenen Kindern nur 69,0 Prozent bzw. 64,5 Prozent tun. In allen Fällen ist allerdings der Anteil derjenigen, die sich nicht auf eine einzige Varietät festlegen können oder wollen, mit 7,8 Prozent (Geschwister), 14,6 Prozent (Mutter), 18,9 Prozent (Vater), 22,6 Prozent (Partner) und 30,6 Prozent (Kinder) der jeweils zweitstärkste. Andererseits geben 88,2 Prozent an, dass bei Tisch ein deutscher Dialekt gesprochen werde. Die gemeinsame Familiensprache ist offenbar ein deutscher Dialekt, während im Gespräch mit einzelnen Familienmitgliedern durchaus auch andere Varietäten gewählt werden (ASTAT 2015: 143). Im Freundes- und Bekanntenkreis (84,7 %) (ASTAT 2015: 143) sowie „im alltäglichen Sprachgebrauch“ am Arbeitsplatz (85,7 %) (ASTAT 2015: 86) dominiert ebenfalls ein deutscher Dialekt. Allerdings werden am Arbeitsplatz - hier sind Mehrfachnennungen möglich - von 59,7 Prozent auch Standarddeutsch, von 62,2 Prozent auch Standarditalienisch und von immerhin 4,6 Prozent - der deutschsprachigen Bevölkerung (! ) - auch ein italo-romanischer Dialekt verwendet (ASTAT 2015: 86). Lediglich in der Schule überwiegt im muttersprachlichen Unterricht und im Gespräch mit Lehrpersonen das Standarddeutsche (45,3 %), jedoch nicht so stark, wie man es im Schulunterricht vielleicht erwarten würde. Mit 17,3 Prozent spielt hier wiederum ein deutscher Dialekt eine Rolle. Allerdings wird bei der Darstellung nicht zwischen einzelnen Schulfächern unterschieden. Die Sprachwahl im Deutschunterricht dürfte sich erheblich von derjenigen im Sportunterricht unterscheiden. So geben denn auch 35,3 Prozent an, dass keine Varietät „vorwiegend“ verwendet würde (ASTAT 2015: 152). Außerdem geht aus der Darstellung der Ergebnisse nicht hervor, ob hier nur die Antworten von Befragten berücksichtigt wurden, die zum Zeitpunkt der Erhebung Schüler waren, oder auch die Antworten von Personen, die sich retrospektiv an ihre frühere Schulzeit erinnert haben. Im Gespräch mit Schulfreunden fällt die Entscheidung wiederum eindeutig für einen deutschen Dialekt aus (71,2 %), während sich auch hier 22,9 Prozent nicht auf eine einzige Varietät festlegen (ASTAT 2015: 143). Zum Umgang mit Behörden und Ämtern erklären 15,1 Prozent bzw. 44,5 Prozent, dass sie in der Vergangenheit oft bzw. manchmal ihre Muttersprache nicht verwenden konnten (ASTAT 2015: 185). Am häufigsten geschah dies im Kontakt mit Carabinieri (36,1 %) und Polizei (23,7 %) sowie im Krankenhaus (31,9 %) und bei der Eisenbahn (19,3 %) (ASTAT 2015: 186). Ein Vergleich mit der Situation Mitte der 80er Jahre ( Jodlbauer/ Tyroller 1986, Eichinger 1996: 223-247) zeigt einige Verschiebungen in der domänenabhängigen Sprachwahl der deutschsprachigen Bevölkerung - die Zuordnung zu einer Sprachgruppe erfolgt in dieser Untersuchung aufgrund der Erstsprache der Eltern (! ) der Befragten ( Jodlbauer/ Tyroller 1986: 18). Im familiären Umfeld ist der Anteil derjenigen, die „immer“ eine deutsche Varietät verwenden - es wird hier nur zwischen den Einzelsprachen Deutsch und Italienisch, nicht zwischen verschiedenen Varietäten der Einzelsprachen unterschieden -, im Gespräch mit dem Partner (90,3 %) oder den Kindern (93,0 %) deutlich, im Gespräch mit Eltern (97,9 %) und Südtirol 265 <?page no="266"?> Geschwistern (94,6 %) leicht höher (Daten: Jodlbauer/ Tyroller 1986: 54, Graphiken: Eichinger 1996: 229 f., 240). Im Freundeskreis (75,0 %) und mit Nachbarn (65,6 %) (Daten: Jodlbauer/ Tyroller 1986: 77, Graphiken: Eichinger 1996: 232, 240) sowie „mit Kollegen“ am Arbeitsplatz (74,0 %) (Daten: Jodlbauer/ Tyroller 1986: 122-125, Graphiken: Eichinger 1996: 236, 240) wird jedoch von weniger Befragten „immer“ eine deutsche Varietät gebraucht. Bezieht man allerdings die Werte derjenigen mit ein, die hier „meistens“ eine deutsche Varietät verwenden (13,3 % im Freundeskreis, 18,5 % mit Nachbarn, 9,9 % mit Kollegen am Arbeitsplatz), so decken sich die Werte annähernd mit denjenigen, die im Südtiroler Sprachbarometer für Standarddeutsch und deutschen Dialekt gemeinsam genannt werden. Auch die Daten einer Umfrage unter 270 Schülerinnen und Schülern an weiterführenden Schulen mit deutscher Unterrichtssprache am Schulort Bozen 29 Ende der 90er Jahre (Riehl 2007) bestätigen die Ergebnisse. In dieser Untersuchung zeigte sich ebenfalls, dass der Südtiroler Dialekt unter den Schülerinnen und Schülern die am häufigsten gebrauchte Varietät ist. Von den befragten Probanden verwendeten in der Domäne Familie 80 Prozent immer, 10 Prozent oft, 6 Prozent manchmal und nur 4 Prozent nie den Dialekt (davon stammen 3 % aus rein italienischsprachigen Familien). Daraus lässt sich also schließen, dass der Druck in Südtirol allgemein sehr groß ist, in möglichst vielen Domänen Dialekt zu gebrauchen. Das wird besonders an Beispielen deutlich, wo Schülerinnen und Schüler, die zuhause keinen Dialekt sprechen (weil sie beispielsweise Italienisch sprechen), mit den Schulkameraden trotzdem den Dialekt verwenden. In der öffentlichen Domäne (am Beispiel Geschäft) gaben die Informanten an, zu 28 Prozent immer, zu 40 Prozent oft, zu 29 Prozent manchmal und zu 3 Prozent nie den Dialekt zu verwenden. Hier muss erläuternd angeführt werden, dass viele Geschäfte in Bozen italienisch sind und dort automatisch die italienische Sprache verwendet wird. Dabei spielt eine Rolle, dass in der Kommunikation mit Angehörigen der italienischsprachigen Gruppe in allen Domänen viel häufiger die italienische Sprache gebraucht wird, da diese - wie bereits erwähnt - oft die deutsche Sprache weniger gut beherrschen oder aber den Dialekt nicht sprechen. Dies hängt offensichtlich mit einem psychologischen Problem zusammen: Für die deutschsprachigen Südtiroler bedeutet es eine größere Hemmschwelle, Standarddeutsch zu sprechen als Italienisch. Dies gilt besonders für informelle Situationen, die Domänen der Nähesprache sind (vgl. auch Lanthaler 1990). In der institutionellen Kommunikation (hier am Beispiel Lehrer) gaben 0 Prozent an, immer den Dialekt zu gebrauchen, 2 Prozent tun dies oft, 63 Prozent manchmal und 35 Prozent nie. Hier wurde allerdings ebenfalls nicht zwischen Schulfächern oder Kommunikation außerhalb des Unterrichts unterschieden. Unabhängig davon wird aber der starke Normdruck der Schule deutlich: In der Minderheitensituation kommt aufgrund des geringeren Anteils deutschsprachiger Medien und des Kontakts mit Sprechern aus anderen deutschsprachigen Gebieten der Schule eine besonders wichtige Rolle in der Vermittlung des Standards zu (Riehl 1994) (vgl. Abb. 1). 29 Der Schulort deckt sich aber nicht mit den Wohnorten der Schüler: Gerade im Schulort Bozen kommen auch viele Schüler aus dem dörflichen Umland. 266 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="267"?> Abb. 1: Dialektgebrauch unter den Südtiroler Schülerinnen und Schülern In der Kommunikation mit Angehörigen der italienischsprachigen Gruppe verwenden die Deutsch-Südtiroler dagegen fast ausnahmslos die italienische Sprache. Dies gilt besonders in den Städten, wo der Anteil der italienischsprachigen Bevölkerung ziemlich hoch und daher der Kontakt zu dieser Sprachgruppe größer ist (vgl. Eichinger 1996, Riehl 2000). Darüber hinaus gibt es noch einige Orte im Unterland mit überwiegend italienischsprachiger Bevölkerung (Salurn, Leifers, Branzoll, Pfatten) oder hohem Anteil an Italienischsprachigen (Neumarkt und Auer) (vgl. 5.1). In den fast ausschließlich deutschsprachigen Gemeinden der Seitentäler sind die Italienischkenntnisse der deutschsprachigen Gruppe in der Regel geringer, was wiederum bewirkt, dass die dort lebenden deutschsprachigen Südtiroler auch ungern Italienisch sprechen (vgl. Riehl 2001: 23). Die Hauptbarriere, die sich der italienischen Sprachgruppe beim Erlernen der deutschen Sprache stellt, ist die fast ausschließliche Verwendung des Dialekts unter den Deutsch-Südtirolern. Eine Integration in die Gruppe ist Italienischsprachigen daher nur möglich, wenn sie auch den Dialekt erlernen. Dies geschieht meist in den Fällen, in denen italienischsprachige Familien sich in fast ausschließlich deutschsprachigen Gemeinden niederlassen. Eine Aufnahme in die Dorfgemeinschaft gelingt erst, wenn die Familien sich auch sprachlich integrieren. In den Städten hingegen, wo die italienischsprachige Gruppe einen höheren Anteil an der Gesamtbevölkerung hat, sind Italienischsprachige weitaus seltener bereit, die deutsche Standardsprache und den Dialekt zu erlernen. Hier ergibt sich aber auch ein schichtenspezifisches Problem: Da Zweisprachigkeit notwendig ist für sozialen Aufstieg, ist die Elite auf alle Fälle zweisprachig (vgl. Riehl 2001: 24). Gerade in den oberen Schichten der deutschsprachigen Stadtbevölkerung ist die Demonstration perfekter Zweisprachigkeit eine Art Statussymbol und zeugt nicht nur von Geschäftsinteresse. Sogar bei Deutschsprachigen, die weniger gute Kenntnisse im Italienischen haben, lässt sich dieses Verhalten beobachten (vgl. Riehl 2001: 25). Diese Haltung lässt wiederum den Italienischsprachigen kaum eine Chance, ihr Deutsch überhaupt anzuwenden. Eine passive Zweisprachigkeit, bei der jeder in seiner Muttersprache spricht und die Zuhörer die Sprache des jeweils anderen verstehen, hat sich bisher nur in Gremien durchgesetzt (ebd.). Südtirol 267 <?page no="268"?> 6.3.2 Monologische Sprechsituationen und schriftlicher Sprachgebrauch Was für die gesprochene Sprache gilt, trifft noch mehr auf die geschriebene Sprache zu. Alle öffentlichen Aufschriften, Bekanntmachungen, Formulare usw. sind zweisprachig deutsch-italienisch (bzw. dreisprachig in den ladinischen Gemeinden). Das gilt auch für Verkehrs- und Ortsschilder, Straßenschilder usw. (vgl. Abschnitt 8). Auch die in Rom erlassenen Gesetze und Statute werden entsprechend für die deutschsprachige Gruppe ins Deutsche übersetzt (Südtiroler Landesregierung 2009: 90). Allerdings kann die deutsche Sprache nicht in allen Bereichen garantiert werden: so sind Beipackzettel von Medikamenten, Versicherungspolicen italienischer Versicherungen oder Gebrauchsanleitungen für in Italien hergestellte Produkte u. ä. häufig nur in italienischer Sprache verfasst (vgl. Riehl 2001: 277). Darüber hinaus ist in vielen Berufsgruppen auch schriftsprachlicher Verkehr mit italienischsprachigen Kommunikationspartnern in italienischer Sprache erforderlich. Das Südtiroler Standarddeutsch wird vor allem gegenüber Touristen und in offiziellen Kontexten verwendet. Deutschsprachige Südtiroler operationalisieren ihren Dialekt als Symbol der eigenen Identität (vgl. Abschnitt 7). Dies hat zur Konsequenz, dass der Dialekt - wie bereits erwähnt - die fast ausschließliche Kommunikationsform in der In-Group-Kommunikation darstellt und typisch schriftsprachliche Register mit einer gewissen Verzögerung im Vergleich zu einsprachigen deutschsprachigen Gemeinschaften erworben werden. Die Zweitsprache dagegen hat in Südtirol v. a. Einfluss bei primär Zweisprachigen oder bei sekundär Zweisprachigen, die in überwiegend italienischsprachigem Milieu aufgewachsen sind und sehr frühen und intensiven Kontakt zur italienischen Sprache hatten und immer noch haben (vgl. Riehl 2001: 283). 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung In Südtirol herrscht in der deutschen Sprachgruppe eine durchweg positive Einstellung gegenüber der deutschen Sprache insgesamt und gegenüber dem Dialekt im Besonderen. Diese Spracheinstellung spiegelt sich auch in den Aussagen wider, die in narrativen, leicht gesteuerten Interviews mit 125 16bis 20-jährigen Schülern an deutschsprachigen Schulen im Rahmen einer größeren Studie (Riehl 2001) geführt wurden. Die Befragung von Jugendlichen ist deshalb interessant, weil sie mögliche Trends und auch den Wandel der Einstellung belegen kann. In den Interviews wurden Fragen zu Sprachgebrauch, die Einschätzung der soziolinguistischen Situation, das Verhältnis zu Italienischsprachigen u. ä. diskutiert. Nur ganz wenige Schüler gaben an, am liebsten Italienisch zu sprechen; die große Mehrheit entschied sich für den Dialekt (vgl. Riehl 2001: 22). Auch bei den Jugendlichen, die angaben, lieber Italienisch zu sprechen, kann dies als jugendsprachliches Phänomen betrachtet werden, als Mittel zur Abgrenzung von der Erwachsenenwelt und als Möglichkeit, sich in der Rolle einer anderen Sprache selbst zu definieren. Damit dürfte auch die Tendenz bei den Jugendlichen zu begründen sein, dass sie im Gespräch untereinander sehr oft eine Sprache verwenden, die als Mischung empfunden wird, obwohl die Grammatik weitgehend den Normen des Deutschen folgt und nur lexikalische Übernahmen aus dem Italienischen vorgenommen werden (ebd.). Dazu kommt, dass die Vorurteile, die in manchen Gegenden (eher abgelegenen Tälern oder Orten mit traumatischen Erfahrungen aus der Zeit des Faschismus) der italienischen Bevöl- 268 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="269"?> kerung entgegengebracht werden, häufig auch auf ihre Sprache übertragen werden und diese dann oft als „notwendiges Übel“ gesehen wird. Diese Einstellung hat auch Auswirkungen auf die Sprachkompetenz (vgl. Riehl 2001: 23). Mangelnde Sprachkenntnis wird im umgekehrten Falle auch beim Großteil der italienischen Sprachgruppe beklagt. Als Erklärungsmuster werden in diesem Falle meist eine fehlende Bereitschaft („siamo in Italia, si parla italiano“), aber auch die Kompliziertheit der deutschen Sprache und der unzureichende Deutschunterricht in den italienischen Schulen angeführt (Riehl 2001: 24). 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation Aufgrund der fast gänzlichen Abdeckung aller Domänen durch die deutsche Sprache stellt sich für die deutschsprachige Gruppe keine Kosten-Nutzen-Abwägung, was die Verwendung der deutschen Sprache angeht. Diese ist eher gegenüber der Zweisprachigkeit zu sehen. Hier ist natürlich die Beherrschung der italienischen Landessprache durchaus eine Voraussetzung für beruflichen Aufstieg. Auf der anderen Seite ist durch die Forderung des Zweisprachigkeitsnachweises der Druck auf die dort lebende italienischsprachige (bzw. ladinischsprachige) Bevölkerung genauso groß, ihrerseits das Deutsche auf entsprechendem Niveau zu erwerben. Wie Alcock (2000) optimistisch bemerkt, scheint das Konzept der völligen Parität der Sprachen in allen öffentlichen Domänen für Südtirol aufgegangen zu sein. Das Insistieren auf einem monolingualen Schulsystem und das Insistieren auf Dialektgebrauch in fast allen anderen Domänen haben die deutschsprachigen Südtiroler vor der vielgefürchteten Assimilation bewahrt. Auf der anderen Seite führen gerade diese beiden Aspekte zu einer sprachlichen Separation und behindern den Kontakt, der notwendig ist, um Spannungen aus der Welt zu schaffen und das wechselseitige Verständnis zwischen den Sprachgruppen zu fördern (vgl. Hajek/ Riehl 2011). 7.3 Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache (als Identitätsmerkmal) Die Identifikation mit einer bestimmten Ethnie ist bei Minderheiten, die einer anderssprachigen und anderskulturellen Nation angehören, immer problematisch. Allerdings zeigt ein Vergleich von Aussagen ladinischsprachiger Südtiroler und deutschsprachiger Südtiroler, dass gerade im letzteren Fall die Situation weit komplexer ist (vgl. dazu Riehl 2002). Denn während die ladinische Minderheit nie über eine eigene Nation verfügte und ihre Sprache und Kultur immer in anderen Staatsverbänden integriert waren, ist die deutsche Sprache eine Nationalsprache, die in anderen Nationen auch als Staatssprache verwendet wird. Daher ist es für die deutschsprachigen Südtiroler schwierig, sich mit der Sprache ‚Deutsch‘ zu identifizieren. Aus diesem Grund operationalisieren die Südtiroler den Südtiroler Dialekt als zentrales Identifikationsmoment (vgl. Riehl 2002, Riehl 2014: 178-181). Sie konstruieren so eine eigene Identität als ‚Südtiroler‘ (vgl. dazu auch Veronesi 2010). Südtiroler sind Angehörige einer Gruppe, die einen bestimmten Dialekt sprechen (Beispiele aus Riehl 2002): Südtirol 269 <?page no="270"?> 11. Sprecher A: 18 Jahre, deutschsprachig A: ich glaub, dass sich die (--) die deutschsprachigen Südtiroler jetzt eine eigene (-) Identität irgendwie aufgebaut haben, indem sie ihren Dialekt noch sprechen, (-) sie identifizieren sich da mit allen anderen, die diesen besonderen Dialekt dann sprechen, (--) dies sind dann die Südtiroler. […] und nicht (-) äh und nichts zu tun mit den Österreichern, (-) und Italiener sind Italiener, italienischsprechend. wir sind Deutsche, (---) CR: mhm, mhm (--) glaub/ , glaubt ihr A: deutsch im Sinn von deutschsprachig. Hier bringt es der Sprecher ganz klar zum Ausdruck: die Identität der Südtiroler manifestiert sich in ihrem Dialekt. Diejenigen, die diesen Dialekt sprechen (Zeile 2) gehören zur ‚In-group‘, zur Gruppe der Südtiroler. Diese grenzen sich nach zwei Seiten hin ab: einmal von Österreich, zu dem sie ursprünglich gehörten, und einmal von Italien. Dabei wird ‚deutsch sein‘ mit ‚deutschsprachig sein‘ (Zeile 7) gleichgesetzt. Die kulturelle Identität wird unmittelbar mit der sprachlichen Identität verknüpft, ‚Deutsch‘ versteht man nicht im Sinne einer ethnischen Zuordnung, sondern rein auf sprachlicher Ebene. Das Beispiel lässt damit die starke Betonung der regionalen Sprachvarietät erkennen, vorrangig vor der regionalen Kultur: Der Dialekt bekommt einen hohen Symbolwert. Ein Grund dafür ist, dass die Diskussion, die die Minderheiten führen, auf der Sprachgruppenzugehörigkeit basiert. Dadurch ist auch die Meinung sehr weit verbreitet, dass Kultur unmittelbar an Sprache gebunden sei (vgl. Riehl 2002, Veronesi 2010). Ein Argument, das in diesem Zusammenhang ins Feld geführt wird, ist daher, dass ohne Sprache auch die Kultur verlorengehe, vgl.: 12. Sprecher A: 18 Jahre, deutschsprachig A: wenn wir jetzt (--) alle Italienisch sprechen würden dort in der Schule, also nur Italienisch hätten, (--) und kein Deutsch, oder höchstens als Fremdsprache so, nur italienischsprachigen Unterricht, dann (--) würden wir auch die italienische (-) Mentalität annehmen, (-) und die eigene Kultur wird so langsam verloren gehen. Hier bringt der Sprecher zum Ausdruck, dass ein Modell der Zweisprachigkeit, wie es in Südtirol praktiziert wird, die einzige Möglichkeit bietet, die eigene Kultur zu erhalten. Die Übernahme der italienischen Sprache würde bedeuten, dass damit die deutsche Kultur verloren gehen würde (Zeile 4). Das ist eine Meinung, die keinen Einzelfall darstellt, sondern von vielen anderen Informanten, auch älteren, geteilt wird: Sprache und Kultur gehören unmittelbar zusammen, ohne Sprache kann die Kultur nicht erhalten werden. Selbst auf provokatives Fragen der Interviewerin hin, warum man beispielsweise nicht einfach die Sprache wechseln und doch die Kultur erhalten könne, gaben die Befragten stets zur Antwort, dass dies nicht möglich sei. Begründet wurde dies damit, dass Bräuche und andere kulturelle Charakteristika nicht ohne Sprache gedacht werden könnten. Interessant an Beispiel 2 ist, dass der Sprecher die Übernahme einer anderen Sprache auch mit der Übernahme einer anderen Mentalität koppelt (Zeile 3 f.) und dass er der Meinung ist, dass die Übernahme dieser Mentalität auch den Verlust der Kultur zur Folge hätte. 270 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="271"?> In diesem Zusammenhang wird Deutschsprachigkeit ein inhärentes Merkmal, vgl. Beispiel (13) (vgl. auch Riehl 2014: 179): 13. Sprecherin B: Schülerin, Bozen, 17 Jahre; Sprecherin D: Schülerin, Bozen, 17 Jahre, beide deutschsprachig D: Es scheint ma ziemlich komisch, wenn i, wenn i do im Land bin, sognma so, dann - i woas eigentlich net + ah i fühl mi sognma eher deutsch, deutschsprachig sognma mal, deutschsprachig + bin i. Und wenn i dann aus + aus dem Land rausfahr, dann nimm i irgendwie die italienische Identität an. Wenn mi dann jemand fragt, dann sog i 'von Italien'. B: Also ich fühl mi scho als deutschsprachig, aber i fühl mi net zu Südtirol oder zu Italien oder i weiß net. I fühl mi eigentlich zu + zu nix richtig. Also nur deutschsprachig und sonst Die Zerrissenheit bei zweisprachigen Südtirolern einerseits, die unter dem Druck stehen, sich für eine Sprache bzw. Kultur entscheiden zu müssen, und bei Angehörigen der deutschen Minderheit anderseits, die, obgleich in Südtirol in der Mehrheit, national gesehen Italiener sind, belegen auch die von Veronesi (2010) erhobenen Sprachbiographien ein- und zweisprachiger Südtiroler. 8 Linguistic Landscapes Unter der linguistic landscape eines zu definierenden Gebiets wird im engsten Sinne die Summe visuell wahrnehmbarer sprachlicher Äußerungen im öffentlichen Raum verstanden. Eine weitgehende Beschränkung auf statische Beschilderungen im urbanen Raum dürfte eher forschungspraktische als theoretische Ursachen haben. Auch ist die Untersuchung von linguistic landscapes nicht zwingend auf mehrsprachige Gebiete beschränkt, obwohl die meisten Studien sich darauf konzentrieren. Im Hinblick auf die Personen(gruppen), die die Beschilderung veranlassen, wird dabei üblicherweise zwischen institutioneller (überwiegend top-down ) und kommerzieller (überwiegend bottom-up ) Beschilderung unterschieden. Das Autonomiestatut (vgl. 4.3) garantiert für ganz Südtirol eine zweisprachige bzw. - in Gröden und im Gadertal - dreisprachige Beschriftung von Ortsschildern. Dies wurde in der Folge auch auf Wegweiser und Straßenschilder sowie Verbots-, Warn- und Hinweisschilder ausgeweitet. Die Reihenfolge der Sprachen richtet sich dabei nach der im Rahmen der Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung erhobenen Stärke der jeweiligen Sprachgruppe in der jeweiligen Gemeinde (vgl. 2). In Gemeinden mit italienischsprachiger Bevölkerungsmehrheit erscheint demnach zuerst die italienische Aufschrift, in Gemeinden mit deutschsprachiger Bevölkerungsmehrheit zuerst die deutsche. In den mehrheitlich ladinischsprachigen Gebieten erscheint zuerst die ladinische Aufschrift, gefolgt von der deutschen und der italienischen. Auch in an die ladinischsprachigen Gemeinden angrenzenden Orten finden sich teilweise ladinische Aufschriften - in der Regel nach den deutschen und den italienischen. Dieses Vorgehen erfolgt qua Usus, denn ein vom Südtiroler Landtag 2012 verabschiedetes Landesgesetz (Landesgesetz vom 20. September 2012, Nr. 15), das diese Praxis bestätigen sollte, wurde noch im selben Jahr vom italienischen Ministerrat vor dem Verfassungsgericht angefochten, von dem bisher noch keine Entscheidung getroffen wurde. Südtirol 271 <?page no="272"?> Es scheint allerdings notwendig, Personen(gruppen), die die Beschilderung veranlassen, von Produzenten von Schildern wie auch von Produzenten von Aufschriften zu unterscheiden. So weisen am Bozner Busbahnhof nur maschinell gefertigte Schilder der kommunalen Verkehrsgesellschaft SASA Aufschriften auf Deutsch und Italienisch auf, während auf handgeschriebenen - meist provisorisch installierten - ausschließlich Italienisch verwendet wird (Dal Negro et al. 2007: 120 f.). Andererseits werden auf den Wegweisern des Alpenvereins Südtirol, die meist nur deutsche Alm- und Bergnamen aufweisen, durchaus italienische Entsprechungen per Hand ergänzt, so dass die Aufschriften der zweisprachigen Schilder von verschiedenen Produzenten stammen. Schließlich gilt es, die potentiellen Rezipienten zu berücksichtigen, da dies von den Produzenten offenbar auch getan wird. So tragen Schilder, die den Bereichen Tourismus und Einzelhandel zuzuordnen sind und sich damit an unspezifische Rezipienten richten, tendenziell Aufschriften in beiden Sprachen (und teils Englisch), während Schilder von Verbänden und Kirchen und damit mit spezifischen Rezipienten in den mehrheitlich deutschsprachigen Ortschaften Kurtinig und Villnöß auch fast ausschließlich Aufschriften in deutscher Sprache aufweisen (Dal Negro 2009: 212 ff.). Dies führt allerdings immer wieder zu Missverständnissen und unendlichen Debatten, die in der Tagespresse und vor allem in Leserbriefen ausgetragen werden: Ein Beispiel war etwa im Sommer 2009 die Diskussion darüber, dass viele der Beschilderungen, die der Südtiroler Alpenverein auf Wanderwegen angebracht hatte, nur auf Deutsch vorzufinden waren. Die deutsche Seite argumentierte, dass der Alpenverein keine öffentliche Hand sei und dass viele italienische Namen sowieso nur eine Erfindung des Faschismus seien; die italienische Seite führte ins Feld, dass der Alpenverein die Schilder im öffentlichen Auftrag aufstelle und auch aus öffentlichen Geldern finanziert werde (vgl. dazu Hajek/ Riehl 2011). Öffentliche Aufschriften gewähren auch interessante Einblicke in Sprachkontaktphänomene, da sie häufig 1: 1-Übersetzungen der ursprünglich italienischen Aufschriften zeigen, hier einige Beispiele (aus Riehl 2001: 31 ff.): 14. Fotographische, hygienische und sanitäre Artikel . (< ital. Articoli fotografici, igienici e sanitari statt: ‚Foto-, Hygiene- und Sanitärartikel‘, Kiosk, Bahnhof Meran) 15. Wir ersuchen Sie höflich, die Sitzplätze Invaliden, Senioren oder Müttern mit Kleinkindern zu überlassen. Danke (< ital. Preghiamo gentilmente ai passeggeri di cedere i posti a sedere agli invalidi, seniori e madri con bambini piccoli. Grazie , Aufschrift im Stadtbus Bozen) 16. Stundenplan (< ital. orario , statt: ‚Öffnungszeiten‘, Postamt Bozen) Es stellt sich auch die Frage, ob die Untersuchung der linguistic landscape eines Gebiets auf visuell wahrnehmbare sprachliche Äußerungen beschränkt bleiben oder nicht auch auf auditiv wahrnehmbare sprachliche Äußerungen ausgeweitet werden sollte. So erregt ein ortsfremder deutschsprachiger Sprecher einer zweisprachigen Durchsage in der Bahn, der den Wortakzent beim deutschen Ortsnamen Terlan (ital. Terlano ) fälschlicherweise auf die Ultima setzt ( Terlàn ), ebenso viel Unmut wie ein ortsfremder italienischsprachiger Sprecher einer zweisprachigen Durchsage im Bus, der selbiges beim italienischen Ortsnamen Cermes (dt. Tscherms ) tut ( Cermès ). Die Tatsache, dass es sich bei den Sprechern um Angehörige der jeweils eigenen Sprachgruppe handelt, tut dem Unmut in diesem Fall keinen Abbruch. 272 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="273"?> 9 Faktorenspezifik (Zusammenfassung) Die Situation in Südtirol stellt einen Sonderfall innerhalb der deutschen Sprachminderheiten dar, da dort nicht nur der Gebrauch der deutschen Sprache in allen Domänen garantiert ist, sondern auch der Erwerb der Schriftlichkeit, so dass dort eine komplett ausgebaute Sprache mit Dialekten und überdachender Standardsprache existiert (im Sinne eines Halbzentrums, vgl. Ammon 1995). Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass die Sprecher der Mehrheitssprache ebenfalls die Minderheitensprache erlernen, auch wenn dies nicht immer zum gewünschten Erfolg führt. Zum Bestand der Sprache tragen nicht nur die rechtlichen Voraussetzungen (wie das Südtiroler Autonomiestatut), sondern auch die institutionelle Verankerung der deutschen Sprache als Amts- und Schulsprache bei. Einen entscheidenden Beitrag leisten auch die wirtschaftlichen Verhältnisse (es handelt sich um eine sehr prosperierende Provinz). Ein wichtiger Aspekt ist weiter die Funktion des Deutschen, insbesondere des Dialekts, als Identitätsmarker der Minderheit, die sich auch bewusst von der italienischen Nation abgrenzt. Die Grenznähe und der rege Austausch mit dem geschlossenen deutschen Sprachraum (wirtschaftlich, wissenschaftlich sowie über den Tourismus) tragen ebenfalls zu einer Stabilisierung der Minderheitensprache bei. Literatur Abel, Andrea (2017): Die Sprachkompetenzen. In: Vettori, Chiara/ Abel, Andrea (Hrg.): KOLIPSI II: Die Südtiroler SchülerInnen und die Zweitsprache. Eine linguistische und sozialpsychologische Untersuchung. Bozen: Eurac Research, S. 11-76. Abrufbar unter: http: / / webfolder.eurac.edu/ EURAC/ Publications/ Institutes/ autonomies/ commul/ Kolipsi_II_2017.pdf. (Letzter Zugriff 1.4.2018). Abel, Andrea (2018): Von Bars, Oberschulen und weißen Stimmzetteln. Zum Wortschatz des Standarddeutschen in Südtirol. In: Rabanus, Stefan (Hrg.): Deutsch als Minderheitensprache in Italien. Theorie und Empirie kontaktinduzierten Sprachwandels. Hildesheim/ Zürich/ New York: Olms (= Germanistische Linguistik; 239-240), S. 283-323. Abel, Andrea/ Glaznieks, Aivars (2017): KoKo: Bildungssprache im Vergleich: Korpusunterstützte Analyse der Sprachkompetenz bei Lernenden im deutschen Sprachraum. Ein Ergebnisbericht. Bozen: Eurac Research. Abrufbar unter: www.korpus-suedtirol.it/ KoKo/ Documents/ Ergebnisse_Dokumentation_gesamt_FINAL.pdf. (Letzter Zugriff 1.4.2018). Abel, Andrea/ Vettori, Chiara/ Wisniewski, Katrin (Hrg.) (2012a): KOLIPSI: Die Südtiroler SchülerInnen und die Zweitsprache: eine linguistische und sozialpsychologische Untersuchung. Bd. 1. Bozen: Eurac Research. Abrufbar unter: http: / / webfolder.eurac.edu/ eurac/ publications/ Institutes/ autonomies/ commul/ Kolipsi_Band_1_mitCover.pdf. (Letzter Zugriff 1.4.2018). Abel, Andrea/ Vettori, Chiara/ Wisniewski, Katrin (Hrg.) (2012b): KOLIPSI: Die Südtiroler SchülerInnen und die Zweitsprache. Eine linguistische und sozialpsychologische Untersuchung. Bd. 2. Bozen: Eurac Research. Abrufbar unter: http: / / webfolder.eurac.edu/ eurac/ publications/ Institutes/ autonomies/ commul/ Kolipsi_Band_2_mitCover.pdf. (Letzter Zugriff 1.4.2018). Abfalterer, Heidemarie (2007): Der Südtiroler Sonderwortschatz aus plurizentrischer Sicht. Lexikalisch-semantische Besonderheiten im Standarddeutsch Südtirols. Innsbruck: Innsbruck University Press (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe; 72). Alcock, Antony E. (1982): Geschichte der Südtirolfrage. Südtirol seit dem Paket 1970-1980. Wien: Braunmüller. Südtirol 273 <?page no="274"?> Alcock, Antony (2000): From Tragedy to Triumph: The German Language in South Tyrol 1922-2000. In: Hogan-Brun, Gabrielle (Hrg.): National Varieties of German Outside Germany. Oxford: Peter Lang, S. 161-194. Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin/ New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich/ Bickel, Hans/ Lenz, Alexandra N. (Hrg.) (2016): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen. 2. Aufl. Berlin/ Boston: de Gruyter. ASTAT. Landesinstitut für Statistik (Hrg.) (2006): Südtiroler Sprachbarometer. Sprachgebrauch und Sprachidentität in Südtirol 2004. Bozen: Autonome Provinz Bozen-Südtirol. Abrufbar unter: http: / / astat.provinz.bz.it/ de/ aktuelles-publikationen-info.asp? news_action=4&news_article_id=131260. (Letzter Zugriff 1.3.2018). ASTAT. Landesinstitut für Statistik (Hrg.) (2015): Südtiroler Sprachbarometer. Sprachgebrauch und Sprachidentität in Südtirol 2014. Bozen: Autonome Provinz Bozen-Südtirol. Abrufbar unter: http: / / astat.provinz.bz.it/ de/ aktuelles-publikationen-info.asp? news_action=4&news_article_id=516194. (Letzter Zugriff 1.3.2018). ASTAT. Landesinstitut für Statistik (Hrg.) (2016): Ausländische Schulbevölkerung in Südtirol 1995/ 96- 2015/ 2016. Bozen: Autonome Provinz Bozen-Südtirol. Abrufbar unter: http: / / astat.provinz.bz.it/ de/ aktuelles-publikationen-info.asp? news_action=4&news_article_id=561100. (Letzter Zugriff 1.3.2018). ASTAT. Landesinstitut für Statistik (Hrg.) (2017): Entwicklung im Tourismus, Tourismusjahr 2015/ 16. Bozen: Autonome Provinz Bozen-Südtirol. Abrufbar unter: http: / / astat.provinz.bz.it/ de/ aktuelles-publikationen-info.asp? news_action=4&news_article_id=586597. (Letzter Zugriff 1.3.2018). ASTAT. Landesinstitut für Statistik (Hrg.) (2018a): Südtirol in Zahlen 2018. Bozen: Autonome Provinz Bozen-Südtirol. Abrufbar unter: http: / / astat.provinz.bz.it/ de/ aktuelles-publikationen-info.asp? news_ action=4&news_article_id=619708. (Letzter Zugriff 1.11.2018). ASTAT. Landesinstitut für Statistik (Hrg.) (2018b): Bevölkerungsentwicklung, 2. Quartal 2018. Bozen: Autonome Provinz Bozen-Südtirol. Abrufbar unter: http: / / astat.provinz.bz.it/ de/ aktuelles-publikationen-info.asp? news_action=4&news_article_id=618763. (Letzter Zugriff 1.11.2018). ASTAT. Landesinstitut für Statistik (Hrg.) (2018c): Ausländische Wohnbevölkerung 2017. Bozen: Autonome Provinz Bozen-Südtirol. Abrufbar unter: http: / / astat.provinz.bz.it/ de/ aktuelles-publikationen-info.asp? news_action=4&news_article_id=615084. (Letzter Zugriff 1.11.2018). ASTAT. Landesinstitut für Statistik (Hrg.) (2018d): Statistisches Jahrbuch für Südtirol 2017. Bozen: Autonome Provinz Bozen-Südtirol. Abrufbar unter: http: / / astat.provinz.bz.it/ de/ statistisches-jahrbuch.asp. (Letzter Zugriff 1.11.2018). ASTAT. Landesinstitut für Statistik (Hrg.) (2018e): Erwerbstätigkeit, 2. Quartal 2018. Bozen: Autonome Provinz Bozen-Südtirol. Abrufbar unter: http: / / astat.provinz.bz.it/ de/ aktuelles-publikationen-info. asp? news_action=4&news_article_id=618086. (Letzter Zugriff 1.11.2018). ASTAT. Landesinstitut für Statistik (Hrg.) (2018 f.): Erhebung der Radio- und Fernsehgewohnheiten der Südtiroler 2017. Bozen: Autonome Provinz Bozen-Südtirol. Abrufbar unter: http: / / astat.provinz. bz.it/ de/ aktuelles-publikationen-info.asp? news_action=4&news_article_id=611282 (Letzter Zugriff 1.11.2018). Baur, Siegfried (2000): Die Tücken der Nähe. Kommunikation und Kooperation in Mehrheits-/ Minderheitssituationen. Kontextstudie am Beispiel Südtirol. Meran: Alpha & Beta. Benedikter, Rudolf/ Dall’O, Norbert/ Kumpfmüller, Karl. A./ Mezzalira, Giorgio/ Pircher, Erika (1987): Nationalismus und Neofaschismus in Südtirol: Die Erfolge des Movimento Sociale Italiano (M.S.I.- 274 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="275"?> DN) bei den Gemeinderatswahlen vom 12. Mai 1985. Ursachen, Bedingungen und Auswirkungen. Bozen/ Wien: Braunmüller. Bernardi, Rut/ Locher, Elmar/ Mall, Sepp (Hrg.) (1999): Leteratura-Literatur-Letteratura. Texte aus Südtirol. In Memoriam Anita Pichler. Bozen: Edition Sturzflüge. Bonell, Lukas/ Winkler, Ivo (2010): Südtirols Autonomie. Beschreibung der autonomen Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeiten des Landes Südtirol. 10. Aufl. Bozen: Südtiroler Landesregierung. Buson, Ornella (1992): Mehrsprachigkeit, interethnische Beziehungen und Bildungssystem. Ergebnisse der ASTAT-Bevölkerungsumfrage 1991. In: Atz, Hermann/ Buson, Ornella (Hrg.): Interethnische Beziehungen. Leben in einer mehrsprachigen Gesellschaft. Bozen: Autonome Provinz Bozen-Südtirol, Landesinstitut für Statistik, S. 101-117. Cagnan, Paolo (2011): Lo slang di Bolzano. Frasi, parole, espressioni: il primo vocabolario altoatesino al 100 per cento. 2. Aufl. Trento: Curcu & Genovese. CENSIS (Centro studi nazionali investimenti sociali)/ Autonome Provinz Bozen-Südtirol (Hrg.) (1997): Identität und Mobilität der drei Sprachgruppen. Abschließender Bericht. Rom: Centro Studi Investimenti Sociali. Ciccolone, Simone (2010): Lo standard tedesco in Alto Adige. L’orientamento alla norma dei tedescofoni sudtirolesi. Milano: LED - Edizioni Universitarie di Lettere Economia Diritto. Abrufbar unter: www.ledonline.it/ Il-Segno-le-Lettere/ allegati/ Standard-tedesco-alto-adige-sudtirolo.pdf. (Letzter Zugriff 1.3.2018). Ciccolone, Simone (2014): Classificare il code mixing : una reinterpretazione dei parametri di constituency del modello di Muysken. In: Linguistica e Filologia, 34, S. 95-134. Ciccolone, Simone/ Franceschini, Rita (2015): Südtirol zwischen Ortsdialekten und Sprachkontakt. DIA- GRAMM und KONTATTO. In: Kehrein, Roland/ Lameli, Alfred/ Rabanus, Stefan (Hrg.): Regionale Variation des Deutschen. Projekte und Perspektiven. Berlin/ Boston: de Gruyter, S. 459-488. Colleselli, Toni/ Lanthaler, Franz/ Mazza, Aldo (2009): Schian isch’s gwesn. Nove lezioni per comprendere il tedesco di tutti giorni in Alto Adige Südtirol. Meran: Alpha & Beta. Dal Negro, Silvia (2009): Local Policy Modelling the Linguistic Landscape. In: Shohamy, Elana/ Gorter, Durk (Hrg.): Linguistic Landscape. Expanding the Scenery. New York: Routledge, S. 206-218. Dal Negro, Silvia (2011): Tedesco di contatto in Italia. In: Fazzini, Elisabetta (Hrg.): Il tedesco superiore. Tradizione scritta e varietà parlate. Alessandria: Edizioni dell’Orso (= Alemannica; 4), S. 203-223. Dal Negro, Silvia/ Ciccolone, Simone (2018): Il parlato bilingue. Italiano e tedesco a contatto in un corpus sudtirolese. In: Bermejo Calleja, Felisa/ Katelhön, Peggy (Hrg.): Lingua parlata. Un confronto fra l’italiano e alcune lingue europee. Berlin u.a.: Peter Lang (= Kontrastive Linguistik; 8), S. 385-407. Dal Negro, Silvia/ Lensink, Wilco/ Upmeier, Christian/ Volonté, Paolo (2007): Visual Communication in a Multilingual Context. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 148, S. 113-131. Dall’O, Norbert (1987): Sprache und Sprachgebrauch. In: ASTAT. Landesinstitut für Statistik (Hrg.): Sozialer Survey 1986. Meinungen, Werte und Lebensformen in Südtirol. Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage. Bozen: Autonome Provinz Bozen-Südtirol, S. 137-151. Abrufbar unter: http: / / astat. provinz.bz.it/ de/ aktuelles-publikationen-info.asp? news_action=4&news_article_id=573599. (Letzter Zugriff 1.4.2018). Daniel, Erich/ Egger, Kurt/ Lanthaler, Franz (2001): Sprachnormautoritäten in Südtirol. In: Egger, Kurt/ Lanthaler, Franz (Hrg.): Die deutsche Sprache in Südtirol. Einheitssprache und regionale Vielfalt. Wien/ Bozen: Folio, S. 208-231. Dekret des Präsidenten der Republik vom 26. Juli 1976. Durchführungsbestimmungen zum Sonderstatut der Region Trentino-Südtirol auf dem Sachgebiet des Proporzes in den staatlichen Ämtern in der Provinz Bozen und der Kenntnis der beiden Sprachen im öffentlichen Dienst. Abrufbar unter: http: / / lexbrowser.provinz.bz.it/ doc/ de/ dpr-1976-752/ dekret_des_pr_sidenten_der_republik_vom_26_juli_1976_nr_752.aspx? view=1. (Letzter Zugriff 1.3.2018). Südtirol 275 <?page no="276"?> Dekret des Präsidenten der Republik vom 31. August 1972. Genehmigung des vereinheitlichten Textes der Verfassungsgesetze, die das Sonderstatut für Trentino-Südtirol betreffen. Abrufbar unter: http: / / lexbrowser.provinz.bz.it/ doc/ de/ dpr-1972-670/ dekret_des_pr_sidenten_der_republik_vom_31_august_1972_nr_670.aspx? view=1. (Letzter Zugriff 1.3.2018). Deutsches Schulamt. Pädagogisches Institut (Hrg.) (2007): Sprachenkonzept für die deutschen Kindergärten und Schulen in Südtirol. Neuauflage, Druckfassung. Bozen: Autonome Provinz Bozen-Südtirol. Abrufbar unter: www.bildung.suedtirol.it/ files/ 1313/ 7759/ 8898/ 20070806_sprachenkonzept_ neuauflage_druckfassung.pdf. (Letzter Zugriff 1.3.2018). Dürscheid, Christa/ Elspaß, Stephan/ Ziegler, Arne (2018): Variantengrammatik des Standarddeutschen. Ein Online-Nachschlagewerk. Open-Access-Publikation. Abrufbar unter: http: / / mediawiki. ids-mannheim.de/ VarGra/ index.php/ Hauptseite. (Letzter Zugriff 1.11.2018). Eberhöfer, Andrea (2009): Die Entwicklung der in Südtirol eingesetzten Schulbücher von 1919 bis in die 1960er Jahre. Inhaltliche Transformationsprozesse in den Fibeln. Dissertation. Augsburg/ Bozen: Universität Augsburg/ Freie Universität Bozen. Abrufbar unter: https: / / d-nb.info/ 1010108964/ 34. (Letzter Zugriff 1.3.2018). Egger, Kurt (1977): Zweisprachigkeit in Südtirol. Bozen: Athesia. Egger, Kurt/ Heller, Karin (1997): Deutsch - Italienisch. In: Goebl, Hans/ Nelde, Peter H./ Starý, Zdeněk/ Wölck, Wolfgang (Hrsg.): Kontaktlinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 2 Halbbd., Berlin/ New York: de Gruyter (= HSK 12.2), S. 1350-1357. Eichinger, Ludwig M. (1996): Südtirol. In: Hinderling, Robert/ Eichinger, Ludwig M. (Hrg.): Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten. Tübingen: Gunter Narr, S. 199-262. Fink, Hans (1972): Tiroler Wortschatz an Eisack, Rienz und Etsch. Nachlese zu Josef Schatz, Wörterbuch der Tiroler Mundarten. Innsbruck/ München: Wagner (= Schlern-Schriften; 250). Flöss, Helene (2000): Schnittbögen. Innsbruck: Haymon. Forni, Marco (2002): Wörterbuch Deutsch - Grödner-Ladinisch. San Martin de Tor: Istitut Ladin Micurà de Rü. Forni, Marco (2013): Dizionario italiano - ladino gardense. Dizioner ladin de gherdëina - talian. 2 Bde. San Martin de Tor: Istitut Ladin Micurà de Rü. Glaznieks, Aivars/ Frey, Jennifer-Carmen (2018): Dialekt als Norm? Zum Sprachgebrauch Südtiroler Jugendlicher auf Facebook. In: Ziegler, Arne (Hrg.): Jugendsprachen. Aktuelle Perspektiven internationaler Forschung. Berlin/ Boston: de Gruyter, S. 859-889. Glück, Alexander/ Leonardi, Mara Maya Victoria (i. Druck): Zur Verwendung von Präpositionen in Texten und Diskursen von Südtiroler Maturanten. In: Habermann, Mechthild/ Kürschner, Sebastian/ Müller, Peter O. (Hrg.): Dialektale Daten. Erhebung - Aufbereitung - Auswertung. Hildesheim/ Zürich/ New York: Olms (= Germanistische Linguistik). Goebl, Hans (Hrg.) (1998-2012): Atlant linguistich dl ladin dolomitich y di dialec vejins. Teil 1, 7 Bde. Wiesbaden: Reichert. Teil 2, 7 Bde. Strasbourg: Éditions de Linguistique et de Philologie. Gubert, Renzo (1978): La città bilingue. Indagine sociologica sulla domanda di bilinguismo degli italiani di Bolzano. Bozen: I.C.A. (= Educazione bilingue; 1). Gurschler, Michael/ Tscholl, Evi Rita (2015a): DaZUgeHÖREN. Südtiroler Dialekt von Jugendlichen für Jugendliche. Arbeitsmaterialien zum Südtiroler Dialekt. Bozen: Autonome Provinz Bozen-Südtirol. Abrufbar unter: www.bildung.suedtirol.it/ files/ 4414/ 4119/ 7687/ DaZUgeHren.pdf. (Letzter Zugriff 1.3.2018). Gurschler, Michael/ Tscholl, Evi Rita (2015b): DaZUgeHÖREN. Südtiroler Dialekt von Jugendlichen für Jugendliche. Tipps für die Lehrperson. Bozen: Autonome Provinz Bozen-Südtirol. Abrufbar unter: www.bildung.suedtirol.it/ files/ 9314/ 4119/ 7762/ 150808_Tipps_fur_die_Lehrperson_web-o.pdf. (Letzter Zugriff 1.3.2018). 276 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="277"?> Hajek, John/ Riehl, Claudia Maria (2011): Language Policy and Reality in South Tyrol. In: Norrby, Catrin/ Hajek, John (Hrg.): Uniformity and Diversity in Language Policy. Global Perspectives. Bristol: Multilingual Matters, S. 210-225. Héraud, Guy (1989): Deutsch als Umgangs- und Muttersprache in der Europäischen Gemeinschaft. Synthesebericht. In: Kern, Rudolf (Hrg.): Deutsch als Umgangs- und Muttersprache in der Europäischen Gemeinschaft. Brüssel: Europäisches Büro für Sprachminderheiten, S. 19-122. Hofer, Silvia (Hrg.) (2013a): Paese che vai, tedesco che trovi. Deutsch ist nicht gleich Deutsch. Materialien für den Deutschunterricht in Südtirol. Bozen: EURAC. Abrufbar unter: http: / / webfolder.eurac. edu/ EURAC/ Publications/ Institutes/ autonomies/ commul/ Arbeitsblätter-DEF.pdf. (Letzter Zugriff 1.3.2018). Hofer, Silvia (Hrg.) (2013b): Paese che vai, tedesco che trovi. Deutsch ist nicht gleich Deutsch. Materialien für den Deutschunterricht in Südtirol. Lehrerkommentar. Bozen: EURAC. Abrufbar unter: http: / / webfolder.eurac.edu/ EURAC/ Publications/ Institutes/ autonomies/ commul/ Lehrerkommentar-DEF.pdf. (Letzter Zugriff 1.3.2018). Holzner, Johann (Hrg.) (1997): Literatur in Südtirol. Innsbruck/ Wien/ Bozen: Studien Verlag (= Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde; 2). Huber, Judith/ Schwarz, Christian (2017): SMS-Kommunikation im mehrsprachigen Raum. Schriftsprachliche Variation deutschsprachiger SMS-Nutzer/ -innen in Südtirol. Abrufbar unter: www. mediensprache.net/ networx/ networx-76.pdf. (Letzter Zugriff 1.3.2018). ISTAT. Nationalinstitut für Statistik (Hrg.) (2018a): Indicatori demografici. Stime per l’anno 2017. Abrufbar unter: www4.istat.it/ it/ files/ 2018/ 02/ Indicatoridemografici2017.pdf ? title=Indicatori+demografici+-+08%2Ffeb%2F2018+-+Testo+integrale.pdf. (Letzter Zugriff 1.11.2018). ISTAT. Nationalinstitut für Statistik (Hrg.) (2018b): Occupati e disoccupati. Giugno 2018. Abrufbar unter: www.istat.it/ it/ archivio/ 219893. (Letzter Zugriff 1.11.2018). Jodlbauer, Ralph/ Tyroller, Hans (1986): Die Deutschen in Südtirol und die Kroaten im Burgenland. Untersuchungen zu ihrem Sprachgebrauch. Mit einem Anhang von Anton Rowley. Hamburg: Buske (= Bayreuther Beiträge zur Sprachwissenschaft; 8). Klein, Karl Kurt/ Schmitt, Ludwig Erich (Hrg.) (1965-1971): Tirolischer Sprachatlas. Unter Berücksichtigung der Vorarbeiten Bruno Schweizers bearbeitet von Egon Kühebacher. 3 Bde. Innsbruck: Tyrolia/ Marburg: Elwert. Knapp, Alfred/ Gruber, Justine/ Colleselli, Toni (1996): Hoi Hanni. Hörverständnisübungen zum Südtiroler Deutsch. Con un saggio di Franz Lanthaler. Meran: Alpha & Beta. Kofler, Gerhard (1988): Die Rückseite der Geographie. Gedichte in Italienisch, Deutsch und in Südtiroler Mundart. Mit einem Glossar und Anmerkungen. Nachwort von Luigi Materazzi. Titelbild unter Verwendung einer Grafik von Markus Vallazza. Wien/ Bozen: Frischfleisch. Kofler, Gerhard (2000): Poesie di mare e terra. Poesie von Meer und Erde. Italienisch-Deutsch. Klagenfurt: Wieser. Kollmann, Cristian (2012): Grammatik der Mundart von Laurein. Eine Laut- und Formenlehre aus synchroner, diachroner und kontrastiver Sicht. Stuttgart: Steiner (= Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik-Beihefte; 147). Kopfsguter, Hans (1989): Aspekte zum Schutz der deutschen Volksgruppe in Südtirol und ihrer Entfaltungsmöglichkeiten im Lichte der Autonomiebestimmungen. In: Kern, Rudolf (Hrg.): Deutsch als Umgangs- und Muttersprache in der Europäischen Gemeinschaft. Brüssel: Europäisches Büro für Sprachminderheiten, S. 275-283. Kühebacher, Egon (1962): Zur Lautgeographie von Tirol. In: Zeitschrift für Mundartforschung, 29, S. 150-168. Südtirol 277 <?page no="278"?> Landesgesetz vom 20. September 2012, Nr. 15. Errichtung des Verzeichnisses der Ortsnamen des Landes und des Landesbeirates für Kartographie. Abrufbar unter: http: / / lexbrowser.provinz.bz.it/ doc/ de/ 195689/ landesgesetz_vom_20_september_2012_nr_15.aspx? view=1. (Letzter Zugriff 1.3.2018). Lanthaler, Franz (1990): Dialekt und Zweisprachigkeit in Südtirol. In: Lanthaler, Franz (Hrg.): Mehr als eine Sprache. Zu einer Sprachstrategie in Südtirol. Meran: Alpha & Beta, S. 57-81. Lanthaler, Franz (2001): Zwischenregister der deutschen Sprache in Südtirol. In: Egger, Kurt/ Lanthaler, Franz (Hrg.): Die deutsche Sprache in Südtirol. Einheitssprache und regionale Vielfalt. Wien/ Bozen: Folio, S. 137-152. Lanthaler, Franz (2006): Die Vielschichtigkeit des Deutschen in Südtirol - und wie wir damit umgehen. In: Abel, Andrea/ Stuflesser, Matthias/ Putz, Magdalena (Hrg.): Mehrsprachigkeit in Europa. Erfahrungen, Bedürfnisse, Gute Praxis. Bozen: EURAC Research, S. 271-280. Lanthaler, Franz (2012): Zur Standardvariation des Deutschen am Beispiel Südtirol. Vortrag am Deutschen Seminar der Universität Heidelberg und am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim, 2005. In: Drumbl, Hans/ Sitta, Horst (Hrg.): Franz Lanthaler. Texte zu Sprache und Schule in Südtirol (1974-2012). Meran: Alpha & Beta, S. 165-191. Lanthaler, Franz (2018): Alter Sprachkontakt. Frühe romanische Entlehnungen in den Dialekten Südtirols. In: Rabanus, Stefan (Hrg.): Deutsch als Minderheitensprache in Italien. Theorie und Empirie kontaktinduzierten Sprachwandels. Hildesheim/ Zürich/ New York: Olms (= Germanistische Linguistik; 239-240), S. 239-281. Mall, Josef/ Plagg, Waltraud (1990): Versteht der Nordtiroler die Südtirolerin noch? Anmerkungen zum Sprachwandel in der deutschen Alltagssprache Südtirols durch den Einfluß des Italienischen. In: Kremer, Ludger/ Niebaum, Hermann (Hrg.): Grenzdialekte. Studien zur Entwicklung kontinentalwestgermanischer Dialektkontinua. Hildesheim/ Zürich/ New York: Olms (= Germanistische Linguistik; 101-103), S. 217-239. Meluzzi, Chiara (2015): Dialects and Linguistic Identity of Italian Speakers in Bozen. In: Globe. A Journal of Language, Culture and Communication, 1, S. 1-16. Meraner, Rudolf/ Oberhofer, Monika (1982): Zur Mundart in Tirol. In: Egger, Kurt (Hrg.): Dialekt und Hochsprache in der Schule. Beiträge zum Deutschunterricht in Südtirol. Bozen: Südtiroler Kulturinstitut, S. 15-41. Mioni, Alberto M. (1990): Bilinguismo intrae intercomunitario in Alto Adige/ Südtirol. Considerazioni sociolinguistiche. In: Mioni, Alberto M./ Egger, Kurt/ Lanthaler Franz (Hrg.): Mehr als eine Sprache. Zu einer Sprachstrategie in Südtirol. Meran: Alpha & Beta, S. 13-35. Mioni, Alberto M. (2001): L’italiano nelle tre comunità linguistiche tirolesi (con particolare riguardo per la pronuncia). In: Egger, Kurt/ Lanthaler, Franz (Hrg.): Die deutsche Sprache in Südtirol. Einheitssprache und regionale Vielfalt. Wien/ Bozen: Folio, S. 65-76. Mischì, Giovanni (2001): Wörterbuch Deutsch - Gadertalisch. Mit einem ladinischen Wörterverzeichnis. San Martin de Tor: Istitut Ladin Micurà de Rü. Moling, Sara/ Frenademez, Ulrike/ Ruggeri, Xenia/ Valentin, Marlies (2016): Dizionario italiano - ladino Val Badia. Dizionar ladin Val Badia - talian. 2 Bde. San Martin de Tor: Istitut Ladin Micurà de Rü. Moser, Hans (1982): Zur Untersuchung des gesprochenen Deutsch in Südtirol. In: Moser, Hans (Hrg.): Zur Situation des Deutschen in Südtirol. Sprachwissenschaftliche Beiträge zu den Fragen von Sprachnorm und Sprachkontakt. Innsbruck: Innsbruck University Press (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe; 13), S. 75-90. Oberhollenzer, Josef (1994): In der Tasse gegenüber. Bozen: Edition Sturzflüge. Rabanus, Stefan (2018): Varietà alloglotte - tedesco. Versione 1 (23.07.2018, 17: 00). In: Krefeld, Thomas/ Bauer, Roland (Hrg.): Lo spazio comunicativo dell’Italia e delle varietà italiane. Korpus im Text. Versione 4. Abrufbar unter: www.kit.gwi.uni-muenchen.de/ ? p=13187&v=1. (Letzter Zugriff 1.11.2018). 278 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="279"?> Riehl, Claudia Maria (1994): Das Problem von Standard und Norm am Beispiel der deutschsprachigen Minderheit in Südtirol. In: Helfrich, Uta/ Riehl, Claudia M. (Hrg.): Mehrsprachigkeit in Europa - Hindernis oder Chance? Wilhelmsfeld: Egert, S. 149-164. Riehl, Claudia Maria (2000): Deutsch in Südtirol. In: Wirrer, Jan (Hrg.): Minderheiten- und Regionalsprachen in Europa. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 237-248. Riehl, Claudia Maria (2001): Schreiben, Text und Mehrsprachigkeit. Zur Textproduktion in mehrsprachigen Gesellschaften am Beispiel der deutschsprachigen Minderheiten in Südtirol und Ostbelgien. Tübingen: Stauffenburg (= Tertiärsprachen; 4). Riehl, Claudia Maria (2002): Italianità als Problem. Minderheiten und nationale Identität. In: Grimm, Reinhold R. et al. (Hrg.): Italianità. Ein literarisches, sprachliches und kulturelles Identitätsmuster. Tübingen: Narr, S. 115-131. Riehl, Claudia Maria (2007): Varietätenkontakt und Varietätengebrauch in Südtirol und Ostbelgien. In: Linguistik online, 32, 3, S. 105-117. Abrufbar unter: https: / / bop.unibe.ch/ linguistik-online/ article/ view/ 540/ 909. (Letzter Zugriff 1.5.2018). Riehl, Claudia Maria (2014): Sprachkontaktforschung. Eine Einführung. Tübingen: Narr. Schatz, Josef (1955-1956): Wörterbuch der Tiroler Mundarten. 2 Bde. Innsbruck: Wagner (= Schlern-Schriften; 119-120). Scheutz, Hannes (Hrg.) (2016): Insre Sproch. Deutsche Dialekte in Südtirol. Mit dem ersten „Sprechenden Sprachatlas“ auf CD-ROM. Bozen: Athesia. Schneider, Elmar (1963): Romanische Entlehnungen in den Mundarten Tirols. Ein dialektgeographischer Versuch. Innsbruck: Sprachwissenschaftliches Institut der Leopold-Franzens-Universität (= Romanica Aenipontana; 2). Schwarz, Christian/ Stöckle, Philipp (2017): Stadt, Land, Berg. Vom Zusammenspiel von Dialektwahrnehmung und Topographie. In: Linguistik online, 85, 6, S. 257-274. Abrufbar unter: https: / / bop. unibe.ch/ linguistik-online/ article/ view/ 4089/ 6137. (Letzter Zugriff 1.3.2018). Seberich, Rainer (2000): Südtiroler Schulgeschichte. Muttersprachlicher Unterricht unter fremdem Gesetz. Bozen: Edition Raetia. Seeber, Elisabeth (2017): Regionalsprachliche Ansätze bei Dialektsprechern im Ahrntal (Südtirol). Bachelorarbeit. Verona: Università di Verona. Abrufbar unter: www.regionalsprache.de/ redeData/ GOBA/ TesiSeeber_RegionalspracheAhrntal.pdf. (Letzter Zugriff 1.11.2018). Seiler, Guido (2003): Präpositionale Dativmarkierung im Oberdeutschen. Stuttgart: Steiner (= Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik-Beihefte; 124). SPELL (Servisc de Planificazion y Elaborazion dl Lingaz Ladin) (Hrg.) (2001): Gramatica dl Ladin Standard. Urtijei: Union Generale di Ladins dles Dolomites/ Vich: Istitut Cultural Ladin Majon di Fascegn/ San Martin de Tor: Istitut Ladin Micurà de Rü/ Bulsan: Istitut Pedagogich Ladin. SPELL (Servisc de Planificazion y Elaborazion dl Lingaz Ladin) (Hrg.) (2002): Dizionar dl Ladin Standard. Urtijei: Union Generale di Ladins dles Dolomites/ Vich: Istitut Cultural Ladin Majon di Fascegn/ San Martin de Tor: Istitut Ladin Micurà de Rü/ Bulsan: Istitut Pedagogich Ladin. Spreafico, Lorenzo/ Vietti, Alessandro (2016): The Sociophonetics of / r/ in Bozen: Modelling Linguistic and Social Variation. In: International Journal of Linguistics, 8, 5, S. 72-88. Steininger, Rolf (1999): Südtirol im 20. Jahrhundert. Dokumente. Innsbruck/ Wien: Studienverlag. Steininger, Rolf (2003): Südtirol. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Innsbruck: Studienverlag. Südtiroler Landesregierung (2009): Das neue Autonomiestatut. 14. ergänzte Aufl. Bozen: Autonome Provinz Bozen-Südtirol. Abrufbar unter: www.provinz.bz.it/ lpa/ download/ statut_dt.pdf. (Letzter Zugriff 1.3.2018). Südtiroler Landesregierung (2010): Südtirols Autonomie. Beschreibung der autonomen Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeiten des Landes Südtirol. 10. Aufl. Bozen: Autonome Provinz Südtirol 279 <?page no="280"?> Bozen-Südtirol. Abrufbar unter: www.provincia.bz.it/ news/ de/ publikationen.asp. (Letzter Zugriff 1.3.2018). Tanzmeister, Robert (2008): Sprachpolitik, Sprachplanung und lexikalische Normierung des Ladinischen. In: Blaikner-Hohenwart, Gabriele et al. (Hrg.): Ladinometria. Festschrift für Hans Goebl zum 65. Geburtstag. Bd. 1. Salzburg: Universität Salzburg/ Bozen: Freie Universität Bozen/ Vich: Istitut Cultural Ladin Majon di Fascegn/ San Martin de Tor: Istitut Ladin Micurà de Rü, S. 335-361. Tartarotti, Katrin (2010): Krautwalsch: Una lingua fra due lingue. Un’analisi linguistica della varietà di contatto a Laives. Bachelorarbeit. Bozen: Freie Universität Bozen. Abrufbar unter: http: / / pro.unibz. it/ library/ thesis/ 00006358_14249.pdf. (Letzter Zugriff 1.3.2018). Trim, John/ North, Brian/ Coste, Daniel/ Sheils, Joseph (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen. Lernen, lehren, beurteilen. Niveau A1, A2, B1, B2, C1, C2. Berlin/ München: Langenscheidt. Abrufbar unter: http: / / student.unifr.ch/ pluriling/ assets/ files/ Referenzrahmen2001. pdf. (Letzter Zugriff 1.4.2018). Veronesi, Daniela (2010): „Zu wem ghör i jetzt? “ bzw. „due lingue che sono entrambe mie“. Sprachbiographien ein- und zweisprachiger Sprecher aus einem Grenzgebiet. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 160, S. 83-106. Vettori, Chiara (2004): La competenza del tedesco degli studenti italofoni di scuola media inferiore e superiore di Bolzano e Trento. Confronto e valutazione. Dissertation Università di Modena. Vettori, Chiara/ Abel, Andrea (Hrg.) (2017): KOLIPSI II: Die Südtiroler SchülerInnen und die Zweitsprache: eine linguistische und sozialpsychologische Untersuchung. Bozen: Eurac Research. Abrufbar unter: http: / / webfolder.eurac.edu/ EURAC/ Publications/ Institutes/ autonomies/ commul/ Kolipsi_ II_2017.pdf. (Letzter Zugriff 1.4.2018). Vettori, Chiara/ Martini, Elisa (2017): L’analisi dei dati psicosociali. Gli studenti. In: Vettori, Chiara/ Abel, Andrea (Hrg.): KOLIPSI II: Die Südtiroler SchülerInnen und die Zweitsprache. Eine linguistische und sozialpsychologische Untersuchung. Bozen: Eurac Research, S. 77-140. Abrufbar unter: http: / / webfolder.eurac.edu/ EURAC/ Publications/ Institutes/ autonomies/ commul/ Kolipsi_II_2017.pdf. (Letzter Zugriff 1.4.2018). Videsott, Paul (Hrg.) (2011): Rätoromanische Bibliographie. Bibliografia retoromanza. 1729-2010. Bozen: Bozen-Bolzano University Press (= Script Ladina Brixinensia; 2). Vietti, Alessandro (2017): Italian in Bozen/ Bolzano. The Formation of a „New Dialect“. In: Cerruti, Massimo/ Crocco, Claudia/ Marzo, Stefania (Hrg.): Towards a New Standard. Theoretical and Empirical Studies on the Restandardization of Italian. Berlin/ Boston: de Gruyter (= Language and Social Life; 6), S. 176-212. Vietti, Alessandro/ Spreafico, Lorenzo (2018): Sprachkontakt in der Phonologie bilingualer Sprecher des Tirolischen. In: Rabanus, Stefan (Hrg.): Deutsch als Minderheitensprache in Italien. Theorie und Empirie kontaktinduzierten Sprachwandels. Hildesheim/ Zürich/ New York: Olms (= Germanistische Linguistik; 239-240), S. 49-77. Villgrater, Maria (1984): Katakombenschule. Faschismus und Schule in Südtirol. Bozen: Athesia. Zoderer, Josef (2001): s maul auf der erd oder dreckknuidelen kliabn. Zeichnungen von Luis Stefan Stecher. Bozen: Edition Raetia. Zoderer, Josef (2004): Wir gingen. Ce n’andammo. Bozen: Edition Raetia. 280 Alexander Glück / Mara Maya Victoria Leonardi / Claudia Maria Riehl <?page no="281"?> - --- • • Handbuch des Deutsc:hen in West- und Mitteleuropa Dieses Handbuch liefert einen Überblick über Beschaffenheit und nguistische Situation des Deutschen am Rande des gesozioli schlossenen deutschen Sprachgebietes in West- und Mitteleuropa. werden in einer Zusammenschau sowohl deutschsprachige rheiten als auch Mehrsprachigkeitskonstellation unter Be- Dabei Minde teilig szena ung des Deutschen in den Blick genommen. Gemein ist allen rien, dass sie unmittelbar an ein Gebiet mit deutschsprachiger eitsbevölkerung grenzen, Deutsch einen offiziellen Status Mehrh besitzt, jedoch nicht unbedingt die volle Funktionsbreite abdeckt. In sieben Gebietsartikeln wird jeweils ein Überblick über Demo- ·e, Geschichte sowie politische und rechtliche Lage der rheiten gegeben. Zusätzlich wird für jedes Gebiet eine reibung der Kompetenz- und Sprachgebrauchssituation wie er soziolinguistischen Situation mit ihren je spezifischen ard-Substandard-Verteilungen geboten. schließlich werden graph1 Minde Besch auch d Stand auch spracheinstellungen der Sprecher und die visuell realisierte Sprache im öffentlichen Raum (linguistic Landscapes) erläutert. www.narr.de ISBN 978-3-8233-8154-9 lllll 1111111 1 11111 1111 1 1 9 783823 381549 - - • • -- - - narr