eBooks

Spannung und Textverstehen

Die kognitionslinguistische Perspektive auf ein textsemantisches Phänomen

0326
2018
978-3-8233-9155-5
978-3-8233-8155-6
Gunter Narr Verlag 
Philip Hausenblas

"Der Physiker Leonardo Vetra roch brennendes Fleisch, und es war sein eigenes." Das ist der erste Satz aus dem internationalen Bestseller "Illuminati" des US-amerikanischen Autors Dan Brown. Der Leser reichert den Text um die negative Konsequenz an, dass der Wissenschaftler sterben wird. Der Rezipient wird an den Text gebunden, bis aufgelöst ist, ob sich der negative Ausgang realisiert oder nicht. Dass dem Physiker dieses Schicksal bevorstehen könnte, steht nicht im Text. Dieser sogenannte Suspense-Effekt ist ein Ergebnis mentaler Prozesse beim Lesen. Auf der Grundlage der kognitionslinguistischen Textverstehensforschung werden die Auslöser der wichtigsten Spannungstypen beschrieben und die Rolle dieser Spannungstypen für die Kohärenz eines Texts charakterisiert.

<?page no="0"?> www.narr.de TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik „Der Physiker Leonardo Vetra roch brennendes Fleisch, und es war sein eigenes.“ Das ist der erste Satz aus dem internationalen Bestseller „Illuminati“ des US-amerikanischen Autors Dan Brown. Der Leser reichert den Text um die negative Konsequenz an, dass der Wissenschaftler sterben wird.Der Rezipient wird an den Text gebunden, bis aufgelöst ist, ob sich der negative Ausgang realisiert oder nicht. Dass dem Physiker dieses Schicksal bevorstehen könnte, steht nicht im Text. Dieser sogenannte Suspense-Effekt ist ein Ergebnis mentaler Prozesse beim Lesen. Auf der Grundlage der kognitionslinguistischen Textverstehensforschung werden die Auslöser der wichtigsten Spannungstypen beschrieben und die Rolle dieser Spannungstypen für die Kohärenz eines Texts charakterisiert. 563 Hausenblas Spannung und Textverstehen Spannung und Textverstehen Die kognitionslinguistische Perspektive auf ein textsemantisches Phänomen Philip Hausenblas <?page no="1"?> Spannung und Textverstehen Die kognitionslinguistische Perspektive auf ein textsemantisches Phänomen <?page no="2"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 563 <?page no="3"?> Philip Hausenblas Spannung und Textverstehen Die kognitionslinguistische Perspektive auf ein textsemantisches Phänomen <?page no="4"?> D 61 Die Arbeit wurde unter dem Titel „Spannung aus der Perspektive der Textverstehens‐ forschung“ von der Philosophischen Fakultät der Universität Düsseldorf angenommen. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver‐ lages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 1862-7005 ISBN 978-3-8233-9155-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> I 9 1 11 1.1 11 1.2 12 1.3 13 1.4 17 2 20 2.1 22 2.2 23 2.3 34 II 37 3 39 3.1 39 3.2 49 4 53 4.1 56 4.2 63 4.3 82 4.4 89 4.5 95 5 97 5.1 97 5.2 98 5.3 100 5.4 102 6 105 III 109 7 111 7.1 111 7.2 114 7.3 118 Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spannung - ein vernachlässigtes Thema . . . . . . . . . . . . Relevanz von Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spannung, eine vorläufige Arbeitsdefinition . . . . . . . . . Zielsetzung und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textexterne Spannungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentrale Theorien im Bereich der Spannung . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen einer Theorie des Textverstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissensrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textstrukturwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen . . . . . . . . . Wörter evozieren Frames . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notwendige Inferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elaborative Inferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Klassifizierung von Inferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . Leserziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die mentale Textweltrepräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstehen als Konstruktion einer mentalen Welt . . . . . Die propositionale Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die handlungszentrierte Textweltrepräsentation . . . . . Situationsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorüberlegungen zur Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spannungsphasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lokale und globale Spannungsbögen, Rekursivität . . . Subjektivität und Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 7.4 121 7.5 124 8 128 8.1 128 8.2 129 8.3 138 8.4 147 8.5 166 9 169 9.1 170 9.2 196 10 203 11 216 11.1 216 11.2 221 12 224 12.1 224 12.2 227 240 Spannung als interdisziplinärer Forschungsgegenstand Methodische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suspense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Quest-Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suspense als Antizipation eines negativen Ausgangs . Die Konstruktion negativer Konsequenzen . . . . . . . . . . Negative Konsequenzen als globaler inferentieller Bezugspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Curiosity und Puzzles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Curiosity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Puzzles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inferenzen durch textuell etabliertes Wissen . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis von Textverstehensforschung und Spannungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wo die Spannungsforschung von der Textverstehensforschung profitieren kann . . . . . . . . . . Wo die Textverstehensforschung von der Spannungsforschung profitieren kann . . . . . . . . . . . . . . Abschlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textverstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 6 . . . <?page no="7"?> Vorwort Das Thema Spannung gilt als ein Phänomen der Trivialliteratur und siedelt sich nicht im linguistischen Mainstream an. Deshalb glaube ich, dass viele potentielle Betreuer aus der (germanistischen) Sprachwissenschaft dieses Thema für eine Dissertation nicht zugelassen hätten. Dass Dietrich Busse mir die Möglichkeit eröffnete, daran zu arbeiten, dafür bin ich ihm dankbar. Darüber hinaus danke ich ihm für die Unterstützung und die Ratschläge, die er mir über die gesamte Zeit hinweg in zahlreichen Gesprächen gegeben hat. Ich danke Susanna Dinse, Kristin Kuck und Phillip Angermeyer dafür, dass sie die Arbeit gründlich gegengelesen haben, dass sie mich auf einige Schwächen aufmerksam gemacht und dass sie mir wertvolle Tipps zur Überarbeitung ge‐ geben haben. Alexander Ziem hat mir in der Endphase einige konzeptionelle Ratschläge gegeben, auch dafür danke ich. Ich danke meiner Lebensgefährtin Silvia Halajova dafür, dass sie mir immer zur Seite stand. Und ich danke meinen Eltern, sie haben mich mein Leben lang auf alle erdenklichen Arten unterstützt. Düsseldorf, im April 2017 Philip Hausenblas <?page no="9"?> I Vorbemerkung <?page no="11"?> 1 Forster (1974), S. 18. 2 Aus einer linguistischen Perspektive bieten Janich / Runkehl (2013) einen umfassenden Überblick über die Sprache der Werbung. 3 Vgl. Vorderer (1994), S. 393; Junkerjürgen (2002a), S. 11. 4 Mertens (1998), S. 150. 1 Einleitung 1.1 Spannung - ein vernachlässigtes Thema Über Spannung spricht man nicht - zumindest nicht in Seminaren von Philo‐ logen und Diskussionsrunden von Linguisten. In Einführungen, in Nachschla‐ gewerken und in der Sekundärliteratur findet sich kaum etwas zum Thema, was für die Linguistik und Literaturwissenschaft gleichermaßen gilt. Spannung gilt als ein Phänomen der Trivialliteratur. Kein Wunder also, dass sie als Gegenstand der Forschung nicht präsent ist. Edward M. Forster bringt die abwertende Haltung gegenüber der Spannung auf den Punkt: Scheherazade avoided her fate because she knew how to wield the weapon of sus‐ pense - the only literary tool that has any effect upon tyrants and savages. 1 Zahlreiche Abhandlungen beschäftigen sich mit anderen Wirkungen von Texten. In der Rhetorik untersucht man, wie Argumente am nachhaltigsten wirken, wie Texte überzeugen. Sprachwissenschaftler erforschen die Sprache der Werbung, die per definitionem von der Wirkungsabsicht dominiert wird. 2 Warum kümmert sich die Linguistik nicht um Strategien, die in einem Text Spannung generieren? Ist es Absicht oder Versäumnis? Diese Frage drängt sich umso stärker auf, wenn man an die zunächst für das Medium Film bestimmte Beschreibung von Peter Vorderer denkt, der Spannung als Hauptfaktor bei der prärezeptiven und postrezeptiven Bewertung von Filmen beschreibt, die von Junkerjürgen auf Unterhaltungsliteratur ausgeweitet und damit auch für die Linguistik zugänglich gemacht wurde. 3 In ähnlicher Weise äußert sich Volker Mertens, wenn er schreibt, dass die Hauptfaszination des Ro‐ mans […] in der Spannungsstruktur 4 liegt. <?page no="12"?> 1.2 Relevanz von Spannung In Science-Fiction-Texten, Fantasygeschichten und Kriminalromanen, in Zei‐ tungsberichten über kulturelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ereignisse, in Nachrichtenmeldungen, Interviews und Reportagen, in Reden, Sachbüchern und Biographien, in all diesen Textsorten spielt Spannung eine entscheidende Rolle. Spannung besitzt in den verschiedensten fiktionalen und nicht fiktionalen schriftsprachlichen Textsorten einen zentralen Stellenwert. Gleichzeitig gilt sie als ein entscheidender Anreiz für den Konsum audiovisueller Texte. Kaum ein Film kommt ohne Spannung aus. Unabhängig davon, ob es sich um einen Hol‐ lywoodstreifen handelt oder um ein Werk der skandinavischen Avantgarde. Gleiches gilt für Werbetrailer, Serien oder TV -Shows wie Wer wird Millionär? Dabei durchzieht Spannung die einzelnen Textsorten (inklusive der kinema‐ tischen bzw. audiovisuellen) in zweifacher Hinsicht. Zum einen wird sie inner‐ halb eines Textes aufgebaut, gehalten und wieder abgebaut. Zum anderen kann sie über Textgrenzen hinweg aufgebaut werden und spannt sich so einerseits über verschiedene Texte einer Modalität, was für Romanreihen gilt wie Harry Potter von Joanne K. Rowling oder Der Herr der Ringe von John R. R. Tolkien, die sowohl schriftsprachlich als auch in den adaptierten audiovisuellen Versionen über mehrere Einheiten verfügen. Darüber hinaus wird sie verschiedene mediale Kanäle überspannend aufgebaut. So werden Sportereignisse in crossmedialen Werbekampagnen aufgebläht, bei denen spannungsinduzierende Elemente aus allen erdenklichen Richtungen die Rezipienten überfluten. Dieser wird in Zei‐ tungsartikeln, Fernsehbeiträgen und Rundfunkberichten mit der Frage kon‐ frontiert, wer das Viertelfinale gewinnt, ob Griechenland gegen Spanien eine Chance hat und wer wohl Weltmeister wird. Zugleich werden statistische Fakten bemüht wie Seit 1972 hat England kein Spiel mehr gegen Deutschland gewonnen; Krämpfe und Zerrungen von Spielern bestimmen die mediale Berichterstattung. Alles, um die Aufmerksamkeit auf Fragen wie diese zu lenken: Wird ein be‐ stimmter Spieler beim nächsten Spiel antreten können? Dabei werden in der Regel Worst-Case-Szenarien aufgebaut, die darüber reflektieren, wie das Spiel ohne den besagten Spieler ausgeht, ob ohne ihn überhaupt eine Chance besteht. Das gilt nicht nur für den Sport. Die gesamte mediale Berichterstattung ver‐ lässt sich in hohem Maße auf Spannung. Ein Blick auf die auflagenstärksten Zeitungen, Magazine und Boulevardblätter genügt. Häufig stehen lebensverän‐ dernde Einzelschicksale, Skandale und weltbewegende Ereignisse im Mittel‐ punkt. Fliegt der Publikumsliebling raus in der neuesten Castingshow? Verliert 1 Einleitung 12 <?page no="13"?> 5 Junkerjürgen (2002a), S. 61. 6 Vgl. Wulff (1993), S. 328. 7 Junkerjürgen (2002a), S. 29. 8 Brown, Illuminati, S. 15. dieser Minister sein Amt? Wird jener Prominente verurteilt? Wer wird die Wahl gewinnen? Wird die Katastrophe nach Europa überschwappen? Kurz: Spannung ist ein allumfassendes Prinzip mit hoher praktischer Rele‐ vanz, die sich nicht nur auf Literatur beschränkt, sondern einen Großteil des Medienkonsums prägt. Sie gilt als ein Garant dafür, die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu gewinnen und zu sichern. 1.3 Spannung, eine vorläufige Arbeitsdefinition Bei dem Begriff Spannung handelt es sich Junkerjürgen zufolge um einen Ober‐ begriff für viele Arten von medien-induzierter Affekterregung  5 . Während sich im Deutschen im Bereich der Spannung keine weiteren Begriffe durchgesetzt haben, bietet das Englische Differenzierungen, die sich bei den wenigen For‐ schern zur Spannung etabliert haben. Bei den drei Haupttypen dieses textuellen Effekts handelt es sich um den Suspense, das Curiosity und das Puzzle. Bei der Beschreibung von Spannung müssen zwei wesentliche Aspekte be‐ rücksichtigt werden: die textuelle Dimension und die Rezipientenseite. Beide sind für die Bestimmung von Spannung konstitutiv. 6 Junkerjürgen bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: Spannung als Leserreaktion und Textphänomen verhalten sich komplementär zuei‐ nander und müssen daher auch gleichgewichtig berücksichtigt werden. 7 Spannung ergibt sich aus einer inferentiellen Anreicherung der Textwelt, die auf einzelnen Textsegmenten und auf Wissen basiert. Der Text setzt verschie‐ dene Verarbeitungsprozesse in Gang, die eine Unterscheidung der Typen er‐ lauben. Die drei Haupttypen werden im Folgenden einleitend und in kompakter Form vorläufig beschrieben. (1) Der Physiker Leonardo Vetra roch brennendes Fleisch, und es war sein eigenes. 8 (1) stellt den Initialsatz dar aus dem internationalen Bestseller Illuminati vom amerikanischen Erfolgsautor Dan Brown. Auf der Grundlage des Textes und 1.3 Spannung, eine vorläufige Arbeitsdefinition 13 <?page no="14"?> 9 Vgl. Wulff (1993), S. 326, 330-331; Wulff (1996), S. 1-7. 10 Da einige Leser mit dem Begriff Suspense wahrscheinlich zunächst Alfred Hitchcock assoziieren, wird an dieser Stelle der Hinweis gegeben, dass der Suspense-Effekt im Sinne dieses berühmten Regisseurs als eine spezielle Spielart begriffen wird. (Siehe dazu Absatz 8.4.2.) 11 Pleschinski, Königsallee, S. 11. seines Wissens konstruiert der Rezipient das zukünftige Ereignis, dass der Wis‐ senschaftler sterben wird. Dass dem Physiker dieses Schicksal bevorsteht, steht nicht im Text. Es ist ein Ergebnis rezipientenseitiger Prozesse. Hans-Jürgen Wulff zufolge zeichnet sich diese Art der Spannungserzeugung dadurch aus, dass der Rezipient einen negativen Ausgang ableitet, der nicht im Text steht. Der Rezipient wird an den Text gebunden, bis aufgelöst wird, ob sich die inferentiell hergestellte Konsequenz tatsächlich realisiert oder nicht. 9 Dieser Spannungstyp wird Suspense genannt. Zu den zentralen Autoren, die sich wis‐ senschaftlich mit diesem Typ auseinandergesetzt haben, zählen neben Wulff auch William F. Brewer, Noël Carroll, Meir Sternberg, Dolf Zillmann sowie Paul Comisky und Jennings Bryant. In Kapitel 8 wird der Suspense ausführlich be‐ handelt. Zugleich kann ein Satz wie (1) einen Curiosity-Effekt hervorrufen, wie er im folgenden Beispiel vorgestellt werden. 10 (2) Der Aufruhr im Breidenbacher Hof war groß. 11 Im Initialsatz (2) aus dem Roman Königsallee des deutschen Schriftstellers Hans Pleschinski wird im Text eine Situation beschrieben, die der Rezipient als Wir‐ kung oder Folge eines vorangegangenen Ereignisses interpretiert und dessen Ursache er nicht aus seinem Wissen ableiten kann. In dem Beispiel kann der Rezipient nicht erklären, warum das Düsseldorfer Luxushotel in großen Aufruhr versetzt war. Dass es eine Ursache gibt, steht nicht im Text. Der Rezipient rei‐ chert also auch hier die Textwelt inferentiell an und wartet darauf, dass der Text die Ursache offenbart. Für diese Art der Spannungserzeugung hat sich die Be‐ zeichnung Curiosity etabliert. Das Curiosity wird bei Sternberg, Carroll sowie Brewer behandelt. In Abschnitt 9.1 wird dieser Spannungstyp im Detail bespro‐ chen. (3) An einem schneegepeitschten Abend im Januar 1991 verließ Jonathan Pine, der englische Nachtmanager des Palasthotels Meister in Zürich, seinen Platz hinter dem Empfangstisch und bezog, erfüllt von ihm bis 1 Einleitung 14 <?page no="15"?> 12 Vgl. Carré, Der Nachtmanager, S. 13. 13 Vgl. Fludernik (2008), S. 69. 14 Vgl. Hamburger (1957), S. 61. 15 Vgl. Dijkstra u. a. (1994), S. 144. dahin unbekannten Gefühlen, seinen Posten im Foyer, um im Namen seines Hotels einen vornehmen späten Gast willkommen zu heißen. Der Golfkrieg hatte gerade angefangen. 12 (3) gibt die ersten zwei Sätze aus dem Roman John Der Nachtmanager von John le Carré wieder. Der erste Satz beschreibt alltägliche Vorgänge in einem Züricher Hotel, der zweite Satz beschreibt die politische Situation in einem weit ent‐ fernten Land. Der Rezipient versucht die Sätze in ein kohärentes mentales Text‐ weltmodell zu integrieren. Da es keine unmittelbare Anschlussmöglichkeiten zwischen den beiden Sätzen gibt, erscheint der Text zunächst inkohärent. Diesem Typen liegt das rezipientenseitige Ziel zugrunde, ein kohärentes Dis‐ kursmodell zu erlangen. Der Rezipient geht auf der Grundlage seines Wissens davon aus, dass es einen, wenn auch entfernten Zusammenhang zwischen beiden Sätzen gibt. Dass ein möglicher Zusammenhang existiert, steht nicht im Text. Es wird vom Rezipienten auf der Grundlage seines Wissens ergänzt. Dieser Fall wird unter dem metaphorischen Begriff des Puzzles besprochen und er wird von Graham Petrie sowie Wolfgang Iser beschrieben, wobei er Iser zufolge mit einer Kompositionsleistung des Rezipienten einhergeht. In Abschnitt 9.2 wird dieser Typ kognitionslinguistisch untersucht. Damit ein Rezipient Spannung erleben kann, ist es wichtig, dass dieser die Textwelt für real hält. Zur textintern aufgebauten Realität schreibt Monika Flu‐ dernik, dass diese nicht unbedingt mit der Lebenswelt des Rezipienten überein‐ stimmen muss, es kann sich auch um eine abweichende Wirklichkeitkonstitu‐ tion handeln wie zum Beispiel in einem Fantasy-Roman. 13 Daher handelt es sich in der Regel um eine Realitätsillusion. 14 Die Realitätsillusion kann unter anderem durch textimmanente Signale etab‐ liert werden. Ein Text suggeriert Realitätsnähe zum Beispiel dadurch, dass Ereignisse und Handlungen innerhalb der Textwelt plausibel erscheinen, sie sollten sich nicht als unmotiviert, beliebig oder zufällig darstellen. 15 Ebenso kann die Illusion verstärkt werden durch Details, die aus der Perspektive des Rezip‐ ienten keine unmittelbare Relevanz für den Verlauf einer Geschichte besitzen (rückblickend können sie sich als wichtig erweisen). Roland Barthes spricht in 1.3 Spannung, eine vorläufige Arbeitsdefinition 15 <?page no="16"?> 16 Vgl. Barthes (2006), S. 165, 169-171; Einen einführenden Überblick zur Diskussion rund um die Realitätsillusion gibt Fludernik (2008), S. 66-69. 17 Vgl. Dijkstra u. a. (1994), S. 141, 153. 18 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 371-372, 375, 377-379; Bartlett (1967), S. 188, 227. diesem Fall von Realitätseffekten, französisch effet de réel. 16 Kommentare von Erzählern und stilistische Techniken hingegen wie zum Beispiel eine auffällige Syntax in einem Gedicht lenken die Aufmerksamkeit von der Textwelt weg und verschieben sie hin zur textproduzierenden Instanz. Dadurch besitzen sie einen spannungshemmenden Effekt. 17 Als Leser dieser Arbeit muss man also als Voraussetzung im Hinterkopf be‐ halten, dass ein spannungsvoller Text in der Regel eingebettet ist in einen rea‐ litätssuggerierenden Rahmen. Im Idealfall wurde zusätzlich eine positive Rela‐ tion zu einzelnen Figuren aufgebaut. Da die Arbeit versucht, Spannung in abstrahierter und verdichteter Form zu beschreiben, werden realitätsstiftende und Figuren beschreibende Textsegmente ausgelassen - anderenfalls würde die Arbeit in einem unüberschaubaren Umfang aufgebläht werden. Da die Forschungsliteratur im Bereich der Spannung sich auf vergleichsweise wenige Beiträge beschränkt, erweisen sich sowohl die jeweiligen Beschrei‐ bungsmodelle als auch die Fälle, die diskutiert werden, als sehr heterogen. Zu‐ gleich verteilen sich diese Beiträge auf so unterschiedliche Disziplinen wie die Literaturwissenschaft, Filmwissenschaft, Psychologie und Philosophie, wobei die Untersuchung in der Regel relativ frei von den Ergebnissen anderer Forscher und Wissenschaftsdisziplinen stattfindet. Die Auswahl dieser drei Spannungs‐ typen kann daher nur zum Teil durch die Forschungslage begründet werden. Als weitere Auswahlkriterien werden deshalb die Frequenz und die werkim‐ manente Relevanz eines Spannungstyps herangezogen. Die drei genannten Spannungstypen tauchen einerseits am häufigsten in Texten auf, zugleich be‐ sitzen sie das Potential, größere Teile eines Textes bis hin zu gesamten Werken zu umspannen. Die Unterscheidung in Suspense und Curiosity stammt von Sternberg, das Puzzle beschreiben Iser sowie Sternberg, wobei die Bezeichnung von Gulino stammt. Bei allen drei Haupttypen der Spannung reichert der Rezipient die Textwelt auf der Grundlage seines Wissens an. Wie dieser Ausbau der Textwelt zu Span‐ nung führt, lässt sich auf die zentrale konstruktivisitische Grundannahme zu‐ rückführen, die sich in verstehensorientierten Theorien findet. Diesem Para‐ digma zufolge strebt ein Rezipient beim Lesen danach, zu einer ganzheitlichen und kohärenten mentalen Repräsentation zu gelangen, er folgt aktiv dem Prinzip des search after meaning. 18 Deshalb versucht er Ursachen herauszu‐ 1 Einleitung 16 <?page no="17"?> 19 Emotionen in der Spannungsforschung: Nach Zillmann handelt es sich bei der Antizi‐ pation negativer Ausgänge im Bereich des Suspense um einen emotionalen Vorgang. Die Rolle der Kognition thematisiert er nicht (vgl. Zillmann (1996), S. 209-210). Dagegen bestimmen Carroll zufolge kognitive Prozesse die Emotionen (vgl. Carroll (1990), S. 26-27). Ohler schreibt, dass der Rezipient zunächst eine mentale Repräsentation der Textwelt (Situationsmodell) konstruieren muss, bevor emotive Prozesse greifen (vgl. Ohler (1994b), S. 133). Tan geht ebenfalls davon aus und ergänzt, dass die rezipienten‐ seitig hergestellte Textwelt unter anderem negative prädiktive Inferenzen umfassen kann, die in einem zweiten Schritt zu einer emotionalen Reaktion führen können (vgl. Tan (1996), S. 196-197). Darüber hinaus ist allerdings auch ein Ansatz denkbar, wie Schwarz-Friesel ihn vertritt. Demnach sind Emotion und Kognition […] ausschlaggebend für das Zustandekommen und das Erleben von Spannung (Schwarz-Friesel / Consten (2014), S. 150). Kognition und Emotion stellen in einem solchen Modell zwei getrennte Bereiche dar, die miteinander in enger Wechselwirkung stehen: Hinsichtlich der Positionen zur Emotion-Kognition-Relation wird entsprechend von mir ein interaktiver theoretischer Ansatz vertreten mit der Annahme, dass beide Komponenten zwei verschiedene Systeme darstellen, die jedoch nicht unabhängig voneinander arbeiten, sondern zahlreiche, wechselseitige Interaktionen aufweisen und bei ihren Aktivierungs-, Bewusstseins- und Strategieprozessen auf denselben fundamentalen Prinzipien der Ge‐ dächtnisspeicherung und der Aufmerksamkeitssteuerung beruhen (Schwarz-Friesel (2013), S. 117). In der kognitionslinguistischen Textverstehensforschung werden emotionale Aspekte der Textverarbeitung weitestgehend ausgeblendet. Da diese Arbeit sich in der Text‐ verstehensforschung ansiedelt, konzentriert sie sich auf die kognitive Prozesse während der Rezeption spannungsvoller Texte. Grundsätzlich bedeutet das allerdings nicht, dass Emotionen im Bereich der Spannung keine Rolle spielen können. So wäre es denkbar, dass die Ergebnisse dieser Arbeit kompatibel sind mit einer oder mehreren der gerade wiedergegebenen Positionen zum Verhältnis von Kognition und Emotion. finden, Zusammenhänge herzustellen und den tatsächlichen Wahrheitswert von negativen Konsequenzen zu bestimmen. So erfährt der Rezipient den Wunsch, die Spannung aufzulösen. 1.4 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit Die Hauptziele der Arbeit. Diese Arbeit verfolgt das Ziel, das Verhältnis aus‐ zuloten zwischen der Spannungsforschung und einer verstehensorientierten, kognitiven Linguistik. 19 Dabei wird gezeigt, dass beide Disziplinen eine Vielzahl von Implikationen für die jeweils andere besitzen und dass beide voneinander lernen und profitieren können. Drei Kernziele stehen im Mittelpunkt: • Das erste Hauptziel besteht darin, die Auslöser der oben genannten zent‐ ralen Spannungstypen aus der Perspektive der kognitionslinguistischen Textverstehenstheorie systematisch zu präzisieren. 1.4 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit 17 <?page no="18"?> • Das zweite Hauptziel besteht darin, zu zeigen, dass spannungsauslösende Elemente als Grundlage für die Verarbeitung darauffolgenden Textmate‐ rials dienen können, was sowohl direkt angrenzende als auch weit über einen Text verstreute Diskurssegmente betreffen kann. • Das dritte Hauptziel besteht darin, herauszuarbeiten, welchen Beitrag die verstehensorientierte Linguistik zur Erforschung von Spannung leisten kann und welchen Beitrag die Erforschung von Spannung für diesen Zweig der linguistischen Forschung leisten kann. Aufbau der Arbeit. In Kapitel 2 wird ein Überblick über zentrale Ansätze im Bereich der Spannungsforschung gegeben. Dabei zeigt sich, dass dieser Bereich in vielerlei Hinsicht ein hohes Maß an Heterogenität aufweist. Die Autoren kommen aus verschiedenen Disziplinen wie der Philosophie, Psychologie und Literaturwissenschaft. Zum Teil liegt ihren Analysen und Theorien schrift‐ sprachlicher Text zugrunde, zum Teil beschäftigen sie sich auch mit audiovisu‐ eller Spannung oder erheben einen universalen Anspruch, der sich durch eine modalitätsunabhängige Beschreibung niederschlägt. Häufig untersuchen die Autoren nur begrenzte Teilbereiche des Phänomens Spannung. In den Arbeiten werden viele der übrigen Forscher und deren Ergebnisse ausgeblendet. In Teil II werden die Grundlagen einer Theorie des Textverstehens zusam‐ mengetragen. Im Mittelpunkt stehen kognitive Strukturen und Inferenzen, die erforscht werden in der Kognitionslinguistik und der Psycholinguistik auf der Ebene des Textverstehens. Auf der Grundlage des Textes und seiner Wissens‐ bestände konstruiert der Leser während der Rezeption ein mentales Modell der jeweiligen Textwelt. Dabei stellt er auf der lokalen und globalen Ebene Bezüge zwischen einzelnen Textsegmenten her. Zugleich reichert er die Textwelt mit zusätzlichen Informationen an. Der Teil zielt einerseits darauf ab, das theoreti‐ sche Fundament für die anschließende Analyse von Spannung zu liefern. Zu‐ gleich versucht er, die psycho- und kogntionslinguistische Theorie zum Text‐ verstehen in kompakter Form vorzustellen. In Teil III werden die Haupttendenzen spannungsinduziernder Verfahren aufgegriffen, die zum größten Teil in der Filmwissenschaft, der Philosophie und der Psychologie beschrieben werden und die sich überwiegend auf audiovisuell erzeugte Spannung beziehen. Zunächst werden verschiedene Vorüberlegungen angestellt, die Spannungsbögen und deren Reichweite innerhalb des Textes be‐ treffen sowie das Zusammenspiel unterschiedlicher Spannungsbögen. Span‐ nung wird als ein intersubjektives Phänomen und interdisziplinärer For‐ schungsgegestand charakterisiert. Anschließend werden mit dem Suspense, dem Curiosity und dem Puzzle die drei zentralen Spannungstypen dieser Arbeit 1 Einleitung 18 b. a. <?page no="19"?> auf der Grundlage der in Teil II erarbeiteten Aspekte beschrieben. Dabei wird das Erklärungspotential der Textverstehensansätze verglichen mit dem Erklä‐ rungspotential von Spannungstheorien, die aus benachbarten Disziplinen stammen. Es wird sich zeigen, dass linguistische Begriffe zum Teil isoliert ein hohes explanatorisches Potential besitzen; zum Teil entfalten sie ihre explana‐ torische Kraft auch synergetisch. Die dabei zugrunde liegenden Beispiele stammen aus der Sekundärliteratur und aus der intensiven Lektüre eines breiten Spektrums an Texten. Dabei wird auf so unterschiedliche Textsorten zurückgegriffen wie zum Beispiel Kriminal‐ romane, Drehbücher und Zeitungsartikel. Es fließen neben schriftsprachlichen Texten auch audiovisuelle in die Analyse mit ein. Häufig treten die Beispiele in einer abgewandelten Version auf, um versteckte Variablen zu eliminieren und ihre Komplexität zu reduzieren (ausführliche Überlegungen zur Wahl und dem Umgang mit Beispielen finden sich in Abschnitt 7.5, der der Analyse verschie‐ dener Spannungstypen vorausgeht). In Teil IV werden die wechselseitigen Implikationen von Spannungsfor‐ schung und Linguistik ausgeführt. Es wird sich einerseits zeigen, dass die For‐ schung im Bereich des Textverstehens in vielfacher Hinsicht von der Erfor‐ schung von Spannung profitieren kann. Andererseits ermöglicht es die Textverstehensforschung mit ihrer Terminologie und theoretischen Annahmen, Spannung differenzierter zu beschreiben, als dies andere Ansätze erlauben. Da‐ durch erhalten die Textverstehenstheorien Bestätigung, weil sie sich auf einen weiteren, stark von ihr vernachlässigten Bereich anzuwenden erlaubt. Insge‐ samt handelt sich daher um ein Unterfangen, dass sich für beide Seiten als äu‐ ßerst fruchtbar erweist. 1.4 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit 19 <?page no="20"?> 20 Staiger (1968), S. 161. 21 Fógany / Fógany (1971), S. 74. 2 Forschungsstand Bei der Sichtung der Literatur zum Thema Spannung stellt man fest, dass ver‐ hältnismäßig wenig Material zu diesem Phänomen existiert. Im deutschspra‐ chigen Raum findet man zu dem Phänomen ein paar ältere Positionen, die re‐ gelmäßig auftauchen. Zunächst ist die Beschreibung von Staiger zu nennen. Über Spannung schreibt er Folgendes: Spannung wird von der Unselbstständigkeit der Teile ausgelöst. Kein einziger Teil ist sich selber oder dem Leser genug. Er bedarf Ergänzung. Der folgende Teil genügt wieder nicht, er wirft eine neue Frage auf oder fordert ein neues Supplement. Erst am Schluss steht nichts mehr aus und wird die Ungeduld befriedigt. 20 Diese Charakterisierung ist widersprüchlich. Wenn jeder Teil unselbstständig ist (was durch die Relationalität des Ausdrucks Teil garantiert ist) und wenn Unselbstständigkeit zu Spannung führt, dann müsste auch der Schluss eines Textes zu Spannung führen, da auch der Schluss den Teil eines Textes darstellt (ebenso wie die vorhergehenden Teilen auch). Da die Spannung Staiger zufolge mit dem Schluss allerdings aufgehoben wird, kommt es zum Widerspruch, die Beschreibung ist zurückzuweisen. Während Staiger versucht, Spannung auf der Grundlage der Unselbststän‐ digkeit der Teile zu bestimmen, stehen bei Fógany und Fógany sowie Pfister die Unvollständigkeit literarischer Texte im Zentrum der Spannungskonzeption. Bei Fógany und Fógany wird die Konstruktion von Spannung im Roman oder Drama beschrieben als das Aufwerfen von Fragen. Es ist anzunehmen, dass die Spannung mit der Zahl der aufgeworfenen Probleme, d. h. der zu lösenden Fragen in Verbindung steht. Offensichtlich kann diese Verbindung nur positiv sein: Die Spannung wird größer, wenn die Zahl der Fragen wächst und verringert sich mit der Lösung der aufgeworfenen Fragen. 21 Neben der Möglichkeit, Spannung als Fragen an den Text zu paraphrasieren, findet man mit der Position von Pfister einen ähnlichen Versuch, Spannung zu beschreiben. Er entwickelt seinen Begriff in erster Linie für das Drama. Sie ent‐ steht Pfister zufolge durch eine partielle Informiertheit des Rezipienten. Dem <?page no="21"?> 22 Vgl. Pfister (2001), S. 142. 23 Vgl. u. a. Minsky (1975), S. 246; Minsky (1988), S. 245; Barsalou (1992), S. 34-35, 49. 24 Vgl. Junkerjürgen (2002a), S. 28. Leser fehlt Wissen, der Rezeptionsprozess wird geleitet durch seinen Wunsch, dieses Defizit aufzuheben. 22 Die Positionen von Fógany und Fógany sowie Pfister sind zu allgemein. Ihnen mangelt es einerseits an Präzision, da sie sich auf einer relativ unspezifischen Ebene mit dem Phänomen Spannung auseinandersetzen. Darüber hinaus er‐ weisen sie sich aus einer modernen linguistischen Perspektive als so allgemein, dass sie an Trivialität grenzen. Denn bei der Rezeption eines jeden Textes gibt es mögliche Fragen, was dazu führt, dass der Rezipient bei jedem Text partiell informiert ist. Das liegt an der frame-theoretischen Annahme, dass beim Text‐ verstehen Wissensrahmen und dazu gehörende Leerstellen geöffnet werden und dass Leerstellen als Fragen paraphrasiert werden können. 23 (Mehr zu diesen Ansätzen findet sich in Abschnitt 3.1.) Wenn also jeder Text Fragen aufwirft und den Rezipienten nur partiell informiert, so müsste auch jeder Text Spannung erzeugen. Da dies nicht der Fall ist, erlauben es weder die Fragen, die ein Text aufwirft, noch die partielle Informiertheit Spannung zu konstituieren. Es bedarf präziserer Beschreibungsversuche. Im deutschsprachigen Raum finden sich darüber hinaus nur vereinzelte Bei‐ träge. Die große Mehrheit der wenigen überhaupt vorhandenen Beiträge zum Thema Spannung stammt aus dem englischsprachigen Raum. Die Beiträge verteilen sich auf verschiedene Disziplinen und Teildisziplinen. So wird das Thema unter anderem in der rezeptionsorientierten Literaturwis‐ senschaft, in der Filmwissenschaft, in der Psychologie und in der Philosophie behandelt. In keiner dieser Disziplinen kann man im Bereich der Spannung von einer etablierten Forschungsrichtung sprechen. In den jeweiligen Disziplinen wird das Thema Spannung relativ autonom be‐ handelt, Ergebnisse einzelner Forscher fließen in der Regel nicht in die Arbeiten anderer Wissenschaftler ein, wie bereits Junkerjürgen festgestellt hat. 24 Das ist auch der Grund dafür, dass nicht alle Autoren die Haupttypen Sus‐ pense, Curiosity und Puzzles gleichermaßen in ihre Analysen miteinbeziehen, sondern dass sie sich auf einen einzelnen Typen in einem speziellen Medium konzentrieren. Überwiegend steht der filmische Suspense im Zentrum der Un‐ tersuchungen. Insgesamt weist die Forschung daher in vielerlei Hinsicht eine hohe Hetero‐ genität auf. Gemeinsam ist den verschiedenen Ansätzen, dass der Rezipient beim Lesen eine aktive Rolle spielt. Die aktive Rolle des Rezipienten wird allerdings lediglich als solche benannt. Sein kognitiver Beitrag beim Aufbau der Spannung 2 Forschungsstand 21 <?page no="22"?> 25 Vgl. Zeigarnik (1927), S. 10-17, 28-30. 26 Vgl. Mellmann (2007), S. 262-263. 27 Dömer / Reither / Stäudel (1983), S. 62. wird bis auf wenige Ausnahmen nicht thematisiert. Damit wird ein Thema ver‐ nachlässigt, dass in dieser Arbeit im Mittelpunkt steht. Im Folgenden werden einige Beiträge vorgestellt. Zunächst werden textex‐ terne Spannungstheorien kompakt skizziert. Im Anschluss werden die zentralen Ansätze zur Spannung vorgestellt, die präzisere Versuche darstellen, das Phä‐ nomen greifbar zu machen. 2.1 Textexterne Spannungstheorien Es gibt Ansätze, die sich auf einer fundamentaleren Ebene mit dem Phänomen der Spannung beschäftigen. Sie widmen sich der Frage, warum Spannung über‐ haupt entstehen kann, ohne die Textebene genauer in die Untersuchungen mit einzubeziehen. Beispielhaft werden im Folgenden zwei ausgewählte Ansätze knapp zusammengefasst. • Spannung und der Zeigarnik-Effekt: Den Zeigarnik-Effekt hat die russi‐ sche Psychologin Bljuma Wulfowna Seigarnik in dem Aufsatz „Das Be‐ halten erledigter und unerledigter Handlungen“ beschrieben. Der Aufsatz beschäftigt sich mit dem Phänomen, dass sich nicht vollendete Hand‐ lungen besser ins Gedächtnis einprägen als abgeschlossene. Zeigarnik führt dieses Phänomen darauf zurück, dass der Mensch ein generelles Bedürfnis besitzt, einmal angefangene Aufgaben abzuschließen. 25 Katja Mellmann überträgt diesen Ansatz auf die Rezeption spannungsvoller Texte. Dabei identifiziert sie unaufgelöste Spannung mit einer ungelösten Aufgabe. Unaufgelöste Spannung setzt sich im Gedächtnis fest und schafft ein Bedürfnis nach Auflösung. 26 • Spannung als Kontrollverlust: Peter Wuss bietet auf der Grundlage des Psychologen Rainer Oesterreich und dem daraus entwickelten Ansatz von Dömer, Reither und Stäudel eine Spannungsbestimmung im Bereich des Suspense. Oesterreich unterteilt beim Menschen verschiedene Be‐ dürfnisebenen. Zu den Primärbedürfnissen zählt er das Bedürfnis nach Kontrolle. Das ermöglicht dem Menschen die Umwelt oder die Innenwelt nach seinen Wünschen beeinflussen zu können (aktive Kontrolle) oder doch die Entwicklungen in der Zukunft voraussehen zu können (passive Kontrolle, d. h. die Möglichkeit der Vorausschau). 27 2 Forschungsstand 22 <?page no="23"?> 28 Vgl. Wuss (1993b), S. 103-104; Wuss (1993a), S. 114, 324-325. Wuss benutzt diesen Ansatz, um Spannung zu erklären. Demnach kann der Rezipient keine aktive Kontrolle auf den dargestellten Verlauf einer Geschichte ausüben, er kann allerdings passive Kontrolle gewinnen, indem er Hypothesen bildet. So entsteht dann Spannung. 28 Die Ansätze werden als Hintergrundtheorien angesehen, die sich auf einer tief‐ erliegenden Ebene ansiedeln. Sie liefern damit Gründe dafür, warum Rezipienten überhaupt Spannung erleben können. In dieser Arbeit wird nicht weiter auf diese und ähnliche Forschungszweige eingegangen, weil diese sich linguistisch nicht beschreiben lassen. Wenn man allerdings annimmt, dass diese Ansätze sich auf einer tieferliegenden Ebene ansiedeln, so sollte mindestens einer kom‐ patibel sein mit allem, was in dieser Arbeit besprochen wird. 2.2 Zentrale Theorien im Bereich der Spannung In diesem Abschnitt werden die zentralen Ansätze zur Spannung vorgestellt. Dieser Teil des Kapitels zielt nicht darauf ab, die Literatur zur Spannung in allen Einzelheiten abzudecken. Die Auswahl der Ansätze soll lediglich als Überblick über die wichtigsten Ansätze dienen und über die Breite der verschiedenen Dis‐ ziplinen und die damit verbundenen Konzeptionen orientieren. Darüber hi‐ nausgehende Aspekte zu einzelnen Teilbereichen werden in den Kapiteln be‐ reitgestellt, die die einzelnen Spannungstypen behandeln. 2.2.1 Sternberg Der israelische Literaturwissenschaftler Sternberg ist einer der ersten Autoren, die sich intensiv mit dem Phänomen Spannung auseinandergesetzt haben. Seine Analyse stammt aus dem literaturwissenschaftlichen Bereich der Rezeptionsäs‐ thetik. Er gibt in vielfacher Hinsicht wichtige Anstöße und bietet unter anderem drei Grundtypen der Spannung an. In seinem fundamentalen Werk zur Rezeption von Texten schreibt Roman Ingarden, dass nicht alle Aspekte einer Textwelt an der Textoberfläche realisiert werden. Zum Beispiel werden nicht in jedem Text die Augenfarbe, die Länge der Füße, die Färbung der Stimme, die Haltung und der Körperbau der Figuren zwangsläufig expliziert. Wo die Beschreibung ausbleibt, eröffnet ein Text soge‐ nannte Unbestimmtheitsstellen bzw. Leerstellen, die die unterschiedlichsten Aspekte der Textwelt betreffen können. Diese können vom Leser ergänzt bzw. 2.2 Zentrale Theorien im Bereich der Spannung 23 <?page no="24"?> 29 Vgl. Ingarden (1968), S. 49, 51-53. 30 Vgl. Sternberg (1978), S. 50, 51, 241. 31 Sternberg (1978), S. 50. 32 Vgl. Sternberg (1978), S. 51, 65. 33 Vgl. Iser (1975), S. 237. wie Ingarden es formuliert konkretisiert werden. Er spricht bei dieser lesersei‐ tigen Aktivität von der mitschöpferische Tätigkeit des Lesers. 29 Während diese von Ingarden hervorgehobenen Leerstellen zunächst kaum Spannungspotential besitzen, zeigen die rezeptionsästhetischen Arbeiten von Sternberg in eine deutlich andere Richtung. Spannung entsteht, sobald der Text über eine Reihe bestimmter Leerstellen verfügt. Zum einen können Zusammen‐ hänge innerhalb der Textwelt im Verborgenen bleiben. Bei den Leerstellen kann es sich auch um Ursachen von Ereignissen und Motive von Figuren handeln, wobei dem Rezipienten das Vorhandensein der jeweiligen Leerstelle bewusst ist. Darüber hinaus kann der Leser sich fragen, was als nächstes passieren wird. Leerstellen lassen sich Sternberg zufolge als Fragen wiedergeben. 30 The literary text may be conceived of as a dynamic system of gaps. A reader who wishes to actualize the field of reality that is represented in a work, to construct (or rather reconstruct) the fictive world and action it projects, is necessarily compelled to pose and answer, throughout the reading-process, such questions as, What is happe‐ ning or has happened, and why? What is the connection between this event and the previous ones? What is the motivation of this or that character? 31 Suspense ergibt sich bei zukunftsgerichteten Leerstellen, die mit der Frage ein‐ hergehen, was als nächstes passieren wird. Curiosity entsteht bei rückwärtsge‐ wandten Unbestimmtheitsstellen, die die Vergangenheit betreffen. In Bezug auf das Curiosity fügt Sternberg beläufig hinzu, dass es bei diesem Spannungstyp eine Abweichung gibt zwischen der tatsächlichen Reihenfolge der Ereignisse (literaturwissenschaftlich ausgedrückt auch plot) und der auf der Textebene dargestellten Reihenfolge der Ereignisse (auch story). In der Textstruktur wird beim Curiosity ein Element ausgelassen, was dem Leser bewusst ist. 32 Die Span‐ nungsform des Puzzles wird bei Sternberg durch die Frage What is the connection between this event and the previous ones? angedeutet, darüber hinaus wird dieses nicht weiter besprochen. Der Spannungstyp wird allerdings bei einem anderen zentralen Forscher aus dem Bereich der Rezeptionsästhetik, Iser, auch erwähnt, der beim Puzzle die Kompositionsleistung des Lesers betont. 33 Der Leser kann Sternberg zufolge in zweierlei Weise auf Unbestimmtheits‐ stellen reagieren, einerseits kann er sie ignorieren und andererseits kann er sie 2 Forschungsstand 24 <?page no="25"?> 34 Vgl. Ingarden (1968), S. 51. 35 Vgl. Sternberg (1978), S. 50, 52, 238-239, 243, 244-246; Sternberg (1992), S. 531. 36 Vgl. Ingarden (1968), S. 53. 37 Vgl. Brewer / Lichtenstein (1982), S. 480-481. 38 Vgl. Brewer / Lichtenstein (1982), S. 475. füllen. 34 Im zweiten Fall bildet er Hypothesen über die jeweilige Leerstelle aus. Anschließend überprüft er seine Hypothesen für die Unbestimmtheitsstellen, wobei diese Annahmen gegenläufig sein und sich ausschließen können. Zu‐ gleich können diese Hypothesen verschiedene Glaubenswahrscheinlichkeiten besitzen. 35 Sowohl Leser als auch Werk beeinflussen die Bildung von Hypo‐ thesen. 36 2.2.2 Brewer An die Beschreibung des Curiosity und Suspense von Sternberg schließen die Forschungsarbeiten um den US -amerikanischen Kognitionswissenschaftler William F. Brewer an. Seiner Structural-Affect Theory zufolge hängen die dra‐ matischen Effekte unterhaltender Texte von der Reihenfolge der Ereignis-Dar‐ stellung im Text ab. Dieser Ansatz hebt gezielt die Unterscheidung zwischen der tatsächlichen Reihenfolge von Ereignissen und der Reihenfolge ihrer Darstel‐ lung hervor, die bei Sternberg eher beiläufig erwähnt wird und die der israelische Autor lediglich für den Spannungstyp des Curiosity ausführt. So erhält Brewer einen seiner wesentlichen Anstöße von dem israelischen Literaturwissen‐ schaftler. 37 Im Vergleich zu Sternberg, der sich auf schriftsprachliche Texte bezieht, heben Brewer und Lichtenstein hervor, dass es sich bei diesen Spannungstypen um Effekte handelt, die unabhängig von der Modalität entstehen. Sie können in schriftsprachlichen, in audiovisuellen etc. Texten realisiert werden. 38 Ein Suspense-Beispiel von Brewer und Lichtenstein: (4) The sniper was waiting outside the house. Charles got up from the chair. He walked slowly toward the window. There was the sound of a shot and the window broke. Charles fell dead. Bei dieser Art Spannung zu erzeugen, entspricht die Ereignis-Darstellung der tatsächlichen Reihenfolge der Ereignisse. Der Leser ist vorinformiert und fragt sich, wie es ausgehen wird. Er antizipiert eine signifikante Folge für eine Figur, die nur partiell informiert ist. Die Leser-Emotionen sind verschieden von den 2.2 Zentrale Theorien im Bereich der Spannung 25 <?page no="26"?> 39 Vgl. Brewer / Lichtenstein (1982), S. 480-481. 40 Vgl. Truffaut (1984), S. 64. 41 Vgl. Brewer / Lichtenstein (1982), S. 481. 42 Vgl. Carroll (1996b), S. 96-97. 43 Vgl. Carroll (1990), S. 131. 44 Vgl. Carroll (1996b), S. 97, 100. Figuren-Emotionen. 39 Da die Figur nicht über den Plan des Angreifers informiert ist, handelt es sich beim diesem Effekt um die Art, die Hitchcock in seinen Filmen regelmäßig benutzte und die er in dem berühmten Interview mit Truffaut aus‐ geführt hat. Der Ansicht des Master of Suspense führt diese Form zu den inten‐ sivsten Zuschauerreaktionen. 40 Ein Beispiel für Curiosity von Brewer und Lichtenstein: (5) Charles fell dead. The police came and found the broken glass, etc. Bei diesem Mittel Spannung zu erzeugen, muss die tatsächliche Ereignisstruktur mit einem bedeutungsvollen Ereignis beginnen. In der Darstellung des Gesche‐ hens wird dieses allerdings ausgelassen. Der Leser bekommt genug Informati‐ onen, um zu wissen, dass vorher etwas vorgefallen ist, das Informationsdefizit muss ihm bewusst sein. Auf diese Art und Weise wird seine Neugier auf das zurückliegende Ereignis gelenkt. Im weiteren Textverlauf wird die ausgelassene Information nachgereicht, sodass der Leser das bedeutungsvolle Ereignis re‐ konstruieren kann und die Spannung aufgelöst ist. 41 Mit den Forschungsarbeiten von Brewer und Lichtenstein erlöscht dieser durch Sternberg angeregte Untersuchungszweig. 2.2.3 Carroll Fragen kontrollieren die Erwartungen des Zuschauers. Während Brewer und Lichtenstein auf Sternberg Bezug nimmt, beschreibt der US -amerikanische Philosoph Noël Carroll unabhängig von den Forschungsergebnissen dieser Au‐ toren den Suspense und das Curiosity. Seine Untersuchungen beziehen sich auf Filme. Carroll zufolge stellt der Zuschauer bei der Filmrezeption ununterbro‐ chen Fragen. In der Regel geschieht dies unbewusst. Sobald ein Film allerdings angehalten wird, dringen die Fragen an die Oberfläche und werden sprachlich realisiert. 42 Die Fragen werden ausgelöst durch audiovisuelle Ereignisse. 43 Fragen und Antworten verbinden audio-visuelle Einheiten verschiedener Ausdehnung. Von Szenen bis hin zum gesamten Text. 44 2 Forschungsstand 26 <?page no="27"?> 45 Vgl. Carroll (1996a), S. 75. 46 Vgl. Carroll (1990), S. 234-235. 47 Vgl. Carroll (1996a), S. 75. 48 Vgl. Carroll (1996b), S. 101-103. 49 Carroll (1996b), S. 101. 50 Vgl. Carroll (1996b), S. 101, 103, 106. Anzahl möglicher Antworten, zeitliche Dimension, Moral. Spannung be‐ schreibt Carroll unter Rückgriff auf Fragen. Sie konstituieren fictions of uncer‐ tainty. Die Abgrenzung zwischen dem Suspense und dem Curiosity basiert auf der zeitlichen Dimension dieser Spannungstypen. Demnach sind die Fragen entweder zukunfts- oder vergangenheitsgerichtet. 45 Als ein weiteres Abgren‐ zungskriterium dient die Anzahl möglicher Antworten auf eine Frage. Um die beiden Spannungstypen voneinander zu trennen, greift er unter anderem zurück auf die Unterscheidung in Entscheidungsfragen, bei denen es nur zwei mögliche Antworten gibt, die sich logisch ausschließen, und Ergänzungsfragen, die meh‐ rere, sich nicht ausschließende Möglichkeiten besitzen. 46 Das Curiosity charakterisiert er als offene Ergänzungsfragen. Beim Genre Kriminalgeschichte fragt sich der Leser zum Beispiel, welche Motive den Täter leiten. Grundsätzlich sind eine Reihe verschiedener Möglichkeiten denkbar, die einzeln vorkommen können oder gleichzeitig wahr sein können. Dieser Span‐ nungstyp ist vergangenheitsbezogen. 47 Suspense ergibt sich bei einer Entscheidungsfrage, die sich auf die Zukunft bezieht. Allerdings erzeugt nicht jede zukunftsgerichtete Frage Spannung. Zu‐ sätzlich benötigt der Suspense eine moralische Dimension. Von den zwei mög‐ lichen Antworten muss eine Möglichkeit unwahrscheinlich und moralisch kor‐ rekt und die andere wahrscheinlich und moralisch fragwürdig sein. 48 I am holding that, in the main, suspense in film is (a) an affective concomitant of an answering scene or event which (b) has two logically opposed outcomes such that c) one is morally correct but unlikely and the other is evil and likely. 49 Die Moral basiert auf einer Alltagsmoral. Sie kann durch tugendhafte Szenen vermittelt werden, in denen der Protagonist zum Beispiel seine Tapferkeit unter Beweis stellt. Sie muss nicht zwangsläufig mit der außermedialen Realität über‐ einstimmen, in diesem Fall kann ein Moralsystem relativ zum jeweiligen Film entstehen. Zugleich steht beim Suspense etwas auf dem Spiel. Gefahren müssen hervorgehoben werden. Sie drohen sich in unmittelbarer Zukunft einzu‐ stellen. 50 Die Wahrscheinlichkeiten müssen betont werden (adding probability factors). Im Film entsprechen sie nicht den Wahrscheinlichkeiten in der Welt der Rezi- 2.2 Zentrale Theorien im Bereich der Spannung 27 <?page no="28"?> 51 Vgl. Carroll (1996b), S. 106. 52 Vgl. Carroll (1996b), S. 100. 53 Vgl. Carroll (1996b), S. 100. 54 Vgl. Carroll (1996b), S. 98, 100, 108, 114. pienten. Man darf sich auch nicht dazu verleiten lassen, den Begriff technisch zu verstehen. Während der Rezeption greift der Zuschauer nicht auf seine sto‐ chastischen Fähigkeiten zurück, er versucht also nicht, die Wahrscheinlichkeit bis auf die dritte Ziffer hinter dem Komma zu berechnen. 51 Mikro-, Makroebene und Rekursivität. Carroll unterscheidet zwischen Spannung auf der Mikro- und auf der Makro-Ebene. Die Zuordnung ergibt sich aus der textuellen Distanz zwischen Frage und Antwort. 52 (6) Wird James Bond dem brennenden Aufzug entkommen? (7) Wird das Gute oder das Böse siegen? (6) und (7) geben mögliche Suspensefragen wieder, die der Rezipient während der Rezeption aufwerfen kann. In (6) handelt es sich um eine Frage, die die augenblickliche Situation in einem Film betrifft, sie siedelt sich daher auf der Mikroebene an. In (7) liegt eine Frage vor, die sich auf das Gesamtwerk bezieht und daher in den Bereich der Makrofragen eingeordnet wird. Makro- und Mikro-Fragen können in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen. Die Antwort von Mikro- und Makrofragen können sich überschneiden. Fragen und Antworten verbinden Szenen, aber auch gesamte Texte. 53 Auf der Grundlage von Fragen lassen sich verschiedene Funktionen von Szenen klassifizieren. Carroll unterscheidet zwischen a) Szenen, die dem Rezipienten Orientierung (establishing shot) bieten (zum Beispiel wird die Fifth Avenue gezeigt, bevor ein Büro gezeigt wird) und die nicht unbedingt Fragen aufwerfen muss. Daneben gibt es b) Szenen, die eine Frage aufwerfen (questio‐ ning scene), c) Szenen, die eine Antwort liefern (answering scene), d) Szenen, die Fragen aufrechterhalten oder verstärken (sustaining scene), e) Szenen, die eine Antwort geben und zugleich eine neue Frage aufwerfen, und letztendlich f) Szenen, die Teilantworten bereitstellen (incomplete answering scene). In diesem Fall erstrecken sich Antworten über mehrere Szenen. Je größer die Anzahl sol‐ cher Szenen in einem Film ist, desto komplexer ist der Film. In Szenen können die einzelnen Filmbzw. Textelemente eine Vielzahl anderer Funktionen gleich‐ zeitig übernehmen. Nicht alle Szenen dienen dem Fragen-Aufwerfen. Darüber hinaus gibt es Szenen, die Antworten moralisch färben. 54 2 Forschungsstand 28 <?page no="29"?> 55 Vgl. Carroll (1996b), S. 108. 56 Vgl. Carroll (1996b), S. 103. 57 Vgl. Zillmann (1980), S. 136-137; Zillmann (1996), S. 202-203. 58 Vgl. Zillmann (1996), S. 201. Diese Charakterisierung ergibt sich bei Zillmann bereits aus einem Artikel aus dem Jahr 1980 (vgl. Zillmann (1980), S. 135, 139). Der hier wie‐ dergegebene Text aus dem Jahr 1996 wurde ausgewählt, da er den Sachverhalt über‐ sichtlicher und pointierter wiedergibt. 59 Zillmann (1996), S. 220. Um Spannung zu analysieren, müssen diejenigen Szenen bestimmt werden, die Fragen auslösen und erhalten. Zugleich bietet es sich an, einerseits Szenen herauszusuchen, die mögliche Antworten moralisch situieren, und andererseits, Szenen zu isolieren, die Wahrscheinlichkeiten zuordnen. 55 Ein Film wird als Suspensefilm klassifiziert, wenn eine Suspensefrage das Werk auf der Makroebene überspannt, wenn statt einer suspensevollen Mak‐ rofrage eine Reihe von Suspense-Mikrofragen aufeinanderfolgen und wenn entscheidende Szenen mit Suspense beladen sind. 56 2.2.4 Zillmann Positive und negative Ausgänge. Der US -amerikanische Psychologe Dolf Zillmann greift bei seiner Suspense-Definition auf mögliche zukünftige Ent‐ wicklungen der Geschichte zurück und untersucht diese innerhalb des Mediums Film. Dabei unterscheidet er zwischen solchen Ausgängen, die einen Anreiz darstellen, und solchen Ausgängen, die eine Bedrohung darstellen. Als Anreiz dient häufig eine soziales, finanzielles oder erotisches Gut. Die Bedrohung ergibt sich in der Regel dadurch, dass der Protagonist einer unmittelbaren Gefahr aus‐ gesetzt ist, Leib und Leben sind bedroht. Als Beispiel nennt Zillmann eine Schiffskatastrophe oder die Besteigung eines Berges, in beiden Fällen befinden sich Figuren in lebensbedrohlichen Situation. Häufig sind Bedrohung und po‐ sitiver Anreiz aneinander gekoppelt. Sollte die jeweilige Figur den negativen Ausgang abwenden können, so erhält sie gleichzeitig eine Belohnung. 57 Suspense kommt ohne die positive Dimension aus. Um ein möglichst inten‐ sives Suspenseerlebnis zu bieten, müssen Geschichten nach Zillmann folgende Kriterien erfüllen: 58 • Geschichten müssen mögliche negative Ausgänge suggerieren • Gemochte Protagonisten (liked protagonists) oder eine substitute entity 59 müssen betroffen sein von möglichen negativen Ausgängen, damit diese Ausgänge gefürchtet werden von den Rezipienten 2.2 Zentrale Theorien im Bereich der Spannung 29 <?page no="30"?> 60 Vgl. Zillmann (1996), S. 202, 206, 220. 61 Vgl. Zillmann (1996), S. 202. 62 Vgl. Zillmann (1996), S. 209-210. Zu einem ähnlichen Befund gelangt Hienger: Falls der Autor die Technik beherrscht, reagiert der Leser möglicherweise mit Veränderungen des Pulses und der Hautfeuchtigkeit, mit Kontraktion und Entkrampfung von Muskelpartien, mit angstvoll angehaltenem und erleichtert ausgestoßenem Atem (Hienger (1976), S. 42). 63 Vgl. Zillmann (1980), S. 134; Zillmann (1996), S. 201. • Die Wahrscheinlichkeit, dass negative Ausgänge eintreten, muss hoch sein aus der Perspektive des Rezipienten Bei der Negativität von Ausgängen differenziert Zillmann zwischen verschie‐ denen Graden. So ist beispielsweise der mögliche Tod auf einem höheren Ne‐ gativitätsniveau angesiedelt als der Verlust von Eigentum oder die soziale Iso‐ lation. Um das Suspenseerleben zu ermöglichen, müssen die antagonistischen Kräfte den gemochten Protagonisten glaubwürdig schädigen können. Die Ge‐ fahr kann an dritten Parteien demonstriert werden, um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Suspense setzt nach Zillmann nicht voraus, dass Moral im Spiel, womit er sich explizit gegen Carroll richtet. 60 Bei der Erzeugung von Suspense spielen die Angst und die Hoffnung von Rezipienten eine zentrale Rolle. Die negativen Konsequenzen für einen Prota‐ gonisten werden gekoppelt an die Angst, dass ein erhofftes Ereignis nicht ein‐ treten und dass ein unerwünschtes Ereignis eintreten wird. Zugleich werden sie gekoppelt an die Hoffnung, dass ein bevorzugter Ausgang eintreten wird, dass ein unerwünschtes Ereignis für den Protagonisten nicht eintreten wird und dass negative Ereignisse für antagonistische Figuren eintreten werden. Beide sind als affektive Reaktionen eng aneinander gebunden, es handelt sich um zwei Seiten einer Medaille. 61 Zillmann zufolge kann der Suspenseeffekt mit körperlichen Reaktionen ein‐ hergehen. Als mögliche Reaktionen nennt er Schweißausbrüche und Fingernä‐ gelkauen. Der Rezeption kann von Rastlosigkeit und Unruhe begleitet werden. Zum Teil lässt sich der Rezipient dazu hinreißen, zu applaudieren, wenn sich die Handlung zum Positiven für den Protagonisten auflöst. 62 Dem Rezipienten weist Zillmann die Rolle eines Zeugen zu. Auf der Leinwand dargestellte Handlungen und Ereignisse wirken sich weder positiv noch negativ auf seinen Alltag aus. Auch umgekehrt besitzt er keinen Einfluss auf die Text‐ welt, die Entwicklungen im Film bleiben vom Rezipienten unberührt. 63 Hoffen, Bangen und die Einstellung zum Helden. Hoffnung und Angst hängen stark mit der Einstellung des Rezipienten zum Protagonisten zusammen. Diese Relation zum Protagonisten beschreibt Zillmann als Empathie (ein iden‐ 2 Forschungsstand 30 <?page no="31"?> 64 Vgl. Zillmann (1996), S. 202, 215-216. 65 Vgl. Zillmann (1991), S. 285; Zillmann (1996), S. 202, 204. 66 Vgl. Zillmann (1996), S. 204. 67 Vgl. Zillmann (1996), S. 220, 222. tifikatorisches Verhältnis weist er zurück, weil die Figuren und Leser über ver‐ schiedene Wissensbestände verfügen und daher auch verschiedenen Emotionen ausgesetzt sein können). 64 Diese affektiven Dispositionen basieren nach Zillmann auf soziopsychologi‐ schen Prozessen, die je nach der emotionalen Beziehung zu den Figuren vari‐ ieren. Leidet eine gemochte Figur, so leidet auch der Rezipient. Freut sich diese Figur, so überträgt sich das positive Gefühl auf den Leser bzw. Zuschauer. An‐ tipathie gegenüber einer Person führt zu einer entgegengesetzten emotionalen Reaktion. Die Freude des Antagonisten verursacht negative, sein Leiden positive Emotionen. Die Wahrnehmung von positivem und negativem Ausgang kehrt sich also um, wenn sich die Einstellung zu den Figuren umkehrt. So kann das gleiche Ereignis beim Zuschauer verschiedene Reaktionen hervorrufen - je nachdem, in welcher Relation er zu einzelnen Figuren steht. 65 Mit der Relation ändert sich auch die Bewertung von negativen und positiven Ausgängen einzelner Figuren. Eine negative Konsequenz für einen Antago‐ nisten wird vom Rezipienten als positiv empfunden. Eine negative Konsequenz, die den Protagonisten betrifft, wird als negativ eingestuft. Es gibt also negative Konsequenzen für Figuren, die je nach der Einstellung der Rezipienten als po‐ sitiv und negativ eingeordnet wird. 66 Suspense, Euphorie und Disphorie. Von der Relation zum Protagonisten und vom negativen Ausgang hängen Euphorie- und Disphorie-Reaktionen ab. Eu‐ phorie entsteht, wenn eine Gefahr für einen gemochten Protagonisten verrin‐ gert oder abgewendet wurde. Sie steigt, je größer der Schaden für den Antago‐ nisten und der Nutzen für den Protagonisten ist. Mit der Disphorie-Reaktion verhält es sich umgekehrt. Sie steigt zum Beispiel, wenn eine negative Konse‐ quenz eintritt. In Geschichten nehmen mögliche negative Emotionen den Groß‐ teil der Zeit ein, bis am Ende eine positive Auflösung erfolgt. Das bedeutet, dass viele Episoden häufig mit Disphorie beladen sind, dass das finale Ende jedoch Euphorie erzeugt. 67 Zugleich beeinflusst auch der Beitrag des Protagonisten zum Ausgang die Euphorie- und Disphorieintensität. Die Disphorie steigt, wenn der Protagonist die negativen Folgen selbst herbeiführt. Die Euphorie ist größer, je stärker der Protagonist zur Lösung des Problems bzw. zur Abwendung des negativen Aus‐ 2.2 Zentrale Theorien im Bereich der Spannung 31 <?page no="32"?> 68 Vgl. Zillmann (1996), S. 220. 69 Vgl. Zillmann (1996), S. 209, 221. 70 Vgl. Comisky / Bryant (1982), S. 56-58. 71 Wulff (1993), S. 325. gangs beigetragen hat. Handelt es sich um einen inaktiven Protagonisten, so steigt die Euphorie nur marginal. 68 Daraus leitet Zillmann praktische Implikationen für den Anfang und das Ende von Geschichten ab: Zu Beginn einer Geschichte sollte der Protagonisten in ein positives Licht gerückt und der Antagonist negativ darstellt werden. Erst danach kann begonnen werden, den Protagonisten mit Gefahrensituationen zu kon‐ frontieren. Die Auflösung verläuft optimal, wenn der Protagonist das Böse selbst (allein) besiegt und dafür belohnt wird. 69 Die Gewichtung der Wahrscheinlichkeit negativer Ausgänge und der Einstellung gegenüber den Figuren. In einer experimentellen Studie haben Comisky und Bryant die Faktoren Relation zur Figur und die Wahrscheinlichkeit des negativen Ausgangs kombiniert und den Einfluss auf das Suspenseemp‐ finden untersucht. Verschiedenen Gruppen ihres Experiments haben sie die gleiche Filmsequenz vorgespielt. Dabei wurde die jeweilige Vorstellung durch einen Kommentar des Erzählers eingeleitet, der von Gruppe zu Gruppe ver‐ schiedene Informationen über die Überlebenschancen des Helden enthielt und den Protagonisten entweder in einem neutralen, in einem positiven oder in einem sehr positiven Licht erscheinen ließ. Die Auswertung dieses Experiments ergab, dass die Wahrscheinlichkeit des Ausgangs den Hauptteil bei der Suspensebildung ausmacht. Je geringer die Chance des positiven Ausgangs, desto höher der Suspense. Die hohe positive Relation zum Protagonisten steigert die Spannung zwar, sie besitzt allerdings einen geringen Teil an der Spannungsbil‐ dung. 70 2.2.5 Wulff Eine konstruktivistische Zeichen- und Textdefinition. Die Funktion von Text ist, den Textverarbeitungsprozess zu strukturieren und kon‐ trollieren, und nicht so sehr, ein Thema oder eine Geschichte als ein wohlgeformtes, ganzheitliches Gebilde zu exponieren. 71 Der deutsche Filmwissenschaftler Hans J. Wulff legt für die Analyse von Sus‐ pense die konstruktivistische Kernannahme zugrunde, das dem Rezipient eine aktive Rolle bei der Bedeutungskonstitution von narrativ-audiovisuellen Texten 2 Forschungsstand 32 <?page no="33"?> 72 Vgl. Wulff (1993), S. 325, 327, 334. 73 Vgl. Wulff (1993), S. 325, 328, 330-331. 74 Wulff (1993), S. 328. 75 Vgl. Wulff (1996), S. 7. 76 Wulff (1993), S. 326. 77 Vgl. Wulff (1993), S. 326, 340. 78 Wulff (1996), S. 2. zukommt. Denken und Wahrnehmung vollziehen sich bei der Rezeption von audiovisuellen Texten demnach aktiv und mit dem Ziel, eine kohärente (Text-)Welt zu konstruieren (auch konstruktivistisches Rezeptionsmodell). Der audiovisuelle Text stellt Szenen, Situationen und Sequenzen bereit, die der Re‐ zipient kognitionsgestützt verarbeitet. Diese nutzen den Kohärenz- und Ganz‐ heitswunsch des Rezipienten gezielt aus. 72 Um Suspense zu erzeugen, muss der Text dem Zuschauer Informationen bieten, aus denen dieser zukünftige Entwicklungen und die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens erschließen kann. Bei der Analyse von Suspense darf weder die textuelle noch die kognitive Seite vernachlässigt werden. Der Text gilt dieser Auffassung nach als ein instruktionales Gebilde. 73 Die Spannungskonstruktion wird darum gefaßt als eine Sequenz von Textinformati‐ onen, die eine dazugehörige Sequenz von Verarbeitungsoperationen des Zuschauers erforderlich macht und diese steuert; diese beiden Komponenten bilden zusammen einen Untersuchungsgegenstand. 74 Als typischen Fall beschreibt er, wie der Protagonist im Gebirge an einer Steil‐ wand in einem Seil hängt und wie sein Seil über eine scharfe Bergkante reibt. Auf der Basis dieser Informationen bildet der Zuschauer die Hypothese, dass das Seil reißen könnte und dass die Figur in die Tiefe stürzt und stirbt. 75 Die jeweiligen Erwartungen ergeben sich aus einzelnen Text-Informationen und verschiedenen Bereichen des Wissen: Nun spielen schematisierte Wissensbestände […] eine zentrale Rolle, seien es nun stofflich orientierte Einheiten des Wissens (wie Gegenstands-Frames oder situationale Skripten) oder aber syntaktsiche Bauformen des Textes (wie z. B. Alternationsmon‐ tage) oder semantosyntaktische Prinzipien der Textbildung (wie sie in den verschie‐ denen Geschichtengrammatiken zu beschreiben versucht werden). 76 Auf dieser Grundlage generiert der Rezipient Wulff zufolge Hypothesen, die sich auf der Mikro- und Makroebene ansiedeln und die auf beiden Ebenen Spannung erzeugen. 77 Suspense entsteht nach Wulff durch possible and probable develop‐ ments in the plot, which often cannot even be proven on the surface of the film. 78 2.2 Zentrale Theorien im Bereich der Spannung 33 <?page no="34"?> 79 Vgl. Wulff (1996), S. 1. 80 Vgl. Wulff (1996), S. 7-8. 81 Vgl. Wulff (1993), S. 333. 82 Vgl. Wulff (1993), S. 329, 332-333, 341. 83 Vgl. Wulff (1993), S. 329, 342. Neu einlaufende Informationen sollten nicht nur als Tatsache verarbeitet werden sondern auch als starting point von zukünftigen Entwicklungen hin‐ sichtlich einer Geschichte, sozialen Situationen oder einer Folge von Ereignissen gesehen werden. 79 Wulff betont - ähnlich wie Zillmann -, dass die antizipierten Entwicklungen keine beliebigen sein dürfen, der Zuschauer muss einen negativen Ausgang an‐ tizipieren. Deshalb sollten die textuellen Erzeugnisse die Aufmerksamkeit der Rezipienten in Richtung Probleme, Gefahren und Hindernisse manipulieren, die auf diese Weise mögliche Entwicklungen andeuten und diesen gleichzeitig Wahrscheinlichkeitsgrade suggestiv zuordnen. Der Text suggeriert lediglich ein Ensemble alternativer Möglichkeiten bzw. ein Feld möglicher Entwicklungen. 80 Die negativen Aspekte müssen sich nicht konkretisieren. 81 Textuelle Elemente, die dazu dienen, mögliche zukünftige Entwicklungen anzudeuten, bezeichnet Wulff Kataphora. Wulff unterscheidet darüber hinaus zwischen Textsegmenten, die das Problem präzisieren, und Textsegmenten, die den Problemraum in eine andere Richtung lenken. Letztendlich kann der Rezi‐ pient eine Reihe möglicher Entwicklungen mental konstruieren, die durch neu einlaufende Textsegmente erweitert werden können. Die Textwelt wird dabei nicht vollständig realisiert, die Textebene umfasst nur relevante Aspekte. Es gibt auf der Textebene eine Selektion. 82 Auch der Rezeptionsprozess vollzieht sich selektiv. Nur problembezogenem wird Aufmerksamkeit geschenkt. Wulff spricht in diesem Zusammenhang auch von einer metarezeptiven Hypothese der Rezipienten. 83 2.3 Zwischenfazit Auf einer fundamentalen Ebene befinden sich textexterne Überlegungen zu Spannung. Dabei wird Spannung auf den Zeigarnik-Effekt zurückgeführt oder durch das rezipientenseitige Bedürfnis nach Kontrolle begründet. Diese Ansätze vernachlässigen Strukturmerkmale von Texten, daher entziehen sie sich der linguistischen Analyse und werden deshalb nicht weiter berücksichtigt. Auf einem rezeptionstheoretischen Fundament charakterisiert Sternberg die Spannungsleerstellen des Curiosity, des Suspense und vom Puzzle, die er auch 2 Forschungsstand 34 <?page no="35"?> als rezipientenseitige Fragen beschreibt. Beim Curiosity gibt es einen Vergan‐ genheitsbezug, beim Suspense steht eine zukunftsgerichtete Leerstelle im Zentrum. Er konzentriert sich auf schriftsprachliche Texte. Sternbergs Ansatz dient als Anknüpfungspunkt für das Forscherteam um Brewer. Sie orientieren sich an dem Verhältnis zwischen Plot-Story-Ebene und an der Terminologie und beschreiben die Typen Suspense und Curiosity. Beim Suspense kommt zusätzlich die Frage hinzu, wie sich das Verhältnis zwischen dem Wissen der Rezipienten und dem Wissen der Figuren gestaltet, ein Aspekt der in der Hitchcockschen Suspensedefinition entscheidend ist und der in den anderen Ansätzen keine Rolle spielt. Die rezeptionstheoretische Terminologie wie Leerstelle und die damit verbundenen Fragen gehen dabei verloren. Die zeitliche Dimension ist vorhanden, wenn auch wie bei allen anderen Autoren außer Carroll stillschweigend. Brewer abstrahiert in seinen Forschungen von einer konkreten Modalität. Carroll untersucht das Curiosity und den Suspense im Film, die gemeinsam fictions of uncertainty konstituieren. Beim Curiosity steht eine Frage im Zentrum, die mehrere Antworten zulässt, die sich nicht gegenseitig aus‐ schließen. Den Suspense beschreibt er als das Stellen von Fragen, von denen eine als moralisch gut und zugleich unwahrscheinlich gilt und die andere als moralisch schlecht und wahrscheinlich gilt. Die Antworten schließen sich lo‐ gisch aus. Unabhängig von Sternberg kommt Carroll zu dem Schluss, dass sich der Suspense (zukunftsbezogen) und das Curiosity (vergangenheitsbezogen) in zeitlicher Hinsicht unterscheiden. Zillmann konzentriert sich im Rahmen seiner psychologischen Theorie nur auf den filmischen Suspense. Seinem Ansatz nach entsteht dieser dramatische Effekt durch negative Konsequenzen für gemochte Helden, die vom Rezipienten für sehr wahrscheinlich erachtet werden. Bei den negativen Konsequenzen spielt die von Carroll postulierte moralische Dimension keine Rolle, er grenzt sich in diesem Punkt explizit von Carroll ab. Die Arbeiten von Sternberg und von Brewer besitzen im Rahmen von Zillmanns Arbeiten keinen Einfluss. Wulff ergänzt Zillmanns Analyse um eine kognitive Dimension, der zufolge sich die Erwartung eines negativen Ausgangs ergibt aus Textinformationen und Schemata, die durch Relevanzerwägungen zu einander in Beziehung gesetzt werden. Die Ergebnisse der anderen Autoren spielen bei ihm keine Rolle. Im Zentrum steht der filmische Suspense. Wulff ist der einzige Autor, der die kognitive Dimension der Spannung in seine Überlegungen mit einbezieht. Damit entwickelt er das Fundament, um die Ziele dieser Arbeit zu erreichen. Er gibt den Anstoß, um den Suspense und an‐ dere Spannungstypen aus einer kognitionslinguistisch orientierten Perspektive 2.3 Zwischenfazit 35 <?page no="36"?> zu beleuchten, wobei neben lokalen Aspekten auch die globale Dimension er‐ gänzt werden soll, um zu einem umfassenden Bild zu gelangen. 2 Forschungsstand 36 <?page no="37"?> 1 Minsky (1988), S. 244. II Grundlagen einer Theorie des Textverstehens If someone said, ’It’s raining frogs‘, your mind would swiftly fill with thoughts about the origins of those frogs, about what happens to them when they hit the ground, about what could have caused that peculiar plague, and about whether or not the announcer had gone mad. Yet the stimulus for all this is just three words. How do our minds conceive such complex scenes from such sparse cues? The additional details must come from memories and reasoning. 1 Sprachliche Kommunikation besitzt einen elliptischen Charakter. Auf der Basis einer geringen Anzahl textueller Signale (sparse cues, stimulus) wird eine Viel‐ zahl rezipientenseitiger Aktivitäten stimuliert, die sich nähren aus den im Zitat benannten Bereichen des Wissens (memory) und der Inferenzen (reasoning), die die Grundlage bilden für die Konstruktion eines mentalen Modells (hier scenes). Im Folgenden werden diese drei Hauptfelder kognitiv orientierter Disziplinen vorgestellt. Damit rückt dieser Teil die repäsentationalen und prozedualen As‐ pekte des Textverstehens ins Zentrum, die sich aus kognitionsorientierten und psycholinguistischen Ansätzen ergeben. In Kapitel 3 werden Frame- und Schema-theoretische Ansätze integrativ vor‐ gestellt, die auch Wissen über Textsorten mit einschließen. Dabei werden zent‐ rale Begriffe wie Leerstelle, Füllwert, Prototypikalität etc. eingeführt. Zunächst werden diese Entitäten unabhängig von sprachlichen Aspekten als fundamen‐ tale Einheiten der Kognition beschrieben. In Kapitel 4 wird eine Vielzahl mentaler Prozesse vorgestellt, die auf den kognitiven Strukturen basieren. Dabei wird zunächst der für diese Arbeit zent‐ rale Begriff der Inferenz definiert. Nachdem ein kompakter Einblick in die Welt der Inferenzen in der klassischen Philosophie gegeben wurde, werden die An‐ sätze zu verstehensnotwendigen Inferenzen aus der Textverstehenstheorie vor‐ gestellt. Dabei werden zunächst Inferenzen auf Wortebene vorgestellt, wobei der Satzkontext in der Regel eine wichtige Rolle spielt. Dann werden Inferenzen vorgestellt, die angrenzende Sätze verbinden. Im Anschluss werden Inferenzen beschrieben, die sich auf größere Diskurssegmente eines Textes beziehen und diese vorstellen. Der Aufbau folgt also der Komplexität des zugrunde liegenden <?page no="38"?> Textmaterials. Darüber hinaus wird eine weitere Klasse von Inferenzen vorge‐ stellt, die sogenannten elaborativen Inferenzen. Diese besitzen keine kohärenzstiftende Funktion. Das Kapitel endet mit einer Klassifikation von Inferenzen und mit der Beschreibung von Leserzielen, die einen Grund dafür liefern, warum Rezipienten überhaupt eine derartige Aktivität bei der Textrezeption zeigen. Während diese Prozesse in Kapitel 4 auf der Ebene einzelner Sätze, Satzpaare und kurzer Abschnitte beschrieben werden, fasst Kapitel 5 komprimiert zu‐ sammen, was die Textverstehensforschung im Bereich der mentalen Repräsen‐ tation umfangreicherer Texte anbietet, deren Konstruktion auf einer wieder‐ holten Anwendung der in Kapitel 4 vorgestellten Prozesse basiert. II Grundlagen einer Theorie des Textverstehens 38 <?page no="39"?> 2 Vgl. Lakoff (1990), S. 40. 3 Vgl. Rumelhart (1980), S. 33. 4 Vgl. Fillmore (1982), S. 111. 3 Wissen Im Folgenden wird eine Reihe von kognitiven Ansätzen integrativ vorgestellt. Dabei wird das kognitive System zunächst isoliert betrachtet. Dieser Schritt er‐ gibt sich aus dem Cognitive Commitment, das besagt, dass es sich bei den Ver‐ arbeitungsprozessen nicht um sprachspezifische Mechanismen handelt sondern um allgemeine mentale Operationen. 2 3.1 Wissensrahmen Kognitionsbezogene Theorien zum Wissen wurden in verschiedenen, zum Teil relativ autonomen Wissenschaftsdisziplinen entwickelt und in Abhängigkeit von der jeweiligen Forschungsunternehmung und den damit verbundenen Er‐ kenntnisinteressen unterschiedlich akzentuiert - letztendlich mit konvergier‐ ender Evidenz, was sich niederschlägt in einer zunehmenden wechselseitigen Rezeption und in einer verstärkten gegenseitigen Beeinflussung. Marvin Lee Minsky - Frame-Pionier, Mathematiker und Informatiker - stellt eine allge‐ meine Theorie auf und verweist auf eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene, die sein Ansatz explanatorisch bewältigen kann und die hauptsächlich auf der Ebene der visuellen und sprachlichen Verarbeitung liegen. Der Linguist Fillmore bezieht sich überwiegend auf die Wort- und Satzebene, erkennt allerdings ein globales Anwendungspotential. Forscher wie der US -Psychologe Rumelhart richten ihre wissenschaftlichen Aktivitäten auf umfangreichere Texte wie zum Beispiel Geschichten. So erwachsen aus einer kognitionszentrierten Perspektive Erklärungsmöglichkeiten für eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene. Sie erweist sich als global anwendbar und besticht durch ihre unifizierende Kraft. Trotz terminologischer und theoretischer Unterschiede zwischen den An‐ sätzen weisen die Theorien starke strukturelle und funktionale Parallelen auf, worauf bereits Rumelhart in seinem Artikel „Schemata: The Building Blocks of Cognition“ hinweist. 3 Das ist wahrscheinlich auch ein Grund dafür, warum Fill‐ more Begriffe wie Schema, Frame etc. in einem seiner zentralen und mehrfach veröffentlichten Aufsätze „Frame Semantics“ gleichsetzt. 4 <?page no="40"?> 5 Vgl. Sanford / Garrod (1998), passim. 6 Vgl. Minsky (1975), passim. 7 Vgl. Fillmore (1971), S. 37. 8 Vgl. Fillmore (1975), S. 124. 9 Vgl. Fillmore (1977a), passim. 10 Vgl. Fillmore (1977b), passim. 11 Vgl. Fillmore (2006), passim. 12 Vgl. Barsalou (1992), S. 30-35; Rumelhart (1980), S. 35; Minsky (1975), S. 212. 13 Vgl. Busse (2009), S. 81; Busse (2015), S. 268-269, 342, 359-360. Terminologische Inhomogenitäten. In der Literatur zur Untersuchung von Wissen finden sich eine Reihe konkurrierender Begriffe, die erhebliche Schnitt‐ mengen aufweisen und deshalb kaum auseinanderzuhalten sind. Die Begriffe variieren nicht nur von Autor zu Autor, sondern zum Teil auch innerhalb des Œuvres eines Autors. So bezeichnen Sanford und Garrod das Wissen als scena‐ rios , 5 Minsky spricht von frames. 6 Bei Fillmore werden verschiedene Theorie‐ versionen begleitet von verschiedenen terminologischen Präferenzen. In seinen theoretischen Vorarbeiten spricht Fillmore (1971) von Kasusrahmen, 7 Fillmore (1975) von scene, 8 Fillmore (1977a) von scenes, 9 Fillmore (1977b) von schemata, 10 Fillmore (2006) wieder von frames. 11 So soll ohne die folgenden Begriffe bereits andeutungsweise beschrieben zu haben, zunächst darauf hingewiesen werden, dass konkurrierende technische Ausdrücke alle Ebenen der Beschreibung durchdringen. Der Dichotomie von Slot und Filler stehen Alternativen gegen‐ über wie attributes und values bei Barsalou, terminals und instances bzw. assign‐ ments bei Minsky, Rumelhart spricht von variables und values. 12 Als Kriterien für terminologische Entscheidungen dienen in dieser Arbeit die semantische Durchsichtigkeit und die Etabliertheit eines Begriffs. Die transpa‐ renteste und eingängigste Alternative zu Frame, Schema etc. bietet der Ausdruck Wissensrahmen, den Busse gebraucht. Er vermeidet die Ebenenmischung der grammatischen Oberflächenstruktur mit der Tiefendimension und beugt so ter‐ minologisch bedingten Missverständnissen vor, die möglicherweise mit Be‐ griffen wie Kasusrahmen einhergehen. 13 Slot und Filler werden in dieser Arbeit als Leerstellen und Füllwerte aufgenommen, wie es sich in der deutschsprachigen Diskussion etabliert hat (zum Beispiel bei Ziem (2008)). Hinsichtlich der übrigen Begriffe werden terminologische Entscheidungen an der jeweiligen Stelle ge‐ troffen, die den oben genannten Kriterien entsprechen. Wissensrahmen. Denkt man an einen Kindergeburtstag, so gelangt man zu einer Ansammlung epistemischer Elemente. Es gibt eine bestimmte Kleiderord‐ nung, jeder Gast bringt ein Geschenk mit, es gibt ein Unterhaltungsprogramm mit einer Reihe von Aktivitäten, die zum Beispiel Topfschlagen mit einschließen. 3 Wissen 40 <?page no="41"?> 14 Vgl. Minsky (1975), S. 243. 15 Vgl. Minsky (1975), S. 212, 245; Rumelhart / Ortony (1977), S. 101; Rumelhart (1980), S. 34. 16 Vgl. Fillmore (1977a), S. 63. 17 Vgl. Ziem (2009), S. 246. Ziem präzisiert diese Fragen. Demnach handelt es sich dabei idealerweise um Fragen, die keine metaphorischen Antworten zulassen (vgl. Ziem (2009), S. 217). 18 Minsky (1988), S. 245. 19 Vgl. Barsalou (1992), S. 34-35, 49. 20 Vgl. Minsky (1975), S. 248. 21 Minsky (1975), S. 111. Ein Kindergeburtstag findet tagsüber statt und umfasst einen längeren zeitlichen Abschnitt. Deshalb kommen eher ein Samstag oder ein Sonntag für diese Art von Veranstaltung in Frage als ein Wochentag, dessen Struktur und Organisa‐ tion durch den Schulalltag maßgeblich geprägt ist. 14 Bei diesem abgerufenen Komplex handelt es sich um einen Wissensrahmen, der in prototypischer Weise Wissenselemente im Gedächtnis organisiert und der das Potential besitzt, eine Vielzahl möglicher Entitäten mental repräsentieren zu können. 15 Rahmen, Leerstellen und Prototypikalität: Wissensrahmen verfügen über Leerstellen. 16 Diese sind standardmäßig mit ihnen verbunden und lassen sich durch Fragen paraphrasieren, die situationsabhängig mit Füllwerten besetzt werden können. 17 Wissensrahmen vergleicht Minsky mit einem Skelett und mit einem Bewerbungsbogen. Beide geben eine grobe Struktur vor und müssen mit konkretem Material gefüllt werden. Ein Wissensrahmen ist a sort of skeleton, somewhat like an application form with many blanks or slots to be filled. 18 Je höher die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine bestimmte Leerstelle gemeinsam auftritt mit einem Wissensrahmen, desto höher ist der Grad der Prototypikalität einer Leerstelle. Barsalou spricht auch von Attributsystematizität und verdeutlicht es an dem Konzept V O G E L . Der Rezipient würde demnach Leerstellen für die Größe, die Farbe und den Schnabel konstruieren. 19 Ähnlich sollte es sich mit dem Rahmen zu W EIN verhalten, prototypische Leerstellen könnten den Jahrgang, die Herkunft, die geschmackliche Richtung etc. betreffen. Mögliche Füllwerte wären zum Beispiel 1982, B O R D EAUX , T R O CK E N . Rahmenlose Informationen und informationslose Rahmen: Rahmenlose In‐ formationen streben danach, in einen Rahmen eingebettet zu werden. So werden sie zu anderen Wissenselementen in Bezug gesetzt und stellen keine atomaren Einheiten dar. Informationslose Rahmen (d. h. Rahmen mit Leerstellen) streben nach Sättigung. 20 In seiner einfachsten Form wird der Drang zur Auffüllung leerer Endpunkte als eine Art Unwohlgefühl oder Hunger erscheinen. 21 Leerstellen können auf zweierlei Weise durch Füllwerte gesättigt werden. Einerseits kann 3.1 Wissensrahmen 41 <?page no="42"?> 22 Vgl. Fillmore (1977a), S. 75; Minsky (1975), S. 213. 23 Minsky (1988), S. 245. 24 Vgl. Dijk (1980b), S. 184. 25 Vgl. Rumelhart / Ortony (1977), S. 112, 118. 26 Vgl. Dijk (1980b), S. 185. 27 Vgl. Minsky (1975), S. 213 - Von Potts, Keenan und Golding stammt der Beispielsatz [H]e threw a delicate porcelain vase against the wall (vgl. Potts / Keenan / Golding (1988), S. 405). Murray, Klin und Myers zufolge generiert der Rezipient auf der Grundlage seines Wissens das zukünftige Ereignis, dass die Vase bricht (vgl. Murray / Klin / Myers (1993), S. 465). Campion spricht im Zusammenhang mit vorausweisenden Inferenzen bei der Textrezeption von hypothetischen Fakten (vgl. Campion (2004), S. 150, 154). Dieser Ter‐ minus ließe sich wahrscheinlich modalitätsunspezifisch auf jede Art der wissensba‐ sierten Anreicherung übertragen. dies in einem Top-Down-Prozess geschehen durch typischerweise zum Wis‐ sensrahmen gehörende Elemente. Man spricht auch von Standardwerten (eng‐ lisch default values, default assignments). 22 ’Default assumptions fill our frames to represent what’s typical‘. As soon as you hear a word like ’person‘, ’frog‘, or ’chair,‘ you assume the details of some ’typical‘ sort of person, frog, or chair. You do this not only with language, but with vision, too. 23 Zum Bereich der wissensbasierten Instantiierungen gehören auch Default-An‐ nahmen mit antizipatorischem Charakter. (In Kapitel 4 werden diejenigen In‐ ferenzen, Elaborationen und Erwartungen vorgestellt, die bei der Textrezeption systematisch auftreten.) Diese aus epistemischen Agglomerationen generierten Erwartungen richten sich zeitlich auf zwei Dimensionen. Einerseits auf zukünf‐ tige Ereignisse bzw. zukünftig wahrnehmbare Daten. Sieht oder liest jemand zum Beispiel, dass sich eine Person eine Fahrkarte kauft, so generiert er die Hypothese, dass die Person mit einem Zug fahren wird. 24 Auf der anderen Seite richten sich Erwartungen auf Daten, die zwar zum Zeitpunkt der Hypothesen‐ herstellung gegeben sind, die allerdings in diesem Augenblick nicht wahrge‐ nommen werden bzw. nicht wahrnehmbar sind. Sieht eine Person zum Beispiel eine Lampe, so elaboriert sie die Tatsache, dass diese Lichtquelle über einen Knopf verfügt, der dem An- und Ausschalten dient. 25 In Anlehnung an diese Beschreibung lassen sich auch Erwartungsbrüche formulieren, die auftreten, sobald die Daten mit den wissensinduzierten Hypothesen nicht überein‐ stimmen. 26 Die aus dem prototypischen Wissen generierten Standardwerte können also einen hypothetischen Status besitzen. 27 Ein Standardwert wird aufrechterhalten, wenn dieser mit dem perzeptuellen Input übereinstimmt oder wenn kein sen‐ sorisches Datum dem Standardwert widerspricht. Sollten sich nicht kompatible Füllwerte ergeben aus dem sensorischen oder aus dem textuellen Input (die 3 Wissen 42 <?page no="43"?> 28 Vgl. Minsky (1975), S. 213. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass sich ein Element verändert und eine indirekte Fernwirkung besitzt, sodass ein weiterer Füllwert aufge‐ hoben werden muss, um eine inkohärente Repräsentation zu vermeiden. Diese Fälle ergeben sich aus den Constraints, die unten behandelt werden (siehe Seite 46). 29 Vgl. Barsalou (1992), S. 34-35; Rosch (1975), S. 193, 199. 30 Vgl. Minsky (1975), S. 261. 31 Vgl. Dijk (1980b), S. 170, 185; Rosch (1975), S. 193. 32 Vgl. Barsalou (1992), S. 35-37. zweite Möglichkeit der Sättigung), so sind diese auf Bottom-Up-Prozessen ba‐ sierenden Füllwerte privilegiert gegenüber wissensgestützten und verdrängen die prototypische Instantiierung. 28 Indem kognitionsbasierte Theorien verschiedener Disziplinen die Prototypi‐ kalität in ihren Ansätzen integrieren, übernehmen sie zentrale Gedanken der Prototypentheorie, wie sie von Rosch beschrieben werden. So hebt Barsalou explizit hervor, dass es sich bei einem Wissensrahmen und den damit verbun‐ denen Elementen nicht um eine Konjunktion unverzichtbarer Bestandteile han‐ delt. Vielmehr handelt es sich um Elemente, die nicht alle gleichermaßen reali‐ siert sein müssen. Das führt dazu, dass wissensbasierte Instantiierungen durch perzeptuelle Stimuli korrigiert werden können. (Siehe dazu Absatz 4.) Durch die Adaption des Prototypenbegriffs wird zugleich die Annahme der kulturabhän‐ gigen bzw. relativen Intersubjektivität als tragende Säule in den Theoriekomplex installiert, die Barsalou daran erläutert, dass eher Menschen aus Ländern Kata‐ lysatoren (smog device) in ihrem Wissen über Fahrzeuge aufnehmen sollten, in denen diese üblich sind. 29 Diese stillschweigend vorausgesetzte Annahme der Intersubjektivität schimmert auch in Minsky’s Frame-Theorie als einem Common-Sense-Ansatz durch, er beschreibt seinen Ansatz auch als eine Theorie des everyday bzw. ordinary thinking. 30 Darüber hinaus erlaubt es der Prototypi‐ kalitätsgedanke, das Verhältnis zwischen Rahmen und den Elementen auf einer Prototypikalitätsskala abzubilden. Bei einer Zugfahrt würde der Kauf eines Ti‐ ckets oder das Einsteigen in das Fahrzeug zu den zentralen Elementen zählen. Als optionales und eher periphereres Rahmenelement käme zum Beispiel der Erwerb einer Zeitung am Bahnhofskiosk in Frage. 31 Die zentralen Elemente eines Rahmens nennt Barsalou strukturelle Invarianten. 32 Rahmenwahl, Rahmenverwerfung und der sensorische Input. Ebenso wie wissensbasierte Instantiierungen von Leerstellen durch sensorischen Input kor‐ rigiert werden können, muss sich die Wahl eines Rahmens an der Realität messen lassen. Das Auftreten einer Anomalie kann sich als ein Indiz dafür ent‐ puppen, dass der gesamte Rahmen unpassend gewählt ist bzw. dass der Wis‐ sensrahmen sich für die Integration der sensorischen oder textuellen Daten als inadäquat erweist. Das kann zum Beispiel zu einer von Minsky beschriebenen 3.1 Wissensrahmen 43 <?page no="44"?> 33 Vgl. Minsky (1975), S. 213, 248-253. 34 Was neben den Restriktionen als wichtiges Eigenschaft gilt, ist, dass es also rahmenin‐ terne Effekte gibt, die auf anderen Füllwerten basieren. Es gibt also neben der proto‐ typischen Füllung auch die bedingte prototypische Elaboration von Leerstellen und Füllwerten und die Zurückweisung bestimmter Elaborationen auf der Basis von Fremd‐ einwirkung. 35 Vgl. Barsalou (1999), S. 591; Barsalou (1992), S. 37-40; Minsky (1975), S. 212-221. 36 Vgl. Sanford / Garrod (1998), S. 165. 37 Vgl. Barsalou (1992), S. 37. Spezialfallanpassung führen. Die Daten werden dabei von einem spezielleren Rahmen akkommodiert, der eine geringfügig abweichende Konfiguration der Informationen erlaubt. Eine solche Spezialfallanpassung veranschaulicht Minsky am S TUHL -Rahmen. Dieser kann in einen S P I E LZE U G S TUHL -Rahmen über‐ führt werden, wenn eine Anomalie auftritt wie zum Beispiel eine Abweichung von der prototypischen Größe. Sollte sich ein Stuhl als wesentlich kleiner er‐ weisen, so kann der S TUHL -Rahmen mit einem S P I E LZE U G -Rahmen korreliert werden, was zur Konstruktion eines S P I E LZ E U G S TUHL -Rahmens führt. Sollte keine Möglichkeit der Anpassung gefunden werden, so kann der vollständige Rahmen verworfen werden oder es können neue Rahmen konstruiert werden, bei denen Bestandteile bereits vorhandener Rahmen rekrutiert und in einem amalgamierten Wissenskomplex zusammengeführt werden. Bei inadäquater Rahmenwahl bieten sich dem kognitiven System also verschiedene Möglich‐ keiten zu reagieren, die die Kompatibilität zwischen Rahmen und sensorischen Daten anstreben. 33 Füllwertkompabilität, Selektion, Füllwertrestriktionen bzw. kontext-sensi‐ tive oder bedingte Prototypikalität (auch variable constraints). 34 Elemente eines Wissensrahmens müssen miteinander kompatibel sein. Um dies zu gewähr‐ leisten, gibt es bestimmte Selektionsbestimmungen für Füllwerte, die dazu führen, dass sich epistemische Einheiten rahmenintern beeinflussen. 35 In einem S CHR E IB EN -Wissensrahmen würden prototypischerweise P AP I E R als Material und S TI F T als Instrument ergänzt werden. Würde sich allerdings eines der beiden Elemente aufgrund des sensorischen oder textuellen Inputs ändern, so würde es zu einer alternativen Sättigung der jeweils anderen Leerstelle führen. Setzt man zum Beispiel T AF E L als Material ein, so würde K R E ID E als Instrument instantiiert werden und umgekehrt, der Füllwert einer Leerstelle beeinflusst also den Füll‐ wert einer anderen. 36 Barsalou beschreibt diese rahmeninterne Beeinflussung am Beispiel von Transportmitteln. Mit steigender Geschwindigkeit erhöht sich der Preis. Zwischen Geschwindigkeit und Kosten besteht also eine rahmenin‐ terne Beeinflussung. 37 3 Wissen 44 <?page no="45"?> 38 Vgl. Ziem (2009), S. 229. 39 Innerhalb wissensbasierter Semantiktheorien kommt der Perspektivierungsgedanke in zweierlei Hinsicht zum Tragen. Auf der einen Seite auf der rein kognitive Ebene, wo auf einer sprachunabhängigen Beschreibungsebene operiert wird. Dieser Fall besteht hier. Auf der anderen Seite dienen sprachliche Ausdrücke zur rahmeninternen Per‐ spektivierung. 40 Vgl. Schank / Abelson (1977a), S. 422-425. 41 Vgl. Rumelhart / Ortony (1977), S. 101; Rumelhart (1980), S. 34. 42 Vgl. Dijk (1980b), S. 169. 43 Vgl. Minsky (1975), S. 245. Statische und dynamische Rahmen. In der Literatur wird zwischen statischen und dynamischen Rahmen unterschieden. Erstere zeichnen sich dadurch aus, dass keine zeitliche Dimension involviert ist, während dynamische Rahmen ohne diesen zeitlichen Aspekt auskommen. 38 Ein Beispiel für einen statischen Rahmen ist Z IMME R mit seinen prototypischen Elementen W AND , F E N S T E R , D E CK E , B ODE N , M ÖB E L . Bei statischen Rahmen spielt die zeitliche Dimension keine Rolle. Daneben gibt es dynamisch strukturierte Wissensrahmen. Sie re‐ präsentieren Handlungs- und Ereignisfolgen und werden Scripts genannt. Das klassische Beispiel ist das R E S TAU RANT -Skript, das sich aus der Perspektive des Gastes in verschiedene zeitlich und kausal aufeinander folgende Handlungen gliedert wie E INT R ET E N , T I S CH WÄHL E N , P LATZ N EHME N , K AR T E L E S E N etc., die zum Teil in weitere Teilhandlungen zerlegt werden können. Dabei sind häufig auch Objekte, d. h. statische Elemente involviert wie T I S CH , K AR T E , S E R VI ETT E N . Prototypische Abläufe können in der Regel aus verschiedenen Perspektiven be‐ schrieben werden. Neben dem Gast können zum Beispiel der Koch, der Kellner oder der Besitzer ins Zentrum der Handlungsfolge rücken. Dadurch können sich alternative Handlungsabläufe ergeben, die mit diesen zum Rahmen gehörenden Rollen verbunden sind. 39 Zusätzlich gibt es verschiedene Spezialfälle wie den Besuch in einer Cafeteria oder in einem Imbiss, die eine Variation sowohl des zugrunde liegenden Ablaufs als auch der involvierten statischen Elemente dar‐ stellen. 40 Universelle Anwendbarkeit. Dass sich Wissensrahmen zur Beschreibung sta‐ tischer und dynamischer Entitäten anbieten, hebt ihr universelles Beschrei‐ bungspotential hervor. Deutlich wird dies auch durch die Aufzählungen ver‐ schiedener Autoren. Rumelhart nennt Objekte, Situationen, Ereignisfolgen, Aktionen und Aktionsfolgen. 41 Van Dijk nennt daneben Personen, Rollen, Hand‐ lungen, Konventionen, Normen. 42 Minsky beschreibt zusätzlich sprachbezogene Rahmen, die unter anderem grammatische Aspekte und den Aufbau von Ge‐ schichten einschließen. 43 3.1 Wissensrahmen 45 <?page no="46"?> 44 Fillmore (1975), S. 124. 45 Vgl. Rumelhart / Ortony (1977), S. 124. 46 Vgl. Fillmore (1971), S. 34-35. 47 Vgl. Fillmore / Atkins (1994), S. 374. 48 Vgl. Evans (2007), S. 6. 49 Vgl. Evans (2007), S. 158. I use the word scene in a maximally general sense, including not only visual scenes but also familiar kinds of interpersonal transactions, standard scenarios defined by the culture, institutional structures, enactive experiences, body image, and, in general, any, kind of coherent segment of human beliefs, actions, experiences or imagings. 44 Abstraktionsgrade von Schemata. Rumelhart und Ortony unterscheiden zwischen spezialisierten und generellen Schemata. Erstere unterstützen das ef‐ fiziente Zuordnen von Variablen in kurzer Zeit. Generalisierte Wissensrahmen eignen sich dazu, eine große Anzahl verschiedener Datenpotentiale zu subsum‐ mieren und zu verarbeiten. Demnach könnte das Wissen ein allgemeines Kon‐ zept für W E R F E N beinhalten, dass eine Spezialisierung erfährt, sobald man es auf ein Dartspiel anwendet. Dort wird W E R F E N hinsichtlich der Wurftechnik spe‐ zifiziert, 45 die anders ausfällt als zum Beispiel beim Diskus- oder Waschmaschi‐ nenwerfen. Der Abstraktionsgrad ergibt sich relativ zu anderen Konzepten, so‐ dass ein Konzept im einen Fall als abstrakter gilt und im anderen Fall als spezieller. W E R F EN zum Beispiel wäre ein Spezialschema von B EWE G UNG . Weitere Beispiele für abstrakte Konzepte sind die thematischen Rollen, die unter anderem fest etablierte umfassen wie Agentiv, Instrumental, Lokativ etc. 46 Sie werden nicht als idiosyncratic verstanden, es handelt sich um Rollen, die in einer großen Anzahl von Situationen zum Tragen kommen. 47 In der Regel werden sie in verbzentrierten Ansätzen untersucht im Zusammenhang mit syn‐ taktischen Strukturen. Der Kognitionslinguist Evans beschreibt diese Rollen als Leerstellen auf Satzebene. 48 Neben intrasententialen Ansätzen greifen auch Stu‐ dien zu transphrastischen Zusammenhängen auf diese Leerstellen zurück und zeigen, wie sie Satzgrenzen überschreitend gefüllt werden können (siehe zum Beispiel die indirekten Anaphern von Schwarz in Absatz 4.2.2). Von semanti‐ schen Rollen grenzt Evans participiant roles ab, die spezifischer sind und die auch mit Verben verbunden sind. Im R E S TAU RANT -Wissensrahmen wären dies zum Beispiel die Konzepte K E LLN E R , G A S T , E S S E N etc. Thematische Rollen besitzen einen allgemeineren Status als diese Wissenselemente. 49 Zum allgemeinsten und abstraktesten Wissen gehören auch Metaannahmen über kausale Zusammenhänge auf Ereignis- und Handlungsebene. Darunter könnten Wissensbestände fallen, die besagen, dass Handlungen Ziele verfolgen, dass alles eine Ursache hat, dass die Welt konstant bleibt und weitere logische, 3 Wissen 46 <?page no="47"?> 50 Vgl. Rumelhart (1980), S. 54. 51 Vgl. Ziem (2009), S. 224-225. 52 Vgl. Busse (2015), S. 343. 53 Vgl. Johnson-Laird (1993), S. 485. 54 Vgl. Johnson-Laird (1993), S. 470, 487. 55 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 374. zeitliche etc. Zusammenhänge. (Welche Rolle dieses Wissen bei der Textrezep‐ tion spielt, wird in Absatz 4.2.2 bis 4.2.4, in Unterabschnitt 4.3.2, in Kapitel 5 und in Teil III deutlich.) Quellen des Wissens und Expertise. Schemata ergeben sich aus Erfahrung. Aus einer Vielzahl an Situationen leiten sich abstraktere Einheiten ab, die auf als rekurrent erkannten Elementen und Mustern basieren. 50 Ziem unterscheidet dabei zwischen der Verfestigung von Leerstellen und der Verfestigung von Füll‐ werten (neben Füllwerten spricht er auch von Prädikaten). Ersteres tritt dann ein, wenn eine Leerstelle häufig mit unterschiedlichen Füllwerten gesättigt wird. Ein Füllwert verfestigt sich, wenn er häufig die gleiche Leerstelle füllt. Auf diese Weise bilden sich Standardwerte heraus. 51 Bei der Akquirierung von Wissen können neben der direkten sensorischen Wahrnehmung auch diskursive Über‐ mittlungsformen eine Rolle spielen. 52 Das gilt für nicht direkt erfahrenes phy‐ sikalisches oder biologisches Wissen, wie zum Beispiel die evolutionäre Ent‐ wicklungen innerhalb der Jahrtausende umfassenden Menschheitsgeschichte etc. Es lassen sich unterschiedliche Grade an Expertise bestimmen, wenn Sche‐ mata verschiedener Personen verglichen werden. Wissensstrukturen verschie‐ dener Menschen variieren hinsichtlich des Grades ihrer Differenziertheit, ihrer Komplexität, hinsichtlich der Menge der mit einem Rahmen verbundenen Wis‐ senselemente, dem Grad ihrer Vernetzung und ihrer Strukturierung. 53 Das mentale Modell als Resultat der Einordnung sensorischen Inputs. Sobald ein mit dem sensorischen Input kompatibler Rahmen vorhanden ist, ver‐ schmilzt der bis dahin ungefüllte Rahmen mit den Daten zu einem mentalen Modell. Dabei werden Leerstellen gesättigt mit Daten, die sich einerseits ergeben aus dem Input der Wissensrahmen und andererseits aus dem Input empirischen und textuellen Datenmaterials 54 - inklusive des vorangegangenen diskursiv aufgebauten mentalen Modells. 55 (Wie das mentale Modell bei der Textrezeption konstruiert wird, beschreibt Kapitel 5, hier handelt es sich noch um eine moda‐ litätsunabhängige Beschreibungsebene.) Standardannahmen führen dazu, dass ein mentales Modell informationsreicher ist als der sensorische Input. Rückbli‐ ckend kann häufig nicht mehr rekonstruiert werden, welche Bestandteile sen‐ 3.1 Wissensrahmen 47 <?page no="48"?> 56 Vgl. Rumelhart (1980), S. 38. 57 Vgl. Johnson-Laird (1993), S. 469, 488; Engelkamp / Pechmann (1988), S. 3. 58 Vgl. Rumelhart / Ortony (1977), S. 124; Johnson-Laird (1993), S. 470. 59 Vgl. Zwaan / Radvansky (1998), S. 162. 60 Vgl. Alba / Hasher (1983); zitiert nach Günther u. a. (1991), S. 18. Zwei Anmerkungen: Erstens, in neueren Studien steht die Frage im Zentrum, wie die konzeptuellen Bausteine der mentalen Repräsentation beschaffen sind. Pylyshyn (1986) zufolge handelt es sich dabei um amodale Entitäten, Untersuchungen von Zwaan u. a. (2004) und Barsalou (2003) legen nahe, dass visuelle Komponenten involviert sind. Dieser Aspekt wird nicht weiter verfolgt, da er keine Auswirkung auf die spätere Ana‐ lyse von Spannung besitzt. Zweitens, zum Verhältnis zwischen der mentalen Reprä‐ sentation und möglichen Welten. Der Begriff mögliche Welten stammt aus der logischen Semantik und operiert auf der wahrheitswertfunktionalen Ebene. Im Zentrum steht die Frage, in welchen Situationen ein Satz wahr ist bzw. in welcher potentiell infiniten Anzahl möglicher Welten eine Aussage zutrifft (vgl. Lewandowski (1994), S. 720). Der Begriff mentale Repräsentation dagegen siedelt sich auf der kognitiven Ebene an. Wie alle kognitiven Phänomene unterliegt die Konstruktion der mentalen Repräsentation bestimmten vom mentalen System prädeterminierten kapazitären Restriktionen. So schränken die mentalen Kapazitäten die Anzahl und Komplexität der tatsächlich vom Rezipienten konstruierten Textweltmodelle ein. Dass der Rezipient eine infinite Menge möglicher Welten mental konstruiert, gilt daher allein wegen der menschlichen Vo‐ raussetzungen als unplausibel (vgl. Hall-Partee (1979), S. 3). Aus dem Nicht-Vorhan‐ densein des Extrems einer infiniten Menge von Welten darf allerdings nicht darauf geschlossen werden, dass das andere Extrem gilt, dass also der Rezipient nur eine ein‐ zige mentale Repräsentation konstruiert. Es können also mehrere mentale Repräsen‐ tationen koexistieren, die sich zum Teil gegenseitig ausschließen - eine Tatsache, die besonders bei den on-line hergestellten Inferenzen häufig auftreten sollte. Die Anzahl sorisch und / oder textuell gestützt sind und welche kognitiv elaboriert sind. 56 Das erfolgreich konstruierte mentale Modell entspricht strukturell dem Welt‐ ausschnitt, den es repräsentiert. 57 Bei der Konstruktion eines mentalen Modells kommt die entlastende und re‐ präsentationskonstituierende Funktion der Wissensrahmen und Wissensele‐ mente zum Tragen, die es ermöglicht, auf der Grundlage einer endlichen Menge an Wissensrahmen eine Vielzahl mentaler Modelle zu konstruieren. 58 Aus einem einzelnen R E S TAU RANT -Skript lassen sich demnach konkrete mentale Modelle für jeden einzelnen Restaurantbesuch konstruieren. 59 Der Unterschied zu Wis‐ sensrahmen ist also, dass mentale Modelle konkrete Anwendungsfälle von Wis‐ sensrahmen darstellen, was nicht bedeutet, dass alle Leerstellen mit spezifischen Füllwerten der Situation bestückt sein müssen. 60 Mentale Modelle müssen auch nicht den prototypischen Strukturen entsprechen, da sie datengeleitet eine Va‐ riation darstellen können. 3 Wissen 48 61 61 <?page no="49"?> hängt im Einzelfall von der individuellen mentalen Leistungsstärke ab. So wird das empirisch inadäquate Extrem der unendlichen Anzahl möglicher Welten abgelöst durch eine Konzeption mentaler Repräsentationen, die von einer relativ geringen Anzahl tat‐ sächlich konstruierbarer Textweltmodelle ausgeht und die sich daher als adäquater er‐ weist zur Beschreibung der tatsächlich ablaufenden Prozesse. 62 Dijk (1980b), S. 131. 63 Vgl. Black / Bower (1980), S. 226; Caron (1992), S. 155; Minsky (1975), S. 245. 64 Vgl. Dijk (1980b), S. 187. 65 Vgl. Thorndyke (1977), S. 78. 66 Vgl. Dijk (1980b), S. 130, 135-154. 3.2 Textstrukturwissen In diesem Kapitel wird Wissen vorgestellt, mit dem Rezipienten an Texte he‐ rantreten. Dabei handelt es sich um Textstrukturwissen, das mit verschiedenen Spezialisierungsgraden einhergeht und in unterschiedliche Lesestrategien münden kann. Allgemein: Textstrukturen als Schemata. Im Laufe ihrer Mediensozialisa‐ tion stoßen einzelne Individuen auf eine Vielzahl unterschiedlicher Textstruk‐ turen bzw. Superstrukturen, die durch rekurrente Elemente und strukturelle Kookkurenzen zu einer Reihe relativ homogener Schemata (zum Teil mit ver‐ schiedenen Spezifitätsgraden) verschmelzen und sich im Bewusstsein der Re‐ zipienten einbrennen. Eine Superstruktur ist eine Art abstraktes Schema, das die globale Ordnung eines Textes festlegt und das aus einer Reihe von Kategorien besteht, deren Kombinations‐ möglichkeiten auf konventionellen Regeln beruhen. 62 Die Wissensrahmen sind - wie andere Wissensrahmen auch - prototypisch strukturiert. 63 Superstrukturen können Leerstellen eröffnen, sie limitieren die Möglichkeiten der textuellen Entwicklung. 64 Und sie erlauben es dem Leser, Er‐ wartungen an die im Folgetext situierten Einheiten zu bilden. 65 Superstrukturen kondensieren Rezipienten für so verschiedene Bereiche wie journalistische Texte, Sachbücher, wissenschaftliche Artikel, studentische Hausarbeiten, argumentative oder narrative Texte. 66 Das narrative Schema (auch Erzählschema oder Story-Grammar) soll hier als Beispiel im Mittelpunkt stehen. Story-Grammars. Bei Story-Grammars (in der Terminologie Minskys narrative Rahmen, in der Terminologie van Dijks Superstrukturen) handelt es sich um Schemata, die Organisationseinheiten von Geschichten mental makrostruktu‐ rieren durch (zum Teil hierarchisch organisierte) Relationen und durch iterative 3.2 Textstrukturwissen 49 <?page no="50"?> 67 Vgl. Rumelhart (1975), S. 211; Rumelhart / Ortony (1977), S. 131; Dijk (1980b), S. 131; Caron (1992), S. 155; Thorndyke (1977), S. 78. Häufig versuchen die Autoren diese Ein‐ heiten zu formalisieren - ein Bestreben, das eher ein Relikt des Zeitgeistes darstellt, als dass es evidentielle Relevanz birgt. 68 Vgl. Barsalou (1992), S. 27; Thorndyke (1977), S. 78, 83. 69 Vgl. Rumelhart (1975), S. 213. 70 Vgl. Dijk (1980b), S. 187. 71 Vgl. Rumelhart (1975), S. 213-214. 72 Vgl. Ballstead / Mandl / Schnotz (1981), S. 76. 73 Vgl. Rumelhart (1975), S. 213, 219. 74 Graesser / Li / Feng (2015), S. 296. Regeln. Die Elemente lassen sich teilen in optionale und obligatorische (siehe dazu Absatz 3.1). Werden obligatorische Elemente einer Geschichte ausgelassen, so verstößt sie gegen Kriterien der Wohlgeformtheit - ähnlich wie Auslassungen auf der syntaktischen Ebene, was einerseits die terminologische Anlehnung Story-Grammar begründet und andererseits die auf Texte übertragene Formu‐ lierung der nicht wohlgeformten Geschichte motiviert. 67 Story-Grammars bieten ein Beschreibungsmodell auf der Tiefenstruktur‐ ebene an. Bei den Komponenten handelt es sich um Slots, die durch psychische Substrate aus den Textsegmenten der zugrunde liegenden konkreten Geschichte gesättigt werden. 68 In der Regel dienen globale Einheiten als Analyseebene, bei denen umfangreichere Satzsequenzen zu psychologischen Einheiten ver‐ schmelzen. 69 Es gibt oberflächenstrukturelle Indizien dafür, dass ein bestimmter durch das Wissen über eine Superstruktur vorgegebener Bestandteil realisiert wird. Kom‐ plikationen in einer Erzählung werden häufig durch plötzlich oder Aber dann eingeleitet. 70 In Märchen übernimmt die Formulierung Es war einmal die Funk‐ tion, das Setting zu etablieren. Mit Eines Tages beginnt die eigentliche Hand‐ lung. 71 Wie auch aus anderen Schemata ergeben sich aus Superstrukturen Erwar‐ tungen und Leerstellen, die mit dem vom Konstruktivismus postulierten Be‐ dürfnis einhergehen, sie zu füllen. Demnach möchte der Leser unter anderem wissen, mit welchen Werten die Leerstellen zu sättigen sind. 72 Legt man die Story-Grammar von Rumelhart zugrunde, so versucht der Rezipient, Füllwerte zu etablieren für die Hauptfiguren, Gründe, Motivationen, Ziele, Handlungen sowie den Zeitpunkt und den Ort einer Geschichte. 73 Diese Einschätzung teilen auch Graesser, Li und Feng, wobei sie zwischen verschiedenen Stadien einer Geschichte unterscheiden. In a narrative text, the relevant questions during the setting are who? , what? , where? , and when? but the questions shift to why? and so what? when the plot occurs. 74 3 Wissen 50 <?page no="51"?> 75 Vgl. Black / Bower (1980), S. 244-245; Bordwell (1992), S. 184. 76 Vgl. Thorndyke (1977), S. 80. 77 Vgl. Thorndyke (1977), S. 97. Das gewählte Textstrukturschema einer Geschichte schränkt das Erwartungs‐ feld auf der Ebene der Textwelt ein. 75 Der Rezipient wundert sich nicht, wenn Zwerge, Riesen, Feen und andere transzendente Wesen tief im Wald hausen - Entitäten, die rein diskursiv Einzug in das Wissen des Rezipienten erhalten haben. Gleichzeitig geht der Rezipient davon aus, dass die Figuren in einem Märchen kein Mobiltelefon besitzen. Während auf der einen Seite Diskursentitäten akzeptiert werden, die nicht der lebensweltlichen Erfahrung des Rezipienten entsprechen, kann es auf der anderen Seite zu einer textabhängigen Interpretation von Ereignissen kommen, die im Alltag des Rezipienten keine interpretatorische Relevanz besitzen. Wenn es regnet und blitzt, erwartet niemand, dass ein Mörder kommt und ein Mas‐ saker veranstaltet. In einem Roman oder einem Film dagegen kann die allge‐ meine Wetterlage erheblichen Einfluss auf die Erwartungen nehmen. Darüber hinaus werden einzelne Ereignisse genresensitiv verarbeitet. Geht ein 20-jähriger Mann in einer Geschichte hinter einer jungen Dame her, so kann dies - je nach Textstruktur - unterschiedliche Effekte haben. In Horror- und Kriminalgeschichten tendiert der Rezipient wahrscheinlich eher dazu, eine mögliche Gefahr zu konstruieren als etwa in einem Liebesroman, wo er sich fragen könnte, ob die beiden Personen sich kennenlernen werden oder ob sich eine erotische Beziehung entwickelt. Die gleiche Szene löst also je nach Text‐ struktur unterschiedliche Inferenzen und Erwartungen aus. Dabei muss die Zuordnung der Textstruktur vom Rezipienten nicht zwingend mit dem tatsächlichen Genre eines Textes übereinstimmen, sodass sich eine al‐ ternative Interpretation des Rezipienten ergibt. So kann ein Leser auf der Grund‐ lage eines falsch gewählten Schemas mit nicht adäquaten Erwartungen an einen Text herantreten. In James Thurbers Kurzgeschichte „The Macbeth Murder Mystery“ liest eine Frau das Drama Macbeth mit einer Lesestrategie, die der tatsächlichen Textstruktur nicht entspricht, nämlich als Krimi. Deshalb bildet sich eine alternative Erwartungsstruktur der Figur heraus. Werden Story-Grammars zur postrezeptiven Analyse von Geschichten be‐ nutzt, so ergibt sich ein Strukturbaum mit verschiedenen Hierarchieniveaus. 76 In experimentellen Studien stellte Thorndyke fest, dass das Erinnern der Ele‐ mente von der jeweiligen Stufe abhängt. Höher angesiedelte Einheiten werden besser erinnert als tieferliegende. 77 Über genrespezifische Erwartungen hinaus werden bei der Verarbeitung eines narrativen Textes auch weitere Annahmen bemüht, bei denen Diskursen‐ 3.2 Textstrukturwissen 51 <?page no="52"?> 78 Vgl. Black / Bower (1980), S. 244-245. 79 Vgl. Busse (2015), S. 316-318. titäten auf der Textwelt- und Produktionsebene allgemeine Eigenschaften zu‐ geschrieben werden, die sich aus der lebensweltlichen Erfahrung des Rezipienten ergeben. Leser gehen davon aus, dass sich Menschen rational verhalten und prototypischen Problemlösungsansätzen folgen. Diese werden auf die Fi‐ guren projiziert, sie müssen dem Rezipienten selbst nicht bewusst sein. 78 Diese allgemeineren Annahmen umfassen auf einer abstrakteren Ebene auch An‐ nahmen über den Textproduzenten. Dieser kann in einer solchen unpersönli‐ chen Kommunikation bei der Leser und Textproduzent sich nicht kennen als generell im Sinne von Busse angenommen werden. Dem Produzenten wird demnach unter anderem unterstellt, dass er in seinem Text bestimmte Aspekte berücksichtigt, wie sie zum Beispiel von Grice in seiner Implikaturtheorie ent‐ wickelt wurden. Beim Verstehen eines generellen Textproduzenten bleiben zum Beispiel Faktoren Außen vor, die ausschließlich aus einer persönlichen Ge‐ sprächsbiographie resultieren und die auf dem daraus hervorgehenden gemein‐ samen Hintergrundwissen basieren. 79 3 Wissen 52 <?page no="53"?> 80 Graesser / Li / Feng (2015), S. 293. 81 Vgl. Evans / Green (2006), S. 4; Evans / Bergen / Zinken (2006), S. 11-12; Geeraerts (2006), S. 10; Fillmore (1982), S. 122. 82 Vgl. Schwarz-Friesel (2008), S. 63. 83 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 374. Die Bedeutung komplexer sprachlicher Einheiten auf Satzebene ist das zentrales Thema der Konstruktionsgrammatik. Im deutschsprachigen Raum wird dieser Bereich unter anderem beleuchtet von Ziem / Boas / Ruppenhofer (2014), Lasch / Ziem (2014), Ziem / Lasch (2013) und Ziem / Lasch (2011). In dieser Arbeit findet diese Analyseebene keinen Einzug, da sie weder eine Rolle in der späteren Analyse spielt noch in den Bereich der hier zugrunde gelegten kognitionsorientierten und psycholinguistischen Untersuchung fällt. 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen Die psycholinguistische Bestimmung von Inferenzen. [T]he constructionist model assumes that readers have a rich background of declara‐ tive and experiential world knowledge in longterm memory that is activated during comprehension and that is recruited to fill in inferences. The model also assumes, along with other models, that there is a working memory that holds a limited amount of information and a discourse focus that holds prominent words or ideas in the mind’s eye. 80 (8) Wir bewunderten im Zoo die Vögel. In der Regel geht die mentale Repräsentation deutlich über die explizite Bedeu‐ tung hinaus. 81 Wenn ein Rezipient (8) liest, so wird er den Ausdruck Vogel wis‐ sensgestützt durch EXOTI S CHE V ÖG E L konkretisieren. Bei dieser Spezifizierung handelt es sich um eine Inferenz bzw. um das Ergebnis einer interpretativen Operation. 82 Angestoßen wird der Prozess durch Input, der sich ergeben kann aus epistemischen Desideraten und / oder aus einem physikalischen Stimulus wie zum Beispiel einem Beobachtungsdatum, einem situativen Datum, einem Wort oder einem komplexen Ausdruck (oder aus einer verarbeiteten Konstitu‐ ente), die nach ihrer Epistemisierung auf ihre inferentielle Verwertbarkeit ab‐ getastet werden. Während der Textrezeption wird Wissen aktiviert, wie es in Kapitel 3 beschrieben ist. 83 McKoon und Ratcliff begreifen Inferenzen als rezi- <?page no="54"?> 84 McKoon (1992), S. 440. 85 Vgl. Clark (1977b), S. 247; Klin u. a. (1999), S. 258. 86 Vgl. Trabasso / van den Broek / Suh (1989), S. 2; Singer / Ferreira (1983), S. 446. 87 Vgl. Corbett / Dosher (1978), S. 480. Zwei Anmerkungen. Erstens, der Begriff Inferenz wird in zwei nahe beieinanderliegenden Lesarten gebraucht. Einerseits bezeichnet er einen Schlussprozess des Rezipienten und andererseits das Resultat dieses mentalen Prozesses (vgl. Ballstead / Mandl / Schnotz (1981), S. 57). In dieser Arbeit wird die in der Literatur dominierende resultative Lesart favorisiert. Zweitens, ein ähnlich inhomo‐ genes Bild zeigt sich übrigens in kognitionsorientierten Implikaturtheorien, wo Infe‐ renzresultate neben Proposition und konzeptuelle Repräsentation auch als Gedanken (thoughts) bezeichnet werden (vgl. Carston / Hall (2012), S. 55, 76). pientenseitig konstruierte konzeptuelle Entitäten und beschreiben sie als any piece of information that is not explicitly stated in a text. 84 (Diese Abgrenzung zwischen dem Expliziten und Inferenzen entspricht der herrschenden Meinung in der Psycholinguistk, in Absatz 4.1 wird sie kritisch hinterfragt.) Bei Clark sowie Klin u. a. handelt es sich bei einer Inferenz um eine Propositione. 85 Und Trabasso, Broek und Suh sowie Singer und Ferreira sprechen von idea. 86 Cha‐ rakteristisch für eine Inferenz ist, dass sie in die mentale Repräsentation aufge‐ nommen wird. 87 Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen operieren mit verschiedenen In‐ ferenztypologien, die Rückschlüsse auf die jeweils anderen Disziplinen zulassen. Im Folgenden werden Inferenzen aus der philosophischen Diskussion kompakt vorgestellt. Anschließend werden Inferenzen der kognitions- und psycholingu‐ istischen Forschung behandelt und wechselseitig aufeinander bezogen. Inferenzen in der klassischen Philosophie. Die Philosophie unterscheidet traditionellerweise drei Typen von Inferenzen. Bevor tiefer in den eigentlichen Teil eingetaucht wird, sollen zunächst diese klassischen Schlussprozesse refe‐ riert werden, d. h. deduktive, induktive und abduktive Schlüsse. Deduktive Schlüsse wie in (9) zeichnen sich dadurch aus, dass aus wahren Prämissen (im Beispiel P) wahre Konklusionen (im Beispiel K) folgen und dass der Gehalt der Konklusion nicht über den Gehalt der Prämissen hinausgeht. Wenn die Prämissen wahr sind, muss auch die Konklusion wahr sein. (9) Deduktion P: Alle Menschen sind sterblich P: Sokrates ist ein Mensch K: Sokrates ist sterblich 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 54 <?page no="55"?> 88 Vgl. Hobbs (2004), S. 726. Die Konklusion würde selbst dann folgen, wenn der Prämis‐ senmenge eine kontradiktorische Annahme hinzugefügt würde wie Kein Mensch ist sterblich. Das liegt daran, dass aus einem Widerspruch alles folgt - inklusive der ange‐ gebenen Konklusion (ex falso quodlibet). Hier die Überlegungen, die hinter diesem lo‐ gischen Prinzip stehen. Aus der zunächst als wahr angenommenen widersprüchlichen Annahme 1 und einigen grundsätzlichen Schlussregeln, die in den Klammern ausge‐ führt werden, folgt B(eliebiges) in 5. 1. A und nicht A 2. A (Auflösung der Konjunktion in 1, Teilsätze einer Konjunktion sind isoliert wahr.) 3. A oder B (Disjunktionseinführung auf der Basis von 1, die auf der Annahme beruht, dass auch A oder B wahr ist, wenn A wahr ist. Dieser Schluss basiert auf der Idee, dass eine Disjunktion wahr ist, sobald ein Teilsatz wahr ist.) 4. nicht A (Auflösung der Konjunktion in 1.) 5. B (Disjunktiver Syllogismus aus 3 und 4, d. h. die Annahmen A oder B und nicht A führen zu B.) Peirce ursprüngliche Definition der Abduktion gibt allgemein an, wie bei diesem Typ auf die Erklärung geschlossen wird (vgl. Peirce (1955), S. 151): The surprising fact, C, is observed; But if A were true, C would be a matter of course, Hence, there is reason to suspect that A is true. Fügt man beliebige Prämissen hinzu, so ändert sich die Konklusion nicht - eine Eigenschaft, die Monotonie genannt wird. 88 In dieser Arbeit spielen die deduk‐ tiven Schlüsse eine untergeordnete Rolle. Sie dienen primär dazu, die beiden folgenden Typen zu präzisieren. Die beiden Hauptcharakterista der deduktiven Schlüsse gelten weder für ab‐ duktive Schlüsse wie in (10) noch für induktive Schlüsse wie in (11) (was der (10) Abduktion P: Der Rasen ist nass P: Wenn es regnet, wird der Rasen nass K: Es hat geregnet Doppelstrich über der Konklusion signalisiert). In beiden Fällen lässt sich von der Wahrheit der Prämissen nicht sicher auf die Wahrheit der Konklusion schließen. Der Gehalt der Konklusion geht über den Gehalt der Prämissen hi‐ naus. Deshalb nennt man diese Schlüsse auch gehaltserweiternd. Bei der Ab‐ duktion schließt man von dem Vorhandensein eines Phänomens (in (10), dass 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 55 <?page no="56"?> 89 Diese Beschreibung differenziert innerhalb der Konklusion noch keine alternativen Er‐ klärungsmöglichkeiten. Einer moderneren Version von Harman zufolge wird bei diesem Muster auf die beste Erklärung geschlossen (vgl. Harman (1965), S. 89). 90 Vgl. Schurz (2006), S. 47-56; Keller (1995), S. 132-145. In der Wissenschaftstheorie werden deduktive, induktive und abduktive Schlüsse mit einem höheren Differenzie‐ rungsgrad und einem höheren Grad an Sophistizität diskutiert (vgl. Schurz (2006), S. 47-56). Für die Zwecke dieser Arbeit genügen die allgemeineren Charakteristika dieser drei Schlusstypen. 91 Busse (1994), S. 232. der Rasen nass ist) und der Annahme (dass Regen zu nassem Rasen führen kann) auf die beste Erklärung - nämlich, dass es geregnet hat. Bei 89 der Induktion, die unter anderem bei schemabasierten Prognosen zum Tragen kommt, schließt man von Einzelfällen auf die Gesamtmenge, indem man (11) Induktion P: Tauben sind Vögel und können fliegen P: Amseln sind Vögel und können fliegen P: Spatzen sind Vögel und können fliegen K: Alle Vögel können fliegen zum Beispiel die Eigenschaften einer endlichen Menge an Individuen auf die Gesamtheit überträgt. Beim abduktiven und induktiven Schließen kann trotz der Wahrheit der Prämissen die Konklusion falsch sein. Bei der Abduktion können zum Beispiel alternative Erklärungen bestehen, bei dem Beispiel für Induktion kann ein konfligierendes Exemplar empirisch ausgemacht werden. 90 4.1 Wörter evozieren Frames Kommunikativ geäußerte Zeichen sind […] Orientierungspunkte, die stets in einem vordefinierten, meist schon vorhandenen epistemischen Raum situiert werden. Sie sind Anlässe für einen Verstehenden, die Bedeutung der Äußerung durch Bezugset‐ zung zu seinem Wissen selbst aufzubauen. Aus diesem Grund ist Inferenzziehung nicht das Scheidekriterium zwischen Sprachverstehen und außersprachlichem Ver‐ stehen, sondern konstitutiv für jedes Zeichenverstehen und damit das Sprachver‐ stehen schlechthin. 91 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 56 <?page no="57"?> 92 Vgl. Evans / Bergen / Zinken (2006), S. 11-12; Geeraerts (2006), S. 4-5; Busse (2012); Langacker (1987), S. 63, 154-166; Ziem (2009), S. 212. 93 Vgl. Evans / Bergen / Zinken (2006), S. 11-12; Geeraerts (2006), S. 10. 94 Vgl. Evans / Bergen / Zinken (2006), S. 11-12; Geeraerts (2006), S. 10; Fillmore (1982), S. 122; Ziem (2008), S. 159. 95 Fillmore (1982), S. 117. 96 Vgl. Evans / Green (2006), S. 166. 97 Vgl. Chomsky (1980), S. 3-4. 98 Vgl. Bierwisch (1983), passim. 99 Vgl. Schwarz-Friesel (2008), S. 60; Bierwisch (1979), S. 121. Bei der Beschreibung der Wortbedeutung richten sich Vertreter kognitiver (Se‐ mantik-) Theorien gegen einen semantischen Reduktionismus, der • bestreitet, dass Bedeutung auch enzyklopädische Bedeutungsanteile um‐ fasst bzw. dass bei der Bedeutungsbeschreibung das gesamte verstehens‐ relevante Wissen mit einbezogen werden muss. 92 • Bedeutung als kontextinvariant und damit als frei von mentalen Aktivi‐ täten ansieht. 93 Moderne linguistische Theorien gehen davon aus, dass es in einer Kommuni‐ kationssituation textuelle Hinweise (englisch cues) gibt, die der Rezipient als Anhaltspunkte nutzt, verschiedene inferentielle Prozesse zu bemühen. Sprach‐ liche Zeichen dienen unter anderem als Hinweis, bedeutungskonstituierende Inferenzen auf der Wortebene herzustellen. 94 Diese basieren unter anderem auf der Wahl, Aktivierung und Perspektivierung von Wissensrahmen und ergeben sich im sprachlichen Ko(n)text, was Fillmore auf die fundamentale Formel bringt Wörter evozieren Frames. 95 Enzyklopädische Semantik 96 : Sprach- und Weltwissen. Kognitionslinguis‐ tische Semantikmodelle gehen davon aus, dass eine Unterscheidung in Sprach- und Weltwissen nur eine rudimentäre Bedeutungsbeschreibung zuließe. Damit befreit sich diese semantische Richtung unter anderem von Submodularisie‐ rungstendenzen, die von der generativen Grammatik inspiriert wurden 97 und die sich in einer Vielzahl von Ansätzen niedergeschlagen haben. Darunter fallen einerseits das Zwei-Ebenen-Modell von Bierwisch 1983 mit einer sprachlichen und einer konzeptuellen Ebene. 98 Andererseits zählt dazu das Drei-Ebenen-Mo‐ dell, das von Bierwisch 1979 stammt, das im Vergleich zu den beiden zuletzt genannten Ebenen über einen dritten Bereich des kommunikativen Sinns ver‐ fügt und das zum Beispiel von Schwarz-Friesel präferiert wird. 99 In einer kognitionslinguistischen Semantikkonzeption steht im Mittelpunkt, welche Wissenselemente benötigt werden, um ein Wort zu verstehen. 4.1 Wörter evozieren Frames 57 <?page no="58"?> 100 Fillmore (1982), S. 115. 101 Vgl. Busse (2008), S. 67. 102 Fillmore (1977b), S. 102. 103 Vgl. Fillmore (1982), S. 117, 134. 104 Fillmore (1977b), S. 101. 105 Vgl. Evans / Bergen / Zinken (2006), S. 5. 106 Vgl. Langacker (1987), S. 60. 107 Vgl. Geeraerts (2006), S. 4. [T]here are larger cognitive structures capable of providing a new layer of semantic role notions in terms of which whole domains of vocabulary could be semantically characterized. 100 Damit realisiert Fillmore eine holistische Position, die Busse auch als nicht-re‐ duktionistisch beschreibt. 101 Fillmore schreibt dazu ganz explizit: I see no parti‐ cular advantage in separating out one part of this as strictly semantics and another part as something else. 102 Bei der Beschreibung der lexikalischen Bedeutung müssen alle Wissenselemente berücksichtigt werden. Das gilt unabhängig davon, ob diese aus den Bereichen des Sprach- oder Weltwissens stammen - eine Unterscheidung, die sich inzwischen als antiquiert erwiesen hat. Diesen Ansätzen zufolge aktivieren Ausdrücke oder Ausdrucksketten komplexe Wis‐ sensrahmen. 103 I regard semantics as a kind of process. Speakers have certain schemata associated with the words they know; semantics is the study of how people use these schemata in constructing their understanding of sentences. 104 Die Aufgabe des kognitiven Linguisten besteht dann unter anderem darin, das konzeptuelle System zu untersuchen sowie die Art und Weise, in der Bedeutung prozedural konstruiert wird. 105 Dabei muss er einerseits berücksichtigen, dass das konzeptuelle System lexikalisch nicht vollständig abgedeckt ist. Im Engli‐ schen gibt es Langacker zufolge keinen Ausdruck für jenen Bereich des Kopfes, in dem ein Oberlippenbart wächst. 106 Andererseits muss er berücksichtigen, dass enzyklopädische Komponenten von Entwicklungen in der als real konstruierten Welt berührt werden. So kann eine Veränderung in der Welt zu einer Neuerung in der Sprache führen, was gegen eine stabile Bedeutung und damit auch gegen systemlinguistische Überlegungen spricht. 107 Im Umkehrschluss erlaubt der ak‐ tuelle Wortbestand einer Gesellschaft Rückschlüsse auf deren gegenwärtige Praktiken und Zustände. With respect to word meanings, frame semantic research can be thought of as the effort to understand what reason a speech community might have found for creating 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 58 <?page no="59"?> 108 Fillmore (1982), S. 112. 109 Vgl. Fillmore (1982), S. 120. 110 Fillmore (1982), S. 111. 111 Das Originalzitat von Minsky ist geringfügig anders. Dort taucht der Ausdruck birthday auf, der bei Fillmore weggelassen wurde - wahrscheinlich, um den persuasiven Effekt zu verstärken. Der Vollständigkeit halber sei das Original noch einmal aufgeführt (vgl. Minsky (1975), S. 241): Jane was invited to Jack’s birthday party. She wondered if he would like a kite. the category represented by the word, and to explain the word’s meaning by presen‐ ting and clarifying that reason. 108 Ein Wort wie Vegetarier ist Fillmore zufolge nur in einer Gesellschaft relevant und denkbar, in der nicht alle Mitglieder ausschließlich und vorsätzlich pflanz‐ liche Produkte verzehren. In einer Gesellschaft, in der dieses Konsumverhalten ohnehin gilt, wäre das Wort in dieser Lesart überflüssig. 109 Invozierende Akte. By the term ’frame‘ I have in mind any system of concepts related in such a way that to understand any one of them you have to understand the whole structure in which it fits; when one of the things in such a structure is introduced into a text, or into a conversation, all of the others are automatically made available. 110 (12) Mary was invited to Jack’s party. She wondered if he would like a kite. 111 Neben der Aktivierung von verstehensrelevantem Hintergrundwissen be‐ schreibt Fillmore eine weitere kognitive Operation beim Textverstehen: den in‐ vozierenden Akt. Die Darstellung basiert auf einem Beispiel, das Fillmore sich in der leicht abgewandelten Form (12) von Minsky ausleiht. Um Kohärenz zu etablieren, instantiiert der Rezipient einen allgemeineren Rahmen, der mehrere Informationen aus einem Text integriert, die jeweils für sich genommen diesen übergeordneten Rahmen mit seinen spezifischen Standardannahmen und Leer‐ stellen nicht evoziert hätten. (12) aktiviert einen allgemeinen P AR TY -Rahmen, der durch she wondered if he would like a hinsichtlich der Art vorspezifiziert wird, es handelt sich um einen Geburtstag. Die Art des Geschenks (kite) lässt weitere Schlüsse zu, sodass K IND E R G E B U R T S TAG die vorläufige Endspezifizierung hinsichtlich der Art der Feier und des Alters von Jack darstellt. Isoliert betrachtet 4.1 Wörter evozieren Frames 59 <?page no="60"?> 112 Vgl. Fillmore (2006), S. 614-615; Fillmore (1982), S. 124. 113 Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 373. 114 Vgl. Ziem (2008), S. 173-176. hätten die Wörter party, she wondered if he would like a und kite den überge‐ ordneten Rahmen nicht aktiviert. 112 Die psycholinguistische Unterscheidung in Explizites und Implizites. In der psycholinguistischen und kognitionslinguistischen Textverstehenstheorie wird häufig mit einer Unterscheidung in explizit und implizit im Text Enthal‐ tenes operiert. The textbase provides a shallow representation of the explicit text but does not go the distance in capturing the deeper meaning of the text. Deeper meaning is achieved by computing a referential specification […]. Deeper comprehension is achieved when the reader constructs causes and motives that explain why events and actions oc‐ curred. 113 Ziem zufolge verliert die hier angebotene Dichotomie in Explizites und Impli‐ zites ihr Fundament, sobald sich - wie oben gezeigt - eine der beiden Bestand‐ teile als eine linguistisch inadäquate Beschreibungsebene erweist. Wenn es keine explizite Bedeutung gibt, kann es auch keine Explizit-Implizit-Unterschei‐ dung geben. 114 Aus dieser Analyse könnte fälschlicherweise geschlossen werden, dass alles Implizite in den Bereich der bedeutungskonstituierenden Inferenzen auf Wort‐ ebene fällt bzw. dass es sich bei Inferenzen um eine homogene Klasse handelt. Dem Zitat von Graesser, Singer und Trabasso zufolge umfasst der implizite Anteil auch kausale Relationen zwischen Handlungen und Ereignissen. (13) Die Frau fällt aus dem 14. Stockwerk. Sollte eine Analyse das Implizite auf inferierte Wortbedeutungen reduzieren, so müsste die inferierte Konsequenz, dass die Frau in (13) von McKoon und Ratcliff sterben wird, sich auf eine der Konstituenten zurückführen lassen. Diese kon‐ zeptuelle Anreicherung müsste also dem Ausdruck die Frau, fällt oder aus dem 14. Stockwerk zugerechnet werden. Einerseits sollte es kompliziert sein, die ent‐ sprechende Konstituente eindeutig zu bestimmen. Andererseits würde das Kon‐ strukt Wortbedeutung beliebig werden, würden diese impliziten Anteile einem lexikalischen Element zugerechnet werden. Denn jedem Ausdruck könnte durch variierende Einbettung eine beliebige Bedeutung verliehen werden. 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 60 <?page no="61"?> 115 Vgl. Singer / Ferreira (1983), S. 437-438. 116 Vgl. Suh / Trabasso (1993), S. 281-282. 117 Vgl. Fincher-Kiefer (1996), S. 226. (14) The child stuck the balloon with the pin, the balloon burst. (15) Jimmy wanted to have a new bike. He spoke to his mother. (16) The salesman was sitting in the dining car of a train. The waitress brought a bowl of soup to the table. Suddenly, the train slowed to halt. The salesman jumped up and wiped off his pants. Noch problematischer wird es in komplexeren Fällen wie in (14) bis (16). Dann nämlich, wenn eine solche Inferenz nicht mehr aus einem einzelnen Satz abge‐ leitet werden kann bzw. wenn sie sich transphrastisch, also über die Satzgrenze hinaus ergibt. In (14) von Singer und Ferreira konstruiert der Rezipient, dass der zweite Satz eine Konsequenz der im ersten Satz formulierten Handlung be‐ schreibt. 115 In (15) von Suh und Trabasso stellt der Rezipient die Inferenz her, dass Jimmy seine Mutter nach Geld fragt, um ein Fahrrad zu kaufen. Ein im ersten Satz formuliertes Ziel wird inferentiell auf eine im zweiten Satz beschrie‐ bene Handlung bezogen und dabei als ein Versuch interpretiert, dieses zuvor eingeführte Ziel zu erreichen. 116 In (16) von Fincher-Kiefer ergibt sich die Infe‐ renz, dass die Suppe über den Handelsreisenden geschüttet wurde. Diese kausale Inferenz basiert auf der komplexen, mehrere Sätze überspannenden Passage. 117 Weder die kausale Inferenz in (14) noch die Zweck-Mittel-Relation in (15) noch die Inferenz in (16) lassen sich auf die Bedeutung eines Wortes, Satzgliedes oder eines Satzes zurückführen. (Die Beispiele werden in Absatz 4.2.2 und Ab‐ satz 4.2.4 ausführlicher beschrieben. Die kompaktere Beschreibung an dieser Stelle sollte ausreichen, um zu zeigen, dass inferentielle Aktivitäten auf ver‐ schiedenen Ebenen zum Tragen kommen.) Da die Inferenzen, die sich aus (13) bis (16) ergeben, sich nicht auf eine Kon‐ stituente der jeweiligen Sätze verteilen lassen und damit nicht Teil der wörtli‐ chen Bedeutung sind, bedarf es einer alternativen Lösung - einer Lösung, die statt an einer eindimensionalen Konzeption des Impliziten festzuhalten, zwi‐ schen verschiedenen Ebenen inferentieller Beiträge unterscheidet, von denen keine von einer ausgereiften Verstehenssemantik ignoriert werden darf. Anstatt wie Ziem die Unterscheidung zwischen dem Expliziten und Impli‐ ziten vollständig aufzuheben, könnte daher auch ein alternativer Weg gewählt werden, der diesen Fehlschluss erst gar nicht zulässt. Man könnte den Begriff 4.1 Wörter evozieren Frames 61 <?page no="62"?> 118 Vgl. Saussure (2001), S. 77, 80. 119 Vgl. Busse (2012), S. 128. Busse benutzt diese zeichentheoretischen Überlegungen dazu, den Fillmore’schen Begriff des Evozierens als lexikalische Bedeutung zu modellieren und diesen vom Invozieren abzugrenzen. Es wird in seinen Ausführungen an einigen Stellen deutlich, dass das Evozieren dem Expliziten entspricht (vgl. Busse (2012), S. 118-119, 123-131, 206-207, 234, 239, 250). 120 Vgl. Busse (2012), S. 118-119, 123-131, 206-207, 234, 239, 250. 121 Busse (2012), S. 124. des Expliziten so präzisieren, dass man zu einer Bestimmung gelangt, die den Zeichentheoretiker und den kognitionsorientierten Linguisten gleichermaßen zufrieden stellt (beide können ja durchaus in genau einer Person auftreten). Saussure zufolge handelt es sich bei einem Zeichen um eine mentale Größe, die aus Ausdrucksseite und Inhaltsseite besteht und die konventionsgestützt zusammengehalten wird. 118 Die Inhaltsseite wird in kognitiv arbeitenden Teil‐ disziplinen der Linguistik mit Wissensstrukturen gleichgesetzt. Um die psycholinguistische Unterscheidung in Explizites und Inferiertes zu präzisieren, greift Busse auf eine Beschreibung zurück, die stark an die Bestim‐ mung des Zeichens von Saussure erinnert, wobei er einen auf David K. Lewis basierenden Begriff der Konventionalität anwendet. Beim Expliziten handelt es sich um die konventionale Bedeutung eines Zeichens. 119 Da es sich beim Expliziten um eine mentale Größe handelt, da diese im men‐ talen Lexikon des Rezipienten gespeichert ist und da diese beim Textverstehen abgerufen werden muss, muss unter dieser Zeichendefinition das Verstehen von Zeichen und Zeichenketten stets als eine mentale Aktivität begriffen werden. Demnach geht also jede sprachverarbeitende Operation auf mentale Prozesse zurück, von denen ein Teil für den Bereich des Expliziten konstitutiv ist und ein weiterer in den Bereich des Impliziten fällt. 120 Busse spricht daher auch von verschiedene[n] kognitive[n] Modi des Aktivierens von verstehensrelevantem Wissen. 121 Nimmt man zusätzlich an, dass der Bedeutungsaktualisierung die Be‐ stimmung der entsprechenden konventionalen Bedeutung aus einem Pool von mehr oder weniger verwandten Lesarten vorausgeht, so sollten sich damit die bedeutungskonstituierenden Inferenzen auf Wortebene erfassen lassen. Die mentale Operation der Auswahl und Aktivierung der adäquaten Einheit des mentalen Lexikons als bedeutungskonstituierende Inferenzen auf der Wort‐ ebene entspricht dieser Präzisierung nach also dem Expliziten. Darüber hinaus kann es allerdings Inferenzen geben, die nicht ein einzelnes Wort ins Zentrum rücken, die also nicht bei der Konstitution der aktuellen Wortbedeutung involviert sind. Diese translexikalischen Inferenzen ergeben den Bereich des Impliziten und werden im Folgenden beschrieben. 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 62 <?page no="63"?> 122 Vgl. Clark (1977a), S. 414. 123 Vgl. McKoon (1992), S. 441; Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 374. 124 Vgl. Marlsen-Wilson / Levy / Tyler (1982), S. 361; Tyler / Marlen-Wilson (1982), S. 271. 4.2 Notwendige Inferenzen Notwendige Inferenzen dienen dazu, Kohärenz in einem Text herzustellen. Auf der Grundlage von textuellen Signalen werden verschiedene Textelemente re‐ zipientenseitig verbunden. Diese Text verbindenden Inferenzen basieren auf Wissen, das der Leser an den Text heranträgt. 122 Das Wissen kann darüber hinaus während der Rezeption aufgebaut hat. 123 Das Wissen kann sich als weltbezogen erweisen, es kann morphosyntaktische Eigenschaften betreffen und es kann pragmatische Aspekte der Textorganisation und -interpretation beinhalten. Ver‐ bunden werden textuelle Einheiten verschiedenen Umfangs. Zum Teil grenzen diese aneinander, zum Teil liegt Diskursmaterial dazwischen. 4.2.1 Direkte Anaphern Bei dem ersten Typ Text verbindender Inferenzen werden einzelne Diskursre‐ ferenten mit einem referenzidentischen Ausdruck wieder aufgenommen. Der Ausdruck, der den Referenten einführt, wird Bezugsausdruck oder Antezedens genannt. Der wiederaufnehmende Ausdruck wird Anapher genannt, es handelt sich in der Regel um eine definite Nominalphrase. Der mentale Prozess, der Bezugsausdruck und Anapher verbindet, wird in Anlehnung an Clark Bridging genannt. Dazu bieten sich eine Reihe verschiedener Möglichkeiten an. (17) Ein Mann kauft ein Auto. Es ist schön. (17) zeigt das klassische Beispiel der pronominalen Wiederaufnahme. Die Aus‐ drücke ein Mann und ein Auto dienen als potentielle Bezugsausdrücke. Die Be‐ stimmung des Antezedens basiert auf der Numerus-Genus-Kongruenz zwischen dem Bezugsausdruck und Antezedens. So ist ein Auto das Antezedens von es. Wenn mehrere konkurrierende Bezugsausdrücke mit einer pronominalen Anapher hinsichtlich Numerus und Genus kongruent sind, so genügen die mor‐ phosyntaktischen Eigenschaften alleine nicht, um die Relation herzustellen. 124 Dann kommt dem Wissen eine Koreferenz konstituierende Funktion zu. 4.2 Notwendige Inferenzen 63 <?page no="64"?> 125 Vgl. Marlsen-Wilson / Levy / Tyler (1982), S. 361; Tyler / Marlen-Wilson (1982), S. 271. 126 Vgl. Gernsbacher (1991), S. 83-84, 101. 127 Vgl. Oakhill u. a. (1992), S. 261-264, 277. 128 Vgl. Linke / Nussbaumer (2000), S. 308. 129 Vgl. Schwarz (2000), S. 60. (18) Bill took his dog to the vet this morning. He injected him in the shoulder and he should be all right now. In (18) von Marslen-Wilson, Levy und Tyler verfügt der erste Satz über die drei möglichen Antezedenten Bill, his dog und the vet. Der Rezipient liest im An‐ schlusssatz zwei Mal den Ausdruck he, der beim ersten Auftauchen wegen In‐ formationen aus der textuellen Umgebung mit the vet verknüpft wird und beim zweiten Auftauchen wegen einer alternativen Einbettung mit his dog. 125 (19) I think I’ll order a frozen margarita. I just love them. Dass Bezugsausdruck und Anapher morphosyntaktisch nicht kongruent sein müssen, zeigt (19). Der Ausdruck frozen margarita etabliert statt ein spezifisches Einzelexemplars eine allgemeine Entität in der Textwelt. Die Numerus-Abwei‐ chung bewirkt keine Verarbeitungsprobleme bei der Rezeption. 126 Sie wird sogar als natürlicher empfunden als in einer Version, in der das Pronomen ebenfalls im Singular steht, wie eine Studie von Oakhill u. a. zeigt. 127 Neben der pronominalen Wiederaufnahme gibt es eine Reihe weiterer Mög‐ lichkeiten der anaphorischen Wiederaufnahme. (20) Das Gold wurde von einem Drachen bewacht. Der Lindwurm tötete jeden, der sich näherte. (21) Um die Ecke kam ein Auto. Das Fahrzeug prallte auf den Passanten. In (20) wird der Antezedensausdruck ein Drachen durch das Synonym der Lind‐ wurm wieder aufgenommen. In der Literatur finden sich auch die Möglichkeit, dass diskontinuierliche Ausdruckspaare als Antezedens oder Anapher dienen wie etwa Polizist und Hüter der Ordnung. 128 Zum Teil können die Ausdrücke auch morphosyntaktisch divergieren. So könnte eine durch den Ausdruck ein Fern‐ seher in die Diskurswelt eingeführte Entität im Folgesatz wieder aufgenommen werden durch ein im Genus nicht übereinstimmendes Wort wie Flimmerkiste. 129 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 64 <?page no="65"?> 130 Vgl. Brinker (2010), S. 29-30. 131 Vgl. Garrod / Sanford (1977), S. 78-81. 132 Vgl. Linke / Nussbaumer / Portmann (2004), S. 246. 133 Vgl. Conte (1986), S. 5. 134 Vgl. Weinrich (2007), S. 410-412. In (21) wird der Antezedensausdruck ein Auto durch das Hyperonym das Fahr‐ zeug wieder aufgenommen. 130 Garrod und Sanford zeigen, dass es sich um An‐ tezedenten handeln muss, die als prototypische Vertreter des wiederaufnehm‐ enden Oberbegriffs gelten. So kommt es zu einer langsameren Zuordnung zwischen dem Antezendens tank und der Anapher vehicle als zwischen bus und vehicle. 131 (22) Gestern habe ich einen Vogel beim Nestbau beobachtet. Der Vogel war ganz klein. (23) Albert Einstein hielt sich in seiner Jugend für eine Weile in Pavia auf. Der zukünftige Erfinder der Relativitätstheorie machte einmal eine Wanderung bis Genua. In (22) wird die Koreferenzrelation durch einen ausdrucks- und inhaltsseitig identischen Ausdruck wieder aufgenommen, eine Form, die Rekurrenz genannt wird. Außer in wissenschaftlicher Fachliteratur verstößt diese präzisionsmaxi‐ mierende Form der Wiederaufnahme gegen die ästhetische Anforderungen an einen Text. 132 Bei der pragmatischen Substitution in (23) von Conte wird die Re‐ lation zwischen dem Antezedens Albert Einstein und der Anapher der zukünftige Erfinder der Relativitätstheorie auf der Basis von Weltwissen inferentiell etab‐ liert. 133 Bei Anaphern spielt der bestimmte Artikel eine wichtige Rolle. Mit dem wie‐ deraufnehmenden Ausdruck (in (20) der Drachen, in (21) das Fahrzeug, in (22) der Vogel, in (23) der zukünftige Erfinder der Relativitätstheorie) tritt in der Regel der bestimmte Artikel auf, der signalisiert, dass eine Diskursentität bekannt ist (was die Vorerwähntheit im Text mit einschließt). 134 4.2.2 Indirekte Anaphern und kausales Bridging Indirekte Anaphern. Bei den oben beschriebenen Anaphern basieren die Bridging-Inferenzen auf morphosyntaktischen, semantischen und Weltwissens‐ 4.2 Notwendige Inferenzen 65 <?page no="66"?> 135 In ihrer Anzahl, Art und Terminologie variieren diese Rollen von Forscher zu Forscher. Einen einführenden Überblick gibt Saeed (vgl. Saeed (2009), S. 152-169). Auf der Grund‐ lage der einzelnen Rollen ließen sich wahrscheinlich jeweils indirekte Anaphern kon‐ struieren. 136 Vgl. Clark (1977b), S. 251; Clark (1977a), S. 415-416. 137 Beispiel (26) stammt ursprünglich von Schwarz (vgl. Schwarz (2000), S. 100). Hier wird eine abgewandelte Version benutzt, die Schema-geleitete Prozesse zulässt, um Kohärenz zu etablieren. zusammenhängen. Zwischen Bezugsausdruck und Anapher besteht Referenz‐ dentität. In den folgenden Beispielen besteht zwischen beiden keine Koreferenz, wes‐ halb sich in der Literatur auch der Begriff indirekte Anapher findet. Die Inter‐ pretation basiert auf einem einführenden Element aus dem vorangegangenen Text (Bezugsausdruck oder Anker (-Ausdruck)). Als Anker können nominale oder verbale Elemente gelten, genauso wie Sätze, einige Sätze umfassende Passagen und vollständige Absätze. Clark sowie Schwarz bestimmen verschiedene Rela‐ tionen zwischen Bezugsausdruck und indirekter Anapher. Diese werden im Fol‐ genden wiedergegeben und anschließend auf der Grundlage von Ziem in einem holistischen Ansatz unifiziert. (24) The worker swept the floor. The broom was tattered. (25) I looked into the room. The ceiling was very high. (26) Der fünfjährige Buddy wird entführt. Die verzweifelte Mutter Sam erhält eine Lösegeldforderung über 50.000 Dollar. Polizei und FBI ermitteln erfolglos. In (24) wird der Ausdruck the broom auf der Grundlage des Ankerverbs swepts mit dem ersten Satz verknüpft. Die Relation basiert auf der Instrument-Rolle, die Fillmore neben einigen anderen Rollen 1968 in den linguistischen Diskurs eingeführt hat. 135 In (25) dient der nominale Ausdruck the room als Anker, zu dem die indirekte Anapher the ceiling durch eine Bridging-Inferenz in Bezug gesetzt wird. Während mit the ceiling ein im Weltwissen notwendiger Bestand‐ teil eines Raums aufgenommen wird, könnte mit einem Ausdruck wie the windows im Folgesatz auch ein optional mit einem Raum verknüpftes Element aufgenommen. 136 Schwarz zufolge handelt es sich in (25) meronymiebasierte Anaphern. In (26) werden mit dem verbalen Anker entführen eine Reihe von Diskursentitäten indirekt eingeführt, die durch die anaphorischen Ausdrücke Lösegeldforderung, Polizei und FBI aufgenommen werden. 137 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 66 i <?page no="67"?> 138 Vgl. Schwarz (2000), S. 99-113. 139 Ziem (2008), S. 337. 140 Vgl. Singer (2007), S. 347. In Schwarz’ Argumentation basieren indirekte Anaphern einerseits auf se‐ mantischen Rolle, auf Schemata und auf Meronymie-Relationen . 138 Anaphorische Prozesse verlaufen frame-basiert, und zwar maßgeblich über die Akti‐ vierung von Standardwerten. Frames bilden ein Beschreibungsformat, mit dessen Hilfe sich Anaphorisierungen einheitlich explizieren lassen. 139 Da in dieser Arbeit eine holistische Position favorisiert wird, werden diese Fälle in einen Typ wissensbasierter indirekter Anaphern überführt, was durch die Argumentation in dem Zitat von Ziem begründet wird. In den Beispielen (24) bis (26) wurden also jeweils wissensgestützte Default-Füllwerte anaphorisch realisiert, die damit einen kohärenzstiftenden Beitrag leisten. Kausales Bridging. Eine zentrale Rolle in der Inferenzforschung nehmen die kausalen Bridging-Inferenzen ein, bei denen zwei aneinanderliegende Sätze in‐ ferentiell in eine kausale Relation gebracht werden. Kausale Bridging-Infe‐ renzen ergeben sich wie die vorangegangenen indirekten Anaphern aus dem Weltwissen, sie basieren einerseits auf Ursache-Wirkung-Verhältnissen, bei denen kausale Relationen zwischen Ereignissen im Mittelpunkt stehen. Ande‐ rerseits gibt es motivationale und psychologische Zusammenhänge, bei denen Rezipienten ihr Handlungswissen auf Figuren übertragen. Bei dieser Unter‐ scheidung wird Kausalität auf der Ereignisebene von Kausalität auf der Hand‐ lungsebene abgegrenzt. 140 Während bei Anaphern eine Verbindung auf der Basis einzelner Worte hergestellt wird, argumentieren die Autoren beim kausalen Bridging Satz-orientiert. So konstruiert der Rezipient eine kausale Verbindung zwischen einem neu einlaufenden und einem bereits eingeführten Satz. Indem der Rezipient kausale Relationen verschiedener Art zwischen zwei Sätzen kon‐ struiert, kann er diese Sätze inferentiell überbrücken. (27) John fell. What he wanted to do was scare Mary. (28) Max had a black eye. It was Maxine who hit him. Im Folgesatz von (27) handelt es sich um eine rezipientenseitig konstruierte psychische Ursache bzw. um ein Motiv, das die Anknüpfung an den vorherge‐ gangenen Text erlaubt. In (28) inferiert der Rezipient den kausalen Zusammen‐ hang, dass der Schlag zum blauen Auge geführt hat. Der Anschlusssatz wird als 4.2 Notwendige Inferenzen 67 <?page no="68"?> 141 Vgl. Clark (1977b), S. 253. 142 Vgl. Singer / Ferreira (1983), S. 437-438. 143 Vgl. Fincher-Kiefer (1996), S. 226; Singer / Ferreira (1983), S. 438. 144 Vgl. Singer / Ferreira (1983), S. 438. 145 Vgl. Fincher-Kiefer (1996), S. 226. 146 Vgl. Keenan / Baillet / Brown (1984), S. 116-117. Ursache für den im ersten Satz etablierten Sachverhalt interpretiert. 141 Der Re‐ zipient ist also in der Lage, Sätze als Ursachen oder Konsequenz vorangegan‐ gener Textabschnitte zu interpretieren, die sich auf der Ereignis- oder Hand‐ lungsebene ansiedeln. (29) The child stuck the balloon with the pin, the balloon burst. In (29) von Singer und Ferreira wird ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Platzen des Ballons und der Handlung des Kindes inferiert. Das Stechen mit der Nadel dient als Ursache bzw. als kausales Antezedens, der zweite Teilsatz wird als Konsequenz interpretiert. 142 (30) The salesman was sitting in the dining car of a train. The waitress brought a bowl of soup to the table. Suddenly, the train slowed to halt. The salesman jumped up and wiped off his pants. In (30) handelt es sich um einen Fall der kausalen Bridging-Inferenz, der in mehrfacher Hinsicht komplexer ist. a) Während in den vorangegangenen Bei‐ spielen (27) bis (29) zwei ideas über ein kausales Verbindungsglied in eine ko‐ härente Textweltrepräsentation integriert wurden, verlangt das Beispiel (30) eine aufwändigere Inferenzleistung. So beschreibt Fincher-Kiefer das Beispiel in Anlehnung an Singer und Ferreira so, dass der Leser ein zwischengelagertes Ereignis mit verbindendem Charakter konstruiert. Nämlich, dass die Suppe auf den Salesman verschüttet wurde. 143 Dieses Phänomen wird in Singer / Ferreira (1983) das erste Mal beschrieben. 144 Fincher-Kiefer nennt die Konstruktion eines solchen zwischengelagerten Kausalschritts mediating idea. 145 Keenan, Baillet und Brown spricht auch von unterschiedlichen kausalen „Distanzen“ zwischen zwei Diskursentitäten. 146 b) Der Rezipient inferiert, dass sowohl das Aufspringen als auch das Abwischen der Hose kausal auf die verschüttete Suppe zurückzu‐ 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 68 <?page no="69"?> 147 Vgl. Fincher-Kiefer (1996), S. 226; Singer / Ferreira (1983), S. 438. 148 van den Broek / Beker / Oudega (2015), S. 95. 149 Vgl. van den Broek (1990), S. 438-439. 150 Vgl. Wilks (1977), S. 236-239; Graesser u. a. (1980), S. 111. führen sind - also zwei Konsequenzen, die auf eine mediating idea zurück‐ gehen. 147 The text unit of investigation varies between researchers. Most adopt the main clause or sentence […] but the description of inferential processes applies regardless of the unit . 148 c) Der überwiegenden Mehrheit der in diesem Teil vorgestellten Aspekte liegen Beispiele zugrunde, die auf der Satzebene operieren. In (30) erfolgt das kausale Bridging dagegen nicht zwischen zwei Sätzen. Stattdessen wird ein Satz kausal auf eine Textweltmodell bezogen, dem drei Sätze zugrunde liegen. Dass dieser Fall möglich ist, wird durch das Zitat von Broek, Beker und Oudega verbalisiert. Demnach dann die Verarbeitung von sprachlichen Einheiten verschiedener Komplexität von den gleichen mentalen Aktivitäten begleitet werden. 4.2.3 Prädiktive Inferenzen mit kausalem Bruch Zukunftsgerichtete Kausalität beim Textverstehen. In der Literatur der Psycholinguisten und Kognitionswissenschaftler zum Textverstehen werden Inferenzen über zukünftige Ereignisse (englisch predictive inferences, im Fol‐ genden auch prädiktive Inferenzen) beschrieben, die sich ergeben aus Relevan‐ zerwägungen und aus Wissen über mögliche kausale Zusammenhänge, 149 wobei innerhalb der kausalen Zusammenhänge zwischen Kausalität auf Ereignisebene und Handlungsebene unterschieden wird. 150 Folgende Fälle pragmatischer Kausalität werden in der Literatur behandelt. • Der Rezipient unterstellt, dass die Maxime der Relation befolgt wird, was zur Annahme der allgemeinen zukünftigen Relevanz einer Information führt. • Die scheinbare Verletzung der Relevanzmaxime führt zu einer spezifi‐ schen prädiktiven Inferenz, - die sich auf der Ereignisebene ansiedelt oder - auf der motivationalen Ebene (Ziele und Motivationen). Kausalität spielt bei der Textrezeption also auf verschiedenen Ebenen eine wich‐ tige Rolle - auf der Ebene der mentalen Textwelt und auf der Ebene der Text‐ produktion. 4.2 Notwendige Inferenzen 69 <?page no="70"?> 151 Vgl. Grice (1989), S. 27-28. 152 Vgl. van den Broek (1990), S. 432, 439. 153 Vgl. Magliano / Dijkstra / Zwaan (1996), S. 200, 219. Relevanzbefolgung und zukünftige Wichtigkeit: Die Verarbeitung tex‐ tuell explizierter Details. Eine rezipientenseitige Annahme - die unspezifi‐ zierteste - basiert auf den Grice’schen Grundlagen, genauer auf der Maxime der Relevanz, der zufolge bei Textverarbeitung Relevanzüberlegungen einfließen. 151 Broek nennt dies Expectation of Future Relevance. Rezipienten erwarten eine zukünftige Relevanz von bestimmten textuell evozierten Elementen. So werden Details am Anfang eines Kriminalromans als relevant eingestuft. Der Leser er‐ achtet bestimmte im Text genannte Aussagen als möglicherweise relevant für die Geschichte, für den Ausgang der Geschichte oder für die Auflösung der Handlung. 152 Relevanzgestützte prädiktive Inferenzen auf der Ereignisebene. Eine Szene aus dem FI lm Moonraker. (31) Nachdem das antagonistische Element Beißer den Protagonisten James Bond aus einem Flugzeug geworfen hat, stürzt sich dieser dem englischen Topagenten hinterher. James Bond organisiert sich im freien Fall einen Fallschirm und zieht die Reißleine. Beißer zieht eben‐ falls seine Reißleine - die sich ausgerechnet in diesem Augenblick ablöst. Beißers Fallschirm bleibt geschlossen, er stürzt dem Boden entgegen. In das Filmmaterial der auf den Boden zurasenden Figur wird ein Zirkuszelt mit einigen Innenszenen hineingeschnitten. Abwechselnd erscheinen der unge‐ bremst stürzende Beißer und die Zirkusaufnahmen auf der Leinwand. Der Analyse von Magliano, Dijkstra und Zwaan zufolge stellt der Rezipient die prädiktive Inferenz her, dass Beißer auf das Zelt fallen und überleben wird. Diese basiert auf einer Anomalie, d. h. auf dem Einspielen der Aufnahmen rund um den Zirkus, was in keiner unmittelbaren Relation zum Vorhergegangenen steht. Die prädiktive Inferenz erlaubt es, das Gezeigte in ein kohärentes mentales Modell zu integrieren. Ohne die rezipientenseitig hergestellte Inferenz würde das Einspielen des Zirkuszeltes und der damit verbundenen Aufnahmen sich nicht in einen kohärenten Zusammenhang einbetten lassen. 153 Psychische Kausalität bzw. motivationale prädiktive Inferenzen bei kausalem Bruch auf lokaler Ebene. Rezipienten stellen motivationale prä‐ 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 70 <?page no="71"?> 154 Murray / Klin / Myers (1993), S. 473. 155 Vgl. Schank / Abelson (1977a), passim. 156 Vgl. Klin u. a. (1999), S. 244, 257. 157 Vgl. McKoon (1992), S. 441; van den Broek (1990), S. 434-435. 158 Murray / Klin / Myers (1993), S. 471. diktive Inferenzen her, wenn ein Text kausale Brüche aufweist, provided the targeted inference is an action or event that is readily predictable from the text or the reader’s general knowledge base. 154 Diese basieren auf planbezogenem Wissen, wie es von Schank und Abelson in den linguistischen Diskurs eingeführt wird. 155 Der Rezipient konstruiert mental ein Handlungsziel, das es erlaubt, einen Relevanzbruch im Grice’schen Sinne zu überbrücken und dadurch einen Satz einerseits kausal einzubetten und andererseits dem Text Kohärenz zu ver‐ leihen. 156 Kausale Brüche führen nach Broek sowie McKoon und Ratcliff zu Auf‐ löseversuchen, die sich aus dem Vortext oder aus dem Weltwissen nähren. 157 Nach Murray, Klin und Myers können kausale Brüche zu Vorwärtsinferenzen führen, depending upon whether the cause of the focal event is to be found in something that has already taken place in the text, or in some future action or event that is highly predictable given the text and the reader’s general knowledge. 158 (32) Willa was hungry. She took out the Michelin Guide. (33) The angry waitress was totally fed up with all of the hassles of her job. When a rude customer criticized her, she lifted a plate of spaghetti above his head. (34) Brad was wandering through a department store, looking for a pre‐ sent for his wife’s birthday. He wanted to find something special for her but he had been laid off from his job three month ago and he couldn’t afford to buy anything nice. In the jewelry department, he saw a beautiful ruby ring sitting in a display on the counter. He looked around to make sure no salespeople were watching. His wife would be thrilled by the ring but there was no way he could pay it. He had to have it. Seeing no salespeople or customers around, he quietly made his way closer to the counter. (32) von Schank und Abelson lässt die planbasierte Inferenz zu, dass die im Fol‐ gesatz beschriebene Handlung dazu dient, ein gehobeneres Restaurant zu 4.2 Notwendige Inferenzen 71 <?page no="72"?> 159 Vgl. Schank / Abelson (1977a), S. 429-430. 160 Vgl. Murray / Klin / Myers (1993), S. 465, 469-470. 161 Vgl. Klin u. a. (1999), S. 245, 257. 162 Vgl. Klin u. a. (1999), S. 244. finden. Ohne diese inferentielle Verknüpfung würden die beiden Sätze dieses Textsegmentes keine sinnvolle Einheit ergeben. 159 Während solche Analysen bei Schank und Abelson mit dem Ziel verbunden waren, textverstehende Computer zu programmieren, wurden solche Beispiele in psycholinguistischen Studien experimentell untersucht, um die Aktivitäten von Rezipienten bei der Verarbei‐ tung von Texten näher zu bestimmen. In (33) stellt der Rezipient die motivationale prädiktive Inferenz her, dass die Kellnerin beabsichtigt, dem Mann die Mahlzeit über den Kopf zu schütten. Das ergab eine experimentelle Studie, in der Versuchspersonen das Wort DUMP laut aussprechen sollten, nachdem sie entweder (33) gelesen haben oder eine Kon‐ trollversion vorgelegt bekamen, bei der die Inferenz nicht hergestellt werden muss, um Kohärenz zu erlangen. Der erste Fall benötigte eine kürzere Zeit. Würde der Rezipient die Handlung des Teller-über-den-Kopf-Hebens nicht zu dieser aus dem Weltwissen hergestellten motivationalen prädiktiven Inferenz in Relation setzen, so gäbe es einen kausalen Bruch, die Handlung besäße keine kausale bzw. motivationale Relevanz. 160 In (34) ist der Fall ähnlich gelagert. Der Rezipient konstruiert auf der Grund‐ lage seines Weltwissens die motivationale prädiktive Inferenz, dass Brad den Ring stehlen möchte. Ohne diese Inferenz würde sich der auslösende Satz He quietly made his way closer to the counter (auch predictive sentence genannt) motivational nicht in eine kohärente Textweltrepräsentation integrieren lassen. 161 Motivationale prädiktive Inferenzen nehmen eine Zwischenposition ein zwi‐ schen einer rein vergangenheits- und einer rein zukunftsbezogenen Inferenz. Einerseits gibt es eine motivationale Ursache andererseits eine Konsequenz, die als Einheit in der motivationalen prädiktiven Inferenz aufgehen. In (34) handelt es sich bei der vorausgesagten Handlung des Ringstehlens zugleich um einen (möglichen) Ausgang und um eine Motivation bzw. einen psychischen Grund. 162 Einmal hergestellte motivationale prädiktive Inferenzen gehen nicht ver‐ loren, sie werden aufgenommen in das mentale Textweltmodell. Das ergaben experimentelle Studien, in denen Rezipienten erst nach einer zeitlichen Verzö‐ gerung zu einem Text befragt wurden. Häufig vermischten sie dabei explizit Geäußertes und Inferiertes, sie konnten diese Aspekte rückblickend nicht un‐ terscheiden. Zusätzlich wurden Sätze im Nachtext eingefügt, die der motivati‐ 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 72 <?page no="73"?> 163 Vgl. Klin u. a. (1999), S. 251, 254-256. 164 Vgl. Magliano / Dijkstra / Zwaan (1996), S. 200, 219; Klin u. a. (1999), S. 244, 257. 165 Der gesamte beschriebene Handlungskomplex wird wiederum auf der Ebene des Text‐ produzenten bewertet, d. h. wenn eine Figur und ihre Handlungen nicht die Möglichkeit besitzen, für die Textwelt relevant zu sein, so wird diese Irrelevanz dem Autor zuge‐ schrieben. 166 Literaturwissenschaftler werden einwenden, dass jede Informationsvergabe in einem Roman oder Film letztendlich auf einen extradiegetischen Erzähler zurückgeht und dass der undifferenzierte Begriff Textproduzent, wie er hier gebraucht wird, deshalb als zu unreflektiert zurückzuweisen ist. Von einem literaturwissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen, mag das korrekt sein. In dieser Arbeiten geht es allerdings nicht um einen philologischen Zugang. Im Zentrum stehen die leserseitigen Aktivitäten und das Wissen, das dem Leser zur Verfügung steht. Einem Großteil der Rezipienten sollten solche komplexen Subtilitäten nicht präsent sein. Hinzu kommt, dass mit einem vari‐ antenreichen Spektrum an Textsorten gearbeitet wird, die aus literaturwissenschaftli‐ cher Sicht hinsichtlich der textproduzierenden Instanz variieren. Besitzen Romane, Ge‐ dichte, journalistische Texte, Dramen, dokumentarische Filme die gleiche Art von Textproduzenten? onalen prädiktiven Inferenz kontradiktorisch gegenüber standen. Dies führte zu Verzögerungen bei der Lesezeit, was als Indikator für die Integration in die Textwelt interpretiert wird. Wäre die motivationale prädiktive Inferenz nicht in die mentale Repräsentation eingegangen, so hätten die Versuchsteilnehmer die inkonsistenten Sätze gelesen, ohne dass sich der Lesefluss verlangsamt. 163 Textweltrelevanz versus Textproduktionsrelevanz. Die beiden vorange‐ gangenen Abschnitte haben gezeigt, dass Relevanzbrüche den Rezipienten dazu veranlassen, prädiktive Inferenzen auf der Handlungs- und auf der Ereignis‐ ebene herzustellen. Beide Typen werden in die mentale Textwelt integriert und dienen dazu, die Repräsentation vor Kohärenzbrüchen zu schützen. Auf der Ereignisebene haben dies Magliano, Dijkstra und Zwaan nachgewiesen, auf der Ebene der motivationalen Kausalität haben dies Klin u. a. gezeigt. 164 Schaut man sich die relevanzgestützten prädiktiven Inferenzen an, so stellt man einen Unterschied zwischen den ereignis- und handlungsbezogenen fest. Bei motivationalen prädiktiven Inferenzen liegt der Bruch auf der Handlungs‐ ebene. Ohne die erklärende inferierte Motivation ließe sich die Handlung einer Figur nicht sinnvoll einbetten. Den Bruch mit Relevanzerwägungen würde der Rezipient der Figur zuschreiben. Er würde keinen Sinn in der Handlung der Figur finden. 165 Anders verhält es sich im Fall der prädiktiven Inferenzen auf Ereig‐ nisebene. Obwohl dieser Typ sich auf das mentale Textweltmodell bezieht, liegt der Bruch auf der Ebene der Textproduktion. Erweist sich eine anomale Infor‐ mation im weiteren Verlauf eines Textes als irrelevant, so würde dies der Ebene des Textproduzenten zugeschrieben werden. 166 Würde zwischen dem Zirkuszelt 4.2 Notwendige Inferenzen 73 <?page no="74"?> 167 Vgl. Magliano / Dijkstra / Zwaan (1996), S. 119. 168 Vgl. Long / Golding (1993), S. 56. und dem fallenden Beißer in (31) zunächst durch Montage hin- und hergewech‐ selt werden und dann fällt er auf irgendein Waldstück und stirbt, so würde der Rezipient die Kompetenz des Textproduzenten anzweifeln. In einem Monty Py‐ thon Film könnte man sich eine solche irrelevante Information als humoristi‐ sches Element vorstellen - nicht aber in einem Film, der den Anschein zu er‐ wecken versucht, die Kausalität zumindest in ihren Grundzügen zu respektieren, auch wenn die Gesetze der Gravitation nicht immer ganz penibel beachtet werden. Als Unterscheidungskriterium gilt also der Relevanzbereich. Je nachdem, ob es sich um Relevanz auf der Ebene der Textwelt oder auf der Ebene der Text‐ produktion (in der Literaturwissenschaft auch Narration genannt) handelt, stellt sich der Leser unterschiedliche Fragen. Anomalien auf der Handlungsebene, die durch motivationale prädiktive Inferenzen überbrückt werden, basieren auf der Frage, warum eine Figur etwas tut bzw. warum eine Figur so handelt, wie im Text beschrieben. Sie führen nicht zu der Frage, welche Rolle die gegebene In‐ formation spielen bzw. warum der Autor diese Informationen im Text bereit‐ stellt, was bei relevanzbasierten prädiktiven Inferenzen auf der Ereignisebene der Fall ist. Damit ist auch die von Magliano, Dijkstra und Zwaan postulierte Charakte‐ risierung zu relativieren, die besagt, dass Anomalien (bzw. Relevanzbrüche) auf Erzählebene und Handlungsebene zu der pragmatischen Frage führen, warum ein Autor etwas schreibt, wobei es sich bei der beantwortenden Inferenz im einen Fall um eine motivationale prädiktive Inferenz und im zweiten Fall um eine ereignisbezogene prädiktive Inferenz handelt. 167 Die Frage danach, warum der Autor etwas schreibt, gilt also nur im Fall einer prädiktiven Inferenz auf Ereignisebene. Er gilt nicht für beide Fälle, so wie die Autoren es proklamieren. 4.2.4 Globale psychische Kausalität: Ziele und Handlungen Hintergrundwissen über Ziele. Ein Ziel ist etwas, das eine Figur durch eine Handlung zu erreichen versucht, wobei der Rezipient dabei Intentionalität un‐ terstellt. Sollte das Ziel erst erreicht werden können, wenn zuvor andere Schritte vollzogen wurden, so handelt es sich bei dem finalen Ziel um ein übergeordnetes Ziel, bei den vorausgehenden Zielen handelt es sich um untergeordnete Ziele. 168 Mehrere Handlungen, die auf das Erreichen eines Ziels abzielen, nennen Schank und Abelson Plan. Um zum Beispiel ein Haus zu kaufen, bedarf es verschiedener 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 74 <?page no="75"?> 169 Vgl. Schank / Abelson (1977b), S. 102; Schank / Abelson (1977a), S. 428. 170 Vgl. Long / Golding (1993), S. 56; Lodge (1992), S. 635. 171 Vgl. Schank / Abelson (1977b), S. 104. 172 Vgl. Schank / Abelson (1977b), S. 103-104, 107. standardisierter Teilschritte. Der Interessent sucht sich einen Makler, wählt die passende Immobilie aus und nimmt eine Hypothek auf. 169 Auf diese Weise lässt sich bei mehreren in Abhängigkeit stehenden Zielen eine Zielhierarchie aus‐ machen. Ob ein Ziel als über- oder untergeordnet einzustufen ist, hängt von seiner Position in der Zielhierarchie ab. Es ist also eine relationale Bestimmung, die erlaubt, dass auch untergeordnete Ziele einen übergeordneten Status be‐ sitzen können, wenn dem Erreichen eine Reihe weiterer untergeordneter Ziele vorausgehen. 170 Nicht alle Ziele können oder müssen zwangsläufig erreicht werden. Schank und Abelson zufolge können Ziele auch kurz- oder langfristig auf Eis gelegt werden, sie können vollständig fallen gelassen werden und Ver‐ suche, sie zu erreichen, können scheitern. Im letzten Fall können sie durch al‐ ternative Ziele abgelöst werden. 171 Daneben unterscheiden Schank und Abelson zwischen verschiedenen Abstraktionsgraden von Zielen. Sie grenzen konkrete Ziele wie den Wunsch, einen bestimmten Gegenstand zu besitzen, von ab‐ strakten Zielen ab wie dem Wunsch, sich einen unterhaltsamen Abend zu ma‐ chen. Abstrakte Ziele können spezifiert werden durch konkretere Ziele. Im Falle der Abendplanung könnte es sich dabei zum Beispiel um einen Besuch im The‐ ater oder um den Besuch eines Konzertes handeln. 172 Bei der Textrezeption kommt dieses ziel- und handlungsbezogene Wissen auf verschiedene Weisen zum Tragen. Zielinstantiierung. (35) The Czar and His Daughters a. Once there was a Czar b. who had three lovely daughters. c. One day the three daughters went walking in the woods. d. There were enjoying themselves so much that e. they forgot the time and f. stayed too long. g. A dragon kidnapped the three daughters. h. As they were being dragged off, i. the daughters cried. j. Three heroes heard the cries and 4.2 Notwendige Inferenzen 75 <?page no="76"?> 173 Vgl. Schmidt / Sridharan / Goodson (1978), S. 46, 50-51; Schank / Abelson (1977b), S. 102-104. 174 Vgl. Long / Golding (1993), S. 56; Lodge (1992), S. 635. k. set off to rescue the daughters. l. The heroes came and m. fought the dragon and n. rescued the maidens. o. When the Czar heard of the rescue, p. he rewarded the heroes. Der Rezipient konstruiert übergeordnete Ziele, wenn Handlungen im Text be‐ schrieben werden. 173 Wenn der Leser (35g) liest, konstruiert er auf der Grundlage seines Wissens ein Bestreben des Drachen - nämlich, dass dieser beabsichtigt, die Töchter zu verspeisen. 174 Dass das rezipientenseitige Hintergrundwissen über Pläne und deren Realisierung es auch erlaubt, komplexere Texte zu verar‐ beiten, zeigt das folgende Beispiel. (36) a. Professor Stifle came to town to buy a house. b. He hoped to find an old Colonial in North Parch for under $ 60,000. He asked around for a good real estate agent, and was referred to Hustle, Inc. Mr. Hustle told him that nothing in North Parch was available for under $ 75,000 so Stifle asked him to look in South Parch. Meanwhile, one of the professor’s new colleagues mentioned a good buy available in Scrimpover. Stifle liked it, but before he had a chance to check the mortgage possibilities, c. he received an urgent call that his mother was seriously ill, and he had to leave town. d. When he returned, the Scrimpover house had been sold. Stifle de‐ cided to live in an apartment in the center of town. He sent for his housekeeper and his dog. Im Text (36) von Schank und Abelson inferiert der Leser auf der Basis von (36a) wissensbasiert das abstraktere Ziel, dass Professor Stifle sich in der Stadt nie‐ derlassen möchte. In (36b) wird das Ziel näher bestimmt (Goal Specification), der Professor sucht ein Haus im Kolonialstil, in einer bestimmten Lage und in einem bestimmten Preissegment. Da diese Faktoren sich nicht gleichzeitig realisieren lassen, muss er seine Ansprüche herunterschrauben und ein alternatives Ziel 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 76 <?page no="77"?> 175 Vgl. Schank / Abelson (1977b), S. 102-104. 176 Vgl. Trabasso / van den Broek / Suh (1989), S. 5. 177 Vgl. Schank / Abelson (1977a), S. 428-430; Suh / Trabasso (1993), S. 281-282; Gra‐ esser / Singer / Trabasso (1994), S. 381. 178 Vgl. Schank / Abelson (1977a), S. 428-430. 179 Vgl. Schank/ Abelson (b), S. . definieren (es findet eine Goal Substitution durch eine angepasste Goal Specifi‐ cation statt). So lässt er nach und nach seine Auswahlkriterien fallen, bis er am Ende in eine Wohnung in der Stadtmitte zieht, wie es in (36d) beschrieben wird. Seine Anfragen, seine abschließende Entscheidung und die damit verbundene Abweichung vom ursprünglichen Ziel ließen sich nicht in ein kohärentes Text‐ weltmodell einbetten, ohne dass der Rezipient das abstraktere Ziel des Nieder‐ lassens inferiert und ohne dass er die Zwischenschritte als Spezifizierungen und Substitutierungen erkennt und auf das abstraktere Ziel bezieht. Auch, dass er beim zwischengelagerten Anruf in (36c) die Suche nach einem passenden Haus vorläufig auf Eis legt (Goal Suspension), lässt sich nur erklären, wenn der Rezi‐ pient inferiert, dass Stifle das Ziel hat, die Mutter zu unterstützen und diesem eine höhere Priorität einräumt als dem zuvor verfolgten Ziel. 175 Mentale Verknüpfung von Zielen und Handlungen. Ein konkretes Ziel kann explizit eingeführt werden durch Ausdrücke wie in order to, wanted to oder decided to, durch eine Infinitivkonstruktion wie to win oder durch Präpositio‐ nalphrasen wie for food, die einen finalen Charakter besitzen. 176 Beschriebene Handlungen aus Folgesätzen werden mit diesem zuvor eingeführten Ziel ver‐ knüpft und als Versuche interpretiert, das Ziel zu erreichen. 177 Dieser mentale Prozess basiert Schank und Abelson zufolge auf Wissen über Handlungspläne und -abläufe - vorausgesetzt, dass sich eine Handlung und ein (Teil-) Ziel dem Planwissen entsprechend als adäquat erweisen. 178 (37) a. John wanted to become king. b. He went to get some arsenic. In (37) von Schank und Abelson werden die Sätze (37a) und (37b) in eine Bezie‐ hung gesetzt. Die Handlung in (37b) wird interpretiert als Mittel, dass zuvor textuell in (37a) mit wanted to etablierte Ziel zu erreichen. Dazu muss der Rezi‐ pient unter anderem auf sein Wissen zurückgreifen, dass es in der Regel genau einen König gibt und dass erst im Todesfall ein neuer gekrönt wird. 179 Wenn der 4.2 Notwendige Inferenzen 77 <?page no="78"?> 180 Vgl. Schank / Abelson (1977a), S. 428. 181 Vgl. Schank / Abelson (1977b), S. 157. 182 Vgl. Trabasso / Suh (1993), S. 4-5. Rezipient die in (37b) beschriebene Handlung nicht auf ein Ziel bezogen inter‐ pretiert, würde das Satzpaar (37) keine sinnvolle Einheit bilden. 180 (38) John wanted Mary’s book. He asked her for it and she refused. He said he would hit her if she did’t [sic! ] give it to him. She still said no. Finally he hit her in the head and took the book. In (38) von Schank und Abelson wird im ersten Satz das konkrete Ziel von John formuliert. Die anschließenden Sätze beschreiben verschiedene Versuche, dieses zu realisieren. Während die ersten Versuche scheitern, kann er durch eine ge‐ walttätige Aneignung letztendlich sein Ziel durchsetzen. Dass es sich bei den anschließenden Sätzen um Versuche handelt, sein Ziel zu erreichen, ist ein in‐ ferentieller Beitrag des Rezipienten, der darauf abzielt, die Sätze in ein kohä‐ rentes Textweltmodell zu überführen. Im Unterschied zu (36) dient in (38) ein konkretes Ziel als globaler inferentieller Bezugspunkt. 181 Trabasso und Suh zeigen in einer experimentellen Studie, dass ein Text unterschiedlich verarbeitet wird, je nachdem, ob ein Ziel erreicht ist oder ob bisherige Versuche gescheitert sind. (39) a. Betty wanted to give her mother a present. b. She went to the department store. c. i. She found out that everything was too expensive. ii. She bought her mother a purse. d. Betty decided to knot a sweater. (39) von Trabasso und Suh zeigt, dass der Satz (39d) nur im Kontext (39c-i) auf das in (39a) formulierte Ziel bezogen wird. Im alternativen Kontext (39c-ii) ist dies nicht der Fall, da das Ziel bereits erfüllt ist. Es handelt sich bei der textver‐ bindenden Variante um eine globale Inferenz, die es erlaubt, Sätze zu ver‐ knüpfen, die durch zwischenliegendes Diskursmaterial getrennt sind. 182 Die Verarbeitung von gescheiterten Versuchen und Zielhierarchien. (40) a. Once there was a boy named Jimmy. 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 78 <?page no="79"?> 183 Vgl. Suh / Trabasso (1993), S. 281-282. 184 Vgl. Suh / Trabasso (1993), S. 281-282. 185 Vgl. Suh / Trabasso (1993), S. 282. b. One day, Jimmy saw his friend, Tom, riding a new bike. c. Jimmy wanted to have a new bike. d. He spoke to his mother. e. i. His mother bought him a bike. [Sequential Version] ii. His mother refused to get a bike for him. [Hierarchichal Ver‐ sion] f. Jimmy was very sad. g. His mother told him that he should have his own savings. h. Jimmy wanted to earn some money. i. He asked for a job at a grocery store. j. He made deliveries for the grocery store. k. He earned a lot of money. l. He went to a department store. m. He walked to the second floor. n. i. He bought a new basketball. [Sequential Version] ii. He bought a new bike. [Hierarchichal Version] Text (40) von Suh und Trabasso diente als Grundlage für ein psycholinguisti‐ sches Experiment an zwei Versuchsgruppen. Die erste Gruppe erhält eine Ver‐ sion, die bei den Sätzen (40e) und (40n) jeweils die i-Version beinhaltet. Die zweite Gruppe erhält eine Version, die ausschließlich die Sätze der ii-Version beinhalten. In den Fällen, in denen Versuchspersonen mit (40e-i) konfrontiert wurden, wurden die Sätze des Folgetexts nicht zu (40c) in Relation gesetzt, weil das in (40c) explizit eingeführte Ziel bereits erfüllt ist, dieser Fall repliziert (39). 183 Die Versuchspersonen, die mit der Version (40e-ii) und (40n-ii) konfrontiert wurden, haben die in den Anschlusssätzen formulierten Handlungen an das in (40h) explizit geäußerte Subziel und letztendlich an das übergeordnete Ziel aus (40c) geknüpft, was ihr Wissen über Ziele und Handlungen ermöglichte. 184 Suh und Trabasso leiten generalisierend daraus ab, dass Folgehandlungen als weitere Versuche interpretiert werden, das Ziel zu erreichen, wenn die im Text beschriebene Handlung nicht zum gewünschten Ergebnis führt wie in (40e-ii) (failed outcome). Dieser Interpretationsprozess setzt sich so lange fort, bis das finale Ziel erreicht ist. 185 4.2 Notwendige Inferenzen 79 <?page no="80"?> 186 Vgl. Suh / Trabasso (1993), S. 281-282. 187 Vgl. Suh / Trabasso (1993), S. 281-282, 295. 188 Vgl. Suh / Trabasso (1993), S. 281-282. 189 Vgl. Dopkins (1996), S. 96. Bei übergeordneten Zielen, die durch das Erreichen untergeordneter, dem Rezipienten bekannter Ziele realisiert werden, werden Ziele und Figurenhand‐ lungen hinsichtlich der jeweiligen Hierarchiestufe interpretatorisch verarbeitet. So werden bei mehreren Subzielen die Handlungen als Versuche gewertet, das jeweilige Subziel zu erreichen. Zum Beispiel hatte Jimmy das Ziel, Geld zu ver‐ dienen, wie es (40h) beschreibt. Dazu haben Versuchspersonen die in (40i) be‐ schriebene Jobsuche und das in (40j) beschriebene Ausliefern unspezifizierter Waren in Bezug gesetzt. Sobald die Subziele auf einer Ebene erreicht werden (zum Beispiel, als er viel Geld verdient hatte, wie es (40k) darstellt), werden die Folgehandlungen nicht mehr in Bezug auf diese interpretiert, sondern hinsicht‐ lich der nächst höheren Zielebene. Ziele dienen also auf allen Ebenen als infe‐ rentieller Bezugspunkt. 186 Wichtig ist, dass es sich bei diesen verknüpfenden Inferenzen um globale Prozesse handelt. Sie verbinden kognitive Einheiten, zwischen denen mehrere Sätze liegen. Diese globalen Inferenzen werden hergestellt, sobald ein Subziel eingeführt wird (zwischen (40c) und (40h) liegen vier Sätze) und sobald ein Sub‐ ziel erfüllt ist. Im zweiten Fall überspannt die Inferenz eine größere Menge an Sätzen (zwischen (40c) und (40l) liegen acht Sätze) und verknüpft damit neu beschriebene Handlungen mit dem initialen Ziel. Sich daran anschließende Handlungen werden als Versuch interpretiert, das nächste Subziel zu erreichen - oder falls kein weiteres Subziel vorhanden ist, werden sie auf das höher liegende Ziel bezogen, hier das Hauptziel des Fahrrad-Besitzens (40c). Sobald das Haupt‐ ziel erreicht ist, werden Folgeaktionen nicht mehr in Relation dazu gesetzt. 187 Superordinierte Zielinferenzen unterstützen die Kohärenz eines Textes auf der globalen Ebene, da sie Abschnitte mit verschiedener, zum Teil umfangrei‐ cherer textueller Extension verbinden. Zugleich leistet der Rezipient eine aktive Verknüpfung von Informationen, die aus weit verstreuten bzw. nicht aneinander angrenzenden Sätzen stammen. Dadurch stellt er Kohärenz auf einer globaleren Ebene her - ein konstruktiver Akt, den Suh und Trabasso als fundamental beim Verstehen von Texten ansehen und daran ein alternatives Textverstehensmodell knüpfen. 188 (Siehe auch den Abschnitt 5.3.). Nach Dopkins werden superordinierte Zielinferenzen in der Form Er hat x gemacht, um y zu erreichen in die mentale Repräsentation integriert. 189 Wenn 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 80 <?page no="81"?> 190 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 388. Zwischen superordinierten Zielinfe‐ renzen und motivationalen prädiktiven Inferenzen besteht ein Unterschied. Bei super‐ ordinierten Zielinferenzen kennt der Rezipient das Ziel aus dem Text (auch wenn er es re-instantiieren muss, weil inzwischen andere Diskurselemente in den Fokus geraten sind), bei motivationalen prädiktiven Inferenzen konstruiert der Leser das Ziel aktiv aus seinem Weltwissen. Superordinierte Zielinferenzen unterstützen die globale Kohä‐ renz, motivationale prädiktive Inferenzen siedeln sich auf der lokalen Ebene an. In beiden Fällen würden Textsegmente ohne das Ziel nicht kohärenzbewahrend in ein Textweltmodell integriert werden können. 191 Vgl. Richards / Singer (2001), S. 111, 120, 128; Singer / Richards (2005), S. 189. superordinierte Ziele aus dem Fokus geraten, können sie anschließend reinstantiiert werden, was sich positiv auf die Kohärenz eines Textes auswirkt. 190 Komplexe Ziele. Unter dem Stichwort komplexe Ziele (bzw. englisch complex goals) behandeln Richards und Singer sowie Singer und Richards eine Variante von Zielhierarchien. Statt einer Figur mit einem Hauptziel und dahin führenden Teilschritten wie in der Jimmy Story in (40) müssen zwei Figuren jeweils selbst‐ ständig einen untergeordneten Teilschritt erfolgreich durchführen, bevor sie ein gemeinsames Ziel erreichen können. Auch in diesem Fall zusammenspielender Teilschritte konnte gezeigt werden, dass Rezipienten globale Inferenzen her‐ stellen. 191 (41) Common goal: They [Greg and Pam] decided to get together at McDo‐ nald’s at 12: 30. Subgoal 1: To make it on time he had to catch the noon bus. a. He jumped onto the bus. (succeed) b. The bus door slammed in his face as it was pulling away. (fail) Subgoal 2: At 11: 00 a. m., Pam’s boss asked her to type his year-end report for him. She was worried that she could not finish it before lunch. Surprisingly, she completed it just before lunch. Pam handed in her report and left the office. Target: At 12: 30, Pam entered McDonald’s. In (41) von Richards und Singer (und bei Singer und Richards wiederverwendet) möchten sich zwei Figuren um 12.30 Uhr bei McDonalds treffen, was unter dem Punkt Common goal explizit etabliert wird. Dazu muss eine Figur einen Bus um eine bestimmte Zeit nehmen. Dieser unter Subgoal 1 beschriebene Teilschritt kommt in der erfolgreichen Variante (41a) und in alternativen, gescheiterten 4.2 Notwendige Inferenzen 81 <?page no="82"?> 192 Vgl. Richards / Singer (2001), S. 116; Singer / Richards (2005), S. 192. 193 Vgl. Richards / Singer (2001), S. 119-120, 126-128; Singer / Richards (2005), S. 191, 194-201. 194 Vgl. McKoon (1992), S. 442. 195 Vgl. Barclay / Bransford / Franks / McCarrel / Nitsch (1974), S. 471-474. Variante (41b) vor. Anschließend wird unter Subgoal 2 der Teilschritt der zweiten Figur beschrieben. Sie muss rechtzeitig einen Jahresabschlussbericht für ihren Boss verfassen, andernfalls kann sie das Büro nicht verlassen. Dieser Versuch wird ausschließlich in einer erfolgreichen Variante beschrieben. 192 Beim Target-Satz, in dem die Frau das Schnellrestaurant betritt und damit den ihr möglichen Teil des Ziels erfüllt, wurde die Lesezeit gemessen und die Reak‐ tionsgeschwindigkeit auf Stichwörter getestet. Anhand der Ergebnisse konnten Richards und Singer sowie Singer und Richards zeigen, dass Rezipienten solche komplexen Zielkonstellationen nachvollziehen können, bei denen zwischen dem gemeinsamen übergeordneten Ziel und selbstständigen Teilzielen ein glo‐ baler Zusammenhang hergestellt werden muss. 193 4.3 Elaborative Inferenzen 4.3.1 Elaboration von Eigenschaften, Instrumenten und die Spezifizierung genereller Ausdrücke Im Vergleich zu kohärenzstiftenden Inferenzen handelt es sich bei elaborativen Inferenzen um kognitive Anreicherungen, die die Textwelt ausbauen, ohne einen Beitrag zur Kohärenz zu leisten. 194 (42) a. The man liftet the piano. b. The man tuned the piano. In (42) werden verschiedene relevante Eigenschaften kontextabhängig elabo‐ riert - je nachdem, wie sie eingelagert sind. Das legt eine Erinnerungsstudie von Barclay u. a. nahe, in der sich die Teilnehmer auf der Basis von Stichwörtern an bestimmte Ausdrücke erinnern sollten. Der Versuch ergab, dass der Stimulus something heavy in (42a) eine bessere Reproduktionshilfe für piano darstellt als in (42b). Der umgekehrte Fall trat ein, wenn something with a nice sound als Stimulus fungierte. Keine der beiden Abrufhilfen war explizit im Text genannt. Deshalb hätten die Stimuli einer vom Kontext abstrahierenden Bedeutungsthe‐ orie folgend zu den gleichen Ergebnissen führen müssen. 195 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 82 <?page no="83"?> 196 Vgl. Corbett / Dosher (1978), S. 480. 197 Vgl. Paris / Lindauer (1976), S. 217-221. 198 Vgl. Garrod / Sanford (1982), S. 342-343. Die Frage, ob Instrumentelaborationen tat‐ sächlich während der Rezeption hergestellt werden, können die dazu durchgeführten Experimente nicht mit letzter Sicherheit beantworten. Dieses Problem ist methodisch begründet. Die Inferenzen wurden häufig in postrezeptiven Erinnerungsstudien unter‐ sucht - ein Versuchsdesign, das den Forschern zufolge keinen sicheren Rückschluss darauf zulässt, ob ein Instrument on-line oder off-line hergestellt wurde. Darüber hinaus zeigt ein Experiment von Corbett und Dosher, dass sich von den Reproduktionsergeb‐ nissen nicht auf on-line elaborierten Instrumentinferenzen schließen lässt. Demnach führt ein Satz wie The athlete cut out an article with a razor blade for his friend bei der Abrufhilfe scissors zu gleichen Erinnerungsergebnissen wie für The athlete cut out an article for his friend und The athlete cut out an article with a razor blade for his friend. Das dürfte beim ersten Satz allerdings nicht der Fall sein, weil S C I S S O R S nicht in die mentale Textwelt integriert ist (vgl. Corbett / Dosher (1978), S. 482, 485, 489). Singer führt das Ergebnis darauf zurück, dass Versuchspersonen solcher postrezeptiven Stu‐ dien auf der Basis von Stichwörtern Sätze rekonstruieren statt sie zu erinnern (vgl. Singer (1994), S. 482). Bei einer weiteren Art elaborativer Inferenzen wird die thematische Instru‐ ment-Rolle elaboriert (siehe Absatz 4.2.2), die mit einem Verb verbunden ist. 196 (43) The workman dug a hole into the ground. In (43) diente das Wort shovel als Erinnerungsstütze. Bei der postrezeptiven Konfrontation mit dem Wort konnten Versuchspersonen den Satz abrufen, wes‐ halb dieses textuell nicht explizierte Instrument als Teil der Textweltrepräsen‐ tation angesehen wird. 197 Sanford und Garrod heben hervor, dass diese Instan‐ tiierungen auch auf der Grundlage komplexerer Einheiten hergestellt werden können. Zum Beispiel führt der komplexe Ausdruck clear the snow zur inferen‐ tiellen Konstruktion des Instruments S HOV E L , was clear allein nicht bewirkt hätte. 198 Während in Beispielen wie (43) ein Instrument elaboriert wird, kommt es in folgenden Beispielen zu einer inferenzgestützten Einengung. (44) a. Wir hörten im Garten den Gesang der Vögel. b. Wir bewunderten im Zoo die Vögel. c. Die Vögel kreisten in der Wüste über den Köpfen der Verdurs‐ tenden. (45) The housewife cooked the chips. 4.3 Elaborative Inferenzen 83 <?page no="84"?> 199 Vgl. Anderson u. a. (1976), S. 669-670. 200 Vgl. Schwarz-Friesel (2008), S. 63. 201 Vgl. Anderson / Ortony (1975), S. 167, 172-177; Anderson u. a. (1976), S. 669-670, 673. 202 Vgl. Garnham (1979), S. 208-210. 203 Vgl. Schwarz-Friesel (2008), S. 65; Carston / Hall (2012), S. 70. Kognitionslinguisten wie Schwarz-Friesel rechnen sie den bedeutungskonstituierenden Inferenzen zu, Psycho‐ linguisten wie Singer rechnen diese Spezifizierungen den elaborativen Inferenzen zu, dieser Position wird in dieser Arbeit gefolgt. 204 Vgl. van den Broek (1990), S. 438. (46) Ich habe nichts anzuziehen. Bei der Rezepition kann es zu einer kontextsensitiven Instantiierung genereller Ausdrücke kommen. 199 So werden in (44a) eher die Amsel oder der Fink instan‐ tiiert, in (44b) eher Kolibris, Papageien und andere nicht prototypische Exemp‐ lare, in (44c) eher Aasgeier, wobei in allen Fällen kontextspezifische Faktoren einwirken. 200 In psycholinguistischen Studien von Anderson und Ortony und Anderson u. a. wurden solche Instantiierungen experimentell belegt. Dabei führen spezifischere Ausdrücke, die nicht im Text vorkommen, zu besseren Re‐ produktionsergebnissen als Ausdrücke, die tatsächlich in dem jeweiligen Bei‐ spiel vorkommen. Eine nicht-inferentielle Bedeutungstheorie kommt bei sol‐ chen Ergebnissen an ihre Grenzen. 201 Während in (44) der nominale Ausdruck Vogel einer kontextsensitiven Interpretation unterzogen werden, ist in (45) ein verbaler Ausdruck betroffen und in (46) ein Indefinitpronomen. In (45) wurden die Ausdrücke fried und cooked als Reproduktionshilfe angeboten, wobei der erste und speziellere sich als effizienter erwies. 202 In (46) erfolgt eine rezipien‐ tenseitige Reinterpretation des Ausdrucks nichts, sodass statt einer wortwörtli‐ chen, universal greifenden Bedeutung eine kontextsensitive Konstruktion fa‐ vorisiert wird wie NICHT S DEM A NLA S S / B E DÜR F NI S E NT S P R E CHE ND E S . 203 4.3.2 Prädiktive Inferenzen ohne kausalen Bruch Bei prädiktiven Inferenzen auf der Ereignisebene (auch consequence forward in‐ ference) konstruiert der Rezipient mental zukünftige Ereignisse, die auf die Frage antworten, was als nächstes passieren wird. Dieser Typ prädiktiver Inferenzen basiert auf kausalem Weltwissen und Situationen, die im Text beschrieben werden. 204 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 84 <?page no="85"?> 205 Vgl. Potts / Keenan / Golding (1988), S. 405. 206 Vgl. Murray / Klin / Myers (1993), S. 465-466. 207 Vgl. van den Broek (1990), S. 432, 438-439. (47) Steven had been married for years, and his resentment had been buil‐ ding up. One day, no longer able to control his anger, he threw a delicate porcelain vase against the wall. In (47), was auf einem Beispiel von Potts, Keenan und Golding basiert, 205 inferiert der Leser die kausale Konsequenz, dass die Vase bricht. Diese Inferenz stellt der Rezipient auf der Grundlage seines Weltwissens her, das mit dem letzten Teilsatz interagiert ([Steven] threw a delicate porcelain vase against the wall). Um Kon‐ sequenz-Inferenzen herzustellen, braucht er die anderen kotextuellen Elemente nicht zu beachten. 206 Im Vergleich zu den prädiktiven Inferenzen in (4.2.3) erfolgt die hier vorgestellte Art der zukunftsbezogenen Inferenz ohne einen Kohärenz‐ bruch. Bedingungen für die Herstellung ereignisbezogener prädiktiver Infe‐ renzen. Konsequenz-Inferenzen kommen nur unter bestimmten Umständen zustande. Die Wahrscheinlichkeit ihrer tatsächlichen Konstruktion hängt davon ab, wie stark das Ereignis kausal gestützt ist. Je stärker zukünftige Ereignisse durch den Text suggeriert werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Ereignisse mental konstruiert werden. Sie werden vom Rezipienten kon‐ struiert, wenn das zukünftige Ereignis hinreichend zwingend durch das Wissen erscheint. Ist die mentale Verbindung eher schwach, so kommt es nicht zu dieser Art der Inferenz. Mit steigender Verknüpfungsstärke im Wissen steigt zugleich die Genauigkeit dieser prädiktiven Inferenz. Sie siedelt sich an zwischen den Polen sehr generell (umgangssprachlich ausgedrückt irgendetwas wird pas‐ sieren) bis sehr speziell. 207 Der hier zugrunde gelegte Kausalitätsbegriff basiert auf einer Beschreibung der necessity-in-the-circumstances-plus-causal-priority von Mackie. Demnach ist ein Ereignis X eine Ursache eines Ereignisses Y, wenn das Folgeereignis Y in einer bestimmten Situation nur eintritt, wenn Ereignis X vorangegangen ist. Ist letzteres nicht der Fall, so stehen Ereignis X und Ereignis Y nicht in einem kau‐ salen Folgeverhältnis. Kausale Beziehungen können also kontrafaktisch ermit‐ telt werden durch die Frage, ob ein Zustand auch dann eingetreten wäre, wenn 4.3 Elaborative Inferenzen 85 <?page no="86"?> 208 Vgl. Trabasso / van den Broek / Suh (1989), S. 4; Trabasso (1984), S. 85-86; Mackie (1980), S. 51. 209 Mackie (1980), S. 51. 210 Vgl. van den Broek (1990), S. 438. 211 Vgl. Whitney / Ritchie / Crane (1992), S. 428. 212 Vgl. Whitney / Ritchie / Crane (1992), S. 425, 427-428. ein kausales Antezedens nicht vorhanden wäre. Wichtig ist dabei, dass die Ur‐ sache der Folge zeitlich vorausgeht. 208 X is necessary in the circumstances for and causally prior to Y provided that if X were kept out of the world in the circumstances referred to and the world ran on from there, Y would not occur. 209 Als zweite Bedingung nennt Broek die Aufmerksamkeitszuteilung. 210 Whitney, Ritchie und Crane haben anhand der folgenden Passagen experimentell bestä‐ tigt, dass die Wahrscheinlichkeit zunimmt, prädiktive Inferenzen auf Ereignis‐ ebene herzustellen, wenn die Aufmerksamkeit darauf gelenkt ist. 211 (48) Joan was enjoying her new summer job. She took a deep breath of fresh air before beginning her chores. The angry swarm of bees flew out of the hive and landed on Joan’s hand. a. Foregrounded (aktiviert): The bees had recently been moved into a new hive during Joan’s day off. b. Backgrounded (deaktiviert): Joan’s job was to see that the large apple orchard was pollinated. (48) erlaubt Rezipienten, die prädiktive Inferenz herzustellen, dass die Bienen Joan stechen werden. In (48a) wird die Aufmerksamkeit auf die kausale Konse‐ quenz gelenkt, weil der Satz die Bienen in den Mittelpunkt rückt. In ihrem Ex‐ periment wurde diese Inferenz in der Regel hergestellt. Anders verhält es sich dagegen in (48b). Joan steht im Zentrum, die Bienen werden verdrängt. In (48b) kommt es nach Whitney, Ritchie und Crane selten zur Konstruktion einer ereig‐ nisbezogenen prädiktiven Inferenz, was die Autoren auf die Verschiebung des Fokus zurückführen. 212 Auslöser von prädiktiven Inferenzen und die Ausdrucksseite. Zukünftige Ereignisse, die Rezipienten als prädiktive Inferenz konstruieren, sind lexikalisch nicht eindeutig gebunden. Wenn zum Beispiel ein konstruierter Text eines Ex‐ perimentes wie in (47) den Testsatz bereitstellt, dass jemand eine Vase gegen die Wand schmeißt, so handelt es sich bei der prädiktiven Inferenz um ein Wis‐ 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 86 <?page no="87"?> 213 Vgl. Cook / Limber / O’Brien (2001), S. 230. 214 Vgl. Klin / Guzmán / Levine (1999), S. 598-600. 215 Vgl. Klin / Guzmán / Levine (1999), S. 598-600. senselement, das sich durch verschiedene Ausdrücke adäquat realisieren ließe. In dem Experiment wird mit break gearbeitet - alternativ wären auch Ausdrücke denkbar wie destroyed, fractured oder smashed. 213 Löschen prädiktiver Inferenzen. In Absatz 4.3.2 wurde angedeutet, dass ereignisbezogene prädiktive Inferenzen nur dann hergestellt werden, wenn die Aufmerksamkeit auf sie gerichtet ist. Wenn also mehrere prädiktive Inferenzen miteinander konkurrieren, müssen nicht alle konstruiert werden. Welche tat‐ sächlich hergestellt wird, ergibt sich aus der jeweiligen Wichtigkeit. 214 (49) a. After years of abuse, Susan had enough. She joined a support group for battered women and told her husband, Steven, that she was going to leave him if there was even the mildest violent inci‐ dent in the house. Steven was taking her seriously and had started counseling. He had managed to control his temper for the past month. He couldn’t bear the thought of her leaving. He felt his life would be over if she and the children left. Today Steven was angry at Susan because she had left a mess in the kitchen. b. He tried to cool down, but felt his resentment building. No longer able to control his anger, he threw a delicate porcelain vase against the wall. (49b) erlaubt es dem Rezipienten, zwei alternative prädiktive Inferenzen herzu‐ stellen. Eine basiert auf dem allgemeinen Wissen über fragile Gegenstände, sie folgt allein aus (49b) und beinhaltet, dass die Vase bricht. Die zweite (nämlich, dass Susan Steven verlassen wird) folgt ebenfalls aus (49b), zugleich benötigt sie allerdings den im Text etablierten Zusammenhang, dass Susan Steven die letzte Chance gegeben hat, von häuslicher Gewalt abzusehen, und dass Steven nicht in der Lage war, dies umzusetzen. Das Experiment von Klin, Guzmán und Levine zeigt, dass die erste in diesem Kontext nicht konstruiert wird. 215 Distanz zwischen inferenzrelevantem Kontext und Inferenz auslö‐ sendem Satz. Dieser Typ prädiktiver Inferenzen wird hergestellt, wenn die oben beschriebenen Kontextbedingungen erfüllt sind. Wie beschrieben, muss dieser aktiv sein. Zum Teil kann es vorkommen, dass ein Satz nur gemeinsam mit einem bestimmten Kontext zu einer spezifischen prädiktiven Inferenz auf 4.3 Elaborative Inferenzen 87 <?page no="88"?> 216 Vgl. Cook / Limber / O’Brien (2001), S. 228-229. 217 Ursprünglich stammt das Beispiel von Cook, Limber und O’Brien, hier wurde allerdings eine verkürzte Version von Singer gewählt (vgl. Singer (2007), S. 353). 218 Vgl. Cook / Limber / O’Brien (2001), S. 229. 219 Vgl. Murray / Klin / Myers (1993), S. 471. 220 Vgl. Klin / Guzmán / Levine (1999), S. 595, 598. Ereignisebene führt. In diesem Fall muss das Inferenz auslösende Textsegment nicht unmittelbar folgen auf den Kontext, der die prädiktive Inferenz ermöglicht. Wenn es zwischengelagertes Diskursmaterial gibt, darf zwischen dem Inferenz auslösenden Ausdruck und dem Kontext kein Diskursmaterial situiert sein, was den inferenzrelevanten Kontext deaktiviert. 216 (50) a. Jimmy‘s friends taught him a fun game that involved throwing (rocks / sponge balls) at a target to get points. b. <intervening sentences> c. Jimmy missed, though, and he accidentally hit the door of a new car. 217 In (50) kommt der Leser je nach textuellem Kontext (rocks oder sponge balls) zu dem kausalitätsbasierten Schluss, dass die Tür einen Schaden davon getragen hat. Diese Inferenz kommt auch dann zustande, wenn mehrere Sätze zwischen‐ gelagert sind. Hätte man einen anderen Kontext - zum Beispiel einen, in dem eine Glasscheibe involviert ist - so würde der Leser eine andere prädiktive In‐ ferenz herstellen. Diese kommt nur dann zustande, wenn die Textsegmente zu‐ sammenwirken. Isoliert würde weder (50a) noch (50c) die Konstruktion der In‐ ferenz erlauben. 218 Die Länge der zwischengelagerten Passage ist dabei für die Inferenz nicht ausschlaggebend. 219 Prädiktive Inferenzen, Durabilität in der Textwelt und Folgetext (Ko‐ text). Die Ergebnisse verschiedener Experimente zeigen, dass ereignisbezogene prädiktive Inferenzen in die mentale Repräsentation eingebettet werden bzw. dass sie gespeichert werden als Teil der mentalen Textwelt. Sie werden also nicht deaktiviert, unmittelbar nachdem der Rezipient sie generiert hat. Das zeigen unter anderem Lesezeitexperimente, bei denen Probanden auf Textsegmente stoßen, die zuvor gezogenen prädiktiven Inferenzen widerspre‐ chen und die deshalb eine Verlangsamung im Leseprozess nach sich ziehen. In (47) stellt der Rezipient die Inferenz her, dass die Vase zerbrochen ist. Sollte eine spätere Textpassage schildern, wie jemand Blumen in das Gefäß stellt, so würde der Widerspruch sich verzögernd auf die Lesezeit auswirken wie in (51). 220 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 88 <?page no="89"?> 221 Vgl. Klin / Guzmán / Levine (1999), S. 595, 598. 222 Vgl. Campion (2004), S. 150-151, 154. (51) a. Introduction: Today Steven was angry at his wife because she had left a mess in the kitchen. b. Inference Version: He tried to cool down, but felt his resentment building. No longer able to control his anger, he threw a delicate porcelain vase against the wall. c. Neutral backgrounding: Just then the doorbell rang. He looked out the window and saw his neighbor, Gary. Steven went over and greeted him and handed him the drill that he had come to borrow. Gary was always borrowing something. After he left, Steven looked at his wife. Then he walked across the room, d. Contradiction line: picked up the vase, and dusted it off. Bei der Rezeption von (51b) konstruiert der Rezipient, die prädiktive Inferenz, dass die Vase zerbrechen wird. Sobald der Rezipient (51d) liest, kommt es zu einer Lesezeitverzögerung, weil die Passage der inferentiellen Anreicherung der mentalen Repräsentation entgegensteht. 221 Campion präzisiert den Status von prädiktiven Inferenz auf der Ereignis‐ ebene. Er bestätigt, dass diese Inferenzen dauerhaft in die mentale Repräsenta‐ tion der Textwelt integriert werden, schreibt ihnen allerdings einen hypotheti‐ schen Status zu, dessen sich auch die Rezipienten bewusst sind - selbst dann, wenn die prädiktive Inferenz zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegriffen wird. Erst wenn die prädiktive Inferenz textuell bestätigt oder entkräftet wird, verliert sie ihren hypothetischen Status. Sollte ein Text einen Anlass bieten, ereignisbezogene prädiktive Inferenzen herzustellen, so erwartet der Rezipient, dass der Text auflösen wird, ob ein vorausgesagtes Ereignis tatsächlich einge‐ treten ist oder nicht bzw. dass der hypothetische Status aufgehoben wird. 222 4.4 Die Klassifizierung von Inferenzen In der Literatur finden sich eine Reihe von Klassifizierungsmöglichkeiten für Inferenzen. Die meisten fallen in jeweils eine der im Folgenden aufgelisteten Oppositionspaare, die als komplementär konzipiert sind und die am Ende der Klassifizierung in Abbildung 4.1 überblicksartig dargestellt werden. • notwendige und elaborative Inferenzen 4.4 Die Klassifizierung von Inferenzen 89 <?page no="90"?> 223 Vgl. Klin u. a. (1999), S. 241; Cook / Limber / O’Brien (2001), S. 220; Zwaan / Rapp (2006), S. 735. 224 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 375-376; Klin u. a. (1999), S. 257. 225 Vgl. Suh / Trabasso (1993), S. 281-282, 295. 226 In der Literatur wird mit einem relativ unreflektierten Kohärenzbegriff operiert, die Textverstehenstheorien in Kapitel 5 lassen allerdings Rückschlüsse darauf zu, was die Autoren darunter verstehen. 227 Vgl. Cook / Limber / O’Brien (2001), S. 220; Zwaan / Rapp (2006), S. 735. 228 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 376. • on-line- und off-line Inferenzen • globale und lokale Inferenzen • vorwärts- und rückwärtsgerichtete Inferenzen Notwendige und elaborative Inferenzen. Eines der Hauptunterscheidungs‐ kriterien zwischen Inferenzen ergibt sich aus ihrer Auswirkung auf die Kohä‐ renz der mentalen Textweltrepräsentation. Eine Inferenz wird als notwendige Inferenz (auch Text verbindende Inferenz) eingestuft, wenn sie dazu beiträgt, Kohärenz zu etablieren oder zu konservieren, und wenn sie es dadurch ermög‐ licht, dass ein Text verstanden werden kann. Sie ist also notwendig für die Ko‐ härenzherstellung. 223 Die Kohärenz stiftende Kraft betrifft einerseits zwei ne‐ beneinander liegende Sätze, die durch eine solche Inferenz verbunden werden. Das gilt zum Beispiel für pronominale anaphorische Mittel der Wiederauf‐ nahme, für Bridging-Inferenzen und auch für motivationale prädiktive Infe‐ renzen. 224 Andererseits gibt es Kohärenz stiftende Inferenzen, die sich auf glo‐ bale, zum Teil nicht aneinander angrenzende Einheiten beziehen. Darunter fallen zum Beispiel die in Absatz 4.2.4 vorgestellten Verknüpfungen zwischen Zielen und Handlungen. 225 So werden neu einlaufende Textelemente lokal und global mit dem Vorangegangenen verknüpft und inklusive der Verknüpfung der mentalen Textwelt hinzugefügt. 226 Bei notwendige Inferenz handelt es sich um einen relationalen Begriff, der nur in Bezug auf den theoretischen Hintergrund der Textforschung verstanden werden kann. Der Leser muss wissen, dass sie zum Verstehen notwendig sind. Um den Begriff aus dieser Abhängigkeit zu befreien, wäre vielleicht ein durch‐ sichtigerer Begriff vorzuziehen wie Kohärenz stiftende oder verstehensnotwen‐ dige Inferenz. Der zweite zentrale Inferenztyp leitet sich negativ aus der vorangegangenen Beschreibung ab. Unterstützt eine Inferenz nicht die Kohärenz eines Textes, so wird sie als elaborativ 227 oder als extratextuelle Inferenz 228 bezeichnet. Elaborative Inferenzen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die mentale Repräsentation in‐ 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 90 <?page no="91"?> 229 Vgl. Klin u. a. (1999), S. 241; Dopkins (1996), S. 103; Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 375-376. 230 Vgl. van den Broek (1990), S. 438; Klin / Guzmán / Levine (1999), S. 698-600; Whitney / Ritchie / Crane (1992), S. 427-428; Cook / Limber / O’Brien (2001), S. 228-230; Campion (2004), S. 150-151, 154. 231 Vgl. Dijk / Kintsch (1983), S. 5. 232 Vgl. Dopkins (1996), S. 103. 233 Vgl. Fincher-Kiefer (1996), S. 241. 234 Vgl. Klin / Guzmán / Levine (1999), S. 595; Magliano / Dijkstra / Zwaan (1996), S. 200; Murray / Klin / Myers (1993), S. 465; Whitney / Ritchie / Crane (1992), S. 425, 427-428. 235 Vgl. Corbett / Dosher (1978), S. 482, 485, 489; Singer (1994), S. 482. 236 Vgl. McKoon (1992), S. 441. formationell anreichern und ausschließlich auf Weltwissen basieren. 229 Sie treten unter anderem auf in Form von Erwartungen über Folgeereignisse. 230 On-line und off-line Inferenzen. Ein weiteres Unterscheidungskriterium im Bereich der Inferenzen betrifft die Frage, ob sie on-line oder off-line gezogen werden. Inferenzen, die off-line gezogen werden, werden nicht während des Rezeptionsprozesses generiert; bei diesem Typus inferiert der Leser nach dem Lesen - zum Beispiel während einer Erinnerungsaufgabe, die sich auf einen Text bezieht. Inferenzen, die on-line gezogen werden, werden während des Rezeptionsprozesses generiert. 231 Die psycholinguistische Textverarbeitungsfor‐ schung konzentriert sich auf die on-line Inferenzen, da der eigentliche Rezept‐ ionsprozess in diesem Forschungszweig im Mittelpunkt steht. On-line-Inferenzen und notwendige Inferenzen stehen in einem engen Zu‐ sammenhang. Kohärenz stiftende Inferenzen werden on-line gezogen - zumin‐ dest ist die Wahrscheinlichkeit ihres rezeptionsbegleitenden Auftretens höher als im Fall der elaborativen Inferenzen. 232 So werden Anaphern und Bridging-In‐ ferenzen on-line hergestellt. Sie sind Kohärenz etablierend, verstehensnot‐ wendig und gehen in der mentalen Repräsentation auf. 233 Werden elaborative Inferenzen on-line hergestellt? Im Bereich der elabora‐ tiven Inferenzen kann nicht für alle Typen eine abschließende Aussage getroffen werden. Dafür, dass prädiktive Inferenzen auf der Ereignisebene on-line herge‐ stellt werden, gibt es überwältigende Evidenz, wie eine Vielzahl theoretischer Überlegungen und experimenteller Studien belegen. 234 Ob Case-Filling-Infe‐ renzen wie in (43) tatsächlich on-line hergestellt werden, ist umstritten. 235 Globale und lokale Inferenzen. In der Literatur wird zwischen lokalen und globalen Inferenzen unterschieden. Lokale Inferenzen (typischerweise kohä‐ renzstiftende Inferenzen) versucht der Leser herzustellen, wenn er zwei anei‐ nander grenzende Sätze rezipiert. 236 Hierunter fallen unter anderem Inferenzen 4.4 Die Klassifizierung von Inferenzen 91 <?page no="92"?> 237 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 378. 238 Vgl. Dijk / Kintsch (1983), S. 15-16. 239 Vgl. McKoon (1992), S. 441. 240 Vgl. van den Broek (1993), S. 93; Suh / Trabasso (1993), S. 281-282. 241 Vgl. Black / Bower (1980), passim; van den Broek (1990), passim; Suh / Trabasso (1993), passim; Thorndyke (1977), passim. 242 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 378. 243 Vgl. Fincher-Kiefer (1996), S. 230. 244 Vgl. Suh / Trabasso (1993), passim. 245 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 378. zur koreferentiellen Wiederaufnahme, implizite Anaphern und Bridging-Infe‐ renzen. 237 Sobald der Rezipient mit Text konfrontiert wird, versucht er, lokale Kohärenz herzustellen. Der Leser wartet also nicht, bis translexikalische oder suprasententiale Einheiten vollständig rezipiert sind. 238 Globale Inferenzen dagegen beziehen sich auf größere Abschnitte im Text. Sie dienen dazu, umfangreichere Diskurseinheiten eines Textes zu verbinden, die weit über den Text verstreut sein können. 239 Dabei werden auch globale Einheiten verknüpft, die nicht direkt aneinandergrenzen. 240 Zum Teil werden sie als verbindende Elemente von Story-Grammatiken gesehen, sodass auslösende Settings, Charakter, Ziele und Ereignisse verbunden sind mit ihren Folgeereig‐ nissen und Wirkungen. Häufig integrieren globale Inferenzen Informationen in ein übergeordnetes kausales Netz oder eine Kette von Ursachen und Folgen. 241 Damit liefern sie die globale Struktur eines Textes wie zum Beispiel den Rahmen eines typischen Märchens, die Gründe für Handlungen von Figuren oder eine Zielhierarchie. Lokale und globale Kohärenz. Die Unterscheidung zwischen lokalen und globalen Inferenzen ist eng verknüpft mit den Begriffen lokale und globale Ko‐ härenz. Lokale Kohärenz bezeichnet Kohärenz zwischen zwei aneinandergrenz‐ enden Einheiten. Lokale Kohärenz wird aufrechterhalten durch die Wiederauf‐ nahme von Diskursentitäten (zum Beispiel durch pronominale Anaphern). 242 Wenn es zu lokalen Kohärenzbrüchen kommt (wenn zum Beispiel keine Wie‐ deraufnahme eines Textelementes stattfindet), können diese durch kausale Brid‐ ging-Inferenzen überwunden werden. 243 Globale Kohärenz ergibt sich, wenn die überwiegende Mehrheit der textuellen Einheiten sich nahtlos in eine Planhie‐ rarchie fügt. 244 Sie ergibt sich auch dann, wenn Diskurselemente sich in one or more overarching themes fügen. Globale Kohärenz hängt vom Text, Hinter‐ grundwissen und von den Zielen des Rezipienten ab. 245 Es gibt Fälle, in denen ein Rezipient notwendige Inferenzen nicht on-line herstellt. Dieser Fall kann unter anderem dann eintreten, wenn dem Leser Ko‐ 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 92 <?page no="93"?> 246 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 372, 378. 247 Vgl. Singer / Ferreira (1983), S. 437; van den Broek (1990), S. 433. 248 Vgl. Klin u. a. (1999), S. 257. härenz etablierendes Hintergrundwissen fehlt oder wenn er glaubt, dass der Text auf globaler Ebene kohärenzfrei ist. Beim Fehlen von globaler Kohärenz kon‐ zentriert sich der Leser auf die Konstruktion von lokaler Kohärenz. Scheitert auch der Versuch, lokale Kohärenz herzustellen, so wird der Text als inkohärent betrachtet. Ein nicht auf Kohärenz zielender Lesemodus (wie zum Beispiel die Suche nach Rechtschreibfehlern beim Korrekturlesen) führt ebenfalls dazu, dass die Konstruktion einer kohärenten Textwelt ausbleibt. 246 Abb. 4.1: Klassifikation von Inferenzen (ohne bedeutungskonstituierende auf Wort‐ ebene). Grau unterlegt sind alle Inferenzen, die sich in experimentellen Studien als re‐ zeptionsbegleitend erwiesen haben. Rückwärts- und vorwärtsgerichtete Inferenzen. In der Literatur werden Inferenzen zusätzlich in rückwärts- und vorwärtsgewandte Inferenzen unter‐ teilt. Unter rückwärtsgewandten Inferenzen verstehen die Autoren Inferenzen, die den zuletzt rezipierten Satz mit dem Vortext verknüpfen. Ihnen wird eine Kohärenz etablierende Kraft zugesprochen. 247 Unter die vorwärtsgewandten In‐ ferenzen fallen prädiktive Inferenzen verschiedener Ausprägung, die nicht alle zur Kohärenz eines Textes beitragen. So gilt dies zum Beispiel nicht für die ereignisbezogene prädiktive Inferenz der in Unterabschnitt 4.3.2 beschriebenen Inferenzen. Motivationale prädiktive Inferenzen wie in (33) und (34) dagegen leisten einen kohärenzstiftenden Beitrag. 248 Im Bereich der elaborativen prädiktiven Inferenzen geistert ein Argument durch die Sekundärliteratur, das besagt, dass der Mensch diese Art von Inferenz nicht on-line herstellt, weil sie sich als falsch herausstellen kann und deshalb 4.4 Die Klassifizierung von Inferenzen 93 <?page no="94"?> 249 Vgl. Murray / Klin / Myers (1993), S. 464. 250 Vgl. Duffy (1986), S. 208. 251 Vgl. Kahnemann (2011), passim. Das Buch fasst viele Forschungsbeiträge zusammen, die sich mit nicht rationalem Denken und Handeln von Menschen beschäftigen. 252 Vgl. Rickheit / Weiss / Eikmeyer (2010), S. 77; Rickheit / Strohner (1999), S. 288-290. 253 Vgl. McKoon (1992), S. 441-442, 445, 457-458. 254 Vgl. Magliano / Dijkstra / Zwaan (1996), S. 200. 255 Vgl. Suh / Trabasso (1993), S. 281-282, 295. als Verschwendung von Energie erweisen kann. 249 Gegen dieses Effizienzargu‐ ment führt Duffy in „Role of Expectations in Sentence Integration“ ein ebenfalls auf Effizienz basierendes Gegenargument ein: Korrekt hergestellte Vorwärtsin‐ ferenzen erhöhen die Lesegeschwindigkeit. 250 Auch wenn letzteres der Fall sein sollte, muss man dennoch darauf hinweisen, dass Argumente, die auf lesersei‐ tigen Effizienzerwägungen basieren, weitestgehend verfehlt sind, weil sie dem Menschen unterstellen, dass er maximal rational und effizient arbeitet, was häufig nicht der Fall ist. 251 Exkurs: Minimalismus und Maximalismus. An diesen Klassifizierungs‐ möglichkeiten lässt sich eine psycholinguistische Diskussion nachvollziehen, die den theoretischen Hintergrund betrifft. Vertreter einer minimalistischen (McKoon und Ratcliff) und einer maximalistischen Theorie (zum Beispiel Gra‐ esser sowie Zwaan) stehen sich gegenüber. Sie nehmen die beiden Extreme einer konstruktivistischen Grundhaltung ein. 252 Es geht dabei um die Frage, welche Inferenzen automatisch hergestellt werden und unter welchen Umständen diese automatisch generiert werden. Dem Minimalismus zufolge werden automatische Inferenzen nur hergestellt, wenn es einen lokalen Kohärenzbruch gibt. Dieser Position nach werden also weder a) prädiktive Inferenzen auf der Ereignisebene on-line hergestellt noch b) globale Inferenzen, weil beide keinen Beitrag zur lokalen Kohärenz leisten. Letztere kämen nur dann zustande, wenn ein lokaler Kohärenzbruch be‐ stünde. 253 Diese Annahmen sind, wie Magliano, Dijkstra und Zwaan es ausdrü‐ cken, nicht nur kontraintuitiv. 254 Gegen a) sprechen die in Unterabschnitt 4.3.2 vorgestellten Studien, bei denen Rezipienten prädiktive Inferenzen herstellen, ohne dass ein Kohärenzbruch besteht, wie sie in Unterabschnitt 4.3.2 be‐ schrieben werden. Gegen b) spricht unter anderem eine Studie von Suh und Trabasso, bei denen Rezipienten trotz lokaler Kohärenz superordinierte Zielin‐ ferenzen herstellen, die übergreifendere, d. h. nicht lokale Zusammenhänge be‐ rücksichtigen. 255 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 94 <?page no="95"?> 256 Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 389. 257 Vgl. Magliano / Dijkstra / Zwaan (1996), S. 211. 258 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 377. 259 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 372, 377-379; Graesser / Li / Feng (2015), S. 293-294. Superordinate goals are generated even when local coherence is intact and when the incoming sentence needs to be linked to a superordinate goal that was mentioned much earlier in the text. 256 Spezielle prädiktive Inferenzen. Als Rezipient weiß man, dass James Bond mit vielen attraktiven Frauen, die in seinen Film auftauchen, eine erotische Kurzbeziehung eingeht. Nach Magliano, Dijkstra und Zwaan inferieren Zu‐ schauer häufig die prädiktive Inferenz, dass Bond den Frauen im Film näher‐ kommen würde. Diese Elaboration ist auf spezielles Wissen über die James-Bond-Filme und dessen Protagonisten zurückzuführen. 257 Darüber hinaus dürfte sich auch Vorwissen inferenzinduzierend auswirken über den Autor, den die Regisseur, Epoche und / oder die partizipierenden Schauspieler. 4.5 Leserziele In den vorangegangenen Abschnitten wurden Inferenzen und mögliche Klassi‐ fizierungen vorgestellt. Dabei wurde stillschweigend die Frage übersprungen, warum Leser überhaupt Inferenzen herstellen. Konstruktivistischen Textverar‐ beitungsmodellen nach sind die mentalen Aktivitäten eine Folge rezipienten‐ seitiger Ziele. 258 Das generelle Standardziel der Rezipienten basiert auf dem konstruktivisti‐ schen Prinzip des search (or effort) after meaning, also der Suche nach Sinn. Rezipienten versuchen demnach eine kohärente Textwelt zu etablieren, die mit ihren Zielen harmoniert und die pragmatisch reflektiert ist. Im Mittelpunkt des Rezeptionsprozesses steht die Suche nach kausalen Zusammenhängen, die sich ansiedeln auf der Textproduktionsebene und der Textweltebene, wobei im zweiten Fall rückwärtsgerichtete Inferenzen eine zentrale Rolle spielen. Da es sich lediglich um einen rezipientenseitigen Versuch handelt, eine kohärente Textweltrepräsentation zu erhalten, muss nicht jeder Rezeptionsprozess zwangsläufig mit dem Vorhandensein eines kohärenten Textweltmodells enden. Außer im Falle des Korrekturlesens besteht dieses generelle Interesse durch‐ gängig. 259 In der Regel sind die mentalen Prozesse mit der Absicht verknüpft, 4.5 Leserziele 95 <?page no="96"?> 260 Vgl. Black / Bower (1980), S. 223. 261 Vgl. Hörmann (1988), S. 195-196. Obwohl die pragmatische Dimension des Textvers‐ tehens erwähnt wird, konzentrieren sich die Autoren überwiegend auf die rezipien‐ tenseitige Textweltkonstruktion. 262 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 377; Black / Bower (1980), S. 223. 263 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 377; Ballstead / Mandl / Schnotz (1981), S. 79. das Gelesene zu erinnern. 260 Hörmann würde diese Dimension als Sinnkonstanz beschreiben. 261 Bei genreabhängigen Zielen ergeben sich die Ziele aus der jeweiligen Text‐ sorte. Wer eine Zeitung liest, folgt seinem Bedürfnis, sich zu informieren. Wer einen Roman liest, folgt seinem Bedürfnis, unterhalten zu werden bzw. zu ge‐ nießen. 262 Daneben gibt es speziellere Ziele. Zum Beispiel, wenn jemand entscheiden möchte, wen er wählt. Oder, wenn eine Person die Darstellung der moralischen Werte in amerikanischen TV -Serien untersucht. 263 Die Konstruktion der men‐ talen Repräsentation kann je nach speziellen Interessen des Rezipienten vari‐ ieren. Ein Literaturwissenschaftler, der einen Roman wie American Psycho von Bret Easton Ellis liest und dabei versucht, das Sozialgefüge einer einzelnen ge‐ sellschaftlichen Schicht herauszukristallisieren, wird zu einem anderen men‐ talen Modell gelangen als ein Anwalt, der diesen Roman liest, um nachzuweisen, dass eine bestimmte Person - zum Beispiel sein Mandant - in diesem Werk in strafrechtlich relevanter Weise portraitiert wird. Wird der Roman von einem Freund des Autors zum Korrekturlesen gelesen, so braucht dieser kein mentales Modell zu konstruieren, um dieses Ziel zu erreichen. 4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen 96 <?page no="97"?> 264 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 380-381. 265 Rumelhart / Ortony (1977), S. 111. 266 Vgl. Fillmore (1977a), S. 61, 75. 267 Vgl. Collins / Brown / Larkin (1980), S. 387, 390, 398-404; Busse (2012), S. 704-705. 5 Die mentale Textweltrepräsentation 5.1 Verstehen als Konstruktion einer mentalen Welt In Absatz 3.1 wurde generell beschrieben, dass Personen eine mentale Reprä‐ sentation konstruieren, sobald sie mit Daten konfrontiert werden. Hinsichtlich ihrer Modalität wurden die Daten dort nicht näher spezifiziert. In diesem Kapitel werden Textverstehenstheorien vorgestellt, die speziell danach fragen, wie tex‐ tuelle Daten verarbeitet werden und wie Rezipienten Texte mental repräsen‐ tieren. Auf der Grundlage einer endlichen Anzahl simultan ablaufender lokaler und globaler Inferenzen, die iterativ angewandt werden, konstruiert der Rezi‐ pient eine mentale Repräsentation, die sich aus explizit im Text Genanntem und aus überwiegend wissensgestützen Inferenzen zusammensetzt. 264 Schemata are the key units of the comprehension process […]. Comprehension can be considered to consist of selecting schemata and variable bindings that will ’account for‘ the material to be comprehended. 265 Die Textverarbeitungsforschung muss die Verarbeitungsprozesse bei der Re‐ zeption der dargestellten Handlungen, Sachverhalte etc. nachvollziehen - zum Beispiel, dass Rahmen evoziert werden und mit kotextuellen Elementen inter‐ agieren. Mit neu einlaufende textuellen Segmenten wird eine mentale Textwelt aufgebaut, ausgebaut und Leerstellen werden gefüllt, die sich aus textuellem Stimulusmaterial verschiedener Komplexität ergeben. 266 Dabei handelt es sich um eine provisorische Schema- und Füllwert-Aktivierung, die sich im Folgetext als adäquat oder inadäquat erweisen kann. Der Rezipient bedient sich verschie‐ dener Lesestrategien. Unter anderem testet er die Plausibilität der Zuordnung von Füllwerten, indem er sie zu jedem Zeitpunkt direkt und indirekt zum Text in Beziehung setzt. Dabei können instantiierte Füllwerte die Leerstellen wech‐ seln oder ganz verworfen werden, sodass die mentale Repräsentation teilweise oder vollständig bestätigt oder revidiert wird, wobei Top-down- und Bottom-up-Prozesse ineinandergreifen. 267 <?page no="98"?> 268 Vgl. Dijk / Kintsch (1983), S. 14-15, 44, 178-179. 269 Vgl. Dijk (1980b), S. 166; Dijk / Kintsch (1983), S. 11, 15. 270 Vgl. Dijk (1980b), S. 42, 183-184. 271 Vgl. Dijk / Kintsch (1983), S. 14. 272 Vgl. Dijk (1980b), S. 178-179. 273 Vgl. Dijk (1980b), S. 178; Ballstead / Mandl / Schnotz (1981), S. 37-38. 274 Vgl. Dijk (1980b), S. 40, 174. Früheren Theorien zufolge konstruiert der Rezipient beim Lesen eine Text‐ basis, die sich aus Propositionen und Relationen zwischen diesen ergibt und die in ein hierarchisch organisiertes Baumdiagramm überführt werden kann. 268 Jüngere Ansätze schließen zum Teil daran an, brechen allerdings mit der pro‐ positionalen Tradition und fokussieren andere Aspekte wie zum Beispiel die kausalitätsbasierte Handlungszusammenhänge innerhalb eines Textes. Die The‐ orie von Zwaan dominiert den aktuellen Diskurs. Wie eine solche repräsenta‐ tionale Struktur genau aussieht und aus welchen textuell evozierten Elementen sich seine Situationsmodelle zusammensetzen, wird im Folgenden nachvoll‐ zogen, ohne die historischen Vorläufer vollständig auszublenden. 5.2 Die propositionale Struktur Der Rezipient überführt den Text in eine propositionale (bzw. semantische) Struktur. Diese Struktur bezeichnet Dijk als Textbasis oder Makrostruktur. 269 Sie besitzt unterschiedliche Hierarchieebenen und wird konstruiert durch rezipientenseitige Prozesse, die auf den verschiedenen Ebenen simultan ab‐ laufen. 270 Auf der Mikroebene werden Sätze als Propositionen repräsentiert. 271 Da ein Text in der Regel aus mehreren Sätzen besteht, ergibt sich eine komplexere, aus einer Vielzahl propositionaler Elemente bestehende Struktur. Bei der Konstruk‐ tion dieses Gewebes werden neu einlaufende Informationen in sich überla‐ gernden zyklischen Prozessen verarbeitet. Dabei zielt der Rezipient darauf ab, verschiedene Text verbindende Relationen (wie zum Beispiel anaphorische Ver‐ knüpfungen etc.) zwischen den einzelnen Propositionen zu etablieren und da‐ durch lokale Kohärenz herzustellen. 272 Wiederholt auftretende Elemente werden so in einem iterativen Verfahren der Propositionsstruktur zugeordnet, in der das Argument auftrat. 273 Die einzelnen propositionalen Elemente werden also nicht isoliert gespeichert, sie werden in größere Einheiten (Makrostrukturen) organi‐ siert. 274 5 Die mentale Textweltrepräsentation 98 <?page no="99"?> 275 Vgl. Dijk / Kintsch (1983), S. 44. 276 Vgl. Dijk (1980b), S. 40, 43-45, 183. 277 Vgl. Dijk (1980b), S. 183, 196; Dijk / Kintsch (1983), S. 15. 278 Vgl. Dijk (1980b), S. 183. 279 Vgl. Ballstead / Mandl / Schnotz (1981), S. 53. 280 Vgl. Dijk / Kintsch (1983), S. 190-191. Das Resultat dieses Verfahrens ist eine hierarchisch organisierte Propositi‐ onsstruktur, die die Autoren auch als Kohärenzgraph bezeichnen. 275 Dieses System lässt sich darstellen in einem Baumdiagramm mit verschiedenen Hie‐ rarchieebenen. Die globalste Ebene bzw. die höchste Hierarchiestufe bildet die Makrostruktur. Ohne sie würden die einzelnen Sätze bzw. Propositionen eines Textes nicht zusammenhängen. 276 Sollten sich Textabschnitte der Einordnung in die Struktur widersetzen, so geht der kognitive Apparat auf zweierlei Art und Weise damit um. Einerseits kann die Argumentüberlappung oder -einbettung hergestellt werden a) infe‐ rentiell aus dem Vorwissen (wie die textverknüpfenden Inferenzen in Ab‐ schnitt 4.2), b) durch Umorganisation des gesamten propositionalen Gebildes oder c) indem lange zuvor etabliertes Wissen über die Textbasis reaktiviert wird. 277 Gibt es weder einen expliziten noch impliziten Zusammenhang, so wird der Propositionsstruktur auf höchster Hierarchieebene eine weitere separate Pro‐ positionsstruktur zur Seite gestellt. 278 Diese kann ihrerseits wieder propositio‐ nale Strukturen an sich binden und so einen weiteren Kohärenzgraphen be‐ gründen. Der Rezipient speichert in diesem Fall also mehrere unabhängig bestehende Kohärenzgraphen - mit der Folge, dass der Rezeptionsvorgang er‐ schwert wird, dass der Text als schwieriger eingestuft wird und dass die Re‐ zeptionszeit zunimmt. Sobald sich an einer Stelle eine Anschlussmöglichkeit findet, werden die Strukturen zusammengeführt. 279 Da die Komplexität dieser Struktur sich im Rahmen der mentalen Kapazitäten bewegen muss, finden während der Rezeption von neu einlaufenden Textseg‐ menten komplexitätsreduzierende Prozesse statt, denen eine strukturierende und entlastende Funktion zukommt. Durch diese sogenannten Makroregeln können erstens Propositionen, die keine Relevanz bei Verarbeitung anderer Propositionen besitzen, gelöscht werden. Zweitens können Propositions‐ mengen auf gemeinsame propositionale Elemente überprüft und durch diese ersetzt werden. Und drittens kann eine Propositionsmenge durch ein zusam‐ menfassendes Element ersetzt werden, das den gesamten Sachverhalt repräsen‐ tiert. 280 So kann man Elemente wie P U P P E , H OLZ EI S E NBAHN und B AU S T E IN E er‐ 5.2 Die propositionale Struktur 99 <?page no="100"?> 281 Vgl. Dijk (1980b), S. 47-48. 282 Vgl. Dijk / Kintsch (1983), S. x, 12. 283 Black / Bower (1980), S. 223. 284 Vgl. Black / Bower (1980), S. 244, 246. setzen durch S P I E LZ E U G . Diese Prozesse zielen darauf ab, komplexere Diskursentitäten zu psychologischen Einheiten zu verschmelzen. 281 Mit ihrer Theorieversion von 1983 erweitern Dijk und Kintsch das Modell. Neben der propositionalen Struktur wird ein Situationsmodell konstruiert, in dem wissensgeleiteten Prozessen ein zentraler Stellenwert zukommt. 282 Wäh‐ rend die propositionalen Aspekte zunehmend an Bedeutung eingebüßt haben, gilt der Gedanke eines Situationsmodells als fundamentaler Bestandteil der ak‐ tuellen Textverstehensforschung, der nach einem zwischengelagerten Ab‐ schnitt vorgestellt wird. 5.3 Die handlungszentrierte Textweltrepräsentation Im Bereich der handlungszentrierten Textverstehenstheorien sind die von Black und Bower, von Broek und die Entwicklungen von Suh und Trabasso besonders hervorzuheben. Demnach beschreiben Geschichten Probleme und Lösungsver‐ suche der auftretenden Figuren, die in die rezipientenseitige Konstruktion eines kausalen Netzwerks münden. Dabei operieren die Autoren mit dem Begriff einer psychischen, also ziel- und handlungsabhängigen Kausalität. Der Rezipient konstruiert eine kohärente Repräsentation des Textes, die sich aus Zielen, Hand‐ lungen und ihren kausalen Verknüpfungen zusammensetzt. Diese Theorien sehen a story as a problem-solving protocol and analyzes it into a hierarchical state transition (HST) network; actions were viewed as succeeding or failing to bring about state changes, with actions perhaps being decomposed into subactions. 283 Geschichten werden als Transformationsprozess angesehen, in dem bestimmte Zustände (states of the art) in andere überführt werden und zwar über eine Kette kausal verknüpfter Problemlösungsversuche, die sich auf verschiedenen Ebenen ansiedeln können und die in einem durch verschiedene Problemebenen struk‐ turierten Diagramm dargestellt werden können. Diesen handlungszentrierten Ansätzen zufolge fokussiert der Rezipient bestimmte Aspekte einer Geschichte: Unter anderem auf den Protagonisten, auf (über- und untergeordnete) Ziele, auf das Erreichen und Verfehlen von Zielen - ebenso, wie auf alternative Lösungen, wenn vorangegangene Versuche scheitern. 284 5 Die mentale Textweltrepräsentation 100 <?page no="101"?> 285 Vgl. Suh / Trabasso (1993), S. 280-282. 286 Vgl. Schank / Abelson (1977a), S. 428; Schank / Abelson (1977b), S. 102-104; Black / Bower (1980), S. 245. 287 Vgl. van den Broek (1990), S. 427. 288 Vgl. Trabasso (1984), S. 100. 289 Vgl. van den Broek (1990), S. 426. 290 Vgl. Black (1978), S. 29-32. Vgl. Graesser u. a. (1980), S. 116; van den Broek (1990), S. 428. Randbemerkung: Auch Aus der mentalen Verknüpfung von Handlungen und Zielen ergeben sich sequentielle oder hierarchische Strukturen, die eine Reihe von Episoden kon‐ stituieren und die unerreichte Ziele sowie Zielhierarchien mit einbeziehen (siehe auch die globalen Inferenzen in Absatz 4.2.4). Kohärenz wird dabei mit lokaler und globaler Kausalität gleichgesetzt. 285 Der Leser steuert planbasierte Inferenzen aus seinem Wissen bei, um eine kohärente Textwelt (im Sinne einer motivationalen oder psychischen Kausalkette) zu generieren. Dabei bemüht er daten- und wissensgeleitete Prozesse. Wird ein Ziel im Text explizit benannt, so greift der Leser auf Top-Down-Strategien zurück und konstruiert mögliche Handlungen. Führen Handlungen nicht zum intendierten Ziel, so müssen Pläne angepasst werden, der Rezipient bemüht Bottom-Up-Prozesse. 286 Kausalkette und Erinnern. Zentral ist in diesem Forschungszweig die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen einzelnen Handlungen und dem gesamten kausalen Netzwerk auswirkt auf das Erinnerungsvermögen einzelner Versuchs‐ personen. 287 Dabei bestehen verschiedene Möglichkeiten. Es kann Ereignisse geben, die in einem schwachen kausalen Zusammenhang stehen mit anderen Teilen der mentalen Repräsentation. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese dead ends erinnert werden, ist gering. 288 In einem zweiten Fall sind Handlungen kausal verknüpft, hier sind mehrere Fälle denkbar. Auf der einen Seite, dass das Ereignis als Ursache für (mindestens) ein folgendes Ereignis dient. Andererseits, dass das Ereignis eine Konsequenz eines ursächlichen Ereignisses ist. Daneben gibt es den Fall, dass beide Seiten der Kausalität zutreffen, dass es also sowohl aus einem vorangegangenen Ereignis folgt als auch ein Ereignis nach sich zieht. 289 Sind Settings kausal in die Geschichte eingebunden (zum Beispiel als Auslöser für eine Handlung), so besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie erinnert werden. Anderenfalls gehen sie verloren. 290 Mit der Anzahl kausaler Antezedenten und Konsequenzen einer Handlung steigt der Grad der Wichtig‐ keit, der Grad der Verknüpftheit (relational density) und damit zugleich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis erinnert wird. Sind Elemente kausal stärker eingebettet, so werden sie besser erinnert. Häufig findet der Rezipient 5.3 Die handlungszentrierte Textweltrepräsentation 101 291 291 <?page no="102"?> bei Givòn spielt der Grad der Verknüpftheit eine wichtige Rolle, wobei er von allgem‐ einer statt kausaler Einbettung ausgeht und auf dieser Grundlage die Kohärenz näher bestimmt (vgl. Givón (1993), S. 189). 292 Vgl. Trabasso / van den Broek / Suh (1989), S. 10, 21. 293 Vgl. Black / Bower (1980), S. 238, 240-241. 294 Vgl. van den Broek (1990), S. 427, 430. 295 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 373. 296 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 273. in Geschichten eine Kausalkette mit einer hohen Vielzahl von einzelnen Kau‐ salschritten. Je näher sie zusammenliegen, desto stärker sind sie mental ver‐ bunden. Je mehr Kausalkettenglieder sich zwischen zwei Ereignissen befinden, desto geringer ist die Relation zwischen ihnen, mit der Anzahl der zwischen‐ gelagerten Kausalschritte nimmt die mentale Verknüpftheit also kontinuierlich ab. 292 Die Erinnerungsgrade korrelieren zudem mit der Zugehörigkeit zu be‐ stimmten Hierarchieebenen. Die Position und die Ebene, auf der einzelne Ele‐ mente der Kausalkette angesiedelt sind, wirken sich darauf aus, ob und wie gut Diskurselemente erinnert werden. Informationen, die zu hierarchiehöheren Einheiten gehören, werden besser erinnert. Untergeordnete und gescheiterte Versuche (failures) werden schlechter erinnert. 293 In den Studien wird auch deutlich, dass die Erinnerungsleistung unabhängig davon besteht, wie es sich mit anderen Aspekten verhält. So sind zum Beispiel Eigenschaften auf der Oberflächenstruktur oder die textuelle Nähe irrele‐ vant. 294 5.4 Situationsmodelle Nach Graesser, Singer und Trabasso konstruiert der Rezipient eine multi-level representation der mentalen Textwelt, die maßgeblich von wissensgeleiteten Prozessen mitgeprägt wird. Der Grad des Verstehens hängt von der Komplexität und der Informationsdichte des konstruierten Modells ab, höhere Werte be‐ deuten besseres Verstehen. 295 Das Modell integriert die oben vorgestellten kau‐ salitätsbezogenen Ansätze. Die handlungszentrierten Beschreibungen von Suh und Trabasso, von Black und Bower und von Broek spielen eine prominente Rolle in dem neuen Modell. Das propositionale Modell von Dijk und Kintsch wird als Vorläufer benannt, berücksichtigt werden vor allem dessen prozedualen Aspekte und die von den Autoren nachgetragene Ebene des Situationsmo‐ dells. 296 5 Die mentale Textweltrepräsentation 102 <?page no="103"?> 297 Vgl. Zwaan / Langston / Graesser (1995), S. 292; Zwaan / Rapp (2006), S. 726. 298 Vgl. Zwaan / Radvansky (1998), S. 173. 299 Vgl. Zwaan / Langston / Graesser (1995), S. 292. 300 Zwaan / Radvansky / Whitten (2002), S. 40. 301 Vgl. Zwaan / Radvansky (1998), S. 165-166. 302 Vgl. Zwaan / Radvansky (1998), S. 167. 303 Vgl. Zwaan / Langston / Graesser (1995), S. 292-293. Die Konstruktion von Situationsmodellen. Beschreibt man narrative Texte auf der Basis des Event-Indexing-Models, so stehen Ereignisse und Handlungen im Mittelpunkt der Theorie. Ereignisse werden durch eine Menge von Relati‐ onen verknüpft, die fünf Ebenen betreffen: die Ebene der Zeit, des Raums, der Protagonisten, der Kausalität und der Intentionalität. 297 Im Zentrum des Event-Indexing-Modells stehen Ereignisse und intentional motivierte Hand‐ lungen von Figuren, weil Erzähltexte in der Regel von Zielen und Hindernissen handeln, die beide intentionsbezogen sind. So gehören Zielplanhierarchien und die damit verbundenen Inferenzen zu den Hauptfaktoren, die Ereignis- und Handlungsfolgen lokal und global konstituieren und strukturieren. 298 Beim Verarbeiten des ersten Ereignisses einer Geschichte konstruiert der Re‐ zipient ein Modell, das hinsichtlich der verschiedenen Dimensionen (Zeit, Raum, Figuren, Kausalität, Intentionalität) spezifiziert ist. Neu einlaufende Ereignisse oder Handlungen werden mit dem aktuellen Modell synchronisiert bzw. an die relevanten Ebenen des Modells angeschlossen. Diese integrativen Prozesse werden von Zwaan, Langston und Graesser als standardisiert aufgefasst, womit er sich an Givòn anlehnt. 299 Rezipienten gehen davon aus, dass each incoming event is connected on all five dimensions to the events that are currently in (long-term) working memory.  300 Sobald der Leser ein neues Ereignis rezipiert, versucht er, es mit dem bereits konstruierten Modell auf allen Ebenen zu ver‐ knüpfen. So erhält der Rezipient ein integriertes Modell. An dieses Modell knüpft er neu einlaufende Ereignisse an, bis er nach iterativer Anknüpfung und Her‐ stellung aufeinanderfolgender integrierter Modelle über ein vollständiges Text‐ weltmodell verfügt, das den Text vom Anfang bis zum Ende repräsentiert. 301 Der Integrationsaufwand nimmt ab, je mehr Ebenen integrierbar sind. 302 Auch die Stärke der Verknüpfung zwischen zwei Situationen hängt von der Anzahl der verknüpfbaren Ebenen ab. Sollte ein Riss bzw. eine nicht integrierbare Dis‐ kursentität auf (mindestens) einer Ebene auftreten, so sieht sich der Leser ver‐ anlasst, das aktuelle Diskurselement zu deaktivieren und gleichzeitig entweder eine neue Entität zu konstruieren oder eine zuvor bereits konstruierte zu reak‐ tivieren. Die Neukonstruktion geschieht zum Beispiel dann, wenn eine neue Figur eingeführt wird. 303 Ein zeitlicher Riss ergibt sich bei Sprüngen in die Zu‐ 5.4 Situationsmodelle 103 <?page no="104"?> 304 Vgl. Zwaan / Graesser / Magliano (1995), S. 387. 305 Vgl. Zwaan / Radvansky (1998), S. 180-181. kunft oder bei Rückblenden, was durch Formulierungen wie an hour later oder an hour earlier signalisiert werden kann. 304 In einer späteren Theorieversion führen Zwaan und Radvansky weitere Dif‐ ferenzierungen ein. Sie unterscheiden zwischen situational framework, situati‐ onal relations und situational content. Sie betonen, dass jede Geschichte in Bezug auf Ort und Zeit gebunden ist (situational framework). Sollten explizite Infor‐ mationen zur Ebene des Ortes ausbleiben, so würde der Rezipient allerdings eine räumliche Dimension mental kreieren, die unspezifiziert bleibt, bis nähere An‐ gaben gemacht werden. Sollte der Text hinsichtlich der zeitlichen Dimension keine expliziten Angaben bereitstellen, so würde der Leser sie inferieren. Wäh‐ rend das situational framework singuläre Informationen bereitstellt, werden sie durch situational relations (verstanden als Relationen zwischen den Elementen einer Ebene) zueinander in Beziehung gesetzt. Das situational framework be‐ schreibt zum Beispiel einen Zeitpunkt, zu dem die Handlung stattfindet. Die situational relations würden sie in zeitlicher Ebene einordnen in Bezug auf das, was sich zuvor, danach oder gleichzeitig ereignete. Der situational content - die dritte Neuerung - dient dazu, das Modell schlank zu halten und den Rezipienten kognitiv zu entlasten. Konstant bleibende Informationen wie die Größe einer Figur werden ausgelagert und in einem separaten Speicher abgelegt. Von dort kann der Rezipient sie bei Bedarf abrufen. Das geschieht zum Beispiel dann, wenn eine als groß konzipierte Figur durch eine enge Höhle klettert. 305 5 Die mentale Textweltrepräsentation 104 <?page no="105"?> 6 Zwischenfazit Um sich den drei in der Einleitung formulierten Zielen anzunähern, war es zu‐ nächst notwendig, die zentralen Aspekte der Textverstehensforschung vorzu‐ stellen. In der modernen Textverstehenstheorie werden sprachliche Zeichen (zum Teil verschiedener Komplexitätsniveaus) als Orientierungspunkte ange‐ sehen, die es dem Rezipienten erlauben, Wissen zu aktivieren und Inferenzen herzustellen, auf deren Basis eine mentale Textweltrepräsentation entsteht. Dabei sind keine Wissensbereiche priviligiert, sodass der Rezipient aus dem gesamten Wissenspool schöpfen kann. Wissen. Die Beschreibung der Wissensstrukturen führte Schema- und Frame‐ theorien von Autoren wie zum Beispiel Fillmore, Minsky, Rumelhart und Ortony und Barsalou sowie Schank und Abelson integrativ zusammengeführt. Minsky charakterisierte die Schematheorie als eine Common-Sense-Theorie des Wissens. Beim Wissen handelt es sich um abstrakte Rahmen die über Leerstellen und Füllwerte verfügen. Sowohl Leerstellen als auch Füllwerte ergeben sich proto‐ typisch. Füllwerte können darüber hinaus textbasiert bereitgestellt werden. Aus Wissensrahmen lassen sich Voraussagen ableiten. Diese besitzen, wie alle Be‐ standteile eines Wissensrahmens, die nicht explizit im Text auftauchen, einen hypothetischen Status. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, dass Leerstellen, Füllwerte und Rahmen durch konkrete Daten bzw. explizite Informationen aus dem Text zurückgewiesen werden können. Die einzelnen Elemente innerhalb eines Rahmen können aufeinander Einfluss nehmen, was zum Beispiel dann der Fall ist, wenn das Vorhandensein eines Elements die Möglichkeiten bei der Be‐ setzung einer Leerstelle beschränkt. Die Schematheorie erhebt einen universellen Anspruch. Sie ist in der Lage statische Aspekte wie beispielsweise Objekte, Personen und Textstrukturen mental zu repräsentieren. Auch Wissenstrukturen mit dynamischen Charakter werden von ihr abgedeckt. Darunter fallen Ziele und Handlungen, Ereignis‐ folgen mit den darin auftretenden Ursache-Wirkungs-Verhältnissen. Lokale und globale Inferenzen. In dieser Arbeit spielen Inferenzen eine zent‐ rale Rolle. In der Literatur werden eine Reihe von Inferenzen beschrieben, die auf dem Text und auf Wissen basieren. Inferenzen können sich dabei auf Ein‐ heiten verschiedener sprachlicher Komplexität beziehen. <?page no="106"?> So gibt es bedeutungskonstituierende Inferenzen auf der Wortebene, die unter anderem auf der Wahl, der Aktivierung und Perspektivierung von Wissens‐ rahmen basieren und sich im sprachlichen Ko(n)text ergeben. Diese wortbezo‐ genen mentalen Aktivitäten wurden in vorliegenden Arbeit dem Expliziten zu‐ gerechnet. Dabei greift der Rezipient auf sein gesamtes Wissen zurück, wobei auch kontextuelle Aspekte in den Prozess mit einfließen. Darüber hinaus werden in der Literatur eine Reihe von Inferenzen be‐ schrieben, die als Hinweis zum Herstellen diverser nicht-bedeutungskonstitu‐ ierender Inferenzen auf Wortebene dienen und die deshalb in der vorliegenden Arbeit nicht dem Bereich der expliziten Bedeutung zugerechnet werden. Dazu zählen elaborative Inferenzen, die die Textwelt anreichern, ohne einen Beitrag zur Kohärenz zu leisten. Sie umfassen Inferenzen, bei denen ein Instrument in‐ stantiiert wird, bei denen es zu einer wissensgeleiteten Spezifizierung kommt und als dritte klassifizierte Art die prädiktive Inferenz. Letztere basiert auf Kau‐ salität, sie werden dauerhaft als Teil der mentalen Repräsentation gespeichert, zwischen dem relevanten Kontext und dem inferenzauslösendem Material können weitere Textsegmente zwischengelagert sein und sie besitzen einen hy‐ pothetischen Status, was auch dem Rezipienten bewusst ist. Spezifizierungen und prädiktive Inferenzen werden on-line hergestellt, was in einer Vielzahl von experimentellen Studien gezeigt werden konnte. Eine zweite Gruppe bilden die kohärenzetablierenden Inferenzen. Der Be‐ reich umfasst einerseits lokale kohärenzstiftende Inferenzen, bei denen einander angrenzende Sätze in eine mentale Textweltrepräsentation integriert werden. Diese Inferenzen spalten sich ihrerseits auf in die Wort bezogenen direkten und indirekten Anaphern. Außerdem fallen in diesen Bereich das kausale Bridging und motivationale kohärenzstiftende Inferenzen, bei denen der Rezipient wis‐ sensgestützt ganze Sätze verknüpft. Andererseits umfasst dieser Bereich globale kohärenzstiftende Inferenzen. Hierbei steht die Konstruktion einer globalen ko‐ härenten Textwelt im Zentrum. Sie wird dadurch generiert, dass handlungsbe‐ schreibende Sätze mit explizit im Text benannten Zielen verknüpft werden, die sich auf verschiedenen Hierachie-Ebenen ansiedeln können und erfolgreiche wie gescheiterte Versuche, ein Ziel zu realisieren, integrieren. Dieser Typ wird wie alle kohärenzstiftenden Inferenzen on-line hergestellt. Dass Rezipienten überhaupt Inferenzen herstellen, liegt daran, dass sie einem allgemeinen Ziel folgen. Den in dieser Arbeit vorgestellten Ansätzen beabsich‐ tigt der Rezipient grundsätzlich, eine kausal reflektierte kohärente Textwelt zu konstruieren, was in dem konstruktivistischen Prinzip des search (or effort) after meaning ausgedrückt wird. 6 Zwischenfazit 106 <?page no="107"?> Neben den Inferenzen aus dem Bereich des Textverstehens wurden die klas‐ sischen Schlussverfahren der Philosophie beschrieben: die Deduktion, die In‐ duktion und die Abduktion. Bei der Deduktion handelt es sich um einen mono‐ tonen Schluss, aus wahren Prämissen folgt eine wahre Konklusion. Bei der Induktion wird von einer eingegrenzten Menge an Daten auf eine große Anzahl von Fällen geschlossen. Bei der Abduktion wird auf die beste Erklärung ge‐ schlossen. Induktion und Abduktion sind nicht monoton. Aus wahren Prämissen folgt nicht notwendigerweise auch eine wahre Konklusion. Die Plausibilität der Schlussfolgerung hängt bei diesen beiden Schlussverfahren von dem jeweiligen Stand der Prämissen ab. Kommen Prämissen hinzu, so kann sich die Plausibilität der Schlussfolgerung ändern. Bei der Konklusion eines deduktiven Schlusses ist dies nicht der Fall. Textweltrepräsentation. Auf der Grundlage des expliziten Texts und den da‐ rauf basierenden Inferenzen konstruiert der Rezipient eine mentale Repräsen‐ tation der Textwelt. Dijk und Kintsch unternahmen mit ihrem Propositionsmodell einen ersten Beschreibungsversuch. Dabei integriert der Rezipient in zyklischen simultan ablaufenden Operationen neu einlaufendes Textmaterial in einer propositio‐ nalen Struktur. Zunächst bezog sich dieses Modell lediglich auf explizites Text‐ material, in einer späteren Phase wurden Inferenzen stärker berücksichtigt. Eine kohärente Textweltrepräsentation liegt vor, wenn keine nicht integrierten Pro‐ positionsstrukturen vorhanden sind bzw. wenn alle propositionalen Elemente in einer Makrostruktur enthalten sind. Modernere Ansätze vernachlässigen die propositionalen Anteile. Sie rücken Kausalität auf der Handlungs- und Ereignisebene ins Zentrum. Dabei konnte experimentell gezeigt werden, dass Kausalität eine starke Auswirkung darauf besitzt, welche Bestandteile eine Geschichte erinnert werden. Zwaan ergänzt diese kausalitätsorientierten Ansätze um eine zeitliche und spatiale Dimension. So führt er verschiedene Perspektiven zusammen, die zuvor isoliert nebeneinander standen. Demnach konstruiert Rezipient eine multi-level representation einer Geschichte, bei der die Ereignis- und Handlungsebene einen zentralen Stellenwert besitzt. 6 Zwischenfazit 107 <?page no="109"?> III Spannung In Abschnitt 1.3 Spannung, eine vorläufige Arbeitsdefinition wurden mit dem Suspense, dem Curiosity und dem Puzzle die drei Haupttypen der Spannung in verdichteter Weise vorgestellt. In Kapitel 2 Forschungsstand wurde ein Überblick über die zentralen Ansätze im Bereich dieser drei Spannungstypen gegeben. In dem folgenden Teil stehen diese Typen im Mittelpunkt. Es soll gezeigt werden, dass eine kognitionslinguistische Perspektive ein präzise Erfassung der ein‐ zelnen Spannungstypen erlaubt und es dabei zugleich ermöglicht, die globalen Aspekte von Spannung zu beschreiben. Dazu werden einzelne Spannungstypen einzeln untersucht und dabei unter Berücksichtigung der in Kapitel 3 beschrie‐ benen linguistischen Begriffe und Theorien analysiert. Zunächst werden in Kapitel 7 einige grundsätzliche Überlegungen referiert und wichtige Aspekte zur Beschreibung von Spannung hervorgehoben. So werden Spannungsbögen in verschiedene Spannungsphasen zergliedert und Distanzen vorgestellt, die zwischen dem spannungsaufbauenden Element und der Auflösung bestehen können. Es wird die Frage diskutiert, ob Spannung ein intersubjektives Phänomen ist. Ein interdisziplinärer Zugang zur Spannung wird begründet und die daraus entstehenden Implikationen werden abgeleitet. Das Kapitel schließt mit methodischen Überlegungen zum Rezipienten, zum Text sowie zur Auswahl und zum Umgang mit Beispielen. In Kapitel 8 wird mit dem Suspense der erste Spannungstyp vorgestellt und linguistisch analysiert, in Kapitel 9 werden das Curiosity (Abschnitt 9.1) und das Puzzle (Abschnitt 9.2) vorgestellt und linguistisch beschrieben. Dabei werden jeweils verschiedene Möglichkeiten beschrieben, die einzelnen Spannungstypen zu erzeugen, bevor die globale Dimension untersucht wird. In Kapitel 10 werden Fälle vorgestellt, in denen sich Spannung auf der Grundlage von textuell etab‐ liertem Wissen über die Textwelt ergibt. <?page no="111"?> 1 Vgl. Brewer / Lichtenstein (1982), S. 482. 2 Vgl. Brewer / Lichtenstein (1982), S. 481. 3 Vgl. Brewer / Lichtenstein (1982), S. 481; Mertens (1998), S. 152. 7 Vorüberlegungen zur Spannung 7.1 Spannungsphasen Spannungsbögen lassen sich in drei Bestandteile unterteilen. Zuerst wird Span‐ nung aufgebaut, anschließend wird sie gehalten (sie kann retardiert oder ge‐ steigert werden) und im letzten Schritt wird sie aufgelöst. 1 Beim Aufbau und bei der Auflösung handelt es sich um klar bestimmbare Punkte, bei dem zwischen‐ gelagerten Schritt um eine Phase. Das auslösende Ereignis. Das auslösende Ereignis verursacht die Spannung. 2 Während der Begriff des auslösenden Ereignis in der Dramen- und Erzähltheorie als handlungsauslösend verstanden wird und damit einen Textwelt internen Bezug besitzt, wird er in dieser Arbeit auf der Seite des Rezipienten verortet. Elemente des schriftlichen oder audiovisuellen Textes geben den Anstoß für verschiedene mit den einzelnen Spannungstypen verbundene mentale Prozesse, ohne dass ein Diskurssegment in der Textwelt eine Handlung auslösen muss. (Das gilt für das Curiosity, Abschnitt 9.1, sowie für Puzzles, die in Abschnitt 9.2 beschrieben werden.) Retardation. Auf das spannungsinduzierende Element folgt häufig die Retar‐ dation (auch dramatische Pause). Dabei handelt es sich um das Aufschieben der Auflösung, indem zusätzliches Diskursmaterial eingelagert wird. 3 Zur Retarda‐ tion zählt also alles, was sich zwischen dem auslösenden Ereignis und der Auf‐ lösung ansiedelt, ohne Einfluss auf die Spannung zu nehmen. Diese Phase folgt auf das auslösende Ereignis, da man nur etwas verzögern kann, das schon im Bewusstsein des Lesers verankert wurde. In dem historischen Roman Die Säulen der Erde von Ken Follett zum Beispiel werden verschiedene Möglichkeiten der Retardation bemüht. Ein häufiges Re‐ tardationsmittel ist die Beschreibung von Umständen (Settings) und einzelnen Details. So werden spannende Stellen retardiert, indem Tonnengewölbe von Kathedralen im romantischen Baustil anschaulich und detailliert geschildert werden, ohne dass diese Beschreibungen zur Auflösung der Spannung bei‐ tragen. <?page no="112"?> 4 Der Wechsel zu einem anderen Handlungsstrang muss sich nicht zwangsläufig als re‐ tardierend erweisen. Darüber hinaus kann er zusätzliche spannungs- und auflösungs‐ relevante Informationen bieten, die sich auch auf die Figuren anderer Handlungsstränge auswirken können und das Gesamtgefüge damit um zusätzliche Spannungsimpulse er‐ weitern. Es handelt sich um eine Spannungserzeugung auf globaler Ebene. 5 Vgl. Follett, Die Säulen der Erde, S. 101. Der Wechsel zu anderen Handlungssträngen erweist sich als ein weit ver‐ breitetes Mittel zur Retardation. In dem Roman treibt eine Gruppe von Prota‐ gonisten und Antagonisten die Handlung an. Häufig wird in einem Strang Spannung aufgebaut. Ohne diese aufzulösen, werden die Ereignisse eines an‐ deren (neben- oder untergeordneten) Stranges aufgegriffen und erzählt. 4 Auch Kommentare, Gefühlsschilderungen und Reflexionen kommen bei der Retardation zum Einsatz. In Die Säulen der Erde sieht ein Protagonist, wie seine Tochter aus dem Stadttor kommt. Das Verlassen der Stadt durch die Tochter wurde zuvor als Signal dafür etabliert, dass bald durch dieses Tor auch ein Dieb die Stadt verlassen wird, der der Familie das Schwein gestohlen hat, was sie über den Winter bringen sollte. Der Rezipient erwartet, dass eine gewaltsame Aus‐ einandersetzung zwischen dem Vater und dem Schweinedieb bevorsteht, was ihn in Spannung versetzt. Klarheit wird der Leser erst dann erhalten, wenn die Tochter dem Vater tatsächlich mitteilt, dass der Dieb auf dem Weg ist. Auf diese Auflösung wartet also der Rezipient. Als die Tochter sich dem Versteck des Va‐ ters nähert, wird retardierendes Diskursmaterial zwischengeschaltet. Der Vater reflektiert darüber, wie sehr er seine Tochter liebt und wie schlecht ihre derzei‐ tige Situation für die gesamte Familie ist. 5 Retardation wird in dieser Arbeit als relationaler Begriff verstanden, der sich genau auf ein spannungsauslösendes Element und darauf folgende Diskursab‐ schnitte bezieht. Die Auflösung eines Spannungsbogens wird demnach durch zusätzliche retardierende Elemente aufgeschoben. Während das Diskursmate‐ rial sich retardierend auf einen Spannungsverlauf auswirken kann, kann in re‐ tardierenden Abschnitten selbst ein Spannungsbogen etabliert werden mit den verschiedenen Bestandteilen, die erneut in untergeordnete Spannungs- und Re‐ tardationsphasen mit einer Auflösung zerfallen können. Retardation wird hier also als ein rekursives Prinzip verstanden. So können verschiedene Spannungs‐ bögen sich gegenseitig retardieren, wenn sie keinen Einfluss auf die Span‐ nungskonstruktion des jeweils anderen Bogens besitzen. Aus dieser Rekursivität folgt, dass eine eingebettete Spannung über einen kürzeren Verlauf verfügt als eine übergeordnete und dass zwischen dem auslö‐ senden Ereignis und der Auflösung möglicherweise verschiedene Distanzen be‐ stehen, die erheblich variieren können. Die Retardation dient also als Mikro- 7 Vorüberlegungen zur Spannung 112 <?page no="113"?> 6 Vgl. Diteweg / Tan (1996), S. 165. 7 Vgl. Zillmann (1996), S. 227. und Makroverfahren, sie besteht auf lokaler und globaler Ebene. So können wenige Sätze als retardierende Elemente zum Einsatz kommen, aber auch Text‐ segmente, die sich über weite Teile eines Textes erstrecken. Leser von Krimi‐ nalromanen oder Psychothrillern werden zu Beginn der textuellen Darstellung in der Regel mit einem spannungsauslösenden Ereignis (ein Mord oder ein Lei‐ chenfund) konfrontiert, dessen Auflösung am Ende der textuellen Darstellung mit der Enthüllung, Festsetzung und dem Geständnis des Täters erfolgt. Große Teile des dazwischen liegenden Diskursmaterials kann man als Retardation auf der Makroebene beschreiben. Verhöre, Verfolgungsjagden und die Untersu‐ chung einzelner Indizien und Details können lokale Spannungsbögen konstitu‐ ieren. Spannungsauslösende Textsegmente können verschiedene Grade an Akti‐ vierung genießen. Sie sind aktiviert, wenn der Rezipient auf eine Auflösung wartet. Wenn retardierende Elemente auftauchen wie zum Beispiel ein neuer unabhängiger Spannungsauslöser oder ein Wechsel zu einem anderen Erzähl‐ strang oder zu einer anderen Szene, so kann sich die Aufmerksamkeit zugunsten der neu aufgebauten Spannung verschieben. 6 Das zuvor aktivierte Spannungs‐ element wird dadurch in den Hintergrund gedrängt. Es geht allerdings nicht verloren, sondern kann reaktiviert werden. Die Auflösung. Bei der Auflösung wird die Spannung abgebaut. Der Endpunkt eines Spannungsbogens ist erreicht, der Bogen wird geschlossen. Bei einer schwachen Auflösung kann sich die Leseerfahrung für den Rezipienten als un‐ befriedigend erweisen. Der vorangegangene Text (zum Teil betrifft dies den ge‐ samten Text) kann dadurch rückwirkend in ein schlechtes Licht getaucht werden, auch wenn viele der vorangegangenen Passagen intensive Spannungs‐ erlebnisse ermöglichten. In diesem Fall gibt es trotz eines hohen Anteils von Spannung eine negative Bewertung des gesamten Textes. Die Beurteilung eines Textes geschieht also nicht allein auf der Grundlage von Spannungsauslöser und der daran anschließenden Spannungsphase, sie basiert darüber hinaus auch auf der Auflösung. 7 Diese Einschätzung stammt von Zillmann, der Autor bezieht das Argument allerdings nur auf den Suspense. Der Punkt sollte sich allerdings von dieser spezifischen Ebene auf die allgemeine Ebene der Spannung über‐ tragen lassen, so wie es in der hier vorgenommenen Wiedergabe eingeflossen ist. Ein Beispiel für eine enttäuschende Auflösung stellt für den zeitgenössischen Leser die Technik des Deus ex machina dar, bei der die Handlung aufgelöst wird 7.1 Spannungsphasen 113 <?page no="114"?> 8 Vgl. Zillmann (1996), S. 227. 9 Vgl. Brewer / Lichtenstein (1982), S. 482. 10 Vgl. Pfister (2001), S. 143; Carroll (1996b), S. 100; Sternberg (1992), S. 527. 11 Vgl. Pütz (1970), S. 16; Scherf (1978), S. 99-100; Mertens (1998), S. 150-151; Büchler (1908), S. 244. 12 Vgl. Carroll (1996b), S. 100. durch eine oder mehrere Gottheiten, die gegen Ende eines Werkes plötzlich in Erscheinung treten und die Textwelt ordnen. Neben den Spannungsanteilen berücksichtigen Rezipienten Zillmann zufolge bei der Bewertung von Geschichten weitere Aspekte wie zum Beispiel humo‐ ristische Anteile. 8 Brewer und Lichtenstein zählen darüber hinaus weitere Fak‐ toren auf. So können sich unter anderem der Stil, der Inhalt und die Charakte‐ risierung von Figuren auf den Rezeptionsgenuss auswirken. 9 7.2 Lokale und globale Spannungsbögen, Rekursivität Eine weitere Differenzierungsmöglichkeit betrifft die textuelle Extension, auf die sich Spannung bezieht. Sie kann sich über kürzere oder umfangreichere Ab‐ schnitte ausdehnen. Je nach Umfang handelt es sich um Mikro- oder Makro‐ spannung. 10 Diese Unterscheidung wird bei Pütz unter den Begriffen Detail‐ spannung und Finalspannung behandelt, bei Scherf unter Episoden- und Grundspannung, bei Mertens als kurz- und weitbogige Spannung, auf der Mak‐ roebene spricht Büchler von Gesamtspannung. 11 Überträgt man die Terminologie der Textverstehensforschung auf diese Unterscheidung, so lässt sich von lokaler und globaler Spannung sprechen. Kombinationsmöglichkeiten von Spannungsbögen. Makro- und Mikro- Spannung können miteinander verbunden sein oder sich überschneiden und überlagern. 12 Grundsätzlich lassen sich Spannungsbögen in dreierlei Hinsicht kombinieren. Die eingelagerte Spannung, die überkreuzende Spannung und die aneinandergereihte Spannung (als Spezialfall der Wiederholung der einzelnen Spannung), die als rekursives Prinzip in beliebiger Komplexität auftauchen können. Die Unterscheidung in lokale und globale Spannung bezieht sich auf die werkimmanente Ebene und ist relativ zum jeweiligen Text zu sehen. Ein 50 Seiten überdauernder Spannungsbogen kann sich in einem 2.000 Seiten um‐ fassenden Roman auf der Mikroebene ansiedeln, während er in einer Kurzge‐ schichte einen möglichen Spannungsverlauf auf der Makroebene konstituiert. 7 Vorüberlegungen zur Spannung 114 <?page no="115"?> Abb. 7.1: Kombinationsmöglichkeiten von Spannungsbögen Hauptsächlich beschäftigt sich diese Arbeit mit dem Spannungsaufbau und der daran anschließenden Phase. Dabei wird gezeigt, dass es neben retardierenden Elementen, die nichts zur Auflösung beitragen, auch Textsegmente gibt, die die Spannung beeinflussen, ohne diese aufzulösen. Gleichzeitig hat die Aufteilung von Spannungsbögen in kleinere Einheiten eine methodische Konsequenz. Da der Auslöser etwas Punktuelles ist, muss man sich bei der Analyse nicht mit komplexen Texten beschäftigen, sie kann sich auf einzelne Sätze oder Sequenzen beziehen. So kann zum Beispiel auch eine Überschrift das Potential besitzen, Spannung zu erzeugen. Da Spannung unabhängig von der Auflösung besteht, wird diese bei der Analyse vernachlässigt. Lokale Spannungsbögen. Die Arbeit konzentriert sich auf Spannungstypen, die das Potential besitzen, global zu wirken. Das führt dazu, dass eine Reihe von spannungserzeugenden Phänomenen aus der Analyse herausfallen. Einige dieser lokalen Möglichkeiten der Spannungserzeugung sollen im Folgenden zu‐ sammengestellt werden. Die Auswahl steht beispielhaft für den bestehenden Variantenreichtum. Sie ist nicht erschöpfend und lässt sich um eine Vielzahl weiterer Phänomene ergänzen. Relationale Ausdrücke. Die Bestimmung eines relationalen Nomens (auch zweistellige Prädikatsausdrücke) hängt von einem anderen Element bzw. Argu‐ ment ab. Ein relationaler Ausdruck wie König kann nur bestimmt werden, wenn 7.2 Lokale und globale Spannungsbögen, Rekursivität 115 <?page no="116"?> 13 Vgl. Löbner (2015), S. 87-89. 14 Später werden wir sehen, dass es nicht auf einem Nomen basieren muss, sondern dass es um relationale kognitive Elemente geht, die durch linguistische Einheiten unter‐ schiedlicher Komplexität und durch Einheiten anderer Modalitäten realisiert werden können. Siehe dazu Abschnitt 7.4. 15 Vgl. Pullman, Der Goldene Kompass, S. 9. 16 Vgl. Fitzek, Noah. 17 Nesbø, Koma, S. 5. 18 Moyes, Ein ganzes halbes Jahr, S. 7. das entsprechende Königreich herangezogen wird. Untertypen relationaler Be‐ griffe sind Löbner zufolge unter anderem Rollenbegriffe (König, Präsident, Di‐ rektor oder Verwandtschaftsbezeichnungen wie Mutter, Chefin), Teil-von-Be‐ griffe (Kopf, Nase, Hals, Rücken). Ohne ihr jeweiliges Bezugselement zu konkretisieren, lässt sich der relationale Ausdruck nicht eindeutig bestimmen. 13 Auf der Grundlage solcher Nomen kann lokal Spannung aufgebaut werden, wenn dem Rezipienten das Bezugselement nicht bekannt ist. 14 (52) An die Wand gedrückt und von der Küche aus nicht zu sehen, schli‐ chen Lyra und ihr Dæmon durch den dämmrigen Speisesaal. 15 (52) stellt den Initialsatz des Fantasyromans Der Goldene Kompass dar, der vom britischen Autor Philip Pullman verfasst wurde. Das Nomen Speisesaal führt ein Gebäude ein, das der Rezipient beabsichtigt näher zu bestimmen. Auf einen ähnlichen Fall stößt man bei der Rezeption von Noah vom deutschen Thriller‐ autor Sebastian Fitzek. Das Buch benutzt Kapitelüberschriften wie Phase 1, Phase 2 und Phase 3, sodass der Rezipient danach strebt, das Bezugselement heraus‐ zufinden. 16 Kataphern. Kataphern verweisen auf Informationen im Folgetext. Backus sowie Fill zufolge dienen sie dazu, Spannung auszulösen. (53) Sie lag hinter der Tür und schlief. 17 (54) Als er aus dem Bad kommt, ist sie wach, hat sich gegen das Kopfkissen gelehnt und blättert durch die Reiseprospekte, die neben seinem Bett gelegen haben. 18 (53) gibt den Initialsatz im Prolog des Kriminalromans Koma vom norwegischen Erfolgsautor Jo Nesbø wieder. In dem Satz fungiert ein kataphorischer Verweis 7 Vorüberlegungen zur Spannung 116 <?page no="117"?> 19 Vgl. Fill (2007), S. 49. 20 Vgl. Backus (1965), S. 71-74. 21 Vgl. Backus (1965), S. 68, 74-76. 22 Schwarz-Friesel / Consten (2014), S. 153. 23 Vgl. Schwarz-Friesel / Consten (2014), S. 151-152. 24 Milton, „Paradise Lost“, S. 212. als spannungsauslösendes Instrument auf der lokalen Ebene. Das kataphorische Element sie führt einen Diskursreferenten ein, den der Rezipient zu identifi‐ zieren beabsichtigt. Mit der gleichen Technik beginnt der Prolog des Bestsellers Ein ganzes halbes Jahr von Jojo Moyes, indem er mit er und sie zwei Figuren über pronominale Kataphern einführt. Fill spricht im Bereich der pronominalen Ka‐ tapher auch von beziehungslosen Pronomen und spricht ihnen ein spannungs‐ auslösendes Moment zu. 19 Damit lehnt er seine Beschreibung an den Begriff des referentless pronoun von Backus an, dem zufolge der Gebrauch solcher Pro‐ nomen häufig mit Initialsätzen von Geschichten einhergeht. 20 Darüber hinaus stellt Backus fest, dass der Einsatz von definiten Nominalphrasen wie the girl häufig als character-substitutes auftreten und dass sie eine spannungsauslösende Funktion übernehmen. Der Autor fügt hinzu, dass es sich dabei um eine potentiell zentrales Diskurselement handeln muss, sodass eine definite Nominalphrase wie the sun ausgeschlossen ist. 21 Schwarz-Friesel und Consten zufolge entsteht Spannung aus einer Mischung aus referenzieller Unterspezifikation und Antizipation etwas Bedrohlichen. 22 Wenn der Rezipient ein Textsegment wie etwas packte sie an den Handgelenken mit dem unterspezifizierten Ausdruck etwas liest und es sich um eine als bedrohlich wahrgenommene Situation handelt, so wird er in Spannung versetzt. 23 Ihre Analysen und der Gebrauch des Ausdrucks Mischung legen nahe, dass für ein spannungsvolles Leseerlebnis gleichzeitig die referenzielle Unterspezifikation und der Bedrohungscharakter vorliegen müssen. Die Beispiele (53) und (54) haben allerdings gezeigt, dass semantisch arme Ausdrücke auch ohne eine Ge‐ fahrensituation zu Spannung führen können. In Kapitel 8 Suspense wird gezeigt, wie die Antizipation negativer Ausgänge Spannung allein auslöst. Retardierung syntaktischer Konstituenten. Of man’s first disobedience, and the fruit Of that forbidden tree, whose mortal taste Brought death into the world, and all our woe, with loss of Eden, till one greater Man restore us, and regain the blissful seat, sing heav’nly Muse. 24 7.2 Lokale und globale Spannungsbögen, Rekursivität 117 <?page no="118"?> 25 Vgl. Fill (2007), S. 7, 14. 26 Hübener (1913), S. 14-15. 27 Vgl. Wulff (2007), S. 30, 35, 356. Ein Hauptanliegen der Wissenschaft ist es, wahre Aussagen in ihren einzelnen For‐ schungsbereichen zu erzielen. Dabei kann es sich allerdings nicht um objektive Wahr‐ heiten handeln, da der Mensch nur durch den Filter seiner Wahrnehmung (und Ge‐ danken) die Welt erfährt. Der zentrale Prüfstein für Erkenntnis ist daher ihre Gustav Hübener zufolge erzeugt eine solche Passage Spannung, wie sie am An‐ fang des lyrischen Meisterwerks „Paradise Lost“ von Milton zu finden ist. Er führt das Phänomen auf die Ergänzungsbedürftigkeit des Subjektes durch ein Prä‐ dikat zurück. Demnach entsteht stilistische Spannung, wenn zwischen Subjekt und Prädikat zusätzliche Elemente eingeschoben werden. Hübener spricht auch von Spannung des Stils. 25 Er beschreibt den Spannungsbogen im Initialsatz des Gedichts folgendermaßen: Hierbei wird durch das an den Anfang tretende Genetivobjekt eine prädikative Span‐ nung angebahnt, die durch die Folge eines zweiten Objektes retardiert wird in einfa‐ cher Weise und ferner noch hingehalten durch die Einschiebung zweier Nebensätze, bis in ’sing heav’ly Muse‘ mit der Prädizierung die Lösung erfolgt. 26 Eine solche Retardierung syntaktischer Konstituenten kann auch durch Klam‐ mern im Satz erzeugt werden. Weinrich zufolge entsteht bei Verbal- und Nomi‐ nalklammern Spannung, sobald das öffnende Element realisiert wird. Die Span‐ nung wird mit dem schließenden Element aufgelöst, was im Bereich der Verbalklammern zum Beispiel für trennbare Verben und für Tempora gilt, die mit Hilfsverben gebildet werden. Bei Nominalklammern erzeugen eingescho‐ bene Attribute zwischen dem Artikel und dem Nomen Spannung, wie der um‐ fangreiche Einschub in ein trotz seiner grauen Haare anscheinend immer noch recht junger Mann verdeutlichen soll. 27 7.3 Subjektivität und Intersubjektivität Sobald man sich auseinandersetzt mit einem Thema wie Spannung, regt sich innerer Widerstand. Dieser gründet auf der Annahme, dass es sich bei diesem Effekt um ein hochgradig subjektives Empfinden handelt, dem wissenschaftlich kaum beizukommen ist. Dies kann deshalb keine echte Kritik sein, da jegliche (wissenschaftliche) Erkenntnis letztendlich subjektiv ist. Der eigentliche Vor- 7 Vorüberlegungen zur Spannung 118 wurf lautet daher, dass das Spannungsempfinden keinen intersubjektiven Cha‐ rakter besäße, es handle sich um einen Zustand, der in der subjektiven Wahr‐ 28 28 <?page no="119"?> Intersubjektivität (vgl. Schurz (2006), S. 23, 27). Um zu intersubjektiv übereinstimmenden Aussagen zu gelangen, benötigt es subjektive Erkenntnisse innerhalb der ver‐ schiedenen Wissenschaftsdisziplinen. Die Aussage, Spannung sei ein subjektives Phä‐ nomen, stellt zunächst keinen Einwand, weil das grundsätzlich für andere inklusive wissenschaftlicher Phänomene ebenfalls zutrifft. Zum Problem wird es, wenn Subjek‐ tivität besteht, ohne dass zugleich Intersubjektivität besteht. Bei übereinstimmenden Erkenntnissen einzelner Individuen kann man von Intersubjektivität sprechen. Sollte das nicht der Fall sein, so ist eine Erkenntnis zwar subjektiv allerdings nicht intersub‐ jektiv. 29 Bordwell (1985a), S. 29. 30 Vgl. Ohler (1994b), S. 133. Wie diese genau aussehen, wird in Absatz 8.3 aufgezeigt. Wenn man von Common Sense spricht, bedeutet das nicht, dass es um etwas Einfaches, Inkomplexes und Unwichtiges geht. Minsky zufolge ist What people vaguely call common sense is actually more intricate than most of the tech‐ nical expertise we admire […]. To be considered an ’expert,‘ one needs a large amount of nehmung verschiedener Individuen in vielerlei Hinsicht variiert. Was der eine als spannend empfindet, bedeutet für den anderen pure Langeweile, so der Einwand. Auch die Intensität und die jeweiligen Auslöser von Spannung gelten als subjektiv variabel. So reagieren verschiedene Rezipienten auf unterschied‐ liche Stimuli. Diese vielfach vorgetragene Kritik droht, das Thema als Gegen‐ stand wissenschaftlicher Forschung im Keim zu ersticken. Die entscheidende Frage lautet allerdings: Immunisiert eine solche Kritik das Thema Spannung gegenüber wissenschaftlich fundierter Forschung? Der Ver‐ fasser einer Doktorarbeit, der sich mit diesem Thema auseinandersetzt, wird den gerade vorgetragenen Einwand entschieden zurückweisen. Die Basis für die Annahme der Intersubjektivität bieten diverse Spannungsforscher sowie impli‐ zite Grundannahmen psycho- und kognitionslinguistischer Verstehensansätze: Dem Filmwissenschaftler David Bordwell zufolge handelt es sich bei den re‐ zeptionsbegleitenden Aktivitäten um eine definable variety of operations 29 . Ohler zufolge verfügt jeder Mensch grundsätzlich über das gleiche Potential. Bei übereinstimmenden kognitiven Voraussetzungen könnten zwei verschiedene Menschen zu den gleichen Ergebnissen kommen. Ohler abstrahiert damit eben‐ falls von der jeweiligen kognitiven Kompetenz des einzelnen Lesers und be‐ stimmt diese als intersubjektive Konstante. Das Ensemble von kognitiven Verar‐ beitungsmechanismen, das dem Rezipienten zur Verfügung steht, ist demnach universell. 30 Dass solche Gemeinsamkeiten bestehen, wird auch von kognitionswissen‐ schaftlicher und psycholinguistischer Seite vorausgesetzt. So beschreibt eine der herausragendsten Persönlichkeiten im Bereich der künstlichen Intelligenzfor‐ 7.3 Subjektivität und Intersubjektivität 119 schung, Marvin L. Minsky, seinen Frame-theoretischen Ansatz (der in Ab‐ schnitt 3.1 besprochen wurde) als eine Theorie des Common Sense  31 . Die An‐ 31 <?page no="120"?> knowledge of only a relatively few varietes. In contrast, an ordinary person’s ’common sense‘ involves a much larger variety of different types of knowledge - and this requires more complicated management systems (Minsky (1988), S. 72). nahme der Intersubjektivität ist in jeder Common-Sense-Theorie tief verwurzelt, eine Kernannahme solcher Theorien ist damit also auch ihre Über‐ individualität. Auch in den experimentellen Studien der psycholinguistischen Forschung bildet die Intersubjektivität eine tragende Säule. Dort werden wie in Teil II gezeigt Versuchsgruppen von repräsentativer Größe in der Regel mit Wörtern, Wortgruppen, Sätzen oder ganzen Texten konfrontiert. Zum Teil finden rezept‐ ionsbegleitende Messungen statt, zum Beispiel, indem die Lesegeschwindigkeit festgehalten wird. In anderen Studien erhalten die Teilnehmer nach dem Lesen zum Beispiel Aufgaben, bei denen sie bestimmte Einheiten reproduzieren sollen. Diese Experimente basieren in der Regel auf intersubjektiv zugrunde gelegten kognitiven Fähigkeiten. Dass es sich um eine große Übereinstimmung beim Wissen und bei der In‐ ferenzfähigkeit handelt, ist eine wissenschaftlich vorausgesetzte Idealisierung (siehe dazu auch Absatz 7.5). Sie abstrahiert einerseits von biographischen Wis‐ sensbeständen einzelner Personen, die sich aus nicht intersubjektiv geteilten Einzelerfahrungen ergeben. Auf der anderen Seite vernachlässigt sie hoch spe‐ zialisiertes Fachwissen diverser Berufsgruppen, das zum Beispiel Ärzte, Kunst‐ historiker, Astrologen oder Metzger besitzen. Diese Idealisierung ist im Bereich der Spannung legitim, da Spannung auf einer elementaren Ebene operiert. In dem historischen Roman Die Säulen der Erde von Follett möchte eine Figurengruppe eine Kathedrale errichten. Von An‐ fang an ist der Bau eng verknüpft mit der Existenz der Figuren, da von dem Einkommen eine Unterkunft und Lebensmittel bezahlt werden können. In diese spannungsvolle Grundsituation eingelagert finden sich detaillierte Beschrei‐ bungen von Kathedralen und der mittelalterlichen Gesellschaft. Ein Historiker oder ein Theologe könnte zu einer detaillierteren Anreicherung der Textwelt gelangen, die sich durch spezifisches Fachwissen über den historischen Kontext oder religiöse Zusammenhänge ergibt. Ein Leser, der mit der Materie nicht ver‐ traut ist, würde die Textwelt nicht in diesem Maße ausbauen können. Hinsicht‐ lich des Spannungsempfindens sollte der Roman allerdings bei beiden Rezipientengruppen gleich wirken, da das spannungsrelevante Wissen sich auf einer fundamentaleren Ebene ansiedelt und nicht vom fachlichen Hintergrund ab‐ hängt. Auch beim Lesen der Beispiele (1) bis (3) aus Abschnitt 1.3 sollte die 7 Vorüberlegungen zur Spannung 120 <?page no="121"?> 32 An die Annahme der Intersubjektivität schließen zwei Aspekte an. Einerseits gehen geschlechtsspezifische Unterscheidungen verloren, weil der überindividuelle Charakter Männer und Frauen gleichermaßen mit einschließt. Auf der anderen Seite erinnert diese Vereinheitlichung an mögliche Lesertypologien, wie man sie aus der literaturwisschen‐ schaftlichen Literaturforschung kennt. Dort gibt es unter anderem a) den fiktiven Leser, der von der textproduzierenden Instanz zum Teil direkt adressiert wird mit Formulie‐ rungen wie lieber Leser (vgl. Goetsch (1983), S. 201-207). Es gibt b) den intendierten Leser, den der Autor beim Verfassen eines Werkes als Zielgruppe anvisiert (vgl. Wolff (1983), passim; Iser (1994), S. 60), c) den empirischen Leser, der einen Text tatsächlich gelesen hat und d) den idealen Leser, der die Gesamtheit der erforderten mentalen Prozessen tatsächlich ausführen kann (vgl. Schöttker (2008), S. 526). Zusätzlich gibt es in literaturwissenschaftlichen Rezeptionstheorien e) den idealen Leser im Sinne Isers, bei dem es sich im Grunde genommen um eine auf der Textseite angesiedelte Entität, nämlich der Wirkungsstruktur des Textes (Iser (1994), S. 60) handelt bzw. um die Ge‐ samtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Re‐ zeptionsbedingungen anbietet (Iser (1994), S. 60). überwiegende Mehrheit der Rezipienten auf der Grundlage ihres Wissens die jeweilige Anreicherung des Textes problemlos vornehmen können. 32 Bei dem in dieser Arbeit vorausgesetzten Rezipienten handelt es sich daher um eine abstrakte, homogene und idealisierte Entität, die die spannungsrele‐ vanten Aspekte verarbeitet. Diese setzen in der Regel auf der oben beschrie‐ benen grundlegenden Ebene des Common-Sense an - dass diese mentalen Ope‐ rationen tatsächlich ausgeführt werden, wird daher als sehr wahrscheinlich eingeschätzt (vorausgesetzt, dass der Rezipient die Textwelt für real hält, wie es in Abschnitt 1.3 beschrieben wird). 7.4 Spannung als interdisziplinärer Forschungsgegenstand In diesem Abschnitt soll das Verhältnis von Text und Film betrachtet werden. Im Zentrum stehen zwei Argumentationslinien: • Die Zeichensysteme Film und Text sind isomorph. • Die Konstruktion einer mentalen Repräsentation und die Integration neu einlaufenden Diskursmaterials geschieht unabhängig von der Modalität. Eine zeichenzentrierte Argumentation würde versuchen, Parallelen zwischen Text- und Filmzeichen sowie anderen semiologischen Systemen aufzuzeigen, um so deren isomorphen bzw. strukturidentischen Charakter hervorzuheben. Eine solche Argumentation könnte auf die allgegenwärtig wahrnehmbare Ten‐ denz gestützt werden, dass Bücher, Filme und Theaterstücke adaptiert werden, beziehungsweise dass sie sich problemlos in das jeweils andere Medium über‐ 7.4 Spannung als interdisziplinärer Forschungsgegenstand 121 <?page no="122"?> 33 Vgl. Kiefer (2007), S. 243. 34 Vgl. Metz (2004), S. 71-76. 35 Jackendoff (1983), S. 36. 36 Vgl. Dijk (1980b), S. 162. setzen lassen. Sie könnte begründet werden durch die Tatsache, dass Filme auf Drehbüchern beruhen und Theaterstücke auf Dramen. Der Filmwissenschaftler Bernd Kiefer schreibt, dass Begriffe wie Avantgarde, Genre und Autorschaft über einzelne Ausdrucksformen hinweg zum Einsatz kommen. 33 Auch das könnte eine die Isomorphie-These stützen, da eine über‐ einstimmende Terminologie strukturelle Übereinstimmungen nahelegt. Gegen die Isomorphiethese wird eingewandt, dass es trotz einiger Überein‐ stimmungen gravierende Unterschiede gibt zwischen diesen beiden Zeichen‐ systemen. Christian Metz zufolge besitzen die einzelnen Bilder eines audiovi‐ suellen Textes in der Regel keine symbolische Bedeutung, weder auf der semantischen noch auf der grammatikalischen Ebene. Daher kann es auch keine Stabilität zwischen Ausdruck und Bedeutung gegeben. Die kleinsten Einheiten des Films entstehen durch den Kameramann, in der Sprache sind sie bereits als Teil der Sprachgemeinschaft vorhanden. 34 Eine rein zeichengestützte Argumen‐ tation erlaubt es daher nicht, die Interdisziplinarität zu begründen. Der zweite Argumentationsstrang betrachtet den Gegenstand aus der Per‐ spektive des Rezipienten bzw. aus der Perspektive der vom Rezpienten konstru‐ ierten mentalen Welt: In der psycho- und kognitionslinguistischen Forschung geht man in Anlehnung an Jackendoff davon aus, dass sprachliche Zeichen auf eine projizierte Welt referieren, die auf der kognitiven Ebene angesiedelt ist, die durch den jeweiligen Text konstituiert wird und die fiktive, reale, vergangene und aktuelle Diskursentitäten repräsentieren kann. What the information is about - the reference of linguistic expressions - is not the real world, as in most semantic theories, but the projected world. 35 Bei den kognitiven Prozessen, die unter anderem die Konstruktion einer Text‐ welt bewirken, handelt es sich um fundamentale geistige Operationen, die auch bei Stimuli aus anderen Medien auftreten. Demnach wird eine mentale Welt ähnlich konstruiert - unabhängig davon, ob es sich um Sehverstehen, Textver‐ stehen etc. handelt. Die Konstruktion ist also nicht modalitätsspezifisch, d. h. sie hängt nicht von einer bestimmten Modalität ab, was im englisch sprachigen Diskurs auch mit modality free ausgedrückt wird. 36 7 Vorüberlegungen zur Spannung 122 <?page no="123"?> 37 Brewer / Lichtenstein (1982), S. 476. 38 Vgl. Baggett (1979), S. 352-353. 39 Vgl. Gernsbacher / Varner / Faust (1990), S. 433-434, 441. 40 Kendeou (2015), S. 168. 41 Vgl. Bordwell (1985a), S. 30-40; Wulff (1993); Wuss (1993a), S. 108-117, 167-172; Ohler (1994a), S. 32-38; Ohler / Niedling (1994), S. 105-107; Branigan (1992), S. xi-xii, 13-17. Discourse is taken to be modality free so that the same discourse organization could potentially be expressed in written or spoken language or in a nonlinguistic form such as a silent movie. 37 Dass die Textwelt modalitätsunabhängig identisch konstruiert wird, wird auch durch verschiedene empirische Studien nahegelegt. Eine Gruppe von Versuchs‐ teilnehmern sah einen Kurzfilm und sollte in einer anschließenden Aufgabe die Struktur der Geschichte wiedergeben, eine zweite Gruppe hörte Kurzge‐ schichten und bekam die gleiche Aufgabe. Die angegebenen Episodenstrukturen beider Gruppen deckten sich. 38 Darüber hinaus bearbeiten Versuchspersonen Informationen gleich - unabhängig davon, ob sie aus einem geschriebenen, ge‐ sprochenen oder aus einem visuellen Medium stammen. Wer in einer experi‐ mentellen Studie von Gernsbacher, Varner und Faust bei der Rezeption schrift‐ sprachlicher Texte gut abschnitt, verarbeitete auch auditiv und piktoral dargebotene Geschichten auf einem hohen Niveau, und umgekehrt. Sie führen dies zurück auf die allgemeine Verstehensfähigkeit (general comprehension skill), dass die Versuchsteilnehmer ein hohes Niveau besitzen bei der Konstruk‐ tion einer mentalen Repräsentation. 39 Kendeou spricht von einer general infe‐ rence skill und beschreibt den modalitätsunspezifischen Charakter der Textver‐ arbeitung folgendermaßen: [U]nderstanding texts presented using different media (via television, aurally, written) requires many of the same cognitive processes (e. g., sequencing events, connecting events, activating and integrating background knowledge, monitoring comprehen‐ sion). 40 Darüber hinaus finden die repräsentationalen und prozedualen Aspekte, die in der kognitionsorientierten Linguistik im Zentrum stehen, auch in der Filmwis‐ senschaft breite Anwendung. So werden sie auf die Rezeption von Filmen über‐ tragen von Autoren wie Ohler, Wulff, Wuss und sowohl von Bordwell als auch Branigan, die zu den amerikanischen Schwergewichten der Filmwissenschaft zählen. 41 So verdeutlicht Branigan die Annahme der Modalitätsunabhängigkeit an der Wahl seiner Beispiele: 7.4 Spannung als interdisziplinärer Forschungsgegenstand 123 <?page no="124"?> 42 Branigan (1992), S. xii. 43 Vgl. Johnson-Laird (1993), S. 470. My examples of narrative principles will be taken mainly from films, but always with the idea that the principles illustrated extend to the narrative organization of literary and other kinds of material. 42 Damit bestätigen auch diese Autoren aus den Lagern der Textrezeption und des Filmverstehens die fundamentale Annahme von Johnson-Laird, dass der Mensch Wahrnehmungsdaten der unterschiedlichen Kanäle wissensbasiert in ein mentales Modell überführt. 43 Die Übereinstimmung bei Inferenzen und bei der mentalen Repräsentation hat zwei Konsequenzen für diese Arbeit. Da Spannung über die mentale Reprä‐ sentation gebildet wird, die modalitionsunspezifisch ist, erlaubt die Gleichset‐ zung hinsichtlich des Textweltmodells, dass audiovisuelle neben schriftsprach‐ lichen Texten als Beispiele einbezogen werden. Andererseits erlaubt sie, dass nicht linguistische Arbeiten zum Thema Span‐ nung einbezogen werden. Das ist deshalb wichtig, weil die überwiegende Zahl der Wissenschaftler, die sich überhaupt mit Spannung auseinandersetzen, sich bei ihren Analysen auf audiovisuell erzeugte Spannung beziehen - Wissen‐ schaftler aus so unterschiedlichen Feldern wie etwa der Filmwissenschaft, der Psychologie und der Emotionswissenschaft. 7.5 Methodische Aspekte Um verschiedene Arten der Spannungserzeugung näher zu untersuchen, bietet es sich an, die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes zu reduzieren und dadurch die idealen Voraussetzungen zu schaffen, um die konstituierenden As‐ pekte aufzudecken. Das methodische Ziel muss sein, verzerrende und irrele‐ vante Faktoren zu eliminieren. Die Komplexitätsreduktion kann dabei einerseits auf der Seite des Rezipienten erfolgen und stellt sich in diesem Fall als eine Reihe von Annahmen dar. Auf der anderen Seite kann die Komplexitätreduktion auf der Seite des Textes vorgenommen werden, was sich auf die Auswahl und den Umgang mit Beispielen auswirkt. Komplexitätsreduktion und Idealisierungen auf der Rezipientenseite: Homogenisierung von Wissensbeständen und Inferenzstärke. Das Wissen über einen bestimmten Bereich kann beim einen Rezipienten umfang‐ reicher ausfallen als bei einem anderen, zugleich können verschiedene Rezi‐ 7 Vorüberlegungen zur Spannung 124 <?page no="125"?> 44 Vgl. Busse (2015), S. 315-316. ienten unterschiedliche inferentielle Kompetenzen aufweisen. In Abhängigkeit von dieser Heterogenität auf der Rezipientenseite kann es bei der Verarbeitung textueller Informationen zu verschiedenen Inferenzen und Wissensaktivie‐ rungen kommen, die sich auf die Ergebnisse auswirken. Um dies zu vermeiden, muss bei der Analyse auf eine als homogen unterstellte Wissensmenge und In‐ ferenzstärke zurückgegriffen werden (wie in Abschnitt 7.3 bereits angedeutet). Dabei kann es sich nur um den kleinsten gemeinsamen Nenner handeln, d. h. um prototypisch organisiertes Standardwissen, das auf einer fundamentalen Ebene ansetzt und das als Common-Sense-Theorie Minsky’scher Ausprägung die Annahme der Intersubjektivität als fundamentalen Bestandteil mitein‐ schließt. Abstrahiert wird also von Spezialwissen etwa juristischer oder be‐ triebswirtschaftlicher Art, das einen verzerrenden Faktor bilden kann, wenn zum Beispiel ein Rechtsanwalt oder Ökonomieprofessor einen Wirtschaftsthriller liest (siehe dazu auch die Anmerkungen in Abschnitt 7.3). Diese Überlegungen und ihre methodischen Implikationen sollen dazu bei‐ tragen, dass verschiedene Wissensbestände und unterschiedliche inferentielle Leistungsniveaus sich nicht auswirken auf die Analyse. Rezipienten sollten das informationelle Angebot der Beispiele gleich verarbeiten. Grundsätzlich gilt, dass Spannung auf verschiedenen kognitiven Prozessen basiert. Der Rezipient liest einen spannungsinduzierenden Stimulus und greift auf sein Wissen, auf Inferenzen und auf die Konstruktion einer mentalen Text‐ welt zurück, wie sie in Teil II beschrieben werden. Es sind nicht konstant alle kognitiven Aspekte gleichermaßen involviert, in der Regel basieren verschie‐ dene Spannungstypen auf einem klar abgesteckten Repertoire an kognitiven Operationen. Komplexitätsreduktion auf der Seite des Stimulusmaterials. Auf der Text‐ seite dient die Komplexitätsreduktion dazu, fundamentelen wissenschaftstheo‐ retischen Kriterien gerecht zu werden. So sollen Störfaktoren eliminiert, indem gleichzeitig auftretende Spannungstypen getrennt und einzelne Spannungs‐ typen isoliert werden. Der erste Schritt, um versteckte und verzerrende Variablen zu eliminieren, besteht darin, sich auf überwiegend schriftsprachliche Texte zu konzentrieren. Busse zufolge benötigt diese reduzierte Kommunikationssituation nur den Text und den Textrezipienten, der Diskursmaterial mit seinem Wissen verknüpft. Daher verfügt schriftliche Kommunikation im Vergleich zu mündlicher Kom‐ munikation über weniger Bestandteile. So sind paraverbale Signale wie Intona‐ tion und Prosodie getilgt. 44 Um die Faktorenreduktion weiter voranzutreiben, 7.5 Methodische Aspekte 125 p <?page no="126"?> 45 Vgl. Saussure (2001), S. 82. wird die pragmatische Dimension insofern ausgeblendet, als dass sie inferenz‐ relevante Intentionen und Besonderheiten der Situation betreffen. Trotz dieser Entpragmatisierung - wie es Iser formuliert - werden Grice’sche Aspekte nicht vollständig ignoriert. Berücksichtigt werden Standard-Inferenzen, die keinen hohen Grad der Kontextsensitivität aufweisen und die einen Teil der rezipien‐ tenseitigen Annahmen eines generellen Textproduzenten im Sinne Busses aus‐ machen sollten. Dazu zählen die Annahmen, dass der Textproduzent aufrichtig ist und dass Relevanzerwartungen erfüllt sind. Schriftsprachlicher Text ist als Stimulusmaterial auch gegenüber audiovisu‐ ellem Material privilegiert, weil er wie von Saussure beschrieben der Linearität folgend eindimensional ist. 45 Audiovisuelle Stimuli weisen mit ihren vielen Di‐ mensionen ein höheres Komplexitätsniveau auf, weshalb sich der Forscher stärker dem Risiko aussetzt, dass relevante Variablen unberücksichtigt bleiben und Störfaktoren die Ergebnisse verzerren. Somit stellt sich die Eindimensio‐ nalität bzw. Linearität als methodischer Vorteil der Sprachwissenschaft dar. Schriftsprachlicher Text sollte sich darüber hinaus als praktikabler erweisen, wenn es darum geht, einzelne inferenz- und spannungsauslösende Elemente präzise zu bestimmen, da man das Stimulusmaterial mühelos manipulieren kann. Obwohl die Analyse sich im Idealfall auf schriftsprachliche Texte konzent‐ riert, stellt man bei der Feldforschung zum Teil fest, dass ein audiovisueller Text in manchen Fällen einen Spannungstyp optimal realisiert. In diesem Fall soll die illustrative Kraft mehr ins Gewicht fallen als die komplexitätsreduzierenden Kriterien. Daher werden unter anderem Passagen aus Büchern und Zeitungsartikeln auf ihr spannungsinduzierendes Potential hin abgeklopft. Des Weiteren fließen auch Beispiele aus dem Film und Fernsehen mit ein. Vom rein fiktionalen bis zum rein faktionalen, vom Autorenkino bis hin zum Mainstream. Das große Spektrum der Textsorten, Medien und Formate soll verdeutlichen, dass der Spannung eine universelle Relevanz zukommt. Der Anspruch, die Komplexität zu reduzieren, wirkt sich aus auf die Wahl der und den Umgang mit den benutzten Beispielen. Mögliche Kandidaten für die spannungsinduzierende Textsegmente werden nicht zwangsläufig im Wortlaut übernommen, zum Teil werden sie in einer manipulierten Variante wiederge‐ geben. Die manipulierten Versionen werden auf verschiedene Arten und Weisen generiert. So werden Passagen gekürzt, zusammengefasst und / oder in der Rei‐ henfolge umgestellt. Wenn sie gekürzt werden, dann werden zum Beispiel Text‐ 7 Vorüberlegungen zur Spannung 126 <?page no="127"?> 46 Vgl. Brewer / Lichtenstein (1982), S. 482; Zillmann (1996), S. 227. segmente getilgt, die die Relation zur Figur in eine positive oder negative Rich‐ tung etablieren oder verändern, die dazu dienen, durch präzise Detailbeschreibungen die Realitätsillusion aufzubauen oder zu erhöhen, es können retardierende Elemente ausgesondert werden wie zum Beispiel die Beschrei‐ bung des Wetters oder kleine Werbepassagen (siehe die englische Version von Verblendung). Wenn Passagen zusammengefasst werden, dann liegt das in der Regel daran, dass einem bestimmten Aspekt eine komplexe sprachliche Einheit zugrunde liegt, die von mehreren Sätzen bis hin zu einer Vielzahl an Seiten reichen kann. Bei den einzelnen Beispielen wird angegeben, wie in das Text‐ material eingegriffen wurde. In Absatz 7.1 Die Auflösung. wurden Faktoren aufgelistet, die Rezipienten bei Ihrer Beurteilung eines Textes berücksichtigen. Zillmann zählt dazu humoris‐ tische Anteile, bei Brewer und Lichtenstein werden unter anderem thematische Aspekte benannt. 46 Solche Aspekte fließen nur dann in die Analyse ein, wenn sie für die Spannungskonstruktion in dem jeweiligen Beispiel eine Rolle spielen. Andernfalls werden sie gekürzt. Darüber hinaus werden Passagen eliminiert, die zwar für das gesamte Werk verstehensrelevant sind, die aber bei Beschrei‐ bung eines bestimmten Spannungstyps keine Relevanz besitzen. Die Manipulation findet besonders ausgeprägt in den Passagen statt, die die Rolle eines Spannungstyps auf der globalen Ebene beschreiben. Das liegt daran, dass sich solche Texte über mehrere Hundert Seiten erstrecken können, wenn die Spannung eine werkübergreifende Funktion erfüllt. Die Werke in diesen Fällen wortgetreu wiederzugeben, wäre nicht praktikabel. Es würde die An‐ schaulichkeit, Lesbarkeit und Stringenz sensibel beeinträchtigen, ohne einen evidentiellen Mehrwert zu generieren. 7.5 Methodische Aspekte 127 <?page no="128"?> 47 Bei den meisten Autoren fallen unter den Begriff Suspense alle Arten zukunftsgerich‐ teter Spannung (vgl. Carroll (1996b), S. 101; Sternberg (1978), S. 65, 244; Sternberg (1992), S. 531). Bei Hitchcock dagegen handelt es sich um einen Spezialfall, der sich ergibt, wenn der Rezipient über Informationen verfügt, die mindestens eine Figur nicht besitzt. Aus dieser asymmetrischen Verteilung der Wissensbestände konstruiert der Rezipient eine negative Konsequenz (dieser Fall wird in Absatz 8.4.2 beschrieben). 48 Vgl. Schulz (1981), passim. 49 Vgl. Kullmann (2001), S. 105. 50 Vgl. Schulz (1981), S. 11. 8 Suspense In diesem Kapitel wird der erste Haupttyp der Spannung untersucht, der Sus‐ pense. Zunächst wird eine klassische, in der Literaturwissenschaft erarbeitete Beschreibung referiert. Anschließend werden die Ergebnisse des Psychologen Zillmann vorgestellt. Diese leiten zu einer kognitiven Betrachtungsweise über, die vom Filmwissenschaftler Wulff eingeläutet wird und die in dieser Arbeit unter Berücksichtigung der in Teil II eingeführten Begriffe auf der lokalen und globalen Ebene weiter ausgearbeitet wird. 47 8.1 Das Quest-Motiv Im klassischen Fall der dramatischen Spannung möchte eine Figur (bzw. eine Figurengruppe, ein Aktant oder eine Institution) ein Ziel bedingungslos errei‐ chen, dabei stellen sich ihr Probleme in den Weg. Dieses storytypische Grund‐ element wird in literaturwissenschaftlichen und narratologischen Diskursen auch quest-Motiv genannt. 48 Es setzt sich aus zwei Hauptkomponenten zu‐ sammen: Einerseits aus dem unbedingten Willen und andererseits aus Hinder‐ nissen. Bei diesem Spannungstypen ist es essentiell, dass der Leser sowohl das Ziel als auch die Hindernisse kennt. 49 Bei dem Ziel kann es sich zum Beispiel darum handeln, eine größere Summe Geld zu erhalten, die Freiheit (wiederzu-)gewinnen, eine Prinzessin oder einen Schatz zu erobern, existentielle Bedürfnisse zu befriedigen wie einen Partner zu finden oder das nackte Überleben zu sichern. 50 Als Hindernisse bzw. Probleme können Phänomene der Natur auftreten, be‐ stimmte gesellschaftliche Konstellationen (zum Beispiel in einem totalitären <?page no="129"?> 51 Vgl. Smiley, S. 56; Shaw (1972), S. 91-92. 52 Vgl. Knobloch (2003), S. 382; Wuss (1993a), S. 327. 53 Vgl. Schulz (1981), S. 8. 54 Vgl. Kullmann (2001), S. 105, 112. 55 Vgl. Comisky / Bryant (1982), S. 57. 56 Vgl. Zillmann (1991), S. 282. Staat) oder die eigenen Werte, Vor- und Einstellungen. 51 Um den dynamischen Anforderungen von Handlung gerecht zu werden, erscheinen in audiovisuellen und sprachlichen Texten nicht nur die in der Regel anthropomorph angelegten Protagonisten als dynamisch. Auch die antagonistischen Kräfte treten hochdy‐ namisiert in Erscheinung - unabhängig davon, ob es sich um anthropomorphi‐ sierte Kräfte handelt oder nicht. So entstehen auf Bergen Lawinen, Computer übernehmen die (Welt-)Herrschaft, in Meeren entstehen Tsunamis, Vorfälle in Atomkraftwerken entwickeln ihre schreckliche Eigendynamik. Spannungsgeladene Geschichten ergeben sich aus Konflikt(-ketten) zwischen oppositionellen Parteien. 52 Sobald der Protagonist auf ein Problem trifft, ergibt sich ein Konflikt. Im Zusammenspiel führen Ziele und Hindernisse zu einem konfliktgeladenen Text, dessen kollidierende Kräfte sich auf verschiedenen (der oben genannten) Ebenen ansiedeln können. Häufig führt die Bewältigung eines Hindernisses zu neuen Komplikationen, die zu neuen Zielen führen. So hangelt sich ein Protagonist von Hürde zu Hürde, die Spannung setzt sich von Hindernis zu Hindernis fort. 53 In der Regel befasst sich der Hauptteil der Geschichte mit den Hindernissen. Die Romanreihe Der Herr der Ringe stellt ein klassisches Beispiel für eine Geschichte dar, die auf dem Quest basiert. 54 Generell gilt für Texte, deren Grundstruktur von dieser drama‐ tischen Struktur geprägt ist: Je aussichtsloser das Erreichen des Ziels erscheint, desto intensiver erfährt der Rezipient die Spannung. 55 8.2 Suspense als Antizipation eines negativen Ausgangs Der US -amerikanische Filmpsychologe Dolf Zillmann zählt zu den einfluss‐ reichsten Figuren in der Spannungsforschung. Seinen empirischen Untersu‐ chungen zufolge resultiert das Erleben von Spannung aus dem Zusammen‐ wirken von psychologischen Prozessen und textuellen bzw. audiovisuellen Elementen. Die psychologischen Prozesse umfassen die rezipientenseitige Ein‐ stellung gegenüber den Figuren, die Angst vor dem Eintreten eines negativen Ausgangs, das eine hohe Wahrscheinlichkeit genießt. 56 Die folgenden Kompo‐ nenten stehen bei Zillmann im Mittelpunkt. 8.2 Suspense als Antizipation eines negativen Ausgangs 129 <?page no="130"?> 57 In der Diskussion um die Relation zwischen Figur und Rezipient sind zwei Fragen von Bedeutung: Wie lässt sich die Relation beschreiben? Und wie entsteht diese Relation? Einige Diskussionsstränge sollen hier angedeutet werden. Nach Jose und Brewer sowie Jauß besteht zwischen Leser und Figur ein Identifikati‐ onsverhältnis. Der Rezipient identifiziert sich mit dem Protagonisten, was das emotio‐ nale Erlebnis eines audiovisuellen Produkts steigert (vgl. Jose (1984), S. 911, 920; Jauß (1982), S. 244-292). Dabei wird die Relation nicht als symmetrisch konzipiert. Die Figur identifiziert sich also nicht mit dem Rezipienten, sie sorgt sich nicht um ihn, sie nimmt keine Rücksicht auf ihn, indem sie gefährliche Situationen vermeidet etc. Das Gegenteil ist der Fall. Gegen die Annahme, dass Rezipienten sich mit Figuren identifizieren, richtet sich unter anderem Carroll (vgl. Carroll (1996a), S. 80). Auf der einen Seite glauben Rezipienten nicht, dass sie im Begriff sind vom Zug überrollt oder von einer Gruppe Terroristen gefoltert und erschossen zu werden, wenn sich auf der Textebene eine solche Entwick‐ lung abzeichnet. Zugleich verspüren Rezipienten weder Schmerz noch bluten oder sterben sie bei einem tatsächlichen Eintreten eines solchen Ereignisses, was sich für die Figur innerhalb der Textwelt anders gestalten kann (vgl. Carroll (1996b), S. 116). Der zweite Grund betrifft die Wissensbestände von Figur und Leser. Texte beschreiben häufig Situationen, in denen der Leser über einen anderen Wissensstand verfügt als die Figuren (vgl. Carroll (1996a), S. 80; Zillmann (1996), S. 212-213). In Beispiel (1) (auf Seite 163) weiß der Leser zum Beispiel, dass auf dem Dach ein Scharfschütze positioniert ist und konstruiert eine negative Konsequenz. Die Figur hingegen verfügt nicht über dieses Wissen, anderenfalls würde sie nicht so leichtfertig vor das Fenster spazieren. Die Relation zu einzelnen Figuren und insbesondere zu dem Protagonisten sowie die Ablehnung anderer Figuren - einschließlich des Antagonisten - ergeben sich Carroll zufolge aus einer relativ undifferenzierten moralischen Zweiteilung in Gut und Böse. Im Film wird eine Seite vom Rezipienten als moralisch, die andere als unmoralisch eingestuft. Zu dem Guten baut der Rezipient eine positive Relation auf, dem Bösen gegenüber ist er abgeneigt. Die zugrunde liegenden moralischen Annahmen entspre‐ chen in der Regel nicht den komplexen Ansprüchen moraltheoretischer Überlegungen der praktischen Philosophie. Vielmehr orientieren sie sich an einer relativ inkomplexen Alltagsmoral und werden so dem Niveau des durchschnittlichen Rezipienten gerecht (vgl. Carroll (1990), S. 81). Die Ethikkonzeption muss dabei nicht zwangsläufig über‐ einstimmen mit den jeweiligen moralischen Standards des Rezipienten. Texte entfalten zum Teil ein eigenes System von Moral und Normen. Moralische Mängel gleicht der Protagonist aus durch herausragende Eigenschaften (vgl. Carroll (1996b), S. 104-105). Zillmann betont, dass Rezipienten stark divergieren in ihren moralischen Einstellungen, auf die auch eine Geschichte keinen Einfluss besitzt (vgl. Zillmann (1996), S. 205). In einem narrativen Text geht es ihm zufolge darum, dass ein Protagonist sympathisch ist und ein Antagonist unsympathisch. Ein Identifikationsverhältnis besteht demnach also nicht (vgl. Zillmann (1996), S. 209, 210-214). Diese Einschätzung teilt auch Mertens (vgl. Mertens (1998), S. 152). Oatley nimmt eine vermittelnde Position ein. Er geht davon aus, dass bei der Rezeption zwar Emotionen beteiligt sind, dass diese sich mit denen von Figuren decken können, sich allerdings nicht zwingend mit diesen decken müssen. Es sind demnach also zwei positive Relationen möglich: Empathie und Identifikation - Oatley spricht im Fall der Identifikation auch von einer temporäre[n] Übernahme von Handlungszielen und -plänen des Protagonisten (Junkerjürgen (2002a), S. 38), wie Junkerjürgen dessen Position poin‐ tiert zusammenfasst (vgl. Oatley (1994), S. 68-69). • favorisierte Figuren (liked protagonists) 57 8 Suspense 130 <?page no="131"?> 58 Vgl. Zillmann (1991), S. 282. 59 Ohlander (1989), S. 8-9. 60 Zillmann (1980), S. 135. • mögliche negative Konsequenzen • die Wahrscheinlichkeit, dass ein negativer Ausgang eintritt Diese drei Faktoren stehen in systematischen Relationen zueinander. So müssen vom Rezipienten favorisierte Protagonisten von möglichen negativen Konse‐ quenzen betroffen sein, damit der Rezipient einen negativen Ausgang fürchtet. 58 Eine mit Zillmann übereinstimmende Charakterisierung vom Sus‐ pense liefert Ohlander (ausgenommen ist der Aspekt der Unsicherheit, s. u.), ohne auf Zillmann Bezug zu nehmen: Dramatic suspense may be defined as a state of tension pitting the spectator’s hopes against his fears, and deriving from his uncertainty and / or anticipation […] concer‐ ning unhappy events that threaten to befall a character for whom he is concerned. It may be called a measure of the extent of our identification with the characters on stage and the events in which they are involved. Thus, the greater our sympathy for these characters and, at the same time, the greater our anxiety that their destinies will be crossed, the greater the suspense. 59 Vergleicht man die Charakterisierung des Suspense von Zillmann mit dem Quest-Motiv und den Positionen aus dem Forschungsstand, so weichen sie in einigen Punkte voneinander ab. So kommen moralische Aspekte und Konflikt in der Bestimmung des US -Forschers ebenso wenig vor wie die Ziele von Figuren und die Unsicherheit des Ausgangs. Carroll zufolge ist eine Alltagsmoral bzw. eine werkimmanente Moral zentral, um Suspense zu erzeugen. Solche moralischen Aspekte, die sich in der Suspenseanalyse von Carroll als konstitutiv erweisen, werden von Zillmann zu‐ rückgewiesen. Er geht davon aus, dass die Moralvorstellungen verschiedener Rezipienten zu heterogen sind. Auch Konflikt kommt in der Konzeption von Zillmann nicht vor. Allerdings erweist sich ein Zitat als aufschlussreich, in dem er das Verhältnis von Konflikt und Suspense folgendermaßen beschreibt. Suspense […] is viewed as the experi‐ ence of apprehensions about the resolution of conflicts. 60 Die Ziele von Figuren, die in der zuvor wiedergegebenen Quest-Konzeption enthalten sind, werden im Ansatz von Zillmann ebenfalls vernachlässigt. Ein möglicher Grund könnte sein, dass die Spannung beim Quest-Motiv wegfallen sollte, sobald das Ziel aufgegeben wird. In klassischen Beispielen wie in Der Herr der Ringe wäre das allerdings nicht der Fall. Das liegt daran, dass die Spannung 8.2 Suspense als Antizipation eines negativen Ausgangs 131 <?page no="132"?> 61 Zillmann betont, dass sich Rezipienten besser unterhalten fühlen, wenn der Protagonist einen aktive Rolle beim Abwenden der negativen Konsequenz spielt (vgl. Zillmann (1996), S. 220). Dieser Aspekt bildet eine Voraussetzung für Figurenziele, er ist allerdings nicht für die Spannung wichtig, sondern er kommt bei der Bewertung eines Gesamt‐ werkes zum Tragen. 62 Vgl. Carroll (1996b), S. 101-103; Sternberg (1978), S. 51, 65. 63 Vgl. Carroll (1996b), S. 101-13; Ungerer, Dramatische Spannung in Shakespeares Tra‐ gödien, S. 5. 64 Zillmann (1991), S. 282. 65 Vgl. Carroll (1996a), S. 75; Wuss (1993b), S. 105; Ungerer, Dramatische Spannung in Shakespeares Tragödien, S. 4; Ohlander (1989), S. 8-9. 66 Vgl. Zillmann (1980), S. 134. in diesen Texten maßgeblich geprägt wird durch die Bedrohung der Figuren statt durch ein Ziel. Umgekehrt sollte in diesen Texten keine Spannung ent‐ stehen, wenn das Ziel zwar vorhanden wäre, wenn zugleich allerdings die ne‐ gative Konsequenz wegfiele. Wer würde den Herr der Ringe lesen, wenn es le‐ diglich darum ginge, dass der Protagonist einen Ring in ein Feuer wirft, wenn nicht das Schicksal der Figuren aus der Textwelt daran geknüpft wäre? 61 Indem Zillmann die negative Konsequenz als ein zentrales Element des Sus‐ pense bestimmt, präzisiert er die Ansätze von Carroll und Sternberg, die diesen dramatischen Effekt unabhängig voneinander als auf die Zukunft gerichtet be‐ schreiben. 62 Darüber hinaus stellt Carroll fest, dass beim Suspense genau zwei zukunftsgerichtete Alternativen bestehen, die sich logisch ausschließen. Un‐ gerer bezeichnet diesen Spannungstyp wegen seiner zwei Möglichkeiten als Alternativspannung. 63 Auch dieser Aspekt ist in der Charakterisierung enthalten, da die negative Konsequenz entweder eintritt oder nicht. Das Eintreten einer negativen Konsequenz sollte Zillmann zufolge für den Zuschauer einen hohen Grad an subjektiver Wahrscheinlichkeit bieten. In den Worten des US -Spannungsforschers heißt es: [S]ubjective certainty (not uncer‐ tainty! ) must be created.  64 Indem Zillmann die hohe subjektive Wahrscheinlich‐ keit des Ausgangs in sein Modell integriert, wendet sich Zillmann gegen einen Punkt, der hervorgehoben wird von Ungerer, von Wuss, von Ohlander sowie von Carroll, der von fictions of uncertainty spricht. Den Autoren zufolge geht der Suspense-Effekt mit einem unsicheren Ausgang einher. 65 Führt man diesen Gedanken konsequent weiter, so müsste Zillmann zufolge bei zwei möglichen Entwicklungen dann eine Zuordnung von jeweils 50 Prozent für beide Mög‐ lichkeiten zum spannungsintensivsten Erleben führen, da dann die Unsicherheit am höchsten ist (bei weiteren Möglichkeiten würde die prozentuale Verteilung weiter abnehmen). 66 Dass diese Konstellation nicht den höchsten Spannungs‐ effekt besitzt, zeigt eine experimentelle Studie von Comisky und Bryant, die sich 8 Suspense 132 <?page no="133"?> 67 Vgl. Comisky / Bryant (1982), S. 57. 68 Vgl. Comisky / Bryant (1982), S. 52-53. 69 Vgl. Comisky / Bryant (1982), S. 54-56. an die Arbeiten Zillmanns anlehnt. Demnach ergibt sich das Höchstmaß an Spannung, wenn der Rezipient sich sicher ist, dass ein negativer Ausgang ein‐ tritt, und wenn zugleich eine minimale Chance besteht, dass dieser sich nicht realisiert. 67 Die Studie wird im Folgenden vorgestellt. Die Gewichtung von negativen Ausgängen und der Relation zur Figur. In einer experimentellen Studie haben Comsky und Jennings die Faktoren iso‐ liert und in Kombination untersucht, die Zillmann als die Hauptparameter der Spannungserzeugung bestimmt. Einer Auswahl von Teilnehmern führten sie jeweils die gleiche Filmsequenz eines Freiheitskämpfers vor, der durch den To‐ destrakt seiner Exekution entgegenschreitet. Zu Beginn des Films wurden Er‐ zählerkommentare eingespielt, die eine bestimmte Relation zur Figur etablieren und die die Wahrscheinlichkeit des negativen Ausgangs präzisierten. 68 Der Erzähler stellte in dem Versuchsmaterial Informationen bereit, die darauf abzielten, verschiedene Relationen zwischen dem Rezipienten und der Figur zu etablieren. Der Erzähler porträtierte den zum Tode Verurteilten in der Variante (55a) als neutral, in der Variante (55b) als eher positiv und in der Variante (55c) als besonders positiv. Dazu beschrieb er seinen Status innerhalb der Gemein‐ schaft sowie seine Funktion innerhalb der Widerstandsbewegung und die Art und Weise, wie er von der einfallenden Gruppe festgenommen wird. 69 (55) Jan Nicholas was a. a resident of the nearby village who had lived an undistinguished life, developing an identity as somewhat of an antisocial recluse who had few friends. Jan would not go out of his way to hurt anyone, but never helped anyone else either. At the time of his capture, he was attempting to stash some supplies to last him through a possible siege. (Neutral disposition.) b. a good man, liked by his friends, who had joined the resistance when it appeared that everyone must join the struggle to protect their farms. Jan had fought only for a few days. At the time of his capture, he was trying to carry some wounded countrymen to a waiting vehicle to be brought farther behind the battle lines to safety. (Mildly positive disposition.) 8.2 Suspense als Antizipation eines negativen Ausgangs 133 <?page no="134"?> 70 Vgl. Comisky / Bryant (1982), S. 53-55. c. a genuine fine individual, who was beloved and admired by his family and friends, and who always generously gave of himself to help others. As the leader of the local resistance, he led a handful of peasant farmers in a heroic battle against the advancing inva‐ ders - even though outnumbered and poorly equipped. At the time of his capture, Jan was single-handedly defending the entrance to the local hospital in order to give others time to escape with the sick and wounded. (Strongly positive disposition.) Zugleich suggerierte der Sprecher verschiedene Wahrscheinlichkeiten, die die Überlebenschancen des Protagonisten betreffen. Diese graduelle Abstufung ver‐ läuft von der Unmöglichkeit zu Überleben über eine 1, 25, 50 und 100 Prozent Chance. Die Wahrscheinlichkeiten werden durch das Wissen des Freiheits‐ kämpfers über die Umgebung suggeriert und durch die Möglichkeit einer er‐ folgreichen Befreiungsaktion durch mögliche Unterstützer. Beispielhaft seien hier einige aufgelistet. 70 (56) If taken to be shot, he knew that his chances of escape were a. absolutely nil, however. The nearby farmland had been cleared, leaving no place for the resistance to stage an ambush and rescue. Even if they were able to somehow leave the horse-cart nearby, he had no chance of outrunning or outshooting a number of armed soldiers on horseback. Still, if the opportunity arose, he would try to escape. (0 / 100 condition.) b. extremely slim at best, however. The nearby farmland had been virtually cleared, leaving few hiding places for the resistance to stage an ambush and rescue. Even if they were able to somehow leave the horse-cart nearby, the odds were tremendously against him. It was virtually certain that he would be unable to deal with the soldiers who would be tracking him down. Still, if the oppor‐ tunity arose, he would try to escape. (1 / 100 condition.) c. totally certain. He knew the nearby farmland area better than the invading army soldiers, and the resistance had prepared a surefire procedure that had worked time after time without fail. When the opportunity arose, he was certain to escape. (100 / 100 condition.) 8 Suspense 134 <?page no="135"?> 71 Vgl. Comisky / Bryant (1982), S. 52, 54-56. 72 Comisky / Bryant (1982), S. 57. 73 Vgl. Comisky / Bryant (1982), S. 56-58. 74 Vgl. Zillmann (1980), S. 134. 75 Vgl. Zillmann (1991), S. 284. (57) The day came. Along with a few others, it was now his turn to make the long, dreaded march to the execution field. In den einzelnen Vorstellungen wurden die Kommentare des Erzählers, die die Wahrscheinlichkeit des negativen Ausgangs betreffen, systematisch kombiniert mit denjenigen, die die Rolle des Protagonisten innerhalb der Gesellschaft und der Widerstandsbewegung beschreiben. 71 Den intensivsten Effekt bewirkt ein sehr positiv empfundener Protagonist, dessen Überlebenswahrscheinlichkeit so gering erscheint wie möglich (mit der Ausnahme der 100 Prozent, bei der sich der Rezipient im Zustand der Enttäu‐ schung und Traurigkeit befindet, siehe Absatz 8.2), d. h. a strongly liked prota‐ gonist in utmost peril with an extremely slim chance for survival. 72 Die Auswer‐ tung der Experimente zeigt allerdings, dass die Wahrscheinlichkeit des Ausgangs den Hauptteil bei der Spannungsbildung ausmacht. Je geringer die Chance des positiven Ausgangs, desto höher ist die Spannung. Die hohe positive Relation zum Protagonisten besitzt einen zusätzlichen Einfluss auf die Span‐ nung, ihre Auswirkungen fallen allerdings erheblich geringer aus. 73 Da der ne‐ gative Ausgang das Kernelement des Suspense darstellt, steht dieser Aspekt bei der weiteren Untersuchung dieses Spannungstyps im Zentrum. Negativität und Grade von Negativität. Wenn sich jemand zwischen zwei Luxuskarossen entscheiden muss, dann kommt keine Spannung auf - zum Bei‐ spiel bei der Frage, ob er sich einen roten oder einen blauen Ferrari kaufen wird - weil keine negativen Konsequenzen involviert sind. Die Ausgänge müssen ne‐ gativ sein. 74 Da mögliche negative Ausgänge eine zentrale Rolle bei der Erzeugung von Spannung spielen, betont Zillmann, dass die Spannungserzeugung hauptsäch‐ lich auf dem antizipierten Ausgang basiert. Diskurssegmente müssen auf die verheerenden Auswirkungen auf den Protagonisten aufmerksam machen und dadurch rezipientenseitige Angstzustände herstellen. 75 Suspenseful drama features such events as bombs about to explode, dams about to burst, ceilings about to cave in, fires about to rage, ocean liners about to sink, and earthquakes about to rampage. It features people about to be jumped and stabbed, 8.2 Suspense als Antizipation eines negativen Ausgangs 135 <?page no="136"?> 76 Zillmann (1980), S. 136. 77 Borringo (1980), S. 43. 78 Borringo (1980), S. 44. 79 Borringo (1980), S. 57. 80 Borringo (1980), S. 84. 81 Vgl. Pfister (2001), S. 144-145. 82 Vgl. Zillmann (1991), S. 283; Zillmann (1996), S. 202. 83 Pfister (2001), S. 145. about to walk into an ambush and get shot, and about to be bitten by snakes, tarantulas, and mad dogs. The common denominator in all of this is the likely suffering of the protagonists. It is impending disaster manifest in anticipated agony, pain, injury, and death. 76 Die negative Konsequenz als spannungskonstituierender Faktor findet sich auch in vielen Formulierungen bei Borringo. Suspensesituationen führen ’das Schwert des Damokles‘ zu jeder Zeit durch die Anwesenheit drohender Gefahr deutlich vor Augen  77 . Voraussetzung für den Suspense ist das Drohen der ’Katastrophe‘  78 , das Ahnen einer möglichen Katastrophe  79 bzw. die Allgegenwart der Katastrophe  80 . Dabei gilt Pfister zufolge, dass mit einer Steigerung des Risikos eine Intensivie‐ rung der Spannung einhergeht. 81 Die Katastrophe bzw. der negative Ausgang kann verschiedene Grade von Negativität aufweisen. In der folgenden Auflistung nimmt die Negativität des Ausgangs ab: Tod, Verstümmelung, Folter, Verletzung, sozialer Abstieg, Verlust von Geld etc. 82 Teile dieser Grade fallen unter den in der Literaturwissenschaft etablierten Begriff der Fallhöhe, was Pfister folgendermaßen auf den Punkt bringt. Auch die klassizistische Theorie der ’Fallhöhe‘, nach der der tragische Held hohen gesellschaftlichen Standes sein muß, um seinen Untergang als besonders radikalen und damit besonders erschütternden Glückswechsel erscheinen zu lassen, kann in Zusammenhang mit dieser Technik spannungsintensivierender Maximierung des Ri‐ sikos gesehen werden. 83 Als allgemeine Faustregel gilt, dass ein höherer Einsatz zu gesteigerter Span‐ nung führt. Deshalb geht es in vielen Texten nicht nur um das Schicksal ein‐ zelner Figuren, sondern um das Schicksal der gesamten Menschheit. Neben dieser absoluten Negativität, bei denen anthropologisch konstante Grundbedürfnisse auf Figuren projiziert werden, gibt es eine relative Negati‐ vität, die an die spezifischen Handlungsziele gebunden ist. Ob ein Ereignis in der Textwelt als positiv oder negativ interpretiert wird, hängt bei diesem Typen vom individuellen Ziel der jeweiligen Figur ab. Zum Beispiel halten es die Pro‐ 8 Suspense 136 <?page no="137"?> 84 Spannung ohne mögliche negative Konsequenzen. In manchen Fällen - so Zillmann - gerät der Rezipient in den Zustand von Spannung, ohne dass echte mögliche negative Konsequenzen vorhanden sind. Dies gilt zum Beispiel für TV-Shows wie Wer wird Mil‐ lionär? oder Deal or no Deal. In diesen Fällen wird die Möglichkeit des Nicht-Eintretens des positiven Ausgang als negative Konsequenz interpretiert (vgl. Zillmann (1991), S. 284; Zillmann (1996), S. 203). 85 Vgl. Zillmann (1991), S. 284. 86 Vgl. Zillmann (1991), S. 282. 87 Vgl. Wenzel (2004), S. 183. 88 Vgl. Zillmann (1991), S. 286. 89 Vgl. Carroll (1996b), S. 106. tagonisten in Die Säulen der Erde für ihre Lebensaufgabe, eine Kathedrale zu errichten. Würde ihnen diese Möglichkeit genommen, so würden Figuren und Leser es als einen Rückschlag bewerten. Würde man allerdings Luke Skywalker oder Goethes Faust der Möglichkeit berauben, eine Katedrale zu errichten, so würde es ohne negative Begleiterscheinungen einhergehen, weil dies nicht zu den speziellen, in der Textwelt etablierten Zielen der Figuren gehört. 84 In der Regel enthalten spannungsvolle Texte zusätzlich zu ihren negativen Konsequenzen auch positive Anreize wie die Akkumulation von finanziellem, kulturellem, sexuellem etc. Kapital, die sich häufig als Begleiterscheinung der Hindernisüberwindung erweisen. Ein Protagonist muss nicht nur lebensbe‐ drohliche Gefahren bewältigen, er muss auch mit einer wunderschönen Prin‐ zessin im Reichtum leben. 85 Wahrscheinlichkeit der negativen Ausgänge. Spannung manifestiert sich hauptsächlich in der wahrgenommenen Wahrscheinlichkeit des Ausgangs. 86 Solange der Rezipient keine Figur präferiert, sorgt die ausgeglichene Verteilung der Wahrscheinlichkeiten auf einzelne mögliche Alternativen für Spannung. 87 Wenn der Rezipient eine Figur präferiert, so sollte die Wahrscheinlichkeit des negativen Ausgangs aus der Perspektive der Rezipienten so hoch wie möglich sein. Dabei gibt es allerdings eine Einschränkung. Sie darf keine 100 Prozent betragen. Ist ein negativer Ausgang absolut sicher, so erlebt das Publikum Trauer und Enttäuschung statt Spannung. Spannung stellt sich auch dann nicht ein, wenn Rezipienten vom Eintreten des gewünschten Ausgangs überzeugt sind. 88 Im Bereich der Wahrscheinlichkeitsgrade weist Carroll darauf hin, dass diese nicht mathematisch berechnet werden. Sie werden durch die jeweils im Text zugänglichen Informationen mehr oder weniger stark suggeriert. 89 8.2 Suspense als Antizipation eines negativen Ausgangs 137 <?page no="138"?> 90 Vgl. Wulff (1993), S. 326-327. 91 Vgl. Wulff (2002), S. 98; Jenzowsky (1996), S. 17-18. 92 Wulff (1996), S. 2. 93 Vgl. Wulff (2007), S. 657; Wulff (1993), S. 331. 94 Wulff (1993), S. 349. 95 Wulff (1993), S. 332. 8.3 Die Konstruktion negativer Konsequenzen Zillmann stellt drei spannungskonstituierende Faktoren vor. Das Experiment von Comisky und Bryant zeigt, dass davon die Relation zwischen Figur und Rezipient zwar einen Beitrag leistet, dass Spannung allerdings hauptsächlich vom negativen Ausgang abhängt und von der subjektiven Glaubenswahrschein‐ lichkeit bezüglich seines Eintretens. Weder Zillmann noch Comisky und Bryant untersuchen, wie negative Ausgänge und die ihnen zugeordneten Wahrschein‐ lichkeiten konstruiert werden. Der erste Aspekt wird im Folgenden in Anleh‐ nung an Wulff vorgestellt, die Konstruktion der Wahrscheinlichkeiten wird in Unterabschnitt 8.4.2 vorgestellt. Indem das in Teil II erarbeitete Begriffsinventar einbezogen wird, ergeben sich für beide Aspekte eine Vielzahl weiterführender Erkenntnisse. Die Antizipation negativer Ausgänge. Wulff zufolge konstruiert der Rezi‐ pient kognitionsbasiert Inferenzen, die zu lokalen und globalen Spannungs‐ bögen führen können. 90 Dabei nimmt die Unterscheidung von explizit im Text Enthaltenem und Inferiertem bei der Beschreibung von Suspense einen zent‐ ralen Stellenwert ein. 91 Suspense entsteht durch possible and probable develop‐ ments in the plot, which often cannot even be proven on the surface of the film. 92 Ohne antizipatorische Prozesse gibt es demnach keinen Suspense. Die rezipientenseitig generierten Erwartungen und Hypothesen genießen verschiedene Grade kognitiv ermittelter Wahrscheinlichkeiten. 93 Durch die mentalen Opera‐ tionen konstruiert der Rezipient ein Feld von möglichen und wahrscheinlichen Entwicklungen  94 . Die Verlaufsform einer Geschichte ist eine recht offene Menge möglicher Verläufe, zum guten oder zum schlechten Ende hin orientierbar, durch die Einführung neuer informationeller Elemente jederzeit um neue Verläufe erweiterbar usw. 95 Wulff betont - wie auch Zillmann (der allerdings nicht genauer auf die rezipientenseitigen Aktivitäten eingeht) -, dass die antizipierten Entwicklungen keine beliebigen sein dürfen. Der Zuschauer muss wissensgeleitet einen 8 Suspense 138 <?page no="139"?> 96 Vgl. Wulff (1996), S. 7-8; Wulff (2002), S. 98-99. 97 Vgl. Gerrig (1996), S. 94-95. 98 Vgl. Wulff (1993), S. 326. 99 Vgl. Ohler (1994b), S. 137. 100 Vgl. Wulff (1996), S. 7. Vgl. Wulff (1996), S. 8-9; Wulff (2002), S. 105-107. In Unterhaltungen mit Freunden, Studierenden und Kollegen wurde einige Male der folgende Einwand vorgetragen. Die Schlussfolgerung, dass der britische Geheimagent 007 stirbt, kommt nicht zustande, da das nicht mit dem rezipientenseitigen Wissen über die James-Bond-Reihe zu verein‐ baren sei. Demzufolge sich der Protagonist aus jeder noch so ausweglosen Lage befreien negativen Ausgang konstruieren. Textuelle Erzeugnisse sollten Gefahren und Hindernisse in den Mittelpunkt rücken, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer gezielt zu lenken. Auf diese Weise werden mögliche Entwicklungen angedeutet und diesen gleichzeitig Wahrscheinlichkeitsgrade suggestiv zugeordnet. 96 Sus‐ pense wird erzeugt, indem der Rezipient darauf aufmerksam gemacht wird, welche negativen Möglichkeiten bestehen. Wenn zugleich der Eindruck erweckt wird, dass der favorisierte Ausgang unwahrscheinlich ist, erhöht sich die Span‐ nung. 97 Die negativen Konsequenzen ergeben sich Wulff zufolge aus einzelnen Textinformationen und speziellen Aspekten des Weltwissens. Im Speziellen nennt Wulff Frames bzw. Schemata über die folgenden Bereiche: 98 • gegenstandsbezogenes Wissen, • situationsbezogenes Wissen und • Textstrukturwissen Während Wulff keine genaueren Angaben darüber macht, wie sich eine nega‐ tive Konsequenz schemabasiert modulieren lässt, bietet Ohler eine Lösung. Demnach konstruiert der Rezipient eine negative Konsequenz, die die Leerstelle O UTC OME FÜR DE N P R OTAG ONI S T EN sättigt. 99 Als ein typisches Beispiel für Suspense beschreibt Wulff das weit verbreitete Schicksal, dass der Protagonist in einer Steilwand klettert und sein Seil über eine scharfe Abrisskante schabt. Der Rezipient konstruiert auf der Grundlage seiner Wissensbestände den negativen Outcome, dass das Seil reißen und die Figur in den Tod stürzen wird. 100 In einer Szene des James-Bond-Filmes James Bond 007 - Im Angesicht des Todes brennt ein Fahrstuhl, in dem sich der Protagonist befindet. Das löst die inferenzielle Konstruktion der negativen Konsequenz aus, dass James Bond sterben könnte. Der Effekt wird zusätzlich verstärkt dadurch, dass Stränge des Fahrstuhlseils gezeigt werden, die zerreißen. Diese führen zu der antizipatorischen Hypothese, dass der brennende Fahrstuhl in die Tiefe stürzen wird, sodass James Bond letztlich auch bei diesem Konstruktionsakt der 8.3 Die Konstruktion negativer Konsequenzen 139 101 101 <?page no="140"?> 102 könne. Verallgemeinert formuliert gingen Rezipienten häufig davon aus, dass der Pro‐ tagonist einer Geschichte nicht stirbt, wodurch der Suspense gehemmt wird. Dieser Einwand wird in Übereinstimmung mit Hasubek (der allerdings keine Begründung lie‐ fert (vgl. Hasubek (1974), S. 47)) zurückgewiesen. Da der Punkt in der Literatur nicht direkt behandelt wird, wird eine angrenzende Dis‐ kussion herangezogen, die eine indirekte Antwort auf den Einwand zulässt. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob der Rezipient Suspense erfahren kann, wenn er den Aus‐ gang tatsächlich kennt. Der Annahme, dass Rezipienten Suspense erfahren, wenn das Textwissen in Richtung positiver Auflösung zeigt, können damit zwei weitere Fälle zur Seite gestellt werden. Einerseits kommt es Carroll zufolge beim mehrfachen Lesen einer Geschichte zu Sus‐ pense-Effekten. Dieser Fall wird unter dem Stichwort als problem of re-reading disku‐ tiert, Carroll argumentiert auf der Basis seiner persönlichen Erfahrungen mit dem Filmklassiker King Kong (vgl. Carroll (1996a), S. 72). Andererseits kommt es Gerrig zu‐ folge zu Suspense-Effekten, wenn der mögliche negative Ausgang nicht mit dem all‐ gemeinen Wissen des Rezipienten zusammenfällt, was nicht passieren dürfte, weil der Rezipient den tatsächlichen Ausgang bereits kennt. Dies kann zum Beispiel beim Lesen historischer Romane auftreten. Obwohl der Leser aufgrund seines Wissens über die historischen Fakten mit einer bestimmten Tatsache gut vertraut ist, empfindet er Sus‐ pense (vgl. Gerrig (1989), S. 633-634, 638). Gerrig zufolge kommt es im letzten Fall zu Spannung, weil der Rezipient während der Textverarbeitung nicht auf dieses Wissen zurückgreift. Dies hat er experimentell be‐ stätigt. Wenn die Geschichte einen Ausgang suggerierte, der mit dem tatsächlichen Ausgang nicht übereinstimmt, brauchten die Versuchsteilnehmer länger, die Aussagen über den tatsächlichen Ausgang zu bestätigen, als wenn sie einen neutralen Text vor‐ gelegt bekamen (vgl. Gerrig (1989), S. 633-634, 638). Bei der Rezeption sind nicht alle Wissensbestände gleichermaßen zugänglich (vgl. Gerrig (1994a), S. 80, 158-161, 238). Gerrig schreibt: immersion in narratives brings about partial isolation from the facts of the real world (Gerrig (1994a), S. 16). Deshalb kommt es nicht notwendigerweise zu Suspense-Effekten. In Bezug auf das Wissen hinsichtlich der Überlebenswahrschein‐ lichkeiten des Protagonisten lässt sich folgendes Argument daraus ableiten: Wenn Sus‐ pense-Effekte sogar beim tatsächlichen Wissen über den Ausgang und damit bei einer stärkeren Annahme auftauchen, dann sollte sich Suspense auch in dem schwächeren Fall ergeben. Denn der Rezipient kennt weder den vollständigen Film noch ergibt sich die Auflösung aus historischen Daten, da es sich um ein fiktives Werk handelt. Vgl. Wulff (1996), S. 344. 103 Wulff (1996), S. 1. doppelten Möglichkeit ausgesetzt ist, sein Leben zu verlieren. Negative Kon‐ sequenzen wie in den beiden zuletzt wiedergegebenen Beispielen bilden Wulff zufolge ein kausales Feld, das durch neu einlaufende Informationen entsteht: 102 Given information should not only be understood as such, but should also be regarded as the starting point for future developments in a story, social situation, or course of events. 103 8 Suspense 140 <?page no="141"?> 104 Vgl. Wulff (1993), S. 342; Wulff (2002), S. 104. 105 Vgl. Diteweg / Tan (1996), passim. 106 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 372, 377-379. Allein aus der expliziten Darstellung neuer epistemischer Elemente in Form von Problemen, Hindernissen und Gefahren folgt Wulff zufolge allerdings noch keine Antizipation eines negativen Ausgangs. Diese resultiert aus kognitiven Operationen, die die einzelnen Bestandteile auf der Ebene der mentalen Reprä‐ sentation in Relation setzen, was ermöglicht wird durch die metarezeptive Hy‐ pothese des Rezipienten, dass audiovisuell Expliziertes einen hohen Grad an Relevanz besitzt bzw. dass irrelevante Informationen nicht in der Oberflächen‐ struktur des Textes auftauchen. 104 Suspense von Wulff als prädiktive Inferenz. Diteweg und Tan beschreiben den negativen Ausgang als prädiktive Inferenz. 105 Dadurch errichten sie eine terminologische Brücke, die es erlaubt, die Suspenseforschung mit Theorien aus dem Bereich des Textverstehens zu verbinden. Durch diesen Schritt lassen sich auf die Erzeugung von Suspense einige Präzisierungen im Bereich der prädik‐ tiven Inferenzen übertragen, die in der Textverstehensforschung erarbeitet wurden. Zunächst ist festzuhalten, dass der Rezipient das allgemeine Ziel verfolgt, ein kausal reflektiertes mentales Textweltmodell zu konstruieren, und dazu bei Be‐ darf auf online konstruierte Inferenzen zurückzugreift. 106 Indem Wulff den Be‐ griff kausales Feld benutzt, integriert er in seinen Ansatz also gleichzeitig ein zentrales Element der Textverstehenstheorie, das besagt, dass Kausalität bei der Textrezeption eine entscheidende Rolle einnimmt. Während Wulff keinen Grund dafür liefert, warum der Rezipient genau diese Art der Inferenz herstellt und nicht alle möglichen anderen (was zum Beispiel die Schuhgröße des Prota‐ gonisten betreffen könnte oder ob und in welcher Krankenkasse eine Figur wie James Bond Mitglied ist), lässt sich über den zentralen Status der Kausalität eine solche Erklärung liefern: Wenn der Kausalität eine zentrale Rolle bei der Text‐ rezeption zukommt, so ist es naheliegend, dass er ein kausales Feld konstruiert. Über den Kausalitätsbegriff fügt sich der von Wulff beschriebene Suspense nahtlos in eine Variante prädiktiver Inferenzen, die innerhalb der Textverste‐ hensforschung unterschieden werden: Es gibt a) motivationale prädiktiven Inferenzen, bei denen der Rezipient ein Ziel inferiert für eine im Text beschriebene Handlung einer Figur und so diese Handlung in ein kohärentes Textweltmodell integriert. Wenn beschrieben wird, dass eine Figur Hunger hat, und wenn anschließend beschrieben wird, dass sie sich den Guide Michelin nimmt, so lässt dies Schank und Abelson zufolge die 8.3 Die Konstruktion negativer Konsequenzen 141 <?page no="142"?> 107 Vgl. Schank / Abelson (1977a), S. 429-430. 108 Vgl. Klin u. a. (1999), S. 244, 257. 109 Vgl. Magliano / Dijkstra / Zwaan (1996), S. 200, 219. 110 Vgl. van den Broek (1990), S. 438; Murray / Klin / Myers (1993), S. 465-466. 111 Vgl. Trabasso / van den Broek / Suh (1989), S. 4; Trabasso (1984), S. 85-86; Mackie (1980), S. 51. planbasierte Inferenz zu, dass die im Folgesatz beschriebene Handlung dazu dient, ein gehobeneres Restaurant zu finden, um dort den Hunger zu stillen. Ohne dieses inferentiell hergestellte Ziel würden die beiden Sätze dieses Text‐ segmentes keine sinnvolle Einheit ergeben. 107 Hier konstruiert der Rezpient eine motivationale prädiktive Inferenz. Der Rezipient inferiert ein Handlungsziel und integriert dadurch die im Text beschriebene Handlung in eine kohärente Text‐ weltrepräsentation, wobei die Inferenz einen Kohärenzbruch überbrückt. 108 (Siehe dazu auch Absatz 4.2.3.) Es gibt b) prädiktive Inferenzen auf der Ereignisebene, die sich aus einem Kohärenzbruch ergeben: Wenn der Zuschauer in Moonraker sieht, wie eine Figur aus einem Flugzeug stürzt, und sich ihr Fallschirm nicht öffnet. Und wenn wie in dem Beispiel Diskursmaterial eingefügt wird, dass ein Zirkuszelt und die ak‐ tuell stattfindenden Aktivitäten zeigt, so kann der Rezipient das zukünftige Er‐ eignis konstruieren, dass die Figur auf das Zelt stürzen und überleben wird. Damit erlaubt diese prädiktive Inferenz, einen Kohärenzbruch zu überbrücken und das Zirkuszelt in eine kohärente Textweltrepräsentation einzubetten. Ohne die inferentielle Leseraktivität würde sich das Zirkuszelt nicht in ein kohärentes Modell einfügen. 109 (Siehe dazu auch Absatz 4.2.3.) Es gibt c) den klassischen Fall der prädiktive Inferenz, bei dem Kohärenz‐ brüche im Vergleich zu den anderen beiden keine Rolle spielen. Es handelt sich um eine Anreicherung der Textwelt, bei der der Rezipient auf der Basis seines Weltwissens und seiner Kausalitätsannahmen ein zukünftiges Ereignis kon‐ struiert. 110 Das Kausalitätskonzept im Bereich dieser Art prädiktiver Inferenz ist dem Philosophen Mackie entliehen, der Kausalität als necessity-in-the-circums‐ tances-plus-causal-priority beschreibt. Wäre ein Ereignis in einer Situation vorher nicht eingetreten, so wäre auch ein anderes nicht eingetreten. Das vo‐ rangegangene Ereignis bildet dann die Ursache und das folgende bildet die Wir‐ kung. 111 Schaut man sich die Beispiele von Wulff genauer an, so lässt sich feststellen, dass die zuletzt beschriebene Art der prädiktiven Inferenz zugrunde liegt. Das Feuer und der Sturz des Fahrstuhls werden jeweils als mögliche Ursache dafür interpretiert, dass ein zukünftiges Ereignis, nämlich der Tod des Protagonisten eintreten wird. Gleiches gilt auch für sein Beispiel, bei dem das Seil eines Klet‐ 8 Suspense 142 <?page no="143"?> 112 Vgl. Klin / Guzmán / Levine (1999), S. 595, 598. 113 Vgl. Campion (2004), S. 150-151, 154. 114 Vgl. van den Broek (1990), S. 438; Klin / Guzmán / Levine (1999), S. 698-600; Whitney / Ritchie / Crane (1992), S. 427-428; Cook / Limber / O’Brien (2001), S. 228-230; Campion (2004), S. 150-151, 154. 115 Vgl. Wulff (1993), S. 326, 335, 341. terers über eine Felskante reibt und der Rezipient die prädiktive Konsequenz konstruiert, dass die Figur in die Tiefe stürzt. Ohne das Reiben würde in dieser Szene nicht zur Konstruktion einer negativen Konsequenz kommen. Eine weitere Annahme, die in der Suspensekonzeption von Wulff stillschwei‐ gend vorausgesetzt wird, wurde in 4.3.2 unter dem Begriff Durabilität behandelt. Experimentelle Studien aus dem Bereich der Textverstehensforschung kommen zu dem Ergebnis, dass prädiktive Inferenzen in die mentale Textweltrepräsen‐ tation integriert werden, statt sofort verloren zu gehen. 112 Diese Annahme ist eine notwendige Voraussetzung für das Zustandekommen von Suspense, da ihr Wegfallen dazu führen würde, dass der Suspense sich lediglich als ein punktu‐ eller Effekt einstellen würde. Darüber hinaus hat die Textverstehenstheorie gezeigt, dass dem Rezipient der implizite Status prädiktiver Inferenzen häufig bewusst ist. Daher spricht Cam‐ pion auch von hypothetischen Fakten. 113 Während der weiteren Textrezeption können sie sich bestätigen oder sie können gelöscht werden. Damit handelt es sich um nicht-monotone Inferenzen wie sie in Absatz 4 beschrieben werden. Aus der Wahrheit der expliziten angebotenen Information folgt nicht zwangs‐ läufig, dass auch die Inferenz wahr sein muss. Dieser Punkt wird dann wichtig, wenn man die Ergebnisse des Experiments von Comisky und Bryant heranzieht, die besagen, dass der negative Ausgang weder völlig unwahrscheinlich sein darf noch völlig sicher. In der Textverstehensforschung wird unterschieden zwischen solchen Infe‐ renzen, die zur Kohärenz eines Textes beitragen, und solchen, die keinen Beitrag zur Kohärenz leisten, sog. elaborative Inferenzen. Prädiktive Inferenzen werden dabei dem zweiten Typ zugeordnet. 114 Wenn man Wulffs Position heranzieht, so deutet sich an, dass prädiktive Inferenzen auch dazu dienen können, weiteres Diskursmaterial zu verarbeiten. Das legt einerseits seine These nahe, dass prä‐ diktive Inferenzen nicht nur die Mikrosondern auch die Makroebene betreffen. Indem er darüber hinaus unterscheidet zwischen Informationen, die das Problem (bzw. die negative Konsequenz) präzisieren, und Informationen, die den Problemraum verändern, bestätigt sich der Eindruck. 115 Der kohärenzstiftende Charakter der prädiktiven Suspense-Inferenzen lässt sich allerdings nicht eindeutig auf Wulff zurückführen, da unter Berücksichti‐ 8.3 Die Konstruktion negativer Konsequenzen 143 <?page no="144"?> 116 Vgl. Junkerjürgen, S. 177. gung seiner Analysen auch eine Interpretation denkbar wäre, in der prädiktive Inferenzen zwar bei der Verarbeitung weiteren Textmaterials berücksichtigt werden, ohne dabei allerdings eine kohärenzstiftende Funktion einzunehmen. Darüber hinaus hebt er an keiner Stelle explizit hervor, in welchem Verhältnis der Suspense und die Kohärenz eines Textes stehen. Anders verhält sich das bei Junkerjürgen, der Spannung eine zentrale Rolle bei der globalen Kohärenz ein‐ räumt, ohne diese weiter zu vertiefen. 116 Im nächsten Kapitel wird die kohä‐ renzstiftende Kraft des Suspense beschrieben. Dadurch verliert auch die dritte Art der prädiktiven Inferenz ihren elaborativen Status. Zuvor werden allerdings zwei weitere Möglichkeiten vorgestellt, die zur rezipientenseitigen Konstruk‐ tion einer negativen Konsequenz führen können. Konstruktion einer Ursache und einer darauf basierenden negativen Konsequenz. In Anlehnung an Wulff wurden negative Konsequenzen als Er‐ gebnis inferentieller Rezipientenaktivitäten beschrieben, die sich aus textuellem Elementen und dessen Interaktion mit verschiedenen Wissensbereichen er‐ geben. Dabei stellten die textuell dargestellten Entitäten die Ursache dar für ein konstruiertes Folgeereignis. Es gibt allerdings Diskursmaterial, das die Kon‐ struktion negativer Konsequenzen anregt, ohne selbst direkten Einfluss auf die Handlung zu nehmen. Diese besitzen ausschließlich aktivitätsstimulierende Funktion, wie es in (58) bis (60) aus dem Hollywoodfilm Fluch der Karibik deut‐ lich wird. (58) Piraten kriechen durch eine Höhle. Auf ihrem Weg durch den Schlamm stoßen sie auf Gerippe, Leichen und Totenschädel. (59) Eine Gruppe von Piraten manövriert ihr Schiff zu einer Insel. Wrack‐ teile ragen aus den Wellen. (60) Die Piraten fahren an einer Insel vorbei. An einem Baum hängen drei Piraten am Galgen. In (58) und (59) verdeutlicht die Requisite mögliche Konsequenzen eines inva‐ siven Aktes. In (58) dienen dazu die Leichen, in (59) die Wrackteile, in (60) wird ein gängiges Schicksal von Piraten etabliert. Der Rezipient konstruiert auf dieser Grundlage die antizipierenden Hypothesen, dass die Figuren einer Gefahr aus‐ gesetzt sind und konkreter, dass die handelnden Figuren sterben bzw. unter‐ gehen könnten. Dabei interagieren induktive Verfahren mit den einzelnen Dis‐ 8 Suspense 144 <?page no="145"?> kursentitäten. Aus den spannungsinduzierenden Diskursentitäten folgen selbst keine negativen Konsequenzen. Diese Spannung besitzt einen indexikalischen Anteil: Das textuelle Zeigen von Leichen und Wrackteilen veranlasst den Rezipienten dazu, eine U R‐ S ACHE -Leerstelle zu öffnen. Die Slots in (58) bis (60) werden aus dem allgemeinen Wissen instantiiert. Wenn der Rezipient Leichen nahe eines Piratenschatzes sieht, liegt die Inferenz nahe, dass es sich um erfolgreich abgewehrte Eindring‐ linge handelt. Die wissensbasierte Sättigungsmöglichkeit gilt ebenfalls für die Wrackteile, die eine Gefahr unter Wasser in Form eines Riffs andeuten. Die Spannung basiert auf der Übertragung der negativen Konsequenzen auf die Fi‐ gurengruppe. Im Vergleich zu der Konstruktion negativer Konsequenzen, die Wulff be‐ schreibt, wirken sich die textuell explizierten Elemente nicht auf die Handlung aus. Die Wrackteile und Leichen stellen selbst nicht das eigentliche Risiko dar, sie zeigen lediglich eine mögliche Gefahr an und erlauben, auf dieser Grundlage negative Konsequenzen zu inferieren. Durch einen erfolgreichen indexikali‐ schen Schluss konstruiert der Rezipient eine Diskursentität, die als Ursache gilt, nämlich in (58) im Meer befindliche Felsen, in (59) eine Gruppe von Figuren, die nicht davor zurückschreckt, Kontrahenten auszulöschen, und in (60) eine Ge‐ sellschaft, die nicht gerade zimperlich mit Piraten umgeht. Hier wird also das kausale Antezedens vom Rezipienten mental konstruiert, auf dem die prädiktive Inferenz basiert. Die kausale Einbindung auf der Handlungsebene ist anderer Art: Die negative prädiktive Inferenz wird auf die Figuren in einem rezipien‐ tenseitigen Akt der induktiven Verallgemeinerung übertragen, wobei das kon‐ struierte Element auf seine akuten Auswirkungen geprüft wird bzw. darauf, ob die indexikalisch inferierte Gefahr auch akut Einfluss auf die Handlung nehmen kann. Ist dies der Fall, so findet die Übertragung statt und Spannung entsteht, anderenfalls nicht. Ein indexikalisch inferiertes Element ermöglicht die Kon‐ struktion einer negativen Konsequenz. Ereignisbezogene prädiktive Inferenzen ohne strikte Kausalität. In der psycholinguistischen Forschung und in den Beispielen von Wulff werden prä‐ diktive Inferenzen auf der Ereignisebene leserseitig konstruiert, wenn im Welt‐ wissen ein enger kausaler Zusammenhang besteht zwischen einem textuell be‐ schriebenen Ereignis und der daraus abgeleiteten prädiktiven Inferenz. Je wahrscheinlicher es ist, dass eine Ursache eine Wirkung nach sich zieht, desto höher ist der Grad der Suffizienz des Ursache-Ereignisses. Dabei sind Suffizienz und Kausalität nicht als ontologische Begriffe konzipiert, sie sind epistemischer Natur und beziehen sich auf die kausale Nähe im Wissen der Rezipienten. Sie 8.3 Die Konstruktion negativer Konsequenzen 145 <?page no="146"?> 117 Vgl. Rowling, Harry Potter und der Gefangene von Azkaban, S. 245. müssen also nicht zwingend mit den Beziehungen in einer als real postulierten Welt korrespondieren (siehe die Ausführungen in Absatz 4.3.2). (61) Cathy poured water on the bonfire. (62) Steven […] threw a delicate porcelain vase against the wall. (63) a. Jimmy‘s friends taught him a fun game that involved throwing rocks at a target to get points. b. <intervening sentences> c. Jimmy missed, though, and he accidentally hit the door of a new car. (64) Die Stränge des Fahrstuhls, in dem James-Bond sich befindet, reißen. In (61) konstruiert der Rezipient die Konsequenz, dass das Feuer erstickt. In (62) inferiert er, dass die Vase zerbricht. In (63) stellt der Rezipient die prädiktive Inferenz her, dass die Tür des Autos eine Beule davonträgt. In (64) aus der Span‐ nungsforschung konstruiert der Rezipient die negative prädiktive Inferenz, dass James Bond in die Tiefe stürzen und sterben wird. Sowohl in den psycholingu‐ istischen Beispielen (61) bis (63) als auch in dem Beispiel aus der Spannungs‐ forschung (64) wird der Kausalitätsbegriff von Mackie zugrunde gelegt. Ohne das vorangegangene Ereignis wäre die Konsequenz unter diesen Umständen nicht eingetreten. Die strikteren Fälle aus (61) bis (64) stellen nur eine Möglichkeit dar, die re‐ zipientenseitige Konstruktion von ereignisbezogenen prädiktiven Inferenzen auszulösen. Zur Konstruktion von prädiktiven Inferenzen können allerdings auch schwächere Formen der „Kausalität“ dienen. (65) Professor Trelawney lehrte sie die Handlesekunst und eröffnete Harry ohne Umschweife, er habe die kürzesten Lebenslinien, die sie je gesehen habe. 117 Der Satz (65) aus Harry Potter und der Gefangene von Azkaban der britischen Bestsellerautorin Joanne K. Rowling gibt eine Erkenntnis einer Dozentin von Harry Potter wieder. Auf der Grundlage dieses Satz kann der Rezipient zu der prädiktiven Inferenz gelangen, dass sich Harry Potter innerhalb der Textwelt 8 Suspense 146 <?page no="147"?> nicht mehr lange halten wird. In dem Beispiel stellt der Rezipient diese Inferenz her, indem er auf seine Wissensbestände zurückgreift, die in den Bereich des Aberglaubens fallen. In einer engeren Kausalbeziehung stehen eine kurze Le‐ benslinie und ein kurzes Leben allerdings nicht. Es wird also in den Beispielen eine prädiktive Inferenz auf der Ereignisebene hergestellt, ohne dass ein suffizienter Kontext existiert, wie er im Rahmen der psycholinguistischen Inferenzforschung postuliert wird (siehe Absatz 4.3.2). Es zeigt sich also, dass es Fälle geben kann, in denen zwischen einem Ereignis und seiner Folge keine starke kausale Beziehung besteht und in denen der Rezipient dennoch diese Art der prädiktiven Inferenz herstellt. 8.4 Negative Konsequenzen als globaler inferentieller Bezugspunkt Aus einem Textsegment und seinem Wissen synthetisiert der Rezipient eine negative Konsequenz als hypothetischen Fakt. In diesem Abschnitt wird gezeigt, dass der Rezipient auf diese prädiktive Inferenz eine Reihe global verteilter Dis‐ kurssegmente bezieht. So dient die negative Konsequenz als globaler inferen‐ tieller Bezugspunkt für anschließend beschriebene Handlungen und Hand‐ lungsabläufe, Ereignisse und Ereignisfolgen sowie weitere Informationen. Die Konstruktion der negativen Konsequenz bildet somit nicht nur das lokale span‐ nungsauslösende Moment (wie es unter anderem bei Wulff beschrieben wird), sondern eröffnet zugleich einen mentalen Raum für die globale Verarbeitung zum Teil weit verstreuter neu einlaufender Textsegmente, was bei Wulff und Junkerjürgen zwar angedeutet, aber nicht weiter ausgeführt wird. 8.4.1 Negative Konsequenzen, Handlungen und Ziele In Absatz 4.2.4 werden Zielhierarchien in Anlehnung an Suh und Trabasso sowie Schank und Abelson beschrieben. Dabei wird zunächst der Wunsch einer Figur durch Ausdrücke wie wanted to oder in order to etabliert, anschließend dient das Ziel der Verarbeitung global auf den Text verteilter handlungsbeschreibender Diskurssegmente (superordinierte Zielinferenz). Im Text beschriebene Hand‐ lungen und Subziele werden an das übergeordnete Ziel geknüpft, bis dieses er‐ reicht ist, wobei es auch zu gescheiterten Versuchen kommen kann. Auf der Grundlage des deutschen Bestsellers Der Schwarm von Frank Schätzing wird im Folgenden gezeigt, dass eine negative inferierte Konsequenz als kognitive Grundlage dienen kann, Ziele, Handlungen und verschachtelte 8.4 Negative Konsequenzen als globaler inferentieller Bezugspunkt 147 <?page no="148"?> 118 Schätzing, Der Schwarm, S. 155. Zielhierarchien innerhalb eines Romans zu verarbeiten. Während bei Suh und Trabasso genau eine Figur genau ein Ziel verfolgt, wird sich hier ein weitaus komplexeres Zusammenspiel textuell dargestellter Handlungen und inferierter Ziele zeigen. Die Beispiele greifen einzelne Passagen des Romans auf, die insgesamt fünf Seiten umspannen. Die Passagen wurden zum Teil gekürzt und zum Teil sinn‐ gemäß zusammengefasst, um das Material auf die relevanten Aspekte zu redu‐ zieren und dadurch zu verdichten. Unter anderem werden Passagen getilgt, die die negative Konsequenz aufgreifen, nachdem sie einmal konstruiert ist, da die Konsequenz dabei lediglich aufrechterhalten wird, ohne mit einem verstärk‐ enden oder einem schwächenden Effekt einherzugehen. Darüber hinaus wird von Spannungsbögen abstrahiert, die in nebengeordneten Handlungssträngen koexistieren und / oder die an der aktuellen Stelle keine Relevanz besitzen. (66) […] Anawak wirbelte herum. Direkt über dem Boot der Tierschützer stand senkrecht der Körper eines riesigen Buckelwals. […] Wie in Zeitlupe neigte sich der Leib des Wals. Sein Schatten legte sich auf das rote Fischerboot der Umweltschützer, wuchs über den Bug der Blue Shark hinaus, wurde länger, als der Körper des Riesen kippte, schneller und immer schneller … a. Anawak drückte das Gas durch. Das Zodiac schoss mit einem Ruck davon. b. Auch Greywolfs Fahrer hatte einen Blitzstart zuwege gebracht, aber seine Richtung stimmte nicht. Das klapprige Sportboot schlingerte auf Anawak zu […] dann raste das Boot in entgegen‐ gesetzter Richtung davon, während seines mit voller Fahrt wieder auf die Blue Shark zuhielt. 118 In (66) befinden sich die Boote von Anawak, Greywolf sowie die Blue Shark in dem Bereich, in dem der Wal aufprallen kann. Der Rezipient konstruiert auf der Basis dieses mentalen Textweltmodells, des einlaufenden Textmaterials in (66) und seines Wissen die negative prädiktive Inferenz auf der Ereignisebene, dass Anawaks Zodiac, das Zodiac der Umweltschützer sowie die Blue Shark (ebenfalls ein Zodiac) vom Wal getroffen werden können, dass sie in Folge sinken können und dass die sich an Bord befindenden Passagiere sterben können, wobei der 8 Suspense 148 <?page no="149"?> Tod einerseits durch Ertrinken und andererseits durch die angreifenden Wale eintreten könnte, die innerhalb der Textwelt aggressive Verhaltensweisen ge‐ genüber Menschen aufweisen (normalerweise gelten sie als friedlich gegenüber Menschen). Dass diese Konsequenzen eintreten können, steht nicht explizit im Text. Es handelt sich um einen Beitrag des Rezipienten. Während in der psycholinguistischen Forschung die Konstruktion von genau einer prädiktiven Inferenz untersucht wird, kommt es in diesem Beispiel zu einem Bündel mehrerer gemeinsam auftretender negativer Konsequenzen oder - in der Terminologie von Wulff - zu einem ein Feld möglicher Entwick‐ lungen. Solche Inferenzen können als Grundlage dienen für zahlreiche weitere mentale Operationen. Die Spannung ergibt sich aus dem rezipientenseitigen Wunsch, den hypothetischen Status der negativen Konsequenzen aufzuheben. In (66a) handelt es sich um einen handlungsbeschreibenden Satz. Auf der Grundlage der mental etablierten negativen Konsequenzen und der rezipien‐ tenseitigen Wissensbestände, kann der Rezipient die Motivation inferieren, dass Anawak sich retten möchte. So werden sowohl die negative prädiktive Inferenz als auch das Ziel der Figur inferiert. Zugleich etabliert der Rezipient mental eine Verknüpfung zwischen der negativen Konsequenz und dem Ziel einerseits und auf der anderen Seite zwischen dem Ziel und den Handlungen, die einen Versuch darstellen, die Gefahr abzuwenden. Ohne die Konstruktion aller Bestandteile zerfiele der Text, als zentraler inferentieller Bezugspunkt dient die Konstruktion der negativen Konsequenz. Diese mentale Operationen geht zurück auf den Versuch von Rezipienten, Figurenhandlungen (action statement) motivational in ihre mentale Repräsentation zu integrieren, wie es in Absatz 4.2.3 beschrieben wurde. Darüber hinaus kann die negative Konsequenz (und der daraus abgeleitete Wunsch der Figuren, die negative Konsequenz abzuwenden) die globale Inter‐ pretationsgrundlage bilden für eine Reihe unabhängiger Handlungen verschie‐ dener Figuren. So wird auch der Blitzstart des anderen Boots in (66b) als Versuch interpretiert, das Ziel zu erreichen. Diese Handlung wird nicht auf (66a) bezogen, sondern über dieses zwischengelagerte Diskursmaterial hinaus auf die negative Konsequenz. Es werden also Handlungen mehrerer nicht koordinierter Figuren motivational akkommodiert, die sich zum Teil diskontinuierlich über den Text verteilen. Der Bezug zwischen dem expliziten Textmaterial steht nicht explizit im Text, ohne den integrativen Beitrag des Rezipienten wäre die mentale Text‐ welt nicht kohärent. In (66) wird das Ziel nicht verbalisiert durch einen Ausdruck wie wollen. Denkbar wäre allerdings, dass vor den handlungsbeschreibenden Sätzen die Ziele jeweils expliziert wären. In einem solchen Fall würde der Rezipient zu‐ 8.4 Negative Konsequenzen als globaler inferentieller Bezugspunkt 149 <?page no="150"?> 119 Schätzing, Der Schwarm, S. 155-156. nächst die negativen prädiktiven Inferenzen konstruieren, den explizit im Text formulierten Wunsch der Bootsführer mit der negativen Konsequenz ver‐ knüpfen und anschließend die beschriebenen Handlungen inferentiell über den Wunsch des Kapitäns in die mentale Textweltrepräsentation integrieren. Auch die folgenden Beispiele kommen ohne Sätze mit intentionsbezogenen Ausdrü‐ cken wie wollen aus. (67) Vor seinen Augen begruben die neun Tonnen Körpermasse des Bu‐ ckelwals das Fischerboot [Blue Shark] unter sich, drückten es mitsamt seiner Besatzung unter Wasser und schlugen auf den Bug der Blue Shark. Gischt spritzte in gewaltigen Fontänen hoch. Das Heck des Zodiacs schoss steil nach oben, Menschen in roten Overalls wirbelten durch die Luft. Kurz balancierte die Blue Shark auf ihrer Spitze, pi‐ rouettierte um die eigene Achse und kippte seitwärts. […] […] Vom Boot der Umweltschützer waren nur noch Trümmer zu sehen. Die Blue Shark trieb kieloben in den Wellen. Menschen hingen im Wasser, wild paddelnd und schreiend, andere reglos. a. Vorsichtig, um niemanden zu verletzen, steuerte Anawak das Zo‐ diac zwischen die treibenden Körper […] b. […] während er einen kurzen Funkspruch auf Frequenz 98 los‐ schickte und seine Position durchgab. 119 In (66) hat der Rezipient eine Folge von negativen Konsequenzen konstruiert. Nämlich, dass der Wal die drei Zodiacs treffen könnte, dass diese untergehen und dass die Passagiere dabei ums Leben kommen könnten. Während Anawak und Greywolf der negativen Konsequenz entronnen sind, ist die Blue Shark inklusive der Besatzung und Passagiere von ihr betroffen. Die bisher nicht ein‐ gelösten Teile der negativen Konsequenzen werden daher für diese Figuren auf‐ rechterhalten. Sie sind der Gefahr ausgesetzt, zu ertrinken oder von den an‐ greifenden Walen attackiert und getötet zu werden. Wenn der Rezipient (67a) und (67b) liest, konstruiert er wie bei den hand‐ lungsbeschreibenden Sätzen in (66) ein Ziel. Diesmal steht dabei die Rettung der Figuren im Wasser im Zentrum. Die Konstruktion eines Ziels auf der Basis der negativen prädiktiven Inferenz, des Wissens und des handlungsbeschreibenden Satzes bietet dem Rezipienten damit die Möglichkeit, im Text beschriebene Handlungen in eine kohärente Repräsentation einzubetten. Ausformuliert ließe 8 Suspense 150 <?page no="151"?> 120 Schätzing, Der Schwarm, S. 156. 121 Vgl. Schätzing, Der Schwarm, S. 156. 122 Schätzing, Der Schwarm, S. 157. 123 Schätzing, Der Schwarm, S. 157-158. 124 Schätzing, Der Schwarm, S. 160-161. 125 Vgl. Schätzing, Der Schwarm, S. 161. sich sagen, dass Anawak den Funkspruch absendet und dass er zu den Menschen im Wasser fährt, weil er die im Wasser treibenden Figuren retten möchte. Dabei sind die Sätze (67a) und (67b) (kausal) unabhängig, die Figur sendet die Funk‐ sprüche nicht, weil sie zu den Menschen im Wasser fährt. Und sie fährt nicht zu den schwimmenden Figuren, weil sie die Funksprüche sendet. Beide Hand‐ lungen werden auf der Grundlage des inferierten Ziels interpretiert. Da auch (67b) auf die negative Konsequenz bezogen wird, zeigt dieses Beispiel zugleich, dass diese Inferenzen globale und diskontinuierliche Textsegmente verknüpfen. (68) a. Vorsichtig, um niemanden zu verletzen, steuerte Anawak das Zo‐ diac zwischen die treibenden Körper. 120 i. Stringer [eine Kollegin von Anawak] ist im Boot. ii. Junge und Delaware [Studentin] sind im Boot. iii. Weitere Menschen sind im Boot. iv. Sie fischen Menschen raus und suchen das Wasser ab. 121 b. Anawak sprang zum Steuer, gab Gas und fuhr los […] [Er] steuerte das Zodiac unbeirrt in einem aberwitzigen Slalom zwischen den schwarz-weißen Körpern hindurch […] . 122 c. Die Fluke [eines Wals] verpasste ihnen einen Schlag gegen die Seite […] Es [Anawaks Boot] wurde hoch gerissen, schwebte einen Moment im Nichts, prallte seitlich auf und überschlug sich. 123 d. Greywolf fährt zu Anawak i. Er hilft Anawak ins Boot. ii. Er hilft Delaware ins Boot. iii. Er hilft einem Mann ins Boot. iv. Er holt eine Frau ins Boot. v. Stringer stirbt. e. „Es ist niemand mehr da“, sagte er. „Wir hauen ab.“ […] Das Sportboot nahm röhrend Fahrt auf […] Greywolf jagte das Boot mit Höchstgeschwindigkeit auf die Küste zu. 124 f. Sie sind an Land. 125 8.4 Negative Konsequenzen als globaler inferentieller Bezugspunkt 151 <?page no="152"?> Die ereignisbezogene prädiktive Inferenz kann gemeinsam mit einem infer‐ ierten Ziel dazu dienen, Zielhierarchien inferentiell zu konstituieren, so wie sie von Suh und Trabasso beschrieben werden. Es handelt sich bei den Zielen um rekursive Elemente, die sich auf der lokalen und globalen Ebene ansiedeln können. Die einzelnen Ebenen können sich in weitere Schichten von unter- und übergeordneten Zielen spalten, die sich erneut aufteilen können etc. In (68) konstruiert der Rezipient das figurenseitige Ziel, die im Wasser treib‐ enden Figuren aufzulesen und gemeinsam mit ihnen an Land zu fliehen. (Der erste Teil, (68a-i) bis (68a-iv), spaltet sich erneut in Teilschritte, die im über‐ nächsten Beispiel behandelt werden.) Ziel- und Handlungsfolgen verschiedener Figuren können auf der Basis der negativen prädiktiven Inferenz verarbeitet werden. So nährt sich lokale Spannung durch einzelne Versuche, die global zu‐ sammengehalten werden, weil sowohl die von (68a) bis (68b) beschriebene Handlung von Anawak als auch die ab (68d-i) beschriebenen Handlungen von Greywolf Teilschritte zur Abwendung der negativen Konsequenz darstellen. So werden globale Ziel- und Handlungsreihen eingelagert in einen übergeordneten Rahmen, der sich aus der Konstruktion einer negativen Konsequenz ergibt. Die Aufmerksamkeit des Rezipienten richtet sich darauf, ob eine Figur (oder Figurengruppe) ihr Ziel erreichen wird und damit die negative Konsequenz ab‐ wenden kann. Folgehandlungen werden als weitere Versuche gewertet, das Ziel zu erreichen. Solange Handlungsabläufe nicht zum intendierten Ziel führen wie in (68c), wo der Schritt, im Wasser treibende Menschen aufzusammeln, einen Rückschlag erhält, weil das Boot kentert. Mit dem Scheitern wird nicht nur die Folgehandlung an das zuvor konstruierte Ziel geknüpft, zugleich wird die ne‐ gative Konsequenz aufrechterhalten oder im Idealfall sogar verstärkt. (68) d-v' Sie [Stringer] tauchte zwischen zwei Wellenkämmen auf, zu‐ sammen mit einer Frau, die halb bewusstlos im Wasser trieb. […] Sekunden noch, und sie würden Stringer und die Frau erreicht haben. Aber Greywolf war schon wieder am Steuer und ma‐ növrierte das Boot zielsicher heran. Anawak versuchte Stringer zu erreichen. Stringer versuchte sich währenddessen aus eigener Kraft hi‐ neinzuziehen, aber sie schaffte es nicht. […] Sie streckte die Hände aus, Furcht im Blick. Anawak langte hi‐ naus und bekam ihren rechten Arm zu fassen. Im blaugrünen Wasser kam etwas Großes mit unglaublicher Geschwindigkeit nach oben geschossen. Kiefer öffneten 8 Suspense 152 <?page no="153"?> 126 Schätzing, Der Schwarm, S. 159-161. sich […] und schlossen sich knapp unterhalb der Oberfläche. Stringer schrie auf. Sie begann mit der Faust auf das Maul, das sie umklammert hielt, einzuschlagen. „Hau ab“, schrie sie. „Weg. Du Mistvieh! “ Anawak krallte die Hände in ihre Jacke. […] Er hielt sie fest, entschlossen, nicht nachzugeben. Der Orca hatte Stringer um die Mitte gepackt. Er zerrte mit unglaublicher Kraft an ihr. […] Dann wurde sie Anawak mit einem fürchterlichen Ruck entrissen. Er sah ihren Kopf unter Wasser verschwinden, ihre Arme, die zuckenden Finger. Der Orca zog sie unerbittlich hinab. Eine Sekunde lang leuchtete noch ihr Overall auf, ein versprengtes Kaleidoskop aus Farbe, das verblasste, sich auf‐ löste, verschwand. 126 Erfolgreiche und gescheiterte Versuche werden ebenenspezifisch verarbeitet. Außer auf der obersten Ebene besteht nach einem Teilerfolg weiterhin die Mög‐ lichkeit zu scheitern. Wenn alle Lebenden aus dem Wasser geborgen sind, be‐ steht der zweite und letzte Schritt darin, das Festland sicher zu erreichen, was ebenfalls scheitern kann. Das Gesamtziel ist erreicht und ein Scheitern ist nicht mehr möglich, wenn sie am Festland angekommen wie in (68f), wobei in Der Schwarm an dieser Stelle ein zeitlicher Sprung ansetzt, der spätere Entwick‐ lungen an Land aufgreift, in die auch Anawak und Greywolf involviert sind, was voraussetzt, dass sie das Festland zuvor unversehrt erreicht haben. Analog dazu besteht bei einem fehlgeschlagenen Versuch weiterhin die Möglichkeit, das ex‐ plizit formulierte oder vom Rezipienten inferierte Ziel zu erreichen. Das gilt in (68c), wobei durch eine Wiederholung der Handlungsfolge durch eine andere Figur (nämlich die anschließende Bergung durch Greywolf) zu einem Erfolg führt. Es gibt allerdings auch Rückschläge, bei denen der fail-Zustand final und unwiderruflich eingetreten ist, sodass das Erreichen des Ziels nicht mehr mög‐ lich ist. Dies gilt in der zusammengefassten (68d-v) und der ausformulierten Variante (68d-v'), die Figur Stringer kann nicht mehr gerettet werden. Der Plan zur Erreichung des Ziels lässt keinen Spielraum zu. Auf den ein‐ zelnen Ebenen gibt es lediglich zwei Möglichkeiten, entweder erreichen die Fi‐ guren das Ziel oder sie scheitern. Weitere von Schank und Abelson beschriebene Möglichkeiten, wie zum Beispiel die Variante, Ziele für eine gewisse Zeitspanne 8.4 Negative Konsequenzen als globaler inferentieller Bezugspunkt 153 <?page no="154"?> 127 Schätzing, Der Schwarm, S. 156. aufzuschieben oder diese vollständig fallen zu lassen, kommen wegen der akuten Präsenz einer möglichen negativen Konsequenz nicht in Frage. In (68) sind die Bergungshandlungen in (68a-i) bis (68a-iv) und (68d-i) bis (68d-iv) zusammengefasst. Einige dieser Handlungsabschnitte sollen im Fol‐ genden untersucht werden, um koordinierte Figurenhandlungen zu zeigen. (68) a-i' „Leon! “ Das war Stringer! Sie schwamm auf ihn zu. Anawak ergriff ihre Hände und zog sie an Bord. (68) a-ii' Dort trieb Alicia Delaware. Sie hielt den Kopf eines jungen Mannes über Wasser, dessen Anzug nicht wie die anderen von Pressluft gebläht war. Anawak lenkte das Boot näher an die Studentin heran. Neben ihm stemmte sich Stringer hoch. Vereint hievten sie zuerst den bewusstlosen Jungen und dann das Mädchen an Bord. (68) a-iii' Delaware […] hängte sich sofort wieder über den Bootsrand und half Stringer, weitere Menschen ins Innere zu ziehen. Andere näherten sich aus eigener Kraft, reckten die Arme, und sie halfen ihnen hinein. Das Boot füllte sich schnell […] Hastig griffen sie zu, während Anawak weiter die Wasser‐ oberfläche absuchte. 127 Die Handlungen der einzelnen Figuren werden über die rezipientenseitige Kon‐ struktion von Zielen und negativen Konsequenzen organisiert. Neben unab‐ hängig voneinander operierenden Figuren wie in (66) und mehreren kausal un‐ abhängige Handlungen einer Figur wie in (67) kann auch der Fall eintreten, dass mehrere Figuren gemeinsam einem Ziel entgegenstreben. Diese Möglichkeit wurde von Richards und Singer und Singer und Richards in (41) beschrieben, wobei bei ihnen das Ziel explizit eingeführt wird und sie ohne eine übergeord‐ nete konstruierte negative Konsequenz auskommen. In (68a-i') bis (68a-iii') werden verschiedene Varianten solcher als koordiniert interpretierten Handlungen realisiert, die auf einer inferierten negativen Kon‐ sequenz und daraus abgeleiteten Zielen einzelner Figuren basieren. Innerhalb der koordinierten Handlungen in der hier zugrunde gelegten Passage lassen sich zwei Figurengruppen unterscheiden. Zum einen gibt es Figuren, die sich im 8 Suspense 154 <?page no="155"?> Wasser befinden und deren Handlungen um Hilfe rufen, zum Boot schwimmen und ins Boot gelangen umfassen. Zum anderen gibt es Figuren, die sich im Boot befinden. Zu deren Handlungen zählen unter anderem das Ausschauhalten nach und die Lokalisation von Menschen im Wasser, die Navigation des Boots und die Bergung der Menschen. Zum Teil spalten sich diese Handlungen weiter auf. Die Bergung der Menschen umfasst zum Beispiel untergeordnete Teilschritte wie das Erfassen der im Wasser treibenden Figuren und den Schritt, diese über die Reling ins Bootsinnere zu ziehen. Die jeweilige Handlung und die auf dieser Grundlage konstruierten Ziele hängen davon ab, welche Schritte bereits vollzogen wurden und zu welcher Gruppe die Figur gehört, deren Handlung beschrieben wird. Die Gruppenzuge‐ hörigkeit kann einem mehrfachen Wechsel unterliegen. In (68) ist Anawak zu‐ nächst in einem Schlauchboot und versucht, Menschen aus dem Wasser zu bergen. Später ist er im Wasser. Nachdem er von Greywolf geborgen wird, be‐ findet er sich wieder in einem Boot. In (68a-i') inferiert der Rezipient, dass Schwimmer und Figur im Boot koor‐ diniert handeln: Stringer befindet sich im Wasser. Der erste Schritt ihrer Hand‐ lungsfolge ist, die Aufmerksamkeit von Anawak zu erhalten, indem sie seinen Namen ruft. Im zweiten Schritt schwimmt sie auf sein Boot zu. Als Anawak ihre Hand ergreift, findet ein kooperativer Schritt statt, der abschließt mit dem Er‐ reichen des inferierten Ziels, als Stringer sich im Boot befindet. Auf der Ebene der Wasserbergung ist der Schritt von Erfolg gekrönt. Bei einer weiteren Bergung in (68a-ii') werden ebenfalls die Handlungen von Stringer und Anawak koordiniert. Diesmal sind allerdings beide im Boot, der Rezipient konstruiert das gemeinsame Ziel. In einer koordinierten Maßnahme helfen sie anderen Figuren aus dem Wasser ins Boot. Im ersten Schritt manöv‐ riert Anawak das Boot zu den Figuren. Im zweiten Schritt befördern er und Stringer die Figuren gemeinsam ins Boot, womit sie einen Erfolg auf dieser Ebene verbuchen. Ohne das vom Rezipienten konstruierte Ziel ließen sich diese Handlungen nicht in ein kohärentes Textweltmodell integrieren. In (68a-iii') kommt ein komplexeres Zusammenspiel zwischen Figuren der Gruppe im Boot, während die gruppenübergreifende Koordination zum Teil vorhanden ist und zum Teil nicht stattfindet. Während in (68a-ii') beide Figuren gemeinsam agieren, ist es im aktuellen Stadium möglich, durch Arbeitsteilung mehr Effizienz zu erreichen. So hieven Alicia und Stringer weitere Menschen ins Boot, die zum Teil auch selbst einen Beitrag leisten, indem sie sich dem Boot nähern. Damit liegt einerseits eine Kombination vor aus der in (68a-i') und (68a-ii') dargestellten Variante. Darüber hinaus findet Arbeitsteilung innerhalb der Gruppe auf dem Boot statt: Während ein Teil Menschen aus dem Wasser ins 8.4 Negative Konsequenzen als globaler inferentieller Bezugspunkt 155 <?page no="156"?> Boot befördert, führt Anawak das Boot und hält nach weiteren Figuren Aus‐ schau, die im Wasser treiben. Wenn der Rezipient sich (68a-i') bis (68a-iii') durchliest, so wird er zunächst mit einem allein agierenden Anawak im Boot konfrontiert. Nachdem die erste Person geborgen ist, hieven Anawak und die Figur eine weitere im Wasser trei‐ bende Figur an Bord. Anschließend vollzieht der Rezipient nach, dass eine Ar‐ beitsteilung stattfindet, bei der eine Figur das Boot kontrolliert während die bereits geborgenen Figuren sich um die Bergung kümmern. Hinsichtlich des Abstraktionsgrades unterscheiden Schank und Abelson ver‐ schiedene Ebenen. Auf die Passagen aus Der Schwarm bezogen, ist das Überleben auf der höchsten Abstraktionsstufe einzuordnen. Die darauf abzielenden Pläne siedeln sich auf einer konkreteren Ebene an, da sie mit Schritten wie Menschen aus dem Wasser ziehen (und den damit verbundenen Teilschritten wie Lokali‐ sation, ins Boot Hieven) und das Boot an Land bringen eine höhere Spezifität mit sich bringen. In den vorangegangenen Beispielen (66) bis (68') wird auf der Basis eines Textsegmentes und des Wissens von Rezipienten eine negative Konsequenz konstruiert. Gemeinsam mit daran anschließenden handlungsbeschreibenden Sätzen bildet die negative Konsequenz die Grundlage zur Konstruktion von Zielen. Darauf folgendes, diskontinuierliches und global verteiltes Diskursma‐ terial, inklusive untergeordneter und / oder koordinierter Handlungen und ge‐ scheiterter Versuche, lässt sich auf dieser Basis in die mentale Textweltreprä‐ sentation integrieren. Zum Teil können einzelne Handlungsblöcke als kohärent eingestuft werden. Eine negative Konsequenz bildet also die Grundlage für • die Konstruktion von Zielen, • die Verarbeitung handlungsbeschreibender Sätze - einzelner Figuren, - verschiedener Figuren, die zum Teil unabhängig voneinander ope‐ rieren, - koordinierte Figurenhandlungen, - untergeordnete Handlungen und gescheiterte Versuche von Figuren. Um allerdings globale Kohärenz herzustellen, bedarf es der inferentiell kon‐ struierten, negativen prädiktiven Inferenz und den daraus abgeleiteten Zielen, die sich auf einer abstrakten Ebene befinden können und in spezifischen Ein‐ zelzielen und damit verbundenen Teilhandlungen aufgehen können. Sollten diese Inferenzen nicht hergestellt werden, so zerfällt der Text in unzusammen‐ hängende Sätze. Dass eine prädiktive Inferenz auf Ereignisebene das verste‐ hensnotwendige Fundament bildet, um daran eine einzelne Handlungsfolge, 8 Suspense 156 <?page no="157"?> 128 Remarque, Im Westen nichts Neues, S. 148. 129 Remarque, Im Westen nichts Neues, S. 149. mehrere unabhängige Handlungsfolgen einer oder verschiedener, zum Teil ko‐ ordinierter Figuren inferentiell anzuschließen, wird weder in der Literatur zur Spannung noch in der Textverstehensforschung besprochen. Informationen über die Umstände im Rahmen einer negativen Konse‐ quenz. Eine negative prädiktive Inferenz kann nicht nur den Rahmen bilden für die lokale und globale Verarbeitung von Textsegmenten, die Ziele und Hand‐ lungen einer oder mehrerer Figuren beschreiben. Darüber hinaus können auch Informationen inferentiell berücksichtigt werden, die weder Ziele noch Hand‐ lungen beschreiben. Diese Informationen tragen dazu bei, die Spannung zu er‐ höhen, indem sie die rezipientenseitige Glaubenswahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine negative Konsequenz sich tatsächlich konkretisiert. In Im Westen nichts Neues des deutschen Schriftstellers Erich Maria Remarque befindet sich der Protagonist Paul Bäumer als deutscher Soldat im ersten Welt‐ krieg an der Westfront. In einer Nacht begibt er sich zwischen die Fronten, um die genaue Position der feindlichen Truppen zu erkunden. Dabei versteckt er sich eine Weile in einem der unzähligen Löcher, die durch die Detonation von Bomben entstanden. Später stellt der Text folgende Informationen bereit. (69) a. Das Licht nimmt zu. 128 b. Es ist heller, grauer, früher Tag. 129 In (69a) und (69b) kann der Rezipient auf der Grundlage seines Wissens die negative Konsequenz konstruieren, dass sich der Protagonist in einer heiklen Lage befindet. Die Rückkehr in sein eigenes Lager wird deutlich erschwert durch die Helligkeit. Dass er dabei von gegnerischen Soldaten entdeckt und ange‐ griffen wird, erscheint wahrscheinlich. In anderen Kontexten wären andere Möglichkeiten der situationsbezogenen Verstärkung denkbar. So könnten bei einem Schiffsbruch Informationen zur Jahreszeit oder zur Temperatur des Wassers dazu beitragen, die Glaubenswahr‐ scheinlichkeit für das Eintreten einer negativen Konsequenz zu verstärken. Dies wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn der Schiffsbruch im Winter passiert und die Wassertemperatur vier Grad Celsius beträgt. Diese Informationen werden nicht einfach nur als Zusatzinformationen hin‐ genommen, der Rezipient bezieht sie auf die Situation und konstruiert die damit 8.4 Negative Konsequenzen als globaler inferentieller Bezugspunkt 157 <?page no="158"?> 130 Eine ähnliche Position deutet sich auch bei Hienger an, wenn er schreibt: Die Wahl des Raumes determiniert wenigestens teilweise die möglichen Beschaffenheiten der Fährnisse (Hienger (1976), S. 47). 131 Vgl. Dijkstra u. a. (1994), S. 143, 152. 132 Vgl. Zillmann (1991), S. 291. zusammenhängenden Folgen. Ohne die Konstruktion der negativen Inferenz besäßen die Angaben keine Relevanz. 130 Mit dieser Analyse richtet sich diese Arbeit gegen Dijkstra u. a. Diesen Au‐ toren zufolge sind ausschließlich dynamische Aspekte (im Sinne von Hand‐ lungen) relevant für Spannung. Beschreibungen der Situation, Informationen über die Umstände und andere, ihrer Beschreibung nach statische Aspekte spielen keine Rolle für die Spannungskonstruktion. 131 Weitere Möglichkeiten, die rezipientenseitige Glaubenswahrscheinlichkeit hinsichtlich der inferierten negativen Konsequenz zu verändern, werden im Folgenden vorgestellt. 8.4.2 Wahrscheinlichkeiten suggerieren Im Falle des Suspense wird die Spannung über potentielle negative Konse‐ quenzen generiert. Zillmann hebt hervor, dass sich die Spannung eines Werkes gemächlich steigern muss. Sie sollte nicht schlagartig ab- oder zunehmen. 132 Die Spannung kann gesteigert werden, indem textuelle Signale bereitgestellt werden, die suggerieren, dass das Eintreten einer negativen Konsequenz mehr oder weniger wahrscheinlich ist. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den rezipientenseitigen Überzeugungsgrad und damit die Spannung zu beeinflussen. • Verstärkung einer ereignisbezogenen prädiktiven Inferenz: Eine negative Konsequenz folgt eher aus einer neuen Information als aus vorhandenen. • Troubled problem solving: Mögliche Auflösungen werden eliminiert, das Abwenden des negativen Ausgangs erscheint unmöglich. • Suspense nach Hitchcock: Der Rezipient konstruiert eine negative Kon‐ sequenz, derer sich eine Figur nicht bewusst ist. • Eine minimale Veränderung in der Textwelt erlaubt es dem Leser, in dem negativen Rahmen doch noch eine positive Konsequenz zu konstruieren. Verstärkung einer prädiktiven Inferenz. Während ein negativer Ausgang in einem Text zunächst nur als eine Möglichkeit erscheint, kann der Text im weiteren Verlauf zusätzliche Signale bereitstellen, auf deren Basis sich die sub‐ jektive Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sich die negative Konsequenz innerhalb der Textwelt tatsächlich realisiert. Neue Informationen erhöhen die Wahr‐ scheinlichkeit des Eintretens einer negativen Konsequenz aus der Perspektive 8 Suspense 158 <?page no="159"?> 133 Vgl. Busse (2015), S. 344-345. des Rezipienten, da eine negative Konsequenz eher aus dieser neuen Information folgt als aus dem bis dahin konstruierten mentalen Modell der Textwelt. Die verschiedenen Glaubenswahrscheinlichkeiten lassen sich unter Rückgriff auf Teile der von Busse aufgeführten Modi des verstehensrelevanten Wissens be‐ schreiben. Er verteilt verschiedene rezipientenseitig angenommene Glaubens‐ wahrscheinlichkeiten auf einer achtstufigen Skala. Am einen Ende siedelt sich die Gewissheit an, die auf Wahrnehmungsdaten des Rezipienten basiert. Am anderen Ende der Skala befinden sich epistemische Elemente, die vom Rezip‐ ienten als unzutreffend oder unmöglich eingeschätzt werden. Dazwischen finden sich unter anderem die Punkte [f]ür möglich Gehaltenes und für wahr‐ scheinlich Gehaltenes. 133 Diese sind im Zusammenhang mit der folgenden Ana‐ lyse ausschlaggebend, wobei die vom Leser konstruierten Prognosen innerhalb des für wahrscheinlich Gehaltenen mit einer weiteren Abstufung einhergehen. (70) a. In der Tragfläche der Passagiermaschine löste sich ein Kabel. b. Es flatterte hin und her. c. Das Kabel berührte ein anderes Kabel. d. Das Flugzeug senkte sich leicht. e. Ein Kurzschluss entstand. f. Das Flugzeug hatte inzwischen 800 Höhenmeter verloren. g. Ein Funke löste sich. h. Die Passagiere wurden aufgefordert sich die Gurte anzulegen. i. Die Stewardessen legten sich Westen an. j. Der Druck fiel ab. k. Die Beatmungsmasken schossen aus der Decke. l. Im Cockpit sammelte sich Rauch. m. Das Flugzeug befand sich im Sturzflug. n. Der Captain fiel in Ohnmacht. o. Das Triebwerk stand in Flammen. p. Das Flugzeug war 57 Meter über der Erde. Im konstruierten Beispiel (70) inferiert der Rezipient beim Lesen von (70a) auf der Grundlage seines Wissens die negative Konsequenz, dass eine Gefahr be‐ steht und zugleich die Möglichkeit eines Absturzes und den damit verbundenen Tod der Passagiere und der Mannschaft. Während es in (70a) bis (70c) lediglich als eine Möglichkeit erscheint, nimmt diese durch die zusätzlich bereitgestellten Informationen kontinuierlich mehr Gestalt an. Durch das zusätzliche Diskurs‐ 8.4 Negative Konsequenzen als globaler inferentieller Bezugspunkt 159 <?page no="160"?> 134 Vgl. Gerrig / Bernardo (1994), S. 460, 471; Gerrig (1994a), S. 83; Gerrig (1996), S. 95-96. material dürfte sich diese Glaubenswahrscheinlichket verstärken bis zu dem Punkt, dass ein Absturz für sehr wahrscheinlich oder sicher gehalten wird. Dabei nimmt die rezipientenseitig zugeordnete Wahrscheinlichkeit der negativen Konsequenz über die Sätze (70e), (70g), (70j), (70l) und (70n) zu. Nach (70o) und (70p) sollte er den Absturz für gewiss halten. Bestimmte prädiktive Inferenzen können also verstärkt werden, indem weitere Informationen gegeben werden, die aus dem Wissen oder Unterstellungen über bisherige Ereignisse induktiv übertragen werden auf das aktuell rezipierte Diskurssegment. Troubled problem solving. Gerrig und Bernardo beschreiben eine narrative Technik, die es erlaubt, die rezipientenseitige Zuordnung von Wahrscheinlich‐ keiten zu beeinflussen: das troubled problem solving bzw. unsuccessful problem solving. In einem Text werden dabei einzelne Diskurselemente aufgegriffen, die zur Lösung eines Problems beitragen könnten. Diese Diskurselemente werden als Problem-lösend disqualifiziert, sodass die Problembewältigung rezipienten‐ seitig als schwieriger oder sogar unmöglich eingestuft wird. So steigt die sub‐ jektiv konstruierte Wahrscheinlichkeit, dass der negative Ausgang sich kon‐ kretisiert. 134 In einer empirischen Studie testeten Gerrig und Bernardo diese Möglichkeit der Spannungsintensivierung. Versuchspersonen bekamen einen Text vorge‐ legt, der sie über eine Situation von James Bond aus dem Buch Casino Royale informiert. Die Mission des Geheimagenten ist es, das antagonistische Element Le Chiffre daran zu hindern, beim Glücksspiel zu gewinnen. Nachdem Bond diesen Auftrag erfolgreich ausgeführt hat, gerät er in die Fänge von Le Chiffre und seinen Schergen, er befindet sich in der Höhle des Löwen. (71) Like lightning the Corsican [the second gunman] slammed himself back against the wall of the passage and, as Bond’s foot whistled past his hip, he very quickly, but somehow delicately, shot out his left hand, caught Bond’s shoe at the top of its arc and twisted it sharply. As he crashed to the ground, Bond rolled agilely and, with a motion a. in which he took great pride, he righted himself with minimal damage. b. that he hoped went unnoticed, moved his fountain pen deeper into his breast pocket. „Search him“, barked Le Chiffre. 8 Suspense 160 <?page no="161"?> 135 Vgl. Gerrig / Bernardo (1994), S. 461-462. The two gunmen dragged Bond to his feet. While the thin man kept his gun trained on Bond’s unquiet chest, the Corsican roughly stripped Bond’s revolver out of its shoulder holster. He twisted Bond around brusquely in search of other weaponry. Le Chiffre observed his assistant’s work attentively. Then, as if reading Bond’s thoughts, he crossed the room and a. said, „Come my dear fried. Let’s not waste time.“ b. snatched away Bond’s fountain pen. „Come, my dear friend,“ said Le Chiffre. „Let’s not waste time.“ Diese experimentelle Studie zeigt, dass sich durch das Eliminieren von Lösungs‐ möglichkeiten die Spannung steigern lässt, auch wenn sich dadurch objektiv gesehen nicht mehr Lösungswege anbieten. Zwei Versuchsgruppen legten Gerrig und Bernardo (71) vor. Die erste Gruppe erhielt jeweils die a-Version, die zweite Gruppe erhielt eine Variante mit den Textsegmenten b. Durch die Ein‐ führung des Stiftes wird eine neue Möglichkeit für James Bond eröffnet, der Situation zu entkommen. Diese wird aufgehoben, als Le Chiffre ihm den Stift in (71b) entreißt. Die b-Variante wurde von den Versuchspersonen als spannender bewertet, sie bestätigen damit die Hypothese von Gerrig und Bernardo, dass mit dem Wegfallen von möglichen Lösungen eine Intensivierung der Spannung einhergeht. 135 Der Stift erhält durch das rezipientenseitige Wissen über die Spe‐ zialanfertigungen für James Bond und deren Anwendbarkeit seine Relevanz. Die Szene setzt voraus, dass der Rezipient dem Protagonisten ein Ziel unterstellt - nämlich, der negativen Konsequenz zu entgehen, dass er stirbt. Durch das troubled problem solving rücken auch die eingelagerten Zielhie‐ rarchien aus Unterabschnitt 8.4.1 in ein neues Licht. Ereignisbezogene prädik‐ tive Inferenzen negativer Art wurden als inferentielle Bezugspunkte be‐ schrieben, die dazu dienen, global verteilte Diskurselemente inklusive der Zielhierarchien zu verarbeiten. Da die Spannung dem troubled problem solving zufolge durch das Ausscheiden von Lösungsmöglichkeiten verstärkt wird, sollte jeder gescheiterte Versuch der Zielhierarchien in (68) zu einer weiteren Span‐ nungssteigerung führen, da dadurch jeweils eine mögliche Auflösung aus‐ scheidet (vorausgesetzt, dass es sich nicht um ein endgütiges Scheitern handelt). Suspense im Sinne Hitchcocks. Innerhalb der Textwelt von Romanen ver‐ fügen die einzelnen Figuren (und Figurengruppen) über bestimmte Wissensbe‐ 8.4 Negative Konsequenzen als globaler inferentieller Bezugspunkt 161 <?page no="162"?> 136 Truffaut (1984), S. 64. stände. Auch der Rezipient verfügt über Wissen, das die spezifische Textwelt betrifft. Zum Teil verfügen Figuren und Rezipient über ähnliche Wissensbe‐ stände. In der Regel ist es allerdings so, dass zwischen einzelnen Figuren (und Figurengruppen) einerseits und zwischen Rezipient und Figuren andererseits eine asymmetrische Verteilung der Informationen stattfindet. In vielen Fällen ist diese Wissensverteilung nicht von Bedeutung für das Verstehen eines Textes und für den Aufbau von Spannung. In bestimmten Konstellationen kann die Wissensverteilung allerdings wichtig werden. Dies ist für das Hitchcock‘sche Verständnis von Spannung wichtig. Schaut man sich die Filme von Alfred Hitchcock an und beachtet dabei seine Beschreibungen aus einem bekannten Interview mit dem französischen Regis‐ seur und Filmkritiker François Truffaut, so erfährt man, dass bei ihm zusätzlich zu einer negativen Konsequenz die asymmetrische Verteilung von Informati‐ onen zwischen Rezipient und Figuren eine Schlüsselrolle in der Spannungskon‐ zeption einnimmt. Der Suspense-Effekt tritt demnach dann ein, wenn der Re‐ zipient eine handlungsrelevante Information besitzt, über die mindestens eine der informationsaffizierten Figuren nicht verfügt. Man muss also hier zwischen dem Informationsstand der Figuren und des Rezipienten unterscheiden. Das macht Hitchock in dem folgenden, häufig zitierten Ausschnitt deutlich, in dem er den Suspense mit der Überraschung kontrastiert. Der Unterschied zwischen Suspense und Überraschung ist sehr einfach, ich habe das oft erklärt. Dennoch werden diese Begriffe in vielen Filmen verwechselt. Wir reden miteinander, vielleicht ist eine Bombe unter dem Tisch, und wir haben eine ganz ge‐ wöhnliche Unterhaltung, nichts besonderes passiert, und plötzlich, bumm, eine Ex‐ plosion. Das Publikum ist überrascht, aber die Szene davor war ganz gewöhnlich, ganz uninteressant. Schauen wir uns jetzt den Suspense an. Die Bombe ist unterm Tisch, und das Publikum weiß es. Nehmen wir an, weil es gesehen hat, wie der Anarchist sie da hingelegt hat. Das Publikum weiß, daß die Bombe um ein Uhr explodieren wird, und jetzt ist es 12 Uhr 55 - man sieht eine Uhr. Dieselbe unverfängliche Unterhaltung wird plötzlich interessant, weil das Publikum an der Szene teilnimmt. Es möchte den Leuten auf der Leinwand zurufen: Reden Sie nicht über so banale Dinge, unter dem Tisch ist eine Bombe, und gleich wird die explodieren! Im ersten Fall hat das Publikum fünfzehn Sekunden Überraschung beim Explodieren der Bombe. Im zweiten Fall bieten wir ihm fünf Minuten Suspense. Daraus folgt, daß das Publikum informiert werden muß, wann immer es möglich ist. Ausgenommen, wenn die Überraschung wirklich dazugehört, wenn das Unerwartete der Lösung das Salz der Anekdote ist. 136 8 Suspense 162 <?page no="163"?> 137 Brewer und Lichtenstein bieten in ihrer Structural-Affect Theory eine ähnliche Be‐ schreibung des Suspense an. Den Autoren zufolge divergieren Leseremotionen und Figurenemotionen, da beide über verschiedene Wissensbestände verfügen (vgl. Brewer / Lichtenstein (1982), S. 481). (1) The sniper was waiting outside the house. Charles got up from the chair. He walked slowly toward the window. There was the sound of a shot and the window broke. Charles fell dead. Darüber hinaus basiert ihre Analyse auf dem Verhältnis zwischen der tatsächlichen Reihenfolge der Ereignisse und ihrer zeitlichen Reihenfolge innerhalb der Textwelt, die beim Suspense einander entsprechen. Mit der Rezeption des auslösenden Ereignisses wird der Leser emotional eingebunden und antizipiert eine Konsequenz für eine Figur (vgl. Brewer / Lichtenstein (1982), S. 481). Peter Wenzels spricht auch von Bedrohungs‐ spannung (vgl. Wenzel (2001), S. 30-32). In dieser Arbeit wird die Auffassung geteilt, dass der Suspense einen antizipatorischen Akt involviert. Allerdings wird hier - anders als es bei Brewer und Lichtenstein der Fall ist - die Reihenfolge von Ereignissen ausgeblendet, da für die Konstruktion von Sus‐ pense lediglich ein einzelnes Ereignis notwendig ist, wie die in diesem Kapitel vorge‐ stellten Beispiele zeigen. Gleiches gilt ebenso für die anderen Spannungstypen und wird in Abschnitt 9.1 diskutiert. 138 Wuss (1993b), S. 111. 139 Wuss (1993b), S. 114. Bei der Rezeption der in dem Zitat geschilderten Szene sollte der Zuschauer die Inferenz konstruieren, dass die Bombe explodieren wird und die Gäste sterben werden, wenn der Explosionskörper nicht entfernt oder entschärft wird oder wenn das Wohnzimmer nicht evakuiert wird. Das Unwissen der Figuren lässt den negativen Ausgang wahrscheinlicher erscheinen, sodass der Rezipient da‐ rauf wartet, ob dieses spezifische zukünftige Ereignis tatsächlich eintreten wird. 137 Das bessere Wissen des Zuschauers über eine Situation hat zur Folge, daß seine Hy‐ pothesen über den weiteren Verlauf eines Geschehens genauer ausfallen. 138 Auf der Basis seines Informationsstandes generiert der Rezipient Hypothesen über zukünftige Ereignisse, das Informationsgefälle beim Hitchcock’schen Sus‐ pense veranlasst zur rezipientenseitigen Konstruktion spezifischer prädiktiver Inferenzen. Diese Informiertheit (bzw. der Suspense) hilft eine Ziel gerichtete Erwartung zu etablieren, ermöglicht eine zuverlässigere Voraussage über Kom‐ mendes.  139 Die Figur konstruiert diese prädiktive Inferenz auf Ereignisebene nicht. Durch die Unwissenheit der betroffenen Figur erhöht sich die Wahrscheinlich‐ keit, dass die vom Rezipienten konstruierte negative prädiktive Inferenz sich tatsächlich realisiert, die Spannung wird gesteigert. 8.4 Negative Konsequenzen als globaler inferentieller Bezugspunkt 163 <?page no="164"?> 140 Vgl. Wuss (1993a), S. 328. 141 Vgl. Wulff (1999), S. 218-219. 142 Vgl. Rowling, Harry Potter und die Kammer des Schreckens, S. 26-28. Bei genauerer Betrachtung stellt man fest, dass in diesem Beispiel Meta- und Objektebene nicht klar getrennt werden. Da auf diese Weise die gewählten Beispielen und ihre Analyse am besten voneinander abgehoben werden können und da so zugleich die Nachvollzieh‐ barkeit erleichtert wird, wird dieses Vorgehen auch an anderen Stellen der Arbeit ge‐ wählt. Wuss charakterisiert das Verhältnis zwischen den Wissensbeständen einer Figur und des Rezipienten als erkennbares Gefälle bzw. evidente Informationsge‐ fälle. 140 Wulff weist darauf hin, dass der Rezipient eine zusätzliche kognitive Leistung erbringt. Er stellt nicht nur prädiktive Inferenzen her, darüber hinaus macht er sich auch die Verteilung des Wissens bewusst. 141 Sollte der Rezipient sich nicht darüber im Klaren sein, dass er eine handlungsrelevante Information besitzt, über die die betroffene Figur nicht verfügt, so ergibt sich keine Steige‐ rung in der rezipientenseitig angenommenen Wahrscheinlichkeit. Eine minimale Veränderung führt zur Konstruktion positiver Konse‐ quenzen. Sobald der Rezipient mögliche negative Konsequenzen konstruiert hat, generiert jede minimale Veränderung, die Problem-lösende Interpretati‐ onen zulässt, ein Maximum an Spannung. Nachdem also im ersten Schritt mög‐ liche negative Konsequenzen mental konstruiert wurden, ist die Einführung einer Information spannungsverstärkend, die es erlaubt, eine Möglichkeit der positiven Auflösungen zu konstruieren. Dieser Typ ergibt sich aus Relevanz‐ überlegungen, die die Wahrscheinlichkeit des negativen Ausgangs auf der Handlungsebene neu evaluieren unter Berücksichtigung der neu eingelaufenen Information. Er basiert auf statischem und dynamischem Schemawissen und setzt voraus, dass mit einer als bevorstehend antizipierten positiven Auflösung die Spannung steigt. Die kognitive Konstruktion einer Lösungsmöglichkeit und die Hoffnung auf die Auflösung bilden also einen Faktor der dynamischen Ent‐ wicklung. An den folgenden zusammengefassten Beispielen soll dieser Aspekt verdeutlicht werden. (72) stammt aus dem Bestseller Harry Potter und die Kammer des Schreckens von Joanne K. Rowling, (73) stammt aus der vielfach preisgekrönten US -amerikanischen Actionserie 24, (74) stammt aus der Fanta‐ sysaga Das Erbe von Winterfell des Starautors George R. R. Martin. (72) Harry Potter ist gefangen in seinem Zimmer. Das Fenster ist zugena‐ gelt. Es gibt keinen Ausweg. Plötzlich erscheint ein Freund in einem fliegenden Auto. 142 8 Suspense 164 <?page no="165"?> 143 Vgl. Hopkins u. a., 24. 144 Vgl. Martin, Das Erbe von Winterfell, S. 726-736, 772-780. (73) Eine Figur ist in Gefangenschaft. Sie wagt den Ausbruch, der miss‐ lingt. Bei dem Befreiungsversuch gelangt sie unbemerkt an ein Mo‐ biltelefon. 143 (74) Die rechtmäßige Thronfolgerin möchte ihren Anspruch auf die Herr‐ schaft mit einer Armee von Wilden gewaltsam erzwingen. Als ihr Ehemann, der Anführer der Wilden, an den Folgen eines Schwert‐ kampfes stirbt, büßt sie von einem auf den anderen Augenblick ihre gesellschaftliche Position ein, denn einer unbeschützten Frau wird in dem Stamm der Wilden keine Achtung geschenkt. Dann erhält die Frau drei Drachen. 144 In (72) aus dem Bestseller Harry Potter und die Kammer des Schreckens von Jo‐ anne K. Rowling wird auf der Basis der mentalen Welt, der neu zugeführten Information und dem Wissen, die Möglichkeit inferiert, dass der Protagonist kurz davor steht, aus der misslichen Lage befreit zu werden. In (73) aus der ersten Staffel der TV -Serie 24 erkämpft die Figur sich das Mobiltelefon. Die mentale Welt, das zuletzt verarbeitete Textsegment und das Wissen des Rezipienten erlauben den relevanzbasierten Schluss, dass sich die Situation für die Figur grundlegend verbessern könnte, falls sie es schafft, tele‐ fonisch Hilfe zu rufen. Andere Handlungen würden in diesem Zusammenhang einen offenen Relevanzbruch darstellen. Zum Beispiel, wenn der Befreiungs‐ versuch ausschließlich dazu diente, einen Käfer zu zertreten, der sich außer Reichweite befindet, was in einer ähnlichen Situation in dem surrealistischen Film Das goldene Zeitalter von Luis Buñuel geschieht. In (74) aus Das Erbe von Winterfell von George R. R. Martin zeigt sich eine weitere Facette. Das mentale Modell, der aktuell verarbeitete Text und das Wissen führen zu einer Verschiebung der Wahrscheinlichkeit in Bezug auf das Erreichen des Ziels. Im Vergleich zu den vorigen Fällen wurde das Wissen hier diskursiv erworben aus vorangegangenem Kontakt mit Fantasy-Geschichten, verwandten Textsorten oder Informationen zu diesem Genre. Drachen figu‐ rieren nicht als Bestandteile der perzeptuierbaren Umgebung. Durch den Erhalt der drei Drachen wird die Wahrscheinlichkeit, dass die Frau ihr Ziel erreicht, deutlich erhöht. 8.4 Negative Konsequenzen als globaler inferentieller Bezugspunkt 165 <?page no="166"?> 8.5 Zwischenfazit In Anlehnung an die Forschung von Zillmann zeigen Comisky und Bryant, dass der negative Ausgang den Hauptfaktor bei der Erzeugung von Suspense dar‐ stellt. Wie Suspense wissensbasiert konstruiert wird, arbeitet Wulff heraus, indem er konstruktivistische Ansätze auf die Filmrezeption überträgt, wobei er Relevanzerwägungen (auf der Handlungsebene) als metarezeptive Hypothese in die Analyse mit einbezieht. Demnach konstruiert der Rezipient eine negative Konsequenz, indem er Informationen der Textwelt in Beziehung zueinander setzt. Ein Diskurselement besitzt eine handlungsbezogene Konsequenz. Die ne‐ gative Konsequenz füllt Ohler zufolge die Leerstelle O UTC OME . Diteweg und Tan leisten auf terminologischer Ebene einen annähernden Schritt zu einer kognitionslinguistischen Analyseebene, indem sie die negativen Konsequenzen aus den Filmstudien mit dem Begriff der prädiktiven Inferenz beschreiben. So handelt es sich bei dem von Wulff beschriebenen Suspense um eine prädiktive Inferenz auf der Ereignisebene, bei der eine textuelles Element als Ursache für ein inferiertes zukünftiges Ereignis interpretiert wird und bei dem der Kausalitätsbegriff von Mackie zugrunde liegt. In dieser Arbeit wurden die Ergebnisse der Textverstehensforschung herangezogen, um zu zeigen, dass bei Wulff eine Reihe vorausgesetzter Annahmen stillschweigend involviert sind: Die negative Konsequenz wird online hergestellt und besitzt trotz ihrer Auf‐ nahme in die mentale Textweltrepräsentation einen hypothetischen Charakter, da ihr Zustandekommen Ergebnis eines nicht-monotonen Schlussprozesses ist. Bei Wulff deutet sich an, dass weitere Diskurssegmente mit dem der prädiktiven Inferenz mental interagieren können. Da Kohärenz in Wulffs Analyse keine Rolle spielt, kann der elaborative Status prädiktiver Inferenzen nicht aufgehoben werden. Durch diese Präzisierung wurde der Rahmen geschaffen, alternative Mög‐ lichkeiten für die Erzeugung von Suspense davon abzugrenzen. In der vorlie‐ genden Arbeit wurde gezeigt, dass die Konstruktion einer negativen Konse‐ quenz auch bei schwächeren Kausalitätsverhältnissen konstruiert werden kann. Das gilt zum Beispiel dann, wenn das kausale Verhältnis nur auf Aberglaube basiert. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass in einem dritten Fall die Konstruktion einer negativen Konsequenz erfolgen kann. In diesem Fall besitzt die Textentität keine Auswirkung auf die Handlung. Der Rezipient konstruiert auf der Grundlage neu einlaufenden Diskursmaterials eine Ursache für einen bestimmten Sachverhalt. Diese Ursache erlaubt dem Rezipient, eine negative prädiktive Inferenz zu konstruieren. Sollte diese das akute Potential besitzen, sich auf die Figuren auswirken zu können, so kommt es zum Suspenseeffekt. 8 Suspense 166 <?page no="167"?> Zusammengefasst werden negative Konsequenzen in drei Fällen rezipien‐ tenseitig konstruiert: • bei „strikter“ Kausalität, • in schwächeren Fällen von Kausalität und • wenn er eine Ursache inferiert und auf dieser Grundlage die negativen Konsequenz ableitet. Wenn man die Analyse von Suspenseauslösern mit den Positionen von Carroll und Sternberg vergleicht, so stellt man fest, dass im Suspense der Zukunftsbezug bereits enthalten ist, den die beiden Autoren im Rahmen ihrer Suspenseansätze unabhängig voneinander beschreiben. Dass es sich beim Suspense um Fragen handelt, so wie bei Carroll beschrieben, oder ob es sich um Leerstellen handelt, wie es Sternberg beschreibt, lässt sich mit Zilllmann zurückweisen, da der Re‐ zipient beim Suspense vom Eintritt der negativen Konsequenz überzeugt sein muss. Unabhängig davon, aus welcher Richtung die jeweiligen Spannungsforscher kommen: Die Konstruktion von prädiktiven Inferenzen wird fast ausschließlich als Suspense-Auslöser und damit als lokales Element untersucht, wodurch sie sich im Bereich der elaborativen Inferenzen ansiedelt. Ihr elaborativer Status wurde in dieser Arbeit aufgehoben, indem gezeigt wurde, wie prädiktive Infe‐ renzen ein globales kohärenzstiftendes Potential entfalten können. Demnach eröffnet eine negative Konsequenz den Rahmen für die Verarbei‐ tung weiterer, zum Teil diskontinuierlicher Diskurssegmente. Eine negative Konsequenz wird konstruiert und erlaubt unter anderem die rezipientenseitige Konstruktion von globalen Zielen, die sich eignet zur inferentiellen Anbindung von Handlungen einzelner und mehrerer, zum Teil unabhängig und zum Teil koordiniert agierender Figuren sowie Zielhierarchien. So wurden die Zielhie‐ rarchien und gemeinsame Ziele mehrerer Figuren, die beide in der Textverste‐ hensforschung beschrieben werden, eingebettet in einen übergeordneten glo‐ balen Suspenserahmen. Eine negative Konsequenz dient als kognitiver Bezugspunkt • für Konstruktion von Zielen, • für die Verarbeitung handlungsbeschreibender Sätze - einzelner Figuren, - verschiedener Figuren, die zum Teil unabhängig voneinander ope‐ rieren, - koordinierter Figuren, - untergeordnete Handlungen und gescheiterte Versuche von Figuren, • für die Integration nicht handlungsbeschreibende Informationen, 8.5 Zwischenfazit 167 <?page no="168"?> • für die Verarbeitung diskontinuierlich und global verteiltes Diskursma‐ terial. Darüber hinaus bietet die ereignisbezogene negative Konsequenz die Grund‐ lage, auf der neu einlaufendes Diskursmaterial den rezipientenseitigen Glau‐ bensgrad, dass eine negative prädiktive Inferenz eintritt, verstärken oder ver‐ ringern. Das gesamte Feld, das durch eine negative prädiktive Inferenz geöffnet wird, ist hoch sensibel und unterliegt einer hohen Dynamik. Jede neue Infor‐ mation kann eine Um- oder Neustrukturierung bewirken, sie kann das Feld ausweiten oder verengen. Eine negative Inferenz dient als globaler kognitiver Bezugspunkt. Diese globalen Prozesse geschehen on-line, da der Rezipient keine kohärente Textwelt konstruieren könnte, ohne diese textverbindenden Inferenzen zu be‐ mühen. Die globale prädiktive Inferenz auf Ereignisebene erweist sich als rele‐ vant für die Konstruktion einer kohärenten Textweltrepräsentation und fällt somit in den Bereich der notwendigen Inferenzen, ohne sie könnte der Rezipient den Folgetext nicht integrieren. Des Weiteren bietet sie neben Zielhierarchien eine zusätzliche bzw. übergeordnete Möglichkeit für die globale Verarbeitung von Textsegmenten. 8 Suspense 168 <?page no="169"?> 145 Sternberg (1978), S. 50. 146 Zwei Anmerkungen. Erstens, Sternberg scheint diese Fragen ausschließlich im Rahmen von Literatur zu sehen. Dieser Punkt wird in Fußnote 147 auf Seite 170 aufgegriffen. Zweitens: In Kapitel 8 wurde gezeigt, dass der zukünftige Verlauf keine völlige Offenheit der Handlung darstellt, sondern dass es sich um leserseitig konstruierte Konsequenzen handelt, deren Eintreten eine hohe Glaubenswahrscheinlichkeit zugeordnet wird. 9 Curiosity und Puzzles The literary text may be conceived of as a dynamic system of gaps. A reader who wishes to actualize the field of reality that is represented in a work, to construct (or rather reconstruct) the fictive world and action it projects, is necessarily compelled to pose and answer, throughout the reading-process, such questions as, What is happe‐ ning or has happened, and why? What is the connection between this event and the previous ones? What is the motivation of this or that character? To what extend does the logic of cause and effect correspond to that of everyday live? and so on. Most of the answers to these questions, however, are not provided explicitly, fully and autho‐ ritatively (let alone immediately) by the text, but must be worked out by the reader himself on the basis of the implicit guidance it affords. 145 In dem Zitat benennt Sternberg mit den rezipientenseitigen Fragen nach der Ursache und nach dem Zusammenhang zwei Leseraktivitäten, die bei der Er‐ zeugung von Spannung eine fundamentale Rolle spielen. 146 Ohne dass die Au‐ toren aufeinander Bezug nehmen, lässt sich dieser Ansatz als eine präzisierte Variante der von Fógany und Fógany vorgetragenen Überlegungen beschreiben, bei denen Spannung allgemein durch Fragen charakterisiert wird. Ein kognitionsorientierter Ansatz geht allerdings einen Schritt weiter als Sternberg. Er benennt nicht nur das Phänomen, sondern er erhebt auch den Anspruch zu erklären, wie die Fragen nach der Ursache und möglichen Zusam‐ menhängen innerhalb der Textwelt entstehen. Dazu zieht ein solches Modell die kognitiven Strukturen inklusive des Textstrukturwissens heran sowie die darauf basierenden Inferenzen, denn normalerweise steht nicht explizit im Text, dass Informationen fehlen oder dass Fragen nicht beantwortet sind. Als spannungsinduzierender Faktor wird die Frage nach der Ursache im Fol‐ genden Abschnitt 9.1 unter Berücksichtigung der in Kapitel 3 erarbeiteten Be‐ griffe behandelt. Daran anschließend wird in Abschnitt 9.2 die Frage nach dem Zusammenhang aus der Perspektive des Textverstehens analysiert. <?page no="170"?> 147 Viele Forscher (unter anderem Knobloch, Carroll, Zillmann sowie Wenzel) setzen das Curiosity (von Suerbaum sowie Wenzel auch Rätselspannung genannt) gleich mit dem Genre des Kriminalromans. Im Anschluss werden Aussagen gemacht über die typischen Merkmale einer Detektivgeschichte wie zum Beispiel, dass sich die Anzahl verdächtiger Personen an den mentalen Kapazitäten des durchschnittlichen Rezipienten orientiert, der ab fünf potentiellen Tätern dazu tendiert, überfordert zu sein (vgl. Schulze-Witze‐ nrath (1998), S. 251-252; Bryant u. a. (2000); zitiert nach Knobloch (2003), S. 388). Bei Schulze-Witzenrath kommen dabei auch Überlegungen zu rezipientenseitigen Ak‐ tivitäten ins Spiel. Diese lassen allerdings keine Generalisierung zu, da sie lediglich der Verbrechensaufklärung dienen (vgl. Schulze-Witzenrath (1998), S. 253). Brecht zufolge stellt die Verbrechensaufklärung als Denkaufgabe für den Leser den Reiz dieses Genres dar, Hühn sieht das damit verbundene Rätsel und den intellektuellen Spieltrieb beim Leser als eine Hauptmotivation für den Konsum von Detektivgeschichten (vgl. Hühn (1977), S. 276; Brecht (1967), S. 35). Während Knobloch, Carroll, Zillmann, Schulze-Witzenrath sowie Wenzel das Curiosity mit Kriminalgeschichten identifizieren, stellt diese Arbeit eine schwächere Behauptung auf. Es wird zwar die Annahme von Carroll übernommen, dass das Curiosity essentiell ist für Kriminalgeschichten und dass diese auf der globalen Ebene auf diesem Span‐ nungstyp basieren (vgl. Carroll (1990), S. 234-235). Die vorliegende Arbeit lässt sich allerdings nicht dazu verleiten, diesen Spannungstyp mit dem Genre zu identifizieren. Dabei wird dem Verständnis von Junkerjürgen gefolgt, der den gleichen Sachverhalt einmal auf der Grundlage des Mystery-Begriffs und ihn an anderer Stelle ganz allgemein diskutiert (vgl. Junkerjürgen (2002a), S. 66; Junkerjürgen (2002b), S. 101). Verallgemeinert man das Ergebnis dieser Diskussion, so lässt sich sagen, dass alle Span‐ nungstypen textsortenübergreifend vorkommen können. Sie lassen sich zum Beispiel auch in journalistischen Texten wie Zeitungsmeldungen oder Reportagen nachweisen. Es lässt sich also festhalten, dass Detektivgeschichten häufig auf Curiosity basieren, dass es sich allerdings nicht bei allen curiositybasierten Texten um Kriminalromane handelt. Beide Typen nutzen den Kohärenzwunsch des Lesers aus, der eine kohärente mentale Repräsentation konstruieren möchte, die kausal reflektiert ist. Daher werden diese Typen in einem Kapitel gemeinsam besprochen. 9.1 Curiosity Neben dem Suspense in seinen verschiedenen Ausprägungen, gibt es eine wei‐ tere zentrale Form der Spannungserzeugung, das Curiosity. 147 Auch bei diesem Typen gibt es einen punktuellen Auslöser. Dieser veranlasst den Rezipienten, eine Leerstelle herzustellen und dadurch in eine Phase der Spannung überzu‐ gleiten. Anschließend kann der Text weitere Informationen bereitstellen, die der Rezipient auf die Leerstelle bezieht. 9 Curiosity und Puzzles 170 <?page no="171"?> 148 Vgl. Dijk / Kintsch (1983), S. 13. a. Ein Diskurssegment dient als Auslöser, um eine Leerstelle zu öffnen, die der Leser dem konstruktivistischen Grundgedanken zufolge füllen möchte. b. Die Leerstelle wird nicht gesättigt, der Rezipient konstruiert abduktive Füllwerte (einen oder mehrere konkurrierende). Neu einlaufendes Dis‐ kursmaterial wird mit den inferierten Füllwerten korreliert, auf diese Weise ordnet der Rezipient den Füllwerten verschiedene Glaubenswahr‐ scheinlichkeiten zu. So werden die rezipientenseitigen Aktivitäten tex‐ tuell gesteuert und die Spannungsintensität verändert. Eine Leerstelle dient als globaler inferentieller Bezugspunkt. Der erste Schritt, d. h. die kognitive Aktivierung ist obligatorisch, der nachfol‐ gende Prozess ist optional. Beide basieren auf Wissen, genauer auf Vorwissen und / oder auf textweltbezogenen Wissen, und dem sich daraus ergebenden in‐ ferentiellen Ausbau der Textweltrepräsentation. Welche Leerstellen genau ge‐ öffnet werden, wird bestimmt durch die allgemeinen Ziele des Rezipienten und durch sein Wissen über die Textstruktur. In Kapitel 3 wurde unter anderem beschrieben, dass sich Leerstellen im Sinne kognitivistischer Theorien als Fragen paraphrasieren lassen. Daher ist der An‐ satz mit dem von Sternberg sowie Fógany und Fógany kompatibel. 9.1.1 Lexikalisch evozierte Spannungsleerstellen In Kapitel 4 wurde beschrieben, dass Inferenzen auf textuellem Einheiten un‐ terschiedlicher Komplexität basieren können. Zum Teil liegen komplexe Ein‐ heiten wie ein Satz zugrunde, es können allerdings auch einzelne Wörter als Basis dienen. Letzteres ist im Folgenden der Fall, die Konstruktion von Leer‐ stellen und der daraus resultierende Aufbau von Spannung ist stark an das Wort hanging geknüpft. Der Ausdruck hanging sollte in der Lesart der Hinrichtung einen Wissens‐ rahmen evozieren, der verschiedene zum Teil mit Füllwerten besetzte Leer‐ stellen aufweist. So werden mit hanging prototypische Elemente assoziiert wie ein historischer Zeitpunkt (inklusive der Gegenwart) und ein Ort, ein Urteil, eine exekutive Kraft wie ein Henker und eine judikative Kraft bzw. ein Verur‐ teilender, ein Instrument wie ein Seil, ein Publikum und eine Ursache. Bei der Textrezeption aktiviert der Rezipient nicht das gesamte mit einem Ausdruck verbundene Wissen. Die Aktivierung berücksichtigt Leserziele, Text- und Kontextinformationen. 148 9.1 Curiosity 171 <?page no="172"?> 149 Bisher wurde in Bezug auf Die Säulen der Erde auf die deutsche Version zurückge‐ griffen. Satz (75) allerdings ist der Initialsatz des englischen Originals Pillars of the Earth. Das deutsche Pendant lautet (1) Die kleinen Jungen waren die ersten, die zum Richtplatz kamen. Die englischsprachige Version wird vorgezogen, da sie im Vergleich zur deutschen Übersetzung suggeriert, dass die Hinrichtung unmittelbar bevorsteht. (75) The small boys came early to the hanging. 149 Aus einer Spannungsperspektive ist es bemerkenswert, dass bei der Rezeption des in (75) wiedergegebenen Initialsatzes aus Pillars of the Earth von Follett nur ganz bestimmte Leerstellen im Vordergrund stehen, die Minsky zufolge als Fragen wiedergegeben werden können. In (75) handelt es sich um die Leerstelle V E R U R T E ILT E R und U R S ACHE . Warum spielen die Frage nach diesen beiden Leer‐ stellen eine herausragende Rolle? Warum fragt der Rezipient genau nach diesen Elementen und nicht nach anderen wie zum Beispiel nach der Anzahl der Zu‐ schauer oder nach dem Alter, dem Gewicht und der Haarfarbe des Henkers? Die Erklärung soll auf mehreren Aspekten basieren, die sich zum Teil gegenseitig beeinflussen und die einen fokussierenden und einen defokussierenden Effekt nach sich ziehen: • Rezipienten verfügen über ein prototypischen Wissensrahmen über Ge‐ schichten, der Kernelemente enthält wie Orte, Zeit, handelnde Figuren sowie Kausalität auf Ereignis- und Handlungsebene (siehe Absatz 3.2 und Kapitel 5). • Zu Beginn einer Geschichte möchte der Leser zunächst die Grundvari‐ ablen kennen lernen, d. h. zentrale Figuren, Orte und Zeit. • Der Rezipient versucht eine kausal reflektierte Textwelt zu konstruieren. Um potentielle Kandidaten für zentrale Figuren zu identifizieren, ergibt sich aus einer Unterscheidung von Sanford und Garrod. Sie ordnen Figuren innerhalb der Textwelt zwei Bereichen zu. Demnach treten in Geschichten Figuren auf, die nur Teil einer Szene sind und die sich durch einen Wissensrahmen ergeben. Wenn ein Protagonist zum Beispiel in eine Bar geht und wenn dort ebenfalls ein Kellner oder Barkeeper vorkommen, so werden diese ausschließlich als Be‐ standteil der Szene wahrgenommen. Sie spielen keine besondere Rolle und werden nach der Rezeption der Szene schnell wieder vergessen. Der Protagonist dagegen entgeht diesem Schicksal, weil er eine übergeordnete Rolle spielt. Als Filter dient also das Potential einer Figur, über einzelne Szenen hinaus wirken 9 Curiosity und Puzzles 172 <?page no="173"?> 150 Vgl. Sanford / Garrod (1998), S. 168; Anderson / Garrod / Anthony (1983), S. 437-439. zu können. 150 Ein Indiz für zentrale Figuren ergibt sich, wenn eine Figur in kau‐ sale Zusammenhänge eingebunden ist, die über einzelne Szenen hinausgehen. Wenn man diese Unterscheidung auf die online-Rezeption bezieht (statt sie für postrezeptive Erinnerungsexperimente fruchtbar zu machen), wenn man sie ausdehnt auf andere Diskurselemente inklusive Leerstellen und wenn man sie darüber hinaus mit dem rezipientenseitigen Wunsch verknüpft, prototypische Leerstellen zu Beginn einer Geschichte zu füllen (wie die der zentralen Figuren), so lässt sich die Frage der Rezipienten nach dem Verurteilten, dem Verurtei‐ lenden und dem Grund wie folgt erklären. Die Gewichtung bestimmter Elemente kommt dadurch zustande, dass ein‐ zelne Bestandteile der speziellen mentalen Repräsentation der beschriebenen Situation das Potential besitzen, die allgemeinen Erwartungen an eine Ge‐ schichte zu befriedigen und damit gleichzeitig die Konstruktion einer kohä‐ renten Textwelt zu begünstigen. Wenn Elemente dazu geeignet sind, innerhalb des Situationsmodells und bezüglich der prototypischen Annahmen über Ge‐ schichten gleichzeitig eine Rolle zu spielen (zum Beispiel indem es Leerstellen in beiden Rahmen sättigt oder indem die Leerstellen zweier Rahmen sich über‐ schneiden), so sind diese Bestandteile wichtiger als eine Leerstelle oder ein Füll‐ wert, der ausschließlich für die aktuell dargestellte Situation eine Rolle spielt. Demnach werden die Leerstellen des allgemeinen Wissensrahmens über Ge‐ schichten mit den Leerstellen der auf (75) basierenden Textweltrepräsentation korreliert. Da bei Wissensrahmen, die mit Geschichten verbunden sind, Figuren und Gründe im Zentrum stehen und mögliche Kandidaten zur Realisierung dieser Elemente in der Textwelt vorhanden sind, werden die Leerstellen des Verurteilten und des Verurteilenden sowie der Grund der Verurteilung fokus‐ siert. Sowohl die Figuren als auch kausale Aspekte besitzen die Möglichkeit, in der Kausalkette der mentalen Repräsentation aufzugehen und damit zugleich die Anforderungen an eine Geschichte zu befriedigen. Mögliche Übereinstim‐ mungen zwischen allgemeinem Wissen über Geschichten und dem konkreten mentalen Modell der aktuell beschriebenen Szene führen daher zu einer Fokus‐ sierung dieser Leerstellen und erzeugen auf diese Weise Spannung. Auf der einen Seite wirkt eine defokussierende Kraft. In (75) besitzen das Publikum und der Henker lediglich diesen Hintergrundstatus wegen ihrer un‐ terstellten reinen Szenenabhängigkeit. Grundsätzlich hätten beide zwar das Po‐ tential besessen, die Figurenrollen des Story-Wissensrahmens auszufüllen. Der Grund für ihre Disqualifizierung für diese Positionen liegt darin, dass beide auf der für das narrative Verstehen zentralen Ebene der Kausalität irrelevant sind, 9.1 Curiosity 173 <?page no="174"?> da ihre Beweggründe eindeutig sind. Das Publikum will sich amüsieren, der Henker verdient durch Hinrichtungen sein Brot. In dem Initialsatz (75) kennt der Rezipient weder Figuren noch kausale Zu‐ sammenhänge und möchte diese zunächst einmal etablieren. Die rezipienten‐ seitigen Operationen wären anders ausgefallen, wenn die Geschichte sich in einem fortgeschritteneren Stadium befunden hätte. Das liegt daran, dass zu einem späteren Zeitpunkt die Grundvariablen des Story-Grammar-Wissens be‐ reits gefüllt gewesen wären. Eine alternative Verarbeitung wäre auch dann zu‐ stande gekommen, wenn das Wort im Kontext anderer Textstrukturen aufträte. Zum Beispiel dann, wenn das Wort hanging in einem Enzyklopädieeintrag be‐ handelt würde. In diesem Falle müssten weder die Leerstelle der Ursache noch die der Figur im Mittelpunkt stehen. Hauptsächlich ergibt sich die Fokussierung also durch zwei Aspekte. Auf der einen Seite wirken das allgemeine Wissen über Geschichten und die mentale Repräsentation der aktuellen Szene zusammen und rücken so bestimmte As‐ pekte ins Zentrum. Andererseits führt die ausschließliche Szenenabhängigkeit einiger Diskursentitäten dazu, dass diese in den Hintergrund geraten. 9.1.2 Z IEL -Curiosity Rezipierte Handlungen von Figuren. Während die Leerstellenkonstruktion des vorangegangenen Beispiels verhältnismäßig stark geprägt war von einem einzelnen Wort, nämlich hanging, kommt es im Folgenden zu einer anderen Möglichkeit, den Curiosity-Effekt zu etablieren. Wird im Text eine Handlung (action statement) beschrieben, so bemüht der Rezipient auf der Grundlage seines Wissens mentale Operationen, die die Handlung in einen kohärenten Zusam‐ menhang einzubetten versuchen. Die in Unterabschnitt 4.2.4 vorgestellten su‐ perordinierten Zielinferenzen und die in Absatz 4.2.3 vorgestellten motivatio‐ nalen prädiktiven Inferenzen basieren beide auf der rezipientenseitigen Verknüpfung von Handlungen und Zielen. (76) Der Mann kratzt sich am Bein. (77) Die Kellnerin bringt das Steak zu Tisch 7. (78) The angry waitress was totally fed up with all of the hassles of her job. When a rude customer criticized her, she lifted a plate of spaghetti above his head. (79) a. Betty wanted to give her mother a present. 9 Curiosity und Puzzles 174 <?page no="175"?> 151 Vgl. Murray / Klin / Myers (1993), S. 465. 152 Vgl. Trabasso / Suh (1993), S. 4-5. Logiker werden einwenden, dass sich bei einem Konditionalsatz aus dem Vorhanden‐ sein eines Konsequens nicht auf die Wahrheit des Antezedens schließen lässt. Demnach ließe sich in (80) also nicht von der Handlung des Protagonisten auf die Motivation schließen. Dass Rezipienten das strikte logische Regelsystem vernachlässigen und dass b. She went to the department store. c. She found out that everything was too expensive. d. Betty decided to knot a sweater. In (76) bis (79) wird jeweils eine Handlung explizit im Text beschrieben. In (76) kann die psychische Ursache aus dem allgemeinen Wissen elaboriert werden, er kratzt sich am Bein, weil es juckt. Die in (77) beschriebene Handlung kann durch skriptspezifische Gegebenheiten motiviert werden. Die Kellnerin bedient den Gast, weil dies ihre Aufgabe ist. Bei motivationalen prädiktiven Inferenzen wie in (78) wird aus der mentalen Interaktion zwischen der beschriebenen Si‐ tuation und dem allgemeinen Wissen das Ziel instantiiert, dass sie dem Gast die Speise über den Kopf schütten möchte. Zusätzlich wird die Verknüpfung zwi‐ schen diesem Ziel und der Handlung mental vorgenommen und gespeichert. 151 In den Beispielen der Textverstehensforschung wird bei im Text beschriebenen, zielbezogenen Handlungen wie in (79) das Ziel expliziert durch Ausdrücke wie wanted to, handlungsbeschreibende Folgesätze werden inferentiell auf dieses Ziel bezogen, bis das Ziel erreicht ist. 152 Daneben kann es auch einen ausschließlich textweltimmanenten Aufbau von Zielen geben, bei denen eine Handlung isoliert von der Diskurswelt betrachtet, nicht zu einer spezifischen Instantiierung führt wie in dem mit einem Oscar ausgezeichneten Film Das Leben der Anderen. (80) a. Ein Mann beendet die Freundschaft mit dem Protagonisten, fügt allerdings hinzu, dass der Protagonist ihn gerne wieder besuchen könne, wenn er seine Meinung ändert und sich doch für den Kampf gegen das System in der DDR einsetzen möchte. b. Einige Szenen später klingelt der Protagonist bei der besagten Figur an der Haustür. Durch (80a) erhält der Rezipient ein spezielles Diskurswissen. Auf der Basis von (80b) inferiert der Rezipient, dass sich der Protagonist der Widerstandsbewe‐ gung anschließen möchte. Diese mentalen Operationen folgen also aus dem 9.1 Curiosity 175 153 153 <?page no="176"?> sie tatsächlich so schließen, wie in der Erläuterung zu (80) dargestellt, legt ein Artikel von Geis und Zwicky nahe. Die Autoren zählen unter dem Stichwort Conditional Per‐ fection verschiedene Beispiele auf, bei denen Konditionalsätze inferentiell angereichert werden. Eine schriftliche oder mündliche Äußerung der Form X ⇒ Y verleitet in diesen Fällen ihrer Beschreibung nach zu der zusätzlichen Annahme - X ⇒ - Y (vgl. Geis / Zwicky (1971, S. 561-563). Kombiniert lassen sie sich Levinsons Analyse nach als X ⇔ Y darstellen, was bedeutet, dass entweder X und Y gleichzeitig wahr sein müssen oder dass sie gleichzeitig falsch sein müssen (vgl. Levinson (2000b), S. 117). Daher können sich aus dieser Verstärkung zwei Fehlschlüsse ergeben. Einerseits schließen Rezipienten aus dem Vorhandensein von Y auf das Vorhandensein von X (Affirming the Consequent), andererseits schließen sie aus dem Nicht-Vorhandensein von X auf das Nicht-Vorhandensein von Y (Denying the Antecedent) (vgl. Geis / Zwicky (1971, S. 561-563). Sie verdeutlichen dies an den folgenden Beispielen, die ohne Weiteres im Alltag auftreten könnten und die man zum Teil aus der eigenen Erfahrung kennt: (1) If you disturb me tonight, I won’t let you go to the movies tomorrow. (2) If you mow the lawn, I’ll give you five dollars. (3) If you see a white panther, shout „Wasserstoff “. Bei Drohungen wie (1) kommt es zu dieser inferentiellen Anreicherung. Viele Leser interpretieren den Satz einerseits so, dass der Angesprochene ausgehen darf, wenn er den Sprecher nicht stört. Andererseits schließen viele Menschen darauf, dass der Ad‐ ressat den Sprecher in der Nacht zuvor gestört hat, falls die angesprochene Person am nächsten nicht Tag ausgehen darf. Identische Interpretationen ergeben sich aus dem Versprechen in (2) und der Anweisung in (3) (vgl. Geis / Zwicky (1971), S. 561-563). 154 Vgl. Schank / Abelson (1977b), S. 37; Schmidt / Sridharan / Goodson (1978), S. 50-51. 155 Vgl. Sternberg (1978), S. 50. meta-aktionalen Wissen des Rezipienten, sie basieren auf der epistemisch re‐ präsentierten anthropologische Konstante, dass Menschen aus Gründen han‐ deln und Ziele verfolgen. 154 Es kann allerdings vorkommen, dass der Rezipient Handlungen von Figuren nicht nachvollziehen kann. Sternberg schreibt, dass der Rezipient in diesem Fall nach der Motivation einer Figur fragt. 155 Ist weder eine wissensbasierte noch eine kotextgestütze Sättigung für eine im Text beschriebene Handlung wie in (76) bis (80) möglich, so kann es zu Curiosity-Effekten kommen. Der Rezipient versucht, Diskursmaterial in eine kausal reflektierte mentale Repräsentation zu integrieren. Scheitern diese Kohärenz etablierenden Prozesse, so projiziert der Rezipient eine aus dem allgemeinen Wissen abgeleitete Handlungsintention auf die Figur und konstruiert einen Z I E L -Slot. Der Rezipient fragt sich, warum eine Figur eine bestimmte Handlung ausführt. Bei dieser Curiosity-Variante kommt der vom Konstruktivismus behauptete Rezipientenwunsch nach motivationaler Kohärenz zum Tragen. Rezipienten sind nicht in der Lage, die Leerstelle Z I E L zu füllen und warten auf eine mögliche Antwort. Diese Inferenzen gehen mit dem rezipientenseitigen Bedürfnis einher, die Leerstellen und die damit verbundene 9 Curiosity und Puzzles 176 <?page no="177"?> 156 Wulff weist darauf hin, dass die subjektive Kamera eine Intention suggerieren kann, ohne dass diese weiter spezifiziert werden muss. Zugleich erlaubt sie dem Rezipienten, das Vorhandensein einer handelnden Entität anzunehmen (vgl. Wulff (1993), S. 336). Die inferentielle Konstruktion einer Z I E L -Leerstelle kann also auch mit bestimmten stilistischen Aspekten einhergehen. 157 Anthony, Bobby Fischer: from prodigy to pariah. Frage nach dem Warum bzw. Wozu zu sättigen. Ist die Zielkonstruktion nicht möglich, so fragt sich der Rezipient, was die Figur beabsichtigt, wie in der zu‐ sammengefassten Szene aus dem Film Slumdog Millionär. (81) Die Brüder Jamal und Salim schlafen auf einer Müllkippe in Indien in einem provisorisch aus ein paar lumpigen Laken zusammengeschus‐ terten Zelt. a. Ein Mann öffnet den Eingang zum Zelt. b. Er reicht den beiden Kindern eine Coca Cola. c. Er nimmt sie mit in einem Bus voller Kinder. d. Er bietet ihnen ein Dach über dem Kopf, gemeinsam mit den an‐ deren Kindern. In (81) werden eine Reihe von Handlungen textuell realisiert, die sich nicht in ein motivational kohärentes Textweltmodell integrieren lassen, das Ziel kann der Rezipient weder auf der Grundlage seines allgemeinen noch seines text‐ weltbezogenen Wissens erschließen. Diese Leerstelle wird einige Filmminuten später gesättigt, als der Rezipient erkennt, dass es sich bei dem Mann um einen Verbrecher handelt, der Kinder betteln schickt und zuvor verstümmelt, damit mögliche Spender ein stärkeres Mitleid empfinden und die Kinder deshalb mehr Geld für ihn eintreiben können. Eine verstehensrelevante Information wird also nicht gegeben, weil dies verhindern würde, dass ein Curiosity-Effekt auftritt. 156 Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass der Text einen prototypischen Füllwert aufgreift und diesen als mögliche Auflösung eliminiert, wodurch eine Handlung motivational unterdeterminiert erscheint und sich auf diesem Wege zu einem Ziel-Curiosity verwandelt. (82) In 1999, I spent three days sitting in a variety of thermal baths dotted around Budapest. As grand and attractive as the Hungarian capital’s spas are, I wasn’t stewing myself for therapeutic or leisure pur‐ poses. 157 9.1 Curiosity 177 <?page no="178"?> In dem Ausschnitt (82) aus der Online-Ausgabe der britischen Tageszeitung The Guardian würde der Rezipient den Besuch in einer Therme beim Lesen des ersten Satzes zunächst auf der Basis seines prototypischen Wissens interpre‐ tieren. Jemand geht dort hin, um sich zu erholen. Indem der Text diese Inter‐ pretation im Folgesatz ausdrücklich zurückweist, konstruiert der Rezipient eine Leerstelle, die nach der tatsächlichen Motivation fragt. Gibt der Text einen In‐ terpretationsrahmen für ein Ereignis vor, das sich ohne spezielles Vorwissen kausal nicht einbetten ließe und deshalb eine Form der Curiosity hervorrufen würde, so kann das spannungsblockende Element aus dem Vortext getilgt werden, um diese vortextuell naheliegende Interpretation zu verhindern und um einen Leerstellen öffnenden Leseakt anzustoßen und dadurch Spannung zu erzeugen. Darüber hinaus kann es zu Fällen kommen, die in mehrfacher Hinsicht kom‐ plexer sind. In der dritten Staffel der Fernsehserie 24 wird die in (83) vorgestellte Handlung einer Figur gezeigt. Der Rezipient ist zunächst nicht in der Lage, das Ziel zu konstruieren und wartet auf auflösendes Diskursmaterial. Erst als ein bestimmtes Element erscheint, wird weiteres Wissen aktiviert, das im Text etab‐ liert wurde und das sich als verstehensnotwendig erweist. Es erlaubt dem Re‐ zipienten, die einzelnen Elemente zu verknüpfen und so die Z I E L -Leerstelle in‐ ferentiell zu sättigen. (83) a. Terroristen haben einen Lageplan vom Hauptquartier einer ame‐ rikanischen Einrichtung zur Terroristenabwehr (Counter Terror Unit) gestohlen. Ein Mitglied der Gruppe dringt mit einem ge‐ fälschten Ausweis in das Gebäude ein, er schleicht umher, folgt einer Karte auf seinem GPS-Gerät. Er betritt einen Raum, guckt sich um. b. Es wird ein Ventilator gezeigt. Der Rezipient konstruiert in (83a) eine Leerstelle Z I E L . Diese kann er allerdings nicht mit einem konkreten Füllwert besetzen. Erst mit (83b) kann er die Absicht der Figurenhandlung inferentiell herleiten. Dabei greift er auf sein zuvor durch den Text erworbenes Wissen zurück, dass die Terroristen eine biologische Waffe besitzen, mit der sie bereits Anschläge verübt haben und weitere durchführen wollen. Der Rezipient kennt die Pläne und die Vorgehensweise der Terroristen. Er weiß, dass diese bei ihren ersten Versuchen die staubförmige Biowaffe in öffentlichen Gebäuden platzierten. Damit das Gift einen möglichst hohen Ver‐ streuungs- und damit Kontaminationsradius erhält, haben sie es unter Ventila‐ toren platziert. Der Stoff befindet sich in einem Behälter, der mit einem Zeit‐ 9 Curiosity und Puzzles 178 <?page no="179"?> 158 Vgl. Schlink, Der Vorleser, S. 54-55. 159 Vgl. Schlink, Der Vorleser, S. 79-80. zünder versehen ist und sich jeweils zu einer bestimmten Zeit öffnet. In Verbindung mit (83b) kann der Rezipient auf dieser Basis die Absicht inferieren, dass der Eindringling versucht, das Giftgas mit dem Ventilator im Hauptquartier zu verbreiten und dadurch die Protagonistengruppe auszulöschen. Das Wissen ist aktiviert, sobald der Ventilator zu sehen ist, das Gebläse dient als Schlüssel, um ein bestimmtes Wissen zugänglich zu machen. (83b) stellt zwar selbst keinen Füllwert bereit, allerdings erlaubt die Information, einen Füllwert aus dem damit verbundenen Wissensrahmen zu konstruieren. Dadurch wird die Z I E L -Leer‐ stelle gesättigt, das Ziel-Curiosity wird aufgehoben. Zeitgleich wird eine nega‐ tive Konsequenz etabliert. Es kommt also zu einem komplexen Zusammenspiel der Textweltanreicherung und der Verarbeitung von handlungsbeschreibenden Passagen. Durch die Sättigung einer Leerstelle kommt es zu der Konstruktion einer negativen Konsequenz. Ein Spannungstyp wird nahtlos in einen anderen überführt. Komplexitätsgrade beim Ziel-Curiosity. Bei den bisher aufgeführten Bei‐ spielen handelt es sich um den einfachsten Fall: Genau eine Handlung hat eine Motivation. Es gibt allerdings auch Beispiele, die diesen Spannungstypen in einer komplexeren Weise realisieren. Im ersten Teil des Romans Der Vorleser entwickelt sich eine Liebesbeziehung zwischen dem 15-jährigen Schüler Michael Berg und der ein paar Jahre älteren Hanna Schmitz. Im Verlauf des Romans kommt es unter anderem zu den fol‐ genden, hier zusammengefassten Ereignissen. (84) a. Auf einer mehrtägigen Fahrradtour während seiner Schulferien übernachten sie in einem Gasthof. Bevor Hanna am Morgen auf‐ wacht, verlässt Michael das Zimmer, um ihr eine Rose zu kaufen und sie damit zu überraschen. Auf einen Zettel schreibt er, dass er bald wieder zurück ist. Als er wiederkommt, steht sie wütend im Zimmer und schlägt ihn mit einem Gürtel ins Gesicht. 158 b. Hanna verlässt die Stadt, unmittelbar nachdem ihr dort ansässiger Arbeitgeber ihr eine Beförderung angeboten hat. 159 Der zweite Teil des Romans dreht sich um einen Gerichtsprozess, der einige Jahre nach Hannas abruptem Verlassen der Stadt aufgerollt wurde. Im Rahmen seines Jurastudiums sieht er Hanna dort durch Zufall das erste Mal wieder. Sie 9.1 Curiosity 179 <?page no="180"?> 160 Vgl. Schlink, Der Vorleser, S. 91-92. 161 Vgl. Schlink, Der Vorleser, S. 104-105. 162 Vgl. Schlink, Der Vorleser, S. 104-105. 163 Vgl. Schlink, Der Vorleser, S. 119-124. sitzt auf der Anklagebank. Ihr wird vorgeworfen, für den Tod einer Vielzahl von KZ -Häftlingen verantwortlich zu sein, weil sie die Tore einer brennenden Kirche nicht geöffnet hat, bei der eine große Anzahl der darin eingeschlossenen Zwangsarbeiterinnen ums Leben kam. (85) a. Während des Prozesses geht es unter anderem um die Frage, wie die Angeklagte Aufseherin wurde. Hier zeigt sich ein ähnliches Muster wie zuvor. Bei Siemens sollte sie befördert werden. Als Reaktion darauf verlässt sie abrupt die Firma und besetzt statt‐ dessen eine Position als Aufseherin in einem Konzentrations‐ lager. 160 b. Trotz der Schwere der Vorwürfe und der möglichen langen Haft‐ strafe im Falle einer Verurteilung hat Hanna weder die Anklage‐ schrift noch einen schriftlichen Zeugenbericht gelesen. 161 c. Einem Vernehmungsprotokoll zufolge hat Hanna eingeräumt, den einen Schlüssel zur Kirche gehabt zu haben. Sie hat das Schrift‐ stück unterschrieben und damit ihre Mitschuld eingeräumt. Jetzt bestreitet sie, dass es nur einen Schlüssel gab. 162 d. Es existiert ein Bericht, der die Szene dokumentiert und nahelegt, dass die Aufseherinnen die Ausgänge der brennenden Kirche ab‐ sichtlich nicht geöffnet haben. Die mitangeklagten Aufseherinnen haben sich darauf eingeschossen, Hanna alleine verantwortlich zu machen und ihr zu unterstellen, den Bericht verfasst zu haben, um sie mit hineinzuziehen. Erst weist Hanna diese Anschuldigung zurück. Als die Frage diskutiert wird, ob ein Gutachter die Schrift im Dokument mit der Hannas Schrift vergleichen soll, sagt Hanna, dass sie den Bericht verfasst hat und gibt damit zugleich zu, allein verantwortlich zu sein für den Tod der verbrannten Frauen. 163 Leser versuchen Figurenhandlungen mit einem zugrunde liegenden Ziel zu er‐ klären, das sich entweder aus der mentalen Textweltrepräsentation oder aus dem allgemeinen Wissen ergibt. Normalerweise freut man sich, wenn man Rosen geschenkt bekommt. Normalerweise würde man eine Beförderungsan‐ gebot dankend annehmen. Normalerweise würde ein Leser einer Figur in einem 9 Curiosity und Puzzles 180 <?page no="181"?> 164 Vgl. Chatman (1978), S. 19-20. 165 Vgl. Brewer / Lichtenstein (1982), S. 473-474; Brewer (1996), S. 110-114. Gerichtsprozess das Ziel unterstellen, dass sie straffrei davon kommen möchte. Hannas in (84) und (85) wiedergegebenen Handlungen und ihre als bewusst unterstellten Unterlassungen erscheinen vor diesem Hintergrund nicht nach‐ vollziehbar. Weder aus dem speziellen Textweltwissen noch aus dem allge‐ meinen Wissen lässt sich eine Ursache generieren. So konstruiert der Rezipient einen Z I E L -Slot mit der Frage, warum sie sich so verhält, wie sie es tut. Denn wer schadet sich schon absichtlich selbst? Die Auflösung bzw. der textuelle Füllwert wird nach etwa zwei Dritteln des Textes bereitgestellt: Die Protagonistin ist Analphabetin und möchte dieses Ge‐ heimnis wahren. Ihr ist es wichtiger, der Pein zu entgehen, als eine harmonische Partnerschaft zu führen und in Freiheit zu leben. Deshalb schlägt sie Michael Berg mit dem Gürtel, deshalb lehnt sie die Beförderungen ab und wechselt die Wohnorte, deshalb hat sie weder die Anklage noch den Bericht der Überleb‐ enden gelesen und deshalb hat sie die gesamte Schuld auf sich genommen, indem sie aussagte, dass sie den Bericht selbstständig verfasst habe. All diese Entglei‐ sungen, Unterlassungen und Fehlentscheidungen gehen auf eine psychische Ursache zurück. Neben der oben beschriebenen Situation, dass eine Handlung eine psychische Ursache hat, kann also auch der Fall auftreten, dass eine Reihe von Handlungen auf eine gemeinsame Ursache zurückgeführt werden können. 9.1.3 Die Konstruktion einer U RSACHE -Leerstelle Structural-Affect Theory und die Plot / Story-Dichotomie. Die Kognitions‐ wissenschaftler Brewer und Lichtenstein rücken die literaturwissenschaftliche Unterscheidung in Plot und Story ins Zentrum ihrer Spannungsanalyse. Dieser begrifflichen Differenzierung liegt die Idee zugrunde, dass die Ereignisdarstel‐ lung bzw. der Plot nicht mit der tatsächlichen Reihenfolge der Ereignisse, also mit der Story übereinstimmen muss. 164 In ihrer Structural-Affect Theory be‐ nennen Brewer und Lichtenstein die Reihenfolge der Ereignisdarstellung im Text als das Hauptmittel zur Erzeugung verschiedener Textwirkungen von un‐ terhaltenden Texten. Unter Rückgriff auf diese Unterscheidung beschreiben sie verschiedene Arten von Spannung, unter anderem das Curiosity. 165 Curiosity entsteht nach Brewer und Lichtenstein, wenn in einer Geschichte ein asymmetrisches Verhältnis vorliegt zwischen der Reihenfolge der darge‐ stellten Ereignisse und der tatsächlichen Reihenfolge. Brewer und Lichtenstein 9.1 Curiosity 181 <?page no="182"?> 166 Ein Minimalbeispiel ist aus einer bestimmten Analyseperspektive nicht weiter zer‐ legbar, was den Autoren zufolge in (86) für das Curiosity der Fall sein soll. Unten wird allerdings gezeigt, dass sich dieses Beispiel in mehrere Teil-Curiosity-Spannungen zer‐ legen lässt. 167 Vgl. Brewer / Lichtenstein (1982), S. 481. Darüber hinaus beschreiben sie auf dieser Basis den Suspense (siehe Fußnote 137 auf Seite 163, Kapitel 8) und Überraschungseffekte bzw. das Surprise, bei dem es sich nicht um eine Art der Spannungserzeugung handelt. Der Überraschungseffekt: (1) Charles got up from the chair. He walked slowly toward the window. The window broke and Charles fell dead. The sound of a shot echoed in the distance. 168 Nach Brewer und Lichtenstein versetzt dieser Kurztext den Leser bei der Rezeption in den Zustand des Überraschtseins. Diese affektive Reaktion ergibt sich aus der achro‐ nischen Reihenfolge der dargestellten Ereignisse. Im Vergleich zum Curiosity ist dem Rezipienten nicht bewusst, dass eine Information ausgelassen wurde. Sobald diese In‐ formation textuell bereitgestellt wird, tritt der Überraschungseffekt ein (vgl. Brewer / Lichtenstein (1982), S. 480-481; Brewer (1996), S. 110-114). Während Curiosity und Suspense zeitlich anhaltend sind, handelt es sich beim Surprise um einen kurzzei‐ tigen Effekt. Deshalb bietet es sich weniger gut an, umfangreichere Texte allein auf der Grundlage des Surprise zu gestalten (vgl. Junkerjürgen (2002a), S. 72). Pleschinski, Königsallee, S. 11. verdeutlichen diesen Fall an dem folgenden Kurztext, den sie als ein Minimal‐ beispiel 166 beschreiben: (86) Charles fell dead. The police came and found the broken glass, etc. In (86) beginnt die tatsächliche Ereignisstruktur mit einem bedeutungsvollen Ereignis. Dieses wird in der Darstellung des Geschehens allerdings ausgelassen. Auf diese Art und Weise wird die Neugier des Rezipienten auf das zurücklie‐ gende Ereignis gelenkt. Im weiteren Textverlauf wird die ausgelassene Infor‐ mation nachgereicht, sodass die Spannung aufgelöst ist. 167 Im Folgenden wird eine alternative Beschreibung dieser Spannungsform vor‐ geschlagen, die auf den nachfolgenden Beispielen basiert. Unter Berücksichti‐ gung dieser Neubestimmung wird der Ansatz von Brewer und Lichtenstein ge‐ würdigt. Ein alternativer Erklärungsversuch. (87) Es donnerte. (88) Der Aufruhr im Breidenbacher Hof war groß. 168 9 Curiosity und Puzzles 182 <?page no="183"?> 169 Bordwell und Thompson zufolge entsteht Curiosity durch das Zeigen von Wirkungen (vgl. Bordwell / Thompson (2008), S. 79). Die Tatsache, dass es sich dabei um Wirkungen handelt, ist allerdings nicht textuell expliziert. Es handelt sich um inferentielle Anrei‐ cherungen durch den Rezipienten, die auf die hier vorgeschlagene Art und Weise ent‐ stehen. Beim Curiosity wird im Text zunächst ein einzelnes Ereignis beschrieben, das der Rezipient als Wirkung oder Folge eines vorangegangenen Ereignisses in‐ terpretiert und dessen Ursache er nicht aus seinem Wissen ableiten kann. 169 In (87) besteht eine 1: 1-Beziehung zwischen dem Ereignis und einer Ursache im Weltwissen. Es handelt sich um das klassische Beispiel für indexikalische Zei‐ chen, die Ursache (ein Blitz) kann aus den Wissensstrukturen instantiiert werden, nachdem der Satz in ein mentales Modell überführt worden ist. Deshalb bleibt der Zustand der Spannung aus. In (88) verhält es sich anders, das Ereignis ist kausal unterdeterminiert. Der Rezipient durchläuft bei diesem Spannungstyp mehrere aufeinander auf‐ bauende Phasen. Zuerst konstruiert er eine mentale Repräsentation des auslö‐ senden Textsegments. Anschließend erkennt er beim Abgleich mit seinem Wissen, dass die Situation nicht prototypisch ist. Diese Erkenntnis veranlasst den Rezipienten dazu, eine U R S ACHE -Leerstelle zu konstruieren, die nicht wis‐ sensbasiert instantiierbar ist und die daher eines erklärenden kausalen Anteze‐ dens entbehrt. Wichtig ist hier also ein kausaler Bruch. Als kognitive Reaktion bildet er die Abnormal-These und gleitet damit über in die zweite Phase, in die Phase der eigentlichen Spannung. Er wartet auf einen (konkreten) Füllwert für die Leerstelle U R S ACHE . Dass es eine Ursache gibt, inferiert er aus mehreren Metaannahmen seines allgemeinen Wissens, nämlich: • Jedes Ereignis hat eine Ursache, also auch dieses Ereignis. • Alles, was nicht prototypisch ist, muss erklärt werden. Dass der Rezipient danach strebt, den U R S ACHE -Slot zu sättigen, ergibt sich aus dem in Abschnitt 4.5 beschriebenen allgemeinen Leserziel, eine kausal reflek‐ tierte mentale Repräsentation des Textes zu konstruieren. Durch den zentralen Stellenwert der Kausalität beim Textverstehen wird der Fall ausgeschlossen, dass andere Leerstellen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Da die Ursache der Wirkung stets vorausgeht, ist ein Vergangenheitsbezug in der Beschreibung enthalten. Die kausale Unterdeterminiertheit schließt daher eine gängige Charakterisierung dieses Spannungstyps mit ein, wie sie zum Bei‐ spiel von Carroll oder Sternberg vorgetragen wird. Diese besagt, dass es sich beim Curiosity um rückwärtsgewandte Spannung handelt, wobei der Begriff rückwärtsgewandt sich auf der Ebene der mentalen Textweltrepräsentation an‐ 9.1 Curiosity 183 <?page no="184"?> 170 Vgl. Sternberg (1978), S. 65, 244; Sternberg (1992), S. 532. siedelt. Es geht darum, dass der Rezipient etwas zeitlich Vorhergegangenes an‐ nimmt, das er nicht spezifizieren kann. 170 Der Textproduzent hegt die Hoffnung, den partiell informierten Rezipienten so lange an den Text zu binden, bis dieser die jeweilige Ursache erfahren hat. Die zentrale Frage bei diesem Mittel der Spannugsgenerierung lautet: Warum ist etwas geschehen? Brewer und Lichtenstein neu aufgelegt. Zur Beschreibung vom Curiosity erscheint die Unterscheidung von Brewer und Lichtenstein unangemessen, die die Reihenfolge zweier Ebenen zum entscheidenden Kriterium macht, weil ein einzelnes, textuell dargestelltes Ereignis die Spannung hervorruft und weil ein solches singuläres Ereignis keine Reihenfolgen bilden lässt. Da für eine Reihen‐ folge mindestens zwei Ereignisse benötigt werden, verliert der Vergleich zweier Reihenfolgen damit seine Grundlage als Unterscheidungskriterium, wie man an (88) nachvollziehen kann. Dass Brewer und Lichtenstein die Reihenfolge in ihrem Ansatz als Erklärung hinzuziehen, scheint auch aus einem zweiten Grund nicht nachvollziehbar. Bei einem der Ereignisse auf der Darstellungsebene handelt es sich um das auflö‐ sende Ereignis, das für die Spannung nicht relevant ist, wie es in Anlehnung an Carroll in Absatz 7.1 beschrieben wird. Der hier vorgeschlagenen, alternativen Beschreibung nach handelt es sich bei dem von Brewer und Lichtenstein genannten Beispiel (86) um ein komplexes Exempel, es ist in mehrere Einzelphänomene segmentierbar. Die Informationen, dass Charles tot umfiel, dass die Polizei kam und dass die Fensterscheibe zer‐ brochen ist, provozieren jeweils isoliert die Frage nach der Ursache. Zugleich lassen sie sich nicht einbetten in eine mentale Repräsentation und ergeben daher in Kombination gesehen zusätzlich ein Puzzle, der Rezipient fragt also nach dem Zusammenhang (siehe dazu Abschnitt 9.2). Anders als Brewer und Lichtenstein, die zwischen der tatsächlichen Reihen‐ folge und der Reihenfolge der Darstellung unterscheiden, wird in der vorlie‐ genden Arbeit also - aus einer kognitiven Perspektive argumentierend - zwi‐ schen dem explizit dargestellten Ereignis und der kausalen Einbettung des Ereignisses in der mentalen Repräsentation unterschieden. Das Kriterium der Reihenfolge und die Ebene der Realität werden aufgegeben. Statt einer Reihen‐ folge gibt es ein singuläres Ereignis auf der Textweltebene, statt der Ebene der tatsächlichen Welt wird die Ebene der mentalen Repräsentation etabliert. Die Ebene des expliziten Textes bleibt also weiterhin bestehen, zusätzliche kognitive Aktivitäten des Rezipienten kommen hinzu. 9 Curiosity und Puzzles 184 <?page no="185"?> 171 Vgl. Carroll (1990), S. 234-235. 172 Vgl. Carroll (1990), S. 234-235; Sternberg (1978), S. 50, 52, 238-239. 9.1.4 Leerstellen als globale inferentielle Bezugspunkte Wird die Spannung nicht aufgelöst, wird also kein Füllwert bereitgestellt, so kann das gespannte Warten auf einen Füllwert begleitet werden durch rezipientenseitige Lösungsversuche, bei denen neu einlaufende Informationen mit bereits vorhandenem Wissen korreliert werden, um der Leerstelle inferentiell einen Füllwert zuzuordnen. Der Rezipient sucht dabei abduktiv nach einer er‐ klärenden Hypothese, die sich aus seinem Wissen speist und die hinsichtlich des Abstraktionsgrades variieren kann. Während sich beim Suspense genau zwei Möglichkeiten gegenüberstehen, die sich ausschließen, sind bei diesem Spannungstypen mehrere Möglichkeiten denkbar. 171 Der Rezipient kann konkurrierende, sich zum Teil gegenseitig aus‐ schließende Füllwerte konstruieren. 172 Wenn er in der Lage ist, Füllwerte bzw. hypothetische Fakten mental herzustellen, kann er ihnen unter Berücksichti‐ gung der Folgeinformationen Glaubenswahrscheinlichkeiten (siehe Ab‐ satz 8.4.2) zuordnen, die im Verlauf des Textes verstärkt oder geschwächt werden können. Eine Leerstelle kann also als inferentieller Bezugspunkt für global ver‐ teiltes Diskursmaterial dienen. Die Anzahl und Qualität textueller und infer‐ ierter Informationen kann sich auswirken auf den inferentiell hergestellten Raum. Um die konstruktiven Aktivitäten des Rezipienten auf globaler Ebene zu be‐ schreiben, sollen Auszüge aus dem Thriller Ghost von Robert Harris als Vorlage dienen. In dem Roman geht es unter anderem um den Tod der Figur Michael McAra. McAra war der Ghostwriter des fiktiven britischen Ex-Primierministers Adam Lang. Der abgewählte Regierungschef steht in der Textwelt unter medi‐ alem Dauerbeschuss, weil ihm vorgeworfen wird, dass er im Zusammenhang mit dem Krieg gegen den Terror Mitarbeiter einer britische Spezialeinheit be‐ auftragt hat, verdächtige britische Bürger festzusetzen und an die CIA zu über‐ geben, deren Mitarbeiter sie anschließend gefoltert haben. Lang bestreitet die Vorwürfe. Die Auszüge aus Ghost sind in der Reihenfolge und Komplexität manipuliert. Das folgende konstruierte Beispiel dient dazu, Möglichkeiten der Füllwertkon‐ struktion zu verdeutlichen, bevor auf den Text von Harris eingegangen wird. (89) McAra ist tot. 9.1 Curiosity 185 <?page no="186"?> Ein konstruierter Satz wie (89) eröffnet eine Rahmenstruktur und ermöglicht damit eine Reihe inferentieller Prozesse, bei denen unter anderem die T OD E S U R‐ S ACHE als Leerstelle aus dem Wissen hergestellt wird (System-Attributizität). Grundsätzlich kommen ein natürlicher und ein unnatürlicher Tod als Füllwert in Frage, der Diskursabschnitt ist diesbezüglich unterdeterminiert. Bei dem je‐ weiligen Füllwert handelt es sich um einen hypothetischen Fakt, dessen unsi‐ cherer Status auch dem Rezipienten bewusst ist. Die Inferenz kann jeweils durch neu einlaufende Textsegmente moduliert werden. Wird die Leerstelle durch den Füllwert NATÜR LICHE R T OD gesättigt, so werden top-down gleichzeitig Standardannahmen aus dem Rahmen mitgeliefert wie zum Beispiel Hypothesen in Bezug auf das Alter oder den Ort. Dass der Füllwert hier gleichzeitig einen Rahmen darstellt, ergibt sich aus der Rekursivitätsan‐ nahme. Umgekehrt sollte sich der Wissensrahmen NATÜR LICHE R T OD auftun, sobald prototypische Elemente textuell realisiert werden. (90) McAra ist tot. a. Er wurde 92 Jahre alt. b. Er starb im Kreise seiner engsten Angehörigen. In dem konstruierten Beispiel (90) instantiiert der Rezipient, dass die Person unter natürlichen Umständen gestorben ist. Dabei handelt es sich um einen top-down hergestellten Standardwert, der nicht explizit auf der Ebene des Textes auftaucht. Diese Inferenz basiert auf der Altersangabe und der Situation beim Sterben. Sie besitzt einen hypothetischen Status und kann sich deshalb als falsch erweisen. Auch ein älterer Herr kann ermordet werden und im Kreise seiner Familie seinen letzten Momente erleben. Dieser Fall kann zum Beispiel dann auftreten, wenn er vergiftet wird. Der prototypische Tod ist der natürliche Tod im gestiegenen Alter im Alten‐ heim oder bei der betroffenen Person zu Hause im Kreise der Familie. Wenn eines der Elemente wegfällt, d. h. wenn jemand alt ist und eines nicht natürlichen Todes stirbt, wenn jemand stirbt und jung ist oder wenn jemand stirbt und sich an einem nicht prototypischen Ort befindet wie zum Beispiel auf einer Fähre, dann wird der Rahmen NATÜR LICHE R T OD als möglicher Kandidat geschwächt, da die Konstellationen nicht den Rahmen internen Prototypikalitätsvorgaben entsprechen. In diesem Fall konstruiert der Rezipient die U R S ACHE -Leerstelle - gemäß der Annahme, dass nicht Prototypisches erklärungsbedürftig ist. 9 Curiosity und Puzzles 186 <?page no="187"?> 173 Harris, Ghost, S. 9-10. 174 Begünstigt wird die Konstruktion der U R S A C H E -Leerstelle dadurch, dass das Alter von McAra nicht dem prototypischerweise mit dem Tod verbundenen Alter entsprechen dürfte. Angaben zu seinem Alter finden sich zwar nicht explizit im Text. Seine Tätigkeit als Biograph erlaubt allerdings die einschränkende Elaboration, dass er deutlich jünger sein sollte, als es beim Normalfall des Sterbens angenommen wird. (91) McAra hatte am vorletzten Sonntag […] die letzte Fähre von Woods Hole, Massachusetts, nach Martha’s Vineyard erwischt. Es stand auf Messers Schneide, ob die Fähre überhaupt ablegen würde. Seit dem frühen Nachmittag hatte es heftig gestürmt und einige Überfahrten waren schon gestrichen worden. Gegen neun Uhr abends flaute der Wind jedoch etwas ab, und um Viertel vor zehn entschied der Kapitän, dass keine Gefahr mehr bestehe. Das Boot war überfüllt: McAra hatte Glück, dass er überhaupt noch einen Platz für seinen Wagen bekam. Er parkte unter Deck und ging dann nach oben, um etwas frische Luft zu schnappen. Danach hat ihn niemand mehr lebend gesehen. 173 In (91) wird eines der prototypischen Elemente im Bereich des Todes, nämlich der Ort, explizit zurückgewiesen. Dieser entspricht nicht den prototypischen Standardannahmen von NATÜR LICHE R T OD , sodass der Rezipient den Slot T OD E S‐ U R S ACHE öffnet. 174 Als mögliche Füllwerte kommen neben dem unwahrschein‐ lich gewordenen natürlichen Tod auch ein Selbstmord, ein Unfall oder ein Mord durch Fremdeinwirkung in Frage, denn sie alle sind unabhängig voneinander in der Lage, den im Zusammenhang mit dem Tod ungewöhnlichen Ort zu erklären. In dem Roman wird Diskursmaterial bereitgestellt, dass die unterschiedlichen Füllwerte stützt. Im Folgenden sind Passagen zusammengetragen, die einen Selbstmord als möglichen Füllwert nahelegen bzw. diesen einmal konstruierten Wert stützen. (92) a. [Rick (der Agent des Ghostwriters): ] „Marty Rhinehart [der Ei‐ gentümer der Verlags, P. H.] hat zehn Millionen Doller für die Me‐ moiren bezahlt, unter zwei Bedingungen. Erstens: Sie müssen binnen zwei Jahren in den Läden stehen. Zweitens: Er soll in Sa‐ chen Krieg gegen den Terror kein Blatt vor den Mund nehmen. Was ich so höre, ist er [McAra] weit davon entfernt, auch nur eine der beiden Bedingungen zu erfüllen. Um Weihnachten rum stand 9.1 Curiosity 187 <?page no="188"?> 175 Harris, Ghost, S. 14. 176 Harris, Ghost, S. 15. 177 Harris, Ghost, S. 91. die Sache so schlecht, dass Rhinehart ihm sein Ferienhaus auf Martha’s Vineyard zur Verfügung gestellt hat, damit Lang und McAra ungestört arbeiten konnten. Schätze, der Druck war zu viel für McAra.“ 175 b. [Rick: ] „Mit dem Alkohol, den der amtliche Leichenbeschauer in seinem Blut festgestellt hat, hätten sie ihm den Führerschein vier Mal klemmen können.“ 176 c. [Amelia (Assistentin von Lang): ] „Aber es hat gereicht, dass er, als er schließlich wieder aufgetaucht ist, völlig überarbeitet und aus‐ gepowert war […] er hat einfach den Überblick verloren. Anschei‐ nend hat das eine krankhafte Depression ausgelöst […]“ 177 Textsegment (92) erlaubt es dem Rezipient, einen unnatürlichen Tod als Ursache zu instantiieren. (92a) bis (92c) erlauben eine weitere Einschränkung in Bezug auf die Ursache. In dem Roman suggerieren alle drei Abschnitte einen möglichen Selbstmord. (92a) und (92c) erzielen diesen Effekt dadurch, dass es sich um zent‐ rale Elemente eines S E LB S TMO R D -Wissensrahmen handelt. Hoher Druck, Über‐ arbeitung und Depression, die einer naiven Psychologie zufolge in wechselsei‐ tigen Beziehungen zueinander stehen sollten, können zum Teile in suizidale Verhaltensweisen münden. Die Äußerung Schätze, der Druck war zu viel für McAra legt nahe, dass auch die Assistentin von Lang zu der Erkenntnis ge‐ kommen ist, dass es sich um einen Selbstmord handelt, was allerdings vom Re‐ zipienten nur unter Berücksichtigung des Selbstmord-Rahmens eingeordnet werden kann. Beide Textsegmente hätten den Rezipient jeweils auch allein ver‐ anlassen können, einen solchen Füllwert zu konstruieren. Die in (92b) beschrie‐ bene „körperliche Verfassung“ der Leiche stützt die Sättigung der Leerstelle zu‐ sätzlich, da das Betrinken beim Selbstmord nicht als unplausibel erscheint und als erleichternd interpretiert werden könnte. Sie bietet allerdings lediglich eine schwache Bestätigung, da sie mit dem Füllwert U N FALL gleichermaßen kompa‐ tibel ist, auf den die folgenden Passagen abzielen. Sie ergeben sich aus den Be‐ schreibungen des Protagonisten, als er die gleiche Fährüberfahrt macht. 9 Curiosity und Puzzles 188 <?page no="189"?> 178 Harris, Ghost, S. 57. 179 Harris, Ghost, S. 15. (93) Die Reling war nur hüfthoch, und zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie leicht McAra über Bord gegangen sein konnte. Ich musste mich festhalten, um nicht auszurutschen […] Das Wetter war heute nicht annähernd so schlecht wie vor drei Wochen. 178 Die auf der Grundlage von (91) konstruierte U R S ACHE -Leerstelle dient auch als kognitiver Bezugspunkt für die Textsegmente aus (93). Während die Passagen in (92) einen Selbstmord nahelegen, erlaubt (93) den Füllwert U N FALL zu kon‐ struieren. Eine niedrige Reling kann gemeinsam mit einer erhöhten Rutschge‐ fahr schnell dazu führen, dass ein an Deck der Fähre befindlicher Passagier von Bord stürzt. Gesellen sich darüber hinaus widrige Wetterbedingungen dazu, so wird ein solcher Unfall zusätzlich begünstigt. Obwohl diese Elemente mit dem S E LB S TMO R D -Rahmen kompatibel sind, wird die angenommene Wahrscheinlichkeit für S E LB S TMO R D geschwächt, weil eine alternative Möglichkeit hinzutritt. Beim jetzigen Informationsstand stützen die textuellen Daten daher zwei konkurrierende hypothetische Füllwerte, die sich hinsichtlich ihrer Plausibilität die Waage halten. (94) [Protagonist: ] „Also Unfall? “ [Rick: ] „Unfall? Selbstmord? “ […] „Wer kann das wissen? Was spielt das für eine Rolle? “ 179 Neben (92) und (93), die eine indirekt Stütze für die Füllwerte S E LB S TMO R D und U N FALL bereitstellen, indem sie zentrale Annahmen mit hohem Prototypikali‐ tätswert bezüglich ihrer Rahmen textuell explizieren, gibt es auch Passagen, die diese Möglichkeiten direkt thematisieren. (94) gibt ein Gespräch des Protago‐ nisten mit seinem Agenten wieder, das sich um den Tod des vorangegangenen Ghostwriters dreht. Da es sich um Spekulationen seitens der Figuren handelt, besitzen diese von ihnen explizierten Füllwerte keinen privilegierten Status hinsichtlich ihres Wahrheitswertes. Beim derzeitigen Stand dürften also S E LB S T‐ MO R D und U N FALL als wahrscheinlichere Füllwerte angenommen werden. M O R D sollte als Todesursache nicht vollständig ausgeschlossen sein, da einerseits eine potentielle Anschlussmöglichkeit entsteht durch die Einschübe zum Krieg gegen den Terror und den damit verbundenen Aktionen der CIA und der briti‐ schen Spezialeinheit. Andererseits handelt es sich um einen Thriller - einem 9.1 Curiosity 189 <?page no="190"?> 180 Harris, Ghost, S. 206. 181 Harris, Ghost, S. 207. 182 Harris, Ghost, S. 208-209. Genre also, bei dem der Mord zu den prototypischen Elementen gehört (wenn nicht sogar zu den Genre bestimmenden). Diese Besetzung der Leerstelle ändert sich schlagartig durch das im Folgenden wiedergegebene Gespräch zwischen dem Protagonisten und einem älteren Herrn, der in der Nähe vom Fundort der Leiche lebt. Datengeleitet kommt es zu einer Neubewertung des Sachverhalts, da das neu einlaufende Diskursmaterial nicht kompatibel ist mit den bereits konstruierten Füllwerten. (95) a. [Älterer Herr: ] „Völlig ausgeschlossen, dass die Strömung den [die Leiche von McAra] so weit nach Westen getrieben hat. Nicht um diese Jahreszeit.“ 180 b. [Älterer Herr: ] „Annabeth […] Sie hat der Polizei das von den Lichtern erzählt“ [Protagonist: ] „Lichtern? “ [Älterer Herr: ] „Die Lichter am Strand, in der Nacht, als die Leiche angeschwemmt wurde.“ [Protagonist: ] „Was für Lichter waren das? “ [Älterer Herr: ] „Von Taschenlampen, nehme ich an.“ 181 c. Ich hob mein Fahrrad auf, schwang mich auf den Sattel und folgte dem Weg weiter, der hinunter in die Bucht führte […] Konnte das stimmen? Hatte sie wirklich Lichter gesehen? Eines war sicher: Von den Fenstern im oberen Stock hatte man einen guten Blick auf den Strand. 182 Beispiel (95) gibt Ausschnitte wieder aus einem mehrere Seiten überdauernden Gespräch zwischen dem Protagonisten und einem älteren Herrn, der in der Nähe des Leichenfundortes lebt und der abgesehen von diesem Dialog nicht mehr in dem Text auftaucht. Die Passage erfüllt eine Doppelfunktion. Sie verdrängt die beiden bis zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Füllwerte S E LB S TMO R D und U N‐ FALL , da die neuen Informationen zu Rahmen internen Widersprüchen führen. Zugleich bietet sie dem Rezipienten die Möglichkeit, den Tod durch vorsätzliche Fremdeinwirkung einzusetzen, d. h. der klassische Mord wird als Füllwert für die Leerstelle T OD E S U R S ACHE konstruiert. Die Angaben des älteren Herrn er‐ lauben es dem Rezipienten, eine Erklärung herzustellen, wie die Leiche an diesen Ort kam - nämlich, dass sie durch andere Figuren dort hintransportiert wurde. 9 Curiosity und Puzzles 190 <?page no="191"?> 183 Harris, Ghost, S. 208. Die Instantiierung von M O R D liefert eine unifizierende Erklärung sowohl für den Fundort der Leiche in (95a) als auch für die Lichter am Strand in (95b), deren Plausibilität dadurch bestätigt wird, dass in (95c) weitere Informationen zur Richtigkeit der Angaben angeboten werden, indem der Protagonist das Haus von Annabeth Wurmbrand aus nächster Nähe erkundet. Darüber hinaus erlaubt der Füllwert M O R D ein weiteres Ereignis innerhalb der Textwelt zu erklären, das sich im Zuge des gleichen Gesprächs ergibt. (96) [Protagonist: ] „Könnten Sie mir sagen, wie ich von hier zu Mrs. Wurmbrands Haus komme? “ [Älterer Herr: ] „Klar“, sagte er, „Macht aber nicht viel Sinn, wenn Sie da jetzt vorbeischauen.“ [Protagonist: ] „Warum? “ [Älterer Herr: ] „Weil sie letzte Woche die Treppe runtergefallen ist. Liegt seitdem im Koma. Arme Annabeth. Ted meint, dass sie nicht mehr zu Bewusstsein kommt.“ 183 Würde der Rezipient annehmen, dass der unmögliche Fundort der Leiche, die Lichter am Strand und der Sturz der Frau in keinem Zusammenhang stehen (zum Beispiel, dass eine außergewöhnliche Strömungsveränderung den Toten an diesem Abschnitt der Küste angespült hat, dass die Lichter am Strand durch nächtliche Spaziergänger erzeugt wurden und dass Annabeth Wurmbrand aus‐ gerechnet von der Treppe fällt, nachdem sie der Polizei ein brisantes Detail über die Vorgänge in der Nacht mitgeteilt hat), so besäße diese unabhängig vonei‐ nander auftretenden Annahmen ein hohes Maß an Implausibilität. Deutlich plausibler erscheint es, die U R S ACHE -Leerstelle mit M O R D zu sättigen und den Sturz von Annabeth Wurmbrand als ein zum Rahmen gehörendes Ma‐ növer zu behandeln, dass darauf abzielt, die einzige Zeugin ruhigzustellen und dadurch die Tat zu vertuschen. Es handelt sich bei dieser Interpretation zwar nicht um eine Annahme, die im Rahmen von M O R D höchste Prototypikalitäts‐ werte erreicht. Aber sie sollte sich auch nicht als ungewöhnlich erweisen. Durch die Voraktivierung vom Krieg gegen den Terror und die damit verbundenen Aktivitäten britischer und amerikanischer Spezialeinheiten wird diese Inter‐ pretation zusätzlich begünstigt. Dieser Füllwert besitzt also eine größere Plau‐ sibilität, da er durch die vorangegangenen Informationen aus (92) und (93) nicht ausgeschlossen wird. Gleichzeitig können die Annahmen Bestand haben, dass McAra übermüdet und ausgepowert war, dass seine Leiche eine große Menge 9.1 Curiosity 191 <?page no="192"?> 184 Sobald ein M O R D -Wissensrahmen aktiviert ist, werden weitere Leerstellen geöffnet. Der motivationale Aspekt wird in Unterabschnitt 9.1.2 besprochen. Die spannungsinduzie‐ rende Leerstelle M Ö R D E R bleibt in dieser Arbeit unberücksichtigt, da es sich um ein sehr spezifisches Element handelt, das im Vergleich zu den allgemein formulierten Typen (Ursache und negative Konsequenz) keine weitreichende textsortenübergreifende Re‐ levanz besitzt. Alkohol aufweist, dass das Wetter und die geringe Höhe der Reling einen Sturz begünstigen, dass die Strömung eine Leiche nicht so weit trägt, dass seine Leiche in der Bucht abgelegt wurde und dass Annabeth Wurmbrand von der Treppe gestürzt ist. Sie sind mit dem M O R D -Rahmen kompatibel. Weder U N FALL noch S E LB S TMO R D als Füllwerte sind vollständig kompatibel mit dem explizit dargeboteten Informationen, da beide nicht dazu in der Lage sind, die Informationen über den unmöglichen Fundort und den Sturz von An‐ nabeth in ein kohärentes Textweltmodell zu integrieren. Während Selbstmord und Unfall im Text erwähnt werden, ist dies nicht der Fall für M O R D . Diese Todesursache wird nicht expliziert, sie ist ein reines Produkt rezipientenseitiger Aktivitäten. 184 In dem Roman Ghost von Harris wird also zunächst eine Leerstelle geöffnet, die die Todesursache von McAra betrifft. Anschließend werden eine Reihe von prototypischen Informationen bereitgestellt, die bestimmte Rahmen als Füll‐ werte nahelegen und die der Rezipient mit der Leerstelle korreliert. • S E LB S TMO R D : der Druck bei der Arbeit; die Überarbeitung und Erschöp‐ fung; eine mögliche Depression; der Alkoholgehalt im Blut. • U N FALL : die niedrige Reeling; das rutschige Deck; das schlechte Wetter, sodass planmäßige Fahrten mit der Fähre zuvor ausgefallen sind; der Al‐ koholgehalt im Blut. • M O R D : die Fundstelle; die Lichter am Strand; die einzige Zeugin liegt im Koma. Die in der Aufzählung kompakt zusammengefassten Informationen kann der Rezipient auf die zuvor geöffnete Leerstelle beziehen. Die abduktiv konstru‐ ierten Füllwerte basieren auf Wissen, das durch verschiedene in der Aufzählung zusammengefasste Informationen im Text verstärkt oder geschwächt wird. Dabei überspannen diese Text verbindenden Inferenzen diskontinuierliche Dis‐ kurssegmente und halten umfangreiche und weit über den Text verteilte Pas‐ sagen zusammen, zwischen der spannungsinduzierenden Passage in (91) und der finalen Instantiierung in (95) liegen knappe 200 Seiten. Der Auslöser befindet sich auf Seite 9. D E P R E S S ION als Füllwert ergibt sich aus Seiten 14-15 und 91-92. Die Textsegmente, die auf einen Unfall schließen lassen, stehen auf Seite 57-58. 9 Curiosity und Puzzles 192 <?page no="193"?> Das Gespräch mit dem älteren Herrn erstreckt sich von Seite 208-209. Ein nicht abgeschlossener Versuch, einen Füllwert zu etablieren (wie S E LB S TMO R D und U N FALL ), kann also dazu führen, dass anschließende Textsegmente weiterhin auf diese Leerstelle bezogen werden. Sollte die Leerstelle erfolgreich gefüllt worden sein, so würde anschließendes Diskursmaterial nicht mehr darauf bezogen werden. Angaben zu den Wetterbedingungen, zur Konstruktion des Decks etc. interpretiert der Rezipient erst rückwirkend als kausal unabhängige Informati‐ onen, zu Beginn scheinen sie einen Teil der Erklärung auszumachen. Abduktiv konstruierte Inferenzen und ihre Bestätigung. Bei dem in Ghost beispielhaft ausgearbeiten Rezeptionsprozess basiert die Konstruktion eines Füllwerts auf abduktiven Schlussverfahren. Zunächst konstruiert der Rezipient eine U R S ACHE -Leerstelle, die auf den prototypischen Annahmen beruht, dass man auf einer Fähre nicht verschwindet, was nach eine Erklärung verlangt. Mögliche Erklärungen ergeben sich aus dem Wissen, dass ein Unfall, ein Selbst‐ mord und ein Mord zu einem nicht prototypischen Tod führen können. Diese möglichen Erklärungen werden anschließend nicht direkt bestätigt, es werden Informationen bereitgestellt, die die einzelne Erklärungen indirekt stützen, da sie hinsichtlich einzelner Füllwerte einen hohen Grad an Prototypikalität be‐ sitzen. Zunächst erweisen sich U N FALL und S E LB S TMO R D als bessere Erklärungen. Nach dem Gespräch mit dem älteren Herrn verlagert sich die Plausibilität der Füllwerte. Der Rezipient schließt auf M O R D als die beste Erklärung. Die Ergebnisse abduktiver Prozesse sind rezipientenseitige Konstrukte, die als Füllwert einer Leerstelle repräsentiert werden, sie müssen nicht explizit im Text enthalten sein. Wie alle Ergebnisse inferentieller Aktivitäten genießt der kognitiv ermittelte Füllwert (oder verschiedene alternative Füllwerte) einen hy‐ pothetischen statt eines sicheren Status. Von der Existenz der rezipierten Ereig‐ nisse bzw. der Textinformationen gemeinsam mit seinem Wissen kann der Re‐ zipient also nicht sicher auf die Wahrheit seiner Inferenz schließen, was dem Rezipienten auch bewusst ist. Die rezipientenseitig zugeordnete Wahrscheinlichkeit hängt ab von Infor‐ mationen aus dem Text und deren Interaktion mit dem Wissen. Der Bestäti‐ gungsgrad der einzelnen Erklärung kann sich im zeitlichen Verlauf der Ge‐ schichte verändern, weil alternative Erklärungen sich abzeichnen können oder weil neues Diskursmaterial eine bereits bestehende Erklärung schwächen oder stärken kann. Informationen aus dem Text können unterschiedliche, sich ge‐ genseitig ausschließende mögliche Erklärungen bzw. konkurrierende Interpre‐ tationen zulassen und stützen. Wenn eine Interpretation zum Beispiel stark genug ist, verschiedene unabhängig aufgetretene erklärungsbedürftige textuelle 9.1 Curiosity 193 <?page no="194"?> 185 Bei der Rezeption treten damit ähnliche Faktoren zum Vergleich von Hypothesen (-mengen) zu Tage wie in der Wissenschaftstheorie. Dort fallen diese Aspekte unter die Begriffe der Globalität und der Vereinheitlichungskraft (vgl. Schurz (2006), S. 51-52, 189). Der Rezipient operiert also mit einem Metawissen zur Berechnung von Plausibi‐ litätsgraden. 186 Vgl. Busse (2015), S. 344-345. oder audiovisuelle Daten zu stützen, so steigt ihre Plausibilität (wie es in Ghost mit dem Füllwert M O R D geschieht). 185 An dieser Entwicklung zeigen sich die Effekte nicht-monotoner Schlusspro‐ zesse, denen im Rahmen der Spannungsanalyse ein zentraler Stellenwert zu‐ kommt. Bei neu einlaufenden Textsegmenten können sich alternative Interpre‐ tationen ergeben. Würde es sich um monotone bzw. deduktive Schlüsse handeln, so würden einmal abgeleitete Schlüsse durchgängig Bestand haben (vorausge‐ setzt, dass sie gültigen Schlussmustern folgen und dass der Wahrheitswert der Annahmen sich im weiteren Verlauf des Textes weiterhin als zutreffend erweist). Der Rezipient identifiziert die subjektiv empfundenen Bestätigungsgrade einer Interpretation mit verschiedenen Glaubensgraden. Diese kann man in Anlehnung an Busse als Modi des verstehensrelevanten Wissens beschreiben, bei dem subjektiv empfundene Wahrscheinlichkeiten sich auf einer Skala verteilen mit den Polen des subjektiv Wahren und des subjektiv Falschen (siehe Ab‐ satz 8.4.2). 186 Das Wissen über den hypothetischen Status seiner Inferenzen be‐ wegt den Rezipienten dazu, an den Text gefesselt zu bleiben, bis die Inferenz bestätigt ist oder der tatsächliche Grund textuell bereitgestellt wird. Zwischenfazit. In Geschichten nimmt die psychische und motivationale Kau‐ salität einen zentralen Status ein. Beim Curiosity möchte der Rezipient den Grund eines textuell explizierten Ereignisses oder einer Handlung erfahren. Der Auslöser dieses Typs basiert auf einer vom Rezipienten inferierten kausalen oder motivationalen Leerstelle, die sich aus der Wissensebene ergibt oder aus der Textweltwissensebene. Ein Ereignis oder eine Handlung lässt sich mit den Wis‐ sensbeständen kausal nicht in Einklang bringen, es widersetzt sich der kausalen oder motivationalen Integration in ein kohärentes mentales Modell. Ein Ante‐ zedens lässt sich weder aus dem allgemeinen Weltwissen noch aus Textwelt‐ wissen generieren. Auf dieser Grundlage konstruiert der Leser eine Leerstelle für die Ursache, bei der es sich um eine rückwärtsgewandte Inferenz handelt, die weder in der Textverstehensforschung noch in der Spannungsforschung be‐ schrieben wird. Bis der Rezipient die Ursache erfährt, verarbeitet er neu einlaufendes Dis‐ kursmaterial abduktiv. Die abduktiven Prozesse zur Identifizierung der Ursache können sich aus allgemeinen Weltwissenselementen speisen und gleichzeitig 9 Curiosity und Puzzles 194 <?page no="195"?> 187 Wie in Fußnote 147 auf Seite 170 beschrieben, identifizieren einige Autoren das Curi‐ osity mit Detektivgeschichten (vgl. Knobloch (2003), S. 388-389; Zillmann (1991), S. 295; Wenzel (2001), S. 29-30). Aus dieser Gleichsetzung folgt auch die These, dass der Leser in der Rolle eines Detektivs auftritt. Adäquater scheint allerdings die Rolle als Wissen‐ schaftler, der Leerstellen konstruiert, Hypothesen als Füllwerte etabliert und deren Wahrscheinlichkeit überprüft. mit spezifischem Textweltwissen inferentiell interagieren. Die Beispiele belegen damit einmal mehr die fundamentale Rolle kausalitätsgestützter Inferenzen bei der Textverarbeitung. Sie dienen hier allerdings dazu, eine Leerstelle zu füllen, indem ein potentieller Füllwert konstruiert wird, dessen hypothetischer Status dem Rezipienten spätestens dann bewusst wird, wenn er sich aufgrund des Textmaterials gezwungen sieht, eine alternative Interpretation zu bemühen. Der Rezipient kann eine Vielzahl konkurrierender Hypothesen abduktiv generieren, deren Plausibilitätsgrad auf der Grundlage Rahmen interner Effekte, auf der Grundlage neu einlaufender Diskurssegmente und auf der Grundlage seiner Wissensbestände inklusive der Prototypikalitätsannahmen ermittelt wird. Von diesen muss sich zunächst keine bestätigen und keine besitzt eine höhere Wahr‐ scheinlichkeit als die anderen. Bei der Hypothesenbewertung werden Prozesse bemüht, die weder auf me‐ tarezeptiven Relevanzannahmen basieren noch auf Schemata. Der Rezipient überprüft die konstruierten Hypothesen und Füllwerte mit Mitteln, die norma‐ lerweise im Zusammenhang mit der Bewertung von Theorien auftreten. Indem der Rezipient textuelle Daten auswertet und interpretiert, vollzieht er ähnliche Schlussfolgerungen wie ein Wissenschaftler. Im Mittelpunkt steht das rezipien‐ tenseitige Ziel, eine Leerstelle zu füllen oder - falls sich ein Füllwert anbietet - dessen hypothetischen Status zu eliminieren, indem der Füllwert entweder be‐ stätigt oder zurückgewiesen wird, wenn der Text die konkrete Ursache der Textwelt offenlegt. Eine Leerstelle erweist sich bis zur Auflösung als globales Bezugselement. 187 Damit wird Suspense-Inferenzen und den Zielhierarchien der psycholinguistichen Inferenzforschung eine weitere Möglichkeit der globalen Textverarbeitung zur Seite gestellt, die Konstruktion der Leerstelle ist verste‐ hensnotwendig, da sie sich als Bezugspunkt anbietet für neu einlaufende Text‐ segmente. Ohne die abduktiven Versuche, die Leerstellen zu sättigen, würde der Text seinen (globalen) Zusammenhalt einbüßen. 9.1 Curiosity 195 <?page no="196"?> 188 Der Begriff Puzzle stammt aus einem Ratgeber für das Verfassen von Drehbüchern von dem Autor Paul J. Gulino (vgl. Gulino (2009), S. 21). 189 Carré, Der Nachtmanager, S. 13. 9.2 Puzzles Bei einem Puzzle  188 stellt der Text dem Rezipienten im Verlauf der linearen Zei‐ chenkette spezielle Details bereit, die sich weder durch allgemeines Wissen noch durch spezielles Wissen über die Textwelt in einen kohärenten Zusammenhang einbetten lassen, oder - anders ausgedrückt - die sich der Integration in ein mentales Modell entziehen. Durch die Auslassung verbindender bzw. verste‐ hensrelevanter Elemente (Links) zwischen einzelnen Diskursentitäten wird dieser Spannungstyp erzeugt. (97) An einem schneegepeitschten Abend im Januar 1991 verließ Jonathan Pine, der englische Nachtmanager des Palasthotels Meister in Zürich, seinen Platz hinter dem Empfangstisch und bezog, erfüllt von ihm bis dahin unbekannten Gefühlen, seinen Posten im Foyer, um im Namen seines Hotels einen vornehmen späten Gast willkommen zu heißen. Der Golfkrieg hatte gerade angefangen. 189 In (97) wird der Initialsatz aus dem Roman Der Nachtmanager des englischen Erfolgsautors John le Carré wiedergegeben. Es handelt sich um ein Puzzle, da sich die Ereignisse in der Empfangshalle des Züricher Hotels und der Satz Der Golfkrieg hatte gerade angefangen nicht in ein kohärentes mentales Textwelt‐ modell integrieren lassen. Es gibt weder explizite noch implizite Anschluss‐ möglichkeiten zwischen beiden Sätzen, sodass der Rezipient danach strebt, das verbindende Element zu erfahren. So können unter anderem Figuren und ihre Ziele, Orte und Zeiten, Details und Gesetze der Textwelt unabhängig voneinander eingeführt werden. Auto‐ matisch stellt sich der Leser die Frage, wie die im Text eingeführten Elemente zusammengehören? Dabei bleibt der Rezipient zunächst orientierungslos. Im Folgetext erhält der Leser sukzessive Informationen, bis sich einzelne Aspekte in einen größeren Zusammenhang einbetten, der letztlich zu einem kohärenten Gesamtbild führt. Der Rezipient erlangt Orientierung, das Puzzle ist gelöst. Iser spricht von Kompositionsleistung. Eine andere Form zum Beispiel, den Leser zu einer größeren Kompositionsleistung anzureizen, besteht darin, mit einzelnen Schnitten unvermittelt neue Personen ein‐ zuführen, ja, ganz andere Handlungsstränge beginnen zu lassen, so daß sich die Frage 9 Curiosity und Puzzles 196 <?page no="197"?> 190 Iser (1975), S. 237. 191 Petrie (1978), S. 67-68. nach den Beziehungen zwischen der bisher vertrauten Geschichte und den neuen, unvorhersehbaren Situationen aufdrängt. Daraus ergibt sich dann ein ganzes Geflecht möglicher Verbindungen, deren Reiz darin besteht, daß nun der Leser die unausfor‐ mulierten Anschlüsse selbst herstellen muß. Angesichts des temporären Informati‐ onsentzugs wird sich die Suggestivwirkung selbst von Details steigern, die wiederum die Vorstellung von möglichen Lösungen mobilisieren. 190 [W]e are introduced to an already fully developed situation and are left to put together the details, and assemble the overall context, as the film proceeds. Shifts of time and place are often arbitrary and apparently unmotivated. 191 Puzzles aus der Perspektive verschiedener Textverstehensmodelle. Ko‐ härenzbrüche sind die Wurzel aller Puzzles. Da Kohärenz innerhalb der ver‐ schiedenen, zum Teil auseinander hervorgegangenen Textverstehensmodelle jeweils ähnlich definiert ist, lässt sich dieser Spannungstyp in Bezug auf die verschiedene Textverstehensmodelle beschreiben. Überträgt man zum Beispiel van Dijks Ansatz auf diesen Spannungstyp, so ergibt sich folgendes Bild. Nach van Dijk gibt es keinen Kohärenzbruch, wenn alle propositionalen Elemente eines Textes integriert sind, was zugleich bedeutet, dass es genau einen Kohä‐ renzgraphen gibt. Wenn zwei Propositionen allerdings auf der höchsten Ebene eines Makro-Propositions-Struktur-Graphen liegen, liegt nach van Dijk ein Ko‐ härenzbruch vor, da weder eine der beiden Ebenen auf der höchsten Hierar‐ chieebene liegenden Propositionskette in die andere eingebettet ist und da sie sich auch nicht überlappen. In einem propositionalen Modell fragt der Rezipient bei Propositionsstrukturen auf der gleichen Hierarchieebene nach dem Zusam‐ menhang, er fragt - in der Terminologie van Dijks - nach möglichen An‐ schlussstellen bzw. nach Integrationsmöglichkeiten. Sobald nicht integrierte propositionale Strukturen auftreten, handelt es sich deshalb um den Span‐ nungstypen des Puzzles. Bei Situationsmodellen wird Kohärenz als eine Folge von Situationen beschrieben, die auf allen Indexebenen (explizit oder implizit) verbunden sind: auf der Ebene der Protagonisten, Handlungen (Subplots), der Ort, der Zeit etc. Ein Kohärenzbruch ergibt sich demnach aus der Diskontinuität auf mindestens einer dieser Ebenen. Inkohärenz und damit der Spannungstyp des Puzzles lässt sich also in Anlehnung an verschiedene Textverstehensmodelle beschreiben. Inkohärenz ergibt sich, sobald die Diskursentitäten nicht zusam‐ menhängen bzw. sich nicht einbetten lassen. 9.2 Puzzles 197 <?page no="198"?> 192 Vgl. Graesser / Singer / Trabasso (1994), S. 374. 193 Vgl. Stein / Trabasso (1985), S. 38. Konstruktivistische Annahme über Rezipienten. In Abschnitt 4.5 wurde dem Rezipienten unter dem Stichwort Search (or effort) after meaning unterstellt, dass sie bis auf wenige Ausnahmen wie zum Beispiel beim Korrekturlesen das generelle Ziel verfolgen, eine kohärente Textwelt zu konstruieren. Leser suchen demzufolge mit neu einlaufendem Input nach einzelnen oder mehreren An‐ knüpfungsmöglichkeiten und greifen dabei zurück auf ihr allgemeines Wissen und das spezielle Wissen über die jeweilige Textwelt. So gestalten sie die Kon‐ struktion der kohärenten Textwelt aktiv mit. Diese integrativen Prozesse können iterativ stattfinden und dabei Diskurseinheiten verschiedener Komplexität verbinden. So können viele unverbundene Diskursentitäten text- oder schemabasiert in kohärente Teilstrukturen über‐ führt werden, die auf einer höheren Ebene nicht zusammenhängen und im Ver‐ lauf des Textes integrativ verarbeitet werden. Dieser Prozess kann sich fort‐ setzen, bis alle Informationen in einem einheitlichen Modell aufgehen. Dieser zum Teil konstruktive Rezeptionsakt gründet auf einer der allge‐ meinsten Metaannahmen über Texte, die besagt, dass die Diskursentitäten in einem Zusammenhang stehen und dass die Integration in ein kohärentes Text‐ weltmodell sich im Verlauf des Leseaktes unter verschieden intensiver Mitarbeit des Rezipienten ergibt. Da Puzzles den Kohärenzwunsch des Lesers ausnutzen und die Konstruktion eines einheitlichen Modells torpedieren, setzt diese Spannungsform auf der ver‐ stehensnotwendigen Ebene an. Lokale und globale Kohärenzbrüche, lokale und globale Relevanz. Ko‐ härenzbrüche können auf lokaler und globaler Ebene vorkommen. Bei lokalen Kohärenzbrüchen sind zwei aneinandergrenzende Sätze eines Abschnittes nicht in ein kohärentes Modell integrierbar. Lokale Kohärenzbrüche versuchen die Leser unter Rückgriff auf Textelemente aus dem Vortext zu überbrücken oder auf der Grundlage ihres Wissens. 192 Sollte sich Kohärenz auf diese Weise nicht herstellen lassen, so begeben sich Rezipienten in die Erwartungshaltung, dass der Folgetext Kohärenz etablierendes Diskursmaterial bereitstellt. 193 (97) bietet ein Beispiel für einen solchen lokalen Kohärenzbruch. Die Phase des Wartens auf ein integrationsermöglichendes Element versetzt den Rezipienten in Span‐ nung. Darüber hinaus gibt es Texte, in denen Abschnitte umfangreicherer textueller Ausdehnung mindestens zwei verschiedene Diskursentitäten behandeln, die zunächst den Eindruck erwecken, als würden sie sich nicht in ein einheitliches 9 Curiosity und Puzzles 198 <?page no="199"?> 194 Vgl. Larsson, Verblendung, S. 1-21. 195 In vielen Texten dient der Prolog dazu, ein Puzzle zu etablieren und damit die Kompo‐ sitionsleistung des Rezipienten zu stimulieren. Zusätzlich können die leserseitigen Ak‐ tivitäten auch auf andere Art und Weise aktiviert werden, zum Beispiel durch den Sus‐ pense oder das Curiosity. Anschließend wird in der Regel zu einem anderen Strang gewechselt. Modell integrieren lassen. Bei einem solchen globalen Puzzle können sich Ab‐ schnitte über mehrere Absätze oder ganze Kapitel erstrecken und werden häufig durch neu einsetzende neben- oder untergeordnete Erzählstränge realisiert. Der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Diskursebenen ergibt sich häufig sehr viel später, zum Teil bildet er einen werkumspannenden Bogen. Puzzles im Roman Verblendung von Stieg Larsson. Der Anfang des inter‐ nationalen Bestsellers Verblendung vom schwedischen Kriminalautoren Karl Stig-Erland Larsson ist durch einen massiven Einsatz von Puzzles geprägt. Sowohl auf der lokalen als auch auf der globalen Ebene werden zunächst eine Reihe von Diskursentitäten eingeführt, die (zum Teil) in keinem erkennbaren Zusammenhang zueinander stehen und dadurch die Aktivitäten des Rezipienten stimulieren. Im Prolog werden ein nicht namentlich genannter Mann im Alter von 82 Jahren, eine Rose in einem Bilderrahmen und ein Polizist eingeführt. Die Rose wird mit weiteren Wissenselementen versehen, die sich auf die botanische Ein‐ ordnung inklusive ihres Herkunftsgebiets beziehen. Auch das rezipientenseitige Wissen um den Polizisten wird angereichert mit Informationen, die seine Kar‐ riere und seine aktuelle Situation betreffen. Der Rezipient lernt, dass der na‐ mentlich nicht genannte Mann, die Rose und der Polizist eine Einheit bilden. Wie sie allerdings genau zusammenhängen, bleibt zunächst unklar. Innerhalb des Prologs wird der Rezipient also mit einem Puzzle konfrontiert. 194 Die Kernelemente des Puzzles aus dem Prolog werden im ersten Kreis der Abbildung 9.1 aufgeführt. Die Kreise stellen jeweils ein Kapitel dar. In den Kreisen befinden sich die zentralen Diskursentitäten der Kapitel. Der Prolog bzw. die Nummer der Kapitel werden durch eine graue Typografie hervorge‐ hoben. 195 Im ersten Kapitel werden der Journalist Carl Mikael Blomkvist und Hans-Erik Wennerström eingeführt. Es gibt ein Gerichtsverfahren, bei dem die beiden Fi‐ guren die oppositionellen Parteien darstellen. Blomkvist hat den Prozess ver‐ loren. Dass Blomkvist Wennerström in einem Artikel Wirtschaftsbetrug vor- 9.2 Puzzles 199 <?page no="200"?> 196 Vgl. Larsson, Verblendung, S. 23-39. 197 Vgl. Larsson, Verblendung, S. 42-59. 198 Vgl. Larsson, Verblendung, S. 60-71. Zugleich entsteht eine Z I E L -Leerstelle, die um die Frage kreist, warum der Anwalt den Reporter überprüfen möchte. Diese Leerstelle ent‐ steht auf die in Unterabschnitt 9.1.2 beschriebene Art und Weise. Einen Füllwert kann der Rezipient nicht aus seinem Wissen instantiieren. PROLOG Mann (82) Rose Polizist 1 Blomkvist Gerichtsprozess Wennerstrm 2 Salander Armansky Securityservice 3 Frode Security-Service Blomkvist a b c d e f g h j k l m n o p Abb. 9.1: Puzzle in Verblendung geworfen hat und dass der Artikel faktisch unfundiert war, sind Wissensanreicherungen zu diesen Diskursentitäten, die der Rezipient dem ersten Kapitel entnehmen kann. 196 In der Abbildung 9.1 werden sie im zweiten Kreis dargestellt. Im zweiten Kapitel werden die Figuren Dragan Armansky und Lisbeth Sa‐ lander eingeführt. Armansky führt ein Sicherheitsunternehmen, bei dem Sa‐ lander als freie Mitarbeiterin angestellt ist. 197 Diese Diskursentitäten sind im dritten Kreis aufgeführt. Wenn man sich die drei ersten Kapitel anschaut, so finden sich zwischen den einzelnen Kapiteln keine Übereinstimmungen. Zwischen den drei Diskurskom‐ plexen (dem Rosenkomplex im Prolog, dem Gerichtskomplex im ersten Kapitel und dem Sicherheitskomplex im zweiten Kapitel) lässt sich daher zunächst keine Relationen etablieren. Das wird auch deutlich bei der Betrachtung von Abbil‐ dung 9.1. Die ersten drei Kreise lassen sich über keine der darin enthaltenen Entitäten direkt oder indirekt verknüpfen. Die Spannung in Verblendung ergibt sich unter anderem aus dieser Inkohärenz, die der Rezipient aufzuheben beab‐ sichtigt. Obwohl der Rezipient zu jeder Figur Informationen erhält, lässt sich die Inkohärenz nicht überbrücken. Die erste Anschlussmöglichkeit zwischen dem Sicherheitsunternehmens‐ komplex und dem Gerichtskomplex, d. h. zwischen den Kapiteln 1 und 2 ergibt sich durch eine weitere Figur. Der Anwalt Dirch Frode, der gegen Ende des dritten Kapitels in die Textwelt eingeführt wird. Er beauftragt das Sicherheits‐ unternehmen mit einer Hintergrundüberprüfung von Blomkvist. 198 Das ver‐ sucht auch die Abbildung 9.1 zu illustrieren, in der mit B LOMKVI S T und S E C U‐ R ITY -S E R VIC E Diskursentitäten aus Kreis bzw. Kapitel 1 und 2 in einem Kreis bzw. 9 Curiosity und Puzzles 200 <?page no="201"?> 199 Vgl. Larsson, Verblendung, S. 87-89. 200 Vgl. Larsson, Verblendung, S. 87-89. 201 Vgl. Larsson, Verblendung, S. 100-101. Kapitel, nämlich in 3 zusammengeführt werden. Die Diskursentitäten aus dem Prolog lassen sich weiterhin nicht integrieren. Hypothetische Zusammenhänge in Puzzles. Im vierten Kapitel erhält Blomkvist einen Anruf von Dirch Frode. Sein Klient, Henrik Vanger, ist über 80 und möchte mit ihm sprechen. 199 Das Alter kann der Rezipient als Hinweis dafür interpretieren, dass es sich um den Mann aus dem Prolog handeln könnte. Der Leser inferiert also diesen möglichen Zusammenhang. Ob er tatsächlich besteht, ist unklar. Er ist als hypothetischer Fakt repräsentiert und bedarf daher einer Widerlegung oder Bestätigung. Der Wunsch, den Wahrheitswert zu bestimmen, motiviert ihn zum Weiterlesen. Etwa zehn Seiten später wird das Alter von Henrik Vanger mit 82 Jahren konkretisiert. 200 Der Rezipient kann seinem kon‐ struierten Zusammenhang damit eine höhere Wahrscheinlichkeit zuordnen, denn der Anrufende aus dem ersten Kapitel tätigte seinen Anruf an seinem zweiundachtzigsten Geburtstag. Weitere zwei Seiten später, als der ältere Herr mit Blomkvist spricht, erfahren der Journalist und der Leser, dass er der Emp‐ fänger der Rose ist. 201 Jetzt kennt der Rezipient den Zusammenhang zwischen allen Figuren. Der bereits inferierte Zusammenhang erfährt endgültige Bestä‐ tigung, der hypothetische Status löst sich auf. Einige der neu einlaufenden Informationen erlauben es, Hypothesen über die Relationen aufzustellen. Sobald der Rezipient eine solche Information erhält, verarbeitet er sie diesbezüglich und wartet auf die vollständige Auflösung. Die Zusammenhänge können sich auf vielen Ebenen ergeben - unter anderem können sie zwischen Figuren, zwischen Ereignissen und Motivationen bestehen. Zwischenfazit. Es gibt textuell evozierte Wissenselemente, die im Weltwissen nicht in Zusammenhang stehen und die den Rezipienten deshalb in die Span‐ nungsform des Puzzles versetzen. Diskurssegmente können sich auf lokaler und globaler Ebene der Integration in eine mentale Textrepräsentation entziehen. Inkohärenzen hält der Rezipient für vorläufig, da er davon ausgeht, dass der Text Kohärenz besitzt und damit den von Grice formulierten Relevanzanforderungen gehorcht. So lässt sich also parallel zu lokaler und globaler Kohärenz auch lokale und globale Relevanz unterscheiden. Der Rezipient sucht nach impliziten und expliziten Anschlussstellen und folgt dabei dem Ziel, isolierte Elemente zu integrieren. Dabei kann der Text mögliche Zusammenhänge suggerieren, die je nach Informationsstand zu verschiedenen Graden der Plausibilität führen können. Der Rezipient inferiert mögliche An‐ 9.2 Puzzles 201 <?page no="202"?> schlusspunkte. Da nicht von der Wahrheit der Information auf die Wahrheit der inferenziell konstruierten Verbindungsglieder geschlossen werden kann, be‐ sitzen diese möglichen Anschlussstellen einen hypothetischen Status, der Rezi‐ pient bleibt gespannt, bis der Zusammenhang eindeutig hergestellt wird. 9 Curiosity und Puzzles 202 <?page no="203"?> 202 Vgl. Wulff (1996), S. 13-14. 10 Inferenzen durch textuell etabliertes Wissen Die spannungsinduzierenden Inferenzen aus dem vorangegangenen Kapitel 8 und Kapitel 9 wurden auf der Grundlage des Textes und dem allgemeinen Wis‐ sens konstruiert. Im Folgenden werden Beispiele vorgestellt, in denen Infe‐ renzen hergestellt werden, die auf speziellem, im Text aufgebautem Wissen ba‐ sieren. Spannungserzeugende Inferenzen kommen dabei nur zustande, wenn der Rezipient über sein allgemeines Wissen hinaus auf Wissensbestände zu‐ rückgreift, die durch den Text etabliert wurden. Ohne dieses Wissen würde der Rezipient die Inferenzen nicht herstellen, ein spannungsvolles Erleben des Textes bliebe aus. Isoliert würde ein Textstück daher keinen Spannungseffekt aufweisen. Textweltbezogenes Wissen. Die textuelle Wissensanreicherung von Diskursentitäten zur Erzeugung von Spannung wird erstmals bei Wullf be‐ schrieben. Am Beispiel des Hitchcock-Klassikers Frenzy führt er diesen Fall in die Diskussion ein. (98) gibt die ersten Szenen aus dem Film wieder. (98) a. Eine tote Frau liegt am Ufer der Themse. Um ihren Hals hängt die Krawatte, mit der sie erdrosselt wurde. b. In der zweiten Szene sieht man einen Mann, der vor einem Spiegel steht, und seine Krawatte bindet, die identisch gemustert ist. Wulff zufolge verbindet die Krawatte die beiden Szenen und veranlasst den Zu‐ schauer dazu, die Hypothese zu konstruieren, dass es sich bei dem Mann vor dem Spiegel um den Mörder handelt. Da die Spannung über ein Objekt aufgebaut wird, spricht Wulff auch von Narrativization of Objects. Demnach werden ein‐ zelne Objekte im Text mit Wissensstrukturen aufgeladen und so für darauf auf‐ bauende schemabasierte Inferenzen nutzbar gemacht, die nicht herstellbar ge‐ wesen wären ohne diese neugewonnenen epistemischen Komponenten. 202 Durch (98a) öffnet der Rezipient einen M O R D -Wissensrahmen mit den prototy‐ pischen Leerstellen, die eine ausführende Person (also den Mörder) und die Mo‐ tivation umfassen. Durch die übereinstimmende Krawatte wird der Herr aus (98b) mit dem Mordrahmen korreliert und dabei als Füllwert für die Agensrolle <?page no="204"?> 203 Rowling, Harry Potter und der Gefangene von Azkaban, S. 238. 204 Rowling, Harry Potter und der Gefangene von Azkaban, S. 240. eingesetzt. Diese Sättigung besitzt wie alle Inferenzen einen hypothetischen Status. Während die Spannung in den bisher untersuchten Fällen auf Textele‐ menten, allgemeinem Weltwissen und Schlussprozeduren basiert, trägt hier also das spezielle Textweltwissen maßgeblich zu den inferentiellen Prozessen bei. Neben der Narrativierung von Objekten können weitere Diskursentitäten mit epistemischen Elementen aufgeladen werden. (99) a. [Professor Trelawney: ] „[W]enn dreizehn bei Tisch sitzen, wird der Erste, der sich erhebt, sterben.“ 203 b. Professor Trelawney verhielt sich die nächsten zwei Stunden bis zum Ende des Weihnachtsmahles fast normal. Zum Platzen voll und mit den Hüten aus den Knallbonbons auf den Köpfen erhoben sich Harry und Ron als Erste von der Tafel [an der dreizehn Per‐ sonen sitzen]. 204 (99) gibt zwei Textsegmente aus dem Fantasyroman Harry Potter und der Ge‐ fangene von Azkaban der britischen Erfolgsautorin Joanne K. Rowling wieder. Die in (99b) beschriebene Handlung besitzt isoliert gesehen keinen spannungs‐ induzierenden Effekt, das Verlassen eines Tisches führt zu keinen spannungs‐ auslösenden inferentiellen Prozessen. Wenn der Satz allerdings mit zusätzlichen im Text bereitgestellten Wissensschichten angereichert wird, so kann er Sus‐ pense erzeugen, indem er den Rezipienten dazu veranlasst, eine negative Kon‐ sequenz zu generieren. So etabliert die Professorin für Wahrsagerei mit ihrer Äußerung in (99a) einen Zusammenhang innerhalb der Textwelt, der im text‐ weltimmanenten Aberglauben fußt. Nimmt der Rezipient diese beiden Textele‐ mente zusammen (gemeinsam mit dem Wissen, dass 13 Personen an dem Tisch sitzen), so lässt sich der kurz bevor stehende Tod von Harry Potter vorhersagen, wobei diese prädiktive Inferenz einen hypothetischen Status besitzt. Dabei überträgt der Rezipient einen allgemeinen Zusammenhang induktiv auf eine einzelne Situation und gelangt so zu einer prädiktiven Inferenz. In einem an‐ deren Text würde die Handlung des Zuerst-vom-Tisch-Aufstehens nicht zu dieser Inferenz führen, sie ergibt sich rein werkimmanent. Neben Handlungen können auch andere Diskursentitäten aufgeladen werden. Anreicherung von Figuren. In (100) und (101) handelt es sich um die textuelle Anreicherung auf der Grundlage von textuell etabliertem Wissen über Figuren. 10 Inferenzen durch textuell etabliertes Wissen 204 <?page no="205"?> 205 Vgl. Kafka, Der Verschollene, S. 105. 206 Kafka, Der Verschollene, S. 105. 207 Wollbrett, BILD analysiert seine Urteile: So hart ist der Kachelmann-Richter! In (100) stellt der Leser die mögliche Konsequenz her, dass der Ire dem Prota‐ gonisten Schaden zufügen wird, was er aus der allgemeinen Aussage über Iren ableitet. (100a) gibt verdichtet eine umfangreichere Passage aus Franz Kafkas Roman Der Verschollene wieder, das wortgetreu wiedergegebene Textsegment (100b) gibt eine Empfindung des Protagonisten wieder. Gemeinsam erlauben sie die Konstruktion einer negativen Konsequenz. (100) a. Dem Protagonisten Karl Roßmann wird ein Zimmer angeboten in einem kleinen Wirtshaus. Dort schlafen bereits zwei andere Per‐ sonen, ein Franzose und ein Irländer. Als der Protagonist von der nationalen Zugehörigkeit seiner Zimmergenossen erfährt, rea‐ giert er mit folgendem, den Leser in eine negative Erwartungs‐ haltung versetzenden Erinnerung. 205 b. Unangenehm war bloß, daß der eine ein Irländer war. Karl wußte nicht mehr genau, in was für einem Buch er einmal zuhause ge‐ lesen hatte, daß man sich in Amerika vor den Irländern hüten solle. 206 (101) stellt einen Ausschnitt aus einem Artikel der Bild-Zeitung im Rahmen des Kachelmann-Prozesses dar. Die Passage etabliert epistemische Elemente über Teile der beruflichen Biographie des Richters Michael Seidling, die dazu führen, dass der Rezipient eine bestimmte negative prädiktive Inferenz hergestellen kann, wobei er dazu auf seine diskursiv erhaltenen Wissensschichten zu dem Fall zurückgreifen muss. Ein figurenbezogener Aspekt wird aufgegriffen, näher expliziert und erhält dadurch eine antizipationsstiftende Kraft. (101) a. Mannheim - Richter Michael Seidling (59) führt seit dem 6. Sep‐ tember das Verfahren im Kachelmann-Fall. Seitdem hat er noch 8 weitere Prozesse (3 davon laufen noch). Der Richter ist knallhart, hält sich fast immer an die Forderungen der Staatsanwaltschaft. 207 b. Die Gegner von Kachelmann fordern mehrere Jahre Haft und eine Geldstrafe. Der Rezipient kommt zu einer speziellen prädiktiven Inferenz durch die zusätz‐ liche Information, dass es bei den Urteilen des Richters im Kachelmann-Prozess 10 Inferenzen durch textuell etabliertes Wissen 205 <?page no="206"?> 208 Craven, Scream, S. 28. 209 Craven, Scream, S. 30. eine gewisse Kontinuität, einen gewissen prototypischen Fall gibt, über den er durch den Zeitungsartikel informiert wird. Auf der Basis mehrerer im Text ge‐ gebener Informationen kann der Rezipient induktiv unter anderem die hypo‐ thetische Möglichkeit konstruieren, dass auch Kachelmann mehrere Jahre ins Gefängnis muss - eine negative Konsequenz für den als Moderator bekannten Mann, die durch die mentale Verknüpfung von (101a) und (101b) eine hohe sub‐ jektive Wahrscheinlichkeit erhält. Textuell etabliertes Fachwissen über Textsorten. Das Hintergrundwissen kann sich auf verschiedene Bereiche beziehen. In dem Drehbuch zum Holly‐ woodblockbuster Scream vom Autor Wes Craven werden die Rezipientenakti‐ vitäten angeregt auf der Grundlage explizit durch die Figuren bereitgestellter Genrekonventionen von Horrorfilmen. In dem audiovisuellen Text treibt ein Mörder sein Unwesen. Kurz vor seinen Mordversuchen ruft der Killer seine Opfer an, die im Teenageralter sind und sich zudem allein zuhause befinden. In dem Telefonat fragt er sie unter anderem nach ihrer Meinung zu Horrorfilmen. Sein nächstes Opfer soll Sidney sein, die bereits das Telefon abgehoben hat. Noch ahnt sie nicht, dass sie den Mörder an der Leitung hat. Sie unterhalten sich über Horrorfilme und sie verrät ihm, was sie von diesem Genre hält. Der für den Suspenseeffekt relevante Ausschnitt des Gesprächs wird in (102) dem Drehbuch folgend wiedergegeben. Sidney erklärt ihre Abneigung gegenüber diesem Genre so: (102) SIDNEY (playing along): Because they’re all the same. It’s always some stupid killer stalking some big breasted girl-who can’t act-who always runs up the stairs when she should be going out the front door. They’re ridiculous. 208 Sie unterhalten sich unbeschwert weiter, bis der Anrufer Sydney glaubhaft ver‐ mittelt, dass er sich in der Nähe der Villa befindet und dass er beabsichtigt, sie zu töten. Sie gerät in Panik und (103) RUNS UP THE STAIRS. The FIGURE right behind her. 209 Wenn der Rezipient seine frisch erhaltenen Genreinformation auf dieses audi‐ ovisuelle Textsegment überträgt, so sollte er bei der Rezeption von (103) zur 10 Inferenzen durch textuell etabliertes Wissen 206 <?page no="207"?> Inferenz gelangen, dass Sidney in die falsche Richtung und damit in ihr Ver‐ derben rennt. Wie es bei rezipientenseitigen Anreicherungen der mentalen Textweltrepräsentation in der Regel der Fall ist, besitzt auch diese prädiktive Inferenz einen hypothetischen Status, sie muss sich nicht bewahrheiten. So ist es auch hier der Fall, Sidney entkommt dem Killer. Im späteren Verlauf des Films feiert ein Klassenkamerad eine Party im Hause seiner Eltern, die an dem Abend nicht da sind. Die Mehrheit der Gäste ist bereits eingetroffen. Der Killer befindet sich auch im Haus. Die einzige, die ihn bemerkt hat, ist bereits tot. Sidneys Freund hat sie in einer vorangegangenen Szene zurückhaltend dazu gedrängt, ihren ersten geschlechtlichen Akt mit ihm zu vollziehen. Sie hat ihn zurückgewiesen. Jetzt ziehen sich Sidney und ihr Freund zurück in das Schlaf‐ zimmer der Eltern des Gastgebers. Sidney ergreift die Initiative und unterbreitet ihm den Vorschlag, dass sie jetzt miteinander schlafen. Es folgt eine Szene im Wohnzimmer, in der die übrigen Jugendlichen auf der Couch sitzen und sich Horrorfilme anschauen. Der rezipientenseitige Wissens‐ vorrat zu den genrespezifischen Regeln von Horrorfilmen wird ausgebaut. (104) a. STU: I wanna see Jamie Lee’s breasts. When do we see Jamie Lee’s breasts? RANDY: Not until TRADING PLACES in ’83. Jamie Lee was al‐ ways the virgin in horror movies. She didn’t show her tits until she went legit. BOY TEEN: No way. RANDY: That’s why she always lived. Only virgins can outsmart the killer in the big chase scene in the end. Don’t you know the rules? Stu finishes his beer. STU: What rules? Randy hits the pause button on the remote and stands in front of the television, explaining. RANDY: There are certain rules that one must abide by in order to successfully survive a horror movie. For instance: 1. You can never have sex. The minute you get a little nookie - you’re as good as gone. Sex always equals death. 2. Never drink or do drugs. The 10 Inferenzen durch textuell etabliertes Wissen 207 <?page no="208"?> 210 Craven, Scream, S. 75-76. 211 Craven, Scream, S. 77. sin factor. It’s an extension of number one. And 3. Never, ever, ever, under any circumstances, say „I’ll be right back.“ 210 Die Beschreibung der Konvention erklärt einerseits rückwirkend, warum Sidney dem Mörder beim ersten Versuch entkommen konnte (sie hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht ihren ersten Sex). Auf der anderen Seite versorgt es den Rezipienten erneut mit zusätzlichen Wissensschichten. Auf dieser Grundlage erhält die vorangegangene Einwilligungserklärung eine zusätzliche Implika‐ tion. Der Rezipient wird die negative prädiktive Inferenz herstellen, dass Sidney dem Killer zum Opfer fallen wird, sollte es tatsächlich zum Geschlechtsakt kommen. Die sexuelle Komponente der Liebe wird somit aufgeladen mit gen‐ retypischem Wissen. In der folgenden Szene wird im Wohnzimmer dieses Gen‐ rewissen noch einmal aufgenommen, um es im Anschluss Inferenz induzierend auszubeuten. (105) a. RANDY (pointing to TV): Look, here comes the obligatory tit shot. OTHER GUYS: Beautiful! Finally! b. Sidney pushes Billy off her as she pulls her shirt over her head. She fumbles with the clasp of her bra as the … CAMERA RUSHES IN on her breasts.  211 In (105a) wird das Wissen weiter ausgebaut, indem der mit Sünde und damit mit Tod gleichgesetzte obligatory tit shot in (105a) durch eine Dialogzeile besonderes Gewicht erhält. In der unmittelbar anschließenden Szene (105b) im Schlaf‐ zimmer erhalten Sidneys Brüste die volle Aufmerksamkeit der Kamera. Ein au‐ diovisuelles Stilmittel (der tit shot) wird hier also aufgeladen mit einer antizi‐ pationsrelevanten Wissensschicht. Damit erfüllt Sidney alle Textsortenkriterien, die das Überleben innerhalb der Textwelt eines Horrorfilms un‐ möglich machen. Der Rezipient konstruiert den hypothetischen Fakt, dass Sidney sterben wird. Dieser ereignisbezogenen prädiktiven Inferenz ordnet er eine hohe Glaubenswahrscheinlichkeit zu. Er wird gespannt sein, bis der hypo‐ thetische Status abgelöst wird durch ein textuelles Datum. 10 Inferenzen durch textuell etabliertes Wissen 208 <?page no="209"?> 212 Rowling, Harry Potter und der Gefangene von Azkaban, S. 240. 213 Rowling, Harry Potter und der Gefangene von Azkaban, S. 238. Komplexität und die Reihenfolge der Informationen. Die Inferenzen wären ohne kotextuell etabliertes Wissen nicht hergestellt worden. Isoliert ge‐ sehen hätten die Textsegmente keine prädiktiven Prozesse angeregt. Da also ein zusätzlicher Aufbau von Wissen durch zusätzliches Textmaterial notwendig ist, handelt es sich hier um einen komplexeren Fall als in den zuvor untersuchten Fällen. Die Komplexität führt dazu, dass jedes Beispiel aus mindestens zwei tex‐ tuellen Bestandteilen bestehen muss, die sich auf die lineare Zeichenkette ver‐ teilen. So kann zuerst das Wissen im Text etabliert werden, anschließend folgt ein weiteres Textelement, durch das die prädiktive Inferenz zustande kommt. Das Wissen kann allerdings auch textuell bereitgestellt werden, nachdem der Leser den Auslöser kennt. So tritt ein Diskurselement zunächst ohne Effekte in Er‐ scheinung und entfaltet rückwirkend sein inferentielles Potential. Das aus (99) abgeleitete Beispiel (106) soll dies verdeutlichen. Bis zu einem gewissen Grad sollte es möglich sein, Diskursmaterial zwischenzulagern, das keine Inferenz hemmenden Effekte besitzt. (106) a. Professor Trelawney verhielt sich die nächsten zwei Stunden bis zum Ende des Weihnachtsmahles fast normal. Zum Platzen voll und mit den Hüten aus den knallbonbons auf den Köpfen erhoben sich Harry und Ron als Erste von der Tafel [an der dreizehn Per‐ sonen sitzen]. 212 b. … c. [Professor Trelawney: ] [W]enn dreizehn bei Tisch sitzen, wird der Erste, der sich erhebt, sterben. 213 Im Text aufgebautes Wissen, das nicht explizit ist. In der Regel entstehen Wissensrahmen und ihre interne Strukturierung durch textuelle Übermittlung oder durch rekurrente Erfahrungen, die zu einer kognitiven Einheit ver‐ schmelzen. Während im vorangegangenen Abschnitt jeweils das inferenzrele‐ vante Wissen explizit durch den Text mitgeteilt wurde, wird im Folgenden die zweite Möglichkeit beschrieben, was zunächst am Beispiel von Scream ge‐ schieht. Auf der Grundlage der ersten Szene kann der Rezipient ein mentales Modell konstruieren, das in Anschlussszenen bestimmte Inferenzen erlaubt. 10 Inferenzen durch textuell etabliertes Wissen 209 <?page no="210"?> 214 Vgl. Craven, Scream, S. 1-13. 215 Vgl. Craven, Scream, S. 23-26. 216 Vgl. Engel (2008), S. 6-7. (107) Casey wird von einer unbekannten Person angerufen. Sie ist im Tee‐ nageralter und lebt in einer abgelegenen Villa mit ihren Eltern, die an diesem Abend nicht zuhause sind. Der Anrufer stellt ihr Fragen wie Do you like scary movies? und What’s your favorite scary movie? . Nach kurzer Zeit droht er ihr, dass sie sterben wird, falls sie auflegen sollte. Der Anrufer sagt, dass er in der Nähe sei, und macht dies unter an‐ derem glaubhaft, indem er sie fragt, was sie sehe, als sie gerade einmal aus dem Fenster schaut. Kurz darauf dringt er in ihr Haus ein und tötet Casey. 214 Die Gesamtsituation (Anruf, Fragen, Lebensumstände etc.) wird durch (107) mit dem Mordrahmen verknüpft. Diese Verknüpfung wird in einer der folgenden Szenen ausgenutzt. (108) Das Telefon klingelt. Eine andere weibliche Figur, Sidney, erhält den Anruf. Der Anrufer und die Art des Anrufs stimmen mit der aus der Mordszene überein. Es ist Nacht, Sidney wohnt in einer abgelegenen Villa mit ihren Eltern, die nicht zuhause sind. Zum Teil decken sich Fragmente des Gesprächs wortwörtlich. 215 Nachdem der Rezipient (107) gesehen hat, sollte er bei jedem weiteren Telefon‐ anruf den beschriebenen Mord mit den Umständen abrufen und diese auf die neu einlaufende Situation übertragen. Der Rezipient kann bei der anschließ‐ enden Rezeption von (108) den hypothetischen Fakt inferieren, dass die Ange‐ rufene sterben wird. Engel beschreibt diese Fälle in Anlehnung an das Pawlow’sche Konditionie‐ rungsmodell. Ein neutraler Reiz tritt (regelmäßig) in einem bestimmten Kontext auf. Das führt dazu, dass der neutrale Reiz Reaktionen hervorruft, die er ohne die systematische Einbettung in einen neuen Zusammenhang nicht hervorge‐ rufen hätte. 216 In dieser Arbeit wird eine kognitive Beschreibung präferiert. Der Rezipient konstruiert eigenständig einen speziellen textweltbezogenen Wissensrahmen, der auf einer textuell etablierten Handlungsfolge basiert (es handelt sich um ein textweltbezogenes Skript). Sobald eines der Elemente im Folgetext auftaucht, 10 Inferenzen durch textuell etabliertes Wissen 210 <?page no="211"?> 217 Vgl. Engel (2008), S. 6-7. wird der Wissensrahmen abgerufen. Sobald also in (108) das Wissen durch das Klingeln des Telefons zugänglich gemacht wird und auf die Szene übertragen wird, vollziehen sich zwei Prozesse. Während die Leerstelle des Täters durch den Anrufer bereits in der ersten Szene besetzt wurde, füllt der Rezipient die Leerstelle des Opfers mit der angerufenen Figur. Im Anschluss konstruiert der Rezipient die hypothetische negative Konsequenz, dass die angerufene Figur ermordet wird. Durch die weiteren Übereinstimmungen wird die Wahrschein‐ lichkeit der negativen Konsequenz verstärkt. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Fall die Induktion. So werden Einzelfälle verallgemeinert und führen in der jeweiligen Textwelt zur Antizipation be‐ stimmter Ereignisse. Zwei gleichzeitig auftretende Elemente in der Textwelt können bei einer nachfolgenden Wiederholung eines der Elemente eine rezipientenseitige Inferenz bewirken. Im Falle der Spannung handelt es sich bei dieser Inferenz typischerweise um eine negative prädiktive Inferenz, die einen hypothetischen Charakter besitzt. Dass das Wissen bereits beim einmaligen Auftreten zu einer Einheit ver‐ schmolzen werden kann, basiert auf der Annahme, dass der Rezipient die Text‐ organisation als kompositorisch begreift. Deshalb bemüht er maximalinduktive Strategien, bei denen bereits aus einem einzigen vorherigen Auftreten verall‐ gemeinernd geschlossen wird. Diese Form der textbasierten Wissensanreicherung ist nicht an spezielle Ge‐ gebenheiten gebunden und kann neben der Aufladung von Entitäten innerhalb der Textwelt auch andere Aspekte betreffen. So können auch stilistische Aspekte mit zusätzlichen Wissensschichten aufgeladen werden und damit ein inferen‐ tielles Potential erlangen, das sie isoliert nicht besessen hätten. Engel führt diesen Fall am Beispiel Der weiße Hai aus. Sollte ein Filmabschnitt ein idyllisches Urlaubsparadies zeigen, könnte eine zunächst neutrale oder positive Einschät‐ zung verdrängt werden durch die Titelmusik von Der weiße Hai, der Rezipient würde Rezipient mögliche Gefahren konstruieren. 217 In der psycholinguistischen Forschung wird gefordert, dass es bei der Kon‐ struktion einer ereignisbezogenen prädiktiven Inferenz einen suffizienten Kon‐ text gibt. Würde der Kontext wegfallen, so käme es nicht zu dem darauffol‐ genden Ereignis (siehe Absatz 4.3.2). Das letzte Beispiel zeigt, dass diese Art prädiktiver Inferenzen auch konstruiert werden können, wenn diese Kontexte nicht bestehen. Das gilt nicht nur für den Fall, dass der Rezipient selbstständig textimmanente Ereignisfolgen konstruiert wie auf der Basis von (107). Es gilt 10 Inferenzen durch textuell etabliertes Wissen 211 <?page no="212"?> auch in Fällen wie (100), (101) und (102), in denen der Text Zusammenhänge explizit beschreibt. Inferenzen auf der induktiven Metaebene. In einer abstrakteren Ausprä‐ gung findet man die induktive Spannungssteigerung in dem oscarprämierten Film Slumdog Millionär. (109) Die beiden Protagonisten schlittern von einer bedrohlichen Situation in die nächste. Neu eingeführte Figuren bestehlen sie, an allen Orten lauern Gefahren, die sich kontinuierlich steigern: Von der anfängli‐ chen Bedrohung, verprügelt zu werden, über den Versuch, ihnen das Augenlicht zu nehmen, bis hin zu der Absicht, sie zu töten. Irgendwie schaffen die zwei Hauptfiguren es, sich aus all den Schwierigkeiten zu befreien. Diesmal springen sie vor einem skrupellosen Kriminellen flüchtend auf einen fahrenden Zug, von dem weder der Zuschauer noch die Figuren wissen, was sie dort erwarten wird. Sie klettern in ein Abteil, in dem ältere Männer sitzen. Als Zuschauer fragt man sich, ob sie sich wieder in Gefahr befinden. Denn bis zum jetzigen Augenblick war jede Folgeszene von jeweils intensiveren Schick‐ salsschlägen gegen die Protagonisten geprägt. Die Zuschauer werden diese Kontinuität induktiv übertragen auf jede neue Szene, jede neue Figur und jeden neuen Ort. Sie werden diese Diskurseinheiten als Quell möglicher Gefahr re‐ präsentieren und gespannt ihre antizipierenden Suspensehypothesen über‐ prüfen. Curiosity-Effekte, die auf textuell aufgebautem Wissen über die Text‐ welt basieren. Während die Beispiele (99) bis (109) mit einem Suspense-Effekt einhergehen, steht in diesem Abschnitt das Curiosity bei textweltspezifischem Wissen im Mittelpunkt. Die bisher gegebene Charakterisierung vom Curiosity zeigt, dass sich diese Art der Spannung durch die rezipientenseitige Konstruktion einer U R‐ S ACHE -Leerstelle ergibt, die auf einer Abweichung vom prototypischen Wissen beruht (gemeinsam mit der Annahme, dass alles einen Grund hat). Es gibt al‐ lerdings darüber hinaus auch die Möglichkeit, dass sich Informationen einer kausalen Einbettung widersetzen, die sich auf der Ebene der textweltspezifi‐ schen prototypischen Abläufe ansiedeln. Bei der Konstruktion eines mentalen Modells adaptiert der Rezipient die Ge‐ setze auf der Textweltebene und gelangt so zu werkimmanenten Prototypika‐ litätsannahmen. Sichtbar werden die Effekte dieses speziellen Wissens, wenn 10 Inferenzen durch textuell etabliertes Wissen 212 <?page no="213"?> 218 Funke, Tintenherz, S. 14. 219 Funke, Tintenherz, S. 14. Rezipienten mit isolierten Informationen aus der Textwelt konfrontiert werden. Sollten sie das im Text aufgebaute Vorwissen besitzen, so stellt sich der Curio‐ sity-Effekt ein. Verfügen sie nicht über das spezielle Wissen, so bleibt der Effekt aus. Eine isolierte Information ohne Textweltwissen hätte demnach keine oder andere Effekte als die gleiche Information, die in einen epistemisch angerei‐ cherten Kontext injiziert wird. (110) Meggie fiel auf, dass Mo zweimal abschloss. 218 (111) „Und du“, sagte er über die Schulter zu ihr, „du gehst schlafen, Meggie.“ Dann zog er ohne ein weiteres Wort die Tür der Werkstatt hinter sich zu. Meggie stand da und rieb die kalten Füße aneinander. Du gehst schlafen. Manchmal warf Mo sie aufs Bett wie einen Sack Nüsse, wenn es wieder mal zu spät geworden war. Manchmal jagte er sie nach dem Abendessen durchs Haus, bis sie atemlos vor Lachen in ihr Zimmer entkam. Und manchmal war er so müde, dass er sich auf dem Sofa ausstreckte und sie ihm einen Kaffee kochte, bevor sie schlafen ging. Aber nie, niemals zuvor hatte er sie so ins Bett geschickt wie eben. 219 Aus der Tatsache, dass es Meggie in (110) auffällt, dass Mo die Tür zweimal abschließt, kann der Rezipient schließen, dass es sich nicht um einen Normalfall handelt. Anderenfalls wäre es unbemerkt an der Figur vorbeigegangen. In (111) sticht das Textsegment du gehst schlafen, Meggie zunächst nicht besonders hervor. Im anschließenden Absatz wird es allerdings mit einer zusätzlichen Wissensschicht angereichert. Weil explizit darauf hingewiesen wird, dass es sich um einen außergewöhnlichen Fall handelt, verändert das Textsegment rück‐ wirkend sein Charakter. Innerhalb der Textwelt scheint es daher einen beson‐ deren Grund geben zu müssen. In beiden Fällen wird der Rezipient darauf auf‐ merksam gemacht, dass es einen Verstoß gegen die prototypischen textweltinternen Abläufe gibt, was nach einer Erklärung strebt und damit die U R S ACHE -Leerstelle öffnet. Isoliert betrachtet würden die Aspekte nicht auffällig sein, wenn jemand den Schlüssel im Schloss zweimal umdreht oder wenn jemand sein Kind auf die in (111) beschreibene Weise zu Bett schickt. Während die Information keine Re‐ aktionen hervorruft beim Leser, der mit der Textwelt nicht vertraut ist, generiert 10 Inferenzen durch textuell etabliertes Wissen 213 <?page no="214"?> der informierte Leser wie bei den oben genannten Beispielen die Abnormal-Hy‐ pothese. Auch bei diesem Typ konstruiert der Rezipient eine Diskursentität, die sich kausal nicht in eine kohärente mentale Textweltrepräsentation einbetten lässt. Diese kausale Inkompabilität inferiert er, indem er die beschriebenen Ereignisse mit dem (explizit oder implizit) aufgebauten Wissen über die Textwelt vergleicht (sowie mit seinem prototypischen Vorwissen). Der Rezipient sucht nach dem kausalen Verbindungsstück und tritt damit in die Spannungsphase. Die Spannung folgt hier allein aus der Nicht-Prototypikalität innerhalb der Textwelt. Ein Curiosity-Effekt ergibt sich, sobald der Rezipient die prototypisch Textwelt hinzuzieht, sobald er die Regelmäßigkeiten der Textwelt berücksich‐ tigt. Daraus ergibt sich eine Leerstelle und die damit verbundene Frage nach der Ursache. Der zuletzt beschriebene Fall ist komplexer als die zuvor beschriebenen Bei‐ spiele des Curiosities, da der Rezipient eine mentale Repräsentation der Textwelt konstruieren muss, bevor er die Slot-Inferenz herstellen kann. Zwischenfazit. In diesem Kapitel wurde gezeigt, dass unterschiedliche mit einer Geschichte verknüpfte Entitäten wie Figuren, Handlungen, Eigenschaften und Orte angereichert werden können mit textweltspezifischen Wissens‐ schichten, wobei auch Elemente aufgeladen werden können, die sich nicht auf der Ebene der mentalen Textwelt ansiedeln wie zum Beispiel stilistische As‐ pekte. Sie veranlassen den Rezipienten dazu, Inferenzen herzustellen, die er ohne dieses zusätzliche Wissen nicht generiert hätte und die mit einem Sus‐ pense- oder Curiosity-Effekt einhergehen. Dabei spielt das textweltbezogene Wissen nur dann eine Rolle, wenn allge‐ meines Wissen und spezielles Textweltwissen von einander abweichen, da beim gleichen Textsegment in Verbindung mit verschiedenen Wissensbeständen un‐ terschiedliche Reaktionen hervorgerufen werden. Zu übereinstimmenden kog‐ nitiven Effekten kommt es in denjenigen Fällen, in denen sich das allgemeine Wissen mit dem Wissen über die Textwelt deckt - ein Fall, der untergeordnet ist. Wenn zum Beispiel das Läuten eines Telefon auch außerhalb der Textwelt von Scream assoziiert werden würde mit einem Mord, dann wäre der Fall nicht nennenswert und der Rezipient hätte die negative Konsequenz in (107) und (108) bereits auf der Basis seines allgemeinen Wissens konstruieren können. Dabei wird vorausgesetzt, dass dem Rezipienten das inferenzrelevante Wissen zu‐ gänglich ist. Die zusätzlichen Wissensschichten können sich ausschließlich auf die Text‐ welt beziehen. Sie können sich aber auch auf spezialisiertes Fachwissen oder auf biographische Aspekte beziehen, die zwar in der Alltagswelt gelten, die aber nicht allgemein bekannt sind. Zum Teil werden sie explizit im Text formuliert, 10 Inferenzen durch textuell etabliertes Wissen 214 <?page no="215"?> zum Teil bildet der Rezipient ohne solche expliziten Textsegmente ein mentales Textweltmodell und überträgt dies an entsprechender Stelle. Es besteht die Möglichkeit, einen potentiellen Spannungsauslöser aufzugreifen, der seine Wir‐ kung erst dann entfaltet, wenn spezifisches Zusatzwissen nachgereicht wird. Da neben der Aufladung von Objekten eine Reihe weiterer Möglichkeiten existiert, textinterne Wissensbestände zu etablieren, handelt es sich bei der von Wulff beschriebenen Narrativization of Objects um einen Spezialfall, der einem allgemeineren Muster folgt. Dieses könnte man folgendermaßen formulieren: Beliebige Diskursentitäten werden mit textweltspezifischen Wissensschichten angereichert und erlauben deshalb Inferenzen, die sie isoliert gesehen nicht an‐ gestoßen hätten. 10 Inferenzen durch textuell etabliertes Wissen 215 <?page no="216"?> 11 Das Verhältnis von Textverstehensforschung und Spannungsforschung In Teil III wurde gezeigt, wie die Auslöser zentralen Spannungstypen sich aus einer verstehensorientierten, kognitionslinguistischen Perspektive beschreiben lassen. Zugleich wurde der Beitrag dieser Spannungstypen zur globalen Kohä‐ renz eines Textes verdeutlicht. In diesem Kapitel soll das dritte Hauptziel der Arbeit realisiert werden. Es wird herausgearbeitet, • welchen Beitrag die kognitionsorientierte Linguistik zur Erforschung von Spannung leisten kann und • welchen Beitrag die Erforschung von Spannung für diesen Bereich der Linguistik leisten kann. In Abschnitt 10.1 wird gezeigt, an welchen Stellen die Spannungsforschung von der Textverstehensforschung profitieren kann. Insbesondere betrifft das die Präzisierung und den Ausbau der mentalen Aktivitäten bei der Verarbeitung spannungsvoller Texte sowie einige linguistische Differenzierungsmöglich‐ keiten, die sich auch im Bereich der Spannungsanalyse anbieten. In Abschnitt 10.2 wird gezeigt, an welchen Stellen die Textverstehensfor‐ schung von Überlegungen zu Spannung profitieren kann. Dabei steht das Ver‐ hältnis zwischen einer rezeptionsbegleitenden und postrezeptiven Perspektive auf den Leseprozess im Mittelpunkt. 11.1 Wo die Spannungsforschung von der Textverstehensforschung profitieren kann Die mentalen Vorgänge beim Suspense, Curiosity und Puzzle. Die Span‐ nungsforschung hat die mentalen Aktivitäten des Rezipienten bisher nur sehr fragmentarisch untersucht. Diese Arbeit hat gezeigt, dass bei allen Spannungs‐ typen allgemeines oder textweltspezifisches Wissen zum Tragen kommt ge‐ meinsam mit den mentalen Operationen der Rezipienten, die von einer kon‐ struktivistischen Grundhaltung ausgehend eine textweltanreichernde Funktion besitzen und die sich unter Rückgriff auf die in Teil II erarbeiteten Begriffe be‐ schreiben lassen. <?page no="217"?> Beim Suspense steht nach Zillmann eine negative Konsequenz im Zentrum. Wie dieser negative Ausgang mental aus Wissen über Dinge, Handlungen etc. konstruiert wird, erklärt Wulff, der die kognitive Schematheorie auf die Film‐ rezeption anwendet. Die negative Konsequenz wurde in Anlehnung an den Psycholinguisten Campion als hypothetischer Fakt charakterisiert, die Span‐ nung ergibt sich hauptsächlich aus der Tatsache, dass der Rezipient den hypo‐ thetischen Status aufheben möchte. Beim Curiosity durchläuft der Rezipient mehrere aufeinander aufbauende Phasen. Erst konstruiert er eine durch den Text angestoßene mentale Repräsentation, die er anschließend mit seinem pro‐ totypischen Weltwissen konfrontiert. Lässt sich die mentale Textwelt kausal nicht mit seinen Wissensbeständen in Einklang bringen, so bildet er die Ab‐ normal-These, was ihn in die Phase der eigentlichen Spannung versetzt. Er wartet auf einen Füllwert für die U R S ACHE -Leerstelle, die sich aus ereignisori‐ entierten und psychischen Ursachen speisen kann. Das gespannte Warten auf die Antwort wird begleitet von Lösungsversuchen, bei denen neu einlaufende Informationen mit Vorwissen interaktiv zusammenwirken. Beim Puzzle schließt der Rezipient auf der Basis seines Wissens über die standardmäßige Organisa‐ tion von Texten, dass verschiedene zunächst unzusammenhängende Diskurs‐ segmente in Relation zueinander stehen und dass der Folgetext entsprechende Anschlussmöglichkeiten eröffnet. In der traditionellen Spannungsforschung wurden einzelne Bestandteile der gerade beschriebenen Auslöser zum Teil ansatzweise untersucht. In dieser Ar‐ beit kommt neben der kognitiven Beschreibung der Auslöser die Analyse der globalen Dynamik hinzu, die sich ebenfalls auf die in Teil II erarbeiteten Begriffe stützt. Beim Suspense trägt die negative Konsequenz maßgeblich dazu bei, weitere Textsegmente zu organisieren. Darunter fallen zum Beispiel Informationen, die die Umstände beschreiben, sowie Handlungen einzelner oder mehrerer zum Teil unabhängiger Figuren. Der Rezipient arbeitet darauf hin, den hypothetischen Status der negativen Konsequenz aufheben zu können. Der hypothetische Status der negativen prädiktiven Inferenzen bildet damit einen Rahmen, in dem ver‐ schiedene Informationen die Glaubenswahrscheinlichkeit abbauen oder ver‐ härten können. Beim Curiosity tastet der Rezipient neu einlaufendes Diskurs‐ material auf seine Verwertbarkeit zur Füllung der konstruierten Leerstellen ab. Der Rezipient kann Füllwerte konstruieren, die ebenfalls einen hypothetischen Status besitzen und die sich im weiteren Textverlauf als zutreffend oder unzu‐ treffend erweisen können. Beim Puzzle konstruiert der Rezipient ein inkohä‐ rentes mentales Textweltmodell. Anschließend korreliert er neu einlaufenden Text mit seiner bisher konstruierten mentalen Textweltrepräsentation und ver‐ 11.1 Wo die Spannungsforschung von der Textverstehensforschung profitieren kann 217 <?page no="218"?> sucht dabei, aktiv Zusammenhänge herzustellen, die ebenfalls einen hypothe‐ tischen Status besitzen und durch den Folgetext eindeutig bestimmt werden sollen. Ein Spannungsauslöser dient demnach bei allen drei Typen als inferentieller Bezugspunkt zur Verarbeitung lokaler und globaler (zum Teil diskontinuierli‐ cher) Diskurssegmente und besitzt damit eine kohärenzstiftende Funktion. Induktiv und abduktiv gestützte Spannung. Wenn der Rezipient auf der Basis von Textmaterial und Wissen bestimmte Leerstellen oder Kohärenzbrüche konstruiert, so operiert er in einem weiteren Schritt mit dem inferenziellen Pro‐ zess der Abduktion, um so Leerstellen in seiner mentalen Repräsentation zu sättigen oder mögliche Anschlussstellen zwischen unzusammenhängenden Dis‐ kurssegmenten zu etablieren. Im Falle des Suspense leitet der Rezipient auf der Basis von Textmaterial und Wissen verschiedene Prognosen ab, dabei folgt er induktiven Schlussmustern. Bei den drei Typen kann die Spannung durch weiteres induktiv oder abduktiv relevantes Diskursmaterial verstärkt werden. Im Text müssen weder die Ursachen und Zusammenhänge noch die negativen Konsequenzen den rezipientenseitigen Konstruktionsprodukten entsprechen. Weil diese Anreicherungen der Textwelt auf nicht-monotonen Schlussprozessen basieren, kann die tatsächliche Textwelt im Verlauf der Rezeption eine alterna‐ tive Form annehmen. Es gibt also induktions- und abduktionsbasierte Auslöser und Prozesse bei der Spannung. Deduktive Verfahren sind beim Spannungsaufbau ausge‐ schlossen, da diese Operationen zu sicheren Ergebnissen führen, was der Span‐ nung und den vom Rezipienten als unsicher erachteten Inferenzkonstrukten diametral entgegensteht. Spannungstypen und ihr Verhältnis zur mentalen Repräsentation. Sus‐ pense basiert auf der Konstruktion einer mentalen Textweltrepräsentation. Aus der im Text beschriebenen und kognitiv abgelagerten Situation wird eine ne‐ gative prädiktive Inferenz konstruiert, die als hypothetischer Fakt in die Text‐ welt integriert wird und die zugleich als lokaler und globaler Bezugspunkt für die Verarbeitung weiterer Diskurssegmente dienen kann. Während die Konstruktion eines mentalen Textweltmodells eine Vorausset‐ zung für den Suspense ist, setzen das Curiosity und Puzzles auf der verstehens‐ notwendigen Ebene an. Beim Curiosity ist die Konstruktion einer mentalen Textwelt gestört, da eine ungesättigte Leerstelle konstruiert wird. Der Rezipient wird von dem Wunsch geleitet, diese informationelle Lücken zu schließen und über diesen Zwischenschritt zu einer vollständigen mentalen Repräsentation zu 11 Das Verhältnis von Textverstehensforschung und Spannungsforschung 218 <?page no="219"?> gelangen. Beim Puzzle basiert die Spannung auf der Tatsache, dass die Kon‐ struktion einer kohärenten mentalen Repräsentation durch inkompatibles Dis‐ kursmaterial gestört wird. Die Spannung entsteht, weil der Textrezipient kon‐ struktivistischen Grundannahmen folgend mögliche Zusammenhänge erfahren möchte. Dabei stellt auch die Konstruktion von Inkohärenz eine rezipienten‐ seitige Leistung dar. Die Inkohärenz ergibt sich, wenn sich der Rezipient ver‐ gebens bemüht, neu einlaufendes Diskursmaterial mit der bereits etablierten mentalen Textweltrepräsentation zu korrelieren. Die beiden Typen ergeben sich aus dem rezipientenseitigen Wunsch nach Kohärenz und informationeller Voll‐ ständigkeit. Spannung auf Textwelt- und Textproduktionsebene. In bisherigen Studien wurde Spannung ausschließlich auf der Ebene der Textwelt bzw. auf der Ebene der mentalen Repräsentation beschrieben. Diesen Fall trifft man zum Beispiel im Bereich des Suspense und beim Curiosity an. Dass es sich bei dieser text‐ weltzentrierten Forschungsperspektive um eine unvollständige Sichtweise han‐ delt, zeigt zum Beispiel das pragmatische Inferenzen ausnutzende Spannungs‐ mittel des Puzzles, bei dem sich die Spannung ergibt aus dem Wissen der Rezipienten über Texte. Der Rezipient nimmt einen generellen Textproduzenten im Sinne von Busse an. Das schließt unter anderem die Annahme mit ein, dass der Text es erlaubt, eine kohärente mentale Textweltrepräsentation zu konstru‐ ieren. Der Rezipient versucht daher, inkompatibles Diskursmaterial in ein ko‐ härentes mentales Modell zu integrieren. Spannungsrelevantes Wissen und die Komplexität des Spannungsauf‐ baus. Da die Spannungsforschung sich bislang kaum mit den mentalen Kom‐ ponenten dieser Effekte beschäftigt hat, unterscheidet sie beim inferenz- und damit spannungsstimulierendem Wissen auch nicht zwischen prärezeptiv und rezeptionsbegleitend erworbenen Beständen. Beim prärezeptiven Wissen han‐ delt es sich überwiegend um allgemein unterstellte Zusammenhänge. Bei der zweiten Art des Wissensaufbaus handelt es sich um spezielleres Wissen. Der Rezipient konstruiert auf der Grundlage seines allgemeinen Wissens und auf der Basis des Textes ein spezielleres Textweltmodell, dass unter anderem text‐ weltspezifisch aufgebaute Standardannahmen berücksichtigt. Hängt die Spannungskonstruktion von im Vortext etablierten Elementen ab, so lässt sich auch von kotextsensitiver Spannungskonstruktion sprechen. Diese Fälle sind komplex, da sie ohne Vortext nicht zustande kämen. Inkomplexe Spannungstypen dagegen benötigen keinen Vortext. Suspense als Konstruktion einer negativen Konsequenz und das Curiosity als Konstruktion einer Leerstelle können als inkomplexere Fälle angesehen werden. 11.1 Wo die Spannungsforschung von der Textverstehensforschung profitieren kann 219 <?page no="220"?> 220 Aus der Unterscheidung in komplexe und inkomplexe Formen lassen sich praktische Tendenzen ableiten, was den Aufbau von Erzählungen angeht. Geht man von der An‐ nahme aus, dass es zunächst ein Hauptinteresse des Textproduzenten ist, den Rezipienten in die Geschichte hineinzuziehen, so ließe sich daraus schließen, dass zu Beginn eines Textes mit Spannung gearbeitet werden sollte, die kein textweltspezifisches Wissen voraussetzt. Bei den komplexeren Typen müsste der Rezipient zunächst Wissen aufbauen, was dazu führen könnte, dass der Leser verloren geht, bevor er richtig in der Geschichte angekommen ist. Im Suspense eingelagerte Zielhierarchien fallen unter die komplexeren Formen, da dort mindestens zwei Abschnitte nötig sind, ein Ziel etablierendes und ein handlungsbeschreibendes Textsegment. Auch bei Inkohärenz bzw. Puzzles werden mindestens zwei Elemente benötigt. Sie basieren auf einem Relevanz‐ bruch, der verschiedene prärezipierte Elemente voraussetzt, da Relevanz bei der Textrezeption eine Größe ist, die sich aus dem Verhältnis eines Diskursseg‐ mentes zu seinem textuellen Umfeld ergibt. Als relationaler Begriff würde Re‐ levanz ohne Ko(n)text sein Fundament verlieren. 220 Die zeitliche Dimension spannungsinduzierender Inferenzen. Als Span‐ nungsmittel auf der Produktionsebene erlaubt das Puzzle eine Ergänzung hin‐ sichtlich der zeitlichen Aspekte, die innerhalb des Spannungsforschung disku‐ tiert werden. In der traditionellen Spannungsforschung werden ausschließlich zukunfts- und vergangenheitsorientierte Zeitbezüge behandelt. Das Curiosity weist einen Vergangenheitsbezug auf, was auch mit der vorgeschlagenen kog‐ nitionsbasierten Beschreibung kompatibel ist. Demnach wird bei diesem Span‐ nungstyp eine Leerstelle für die Ursache konstruiert, der Begriff Ursache ver‐ weist auf ein vorangegangenes Ereignis, denn eine Ursache geht der Wirkung stets voran. Beim Suspense leitet der Rezipient auf der Basis seines Wissens negative Konsequenzen ab, damit weist dieser Spannungstyp einen zukunfts‐ bezogenen Charakter auf, was bereits durch den Begriff der Konsequenz deutlich wird. Spannung, die sich auf keine der beiden Dimensionen bezieht, wurde bei den Autoren bisher nicht beschrieben. In dieser Arbeit wurde das Puzzle in An‐ lehnung an Iser vorgestellt. Dieser Typ bleibt bei den zeitbezogenen Überle‐ gungen der Spannungsforscher unberücksichtigt, im Vergleich zu den anderen beiden Haupttypen besitzt das Puzzle einen zeitunabhängigen Charakter. Der Rezipient unterstellt, dass einzelne Textsegmente in Relation zueinander stehen, diese Annahme ist zeitlich nicht gebunden. 11 Das Verhältnis von Textverstehensforschung und Spannungsforschung 220 <?page no="221"?> 11.2 Wo die Textverstehensforschung von der Spannungsforschung profitieren kann In Teil II wird das Textverstehen beschrieben als die Konstruktion einer men‐ talen Repräsentation, die sich aus einer wiederholten Anwendung von kohä‐ renzetablierenden Inferenzen auf der lokalen und globalen Ebene ergibt. Die vorgestellten Modelle basieren hauptsächlich auf textverbindenden Inferenzen, d. h. auf rückwärtsgewandten Inferenzen, die lokale und globale Kohärenz her‐ stellen durch Verknüpfungen verschiedenster Art und auf diversen Ebenen wie der zeitlichen, kausalen etc. Dass der Rezipient textverknüpfende Inferenzen herstellen kann, ermöglichen ihm seine Wissensbestände sowie sein Wunsch, eine kohärente mentale Textweltrepräsentation zu erstellen - ein Wunsch, der sich aus der konstruktivistischen Annahme des search (or effort) after meaning ergibt. Dabei fokussieren Theorien, die die Verarbeitung umfangreicherer Texte beschreiben, entweder die Prozesse zur Verknüpfung zweier angrenzender Sätze, globale allein auf Handlungswissen basierende Inferenzen oder das Er‐ gebnis nach der abgeschlossenen Rezeption des vollständigen Textes. Sie kon‐ zentrieren sich dann auf postrezeptive Zustände statt auf die tatsächlichen Pro‐ zesse während der Rezeption. Dadurch vernachlässigen sie eine Reihe rezeptionsbegleitender Prozesse, die diese Arbeit bei der Beschäftigung mit Spannung sichtbar gemacht hat und die eine moderne Textverstehensforschung nicht ausblenden darf, wenn sie einen universellen Anspruch erhebt. Die Erforschung des Rezeptionsprozesses spannungsvoller Texte bedeutet die Erforschung von speziellen Inferenzen und Beschreibung ihrer Auswirkungen auf die Rezeption des nachfolgenden Textes. Diese Inferenzen entstehen auf der Grundlage des prototypischen Wissens und aus dem Wissen, das der Rezipient während der Lektüre aufgebaut hat. Im Mittelpunkt stehen dabei die Konstruk‐ tion einer negativen prädiktiven Inferenz auf Ereignisebene, die Aktivierung von Leerstellen und die vorläufige Unmöglichkeit unterschiedliche Textseg‐ mente in eine kohärente Repräsentation der Textwelt zu integrieren. Keine dieser Inferenzen spielt den klassischen Ansätzen zufolge eine besondere Rolle für das Textverstehen. Sobald ein inferentieller Raum mental konstruiert ist, lässt er sich durch neu einlaufende textuelle Segmente auf verschiedene Weise manipulieren. • Das Stimulusmaterial erlaubt im Rahmen des Curiosity und von Puzzles, Füllwerte und Zusammenhänge mit einem hypothetischen Status zu kon‐ struieren, deren Plausibilität durch zusätzliches Diskursmaterial abnimmt oder die durch zusätzliche textuelle Daten eine abduktive Stützung er‐ fahren, ohne den hypothetischen Status vollends aufzuheben. 11.2 Wo die Textverstehensforschung von der Spannungsforschung profitieren kann 221 <?page no="222"?> 221 Genau genommen bewegt sich dieser Aspekt ebenfalls im Rahmen einer bereits kon‐ struierten Inferenz und müsste daher dem vorangegangenen Punkt untergeordnet werden. Wegen seines zentralen Status’ wird er allerdings ausgelagert und bekommt einen eigenen Platz auf der höchsten Hierarchieebene. • Das Stimulusmaterial erlaubt nach der Konstruktion einer negativen prä‐ diktiven Inferenz, - die Wahrscheinlichkeit negativer Ausgänge inferentiell zu ver‐ stärken, - die Konstruktion positiver Ausgänge zu ermöglichen, - Zielhierarchien global zu organisieren, die einzelne, zum Teil unab‐ hängig von einander operierende Figuren betreffen. • Das Stimulusmaterial erlaubt zusätzlich, Auflösungsmöglichkeiten zu eli‐ minieren, was gescheiterte Figurenhandlungen auf der Handlungsebene ebenso miteinschließt wie gescheiterte Konstruktionsversuche von Füll‐ werten beim Curiosity und von Zusammenhängen beim Puzzle auf der Seite des Rezipienten. 221 Somit besitzen spannungsinduzierende Inferenzen unter anderem eine kohä‐ renzstiftende Funktion auf lokaler und globaler Ebene, die in der Textverste‐ hensforschung bislang unberücksichtigt blieb und die in dieser Arbeit durch die Beschäftigung mit dem Phänomen Spannung offengelegt werden. Würde der Rezipient die Textsegmente nicht auf die inferierten Wissenselemente beziehen, so würden sie in seiner mentalen Textweltrepräsentation zerfasert nebenei‐ nander koexistieren, was gegen das Kohärenzbestreben des Rezipienten spricht. Die Verarbeitung neu einlaufenden Diskursmaterials wird gesteuert über ihren möglichen Beitrag, die Spannung aufzulösen und nicht - wie in Textvers‐ tehenstheorien üblichlicherweise angenommen - über ihren Beitrag kausal-strukturierte Handlungsverläufe (wie es sowohl Black und Bower als auch Broek sowie Suh und Trabasso beschreiben) zu konstituieren. Eine spannungszentrierte Untersuchung verdeutlicht darüber hinaus, dass auch Diskursabschnitte wichtig für die Rezeption sein können, die nicht dazu dienen, eine handlungsgestütze mentale Repräsentation zu etablieren. Statt‐ dessen fungiert dieses Textmaterial als Spannungsauslöser oder stellt dem Leser Diskurssegmente bereit, die er auf eine bereits etablierte Anreicherung der Textwelt beziehen kann - beides, um den Rezipienten an den Text zu binden. Die tatsächliche Verarbeitung vieler Diskursabschnitte hängt also maßgeblich von ihrer Relevanz für die Auflösung der Spannung ab bzw. davon, ob sie den hypothetischen Status von negativen Konsequenzen aufheben können, ob sie eine kausale Leerstelle füllen können oder ob sie Kohärenzbrüche eliminieren 11 Das Verhältnis von Textverstehensforschung und Spannungsforschung 222 <?page no="223"?> können. Ob dieses Material für die postrezeptiv gespeicherte Kausalkette rele‐ vant ist oder nicht, ist während der Rezeption zunächst unerheblich. Damit wird eine weitere Dimension innerhalb der Textverstehensforschung beigesteuert, die nicht so sehr auf das postrezeptive Ergebnis vollständig rezipierter Texte abzielt, wie es in den Studien der Textverstehensforscher postuliert wird. Alternativ werden kognitive Zwischenschritte skizziert, die auf dem Weg zur vollständigen Textweltrepräsentation liegen. 11.2 Wo die Textverstehensforschung von der Spannungsforschung profitieren kann 223 <?page no="224"?> 12 Abschlussbemerkung Das Ziel dieser Arbeit war es, das Verhältnis zwischen der Spannungsforschung und Textverstehenstheorien zu bestimmen. Dabei standen der Suspense, das Curiosity und Puzzles im Mittelpunkt der Untersuchung, weil diese drei Span‐ nungstypen in der Literatur als Hauptspannungstypen genannt werden, weil sie aus einer kognitionsorientierten Perspektive sehr fragmentarisch erforscht sind und weil alle drei einen globalen Charakter besitzen können, was ihnen eine zentrale Funktion bei der Rezeption umfangreicherer Texte zukommen lässt. Im Folgenden werden die drei zu Beginn dieser Arbeit formulierten Hauptziele noch einmal wiederholt. • Das erste Hauptziel bestand darin, die Auslöser der Spannungstypen Sus‐ pense, Curiosity und Puzzle aus der Perspektive der kognitionslinguisti‐ schen Textverstehenstheorie systematisch zu präzisieren. • Das zweite Hauptziel bestand darin, zu zeigen, dass spannungsauslösende Elemente als Grundlage für die Verarbeitung darauffolgenden Textmate‐ rials dienen können, was sowohl direkt angrenzende als auch weit über einen Text verstreute Diskurssegmente betreffen kann. • Das dritte Hauptziel bestand darin, herauszuarbeiten, - welchen Beitrag die verstehensorientierte Linguistik zur Erforschung von Spannung leisten kann und - welchen Beitrag die Erforschung von Spannung für diesen Zweig der linguistischen Forschung leisten kann. Dabei sollte gezeigt werden, dass beide Disziplinen eine Vielzahl von Implika‐ tionen für die jeweils andere besitzen und dass beide voneinander lernen und profitieren können. 12.1 Textverstehen Um sich den oben genannten Zielen anzunähern, wurden zunächst die zentralen Aspekte der Textverstehensforschung vorgestellt. In der modernen Textverste‐ henstheorie werden sprachliche Zeichen (zum Teil verschiedener Komplexi‐ tätsniveaus) als Orientierungspunkte angesehen, die es dem Rezipienten er‐ <?page no="225"?> lauben, Wissen zu aktivieren und Inferenzen herzustellen, auf deren Basis eine mentale Textweltrepräsentation entsteht. Wissen. Das Wissen wurde auf der Basis von Schema- und Frametheorien be‐ schrieben, indem die Ergebnisse verschiedener Forscher wie zum Beispiel Fill‐ more, Minsky, Rumelhart und Ortony und Barsalou sowie Schank und Abelson integrativ zusammengeführt werden. Wissen wird diesen Autoren zufolge in komplexen abstrakten Rahmen or‐ ganisiert, die aus prototypischen Leerstellen bestehen. Diese können mit pro‐ totypischen oder datenbasierten Füllwerten gesättigt werden. Die Wissens‐ rahmen lassen prädiktive Inferenzen zu. Prototypische Füllwerte und prädiktive Inferenzen besitzen beide einen hypothetischen Status und können durch neu einlaufenden Text ebenso aufgehoben und verdrängt werden wie der gesamte Rahmen. Die Schematheorie erlaubt es, mit ihrem universellen Anspruch, statische Entitäten wie Objekte, Personen und Textstrukturen abzubilden. Bei Ge‐ schichten zum Beispiel gibt es Leerstellen für Figuren, Orte und Zeiten. Darüber hinaus ermöglicht das Wissen, dynamische Entitäten zu repräsentieren wie Ziele und Handlungen sowie Ursachen und Wirkungen bei Ereignissen. Aus beiden Aspekten können sich textstrukturspezifische Erwartungen ergeben. Diese Theoriegruppe beschreibt Minsky zufolge den Common-Sense. Lokale und globale Inferenzen. In der Textverstehenstheorie spielt der Be‐ griff der Inferenz eine zentrale Rolle. Dabei handelt es sich um das Ergebnis einer rezipientenseitigen Aktivität, die maßgeblich bei der Bedeutungskonstitution und der Sprachverarbeitung insgesamt mitwirkt. Zunächst wurden bedeutungs‐ konstituierende Inferenzen auf der Wortebene mit dem Expliziten identifiziert, wobei auch auf dieser Ebene mentale Prozesse wie die Auswahl und Aktivierung der adäquaten Einheit des mentalen Lexikons eine entscheidende Rolle spielen. Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Inferenzen, die nicht auf der Wort‐ ebene ansetzen. Innerhalb dieser Gruppe von Inferenzen finden sich unter anderem elabora‐ tive Inferenzen. Statt einen Beitrag zur Kohärenz zu leisten, baut dieser Infe‐ renztyp die mentale Textweltrepräsentation aus. In diesem Bereich gibt es In‐ stantiierungen, bei denen die Textwelt um Instrumente ergänzt wird oder bei denen generelle Wörter eine inferentielle Einengung erfahren. Auf der anderen Seite siedeln sich prädiktive Inferenzen an. Diese basieren auf dem Kausalitäts‐ begriff von Mackie. Sie werden dauerhaft im mentalen Textweltmodell gespei‐ chert, sie können bei einer größeren Distanz zwischen Kontext und Inferenz evozierenden Satz auftreten und sie können von anderen prädiktiven Inferenzen 12.1 Textverstehen 225 <?page no="226"?> verdrängt werden, weshalb ihnen ein hypothetischer Status zugesprochen wird, dessen sich der Rezipient bewusst ist. Während es unklar ist, ob Instrumentin‐ ferenzen rezeptionsbegleitend hergestellt werden, hat sich dies im Bereich der Einengung und der prädiktiven Inferenzen in vielen Studien bestätigt. Von elaborativen Inferenzen werden die kohärenzstiftenden Inferenzen ab‐ gegrenzt. In diesen Bereich fallen einerseits Inferenzen, die die Verknüpfung einander angrenzender Sätze erlauben. Zu diesen lokalen Inferenzen zählen di‐ rekte und indirekte Anaphern sowie kausale Verknüpfungen, die ebenfalls unter den Begriff des Bridging fallen und im Vergleich zu den eher wortbezogenen Anaphern auf Satzebene hergestellt werden. Darüber hinaus gibt es prädiktive Inferenzen, bei denen entweder die Motivation einer Figur oder ein zukünftiges Ereignis rezipientenseitig hergestellt wird, um ein Textsegment auf lokaler Ebene in eine kohärente Textweltrepräsentation zu integrieren. Auf der anderen Seite erlaubt das Wissen über Ziele und Handlungen, Textsegmente zu organi‐ sieren, die umfangreicher sind und nicht aneinander angrenzen. Dabei dienen explizit im Text verbalisierte Ziele und Teilziele dazu, Sätze zu integrieren, die gescheiterte und erfolgreiche Handlungen von Figuren beschreiben. Kohärenzstiftende Inferenzen sind rückwärts gerichtet und werden online hergestellt. Dass Inferenzen hergestellt werden, liegt an dem allgemeinen Leserziel, dem zufolge der Rezipient versucht, online eine kohärente kausal reflektierte Text‐ weltrepräsentation zu konstruieren. Neben den Inferenzen, die im Bereich der Textverstehenstheorie ausgeführt wurden, wurde ein Exkurs unternommen zu den drei klassischen Schlussver‐ fahren aus der Philosophie. In dieser Wissenschaftsdisziplin wird zwischen de‐ duktiven, induktiven und abduktiven Schlüssen unterschieden. Bei der Deduk‐ tion handelt es sich um ein sicheres Verfahren des Schließens, bei der Induktion werden Verallgemeinerungen vorgenommen und bei der Abduktion ist der Schluss auf die beste Erklärung charakterisierend. Während die Deduktion einen monotonen Charakter besitzt, sind induktiv und abduktiv gewonnene Schlussfolgerungen gehaltserweiternd. Der Grad ihrer Plausibilität und damit ihr Wahrheitswert können durch eine veränderte Datenlage variieren. Die klas‐ sischen Schlussfolgerungen wurden relativ isoliert beschrieben. Ihr Beitrag im Zusammenhang mit den übrigen inferentiellen Prozessen zeigte sich durch viele Schnittstellen bei der Analyse der Spannungstypen. Textweltrepräsentation. Um eine Textweltrepräsentation einer Geschichte zu erlangen, greift der Rezipient sowohl auf sein Wissen zurück als auch auf Infe‐ renzen, die die Textwelt ausbauen oder die Sätze und Textsegmente lokal und global verbinden. 12 Abschlussbemerkung 226 <?page no="227"?> Dem älteren Modell von Dijk und Kintsch zufolge konstruiert der Rezipient beim Lesen in zyklischen Verarbeitungsschritten eine Textbasis, bei denen Pro‐ positionen neu einlaufender Textsegmente in eine auf dem Vortext basierende Propositionsstruktur integriert werden. Während zunächst explizite Textver‐ knüpfungen im Zentrum standen, wurden in einer späteren Phase zunehmend wissensbasierte Inferenzen in die Analyse mit einbezogen. Jüngere Ansätze schließen hinsichtlich der textverknüpfenden Prozesse an Dijk und Kintsch an. Die ursprüngliche Version der Theorie wird allerdings nach und nach durch propositionsfreie Modelle ersetzt. Im Zentrum stehen dann kausalitätsbasierte Handlungs- und Ereigniszusammenhänge innerhalb eines Textes, wie sie im Bereich der globalen Inferenzen beschrieben werden. In einer Vielzahl von Studien wurde nachgewiesen, dass bei der Verarbeitung von Ge‐ schichten kausale Aspekte eine zentrale Rolle spielt. Mit seinem integrativen Modell baut Zwaan die kausalitätszentrierten An‐ sätze aus, indem er zeitliche und spatiale Aspekte in das Modell aufnimmt, die bis dahin unabhängig neben diesen Theorien existierten. Gemeinsam ergeben die Kausalität auf der Handlungs- und Ereignisebene, die zeitlichen und räum‐ liche Dimension Zwaan zufolge eine multi-level representation, die die Textwelt einer Geschichte darstellt. 12.2 Spannung Vorüberlegungen zur Spannung. Am Anfang der Spannungskonstruktion steht ein punktueller Auslöser, den Endpunkt stellt die Auflösung dar. Ge‐ meinsam handelt es sich um diejenigen Bestandteile, die einen Spannungsbogen konstituieren. Zwischen Auslöser und Auflösung siedelt sich die eigentliche Phase der Spannung an, in der auch Diskursabschnitte eingefügt werden können, die keinen Einfluss auf die Spannung besitzen. In dieser Arbeit wurde die Retardation als ein lokales und globales Element beschrieben - je nachdem, über welche Distanzen sich das eingelagerte Diskursmaterial erstreckt. Zugleich wurden retardierende Elemente als relational bestimmt, da ein solches Textseg‐ ment einen internen Spannungsbogen aufweisen kann, ohne sich auf die Span‐ nung eines anderen Diskursstrangs auszuwirken. Als Voraussetzung für die Konstruktion wird angenommen, dass der Rezi‐ pient der Realitätsillusion erliegt, was für „realistische“, historische und fantas‐ tische Texte gleichermaßen zutrifft. Realitätsnähe kann dadurch suggeriert werden, dass irrelevant erscheinende Details im Text auftauchen und dass text- 12.2 Spannung 227 <?page no="228"?> interne Gesetzmäßigkeiten konsistent eingehalten werden. Wenn stilistische Auffälligkeiten den Text durchdringen, so mindern sie die Realitätsillusion, der Rezipient fokussiert dann den Textproduzenten. Darüber hinaus wird der Aufbau von Spannung dadurch begünstigt, dass der Rezipient eine positive Re‐ lation zum Protagonisten etabliert hat. Spannung kann auf der lokalen und auf der globalen Ebene erzeugt werden. Spannungsbögen können verbunden sein, sie können sich überschneiden und sie können sich überlagern. Da es sich um rekursive Anordnungsmöglichkeiten handelt, kann es in Geschichten zu einem sehr komplexen Spannungsgefüge kommen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der globale Spannungsbogen einer Kurzgeschichte innerhalb eines 1.000 Seiten umfassenden Romans eine lokale Spannungskurve ergeben kann. Spannung wurde in Anlehnung an Ohler sowie Bordwell als intersubjektives Phänomen charakterisiert. Beide Autoren gehen davon aus, dass es sich bei den zugrunde liegenden Verarbeitungsmechanismen um eine klar bestimm- und be‐ schreibbare Menge handelt. Die Intersubjektivität wurde in dieser Arbeit da‐ rüber hinaus kognitionswissenschaftlich und psycholinguistisch gestützt. Minsky rechnet seine Theorie dem Bereich des Common-Sense zu, dem Inter‐ subjektivität zugrunde liegt. In der Psycholinguistik finden sich experimentelle Studien, deren Ergebnisse den Anspruch erheben, über die Versuchspersonen hinaus verallgemeinerbar zu sein und damit den intersubjektiven Status zusätz‐ lich untermauern. Da allerdings nicht jeder Rezipient in jeder Situation die glei‐ chen kognitiven Aktivitäten zeigt, handelt es sich bei der Annahme der Inter‐ subjektivität um eine Idealisierung. Sie abstrahiert einerseits von biographischen Wissensbeständen und Wissen über spezielle Fachbereiche. Die Aus‐ blendung dieser beiden Aspekte erweist sich als legitim, da Spannung auf fun‐ damentalem Wissen basiert. Andererseits darf nicht vergessen werden, dass das Ausbleiben der Spannungskonstruktion auch dadurch zustande kommen kann, dass der Rezipient keinem Realitätseffekt unterliegt oder keine Relation zu Fi‐ guren aufgebaut. Die geringe Anzahl der Forscher, die sich mit dem Phänomen Spannung aus‐ einandersetzen, stammt aus den verschiedensten wissenschaftlichen Diszip‐ linen. Das ist nicht verwunderlich, da es sich bei Spannung um ein modalitätsunabhängiges Phänomen handelt, wie es von Brewer und Lichtenstein explizit hervorgehoben wird. Sie stellt einen Spezialfall der Überlegungen von Johnson-Laird dar, demzufolge die Datenverarbeitung im Allgemeinen modali‐ tätsunspezifisch ist (auch Cognitive Commitment), was durch andere Kogniti‐ onswissenschaftler wie Minsky getragen wird und darüber hinaus durch die Ergebnisse von Baggett, Kendeou sowie Gernsbacher, Varner und Faust aus dem 12 Abschlussbemerkung 228 <?page no="229"?> Bereich der Textverarbeitungsforschung experimentell untermauert wurde. Die Annahme, dass Spannung modalitätsunspezifisch ist, besitzt zwei weitreichende Implikationen für diese Arbeit. Einerseits können neben schriftsprachlichen auch Beispiele anderer Modalitäten herangezogen werden. Andererseits dürfen die Ergebnisse anderer Disziplinen mit einbezogen werden werden. Bei der Analyse von Spannung muss die textuelle und die Rezipientenseite berücksichtigt werden. Auf beiden Seiten wurden in dieser Arbeit komplexi‐ tätsreduzierende Schritte durchgeführt. So wurden Rezipienten identische In‐ ferenzleistungen und identische Wissensbestände unterstellt. Diese erscheinen im Bereich der Spannungsforschung als hoch plausibel, da Spannung von fun‐ damentalen kognitiven Operationen und von allgemeinen Wissensbeständen abhängt (statt von speziellen Inferenzen und hoch spezialisiertem Fachwissen). Diese Idealisierung wird in der Spannungsforschung explizit vorgetragen, im Bereich der Textverstehenstheorien ist sie implizit enthalten, da sie auf Common Sense oder General Knowledge basieren - auf genau denjenigen Wissensbe‐ ständen also, die bei spannungsvollen Geschichten im Zentrum stehen. Durch diese Annahme wird zugleich ermöglicht, dass sich Spannung als ein intersub‐ jektives Phänomen beschreiben lässt. Auf der Seite der Textebene stand ebenfalls eine Komplexitätsreduktion an. So bieten schriftsprachliche Texte Busse zufolge eine reduzierte Kommunikati‐ onssituation, bei der von situationalen Aspekten weitestgehend abstrahiert wird, bei der allerdings Inferenzen mit einbezogen werden, die auf generellen Annahmen über den Textproduzenten basieren. Darüber hinaus sind Texte dieser Modalität grundsätzlich gegenüber anderen Modalitäten wie zum Beispiel dem audiovisuellen Text privilegiert, da sie eindimensional sind. In der Praxis zeigte sich allerdings, dass Beispiele aus dem audiovisuellen Bereich sich zum Teil als derart anschaulich erweisen, dass sie nicht ignoriert werden konnten. Die Komplexitätsreduktion wirkt sich auf den Umgang mit Beispielen aus. So werden die Beispiele zwar aus einer Vielzahl von Textsorten, Formaten und Medien herangezogen. Diese werden allerdings nicht notwendigerweise origi‐ nalgetreu übernommen, sondern auf verschiedene Art und Weise manipuliert, um Störfaktoren zu eliminieren, simultan vorkommende Spannungstypen zu zerschlagen und für die Analyse zu isolieren. Besonders bei der globalen Rolle der Spannung kommt es zur Verdichtung bei den Beispielen, um eine höhere Anschaulichkeit und eine größere Praktikabilität zu gewährleisten. Diese wis‐ senschaftstheoretischen Annahmen führen zum Teil zu einem Authentizitäts‐ verlust der Beispiele, der bewusst in Kauf genommen wird, da er ohne Einbüßen auf der evidentiellen Ebene einhergeht. 12.2 Spannung 229 <?page no="230"?> Suspense. Ausgangspunkt für die Suspenseanalyse in dieser Arbeit waren die Beschreibungen von Zillmann. Diesem Autor zufolge tritt dieser Spannungsef‐ fekt auf, wenn eine favorisierte Figur von negativen Konsequenzen betroffen ist, die aus der Rezipientensicht eine hohe Wahrscheinlichkeit besitzen, dass sie eintreten. Comisky und Bryant haben die zentrale Bedeutung des negativen Ausgangs experimentell bestätigt. Deshalb hat sich diese Arbeit im Rahmen des Suspense hauptsächlich auf die negative Konsequenz konzentriert. Mit seinen konstruktivistisch geprägten Arbeiten zum filmischen Suspense hat Wulff das Fundament gelegt für kognitionsbasierte Präzisierungen, die in der vorliegenden Arbeit unter Hinzunahme von linguistischen Textverstehens‐ theorien erfolgen. Bei Wulff entsteht der Suspenseeffekt, wenn das Textmaterial gemeinsam mit Frames die Konstruktion negativer Konsequenzen erlaubt, die ein kausales Feld konstituieren, wobei Relevanzerwägungen von Rezipienten es ermöglichen, dass Informationen zueinander in Bezug gesetzt werden. Ohler zufolge bildet die negative Konsequenz den Füllwert der Leerstelle O UTC OME FÜR D E N P R OTAG ONI S T E N . Diteweg und Tan beschreiben den Suspense als prädiktive Inferenz und ma‐ chen ihn durch diese terminologische Ergänzung zugänglich für die Begriffe, Modelle und Analysen aus dem Bereich der Textverstehensforschung, auf deren Grundlage die Ergebnisse von Wulff in dieser Arbeit präzisiert werden konnten. Dabei konnte gezeigt werden, dass bei Wulff eine Reihe von Voraussetzungen stillschweigend eingeflossen sind. So siedelt sich die prädiktive Suspense-Infe‐ renz auf der Ereignisebene an, sie wird online hergestellt und sie wird in die mentale Repräsentation integriert, wobei dem Rezipienten ihr Status als wis‐ sensbasierte Konstruktion bewusst ist, da sie auf einem nicht-monotonen Schlussprozess basiert. Durch den zentralen Status der Kausalität innerhalb der Textverstehenstheorie konnte begründet werden, warum der Rezipient negative Konsequenzen konstruiert und nicht alle möglichen anderen Inferenzen her‐ stellt. In Grundzügen deutet sich bei Wulff bereits an, dass die Suspense-Inferenz bei der Verarbeitung anschließend einlaufenden Diskursmaterials eine Rolle spielt. Einen kohärenzetablierende Funktion weist er dem Suspense allerdings nicht zu, sodass die prädiktive Inferenz weiterhin ihren elaborativen Status be‐ hält. In dieser Arbeit wurden die von Wulff skizzierten Art um weitere Möglich‐ keiten ergänzt, die es Rezipienten erlauben, Suspense-Inferenzen zu konstru‐ ieren. So kann es auch bei schwächeren Ursache-Wirkungsverhältnissen zur Konstruktion einer negativen Konsequenz führen, zum Beispiel wenn das Kau‐ salverhältnis durch Aberglaube begründet wird. In einem dritten Fall konstruiert der Rezipient auf der Grundlage des Texts zunächst eigenständig eine Ursache. 12 Abschlussbemerkung 230 <?page no="231"?> Daran anschließend inferiert er die negative Konsequenz und überträgt sie auf die Figuren, falls sie sich akut auf die zukünftige Handlung auswirken kann. Das Suspense auslösende Textsegment besitzt - anders als im Fall von Wulff und im Fall der abgeschwächten Kausalität - keinen Einfluss auf die Handlung. Nega‐ tive Konsequenzen werden also in drei Fällen vom Rezipienten genieriert: • bei „strikter“ Kausalität, • in schwächeren Fällen von Kausalität und • wenn der Rezipient eine Ursache inferiert und auf dieser Grundlage eine negative Konsequenz ableitet. Carroll und Sternberg beschreiben den Suspense unabhängig voneinander so, dass dieser Spannungstyp auf die zukünftige Entwicklung innerhalb der Text‐ welt abzielt. Dieser Aspekt ist in der von Zillmann angestoßenen, von Wulff der Textverstehensfoschung geöffneten und hier weiterentwickelten Analyse ent‐ halten. Dass beim Suspense Fragen im Zentrum stehen, so wie bei Carroll be‐ schrieben wird, wird zurückgewiesen mit dem Argument, dass Suspense ent‐ steht, wenn der Rezipient vom negativen Ausgang überzeugt ist. Dieses Argument stammt von Zillmann und wurde durch Comisky und Bryant expe‐ rimentell untermauert. Es lässt sich ebenfalls gegen die Analyse von Sternberg richten, der Suspense als Leerstellen beschreibt. (Stattdessen handelt es sich Ohler zufolge um einen Füllwert.) In der Forschung zum Suspense wurde bisher nur beschrieben, wie dieser Spannungstyp ausgelöst und eine negative prädiktive Inferenz rezipientenseitig konstruiert wird. Ihre kohärenzstiftende Rolle auf der globalen Ebene wird bei Junkerjürgen angedeutet, ohne dass er diesen Bereich weiter vertieft. Dieses Defizit wurde in dieser Arbeit behoben. So bietet die negative Konsequenz den Rahmen für die Anknüpfung an‐ schließenden Diskursmaterials, das weit über den Text verteilt sein kann und nicht direkt an das auslösende Segment angeschlossen sein muss. Eine negative Konsequenz ermöglicht unter anderem, dass der Rezipient globale Ziele kon‐ struieren kann. Diese Ziele erlauben es, im Text beschriebene Handlungen ein‐ zelner und mehrerer, zum Teil unabhängig voneinander operierender Figuren anzuschließen, die sich selbst in über- und untergeordnete Handlungsfolgen aufspalten können. Die Zielhierarchien, die in der Textverstehensforschung als Haupttyp globaler Inferenzen im Bereich von Geschichten beschrieben werden, werden ihrerseits eingebettet in einen übergeordneten globalen Suspense‐ rahmen und verlieren damit ihren Status als alleiniges Organisationsmittel von Geschichten. Zugleich verliert die prädiktive Inferenz ihren elaborativen Cha‐ 12.2 Spannung 231 <?page no="232"?> rakter, sie kann sich auf globaler Ebene als kohärenzstiftend erweisen. Die ne‐ gative Konsequenz dient als mentaler Bezugspunkt für • die Konstruktion von Zielen, • die Verarbeitung handlungsbeschreibender Sätze - einzelner Figuren, - verschiedener Figuren, die zum Teil unabhängig voneinander ope‐ rieren, - koordinierter Figuren, - untergeordnete Handlungen und gescheiterte Versuche von Figuren. • nicht handlungsbeschreibende Informationen, • diskontinuierlich und global verteiltes Diskursmaterial. Das gesamte Feld, das durch die negative prädiktive Inferenz geöffnet wird, re‐ agiert sensibel auf Folgeinformationen. So wird die Wahrscheinlichkeit ihres tatsächlichen Eintretens ständig mit dem neu einlaufendem Text korreliert und der zugeordnete Wert überprüft und angepasst. So kann neu einlaufendes Dis‐ kursmaterial zu einer Verstärkung führen, wenn mögliche Auflösungen elimi‐ niert werden, was unter anderem auf Figurenhandlungen zutrifft, die dazu dienen, die negative Konsequenz abzuwenden und dabei scheitern. Darüber hi‐ naus wurde der Suspense nach Hitchcock sowie Brewer neu eingeordnet. Statt einen eigenen Suspensetyp zu etablieren, wurde er als eine Möglichkeit der Verstärkung charakterisiert, die sich dadurch ergibt, dass einer Figur eine sie betreffende negative Konsequenz nicht bewusst ist und sie ihr daher stärker ausgesetzt ist. Außerdem gibt es den Fall, dass die negative Konsequenz abge‐ baut wird, wenn eine minimale Veränderung in der Textwelt es dem Leser er‐ laubt, innerhalb des negativen Rahmens die Möglichkeit eines positiven Aus‐ gangs zu konstruieren. So können neue Information zu einer Um- oder Neustrukturierung führen. Die negative Inferenz dient als globaler kognitiver Bezugspunkt. Da eine große Zahl nachfolgender Informationen sich nicht in eine kohärente Textwelt integ‐ rieren ließe ohne die negative Konsequenz, fallen sie (wie alle kohärenzstif‐ tenden Inferenzen) in den Bereich der on-line hergestellten Inferenzen. Curiosity: Die Konstruktion von Leerstellen. In der Literatur zum Curiosity finden sich ähnlich wie bei den anderen Spannungstypen nur wenige rudimen‐ täre Beschreibungsversuche. Sternberg zufolge handelt es sich beim Curiosity um Leerstellen, die sich auf die Vergangenheit beziehen und die in Form von Fragen paraphrasiert werden können. Der Rezipient generiert verschiedene Hypothesen, die zum Teil nicht gleichzeitig Bestand haben können. Er überprüft diese anschließend und ordnet ihnen verschiedene Glaubenswahrscheinlich‐ 12 Abschlussbemerkung 232 <?page no="233"?> keiten zu. Carroll kommt unabhängig von Sternberg hinsichtlich der zeitlichen Dimension zum gleichen Ergebnis. Darüber hinaus handelt es sich ihm zufolge um offene Ergänzungsfragen, bei denen sich verschiedene Möglichkeiten zur Beantwortung anbieten, die allein oder gemeinsam die Spannung auflösen können. Das Forscherteam um Brewer beschreibt das Curiosity als ein Mittel der Spannungserzeugung, bei der die tatsächliche Ereignisstruktur mit einem bedeutungsvollen Ereignis beginnt, das in der Darstellung des Geschehens zu‐ nächst nicht auftaucht. Der Leser verfügt allerdings über genug Informationen, um sich des Informationsdefizits bewusst zu sein, sodass seine Aufmerksamkeit auf das ausgelassene Ereignis gelenkt wird. In dieser Arbeit wurde das Curiosity als ein Spannungstyp bestimmt, bei dem es einen punktuellen Auslöser im Text gibt, der den Rezipient dazu veranlasst, eine Leerstelle innerhalb seines mentalen Textweltmodells zu öffnen. Die Leer‐ stellen ergeben sich aus Wissen über Geschichten und aus dem rezipientensei‐ tigen Wunsch, eine kausal reflektierte Textweltrepräsentation zu konstruieren. Hauptsächlich betreffen die Leerstellen Ursachen für im Text beschriebene Ereignisse oder die Motivation für textuell dargestellte Figurenhandlungen (action statements). Lässt sich ein Füllwert weder aus dem rezipientenseitigen Wissen noch aus dem Vortext generieren, so konstruiert der Rezipient entweder a) eine Z I E L -Leerstelle, wenn eine Handlung beschrieben wird, oder b) eine U R‐ S ACHE -Leerstelle, wenn ein Ereignis beschrieben wird. Die Leerstelle auf der motivationalen Ebene basiert auf der Annahme, dass Figurenhandlungen In‐ tentionalität zugrunde liegt. Die Leerstelle auf der Ereignisebene basiert auf der Annahme, dass jedem Ereignis eine Ursache zugrunde liegt. Darüber hinaus kann es zu Curiosity-Effekten kommen, wenn der Text prototypisch instanti‐ ierte Füllwerte aufnimmt und explizit zurückweist. Zum Teil ist es so, dass eine Reihe von Ereignissen auf eine Ursache zurückführbar sind oder dass eine Reihe von Handlungen auf eine Motivation zurückgehen. Brewer vernachlässigt in seinem ereignisgestützten Ansatz die motivationale Ebene des Curiosity. Die zeitliche Dimension der Beschreibung von Sternberg, von Carroll und von Brewer und Lichtenstein sind in dieser Arbeit angebotenen Analyse enthalten, da sowohl die Intention der Handlung als auch die Ursache der Wirkung zeitlich vorausgeht. Während Sternberg ganz allgemein von Hypothesen generieren spricht, werden in dieser Arbeit einige Präzisierungen vorgenommen. Durch den zent‐ ralen Stellenwert des Textstrukturwissens, in dem die Kausalität auf Ereignis- und Handlungsebene eine übergeordnete Rolle spielen, lässt sich zeigen, warum ausgerechnet die U R S ACHE - und Z I E L -Leerstelle konstruiert werden (und nicht 12.2 Spannung 233 <?page no="234"?> beliebige andere Leerstellen), das Textstrukturwissen bzw. die Kausalität fun‐ giert beim Curiosity daher als Filter. Zugleich kann gezeigt werden, dass es eine Verletzung der Prototypikalität vorliegen muss und dass es Wissensbeständen hinsichtlich der Kausaltität bedarf, damit der Rezipient die Leerstellen konstru‐ ieren kann. Sternberg verfügt anders als die kognitionslinguistische Textvers‐ tehenstheorie weder über ein ausgereiftes Modell der Leserziele noch über eine Theorie des Wissens. Sollte die Leerstelle nicht gesättigt werden, so konstruiert der Rezipient ab‐ duktiv einen oder mehrere Füllwerte und weist ihnen Glaubenswahrscheinlich‐ keiten zu. Die Leerstelle dient als globaler inferentieller Dreh- und Angelpunkt für die Verarbeitung von neu einlaufendem Diskursmaterial. Da konstruierte Füllwerte auf abduktiven Schlüssen basieren, besitzen sie einen hypothetischen Status. Während Sternberg ganz allgemein davon spricht, dass Glaubenswahrschein‐ lichkeiten zugeordnet werden, werden in dieser Arbeit einige Präzisierungen hinsichtlich der mentalen Prozesse vorgenommen. So konstruiert der Rezipient Füllwerte auf der Grundlage abduktiver Mechanismen. Der jeweilige Plausibi‐ litätsgrad ergibt sich dadurch, wie weitere Textsegmente einen Füllwert stützen. Die Glaubenswahrscheinlich ergibt sich aus Überlegungen, die aus der Wissen‐ schaftstheorie bekannt sind. So genießt ein Füllwert eine höhere Glaubens‐ wahrscheinlichkeit, wenn er sich dazu eignet, verschiedene Ereignisse oder Handlungen auf ein kausales Antezedens zurückzuführen. Je nach aktuellem Informationsstand variieren die Wahrscheinlichkeitswerte. Weil Textsegmente des Folgetextes auf eine Leerstelle bezogen werden, erhält das Curiosity eine kohärenzstiftende Kraft. Die damit verbundenen rückwärtsbezogenen Infe‐ renzen fallen in den Bereich der globalen Zusammenhänge. Damit werden Suspense-Inferenzen und die darin eingelagerten Zielhierar‐ chien um eine weitere Möglichkeit globaler Bezugselemente ergänzt. Wenn das neu einlaufende Diskursmaterial nicht mit der Leerstelle korreliert werden würde, ließen sich diese Textsegmente nicht integrieren, die mentale Textwelt‐ repräsentation würde sich als inkohärent erweisen. Puzzle. Es gibt Textelemente, die es dem Rezipienten nicht erlauben, sie mit vorangegangenen Diskurssegmenten zu verknüpfen. Dieser Fall wird bei dem Rezeptionsforscher Sternberg angesprochen. Zusammenhänge ergeben sich weder durch explizit verknüpfende Ausdrücke noch aus dem allgemeinen Wissen noch aus dem spezifischen textweltbezogenen Wissen. Wenn solche Textelemente auftauchen und wenn der Textrezipient davon ausgeht, dass der Text ein kohärentes Ganzes bildet (was bis auf seltene Ausnahmesituationen der Fall zu sein scheint), dann führen solche Elemente dazu, den Rezipienten in 12 Abschlussbemerkung 234 <?page no="235"?> Spannung zu versetzen. Den Versuch, kohärenzstiftende Inferenzen zu kon‐ struieren, beschreibt Iser als eine Kompositionsleistung. In dieser Arbeit wurde gezeigt, dass sich beim Puzzle Textsegmente unter‐ schiedlicher Komplexität der Integration in ein kohärentes Textweltmodell ent‐ ziehen können. Das gilt einerseits für einander angrenzende Sätze und ande‐ rerseits für weit über den Text verteilte Passagen mit umfangreichen zwischengelagerten Textsegmenten. Der Rezipient sucht sowohl im Fall der lo‐ kalen als auch im Fall der globalen Kohärenzbrüche nach impliziten und expli‐ ziten Anschlussstellen. Dabei kann der Text verschiedene Integrationsmöglich‐ keiten nahelegen, die jeweils mit unterschiedlichen Graden an Plausibilität einhergehen können. Der Rezipient inferiert mögliche Anschlusspunkte, die einen hypothetischen Status besitzen, da sie auf nicht-monotonen Schlussfol‐ gerungsprozessen basieren. Die Spannung bleibt erhalten, bis der Zusammen‐ hang hergestellt ist. Spannung durch spezielles Wissen aus dem Text. Neben spannungserzeu‐ genden Anreicherungen, die auf allgemeinem Wissen basieren, gibt es in Texten die Möglichkeit, dass der Text das entsprechende Wissen über die Textwelt be‐ reitstellt. Eine Variante führt Wulff in seinen Arbeiten unter dem Begriff Nar‐ rativization of Objects ein. Dabei wird ein Objekt im Text um weitere Wissens‐ bestände erweitert, die außerhalb dieser Geschichte nicht damit assoziiert werden. In dieser Arbeit wurde gezeigt, dass Wulff einen Spezialfall beschreibt, der sich aus einem übergeordneten Prinzip ergibt. Demnach können beliebige Dis‐ kursentitäten um weitere Wissensschichten ergänzt werden. Zusätzliche epis‐ temische Elemente können sich auf biographische Aspekte oder Fachwissen beziehen. Sie können allerdings auch ausschließlich für eine spezifische Text‐ welt gelten. So wurde in der vorliegenden Arbeit über den von Wulff skizzierten Fall hi‐ naus die Möglichkeiten aufgezeigt, dass Figuren, Handlungen, Orte und andere Entitäten mit Wissensschichten angereichert werden, wobei auch stilistische Aspekte einer solchen Anreicherung unterzogen werden können. Auf der Basis der neu gewonnenen Wissensbestände kann der Rezipient Inferenzen gene‐ rieren, die ohne Textweltwissen nicht zustande gekommen wären, wobei stets vorausgesetzt wird, dass dem Rezipienten das inferenzrelevante Wissen zu dem entsprechenden Zeitpunkt zugänglich ist. Wo die Spannungsforschung von der Textverstehenstheorie profitieren kann. Die mentalen Prozesse bei der Erzeugung von Suspense, Curiosity und Puzzles wurden bisher äußerst fragmentarisch erforscht, wenn ihnen überhaupt 12.2 Spannung 235 <?page no="236"?> wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Lediglich im Bereich des Sus‐ pense wurde überhaupt ein solcher Versuch unternommen. Dass die Span‐ nungstypen auf der globalen Ebene maßgeblich dazu beitragen, umfangreiche Passagen bis hin zu gesamten Texten zusammenzuhalten, wurde in der bishe‐ rigen Diskussion stark vernachlässigt. Es gibt induktions- und abduktionsbasierte Spannungstypen. Beim Suspense setzt ein induktiver Schluss ein, indem eine negative Konsequenz abgeleitet wird. Beim Curiosity versucht der Rezipient, abduktiv einen Füllwert zu gene‐ rieren. Beim Puzzle versucht der Rezipient, abduktiv einen Zusammenhang zwischen Diskursentitäten herzustellen. Bei allen Prozessen veranlasst ein punktueller Auslöser den Rezipenten dazu, die Textwelt anzureichen, was auf Wissen basiert, dass zum Teil innerhalb des Diskurses aufgebaut wurde. Dass sie im Bereich der Spannung Relevanz erhalten, liegt daran, dass es sich um unsichere Schlüsse handelt (anders als bei der Deduktion). Beim Suspense konstruiert der Rezipient ein mentales Modell und stellt auf dieser Basis eine prädiktive Inferenz her. Beim Curiosity und Puzzle dagegen ist die Konstruktion einer kohärenten Textwelt gestört. Entweder werden Zusam‐ menhänge nicht etabliert oder es fehlen kausale Antezedenten auf der Ereignisbzw. Handlungsebene. Der Suspense und das Curiosity sind inkomplexe Fälle von Spannung, weil sie durch jeweils ein Textsegment ausgelöst werden können. Beim Puzzle da‐ gegen benötigt man mindestens zwei Diskurselemente, dieser Spannungstyp erweist sich daher als komplexe Möglichkeit des Spannungsaufbaus. Gleiches gilt, sobald im Fall des Curiositys eine Leerstelle und beim Suspense eine nega‐ tive Konsequenz als globales Bezugselement für daran anschließende Diskurs‐ segmente etabliert wird. Diese erlauben einerseits, neu einlaufendes Textmate‐ rial mental zu organisieren. Andererseits können sie die Spannung intensivieren oder abschwächen. Wenn die Spannungserzeugung auf im Text aufgebauten Wissensschichten über die spezifische Textwelt basiert, so handelt es sich eben‐ falls um eine kotextsensitive Spannungskonstruktion. In der Literatur zur Spannung wurde bisher nur der Fall behandelt, bei dem Spannung durch Kausalität innerhalb der Textwelt erzeugt wird. Dieser Fall gilt für den Suspense und das Curiosity. Beim Puzzle dagegen, ergibt sich die Span‐ nung aus pragmatischen Überlegungen, die auf grundsätzlichen Annahmen über die Organisation von Texten basieren und bei dem der Rezipient annehmen sollte, das er von einem generellen Textproduzenten im Sinne Busses hervorge‐ bracht wurde. Sollte sich ein Diskurssegment selbst nach der vollständigen Re‐ zeption nicht in eine kohärente mentale Repräsentation der Textwelt integrieren 12 Abschlussbemerkung 236 <?page no="237"?> lassen, so würde dies dem Textproduzenten angelastet werden anstatt einer Textwelt internen Entität. In der bisherigen Forschung (und hier insbesondere bei Carroll sowie Stern‐ berg) wurde ausschließlich zwischen zukunfts- und vergangenheitsorientierten Möglichkeiten der Spannungserzeugung unterschieden. Der Suspense weist demnach auf ein nachfolgendes Ereignis. Dem Curiosity liegen Ursachen auf der Ereignis- und Handlungsebene zugrunde. Diese gehen ihren Wirkungen zeitlich voraus, was eine wesentliche Eigenschaft von Ursachen darstellt. In dieser Arbeit wurde gezeigt, dass es sich beim Puzzle um einen Typ handelt, der sich einer solchen zeitlichen Einordnung entzieht. Wo die Textverstehenstheorie von der Spannungsforschung profitiert. Die Analyse der verschiedenen Spannungsformen hat ergeben, dass die Span‐ nungsforschung zahlreiche Aspekte liefert, die in der Textverstehensforschung bislang unberücksichtigt blieben. Textverstehenstheorien fokussieren entweder die mentalen Operationen, die zur Integration einander angrenzender Sätze dienen. Oder sie konzentrieren sich auf die Textweltrepräsentation, die postrezeptiv gespeichert wird. Darüber hi‐ nausgehende zentrale Prozesse während der Rezeption werden dabei ausgeblendet. So gehen eine Reihe von rezeptionsbegleitenen Prozessen unter, die bei der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Spannung sichtbar werden und die in einer ausgereiften Textverstehenstheorie keinenfalls fehlen dürfen. Spannung entsteht durch Inferenzen, die auf dem prototypischen Wissen ba‐ sieren oder auf Wissensbeständen, die innerhalb der Textwelt explizit bereitge‐ stellt werden und ohne die anschließende spannungsauslösende Inferenzen nicht zustande kommen würden. Im Mittelpunkt stehen die Konstruktion einer negativen prädiktiven Inferenz auf Ereignisebene, die Aktivierung von Leer‐ stellen und die vorläufige Unmöglichkeit unterschiedliche Textsegmente in eine kohärente Textweltrepräsentation zu integrieren. In der traditionellen Text‐ verstehensforschung werden diese Aspekte vollständig ausgeblendet. Damit entgehen der Forschung im Bereich des Textverstehens eine Reihe zentraler rezipientenseitiger Prozesse, die in dieser Arbeit beschrieben wurden. So dienen Leerstellen und Kohärenzbrüche als Grundlage zur Verarbeitung neu einlaufenden Diskursmaterials, welches die Konstruktion und Plausibiltät von Füllwerten und Zusammenhängen ermöglicht, die solange einen hypotheti‐ schen Charakter besitzen, bis sie aufgelöst werden. Darüber hinaus entgeht der Textverstehensforschung die kohärenzetablie‐ rende Kraft prädiktiver Inferenzen, die in dieser Arbeit herausgearbeitet wurde. Auf der Grundlage des Textes konstruierte negative Konsequenzen erlauben es dem Rezipienten, direkt anschließende oder über weite Distanzen verteilte Text‐ 12.2 Spannung 237 <?page no="238"?> segmente zu integrieren. Dabei kann sich die vom Rezipienten angenommene Eintretenswahrscheinlichkeit eines Ereignisses verstärken oder verringern, wenn sich die Möglichkeit eines positiven Ausgangs abzeichnet. Darüber hinaus bietet die negative Konsequenz das Bezugselement für anschließende Figuren‐ handlungen, die sich auf verschiedenen Hierarchieebenen ansiedeln können und die es erlauben, erfolgreiche und gescheiterte Versuche auf den jeweiligen Stufen in die mentale Textweltrepräsentation zu integrieren. Die rezeptionsbegleitende Textverarbeitung folgt dem Wunsch die Spannung aufzulösen. Daher können sich Diskursabschnitte als rezeptionsrelevant er‐ weisen, die keine Bedeutung für die postrezeptiv repräsentierte Textwelt be‐ sitzen. Die Verarbeitung zielt also auf die Spannungsauflösung ab statt auf die Konstruktion einer handlungs- und ereignisbezogenen Kausalkette. Sie dient also nicht dazu, eine kausal-strukturierte Handlungs- und Ereignisfolge zu kon‐ struieren, die sich nach abgeschlossener Textrezeption als Ergebnis von post‐ rezeptiven Studien empirisch belegen lassen. Solange Versuche der Spannungsauflösung keinen Erfolg verzeichnen, werden neu einlaufende Informationen auf ihren möglichen Beitrag zur Auflö‐ sung der Spannung abgetastet. Ohne die in dieser Arbeit beschriebenen Span‐ nungstypen würden viele Texte in unzusammenhängende Diskurssegmente zerfallen. In dieser Arbeit wurde gezeigt, dass die Begriffe und Analysewerkzeuge der Textverstehenstheorien sich als unabdingbar erweisen, um zentrale Spannungs‐ phänomene umfassend beschreiben zu können. Ein bisher kaum erschlossenes Anwendungsfeld wurde durch diese Arbeit für die linguistische Forschung zu‐ gänglich gemacht. Dabei zeigte sich deutlich, welche eine explanative Kraft die linguistische Terminologie besitzt. Ausblick. Die Ergebnisse dieser Arbeit wurden theoretisch erzielt. Sie sind kompatibel mit dem, was die Forschung im Bereich der Spannung und des Text‐ verstehens ergeben hat. In den in dieser Arbeit angebotenen Analysen geht die Mehrheit der charakteristischen Eigenschaften auf, die in den verschiedenen Forschungsarbeiten zum Suspense und Curiosity herausgearbeitet wurden. Zu‐ gleich führen die unzähligen psycholinguistischen Studien, die im Bereich der lokalen und globalen kohärenzstiftenden Inferenzen durchgeführt wurden, zu der Generalisierung, dass Rezipienten textverbindende Inferenzen rezeptions‐ begleitend herstellen, was für alle Beispiele in dieser Arbeit gilt, die auf globaler Ebene Spannung analysieren. Darüber hinaus ergeben sich die in dieser Arbeit angebotenen Beschreibungen aus einer Common-Sense-Theorie des Wissens, die aus dem Bereich der kognitiv orientierten Forschungsbereiche stammt. Daher ist die Schlussfolgerung erlaubt, dass die in dieser Arbeit vorgestellten 12 Abschlussbemerkung 238 <?page no="239"?> Inferenzen tatsächlich online hergestellt werden. Dies wird auch dadurch be‐ günstigt, dass die Spannungserzeugung in der Regel auf fundamentalen Wis‐ sensstrukturen basiert statt zum Beispiel auf spezifischem Fachwissen. Zukünf‐ tige Projekte könnten allerdings die Frage in den Mittelpunkt rücken, wie die theoretisch gewonnenen Resultate dieser Arbeit experimentell sichtbar gemacht werden könnten. Um die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes zu reduzieren und damit die Annäherung an die Ziele dieser Arbeit zu erleichtern, wurden in dieser Arbeit einzelne Spannungstypen fein säuberlich aus dem Gesamtgefüge ge‐ trennt und einer isolierten Analyse unterworfen. Für die zukünftige Forschung könnte es sich als erstrebenswert erweisen, das Zusammenspiel und mögliche wechselseitige Effekte verschiedener Spannungstypen zu untersuchen. So könnten einerseits Feldstudien angelegt werden, die Verflechtungen, Ver‐ schmelzungen und Übergänge zwischen verschiedenen Spannungstypen inner‐ halb ausgewählter Werke aufzeigen. Andererseits würde es sich anbieten, psy‐ cholinguistische Studien durchzuführen, die das Zusammenspiel und die Wechselwirkung verschiedener Spannungstypen experimentell erforschen. So ließe sich unter anderem offenlegen, welche Arten von Spannung sich gegen‐ seitig kannibalisieren oder potenzieren. Der Untersuchung in dieser Arbeit wurden ausschließlich nicht wissen‐ schaftliche Texte zugrunde gelegt. Als Ergänzung könnte es sich daher anbieten, Spannung in wissenschaftlichen Texten in einem Projekt zu untersuchen. Dabei könnte unter anderem die Frage im Mittelpunkt stehen, ob und welche Span‐ nungstypen in diesen Texten eine Rolle spielen. Darüber hinaus drängt sich die Frage auf, welche praktischen Implikationen die in dieser Arbeit erzielten Ergebnisse für Journalisten, Schriftsteller, Bio‐ grafen, Drehbuchautoren, Regisseure, Produktionsfirmen und andere Akteure der Medienwelt besitzen. Dabei ginge es auch darum, wie man die Erkenntnise praxisorientiert aufbereiten kann, um sie optimal zugänglich und verwertbar zu machen. Im Idealfall ließe sich eine nachhaltige Brücke schlagen zwischen wis‐ senschaftlicher Forschung und der praktischen Arbeit in verschiedenen medi‐ alen Bereichen. 12.2 Spannung 239 <?page no="240"?> Literatur Alba, Joseph W. und Lynn Hasher. „Is Memory Schematic? “. In: Psychological Bulletin 93.2 (1983), S. 203-231. Anderson, A., Simon C. Garrod und Anthony J. Sanford. „The accessibility of pronominal antecedents as a function of episode shifts in narrative text“. In: Quarterly Journal of Experimental Psychology 35A (1983), S. 427-440. Anderson, Richard C. und Andrew Ortony. „On Putting Apples into Bottles. A Problem of Polysemy“. In: Cognitive Psychology 7 (1975), S. 167-180. Anderson, Richard C. u. a. „Instantiation of General Terms“. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior 15.6 (1976), S. 667-679. Anthony, Andrew. Bobby Fischer: from prodigy to pariah. U R L : http: / / www.theguar‐ dian.com / sport / 2011 / may / 15 / bobby-fischer-chess-downfall. (27. 04. 2012). Backus, Joseph M. „He came into her line of vision walking backward. Non-sequential Sequence Signals in Short Story Openings“. In: Language Learning 15 (1965), S. 67-83. Baggett, Patricia. „Structurally Equivalent Stories in Movie and Text and the Effect of the Medium on Recall“. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior 18 (1979), S. 333-356. Ballstaed, Steffen-Peter u. a. Texte verstehen, Texte gestalten. München: Urban & Schwar‐ zenberg, 1981. Barclay, J. Richard u. a. „Comprehension and Semantic Flexibility“. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behaviour 13 (1974), S. 471-481. Barsalou, Lawrence W. „Frames, Concepts, and Conceptual Fields“. In: Frames, Fields, and Contrasts. New Essays in Semantic and Lexical Organization. Hrsg. von Adrienne Lehrer und Eva F. Kittay. Hillsdale, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, 1992, S. 21-74. — „Perceptual symbol systems“. In: Behavioral and Brain Sciences 22 (1999), S. 577-660. — „Situated simulation in the human conceptual system“. In: Language and Cognitive Processes 18.5 / 6 (2003), S. 513-562. Barthes, Roland. „Der Wirklichkeitseffekt“. In: Das Rauschen der Sprache. Kritische Es‐ says IV. Hrsg. von Roland Barthes. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 164-172. Bartlett, Sir Frederic C. Remembering. A Study in Experimental and Social Psychology. Cambridge: Cambridge University Press, 1967. Bierwisch, Manfred. „Semantische und konzeptuelle Repräsentation lexikalischer Ein‐ heiten“. In: Untersuchungen zur Semantik. Hrsg. von Rudolf Ruzicka. Berlin: Aka‐ demie-Verlag, 1983. <?page no="241"?> — „Wörtliche Bedeutung - eine pragmatische Gretchenfrage“. In: Sprechakttheorie und Semantik. Hrsg. von Günther Grewendorf. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979, S. 119-148. Black, John B. Story Memory Structure. Dissertation. Stanford, 1978. Black, John B. und Gordon H. Bower. „Story understanding as problem solving“. In: Po‐ etics 9 (1980), S. 223-250. Bordwell, David. „Cognition and Comprehension. Viewing and Forgetting in Mildred Pierce“. In: Journal of Dramatic Theory and Criticism VI.2 (1992), S. 183-197. [Eine deutsche Fassung findet sich in Bordwell, David.„Kognition und Verstehen: Sehen und Vergessen in MILD RED PIERCE“. In: montage / av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 1.1 (1992), S. 5-24]. — Narration in the Fiction Film. Madison, Wisconsin: University of Wisconsin Press, 1985. Bordwell, David und Kristin Thompson. Film art. An Introduction. Internat. ed., 8. Boston: McGraw-Hill, 2008. Borringo, Heinz-Lothar. Spannung in Text und Film. Spannung und Suspense als Textver‐ arbeitungskategorien. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann, 1980. Boyle, Danny (Regie). Slumdog Millionär. Vereinigtes Königreich: Fox Searchlight Pic‐ tures, 2008, 120 Min. [Film]. Branigan, Edward. Narrative Comprehension and Film. London: Routledge, 1992. Brecht, Bertolt. „Über die Popularität des Kriminalromans“. In: Der Kriminalroman. Po‐ etik - Theorie - Geschichte. Hrsg. von Jochen Vogt. München: Wilhelm Fink, 1998, S. 33-37. Brewer, William F. „The Nature of Narrative Suspense and the Problem of Rereading“. In: Suspense. Conceptualizations, Theoretical Analyses, and Empirical Explorations. Hrsg. von Peter Vorderer, Hans J. Wulff und Mike Friedrichsen. Mahwah: Lawrence Erlbaum Associates, 1996, S. 107-127. Brewer, William F. und Edward H. Lichtenstein. „Stories are to entertain: A structural-af‐ fect theory of stories“. In: Journal of Pragmatics 6 (1982), S. 473-486. Brinker, Klaus. Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Me‐ thoden. 7., durchges. Aufl. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2010. Broek, Paul van den. „Network Representations of Causal Relations in Memory for Nar‐ rative Texts: Evidence From Primed Recognition“. In: Discourse Processes 16.1-2 (1993), S. 75-98. — „The causal inference maker: Towards a process model of inference generation in text comprehension“. In: Comprehension Processes in Reading. Hrsg. von D. B. Balota, G. B. Flores d’Arcais und K. Rayner. Mahwah, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, 1990, S. 423-443. Literatur 241 <?page no="242"?> Broek, Paul van den, Katinka Beker und Marja Oudega. „Inference generation in text comprehension: automatic and strategic processes in the construction of a mental representation“. In: Inferences during Reading. Hrsg. von Edward J. O’Brien, Anne E. Cook und Robert F. Lorch. Cambridge: Cambridge University Press, 2015, S. 94-121. Brown, Dan. Illuminati. 5. Auflage. Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe, 2003. Bryant, J. u. a. A systematic content analysis of eight decades of best-selling English-lang‐ uage mystery novels. Präsentation auf der Konferenz der Internationalen Gesellschaft für Empirische Literaturwissenschaft IGEL. Toronto, 2000. Buñuel, Luis (Regie). Das goldene Zeitalter. Frankreich: Le Vicomte de Noailles, 1930, 60 Min. [Film]. Busse, Dietrich. „Diskurslinguistik als Epistemologie. Das verstehensrelevante Wissen als Gegenstand linguistischer Forschung“. In: Methoden der Diskurslinguistik. Sprach‐ wissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene. Hrsg. von Ingo H. Warnke und Jürgen Spitzmüller. Berlin: de Gruyter, 2008. — Frame-Semantik. Ein Kompendium. Berlin: de Gruyter, 2012. — „Kommunikationsmodelle und das Problem des Sprachverstehens. Zur Verwendung technischer Metaphern in der Sprachwissenschaft“. In: Technik in Sprache und Lite‐ ratur. (Festschrift für Franz Hebel). Hrsg. von Rudolf Hoberg. Bd. 60. THD Schriften‐ reihe Wissenschaft und Technik. Darmstadt: Verlag der TH Darmstadt, 1994, S. 207-234. — Semantik. Paderborn: Fink, 2009. — Sprachverstehen und Textinterpretation. Grundzüge einer verstehenstheoretisch reflek‐ tierten interpretativen Semantik. Wiesbaden: Springer, 2015. [Stark erweiterte, über‐ arbeitete und aktualisierte Neuausgabe von: Dietrich Busse. Textinterpretation. Sprach‐ theoretische Grundlagen einer explikativen Semantik. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1991]. Büchler, Karl. „Die ästhetische Bedeutung der Spannung“. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 3 (1908), S. 207-254. Caron, Jean. An Introduction to Psycholinguistics. Harvester Wheatsheaf: New York, 1992. Carroll, Noël. „The Paradox of Suspense“. In: Suspense. Conceptualizations, Theoretical Analyses, and Empirical Explorations. Hrsg. von Peter Vorderer, Hans J. Wulff und Mike Friedrichsen. Mahwah, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, 1996a, S. 71-91. — The Philosophy of Horror. Or Paradoxes of the Heart. New York: Routledge, 1990. — Theorizing the Moving Image. Cambridge: Cambridge University Press, 1996b. Carré, John le. Der Nachtmanager. 3. Auflage. Berlin: List Taschenbuch, 2010. Literatur 242 <?page no="243"?> Carston, Robyn und Alison Hall. „Implicature and explicature“. In: Cognitive Pragma‐ tics. Hrsg. von Hans-Jörg Schmid. Berlin: de Gruyter, 2012, S. 47-84. Charles F. Schmidt, Natesa S. Sridharan und John L. Goodson. „The Plan Recognition Problem. An Intersection of Psychology and Artificial Intelligence“. In: Artificial In‐ telligence 11 (1978), S. 45-83. Chatman, Seymour. Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca: Cornell University Press, 1978. Chomsky, Noam. Rules and Representations. New York: Columbia University Press, 1980. Clark, Herbert H. „Bridging“. In: Thinking. Readings in Cognitive Science. Hrsg. von Philip N. Johnson-Laird und Peter C. Wason. Cambridge: Cambridge University Press, 1977a, S. 411-420. — „Inferences in Comprehension“. In: Basic Processes in Reading. Perception and Compre‐ hension. Hrsg. von David LaBerge und S. Jay Samuels. Hillsdale, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, 1977b, S. 243-263. Collins, Allan, John S. Brown und Kathy M. Larkin. „Inference in Text Understanding“. In: Theoretical Issues in Reading Comprehension. Perspectives from Cognitive Psychology, Linguistics, Artificial Intelligence, and Education. Hrsg. von Rand J. Spiro, Bertram C. Bruce und William F. Brewer. Hillsdale, New York: Lawrence Erlbaum As‐ sociates, 1980, S. 385-410. Comisky, Paul und Jennings Bryant. „Factors Involved in Generating Suspense“. In: Human Communication Research 9.1 (1982), S. 49-58. Conte, Maria-Elisabeth. „Textreferenten und Typen anaphorischer Wiederaufnahme“. In: Aspekte der Konnexität und Kohärenz von Texten. Hrsg. von Wolfgang Heydrich and János S. Petöfi. Hamburg: Buske, 1986, S. 1-15. Cook, Anne E., John E. Limber und Edward J. O’Brien. „Situation-Based Context and the Availability of Predictive Inferences“. In: Journal of Memory and Language 44 (2001), S. 220-234. Cooper, Merian C. und Ernest B. Schoedsack (Regie). King Kong [Film]. United States: Radio Pictures, 1933, 125 Min. Corbett, Albert T. und Barbara A. Dosher. „Instrument Inferences in Sentence Encoding“. In: Journal of Learning and Verbal Behavior 17 (1978), S. 479-491. Craven, Wes. Scream. Drehbuch. 1996. U R L : http: / / www.imsdb.com / scripts / Scream.html. (27. 04. 2012). Dijk, Teun A. van. Textwissenschaft. Tübingen: Niemeyer, 1980b. Dijk, Teun A. van und Walter Kintsch. Strategies of Discourse Comprehension. New York: Academic Press, 1983. Dijkstra, Katinka u. a. „Character and reader emotions in literary texts“. In: Poetics 23 (1994), S. 139-157. Literatur 243 <?page no="244"?> Diteweg, Gijsbert und Ed Tan. „Suspense, Predictive Inference, and Emotion in Film Vie‐ wing“. In: Suspense. Conceptualizations, Theoretical Analyses, and Empirical Explora‐ tions. Hrsg. von Peter Vorderer, Hans J. Wulff und Mike Friedrichsen. Mahwah, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, 1996, S. 149-188. Donnersmarck, Florian Maria Georg Christian Graf Henckel von (Regie). Das Leben der Anderen. Deutschland: Wiedemann & Berg u. a., 2006, 137 Min. [Film]. Dopkins, Stephen. „Representation of Superordinate Goal Inferences in Memory“. In: Discourse Processes 21.1 (1996), S. 85-104. Duffy, Susan A. „Role of Expectations in Sentence Integration“. In: Journal of Experi‐ mental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 12.2 (1986), S. 208-219. Dömer, Dietrich, Franz Reither und Thea Stäudel. „Emotion und problemlösendes Denken“. In: Emotion und Kognition. Hrsg. von Heinz Mandl und Günther Huber. München: Urban & Schwarzenberg, 1983, S. 61-84. Ellis, Bret Easton. American Psycho. London: Picador, 2011. Engel, Patrick. Spannung in verschiedenen Grundtypen der Detektivliteratur. Trier: Wis‐ senschaftlicher Verlag Trier, 2008. Engelkamp, Johannes und Thomas Pechmann. „Kritische Anmerkungen zum Begriff der mentalen Repräsentation“. In: Sprache & Kognition 7 (1988), S. 2-11. Evans, Vyvyan. A Glossary of Cognitive Linguistics. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2007. Evans, Vyvyan, Benjamin K. Bergen und Jörg Zinken. „The Cognitive Linguistics Enter‐ prise: An Overview“. In: The Cognitive Linguistics Reader. Hrsg. von Vyvyan Evans, Benjamin K. Bergen und Jörg Zinken. London: Equinox, 2006, S. 2-36. Evans, Vyvyan und Melanie Green. Cognitive Linguistics. An Introduction. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2006. Fill, Alwin. Das Prinzip Spannung. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen zu einem uni‐ versalen Phänomen. 2., überarbeitete Auflage. Tübingen: Narr, 2007. Fillmore, Charles J. „An Alternative to Checklist Theories of Meaning“. In: Proceedings of the First Annual Meeting of the Berkeley Linguistics Society. Berkeley: Berkeley Lingu‐ istics Society, 1975, S. 123-131. — „Frame Semantics“. In: Linguistics in the Morning Calm. Selected Papers from SICOL-1981. Hrsg. von The Linguistic Society Of Korea. Seoul: Hanshin Publishing Company, 1982, S. 111-137. [Wieder abgedruckt in Fillmore, Charles J. „Frame Se‐ mantics“. In: Cognitive Linguistics. Basic Reading. Hrsg. von Dirk Geeraerts. Berlin: de Gruyter, 2006, S. 373-400.] — „Frame Semantics“. In: Encyclopedia of Language & Linguistics. Hrsg. von Keith E. Brown. 2. Amsterdam: Elsevier, 2006, S. 613-619. — „Plädoyer für Kasus“. In: Kasustheorie. Hrsg. von Werner Abraham. Frankfurt am Main: Athenäum, 1971, S. 1-118. Literatur 244 <?page no="245"?> — „Scenes-and-frames semantics“. In: Linguistic Structures Processing. Hrsg. von Antonio Zampolli. Fundamental Studies in Computer Science 5. Amsterdam: North Holland Publishing, 1977a, S. 55-81. — „Schemata and Prototypes. Lecture notes of a symposium held at Trier University, 1977b“. In: Fillmore’s Case Grammar. A Reader. Hrsg. von René Dirven und Günter Radden. Heidelberg: Julius Groos Verlag. 1987, S. 99-106. Fillmore, Charles J. und Beryl T. S. Atkins. „Starting where the Dictionaries Stop: The Challenge of Corpus Lexicography“. In: Computational Approaches to the Lexicon. Hrsg. von Beryl T. S. Atkins und A. Zampolli. Oxford: Oxford University Press, 1994, S. 350-393. Fincher-Kiefer, Rebecca. „Encoding Differences Between Bridging and Predictive Infe‐ rences“. In: Discourse Processes 22 (1996), S. 225-246. Fitzek, Sebastian. Noah. Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe, 2013. Flemming, Ian. Casino Royale. New York: Macmillan, 1954. Fludernik, Monika. Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buch‐ gesellschaft, 2008. Follett, Ken. Die Säulen der Erde. Köln: Lübbe, 2010. — Pillars of the Earth. London: Penguin Books, 2010. Forster, Edward M. Aspects of the Novel. and related writings. London: William Clowes & Sons, 1974. Funke, Cornelia. Tintenherz. Hamburg: Cecilie Dressler Verlag, 2003. Fógany, Ivan und Judith Fógany. „Ein Messwert der dramatischen Spannung“. In: Zeit‐ schrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 1.4 (1971), S. 73-98. Garnham, Alan. „Instantiation of Verbs“. In: Quarterly Journal of Experimental Psychology 31.2 (1979), S. 207-214. Garrod, Simon C. und Anthony Sanford. „Interpreting Anaphoric Relations: The Integ‐ ration of Semantic Information while Reading“. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behaviour 16 (1977), S. 77-90. Garrod, Simon C. und Anthony J. Sanford. „Bridging inferences in the extended domain of reference“. In: Attention and performance IX. Hrsg. von Alan Baddeley und John Long. Hillsdale: Lawrence Erlbaum Associates, Inc., 1982, S. 331-346. Geeraerts, Dirk. „A rough guide to Cognitive Linguistics“. In: Cognitive Linguistics. Basic Reading. Hrsg. von Dirk Geeraerts. Berlin: de Gruyter, 2006, S. 1-28. Geis, Michael L. und Arnold M. Zwicky. „On Invited Inferences“. In: Linguistic Inquiry 2.4 (1971), S. 561-565. Gernsbacher, Marton A. „Comprehending Conceptual Anaphors“. In: Language and Cog‐ nitive Processes 6.2 (1991), S. 81-105. Literatur 245 <?page no="246"?> Gernsbacher, Marton A., Kathleen R. Varner und Mark E. Faust. „Investigating Diffe‐ rences in General Comprehension Skill“. In: Journal of Experimental Psychology: Le‐ arning, Memory, and Cognition 16 (1990), S. 430-445. Gerrig, Richard J. Experiencing Narrative Worlds. On the Psychological Activities of Rea‐ ding. New Haven: Yale University Press, 1994a. — „Suspense in the Absence of Uncertainty“. In: Journal of Memory and Language 28 (1989), S. 633-648. — „The Resiliency of Suspense“. In: Suspense. Conceptualizations, Theoretical Analyses, and Empirical Explorations. Hrsg. von Peter Vorderer, Hans J. Wulff und Mike Fried‐ richsen. Mahwah, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, 1996, S. 93-106. Gerrig, Richard J. und A. B. I. Bernardo. „Readers as problem-solvers in the experience of suspense“. In: Poetics 22 (1994), S. 459-472. Gilbert, Lewis (Regie). Moonraker. Vereinigtes Königreich: United Artists, 1979, 126 Min. [Film]. Givòn, Thomas. „Coherence in text, coherence in mind“. In: Pragmatics and Cognition 1 (1993), S. 171-227. Glen, John (Regie). James Bond 007 - Im Angesicht des Todes [Film]. Vereinigtes König‐ reich: MGM / UA Entertainment Company und United International Pictures, 1985, S. 131. Goetsch, Paul. „Leserfiguren in der Erzählkunst“. In: Germanisch-Romanische Monats‐ schrift 64 (1983), S. 199-215. Graesser, Arthur C., Haiying Li und Shi Feng. „Constructing inferences in naturalistic reading contexts“. In: Inferences during Reading. Hrsg. von Edward J. O’Brien, Anne E. Cook und Robert F. Lorch. Cambridge: Cambridge University Press, 2015, S. 290-320. Graesser, Arthur C., Murray Singer und Tom Trabasso. „Constructing Inferences During Narrative Text Comprehension“. In: Psychological Review 101.3 (1994), S. 371-395. Graesser, Arthur C. u. a. „Answers to Why-Questions Expose the Organization of Story Plot and Predict Recall of Actions“. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior 19.1 (1980), S. 110-119. Grice, Herbert P. Studies in the Way of Words. Cambridge, Massachusetts: Harvard Uni‐ versity Press, 1989. Gulino, Paul J. Screenwriting. The Sequence Approach. New York: Bloomsbury, 2009. Günther, Udo u. a. „Verarbeitungsökonomie der Kohärenzprozesse“. In: Kohärenzprozesse. Modellierung von Sprachverarbeitung in Texten und Diskursen. Hrsg. von Gert Rickheit. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1991, S. 243-297. Hall-Partee, Barbara. „Semantics - Mathematics or Psychology? “. In: Semantics from Dif‐ ferent Points of View. Hrsg. von Rainer Bäuerle, Urs Egli und Arnim von Stechow. Literatur 246 <?page no="247"?> Bd. 6. Springer Series in Language and Communication. Berlin: Springer-Verlag, 1979, S. 1-14. Hamburger, Käte. Die Logik der Dichtung. Stuttgart: Ernst Klett Verlag, 1957. Harman, Gilbert H. „The Inference to the Best Explanation“. In: Philosophical Review 74.1 (1965), S. 88-98. Harris, Robert. Ghost. München: Heyne, 2007. Hasubek, Peter. Die Detektivgeschichte für junge Leser. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, 1974. Hienger, Jörg. „Spannungsliteratur und Spiel. Bemerkungen zu einer Gruppe populärer Erzählformen“. In: Unterhaltungsliteratur. Zu ihrer Theorie und Verteidigung. Hrsg. von Jörg Hienger. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1976, S. 32-54. Hitchcock, Alfred (Regie). Frenzy. Vereinigtes Königreich: Universal Pictures, 1972, 116 Min. [Film]. Hobbs, Jerry R. „Abduction in Natural Language Understanding“. In: The Handbook of Pragmatics. Hrsg. von Laurence R. Horn und Gregory Ward. Blackwell Handbooks in Linguistics. Malden, Massachusetts: Blackwell, 2004, S. 724-741. Hopkins, Stephen u. a. 24. 1. Staffel. USA: 20th Television, 2001. [TV-Serie]. Hörmann, Hans. Meinen und Verstehen. Grundzüge einer psychologischen Semantik. 3. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988. Hübener, Gustav. Die stilistische Spannung in Miltons ’Paradise Lost’. Halle a. S.: Verlag von Max Niemeyer, 1913. Hühn, Peter. „Zu den Gründen für die Popularität des Detektivromans. Eine Untersu‐ chung von Thesen über die Motive seiner Rezeption“. In: Arcadia 12 (1977), S. 273-296. Ingarden, Roman. Vom Erkennen des Literarischen Kunstwerks. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1968. Iser, Wolfgang. Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 4. Aufl. München: Fink, 1994. — „Die Appellstruktur der Texte“. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hrsg. von Rainer Warning. München: Fink, 1975, S. 228-252. Jackendoff, Ray. Semantics and Cognition. Cambridge, Massachusetts: MIT-Press, 1983. Janich, Nina und Jens Runkehl. Werbesprache. Ein Arbeitsbuch. 6., durchges. und korr. Aufl. Mannheim: Narr, 2013. Jauß, Hans R. Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982. Jenzowsky, Stefan. „Suspense & Spannung im Spielfilm“. In: Medienwissenschaften: Re‐ zensionen / Reviews 13.1 (1996), S. 12-21. Johnson-Laird, Philip N. „Mental Models“. In: Foundations of Cognitive Science. Hrsg. von Michael I. Posner. Cambridge, Massachusetts: MIT-Press, 1993, S. 469-499. Literatur 247 <?page no="248"?> Jose, Paul E. und William F. Brewer. „Development of Story Liking: Character Identifi‐ cation, Suspense, and Outcome Resolution“. In: Developmental Psychology 20.5 (1984), S. 911-924. Junkerjürgen, Ralf. „Spannung und Medienwechsel“. In: Unterhaltung: Konzepte, Formen, Wirkungen. Hrsg. von Brigitte Frizzoni. Zürich: Chronos-Verlag, 2006. Junkerjürgen, Ralf. Spannung - Narrative Verfahren der Leseraktivierung. Eine Studie am Beispiel der Reiseromane von Jules Verne. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2002a. — „Spannung - was ist das? Mit einer Analyse von Joanne K. Rowlings Harry Potter und der Stein der Weisen (1997)“. In: Sprach-Welten der Informationsgesellschaft. Perspektiven der Philologie. Hrsg. von Dörte Bischoff und Joachim Frenk. Münster: LIT, 2002b, S. 99-108. Kafka, Franz. Der Verschollene. 1927. Kahnemann, Daniel. Thinking, Fast and Slow. London: Pinguin, 2011. Keenan, Janice M., Susan D. Baillet und Polly Brown. „The Effects of Causal Cohesion on Comprehension and Memory“. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior 23.2 (1984), S. 115-126. Keller, Rudi. Zeichentheorie. Zu einer Theorie Semiotischen Wissens. Tübingen: Franke, 1995. Kendeou, Panayiota. „A generel inference skill“. In: Inferences during Reading. Hrsg. von Edward J. O’Brien, Anne E. Cook und Robert F. Lorch. Cambridge: Cambridge Uni‐ versity Press, 2015, S. 160-181. Kiefer, Bernd. „Filmtheorie“. In: Reclams Sachlexikon des Films. Hrsg. von Thomas Koebner. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Reclam, 2007, S. 243-248. Klin, Celia M., Alexandria E. Guzmán und William H. Levine. „Prevalence and Persis‐ tence of Predictive Inferences“. In: Journal of Memory and Language 40 (1999), S. 593-604. Klin, Celia M. u. a. „Forward Inferences: From Activiation to Long-Term Memory“. In: Discourse Processes 27.3 (1999), S. 241-260. Knobloch, Silvia. „Suspense and Mystery“. In: Communication and Emotion. Essays in Honor of Dolf Zillmann. Hrsg. von Jennings Bryant, David Roskos-Ewoldson und Jo‐ anne Cantor. LEA’s Communication Series. Mahwah, New Jersey: Lawrence Earl‐ baum Associates, 2003, S. 455-460. Kullmann, Thomas. „Das quest-Motiv in der englischen Kinder- und Jugendliteratur“. In: Spannung: Studien zur englischsprachigen Literatur. Für Ulrich Suerbaum zum 75. Ge‐ burtstag. Hrsg. von Raimund Borgmeier und Peter Wenzel. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2001, S. 105-118. Lakoff, George. „The Invariance Hypothesis: is abstract reason based on image-schemas? “. In: Cognitive Linguistics 1.1 (1990), S. 39-74. Literatur 248 <?page no="249"?> Langacker, Ronald W. Foundations of Cognitive Grammar. Theoretical Prerequisites. Bd. 1. Stanford, California: Stanford University Press, 1987. Larsson, Stieg. Verblendung. München: Wilhelm Heyne Verlag, 2006. Lasch, Alexander und Alexander Ziem. Grammatik als Netzwerk von Konstruktionen. Sprachwissen im Fokus der Konstruktionsgrammatik. Bd. 15. Berlin: de Gruyter, 2014. Levinson, Stephen C. Presumptive Meanings. The Theory of Generalized Conversational Implicature. Cambridge, Massachusetts: MIT-Press, 2000b. Lewandowski, Theodor. Linguistisches Wörterbuch 2. 6. Auflage, unveränderter Nach‐ druck der 5., überarbeiteten Auflage. Heidelberg: Quelle & Meyer, 1994. Lewis, David K. Convention. A Philosohpical Study. Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1969. [Deutsch: Konventionen. Eine Sprachphilosophische Abhandlung. Berlin: de Gruyter, 1975]. Linke, Angelika und Markus Nussbaumer. „Rekurrenz“. In: Text- und Gesprächslinguistik: Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Hrsg. von Klaus Brinker, Armin Burkhardt und Gerold Ungeheuer. Berlin: de Gruyter, 2000, S. 305-314. Linke, Angelika, Markus Nussbaumer und Paul R. Portmann. Studienbuch Linguistik. 5., erweiterte Auflage. Tübingen: Niemeyer Max Verlag, 2004. Lodge, David. The art of fiction. New York: Viking, 1992. Long, Debra L. und Jonathan M. Golding. „Superordinate Goal Inferences: Are They Au‐ tomatically Generated During Comprehension? “. In: Discourse Processes 16.1-2 (1993), S. 55-73. Löbner, Sebastian. Semantik. Eine Einführung. 2., aktualisierte und stark erweiterte Auf‐ lage. Berlin: de Gruyter, 2015. Mackie, John L. The Cement of the Universe. A Study of Causation. Reprint in Paperback. Oxford: Oxford University Press, 1980. Magliano, Joseph P., Katinka Dijkstra und Rolf A. Zwaan. „Generating Predictive Infe‐ rences While Viewing a Movie“. In: Discourse Processes 22.3 (1996), S. 199-224. Marslen-Wilson, William, Elena Levy und Lorraine K. Tyler. Producing Interpretable Dis‐ course: The Establishment and Maintenance of Reference. Studies in deixis and related topics. Chichester: Wiley, 1982. Martin, George R. R. Das Erbe von Winterfell. München: Blanvalet, 1996. McKoon, Gail und Roger Ratcliff. „Inference During Reading“. In: Psychological Review 99.3 (1992), S. 440-466. Mellmann, Katja. „Vorschlag zu einer emotionspsychologischen Bestimmung von „Span‐ nung““. In: Im Rücken der Kulturen. Hrsg. von Karl Eibl, Katja Mellmann und Rüdiger Zymner. Bd. 5. Poetogenesis. Paderborn: Mentis, 2007, S. 241-268. Mertens, Volker. „Spannungsstruktur. Ein erzählanalytisches Experiment am ’Wale‐ wein’“. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 127.2 (1998), S. 149-168. Literatur 249 <?page no="250"?> Metz, Christian. „From Film Language“. In: Film Theory and Criticism. Introductory Rea‐ dings. Hrsg. von Leo Braudy und Marshall Cohen. Sixth Edition. New York: Oxford University Press, 2004. Milton, John. „Paradise Lost“. In: The Complete Poetical Works of John Milton. Hrsg. von Douglas Bush. Cambridge Edition. Boston: Houghton Mifflin, 1965. Minsky, Marvin L. „A Framework for Representing Knowledge“. In: The Psychology of Computer Vision. With contributions from Berthold Horn. Hrsg. von Patrick H. Winston. New York: McGraw-Hill-Verlag, 1975, S. 211-278. [Eine gekürzte Fassungen findet sich in Minsky, Marvin L. „Frame-system theory“. In: Thinking. Readings in Cognitive Science. Hrsg. von Philip N. Johnson-Laird und Peter C. Wason. Cambridge: Cambridge University Press, 1977, S. 355-376. Eine deutsche Übersetzung bietet Minsky, Marvin L. „Eine Rahmenstruktur für die Wissensrepräsentation“. In: Kognitionswis‐ senschaft. Grundlagen, Probleme, Perspektiven. Hrsg. von Dieter Münch. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992, S. 92-133.] — The Society of Mind. New York: Simon & Schuster, 1988. Moyes, Jojo. Ein ganzes halbes Jahr. Reinbek bei Hamburg: rororo, 2013. Murray, John D., Celia M. Klin und Jerome L. Myers. „Forward Inferences in Narrative Text“. In: Journal of Memory and Language 32 (1993), S. 464-473. Nesbø, Jo. Koma. Berlin: Ullstein, 2014. Oakhill, Jane u. a. „How Natural are Conceptual Anaphors? “. In: Language and Cognitive Processes 7.3 / 4 (1992), S. 257-280. Oatley, Keith. „A taxonomy of the emotions of literary response and theory of indenti‐ fication in fictional narrative“. In: Poetics 23 (1994), S. 53-74. Oesterreich, Rainer. Handlungsregulation und Kontrolle. Baltimore: Urban & Schwarzen‐ berg, 1981. Ohlander, Stephen. Dramatic Suspense in Euripides‘ and Seneca’s „Medea“. New York: Peter Lang, 1989. Ohler, Peter. Kognitive Filmpsychologie. Verarbeitung und mentale Repräsentation narra‐ tiver Filme. Münster, 1994a. — „Zur kognitiven Modellierung von Aspekten des Spannungserlebens bei der Filmre‐ zeption“. In: montage / av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommu‐ nikation 3.1 (1994b), S. 133-141. Ohler, Peter und Gerhild Niedling. „Kognitive Ansätze in der Filmpsychologie. Ein Modell der Filmverarbeitung und Kritik an experimentellen Studien zur kindlichen Filmver‐ arbeitung“. In: 1. Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium / Münster ’88. Hrsg. von Karl-Dietmar Möller, Hasko Schneider und Hans J. Wulff. Münster: MAks-Pub‐ likationen, 1994, S. 104-114. Paris, Scott G. und Barbara K. Lindauer. „The Role of Inference in Children’s Compre‐ hension and Memory for Sentences“. In: Cognitive Psychology 8 (1976), S. 217-227. Literatur 250 <?page no="251"?> Peirce, Charles S. Philosophical Writings of Peirce. Hrsg. von Justus Buchler. New York: Dover Publication, 1955. Petrie, Graham. History Must Answer to Man. The Contemporary Hungarian Cinema. Hungary: Corvina Books, 1978. Pfister, Manfred. Das Drama. Theorie und Analyse. 11. Aufl. München: Fink, 2001. Pleschinski, Hans. Königsallee. Vollständige Ausgabe. München: dtv, 2015. Potts, George R., Janice M. Keenan und Jonathan M. Golding. „Assessing the Occurrence of Elaborative Inferences: Lexical Decision versus Naming“. In: Journal of Memory and Language (1988), S. 399-415. Pullman, Philip. Der Goldene Kompass. München: Heyne Verlag, 2001. Pylyshyn, Zenon W. Computation and Cognition: Toward a Foundation for Cognitive Science. Cambridge, Massachusetts: MIT-Press, 1986. Pütz, Peter. Die Zeit im Drama. Zur Technik dramatischer Spannung. Göttingen: Vanden‐ hoeck Ruprecht, 1970. Remarque, Erich M. Im Westen nichts Neues. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998. Richards, Eric und Murray Singer. „Representation of Complex Goal Structures in Nar‐ rative Comprehension“. In: Discourse Processes 31.2 (2001), S. 111-135. Rickheit, Gert und Hans Strohner. „Textverarbeitung: Von der Proposition zur Situation“. In: Sprachrezeption. Hrsg. von Angela D. Friederici. Göttingen: Hogrefe, Verlag für Psychologie, 1999, S. 271-306. Rickheit, Gert, Sabine Weiss und Hans-Jürgen Eikmeyer. Kognitive Linguistik. Theorien, Modelle, Methoden. Tübingen: Franke, 2010. Rosch, Eleanor. „Cognitive Representations of Semantic Categories“. In: Journal of Ex‐ perimental Psychology: General 104.3 (1975), S. 192-233. Rowling, Joanne K. Harry Potter und der Gefangene von Azkaban. Hamburg: Carlsen, 1999. — Harry Potter und der Stein der Weisen. Harry Potter. Hamburg: Carlsen, 1998. — Harry Potter und die Kammer des Schreckens. Harry Potter. Hamburg: Carlsen, 1999. Rumelhart, David E. „Notes on a Schema for Stories“. In: Representation and Understan‐ ding. Studies in Cognitive Science. Hrsg. von Daniel G. Bobrow und Allan Collins. New York: Academic Press, 1975, S. 211-236. — „Schemata: The Building Blocks of Cognition“. In: Theoretical Issues In Reading Com‐ prehension. Hrsg. von Rand J. Spiro, Bertram C. Bruce und William F. Brewer. Hills‐ dale, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, 1980, S. 33-58. Rumelhart, David E. und Andrew Ortony. „The Representation of Knowledge in Me‐ mory“. In: Schooling and the Acquisition of Knowledge. Hrsg. von Richard C. Anderson, Rand J. Spiro und William E. Montague. Hillsdale, New Jersey: Lawrence Erlbaum As‐ sociates, 1977, S. 99-135. Saeed, John I. Semantics. Malden, Massachusetts: Wiley-Blackwell, 2009. Literatur 251 <?page no="252"?> Sanford, Anthony J. und Simon C. Garrod. „The Role of Scenario Mapping in Text Com‐ prehension“. In: Discourse Processes 26.2&3 (1998), S. 159-190. Saussure, Ferdinand de. Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hrsg. von Charles Bally und Albert Sechehaye. 3. Auflage. Berlin: de Gruyter, 2001. Schank, Roger C. und Robert P. Abelson. „Scripts, plans, and knowledge“. In: Thinking. Readings in Cognitive Science. Hrsg. von Philip N. Johnson-Laird und Peter C. Wason. Cambridge: Cambridge University Press, 1977a, S. 421-432. — Scripts, Plans, Goals and Understanding. An Inquiry into Human Knowledge Structures. Hillsdale, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, 1977b. Scherf, Walter. Strukturanalyse der Kinder- und Jugendliteratur. Bauelemente und ihre psychologische Funktion. 1978. Schlink, Bernhard. Der Vorleser. Zürich: Diogenes, 1997. Schulz, Dieter. Suche und Abenteuer. Die „Quest“in der englischen und amerikanischen Erzählkunst der Romantik. Heidelberg: Winter, 1981. Schulze-Witzenrath, Elisabeth. „Die Geschichten des Detektivromans“. In: Poetica Mün‐ chen 11 (1998), S. 233-258. Schurz, Gerhard. Einführung in die Wissenschaftstheorie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006. Schwarz, Monika. Indirekte Anaphern in Texten. Studien zur domänengebundenen Referenz und Kohärenz im Deutschen. Tübingen: Max Niemeyer, 2000. Schwarz-Friesel, Monika. Einführung in die kognitive Linguistik. 3., vollst. überarb. und erw. Aufl. Tübingen: Francke, 2008. — Sprache und Emotion. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Tübingen: Francke, 2013. Schwarz-Friesel, Monika und Manfred Consten. Einführung in die Textlinguistik. Darm‐ stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014. Schätzing, Frank. Der Schwarm. Fischer: Frankfurt am Main, 2004. Schöttker, Detlev. „Theorien der literarischen Rezeption. Rezeptionsästhetik, Rezept‐ ionsforschung, Empirische Literaturwissenschaft“. In: Grundzüge der Literaturwissen‐ schaft. Hrsg. von Heinz L. Arnold und Heinrich Detering. 8. Auflage. München: Deut‐ scher Taschenbuch Verlag, 2008, S. 537-554. Shakespeare, William. Macbeth. 1606. Shaw, Harry. Dictionary of Literary Terms. New York: McGraw-Hill, 1972. Singer, Murray. „Discourse Inference Processes“. In: Handbook of Psycholinguistics. Hrsg. von Marton A. Gernsbacher. San Diego: Academic Press, 1994, S. 479-515. — „Inference processing in discourse comprehension“. In: The Oxford Handbook of Psy‐ cholinguistics. Hrsg. von Gareth M. Gaskell. Oxford: Oxford University Press, 2007, S. 343-361. Literatur 252 <?page no="253"?> Singer, Murray und Fernanda Ferreira. „Inferring Consequences in Story Comprehen‐ sion“. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior 22 (1983), S. 437-448. Singer, Murray und Eric Richards. „Representing Complex Narrative Goal Structures: Competing Memory-Based and Situational Influences“. In: Discourse Processes 39.2 & 3 (2005), S. 189-204. Smiley, Sam. Playwriting. The Structure of Action. Englewood Cliffs, New Jersey: Pren‐ tice-hall International, 1971. Spielberg, Steven (Regie). Der weiße Hai. US: Universal Pictures, 1975, 119 Min. [Film]. Staiger, Emil. Grundbegriffe der Poetik. 8. Auflage. Zürich: Atlantis Verlag, 1968. Stein, Nancy L. und Tom Trabasso. „The search after meaning. Comprehension and com‐ prehension monitoring“. In: Advances in applied developmental psychology. Hrsg. von F. Morrison, C. Lord und D. Keating. Bd. 2. New York: Academic Press, S. 33-58. Sternberg, Meir. Expositional Modes and Temporal Ordering in Fiction. Baltimore: The John Hopkins University Press, 1978. — „Telling in Time (II): Chronology, Teleology, Narrativity“. In: Poetics Today 13.3 (1992), S. 463-541. Suerbaum, Ulrich. „Der gefesselte Detektivroman“. In: Poetica I. Hrsg. von Karl Maurer. München: Wilhelm Fink Verlag München, 1967, S. 360-374. Suh, Soyoung und Tom Trabasso. „Inferences during Reading: Converging Evidence from Discourse Analysis, Talk-Aloud Protocols, and Recognition Priming“. In: Journal of Memory and Language 32.2 (1993), S. 279-300. Tan, Ed S. Emotion and the Structure of Narrative Film. Film as an Emotion Machine. Mahwah, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, 1996. Thorndyke, Perry W. „Cognitive Structures in Comprehension and Memory of Narrative Discourse“. In: Cognitive Psychology 9.1 (1977), S. 77-110. Thurber, James. „The Macbeth Murder Mystery“. In: The New Yorker 13 (1937), S. 16-17. (1937). Tolkien, John R. R. Der Herr der Ringe. Bd. 2: Die zwei Türme. Stuttgart: Klett-Cotta, 1977. — Der Herr der Ringe. Bd. 3: Die Rückkehr des Königs. Stuttgart: Klett-Cotta, 1977. — Der Herr der Ringe. Bd. 1: Die Gefährten. Stuttgart: Klett-Cotta, 1977. Trabasso, Tom, Paul van den Broek und Soyoung Suh. „Logical Necessity and Transitivity of Causal Relations in Stories“. In: Discourse Processes 12 (1989), S. 1-25. Trabasso, Tom, Tom Secco und Paul van den Broek. „Causal Cohesion and Story Cohe‐ rence“. In: Learning and Comprehension of Text. Hrsg. von Heinz Mandl, Nancy L. Stein und Tom Trabasso. Hillsdale, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, 1984, S. 83-111. Literatur 253 <?page no="254"?> Trabasso, Tom und Soyoung Suh. „Understand Text: Achieving Explanatory Coherence Through On-Line Inferences and Mental Operations in Working Memory“. In: Dis‐ course Processes 16.1-2 (1993), S. 3-34. Truffaut, François. Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? 8. Aufl. München: Heyne, 1984. Tyler, Lorraine K. und William Marlen-Wilson. „The resolution of discourse anaphors: Some on-line studies“. In: Text 2 (1982), S. 263-291. Ungerer, Friedrich. Dramatische Spannung in Shakespeares Tragödien. Dissertation. Mün‐ chen 1964. Verbinski, Gore (Regie). Fluch der Karibik. USA: Walt Disney Pictures, 2003, 137 Min. [Film]. Vorderer, Peter. „’Spannung ist, wenn’s spanndend ist‘. Zum Stand der (psychologischen) Spannungsforschung“. In: Rundfunk und Fernsehen 42 (1994), S. 323-339. Weinrich, Harald. Textgrammatik der deutschen Sprache. 4., revidierte Auflage. Darm‐ stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2007. Wenzel, Peter, Hrsg. Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2004. — „Spannung in der Literatur. Grundformen, Ebenen, Phasen“. In: Spannung. Studien zur englischsprachigen Literatur. Hrsg. von Raimund Borgmeier und Peter Wenzel. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2001. Whitney, Paul, Bill G. Ritchie und Robert S. Crane. „The effect of foregrounding on rea‐ ders’ use of predictive inferences“. In: Memory & Cognition 20.4 (1992), S. 424-432. Wilks, Yorick. „What Sort of Taxonomy of Causation Do We Need for Language Under‐ standing? “. In: Cogntive Science 1 (1977), S. 235-264. Wolff, Erwin. „Der intendierte Leser“. In: Poetica 4 (1983), S. 141-166. Wollbrett, Janine. BILD analysiert seine Urteile: So hart ist der Kachelmann-Richter! 2011. U R L : http: / / www.bild.de / news / inland / joerg-kachelmann / so-hart-ist-der-kachel‐ mann-richter-17 478 294.bild.html. 18. 04. 2011. Wulff, Hans J. Darstellen und Mitteilen. Elemente der Pragmasemiotik des Films. Tübingen: Narr, 1999. — „Spannungserleben und Erfahrungskonstitution. Vorüberlegungen zu einer phäno‐ menologischen Untersuchung“. In: Wechselbeziehungen. Medien - Wriklichkeit - Er‐ fahrung. Hrsg. von Lothar Mikos und Norbert Neumann. Berlin: VISTAS, 2002, S. 93-110. — „Spannung / Suspense“. In: Reclams Sachlexikon des Films. Mit 148 Abbildungen. 2., ak‐ tualisierte und erw. Aufl. Hrsg. von Thomas Koebner. Stuttgart: Reclam, 2007, S. 655-658. — „Suspense and the Influence of Cataphora on Viewers’ Expectation“. In: Suspense. Conceptualizations, Theoretical Analyses, and Empirical Explorations. Hrsg. von Peter Literatur 254 <?page no="255"?> Vorderer, Hans J. Wulff und Mike Friedrichsen. Mahwah, New Jersey: Lawrence Erl‐ baum Associates, 1996, S. 1-18. — „Textsemiotik der Spannung“. In: Kodikas / Code 16.3-4 (1993), S. 325-352. Wuss, Peter. Filmanalyse und Psychologie. Strukturen des Films im Wahrnehmungs‐ prozeß. Berlin: sigma medienwissenschaft, 1993a. — „Grundformen filmischer Spannung“. In: montage / av. Zeitschrift für Theorie & Ge‐ schichte audiovisueller Kommunikation 2.2 (1993b), S. 101-116. Zeigarnik, Bluma. „Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen. Mit 5 Abbil‐ dungen im Text“. In: Psychologische Forschung 9 (1927), S. 1-85. Ziem, Alexander. „Frames im Einsatz. Aspekte anaphorischer, tropischer und multimo‐ daler Bedeutungskonstruktionen im politischen Kontext“. In: Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerks “Sprache und Wissen”. Hrsg. von Ekkehard Felder und Marcus Müller. Berlin: de Gruyter, 2009, S. 207-244. — Frames und sprachliches Wissen. Kognitive Aspekte der semantischen Kompetenz. Hrsg. von Ekkehard Felder. Sprache und Wissen 2. Berlin: de Gruyter, 2008. Ziem, Alexander, Hans C. Boas und Josef Ruppenhofer. „Grammatische Konstruktionen und semantische Frames für die Textanalyse“. In: Syntaxtheorien. Vergleichende Ana‐ lysen. Hrsg. von Jörg Hagemann und Sven Staffeldt. Thübingen: Stauffenburg, 2014, S. 297-333. Ziem, Alexander und Alexander Lasch. Konstruktionsgrammatik. Konzepte und Grund‐ lagen gebrauchsbasierter Ansätze. Berlin: de Gruyter, 2013. — Konstruktionsgrammatik 3. Aktuelle Fragen und Lösungsansätze. Hrsg. von Kerstin Fi‐ scher. 2011. Zillmann, Dolf. „Anatomy of Suspense“. In: The entertainment functions of television. Hrsg. von Percy H. Tannenbaum. Hillsdale, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, 1980. — „The Logic of Suspense and Mystery“. In: Responding to the Screen. Reception and Re‐ action Processes. Hrsg. von Jennings Bryant und Dolf Zillmann. Hillsdale, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, 1991, S. 281-303. — „The Psychology of Suspense in Dramatic Exposition“. In: Suspense. Conceptualizations, Theoretical Analyses, and Empirical Explorations. Hrsg. von Peter Vorderer, Hans J. Wulff und Mike Friedrichsen. Mahwah, New Jersey: Lawrence Erlbaum As‐ sociates, 1996, S. 199-231. Zwaan, Rolf A. „The immersed experiencer: Toward an embodied theory of language comprehension“. In: Psychology of Learning and Motivation 44 (2003), S. 35-62. Zwaan, Rolf A., Arthur C. Graesser und Joseph P. Magliano. „Dimensions of Situation Model Construction in Narrative Comprehension“. In: Journal of Experimental Psy‐ chology: Learning, Memory, and Cognition 21.2 (1995), S. 386-397. Literatur 255 <?page no="256"?> Zwaan, Rolf A., Mark C. Langston und Arthur C. Graesser. „The Construction of Situa‐ tion Models in Narrative Comprehension. An Event-Indexing Model“. In: Psychological Science 6.5 (1995), S. 292-297. Zwaan, Rolf A. und Gabriel A. Radvansky. „Situation Models in Language Comprehen‐ sion and Memory“. In: Psychological Bulletin 123.2 (1998), S. 162-185. Zwaan, Rolf A., Gabriel A. Radvansky und Shannon N. Whitten. „Situation models and themes“. In: Thematics. Interdisciplinary Studies. Hrsg. von Max Louwerse und Willie van Peer. Amsterdam: John Benjamins Publishing Company, 2002, S. 35-53. Zwaan, Rolf A. und David N. Rapp. „Discourse Comprehension“. In: Handbook of Psy‐ cholinguistics. 2nd Edition. Hrsg. von Matthew J. Traxler. Amsterdam: Elsevier, 2006, S. 725-764. Zwaan, Rolf A. u. a. „Moving Words: dynamic representation in language comprehen‐ sion“. In: Cognitive Science 28 (2004), S. 611-619. Literatur 256 <?page no="257"?> www.narr.de TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik „Der Physiker Leonardo Vetra roch brennendes Fleisch, und es war sein eigenes.“ Das ist der erste Satz aus dem internationalen Bestseller „Illuminati“ des US-amerikanischen Autors Dan Brown. Der Leser reichert den Text um die negative Konsequenz an, dass der Wissenschaftler sterben wird.Der Rezipient wird an den Text gebunden, bis aufgelöst ist, ob sich der negative Ausgang realisiert oder nicht. Dass dem Physiker dieses Schicksal bevorstehen könnte, steht nicht im Text. Dieser sogenannte Suspense-Effekt ist ein Ergebnis mentaler Prozesse beim Lesen. Auf der Grundlage der kognitionslinguistischen Textverstehensforschung werden die Auslöser der wichtigsten Spannungstypen beschrieben und die Rolle dieser Spannungstypen für die Kohärenz eines Texts charakterisiert. 563 Hausenblas Spannung und Textverstehen Spannung und Textverstehen Die kognitionslinguistische Perspektive auf ein textsemantisches Phänomen Philip Hausenblas