eBooks

Orthografie

0511
2020
978-3-8233-9176-0
978-3-8233-8176-1
Gunter Narr Verlag 
Wolfgang Steinig
Karl Heinz Ramers

Die Beherrschung der Orthografie gehört zu den Schlüsselkompetenzen für eine erfolgreiche Schul- und Berufslaufbahn. Dieses Buch soll dazu beitragen, diese Kompetenz zu erwerben und zu festigen, zum einen durch eine systematische Rekonstruktion der linguistischen Grundlagen der einzelnen orthografischen Regelungen, zum anderen durch eine Reflexion der didaktischen Möglichkeiten zur Erleichterung des Erwerbs und der Stabilisierung der Rechtschreibfertigkeiten. Thematisiert werden die zentralen Bereiche der Orthografie des Deutschen: Graphem-Phonem-Beziehungen, Groß- und Kleinschreibung sowie Getrennt- und Zusammenschreibung.

<?page no="0"?> LinguS 7 Orthografie LINGUISTIK UND SCHULE Von der Sprachtheorie zur Unterrichtspraxis WOLFGANG STEINIG KARL HEINZ RAMERS <?page no="1"?> LinguS 7 LINGUISTIK UND SCHULE Von der Sprachtheorie zur Unterrichtspraxis Herausgegeben von Sandra Döring und Peter Gallmann <?page no="2"?> Wolfgang Steinig-/ -Karl Heinz Ramers Orthografie <?page no="3"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2566-8293 ISBN 978-3-8233-8176-1 (Print) ISBN 978-3-8233-9176-0 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0060-1 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="4"?> Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1 Wie bekannt sind die Regeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.2 Ist die Rechtschreibung schlechter geworden? . . . . . . . . . . . . . . 11 1.3 Die deutsche Schrift - eine Alphabetschrift . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.4 Vokale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.5 Konsonanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.6 Silben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.7 Bereiche der Wortschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.8 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1.9 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2 Didaktische Wortmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.1 Das Garagenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.2 Das Sofahaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.3 Vergleich der beiden Wortmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.4 Das ORI-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.5 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.6 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3 Das morphematische Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.1 Freie lexikalische Morpheme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.2 Gebundene lexikalische Morpheme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.3 Freie grammatische Morpheme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3.4 Gebundene grammatische Morpheme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3.5 Exkurs zur s-Schreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.6 Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.7 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.8 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4 Die Großschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4.1 Der lexembasierte Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.2 Der syntaktische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4.3 Eigennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 <?page no="5"?> 6 Inhalt 4.4 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.5 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 5 Getrennt- und Zusammenschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5.1 Grundlagen und Probleme der Getrennt- und Zusammenschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 5.2 Kernbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5.3 Peripheriebereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 5.5 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5.6 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 6 Fremdwortschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 6.1 Wörter griechischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 6.2 Wörter lateinischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 6.3 Wörter französischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 6.4 Wörter englischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 6.5 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 6.6 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Lösungsvorschläge zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 <?page no="6"?> Vorwort Die Orthografie bzw. die Rechtschreibung ist die staatlich vorgegebene Norm der Richtigschreibung. In Wörterverzeichnissen und im Regelteil von Wörterbüchern sind die korrekten Schreibungen verzeichnet und als Schreibnormen vorgegeben. Wer sich informieren möchte, wie etwas geschrieben wird, schlägt im Duden oder einem anderen Wörterbuch nach. Diese Vorgaben muss jeder Schreiber akzeptieren, der einen fehlerfreien Text schreiben möchte. Doch einfach nur ungefragt alle Grafien und Regelungen hinnehmen? Auch dann, wenn sie einem merkwürdig oder unlogisch erscheinen? Warum, so kann man sich fragen, haben sich bestimmte Grafien und Regelungen in einer Sprache durchgesetzt und sind in Rechtschreibkonferenzen zum orthografischen Standard erklärt worden? Die Wissenschaft, die sich um Erklärungen bemüht, welcher Logik und welchen Prinzipien ein Schriftsystem folgt, ist die Graphematik. Sie liefert die Theorien, Modelle und Gründe, wie und warum das System unserer Rechtschreibung so entstehen konnte, wie wir es heute vorfinden: aus synchroner und aus historischer Perspektive wie aus der Interessenlage von Schreibern und von Lesern. Mit der Graphematik schaut man hinter die Kulissen von Schreibungen, die uns manchmal eigenartig und willkürlich erscheinen. Sie erlaubt gewissermaßen mit einem Röntgenblick, hinter der Oberfläche der Schreibungen die Prinzipien und die Logik des Systems zu verstehen. Zur Entwicklung einer erfolgversprechenden Rechtschreibdidaktik ist die Graphematik nützlicher als die Orthografie. Denn auch Schülerinnen und Schüler haben ein Recht darauf zu verstehen, warum man in einer bestimmten vorgegebenen Weise schreiben soll. Sicherlich muss auch im Unterricht vermittelt werden, wie man Wörterbücher benutzt, um darin die korrekte Schreibung eines Wortes nachschlagen zu können. Und auch, wenn man wissen möchte, welche Regeln es zu einem Teilbereich gibt, beispielsweise zur Großschreibung, sollte man diese Information in einem Wörterbuch oder einer Grammatik finden können. Aber darum wird es in unserem kleinen Buch nicht gehen. Wir möchten mit einer graphematischen Perspektive zentrale Bereiche der deutschen Orthografie erklären, und zwar so, dass sie als Grundlage für Erklärungen und Übungen im Unterricht dienen können. Eine linguistisch überzeugende Analyse eines orthografischen Sachverhalts garantiert aber noch nicht, dass sie als Grundlage für eine angemessene Didaktisierung dienen kann. Wie sich Regularitäten und Grafien bei Schreibern zu einem intuitiven Wissen und Können entwickeln, muss keineswegs unmittelbar mit der weitgehend ob- <?page no="7"?> 8 Vorwort jektiv erkennbaren Sachstruktur der Orthografie in Einklang zu bringen sein. Die didaktische Devise muss sein, nach Modellen und Erklärungen zu suchen, die mit einem möglichst geringen kognitiven Aufwand einem Schreibnovizen plausibel erscheinen und nachvollziehbare Vorstellungen entstehen lassen, so dass er sie zunächst bewusst und nach und nach automatisiert anwenden kann. Um die Rechtschreibung von Schülern nachhaltig zu verbessern, reicht es nicht, einzelne Übungen ab und zu in den Unterricht einzustreuen. Mit dieser weithin üblichen Patchworkarbeit lässt sich kein grundlegendes Verständnis und keine Systematik entwickeln. Zwar wird es mit der herkömmlichen Methodik immer auch Schüler geben, die zu einer guten Rechtschreibung kommen, vor allem wenn sie häusliche Unterstützung haben, aber schwachen Rechtschreibern aus bildungsfernen Familien kann nur durch eine konsequente, systematische Arbeit geholfen werden. Das Verstehen der graphematischen Gesetzmäßigkeiten ist für alle Schüler das beste Mittel, zu einer sicheren Rechtschreibung zu kommen. Die Interpunktion wird in diesem Band komplett ausgespart, obwohl sie eine zentrale Komponente der Orthografie des Deutschen bildet. Zum einen hätte eine auch nur halbwegs vollständige Darstellung den Rahmen dieses Lehrbuchs gesprengt, zum anderen bildet die Interpunktion einen relativ eigenständigen Bereich der Rechtschreibung, der nur wenige Berührungspunkte zu den anderen Teilgebieten hat. Wir möchten uns bei Clemens Knobloch und Viola Oehme, aber ganz besonders bei Reinhard Rascher für ihre Unterstützung bedanken. Bonn / Rostock im Frühjahr  Wolfgang Steinig und Karl Heinz Ramers <?page no="8"?> 1 Grundlagen Gemeinhin herrscht die Auffassung, Orthografie sei ein schwer zu durchschauendes Konglomerat aus Regeln und Ausnahmen, mit dem man in der eigenen Schulzeit oft ungute Erfahrungen machen musste. Merkwürdig ist aber, dass zwar viele mit der Rechtschreibung hadern, weil sie ihnen zu kompliziert erscheint, aber wann immer Vorschläge gemacht werden, sie zu vereinfachen, wird vehement dagegen protestiert. Ein Vorschlag von 1954, die satzinterne Großschreibung als eine der größten Fehlerquellen abzuschaffen und im Satzinneren, wie in allen anderen Alphabetschriften, kleinzuschreiben, konnte nicht realisiert werden; der Widerstand in der Bevölkerung war zu stark. Selbst relativ geringe Änderungen zur Vereinfachung von Schreibungen, wie sie in der Rechtschreibreform von 1996 beschlossen wurden, lösten heftige Reaktionen aus und mussten teilweise wieder zurückgenommen werden. Eher konservativ geprägte Menschen scheinen sich mit den Schreibkonventionen ihrer Muttersprache zu identifizieren und kämpfen um ihren Erhalt, selbst dann, wenn sie nur schwer zu erlernen sind. Aber auch diejenigen, die der Überzeugung sind, Rechtschreibung werde in der (bürgerlichen) Öffentlichkeit viel zu ernst genommen, können sich ihrer Wertschätzung nicht entziehen. Vor Rechtschreibfehlern ist niemand gänzlich gefeit, selbst die besten Schreiber nicht. Aber viele, nicht nur Legastheniker, sind so verunsichert, dass sie möglichst wenig schreiben, um nicht mit ihrer schlechten Rechtschreibung aufzufallen. Selbst dann, wenn man schriftlich noch so kluge Gedanken formuliert: Rechtschreibfehler entwerten einen Text. Besonders in Internetforen werden Diskutanten mit fehlerhaften Texten oft nicht ernst genommen, manchmal auch süffisant verunglimpft. Menschen mit schlechter Rechtschreibung, die ihr privates Glück auf Partnerbörsen suchen, haben geringere Erfolgschancen. Es besteht Konsens in unserer Gesellschaft, dass man nur dann ein voll akzeptiertes Mitglied unserer Schreibkultur sein kann, wenn man korrekt schreibt. Für eine aktive Teilnahme am sozialen, politischen und wirtschaftlichen Leben ist eine korrekte Orthografie unabdingbar (Pabst / Zeuner 2011). Mangelhafte Rechtschreibung beeinträchtigt schulisches und berufliches Fortkommen und beschädigt das Selbstwertgefühl. Bei der Übergangsentscheidung von der Grundschule auf weiterführende Schulen spielt die Rechtschreibung eine herausragende Rolle (Steinig et al. 2009). Mit Fehlerzahlen in Schülertexten meint man ein objektives Kriterium zu haben, um zuverlässig (zukünftige) schulische Leistungen einschätzen zu <?page no="9"?> 10 1 Grundlagen können. Das Rechtschreibniveau, das man am Ende der Grundschulzeit erreicht hat, bleibt zwar auch in der Sekundarschule weitgehend stabil (Schneider 2008), aber das bedeutet nicht, dass die Rechtschreibleistung ein guter Prädiktor für die Leistungen in anderen Fächern ist. Dennoch wird die orthografische Kompetenz zur generellen Einschätzung schulischer Fähigkeiten genutzt. Eine mangelhafte Rechtschreibung beeinträchtigt nicht nur den Schreiber, sondern auch den Leser, denn die Einhaltung orthografischer Regeln dient der Lesbarkeit von Texten. Lesern das Erfassen von Texten zu erleichtern sollte die stärkste Motivation sein, sich die Regelungen der Rechtschreibung anzueignen und zu verstehen. 1.1 Wie bekannt sind die Regeln? Nahezu alle schreiben weitgehend nach Gefühl, ohne die orthografischen Regeln erklären zu können. Als Deutschlehrerin oder Deutschlehrer sollte man sie jedoch kennen. Deshalb schlagen wir Ihnen gleich zu Beginn einen kleinen Test vor, damit Sie selbst einschätzen können, wie es mit Ihrer Fähigkeit bestellt ist, Schreibungen erklären zu können. Kreuzen Sie die Antwort an, die Ihnen richtig erscheint. In der Fußnote finden Sie die Auflösung. 1. Warum schreibt man am mit einem m, aber Kamm mit zwei m? a) Weil man Kamm verlängern kann. b) Weil Kamm großgeschrieben wird. c) Weil das a in Kamm kürzer ausgesprochen wird als in am. 2. „Der Maler hat ein helles, kräftiges blau aufgetragen.“ Wird hier blau kleingeschrieben? a) Ja, denn Farben sind Adjektive und werden immer kleingeschrieben. b) Die Wortstellung verlangt, dass blau großgeschrieben wird. c) Nein, wenn es um Malerfarben geht, schreibt man blau groß. 3. Warum schreibt man die Wörter kahl, Rahm, Sahne oder Fahrt mit einem h, aber die Wörter Hase, Bad, Rabe oder Schaf ohne ein h? a) Die Wörter Hase, Bad, Rabe und Schaf kann man verlängern. b) Die a-Laute in Zahl, Rahm, Sahne und Fahrt werden länger ausgesprochen. c) Wenn nach einem langen a ein l, m, n oder r folgt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ein h eingefügt werden muss. <?page no="10"?> 11 1.2 Ist die Rechtschreibung schlechter geworden? 4. Warum schreibt man Kanne mit zwei n, aber Kante nur mit einem n? a) Weil bei Kante nach dem n noch ein Konsonant folgt. b) Das a in Kanne wird kürzer ausgesprochen als in Kante. c) Kanne hat zwei n, um das Wort leichter trennen zu können. 5. Warum schreibt man die Kante mit einem n, kannte aber mit zwei n? a) Kante ist ein Nomen, kannte ist ein Verb. b) Weil das Verb von kennen abgeleitet wird. c) Die Schreibung von kannte ist eine Ausnahme. 6. Warum werden Wörter wie richtig oder steinig am Ende mit ig geschrieben, obwohl man im Norden Deutschlands ein ich hört? a) Wenn man am Ende ein ich hört, ist das eine falsche Aussprache. b) Weil man ein g hört, wenn man diese Wörter verlängert. c) Wenn man am Ende ein ig hört, schreibt man das Wort automatisch richtig. 1 Die kurzen korrekten Antworten deuten bei diesem kleinen Test nur an, warum Sie richtig liegen. Die umfassenderen Antworten werden Sie geben können, wenn Sie die Begründungen in ihrem systematischen Zusammenhang verstanden haben. Ziel der Arbeit mit diesem Buch ist es nämlich nicht, möglichst viele einzelne Regeln und Ausnahmen zu kennen, sondern unsere Orthografie als ein in sich logisches und überaus nützliches System zu verstehen. Aus diesem generellen Verständnis heraus werden Ihnen dann einzelne Regelungen nicht mehr willkürlich erscheinen, sondern einen Sinn bekommen, nämlich den Sinn, das Lesen zu erleichtern. Das sollte auch das Ziel Ihres Unterrichts als Deutschlehrerin oder Deutschlehrer sein. 1.2 Ist die Rechtschreibung schlechter geworden? Leider gibt es nur wenige Studien, in denen die Rechtschreibleistung über einen längeren Zeitraum untersucht wurde, um diese Frage zuverlässig zu beantworten. Eine der wenigen ist die Longitudinalstudie LOGIK (Schneider 2008), in der die Rechtschreibentwicklung von insgesamt 200 Kindern bzw. Jugendlichen vom 4. bis zum 24. Lebensjahr im Zeitraum von 20 Jahren verfolgt wurde. Anhand von Wort- und Satzdiktaten zeigte sich, dass sich die Fehlerzahlen von 1 Lösungen: 1a, 2b, 3c,4a, 5b, 6b. <?page no="11"?> 12 1 Grundlagen 1984 bis 2004 nahezu verdoppelt haben. Von 1968 bis 1995, also in 27 Jahren, konnte anhand einer wesentlich größeren altersheterogenen Stichprobe mit dem gleichen Diktat wie in der LOGIK-Studie ebenfalls eine Verdoppelung der Fehlerzahlen festgestellt werden (Zerahn-Hartung et al. 2002). In einer diachronen Studie zum Schreiben von Viertklässlern aus dem Ruhrgebiet wurde in einem Zeitraum von 40 Jahren anhand frei formulierter Texte aus den Jahren 1972, 2002 und 2012 von insgesamt 967 Schülerinnen und Schülern ein Anstieg von 7 auf annähernd 17 orthografische Fehler je 100 Wörter beobachtet. Besonders stark war dieser Anstieg bei Kindern aus unteren sozialen Milieus (Steinig et al. 2009; Steinig / Betzel 2014). Da schulischer Erfolg stark durch eine schwache Rechtschreibleistung beeinflusst wird, wirkt sie wie eine Bildungsbarriere und behindert den sozialen Aufstieg. Die Schulpolitik reagierte auf den sozialen Sprengstoff, der in der unterschiedlichen Beherrschung der Rechtschreibung steckt, mit einer kontinuierlichen Absenkung der Leistungsziele in den Lehrplänen. Doch die Hoffnung trog, mit verminderten Ansprüchen an die orthografische Kompetenz die sozial bedingte Schere zu schließen. Das Gegenteil trat ein: Während im Deutschunterricht auf den Rechtschreibunterricht immer weniger Wert gelegt wurde, vergrößerten sich die Unterschiede zwischen Kindern aus bildungsfernen und bildungsnahen Milieus, in denen es offenbar trotz gravierender Defizite im Unterricht gelang, das Rechtschreibniveau der Kinder durch häusliche Unterstützung auf einem einigermaßen akzeptablen Niveau zu halten. Nach einer IQB-Studie von 2016 hat sich der Abwärtstrend in Bezug auf Rechtschreibleistungen in den letzten Jahren fortgesetzt. Seit der Vorgängerstudie 2011 haben sich die Werte bei Viertklässlern weiterhin verschlechtert. Während 2011 noch zwei Drittel der Schüler den Regelstandard erreichten, sind es 2016 im Bundesdurchschnitt nur noch 53,9 Prozent. 22,1 Prozent erreichen nicht einmal den Mindeststandard (Stanat et al. 2017). Es gibt mehrere Gründe für diesen Abwärtstrend, der in den 1970er Jahren begann. Die Neuorientierung der Deutschdidaktik an kommunikativ wirksamen Sprachhandlungen in sozial relevanten Textsorten führte dazu, dass formale Merkmale von Sprache wie die Rechtschreibung oder die Handschrift ein geringeres Gewicht bekamen. In den 1980er Jahren wurden Pädagogik und Didaktik zudem von konstruktivistischen Vorstellungen beeinflusst, so dass man annahm, individuelle kognitive Konstruktionsprozesse seien für den Erwerb der Rechtschreibung zentral. Orthografie wurde im Anfangsunterricht zum Lesen und Schreiben nicht mehr als ein Lerngegenstand gesehen, der <?page no="12"?> 13 1.2 Ist die Rechtschreibung schlechter geworden? erklärt, intensiv geübt und mit Diktaten überprüft werden muss, sondern als ein innerer, weitgehend selbstgesteuerter Entwicklungsprozess, der bei jedem Kind über mehrere Stufen anders verläuft und den Lehrkräfte nur individuell begleiten und fördern müssten. Da eine derartige individuelle Unterstützung in Klassen mit etwa zwanzig Kindern kaum gelingen kann, kam es zu gravierenden Fehlentwicklungen, insbesondere bei Kindern aus bildungsfernen Familien, deren Eltern die orthografischen Defizite nicht kompensieren konnten. Auch veränderte Rahmenbedingungen, wie ein geringerer Anteil des Deutschunterrichts in der Stundentafel, weniger (systematischer) Rechtschreibunterricht innerhalb des Deutschunterrichts und geringere Anforderungen in den Lehrplänen führten zu einer geringer werdenden Rechtschreibkompetenz (Steinig 2017: 214 f.). Digitale Medien könnten ebenfalls einen negativen Einfluss auf normgerechtes Schreiben haben. Einerseits wird zwar heute über das Internet mehr geschrieben als jemals zuvor, aber andererseits wird beim elektronischen Schreiben im privaten Verkehr wenig auf die Rechtschreibung geachtet. Entweder man vertraut der Korrekturfunktion seines Schreibprogramms oder aber die Schreibnormen sind einem gleichgültig, da die rasch geschriebenen Texte als flüchtige Botschaften gemeint sind, die bald wieder vergehen. Warum sollte man sich deshalb um die Rechtschreibung scheren? Schließlich wird auch noch vermutet, dass die Rechtschreibreform zu mehr Rechtschreibfehlern geführt haben könnte. Doch einen unmittelbaren Einfluss aufgrund von veränderten Schreibungen muss man wohl ausschließen, da es nur zu relativ wenigen Veränderungen kam. Die Reform führte aber auch nicht zu der von der Kommission erhofften Minderung der Fehlerzahlen, die sie mit den Vereinfachungen von Regeln und dem Ausmerzen von Ausnahmen intendierte. Vermutlich trug der über 15 Jahre dauernde quälende Prozess von 1996 bis 2011, in dem Regelungen verändert und teilweise auch alternative Schreibungen erlaubt wurden, zu einer Verunsicherung in der Bevölkerung bei. Vor allem Lehrkräfte waren häufiger verunsichert, wie sie etwas schreiben bzw. unterrichten sollten, was dazu führen konnte, dass sie ihren Rechtschreibunterricht weniger konsequent betrieben. Die gelegentlich geäußerte Vermutung, dass Schülerinnen und Schüler heute weniger lesen als früher und deshalb die Rechtschreibung schlechter geworden sei, ist abwegig, da Lesen und Rechtschreiben in keinem direkten Bezug zueinander stehen. Wer viel liest, kann dennoch ein schlechter Rechtschreiber sein, und gute Rechtschreiber müssen nicht unbedingt viel lesen. <?page no="13"?> 14 1 Grundlagen Eine Trendumkehr in der Rechtschreibkompetenz ist nur zu erreichen, wenn sich der Unterricht in der Orthografie deutlich verbessert, insbesondere in den ersten Schuljahren, denn hier wird das Fundament für ihre Entwicklung gelegt. Wenn Kinder im Anfangsunterricht keinen Zugang zu den grundlegenden Prinzipien unserer Rechtschreibung bekommen, wird es schwer sein, diesen Mangel später auszugleichen. Denn die orthografischen Kompetenzen bleiben über die gesamte Schulzeit und darüber hinaus überaus stabil (Schneider 2008). Wenn man den sozial stigmatisierenden Effekt der Rechtschreibung vermindern möchte, sollte man nicht die Leistungsziele verringern, sondern - ganz im Gegenteil - diesem Arbeitsbereich im Deutschunterricht wieder eine höhere Geltung verschaffen: Nicht nur durch einen höheren Stundenanteil und anspruchsvollere Ziele in den Lehrplänen, sondern auch durch eine verbesserte Didaktik und Methodik, die vor allem Schülerinnen und Schülern aus unteren sozialen Milieus helfen, ihre Rechtschreibkompetenz zu steigern. Ein höheres Niveau unseres Rechtschreibunterrichts lässt sich durch eine Veränderung von übenden zu erklärenden Anteilen erreichen. In einer empirischen Studie von Hofmann (2015) hat sich nämlich gezeigt, dass in einem Unterricht, in dem viel geübt, aber wenig erklärt wird, der Anteil schwacher Rechtschreiber wesentlich höher ist als in einem Unterricht, der stärker auf Erklärungen setzt. Schülerinnen und Schüler wollen offenbar verstehen, warum sie auf eine bestimmte Weise Wörter schreiben müssen. Blindes Üben, ohne den Sinn und Zweck der Übungen zu erkennen, verstärkt nur den Eindruck, dass die Rechtschreibung auf Regeln beruht, die man nicht durchschauen kann. Diesen Eindruck darf ein guter Rechtschreibunterricht nicht entstehen lassen. Die Schülerinnen und Schüler haben ein Anrecht darauf zu erfahren, wie das System Rechtschreibung funktioniert. Und zwar von Anfang an! Wenn Kinder die Rechtschreibung von Anfang an als ein sinnvoll strukturiertes System kennenlernen, bei dem sich die weitaus meisten Schreibungen zuverlässig erschließen lassen, auch wenn man sie zuvor noch nie geschrieben hat, dann ist die Chance groß, dass sie sich zu orthografisch kompetenten Schreibern entwickeln. 1.3 Die deutsche Schrift - eine Alphabetschrift Die Alphabetschrift, die erstmals von den Phöniziern zwischen dem 11. und 5. Jahrhundert v. Chr. entwickelt wurde, ist eine geniale Erfindung: Eigentlich muss ein Kind nur 26 Zeichen erlernen, um jedes erdenkliche Wort im Deut- <?page no="14"?> 15 1.3 Die deutsche Schrift - eine Alphabetschrift schen schreiben zu können; für die Großschreibung kommen, als Allographen der Kleinbuchstaben, noch 26 Buchstaben hinzu. Im Chinesischen benötigt man dagegen 3000-5000 Zeichen, nur um im schriftlichen Alltag bestehen zu können. Alphabetschriften sind phonographische Schriften, da ihre Buchstaben die Phoneme einer Sprache visuell repräsentieren. Wohlgemerkt: die Phoneme, nicht die Laute! Denn die Laute einer Sprache existieren in unterschiedlichen Varianten, den sogenannten Allophonen, die aber nicht bedeutungsunterscheidend sind. Dazu ein Beispiel: Wenn Sie einmal die Wörter Kinn und Kuh nacheinander sprechen und anschließend nur den jeweils ersten Laut artikulieren, werden Sie feststellen, dass die beiden k-Laute unterschiedlich klingen: Der k-Laut in Kinn ist deutlich heller als der in Kuh, die Zunge liegt anders im Mund und die Lippen sind anders geformt. Es handelt sich also um zwei unterschiedliche Laute, die man als Phone bezeichnet. Dieser Unterschied hängt mit den nachfolgenden Vokalen zusammen, die die Aussprache beeinflussen. 2 In der Schrift müssen diese phonetischen Varianten aber nicht unterschieden werden, da sie keine bedeutungsunterscheidende Funktion haben. Das / k/ , das zwischen zwei Schrägstrichen notiert wird, ist ein Phonem, in welcher lautlichen Variante auch immer. Denn wenn man es mit anderen Phonemen wie / f/ , / h/ , / m/ , / l/ , / r/ oder / t/ in der gleichen lautlichen Umgebung kontrastiert, erhält man Minimalpaare wie Kasten, fasten, hasten, Masten, Lasten, rasten oder Tasten. Mit einer derartigen Minimalpaaranalyse lässt sich feststellen, ob Phone eine bedeutungsunterscheidende Funktion haben und deshalb als Phoneme bezeichnet werden. Meint man dagegen Phone - wie in unserem Beispiel die unterschiedlichen k-Laute in Kinn und Kuh -, setzt man sie in eckige Klammern: [k]. Grapheme hingegen, die in der Regel aus einem Buchstaben bestehen, setzt man in spitze Klammern: <k>. Grapheme können aber auch aus zwei oder drei Buchstaben bestehen wie beim <ch> oder <sch>. Für das Phonem / ʃ/ steht im Deutschen das Graphem <sch> (Schule), im Türkischen ein <ş> (şiş), im Englischen ein <sh> (ship), im Ungarischen ein <s> (sós) und im Kroatischen ein <š> (škola). Das Phonem / r/ ist ein besonders interessanter Fall, da es im deutschsprachigen Raum höchst unterschiedlich artikuliert wird. Im Bairischen wird es durch 2 Kinder, die noch nicht schreiben können, hören diesen Unterschied in der Regel deutlicher als kompetente Schreiber, deren Wahrnehmung durch die Kenntnis der Schreibung beeinflusst wird. <?page no="15"?> 16 1 Grundlagen rasche Bewegungen der Zungenspitze gebildet und in der Internationalen Lautschrift mit [r] notiert, im übrigen Deutschland meist als ein stimmhafter, am Gaumenzäpfchen gebildeter Reibelaut, der als [ʁ] transkribiert wird, oder als [R], das mit dem Zäpfchen ‚gerollt‘ wird. Diese Unterschiede haben aber keinen Einfluss auf die Bedeutung von Wörtern. Ein Rad bleibt immer ein Rad, ganz gleich, wie das Phonem / r/ ausgesprochen wird. In Norddeutschland wird das / r/ postvokalisch nach / a/ meist gar nicht realisiert, beispielsweise in Garten, aber dennoch schreiben auch die Norddeutschen Garten mit <r>, da die Schreibung keine Rücksicht auf regionale Varianten nehmen kann, sondern sich an der Standardaussprache orientiert und jedem Phonem systematisch bestimmte Grapheme zuordnet. Anstatt von einer Laut-Buchstaben-Beziehung sollte man deshalb, fachlich korrekter, von einer Phonem-Graphem-Korrespondenz sprechen. Man möchte annehmen, dass es für Schreiber wie für Leser einer Sprache das Beste wäre, wenn immer genau einem Phonem ein Graphem entsprechen würde, so wie das weitgehend im Spanischen, Finnischen oder im Türkischen geregelt ist. Die erst 1928 neu entwickelte türkische Schrift ist tatsächlich einfach zu erlernen und problemlos zu lesen. In alten Schriftsystemen wie dem Englischen oder dem Französischen ist die Phonem-Graphem-Korrespondenz hingegen kompliziert. Das englische Wort enough mit sechs Graphemen korrespondiert kaum mit den vier Phonemen / inaf/ . Und das französische queue mit fünf Graphemen wird mit nur zwei Phonemen als / kö/ gesprochen. Der Grund für die schwer zu erlernende englische und französische Orthografie liegt in ihrem Alter. Schreibungen sind wesentlich konservativer als die gesprochene Sprache, die sich rascher wandelt. In der Schreibung werden ältere Lautungen konserviert. Englische Wörter wie knob, knot oder knee werden am Anfang immer noch mit einem <k> geschrieben, obwohl initial längst kein / k/ mehr gesprochen wird, während im Deutschen in Knopf, Knoten und Knie das / k/ im Mündlichen erhalten blieb. Das deutsche Schriftsystem beruht nicht, wie das spanische, weitgehend auch das türkische, auf einer 1: 1-Phonem-Graphem-Korrespondenz, aber es ist auch nicht so undurchsichtig wie das englische oder französische. Spanische und türkische Kinder können deshalb relativ problemlos mit einer Anlauttabelle das Schreiben erlernen, während englische oder französische Anlauttabellen nicht funktionieren würden. Für das Deutsche ist dieses häufig eingesetzte Hilfsmittel zum Lesen- und Schreibenlernen allenfalls für den Einstieg geeignet, um das Prinzip der Alphabetschrift zu veranschaulichen. Ein längerer Gebrauch wäre <?page no="16"?> 17 1.3 Die deutsche Schrift - eine Alphabetschrift aber nicht zielführend, da Anlauttabellen eine 1: 1-Phonem-Graphem-Korrespondenz suggerieren, die es im Deutschen in eindeutiger Form nur bei wenigen Wörtern gibt. Stattdessen müssen zwei Alternativen bedacht werden: 1. für ein Phonem können mehrere Grapheme stehen 2. ein Graphem kann mit mehreren Phonemen korrespondieren Im ersten Fall liegt das Problem beim Schreiber, der seine Mündlichkeit in Schrift umsetzen und dazu das entsprechende Graphem aus einer Reihe von Möglichkeiten auswählen muss. Im zweiten Fall hat der Leser das Problem, von einem Graphem auf die zutreffende Aussprache von mehreren möglichen zu schließen. Für einen Schreiber, der beispielsweise für das Phonem / k/ ein entsprechendes Graphem finden muss, ist eine Anlauttabelle von geringem Nutzen, da sie ihm nur das <k> als Klein- und Großbuchstaben anbietet. Für Wörter wie Sack oder Wachs muss aber eine Kombination von zwei Buchstaben, die Digraphen <ck> und <ch>, gewählt werden, für das Wort Hexe benötigt man das Graphem <x> für die Phoneme / k/ + / s/ und in Wörtern fremder Herkunft wie Club oder Clique stehen der Monograph <c> und der Digraph <qu> für das Phonem / k/ . Für Schreiber, vor allem für Anfänger, ist diese Vielfalt sicherlich unangenehm, da sie mit einem erhöhten Lernaufwand verbunden ist, aber für Leser haben diese Schreibungen einen informativen Mehrwert, da sie sich mit ihrer anderen Schreibung vom Kernwortschatz abheben, dem Leser als ‚besondere Wörter‘ ins Auge fallen und ihm eine fremde Herkunft signalisieren können. Würde ein Schreiber von einer 1: 1-Phonem-Graphem-Korrespondenz ausgehen und eine Anlauttabelle nutzen, würde er diese Wörter so schreiben: *Sak, *Waks, *Hekse, *Klup, *Klike. Für den Schreiber wäre das sicherlich leichter so, aber der Leser hätte Probleme mit der Sinnentnahme. Ein anderes Problem hat der Leser damit, anhand eines Graphems zu erkennen, für welches Phonem es steht. So kann das Graphem <o> für ein kurzes, ungespanntes / ɔ/ wie in Topf stehen, aber auch für ein langes, gespanntes / o: / wie in rot. Das Graphem <e> kann sogar vier mögliche Phoneme repräsentieren: (1) / e: / Steg, Weg / e/ legal / ɛ/ Geld, weg / ə/ Tage <?page no="17"?> 18 1 Grundlagen Und schließlich kann das Graphem <e> auch mit gar keinem Phonem korrespondieren, nämlich beim <ie> wie in Sieb, wo es als Längezeichen dient, oder beim umgangssprachlichen Wegfall (vulgo: Verschlucken) des / ə/ in Wörtern wie Mittel oder wohnen. Die Unterschiede in der Aussprache des Graphems <e> sind nur für Leseanfänger und Deutsch-Lerner problematisch. Kinder im Anfangsunterricht lesen ein Wort wie geben häufig als [ge: be: n], da sie nicht beachten, dass das Graphem <e> in unbetonten Silben immer nur als / ə/ , also als Schwa (Murmelvokal), artikuliert werden kann. Kompetente Leser dagegen erkennen seine Aussprache normalerweise leicht durch seine Position im Wort oder der Silbe. Beim <e> in Weg kann es sich nur um das lange, gespannte / e: / handeln, da Weg zur zweisilbigen Form Wege verlängert werden kann, während das bei weg nicht möglich ist. In Topf wird das <o> als kurzes, ungespanntes / ɔ/ realisiert, da zwei Konsonanten folgen, während in rot nur ein Konsonant folgt und das Wort zu rote oder rotes verlängert werden kann. Später werden wir diese Regularitäten noch genauer erläutern. Auch Konsonantengrapheme können mit mehreren Phonemen korrespondieren. Das Graphem <s> wird am Silbenende stimmlos als / s/ (Haus) gesprochen, am Silbenbeginn dagegen stimmhaft als / z/ (Sahne), allerdings nur in der nördlichen Hälfte Deutschlands, und schließlich wird das <s> mit nachfolgendem <t> oder <p> als / ʃ/ (Stein, Spiel) realisiert. Die Grapheme <b>, <d> und <g> werden am Ende einer Silbe als [p], [t] oder [k] realisiert, so in Wörtern wie Bub, Bad oder Weg. Auch hier gibt die Verlängerung dieser einsilbigen Wörter in eine zweisilbige Form dem Leser den Hinweis, dass Bub mit Buben, Bad mit Bädern und Weg mit Wegen semantisch eine Einheit bilden. Man bezeichnet das Prinzip, das dieser Regelung zugrunde liegt, als Stammprinzip oder morphematisches Prinzip. Es sorgt dafür, dass lexikalische Morpheme (Wortstämme) wie <kind>, <lob> oder <klang> in allen Wortformen erhalten bleiben, aber auch grammatische Morpheme (Flexionsendungen) wie <-er>, <-en> und Wortbildungsmorpheme (Vor- und Nachsilben) wie <ver->, <ent->, <-keit>, <-ig>, <-lich> oder <-ung> werden immer gleich geschrieben. Dieses Erhaltungsprinzip bietet dem Leser Sicherheit, in Bruchteilen von Sekunden zu erkennen, welche lexikalischen und welche grammatischen Informationen kodiert wurden. Neben Morphemen werden in der Schrift auch unbetonte Silben erhalten, die in der gesprochenen Alltagssprache nicht mehr artikuliert (vulgo: verschluckt) werden. Da sich das Deutsche beim Übergang vom Althochdeutschen zum <?page no="18"?> 19 1.3 Die deutsche Schrift - eine Alphabetschrift Mittelhochdeutschen von einer Silbensprache mit vollen Endsilben zu einer Wortsprache gewandelt hat (Szczepaniak 2007), haben sich die unbetonten Silben immer weiter abgeschwächt, teilweise sind sie gänzlich verschwunden. In Wörtern wie Fibel oder Hasen ist der Schwa-Laut in der Regel nicht mehr zu hören. Und in Wörtern, die auf <-er> enden, wird standardsprachlich nur ein dunklerer Schwa-Laut, das [ɐ], realisiert. Grundsätzlich kann man also sagen, dass sich die unbetonten Sprechsilben so stark abgeschwächt haben, dass sie kaum noch oder gar nicht mehr hörbar sind, während sie als Schreibsilben erhalten blieben, weil das für die rasche Sinnentnahme beim Lesen nützlich ist. Das Graphem <e> bleibt grundsätzlich immer in diesen unbetonten Endsilben beim Schreiben erhalten. Zu einer weitgehenden Vereinheitlichung der regionalen Schreibkonventionen kam es seit dem 15. Jahrhundert mit Beginn des Buchdrucks. Die Schreibungen wurden im Hinblick auf die Leser optimiert und zwar vor allem von den Druckern, die ihre Schriften in gut lesbarer Form auf den Markt bringen wollten (Maas 2015: 21). Die heute gültigen orthografischen Regelungen wurden also nicht von Sprachwissenschaftlern in Elfenbeintürmen ausgeheckt, sondern von Druckereien, die die Regeln nach und nach an den Bedürfnissen ihrer Leserschaft ausgerichtet haben, um ihre Produkte besser verkaufen zu können. Ein entscheidender Schritt zur Optimierung des Lesens war die Einführung von Leerstellen zwischen den Wörtern, den sogenannten Spatien, sowie der Großschreibung am Satzanfang und der Punkte am Satzende: alles Konventionen, die man in mündlicher Rede nicht hören kann, die aber dem Leser ungemein helfen, rasch und problemlos den Sinn eines Textes zu erfassen. Diese Konventionen nötigen den Schreiber aber zu entscheiden, wo sich eine Wortgrenze und wo sich eine Satzgrenze befindet. Mit Einführung von Kommaregelungen wurden Sätze für Leser nochmals leichter erfassbar; Schreiber bekamen im Gegenzug so die noch anspruchsvollere Aufgabe, innerhalb von Sätzen syntaktische Strukturen zu erkennen. Im Zuge der Vereinheitlichung und Optimierung der Rechtschreibung kam es dann auch zu dem oben erwähnten Erhaltungsprinzip. <?page no="19"?> 20 1 Grundlagen 1.4 Vokale Vokale sind Laute, bei denen die aus der Lunge ausströmende Luft die Stimmlippen im Kehlkopf in Schwingung versetzt und einen Ton erzeugt. Dieser Ton wird durch Veränderungen der Mundöffnung und der Zungenstellung so modifiziert, dass unterschiedliche Vokale entstehen. Das Deutsche hat mehr Vokale als die meisten anderen Sprachen auf der Welt, nämlich 15 mit bedeutungsunterscheidender Funktion sowie einen zentralen Vokal / ə/ , das Schwa, das nur in unbetonten Silben vorkommt, also insgesamt 16 Vokale. Hinzu kommen neben den drei bekannten Diphthongen / ai/ , / au/ und / ɔi/ noch 15 öffnende, zentrierende Diphthonge, die am Silbenende durch die Vokalisierung des / r/ nach einem Vokal entstehen. So in Wörtern wie klar, wir, Ohr, Uhr, Tür, Kur, Stör, Heer oder Tier, die am Ende mit einem Vokal realisiert werden, der zwischen einem offenen [a] und dem Schwa liegt und als / ɐ/ transkribiert wird, dem sogenannten Tiefschwa. Im Standarddeutschen hört und spricht man hier kein / r/ , sondern einen Diphthong. Zu 15 Vokalphonemen kommt man, indem man Minimalpaare bildet: / a: / - / a/ Schal - Schall / e: / - / ɛ/ beten - Betten / e: / - / ɛ: / Ehre - Ähre 3 / i: / - / ɪ/ Miete - Mitte / o: / - / ɔ/ Polen - Pollen / u: / - / ʊ/ spuken - spucken / ø: / - / œ/ Höhle - Hölle / y: / - / ʏ/ Hüte - Hütte Hinzu kommt noch das Schwa, das nur in unbetonten Silben zu finden ist. / ə/ - / a/ Tube - Tuba Je nachdem, wo die Vokale im Mundraum mit der Zunge gebildet werden, kann man sie in einem Vokalviereck, das den Mundraum schematisch abbildet, verorten. 3 Das / ɛ: / ist in Norddeutschland, aber auch in einigen südlicheren Gebieten zu / e: / geworden. Das heißt, dass man hier in der Aussprache keinen Unterschied mehr zwischen Ehre und Ähre hören kann. <?page no="20"?> 21 1.4 Vokale Abbildung 1.1: Vokalviereck Die Punkte markieren den Ort im Mundraum, wo der Zungenrücken die höchste Stelle beim Aussprechen eines Vokals erreicht. Beim / i: / ist das vorne oben, beim / u: / hinten oben und beim / a/ wie beim / a: / unten an der tiefsten Stelle. Deshalb fordert ein Hals-Nasen-Ohrenarzt seine Patienten auch immer auf, ein / a: / zu sagen, weil dann die Zunge flach unten im Mundraum liegt und er so gut in den Hals schauen kann. Alle übrigen Vokale sind in diesem Viereck an den entsprechenden durch die Zungenstellung markierten Stellen verortet. Das / ə/ befindet sich ziemlich genau in der Mitte des Vierecks. Neben der Position der Zunge im Mundraum, die sich zwischen vorne und hinten sowie zwischen hoch und tief bewegt, ist auch die Form der Lippen für die Aussprache der Vokale wichtig. Mit gerundeten Lippen werden die Vokale / y: / , / ʏ/ , / ø: / , / œ/ , / o: / , / ɔ/ , / u: / und / ʊ/ gesprochen, mit ungerundeten Lippen / i: / , / ɪ/ , / e: / , / e/ , / ɛ: / , / a/ , / a: / und / ə/ . Systematisch ergibt sich folgende Liste: ungerundete Vokale gerundete Vokale i: Liege ɪ Ritter ø: Söhne œ Böller e: lesen ə Lage y: fühlen ʏ füllen ɛ: Käse ɛ retten u: Tube ʊ Futter a: Tal a Ball o: loben ɔ Bock Tabelle 1.1: ungerundete und gerundete Vokale Damit auch Schulkinder diese 16 Vokale gut unterscheiden können, sowohl beim Hören als auch beim Sprechen, sind Ausspracheübungen notwendig, am a, a: y ʊ u o ɔ œ ɛ ɛ: e ʏ ɪ ø i (ə) <?page no="21"?> 22 1 Grundlagen besten mit Hilfe von Minimalpaaren wie Schal und Schall oder kennen und können. Diese Übungen sind besonders für Kinder mit Zuwanderungsgeschichte wichtig, da es in nahezu allen Herkunftssprachen deutlich weniger Vokale gibt als im Deutschen und deshalb die feinen, aber für die Bedeutung und die Orthografie so wichtigen Unterschiede zwischen den einzelnen Vokalen nicht oder nicht deutlich genug gehört werden können. Und was man nicht deutlich hören kann, lässt sich auch schlecht schreiben, schon gar nicht mit einer Anlauttabelle. Bislang haben wir, wie in den meisten Darstellungen üblich, von langen und kurzen Vokalen gesprochen. Langvokale werden aber nicht einfach länger und Kurzvokale kürzer artikuliert. Die Vokale, die wir in Paaren als Lang- und Kurzvokale einander zuordnen, unterscheiden sich - mit Ausnahme von / a: / und / a/ - vor allem durch ihre Qualität. Sie werden nämlich unterschiedlich artikuliert. Nehmen wir beispielsweise das <o> in Ofen und in offen. Wenn Sie das ‚lange‘ / o: / in Ofen und das ‚kurze‘ / ɔ/ in offen hintereinander sprechen, werden Sie feststellen, dass beim / o: / die Lippen eine kleinere runde Öffnung bilden, die Lippen stärker nach vorne gestülpt werden und dabei unter Spannung stehen. Beim / ɔ/ hingegen ist der Mund weiter geöffnet und die Lippen bleiben ungespannt. Auch wenn Sie das / o: / in Ofen kurz und das / ɔ/ in offen lang sprechen würden, bliebe der Unterschied zwischen gespannter und ungespannter Artikulation bestehen. Bei den übrigen Vokalpaaren besteht ein analoger Unterschied, nur nicht zwischen / a: / und / a/ . Anstatt von Lang- und Kurzvokalen sollte man daher genauer von gespannten und ungespannten Vokalen sprechen. Der Bezug der 16 Vokalphoneme zu den fünf Vokalgraphemen, bzw. acht, wenn man die Umlaute <ä>, <ö> und <ü> hinzunimmt, kann also nur durch die nachfolgenden Konsonantengrapheme und den Aufbau von Silben erfolgen, nicht am Vokalgraphem selbst. Diese nachträgliche Markierung ist allerdings bei langen, gespannten Vokalen problematisch, da sie leider keiner festen Regel folgt. Eine sogenannte ‚Dehnung‘ wird öfter durch ein nachfolgendes <h> markiert, dagegen nur selten durch die Verdoppelung des Vokalbuchstabens. Am häufigsten findet jedoch keine Markierung statt. Schreiber müssen sich also merken, in welchen Wörtern die Länge markiert wird und in welchen nicht. Dieses Problem ist aber überschaubar, da man relativ leicht ein Gefühl für die unterschiedlichen prozentualen Verteilungen entwickeln kann und sich die wenigen Wörter mit Vokaldopplung gut einprägen lassen. Die folgende Übersicht zeigt die prozentuale Häufigkeit der Graphem-Korrespondenzen von langen, gespannten Vokalen (folgende Tabellen 1.2, 1.3 und 1.4 nach Thomé 2019): <?page no="22"?> 23 1.4 Vokale Vokalphonem Grapheme Beispiele prozentualer Anteil / a: / <a> <ah> <aa> Schal nah Haar 90,9 7,6 1,5 / e: / <e> <eh> <ee> Weg Reh See 85,7 12,7 1,6 / i: / <ie> <ih> <i> <ieh> sieben ihr mir Vieh 72,4 17,8 8,4 1,4 / o: / <o> <oh> <oo> rot Stroh Zoo 88,9 10,9 0,2 / u: / <u> <uh> gut Schuh 96,0 4,0 / ɛ: / <ä> <äh> Bär gähnen 69,0 31,0 / ø: / <ö> <öh> Öl fröhlich 86,7 13,3 / y: / <ü> <üh> über fühlen 78,1 21,9 Tabelle 1.2: Vokalphoneme und -grapheme In der folgenden Tabelle werden noch die Graphem-Korrespondenzen zu den Diphthongen aufgeführt, bei denen es, wie beim / au/ , keine Variantenschreibung gibt, man beim / ai/ extrem seltene Ausnahmen findet und schließlich beim / ɔi/ die Variante <äu> vorkommt, die sich als Umlautschreibung ableiten lässt (Räuber mit <äu>, da Raub). / au/ <au> Bau 100 / ai/ <ei> <eih> <ai> drei Reihe Mai 99,5 0,3 0,2 / ɔi/ <eu> <äu> Leute Räuber 81,8 18,2 Tabelle 1.3: Diphthonge <?page no="23"?> 24 1 Grundlagen Kurze, ungespannte Vokalphoneme sind gegenüber Langvokalen und Diphthongen regelhaft und nahezu vollkommen systematisch an zwei Merkmalen erkennbar: am Aufbau einer Silbe und an zwei nachfolgenden Konsonantengraphemen. Dazu später mehr. 1.5 Konsonanten Konsonanten entstehen, wenn die ausströmende Luft durch Hindernisse und enge Stellen in Kehle oder Mundraum behindert und so verwirbelt wird, dass dadurch charakteristische Geräusche entstehen. Die deutsche Standardsprache verfügt über diese 20 Konsonanten-Phoneme: / b/ , / d/ , / f/ , / g/ , / h/ , / j/ , / k/ , / l/ , / m/ , / n/ , / ŋ/ , / p/ , / r/ , / s/ , / z/ , / ʃ/ , / ʒ/ , / t/ , / v/ und / x/ . Das Phonem / x/ kommt in zwei kombinatorischen Varianten vor: als ich- Laut [ç] und als ach-Laut [x]. Konsonantenphonem Grapheme Beispiele prozentualer Anteil / b/ <b> <bb> Gabel Krabbe 99,9 0,1 / p/ <p> <b> <pp> Palme Sieb Kappe 53,2 40,3 6,5 / d/ <d> <dd> Dach buddeln 99,9 0,1 / t/ <t> <d> <tt> <dt> rot Bad Butter Stadt 73,7 20,4 5,6 0,3 / g/ <g> <gg> gelb Bagger 99,9 0,1 / k/ <k> <g> <ck> Kern Zwerg Fleck 57,8 26,8 15,4 / s/ <s> <ss> <ß> Preis Kuss Gruß 76,2 15,7 8,1 / ʃ/ <sch> <s> Schule Stein 59,0 41,0 / z/ <s> Sohn 100 <?page no="24"?> 25 1.5 Konsonanten / v/ <w> Winter 100 / f/ <f> <v> <ff> Fenster Vater hoffen 65,4 32,0 2,6 / r/ <r> <rr> Rost Karre 99,0 1,0 / l/ <l> <ll> lesen Schall 83,4 16,6 / h/ <h> hier 100 / m/ <m> <mm> am immer 89,2 10,8 / n/ <n> <nn> nein Wanne 95,3 4,7 / ŋ/ <ng> <n> singen sinken 82,6 17,4 / j/ <j> ja 100 / ç / / x/ <ch> <g> ich / acht lustig 92,1 7,9 / ks/ <chs> <x> Fuchs Axt 71,1 28,9 / p͡f/ <pf> Apfel 100 / t͡s/ <z> <tz> Ziel Spatz 87,2 12,8 / ps/ <ps> Psalmen - / d͡ʒ/ <dsch> Dschungel - / t͡ʃ/ <tsch> tschüss - / ʒ/ <g> Genie - Tabelle 1.4: Phonem-Graphem-Korrespondenzen und ihre prozentuale Häufigkeit Nicht vergessen sollte man schließlich noch den Glottisverschluss [ʔ], für den es kein Graphem gibt, der aber grundsätzlich immer vor einer betonten Silbe mit vokalischem Anlaut realisiert wird. Dieser Laut wird als ‚Knacklaut‘ bezeichnet, da das plötzliche Öffnen des Verschlusses der Stimmlippen vor einem Vokal ein Knackgeräusch auslöst. Wird der Knacklaut in Ausdrücken wie am Abend, im Eimer oder Torferde nicht realisiert, wird das Verstehen beeinträchtigt. <?page no="25"?> 26 1 Grundlagen Bei der Konsonantenschreibung haben Abweichungen von der statistisch dominanten 1: 1-Korrespondenz, also einer Entsprechung von einem Phonem zu genau einem Graphem wie bei / p/ zu <p>, einen regelhaften Grund. Er lässt sich entweder - bei Doppelkonsonanz - anhand der Form der betonten Silbe und des vorausgehenden Kurzvokals erschließen, z. B. bei Kappe. Oder aber die zweisilbige Vergleichsform gibt den Hinweis für eine Abweichung von der erwartbaren Schreibung. Bei dem Wort Sieb würde man erwarten, dass es mit einem <p> geschrieben wird, man schreibt es aber mit einem <b>, da es die zweisilbige Vergleichsform Siebe gibt, die zu der Schreibung mit <b> führt, denn der Stamm des Wortes sieb muss in allen Formen erhalten bleiben. Der Lerner braucht jedenfalls hier die Konsonantengrapheme, die von der 1: 1-Korrespondenz abweichen, nicht zu lernen, sondern kann sein orthografisches Wissen zur Wortschreibung nutzen. Ausnahmen von dieser Regelhaftigkeit, die man sich merken muss, gibt es zum Glück nur sehr wenige, z. B. Schreibungen mit <dt> wie in Stadt oder verwandt und die <v>-Schreibungen wie in Vogel oder Vater. Die weitaus meisten Schreibungen mit <v> sind kleine Funktionswörter wie von und vor, Zahlwörter wie vier sowie Vorsilben wie <ver-> oder <vor->. Schließlich gibt es noch die Phonemkombinationen / kw/ und / ks/ , die mit <qu> (Quelle, Qual) bzw. mit <chs> (Fuchs) oder <x> (Hexe) geschrieben werden. Zu den Lauten / ç / und / x/ lassen sich keine Minimalpaare finden, sieht man einmal von den merkwürdigen Minimalpaaren Kuchen / Kuhchen und tauchen / Tauchen ab, die nur funktionieren, weil die Verkleinerungssilbe (das Diminutivaffix) <-chen> immer mit einem ich-Laut realisiert wird. Deshalb bezeichnet man diese beiden Laute als komplementär distribuierte Laute des Phonems / x/ . Die Ausspracheregel dazu legt fest, dass ein / ç/ , also der ich-Laut, realisiert wird, wenn der vorausgehende Vokal im vorderen Mundraum produziert wird, also z. B. ein / i: / (siechen), ein / ɪ/ (nicht), ein / ɛ/ (Echo), ein / ʏ/ (Küche) oder ein / œ/ (Köche), aber auch nach einem vorausgehenden / r/ wie in Furche, nach einem / l/ wie in Mulch und nach einem / n/ wie in manche. Wenn ein hinterer oder zentraler ‚tiefer‘ Vokal vorausgeht, wird der ach-Laut / x/ realisiert, also nach / a: / in Aachen, nach / a/ in Sache, nach / o: / in hoch, nach / ɔ/ in Woche, nach / u: / in Tuch oder nach / ʊ/ in Bruch. All die Schreibungen, die auf dieser Regel beruhen, sind nicht problematisch, da für die unterschiedliche Aussprache von / ç / und / x/ in diesen Stellungen immer das Graphem <ch> steht. <?page no="26"?> 27 1.6 Silben Nur auf eine Schreibvariante muss geachtet werden, nämlich auf Wörter, die am Ende mit <-ig> geschrieben werden, also König, Honig, richtig, lustig oder steinig. Man hört bei diesen Wörtern im südlichen und mittleren deutschen Sprachgebiet meistens ein [ɪk], während im Norden das [ɪç] realisiert wird. In einigen Dialektgebieten, etwa im Kölner Raum, wird <ig> als [ɪʃ] gesprochen. Auch zahlreiche Menschen mit Migrationshintergrund sprechen <ig> als [ɪʃ] aus, da der ich-Laut in den meisten Herkunftssprachen nicht vorkommt. Auf diese phonetische wie graphematische Besonderheit bei Wörtern auf <-ig> müssen Lehrkräfte achten und die Zusammenhänge erklären und einüben können. 1.6 Silben Einzelne Laute können im Lautstrom nur schlecht erkannt werden, da sie nicht klar voneinander abgegrenzt sind, sondern ineinanderfließen und sich gegenseitig beeinflussen. Dieses lautliche Ineinanderfließen bezeichnet man als Koartikulation. Silben dagegen lassen sich besser als lautliche Einheiten erkennen, vor allem betonte Silben. Viele unbetonte Silben sind dagegen bei normalem Sprechtempo kaum hörbar; sie werden ‚verschluckt‘. Das Verb werden wird umgangssprachlich zu / vɛɐdn/ oder noch kürzer zu / vɛɐn/ , was dann von Schreibanfängern gerne als *wean geschrieben wird. Hinzu kommt das Problem bei Wörtern mit Konsonantenverdoppelung wie Mutter, die zwar leicht als zweisilbig erkannt werden, aber bei denen es nicht klar ist, wo genau die Grenze zwischen der ersten und der zweiten Silbe liegt. Doch bevor wir näher auf zweisilbige Wörter eingehen, wollen wir uns zunächst den Aufbau von Einsilbern ansehen. Konsonanten im Anfangsrand (AR) Onset ein Vokal im Silbenkern (KERN) Nukleus Konsonanten im Endrand (ER) Koda Wort t u: t tut ʔ ɪ n in ts o: Zoo ʃtr aɪ t Streit ʃ ɪ mpfst schimpfst Tabelle 1.5: Struktur von Einsilbern Graphisch lässt sich die Silbenstruktur eines Wortes wie Streit folgendermaßen darstellen (σ = Silbe): <?page no="27"?> 28 1 Grundlagen σ AR KERN ER ʃ t r a ɪ t Abbildung 1.2: Silbenstruktur (AR: Anfangsrand, ER: Endrand) Der Kern einer Silbe wird immer von einem Vokal oder einem Diphthong ausgefüllt. Vokale tragen die größte Schallfülle, das Sonoritätsmaximum, was besonders beim Singen deutlich wird. Die Anfangs- und Endränder werden von Konsonanten besetzt. In einem Wort wie in scheint der Konsonant im Anfangsrand zu fehlen. Aber dort befindet sich, wie immer, wenn eine Silbe mit einem Vokal beginnt, der bereits erwähnte Knacklaut [ʔ], der in der Schrift nicht erscheint. In der Koda hingegen können Konsonanten gänzlich fehlen wie in Zoo. Das Deutsche ist für viele, die Deutsch lernen, eine schwierige Sprache, da im Anfangsrand wie im Endrand mehrere Konsonanten gehäuft auftreten können: im Anfangsrand bis zu drei und im Endrand bis zu fünf Konsonanten, wie man an den Beispielen <Streit> und <schimpfst> sehen kann. Schreiber mit einer anderen Herkunftssprache, in der diese Konsonantenhäufungen nicht vorkommen, neigen deshalb manchmal dazu, Vokale zwischen den Konsonanten einzufügen, um diese für sie ungewohnten Konsonantencluster ihrem anders geprägten Sprachgebrauch anzupassen. Anstatt Blume kann man dann manchmal die Schreibung *Bulume oder anstatt brechen *berechen finden. Die Abfolge der Konsonanten am Anfang und am Ende einer Silbe ist keineswegs beliebig, sondern richtet sich nach der Schallfülle (Sonorität), die die einzelnen Konsonanten enthalten. Vom Kern einer Silbe, dort wo ein Vokal mit der größten Schallfülle sitzt, nimmt sie zu den Rändern der Silbe hin ab. Das bedeutet, dass die Konsonanten mit einer höheren Sonorität näher am Kern liegen und diejenigen mit geringerer Sonorität sich eher an den Rändern befinden. Konsonanten lassen sich also hinsichtlich ihrer Sonorität hierarchisch anordnen. Plosive Frikative Nasale Liquide p, t, k, b, d, g s, ʃ, z, f, v, ç, x m, n, ŋ l, r h, j gering hoch <?page no="28"?> 29 1.7 Bereiche der Wortschreibung Diese Hierarchie führt zu bestimmten Abfolgen der Konsonanten: Am Anfangsrand steigt die Sonorität an und im Endrand fällt sie wieder ab. Deshalb kommt es am Anfang und am Ende von betonten Silben zu umgekehrten Abfolgen, wie die folgenden Beispiele zeigen. Am Anfangsrand sind diese Abfolgen möglich: (2) / p - l/ wie in Plage / p - r/ wie in Preis / ʃ - m/ wie in schmecken / ʃ - n/ wie in Schnecke Im Endrand kehren sich diese Abfolgen um: (3) / l - p/ wie in Kalb / r - p/ wie in Korb / m - ʃ/ wie in Ramsch / n - ʃ/ wie in Wunsch 1.7 Bereiche der Wortschreibung Zum Kernwortschatz gehören etwa 8000 heimische, native Wörter mit einfachen, regelmäßigen Stämmen, häufigem Gebrauch und leichter Erlernbarkeit (Eisenberg 2017). Die größte Gruppe umfasst mindestens 5000 einsilbige und zweisilbige Substantive mit einer ersten betonten und einer zweiten unbetonten Silbe. Die unbetonten Silben enthalten immer den Schwa-Laut [ə], entweder in offener Silbe wie in Nase oder geschlossen mit den Konsonanten [n], [m], [r] oder [l] wie in Haken, Atem, Schiefer oder Bügel. Hinzu kommen vor allem noch Verben und Adjektive, aber auch einige Adverbien, Präpositionen und Konjunktionen (z. B. reden, eitel, heute, gegen, aber). Aus didaktischer Sicht ist es entscheidend, dass dieser Kernwortschatz sicher erlernt wird. Der Schwerpunkt des Rechtschreibunterrichts sollte auf einfach und regelhaft geschriebenen Wörtern liegen, nicht auf Ausnahmen und Fremdwörtern. Anstatt des Terminus Kernwortschatz schlagen wir für den Unterricht den Begriff Normalwörter vor, der Schülerinnen und Schüler darauf verweist, <?page no="29"?> 30 1 Grundlagen dass die Schreibungen dieser Wörter auf einfachen Wortmodellen beruhen, die man sich leicht einprägen kann. Zu einer weiteren Gruppe gehören meist kurze Wörter aus kleinen, geschlossenen Klassen wie Partikeln (Adverbien, Interjektionen, Konjunktionen, Präpositionen), Artikel, Pronomen, Hilfsverben und einfache Zahlwörter. Diese Wörter kommen häufig vor und sind wohl gerade deshalb nicht immer regulär. Sie können es sich gewissermaßen erlauben, gegen Regeln zu verstoßen, da sie sich leicht einprägen lassen und deshalb kein Bedarf besteht, sie an regelhafte Schreibungen anzupassen. Beispielsweise die überaus häufige Konjunktion und, die, anstatt mit <t> wie in bunt, am Ende mit <d> geschrieben wird, obwohl das Wort nicht verlängerbar ist. Aber auch die kleine Gruppe kurzer Substantive mit einer Verdoppelung des Vokalbuchstabens wie Aal, See und Zoo gehören zu dieser Gruppe. Wir können sie als Kurzwörter bezeichnen. Kurzwörter sind Lernwörter, da sie sich nicht mit Regelwissen erschließen lassen. Man muss ihre Schreibung kennen. Sehr viele davon sind so häufig, dass es nicht nötig ist, sie eigens zu lernen. Bei nicht ganz so häufigen wäre es aber sinnvoll, sie in Gruppen als Lernwörter zu präsentieren, da sie sich oft doch auch wieder nach bestimmten Regularitäten richten und so als Gruppe erkennbar werden, was wiederum dem Leser nützt. Den größten Anteil an diesen Kurzwörtern haben sogenannte Funktionswörter, das heißt Wörter, die primär eine grammatische Funktion erfüllen und eine geschlossene Klasse bilden. Sie zeigen Besonderheiten der Schreibung u. a. in folgenden Bereichen: ▶ meist ohne Vokaldehnungsmarkierung: so, wo, zu, da, ja, wir, dir, mir ▶ wenige mit Vokaldehnungsmarkierung: ihr, ihn, ihm ▶ meist ohne Konsonantenverdoppelung: das, was, mit, ob, von, hat ▶ wenige mit Konsonantenverdoppelung: wenn, dann, denn, dass ▶ mit Auslautverhärtung: und, während, ob, ab, weg; (ihr) seid, (wir / sie) sind Hinzu kommen noch die Präfixe 4 ver- und vorsowie weg- und ab-. Letztere müssten eigentlich, da nicht verlängerbar, *wek und *ap geschrieben werden. Die Präfixe ver- und vorwerden nicht mit <f> geschrieben wie die weitaus meisten Normalwörter mit dem Phonem / f/ . Hinzu kommen noch andere Kurzwörter wie viel, vier, voll, von und vor. Es scheint so, als ob sich diese kurzen Wörter und Präfixe nicht mit dem wesentlich größeren Buchstaben <f> auf- 4 Suffixe wie -ung, -heit und -keit sind alle regelhaft. <?page no="30"?> 31 1.8 Aufgaben plustern möchten. Dem Leser erschiene das wohl eher unangemessen. Hinzu kommen noch vier Substantive mit V-Schreibung, nämlich Vater, Vogel, Vieh und Volk, die als Ausnahmen gelernt werden müssen. Neben der [f]-Aussprache des <v>-Graphems in nativen deutschen Stämmen und Präfixen wird <v> in Wörtern fremden Ursprungs als [v] artikuliert, etwa in vage, Vase, Vampir, Vene, vital, Vokabel, Volt oder Vulkan, auf die wir in Kapitel 6 zur Fremdwortschreibung zurückkommen werden. 1.8 Aufgaben 1. Warum sind Ihrer Meinung nach die Rechtschreibleistungen seit den 1970er-Jahren schlechter geworden? Diskutieren Sie mögliche Gründe dafür. 2. In welcher Hinsicht sind Anlauttabellen problematisch? 3. Zeigen Sie anhand von Beispielen, dass … a) für ein Phonem unterschiedliche Grapheme stehen können, b) für ein Graphem unterschiedliche Phoneme stehen können. 4. Erläutern Sie die für das Deutsche charakteristische Struktur von einsilbigen und zweisilbigen Wörtern. 1.9 Literaturhinweise Das ‚Amtliche Regelwerk‘ zur deutschen Rechtschreibung in der jeweils aktualisierten Fassung entsprechend den Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung (zuletzt 2016) findet man im Internet unter www.rechtschreibrat. com/ DOX/ rfdr_Regeln_2016_veroeffentlicht_2017.pdf (gesehen am 10.8.2019). Peter Eisenberg (2017) kommentiert die Regeln und erklärt sie anhand zahlreicher Beispiele als ein in sich stimmiges und gut erlernbares System. Der Bezug zwischen Lautung und Schreibung wird von Nanna Fuhrhop und Jörg Peters in ihrer ‚Einführung in die Phonologie und Graphematik‘ (2016) dargestellt. Zur Didaktik der Orthografie empfehlen wir den von Ursula Bredel und Tilo Reißig herausgegebenen Sammelband ‚Weiterführender Orthographieerwerb‘ (2015). Darin finden sich zahlreiche Aufsätze zur Forschung und Unterrichtspraxis aus allen relevanten Bereichen der Graphematik und Rechtschreibung. <?page no="32"?> 2 Didaktische Wortmodelle Nach unseren bisherigen Ausführungen zur Wortschreibung sollte deutlich geworden sein, dass der native deutsche Kernwortschatz weitgehend regelhaft strukturiert ist. Aus didaktischer Sicht erscheint es deshalb sinnvoll, diese Regelhaftigkeit anhand von Modellen und Beispielen zu vermitteln. Das Ziel wäre, dass die Schülerinnen und Schüler diese Regelhaftigkeit erkennen und so internalisieren, dass sie sich auch beim Schreiben von bislang unbekannten und noch nie geschriebenen Wörtern auf ihr Rechtschreibwissen verlassen können. Der alternative Weg, über einen Grundwortschatz eine stabile Rechtschreibkompetenz zu entwickeln, ist dagegen weniger zu empfehlen. Diese Methode kann zwar dazu führen, dass die Wörter, die im Grundwortschatz durch intensives Üben gelernt wurden, (weitgehend) richtig geschrieben werden, aber es wird so nicht gewährleistet, dass ein Transfer auf die Schreibung von Wörtern erfolgt, die nicht im Grundwortschatz enthalten sind. Hinzu kommt das Problem, dass Listen zwischen 100 und 1000 Wörtern zu der Vorstellung führen können, man müsse nicht nur diese, sondern alle deutschen Wörter lernen, um sie richtig schreiben zu können, denn jedes Wort hätte seine Eigentümlichkeiten, die sich nicht generalisieren ließen. Wenn es auf solchen Listen auch Wörter mit Ausnahmeschreibungen gibt, wird diese falsche Einschätzung noch verstärkt. Die deutsche Rechtschreibung muss dann als eine nicht durchschaubare Anhäufung unterschiedlichster Schreibungen erscheinen, die man sich unmöglich alle merken kann. Es hat wenig Sinn, Wortschreibungen einfach nur üben zu lassen, bis sie ‚sitzen‘. Vor dem Üben muss immer das Erklären stehen. Dieses Erklären sollte aber nicht auf einer rein sprachlichen Ebene erfolgen, sondern mit grafischen Modellen unterstützt werden, mit deren Hilfe sich die Schülerinnen und Schüler die orthografische Struktur von Wörtern veranschaulichen können. Zur Wortschreibung gibt es zwei Strukturmodelle, die das mehr oder weniger gut leisten können: Das Garagenhaus von Christa Röber (2011) und das Sofahaus von Frietjof Scheffler (2004). Während das Garagenhaus von trochäischen Zweisilbern als zentralen Modellwörtern ausgeht, also von Wörtern wie Schule, die auf der ersten Silbe betont und der zweiten unbetont sind, beruht das Sofahaus auf der Unterscheidung von langen, gespannten und kurzen, ungespannten Vokalen in Wörtern wie Sohle und soll, wobei die Silbenzahl keine Rolle spielt. Nach der Vorstellung der beiden Modelle werden wir sie am Ende <?page no="33"?> 34 2 Didaktische Wortmodelle miteinander vergleichen und in Hinblick auf ihr didaktisches Potential bewerten. Schließlich möchten wir noch das ORI-Modell von Edith Bauer (1990) vorstellen, das mit dem Sofahaus-Modell kompatibel ist. 2.1 Das Garagenhaus Mit dem Modell des Garagenhauses soll Kindern im Anfangsunterricht die silbische Gliederung nativer deutscher Wörter vermittelt werden. Als Modellwörter dienen ausschließlich trochäische Zweisilber, da sich mit ihnen die silbische Struktur der deutschen Wortschreibung am besten erklären lässt (vgl. Röber 2011). Die Schreibung von sehr vielen Einsilbern, etwa von lieb, dessen Plosiv [p] am Silbenendrand trotz Stimmlosigkeit mit <b> geschrieben wird, lässt sich nur mit der zweisilbigen Form Liebe erklären. Nach diesem Modell werden Silben als Bewohner eines Hauses aufgefasst. Dabei wohnt die erste betonte Silbe eines Zweisilbers in einem Haus und die zweite unbetonte Silbe muss sich mit der Garage begnügen. <Lie> würde also im Haus wohnen und <be> käme in die Garage. Die Buchstaben der betonten und unbetonten Silben verteilen sich im Haus auf zwei oder drei Zimmer und in der Garage immer nur auf zwei Räume. Im ersten Zimmer des Hauses wird der konsonantische Anfangsrand der betonten Silbe eingetragen, im zweiten Zimmer der Vokal. In der Garage stehen im ersten Raum der Anfangsrand und im zweiten Raum der Kern und der Endrand der unbetonten Silbe. Wenn Kinder einwenden sollten, Garagen hätten doch keine Räume, wird die Lehrkraft den Einwand leicht als Raum für das Auto und einen angebauten Geräteschuppen plausibel machen können: also offenbar ein anschauliches, kindgerechtes Modell, mit dem sich gut arbeiten lässt. Zu diesem Modell nun Beispiele, zunächst Wörter mit Langvokal in offener Silbe ohne konsonantischen Endrand. In der folgenden Abbildung ist links das Wort Hüte im Urmodell von Röber eingetragen, rechts daneben steht das Wort lesen in einer etwas anderen Gestaltung aus dem Fibelwerk ‚ABC der Tiere‘ (Handt / Kuhn 2018), in dem konsequent dieser silbische Ansatz umgesetzt wird. <?page no="34"?> 35 2.1 Das Garagenhaus Abbildung 2.1: Garagenhäuser für Wörter mit unmarkiertem Langvokal 5 In dieses Hausmodell von Röber (2011) lassen sich nun problemlos Wörter wie Tube, Soße oder schlafen eintragen. T u b e S o ß e schl a f en Tabelle 2.1: Wörter mit unmarkiertem Langvokal Falls gespannte Vokale als lang markiert werden, wird diese Längenmarkierung unmittelbar an den Vokal im zweiten Zimmer des Hauses angefügt. G ie b el B üh n e B oo t e Tabelle 2.2: Wörter mit markiertem Langvokal Für Kinder wird mit dem Garagenhaus-Modell klar, dass der erste Teil eines zweisilbigen Wortes, der ins Haus gehört, betont wird, und der zweite Teil, der in die Garage kommt, unbetont bleibt. Durch dieses Wissen, das so visualisiert wird, kann von Anfang an verhindert werden, dass Erstklässler das Schwa-/ ə/ in unbetonten Endsilben betonen und als langes, gespanntes / e: / aussprechen. Wörter wie Tube lesen viele Kinder nämlich zunächst oft als */ tu: be: / oder Giebel als */ gi: be: l/ , ein Lesefehler, der regelmäßig bei einer Methodik zu beobachten ist, die von einer Laut-Buchstaben-Beziehung ausgeht. Außerdem können sie 5 Abbildung 2.1-2.4: Antje Baumann, https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Silbenanalytische_ Methode (gesehen 15.1.2020). Abbildung 2.1-2.6: © Mildenberger Verlag - ABC der Tiere. http: / / www.abc-der-tiere.de/ silbenmethode/ einfuehrungslehrgang/ haeuschenschreibung-die-hausordnung-der-rechtschreibung/ (gesehen 15.1.2020). <?page no="35"?> 36 2 Didaktische Wortmodelle mit diesem Modell lernen, dass auch dann, wenn sie in der unbetonten Endsilbe häufig nicht einmal ein Schwa hören, wie in / gi: bl/ , dennoch im zweiten Zimmer der Garage immer ein <e> stehen muss. Das gelingt allerdings nur, wenn sie die Zweisilbigkeit eines Wortes und seine Silbengrenzen erkennen. Wörter mit Kurzvokal in betonter Silbe, die mit konsonantischem Endrand geschlossen werden, lassen sich ebenfalls in dieses Hausmodell eintragen. Links steht das Modell von Christa Röber und daneben die Visualisierung aus der Fibel ‚ABC der Tiere‘, darunter Wortschreibungen, die nach diesem Modell funktionieren: Abbildung 2.2: Garagenhäuser für Wörter mit Kurzvokal K i s t e f i n d en G o n d el K i n d er H a lf t er Tabelle 2.3: Wörter mit Kurzvokal Bei diesem Worttyp befinden sich im dritten Zimmer des Hauses neben dem betonten Vokal auch noch ein, manchmal auch zwei Konsonanten. Man kann den Kindern dazu erklären, dass sich der Vokal im zweiten Zimmer nun nicht mehr dick machen kann, da er durch den folgenden Konsonanten gequetscht wird. Sein Zimmer wird in zwei aufgeteilt, also um die Hälfte reduziert. Bei Wörtern mit ungespanntem, kurzem Vokal, die durch die Verdoppelung des Konsonantenbuchstabens markiert werden, also Wörter wie Mutter, Puppe oder brummen, besteht das Problem, dass die betonte nicht eindeutig von der unbetonten Silbe separiert werden kann. Der Konsonant im Endrand der betonten Silbe ist gleichzeitig der Anfangsrand der unbetonten Silbe. Um diese enge Verbindung von betonter und unbetonter Silbe im Häusermodell zu visualisieren, wird die Garage ins Haus geschoben; daneben das Modell aus dem ‚ABC der Tiere‘ mit einer ähnlichen Lösung. <?page no="36"?> 37 2.1 Das Garagenhaus Abbildung 2.3: Garagenhäuser für Wörter mit doppeltem Konsonantenbuchstaben Das Janusgesicht der ambisyllabischen Konsonanten, die gleichzeitig die betonte Silbe abschließen und die unbetonte Silbe einleiten, was in der Schrift zur Verdoppelung der Konsonantenbuchstaben führt, kommt mit beiden Visualisierungen gut zum Ausdruck. Schreibanfänger können jedoch Probleme bekommen, wenn sie Wörter mit diesen Schreibungen in die entsprechenden Kästchen eintragen sollen. Ein grundsätzliches Problem des Garagenhaus-Modells besteht darin, dass man bereits wissen muss, wie ein Wort geschrieben wird, bevor man seine Buchstaben in die Zimmer von Haus und Garage einträgt. Erst wenn man die Schreibungen kennt, kann man auch entscheiden, ob man das Modell mit getrennter oder angebauter Garage wählen soll. Neben Garagenhäusern für Wörter mit ▶ Langvokal in offener Silbe ohne konsonantischen Endrand (Hüte, lesen, Giebel, Bühne, Boote), ▶ Kurzvokal in geschlossener Silbe mit konsonantischem Endrand (Hüfte, Winter, finden, Gondel, Halfter), ▶ Kurzvokal in offener Silbe mit ambisyllabischem Endrand (Hütte, Brunnen, knabbern, Kummer), gibt es schließlich auch noch einen Garagenhaustyp für Wörter mit ▶ Langvokal in geschlossener Silbe mit konsonantischem Endrand (Hühnchen, Monde, Vögte, Werte) Bei diesem Modell wird der Konsonant, mit dem die betonte Silbe abgeschlossen wird, in der rechten unteren Ecke des zweiten Zimmers eingetragen, der ‚Besenkammer‘, damit sich der Vokal (mit oder ohne Dehnungsmarkierung) trotzdem ausdehnen (dick machen) kann. <?page no="37"?> 38 2 Didaktische Wortmodelle Abbildung 2.4: Garagenhaus für Wörter mit Langvokal in geschlossener Silbe Das von Röber (2011) hier eingetragene Beispielwort ist aufgrund seiner Diminutiv-Endung problematisch, da sie den Vokal in der betonten Silbe von / u: / zu / y: / umlauten lässt, also <Hühn> anstatt <Huhn>, wobei die Längenmarkierung durch das stumme <h> mit der zweisilbigen Form <Hühner> besser mit einem Hausmodell ohne ‚Besenkammer‘ erklärt werden könnte. Beispiele mit den Diminutiv-Endungen -chen oder -lein wie Söhnchen, Stühlchen oder Häslein sind also nicht geeignet, die Schreibung der vorausgehenden betonten Silbe plausibel zu erklären. Diminutiv-Endungen werden an den Stamm gehängt, wobei der Stamm durch Umlautung des Stammvokals verändert werden kann. Genau aus diesem Grund funktioniert übrigens auch das oben erwähnte Minimalpaar Kuchen - Kuhchen, da Kuchen ein reguläres zweisilbiges Wort ist, Kuh-chen aber aus dem Stamm Kuh mit der angefügten Diminutivendung <chen> besteht. Die einzig sinnvollen Wörter für dieses Besenkammer-Modell des Garagenhauses wären Wörter wie Mon-de, Wer-te oder Vög-te, also extrem seltene Ausnahmeschreibungen, bei denen der Langvokal mit einem konsonantischen Endrand geschlossen wird. Aber welcher Schreiber käme auf die Idee, vor dem Schreiben des Wortes Mond die Parallelform Monde zu bilden und sich dabei ein Haus mit Besenkammer vorzustellen, um darin das <n> von Monde unterzubringen, damit das / o: / durch das / n/ nicht gequetscht wird? Dieses Modell gibt Kindern mehr Rätsel auf, als dass es zur Klärung und Festigung seltener Wortschreibungen beitragen könnte. 6 Die letzte der vier Garagenhaus-Varianten macht auch deutlich, wie problematisch es ist, sich grundsätzlich auf zweisilbige Wörter zu beschränken. Der Imperativ „Suche eine zweisilbige Erweiterungsform! “ wird vor allem dann ärgerlich, wenn einsilbige Wörter wie Huhn, Sohn oder gähn durch zweisilbige Parallelformen keinen orthografischen Erkenntnisgewinn bringen; ganz zu schweigen von den einsilbigen Wörtern, die sich nicht erweitern lassen. Offen- 6 Ausnahmen wie Mond sollte man der Gruppe der Lernwörter zuordnen, wie z. B. auch Pferd, Obst oder Wüste. Die meisten von ihnen sind von der Struktur ‚Langvokal + r + Konsonant‘ (z. B. Pferd, Herd, Wert, Schwert, Bart, Fahrt). <?page no="38"?> 39 2.1 Das Garagenhaus bar wurde dieses Problem von den Autoren des Fibelprogramms ‚ABC der Tiere‘ erkannt. Man hat deshalb noch einen weiteren Haustyp für einsilbige Wörter entwickelt: Abbildung 2.5: Worthaus für einsilbige Wörter Da hier nun aber keine Garage mehr für die unbetonte Silbe vorhanden ist, sondern nur noch eine Art Gartenhäuschen für einen einzelnen Konsonanten, der in keiner erkennbaren Beziehung zum einsilbigen Wort steht, wird das Garagenhaus endgültig überdehnt. Die Vielzahl der Garagenhaus-Modelle stellt so eher eine Überforderung als eine Hilfe dar. Der Aufwand der didaktischen Modellbildung steht in einem ungünstigen Verhältnis zum Nutzen für die Aneignung und die Automatisierung der Rechtschreibung. Schließlich kommt noch ein Problem hinzu, das die grundlegende Struktur unserer Wortschreibung betrifft: ihre silbische und ihre morphematische Gliederung. Die silbische Gliederung unserer Wörter entspricht nämlich in sehr vielen Fällen nicht ihrer morphematischen Gliederung. Die Verbform spielen setzt sich aus der betonten Silbe spie- und der unbetonten Silbe -len zusammen. Der Stamm von spielen ist hingegen spiel und die Flexionsendung -en. Der silbische Schnitt und der morphematische Schnitt sind also nicht deckungsgleich. Da das Garagenhaus-Modell einseitig auf die silbische Gliederung setzt, wird die morphematische Gliederung nicht erkennbar. Um diesen Mangel zu beheben, kam Ursula Bredel (2010) auf die Idee, einen Knick einzufügen, so dass die Buchstaben des Flexionsmorphems auf dem abgeknickten Ende der unbetonten Silbe eingetragen werden. Abbildung 2.6: Worthaus zur silbischen und morphematischen Gliederung <?page no="39"?> 40 2 Didaktische Wortmodelle Das silbische Garagenhaus-Modell wird mit dieser zusätzlichen morphematischen Information überdehnt. Wenn man bei dem Stamm spiel sein konsonantisches Ende, also das <l>, in die Garage befördert, hat man den Stamm auseinandergerissen. Kinder bekommen so den falschen Eindruck, die silbische Gliederung sei wichtiger als die morphematische. Die silbische Gliederung von Wörtern ist zwar für das laute Lesen im Anfangsunterricht wichtig, damit Kinder den Unterschied von betonter und unbetonter Silbe erkennen. Die morphematische Gliederung aber hilft Lesern wie Schreibern, Wortstämme, Präfixe und Suffixe rasch zu erfassen und sich einzuprägen, da sie in allen Umgebungen (weitgehend) gleich geschrieben werden. Silbische Gliederungen und Modelle sollten deutlich von morphematischen Gliederungen und Modellen getrennt bleiben. Eine Vermischung, wie sie durch den ‚Knick in der Garage‘ zum Ausdruck kommt, führt zu keiner Verbesserung der Wortschreibung, sondern trägt eher zur Verwirrung bei. Mit einem abschließenden wohlwollenden Blick auf das Grundmodell des Garagenhauses, also ohne Knick, wird man sagen können, dass Kinder, die damit arbeiten, möglicherweise ihre Rechtschreibung verbessern können, weil sie genötigt werden, sorgfältiger und genauer auf Schreibungen zu achten und die silbische Gliederung zweisilbiger Wörter besser zu erkennen. Problematisch sind aber die unterschiedlichen Modellvarianten des Garagenhauses, da der Schreiber zuerst wissen muss, wie ein Wort geschrieben und gegliedert wird, bevor er eine bestimmte Modellvariante auswählt. Für den Erwerb des Lesens ist das Garagenhaus-Modell günstiger, da das stockende Lesen von Buchstabe zu Buchstabe, das in der Arbeit mit Buchstabiermethoden, sei es mit oder ohne Anlauttabelle, ein ständiges Problem bei Leseanfängern ist, so wirksam unterbunden werden kann. Das orthografische Wissen zur Doppelkonsonantenschreibung scheint bei vielen Lehrkräften leider nur unzureichend entwickelt zu sein. So konnten Wiprächtiger-Geppert & Riegler (2018) bei einer Überprüfung des orthografischen Wissens von 107 Lehrpersonen aus Hessen anhand von Tafelbildern und dem Umgang mit Rechtschreibübungen beobachten, dass die Schüler Wörter wie Kissen wie „kleine Roboter“ sprechen sollten, damit die „Doppelkonsonanten ‚hörbar‘ oder ‚erfahrbar‘ werden“, also etwa so, wie in einer silbischen Sprache, beispielsweise dem Italienischen, Doppelkonsonanten an einem Silbengelenk gelängt ausgesprochen werden (carro, città, sacco). In einer empirischen Studie, in der Kindergartenkinder zweisilbig trochäische Wörter mit Doppelkonsonanten klatschen sollten, um zu erkennen, wo <?page no="40"?> 41 2.2 Das Sofahaus sie Silbengrenzen im sogenannten ‚Silbengelenk‘ ziehen, bevor sie mit dem Schriftspracherwerb begonnen haben, zeigte sich, dass sie Silbengelenke nicht aufspalten, sondern bei Frikativen (Affe), Nasalen (Hammer) oder Lateralen (Teller) kontinuierlich über die Silbengrenzen hinweg artikulieren, während sie bei Plosiven (Teddy, Schnecke, Schlitten) die erste Silbe nach einem Kurzvokal enden lassen. In nahezu keiner der ausgewerteten Realisierungen wurden Silbengelenke mit einer kurzen Pause in zwei Konsonanten aufgespalten. Die Autoren kommen zu einem eindeutigen Urteil: Die immer wieder anzutreffende Annahme, dass der im Gelenk stehende Laut in der Überlautung quasi ‚verdoppelt‘ werden könnte (etwa [ʃlit.t h ən]) - ein Umstand, den man schließlich ‚hören könne‘ -, ist naiv … (Pröll / Freienstein / Ernst 2016: 159) Dass es im Unterricht dennoch immer wieder zu diesem didaktischen Irrweg kommt, hängt mit silbisch orientierten Verlagsprodukten zusammen sowie mit der großen Verbreitung der FRESCH-Methode (Michel / Renk 2012), in der Silben mit dem Körper geschwungen und Silbengelenke hörbar gemacht werden, aber auch mit dem Garagenhaus-Modell, bei dem die beiden Konsonanten eines Silbengelenks auf Haus und Garage aufgespalten werden und so eine zweifache Artikulation insinuiert wird. Schließlich möchten wir noch darauf hinweisen, dass es bei silbisch basierten Methoden wie bei der Arbeit mit dem Garagenhaus zu hyperkorrekten Fehlleistungen kommt. Der didaktische Imperativ „Suche die zweisilbige Erweiterung! “, verbunden mit der Aufforderung, die Silben zu klatschen, führt oftmals dazu, dass nicht erweiterbare Wortformen wie <wem> von Schülern zu *[we: əm] erweitert und entsprechend zweimal geklatscht werden. Auch einsilbige Wörter, die erweiterbar sind wie <Brot> zu <Brote>, können fälschlicherweise als zweisilbige geklatscht werden. Aus <Brot> wird dann ein zweisilbiges *[bə-ro: t]. Diese Gefahr besteht vor allem bei Wörtern mit mehr als einem Konsonanten als Anfangsrand, vor allem bei Schülern mit Erstsprachen wie dem Türkischen, bei denen Konsonantenhäufungen nicht vorkommen. Zweisilbige Wörter wie Fliege, braten oder kneifen werden dann als dreisilbige geklatscht, nämlich als *Fe-lie-ge, *be-ra-ten oder *ke-nei-fen. 2.2 Das Sofahaus Aus der Perspektive eines Schreibers stellt sich nicht die Frage, aus wie vielen Silben ein Wort besteht, wo sich ein Silbenschnitt befindet und welche Silben betont oder nicht betont werden. Schreiber fragen vielmehr konkreter: „Wann <?page no="41"?> 42 2 Didaktische Wortmodelle muss man Konsonantenbuchstaben verdoppeln und wann nicht? “ Leser wiederum fragen, wie man Wörter lesen muss, damit sie für einen selbst wie für Zuhörer verständlich sind - gleichgültig ob Wörter ein- oder mehrsilbig sind. Für eine mögliche Transformation von einsilbigen zu zweisilbigen Wörtern oder umgekehrt bleibt für Leser wie für Schreiber auch selten Zeit. Leser müssen in Bruchteilen von Sekunden die richtige Entscheidung treffen und Schreiber möchten auch keine Zeit mit der Analyse von Silbenstrukturen verlieren. Der Leser kann sich nach einer einfachen Regel richten, um ein Wort richtig lesen zu können, gleichgültig ob es ein- oder mehrsilbig ist: Ein betonter Vokalbuchstabe wird kurz / ungespannt gesprochen, wenn zwei oder mehr Konsonantenbuchstaben folgen: Bild, Wall, Herr, Herz, kurz, Netz, Kinder, Tante oder Tanne. 7 Interessant ist hier, dass es gleichgültig ist, ob es sich um zwei unterschiedliche Konsonanten handelt oder um nur einen, der verdoppelt wird. Der Leser bekommt in beiden Fällen den eindeutigen Hinweis: Sprich den betonten Vokal kurz, da zwei Konsonanten folgen! 8 Der Schreiber aber sollte wissen, dass er nach einem kurzen betonten Vokal den Konsonantenbuchstaben verdoppeln muss, wenn nur ein Konsonantenphonem folgt. Umgekehrt gilt: Betonte Vokalbuchstaben werden lang / gespannt gesprochen, wenn nur ein Konsonantenbuchstabe folgt: Brot, fragen, Igel, komisch, Regen, schlafen, Schal, Sofa oder Wal. Es kann auch immer nur ein Konsonantenbuchstabe folgen, wenn der lange / betonte Vokal durch ein Dehnungszeichen markiert wird. Das kann ein <h> sein wie in Kuhle, Sahne oder wohnen, eine Verdoppelung des Vokalbuchstabens wie in Meer, Moor oder Saal und schließlich das <e> als Längenmarkierung für das gespannte / i: / wie in Biene, Fliege oder liegen. Um diese Regel zu veranschaulichen, hat Frietjof Scheffler (2004) das Sofahaus entwickelt, damit seit 1996 im Unterricht ab der ersten Klasse erfolgreich gearbeitet und es in Lehrerfortbildungen bekannt gemacht. Hier das Modell mit den Wörtern Haken und Harke: 7 Ausnahmen sind die bereits erwähnten wenigen Lernwörter wie Mond, Obst, Wüste, Pferd, Herd, Wert, Schwert, Bart oder Fahrt. 8 Eine Ausnahme bilden Wörter mit dem komplexen Graphem <ch>, da vor ihm kurze und lange Vokale vorkommen (vgl. machen vs. suchen). Selten sind dagegen Langvokale vor <sch> wie in Dusche. <?page no="42"?> 43 2.2 Das Sofahaus Abbildung 2.7: Sofahaus (1) Das Sofahaus hat zwei Zimmer: eins im Parterre mit einer Terrasse auf beiden Seiten und eins im ersten Stock mit zwei Balkonen. Im unteren Zimmer werden Wörter mit kurzem / ungespannten Vokal eingetragen, im oberen Zimmer Wörter mit langen / gespannten Vokalen. In beiden Zimmern befindet sich jeweils ein Sofa, das für die betonten Vokale reserviert ist: im Parterre ein kurzes, auf dem der kurze Vokal Platz nehmen darf und im ersten Stock ein langes, auf dem sich der lange Vokal breit machen kann. Neben den Sofas gibt es Sessel für die Konsonanten. Neben dem breiten Sofa im oberen Zimmer hat nur ein Sessel für einen Konsonanten Platz; neben dem kurzen Sofa im unteren Zimmer haben zwei Sessel für zwei Konsonanten Platz. Alle Buchstaben eines Wortes, die nicht auf den Sofas und Sesseln Platz finden, kommen auf die Terrasse und die Balkone. So ermöglicht das Modell, kürzere wie längere Wörter, einsilbige als auch mehrsilbige einzutragen. Abbildung 2.8: Sofahaus (2) Mit diesem Modell erkennt man rasch, warum das / a: / in Kater lang / gespannt und das / a/ in Schatz kurz / ungespannt sein muss. Bei dem Wort Kater hat das / a: / auf dem breiten Sofa Platz, sich auszudehnen; bei Schatz hingegen hat das kurze / ungespannte / a/ auf dem schmalen Sofa weniger Platz, da der Raum für einen zusätzlichen Sessel benötigt wird. Auch die Doppelkonsonantenschreibung lässt sich damit anschaulich vermitteln. Die Wörter Tante und Tanne kommen beide ins Parterre, da das <a> in beiden Fällen als kurzes / ungespanntes / a/ realisiert wird. Bei Tanne muss <?page no="43"?> 44 2 Didaktische Wortmodelle das <n> verdoppelt werden, denn auf das kurze / ungespannte / a/ folgt nur ein Konsonantenphonem. Der zweite Sessel kann daher nicht von einem anderen Konsonanten belegt werden; er darf aber auch nicht frei bleiben. Deshalb muss er von einem zweiten <n> besetzt werden. Tante kann hingegen nicht mit zwei <n> geschrieben werden, denn auf dem zweiten Sessel hat das <t> Platz genommen. Und ein dritter Sessel für ein weiteres <n> steht nicht zur Verfügung. Bei der Arbeit mit dem Sofahaus muss ein Kind bei jedem Wort zunächst entscheiden, um was für einen Vokal es sich in der betonten Silbe handelt. Der betonte Vokal muss also erkannt werden, nicht die Silbenstruktur des Wortes. Es ist dabei gleichgültig, ob es sich um ein einsilbiges oder mehrsilbiges Wort handelt. Wenn man Wal und Wall richtig schreiben möchte, muss man diese Wörter nicht in ihre entsprechenden zweisilbigen Formen Wale und Wälle transformieren, sondern kann ihre Struktur mit Hilfe des Modells unmittelbar erkennen. Nicht alle Kinder können jedoch immer richtig unterscheiden, ob ein Wort einen langen / gespannten oder einen kurzen / ungespannten Vokal enthält. Vor allem Kinder mit einer dialektalen Prägung oder einer anderen Muttersprache haben damit manchmal Probleme und müssen unterstützt werden. Im norddeutschen Regiolekt werden beispielsweise Glas oder Rad mit einem kurzen / ungespannten / a/ gesprochen, im Rheinischen der Spaß. Derartige Abweichungen von der standardsprachlichen Norm sollte die Lehrkraft kennen und sie den Schülern erklären. Da die Fähigkeit, alle 16 Vokalphoneme des Deutschen zu erkennen und standardsprachlich korrekt auszusprechen, wichtiger ist als die Fähigkeit, Wörter silbisch zu gliedern, Silbengrenzen und ambisyllabische Konsonanten an der Silbenfuge zu erkennen, lohnt es sich, die Standardaussprache der deutschen Vokale mit den Kindern zu üben. Damit die lautliche Unterscheidung der Vokale gelingt, muss die Lehrkraft sie konsequent korrekt aussprechen. Vor allem muss sie vermeiden, die Vokale immer nur in ihrer langen / gespannten Form zu benennen. Bei einem Wort wie Nase dürfte sie beispielsweise nicht sagen, dass das Wort am Ende mit einem [e: ] gesprochen wird. Diese lautlich falsche Information führt dazu, dass Kinder Nase als [na: ze: ] lesen und nicht mit einem [ə] (Schwa) in der unbetonten Endsilbe. Der Grund, warum man bis heute alle 16 Vokale des Deutschen hartnäckig nur in ihrer langen / gespannten Form artikuliert, beruht auf ihren Buchstabennamen, so wie sie im ABC genannt werden: a: , be: , tse: , de: , e: , ɛf, ge: , ha: , i: , jɔt usw. Spätestens seit 1872, als in Preußen die Buchstabiermethode verboten wurde, weiß man, dass Lesen- und Schreibenlernen durch das Aneinander- <?page no="44"?> 45 2.2 Das Sofahaus reihen von Buchstabennamen stark behindert wird. Im Unterricht würde man heute nicht mehr sagen, dass man ein Wort wie Kind mit einem [ka: ], einem [i: ], einem [ɛn] und einem [de: ] schreibt. Bei den Konsonanten wird der Name des Buchstabens nicht mehr genannt, sondern nur noch das jeweilige Phonem selbst (Plosive mit einem Schwa). Bei den Vokalen hat man hingegen den Schritt zu der Aussprache, die ihrer Qualität und Quantität entspricht, leider noch immer nicht vollzogen. Bei der Arbeit mit dem Sofahaus kann die korrekte Aussprache der Vokale auch in ihrer kurzen / ungespannten Form konsequent geübt werden, da sie der funktionalen Logik des Modells entspricht: Wörter mit kurzen, betonten Vokalen kommen ins Erdgeschoss und die Vokale nehmen dort im Zimmer auf dem kurzen Sofa Platz. Zur Unterstützung der so überaus wichtigen Unterscheidung zwischen langen und kurzen Vokalen kann man Striche unter die langen und Punkte unter die kurzen Vokale machen (lassen). Sehr nützlich sind auch gestische Zeichen in den ersten Grundschuljahren: Während man gespannte Vokale in einem Wort wie toben besonders lang zieht, breitet man seine Arme mit offenen Händen langsam weit nach oben hin aus, um ihre Ausdehnung zu verdeutlichen. Ungespannte / kurze Vokale (z. B. in Topf) hingegen lassen sich mit einem kurzen, heftigen Handkantenschlag (auf einen Tisch) symbolisieren, um zu zeigen, dass sie vom nachfolgenden Konsonanten scharf abgeschnitten werden. Besonders für anderssprachige Schüler, in deren Erstsprache es keinen bedeutungsunterscheidenden vokalischen Lang-kurz-Kontrast gibt, ist diese gestische Unterstützung überaus nützlich. Nicht alle Wörter können problemlos im Sofahaus untergebracht werden, beispielsweise Wörter, die auf ein Vokalgraphem enden. Sie sind aber recht selten, nämlich Wörter wie See, Klee, Tee, Schnee, Zoo, aber auch Klo und Uhu sowie Funktionswörter wie die, so, wo, zu, da usw., bei deren Eintrag ein Sessel leer bleibt. Problematisch sind außerdem Wörter, in denen nach Langvokal mehrere Konsonanten folgen (die oben erwähnten Lernwörter Pferd, Mond usw.). Diese beiden Gruppen muss man als Lernwörter ausgliedern. Mit dem Sofahaus-Modell lassen sich jedoch auch Schreibungen von Verben mit Personalendungen wie (du) siehst, (er / sie / es) stellt oder (er) kommt abbilden. Da die Personalendungen <st>und <t> nicht zum Stamm gehören, werden sie auf dem Balkon bzw. auf der Terrasse eingetragen. Diese Schreibungen lassen sich mit dem morphematischen Prinzip erklären, das dafür verantwortlich ist, dass die Grundformen <sieh>, <stell> und <komm> in ihrer schriftlichen Form erhalten bleiben, unabhängig davon, wie viele Konsonanten in den Personal- <?page no="45"?> 46 2 Didaktische Wortmodelle endungen folgen werden. Das morphematische Prinzip werden wir im dritten Kapitel vorstellen. 2.3 Vergleich der beiden Wortmodelle Worauf sollen Schülerinnen und Schüler ihre größte Aufmerksamkeit lenken: auf die Silbenstruktur von Wörtern wie beim Garagenhaus oder auf die Aussprache der 16 Vokalphoneme wie beim Sofahaus? Wir präferieren die Perspektive des Sofahaus-Modells, da die Qualität der Vokale die Silbenstruktur wie auch die morphematische Struktur von Wörtern grundlegend beeinflusst. Während sich das Garagenhaus einseitig an zweisilbigen Wörtern orientiert, ist es für das Sofahaus unwichtig, ob es sich um ein- oder mehrsilbige Wörter handelt. Trochäische Zweisilber sind zwar charakteristisch für die Schreibung der Normalwörter; es ist aber keineswegs so, dass sich die Schreibung einsilbiger Wörter immer nach der entsprechenden zweisilbigen Form richten muss. Für sehr viele einsilbige Wörter gibt es keine zweisilbigen Vergleichsformen und in vielen Fällen orientiert sich die Schreibung zweisilbiger Wörter an der einsilbigen Form, so vor allem bei Umlautschreibungen wie kalt - kälter, Sohn - Söhne, Gott - Götter, Kuh - Kühe. Es erscheint auch abwegig anzunehmen, dass sich ein Schreibnovize, der etwa das Wort Gott schreiben möchte, zunächst die zweisilbige Vergleichsform Götter ins Gedächtnis rufen würde. Schließlich muss man auch bedenken, dass die ein- und zweisilbigen Vergleichsformen in einem wechselseitigen Bezug zueinander stehen wie in Rad - Räder: Rad schreibt man mit <d> wegen Räder, aber Räder schreibt man mit <ä> wegen Rad. Die einseitige Fixierung des Garagenhauses auf zweisilbige trochäische Wörter macht das Modell rigide: Einsilbige und mehrsilbige Wörter sind nicht vorgesehen. Dieser einseitigen Fixierung steht eine grafische Differenzierung des Modells gegenüber: Die Häuser können aus zwei oder aus drei Zimmern bestehen und es muss manchmal noch eine Besenkammer eingebaut werden. Bei einem Modell ist die Garage vom Haus getrennt, bei einem anderen bildet sie mit dem Haus eine bauliche Einheit. Salopp formuliert: Nur für zweisilbige Wörter wird hier des Guten zu viel getan; eine verkomplizierende Über-Didaktisierung, die dem Wunsch eines jeden Schreibers, so rasch und problemlos wie möglich Wörter zu schreiben, entgegensteht. Hinzu kommt, dass Zweisilbigkeit oft nur durch Explizitlautung erkennbar wird. Unbetonte Endsilben werden in gesprochenem Alltagsdeutsch aber oft auf einen kaum noch hörbaren Konsonanten reduziert oder fallen gänzlich fort. <?page no="46"?> 47 2.3 Vergleich der beiden Wortmodelle Der Satz Wir geben es den Hunden kann alltagssprachlich extrem kontrahiert werden: [viɐge: msnhun]. Kinder müssten deshalb zunächst die Explizitlautung trainieren, bevor sie mit dem Garagenmodell arbeiten könnten. Da sich das Deutsche seit dem Übergang vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen von einer silbischen Sprache zu einer Wortsprache bewegt, schwächen sich die unbetonten Silben immer weiter ab, ohne dass dadurch die Verständlichkeit leiden würde (vgl. Szczepaniak 2007). Wenn zweisilbige Wörter zu einsilbigen reduziert werden, etwa / ge: bən/ zu / ge: m/ , werden sie immer noch gut verstanden. Wenn man aber einen langen, gespannten Vokal durch einen kurzen, ungespannten ersetzt, dann entstehen Missverständnisse. Ob man einen Ofen erwähnt oder die Tatsache, dass er offen ist, macht einen großen Unterschied, denn die beiden Phoneme / o: / und / ɔ/ sind für den Bedeutungsunterschied verantwortlich. Das Sofahaus-Modell setzt genau auf diese durch die Vokale erzeugten Unterschiede. Dass die lautlichen Unterschiede zwischen den 16 Vokalphonemen des Deutschen erkannt werden, insbesondere von Kindern mit anderen Muttersprachen, ist wichtiger, als die Explizitlautung zu üben, um Wörter silbisch gliedern zu können. Aus den Unterschieden zwischen den Vokalphonemen lassen sich dann wiederum die Schreibungen ableiten: vor allem silbische, aber auch morphematische. Die silbische Struktur von Wörtern resultiert also aus der Markierung der betonten Vokalphoneme, nicht umgekehrt. Wenn die Qualität der Vokalphoneme als lang / gespannt oder kurz / ungespannt lautlich erkannt wird, lassen sich daraus die silbischen Strukturen der Wörter für die Schreibung ableiten. Auch wenn wir die Qualität und Quantität von Vokalen für die Rechtschreibung für wichtiger halten als den silbischen Aufbau von Wörtern, so sollte dennoch die Explizitlautung erklärt und geübt werden. Dies gilt insbesondere für die korrekte Schreibung einer Reihe von Funktionswörtern, z. B. wie, die, sie, ihn usw., die im Satzkontext häufig reduziert werden. Mit der Explizitlautung werden Endungen vollständig, d. h. mit dem Schwa ausgesprochen. Während es standardsprachlich bei den meisten unbetonten Endungen korrekt ist, das Schwa wegzulassen, also etwa / ge: bn/ zu sagen, wird explizitlautlich / ge: bən/ artikuliert. Ein Training der Explizitlautung würde also dazu führen, unbetonte Silben korrekt zu schreiben. Schließlich sei noch eine Warnung ausgesprochen vor einer unsinnigen Übung zum Lesen, die auf der falschen Vorstellung beruht, man könne Wörter durch das Aneinanderreihen von Buchstaben wie Perlen auf einer Perlenkette erlesen. Dieses Übungsformat, das man leider bis heute in Unterrichtsmateria- <?page no="47"?> 48 2 Didaktische Wortmodelle lien findet, bietet Wörter in Form einer Worttreppe an, deren Elemente nacheinander gelesen werden sollen. H (1) Ha (2) Ham (3) Hamm (4) Hamme (5) Hammer (6) Das Erlesen von Wörtern, das durch diesen sukzessiven Wortaufbau vermeintlich unterstützt werden soll, wird in Wirklichkeit erschwert und führt zu der grundlegend falschen Vorstellung, dass das Aneinanderreihen einzelner Buchstaben zu einem sinnvollen Leseergebnis führen könnte. Auf der 2. und 3. Stufe der Treppe, also bei <Ha> und <Ham>, muss das <a> nämlich lang / gespannt [a: ] gesprochen werden. Erst auf der 4. Stufe bei <Hamm> erkennt der Leser, dass es sich beim <a> um ein kurzes / ungespanntes [a] handeln muss. Auf der 5. Stufe kann das <e> entweder als [e: ] wie in Rommé oder als [ə] wie in Tage ausgesprochen werden. Erst auf der 6. Stufe wird dem Leser mit der Endung <er> klar, dass er ein [ɐ] artikulieren muss. Der Leser wird also beim Lesen dieser Wortfragmente in die Irre geführt, wenn er entscheiden muss, wie ein Vokal auszusprechen ist: lang / gespannt oder kurz / ungespannt. Diese unsinnige Übung macht deutlich, dass man Vokale immer erst dann korrekt aussprechen kann, wenn man die folgenden Konsonanten kennt. Mit dem Sofahaus-Modell wird diese Erkenntnis eingeübt. Bei unbetonten Vokalen in Endungen muss man sich immer nur zwischen / ə/ und / ɐ/ entscheiden: Ist ein <r> Folgekonsonant, wird das Tiefschwa / ɐ/ artikuliert, in allen übrigen Fällen das Schwa / ə/ . Der Leser kann einen Vokalbuchstaben ohne die unmittelbar folgenden Konsonantenbuchstaben lautlich nicht adäquat erkennen. 2.4 Das ORI-Modell Der englische Linguist Graham Rawlinson (2007) hat 1976 die Bcobanhetug ghmcaet, dsas es nhict wicihtg sei, in wcleher Onrudng die Bubctahsen in eienm Wrot adnongeret snid. Whitcig sei nur, dass der etrse und der lztete Bahubcste an der ricihtegn Sltele sheten. <?page no="48"?> 49 2.4 Das ORI-Modell Nun, das stimmt nicht ganz: Rayner et al. (2006) fanden heraus, dass die Lesegeschwindigkeit um etwa 11-Prozent sinkt und dass es also doch für den Leser besser wäre, wenn man die Buchstaben in der Mitte von Wörtern in eine geregelte Ordnung bringt, vor allem dann, wenn es sich um längere und seltene Wörter handelt und wenn ein Text anspruchsvoller wird. Die Entdeckung von Rawlinson deutet aber auf ein Problem hin, das nicht nur Leser, sondern auch Schreibanfänger und schwache Schreiber haben, nämlich dass sie Fehler in der Wortmitte machen und sie auch beim nachträglichen Korrekturlesen nicht erkennen. Während der Wortanfang, vor allem das erste Graphem, in der Regel gut gelingt und auch die meisten Endungen sicher verschriftet werden, entstehen in der Wortmitte Fehler in Bezug auf Wahl und Abfolge der Buchstaben, da sie weder während des Schreibens noch beim prüfenden Rückblick auf das Geschriebene für besonders wichtig gehalten werden, wie es eben das Experiment Rawlinsons beweist. Die Musterhaftigkeit der Buchstabenabfolgen in den Wortmitten wird nicht erkannt, weil sie nicht explizit geübt wird. Im Deutschen ist die Wortmitte von besonderer Bedeutung, da der betonte Vokal entweder als langer / gespannter oder als kurzer / ungespannter Vokal dekodiert werden muss, was aber, wie oben festgestellt, nicht am Vokal selbst zu erkennen ist, sondern nur aufgrund der darauf folgenden Konsonanten. Der betonte Vokal und die anschließenden Konsonanten müssen deshalb als Gruppe visuell erfasst werden. Für die Beispiele Fuß - Füße und Kuss - Küsse hat Kurt Warwel (1967) die Vokal- / Konsonanten-Gruppen <uß>, <üß> beziehungsweise <uss>, <üss> als Signalgruppen bezeichnet, da sie als graphematische Einheiten beim Leseprozess eine zentrale Funktion haben. Warwels Signalgruppen entsprechen weitgehend den graphematischen Einheiten, die Edith Bauer (1990) in ihrer Studie als orthografische Invarianten (ORI) bezeichnet. 9 Sie entsprechen dem betonten Vokal und den ein oder zwei folgenden Konsonanten, die im Sofahaus auf den Sofas und Sesseln Platz nehmen dürfen, während der Rest auf die Balkone und Terrassen verwiesen wird. Damit schließt das ORI-Modell nahtlos an das Sofahaus-Modell an. 9 Edith Bauer hat sich in ihrer Dissertation, die an der Universität Rostock in den letzten Jahren der DDR entstanden ist, nicht auf Warwel bezogen, da sie offenbar seine wenigen, schwer auffindbaren Veröffentlichungen aus den 1960er Jahren nicht kannte, was aber kein Schaden ist, da Warwel seine „Signalgruppen“ linguistisch nur unzureichend fundiert hat. <?page no="49"?> 50 2 Didaktische Wortmodelle Um den Sinn des ORI-Modells deutlich zu machen, vergleichen Sie zunächst einmal die Wörter in der folgenden Reihe miteinander. Können Sie irgendwelche Gemeinsamkeiten entdecken? (1) finden, windig, kindisch, sind, Erfinder, erfinderisch, unerfindlich, findig, minder, Linde, Winde, hinderlich, zumindest Und nun schauen Sie sich diese Wörter in dem Kasten an: Vorsilben linker Rand Wortmitte rechter Rand Endungen f ind en w ind ig k ind isch Er f ind er er f ind er isch uner f ind lich f ind ig m ind er L ind e W ind e h ind er lich zu m ind est Tabelle 2.4: Wörter mit orthografischen Invarianten in der Wortmitte Während die Wörter nacheinander geschrieben für viele Leser, vor allem für schwache Leser, keine Gemeinsamkeiten zu haben scheinen, wird mit der Liste im Kasten deutlich, dass alle Wörter in der Wortmitte die gleiche Graphemfolge haben, nämlich <ind>. Die Arbeit mit diesem Modell ermöglicht Schülerinnen und Schülern nicht nur einen geschärften Blick auf die Wortmitte, sondern auch eine eigenständige Erweiterung des Wortschatzes. Wenn man beispielsweise die Graphemfolge <eck> vorgibt, so lassen sich annähernd 40 Wörter mit diesem Kern finden: <?page no="50"?> 51 2.4 Das ORI-Modell (2) Becken, blecken, Buchecker, Decke, Deckel, Dreck, dreckig, Ecke, erschrecken, entdecken, Fleck, Geck, Hecke, hecken, keck, kleckern, Leck, lecken, meckern, necken, Quecke, Reck, recken, schlecken, Scheck, schmecken, Schnecke, Speck, Schreck, stecken, Strecke, strecken, Treck, Trecker, wecken, Wecker, Zecke, Zweck, Zwecke 10 Diese Wörter sollten nicht als ‚Vokabeln‘ anhand einer vorgegebenen Wortliste gelernt werden, sondern können vielmehr nach und nach entdeckt werden, wenn Schüler nach Wörtern suchen, die die Graphemfolge <eck> enthalten. Nach den ersten ein oder zwei Beispielwörtern können eigenständig weitere Wörter mit der entsprechenden Wortmitte in die Tabelle eingetragen werden. Buchstaben davor Wortmitte -eck Buchstaben danach schl eck en W eck er --eck --- Tabelle 2.5: Wörter entdecken mit ORI Anstatt vorgegebener, statischer Wortschatzlisten werden von den Schülern auf diese Weise selbstständig erweiterbare Wortgruppen ermittelt und gelernt: ein produktiv entdeckendes Verfahren anstatt monotoner Reproduktion und langweiligen Memorierens. Wenn man Schülerinnen und Schülern Tabellen vorgibt, in die sie Wörter mit graphischen Invarianten wie <ank>, <elch>, <arb>, <ess> oder <itt> eintragen sollen, führt dies zu einer lernförderlichen Suchaktivität, bei der auch seltenere Wörter und ihre Schreibungen gelernt werden. Wie produktiv das Verfahren ist, erkennt man anhand der Wortlisten mit graphischen Invarianten heimischer deutscher Wörter, die in dem Wörterbuch von Bauer / Richter (2011) zu finden sind. Das Erkennen von Graphemfolgen, die einen direkten Bezug zu den Vokalen in der betonten Silbe haben, die entweder lang / gespannt oder kurz / ungespannt 10 Diese begrenzte Stichprobe macht auch deutlich, dass sich bei vielen einsilbigen Wörtern wie Geck, Scheck, Dreck, Schreck oder Treck keine oder nur schlecht zweisilbige Vergleichsformen finden lassen, um über einen silbischen Zugang (mit oder ohne Hilfe des Garagenhauses) die Gelenkschreibung <ck> zu ermitteln. <?page no="51"?> 52 2 Didaktische Wortmodelle ausgesprochen werden müssen, hilft vor allem schwachen Rechtschreibern und Legasthenikern. Denn ihr Problem ist in erster Linie ihre mangelnde Fähigkeit, phonetische Regelhaftigkeit mit graphematischer Regularität in Einklang zu bringen, ein Defizit, das auf einem unzureichend gelingenden Phonem-Graphem-Bezug beruht, nicht auf einem visuellen oder silbisch begründbaren Defizit (Snowling / Hulme 2012; Perry / Ziegler / Coltheart 2002). Dieses Defizit lässt sich nicht beheben, wenn man auf den Bezug von einzelnen Phonemen zu einzelnen Graphemen setzt, da im Deutschen die hohe Zahl von 16 Vokalphonemen nicht 16 Vokalgraphemen entspricht. Die Vokalphoneme können nur phonematisch kodiert und enkodiert werden, also unter Einbezug der folgenden Konsonanten, die auf den Sesseln im Sofahaus Platz finden. Mit dem ORI-Modell bekommen Schüler einen sprachstrukturellen Zugang zur Schrift, der weder auf einer silbischen noch auf einer morphematischen Konzeption beruht, sondern vom vokalischen Kern der betonten Silbe und den folgenden Konsonanten ausgeht - ein Verfahren, das mit dem Sofahaus-Modell vermittelt und geübt werden kann. Entscheidend ist dabei die Erkenntnis, dass Grapheme im Wortinneren nicht willkürlich angeordnet sind, sondern relativ wenigen Mustern folgen. Nicht nur Normalwörter, auch viele Kurzwörter richten sich nach diesen Mustern. Silbische Ansätze, die von trochäischen Zweisilbern als Matrixwörter ausgehen, müssen einsilbige Kurzwörter, die nicht zu zweisilbigen Wörtern erweiterbar sind, ausklammern. Im Garagenhaus lassen sie sich nicht unterbringen. Man empfiehlt deshalb, sie als Lernwörter in einer oder in mehreren Listen auszulagern, damit die Schreibungen dieser Wörter gesondert gelernt werden können. Aber wie Schüler sich dann diese Schreibungen einprägen sollen, wird nicht erörtert. Offenbar soll das so geschehen wie mit den Wörtern in den sogenannten Grundwortschatzlisten, in denen Normalwörter und Kurzwörter undifferenziert nebeneinander stehen, nämlich durch wiederholtes Abschreiben in mehreren Übungsformaten wie gegenseitigem Diktieren, mit Laufdiktaten, Arbeit mit Wortschatzkarteien usw. All diesen Übungsformen ist gemeinsam, dass Schüler sich Kurzwörter als Ganzes visuell einprägen sollen. Auf diese Weise kommt die didaktisch nicht mehr akzeptierte Wortbildtheorie (Scheerer-Neumann 1995) doch wieder ins Spiel. Ein früher häufig zu findendes Übungsformat, das auf der Wortbildtheorie beruht, setzt darauf, dass Schüler die Kontur von Wörtern mit ihren Unter-, Mittel- und Oberlängen visuell erfassen und sich so die Gestalt von Wörtern einprägen. <?page no="52"?> 53 2.4 Das ORI-Modell Floh Pavian Jaguar Abbildung 2.9: Übung nach der Wortbildtheorie Auf diesem Arbeitsblatt sollen Erstklässler die abgedruckten Wörter so in die ‚Säulendiagramme‘ eintragen, dass die Buchstaben mit ihren Ober- und Unterlängen hineinpassen. In das erste Diagramm müsste demnach Pavian eingetragen werden, in das letzte Floh. Man glaubte, mit dieser Methode das visuelle Gedächtnis unterstützen zu können, damit Schüler sich die Schreibung von Wörtern in Form von Umrissen als bildliche Formen einprägen können. Ein Problem ist dabei, dass so unterschiedliche Wörter wie Hund, bunt oder Saal alle die gleiche Umrisskontur haben und diese schon deshalb keine wirkliche Hilfe für die Rechtschreibung bieten kann. Derartige Übungen werden zwar von deutschen Verlagen zum Glück nicht mehr angeboten. Aber wenn man von Schülern verlangt, sich Lernwörter einzuprägen, dann müssen sie sich ebenfalls die visuelle Gestalt der Wörter als Ganzes einprägen, auch ohne die vermeintliche Hilfe der ‚Säulendiagramme‘. In einer Studie von Yoncheva, Wise und McCandliss (2015) konnte gezeigt werden, dass im Gehirn Schreibungen unterschiedlich gespeichert werden, je nachdem wie sie vermittelt wurden: entweder mit der Phonics-Methode, die auf einem Phonem-Graphem-Bezug beruht, oder mit dem Whole-language-Ansatz, also einer Ganzwortmethode. Dementsprechend sieht die neuronale Aktivität im Gehirn anders aus, wie sich mit Gehirnscans nachweisen lässt. Wenn Schüler beim Lernen von Wortschreibungen den Bezug einzelner Phoneme und Grapheme beachten müssen, führt dies zu effektiveren neuronalen Verschaltungen vor allem in der linken Hemisphäre, die sprachliche wie visuelle Regionen umfasst. Wenn Wörter hingegen als ganzheitliche Gestalten gelernt werden, wird beim Lesen vorwiegend die rechte Gehirnhälfte aktiviert. Dieser Unterschied ist bedeutsam für die Fähigkeit zu lesen: Neuronale Aktivität in der linken Hemisphäre kennzeichnet kompetentere Leser, während bei schwachen Lesern eher die rechte Hemisphäre aktiv ist. <?page no="53"?> 54 2 Didaktische Wortmodelle Schwache Leser können zwar bekannte und häufig geübte Wörter relativ gut wiedererkennen, aber sie haben Probleme beim Erkennen von neuen Wörtern, die sie zuvor noch nie gesehen haben. Starke Leser haben mit neuen Wörtern dagegen keine Probleme, weil sie Regionen in der linken Gehirnhälfte aktivieren, die musterhaften Bezüge von Phonemen und Graphemen auch in unbekannten Wörtern erkennen und produktiv verarbeiten können. Auf dem Hintergrund dieser Forschung an der Schnittstelle von Hirnforschung und Unterrichtsmethoden muss man davon ausgehen, dass das visuelle Einprägen von Wörtern anhand von Grundwortschatzlisten zu einem neuronal ungünstigen Verarbeitungsmodus in der rechten Hemisphäre führt. Eine nachhaltige Methode dagegen, die Schüler in die Lage versetzt, auch unbekannte Wörter problemlos anhand ihrer Schreibungen analytisch zu erfassen und produktiv zu verarbeiten, muss deshalb die Bezüge von Phonemen und Graphemen fokussieren. Wenn man diese Erkenntnis ernst nehmen will, dann sollten nicht nur Normalwörter analytisch erfasst werden, sondern auch Kurzwörter, die mit einem silbischen Ansatz in der Regel nicht erklärt werden können, da sie keine zweisilbigen Vergleichsformen bilden, also Wörter wie dich, doch oder noch. Mit dem ORI-Modell können Normalwörter wie auch Kurzwörter gleichermaßen so aufbereitet werden, dass Schüler einen strukturgeleiteten Blick in die Abfolgemuster der Grapheme im Inneren der Wörter bekommen und sie mit ihrer Aussprache abgleichen. Wenn man beispielsweise Wörter zusammenstellt, die alle die formativen Invarianten <ich> enthalten, kommt man zu folgender Reihe 11 : (3) ich, dich, mich, sich, nicht, erpicht, kichern, glich, schlich, bricht, spricht, Strich, sicher, Sichel, sticht, Stich, wichtig In der folgenden Liste finden Sie weitere Beispiele, auch jeweils mit Wörtern, für die es keine ein- oder zweisilbigen Vergleichsformen gibt. 11 Die nicht verlängerbaren Wörter bzw. Wortteile sind unterstrichen. <?page no="54"?> 55 2.4 Das ORI-Modell <och> <ind> <ein> <ohn> <al> <aff> <ack> doch noch Joch kochen Loch Locher mochte Knochen pochen roch Rochen gebrochen kroch gesprochen gestochen stochern Woche sind Linde finden binden hindern schinden Schindel Kind blind lindern mindern Spindel Rind Wind winden Windel nein ein mein dein fein kein klein Pein rein sein Schein Stein Schwein weinen Ohnmacht ohne belohnen bohnern Bohne Drohne Gewohnheit Hohn Lohn lohnen Mohn ohnmächtig Sohn wohnen mal Schale Schal malen schmal Tal Qual Wal baff Affe Pfaffe Haff schaffen Schaffner schlaff klaffen raffen straff Staffel Waffel Waffe zack Acker backen Backe Dackel Fackel hacken Jacke Lack flackern Schlacke Geschmack Nacken Frack Wrack Sack Zacke Tabelle 2.6: Wörter ohne ein- oder zweisilbige Vergleichsformen Kurzwörter wie auch ein- oder mehrsilbige Normalwörter können mit dem ORI-Ansatz integrativ bearbeitet werden und verlieren so ihre Ausnahmestellung. Sie müssen nicht mehr gesondert gelernt werden. Wenn Schüler von gut bekannten und einfach zu schreibenden Kurzwörtern ausgehen, dann können sie selbstständig längere und seltenere Wörter suchen, der Liste mit der entsprechenden Wortmitte hinzufügen und sich so ihre orthografische Struktur aneignen. Bei einigen dieser Wortgruppen können Lerner übrigens auch semantische Bezüge erkennen, beispielsweise bei Wörtern mit den Invarianten <abb>, <ebb>, <ibb>, <obb> und <ubb>, die alle eine ungefähre Vorstellung von kurzen, unkoordinierten, oft unangenehmen Bewegungen auslösen, sei es mit dem Mund, der Haut, auf eine Fortbewegung oder einen Gegenstand bezogen: babbeln, bibbern, blubbern, glibberig, knabbern, Knubbel, knubbeln, Krabbe, krabbeln, kribbeln, labberig, Robbe, rubbeln, sabbeln, Sabber, sabbern, schlabbern, schrubben, Schrubber, wabbelig. Bei der Arbeit mit dem Sofahaus wie mit dem ORI-Modell steht immer der Bezug zwischen Lautung und Schreibung in der Mitte von Wörtern im Zentrum. Die Arbeit mit dem Wortschatz anhand von Wörtern, die die gleichen graphematischen Gruppen mit einer entsprechenden Aussprache haben, geht über die Arbeit mit Reimwörtern hinaus, wie das Beispiel mit der Graphem- <?page no="55"?> 56 2 Didaktische Wortmodelle Gruppe <ord> deutlich macht: Hier finden sich zwar Reimwörter wie Bord und Mord, aber auch Wörter wie Orden, ordnen, fordern, Horde, Kordel und geworden, also ein wesentlich größeres Spektrum an Wörtern, als wenn man sich nur an Reimwörter halten wollte. Wie sollte man im Unterricht diese zentralen graphematischen Gruppen bezeichnen? Weder die Begriffe orthografische Invarianten (ORI) noch Signalgruppe erscheinen für Grundschüler geeignet. Wenn man die Kinder nach einem geeigneten Namen fragt, unterscheiden sie meist zwischen Buchstaben im Sofazimmer (im ersten Stock des Sofahauses) und Buchstaben im Sesselzimmer (im Parterre). Derartig anschauliche Vorschläge von Grundschülern kann gerne die Lehrkraft übernehmen. Aus linguistischer Sicht wäre wohl am besten der Begriff Vokal-Konsonanten-Verband geeignet, da mit den nachfolgenden Konsonanten der betonte Vokal markiert wird. 2.5 Aufgaben 1. Stellen Sie die Schreibungen der folgenden Wörter mit Hilfe des Sofahauses und des Garagenhauses dar: hallo, kennen, kommt, Lager, Regen, Schaf, Schutt, stehen, Stühlchen, siegen, singen, Wanze, wollen, Witz. 2. Fertigen Sie Wortlisten nach dem ORI-Modell mit diesen Graphemfolgen als grafischen Invarianten an: <ank>, <aub>, <ein>, <ord> und <und>. 3. Warum ist das Übungsformat ‚Worttreppe‘ nicht sinnvoll? 2.6 Literaturhinweise Die beiden in diesem Kapitel vorgestellten Wortmodelle, das Garagenhaus und das Sofahaus, korrespondieren in der Linguistik mit zwei grundsätzlich unterschiedlichen Auffassungen in Bezug auf den Status der Silbe für die Orthografie. Für Peter Eisenberg (2013, bes. das Kapitel zur ‚Wortschreibung‘ sowie das Kapitel ‚Das silbische Prinzip‘ im Grammatikduden (Dudenredaktion 2016, S. 71-78) und für Utz Maas (1992) hat das silbische Prinzip eine ähnlich hohe Relevanz wie das morphematische Prinzip, mit dem wir uns im folgenden Kapitel beschäftigen. Dieter Nerius (2006) und Günther Thomé (2019) lehnen dagegen das silbische Prinzip als Erklärung von Dehnungs- und Doppelkonsonanzgrafien ab. Um diese spannende Auseinandersetzung, auch in ihrer Schärfe, zu verstehen, lesen Sie den Aufsatz von Karl Heinz Ramers (1999a) zur Vokalquantität <?page no="56"?> 57 2.6 Literaturhinweise und anschließend die Replik von Peter Eisenberg (1999), die wiederum von Ramers (1999b) kommentiert wird. Sollten Sie sich von der einen oder anderen Seite aus linguistischen Gründen überzeugen lassen, bedeutet das aber noch nicht, dass die (vermeintlich) linguistisch überzeugendere Position auch aus didaktischen Gründen die sinnvollere wäre. Bevor Sie eine didaktische Entscheidung treffen, sollten Sie zuvor noch die Aufsätze aus dem Sammelband von Norbert Kruse und Anke Reichardt lesen: Wieviel Rechtschreibung brauchen Grundschulkinder? (2016). <?page no="58"?> 3 Das morphematische Prinzip Die Phoneme der deutschen Standardlautung korrespondieren nicht eins zu eins mit bestimmten Graphemen. Das ist für Schreiber problematisch, vor allem für Schreibanfänger. Für sie wäre es angenehmer, wenn sie für jedes Phonem immer ein entsprechendes Graphem schreiben könnten. Leser könnten jedoch mit solch einer ‚Lautschrift‘ schlecht den Sinn eines Textes erfassen. Für sie ist es besser, wenn Morpheme als die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten der Sprache immer gleich oder so ähnlich wie möglich geschrieben werden, damit sie als feste Einheiten rasch erfasst werden können. Dieses morphematische Prinzip lässt sich auf ein semantisches Grundprinzip zurückführen, das dafür sorgt, dass der Leser nicht nur phonologische Informationen aus einer Grafie entnehmen kann, sondern auch semantische (Nerius 2006: 79 ff.). Als Beispiel zur Erklärung des morphematischen Prinzips nehmen wir das Wortpaar <Rad>, <Räder>. Wollte man diese Wörter entsprechend der vor allem in Norddeutschland weit verbreiteten Aussprache halbwegs lautgetreu schreiben, müsste man erwarten, dass sie *<Rat> und *<Reda> geschrieben werden. Von der Singularform wäre im Plural nur noch das Graphem <R> vom Silbenanlaut / r/ erhalten. Während sich die lautlichen Realisierungen dieser beiden Wortformen deutlich voneinander unterscheiden, konserviert die Orthografie ihre morphologische Zusammengehörigkeit. Sie zeigt dem Leser, dass es sich um den Singular und den Plural des gleichen Lexems handelt. Der Vokalwechsel vom / a: / zum / ɛ: / wird nicht durch das Graphem <e> codiert, sondern durch die beiden Pünktchen auf dem <a> als Umlaut <ä>. Die Pünktchen symbolisieren somit weniger ein eigenes Phonem, sondern stehen vor allem für die Information, dass dieses Phonem in einer regelhaften Beziehung zum <a> in der Singularform steht. Der Konsonantenwechsel vom stimmlosen / t/ im Silbenauslaut des Einsilbers <Rad> zum stimmhaften Verschlusslaut / d/ im Anlaut der Reduktionssilbe der zweisilbigen Pluralform <Räder> wird in der Schreibung nicht realisiert. Die gesamte Wortfamilie, die das lexikalische Morphem <rad> als inhaltlichen Stamm enthält, bleibt so in der Grafie erhalten. Man bezeichnet das morphematische Prinzip deshalb auch als Erhaltungsprinzip. Rad, Räder, radeln, gerädert, Radfahren: Bei allen Wortformen erkennt der Leser mühelos, um welchen inhaltlichen Kern es geht. Er weiß, dass alle Wörter mit dem Stamm <rad> bzw. <räd> zur gleichen Wortfamilie gehören, wobei man die Variante <räd> als Allomorph bezeichnet. <?page no="59"?> 60 3 Das morphematische Prinzip Wortstämme wie <rad> sind lexikalische Morpheme. Neben den lexikalischen Morphemen gibt es grammatische Morpheme. Das sind Funktionswörter wie Präpositionen, Pronomen und Konjunktionen. Lexikalische wie grammatische Morpheme kommen in freier und gebundener Form vor. In der folgenden Tabelle werden diese kategorialen Unterschiede anhand von Beispielen dargestellt. M o r p h e m e frei gebunden lexikalisch (1) hof, huhn, tante, tanne, blau, stark, hol, geb (2) brom-, him-, mon-, sam-, sonngrammatisch (3) ich, und, vor, dass (4) ant-, ver-, -bar, -ig, -te Tabelle 3.1: Morphemklassen Ausgehend von dieser Tabelle möchten wir in den nun folgenden Kapiteln die Grafien der unterschiedlichen Morphemklassen erläutern, die zwar alle dem Prinzip des (weitgehenden) Morphemerhalts in der Schreibung verpflichtet sind, aber dabei doch einige Spezifika aufweisen. Es geht im Folgenden also um (1) freie lexikalische Morpheme, (2) gebundene lexikalische Morpheme, (3) freie grammatische Morpheme, (4) gebundene grammatische Morpheme. 3.1 Freie lexikalische Morpheme Substantive, Adjektive und Verben bezeichnet man als Inhaltswörter. Sie enthalten immer einen semantischen Kern, der aus einem freien lexikalischen Morphem besteht und sich in allen Wortformen ihrer Wortfamilie in möglichst gleicher Schreibung erkennen lässt. Der Leser bekommt die Information, dass Wortpaare wie Hof - Höfe, Huhn - Hühnerstall, Tante - Großtante, Tanne - Tannenbaum, blau - bläulich, stark - stärker oder hol - holen zusammengehören. Bei unregelmäßigen Verben ist die morphologische Konstanz allerdings nicht mehr gegeben, da es hier zu einem systematischen Vokalwechsel, dem Ablaut <?page no="60"?> 61 3.1 Freie lexikalische Morpheme kommt. So steht das Morphem <geb> neben <gib>, <gab> und <gäb>: alles Allomorphe des unregelmäßigen Verbs <geben>. Das morphematische Prinzip führt dazu, dass graphematische Regularitäten auf der Ebene der Phonem-Graphem-Beziehung in allen lexikalisch verwandten Formen (möglichst) erhalten bleiben, auch dann, wenn es dafür keine phonologische Entsprechung gibt. Es greift bei der Auslautverhärtung, bei der Dehnung, dem Silbenfugen-h, der Doppelkonsonanzschreibung, der Umlautschreibung und bei Komposita. 3.1.1 Auslautverhärtung Die stimmhaften Plosive / b/ , / d/ und / g/ sowie die stimmhaften Frikative / v/ , / z/ und / ʒ/ verlieren im Auslaut ihre Stimmhaftigkeit und werden deshalb im Standarddeutschen stimmlos ausgesprochen (Auslautverhärtung): Liebe / li: bə/ - lieb / li: p/ runde / rundə/ - rund / runt/ kluge / klu: gə/ - klug / klu: k/ Lose / lo: zə/ - Los / lo: s/ brave / bra: və/ - brav / bra: f/ Orange / or-: ʒə/ - orange / or-: ʃ/ Bei den Plosiven, die im Auslaut ihre Stimmhaftigkeit verloren haben, wird dennoch in der Grafie der Konsonantenbuchstabe verwendet, der für die Stimmhaftigkeit steht. Also anstatt <p>, <t> und <k> erscheinen am Wortauslaut <b>, <d> und <g>, damit das lexikalische Morphem erhalten bleibt. Die stimmhaften Frikative / z/ , / v/ und / ʒ/ werden im Auslaut zu den stimmlosen Frikativen / s/ , / f/ und / ʃ/ . Es kommt hier phonetisch also auch zu Auslautverhärtungen, nur werden diese Veränderungen weniger bemerkt. Der Buchstabe <s> steht sowohl für das stimmhafte / z/ wie für das stimmlose / s/ . Schreiber kommen also gar nicht auf den Gedanken, ein anderes Graphem verwenden zu müssen, obwohl sich die Lautung verändert. Dabei ist noch zu beachten, dass in den regionalen Umgangssprachen südlich des Mains das stimmhafte / z/ nicht vorkommt, so dass es hier auch zu keiner lautlichen Veränderung zwischen In- und Auslaut kommt. Die Auslautverhärtungen von / v/ zu / f/ und von / ʒ/ zu / ʃ/ kommen schließlich nur bei wenigen Wörtern fremder Herkunft wie <brav> oder <orange> vor, und auch hier ändert sich nicht die Schreibung. <?page no="61"?> 62 3 Das morphematische Prinzip 3.1.2. Dehnung In den weitaus meisten Fällen (85-96 Prozent) werden lange / gespannte Vokale - mit Ausnahme des / i: / - in der Schrift nicht als lang gekennzeichnet, also in Wörtern wie Rabe, schade, Regen, legen, rot, schon, Blume, suchen. Für native deutsche Wörter mit langem / gespanntem / i: / ist hingegen die ie-Schreibung wie in Wiege, lieben oder riesig mit 72,4 Prozent der Normalfall (vgl. Kapitel 1). Auch die betonten Endungen in Fremdwörtern auf <ie>, <ier> und <ieren> wie Garantie, Turnier oder dirigieren enthalten ein <ie>. Ausnahmen wie Biber, Bibel, Fibel oder Igel sind selten. Hinzu kommen Wörter fremden Ursprungs wie Justiz, Medizin, Kamin und Wörter mit der Endung <ine> wie in Apfelsine, Maschine oder Rosine sowie Vornamen wie Rita, Sabine oder Tina. Das Augenlid wird im Unterschied zum Lied ohne <e> geschrieben, um dem Leser die unterschiedliche Semantik zu zeigen. Wortpaare wie Lid und Lied, Miene und Mine oder Stiel, Stil und stiehl sind Homophone, die trotz gleicher Lautung unterschiedlich geschrieben werden und so Lesern eine semantische Information geben. Da in nativen deutschen Wörtern für das lange / gespannte / i: / normalerweise ein <ie> steht, findet man nur selten ein <h> oder ein <eh> als Längenzeichen, so in Wörtern wie ihm, ihn, ihnen, ihr und Vieh. Diese wenigen Pronomen und die singuläre Grafie von Vieh lassen sich leicht einprägen. Grafien wie befiehlt, empfiehlt oder stiehlt, die allerdings auch ein <ieh> wie in Vieh enthalten, lassen sich mit dem morphematischen Prinzip erklären. Als Indikator für die Dehnung wäre hier ein <ie> vollkommen ausreichend. Warum also dann noch zusätzlich ein Dehnungs-h? Den Grund dafür muss man bei den Infinitiven befehlen, empfehlen und stehlen suchen, die mit ihren Stämmen <fehl>, <empfehl> und <stehl> ein <h> enthalten und es den flektierten Formen vererben. Das Stammprinzip sorgt dafür, dass der Leser auf einen Blick die semantische Verbindung der miteinander verwandten Wortformen erkennt. Während die Grafien, die für das lange / gespannte / i: / stehen, weitgehend regelhaft und gut voraussagbar sind, gibt es für die übrigen langen / gespannten Vokale leider keine eindeutige Regelung, wann ein <h> als Längenmarkierung eingefügt werden muss. Diese h-Grafien können als willkürlich empfunden werden, denn auch ohne ein Dehnungs-h weiß der Leser, dass der betonte Vokal als lang / gespannt realisiert werden muss, da keine zwei Konsonantenbuchstaben folgen. Grafien wie *Mel, *Ramen, *senen, *Zan, *faren, *Möre oder *Ku könnte man eigentlich genauso problemlos lesen wie Rabe oder Regen. <?page no="62"?> 63 3.1 Freie lexikalische Morpheme Doch vollkommen grundlos wird das <h> bei diesen Wörtern nicht gesetzt. Das Dehnungs-h kann nämlich nur vor den Konsonantenbuchstaben <l>, <m>, <n> oder <r> stehen. Die drei letzten haben als kleine Buchstaben weder Obernoch Unterlängen, während das <l> zwar eine Oberlänge hat, aber in seiner schmalen Form ebenfalls weniger deutlich ins Auge fällt als etwa ein <f>, ein <g> oder ein <sch>. Wenn vor diesen eher unscheinbaren Buchstaben noch ein <h> eingefügt wird, erzeugt dies eine erhöhte Aufmerksamkeit für die notwendige Dehnung des vorausgehenden Vokals. Grafien mit einem Dehnungs-h kann man deshalb auch als morphematisch motiviert bezeichnen, da sie dem Leser über eine phonematische Information hinaus eine grafische Information geben, die ein Lexem mit einem langen / gespannten Vokal besser erfassen lässt. Mehl, Rahmen, sehnen, Zahn, fahren oder Möhre lassen sich mit einem <h> müheloser erkennen und lesen. An Grafien mit einem Dehnungs-h wird deutlich, dass die Phonem-Graphem-Korrespondenz zwar immer die Basis aller Schreibungen bleibt, aber darüber hinaus Markierungen genutzt werden, um Lesern eine möglichst rasche, problemlose Erfassung von Wörtern zu ermöglichen. Dass dabei offenbar immer die Wortgestalt als Ganzes beachtet wird, sieht man an Wörtern, bei denen vor dem langen / gespannten Vokal ein <qu> oder ein <sch> steht. Bei Wörtern wie bequem, Qual, quer; Schal, Schema, Schere oder Schule wird nämlich kein Dehnungs-h eingefügt, da sonst Wörter mit einem <qu> oder <sch> am Anfang übergebührlich lang würden. Die vermeintliche Ausnahme Schuh lässt sich ebenfalls mit dem Verweis auf eine für ein Substantiv angemessene Wortgestalt erklären, denn das Wort endet mit einem Vokal wie in Kuh. Schuh wird also auch mit dem vorausgehenden Trigrafen <sch> als nicht zu lang empfunden. Daneben gibt es aber noch eine Möglichkeit, das <h> zu erklären: Wenn man nämlich die zweisilbigen Vergleichsformen von Schuh und Kuh - Schuhe und Kühe - heranzieht, erkennt man, dass das <h> hier nicht steht, um die Länge / Gespanntheit der Grapheme <u> oder <ü> zu signalisieren, sondern um diese Vokalbuchstaben von dem nachfolgenden <e> zu trennen, denn die Grafien *Küe und *Schue wären schlecht lesbar. Neben dem Dehnungs-h gibt es nämlich noch ein silbentrennendes <h>, das auch als silbeninitiales <h>, Silbenfugen-h oder Silbengrenzen-h bezeichnet wird. Es hat nicht die Funktion, die Länge / Gespanntheit des vorausgehenden betonten Vokals zu signalisieren, sondern steht am Anfangsrand der Reduktionssilbe, damit die Vokalgrapheme <a>, <ä> <e>, <i>, <o>, <ö>, <?page no="63"?> 64 3 Das morphematische Prinzip <u> und <ü> in der betonten Silbe nicht unmittelbar an das Graphem <e> der folgenden unbetonten Silbe grenzen. Man stelle sich vor, dass Wörter wie nahe, Nähe, sehen, fliehen, rohe, Höhe oder buhen ohne <h> geschrieben würden, nämlich *nae, *Näe, *seen, *flieen, *roe, *Höe oder *buen: Ihre Lesbarkeit wäre ohne das eingeschobene <h> stark beeinträchtigt. Es gibt einen einfachen Test, mit dem man den Unterschied zwischen Dehnungs-h und silbentrennendem <h> erkennen kann, nämlich die betreffenden Wörter zu trennen. Man vergleiche: (1) (a) na-he, Nä-he, se-hen, flie-hen, ro-he, Hö-he, bu-hen (b) Rah-men, Zäh-ne, seh-nen, boh-ren, Möh-re, füh-len Beim silbentrennenden <h> steht das <h> am Anfangsrand der unbetonten Silbe, während das <h>, das eine Dehnung signalisiert, unmittelbar hinter dem langen / gespannten Vokal steht und so die betonte Silbe abschließt. Hinzu kommt ein weiterer Unterschied: Während das Dehnungs-h grundsätzlich immer stumm bleibt, lässt sich das silbentrennende <h> in expliziter Überlautung hörbar machen. Zu diesem ‚Hörbarkeitstest‘ sind nicht nur Menschen fähig, die bereits schreiben können und wissen, dass ein <h> am Beginn der unbetonten Silbe gesetzt werden muss. Hans-Werner Huneke (2004) hatte Erstklässler in einem Experiment veranlasst, Wörter mit silbentrennendem <h> überlautend und silbentrennend zu sprechen. An der Stelle, an der das <h> geschrieben wird, haben zahlreiche Kinder ein [h] produziert, allerdings auch andere Segmentierungssignale. Es gibt also ‚spontan‘ keinen zuverlässigen artikulatorischen Zugang zu dieser Grafie. Dennoch erscheint es sinnvoll, Kindern diesen artikulatorischen Weg aufzuzeigen, da man so lernen kann, an der entsprechenden Silbengrenze beim überlautenden Sprechen ein [h] zu produzieren und dementsprechend ein <h> zu schreiben. Hier wäre ein silbischer Zugang also denkbar. Die Regelung für das silbentrennende <h> wird wesentlich konsequenter umgesetzt als das Dehnungs-h, bei dem man zwar weiß, wo es stehen könnte, aber nicht zuverlässig erkennen kann, ob es auch tatsächlich gesetzt werden muss. Bei Wörtern mit den Diphthongen <au>, <äu> und <eu> (Bauer, Schläue, anheuern) wird jedoch kein silbentrennendes <h> eingefügt, denn mit einem <h> nach den zwei Vokalbuchstaben eines Diphthongs würden die entsprechenden Wörter recht lang werden. Bei Wörtern mit <ei> und <ie> dürfte dementsprechend auch kein silbentrennendes <h> gesetzt werden, aber hier gibt es einige <?page no="64"?> 65 3.1 Freie lexikalische Morpheme Ausnahmen, so etwa bei fliehen, ziehen, verleihen, verzeihen und Reihe. Ein Grund dafür könnte sein, dass ein <ei> und ein <ie> grafisch schmaler sind als ein <au>, <äu> oder <eu> und deshalb hier bei einigen Wörtern ein <h> grafisch tolerabel erscheint. Das silbentrennende <h> bleibt in allen verwandten Wörtern der ‚Wortfamilie‘ erhalten. Auch hier greift das morphematische Prinzip als Erhaltungsprinzip. In all den Wörtern, die beispielsweise die lexikalischen Morpheme <nah> bzw. <näh> enthalten, bleibt das <h> bestehen, unabhängig davon, ob zwei Vokale durch das <h> getrennt werden müssen oder nicht, also: nahe, hautnah, Nähe, annähern, Nahbarkeit oder Nahtoderfahrung. Schließlich gibt es noch eine weitere Möglichkeit, die Länge / Gespanntheit eines Vokals zu markieren, nämlich durch die Verdoppelung des Vokalbuchstabens. Es können aber nur die Vokale <a>, <e> und <o> verdoppelt werden. Diese Form der Markierung betrifft nur sehr wenige kurze Substantive sowie das Adjektiv doof. Sie fallen in jedem Text leicht ins Auge. (2) (a) Aal, Haar, Paar, Saal, Staat, Waage (b) Beet, Fee, Heer, Idee, Meer, Seele, Speer, Teer (c) Boot, doof, Moor, Moos, Zoo Das <i> kann nicht verdoppelt werden, weil zwei aufeinanderfolgende kleine Striche mit Punkten darüber mit einem <ü> verwechselt werden könnten. Zwei aufeinanderfolgende <u> sind ebenfalls nicht möglich, denn sie sähen einem <w> oder einem doppelten <n> ähnlich. Auch das würde Leser irritieren. Schließlich können auch Umlaut-Buchstaben nicht verdoppelt werden, wahrscheinlich aus ästhetischen und schreibtechnischen Gründen, da dann vier Pünktchen aneinandergereiht werden müssten. Dieses Verbot führt allerdings dazu, dass das morphematische Prinzip hier verletzt wird. Die Doppelvokalschreibung bleibt also in Fällen, die eine Umlautung notwendig machen, nicht erhalten. Eine Umlautung wird notwendig, wenn die Diminutiv-Endung <chen> an diese Wörter gehängt wird. Die Wortpaare Haar - Härchen, Paar - Pärchen und Boot - Bötchen stehen dafür, aber auch Saal - Säle stellen die seltenen Ausnahmen zum morphematischen Prinzip dar, das in der deutschen Rechtschreibung so überaus konsequent angewandt wird. <?page no="65"?> 66 3 Das morphematische Prinzip 3.1.3 Doppelkonsonanzschreibung Für Grafien mit doppelten Konsonantenbuchstaben gilt das Gleiche wie für Dehnungsgrafien: Sie bleiben in allen Wortformen einer Wortfamilie erhalten. So beispielsweise in fett, fetter, Fettleibigkeit, verfetten, Bauchfett. Diese Regelung gilt allerdings nicht für Anglizismen wie etwa fit, Jet, Job, Pep, top aber auch Bus, bei denen die Konsonanten in zweisilbigen Vergleichsformen verdoppelt werden, also: fitter, jetten, jobben, peppig, toppen und Busse. Diese wenigen Ausnahmen entsprechen nicht dem morphematischen Prinzip. Zu den Doppelkonsonanzgrafien gibt es drei Ausnahmen, die man morphematisch erklären kann: Die Digraphen <ch> und <ng> sowie der Trigraph <sch> werden an den entsprechenden Stellen, an denen es zu einer Verdoppelung kommen müsste, nicht verdoppelt, da sonst diese Wörter zu lang würden. (3) wachen - nicht *wachchen waschen - nicht *waschschen singen - nicht *singngen 3.1.4 Umlautschreibung Umlaute entstanden durch die Angleichung eines Vokals in der betonten Silbe an den Vokal der folgenden unbetonten Silbe. Im Deutschen sind das vor allem sogenannte i-Umlaute, bei denen tiefe Vokale in der betonten Silbe durch einen nachfolgenden i-Laut angehoben wurden und sich so einander annähern. So wird Lamm im Plural Lämmer geschrieben, weil bereits im Althochdeutschen eine Umlautung von / a/ zu / e/ erfolgte. Das / a/ im einsilbigen <lamb> wurde in der zweisilbigen Form zu <lembir>, da ein unbetontes / i/ folgte. Im Mittelhochdeutschen wurde das / i/ zu einem / ə/ abgeschwächt und als <e> geschrieben. Im Neuhochdeutschen schließlich wurde das <e> in <lembir> zu einem <ä> in Lämmer, um den Bezug zum <a> in Lamm, dem morphematischen Prinzip entsprechend, erkennbar zu machen. 12 Um bei einem zwei- oder mehrsilbigen Wort zu entscheiden, ob es mit <e> oder <ä> geschrieben wird, muss man die Schreibung des Stammes in der ein- 12 Bei den Umlauten <ö> (Not - Nöte) und <ü> (Hut - Hüte) entsteht kein orthografisches Problem, da hier keine alternative Schreibung wie bei <e> oder <ä> möglich wäre. <?page no="66"?> 67 3.1 Freie lexikalische Morpheme silbigen Vergleichsform beachten. Fälle schreibt man mit <ä> wegen Fall, aber Felle mit <e> wegen Fell. In der Rechtschreibreform von 2006 wurde das morphematische Prinzip gestärkt. Schrieb man zuvor noch Gämse oder behände im Stamm mit <e>, werden diese Wörter nun mit <ä> geschrieben, weil sie von Gams bzw. Hand abgeleitet werden können. Die Eltern dagegen behalten ihr <e>, obwohl das Wort mit alt / älter verwandt ist. In wenigen Fällen erlaubt die Neuregelung Doppelformen, so bei aufwendig / aufwändig oder Schenke / Schänke, denn hier entspricht die <e>wie die <ä>-Variante dem Prinzip der Stammschreibung mit den jeweils entsprechenden Vergleichsformen aufwenden / Aufwand bzw. (aus)schenken / Ausschank. Wörter, die im Stamm den Diphthong <au> enthalten, werden in ihren zweisilbigen verwandten Formen mit <äu> geschrieben, so z. B. Räume wg. Raum, Häuser wg. Haus, säubern wg. sauber oder Gräuel wg. Grauen. Die Wörter Knäuel, räuspern, Säule und sträuben sind Ausnahmen, da sie keine Vergleichsformen mit <au> haben. Sie müssten deshalb eigentlich mit <eu> geschrieben werden. 3.1.5 Komposita Das morphematische Prinzip greift auch bei der Schreibung von Komposita: Wenn zwei oder mehrere unabhängige Wortstämme zu einem neuen Wort zusammengesetzt werden, bleiben die Stämme erhalten. In Komposita wie Bussitz, Gifttopf oder Schlafforschung bleiben die Konsonantenbuchstaben, die am Ende des ersten Morphems auf den Anfang des folgenden Morphems stoßen, bestehen, obwohl sie in der Umgangslautung nicht zweimal realisiert werden. In der Explizitlautung können die beiden Konsonanten allerdings hörbar gemacht werden, beispielsweise dann, wenn eine Lehrkraft in einem Diktat ihre Schüler auf die morphologische Grenze zwischen zwei Stämmen aufmerksam machen möchte. Es handelt sich bei diesen aufeinanderfolgenden Konsonanten an der Grenze von zwei Stämmen also nicht um eine Doppelkonsonantengrafie innerhalb eines Stammes, die dem Leser den Hinweis gibt, dass der vorausgehende Vokal kurz / ungespannt gesprochen werden muss. In dem Beispiel Schlafforschung ist der Vokal im ersten Stamm lang / gespannt, obwohl zwei <f> folgen. Die Doppelkonsonanz im Adjektiv schlaff hingegen indiziert den vorausgehenden Vokal als kurz / ungespannt. <?page no="67"?> 68 3 Das morphematische Prinzip Die konsequente Anwendung des morphematischen Prinzips kann dazu führen, dass drei gleiche Buchstaben aufeinanderstoßen, so in Wörtern wie Brennnessel, Betttuch, Flusssand, Schifffahrt oder Schnellläufer. Während mit den ersten beiden Konsonanten die Kürze des vorausgehenden Vokals markiert wird, steht der dritte Konsonant am Anfang des folgenden Morphems. Auch vor der Rechtsschreibreform gab es diese Buchstabenhäufungen; allerdings war die Regelung damals komplizierter. Bei Komposita, bei denen eigentlich drei gleiche Konsonantenbuchstaben aufeinanderfolgen müssten, durften nämlich nur zwei geschrieben werden, wenn ihnen ein Vokalbuchstabe folgt, wie z. B. in *Bettuch oder *Schiffahrt. Folgt aber ein weiterer Konsonantenbuchstabe, so mussten alle drei gleichen Buchstaben geschrieben werden, etwa in Balletttruppe, fetttriefend oder Pappplakat. Mit der Neuregelung 1996/ 2006 steht es dem Schreiber allerdings frei, einen Bindestrich zwischen beiden Morphemen zu setzen, was die Lesbarkeit erhöht, also anstatt Programmmarketing besser Programm-Marketing zu schreiben. Das gilt übrigens auch für Wörter, bei denen drei <e> aufeinanderstoßen, also bei Wörtern wie Kaffee-Ersatz, Schnee-Eule oder Tee-Ei. Unregelmäßige Verben entziehen sich ein stückweit dem morphematischen Prinzip. So enthält das Verb <kommen> mit dem Stamm <komm> zwar Formen wie <kommt>, <kommst> und <gekommen>, aber auch <kam> und <käme>, beides Formen im Präteritum des gleichen Verbs, die aber einen langen / gespannten Vokal enthalten und darum das <m> nicht verdoppeln. Schüler, die das morphematische Prinzip internalisiert haben, schreiben manchmal fälschlicherweise <er *kamm> oder <wir *kammen>. Sie machen damit einen ‚intelligenten Fehler‘, den eine Lehrkraft auch als solchen erkennen sollte. Der Schüler geht nämlich von der grundsätzlich richtigen Überlegung aus, dass im gesamten Paradigma zum Morphem <komm> die Verdoppelung des <m> (nach dem Erhaltungsprinzip! ) erhalten bleiben müsste. Doch dieses Prinzip stößt hier an seine Grenze, da auf einen langen / gespannten Vokal niemals der folgende Konsonant verdoppelt werden darf. Eine Verdoppelung des Konsonantenbuchstabens würde einem Leser nämlich grundsätzlich immer signalisieren, den vorausgehenden Vokal kurz zu sprechen. Dieser Fehler entsteht übrigens leichter, wenn Schüler durch ein silbendidaktisches Verfahren geprägt sind, da sie dann auf die Idee kommen könnten, das <m> in <kamen> analog zu <kommen> als Silbengelenk bzw. als ambisyllabischen Konsonanten zu interpretieren. <?page no="68"?> 69 3.2 Gebundene lexikalische Morpheme 3.2 Gebundene lexikalische Morpheme In einer kleinen Gruppe zwei- oder mehrsilbiger Wörter kommt das erste Morphem ausschließlich in diesen Wörtern vor, so in Brombeere, Himbeere, Preiselbeere, Sperling, Montag oder Samstag. Es ist fest an sie gebunden. Deshalb die Bezeichnung ‚gebundene‘ oder ‚unikale‘ Morpheme. Als ‚lexikalisch‘ hat man sie wohl nur deshalb bezeichnet, weil sie keine grammatische Funktion haben, aber ein semantischer Inhalt ist auch nicht erkennbar, denn was sollte <brom>, <him>, <preisel> oder <sams> bedeuten? Sie haben zwar keine isolierbare eigene Bedeutung (mehr), 13 tragen aber zur Gesamtbedeutung der Komposita bei. Eine Brombeere unterscheidet sich von anderen Beeren. Dieser Unterschied wird durch die Konstituente <brom> ermöglicht. Das Gleiche gilt für <him> und <preisel>, nicht jedoch für <heidel> in Heidelbeere, da die erste Konstituente mit dem Wort Heide und der Fuge <l> identifizierbar ist. Auffallend ist, dass das <m> in <brom> oder <him> nicht verdoppelt wird, um auf die Kürze / Ungespanntheit des vorausgehenden Vokals zu verweisen. Es kommt hier zu keiner Verdoppelung, da es für diese unikalen Morpheme keine zweisilbigen Vergleichsformen gibt. Während <brom> in Brombeeren nicht verlängerbar ist, kann man <brumm> zu brummen verlängern und bekommt so eine silbische Erklärung für die Grafie Brummbären. Man könnte aber auch argumentieren, dass <brumm> eine eindeutige semantische Information enthält, während es für <brom> keinen semantischen Bezug gibt. 14 Deshalb erscheint es für dieses ‚nichtssagende‘ unikale Morphem als unangemessen, wenn es durch eine Doppelkonsonantenschreibung aufgewertet würde. 15 Stützen lässt sich dieses Argument durch die Grafie des Morphems <sonn> in Sonntag, das die Doppelkonsonanz erhalten hat, da auch der semantische Bezug zur Sonne noch erkennbar ist; ähnlich auch bei <mon>, wo das / o: / trotz des folgenden / n/ lang gesprochen wird und so der Lautung von / mo: nt/ entspricht und damit an die Semantik von Mond erinnert. 13 Etymologisch gehen him und brom auf alte, nicht mehr gebräuchliche Wörter zurück: auf Hinde (Hirschkuh) und ahd. bramo (Dornstrauch). Sperling war ursprünglich die Koseform zu Spar, der alten, nicht mehr gebräuchlichen mhd. Bezeichnung (vgl. Liebling). In Montag klingt aber doch noch deutlich der Mond mit, der dann bei der Verbindung mit Tag sein <d> verloren hat. 14 Das chemische Element Brom wird mit / o: / gesprochen. 15 Die Verdoppelung unterbleibt vor allem beim „dicken“ <m>, so auch in Damhirsch, Bräutigam. Vgl. aber daneben: Wallwurz, Bollwerk, Frettchen, Flittchen, Nachtigall usw. <?page no="69"?> 70 3 Das morphematische Prinzip Wie auch immer man die Grafien der unikalen Morpheme erklären möchte: Die Gruppe ist mit Bezeichnungen vor allem von Beeren und Wochentagen sehr klein und gut erlernbar, so dass wir uns hier nicht weiter damit befassen müssen. 3.3 Freie grammatische Morpheme Die freien grammatischen Morpheme sind meist kurze Funktionswörter, die hochfrequent sind und deshalb auch selten Rechtschreibprobleme verursachen, obwohl viele normabweichend geschrieben werden. So greift bei vielen die Regel nicht, nach kurzem Stammvokal den folgenden Konsonanten zu verdoppeln, wenn sich nicht bereits zwei oder mehr Konsonanten am Ende eines Stamms befinden. Die Präpositionen an, am, im oder um müssten nach dieser Regel *ann, *amm, *imm oder *umm geschrieben werden. Peter Eisenberg (2017) erklärt das Ausbleiben der Konsonantenverdoppelung bei diesen Funktionswörtern damit, dass sie nicht verlängerbar seien, so dass es bei einer zweisilbigen Form zu einem Silbengelenk käme, wie etwa bei dem Wortpaar Sinn - Sinne. Wir denken dagegen, dass bei diesen hochfrequenten Wörtchen einfach deshalb der Konsonant nicht verdoppelt wird, um eine unnötige Anstrengung beim Schreiber zu vermeiden (Sparschreibung) und Funktionswörter ohne semantischen Gehalt nicht in unangemessener Weise aufzuwerten, indem man sie länger macht. Die Präposition <in> wäre zwar zu <innen> verlängerbar; sie wird aber dennoch nur mit einem <n> geschrieben; die Verbform <hat> könnte man mit <hatte> verlängern, doch auch das unterbleibt. Diese Prinzipien zur Ökonomie und Wertigkeit von Grafien ist auch in anderen Schriftsystemen zu finden. So gibt es im Englischen die Präposition <in> und daneben das selten gebrauchte Substantiv <inn>, das eine Gastwirtschaft bezeichnet. Die umgekehrte Schreibweise würde eine Sprachgemeinschaft wohl nicht akzeptieren. Das ökonomische Bemühen, Wörter ohne semantischen Gehalt nicht unnötig aufblähen zu lassen, findet man auch bei Funktionswörtern, die mit <v> geschrieben werden, also vor, von oder vom. Stünde am Anfang der Buchstabe <f>, der mit Ober- und Unterlänge etwa doppelt so groß ist wie das <v>, erschiene er für diese kurzen, häufigen Funktionswörter unangemessen. Bei den Zahlwörtern <vier> und <fünf> könnte man auf die Idee kommen, dass sich 4 als kleinere Zahl mit dem kleinen <v> bescheiden müsse, während sich 5 das größere <f> erlauben dürfe. Diese Vermutung lässt sich zwar nicht beweisen, aber sie taugt zumindest als fiktive Geschichte für Schreibanfänger, die sich abweichende Schreibungen so besser merken können. <?page no="70"?> 71 3.3 Freie grammatische Morpheme Es gibt aber auch einige wenige Funktionswörter, die nach kurzem Vokal den Konsonantenbuchstaben verdoppeln, nämlich <wenn>, <denn>, <dann> und <wann>. <Wenn> und <denn> verdoppeln den Konsonantenbuchstaben, um sich von <wen> und <den> zu unterscheiden; <dann> hängt etymologisch mit <von dannen> zusammen und <wann> erklärt sich wohl aus der Zwillingsformel <dann und wann>. 16 Schließlich fehlen noch die einzigen freien grammatischen Morpheme, die nun wirklich problematisch sind, und zwar höchst problematisch, da sie gleich gesprochen, aber unterschiedlich geschrieben werden, nämlich <das> und <dass>. 17 Hier enthalten die Wörter nicht nur eine morphematische, sondern zudem noch eine syntaktische Information. Sie lassen sich nur korrekt schreiben, wenn man ihre Funktion im Satz versteht oder wenigstens ableiten kann. In allen fehlerlinguistischen Untersuchungen wird immer wieder neu bestätigt, dass diese beiden Wörter am häufigsten falsch geschrieben werden (Feilke 2015: 340). Es kommt allerdings in nur etwa zehn Prozent aller Fälle vor, dass <das> mit zwei <s> geschrieben wird. Die Konjunktion <dass> führt zu den außergewöhnlich hohen Fehlerzahlen. Dieser Fehler hat im außerschulischen Alltag eine stigmatisierende Funktion, denn wenn jemand <dass> fälschlicherweise nur mit einem <s> schreibt, kann das leicht als Ausweis mangelnder Intelligenz interpretiert werden, da unterstellt wird, der Schreiber könne die grammatischen Verhältnisse in einem Satz nicht erkennen. Es lohnt sich also, eine Strategie zu entwickeln, um diesen Fehler auszumerzen. Eine Unterrichtseinheit zur dass/ das-Schreibung könnte man mit der Frage beginnen, ob jemand einen Satz mit / das frau/ beginnen könnte, worauf man meist spontan die Schülerantwort bekommt, das ginge nicht, da es doch / di: frau/ hieße. Doch nach längerem Überlegen kommen meist einige darauf, dass man sagen könnte: Dass Frau Meier unsere Lehrerin wird, glaube ich nicht. Falls 16 Auch aus der Herkunft dieser Wörter aus dem Alt- und Mittelhochdeutschen (danne, wanne) ließe sich die Verdoppelung des <n> erklären. 17 Im bairischen Dialekt lautet der bestimmte Artikel / a: s/ (as Auto) oder / s/ und verschmilzt mit dem folgenden Wort (sAuto). Das Relativpronomen lautet im Bairischen / de: s/ und wird oft mit <wo> (Relativpartikel) kombiniert: S Auto, des (wo) am Hans ghert, … Die Konjunktion <dass> wird im Bairischen relativ ähnlich wie im Hochdeutschen ausgesprochen und oft auch so verwendet: Ea moant, dàs as ko. (Er meint, dass er es kann.) Für den ‚echten‘ Bairischsprecher müsste so das orthografische Problem im Hochdeutschen relativ klein sein. Und kundige Lehrkräfte geben Kindern den Tipp: „Wenn du ‚des‘ sagen kannst, musst du ‚das‘ schreiben, sonst ‚dass‘“. <?page no="71"?> 72 3 Das morphematische Prinzip nicht, kann die Lehrkraft diese Lösung anbieten und dann fragen, wieso dieser Satz möglich sei. So ist man rasch mitten in einem grammatisch-orthografischen Gespräch, das zu nachvollziehbaren Verfahren führen sollte, wie man grundsätzlich bei dass-Schreibungen Fehler vermeidet. Hier helfen Paradigmen mit Satzgefügen, die für den häufigsten Gebrauch der Konjunktion <dass> stehen. (4) ▶ Ich weiß genau / ich bin mir sicher, dass Herr Müller unser Lehrer wird. ▶ Ich glaube / denke / hoffe / meine / vermute (nicht), dass Frau Meier unsere Lehrerin wird. ▶ Mir scheint, dass es bald regnet. ▶ Ich finde, dass Peter Recht hat. ▶ Es tut mir leid, dass ich deinen Geburtstag vergessen habe. ▶ Ich freue mich, dass wir uns endlich wiedersehen können. Diese Satzgefüge enthalten im Hauptsatz ein Verb, mit dem ein Wissen, eine Vermutung, eine Einschätzung oder ein Gefühl signalisiert wird, ohne dass man bereits weiß, worum es sich dabei handelt. Erst der dann folgende, mit <dass> eingeleitete Nebensatz enthält diese Information. Das zweite oft vorkommende Paradigma zum Erlernen der dass-Schreibung ist die indirekte Rede. (5) ▶ Sie sagte, dass sie kommen würde. ▶ Er antwortete, dass ihm der Termin nicht passe. Bei diesen beiden häufigen Satzgefügen steht vor dem <dass> immer ein Komma und das Verb im Nebensatz am Satzende. Aber man kann daraus nicht schließen, dass nach einem Komma der Nebensatz immer mit <dass> beginnen muss. Auch Relativsätze werden mit einem Komma abgegrenzt: (6) Das Auto, das wir kaufen möchten, ist knallrot. Während der erste didaktische Zugang über charakteristische paradigmatische Satzgefüge erfolgen sollte, steht als zweiter Zugang noch eine Austauschprobe zur Verfügung, die zuverlässig funktioniert: <das> lässt sich nämlich durch <dies(es)>, <jenes> oder <welches> ersetzen, ohne dass der Satz seinen Sinn verliert. Wenn diese Proben nicht funktionieren, verwendet man <dass>. <?page no="72"?> 73 3.3 Freie grammatische Morpheme (7) a. Ich nehme das Brot. b. Mir gefällt das Kleid nicht, sondern das da. c. Das Brot, das da liegt, nehme ich. d. Er glaubt das: Sie kommt. e. Er glaubt, dass sie kommt. f. Ich finde, das ist schön. g. Ich finde, dass das schön ist. h. Er findet das gut, dass sie kommt. Ich nehme dieses Brot. Mir gefällt dies Kleid nicht, sondern jenes da. Dies Brot, welches da liegt, nehme ich. Er glaubt dies: Sie kommt. Er glaubt, *dies sie kommt. Ich finde, dies ist schön. Ich finde, *dieses dies schön ist. Er findet dies gut, *dies sie kommt. Problematisch an dieser Probe ist, dass sie selten während des Schreibens durchgeführt wird, öfter hingegen beim nachträglichen Korrekturlesen, aber auch dann nicht konsequent. Versierte Schreiber wenden sie an, wenn sie sich bei einer dass/ das-Schreibung unsicher sind, aber schwache Rechtschreiber ziehen leider viel zu selten ihre Grafien in Zweifel und führen deshalb diese Probe nicht durch, auch weil <jenes> und <welches> ungebräuchlich bzw. antiquiert sind. Das Einüben prototypischer Sätze, die mit mentalen Verben Einstellungsäußerungen einleiten, ist deshalb sinnvoller. Sie sollten aber nicht, wie in Beispiel (7d), die Variante mit einem anaphorischen <das> ermöglichen. Zuverlässig verhindert wird diese Variante, wenn der Matrixsatz mit einem Pronomen oder Adverb endet: (8) Er glaubt ihm, dass sie kommt. Er freut sich darüber, dass sie kommt. Um eine sichere Intuition während des Schreibprozesses zu bekommen, wann ein Nebensatz als dass-Satz folgt, muss man zunächst ein Gespür dafür entwickeln, dass es in dem Satz, den man gerade schreibt, überhaupt eine Grenze zwischen Haupt- und Nebensatz gibt. Da der einleitende Hauptsatz zu einem folgenden dass-Satz kein eigenes semantisches Profil hat, wird er oft nicht als Hauptsatz erkannt. (9) Ich finde es nicht gut *das du schon gehst, weil wir noch was spielen wollten. <?page no="73"?> 74 3 Das morphematische Prinzip In einem Satz wie diesem erkennt mancher Schreiber nur den weil-Satz als Nebensatz, aber nicht den vorausgehenden dass-Satz. Der von dem Verb finden regierte Satz wird nicht als Hauptsatz erkannt, da er ohne den folgenden dass-Satz unvollständig wäre. Im Mündlichen könnte man mit vorwurfsvoller Betonung sagen: „Dass du schon gehst! “ Diese Äußerung würde im Kontext verstanden, während die Äußerung „Ich finde es nicht gut“ keine erkennbare Bedeutung hätte. Das ‚Übersehen‘ der syntaktischen Grenze hängt auch mit der Tendenz zusammen, im Schriftlichen konzeptionell mündlich zu formulieren. Einschätzungen, die früher nur in konzeptioneller und medialer Mündlichkeit häufig mit dem Verb finden ausgedrückt wurden, heute aber in medialer Schriftlichkeit üblich geworden sind, erschweren es, die Grenze zwischen Haupt- und Nebensatz zu erkennen. Wenn stattdessen der Hauptsatz als eigenständiger Satz bestehen kann, wird die Grenze deutlicher sichtbar - besonders klar, wenn er stilistisch aufwändiger formuliert wird. (10) ▶ Es ist nicht richtig, dass … ▶ Ich halte es für richtig, dass … ▶ Es widerspricht meiner Vorstellung, dass … ▶ Ich habe mir es immer gewünscht, dass … ▶ Mir erscheint es unsinnig, dass … ▶ Ich bin davon überzeugt, dass … 3.4 Gebundene grammatische Morpheme Grammatische Morpheme, die mit lexikalischen Morphemen, den Wortstämmen, eine zusammenhängende Wortform bilden, werden als gebunden bezeichnet. Man unterscheidet Wortbildungsmorpheme, grammatische Morpheme und Fugenelemente. Eine Wortform wie (wegen des) <Aufenthaltsrechts> lässt sich danach wie folgt analysieren. Wortbildungsmorphem Wortbildungsmorphem lexikalisches Morphem (Stamm) Fugenelement lexikalisches Morphem (Stamm) grammatisches Morphem Auf ent halt s recht s Tabelle 3.2: Beispiel einer gebundenen Wortform <?page no="74"?> 75 3.4 Gebundene grammatische Morpheme Wortbildungsmorpheme und grammatische Morpheme bezeichnet man auch als Präfixe, wenn sie einem Stamm vorausgehen und als Suffixe, wenn sie ihm nachfolgen. Das folgende Schema soll das verdeutlichen: Präfix Präfix lexikalisches Morphem (Stamm) Suffix Suffix aus tausch bar Un be wusst heit Ver gäng lich keit Tabelle 3.3: Wörter mit Präfixen und Suffixen In der deutschen Sprache gibt es etwa 100 Wortbildungsmorpheme und 16 grammatische Morpheme. Während die Zahl der lexikalischen Morpheme bei weitem zu groß ist, als dass man sich ihre Grafien einzeln merken könnte, ist die Anzahl der Wortbildungsmorpheme somit überschaubar und die der grammatischen Morpheme so klein, dass sich ihre Formen gut einprägen lassen. In der folgenden Tabelle haben wir die meisten der Wortbildungsmorpheme und der grammatischen Morpheme mit Beispielen aus den drei offenen Wortartklassen - Substantiven, Adjektiven und Verben - zusammengestellt. Wortbildungsmorpheme Substantive Adjektive Verben Präfixe Ab-, An-, Be-, Fehl-, Ge-, Miss-, Ober-, Über-, Um-, Un-, Unter-, Zuaußer-, binnen-, bitter-, blut-, brand-, erz-, grund-, hoch-, kreuz-, miss-, nach-, schein-, stock-, tief-, tod-, über-, un-, unter-, ur-, voll-, vorab-, an-, auf-, aus-, be-, bei-, dar-, dran-, durch-, ein-, ent- ,-er-, fort-, frei-, ge-, her-, hin-, hinter-, hoch-, -los, -miss, mit-, nach-, ob-, tief-, über-, um-, unter-, ver-, vor-, weg-, wider-, zer-, zu- Beispiele Abstand, Anstand, Bestand, Fehlstand, Geräusch, Missstand, Überstand, Umstand, Unfall, Unterstand, Zustand bitterkalt, brandgefährlich, erzkonservativ, missgünstig, scheinheilig, tieftraurig, urkomisch, vollschlank abkaufen, ankaufen, aufkaufen, einkaufen, freikaufen, nachkaufen, verkaufen, zukaufen Suffixe -heit, -keit, -nis, -tum, -ung, -chen, -lein, -er, -in -bar, -e(r)n, -er, -fach, -haft, -icht, -ig, -isch, -lich, -los, -mäßig, -sam -ig, -el, -ier Beispiele Kindheit, Heiterkeit, Bildnis, Herzogtum, Heizung, Kätzchen, Bächlein, Sprecher, Freundin hörbar, sprunghaft, lustig, kindisch, grünlich, nutzlos, furchtsam ängstigen, festigen, drängeln, ringeln, formieren, sondieren <?page no="75"?> 76 3 Das morphematische Prinzip Grammatische Morpheme Substantive Adjektive Verben Präfixe — — ge- Beispiele — — gekauft, eingekauft, gesucht Suffixe -e, -en, -er, -s, -es -e, -en, -es, -er, -em, -st -e, -st, -t, -en, -te Beispiele die Tische, die Staaten, die Wälder, des Buchs / Buches starke, starken, starkes, starker, starkem; stärker, stärkste kaufe, kaufst, kauft, kaufen, kaufte Tabelle 3.4: Wortbildungsmorpheme und grammatische Morpheme An dieser Stelle möchten wir nochmals auf den bereits erwähnten Umstand verweisen, dass bei vielen Wörtern die morphologische Grenze nicht mit der silbischen Grenze übereinstimmt. morphologische Grenze: Bild + ung Kind + es Silbengrenze: Bil - dung Kin - des Nicht nur an diesen Beispielen wird deutlich, dass die morphologische Gliederung für die Rechtschreibung bedeutsamer ist als die silbische. Denn die erste Silbe <Bil> in <Bildung> enthält keinen Hinweis, warum das <l> hier nicht verdoppelt wird. Und die zweite Silbe <dung> könnte einen auf den Gedanken bringen, es handle sich hier um Dung, vielleicht einen besonderen Dünger für die Bildung. Die Silbengrenze gibt dem Schreiber vor allem die Information, dass hier eine Worttrennung am Zeilenende möglich wäre. Die morphologische Analyse hingegen gliedert das Wort klar in den semantischen Kern <Bild> und die Endung <ung>. Schreiber wie Leser bekommen so die inhaltliche Information, dass <Bild> Teil einer Wortfamilie ist, zu der Wörter wie Bilder, bildlich, Bildnis, gebildet, Missbildung, eingebildet, ausbilden oder Bildgehalt gehören. Der Schreiber weiß, dass <Bild> trotz des kurzen Vokals nicht mit zwei <l> geschrieben werden darf, da zwei Konsonanten folgen (für die im Sofahaus zwei Sessel stehen). Zudem lässt sich <Bild> zu <Bilder> verlängern; die zweisilbige Form zeigt, dass das Wort am Ende mit <d> geschrieben werden muss, da der Stamm erhalten bleibt. Mit den beiden Silben <Bil> und <dung> lassen sich diese Informationen nicht ermitteln. Silbische Informationen sind vor allem für Leseanfänger wichtig. Deshalb ist es auch sinnvoll, wenn in den ersten Lesetexten unter den Wörtern Silbenbögen <?page no="76"?> 77 3.4 Gebundene grammatische Morpheme stehen oder von Kindern gesetzt werden und betonte und unbetonte Silben in unterschiedlichen Farben erscheinen, wie in den Grundschulwerken ‚ABC der Tiere‘ und ‚KARIBU‘. Für das Schreiben sollte aber so früh wie möglich auf das morphematische Prinzip gesetzt werden, angefangen mit dem Stamm, der mit dem Sofahaus analysiert und mit Präfixen und den Suffixen fortgeführt werden kann, die man in der Grundschule noch als vordere Anbauten und hintere Anbauten bezeichnen sollte. Wortbildungsmorpheme, die im Deutschunterricht als Wortbausteine bezeichnet werden, lassen sich leichter identifizieren als grammatische Morpheme. So lässt sich bei einem Wort wie <Schönheit> das lexikalische Morphem <schön> leicht vom Suffix <heit> unterscheiden und zwischen beiden Teilen eine Grenze erkennen. Bei Wortformen wie <schöner> oder <schafft> sind dagegen die lexikalischen Morpheme <schön> und <schaff> nicht so leicht als eigenständige Bestandteile zu erkennen, die von den angefügten grammatischen Morphemen <er> bzw. <t> unterschieden werden müssen. Falls bei <schafft> die morphematische Grenze nicht erkannt wird, könnten Schreiber auf die Idee kommen, das Wort würde, wie der <Schaft>, nur mit einem <f> geschrieben, da auf das kurze / ungespannte <a> zwei Konsonanten folgen. Wenn das <t> aber als Flexionsendung erkannt wird, das zum Verbparadigma mit Wortformen wie <schaff-e>, <schaff-st>, <schaff-en> und <schaff-te> gehört, ist dem Schreiber klar, dass der Stamm <schaff> mit zwei Konsonantenbuchstaben geschrieben werden muss, da nur das eine Konsonantenphonem / f/ auf den Vokal folgt und nicht zwei - / f/ plus / t/ - wie in <Schaft>. Morpheme sind die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten in einer Sprache. Während für lexikalische Morpheme der semantische Bezug zentral ist, ist er bei Wortbildungsmorphemen zwar deutlich schwächer, da ihre grammatisch orientierende und klassenbildende Funktion wichtiger ist, aber auch hier findet man semantische Bezüge wie beispielweise bei dem Morphem <zer> in Verben wie zerschlagen, zerreden, zermürben oder <los> in Adjektiven wie lustlos, bedeutungslos oder schlaflos, die deshalb leicht im Langzeitgedächtnis verankert werden können. Aber auch mit Wortbildungsmorphemen wie <lich> oder <bar>, <heit> oder <keit>, bei denen der semantische Bezug schwach ist, lassen sich bei Wörtern mit diesen Suffixen Gemeinsamkeiten entdecken. Schüler, auch Grundschüler, kommen mit morphologischen Analysen gut zurecht, wenn sie möglichst früh und systematisch eingeführt werden und keine Verunsicherungen durch Interferenzen mit silbischen Analysen entstehen. Grammatische Morpheme kommen vorwiegend als Flexionsendungen vor: bei Verben als Konjugationsendungen und bei Substantiven und Adjektiven <?page no="77"?> 78 3 Das morphematische Prinzip als Deklinationsendungen. Der einzige Vokal, der in diesen Endungen stehen kann, ist das Schwa. In standardsprachlicher Explizitlautung wird das Schwa zwar in Wörtern wie <Wimpel>, <guten> oder <gutem> realisiert, aber im umgangssprachlichen Alltag wird es ‚verschluckt‘ und zu / wimpl/ , / gu: tn/ und / gu: tm/ verkürzt. In der Schreibung muss das <e> jedoch immer erscheinen. Aber nicht nur der Unterschied in Lautung und Schreibung dieser Flexionsendungen führt zu Fehlern. Sehr oft wird auch das <m> als Dativmarkierung durch ein <n> ersetzt, seltener auch umgekehrt. Dieser Fehler ist charakteristisch für bestimmte dialektal und regionalsprachlich geprägte Gebiete wie beispielsweise das Ruhrgebiet (Steinig 1986). Anstatt „mit gutem Gewissen“ schreiben Schüler dann „mit *guten Gewissen“, ein Fehler, der oft nicht in Fehlerstatistiken zur Orthografie erscheint mit der Begründung, dass hier kein Mangel an orthografischem Wissen, sondern an grammatischem Wissen vorläge, und so auch Flexionsfehler bei Artikeln vorkämen wie „mit *ein Auto gekommen“. Neben den Wortausgängen <el>, <em> und <en>, bei denen vor den Konsonantenbuchstaben ein <e> geschrieben werden muss, auch wenn ein / ə/ im Mündlichen selten realisiert wird, gibt es noch die eigentümliche, überaus häufige Endung <er>. Hier hört man weder ein / ə/ noch ein / r/ , auch in expliziter Standardlautung nicht, sondern nur den tiefen Murmelvokal / ɐ/ . Bei diesem Laut könnte man auf die Idee kommen, ein <a> zu schreiben, was zahlreiche Schreibanfänger ja auch tun. 18 Dass man für die Endung <er> zwei Buchstaben benötigt, obwohl man grundsätzlich immer nur ein / ɐ/ hört, und dieser Laut eher einem / a/ als einem / ə/ entspricht, beruht auf der Regularität, dass in unbetonten Endsilben von nativen deutschen Wörtern nie ein anderer Vokalbuchstabe als <e> stehen darf. Wörter, die auf <a> enden, sind in der Regel fremden Ursprungs: Aula, Cola, Liga, Mamba, Razzia, Sofa, Tuba. Aber auch Kosewörter wie Mama, Oma, Papa, Funktionswörter wie da, ebenda, ja, aha oder Namen wie Maria, Nina, Rebecca enden auf <a>. Die Endung <er> ist dagegen charakteristisch für native deutsche Wörter; ganz so wie die Endungen <el>, <em> und <en>. Diese Endungen sind entstanden beim Übergang vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen, als es zur Abschwächung von vollen Vokalen in Endsilben zum unbetonten Schwa kam, das immer mit einem <e> geschrieben wird. Beispiele dazu: ahd. taga → mhd. tage → nhd. Tage; ahd. himil → mhd. himel → nhd. Himmel; ahd. nasa → mhd. nase → nhd. Nase. 18 In Gebieten, in denen das / ɐ/ rhotisch ausgesprochen wird, wie in Teilen Süddeutschlands und der Schweiz, besteht dieses Problem nicht. <?page no="78"?> 79 3.5 Exkurs zur s-Schreibung Im Anfangsunterricht sollte man Namen und Wörter fremden Ursprungs, die auf <a> enden, möglichst vermeiden, da sie Schreibanfängern ein von üblichen Grafien abweichendes Muster geben. Für Funktionswörter mit <a> als Endung gilt diese Empfehlung selbstverständlich nicht. Und Kosewörter wie Mama, Papa, Oma und Opa lassen sich im Anfangsunterricht wohl auch nicht vermeiden. Schließlich möchten wir noch auf zwei Ausnahmen des morphematischen Erhaltungsprinzips hinweisen: Bei Verben, deren Stamm auf <s> endet, beispielsweise <reis+en> oder <lass+en>, bleibt die Flexionsendung der zweiten Person Singular <st> nicht erhalten, also nicht <du *reisst> oder <du *lässst>, wie es in Analogie zu Wörtern wie <Flusssand> zu erwarten wäre. Auch bei dem häufigen Adverb <dennoch> verzichtet man auf ein drittes <n>, das nach dem Erhaltungsprinzip eigentlich nötig wäre, also nicht <*dennnoch>, obwohl es sich hier um eine Komposition von <denn> und <noch> handelt. 3.5 Exkurs zur s-Schreibung Die s-Schreibung unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der anderer Konsonanten (vgl. Kap. 1.5). Dennoch weist sie einige Besonderheiten auf, die eine separate Beschreibung erfordern. Wie bei den anderen Obstruenten (Plosiven und Frikativen) besteht im Standarddeutschen eine phonologische Opposition zwischen stimmlosem [s] und stimmhaftem [z], die allerdings in einer Reihe von Kontexten aufgehoben ist: ▶ Wortinitial steht im Regelfall nur die stimmhafte Variante (11a), Ausnahmen bilden die Stellung vor Konsonant (11b) oder Fremdwörter aus dem Englischen (11c). Das mit den s-Lauten in dieser Position korrespondierende Graphem ist im Normalfall <s>, in einigen Fremdwörtern <c>: (11) a. Sahne, Salz, sieben, setzen, super, simsen b. Skat, Sklave, Slum, Szene, Sphäre c. Server, Sex, Saloon, Song, City, Center ▶ Im Silbenansatz steht nach Konsonant im Normalfall die stimmhafte Variante [z]: Amsel, Gänse, aufhalsen. Allerdings wird der Frikativ nach stimmlosen Konsonanten teilweise entstimmlicht, vgl. Rätsel, Kapsel, biegsam. Dieser Prozess ist für die Verschriftung irrelevant, da in allen Fällen <?page no="79"?> 80 3 Das morphematische Prinzip (die nicht morphologisch bedingt sind; siehe unten) das Graphem <s> verwendet wird. ▶ Wenn der s-Laut allein zwischen zwei Vokalen steht, ist zu unterscheiden: Wenn der erste Vokal kurz / ungespannt ist, gibt es standardsprachlich nur die Lautung [s], in der Schreibung kommen die Regeln für die Verdoppelung der Konsonantenbuchstaben zum Zug: 19 (12) Kissen, nasse, fassen Wenn es sich beim ersten Vokal hingegen um einen langen / gespannten Vokal oder um einen Diphthong handelt, besteht eine Opposition zwischen [z] und [s]. Der Normalfall ist stimmhaftes [z], entsprechend schreibt man hier einfach <s>. Der Sonderfall ist das stimmlose [s], und hier kommt der besondere Buchstabe <ß> zum Zug: (13) a. stimmhaft: reisen, Muse, Fliesen b. stimmlos: reißen, Muße, fließen Nur in dieser Konstellation ist die Stimmtonopposition zwischen den s-Lauten für die Schreibung relevant. Vor allem im mittel- und süddeutschen Raum wird der Kontrast zwischen stimmlosem [s] und stimmhaftem [z] in dieser Position allerdings häufig neutralisiert (vgl. Duden-Aussprachwörterbuch 2015: 71 f. und Krech 2010: 241 f.), was eine Unterscheidung der entsprechenden Schreibungen nach Gehör für Schülerinnen und Schüler dieses Sprachraums nicht erlaubt. Eine mögliche didaktische Konsequenz dieses Befundes wäre, Wörter mit <ß> (Straße, Maße, grüßen, heißen, beißen usw.) als Lernwörter einzustufen. - In der Silbenkoda (vgl. Kap. 1.6) steht nach dem Gesetz der Auslautverhärtung nur die stimmlose Variante [s]. Die Verschriftung orientiert sich am morphematischen Prinzip (→ Verlängerungsprobe), das heißt, es steht je nachdem <s>, <ss> oder <ß>; siehe vorangehend: 19 Die seltenen Fälle eines stimmhaften [z] im Silbengelenk (z. B. quasseln, vermasseln, Schussel; Puzzle, Blizzard) sind entweder regional begrenzt oder Fremdwörter mit anderer Verschriftung (z. B. <zz>). In schweizerdeutschen Dialekten kommen Silbengelenke auch nach Langvokalen und Diphthongen vor (z. B. in Straße, schweizerdt. Strasse); dies ist nach Gallmann (1997b) ein möglicher Grund für das Fehlen des Graphems <ß> im Schweizerdeutschen. <?page no="80"?> 81 3.6 Abschließende Bemerkungen (14) nass (wegen: nasse), Gras (wegen: Gräser), Maß (wegen: Maße) Die Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln für die s-Laute lassen sich wie folgt zusammenfassen: 20 1. Regelfall: [s] und [z] korrespondieren mit <s>. 2. [s] wird zu <ss> im Silbengelenk. 3. [s] wird zu <ß> intervokalisch nach Langvokal oder Diphthong; alternative Formulierung: [s] wird zu <ß> intervokalisch in folgenden Wörtern: aßen, Straßen, heißen-… (Lernwörter) Wortschreibungen, die nicht durch diese drei Regeln erfasst werden, lassen sich durch das morphematische Prinzip erklären: (15) vermisst (weil vermissen), hässlich (weil hassen), Kuss (weil küssen); Gruß (weil grüßen), heißt (weil heißen), maßgeblich (weil Maße) Die Unterscheidungsschreibung das / dass wurde in Kapitel 3.3 ausführlich behandelt. 3.6 Abschließende Bemerkungen Das morphematische Prinzip nützt dem Leser zur raschen Erfassung der Bedeutung von Wörtern. Das phonologische Prinzip kommt dagegen eher den Interessen der Schreiber entgegen, die bei der Aufzeichnung von Wörtern vom Gesprochenen ausgehen und sich, besonders als Anfänger, einen möglichst engen Bezug von der Lautung zur Grafie wünschen. Beide Prinzipien ergänzen sich und schaffen so einen mehr oder weniger gelungenen Ausgleich zwischen den Interessen der Leser und der Schreiber. Die deutsche Orthografie ist somit einerseits Träger der Lautung, genauer: der Standardaussprache, andererseits Träger von Bedeutungen, die fest an Morpheme gebunden sind und deshalb mehr oder weniger stark von der Lautung abweichen. Die deutsche Schrift ist also weder eine rein phonologische Schrift mit einem 1: 1-Phonem-Graphem- Bezug noch eine Morphemschrift, sondern berücksichtigt manchmal das eine, 20 Fremdwörter wie Center, Farce, Jazz sind in dieser Kurzfassung ausgeblendet. <?page no="81"?> 82 3 Das morphematische Prinzip manchmal das andere Prinzip stärker, häufig sogar innerhalb desselben Wortes, wo beide Prinzipien dann in einem nicht immer leicht zu durchschauenden Verhältnis zueinander stehen (Nerius 2006: 89-93). Das Zusammenwirken phonologischer und morphologischer Prinzipien erkennt man besonders gut an den zahlreichen Homophonen, also anhand von Wörtern, die gleich ausgesprochen, aber unterschiedlich geschrieben werden. Wir haben im Folgenden einige davon zusammengestellt: (16) Aas / aß, bald / ballt, das / dass, dehnen / denen, fetter / Vetter, hasst / hast / Hast, hohl / hol, isst / ist, konnten / Konten, Lachs / lax, laichen / Leichen, lasst / Last, Lärche / Lerche, läuten / Leuten, Lieder / Lider / Leader, Leere / Lehre, Leid / leiht / Leit-, liest / least, Mahl / Mal, Meer / mehr, mahlen / malen, man / Mann, Märkte / merkte, Mathe / Matte, Miene / Mine, mühten / Mythen, nahmen / Namen, Prinz / Prints, Rad / Rat, Rederei / Reederei, ruhte / Rute / Route, Saite / Seite, Schänke / schenke, schellte / Schelte, Schlächter / schlechter, Schwämme / Schwemme, Seen / sehen, seid / seiht / seit, sie / sieh, späht / spät, Spind / spinnt, Stadt / statt, Ställe / Stelle / stelle, Steak / Steg, stiehl / Stiel / Stil, Tod / tot, Trend / trennt, Uhrzeit / Urzeit, Verben / werben, verließ / Verlies, verwaist / verweist, Villen / Willen, Waagen / wagen / Wagen, Wahl / Wal, wahr / war, wahre / Ware, Wände / Wende, weis / weiß, wieder / wider, Zunahme / Zuname Möchte man die unterschiedlichen Grafien dieser Homophone erklären, muss man auf die phonematischen, syllabischen und morphematischen Regularitäten zurückgreifen können, die wir bislang besprochen haben. Mit der Großschreibung von Substantiven käme noch ein lexikalisches Prinzip hinzu, das wir im nächsten Kapitel behandeln werden. Lehrkräfte sollten die unterschiedlichen Grafien von Homophonen nicht nur verstehen, sondern auch Schülern erklären können. Es wäre aber nicht sinnvoll, sie im Rahmen einer Übung oder gar eines Diktates als Wortpaare mit hohem Fehlerpotential schreiben zu lassen, da dies zu einer sogenannten ‚Ähnlichkeitshemmung‘ führen würde. 21 Nach Erklärungen für diese Schreibungen suchen zu 21 Die Ähnlichkeitshemmung wird nach dem ungarischen Psychologen Pál Ranschburg auch als Ranschburg-Phänomen bezeichnet. Er hatte 1905 entdeckt, dass Lernstoff, der zu ähnlich ist, beim Abruf im Gedächtnis zu Hemmungen führt. <?page no="82"?> 83 3.7 Aufgaben lassen, wäre hingegen eine spannende Aufgabe für Schüler aus der Sekundarstufe, die zu einem erhöhten orthografischen Problembewusstsein führen kann. Zum morphologischen Prinzip möchten wir noch anmerken, dass es nicht nur auf dem Erhaltungsprinzip (möglichst) gleicher Morpheme in miteinander verwandten Wortformen beruht, sondern auch nach angemessen gestalteten Wortformen verlangt, damit der Leser nicht nur phonetische, sondern auch semantische und grammatische Informationen leicht erfassen kann. Dabei gilt, dass lexikalische Morpheme graphematisch aufwändiger gestaltet sind als grammatische und so für die Sinnentnahme als wichtiger hervorgehoben werden. Dehnungs- und Doppelkonsonanzgrafien findet man, mit wenigen Ausnahmen 22 , nahezu ausschließlich in lexikalischen Morphemen. In Aufgaben für Schüler sollten die Unterschiede zwischen lexikalischen und grammatischen sowie zwischen freien und gebundenen Morphemen thematisiert und geübt werden. Wer diese Unterschiede verstanden hat, erkennt die Strukturen und Funktionen von Wörtern besser. Wörter sind dann keine mehr oder weniger sinnvoll erscheinenden Abfolgen von Buchstaben, aneinandergereiht wie Perlen auf einer Kette. Sie werden durchsichtiger und ihr regelgeleiteter Aufbau wird erkennbar. Wenn dieser strukturelle Blick auf Wortschreibungen gelingt, erkennt man die Logik der Orthografie und spürt vielleicht sogar ein bisschen Bewunderung für den kollektiven Geist, der dieses System über Jahrhunderte weitgehend sinnvoll entwickelt hat. 3.7 Aufgaben 1. Erklären Sie die unterschiedlichen Schreibungen der folgenden Homophone (gleich gesprochene Wörter). Bällen / bellen - biss / bis - fällt / Feld - frisst / Frist - Hemd / hemmt - kannte / Kante - Wald / wallt - fließt / fliehst / fliest 2. Analysieren Sie den morphematischen Aufbau der folgenden Bandwurmwörter. a) Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz b) Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung 22 Das <ie>, z. B. in sie oder dieser ist keine Ausnahme, sondern die übliche Dehnungsgrafie für das lange / gespannte / i: / . Das Dehnungs-h in ihr folgt dem Muster von ihm (≠ im) und ihn (≠ in). <?page no="83"?> 84 3 Das morphematische Prinzip 3. Wie erklären Sie sich die folgenden Fehlschreibungen und wie könnten Sie den Schreibern helfen, diese Fehler zu vermeiden? a) anstatt Mäuse: *Meuse, *Moise, *Möse b) anstatt Räuber: *Reuber, *Reubaer c) anstatt Fahrrad: *farat 3.8 Literaturhinweise Eine fundierte Einführung in die ‚Morphologie des Deutschen‘ bietet Elsen (2011). Der Zusammenhang von phonographischen und morphematischen Schreibungen wird in der Monographie von Schmidt (2018) untersucht. <?page no="84"?> 4 Die Großschreibung Sätze beginnen in allen heutigen Alphabetschriften mit einem Großbuchstaben. Diese satzinitiale Großschreibung ist für Schreiber unproblematisch, sofern sie in der Lage sind zu erkennen, wo ein Satz beginnt und wo er endet. Sätze als Einheiten zu erfassen, sie zu verstehen und zu äußern ist Teil unseres universell erworbenen Sprachwissens; Steven Pinker (1998) würde sagen, es gehört zu unserem „Sprachinstinkt“. Sie müssen als basale kognitive Einheiten unserer Sprachkompetenz nicht explizit vermittelt werden. Kinder lernen deshalb auch rasch, dass der erste Buchstabe eines Satzes großgeschrieben wird. Unproblematisch ist auch die Großschreibung von Eigennamen (Timo, Edeka, Rom), sofern sie nicht aus mehreren Bestandteilen bestehen, wie das Tote Meer oder der Schiefe Turm von Pisa. Im Kapitel 4.3 werden wir uns mit diesen Fällen beschäftigen. Schließlich werden in Briefen die formellen Anredepronomen auf der Sie- Ebene großgeschrieben. Auf der Du-Ebene darf man sich seit der Rechtschreibreform entscheiden, ob man du (dein, dir usw.) groß- oder kleinschreiben möchte. Satzinitiale Großschreibung, Großschreibung von Eigennamen und (formellen) Anredepronomen gelten auch für andere Sprachen. Aber ausschließlich im Deutschen werden Substantive und Wörter, die Eigenschaften von Substantiven zeigen, großgeschrieben. Es gab zwar immer wieder Bemühungen, die satzinterne Großschreibung abzuschaffen, aber dazu kam es nie. Sie blieb auch nach der Neuregelung von 1996 erhalten. Sie abzuschaffen war politisch nicht durchsetzbar und wäre wohl von der Sprachgemeinschaft auch nicht akzeptiert worden, trotz der häufigen Verstöße gegen diese Norm, insbesondere im elektronischen Schriftverkehr. Gegen ihre Abschaffung spricht, dass sie beim Lesen hilft. Das hängt mit der Eigenart des Deutschen zusammen, nahezu jedes Wort durch Konversion in ein Substantiv transformieren zu können, ohne dass dazu Wortbildungsmittel notwendig wären. Aus dem Verb hoffen kann nicht nur mit der Endung <-ung> Hoffnung entstehen, sondern auch das Hoffen. Ohne die Großschreibung von Konversionen, die die Funktion von Substantiven einnehmen, würde das Lesen erschwert. <?page no="85"?> 86 4 Die Großschreibung (1) *Das ständige hoffen bereits am frühen morgen bis zum einschlafen schwächte sein schwaches selbst immer mehr. In diesem Satz kommt kein einziges Substantiv vor, sondern nur Konversionen aus Verben (hoffen, einschlafen), einem Adverb (morgen) und einem Pronomen (selbst). Ohne Großschreibung gehen diese Wörter gewissermaßen unter, wie Sie beim Lesen wahrscheinlich selbst bemerkt haben. So liest sich der Satz jedenfalls besser: (2) Das ständige Hoffen bereits am frühen Morgen bis zum Einschlafen schwächte sein schwaches Selbst immer mehr. An diesem Beispiel lässt sich erkennen, dass nicht ausschließlich Substantive großgeschrieben werden, sondern die Kerne von Nominalgruppen (NGs). Eine NG ist eine in sich geschlossene syntaktische Einheit, in der zwischen Artikel, Adjektiven und Substantiv bzw. einem Substantiv äquivalenten Wort grammatische Übereinstimmung (Kongruenz) in den Merkmalen Numerus, Genus und Kasus besteht. In deutschen Sätzen gibt es oft viele NGs, die zudem noch ineinander verschachtelt sind. Das Lesen wäre mühsamer, wenn die Kerne der NGs nicht durch Großschreibung markiert wären. Im folgenden Beispiel haben wir die NGs grau hinterlegt, eine eingeschobene NG unterstrichen und ihre Kerne durch Fettdruck hervorgehoben, um die strukturbildende Funktion der satzinternen Großschreibung zu verdeutlichen. Der große Bau mit seinen in hellem Blau kunstvoll bemalten Fenstern, den wir nach unserer langen Reise im abendlichen Licht sehen konnten, hat bei vielen ein ungläubiges Staunen hervorgerufen. Durch die Großschreibung ihrer Kerne werden NGs leichter als syntaktische Einheiten erkannt; der Satz erschließt sich so besser als eine in sich gegliederte Struktur; sein Inhalt kann rascher erfasst werden, da in den nominalen Kernen in der Regel am meisten Inhalt steckt. Die Großschreibung hilft nicht nur deutschsprachigen Lesern, sie würde auch Niederländern beim Lesen ihrer eigenen Schrift helfen, wie Gefrorer / Günther / Bock (1989) in einem Experiment zeigen konnten. Die Versuchspersonen lasen einen niederländischen Text rascher, der mit der für sie unbekannten satzinternen Großschreibung verändert war, als in der für sie üblichen Klein- <?page no="86"?> 87 4.1 Der lexembasierte Ansatz schreibung. Großbuchstaben bieten offenbar Lesern durch die Hervorhebung nominaler Kerne grundsätzlich eine bessere Orientierung in Sätzen, die bei gemäßigter Kleinschreibung nicht gegeben ist. Dieses Alleinstellungsmerkmal der deutschen Orthografie ist zwar für Leser hilfreich, aber zahllose Schreiber, nicht nur Schreibanfänger, haben mit dieser Konvention Probleme. Die satzinterne Großschreibung ist der Bereich der deutschen Orthografie, der mit etwa einem Viertel aller Rechtschreibfehler - neben der dass-Schreibung - den höchsten Fehleranteil hat (Mentzel 1985; Betzel 2015; Müller 2016). Die überaus hohen Fehlerzahlen und auch die Tendenz, im internetbasierten Schreiben satzintern kleinzuschreiben, könnten vielleicht doch einmal zu dem Entschluss führen, diese Regelung abzuschaffen, da die Nachteile für Schreiber gegenüber den Vorteilen für Leser als zu groß empfunden werden. Dass es zu so vielen Fehlern kommt, liegt aber vielleicht nicht an der Kompliziertheit der Großschreibung, sondern daran, dass sie in der Schule schlecht oder gar falsch vermittelt wird. Während man nämlich seit geraumer Zeit in der Linguistik davon ausgeht, dass die erweiterbaren Kerne von NGs großgeschrieben werden, wird bis heute in der Schule weithin immer noch nach dem traditionellen lexembasierten Ansatz 23 unterrichtet, wonach nur nominale Lexeme (Substantive) großgeschrieben werden und Substantivierungen als Ausnahmen hinzukommen. Der neuere syntaktische Ansatz geht davon aus, dass die Kerne von NGs großgeschrieben werden, und zwar unabhängig davon, ob diese Kerne Substantive sind oder nicht. Dieser Ansatz hat sich im Deutschunterricht bislang noch nicht durchgesetzt. Mit beiden Ansätzen werden wir uns in den nun folgenden beiden Kapiteln beschäftigen und ihre Vor- und Nachteile für den Unterricht diskutieren, zunächst mit dem lexembasierten Ansatz, anschließend mit dem syntaktischen Ansatz. 4.1 Der lexembasierte Ansatz Nach der Durchsicht von 33 Sprachbüchern für die 3./ 4. Klasse der Grundschule, der 5. bis 7. Klasse von Haupt- und Realschule sowie für das Gymnasium kommt Betzel (2015: 35 ff.) zu dem Ergebnis, dass die satzinterne Großschreibung dort nur mit dem lexembasierten Ansatz erklärt und geübt wird. Das beginnt in der 23 Er wird in der Literatur meist missverständlich als ‚wortkategorialer Ansatz‘ bezeichnet. Da dieser Ansatz aber eine bestimmte Lexemklasse fokussiert, nämlich nominale Lexeme, ist ‚lexembasiert‘ präziser. <?page no="87"?> 88 4 Die Großschreibung 3. Klasse mit Bezügen zum bereits bekannten Wissen zur Semantik konkreter Substantive („alles, was man sehen und anfassen kann“) und geht dann über zur Schreibung von Abstrakta, die man mit der Artikelprobe erkennen könne. Man beginnt zunächst mit bestimmten und unbestimmten Artikeln, später auch mit versteckten Artikeln, die mit einer Präposition zusammengezogen werden, also im, zur, zum, ins, am, beim, aufs oder durchs. Hingewiesen wird auf Artikel bei Komposita, die sich nach dem Grundwort richten, nicht nach dem Bestimmungswort, also das Ballspiel, aber der Spielball. Hinzu kommen Einheiten zu Suffixen (-heit, -keit, -nis, -ung, -schaft, -tum) und Endungen nach Numerus und Kasus, mit denen sich ebenfalls Substantive identifizieren lassen. Dieser ganze Aufwand dient vor allem dazu, Substantive sicher zu erkennen, damit sie großgeschrieben werden, denn Grundschüler sollen sich merken: „Substantive schreibt man groß, alle anderen Wörter klein.“ Dieser Merksatz, der immer wieder neu, explizit oder implizit, in der gesamten Grundschulzeit in geradezu penetranter Weise rekapituliert wird, ist jedoch mit dem plötzlichen Auftauchen von Substantivierungen bzw. Nominalisierungen in der Sekundarstufe, meist erst ab der 6. Klasse, nicht mehr zu halten. Es soll nun doch möglich sein, auch andere Wörter großzuschreiben, eine Regel, die auf dem Hintergrund des bislang Gelernten nur als Ausnahme akzeptiert werden kann. So findet man im Sprachbuch ‚Standarddeutsch‘ für die 6. Klassenstufe eine Einheit mit der Überschrift „Die Wortart wechseln - Adjektive werden Nomen“ und darin die Regel: Wenn ein Begleitwort (z. B. ein Artikel oder eine Mengenangabe) vor einem Adjektiv verwendet wird und direkt dahinter kein Nomen folgt, wird das Adjektiv zum Nomen und muss großgeschrieben werden. […] Das nennt man Nominalisierung von Adjektiven. (Steigner 2008: 150) Zwei Seiten später erfahren die Schüler in einer weiteren Einheit „Verben werden Nomen“. Da es zu keiner grundlegenden Klärung des Sachverhalts kommt, muss diese wundersame Verwandlung von Wortarten als willkürlich erscheinen; es wird nicht klar, warum Wörter jeder Wortart großgeschrieben werden können. Die mit den beiden Einheiten suggerierte Annahme, die Umwandlung zu Substantiven könne nur Adjektive und Verben treffen, ist falsch. Derartig willkürlich erscheinende Merksätze mit Übungen werden kaum zu einer inneren automatisierten Regelbildung führen. Die bislang durchgeführten empirischen Rechtschreibuntersuchungen wie die von Mentzel (1985), Scheele (2006), Steinig et al. (2009) und Betzel (2015) <?page no="88"?> 89 4.1 Der lexembasierte Ansatz beruhen alle auf einem Unterricht, der dem lexembasierten Ansatz verpflichtet ist. Besonders aufschlussreich ist die Untersuchung von Betzel (2015), da hier in einer echten Langzeitstudie acht Klassen aus sechs verschiedenen Schulen - Hauptschulen, Realschulen und einem Gymnasium - von der 5. bis zur 7.-Klasse mit einem Echtwort- und einem Pseudowort-Lückendiktat untersucht wurden, denn erst auf diesen Klassenstufen wird die Grafie der besonders fehlerträchtigen abstrakten Substantive und Substantivierungen im Unterricht behandelt. Da der didaktische Ansatz, der sich an der Großschreibung der Lexemklasse Substantiv orientiert, keine sachgerechte Basis für den Unterricht bietet, ist es nicht verwunderlich, dass immer dann, wenn Substantive schlechter zu erkennen sind oder - wie bei Substantivierungen - durch andere Wortformen anderer Lexemklassen substituiert werden, die Fehlerzahlen zunehmen. So konnte Betzel (2015) zeigen, dass relativ wenig Fehler bei Konkreta vorkommen, also bei Wörtern für Pflanzen, Tiere, Menschen und physische Objekte. Konkreta werden am zuverlässigsten großgeschrieben, aber nicht nur Grundschüler, sondern auch schwache Rechtschreiber an Sekundarschulen schreiben Konkreta öfter fälschlicherweise klein, wenn das, was sie bezeichnen, nicht oder schlecht als gegenständlich erkennbar ist, vulgo: wenn man etwas nicht sehen und / oder anfassen kann, wie etwa Blitz, Donner, Feuer, Luft, Himmel oder Wind, oder wenn etwas nicht zählbar ist wie Sand, Stahl, Fett oder Wasser. Bei Abstrakta, etwa bei Bezeichnungen für Gefühle (Lust, Mut, Sorge), steigt der Fehleranteil deutlich an, selbst dann, wenn ein Artikel unmittelbar vorausgeht. Noch seltener erkennen Schreiber die notwendige Großschreibung von Abstrakta bei fehlenden Artikeln und bei attributiv erweiterten Kernen. Da Schreiber einseitig auf die Lexemklasse Substantiv fixiert sind, nehmen sie vielleicht noch einen unmittelbar vorausgehenden Artikel als Signal zur Großschreibung wahr, aber die Nominalgruppe als Ganzes bekommen allenfalls Schüler aus oberen Leistungsgruppen in den Blick. Auch dann, wenn Substantive eindeutig anhand von Suffixen wie -heit, -keit, -nis, -ung, -schaft oder -tum erkennbar sind, nutzen leistungsschwache Schüler diese morphologischen Signale nicht als Hinweis für die Großschreibung, obwohl sie in Lehrbucheinheiten ab der 5. Klasse behandelt werden. Diese von Adjektiven (heilig - Heiligtum) oder Verben (kennen - Kenntnis) abgeleiteten Abstrakta werden öfter falsch geschrieben als nicht abgeleitete Abstrakta. Bei Substantivierungen ist fehlerhafte Kleinschreibung am stärksten verbreitet, wobei die Fehlerzahlen bei lexikalisierten Substantivierungen (Trotz, Vertrauen) etwas geringer sind als bei ad hoc gebildeten wie Gutes oder Telefonieren. <?page no="89"?> 90 4 Die Großschreibung Besonders problematisch sind diese Befunde, wenn man sie auf die vier Leistungsgruppen bezieht, die Betzel (2015) anhand seiner Ergebnisse gebildet hat. Hier zeigte sich nämlich, dass ein kontinuierlicher Anstieg der Rechtschreibleistungen nur in den beiden oberen Leistungsgruppen zu beobachten war, während sich die schwächeren Gruppen nur in der 6. Klasse verbesserten, danach blieben weitere Fortschritte aus, teilweise kam es sogar zu Rückschritten. Bei Schülern im unteren Leistungsbereich kann man offenbar nicht von einem kognitiv basierten kontinuierlichen Erwerb der Großschreibung ausgehen, sondern von unterschiedlich erfolgreichen Lernphasen im Anschluss an einen mehr oder weniger gelungenen Rechtschreibunterricht. Es kommt hier in besonderem Maße auf die Lehrkraft und auf die Tragfähigkeit des didaktischen Konzepts an, mit dem die Großschreibung vermittelt wird; man kann also nicht auf interne, robuste Entwicklungsprozesse bauen, wie wir sie beim Erstspracherwerb finden. In den oberen Leistungsgruppen gelingt es Schülern offenbar trotz der problematischen didaktischen Orientierung am lexembasierten Ansatz zu korrekten Grafien zu kommen, in den unteren jedoch nicht. Ihr Erwerb kommt in der 7. Klassenstufe weitgehend zum Stillstand, er fossiliert und wird sich voraussichtlich nicht mehr wesentlich verbessern. Man kann nämlich nicht damit rechnen, dass schwache Rechtsschreiber später ihre Defizite aufholen werden, denn die Leistungen in der Rechtschreibung bleiben von der Grundschulzeit bis ins Erwachsenenalter überaus stabil (Schneider / Stefanek 2007). Damit es aber nicht zu den von Betzel (2015) beobachteten Brüchen in der Entwicklung der Rechtschreibkompetenz bei schwachen Rechtschreibern kommt, müssen bereits in der Grundschule die richtigen didaktischen Entscheidungen zur Vermittlung der Großschreibung getroffen werden. Sie sollten nicht auf dem lexembasierten Ansatz beruhen, denn er führt zwangsläufig zu mehr Fehlern, je schlechter Substantive und Substantivierungen identifiziert werden können. Mit dem syntaktischen Ansatz verändert sich die Perspektive auf die satzinterne Großschreibung grundlegend. 4.2 Der syntaktische Ansatz Welche Nonsens-Wörter würden Sie im folgenden Satz großschreiben? (4) Als beim kopten, tilden könden das kride tulme donke einen ponden punz bekam, dachte sie nur noch ans dolke pirten, nicht mehr an klonke schlünden in der womben talben. <?page no="90"?> 91 4.2 Der syntaktische Ansatz Wenn Sie sich an die Regel hielten, nur Substantive großzuschreiben, könnten Sie diese Aufgabe unmöglich lösen. Denn woher sollten Sie bei Nonsens- Wörtern wissen, was ein Substantiv ist? Dennoch würden Sie wahrscheinlich könden, donke, punz, pirten, schlünden und talben großschreiben. Doch woher wissen Sie das? Sie wissen es, weil Sie in Ihrer langen Erfahrung als Schreiber unbewusst eine Regel gebildet haben, wonach das letzte Wort einer Nominalgruppe großzuschreiben ist, ohne dass Sie diese Regel vermutlich jemals gelernt haben. Sie sind zu einer sinnvollen Regel gekommen, trotz der falschen, auf eine Wortart fixierten Regel, die Ihnen in der Schule vermittelt wurde. Auch dann, wenn man bei diesem Satz für die Nonsens-Wörter real existierende Wörter einsetzt, die keine Substantive sind, führt die Regel, das letzte Wort einer Nominalgruppe großzuschreiben, immer zuverlässig zu korrekten Grafien, hier bei den Verben tanzen und flicken sowie beim Adjektiv schwarz. (5) Als beim heißen, wilden Tanzen das neue k/ Kleine Schwarze einen langen Riss bekam, dachte sie nur noch ans mühsame Flicken, nicht mehr an romantische Liebe in der warmen Sommernacht. Das Adjektiv klein würden Sie hier vielleicht großschreiben, denn das „Kleine Schwarze“ (ein phrasales Appellativ) steht in der Modebranche als Begriff für ein elegantes kurzes Abendkleid. Doch alle übrigen attributiven Adjektive würden Sie sicherlich kleinschreiben, dagegen die Kerne ihrer jeweiligen NGs groß. Wenn aber diese Kerne keine Substantive sind, werden sie oft fälschlicherweise kleingeschrieben. Nicht wenige Schreiber würden das zweite <rot> im folgenden Satz kleinschreiben, da sie seit der Grundschule wissen: Adjektive schreibt man klein. (6) Das rot lackierte Auto glänzte in seinem hellen, leuchtenden Rot. Das Substantiv Auto ist ein idealtypisches Substantiv, das einen konkreten Gegenstand bezeichnet; allenfalls wenige Erstklässler schreiben es klein. Das Adjektiv rot am Ende des Satzes hingegen ist kein Substantiv, wird aber dennoch großgeschrieben, weil es am Ende einer NG steht. Nicht nur Adjektive können diese syntaktische Position einnehmen, sondern nahezu alle Wörter, also Pronomen, Interjektionen, Numerale (Zahlwörter), Verben, Adverbien oder Präpositionen. <?page no="91"?> 92 4 Die Großschreibung (7) ▶ Sie hat ein starkes Ich. ▶ Er hat mir heute das Du angeboten. ▶ Es gab ein großes Hallo, als wir ankamen. ▶ Sie hat in der Klausur eine Eins bekommen. ▶ Das Geben ist schöner als das Nehmen. ▶ Denk nicht an das Gestern, denk an das Heute. ▶ Ein großes Wohin? stand in seinem ratlosen Gesicht. ▶ Er bestand auf seinem kompromisslosen Trotzdem. ▶ Sein knallhartes Nein gab mir den Rest. ▶ Dieses gelbliche Grün ist intensiver als das grünliche Gelb. In der Orthografiedidaktik wird bereits seit längerem angemahnt, den traditionellen lexembasierten Ansatz aufzugeben und durch den syntaxbezogenen Ansatz zu ersetzen (Röber-Siekmeyer 1999). Aber von Bildungsplanern und Schulbuchverlagen wurden diese Vorschläge bislang weitgehend ignoriert. Man hält an dem didaktischen Usus fest, sich bei der Vermittlung der satzinternen Großschreibung an der Lexemklasse Substantiv zu orientieren. Die linguistische Einsicht, dass es weniger auf diese Lexemklasse, sondern entscheidend darauf ankommt, ob ein Wort der Kern einer NG ist und deshalb großgeschrieben werden muss, erscheint wohl den meisten zu kompliziert, um sie Schülern vermitteln zu können. Aus historischer Sicht ist diese Scheu vor einer zu frühen Beschäftigung mit der syntaktischen Struktur von Sätzen durchaus verständlich, denn auch in der Sprachwissenschaft hat es lange gedauert, bis man neben dem Fokus auf Lexemklassen auch syntaktische Phänomene analysieren konnte. Das bisherige zweistufige Vorgehen - in der Grundschule nur Großschreibung von Substantiven - in der Sekundarstufe dann Substantivierungen - ist jedenfalls nicht sinnvoll. Die frühe ursprüngliche Prägung, nur Substantive würden großgeschrieben, lässt sich später schlecht korrigieren. Deshalb plädieren wir dafür, bereits Ende 2., Anfang 3. Klasse Kindern die Möglichkeit zu zeigen, dass grundsätzlich alle Wörter im Satzinneren großgeschrieben werden können. Diese Einsicht lässt sich mit einem einfachen szenischen Spiel vermitteln. Drei Kinder stehen vor der Klasse. Jedes hält ein Schild mit einem Substantiv mit beiden Händen vor der Brust. Sie sagen: Wir sind die wichtigsten Wörter. Wir sind Hauptwörter! (Man nennt uns auch Substantive bzw. Nomen.) Wir werden immer <?page no="92"?> 93 4.2 Der syntaktische Ansatz großgeschrieben. Darauf sind wir stolz. Ich bin der Löffel, ich bin die Gabel, ich bin das Messer. Löffel Gabel Messer Wir sind so groß und wichtig, dass wir uns Diener leisten können. Wenn wir es wollen, müssen sie sich vor uns stellen. Kommt her ihr Diener, erweist uns die Ehre! Kinder mit den Wörtern der, die und das stellen sich vor die drei Substantive. Die Substantive sagen: So ist es recht, ihr Artikel. Ihr müsst immer nur uns dienen! Jetzt können sich die anderen Wörter anstellen, die alle nicht so wichtig sind wie wir. Die müssen immer kleingeschrieben werden. Kinder mit den Wörtern rot, ich, lachen, fünf stellen sich neben die Substantive. Sie reden untereinander: Warum werden wir kleingeschrieben? Das ist unfair und gemein. Wir sind doch auch was wert. Wir möchten auch großgeschrieben werden. Da schleicht sich das Kind mit dem Schild, auf dem das steht, zu dem Kind mit dem rot-Schild und sagt zu ihm: Ich kann dir helfen. Ich habe nämlich keine Lust mehr, immer nur vor den stolzen Hauptwörtern zu stehen. Die werden ja sowieso großgeschrieben, auch wenn ich nicht davor stehe. Ich stelle mich jetzt einfach vor dich hin. Dann bin ich dein Diener und du darfst dann auch großgeschrieben werden. Das Kind mit dem das-Schild stellt sich vor rot und gibt diesem Kind ein großes R, das mit einem Klettband auf das kleine r geheftet wird. Selbstverständlich bekommen dann auch alle anderen kleingeschriebenen Wörter einen Artikel als Diener und erhalten einen großen Anfangsbuchstaben. Mit diesem szenischen Spiel erkennen Kinder bereits im 2. Schuljahr, dass Wörter, die normalerweise kleingeschrieben werden, auch großgeschrieben werden können; nämlich dann, wenn ein Artikelwort vorausgeht. Dieser so einfach erscheinende Artikeltest, der auch in Sprachbüchern empfohlen wird, hat allerdings einen Haken. Er führt zu Fehlern, wenn der Artikel stets nur auf das unmittelbar folgende Wort bezogen wird, wie im Beispiel: *der Leckere kuchen. Deshalb sollte man das szenische Spiel später mit attributiven Adjektiven erweitern, so dass Gruppen wie das giftige Grün oder die dicke, fette, lachende Acht entstehen. Dieses szenische Spiel macht übrigens implizit auch plausibel, dass es aus didaktischer Sicht sinnvoll ist, mit dem lexembasierten Ansatz zu beginnen, ihn dann aber möglichst früh durch den syntaktischen Ansatz zu ergänzen und ihn später gänzlich durch diesen zu ersetzen. <?page no="93"?> 94 4 Die Großschreibung Zuverlässiger als der Artikeltest ist der Adjektivtest, also das Einfügen von attributiven, flektierten Adjektiven 24 , da so auch artikellose Nominalgruppen abgedeckt werden können, die besonders fehleranfällig sind (Rautenberg / Wahl 2019: 85). Substanz- und Stoffnamen, die sich nicht auf zählbare Größen beziehen, haben oft keine Artikel, also etwa warme Milch, frischer Salat oder große Kraft. Auch ‚unbestimmte‘ Ausdrücke im Plural wie schnelle Züge, lustige Kinder oder rote Drachen sind artikellos. Dieser Adjektivtest kann bereits früh in der Grundschule szenisch gestaltet werden. So kann verhindert werden, dass Schüler sich einzig auf Artikelwörter als Signale für die Großschreibung fixieren. Wie könnte es nach diesem szenischen Spiel weitergehen? Mit welchen Übungen und Aufgaben? Im ‚Duden Sprachbuch‘ für die 3. Klasse fanden wir eine Seite zum syntaxorientierten Ansatz (Günther 2007b: 37). Die Einheit beginnt mit einer Sprechblase: „Alles kleingeschrieben, das stimmt doch nicht! “ Daneben steht dann dieser Text: Kranführerlied Der kran dreht sich. Der kran bewegt sich. Er kann lasten heben. Er lässt balken schweben. Das heben und senken Muss der kranführer lenken. Unter diesem ‚Lied‘ stehen sieben Adjektive: groß, gut, schnell, stark, langsam, lang und schwer. Dazu die Aufgabe 1: „Finde heraus, welche Wörter du großschreiben musst. Die Adjektive helfen dir.“ Daran anschließend die Aufgabe 2: „Schreibe das Kranführerlied mit Adjektiven richtig auf: Der große Kran dreht sich.“ Dann folgt die Vorlage für ein sogenanntes Treppengedicht: Der Kran Der …… Kran, der …… …… Kran der …… …… …… Kran hebt die Lasten an. Der Zimmermann Der …… Zimmermann Der …… …… Zimmermann Der …… …… …… Zimmermann guckt die Welt von oben an. 24 Adverbial verwendete Adjektive taugen nicht als Test, nur attributive, die flektiert werden, wie der Vergleich dieser beiden Sätze zeigt: Rasch entscheiden ist wichtig. vs. Rasches Entscheiden ist wichtig. <?page no="94"?> 95 4.2 Der syntaktische Ansatz 3. Aufgabe: „Schreibe die Treppengedichte vollständig auf. Diese Adjektive können dir helfen: “ gelb stark hoch jung geschickt mutig Bei dieser Aufgabe sollen Adjektive zur Überprüfung dienen, ob das nachfolgende Wort großgeschrieben werden muss. Die Kinder sollen so implizit diese Regeln lernen: a. Wenn eine Nominalgruppe attributiv erweitert werden kann, dann wird ihr Kern großgeschrieben. b. Der Kern ist in der Regel das letzte Element einer Nominalgruppe. (Günther / Nünke 2005: 11) Diese explizit formulierten Regeln bekommen die Schüler nicht präsentiert. Stattdessen sollen sie eigenständig herausfinden, vor welche Wörter sie Adjektive mit kongruenten Endungen setzen können (Günther 2007b: 37). Nur in einem Sprachbuch für die Sekundarstufe, in ‚Muttersprache‘ für die 6. Klasse (Oehme 2010: 184), fanden wir eine Einheit, die dem syntaktischen Ansatz folgt und dazu diese Erläuterung anbietet: Als nominale Wortgruppe bezeichnet man ein Nomen / Substantiv mit seinen Begleitern. Das Wort, das in einer nominalen Wortgruppe ganz rechts steht, wird großgeschrieben. Du kannst also zusätzlich zur Artikelprobe eine Erweiterungsprobe mit Attributen machen, z. B.: das Lesen der Neue das leise Lesen der blaue Neue das schnelle leise Lesen der große blaue Neue bei deinem schnellen leisen Lesen mit ihrem großen blauen Neuen In einer empirischen Studie in verschiedenen 2. und 6. Klassen konnte die Überlegenheit des syntaktischen Ansatzes weitgehend belegt werden (Rautenberg / Wahl 2019). Die hohe Fehleranfälligkeit artikelloser Nomina wurde deutlich reduziert. Artikel wurden wesentlich seltener auf das unmittelbar folgende Wort als Signal für die Großschreibung bezogen, so dass Fehler wie *der Frische wind vermieden werden. Auch in mehreren Unterrichtsversuchen führte eine syntaxbasierte Methodik zu weniger Fehlern (Röber-Siekmeyer 1999; Günther 2007a; Gaebert 2012). Bereits Viertklässler verwenden in Pseudowortdiktaten satzinterne Majuskeln <?page no="95"?> 96 4 Die Großschreibung intuitiv in einem erstaunlich hohen Ausmaß korrekt, ohne dass sie die großzuschreibenden Nonsenswörter als Substantive erkennen können und ohne dass ihnen jemals vermittelt wurde, die Kerne von NGs großzuschreiben. Es muss offenbar, unabhängig vom Unterricht, eine innere Regelbildung ablaufen, die dazu führt, dass Kinder nicht einfach irgendwelche Nonsenswörter großschreiben, sondern nur Kerne von NGs (Günther 2007a: 167). An dieses intuitive Wissen müsste die Didaktik anknüpfen, aber da sie bis heute weitgehend am lexembasierten Ansatz festhält, wird dieses Wissen spätestens in der Sekundarstufe, wenn ‚Substantivierungen‘ auf dem Programm stehen, nachhaltig gestört. Die hohen Fehlerzahlen in diesem Bereich, der wesentlich klarer geregelt ist als etwa Grafien mit Dehnungs-h, ist ein deutliches Indiz für eine didaktische Fehlsteuerung. Zum Erlernen der abstrakten und oft willkürlich erscheinenden orthografischen Regularitäten hat sich heute in der Didaktik weitgehend die Einsicht durchgesetzt, dass sie nur unvollkommen durch das Einprägen von Schreibungen oder das Erlernen von Regeln so internalisiert werden können, um als automatisiertes Wissen beim Schreiben problemlos abgerufen zu werden. Aber uns scheinen auch die seit einiger Zeit propagierten Vorschläge, durch selbstständiges Ausprobieren und Erforschen von Grafien zu Einsichten und einem erhöhten Problembewusstsein zu gelangen, nur bei intrinsisch motivierten und sprachbewussten Schülern erfolgreich zu sein. Ein erhöhtes Problembewusstsein führt bei ihnen wahrscheinlich in Überarbeitungsphasen zum besseren Erkennen von Rechtschreibfehlern. Aber ob orthografische Bewusstheit während des Schreibens selbst zu weniger Fehlern führt, also dann, wenn die Aufmerksamkeit vorwiegend auf Inhalte und Formulierungen gerichtet ist und Grafien weitgehend automatisiert produziert werden, scheint fraglich. Um Sicherheit in der Rechtschreibung zu erlangen, ist es vor allem zu Beginn einer Vermittlung von bislang unbekannten, abstrakten und willkürlich erscheinenden Regularitäten wichtig, sie über Bilder, Modelle und Metaphern an sinnliche Erfahrungen zu binden, also Abstraktes auf Konkretes zu beziehen, das der Welterfahrung von Kindern entspricht. Die Großschreibung entspricht keiner sinnlich nachvollziehbaren Welterfahrung. Memorieren und abstrakte Begründungen führen kaum zu einer neuronalen Verankerung. Der orthografische Sachverhalt sollte deshalb didaktisch so modelliert werden, dass er metaphorisch an bekannte, konkrete Vorstellungen, Erfahrungen, Gefühle, Bilder und Bewegungen andocken kann, damit ein nachvollziehbares metaphorisches Konzept entsteht. Denn Fakten und Regeln lassen sich neuronal besser oder <?page no="96"?> 97 4.2 Der syntaktische Ansatz überhaupt nur verankern, wenn sie durch körperlich geprägte Erfahrungen eine Perspektive bekommen und so Bedeutung erlangen. Aus dieser Beobachtung resultiert unser Vorschlag eines szenischen Spiels, das die Erfahrung von Kindern aufgreift, größer sein zu wollen als andere, was sie mit der Hilfe anderer erreichen können. In einem inszenierten metaphorischen Prozess wird die sinnlich-konkrete Erfahrung, größer sein zu wollen, auf die abstrakte Erkenntnis übertragen, dass alle Wörter großgeschrieben werden können, nicht nur die stolzen Substantive. Im metaphorischen Prozess werden kognitive und sprachliche Prozesse aktiviert, die abstrakten orthografischen Regularitäten einen Sinn verleihen, damit sie neuronal verankert werden können. Beim lexembasierten Ansatz steht nur für konkrete Substantive eine metaphorische Brücke zur Verfügung. Nur hier ist eine neuronale Verankerung des abstrakten Konzepts ‚Großschreibung‘ über einen konkreten Weltbezug möglich: Alles, was man sehen und anfassen kann, schreibt man groß. Das prägt sich leicht ein. Da aber ein sinnlich nachvollziehbarer Bezug zu einer willkürlich erscheinenden orthografischen Regel bei abstrakten Substantiven und Substantivierungen fehlt, ist es nicht überraschend, dass es zu ungewöhnlich hohen Fehlerzahlen kommt. Wenn man beim syntaktischen Ansatz hingegen von der Metapher einer Treppe ausgeht (Röber-Siekmeyer 1999), deren Stufen man in beliebiger Länge mit Adjektiven als Attributen erweitern kann, während am oberen Ende der Treppe, auf einer Bühne oder einem Podium, immer ein Wort steht, das großgeschrieben werden muss, dann steht hier eine anschauliche Metapher zur Verfügung, mit der nahezu alle großzuschreibenden Fälle abdeckt werden können, nicht nur konkrete Substantive. Das Bild von einer Treppe ist also wesentlich tragfähiger für das Verständnis der satzinternen Großschreibung als der semantisch motivierte Verweis auf Wörter, die etwas sinnlich Erfahrbares bezeichnen. Die Treppen-Metapher entspricht der linear angeordneten Abfolge von Wörtern, die wir uns anschaulich als Objekte im Raum vorstellen können (Lakoff / Johnson 2008: 147). Sie ist damit eingängiger und auch zutreffender als die Metapher von einer Nominalgruppe, die sich um einen Kern anordnet, zumal diese Metapher mit der Vorstellung von Elektronen, die um den Atomkern kreisen, oder von Planeten, die um die Sonne kreisen, interferiert. Im Bild der Treppe steht oben auf der Bühne, also metaphorisch an höchster Stelle, das Wort, das durch Großschreibung hervorgehoben wird. Die Treppenstufen müssen an die Bühne angepasst werden, d. h. die Adjektive müssen sich morpho-syntaktisch kongruent in Kasus, Numerus und Genus an das großgeschriebene Wort anpassen. Schließlich kann unten vor der Treppe fakultativ <?page no="97"?> 98 4 Die Großschreibung noch eine Fußmatte liegen, die auf Artikelwörter und Determinatoren verweist; auch sie muss sich an der Treppe und dem Podium orientieren, d. h. auch diese Wörter müssen sich morphologisch zum Podium-Wort kongruent verhalten, gleichgültig ob es ein Substantiv ist oder nicht. Das Wort auf dem Podium oben wird großgeschrieben, gleichgültig zu welcher Wortart es gehört. Beliebig viele Adjektive auf den Treppenstufen, die an das Wort auf dem Podium angepasst (flektiert) werden müssen. Eine Fußmatte unten als Basis für die Artikelwörter. Abbildung 4.1: Die Nominalgruppe als Treppe Da abstrakte Konzepte wie die Normen und Regeln der Rechtschreibung nicht unmittelbar unserer Erfahrung zugänglich sind, „brauchen wir zu diesen Konzepten einen Zugang über andere Konzepte, die wir in eindeutigeren Begriffen verstehen. Diese Notwendigkeit führt zur metaphorischen Definition unseres Konzeptsystems.“ (Lakoff / Johnson 2008: 135). Aus dieser Einsicht lässt sich ein didaktischer Imperativ ableiten, mit metaphorischen Mitteln Deutungsmuster zu konfigurieren, die dem Verstehen orthografischer Sachverhalte dienen. Diese Metaphern sollten an die Welterfahrung von Lernern anschließen und dabei möglichst viele Grafien abdecken, damit sie später nicht durch andere Metaphern ersetzt werden müssen. Wenn man glaubt, keinen metaphorischen Zugang zur Verfügung zu haben, hofft man darauf, dass Regellernen und Memorieren von Schreibmustern zu korrekten Grafien führen. Aber dieser Weg ist wenig erfolgreich: Wörter, die auf -heit oder -keit enden, großzuschreiben, kann als Regel nur bedingt funktionieren, da sie abstrakt bleibt und an keinerlei Welterfahrung andocken kann. Die Treppen-Metapher funktioniert hingegen von Anfang an, da sie sich auf eine Welterfahrung bezieht, die gleichzeitig das statische Element vom Bild einer Treppe und die dynamische Vorstellung einer Bewegung des Treppensteigens beinhaltet. Außerdem besitzt sie eine höhere Allgemeingültigkeit und muss später nicht revidiert werden, da sie den Regelungen zur satzinternen Groß- <?page no="98"?> 99 4.2 Der syntaktische Ansatz schreibung in grundlegender Weise entspricht, also die Grafien konkreter und abstrakter Substantive wie auch von Substantivierungen umfasst. 4.2.1 Kongruenz Attributive Adjektive müssen in Numerus, Genus und Kasus mit dem Kern der Nominalgruppe kongruent sein. Das ist ein grammatisches Phänomen, kein orthografisches und kann in unserem schmalen Band zur Orthografie nicht ausführlich behandelt werden. Dennoch möchten wir hier kurz darauf eingehen, da in diesem Bereich hohe Fehlerzahlen zu verzeichnen sind, ähnlich hohe wie im Bereich der satzinternen Großschreibung. Deshalb plädieren wir dafür, dass bei der Arbeit zur Großschreibung in NGs in besonderer Weise auf die Flexion der attributiven Adjektive geachtet wird. Zur Kongruenz von Substantiven und Artikelwörtern sowie attributiven Adjektiven gibt die folgende Tabelle eine kurze Übersicht: Maskulinum der Sand dieser Sand der heiße, gelbe Sand (ein) heißer, gelber Sand Neutrum das Wasser dieses Wasser das kühle, salzige Wasser (ein) kühles, salziges Wasser Femininum die Milch diese Milch die kalte, ranzige Milch (eine) kalte, ranzige Milch Tabelle 4.1: Kongruenz von Substantiven und Artikelwörtern sowie attributiven Adjektiven Für Substantive im Maskulinum zeigt sich ein <r> als letzter Buchstabe: entweder am Ende von Artikelwörtern oder am Ende attributiver Adjektive, falls ein unbestimmter Artikel vorausgeht oder der Artikel fehlt. Für Substantive im Neutrum steht stattdessen ein <s>. Substantive im Femininum haben am Ende immer ein <e>. Hier gibt es also keinen Wechsel zwischen starker Adjektivflexion (mit <r>) und schwacher Flexion (ohne <r>). Besonders fehleranfällig ist die starke Dativendung <-em> bei Adjektiven und Pronomen, für die oft falsch die schwache Endung <-en> eintritt. Beim Femininum steht statt <-em> die Endung <-er>. <?page no="99"?> 100 4 Die Großschreibung Dativ stark stark + schwach Maskulinum Ich gehe auf heißem Sand. Ich gehe auf dem heißen Sand. Neutrum Ich schwimme in kühlem Wasser. Ich schwimme im kühlen Wasser. Femininum Ich bade in kalter Milch. Ich bade in der kalten Milch. Tabelle 4.2: Kongruenz im Dativ Bei einer Abfolge mehrerer Adjektive darf allerdings auch standardsprachlich vom zweiten Adjektiv an die Endung <-en> stehen: (8) Ich gehe auf heißem, gelbem Sand. / Ich gehe auf heißem, gelben Sand. Ich schwimme in kühlem, salzigem Wasser. / Ich schwimme in kühlem, salzigen Wasser. 25 Das <m> hat also einen schweren Stand und wird in der gesprochenen Sprache immer öfter durch ein <n> ersetzt. In der Didaktik des Deutschen als Fremdsprache wird auf das Einüben von kongruenten Endungen größerer Wert gelegt als in der Deutschdidaktik (Huneke / Steinig 2013). Daher ist es nicht selten, dass Lerner, die im Ausland einen DaF-Kurs besucht haben, diese Endungen besser beherrschen als Kinder und Jugendliche, die im Ruhrgebiet oder Berlin aufgewachsen sind, wo Dativ- und Akkusativ-Endungen besonders häufig normwidrig realisiert werden, mündlich wie schriftlich (Steinig 1986). 4.2.2 Ausnahmen In Phraseologismen wie ins Gras beißen, Recht haben, in Kauf nehmen, die Fliege machen, Rad fahren oder Schlange stehen sind Erweiterungen mit attributiven Adjektiven nicht möglich. Diese Ausdrücke haben sich so verfestigt, dass sie nur in dieser Form mit einer spezifischen Bedeutung verwendet werden können. Erweiterungen würden ihren Sinn verändern oder sie sinnlos erscheinen lassen: *ins saftige Gras beißen, *in der giftigen Schlange stehen. Nach dem syntaktischen Kriterium der Erweiterbarkeit müssten die Substantive in Phraseologismen wie Schlange stehen und ins Gras beißen eigentlich kleingeschrieben werden. 25 Mehr zur Endung <-em> siehe Dudengrammatik (2016), Randnummern 1518- ff. (vor allem 1527). <?page no="100"?> 101 4.2 Der syntaktische Ansatz Genitivattribute lassen sich, wenn sie auf den Kern einer NG folgen, ebenfalls zu NGs erweitern und sind deshalb unproblematisch. (9) Die Tasche der Mutter → Die schwere Tasche der jungen Mutter. Werden Genitivattribute allerdings vorangestellt, sind sie nicht erweiterbar. (10) Mutters Tasche → *Junger Mutters schwere Tasche. Da vorangestellte Genitivattribute meist Eigennamen sind (Marias Tasche), sind hier keine Fehler zu erwarten, auch wenn das syntaktische Kriterium der Erweiterbarkeit hier nicht erfüllt wird. Adjektive in elliptischen Konstruktionen sind problematisch, da sie als Kerne erweiterbar sind, aber dennoch kleingeschrieben werden. (11) Ich habe mir einen neuen bequemen Sessel gekauft, der alte kaputte kam auf den Müll. Das Adjektiv kaputte bezieht sich hier auf den zuvor erwähnten Sessel, der im zweiten Satzteil weggelassen wird. Das Adjektiv verhält sich so, als würde das zuvor genannte Bezugswort noch einmal folgen und auch hier, wie im ersten Satzteil, als Kern der NG fungieren. Eine weitere Ausnahme bilden sogenannte Juxtapositionen. Das sind nicht erweiterbare nachgestellte Appositionen zu einem Nomen im Kern der NG, z. B. das Prinzip Hoffnung, das Risiko Herzinfarkt, der Aufschwung Ost (Gallmann 1997a). Sie sind aber nicht fehlerträchtig, da sich Schreiber hier nicht am syntaktischen Prinzip orientieren, sondern am lexikalischen und die nachgestellten Substantive problemlos großschreiben. Unproblematisch sind auch Appositionen zu Mengenangaben: ebenfalls Substantive, die noch dazu erweitert werden können (ein Paket Salz → ein Paket reines Salz). Diese Ausnahmen sind überschaubar. Lehrkräfte sollten sie bei Bedarf erklären können, jedoch explizit im Unterricht allenfalls in höheren Klassen thematisieren. Denn auch hier sollte unser didaktisches Prinzip gelten: Im Zentrum der Orthografiedidaktik stehen die normalen Regelungen mit großem Geltungsbereich; Ausnahmen spielen eine nachgeordnete Rolle. <?page no="101"?> 102 4 Die Großschreibung 4.3 Eigennamen Eigennamen (Propria) werden in allen Alphabetschriften großgeschrieben. In der Geschichte alphabetischer Schriften waren es die ersten Wörter, die einen großen Anfangsbuchstaben bekamen, als neben den Majuskeln zusätzlich noch Minuskeln entwickelt wurden. Eigennamen sind auch die Wörter, die von Kindern vor Schulbeginn und ohne Unterweisung großgeschrieben werden. Die Großschreibung von Eigennamen ist also tief im Bewusstsein alphabetisierter Gesellschaften verankert und führt so gut wie nie zu Fehlschreibungen. Sie wird im Deutschen nur dann problematisch, wenn Propria (Eigennamen) aus mehr als einem Wort bestehen, also Ausdrücke wie das Zweite Vatikanische Konzil, die Vereinigte Staaten von Amerika oder die Dresdner Neuesten Nachrichten. Ausdrücke wie sieben Weltwunder oder schwarze Magie sind dagegen keine Eigennamen. Manchmal besteht allerdings Unsicherheit, ob es sich um Eigennamen oder um Appellativa (Gattungsbezeichnungen) handelt. In solchen Fällen darf der Schreiber entscheiden, ob er den ersten Teil groß- oder kleinschreiben möchte, so bei der R(r)oten Karte oder dem S(s)chwarzen Brett. Aber woran lässt sich erkennen, ob es sich um einen mehrteiligen Eigennamen handelt oder um eine Kollokation bzw. Kookkurenz von Wörtern, die häufig als mehr oder weniger feste Wendungen auftreten wie harte Arbeit oder dumme Frage? Zwei Kriterien sollten zutreffen: 1. Das ‚Highlander-Kriterium‘: Etwas ist einzigartig. 2. Das ‚Baptisterium‘: Ein Taufakt ist zu unterstellen. (Mackowiak 2004: 33) Nach dem ersten Kriterium muss es sich um Namen von Gegebenheiten handeln, die einzigartig sind, wie etwa das Schwarze Meer oder das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nach diesem Kriterium dürften Adjektive bei Bezeichnungen wie schwarzes Brett oder kleines Schwarzes nicht großgeschrieben werden, denn davon gibt es viele Exemplare, es wären also keine Eigennamen, sondern Gattungsbezeichnungen. Nach der Rechtschreibreform ist beim Schwarzen Brett nun aber auch die Großschreibung erlaubt, der Duden empfiehlt sie sogar, wobei ein weiteres Kriterium zum Tragen kommt, nämlich die uneigentliche Verwendung des Farbadjektivs, denn schwarz verweist hier nicht auf die Farbe, sondern auf die Funktion des Bretts als Informationstafel, die auch gerne eine andere Farbe haben darf. Wenn ein Taufakt vorliegt, dann wurde einer Gegebenheit ein Name verliehen. Das Zweite Vatikanische Konzil und die Erste Bundesliga entsprechen <?page no="102"?> 103 4.4 Aufgaben diesem Taufakt-Kriterium, so dass auch ihre ersten Bestandteile großgeschrieben werden. Mackowiak (2004: 33) führt als Beispiel Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an, dessen Inhaltswörter alle großgeschrieben werden müssten, da dieser Lehrstuhl neu entstanden sei und entsprechend bezeichnet wurde. Doch wenn man im Internet nach diesem Lehrstuhl sucht, findet man nur die Variante Lehrstuhl für neuere deutsche Literaturgeschichte, etwa an der Uni Würzburg 26 . Die Ausdrücke Blauer Planet und Kalter Krieg beruhen zwar nicht auf einem Taufakt, sondern sind allmählich fest geworden, werden aber wohl so empfunden, als ob sie offiziell diese Bezeichnung bekommen hätten. Als Faustregel kann gelten: Wenn man nicht sicher ist, ob ein Eigenname vorliegt, sollten attributive Adjektive kleingeschrieben werden. Im Deutschunterricht spielen mehrteilige Eigennamen-Grafien bislang kaum eine Rolle. Auch von der Orthografiedidaktik, selbst in Arbeiten, die sich explizit mit der satzinternen Großschreibung befassen, werden sie nicht beachtet. Von Schülern werden sie selten verwendet und fallen hier fehlerstatistisch kaum ins Gewicht, aber in veröffentlichten Texten gehören sie zu den am häufigsten falsch geschriebenen Wörtern. Nicht nur deshalb wäre die Arbeit mit mehrteiligen Eigennamen in höheren Klassen an Sekundarschulen sinnvoll, sondern auch, um die orthografische Bewusstheit von Schülern zu schärfen. 4.4 Aufgaben 1. Bei welchen der folgenden Ausdrücke sind die Adjektive großzuschreiben? Begründen Sie Ihre Entscheidung und überprüfen Sie sie anschließend mit Hilfe des Duden (2017, D 89, S. 67f.). Gasthaus zur frischen Quelle, der harte Kern, die schwarze Null, der erste Mai, die innere Sicherheit, In der schmalen Gasse 15, der technische Zeichner, das große Los, ein schweres Los, der bayerische Wald, in den sauren Apfel beißen, das neue Jahr, der alte Fritz, der heilige Stuhl, der holländische Käse, ein harter Schnitt, die sieben Weltwunder, erste Hilfe, der westfälische Friede, die aristotelische Logik, das gelbe Windröschen, der atlantische Ozean, der rote Faden, der heilige Abend, die königliche Hoheit, die goldene Hochzeit, der zweite Weltkrieg, der erste Advent, der weiße Hai. 2. Wie könnte man eine Schulstunde in einer fünften Klasse gestalten, um in die Thematik der Groß- und Kleinschreibung einzuführen? Sie sollten 26 In solchen Fällen ist auch die amtliche Rechtschreibung flexibel, vgl. AR, §-60-E2. <?page no="103"?> 104 4 Die Großschreibung dazu die Ausdrücke „die spinnen“ und „die Spinnen“ sowie „der gefangene Floh“ und „der Gefangene floh“ verwenden. 4.5 Literaturhinweise Neben den beiden oben genannten Büchern von Betzel (2015) und Müller (2016) empfehlen wir Günther / Nünke (2005) und Röber-Siekmeyer (1999) zur Arbeit mit dem syntaxorientierten Ansatz. <?page no="104"?> 5 Getrennt- und Zusammenschreibung Imfrühenmittelaltergabesnochkeinezwischenräumezwischendenwörternwennman einentextlasmusstemanihnlautlesendamitmanamklangderwörtererkennenkonnte manwoeinwortaufhörteundwoeinneuesbegannsatzinternegroßschreibungund zeichensetzunggabeszunächstauchnichtinderschreibstubeeinesklostersimscriptorium hörtemandeshalbständigeinhalblauteslesenwiesieesvielleichtausdemfilmdernameder rosekennen. Aber irgendwann, um 700 n.- Chr., kamen findige Mönche auf die Idee, zwischen zwei Wörtern einen Zwischenraum zu lassen. 27 Dieses Spatium hat das Lesen enorm erleichtert. Erst ab dieser Zeit konnte man müheloser lesen, vor allem leise. In den allermeisten Fällen weiß man beim Schreiben, was ein Wort ist, wo ein Wort aufhört und das nächste beginnt und entsprechend leicht wird ein Spatium eingefügt. Beim Schriftspracherwerb im ersten Schuljahr wird die Grundregel, dass man Wörter zusammenschreibt und zwischen Wörtern ein Spatium setzt, nicht einmal vermittelt; sie wird intuitiv angeeignet. Bei trennbaren Verben haben wir auch kaum Probleme mit dem Spatium. Wir wissen, wann ein Zug abgefahren ist. Aber wir wissen auch, dass dieses Verb aus zwei getrennten Wortformen bestehen kann, beispielsweise dann, wenn der Schaffner sagt, der Zug fährt morgen um neun ab. Abfahren schreibt man zusammen, da sich hier zwischen ab und fahren nichts einfügen lässt. Bei fährt ab ist das aber möglich. 28 Damit sind wir schon bei einer wichtigen Regel zur Getrennt- und Zusammenschreibung: Wenn man andere Wörter zwischen zwei Wörter oder Wortbestandteile setzen kann, bei denen man nicht sicher ist, ob es vielleicht nur ein Wort ist, dann sind es zwei und man kann sie mit einem Spatium auseinanderhalten. Dieses auf den ersten Blick einfach zu handhabende Prinzip bereitet aber in Grenzbereichen erhebliche Probleme. Um davon einen Eindruck zu bekommen, versuchen Sie doch einmal in der folgenden Liste zu entscheiden, wie die Wörter zu schreiben sind. 27 Wortabgrenzungen durch Spatien oder mittige Punkte gab es schon in der Antike, sie wurden allerdings noch nicht systematisch verwendet. 28 Weniger sicher beherrscht wird die Schreibung trennbarer Verben, deren erster Bestandteil mehrsilbig ist (vgl. zurückfahren vs. zurück fahren oder hinauffahren vs. hinauf fahren). <?page no="105"?> 106 5 Getrennt- und Zusammenschreibung zwei Wörter ein Wort unklar FEST+NAGELN GLATT+HOBELN EIS+LAUFEN STURM+LAUFEN FENSTER+PUTZEN TEIL+NEHMEN ANTEIL+NEHMEN KLEIN+SCHNEIDEN RAD+FAHREN AUTO+FAHREN LEER+ESSEN Tabelle 5.1: Zusammen oder getrennt? Sie haben bei dem kleinen Test wahrscheinlich selbst bemerkt, dass es bei diesen Wörtern doch nicht so einfach ist, zu entscheiden, was ein Wort oder was zwei Wörter sind. 29 5.1 Grundlagen und Probleme der Getrennt- und Zusammenschreibung Wenn Fuhrhop (2005: 56) als Grundregel der Getrennt- und Zusammenschreibung (GZS) formuliert: „Wörter schreibt man zusammen, Nicht-Wörter (Syntagmen) schreibt man nicht zusammen“, dann erscheint das sehr einfach, aber die Probleme entstehen in den Grenzbereichen. Am besten lässt sich die Problematik anhand von Beispielen zeigen. (1) Die durch die Beleidigung schwer verletzten Gäste verließen das Fest. (2) Die schwerverletzten Unfallopfer wurden zuerst behandelt. 29 Lösungsvorschlag: festnageln, glatt hobeln / glatthobeln, eislaufen, Sturm laufen, Fenster putzen, teilnehmen, Anteil nehmen, klein schneiden / kleinschneiden, Rad fahren, Auto fahren, leer essen / leeressen. <?page no="106"?> 107 5.1 Grundlagen und Probleme der Getrennt- und Zusammenschreibung Der Unterschied zwischen der Wortgruppe (Syntagma) schwer verletzt und dem komplexen Wort schwerverletzt erscheint unmittelbar einleuchtend, da ein semantischer Unterschied vorliegt; auch die Betonung ist anders: Bleiben die Wörter getrennt, wird verletzt stärker oder zumindest genau so stark wie schwer betont, während schwerverletzt stärker auf der ersten Silbe betont wird. Neben der unterschiedlichen Semantik und Betonung, die nicht immer zu einer eindeutigen Entscheidung führen, lässt sich mit zwei syntaktischen Kriterien genauer klären, ob ein Wort zusammen- oder getrennt geschrieben wird, also ob es sich um ein komplexes Wort oder um eine Wortgruppe (Syntagma) handelt. In Anlehnung an Maas (1992: 133) lassen sich dazu zwei Teilregeln formulieren: A. syntaktische Unselbstständigkeit Wenn eine der unmittelbaren Konstituenten einer Verbindung nicht frei im Satz vorkommen kann, ist sie Teil eines komplexen Wortes. B. syntaktische Sollbruchstelle Liegt zwischen zwei Konstituenten eine syntaktisch relevante Grenze, so bilden sie verschiedene Wörter einer Wortgruppe. Syntaktisch unselbstständig sind die unterstrichenen Wortbestandteile in komplexen Wörtern wie wissbegierig, Liebesheirat, schwerstbehindert, blauäugig, Viermaster, Himbeere. Da diese Wortbestandteile nicht alleine im Satz stehen können, sind sie Teil eines komplexen Wortes; keine anderen Wörter können zwischen ihnen eingefügt werden. Eine syntaktische Sollbruchstelle erkennt man, a. wenn andere Wörter eingeschoben werden können, b. wenn ein Wortbestandteil durch einen anderen ersetzt werden kann, c. wenn Wortbestandteile umgestellt werden können. Sollbruchstellen lassen sich testen durch (a) Erweiterungsproben, (b) Ersetzungsproben und (c) Umstellproben. Mit den folgenden schematischen Darstellungen kann man nachvollziehen, wie diese Testverfahren funktionieren (nach Maas 1992: 133). <?page no="107"?> 108 5 Getrennt- und Zusammenschreibung (a) Erweiterungsproben (weil wir) b/ Brot kaufen (wollten), (sind wir) schnell gelaufen Einschub (Erweiterung) ↑ ↑ beim Bäcker nach Hause aus Rostock und ohne Pause (weil wir) e/ Eis laufen (wollten), (sind wir) krank geschrieben (worden) ? ? auf dem See ? ? vom Arzt ? ? und Ski ? und arbeitsunfähig Der Einschub anderer sprachlicher Ausdrücke in die Syntagmen Brot kaufen und schnell gelaufen ist problemlos möglich, während die Worteinheiten eislaufen und krankgeschrieben nicht durch andere Wörter aufgebrochen werden können. Dies gilt allerdings auch für das Syntagma arbeitsunfähig schreiben, das sich syntaktisch offenbar genauso verhält wie krankschreiben, aber getrennt geschrieben wird. Außerdem lassen sich bei einer Reihe von Adjektiv+Adjektiv-Verbindungen keine anderen Wörter einfügen, auch wenn es sich offensichtlich um Syntagmen handelt; beispielsweise bei dem Syntagma erstaunlich gut. Eine Erweiterung zu *erstaunlich sehr gut oder *erstaunlich phantastisch gut wäre nicht möglich (Fuhrhop 2007: 11). Solche Gegenbeispiele relativieren die Tauglichkeit der Erweiterungsprobe zur Differenzierung von komplexen Wörtern und Wortgruppen. (b) Ersetzungssproben (weil wir) b/ Brot kaufen (wollten), (sind wir) schnell gelaufen Ersetzung Mehl, Zucker … langsam, zügig, gemächlich … (weil wir) e/ Eis laufen (wollten), (sind wir) krank geschrieben (worden) Ersetzung Ski, Schlittschuh gesund (? ) <?page no="108"?> 109 5.2 Kernbereich Die Tabelle zeigt, dass Brot und schnell problemlos durch eine Reihe von anderen Nomina bzw. Adjektiven ersetzt werden können, wogegen Eis und krank nur die genannten Substitutionen erlauben, wenn überhaupt. Auch die Umstellprobe lässt sich mit den gleichen Beispielen illustrieren: (c) Umstellungsproben Brot kaufen wollten wir nicht. Brot wollten wir nicht kaufen. Kaufen wollten wir Brot nicht. Eis_laufen wollten wir nicht. *Eis wollten wir nicht laufen. *Laufen wollten wir Eis nicht. Wir sind nicht schnell gelaufen. Schnell sind wir nicht gelaufen. ? Gelaufen sind wir nicht schnell. Wir wurden nicht krank_geschrieben. ? Krank wurden wir nicht geschrieben. ? Geschrieben wurden wir nicht krank. Brot und kaufen können durch Umstellung getrennt werden, nicht jedoch Eis und laufen. Die Umstellprobe zeigt dagegen für das zweite Paar keine deutlichen Unterschiede: Die Permutation ist sowohl für schnell gelaufen als auch für krankgeschrieben zwar markiert, aber z. B. bei Kontrastakzent möglich (vgl. Krank wurde ich vom Arzt zwar nicht geschrieben, aber gut beraten.) Die drei Verfahren deuten also insgesamt darauf hin, dass in den Beispielen zwischen Brot und kaufen sowie schnell und gelaufen eine syntaktische Sollbruchstelle vorliegt, zwischen Eis und laufen bzw. krank und geschrieben dagegen nicht. Konsequenterweise wird in den ersten beiden Fällen getrennt geschrieben (Brot kaufen und schnell gelaufen), während in den letzten beiden Paaren zusammengeschrieben wird. Dennoch hat sich auch gezeigt, dass die Proben in einer Reihe von Fällen keine klaren Unterscheidungen liefern. Gerade bei Nomen- Verb-Verbindungen überwiegt die Getrenntschreibung selbst dann eindeutig, wenn der erste Bestandteil syntaktisch unselbstständig ist (vgl. z. B. Schlittschuh laufen, Ski laufen, Gefahr laufen, Amok laufen, Sturm laufen, Spießruten laufen). 5.2 Kernbereich Auf dem Feld der Getrennt- und Zusammenschreibung lässt sich ein Kernbereich von einem Peripheriebereich unterscheiden (Fuhrhop 2005), eine Unterscheidung, die besonders für die Didaktik wichtig ist. Es wäre nämlich falsch, wenn man den Peripheriebereich, in dem es um Zweifelsfälle und Ausnahmen geht, ins Zentrum des Unterrichts stellen würde. Schülerinnen und Schüler sollen vielmehr die grundlegende Struktur und den Sinn der GZS-Regeln im <?page no="109"?> 110 5 Getrennt- und Zusammenschreibung Kernbereich erkennen und verstehen. Die ‚Amtliche Regelung‘ (Rat für deutsche Rechtschreibung 2006) und die 20 Regeln, die im Duden (2017: 48-57) stehen, sind nicht geeignet, um die zugrunde liegende Logik zu erkennen. Zur Unterscheidung von Kern- und Peripheriebereich dienen zwei grundlegende Prinzipien: das syntaktische Relationsprinzip und das morphologische Bildungsprinzip (Jacobs 2005; Fuhrhop 2007). Das Relationsprinzip besagt, dass „Einheiten, die syntaktisch nicht analysierbar sind, das heißt insbesondere, die nicht in syntaktischer Relation zu anderen Einheiten in einem Satz stehen, […] Bestandteile von Wörtern“ sind. Diese Einheiten werden zusammengeschrieben (Fuhrhop 2005: 57). Im vorangehenden Kapitel wurden (nach Maas 1992) drei Proben vorgestellt, mit denen man die Gültigkeit des Relationsprinzips überprüfen kann. Das morphologische Bildungsprinzip besagt, dass zwischen „Teilausdrücken eines morphologisch gebildeten Zeichens“ kein Spatium stehen darf (Jacobs 2005: 34). Typische morphologische Bildungen in diesem Sinne sind im Deutschen Komposition (Freibad, Schriftstück) und Derivation (Freiheit, schriftlich). 5.2.1 Einfache Fälle Eindeutige Fälle des Kernbereichs sind Konstruktionen, die nach beiden Prinzipien eindeutig zugeordnet werden können; vgl. die Beispiele in (3): (3) (a) Sie machen Holzbänke. (b) Sie machen aus Holz Bänke. In (3a) liegt eindeutig eine Komposition zweier Nomina vor, in (3b) dagegen stehen Holz und Bänke im Satz (zufällig) nebeneinander, bilden aber zwei verschiedene Satzglieder bzw. Teile von Satzgliedern: Bänke fungiert als Akkusativobjekt, Holz ist Teil des Adverbials aus Holz. Auch das Kriterium der syntaktischen Sollbruchstelle trifft zu: So lässt sich zwischen Holz und Bänke ein Wort einfügen (sie machen aus Holz schöne Bänke). Für (a) dagegen führt die Prüfung des Relationsprinzips zu einem negativen Resultat. Jacobs (2007: 55) nennt vier notwendige Kriterien für das Vorliegen einer morphologischen an Stelle einer syntaktischen Bildung: 1. Keiner der beiden Teilausdrücke ist durch einen Artikel oder ein Attribut erweiterbar. <?page no="110"?> 111 5.2 Kernbereich 2. Keiner der Ausdrücke bildet eine kasusbestimmte Ergänzung zum anderen. 3. Der Gesamtausdruck kann die Basis eines Wortbildungsprozesses bilden, z. B. der Suffigierung mit -bar. 4. Der Ausdruck kann in eine Reihe mit anderen lexikalischen Bildungen eingeordnet werden. Alle vier Kriterien treffen auf das Kompositum Holzbänke zu: 1. Es kann kein Artikel der Erstkonstituente Holz allein vorangestellt werden (*er macht das Holz Bänke), sondern nur dem gesamten Kompositum (er macht die Holzbänke). Die zweite Konstituente bänke kann überhaupt nicht durch einen Artikel oder ein Adjektiv erweitert werden. (Vgl. *Er macht Holz die / viele / schöne Bänke.) 2. Das Kompositum Holzbänke bildet in Satz (3a) ein Akkusativobjekt zum Verb machen, aber weder Holz noch bänke tragen alleine einen Kasus, der vom jeweils anderen Kompositionsglied regiert werden kann. Dies wäre z. B. anders, wenn das Kompositum die Form Holzesbänke hätte, denn in diesem Fall könnte Holzes ein von bänke regierter Genitiv Singular sein. 3. Die Singularform Holzbank kann zu einem komplexeren Kompositum erweitert werden (z. B. Holzbankanstrich) oder auch durch ein Suffix wie -los ergänzt werden (holzbanklos 30 ). 4. Das Kompositum Holzbänke lässt sich problemlos lexikalischen Reihen zuordnen, z. B. Holzbänke, Plastikbänke, Steinbänke; Holzstühle, Holzfenster. Ein besonders klarer Fall für morphologische Bildungen sind Wörter, deren erster oder zweiter Bestandteil nicht frei vorkommt, z. B. Liebesheirat und Viermaster. Zu den eindeutigen Fällen gehören auch untrennbare Verbindungen mit einem Verb als zweiter Konstituente: (4) (a) Wir werden sie maßregeln. Wir haben sie gemaßregelt. Wir maßregeln sie. (b) Wir werden uns langweilen. Wir haben uns gelangweilt. Wir langweilen uns. 30 Der Ausdruck holzbanklos ist zwar nicht lexikalisiert, aber als produktive Wortbildung möglich und problemlos interpretierbar. Im Lexikon stehen nur wenige Suffigierungen dieses Typs mit einem Kompositum als Basis, aber sie kommen vor (vgl. vaterlandslos). <?page no="111"?> 112 5 Getrennt- und Zusammenschreibung (c) Wir werden ihnen morgen widersprechen. Wir haben ihnen gestern widersprochen. Wir widersprechen ihnen heute. Die in (4) skizzierten Kontexte sind Verbendstellung (in den jeweils ersten beiden Sätzen) und Verbzweitstellung (im jeweils dritten Satz). Für diese untrennbaren Verben ist die Zusammenschreibung unstrittig. Die Nichttrennbarkeit ist vielmehr ein eindeutiges Indiz für den Wortstatus der Bildungen. Ein eindeutiges Kennzeichen der Untrennbarkeit ist in den Beispielen (4a) und (b) insbesondere das beiden Konstituenten vorangestellte ge-Präfix in der Partizip- II-Form (gemaßregelt, gelangweilt). 5.2.2 Schwierige Fälle Innerhalb des Kernbereichs sind nicht alle Konstruktionen so klar unterscheidbar wie die im Beispiel (3). Dies gilt vor allem für Verbindungen zweier Adjektive und - in noch stärkerem Maße - für Kombinationen mit Partizipien als zweitem Bestandteil. Je nach syntaktischer Konstruktion liegt ein Kompositum oder eine Wortgruppe vor. In der jeweiligen Lesart ist die Schreibung eindeutig und gehört deshalb für Fuhrhop zum Kern- und nicht zum Peripheriebereich. Der Unterschied zwischen den Konstruktionen ist aber an der Oberfläche nicht direkt erkennbar. Diese mangelnde Transparenz ist darin begründet, dass Folgen von Adjektiven sowohl Komposita sein können als auch adjektivische Wortgruppen. Im ersteren Fall kommen sowohl Determinativ- (vgl. 5a) als auch Kopulativkomposita 31 vor (vgl. 5b): (5) (a) dunkelrot, neureich, bitterböse, altklug (b) süßsauer, blaurot, dummdreist, nasskalt Im zweiten Fall dient das erste Adjektiv der Verstärkung oder Abschwächung (Gradation). Dann fungiert es wie eine Gradpartikel (z. B. sehr) in einer Adjektivgruppe: 31 In Determinativkomposita bestimmt die erste Konstituente die zweite näher, z. B. ist dunkelrot ein besonderer Rotton. In Kopulativkomposita dagegen besteht eine Art additives Verhältnis zwischen beiden Konstituenten: Das Adjektiv blaurot bezeichnet weder die Farbe ‚Rot‘ noch ‚Blau‘, sondern eine Mischung aus beidem. Zur Unterscheidung dieser beiden Kompositatypen vgl. auch Fuß / Geipel (2018: 106 f.). <?page no="112"?> 113 5.2 Kernbereich (6) schön blöd, halb hoch, extra groß, erstaunlich gut, selten dämlich, höchst erfreulich Welcher der beiden Fälle jeweils vorliegt, ist nicht immer erkennbar bzw. liegt im Ermessen des Schreibers, wie die folgenden Beispiele illustrieren 32 : (7) a. Sie ist höchstpersönlich erschienen (‚in eigener Person‘). Sie ist höchst persönlich (‚sehr vertraulich‘, z. B. die Angelegenheit). b. Sie sind schwerverletzt (‚lebensbedrohlich verletzt oder dauerhaft geschädigt‘). Sie sind schwer verletzt (‚erheblich verletzt‘, ‚sehr gekränkt‘). c. Er ist vollschlank (‚dick‘). Er ist voll schlank (‚sehr schlank‘). Zur Unterscheidung zwischen Adjektivkomposita und Wortgruppen in den Satzpaaren in (7) können zwei Kriterien herangezogen werden, Erweiterbarkeit bzw. Steigerbarkeit und Akzentplatzierung: 1. Ist das erste Adjektiv steigerbar oder kann erweitert werden, dann liegt eine Wortgruppe vor (vgl. sie sind schwerer verletzt als die anderen). Höchst und voll sind allerdings auch innerhalb einer Wortgruppe nicht steigerbar oder erweiterbar. 2. Trägt der erste Bestandteil allein den Hauptakzent, dann liegt eine Wortbildung vor (vgl. schwérverletzt), im anderen Falle eine Wortgruppe (vgl. schwer verlétzt oder schwér verlétzt). 33 Wegen dieser Differenzierungsprobleme wird die Wahl der syntaktischen Konstruktion und damit auch der Schreibung für diese Fälle auch in der Amtlichen Regelung (AR, § 36, (2)) freigegeben. Noch schwieriger einzuordnen sind Bildungen mit einem Partizip als zweitem Bestandteil, da Partizipien eine Zwitterstellung zwischen Verben und Adjektiven einnehmen. Einerseits verhalten sie sich syntaktisch wie Adjektive, können z. B. als Attribute zu Nomina flektiert werden (z. B. in die zahlenden Gäste). 32 Vgl. zu weiteren Beispielen Fuhrhop (2007: 186) und AR, § 36. 33 Der Akzent ist allerdings ein recht unzuverlässiges Merkmal zur Differenzierung, da andere Faktoren diesen beeinflussen können. So kann bei Kontrastakzentuierung der Hauptakzent auch dann auf der Erstkonstituente liegen, wenn eine Wortgruppe vorliegt (vgl. er ist schwér verletzt, nicht nur leicht). <?page no="113"?> 114 5 Getrennt- und Zusammenschreibung Andererseits können sie wie Verben Ergänzungen haben (z. B. die viel Geld zahlenden Gäste). Eindeutige Fälle, in denen nur ein komplexes Wort vorliegen kann (8a), sind von mehrdeutigen zu unterscheiden, in denen sowohl ein Wort als auch ein Syntagma möglich ist (8b) (vgl. Fuhrhop 2015: 119): (8) (a) entzündungshemmend, freudestrahlend, videoüberwacht (b) teetrinkend / Tee trinkend, naheliegend / nahe liegend, schwerwiegend / schwer wiegend In der ersten Gruppe (in der Regel Substantiv-Partizip-Verbindungen) unterscheiden sich die Komposita klar von entsprechenden syntaktischen Wortgruppen, da die Wörter entweder eine unparadigmische Fuge 34 enthalten (vgl. entzündungshemmend vs. die Entzündung hemmend) oder die Wortgruppe eine zusätzliche Präposition hat (vgl. freudestrahlend vs. vor Freude strahlend / videoüberwacht vs. vom Video überwacht). In den Fällen in (8b) dagegen unterscheiden sich komplexes Wort und Wortgruppe nicht in der Abfolge der einzelnen Konstituenten, sondern nur in der syntaktischen Konstruktion und - damit verknüpft - der Bedeutung (vgl. 9): (9) (a) Sie kamen aus einem nahe liegenden / näher liegenden Dorf. (nahe, näher gelegen) (b) Sie kamen aus einem naheliegenden / näherliegenden Grund. (plausibel / plausibler) (c) Die teetrinkenden Frauen bestellen heute ausnahmsweise einen Cappuccino. (d) Die heute Tee trinkenden Frauen bevorzugen normalerweise Cappuccino. Die Zusammen- oder Getrenntschreibung disambiguiert in den Sätzen in (9) die Konstruktionen (komplexes Wort oder Wortgruppe). 34 „Unparadigmisch“ sind nach Donalies 2011: 33 f. Fugen, die keinem Flexionssuffix des Erstgliedes eines Kompositums entsprechen, etwa das Fugen-s in entzündungshemmend (vgl. die Genitivform der Entzündung, nicht der Entzündungs). „Paradigmische“ Fugen stimmen dagegen mit einem Flexionssuffix der ersten Konstituente überein (vgl. lebensverlängernd vs. Verlängerung des Lebens). <?page no="114"?> 115 5.3 Peripheriebereich 5.3 Peripheriebereich Der Peripheriebereich betrifft Fälle, in denen weder das Relationsprinzip (für syntaktische Fügungen) noch das Wortbildungsprinzip (für komplexe Wörter) problemlos anwendbar sind. Da vor allem Verbindungen mit Verben zu diesem Peripheriebereich der GZS gehören, werden wir uns im Folgenden auf diese Konstruktionen konzentrieren. Sie können in zwei Gruppen eingeteilt werden: in untrennbare und trennbare Zusammensetzungen. In Kapitel 5.2.1 wurden als Beispiele für untrennbare Zusammensetzungen maßregeln, langweilen und widersprechen (vgl. 4) angeführt. Die folgenden Sätze enthalten trennbare Verbzusammensetzungen: (10) (a) Viele Fragen werden hinzukommen. Viele Fragen sind hinzugekommen. Viele Fragen kommen noch hinzu. (b) Wir werden den Vorteil preisgeben. Wir haben den Vorteil preisgegeben. Wir geben den Vorteil preis. (c) Wir werden morgen fernsehen. Wir haben gestern ferngesehen. Wir sehen heute fern. Bei Verbendstellung - in den jeweils ersten beiden Sätzen - bilden die Komponenten eine Einheit; bei Verbzweitstellung - im jeweils letzten Satz - bleiben sie getrennt. In der Partizip-II-Form - im jeweils zweiten Satz - wird das Präfix gezwischen der Verbpartikel (dem Verbzusatz) und dem restlichen Verbstamm eingefügt (vgl. preisgegeben). Insgesamt lassen sich vier Fälle trennbarer Verbzusammensetzungen unterscheiden (vgl. AR, § 34): 1. Substantiv + Verb (Bier trinken, eislaufen) 2. Adjektiv + Verb (glatt hobeln / glatthobeln, krankschreiben) 3. Partikel + Verb (einkaufen, vorbeilaufen) 4. Verb + Verb (laufen lernen, liegen bleiben / liegenbleiben) Wir beschränken uns auf die ersten beiden Gruppen. <?page no="115"?> 116 5 Getrennt- und Zusammenschreibung 5.3.1 Substantiv-Verb-Verbindungen Hier zunächst typische Beispiele für Substantiv-Verb-Verbindungen in amtlicher Schreibung: (11) (a) Auto fahren, Eisenbahn fahren, Rad fahren (b) eislaufen, Ski laufen, Sturm laufen, Gefahr laufen, Amok laufen (c) standhalten, maßhalten / Maß halten, Schritt halten, Abstand halten, Wort halten Bei diesen Substantiv-Verb-Kombinationen geht es um die Frage, wann die Erstglieder die Eigenschaften syntaktisch selbstständiger Substantive verloren haben und an welchen Kriterien dieser Verlust der Autonomie erkennbar ist. Die folgenden Kriterien zur Unterscheidung von komplexen Verben und verbalen Wortgruppen können u. a. zur Klärung dieser Frage dienen (zu diesen und weiteren Kriterien vgl. Fuhrhop 2005: 67-69): 1. Ersetzbarkeit durch andere Verben 2. Artikelfähigkeit 3. Erweiterbarkeit 4. Verneinung mit kein oder nicht Diese vier Kriterien werden im Folgenden kurz erläutert: 1. Andere Verben? Mit diesem Kriterium wird Reihenbildung des Erstglieds geprüft: a) Kommt das Erstglied mit vielen verschiedenen Verben vor, ist dies ein Indiz für den Status der Verbindung als Wortgruppe (vgl. Bier trinken, Milch trinken usw.). b) Sind dagegen nur ganz wenige oder keine anderen Verben möglich, spricht dies für den Wortstatus der Kombination (vgl. eislaufen). 2. Artikelfähig? Artikelfähigkeit spricht relativ eindeutig für den Status als Wortgruppe (vgl. ein Bier trinken). 3. Erweiterbar? Erweiterbarkeit im Sinne von Attributfähigkeit ist eine typische Eigenschaft syntaktisch selbstständiger Substantive (vgl. ein kühles Bier trinken). 4. Verneinung: a) Die Verneinung mit kein zeigt den Status als eigenständiges Substantiv an, b) die Verneinung mit nicht den verbalen Status der gesam- <?page no="116"?> 117 5.3 Peripheriebereich ten Verbindung. Allerdings bildet kein Schlittschuh eine Art Zwischenform, da sie nicht flektiert wird bzw. keine Genusmarkierung hat. Man vergleiche: Ich laufe kein Schlittschuh vs. Ich kaufe keinen Schlittschuh. 35 Die folgende Tabelle 5.2 illustriert die Überprüfung der Kriterien an acht Beispielen (vgl. Fuhrhop 2005: 71-73 und 2007: 36 ff.): 1. andere Verben 2. artikelfähig? 3. erweiterbar? 4a. kein? 4b. nicht? ich trinke bier ich kaufe bier / mag bier ich trinke ein / das bier ich trinke ein kühles bier ich trinke kein bier *ich trinke nicht bier ich spiele klavier ich lerne / übe klavier ich spiele das / ? ein klavier ich spiele ein altes klavier ich spiele kein klavier ich spiele nicht klavier ich fahre rad *ich trete / *schiebe rad ich fahre das / ? ein rad ich fahre ein grünes rad ich fahre kein rad ich fahre nicht rad ich laufe schlittschuh *ich renne / *gehe schlittschuh ich laufe *den / *einen schlittschuh ? ich laufe einen schwarzen schlittschuh ich laufe kein schlittschuh ich laufe nicht schlittschuh ich laufe eis *ich renne / *gehe eis ich laufe *das / *ein eis *ich laufe ein festes eis ich laufe kein eis ich laufe nicht eis ich schwimme brust *ich gleite / *liege brust ich schwimme *die / *eine brust *ich schwimme eine flache brust *ich schwimme keine brust / ? ? kein brust ich schwimme nicht brust ich stehe kopf *ich liege / *sitze / *hebe kopf ich stehe *den / *einen kopf *ich stehe einen dummen kopf ich stehe kein kopf ich stehe nicht kopf ich fange an ich trete / leite an - - *ich fange kein an ich fange nicht an Tabelle 5.2: Überprüfung von vier Kriterien der Autonomie von Substantiven Die Anwendung der verschiedenen Kriterien zeigt für einige Prüffälle relativ klare Ergebnisse. So erweist sich Bier trinken eindeutig als verbale Wortgruppe 35 Die Form kein Schlittschuh ist (wie auch kein Kopf) nur schwach belegt, was eine Google- Recherche zeigt. Daher ist der Aussagegehalt der Daten in Tabelle 5.2 für das Kriterium ‚Verneinung‘ fraglich. <?page no="117"?> 118 5 Getrennt- und Zusammenschreibung und eislaufen bildet ein Partikelverb. Aber die übrigen Beispiele sind Übergangsfälle, in denen eine eindeutige Zuordnung nicht zweifelsfrei möglich scheint. Einige der analysierten Zweifelsfälle lassen sich möglicherweise als Rückbildungen interpretieren: D. h. ein ursprünglich komplexes Substantivkompositum, dessen zweite Konstituente ein Suffix enthält, wird zu einem Verb konvertiert, wobei das Suffix getilgt wird: (12) Radfahrer → Rad fahren Brustschwimmer → Brust schwimmen / brustschwimmen In den Beispielen wird das Suffix -er getilgt und der Wortrest (z. B. Radfahr-) zum Verb. Wenn diese Substantiv-Verb-Kombinationen Resultate eines solchen Wortbildungsprozesses ‚Rückbildung‘ sind, so könnte dies nach dem Wortbildungsprinzip als ein Argument dafür dienen, sie als komplexe Wörter und nicht als Wortgruppen zu betrachten. 36 Die Analyse der Substantiv-Verb-Kombinationen hat gezeigt, dass sowohl eindeutig klassifizierbare Ausdrücke als auch Grenz- und Zweifelfälle vorkommen, die nicht klar zugeordnet werden können. 5.3.2 Adjektiv-Verb-Verbindungen Die Verbindungen mit einem adjektivischen ersten Bestandteil können in drei Gruppen eingeteilt werden: a. Resultativa b. idiomatisierte Bildungen c. alle anderen Fälle (vgl. AR, § 34 (2)) Zur Gruppe (a) gehören Verbzusammensetzungen mit resultativen Prädikativen als ersten Bestandteilen: (13) blank putzen / blankputzen, glatt hobeln / glatthobeln, klein schneiden / kleinschneiden; kalt stellen / kaltstellen, kaputt machen / kaputtmachen, leer essen / leeressen 36 In der Forschung ist es umstritten, ob die Annahme eines Wortbildungsprozesses ‚Rückbildung‘ überhaupt sinnvoll ist. Vgl. dazu die ausführliche Diskussion in Donalies (2011: 103-105). Donalies kommt zu dem Schluss, dass Wörter wie notlanden reguläre Komposita aus dem Substantiv Not und dem Verb landen sind und keine Rückbildungen. <?page no="118"?> 119 5.3 Peripheriebereich Das Adjektiv bezeichnet in diesen Fällen das Resultat der durch das Verb ausgedrückten Handlung. Die resultative Konstruktion kann mit einer einfachen Operation überprüft und so von adverbialen Verwendungen unterschieden werden: (14) (a) Sie hobeln das Holz glatt und es ist anschließend glatt. (Resultat) (b) Sie hobeln das Holz schnell *und es ist anschließend schnell. (kein Resultat) Da Variantenschreibung zugelassen ist, muss nur im Falle der Zusammenschreibung überprüft werden, ob eine resultative Verwendung vorliegt. Insbesondere ist eine Verwechslung mit anderen Typen von Objektsprädikativen möglich (vgl. z. B. sie wollen die Suppe nicht kalt essen). Da Getrenntschreibung von Adjektiv-Verb-Kombinationen den Normalfall bildet, dürften die Schreibungen blank putzen, glatt hobeln usw. kaum Probleme bereiten. In Gruppe (b) fallen Konstruktionen, die idiomatisiert sind. Das bedeutet, dass sich die Gesamtbedeutung nicht regulär aus den Bedeutungen von Adjektiv und Verb ergibt (vgl. die Beispiele in (15)): (15) krankschreiben, freisprechen, (sich) kranklachen; festnageln (= festlegen), heimlichtun (= geheimnisvoll tun), kaltstellen (= [politisch] ausschalten), kürzertreten (= sich einschränken), richtigstellen (berichtigen), schwerfallen (= Mühe verursachen), heiligsprechen Als Beispiel für eine Idiomatisierung kann die Bedeutung ‚ausschalten‘ für die Zusammensetzung kaltstellen dienen. Sie lässt sich nicht durch die Kombination der Einzelbedeutungen von kalt und stellen ermitteln. Möglich ist die Herleitung der Gesamtbedeutung hingegen für die Wortgruppe kalt essen. Ein mögliches formales Kriterium für das Vorliegen einer idiomatisierten Lesart ist die Nichtsteigerbarkeit des Adjektivs. Es ist aber nur in einigen der aufgeführten Fälle anwendbar: (16) (a) krank schreiben - ? kranker schreiben (b) kaltstellen [im politischen Sinne] - ? kälter stellen (c) kürzertreten - ? kurz treten (d) freisprechen [Richterspruch] - ? freier sprechen <?page no="119"?> 120 5 Getrennt- und Zusammenschreibung (e) festnageln [festlegen] - ? fester nageln (f) heiligsprechen - ? heiliger sprechen … aber steigerbar trotz Idiomatisierung: (g) schwerfallen - schwerer fallen In allen anderen Kombinationen aus Adjektiv und Verb (nicht resultativ und nicht idiomatisiert) wird getrennt geschrieben, z. B.: (17) schnell laufen, kalt essen, langsam arbeiten, stilsicher schreiben Das ist auch der Grund, warum man getrennt schreiben getrennt schreibt, während man die Kombination aus Verbpartikel und Verb in zusammenschreiben zusammenschreibt (AR, § 34,1.2). 5.4 Fazit Die Beschreibung der Grundlagen der GZS hat gezeigt, dass dieser Bereich der Orthografie primär von zwei Prinzipien gesteuert wird, dem Relationsprinzip und dem Wortbildungsprinzip. Im Kernbereich lassen sich alle normgerechten Schreibungen auf zumindest eines der beiden Prinzipien, im Idealfall auf beide, zurückführen. Trotzdem ist in einigen Fällen, insbesondere bei Adjektiv- und Partizipbildungen, die Entscheidung über die korrekte Schreibung nicht immer leicht zu treffen, weil an der Oberfläche gleichen Wortfolgen verschiedene syntaktische Strukturen zugrunde liegen können. Im Peripheriebereich dagegen führen weder das Relationsnoch das Wortbildungsprinzip zu eindeutigen Ergebnissen. Dies gilt vor allem für Verbindungen mit Verben (die sogenannten ‚trennbaren Verben‘), die z. T. auf untypischen Wortbildungen wie Rückbildung (12) beruhen. Die Komplexität der GZS sollte nicht dazu führen, dass auf ihre Vermittlung gänzlich verzichtet wird, wie manche etwas fatalistische Äußerungen nahelegen, etwa die von Augst / Dehn (2007: 143) 37 oder Lindauer / Schmellentin (2008: 37 „Vieles lernen die Kinder intuitiv […] und es ist daher vielleicht besser, gar nicht daran zu rühren.“ <?page no="120"?> 121 5.5 Aufgaben 138) 38 . Wir schlagen vielmehr (in Anlehnung an Fuhrhop 2015) eine enge Verbindung zwischen Orthografie und Grammatik vor, die auch für andere Bereiche wie die Groß- und Kleinschreibung sinnvoll ist. Weiterhin empfiehlt es sich, von einem Kernbereich auszugehen und die Ausnahmen allenfalls am Rande zu behandeln. Mesch (2015) schlägt ein didaktisches Modell zum schulischen GZS- Erwerb vor, wobei das syntaktische Relationsprinzip als Grundlage dient und grammatische Proben (Erweiterung, Substitution, Tilgung u. a.) zum Einsatz kommen sollen. Begründet wird die Wahl dieser Methodik mit der besseren Operationalisierbarkeit gegenüber dem Wortbildungsprinzip. 5.5 Aufgaben 1. Erklären Sie die unterschiedlichen Schreibweisen rote Buche vs. Rotbuche mit Hilfe des Relations- und des Wortbildungsprinzips. 2. Diskutieren Sie folgende Schreibweisen von Adjektiv-Verb-Kombinationen. Beziehen Sie sich dabei auf die drei Gruppen (a) Resultativa, (b) idiomatisierte Bildungen und (c) alle übrigen Fälle (vgl. Kap. 5.2.3). a) Möchten Sie das Bier kalt trinken? b) Die Getränke werden kaltgestellt / kalt gestellt, bevor die Gäste kommen. c) Sie haben die politischen Gegner kaltgestellt. 5.6 Literaturhinweise Ein kompakter Überblick über die Getrennt- und Zusammenschreibung findet sich in Fuhrhop (2005: Kap. 7 und 8); aus didaktischer Perspektive wird die Thematik in Lindauer / Schmellentin (2008) beleuchtet. Zur Vertiefung sind Jacobs (2005) und Fuhrhop (2007) zu empfehlen. 38 „Die komplexeren Fälle, die zumeist auch der Peripherie der Rechtschreibung zugeordnet werden müssen und in denen Fehler kaum auffallen, müssen nicht vermittelt werden.“ <?page no="122"?> 6 Fremdwortschreibung Wenn Sprachen in Kontakt miteinander treten, kommt es zu gegenseitigen Übernahmen von Wörtern. Das sind in der Regel Nomina, die Innovationen bezeichnen, die in der eigenen Kultur unbekannt sind oder etwas Bekanntes modifiziert haben. Man übernimmt etwas Neues aus einer anderen Kultur und gleichzeitig auch das fremde Wort dazu. Eine fremde Kultur, aus der man bereitwillig etwas übernimmt, erscheint gewöhnlich fortschrittlicher, so dass mit der Adaption von fremden Dingen, Konzepten und Ideen sowie ihren Wörtern ein realer als auch ein subjektiv empfundener Gewinn verbunden ist. Die Lebenswelt und die Sprache werden von einer fremden Kultur bereichert, jedenfalls wird das subjektiv von vielen im ‚Nehmerland‘ so empfunden. So finden wir Übernahmen aus vielen Kulturen, z. B. aus dem Arabischen (Zucker, Kaffee), dem Ungarischen (Kutsche, Dolmetscher), Slawischen (Grenze, Peitsche, Gurke, Quark), Italienischen (Bank, Konto, Oper, Violine), Jiddisch-Hebräischen (pleite, Ganove, Knast, Macke, mies, Schlamassel), Türkischen (Kiosk, Kaviar, Joghurt, Tulpe, Diwan, Döner) und zahlreichen anderen Sprachen, sogar mit einem Umweg über das Niederländische aus dem Chinesischen (Tee). Besonders einflussreich waren und sind das Alt-Griechische, das Lateinische, das Französische und heute das Englische. Als vom 1. bis 5. Jahrhundert n. Chr. der Rhein, die Donau und der Limes die Grenze zwischen dem Römischen Reich und germanischen Stämmen bildete, kam es zwischen den Römern und ihren Nachbarn zu vielfältigen Kontakten, wobei die römische Kultur als weitaus fortschrittlicher als die germanische erschien. So hatten die Römer Häuser mit Mauern (lat. murus) aus Stein und mit Fenstern (lat. fenestra) aus Glas, während die Hauswände auf germanischem Gebiet aus Flechtwerk und Lehm bestanden und die Fenster Löcher waren, durch die der Wind pfiff. Im Englischen sind die Bezeichnungen für die ursprünglich wallförmigen Mauern in wall und den ‚Windlöchern‘ in windows erhalten geblieben, während sich im Deutschen mit Mauer und Fenster die ursprünglich lateinischen Bezeichnungen durchgesetzt haben. Warum sich die Angelsachsen anders entschieden haben als germanische Stämme am Rhein, obwohl sie nach und nach ebenfalls ihre Hausmauern und Fenster nach römischem Vorbild bauten, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Man kann aber vermuten, dass ein gerüttelt Maß an Prestigedenken eine Rolle bei der Übernahme von murus und fenestra gespielt haben muss, denn man wollte offenbar nicht nur die baulichen Innovationen übernehmen, <?page no="123"?> 124 6 Fremdwortschreibung sondern auch die schicken fremden Wörter dazu. Die ersten Germanen, die sich eine Villa im römischen Stil leisten konnten, wollten dies auch mit den entsprechenden lateinischen Wörtern in ihrer Sprachgemeinschaft signalisieren. Nach diesem Muster funktionieren Übernahmen fremder Wörter bis heute. Neben dem nativen deutschen Wort Körperbemalung gibt es nun auch Bodypainting, was künstlerischer, werthaltiger und prestigeträchtiger wirkt als das bieder anmutende alte Wort. Das alte Steckenpferd ist durch ein modernes Hobby ersetzt worden. Ein Tretroller, den Kinder bereits in den 1950er Jahren gefahren haben, hat nach 60 Jahren einen Elektroantrieb bekommen. Er wird nun als E-(Tret)roller bezeichnet oder aber als E-Scooter, um die technische Innovation werbewirksam hervorzuheben; man darf gespannt sein, welche Bezeichnung sich durchsetzen wird. Latinismen waren über Jahrhunderte die weitaus häufigsten Fremdwörter. In akademischen Fachsprachen wie Jura, Medizin und Philologie sind sie bis heute dominant. Viele dieser Wörter hatten die Römer bereits von den Griechen übernommen, besonders aus wissenschaftlichen Domänen wie Philosophie und Mathematik. Erst im 17. Jahrhundert nahmen die Übernahmen aus dem Lateinischen ab. In der Zeit des Absolutismus dominierten Entlehnungen aus dem Französischen. Nach 1750, dem Höhepunkt dieser französisch geprägten kulturellen und sprachlichen Dominanz, gingen Gallizismen kontinuierlich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Im Gegenzug stieg der Einfluss des Englischen, der bis heute anhält. Wenn heute über Fremdwörter diskutiert wird, sind nahezu immer nur Anglizismen gemeint, über deren ‚Flut‘ sich selbsternannte Sprachhüter echauffieren. Heute glaubt man im deutschen Sprachraum mit Anglizismen einen gehobenen Lebensstil, Leichtigkeit, Jugendlichkeit, Unterhaltung und Vergnügen signalisieren zu können. Wenn man über sein Weekend spricht oder schreibt anstatt von seinem Wochenende, lässt man Modernität und Erfolg erkennen. Es gibt kaum Mangel an nativen deutschen Wörtern, um denotativ all das auszudrücken, was man ausdrücken möchte, aber mit Anglizismen gelingen Konnotationen, die zu einer positiven Selbstdarstellung beitragen. Das macht sie besonders geeignet für Werbebotschaften. In hoch bedeutsamen, emotional geprägten Kontexten wirken Anglizismen hingegen meist deplatziert und können nachteilige Wirkungen auslösen, etwa bei einem Trauergottesdienst, aber auch im banalen Alltag. Es besteht also immer ein Handicap bei ihrem Gebrauch: Entweder steigert man seine Wertschätzung oder man manövriert sich ins Abseits, besonders dann, wenn man nicht in der Lage ist, sie sinngemäß <?page no="124"?> 125 6 Fremdwortschreibung zu verwenden oder korrekt auszusprechen und zu schreiben (vgl. Altleitner 2007: 316 ff.). Der häufige und oft unangemessene Gebrauch von Anglizismen steht zwar immer im Mittelpunkt öffentlicher Dispute, aber die weitaus meisten Fremdwörter sind nach wie vor lateinischen Ursprungs, wenn auch oft über andere Sprachen (vor allem Italienisch, Französisch, Spanisch und Englisch) vermittelt. In der folgenden Liste der (angeblich) 20 beliebtesten Fremdwörter 39 findet sich kein einziger Anglizismus. subtil, pragmatisch, narzisstisch, Status Quo, adäquat, postfaktisch, dekadent, dito, verifizieren, rudimentär, obsolet, ambivalent, extrovertiert, redundant, polarisieren, per se, kognitiv, subsidiär, eloquent, Konnotation Beim Gebrauch von Fremdwörtern geht es normalerweise um ihre Bedeutung und Angemessenheit, höchst selten aber um ihre Schreibung. Das mag damit zusammenhängen, dass diejenigen, die Fremdwörter mühelos und adäquat verwenden, ein Bildungsniveau erreicht haben, auf dem die Orthografie problemlos bewältigt wird. Bildungsferne Schreiber hingegen vermeiden Fremdwörter und müssen sich deshalb auch nicht mit ihrer Schreibung befassen. Die Fremdwortschreibung wird dennoch schon für Kinder bereits ab der Einschulung relevant - zwar nicht bei den Wörtern, aber bei Namen. Denn die Schreibung vieler, wenn nicht der meisten Vornamen der Kinder entsprechen nicht den Regularitäten nativer deutscher Wörter. Vornamen lateinischen Ursprungs wie Felix oder Max verschriften das Konsonantencluster / ks/ mit einem <x>; das / k/ wird mit <c> geschrieben, so bei Carolin, Claudio oder Clemens. Vornamen hebräischen Ursprungs wie Noah, Hannah, Elisabeth oder Ruth enthalten ein stummes <h> am Ende, das aber auch wegfallen kann. Vornamen griechischen Ursprungs wie Christoph, Philipp, Sophie / Sophia oder Stephan verschriften das / f/ mit <ph>; sie können aber auch in der eingedeutschten Form mit <f> geschrieben werden. Neben diesen seit langem bekannten Namen aus den klassischen Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch kommen Namen aus dem Französischen und Englischen hinzu, deren Schreibung wesentlich schwieriger ist, da sie stärker vom deutschen Usus abweichen, z. B. Chantal, Charlotte, Mandy, Michelle, Kevin, Jeremy oder Jacqueline. Vornamen germanischer Herkunft wie Dagmar, Dieter, Elke, Gudrun, Horst oder Wolfgang sind gegenüber den zahlreichen 39 Vgl. https: / / neueswort.de/ wichtige-fremdwoerter/ (gesehen 11.12.2019). <?page no="125"?> 126 6 Fremdwortschreibung Übernahmen aus anderen Sprachen kaum noch beliebt oder gelten als veraltet. Mit den immer zahlreicher werdenden Kindern mit einer Zuwanderungsgeschichte kommen arabische und türkische Namen wie Aylin, Yasha, Shayan, Xhemile oder Hayet an unsere Schulen. Einige dieser Namen werden unterschiedlich geschrieben, so etwa Mohammed mit den Varianten Muhammed, Mohamed oder Muhammet. Die meisten Kinder können beim Schuleintritt bereits ihre Namen schreiben. Sie ‚malen‘ sie aus dem Gedächtnis ab, ohne etwas über den Bezug zwischen Lauten und Buchstaben zu wissen. Wenn der Schriftspracherwerb in der Schule beginnt, wird deutlich, dass sie nicht ‚nach Gehör‘ geschrieben werden können, etwa mit einer Anlauttabelle. Alphabetschriften beruhen zwar auf Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln. In sogenannten flachen Orthografien wie dem Türkischen, Finnischen oder Spanischen ist dieser Bezug eng. Die Phoneme, die man hören kann, werden mit wenigen Ausnahmen mit einem entsprechenden Graphem geschrieben. In tiefen Orthografien gibt es diesen engen Phonem-Graphem-Bezug jedoch nicht; er wird durch morphologische, silbische, prosodische, grammatische und etymologische Prinzipien überlagert. Ein Schreiber kann hier nicht mehr lautierend schreiben, sondern muss sich die Muster und Regularitäten der Schrift einprägen. Die englische Orthografie und, noch stärker, die französische sind tiefe Orthografien mit komplexen Phonem-Graphem-Relationen. Dementsprechend enthalten viele Gallizismen wie Coup oder Guillotine und Anglizismen wie Bluejeans oder Aerobic-Training Buchstabenabfolgen und -häufungen, deren Regularitäten kaum nachzuvollziehen sind; man muss sich ihre Schreibung merken. Die deutsche Orthografie steht ungefähr in der Mitte zwischen einer flachen spanischen und einer tiefen französischen: eine Position zwischen einem relativ engen Phonem-Graphem-Bezug und Prinzipien mit Regularitäten, die aber zum Glück meist alle gut erlernt werden können, so dass man sich relativ wenige Ausnahmen einprägen muss. Bei neu hinzukommenden Fremdwörtern werden die ursprünglichen, fremdsprachigen Schreibungen seit dem 16. Jahrhundert in der Regel übernommen, außer dass Substantive großgeschrieben werden (Munske 1997: 75). Bei der Aussprache ist das für Sprecher problematisch, die nicht die nötigen fremdsprachlichen Kenntnisse haben. Diejenigen, die fremde Wörter mündlich übernehmen, heute in der Regel aus dem Englischen, können damit demonstrieren, dass sie die fremde Aussprache beherrschen. Wer beispielsweise sagt, er habe einen Thriller gesehen und dabei das <th> als [θ] realisiert, kann sich als kompetenter <?page no="126"?> 127 Sprecher des Englischen inszenieren und so an Prestige gewinnen. Wer dagegen für [θ] das phonetisch benachbarte [s] verwendet, wird von fremdsprachlich Gebildeten abschätzig beurteilt. Wenn aber im Alltag immer mehr Sprecher das Wort phonetisch eindeutschen, kann es sein, dass irgendwann einmal das Wort auch anders geschrieben wird, nämlich *Sriller. Und schließlich, da die Graphemfolge <sr> in nativen deutschen Wörtern nicht vorkommt, könnte das Wort auch einmal zu *Schriller eingedeutscht werden; es wäre so auch semantisch motiviert. Dass es dazu kommt, ist aus heutiger Sicht nicht wahrscheinlich, da Englisch mittlerweile bereits in der Grundschule unterrichtet wird und seine Aussprache für die meisten kaum noch problematisch ist. 40 Beim Prozess der Eindeutschung spielen mehrere Faktoren eine Rolle: der Zeitpunkt der Übernahme eines Wortes, die Häufigkeit und Dauer seiner Verwendung in der Alltagssprache, das Prestige der Gebersprache und die fremdsprachlichen Kenntnisse der Sprecher, die es verwenden. Der Eindeutschungsprozess ist langsamer oder kommt zum Erliegen, wenn die Fremdwörter vorwiegend in Fachsprachen gebräuchlich sind. So bleibt etwa das <ph> von Gräzismen in Wörtern wie Philosophie, Physik oder Phosphor erhalten, aber in Wörtern wie Foto, Telefon oder Delfin, die häufig im Alltag verwendet werden, wurde das <ph> durch <f> ersetzt. Aber wie man schon an der Schreibung von Namen erkennen kann: Wer sein Kind Stephan anstatt Stefan oder Hannah anstatt Hanna tauft, also die fremdsprachlich motivierte Schreibung beibehält, signalisiert damit Wissen und Prestige. Sich als Wissender aus der Masse der Sprecher und Schreiber herauszuheben, ist ein wesentliches Motiv, ungewöhnliche fremde Schreibungen zu erhalten. Die Deutschdidaktik sollte allen Schülern ermöglichen, sich als kompetente Benutzer von Fremdwörtern in Wort und Schrift präsentieren zu können, wobei dieses Ziel bei mangelnden fremdsprachlichen Kenntnissen deutlich schwerer zu erreichen ist. Das Gebot der Chancengleichheit sollte Lehrkräfte aber motivieren, auch diesen Schülern die Bedeutung und Schreibung von Fremdwörtern zu vermitteln, zumal viele im schulischen Alltag eine wichtige Funktion haben, so in Fächern wie der Mathematik (addieren, subtrahieren, Quadrat, Hypotenuse, Tangente), in der Grammatik (Substantive, Adjektive, Verben, Syntax, Relativsatz, Tempus) oder der Biologie (Aorta, Chlorophyll, En- 40 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Bereitschaft zur Eindeutschung englischer Wörter noch größer, wie das Beispiel Keks aus dem englischen cakes zeigt. 6 Fremdwortschreibung <?page no="127"?> 128 6 Fremdwortschreibung zyme, Mitochondrien, Prostata). Für die meisten dieser Wörter lassen sich keine nativen deutschen Wörter finden. Bei nativen Wörtern haben wir gesehen, dass es zwischen Lautung und Schreibung zwar selten eine 1: 1-Relation gibt, aber dennoch regelhafte Bezüge, die sich gut erschließen lassen. Doch wie sieht dieser Bezug bei Fremdwörtern aus? Hier gibt es zwei weit auseinandergehende Gruppen: zum einen Wörter, bei denen Phoneme und Grapheme tatsächlich in einem 1: 1-Bezug stehen (Ananas, Krokodil, Kamel, Herpes, Tempus), auf der anderen Seite Wörter, bei denen Lautung und Schreibung teilweise weit auseinanderliegen. Wollte man Clown, Typhus oder Homeoffice so schreiben, wie man spricht und dabei die Grapheme des Kernwortschatzes verwenden, dann wären das *Klaun, *Tüfus und *Houmoffis. Einfach zu schreibende Fremdwörter, bei denen man sich an ihrer Aussprache gut orientieren kann, kommen vor allem aus dem Lateinischen, während Fremdwörter mit schwer zu erlernenden Phonem-Graphem-Relationen aus dem Englischen und Französischen stammen. Im Folgenden möchten wir diese Unterschiede systematischer anhand der Gebersprachen Griechisch, Lateinisch, Französisch und Englisch darstellen. 6.1 Wörter griechischer Herkunft Das antike Griechenland hat die Kultur und Gesellschaft im römischen Reich stark beeinflusst. Begriffe aus der Architektur, Astronomie, Medizin, Mythologie, Philosophie, Physik und Philologie wurden in großem Umfang von den Römern aus dem Griechischen übernommen und gelangten später über das Lateinische ins Deutsche und in andere europäische Sprachen. Daneben gab es, besonders seit dem Humanismus im 15. und 16. Jahrhundert, auch direkte Entlehnungen aus dem Griechischen. Sechs Grapheme sind charakteristisch für Fremdwörter aus dem Griechischen. Da die entsprechenden Phoneme zum Phoneminventar auch nativer deutscher Wörter gehören, ergeben sich keine Probleme bei der Aussprache, wie man anhand der Beispiele in der folgenden Tabelle 6.1 sehen kann. <?page no="128"?> 129 6.1 Wörter griechischer Herkunft Phoneme Grapheme Beispiele / f/ <ph> emphatisch, ephemer, Graphik, Phase, Phalanx, Peripherie, Philosophie, Phosphat, Phrase, Prophet / k/ <ch> Chaos, Charakter, Chlor, Christus, Chor, chronisch, Chrom / ks/ <x> toxisch, Xanthippe, Xaver, Xenien, Xylophon / t/ <th> authentisch, Bibliothek, Katharsis, Kathedrale, Marathon, Mathematik, Methode, Mythos, pathetisch, Pathologe, Theater, Theke, Thema, Theologie, Theorie, Therapie, These, Thron / r/ <rh> Rhetorik, Rhinozeros, Rhododendron, Rhombus, Rhotazismus, Rhythmus / y/ <y> Embryo, Hysterie, Mythos, Polyp, polyglott, Psychologie, Pyramide, symmetrisch, Symphonie, Symptom, Synonym, System, Typus, Tyrann, Zyklus, Zyklon, Zyniker, Zypresse Tabelle 6.1: Abweichende Phonem-Graphem-Korrespondenzen in Gräzismen 41 Da alle Phoneme auch im Kernwortschatz des Deutschen vorkommen, könnten die Grapheme, die auf ihren griechischen Ursprung verweisen, problemlos den deutschen Schreibregeln angepasst werden. Diese Integration ist aber nur bei wenigen Wörtern erfolgt, etwa bei Delfin, Geografie, Grafik, Foto, Mikrofon, Telefon oder Tunfisch. Das griechische <y> wird selbst in alltäglichen Wörtern wie typisch nicht durch ein deutsches Graphem ersetzt, *tüpisch wäre wohl nicht durchsetzbar. Es kam bei der Schreibung von Bayern sogar zu der kuriosen Situation, dass Ludwig I., König von Bayern, ein großer Freund der altgriechischen Kultur, im Jahre 1825 anordnete, dass der Name seines Landes in Zukunft mit einem Ypsilon zu schreiben sei, um so mit Hilfe der Schreibung seinem Land einen altgriechisch geprägten Glanz zu verleihen. Wenn es nicht um den Staat, sondern um die bairische Sprache oder bairisches Essen geht, bleibt hingegen das ursprüngliche <i> erhalten. 41 Die tabellarischen Übersichten wurden von Eisenberg (2018) übernommen, modifiziert und ergänzt. <?page no="129"?> 130 6 Fremdwortschreibung 6.2 Wörter lateinischer Herkunft Der lateinische Einfluss begann mit der Ausdehnung des Römischen Reiches bis zum Rhein und zur Donau. Seit etwa 800 n.-Chr. wurde Latein bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts die allgemeine Verkehrssprache von Adel, Geistlichkeit und gebildetem Bürgertum in ganz Europa. Noch bis zum 18. Jahrhundert war Latein die Sprache wissenschaftlicher Kommunikation. Während dieser langen Kontaktzeit gelangten viele Wörter lateinischen und griechischen Ursprunges ins Deutsche, die teilweise so stark assimiliert wurden, dass man ihren Ursprung nicht mehr erkennt und sie nicht als Fremdwörter empfindet. Man bezeichnet sie daher als Lehnwörter. Die ersten Entlehnungen reichen bis in die germanische Zeit zurück, wohlbekannt sind dabei Fenster (fenestra), Mauer (murus), Keller (cellarium), Spiegel (speculum), Käse (caseus), Frucht (fructus), Kiste (cista), Markt (mercatus), Mantel (mantellum). Während der Zeit der Christianisierung wurden Wörter aus dem religiösen Kontext übernommen, so etwa Altar (altare), Engel (angelus), Kloster (claustrum), Bischof (episcopos), Kirche (kyriake), Mönch (monachus), Kreuz (crux) oder Orgel (organum). Die christlichen Klöster als Orte, von denen die Schreibkultur ihren Ausgang nahm, verbreiteten dementsprechend Wörter wie schreiben (scribere), Tinte (tincta aqua) oder Tafel (tabula). In der Zeit der Renaissance und des Humanismus im 15. und 16. Jahrhundert kamen zahlreiche Entlehnungen aus dem Latein, die in ihrer Lautung und Schreibung weitgehend erhalten blieben. Die Felder, aus denen Wörter übernommen wurden, kommen aus den neu gegründeten Universitäten (Professor, Dekan, Student, Kommilitone, immatrikulieren, Examen, Dissertation, Doktor), den Wissenschaften wie der Philosophie (Definition), Grammatik (Deklination), Rhetorik (Diskussion), Mathematik (Quotient), Medizin (Nerv) und Rechtswissenschaft (Jura) sowie der Druckersprache (Korrektur) und der Sprache der Verwaltung (Registratur). Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648) ging der Einfluss des Lateinischen zurück und es wurde allmählich vom Französischen überholt. Im 19./ 20. Jahrhundert kamen schließlich Internationalismen ins Deutsche, die aus lateinischen und griechischen Wurzeln abgeleitet sind. Internationalismen sind Wörter, die in vielen Sprachen in gleicher oder ähnlicher Bedeutung mit ähnlicher Aussprache und Rechtschreibung vorkommen, so etwa: Adresse, Antenne, Bus, Computer, Diplom, Drama, Datum, Kabel, Kabine, Kopie, Minute, Musik, Operation, Politik, Porto, Post, Radio, Termin, Test, Visum <?page no="130"?> 131 6.3 Wörter französischer Herkunft Latinismen sind orthografisch einfach; jedem Laut entspricht in der Regel ein bestimmter Buchstabe. Die flache Orthografie des Lateinischen wurde bei den Übernahmen von Wörtern ins Deutsche übernommen. Die folgenden Beispiele zeigen das: Automat, Basis, desolat, Diktator, Disziplin, Globus, Identität, Ministerium, mobil, Monopol, Kandidat, Karikatur, Konferenz, Konflikt, Konsequenz, Konsum, Kontakt, labil, liberal, Mine, minus, optimistisch, Politik, Präsident, privat, Profil, Prognose, Projekt, Risiko, Ritual, Satire, Stadion, Stil Das ursprüngliche Graphem <c> kann in Wörtern wie Corpus, Codex oder codieren mit <k> geschrieben werden. Die so an die deutsche Norm angepasste Schreibung verliert dadurch ihren fachlich-fremden Gestus. Die Phonemkombination / ts/ wird in der Regel mit <z> geschrieben, so in Zentrum oder Substanz; bei stärker fachlich geprägten Begriffen blieb jedoch das ursprüngliche <c> erhalten, etwa in Cäsium oder Penicillin, oder aber ein <t> wie in Aktie oder Tertiär. Die Phonemkombination / ks/ wird mit <x> geschrieben, so in toxisch oder Reflux; am häufigsten findet man sie aber in <ex>, das als Präfix oder Suffix stehen kann, so in Wörtern wie extra, Examen, Exemplar, Experiment oder Exklusion. Für das / v/ steht das Graphem <v>, das auch in alltäglichen Wörtern wie Intervall, Vase, Vene, Verb, Villa, violett, Vulkan oder zivil erhalten blieb. 6.3 Wörter französischer Herkunft Die ersten Entlehnungen aus dem Französischen gehen auf die Zeit des Hochmittelalters zurück, in der die höfische Kultur der Ritter und Troubadoure in Frankreich als prestigeträchtiges Vorbild diente. Entlehnungen wie Banner, Brosche, Kavalier, Parole, Turnier, Tresor, Turm, Galopp sowie arrangieren, engagieren, polieren oder revanchieren stammen aus dieser Zeit. Die stärkste Verbreitung von Gallizismen begann mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und erreichte ihren Höhepunkt in der Regierungszeit von Ludwig XIV., als sich der deutsche Adel am Lebensstil des französischen Hofes orientierte. Man sprach und schrieb untereinander Französisch. Im Bauerntum wurde Dialekt gesprochen; das Bürgertum sprach ein dialektal geprägtes Deutsch, bediente sich aber im großen Umfang französischer Fremdwörter, um am Prestige des Adels partizipieren zu können. So kam es zu Übernahmen aus dem Leben am Hofe (Etikette, kapriziös, Mätresse, Etablissement, Bordell), aus der Architektur (Etage, Fassade, Galerie, Terrasse), der Mode (Garderobe, <?page no="131"?> 132 6 Fremdwortschreibung Kostüm, Krawatte, Bluse, chic, Creme, elegant, Parfüm), der Küche (Dessert, Gelee, Kotelett, Sauce), aus Kunst und Musik (Regie, Porträt, Menuett) sowie aus Politik, Verwaltung und Militär (Armee, Bataillon, Diplomat, Garantie, Infanterie, Regime, Bombardement, patrouillieren). Verben mit dem aus dem Französischen stammenden Lehnsuffix <+ieren>, mit dem aus Substantiven und Adjektiven fremder Herkunft, nicht nur aus Gallizismen, Verben gebildet werden können, sind bis heute produktiv. Hier einige Beispiele dazu: Nomen: Bilanz - bilanzieren, Depot - deponieren, Diktat - diktieren, Dosis - dosieren, Dressur - dressieren, Export - exportieren, Inserat - inserieren, Operation - operieren, Reaktion - reagieren Adjektive: aktiv - aktivieren, blond - blondieren, objektiv - objektivieren, passiv - passivieren, subjektiv - subjektivieren, publik - publizieren Aber auch einige Wörter aus dem nativen deutschen Wortschatz adaptierten die Endung <-ieren>, so zum Beispiel Substantive wie Block (blockieren), Buchstabe (buchstabieren), Gruppe (gruppieren), Watte (wattieren), Marke (markieren), Flanke (flankieren) oder auch Adjektive wie halb (halbieren) oder stolz (stolzieren). Gallizismen sind wesentlich schlechter in Lautung und Schreibung zu integrieren als Gräzismen und Latinismen. Deutschsprachige ohne Französischkenntnisse können Probleme mit der Aussprache von Nasalvokalen haben. Aber in alltäglichen Wörtern wie Balkon, Monteur oder Orange wird die Nasalierung wohl nur noch von einem Teil des Bildungsbürgertums realisiert; bei Annonce, Cousin oder Entree wird dagegen meist nasaliert, weil diese Wörter zum Bildungswortschatz gehören, bei denen man sich um die fremde Aussprache bemüht. Problematisch sind auch die Schreibungen der Gallizismen, da nur relativ wenige in die deutsche Grafie integriert wurden, vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als man im Zuge der ‚nationalen Einigung‘ bestrebt war, den ‚schlimmen‘ Einfluss der französischen Sprache zumindest in Teilen der Orthografie abzuwenden. So wurde Carte postale durch die Lehnbildung Postkarte ersetzt und Bureau durch Büro orthografisch integriert. Ein weiteres Beispiel für eine Integration ist der Frisör, wobei der Duden aber immer noch Friseur als Schreibung empfiehlt, was exklusiver wirkt. Frisöre, die einen besonders gehobenen Anspruch signalisieren möchten, werben mit Coiffeur, eine für die deutsche Norm geradezu abenteuerliche Grafie. Aber mit der <?page no="132"?> 133 6.3 Wörter französischer Herkunft Exklusivität der Schreibung erzeugt man Aufmerksamkeit und einen höheren Marktwert. Beim Frisör zahlt man für einen Haarschnitt am wenigsten, beim Friseur etwas mehr und beim Coiffeur am meisten. Eine schwierigere Schreibung führt zu höheren Kosten: In der Orthografie sind das höhere kognitive Kosten und am Markt höhere Preise. Die von nativen deutschen Wörtern abweichenden Grafien von Konsonanten sind allerdings überschaubar. Konsonantenphonem Grapheme Beispiele / k/ < c > Coup, Courage, Café, Camembert, Clique, Clochard, Coupé, Couplet, Cousin, Couture, Crêpe, Croupier / s/ < c > Annonce, Balance, Chance, Farce, Nuance, Renaissance, Trance / ʃ/ < ch > Branche, Chiffre, Champagner, Chance, Charité, Chanson, changieren, Charme, Chassis, Chauffeur, Chef / v/ < v > Vanille, Velours, Vignette, Visage, Volant, voilà, Voliere, Volontariat, voltigieren / ʒ/ < g > < j > Blamage, Etage, Genie, Garage, Karambolage, Montage, Menagerie, Passage, Prestige, rangieren, leger Jalousie, Jargon, Journal, Jeton, jonglieren / nj/ (/ ɲ/ ) < gn > Champignon, Kompagnon, Vignette Tabelle 6.2: Konsonantenschreibung von Gallizismen Problematischer sind abweichende Schreibungen von Vokalphonemen in Gallizismen, da hier für ein Phonem in der Regel ein Digraph steht; für das Phonem / o: / kann auch der Trigraph <eau> stehen, für das / u: / ein <out>. Vokalphoneme Grapheme Beispiele / a: / <at> Etat, Eklat / -: / <an> Bandage, Branche, Orange / -/ <an> <en> lancieren Pendant / e: / <ee>, <é> <er> <et> Entree, Exposee, Exposé, Tournee Kollier, Atelier Filet, Budget / ɛ: / <ai> <ät> Malaise, Polonaise, Mayonnaise Porträt <?page no="133"?> 134 6 Fremdwortschreibung / ɛ/ <ai>, <aie> Drainage, Portemonnaie / ɛ̃: / <in> Bassin, Cousin, Souterrain / y: / <u> <ü> <üt> Jury Parfüm Debüt / y/ <u> Budget, Plumeau / o: / <au> <o> <eau> <ot> Sauce Soße Niveau, Plateau Trikot, Depot / õ: / <on> Annonce, Ballon, Balkon / õ/ <on> Monteur / ɔ/ <au> Chauffeur, Chaussee, Chauvinist / ø: / <eu> Milieu, Friseur / u: / <ou> <out> Tour, Route Ragout / u/ <ou> Tourist, Boutique, Boulevard / oa: ɐ/ <oir> Trottoir, Boudoir, Pissoir Tabelle 6.3: Vokalschreibung von Gallizismen 6.4 Wörter englischer Herkunft Nach dem Ende der Napoleonischen Zeit und dem Beginn des Viktorianischen Zeitalters um 1835 ging der Einfluss der französischen Sprache langsam zurück. Doch es dauerte noch lange, bis der Anteil der Anglizismen im Deutschen den der Gallizismen übertraf. Von den Entlehnungen des Deutschen entfallen um 1800 etwa 8-% auf das Englische, 26-% auf das Lateinische und 58-% auf das Französische. Am Ende des Jahrhunderts liegen Englisch und Französisch mit je etwa 40-% gleichauf, bis 1920 hat das Englische auf 55-% weiter zu- und das Französische mit 35-% weiter abgenommen. (Eisenberg 2018: 48) England wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Mutterland der parlamentarischen Demokratie und der Industriellen Revolution sowie als global agierende imperialistische Macht zu einem Vorbild konservativer wie progressiver Kräfte in Deutschland, was zu einer Übernahme von Wörtern aus der Politik (Boykott, <?page no="134"?> 135 6.4 Wörter englischer Herkunft Mob, Streik, Sozialismus), aus Technik und Verkehr (Lift, Lokomotive, Pier, Telegramm, Tunnel) sowie Wirtschaft und Finanzen (Scheck, Safe, Shop) führte. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und - noch stärker - nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als die anglophonen USA zur führenden Weltmacht aufstiegen, wurden englische Wörter aus nahezu allen Lebensbereichen übernommen: aus Arbeit, Konsum, Freizeit, Technik und Wissenschaft. Bis zum Ende der 20er Jahre wurden u. a. folgende Wörter entlehnt: Bluff, parken, Jazz, Party, Pullover, Service, Slogan, Tank, Taxi, Team, Test, Thriller, Trend und Weekend (Eisenberg 2018: 49 ff.). Seit den 1970er Jahren wurden von Jugendlichen in Westdeutschland, Österreich und der Schweiz zahlreiche Ausdrücke übernommen, die aus der Pop- und Drogen-Szene stammten: chillen, cool, Bitch, hip, kick, Freak, fuck, Punch, Speed, Shit, stoned, Trashfood. Später dann, nach 1989, mit der massenhaften Verbreitung von Computer und Internet wurden Wörter vor allem aus diesem Bereich entlehnt: Browser, Cursor, Desktop, Download, googeln, liken, scrollen, Spam, Shitstorm, Update, Touchscreen und noch viele mehr. Hier eine Liste mit der Schreibung von Vokal- und Konsonantenphonemen, die bei Anglizismen von der Phonem-Graphem-Korrespondenz nativer deutscher Wörter abweicht. Vokalphoneme Grapheme Beispiele / a/ <u> <ou> Cup, Slum Touchpad / æ/ <a> <ai> Fan, Gag, Camping Trainer / i/ <y> Baby, easy / i: / <ee> <ea> Jeep Jeans, Team, Beamer / u: / <oo> cool, Pool / ei/ <ay> <ai> <ea> <a> Spray, okay Claim Break, Steak Catering / ai/ <igh> light, high / au/ <ou> <ow> Account, Foul, Sound Knowhow, down / ɔi/ <oi> Joint, Pointer <?page no="135"?> 136 6 Fremdwortschreibung / ou/ <oa> <ow> Coach Show, Knowhow / œ: / <u> <i> surfen Sir, T-Shirt / ju: / <u> Musical, Computer Konsonantenphoneme Grapheme Beispiele / k/ <c> <qu> Computer, Craft(-bier), Camping Quiz / ɹ/ <r> Racket, Rap, Rock’n’Roll / s/ <c> <ce> Center, Cyber Service / ʃ/ <ch> <sh> Match, Ketchup, Clinch Shop, Finish, Show / tʃ/ <ch> Chip, Couch, chillen, Champion / θ/ <th> Thriller, Smoothie / w/ <w> <wh> Wellness, Windows Whisky / v/ <v> Vamp, Caravan / dʒ/ <g> <j> Gin, Teenager Jazz, Jet, Jeans, Job Tabelle 6.4: Vokal- und Konsonantenschreibung von Anglizismen Die Aussprache des / θ/ in Thriller hatten wir bereits oben erwähnt, aber auch andere Aussprachen sind für Deutschsprachige schwierig, vor allem dann, wenn sie sich nur leicht von benachbarten deutschen Lauten unterscheiden, so bei den Anglizismen Wellness und Windows, deren initialer Laut meist als [v] wie in Vamp realisiert wird, aber nicht, wie im Englischen, als [w]. Die originale Aussprache des / r/ als [ɹ] wie in Rap wird dagegen meist getroffen, da dieser Laut als charakteristisch für das Englische wahrgenommen und als prestigeträchtiges Signal eines kompetenten Sprechers gedeutet wird. Doch diese Aussprachevarianten stellen für die Schreibung kein Problem dar. <?page no="136"?> 137 6.5 Aufgaben 6.5 Aufgaben 1. Da wir den Einfluss des Italienischen auf das Deutsche nicht behandelt haben, schlagen wir vor, die folgenden Italianismen zu untersuchen: Arie, Adagio, Bankrott, Bilanz, Cappuccino, Disagio, Espresso, Gnocchi, Kantate, Kapital, Konto, netto, Oper, Pizza, Porto, Prokura, Prosecco, Rabatt, Risotto, Sonate, Spaghetti. Aus welchen Bereichen stammen die Ausdrücke? In welchem Verhältnis stehen Aussprache und Schreibung zueinander? 2. Für welche Herkunftssprachen sind die folgenden Graphemfolgen charakteristisch? Suchen Sie zu jeder dieser Graphemfolgen mindestens zwei entlehnte Wörter. <ph>, <ow>, <gh>, <ex>, <wh>, <ion>, <igh>, <cc>, <rh>, <age>, <eur>, <agio>, <ette>, <zz>, <ou>, <us>, <sh>, <ea> 3. Versuchen Sie mit einer Google-Recherche herauszufinden, auf wie viele Weisen das Wort Portemonnaie im Alltag geschrieben wird. Was meint die amtliche Rechtschreibung dazu? 6.6 Literaturhinweise In dem wissenschaftlich fundiert und gleichwohl sehr gut verständlich geschriebenen Buch ‚Das Fremdwort im Deutschen‘ von Peter Eisenberg (2018) bekommt man einen umfassenden Einblick zur Geschichte und Gegenwart des Wortschatzes, der aus anderen Sprachen entlehnt wurde, nicht nur zur ihrer Schreibung. <?page no="138"?> Literaturverzeichnis Altleitner, Margret (2007): Der Wellness-Effekt. Die Bedeutung von Anglizismen aus der Perspektive der kognitiven Linguistik. Frankfurt / M.: Peter Lang. Augst, Gerhard; Dehn, Mechthild ( 3 2007): Rechtschreibung und Rechtschreibunterricht. Stuttgart, Leipzig: Klett. Bauer, Edith (1990). Strukturelle Organisation der graphischen Formative heimischer Morpheme und Basiswörter - theoretische Grundlage zur Optimierung von Konzepten für das Erlernen des Lesens und der Orthographie des Einzelwortes. Universität Rostock: Dissertation. Bauer, Edith; Richter, Kurt (2011). Den Fehlerteufel besiegen. Rostock: BS-Verlag. Betzel, Dirk (2015): Zum weiterführenden Erwerb der satzinternen Großschreibung. Eine leistungsgruppendifferenzierte Längsschnittstudie in der Sekundarstufe I. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Bredel, Ursula (2010). Der Schrift vertrauen. Wie Wörter und ihre Strukturen entdeckt werden können. Praxis Deutsch, 37 (221), 14-21. Bredel, Ursula; Reißig, Tilo (Hg.) ( 2 2015): Weiterführender Orthographieerwerb. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Donalies, Elke ( 2 2011): Basiswissen Deutsche Wortbildung. Tübingen: Francke. Dudenredaktion ( 7 2015): Duden. Das Aussprachewörterbuch. Berlin: Dudenverlag. Dudenredaktion ( 27 2017): Duden. Die deutsche Rechtschreibung. Berlin: Dudenverlag. Dudenredaktion ( 9 2016): Duden. Die Grammatik. Berlin: Dudenverlag. Eisenberg, Peter (1999): Vokallängenbezeichnung als Problem. Linguistische Berichte, 179, 343-349. Eisenberg, Peter ( 4 2013): Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1. Das Wort. Stuttgart, Weimar: Metzler. Eisenberg, Peter (2017): Deutsche Orthografie. Regelwerk und Kommentar. Berlin / Boston: de Gruyter. Eisenberg, Peter ( 3 2018): Das Fremdwort im Deutschen. Berlin, New York: de Gruyter. Elsen, Hilke (2011): Grundzüge der Morphologie des Deutschen. Berlin, New York: de Gruyter. Feilke, Helmuth ( 2 2015): „Der Erwerb der das / dass-Schreibung“. In: Ursula Bredel, Tilo Reißig: Weiterführender Orthographieerwerb (340-354). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Fuhrhop, Nanna (2005) ( 3 2009): Orthografie. Heidelberg: Winter. Fuhrhop, Nanna (2007): Zwischen Wort und Syntagma. Zur grammatischen Fundierung der Getrennt- und Zusammenschreibung. Tübingen: Niemeyer. Fuhrhop, Nanna (2010): Getrennt- und Zusammenschreibung: Kern und Peripherie. Rechtschreibdidaktische Konsequenzen aus dieser Unterscheidung. In: Ursula Bredel, Astrid Müller, Gabriele Hinney (Hg.), Schriftsystem und Schrifterwerb: linguistisch - didaktisch - empirisch (235-257). Berlin, New York: de Gruyter. <?page no="139"?> 140 Literaturverzeichnis Fuhrhop, Nanna ( 2 2015): System der Getrennt- und Zusammenschreibung. In: Ursula Bredel, Tilo Reißig (Hg.): Weiterführender Orthographieerwerb (107-128). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Fuhrhop, Nanna; Peters, Jörg (2016): Einführung in die Phonologie und Graphematik. Stuttgart: Metzler. Fuß, Eric; Geipel, Maria (2018): Das Wort. Tübingen: Narr. Gaebert, Désirée-Kathrin (2012): Zur Didaktik der satzinternen Großschreibung im Deutschen für die Sekundarstufe I. Wortartbezogene Umwege und syntaktische Katalysatoren. Frankfurt / M.: Peter Lang. Gallmann, Peter (1997a): Konzepte der Nominalität. In: Gerhard Augst et al. (Hg.): Zur Neuregelung der deutschen Orthographie (209-241). Tübingen: Niemeyer. Gallmann, Peter (1997b): Warum die Schweizer weiterhin kein Eszett schreiben. In: Gerhard Augst et al. (Hg.): Zur Neuregelung der deutschen Orthographie (135-140). Tübingen: Niemeyer. Gefrorer, Stefan; Günther, Hartmut; Bock, Michael (1989): Augenbewegungen und Substantivgroßschreibung. In: Peter Eisenberg, Hartmut Günther (Hg.): Schriftsystem und Orthographie (111-136). Tübingen: Niemeyer. Günther, Hartmut (2007a): Der Vistembor brehlte dem Luhr Knotten auf den bänken Leuster - Wie sich die Fähigkeit zur satzinternen Großschreibung entwickelt. Zeitschrift für Sprachwissenschaft, 26, 155-179. Günther, Hartmut (Hg.) (2007b): Duden Sprachbuch . Berlin, Frankfurt: Duden Paetec. Günther, Hartmut; Gaebert, Désirée-Kathrin ( 2 2015): Das System der Groß- und Kleinschreibung. In: Ursula Bredel, Tilo Reißig (Hg.): Weiterführender Orthographieerwerb (96-106). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Günther, Hartmut; Nünke, Ellen (2005): Warum das Kleine groß geschrieben wird, wie man das lernt und wie man das lehrt. In: Hartmut Günther, Michael Becker-Mrotzek (Hg.): Kölner Beiträge zur Sprachdidaktik 1, Duisburg: Gilles und Francke. Handt, Rosmarie; Kuhn, Klaus (2018): ABC der Tiere  - Lesen in Silben (Silbenfibel®). Offenburg: Mildenberger. Hofmann, Nicole ( 2 2015): Auswirkungen unterrichtlicher Prozesse auf die Rechtschreibleistungen von Schülerinnen und Schülern. In: Bredel, Ursula; Reißig, Tilo: Weiterführender Orthographieerwerb (475-495). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Huneke, Hans-Werner (2004): Artikulatorischer Zugang zum ‚silbentrennenden <h>‘. Didaktik Deutsch, 16, 35-51. Huneke, Hans-Werner; Steinig, Wolfgang ( 6 2013): Deutsch als Fremdsprache. Berlin: Schmidt. Jacobs, Joachim (2005): Spatien. Zum System der Getrennt- und Zusammenschreibung im heutigen Deutsch. Berlin: de Gruyter. Jacobs, Joachim (2007): Vom (Un-)Sinn der Schreibvarianten. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft, 26, 43-80. Krech, Eva-Maria et al. (2010): Deutsches Aussprachewörterbuch. Berlin / New York: de Gruyter. <?page no="140"?> 141 Literaturverzeichnis Kruse, Norbert; Reichardt, Anke (Hg.) (2016): Wie viel Rechtschreibung brauchen Grundschulkinder? Berlin: Schmidt. Lakoff, George; Johnson, Mark ( 6 2008): Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg: Carl Auer. Lindauer, Thomas; Schmellentin, Claudia (2008): Studienbuch Rechtschreibdidaktik. Die wichtigen Regeln im Unterricht. Zürich: orell füssli. Maas, Utz (1992): Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer (Reprint 2010). Maas, Utz ( 2 2015): Zur Geschichte der deutschen Orthographie. In: Ursula Bredel, Tilo Reißig: Weiterführender Orthographieerwerb (10-47). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Mackowiak, Klaus (2004): Die  häufigsten Fehler im Deutschen und wie man sie vermeidet. München: Beck. Mentzel, Wolfgang (1985): Rechtschreibunterricht. Praxis und Theorie. Aus Fehlern lernen. Praxis Deutsch, Beiheft 69. Seelze: Friedrich. Mesch, Birgit ( 2 2015): Konzepte des Erwerbs der Getrennt- und Zusammenschreibung. In: Ursula Bredel, Tilo Reißig (Hg.), Weiterführender Orthographieerwerb (268-295). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Müller, Hans-Georg (2016): Der Majuskelgebrauch im Deutschen. Groß- und Kleinschreibung theoretisch, empirisch, ontogenetisch. Berlin, Boston: de Gruyter. Munske, Horst Haider (1997): Orthographie als Sprachkultur. Frankfurt / M. u. a.: Peter Lang. Nerius, Dieter (Hg.) ( 4 2006): Deutsche Orthographie. Hildesheim: Olms. Oehme, Viola (Hg.) (2010): Muttersprache . Berlin: Cornelsen, Volk und Wissen. Pabst, Antje; Zeuner, Christine (2011): Lesen und Schreiben eröffnen eine neue Welt! Literalität als soziale Praxis - Eine ethnographische Studie. Bielefeld: wbv Media. Perry, Conrad; Ziegler, Johannes C.; Coltheart, Max (2002): How predictable is spelling? Developing and testing metrics of phoneme-grapheme contingency. Quarterly Journal of Experimental Psychology, 55A (3), 897-915. Pinker, Steven (1998): Der Sprachinstinkt. München: Droemer Knaur. Ramers, Karl-Heinz (1999a): Vokalquantität als orthographisches Problem. Zur Funktion der Doppelkonsonanzschreibung im Deutschen. Linguistische Berichte, 177, 52-64. Ramers, Karl-Heinz (1999b): Zur Doppelkonsonanzschreibung im Deutschen. Eine Rereplik. Linguistische Berichte, 179, 350-360. Ramers, Karl-Heinz (2002): Prinzipien der Wortschreibung. Deutsche Sprache, 30 (3), 220-236. Rat für deutsche Rechtschreibung (Hg.) (2006): Deutsche Rechtschreibung. Regeln und Wörterverzeichnis. Amtliche Regelung. Tübingen: Narr. Rautenberg, Iris; Wahl, Stefan (2019): Der Einfluss der Nominalgruppenstruktur auf die Groß- / Kleinschreibung - Eine empirische Untersuchung im 2. und 6. Schuljahr. Didaktik Deutsch, 46, 83-101. Rawlinson, Graham E. (1976): The significance of letter position in word recognition. Unpublished PhD Thesis, Psychology Department, University of Nottingham, Nottingham UK. <?page no="141"?> 142 Literaturverzeichnis Rawlinson, Graham E. (2007): The significance of letter position in word recognition. IEEE Aerospace and Electronic Systems Magazine, 22(1), 26 f. Rayner, Keith; White, Sarah J.; Johnson, Rebecca L.; Liversedge, Simon P. (2006): Raeding wrods with jubmled lettres: There is a cost. Psychological Science, 17 (3), 192-193. Röber, Christa (2011): Die Leistungen der Kinder beim Lesen- und Schreibenlernen: Grundlagen der Silbenanalytischen Methode. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Röber-Siekmeyer, Christa (1999): Ein anderer Weg zur Groß- und Kleinschreibung. Stuttgart: Klett. Scheele, Veronika (2006): Entwicklung fortgeschrittener Rechtschreibfähigkeiten. Frankfurt / M.: Peter Lang. Scheerer-Neumann, G. (1995): Wortspezifisch: ja - Wortbild: nein. Ein letztes Lebewohl an die Wortbildtheorie. Rechtschreiben. In: Heiko Balhorn, Hans Brügelmann (Hg.): Rätsel des Schriftspracherwerbs (230-244). Lengwil: Libelle. Schneider, Wolfgang; Stefanek, Jan (2007): Entwicklung der Rechtschreibleistung vom frühen Schulbis zum frühen Erwachsenenalter. Längsschnittliche Befunde der Münchner LOGIK- Studie. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 21, 77-82. Scheffler, Frietjof (2004): Das Sofa-Haus: ein Anschauungsmittel für kurze und lange Vokale. Grundschule, 5, 62. Schneider, Wolfgang (2008): Entwicklung der Schriftsprachkompetenz vom frühen Kindesbis zum frühen Erwachsenenalter. In: Wolfgang Schneider (Hg.): Entwicklung von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter. Befunde der Münchner Längsschnittstudie LOGIK (167-186). Weinheim: Beltz, Psychologie Verlags Union. Schmidt, Karsten (2018): Phonographie und Morphographie im Deutschen. Grundzüge einer wortbasierten Graphematik. Tübingen: Stauffenburg. Snowling, Margaret J.; Hulme, Charles (2012): Interventions for children’s language and literacy difficulties. International Journal of Language & Communication Disorders, 47 (1), 27-34. Stanat, Petra et al. (Hg.) (2017): IQB-Bildungstrend . Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der . Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich. Münster: Waxmann. Steigner, Marianne (2008): Standard Deutsch , Berlin: Cornelsen. Steinig, Wolfgang ( 2 1986): Soziolekt und soziale Rolle. Hamburg: Akademion. Steinig, Wolfgang (2017): Grundschulkulturen. Pädagogik - Didaktik - Politik. Berlin: Schmidt. Steinig, Wolfgang; Betzel, Dirk (2014): Schreiben Grundschüler heute schlechter als vor 40 Jahren? Texte von Viertklässlern aus den Jahren 1972, 2002 und 2012. In: Albrecht Plewnia, Andreas Witt (Hg.): Sprachverfall? Dynamik - Wandel - Variation (353-371). Berlin, Boston: de Gruyter. Steinig, Wolfgang; Betzel, Dirk; Geider, Franz Josef; Herbold, Andreas (2009): Schreiben von Kindern im diachronen Vergleich. Texte von Viertklässlern aus den Jahren  und . Münster u. a.: Waxmann. Szczepaniak, Renata (2007): Der phonologisch-typologische Wandel des Deutschen von einer Silbenzu einer Wortsprache. Berlin, Boston: de Gruyter. <?page no="142"?> 143 Thomé, Günther ( 2 2019): Deutsche Orthographie: historisch - systematisch - didaktisch. Oldenburg: isb-Fachverlag. Warwel, Kurt (1967): Lesenlernen nach strukturgemäßen Verfahren. Braunschweig: Westermann. Yoncheva, Yuliya N.; Wise, Jessica; McCandliss, Bruce (2015): Hemispheric specialization for visual words is shaped by attention to sublexical units during initial learning. Brain and Language, 145 (6), 23-33. Zerahn-Hartung, Claudia et al. (2002): Normverschiebungen bei Rechtschreibleistungen und sprachfreier Intelligenz. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 51, 281-297. Literaturverzeichnis <?page no="144"?> Lösungsvorschläge zu den Aufgaben Kapitel 1 1. Mögliche Gründe: geringere zeitliche Anteile des Rechtschreibunterrichts; geringerer Stellenwert in den Lehrplänen; kein systematisch vermitteltes Wissen; zu geringes orthographisches Wissen der Lehrkräfte; Schreibentwicklungsansatz mit Stufen, die charakteristische Fehlschreibungen zeigen und toleriert werden; digitales Schreiben mit automatischer Fehlerkontrolle; private Kommunikation im Internet mit geringer Beachtung der Rechtschreibung; Verunsicherung nach Einführung der Rechtschreibreform. 2. Anlauttabellen vermitteln den falschen Eindruck, wir würden schreiben, wie wir hören oder sprechen; sie suggerieren, es gäbe eine 1: 1-Laut-Buchstaben-Beziehung; Koartikulation: einzelne Laute lassen sich im Lautstrom nicht isolieren; Schreibanfänger hören Wörter nicht wie kompetente Schreiber durch die Brille der Schrift; der sogenannte Igel-Fehler, der entsteht, da mit einem Igel-Anlautbild fälschlicherweise angenommen wird, dass für ein / i: / normalerweise ein <i> geschrieben wird und nicht, wie in den weitaus meisten Fällen, ein <ie>; die Umgangslautung muss in eine Explizitlautung transformiert werden, da sonst unbetonte Vokale unberücksichtigt bleiben; morphologische, silbische und syntaktische Regelungen werden nicht berücksichtigt. 3. a. Beispiel: Für das Phonem / k/ können die Grapheme <k> (klein), <ck> (lecken), <c> (Clown), <ch> (Chor), <g> (Berg) oder <q> (Quarantäne) stehen. b. Ein Vokalgraphem wie <a> kann für / a/ (Dach) oder / a: / (nach) stehen. Für das Graphem <v> kann das Phonem / f/ wie in <Vogel> oder das Phonem / v/ wie in <Video> stehen. 4. Charakteristisch ist der Trochäus: Die erste Silbe wird betont, die zweite bleibt unbetont. In der betonten Silbe stehen ein langer oder kurzer Vollvokal oder ein Diphthong. Die unbetonte Silbe enthält dagegen einen reduzierten Vokal: meist ein Schwa wie in dem Wort viele / fi: lə/ oder ein Tief-Schwa wie in Lehrer / leːrɐ/ . <?page no="145"?> 146 Lösungsvorschläge zu den Aufgaben Kapitel 2 1. a. Zeichnen Sie das Sofahaus-Modell. Die Wörter Lager, Regen, Schaf, siegen, stehen und Stühlchen werden im ersten Stock eingetragen; die Wörter hallo, kennen, kommt, Schutt, singen, Wanze, wollen und Witz im Parterre. Achtung beim Wort kommt: Das <t> als Flexionsendung steht rechts auf der Terrasse. b. Zeichnen Sie alle vier Garagenhaus-Modelle. In das erste Modell (Langvokal in offener Silbe ohne konsonantischen Endrand) tragen Sie Lager, Regen, siegen und stehen ein. In das zweite Modell (Kurzvokal in geschlossener Silbe mit konsonantischem Endrand) die Wörter singen und Wanze. In das dritte Modell (Kurzvokal in offener Silbe mit ambisyllabischem Endrand) kennen und wollen. In das vierte Modell (Langvokal in geschlossener Silbe mit konsonantischem Endrand) das Wort Stühlchen. Die Wörter kommt, Schaf, Schutt und Witz lassen sich nicht eintragen, da sie einsilbig sind, sie müssten zuvor verlängert werden. Schutt ist jedoch nur indirekt und schlecht erkennbar durch schütten erweiterbar, ähnlich wie Kinn, Krill, Mull, Moll oder Patt kaum erweiterbar sind. Eine zweisilbige Referenzform mit einem ambisyllabischen Konsonanten an einer Silbenfuge kann hier nicht herangezogen werden. Die Doppelkonsonantenschreibung wird durch die vorausgehende Kürze / Ungespanntheit des Vokals hinreichend erklärt. Das Wort hallo müsste eigentlich in das dritte Modell eingetragen werden; es hat aber kein Schwa in der unbetonten Endung. 2. a. <ank>: blank, danke, Janker, krank, Manko, Planke, Ranke, sank, stank, tanken, wanken, zanken b. <aub>: Daube, Gaube, Haube, Laube, Urlaub, glauben, klauben, schnauben, rauben, Schraube, Traube, sauber, taub, Taube, Staub, zaubern c. <ein>: ein, Bein, dein, fein, scheinen, kein, Leine, Leinen, klein, mein, gemein, nein, Pein, rein, sein, Stein, weinen, Wein, Schwein d. <ord>: Orden, Ordner, Ordnung, ordentlich, Bord, fordern, Horde, Kord, Kordel, Mord, Norden, vordere, geworden e. <und>: und, Bund, verbunden, Fund, Pfund, Hund, Schund, Kunde, Flunder, Schlund, Plunder, Mund, Spund, rund, Grund, Gesundheit, Stunde, Wunde, Wunder, verschwunden, Schwund 3. Wenn Wörter in einer Worttreppe nacheinander von Buchstabe zu Buchstabe aufgebaut werden, kann sich zwischendurch die Aussprache der be- <?page no="146"?> 147 Lösungsvorschläge zu den Aufgaben tonten Vokale (lang bzw. kurz) verändern. Das führt zur Verunsicherung. Beispiel: K - Ki - Kin - Kind - Kinde - Kinder. Kapitel 3 1. a. Bällen: <ä> da Ball; bellen: <e> als der normale (häufigste) Fall. b. biss: auf kurzen Vokal folgt nur ein Phonem → das Graphem wird verdoppelt; bis: Funktionswort mit Sparschreibung. c. fällt: <ä> da fallen; Feld: <e> als der normale (häufigste) Fall, <l> nicht verdoppelt, da <d> folgt. d. frisst: <ss> da fressen; Frist: nur ein <s> trotz kurzen Vokals, da zwei Konsonanten folgen. e. Hemd: nur ein <m> trotz kurzen Vokals, da zwei Konsonanten folgen; hemmt: zwei <m> da hemmen. f. kannte: zwei <n> da kennen; Kante: ein <n>, da zwei Konsonantenphoneme folgen. g. Wald: nur ein <l>, da ein <d> als zweiter Konsonant folgt, kein <t>, da Wälder; wallt: zwei <l> da wallen. h. fließt: da fließen; fliehst: silbentrennendes <h> da fliehen; fliest: da fliesen. 2. a. Rind-fleisch-etikett-ier-ung-s-über-wach-ung-s-auf-gab-en-über-tragung-s-ge-setz b. Grund-stück-s-ver-kehr-s-ge-nehm-ig-ung-s-zu-ständ-ig-keit-s-übertrag-ung-s-ver-ord-nung 3. a. Mäuse: *Meuse, *Moise → Versuche, lautgetreu zu schreiben. Dabei wird das morphologische Prinzip nicht beachtet, nämlich Wörter, die inhaltlich zusammengehören, möglichst ähnlich zu schreiben, hier den Bezug zu Maus kenntlich zu machen. <euse> und <oise> sind Graphemfolgen, die für das Französische charakteristisch sind (Fritteuse, Salade niçoise), aber in nativen deutschen Wörtern nicht vorkommen. Damit die morphologische Schreibung von Mäuse erkannt und geübt werden kann, sollte man mit analogen Mustern in unterschiedlichen Übungsformaten arbeiten: Maus - Mäuse; Laus - Läuse, Faust - Fäuste, Haus - Häuser; Kauf - Käufer, Baum - Bäume usw. b. Räuber: *Reuber, *Reubaer → Auch hier wird das morphologische Prinzip nicht beachtet: Die zweisilbige Form wird nicht auf die einsilbige Raub bezogen. Der Schreiber entscheidet sich für <eu> anstatt für <äu>, <?page no="147"?> 148 Lösungsvorschläge zu den Aufgaben da dies mit 81,8% die weitaus häufigere Grafie ist (Tabelle 1.3 in Kapitel 1.5). Die unbetonte Endung <er> ist regelhaft und extrem häufig, aber dem Schreiber ist sie offenbar noch nicht geläufig. Die Graphemfolge <aer> kommt als unbetonte Endung weder in nativen deutschen Wörtern noch in Fremdwörtern vor. Mit analogen Mustern kann die <au/ äu>-Schreibung geübt werden (Raum - Räume, Traum - Träume) sowie die <er>-Endung (das Haus - die Häuser, das Gut - die Güter). c. Fahrrad: *farat → eine lautgetreue Schreibung [fa: ra: t]: die Großschreibung wird nicht beachtet; das Dehnungs-h fehlt; die Morphemfuge <r-r> wird nicht realisiert; <t> anstatt <d> am Wortende, da der morphologische Bezug zu <Räder> nicht beachtet wird. Da sich alle vier Verstöße nicht gleichzeitig bearbeiten lassen, sollte man gestuft nach dem Schwierigkeitsgrad vorgehen: 1. *Farat, 2. *Fahrat, 3.-*Fahrad, 4. Fahrrad. Die Großschreibung von Wörtern für Gegenstände ist am einfachsten erlernbar. Das Dehnungs-h erfordert das Erkennen von langen Vokalen; man muss sich seine Realisierung aber merken, da es nicht auf einer zuverlässigen Regel beruht. Das <d> am Wortende wird plausibel, wenn man das Wort zu Fahrräder verlängert. Die Morphemfuge mit zwei (oder drei! ) aufeinanderfolgenden Graphemen ist am schwierigsten erlernbar. Obwohl in der Lautung von Fahrrad das Phonem / r/ nur einfach realisiert wird, schreibt man <r> doppelt, um die Konstanz der Morpheme (Stämme) <fahr> und <rad> zu erhalten. Zu jedem Schritt beim Aufbau des nötigen morphematischen Wissens, um Fahrrad korrekt schreiben zu können, sollte man mit analogen Schreibungen üben; am besten zunächst mit Verben wie aussehen, aussaugen, abbeißen, abbrechen, auffangen, annehmen oder verreisen (als Kontrast vereisen), dann mit Adjektiven wie gelbbraun, schnelllebig, kurzzeitig und schließlich auch mit Substantiven wie Packkarton, Fitnessstudio, Schifffahrt und Kennnummer - Wörter, die alle selten vorkommen, nur eben Fahrrad nicht. Kapitel 4 1. a. Nur Großschreibung: ▶ Namen: der Westfälische Friede, Gasthaus zur Frischen Quelle, der Zweite Weltkrieg, Erste Hilfe; auch geografische Namen: In der Schmalen Gasse , der Bayerische Wald, der Atlantische Ozean; auch inoffizielle Namen: der Heilige Stuhl, der Alte Fritz <?page no="148"?> 149 ▶ Titel: die Königliche Hoheit ▶ Gattungen, Arten und Rassen in Botanik und Zoologie: das Gelbe Windröschen, der Weiße Hai ▶ Feier- und Gedenktage: der Erste Mai, der Heilige Abend b. Groß- oder Kleinschreibung: die s/ Schwarze Null, der t/ Technische Zeichner, das n/ Neue Jahr, die g/ Goldene Hochzeit; c. Nur Kleinschreibung: der harte Kern, die innere Sicherheit, das große Los, ein schweres Los, in den sauren Apfel beißen, der holländische Käse, ein harter Schnitt, die sieben Weltwunder, die aristotelische Logik, der rote Faden, der erste Advent. 2. Man könnte die Klasse in vier Gruppen aufteilen und sie zum Schreiben einer kurzen Geschichte auffordern. Jede Gruppe bekommt auf einem Zettel einen anderen Titel, zu dem sie etwas schreiben soll, nämlich (1) „Die spinnen, die Römer“, (2) „Die Spinnen kommen“, (3) „Der gefangene Floh“, (4) „Der Gefangene floh“. Anschließend tauschen die Gruppen (1) und (2) sowie (3) und (4) ihre Texte, lesen sie und begründen, warum die Geschichten unterschiedlich ausgefallen sind. Kapitel 5 1. In der Wortgruppe rote Buche liegt zwischen rote und Buche eine syntaktische Sollbruchstelle. Das heißt, beide Wörter sind nach dem Relationsprinzip syntaktisch selbständig und somit keine Teile eines komplexen Wortes. Dies zeigen die Erweiterungs- und Ersetzungsprobe. ▶ Erweiterungen: die rote, alte Buche; die rote Rostocker Buche ▶ Ersetzungen: die braune Buche; die rote Eiche Die Umstellprobe funktioniert dagegen nur sehr eingeschränkt, z. B. kann das Adjektiv nachgetragen werden: ▶ Die Waldarbeiter haben eine Buche gefällt, und zwar eine rote. Ohne Wiederholung des Artikels funktioniert die Umstellung nur in der Pluralform: ▶ Die Waldarbeiter haben Buchen gefällt, und zwar rote. In der Wortgruppe rote Buche besteht zudem eine syntaktische Beziehung zwischen rote und Buche: Das Adjektiv bildet ein Attribut zum Substantiv. Nach dem Wortbildungsprinzip kann der Ausdruck rote Buche kein Wortbildungsprodukt, hier kein Kompositum sein, weil der erste Teil Lösungsvorschläge zu den Aufgaben <?page no="149"?> 150 Lösungsvorschläge zu den Aufgaben rote flektiert ist. Im Gegenwartsdeutschen ist die Binnenflexion im Wortinnern von Komposita nämlich nicht mehr möglich. Im komplexen Ausdruck Rotbuche liegt zwischen Rot und Buche keine syntaktische Sollbruchstelle. Weder Erweiterungen noch Ersetzungen oder Umstellungen sind möglich: Erweiterungen: ? Rotaltbuche, ? Rotrostockerbuche Ersetzungen: ? Blaubuche; aber die Ersetzung des zweiten Teils ist möglich (vgl. Rotwein, Rotstift) Umstellungen: ? Bucherot; vgl. aber in der Poesie: Röslein rot Die Proben zeigen also, dass zwischen Rot und buche keine syntaktische Relation besteht (Rot ist z. B. kein Attribut zu buche), dass folglich nach dem Relationsprinzip keine Wortgruppe vorliegt, sondern ein komplexes Wort. Andererseits erfüllt der Ausdruck Rotbuche die Bedingungen des Wortbildungsprinzip: Es handelt sich um ein reguläres Kompositum nach dem morphologischen Baumuster ‚Adjektiv + Nomen‘, das in eine Reihe mit zahlreichen anderen Bildungen des gleichen Typs eingereiht werden kann (z. B. Grünspecht, Schwarzbuch, Rotkehlchen, Hochgebirge usw.). 2. a. Im ersten Beispiel kalt trinken liegt weder eine resultative Lesart vor (das Bier wird nicht durch das Trinken kalt) noch eine idiomatisierte Bildung. Daher ist nur die Getrenntschreibung zugelassen. b. Im zweiten Beispiel (kaltgestellt / kalt gestellt) ist sowohl Zusammenals auch Getrenntschreibung möglich, weil eine resultative Lesart vorliegt: Die Getränke werden als Resultat der Handlung stellen (z. B. in den Kühlschrank) kalt. c. Im dritten Beispiel ist allein die Zusammenschreibung kaltgestellt zugelassen, weil nur eine idiomatisierte Lesart möglich ist (der politische Gegner wird ausgeschaltet, aber ist anschließend nicht kalt). Kapitel 6 1. a. Handel und Geldwirtschaft: Bankrott, Bilanz, Disagio, Giro, Kapital, Konto, netto, Porto, Prokura, Rabatt; b. Musik: Adagio, Arie, bravo, Kantate, Oper, Sonate; c. Speisen und Getränke: Cappuccino, Espresso, Gnocchi, Pizza, Risotto, Spaghetti. <?page no="150"?> 151 Problematisch sind Graphemfolgen, die in nativen deutschen Wörtern nicht vorkommen, etwa <cchi> wie in Gnocchi. 2. a. Aus dem Altgriechischen: <ph>, z. B. emphatisch, Philosophie; <rh>, z. B. Rhetorik, Rhombus; b. Aus dem Latein: <ex>, z. B. extra, Examen; <ion>, z. B. Funktion, Institution, Promotion, <us>, z. B. Bonus, Ritus; c. Aus dem Englischen: <igh>, z. B. light, high; <ow>, z. B. Show, Knowhow; <sh>, z. B. Finish, Shop; <wh>, z. B. Whirlpool, Whiskey; <ea>, z. B. Beamer, Jeans, Team ; d. Aus dem Italienischen: <agio>, z. B. Adagio, Disagio; <cc>, z. B. Cappuccino, Saltimbocca; <gh>, z. B. Ghetto, Spaghetti; <zz>, z. B. Mozzarella, Paparazzo, Pizza; e. Aus dem Französischen: <age> z. B. Massage, Vernissage; <eur> z. B. Dompteur, Masseur; <ette> z. B. Baguette, Etikette; <ou> z. B. Boulevard, Blouson; 3. In professionell hergestellten Texten (Zeitungen, Bücher …) findet sich fast nur die traditionelle Schreibung Portemonnaie. In anderen Texten stößt man auf unzählige weitere, nicht anerkannte Versionen, die zeigen, dass das Wort schwer zu meistern ist: Portmonnaie, Portemonaie, Portemonnai usw.; amtlich wäre auch die integrierte Schreibung Portmonee zulässig. Lösungsvorschläge zu den Aufgaben <?page no="151"?> Christa Dürscheid, Jan Georg Schneider Standardsprache und Variation narr STARTER 2019, 96 Seiten €[D] 10,90 ISBN 978-3-8233-8268-3 eISBN 978-3-8233-9268-2 Im Band wird einleitend der Begriff Standardsprache erläutert und als Gebrauchsstandard konzeptualisiert. Die anschließenden Kapitel stellen die Entwicklung der deutschen Standardsprache dar und behandeln Standardsprachideologien. Danach wird ein Überblick über die Unterschiede zwischen dem geschriebenen und gesprochenen Gebrauchsstandard gegeben und das Verhältnis zwischen Norm und Variation illustriert. Anschließend liegt der Schwerpunkt auf einer Diskussion der Faktoren, die zu sprachlicher Variation führen können. Das Abschlusskapitel widmet sich der diatopischen Variation im Standarddeutschen (z.B. Österreich, Deutschland, Schweiz). Der Band wendet sich an Studierende der germanistischen Sprachwissenschaft und kann auch im gymnasialen Oberstufenunterricht eingesetzt werden. Beginnen mit den narr STARTERN, vertiefen mit den narr STUDIENBÜCHERN, ERFOLGREICH STUDIEREN! LEHRBUCH \ GERMANISTIK D E R S T U D I E N - S T A R T E R Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="152"?> ISBN 978-3-8233-8176-1 www.narr.de Die Beherrschung der Orthografie gehört zu den Schlüsselkompetenzen für eine erfolgreiche Schul- und Berufslaufbahn. Dieses Buch soll dazu beitragen, diese Kompetenz zu erwerben und zu festigen, zum einen durch eine systematische Rekonstruktion der linguistischen Grundlagen der einzelnen orthografischen Regelungen, zum anderen durch eine Reflexion der didaktischen Möglichkeiten zur Erleichterung des Erwerbs und der Stabilisierung der Rechtschreibfertigkeiten. Thematisiert werden die zentralen Bereiche der Orthografie des Deutschen: Graphem-Phonem-Beziehungen, Groß- und Kleinschreibung sowie Getrennt- und Zusammenschreibung. Orthografie