eBooks

Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb

0326
2018
978-3-8233-9182-1
978-3-8233-8182-2
Gunter Narr Verlag 
Jörg Roche
Elisabetta Terrasi-Haufe

In der Spracherwerbs- und Mehrsprachigkeitsforschung spielen kognitive Aspekte schon lange eine bedeutende Rolle. In der Ausbildung von Sprachlehrkräften, in Lehrplänen, im Lernmaterial und im Unterricht ist von der Vielfalt kognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse bisher allerdings wenig angekommen. Dieser Band zeichnet ein kohärentes Bild davon, was beim Spracherwerb und beim Management von mehreren Sprachen in den Köpfen der Lerner abläuft und welche Konsequenzen dies für einen optimierten Unterricht hat. Er behandelt - aus dieser Perspektive - die Grundlagen der Mehrsprachigkeit, der Migrationsfaktoren, des Spracherwerbs und der Attrition, der dynamischen Modelle der Mehrsprachigkeit, der Sprachvariation und Sprachmischungen (Codewechsel, Ethnolekte, Xenolekte), der Pidginisierung und Kreolisierung sowie des Erwerbs mündlicher und schriftlicher Kompetenzen in der Fremdsprache in gut verständlicher Sprache.

In der Spracherwerbs- und Mehrsprachigkeitsforschung spielen kognitive Aspekte schon lange eine bedeutende Rolle. In der Ausbildung von Sprachlehrkräften, in Lehrplänen, im Lernmaterial und im Unterricht ist von der Vielfalt kognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse bisher allerdings wenig angekommen. Dieser Band zeichnet ein kohärentes Bild davon, was beim Erwerb und dem Management von mehreren Sprachen in den Köpfen der Lerner abläuft und welche Konsequenzen dies für einen optimierten Unterricht hat. Er behandelt - aus dieser Perspektive und in verständlicher Sprache - die Grundlagen der Mehrsprachigkeit, der Migrationsfaktoren, des Sprachenerwerbs und der Attrition, der dynamischen Modelle der Mehrsprachigkeit, der Sprachvariation und Sprachmischungen (Code-Switching, Ethnolekte, Xenolekte), der Pidginisierung und Kreolisierung sowie des Erwerbs mündlicher und schriftlicher Kompetenzen in der Fremdsprache. 4 4 Kompendium DaF/ DaZ DaF/ DaZ 4 Kompendium DaF/ DaZ ISBN 978-3-8233-8182-2 Roche / Terrasi-Haufe (Hg.) Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb Jörg Roche / Elisabetta Terrasi-Haufe (Hg.) Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb Kompendium DaF / DaZ Herausgegeben von Jörg Roche (München) Band 4 Jörg Roche / Elisabetta Terrasi-Haufe (Hg.) Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG · Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 2512-8043 ISBN 978-3-8233-9182-1 5 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.1 Kognitive Aspekte (Kees de Bot & Jörg Roche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.2 Historische und kommunikative Aspekte (Jala Garibova) . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.3 Sprachenpolitische Aspekte (Jala Garibova & Svenja Uth) . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit (Jörg Roche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.1 Mehrsprachigkeit und Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.2 Faktoren der Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2.3 Modelle der individuellen Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3.1. Prozesse des Sprachenerwerbs (Jörg Roche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.2 Das Modell der Erwerbssequenzen (Elisabetta Terrasi-Haufe & Jörg Roche) . 104 3.3 Fossilisierung und Stabilisierung (Jörg Roche & Elisabetta Terrasi-Haufe) . . . 117 4. Dynamische Modellierung von Sprachenerwerb (Kees de Bot) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 4.1 Dynamische Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 4.2 Sprache als dynamisches System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4.3 Sprachverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 5.1 Code-Switching (Kees de Bot & Jörg Roche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 5.2 Transfer (Kees de Bot) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 5.3 Mehrschriftlichkeit und Transfer (Claudia Maria Riehl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 6. Sprachvariation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 6.1 Variation und Variabilität aus einer dynamischen Perspektive (Jala Garibova, Jörg Roche & Svenja Uth) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 6.2 Regionale Varietäten (Jala Garibova & Svenja Uth) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 6.3 Soziale Variation (Jala Garibova & Svenja Uth, unter Mitarbeit von Eduard Arnhold) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 7.1 Ethnolekte (Jörg Roche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 7.2 Xenolekte und ihre Struktur (Jörg Roche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 7.3 Pidginisierung und Kreolisierung (Jörg Roche & Svenja Uth) . . . . . . . . . . . . . 260 6 Inhalt 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 8.1 Analyse mündlicher Lernervarietäten (Elisabetta Terrasi-Haufe & Jörg Roche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 8.2 Analyse schriftlicher Lernervarietäten (Claudia Maria Riehl) . . . . . . . . . . . . . 285 8.3 Empirische Forschungsmethodologie (Jala Garibova) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 9. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 10. Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 7 Vorwort Trotz vieler neuerer Bemühungen um Kompetenz-, Aufgaben- und Handlungsorientierung kommen in der Praxis der Sprachvermittlung weiterhin verbreitet traditionelle Verfahren zur Anwendung, beispielsweise bei der Festlegung der Lehrprogression, den Niveaustufen, der Fehlerkorrektur und der Leistungsmessung. Mit der Weiterentwicklung der kognitiven Linguistik und weiterer kognitiv ausgerichteter Nachbardisziplinen beginnt sich nun aber auch in der Sprachvermittlung in vieler Hinsicht ein Paradigmenwechsel zu vollziehen. Die kognitionslinguistischen Grundlagen dieses Paradigmenwechsels werden in dieser Reihe systematisiert und anhand zahlreicher Materialien und weiterführender Aufgaben für den Transfer in die Praxis aufbereitet. Die Reihe Kompendium DaF / DaZ verfolgt das Ziel einer Vertiefung, Aktualisierung und Professionalisierung der Ausbildung von Sprachlehrkräften. Der Fokus der Reihe liegt daher auf der Vermittlung von Erkenntnissen aus der Spracherwerbs-, Sprachlehr- und Sprachlernforschung sowie auf deren Anwendung auf die Sprach- und Kulturvermittlungspraxis. Die weiteren Bände behandeln die Themen Sprachenlernen und Kognition, Kognitive Linguistik, Berufs-, Fach- und Wissenschaftssprachen, Sprachenlehren, Unterrichtsmanagement, Medien, Kultur, Literatur, Propädeutik. Durch die thematisch klar abgegrenzten Einzelbände bietet die Reihe ein umfangreiches, strukturiertes Angebot an Inhalten der aktuellen DaF / DaZ-Ausbildung, die über die Reichweite eines Handbuchs weit hinausgehen und daher sowohl in der akademischen Lehre als auch im Rahmen von Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen behandelt werden können. Die Reihe wird daher von (fakultativen) flexibel einsetzbaren Online-Modulen für eine moderne Aus- und Weiterbildung begleitet. Diese Online-Module ergänzen den Stoff der Bücher und enthalten Zusatzlektüre und Zusatzaufgaben (www.multilingua-akademie.de). Das Digitale Lexikon Fremdsprachendidaktik (www.lexikon-mla.de) bietet darüber hinaus Erklärungen der wichtigsten Fachbegriffe und damit einen leichten Zugang zu allen aktuellen Themen der Fremdsprachendidaktik und der Sprachlehr- und -lernforschung. Möglich gemacht wurde die Entwicklung der Inhalte und der Online-Module durch die Förderung des EU Tempus-Projektes Consortium for Modern Language Teacher Education. Neben den hier verzeichneten Autorinnen und Autoren haben eine Reihe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der editorischen Fertigstellung des Manuskriptes dieses Buches mitgewirkt: Svenja Uth, Eduard Arnhold, Blanka Stolz (Lektorat), Kathrin Heyng (Gunter Narr Verlag) und Corina Popp (Gunter Narr Verlag). Ihnen allen gebührt großer Dank für die geduldige und professionelle Mitarbeit. Der Band orientiert sich in großen Teilen an Elementen der Mehrsprachigkeitstheorie (2013) sowie den Bänden Fremdsprachenerwerb, Fremdsprachendidaktik (2013) und Xenolekte. Struktur und Variation im Deutsch gegenüber Ausländern (1989) von Jörg Roche. Einige der darauf aufbauenden Lerneinheiten wurden für die neue Struktur dieses Bandes durch Elisabetta Terrasi-Haufe und Svenja Uth eingerichtet. Die von manchen Autoren eingereichten englischsprachigen Manuskripte wurden von Simone Lackerbauer übersetzt und von Elisabetta Terrasi-Haufe und Svenja Uth bearbeitet. 9 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ Der Bedarf an solider Aus-, Fort- und Weiterbildung im Bereich der Sprachvermittlung nimmt ständig zu. Immer stärker treten dabei spezialisierte Anforderungen zum Beispiel in Bezug auf Fach- und Berufssprachen, Kompetenzen oder Zielgruppen in den Vordergrund. Theoretisch fundiert sollten die entsprechenden Angebote sein, aber gleichzeitig praxistauglich und praxiserprobt. Genau diese Ziele verfolgen die Buchreihe Kompendium DaF / DaZ und die begleitenden Online-Module. In mehreren Modulen und Bänden soll hiermit eine umfassende Einführung in die Wissenschaft und in die Kunst des Sprachenlernens und Sprachenlehrens gegeben werden, weit weg von fernen Theorie- oder Praxiskonstruktionen und Lehr-Dogmen. Im Mittelpunkt des hier verfolgten Ansatzes steht das, was in den Köpfen der Lerner geschieht oder geschehen sollte. Sachlich, nüchtern, effizient und nachhaltig. Buchreihe und Online-Module sind eine Einladung zur Professionalität eines Bereichs, der die natürlichste Sache der Welt behandelt: den Sprachenerwerb. In diesen Materialien und Kursen werden daher Forschungsergebnisse aus verschiedenen Forschungsrichtungen zusammengetragen und der Nutzen ihrer Synthese für die Optimierung des Sprachenerwerbs und Sprachunterrichts aufgezeigt. Warum Aus-, Weiter- und Fortbildung heute so wichtig ist Wer sich etwas eingehender darum bemüht zu verstehen, welche Rolle die Sprache im weiten Feld des Kontaktes von Kulturen spielt-- oder spielen könnte--, muss von den Gegensätzen, Widersprüchen und Pauschalisierungen, die die Diskussion in Gesellschaft, Politik und Fach bestimmen, vollkommen irritiert sein. Vielleicht lässt sich aus dieser Irritation auch erklären, warum dieser Bereich von so vielen resistenten Mythen, Dogmen und Praktiken dominiert wird, dass das eigentlich notwendige Bemühen um theoretisch fundierte Innovationen kaum zur Geltung kommt. Mangelndes Sprach- und Sprachenbewusstsein besonders in Öffentlichkeit und Politik führen ihrerseits zu einem ganzen Spektrum gegensätzlicher Positionen, die sich schließlich auch bis in die lehrpraktische Ebene massiv auswirken. Dieses Spektrum ist gekennzeichnet durch eine Verkennung der Bedeutung von Sprache im Umgang der Kulturen auf der einen und durch reduktionistische Rezepte für ihre Vermittlung auf der anderen Seite: Die Vorstellung etwa, die Wissenschaften, die Wirtschaft oder der Alltag kämen mit einer Universalsprache wie dem Englischen aus, verkennt die- - übrigens auch empirisch über jeden Zweifel erhabenen- - Realitäten genauso wie die Annahme, durch strukturbasierten Sprachunterricht ließen sich kulturpragmatische Kompetenzen (wie sie etwa für die Integration in eine fremde Gesellschaft nötig wären) einfach vermitteln. Als ineffizient haben sich inzwischen auch solche Verfahren erwiesen, die Mehrsprachigkeit als Sonderfall-- und nicht als Regelfall-- betrachten und daher Methoden empfehlen, die den Spracherwerb vom restlichen Wissen und Leben zu trennen versuchen, also abstrakt und formbasiert zu vermitteln. Der schulische Fremdsprachenunterricht und der Förderunterricht überall auf der Welt tendieren (trotz rühmlicher unterrichtspraktischer, didaktischer, struktureller, konzeptueller und bildungspolitischer Ausnahmen und Initiativen) nach wie vor stark zu einer solchen Absonderung: weder werden bisher die natürliche Mehrsprachig- 10 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ keit des Menschen, die Sprachenökologie, Sprachenorganik und Sprachendynamik noch die Handlungs- und Aufgabenorientierung des Lernens systematisch im Fremdsprachenunterricht genutzt. Stattdessen wird Fremdsprachenunterricht in vielen Gesellschaften auf eine (internationale) Fremdsprache reduziert, zeitlich stark limitiert und nach unterschiedlich kompetenten Standards kanalisiert. Interkulturelle Kommunikation im Zeitalter der Globalisierung In unserer zunehmend globalisierten Welt gehört die Kommunikation zwischen verschiedenen Kulturen zu einem der wichtigsten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Aufgabenbereiche. Die Globalisierung findet dabei auf verschiedenen Ebenen statt: lokal innerhalb multikultureller oder multikulturell werdender Gesellschaften, regional in multinationalen Institutionen und international in transkontinentalen Verbünden, Weltorganisationen (unter anderem für Wirtschaft, Gesundheit, Bildung, Sport, Banken) und im Cyberspace. Dabei sind all diese Globalisierungsbestrebungen gleichzeitig Teil einer wachsenden Paradoxie. Der Notwendigkeit, die großen sozialen und wirtschaftlichen Probleme wegen der globalen Vernetzung der Ursachen auch global zu lösen, stehen andererseits geradezu reaktionäre Bestrebungen entgegen, der Gefahr des Verlustes der »kulturellen Identität« vorzubauen. Einerseits verlangt oder erzwingt also eine Reduktion wirklicher und relativer Entfernungen und ein Überschreiten von Grenzen ein Zusammenleben und Kommunizieren von Menschen verschiedener Herkunft in bisher nicht gekannter Intensität, andererseits stehen dem Ideal einer multikulturellen Gesellschaft die gleichen Widerstände entgegen, die mit der Schaffung solcher Gesellschaften als überkommen geglaubt galten (Huntington 1997). Erzwungene, oft mit großer militärischer Anstrengung zusammengehaltene multikulturelle Gesellschaften haben ohne Druck keinen Bestand und neigen als Folge des Drucks vielmehr dazu, verschärfte kulturelle Spannungen zu generieren. Auch demokratisch geschaffene multikulturelle Gesellschaften benötigen meist viel Zeit und Energie, um sich aus der Phase der multi-kulturellen Duldung zu inter-kultureller Toleranz und interkulturellem Miteinander zu entwickeln. Die rechtspopulistischen Bewegungen in Europa und die ethnischen Auseinandersetzungen in Afrika und Asien zeigen, dass es zuweilen gewaltig unter der Oberfläche gesellschaftlicher Toleranz- und Internationalisierungspostulate rumort. Ethnozentrismus, Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit, Rechtspopulismus, Rassismus, Diskriminierung, Terrorismus, Bürgerkrieg, Massen- und Völkermord sind durch politisch und wirtschaftlich bewirkten Multikulturalismus nicht verschwunden. Das verbreitete Scheitern von Multikulturalismus-Modellen zeigt, dass ein verordnetes oder aufgezwungenes Nebeneinander von Kulturen ohne Mediationsbemühungen eher Spannungen verstärkt, als nachhaltig Toleranz zu bewirken. Es mangelt an effizienten Verfahren der Vermittlung (Mediation) zwischen Kulturen. Den Sprachen kommt in dem Prozess der Mediation deswegen eine besondere Rolle zu, weil er mit der Kommunikation über kulturelle Grenzen hinweg anfängt und auch nur durch diese am Laufen gehalten wird. Die Sprache kann nicht alle Probleme lösen, aber sie hat eine Schlüsselposition beim Zustandekommen interkulturellen Austauschs, die weit über die Beherrschung von Strukturen sprachlicher Systeme hinausgeht. Diese Funktion hat 11 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ mehr mit Kulturvermittlung als mit strukturellen Eigenschaften sprachlicher Systeme zu tun und sie kann kaum durch eine einzige Lingua Franca erfüllt werden. Das Lernen und Lehren von Sprachen ist in Wirklichkeit eines der wichtigsten politischen Instrumente im Zeitalter der Globalisierung und Internationalisierung. Sprachunterricht und Sprachenlernen werden aber von Lehrkräften und Lernern gleichermaßen oft noch als die Domäne des Grammatikerwerbs und nicht als Zugangsvermittler zu anderen Kulturen behandelt. Wenn kulturelle Aspekte im Fremdsprachenerwerb aber auf die Faktenvermittlung reduziert werden und ansonsten vor allem strukturelle Aspekte der Sprachen in den Vordergrund treten, bleiben wichtige Lern-und Kommunikationspotenziale ungenutzt. Dabei bleibt nicht nur der Bereich des landeskundlichen Wissens unterentwickelt, sondern es wird in erster Linie der Erwerb semantischer, pragmatischer und semiotischer Kompetenzen erheblich eingeschränkt, die für die interkulturelle Kommunikation essentiell sind. Wenn in der heutigen Zeit vordringlich interkulturelle Kompetenzen verlangt werden, dann müssen in Sprachunterricht und Spracherwerb im weiteren Sinne also bevorzugt kulturelle Aspekte der Sprachen und Kommunikation berücksichtigt werden. Dazu bedarf es aber einer größeren Bewusstheit für die kulturelle Bedingtheit von Sprachen und die sprachliche Bedingtheit von Kulturen. Diese müssen sich schließlich in kultursensitiven Lern- und Lehrverfahren manifestieren, die Mehrsprachigkeit nicht nur künstlich rekonstruieren und archivieren wollen, sondern die in Fülle vorhandenen natürlichen Ressourcen der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität organisch, dynamisch und effizient zu nutzen wissen. Das Augenmerk der künftigen Lern- und Lehrforschung ist daher verstärkt auf Aspekte der Ökologie und Ökonomie des Sprachenerwerbs und Sprachenmanagements zu richten. Das bedeutet aber, dass die Spracherwerbs- und die Mehrsprachigkeitsforschung sich nicht nur eklektisch wie bisher, sondern systematisch an kognitiven und kultursensitiven Aspekten des Sprachenerwerbs und Sprachenmanagements ausrichten müssen. Diesen Aufgabenbereich zu skizzieren, indem wichtige, dafür geleistete Vorarbeiten vorgestellt werden, ist Ziel dieser Reihe. Interkultureller Fremdsprachenunterricht Als die Forschung begann, sich mit interkulturellen Aspekten in Spracherwerb und Sprachunterricht zu beschäftigen, geschah dies auf der Grundlage bildungspolitischer Zielsetzungen und hermeneutischer Überlegungen. Literarische Gattungen sollten den kommunikativen Trend zur Alltagssprache ausgleichen helfen und damit gleichzeitig frische, auf rezeptionsästhetischen Theorien basierende Impulse für das Fremdverstehen und die Fremdsprachendidaktik liefern (vergleiche Hunfeld 1997; Wierlacher 1987; Krusche & Krechel 1984; Weinrich 1971). Die anfängliche Affinität zu lyrischen Texten weitete sich auf andere Gattungen aus und verjüngte mit dieser Wiederentdeckung der Literatur im Fremdsprachenunterricht gleichzeitig das in den 1980er Jahren bereits zum Establishment gerinnende kommunikative Didaktikparadigma. Man vergleiche die Forderung nach einem expliziten interkulturellen Ansatz von Wylie, Bégué & Bégué (1970) und die bereits frühe Formulierung der konfrontativen Semantik durch Müller-Jacquier (1981). Für die auf Zyklen sozialisierte Zunft der Sprachlehre stand fest: das ist eine neue, die vierte Generation der Fremdsprachendidaktik, die interkul- 12 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ turelle, oder zumindest die Version 3.5, die kommunikativ-interkulturelle. Allerdings hat diese Euphorie nicht überall zu einer intensiveren, systematischen Reflexion interkultureller Aspekte in Bezug auf ein besseres Verstehen des Sprachenlernens und eine effizientere Ausrichtung des Sprachenlehrens geführt. Selbst in der Lehrwerksproduktion, deren Halbwertzeitzyklen seitdem immer kürzer werden, ist die Anfangseuphorie vergleichsweise schnell verflogen. Infolge des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen ( GER )-- und bereits seines Vorgängers, des Schwellen-Projektes (threshold level project) des Europarates-- scheinen sich aufgrund der (oft falsch verstandenen) Standardisierungen die starken Vereinheitlichungstendenzen zu einer Didaktik der Generation 3 oder gar 2.5 zurück zu verdichten. Die Aufnahme der Fremdperspektive in Lehrwerken beschränkte und beschränkt sich oft auf oberflächlich vergleichende Beschreibungen fremder kultureller Artefakte, und die Behandlung der Landeskunde unterliegt nach wie vor dem Stigma der vermeintlich mangelnden Unterrichtszeit. Ein kleiner historischer Rückblick auf die Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts Der Fremdsprachenunterricht ist traditionellerweise vor allem von den bildungspolitischen, pädagogischen, psychologischen und soziologischen Vorstellungen der entsprechenden Epoche und ihren gesellschaftlichen Trends beeinflusst worden. Diese Aspekte überschreiben im Endeffekt auch alle sporadischen Versuche, den Fremdsprachenunterricht an sprachwissenschaftlichen oder erwerbslinguistischen Erkenntnissen auszurichten. So verdankt die Grammatik-Übersetzungsmethode ihre Langlebigkeit den verbreiteten, aber empirisch nicht begründeten Vorstellungen von der Steuerbarkeit des Lerners, der Autorität des Inputs und der Bedeutung elitärer Bildungsziele. Mit den audio-lingualen und audio-visuellen Methoden setzt eine Ent-Elitarisierung und Veralltäglichung des Sprachenlernens ein. Die vorwiegend mit Alltagssprache operierenden Methoden sind direkte, wenn auch reduzierte Abbildungen behavioristischer Lernmodelle und militärischer Bedürfnisse ihrer Zeit. Der kommunikative Ansatz schließlich ist von den Demokratisierungsbestrebungen der Gesellschaften bestimmt. Sein wichtigstes Lernziel, die kommunikative Kompetenz, ist dem soziologischen Ansatz der Frankfurter Schule entlehnt (Habermas 1981). Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen stellt zwar keinen neuen didaktischen Ansatz dar, bildet aber über seine Ausrichtung auf den pragmatischen und utilitaristischen Bedarf eines zusammenwachsenden und mobilen europäischen Arbeitsmarktes den Zeitgeist des politisch und wirtschaftlich gewollten Einigungsprozesses in Europa ab und wirkt daher paradigmenbildend und auf den Unterricht stärker standardsetzend als alle didaktischen Ansätze zuvor. Er weist deutliche Parallelen zu den Proficiency-Guidelines des American Council of Teachers of Foreign Languages ( ACTFL ) auf, die ihrerseits-- wie bereits die audiolinguale Methode-- stark von den Bedürfnissen der Sprachschulen des US -Militärs beeinflusst wurden. Eine erwerbslinguistische oder stringente sprachwissenschaftliche Basis weist er nicht auf. Typisch für die zeitlichen Strömungen sind konsequenterweise auch all die Methoden, die in der Beliebigkeit des Mainstreams keine oder nur geringe Berücksichtigung finden können. Diese alternativen Methoden oder Randmethoden wie die Suggestopädie, Total Physical Response, Silent 13 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ Way oder Community (Language Learning) Approach reflektieren die Suche des Sprachunterrichts nach zeitgemäßen Verfahren, die vor allem die vernachlässigte Innerlichkeit der Gesellschaft ansprechen oder die Kritik an ihrem Fortschrittsglauben ausdrücken sollen. Die gefühlte Wahrheit der Methoden bei gleichzeitigem Mangel an wissenschaftlich-kritischer Überprüfung der Annahmen ergibt ein inkohärentes Bild der Fremdsprachendidaktik und -methodik, das zwangsläufig zu vielen Widersprüchen, Rückschritten und Frustrationen führen muss. Die rasante Abkehr von der Sprachlerntechnologie der 60er und 70er Jahre, das Austrocknen der alternativen Methoden, die Rückentwicklung der kommunikativen Didaktik oder die neo-behavioristischen Erscheinungen der kommerziellen Sprachsoftware gehören zu den Symptomen dieses Dilemmas. Die anhaltende unreflektierte Verbreitung eklektischer Übungsformen der Grammatik-Übersetzungsmethode oder des Pattern Drills in Unterricht und Lehrmaterial illustriert, wie wenig nachhaltig offenbar die Bemühungen um eine theoretisch fundierte und empirisch abgesicherte kommunikative Didaktik waren. Mit dem Auftauchen der interkulturellen Sprachdidaktik und der »vierten Generation von Lehrwerken« (Neuner & Hunfeld 1993) schien sich eine Veränderung gegenüber den Referenzdisziplinen anzubahnen. Zunehmende Migration und Globalisierungstendenzen machten eine entsprechende Öffnung nötig. Aber auch diese anfänglichen Bestrebungen haben sich in der Breite des Lehrmaterials und des Sprachunterrichts genauso wenig durchgesetzt wie wissenschaftlich fundierte Modelle von Grammatik und Sprache. Stattdessen beschäftigt sich die Unterrichtsmethodik geradezu aktionistisch mit temporären Neuerungen (wie den neuen Medien, dem Referenzrahmen, der farbigen Darstellung grammatischer Phänomene) oder Wiedererfindungen bekannter Aspekte (wie dem Inhaltsbezug oder der Diskussion der Bedeutung mündlicher Texte), ohne sich ernsthaft mit den wissenschaftlichen Grundlagen der Didaktik zu beschäftigen. Ein kurzer Rückblick auf die Vorschläge von Comenius zum inhaltsbezogenen Lernen aus dem 17. Jahrhundert etwa oder der Sprachreformer früherer Jahrhunderte sowie die Modelle aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts würde der neueren Diskussion des Content and Language Integrated Learning ( CLIL ) eine erhellende Perspektive bieten. Comenius hält unter Bezug auf einen christlichen Gelehrten bereits 1623 fest: Die Kenntnis einer Sprache mache noch keinen Weisen, sie diene lediglich dazu, uns mit den anderen Bewohnern der Erdoberfläche, lebenden und toten, zu verständigen; und darum sei auch derjenige, welcher viele Sprachen spreche, noch kein Gelehrter, wenn er nicht zugleich auch andere nützliche Dinge erlernt habe. (Comenius 1970: 269) Dabei verbindet Comenius bereits die Prozesse des Spracherwerbs und der allgemeinen Maturation (der Vision und des Intellekts des Kindes) und nimmt damit Jean Piagets Modell der kognitiven Entwicklung sowie die in der Spracherwerbsforschung etablierten, kognitive Entwicklungsphasen repräsentierenden Konzepte der Erwerbssequenzen vorweg. Darüber hinaus produzierte er bereits ein Lehrbuch (Orbis sensualium pictus), in dem er systematisch die Verwendung visueller Materialien beim Sprachenlernen und -lehren bedachte (Comenius 1981). Auch die Mitte des 19. Jahrhunderts im Kontext der industriellen und sozialen Umwälzungen entstandene, bildungspolitisch und methodisch motivierte Reformbewegung des Fremdsprachenunterrichts bildet zwar eine didaktische Brücke zwischen den Arbeiten von 14 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ Comenius und den Elementen des inhaltsbezogenen und handlungsorientierten Lernens moderner didaktischer Ansätze, verfolgt jedoch keine wissenschaftlichen Ziele. Ihr geht es vielmehr darum: Fremdsprachen jedem zugänglich zu machen, anstatt sie einer exklusiven Elite vorzubehalten, den Fremdsprachenunterricht weit über den Unterricht klassischer Literatur hinaus zu erweitern, indem Inhalte des Alltags- und Berufslebens sowie schulischer Fächer in den Fremdsprachenunterricht aufgenommen werden sollten, zum Beispiel in verschiedenen Verfahren des immersiven Lernens. Mitbegründer oder Anhänger dieser Bewegung wie Jesperson (1922), Passy (1899), Sweet (1899), Gouin (1892), Berlitz (1887), Viëtor (1882) prägten die Reformbewegung mit unterschiedlichen auf die Praxis ausgerichteten Ideen, Modellen und Unterrichtsverfahren. In seiner einflussreichen Einführung benennt Stern (1983) diese Phase wie folgt: The last decades of the nineteenth century witnessed a determined effort in many countries of the Western world (a) to bring modern foreign languages into the school and university curriculum on their own terms, (b) to emancipate modern languages more and more from the comparison with the classics, and (c) to reform the methods of language teaching in a decisive way. (Stern 1983: 98) Verschiedene Methoden sind in den 20er Jahren (bis in die 40er Jahre) des 20. Jahrhunderts als »praktische Antworten« auf die vorangehende Diskussion entwickelt worden: darunter die vermittelnde Methode (England), die Lesemethode (England) und BASIC English (British/ American / Scientific / International / Commercial), ein Versuch, das Sprachenlernen zu vereinfachen und zu rationalisieren. Mit diesen Methoden beginnen die ersten Ansätze, das Unterrichtsgeschehen, die sprachliche Basis, das Testen von Fertigkeiten und das Lern- und Lehrverhalten mittels verschiedener Pilotstudien systematisch zu untersuchen (unter anderem die Modern Foreign Language Study der American and Canadian Committees on Modern Languages 1924-1928, siehe Bagster-Collins, Werner & Woody 1930). Dieser Trend wurde in den 40er und 50er Jahren mit der Profilierung der Linguistik noch intensiviert. Hierzu gehören Schlüsselereignisse wie die Veröffentlichung von Psycholinguistics: A Survey of Theory and Research Problems, herausgegeben von Osgood, Sebeok, Gardner, Carroll, Newmark, Ervin, Saporta, Greenberg, Walker, Jenkins, Wilson & Lounsbury (1954), Verbal Behavior von Skinner (1957) und Lados erste systematische Erfassung der kontrastiven Linguistik Linguistics across Cultures: Applied Linguistics for Language Teachers (1957). The American Army Method, deren Errungenschaften später heiß umstritten waren, versuchte nachzuweisen, dass Sprachunterricht auch ohne die traditionellen schulartigen Methoden und mit wesentlich größeren Gruppen und in kürzerer Zeit effizient durchgeführt werden kann. Als Folge der behavioristischen Ideologie wurden besonders in den USA die audiolingualen und in Frankreich die audiovisuellen Lehrverfahren entwickelt, die lange Zeit den Sprachunterricht dominierten und unter anderem auch dem Vormarsch der Sprachlabortechnologie Vorschub leisteten und-- trotz gegenteiliger empirischer Evidenz-- bis heute dem konditionierenden Einsatz elektronischer Medien zugrunde liegen (zum Beispiel in Programmen wie Rosetta Stone oder Tell me more). Die stetige Zunahme von linguistischen Studien und die Begründung der Psycholinguistik als ein interdisziplinäres Forschungsgebiet leisteten später einen wesentlichen Beitrag zur 15 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ Identifizierung der aus den Methoden der behavioristischen Verhaltensformung entstehenden Probleme des Spracherwerbs (zum Beispiel Rivers einflussreiches Buch The Psychologist and the Foreign Language Teacher 1964). Als Folge der zunehmenden Kritik an den intuitiven Methoden gewann schließlich das kognitive Lernen-- bis heute weitgehend als das regelgeleitete, systematische Lernen missverstanden-- in der Diskussion um angemessene Ansätze an Gewicht. Chomskys nativistische Theorie auf der einen Seite und soziolinguistische und pragmalinguistische Strömungen auf der anderen haben im Anschluss daran vor allem die Erwerbsforschung und die Entwicklung neuer methodischer Verfahren geprägt. Chomskys Ausgangshypothese zufolge haben Kinder eine angeborene Fähigkeit der Sprachbildung (in der Muttersprache, L1). Wenn Kinder zum ersten Mal die Sprache hören, setzten allgemeine Prinzipien der Spracherkennung und Sprachproduktion ein, die zusammen das ergäben, was Chomsky den Language Acquisition Device ( LAD ) nennt. Der LAD steuere die Wahrnehmung der gehörten Sprache und stelle sicher, dass das Kind die entsprechenden Regeln ableite, die die Grammatik der gehörten Sprache bildeten. Dabei bestimmten Verallgemeinerungen, wie die Sätze in der entsprechenden Sprache zu bilden seien. Im Zweitsprachenerwerb werde die Reichweite des LAD einfach auf die neue Sprache ausgedehnt. Nativistische Theorien des Spracherwerbs haben jedoch wenig Einfluss auf die Entwicklung von Erwerbs- und Unterrichtskonzepten für Fremdsprachen gehabt. Den stärksten Einfluss haben sie in der Erforschung und Formulierung von Erwerbssequenzen ausgeübt. In deutlichem Kontrast dazu haben sich seit den 1970er Jahren parallel verschiedene Forschungsrichtungen ausgebildet, die sich an die Valenzgrammatik, die Pragmalinguistik (Sprechakttheorie, Diskursanalyse), die funktionale Linguistik, die Textlinguistik und die Psycholinguistik und andere Kognitionswissenschaften anlehnen. Mit wenigen Ausnahmen ist es aber auch dieser Forschung nicht gelungen, nachhaltig auf die Lehr- und Lernpraxis einzuwirken. Unter den Versuchen einer systematischen Nutzung wissenschaftlicher Ergebnisse für die Entwicklung von Lehrmaterial und Lehrverfahren sind die folgenden zu nennen: ▶ ein kurzlebiger Versuch, die Valenzgrammatik als Grundlage einer didaktischen Grammatik einzuführen (zum Beispiel das DaF-Lehrwerk Deutsch Aktiv) ▶ die eklektische Nutzung von Elementen der pragmatischen Erwerbsforschung in der Lehrwerksproduktion (siehe die DaF-Lehrwerke Tangram, Schritte international) ▶ die Berücksichtigung von Aspekten der Interkomprehensionsdidaktik in Lehransätzen ( EUROCOMM ) ▶ die Gestaltung des Sprachunterrichts nach handlungstheoretischen und konstruktivistischen Prinzipien (Szenariendidaktik, fallbasiertes Lernen, Fachsprachenunterricht). Fremdsprachenunterricht wird verbreitet noch als Domäne des Einzelerwerbs betrachtet. Die systematische Nutzung von Kenntnissen der Vorsprachen beim Erwerb weiterer Sprachen wird bisher nur ansatzweise bedacht und bearbeitet. In Begriffen wie Mehrsprachigkeitsdidaktik, Deutsch nach Englisch oder Interkomprehensionsdidaktik zeigen sich die Vorboten einer neuen Generation der Fremdsprachendidaktik, deren Grundlagen jedoch noch zu erarbeiten sind, wenn sie nicht bei kontrastiven Vergleichen verharren will. 16 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ Zur kognitiven Ausrichtung Um zu verstehen, wie die Sprache überhaupt in den Köpfen der Lerner entsteht und sich weiter verändert-- und darum geht es in dieser Buchreihe-- sind Erkenntnisse aus verschiedenen Nachbardisziplinen der Sprachlehrforschung erforderlich. Die Neurolinguistik kann zum Beispiel darüber Aufschluss geben, welche Gehirnareale während der Sprachverarbeitung aktiviert werden und inwiefern sich die Gehirnaktivität von L1-Sprechern und L2-Sprechern voneinander unterscheidet. Durch die Nutzung bildgebender Verfahren lässt sich die sprachrelevante neuronale Aktivität sichtbar und damit auch greifbarer machen. Was können wir aber daraus für die Praxis lernen? Sollen Lehrer ab jetzt die Gehirnaktivität der Lerner im Klassenraum regelmäßig überprüfen und auf dieser Basis die Unterrichtsinteraktion und die Lernprogression optimieren? Dabei wird schnell klar, dass eine ganze Sprachdidaktik sich nicht allein auf der Basis solcher Erkenntnisse formulieren lässt. Dennoch können die Daten über die neuronale Aktivität bei sprachrelevanten Prozessen unter anderem die Modelle der Sprachverarbeitung und des mehrsprachigen mentalen Lexikons besser begründen, die sonst nur auf der Basis von behavioralen Daten überprüft werden. Ähnlich wie die Neurolinguistik stellt die kognitive Linguistik eine Referenzdisziplin dar, deren Erkenntnisse zwar für die Unterrichtspraxis sehr relevant und wertvoll sind, sich aber unter anderem aufgrund des introspektiven Charakters ihrer Methoden nicht direkt übertragen lassen. Die kognitive Linguistik erklärt nämlich die Sprache und den Spracherwerb so, dass sie mit den Erkenntnissen aus anderen kognitiv ausgerichteten Disziplinen vereinbar sind. So dienen kognitive Prinzipien wie die Metaphorisierung oder die Prototypeneffekte der Beschreibung bestimmter Sprachphänomene. Der Spracherwerb wird seinerseits durch allgemeine Lernmechanismen wie die Analogiebildung oder die Schematisierung erklärt. Die kognitive Linguistik, die Psycholinguistik, die Neurolinguistik, die kognitiv ausgerichteten Kulturwissenschaften sind also Bezugsdisziplinen, die als Grundlage einer kognitiv ausgerichteten Sprachdidaktik fungieren. Sie sollen in den Bänden dieser Reihe soweit zum Tragen kommen, wie das nur möglich ist. Bei jedem Band stehen daher die Prozesse in den Köpfen der Lerner im Mittelpunkt der Betrachtung. 17 1. Mehrsprachigkeit Zentraler Gegenstand dieses Bandes ist Mehrsprachigkeit als das Ergebnis von multiplem Spracherwerb, also Sprachenerwerb. Die Mehrsprachigkeitsforschung hat sich in den vergangenen Jahren von einer Bestimmung von Mehrsprachigkeit als die Muttersprachler ähnliche Beherrschung mindestens zweier Sprachen hin zu einer dynamischeren und vielfältigeren Betrachtung des Phänomens entwickelt. Unmittelbare Bedeutung für das Thema dieses Moduls haben vor allem funktionale Klassifizierungen mehrsprachiger Kompetenzen in Abhängigkeit vom Lern-, Arbeits- oder Erwerbsumfeld, von den kommunikativen Zielen und von der gewählten Sprachenfolge. Damit kann die unterschiedliche Ausprägung mehrsprachlicher Kompetenzen vor allem in Abhängigkeit von der kommunikativen Absicht und Reichweite (Zweck, Ziele) und unabhängig vom strukturellen Einfluss der Sprachen dargestellt werden. Die Dominanz einer Sprache lässt sich demzufolge funktional begründen, betrifft aber- - anders als dies die früheren globalen Klassifizierungen getan haben-- unter Umständen nur bestimmte Fertigkeitsbereiche und ist temporär. In den folgenden Kapiteln erhalten Sie einen Einblick in das Phänomen der Mehrsprachigkeit aus mehreren Perspektiven. Zunächst geht es darum einzuführen, wie mehrere Sprachen in einzelnen Individuen, zwischen ihnen, in mehrsprachigen Gebieten und politischen Systemen koexistieren. Im Übergang zu Kapitel 2 fokussieren wir dann das Individuum. Nach einer Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen Mehrsprachigkeit und Migration in 2.1 wird in Lerneinheit 2.2 auf die Unterscheidung zwischen der inneren Mehrsprachigkeit, die sich auf die Beherrschung unterschiedlicher Register oder Varietäten einer Sprache bezieht, und der äußeren Mehrsprachigkeit, die dagegen Kenntnisse in unterschiedlichen Sprachen umfasst, eingegangen. Auf weitere Aspekte dazu wird später in Kapitel 6 genauer eingegangen. Dort erhalten Sie Gelegenheit, sich darüber Gedanken zu machen, wie schwierig es ist, einzelne Varietäten und Sprachen zu bestimmen und voneinander abzugrenzen. Davor aber beschäftigen Sie sich in Lerneinheit 2.3 sowie in Kapitel 3 und 4 mit verschiedenen dynamischen Modellen, die Mehrsprachigkeit als Ergebnis von Sprachenerwerb und Sprachenverarbeitung abbilden. Im Anschluss daran geht es in Kapitel 5 um Phänomene, die für den Sprachengebrauch von mehrsprachigen Individuen typisch sind: Code-Switching und Transfer. Kapitel 7 fokussiert dagegen die Entwicklung von Sprachen als Folge von Kommunikation in Sprachkontaktsituationen. Der Band schließt mit zwei Lerneinheiten zur Analyse von mündlichen und schriftlichen Lernersprachen und einem Überblick der empirischen Forschungsmethoden ab, die in diesem Forschungsfeld eingesetzt werden. Letzterer dient zur Reflexion der Komplexität des Untersuchungsgegenstands und zur kritischen Hinterfragung von Forschungsergebnissen und kann auch begleitend zur Darstellung von Forschungsergebnissen in den anderen Lerneinheiten gelesen werden. Eine umfassendere Darstellung relevanter Forschungsmethoden und Anleitungen zu deren Umsetzung finden Sie im Band »Propädeutikum«. 18 1. Mehrsprachigkeit 1.1 Kognitive Aspekte Kees de Bot (übersetzt von Simone Lackerbauer) & Jörg Roche In der ersten Lerneinheit beschäftigen wir uns mit Mehrsprachigkeit aus kognitiver Sicht. Die wichtigsten Inhalte betreffen die Besonderheiten des Denkens und Handelns in mehr als einer Sprache. Welche Unterschiede bestehen zwischen der Sprachverarbeitung eines einsprachigen und eines mehrsprachigen Individuums? Soll Mehrsprachigkeit von Bilingualismus unterschieden werden? Was wissen wir über die Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Sprachen, die wir in unterschiedlichen Kontexten lernen und verwenden? Wir beginnen mit Erkenntnissen zur frühen und konsekutiven Mehrsprachigkeit sowie Forschungsdesiderata in diesen Bereichen. Im Anschluss daran gehen wir auf die aus kognitiver Sicht zentralen Aspekte von Sprachtrennung und Sprachenwahl ein und erschließen uns, wie sie im Rahmen der Subset-Hypothese modelliert werden. Dabei werden wir feststellen, dass aktuelle Erkenntnisse ein Umdenken von einem statischen hin zu einem dynamischen Modell von Mehrsprachigkeit verlangen. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ mit dem Forschungsgegenstand der Mehrsprachigkeit vertraut gemacht werden; ▶ die Unterschiede zwischen einsprachiger und mehrsprachiger Sprachverarbeitung erkennen; ▶ sich mit Sprachwahl und Sprachtrennung beschäftigen; ▶ den Unterschied zwischen statischen und dynamischen Modellen der Sprachverarbeitung erklären können. 1.1.1 Mehrsprachigkeit definieren Bevor wir in das Thema einsteigen, müssen wir innehalten und überlegen, was Mehrsprachigkeit eigentlich ist. Es gibt dazu eine Vielzahl an Definitionen (für eine ausführliche Abhandlung siehe Aronin & Singleton 2012), die sich über minimalistische (Ich kenne ein paar Wörter in einer anderen Sprache) bis hin zu maximalistischen Bestimmungen (Ich bin wie ein Muttersprachler in beiden Sprachen), und alles, was dazwischen liegt, erstrecken. Festzuhalten ist hier, dass das Konzept von Mehrsprachigkeit fest an jenes von Sprachkompetenz als das Beherrschen einer Sprache gekoppelt ist (dazu mehr in Lerneinheit 1.2). Forscher wie François Grosjean (1982), einer der führenden Köpfe im Bereich der Mehrsprachigkeitsforschung, vertreten die Ansicht, dass Mehrsprachigkeit nur auf Grundlage von Sprachgebrauch definiert werden kann. Seiner Ansicht nach ist jemand, der täglich mehr als eine Sprache verwendet, zwei- oder mehrsprachig. Das heißt, dass es in Ländern, wie zum Beispiel den Niederlanden, kaum einsprachige Einwohner gibt, da Englisch überall sehr präsent ist, vor allem in den 19 1.1 Kognitive Aspekte Medien. Laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage (Eurydice 2011) behaupten etwa 70 % der niederländischen Bevölkerung, dass ihre Kenntnisse des Englischen ziemlich gut seien. Für die deutsche Sprache sinkt die Zahl auf 35 % und für Französisch sind es nur noch etwa 20 %. Ob diese Umfragen repräsentativ sind, bleibt anzuzweifeln. Weiterhin gilt es zu bedenken, ob ein Unterschied zwischen Zwei- und Mehrsprachigkeit gemacht werden sollte. De Bot und Jaensch (2015) haben unterschiedliche Studien dazu analysiert (linguistische, neurolinguistische, psycholinguistische) und festgestellt, dass die Behauptung, dass sich Sprachverarbeitung bei Zweisprachigen im Vergleich zu Mehrsprachigen fundamental unterscheide, empirisch nicht belegt ist. Nachfolgend werden wir immer die Bezeichnung Mehrsprachigkeit verwenden, wenn wir uns auf mehr als eine Sprache beziehen. Zur Abgrenzung der Sprachen benutzen wir die Abkürzung L1 für die chronologisch als erste gelernte Sprache und L2 für alle anderen. 1.1.2 Grundlagen der psycholinguistischen Modellierung von Mehrsprachigkeit Das Thema Mehrsprachigkeit wird häufig im Rahmen einer der folgenden Typologien behandelt (vergleiche dazu Bausch, Christ & Krumm 2007: 439ff): (1) Chronologie und Lebensalter des Erwerbs: a. simultan oder sukzessiv b. früh oder spät erworbene Mehrsprachigkeit (2) Domänenspezifische Fertigkeiten und Kompetenzen: a. rezeptive oder produktive Kompetenzen b. Kompetenzen in Teilfertigkeiten (3) Einfluss verschiedener Schwellen: a. bildungsversus alltagssprachliche Ausprägung der Sprachkompetenz b. Semilingualität bei Nichterreichen der untersten Schwelle (4) Stärke der Ausprägung der beteiligten Sprachen: a. stark oder schwach b. dominant oder nicht dominant c. additiv oder subtraktiv d. symmetrisch, asymmetrisch oder ausgeglichen (5) Organisation: a. kombiniert b. koordiniert } den Kontrast zur Erstsprache c. subordiniert Bemerkenswert an diesen traditionellen Klassifizierungen ist, dass sie sich primär an externen (Alter, Strukturen der Sprachen) und globalen Kriterien der Kompetenzmessung und -organisation (Stärke, Organisation, Schwellen) orientieren und dabei nur am Rande auf die Qualität, Intensität und Dynamik der Mehrsprachigkeit und des Sprachenerwerbs Bezug nehmen (vergleiche Lanza 2009). Die Phase der frühen Mehrsprachigkeit ist dabei dominant in der Forschung vertreten, weil angenommen wird, dass man hier den Sprachenerwerb mit 20 1. Mehrsprachigkeit den geringsten Beeinflussungen beobachten und die Entwicklungen klaren Alterskriterien zuordnen kann. Diese Phase stellt trotz der Natürlichkeit der Bedingungen eigene Herausforderungen an die Forschung: Sprachliche und kognitive Entwicklung sind stark miteinander verwoben. Die Bedingungen der frühen mehrsprachigen Entwicklung sind daher nicht ohne weiteres auf den Sprachenerwerb allgemein zu übertragen. Eine der Kernfragen der Mehrsprachigkeitsforschung, nämlich wie die Sprachen untereinander organisiert oder voneinander getrennt sind und wie Hybridbildungen entstehen oder verhindert werden, lässt sich aus diesem Grund bisher nicht eindeutig beantworten. 1.1.3 Frühe Mehrsprachigkeit Von den Modellen, die sich an Alter und Chronologie des Mehrsprachigkeitserwerbs orientieren und seine frühen Phasen in den Blick nehmen, ist die Unitary-Language Hypothese eine der einflussreichsten Vertreterinnen. In dem Modell beschreiben Volterra und Taeschner (1978) den kindlichen doppelten Erstsprachenerwerb als dreiphasiges Modell eines gemeinsamen Sprachensystems (siehe auch Redlinger & Park 1980): In the first stage the child has one lexical system which includes words from both languages. A word in one language almost does not have a corresponding word with the same meaning in the other language.-[…] As a result, words from both languages frequently occur together in twoto threeword-constructions. (Volterra & Taeschner 1978: 312) In der ersten Phase, welche die Zeit vom Sprechbeginn (den ersten Lauten) bis zum Alter von ungefähr zwei Jahren umfasst, besitzt das Kind demnach ein einziges syntaktisches und lexikalisches System, das Elemente beider Sprachen beinhaltet. Die Phase zeichnet sich durch das Fehlen (oder nur in einer sehr begrenzten Zahl anwesender) intersprachlicher Äquivalente aus. Als Äquivalente werden solche Wörter bezeichnet, die eine identische Bedeutung haben, wie zum Beispiel deutsch Oma und italienisch nonna. Eine weitere Beobachtung, die Volterra und Taeschner (1978) als Beleg für ein eindeutig fusioniertes Lexikon werten, ist die unterschiedliche Häufigkeit von Äquivalenten in den beiden Sprachen. So ist es im Fall ihrer Tochter, bei der deutsch ja eine wesentlich höhere Frequenz aufweist als das italienische si. Auch gemischtsprachige Äußerungen, wie macchina kaputt-- auto rotto, interpretieren die Autorinnen als Beleg für ein fusioniertes Lexikon. Eine alternative Sichtweise, der zufolge sich die Dominanz einer Sprache aufgrund funktionaler Bedingungen der Sprachenumgebung ergibt (Hauptsprachen der Bezugspersonen, Interessen, Kontexte), wird in der Studie nicht behandelt. Mit dem Erwerb der ersten Synonyme beginnt nach Volterra und Taeschner (1978) die zweite Phase, nämlich die der Trennung der beiden lexikalischen Systeme. Kennzeichnend für diese vielschichtige Phase ist die zunehmende Etablierung zweier getrennter lexikalischer Systeme. Das Kind ist in der Lage, zwischen zwei Systemen zu unterscheiden, wobei es aber dieselben grammatikalischen Regeln auf beide anwendet. Es kann aber nicht immer eindeutig bestimmt werden, ob das Kind die Regeln von der L1 oder die von der L2 verwendet. Vielmehr zeigt sich, dass das Kind eigene Regeln schafft, die es für beide Sprachen gebraucht. Das Kind 21 1.1 Kognitive Aspekte beginnt demnach zu unterscheiden, dass es für dieselben Objekte und Ereignisse ein Wort in der einen Sprache und ein Synonym in der anderen gibt. Sprachenmischungen treten in dieser Phase dennoch auf. Die dritte Phase ist laut Volterra und Taeschner (1978) durch die Existenz von zwei syntaktischen Systemen charakterisiert. Hier vollzieht sich die Trennung der zwei Sprachen des bilingualen Kindes. Das Kind ist in der Lage, zwischen beiden Sprachen vollständig zu unterscheiden, sowohl in lexikalischer als auch in syntaktischer Hinsicht. Dabei nimmt die Komplexität der Syntax mit dem Erwerb zu. Die sprachspezifischen Konzepte von Satzkonstruktionen lassen sich in dieser Phase zum Beispiel in der Sequenz Artikel, Adjektiv und Substantiv in ein schönes Haus versus Artikel, Substantiv und Adjektiv in un sole giallo im Italienischen beobachten. Nach Volterra und Taeschner (1978: 312) ist das Kind erst am Ende der dritten Phase als wirklich zweisprachig zu bezeichnen, da es dann in der Lage sei, die Sprachen unabhängig von seinen jeweiligen Kommunikationspartnern zu benutzen. Die Beobachtungen von Volterra und Taeschner sind nicht ohne Nachfolger geblieben. So geht auch Romaine (1995: 190) davon aus, dass Kinder, die gleichzeitig zweisprachig aufwachsen, am Anfang ein gemischtes (hybrides) Lexikon besitzen. Die Trennung der Sprachensysteme erfolge erst im Alter von circa zweieinhalb bis drei Jahren. Ein Kind steht demnach nicht nur vor der Herausforderung, die Sprachensysteme zu erwerben, sondern es muss vor allem lernen, seine beiden Sprachen getrennt verwenden zu können (pragmatische Kompetenz der language separation). Im Gegensatz zu diesem Modell geht Grosjean (1982) davon aus, dass das zweisprachige Kind anfänglich zwar ein einziges Regelsystem besitzt, dieses sich aber aus den Regeln der beiden Sprachen (additiv statt unitaristisch) zusammensetzt. Diese seien bereits verknüpft (vergleiche Grosjean 1982: 183). Eine genaue Unterscheidung, also die Separierung der Systeme dieser Sprachen trete demzufolge erst im Laufe der Entwicklung ein. Die dadurch entstehenden Sprachenmischungen im Sinne eines bilingualen Modus (bilingual mode) sind somit ein entwicklungsgemäßes Kennzeichen frühkindlicher Zweisprachigkeit. Dieser Standpunkt wird unter anderem auch von Kielhöfer und Jonekeit (1983: 65) übernommen, die die gemischten Sprachenelemente als naive Sprachenmischungen in der ersten Phase der Sprachenerwerbsentwicklung darstellen. Dass zweisprachige Kinder tatsächlich bereits in der Einwortphase (2. Lebensjahr) mit zwei Lexika operieren, zeigen weitere Untersuchungen (etwa Genesee 1989; Meisel 1989). Die wenigen Äquivalente, die in diesem Erwerbsabschnitt in beiden Sprachen anzutreffen sind, werden demnach als ein Beleg dafür gewertet, dass die Sprachen separat von Anfang an erworben werden und nicht aus einem hybriden Zustand entstehen. Diese Äquivalente zeigen, dass die Sprachen kommunikationsbezogen (komplementär) erworben und nicht parallel in allen Lebenssituationen gebraucht werden. Bereits in der lexikalischen Phase beginnt das Kind, die Laute der beiden Sprachen zu unterscheiden. Außerdem zeigt sich, dass beim Erscheinen der ersten Wortbildungen die morphologische Trennung der Systeme weitestgehend glückt, denn die zusammengesetzten Elemente stammen jeweils aus der gleichen Sprache und werden nicht interlingual gemischt und zu neuen Wörtern kombiniert. Auf syntaktischer Ebene ist nach Meisel (1989: 23) der Nachweis der frühen Sprachentrennung dadurch gegeben, dass Kinder bereits beim Auftreten von satzähnlichen Mehrwortkonstruktionen Wortstellungsmuster aus verschiedenen 22 1. Mehrsprachigkeit Sprachen anwenden. Ein Adverb am Anfang eines Satzes, das im Deutschen die Verbzweitstellung erfordert, wie etwa in hier lügt sie, kann in der L2 Polnisch eine variable Verbstellung bewirken, wie ona lez ˙y tutaj; tutaj lez ˙y ona oder ona tutaj lez ˙y. Im Englischen und Französischen steht das Verb dann normalerweise an dritter Stelle (here she is lying). Mehrsprachige Kinder berücksichtigen diese Unterschiede in den Sprachensystemen entsprechend, je nachdem welche Sprachen beteiligt sind. Das kann als ein weiteres Zeichen dafür gewertet werden, dass zweisprachige Kinder meistens schon vor dem zweiten Geburtstag beginnen, sich die Sprachregeln der beiden Sprachen zu eigen zu machen, unabhängig von der jeweils schon erworbenen Sprache. 1.1.4 Konsekutive Mehrsprachigkeit Poulisse (1997) betont, dass bei der Modellierung von konsekutiver Mehrsprachigkeit, bei der eine L2 zu einem Zeitpunkt gelernt wird, zu dem eine L1 bereits vorliegt, die folgenden Besonderheiten berücksichtigt werden müssen: 1. L2-Wissen ist normalerweise unvollständig. L2-Sprecher und -Sprecherinnen verfügen generell über weniger Wörter und Sprachregeln als L1-Sprecher und -Sprecherinnen. Das kann sie in ihren Formulierungen einschränken. Es kann dazu führen, dass sie Kompensationsstrategien anwenden oder dass sie Wörter oder Strukturen vermeiden, bei denen sie sich unsicher sind. 2. Die L2 ist weniger flüssig. Je nach Niveau und Kenntnissen der Lerner werden mehr Versprecher und Fehler gemacht. Theorien zu kognitiven Fähigkeiten, darunter Schneider und Shiffrin (1977) oder Andersons Modell zum adaptive character of thought ( ACT ) (1982), unterstreichen die Wichtigkeit der Entwicklung automatisierter Prozesse, die mühsam zu erlernen und schwer zu vergessen sind. Geringere Automatisierung bedeutet, dass der Ausführung spezifischer Aufgaben auf niedriger Ebene (also bei der Ausführung) mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Das führt zu einer Verlangsamung des Produktionsprozesses und zu einer größeren Anzahl von Versprechern, weil die begrenzten Aufmerksamkeitsressourcen für die Verarbeitung auf niedrigerer Ebene verbraucht werden müssen. 3. In der L2 sind oft Spuren der L1 zu finden. L2-Sprechern und -sprecherinnen steht in den meisten Fällen ein voll entwickeltes L1-System zur Verfügung und sie können, entweder beabsichtigt (funktionales Code-Switching) oder unbeabsichtigt (situationelles Code-Switching), zwischen den Sprachen wechseln. Ein Wechsel in die L1 kann beispielsweise von dem Wunsch motiviert sein, in Gesprächen Gruppenzugehörigkeit auszudrücken, an denen andere Mehrsprachige mit derselben L1 teilnehmen. Sie können auch unabsichtlich geschehen, wenn beispielsweise aus Versehen auf ein L1-Wort anstelle eines L2-Wortes zugegriffen wird. Poulisse und Bongaerts (1994) legen dar, dass solche unbeabsichtigten Wechsel in die L1 Substitutionen und Versprechern in monolingualer Sprache sehr ähneln (vergleiche die Diskussion solcher Phänomene nach Levelts Modell (1999) in Lerneinheit 4.1 im Band »Sprachenlernen und Kognition«; zu Code-Switching 23 1.1 Kognitive Aspekte siehe auch Lerneinheit 5.1 in diesem Band). Sie werden je nach Sprachenkombination merken, dass Sie beim Wechsel von einer Sprache in die andere Mühe mit der normgerechten Realisierung bestimmter Laute haben, so zum Beispiel beim Rollen oder Nicht- Rollen des / r/ im Französischen oder Englischen oder eventuell bei der Positionierung von Adverbien und diskontinuierlichen Verbformen, und so weiter. Poulisse (1997) behauptet, dass die unvollständige L2-Wissensbasis und das Fehlen von Automatisierung bei L2-Sprechern und -sprecherinnen mit bestehenden einsprachigen Produktionsmodellen, wie das von Levelt (1999), hinreichend erklärt werden können. Dagegen sei das Auftreten von L1-Spuren in der L2 für solche Modelle problematisch, was nach Paradis (1998) eine Anpassung bestehender Modelle erfordert. Experiment Suchen Sie sich einen einfachen Text mit circa 200 Wörtern heraus, der Ihnen in ihrer L1 und einer beliebigen, von Ihnen beherrschten L2 vorliegt. Nehmen Sie sich selbst dabei auf, während Sie den Text laut vorlesen. Versuchen Sie nun, den Sprachwechsel so durchzuführen, dass der Text zur Hälfte in der L1 und zur Hälfte in der L2 laut von Ihnen vorgelesen wird. Fällt es Ihnen schwer? Warum? Erkennen Sie ein Muster in Ihrem Sprachwechsel? Was sind, hinsichtlich der Strukturen, Wortwahl und Geschwindigkeit sowie Fehlern, die wesentlichen Unterschiede zwischen der Umsetzung in Ihrer L1 und nach dem Wechsel in die andere Sprache? Es ist anzunehmen, dass Muster der L1 in die L2 übertragen werden und, dass ähnliche Strukturen das Vorkommen von Code-Switching begünstigen. Sie konnten so vermutlich ein erstes Gefühl für die Permeabilität (Durchlässigkeit) zwischen den Sprachen entwickeln. 1.1.5 Sprachtrennung und Sprachwahl Bei der Betrachtung von Mehrsprachigkeit aus kognitiver Sicht müssen zwei zentrale Aspekte berücksichtigt werden: ▶ Wie trennen Sprecher und Sprecherinnen ihre Sprachen? ▶ Wie wählen sie eine Sprache? Psycholinguistisch gesehen sind das Trennen von Sprachen und die Sprachwahl unterschiedliche Aspekte desselben Phänomens. In der Literatur wurde eine Vielzahl von Annahmen darüber getroffen, wie mehrsprachige Personen ihre Sprachen auseinanderhalten. Frühere Annahmen wurden zugunsten von Modellen aufgegeben, die auf Paradis Subset-Hypothese (Teilmengen-Hypothese) (2004) basieren. Die Subset-Hypothese wurde auf der Grundlage von Erkenntnissen aus der Aphasieforschung bei Mehrsprachigen formuliert. Nach ihr bilden Wörter (aber auch syntaktische Regeln und andere strukturelle Phänomene) aus einer bestimmten Sprache ein Subset des Ge- 24 1. Mehrsprachigkeit samtinventars aller beherrschten Sprachen. Diese Subsets werden durch die Verwendung von Wörtern in bestimmten Situationen gebildet und aufrechterhalten. Wörter einer bestimmten Sprache werden in den meisten Situationen zusammen verwendet, aber in Situationen, in denen Code-Switching regelmäßig vorkommt, können Sprecher und Sprecherinnen ein Subset entwickeln, in dem Wörter aus mehr als einer Sprache vorkommen. Das Konzept eines Subsets im Wortschatz ist sehr kompatibel mit aktuellen Annahmen zu konnektionistischen Beziehungen im mentalen Lexikon (vergleiche Roelofs 1992). Jedes Subset kann unabhängig von den übrigen aktiviert werden. Einige (zum Beispiel Subsets aus typologisch verwandten Sprachen) können erhebliche Überschneidungen in Form von verwandten Wörtern aufweisen. Ein Beispiel eines Subsets könnte die Sprache der Briefmarkensammler sein: Sie verwenden spezifische Wörter für unterschiedliche Arten von Briefmarken, für die Qualität der Tinte und des Papiers, für die Herstellungsverfahren der Briefmarken und so weiter. Einem Außenseiter fällt es schwer, ihnen zu folgen, aber für Insider handelt es sich dabei um eine Art von Sprache, die ihrer Sache dienlich ist. Ein weiteres Beispiel kann die Entwicklung von Ethnolekten, einer Mischvarietät, die in mehrsprachigen urbanen Milieus entsteht, sein (siehe Kapitel 7 in diesem Band). Weil die Mitglieder der Gruppe bestimmte Wörter und Ausdrücke zusammen verwenden, werden sie zum Bestandteil dieses Subsets. Für diese Sprecher und Sprecherinnen stammen Wörter nicht aus der einen oder anderen Sprache, sondern gehören zu dem neuen, eigenständigen Teilsystem. Ein großer Vorteil der Subset-Hypothese ist, dass das Set der lexikalischen und syntaktischen Regeln oder der phonologischen Elemente, aus denen eine Wahl getroffen werden muss, aufgrund der Tatsache, dass eine spezifische Sprache beziehungsweise ein spezifisches Subset ausgewählt wurde, drastisch reduziert wird. Wir behaupten, dass die Subset-Hypothese erklären kann, wie Sprachen auseinandergehalten werden können, aber nicht, wie die Wahl einer bestimmten Sprache erfolgt. Die Aktivierung eines sprachspezifischen Subsets wird die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Elemente aus diesem Subset ausgewählt werden, ist aber keine Garantie dafür, dass nur Elemente aus einer Sprache verwendet werden. Gemäß der Subset-Hypothese verfügen mehrsprachige Sprecher über Einträge in ihrem mentalen Lexikon, die Lemmata und Lexeme umfassen und die sich nicht fundamental von jenen einsprachiger Sprecher und Sprecherinnen unterscheiden. Innerhalb jedes Verzeichnisses finden sich Subsets für unterschiedliche Sprachen, aber auch für unterschiedliche Varietäten, Stile und Register. Es wird vermutet, dass in unterschiedlichen Verzeichnissen Verbindungen zwischen den Subsets existieren. Das heißt zum einen dass, Lemmata, die ein Subset in einer bestimmten Sprache bilden, sowohl mit Lexemen als auch mit syntaktischen Regeln aus derselben Sprache verbunden sind und zum anderen bedeutet es, dass phonologische Regeln mit artikulatorischen Elementen aus dieser Sprache verknüpft sind. Diese Verbindungen werden so hergestellt, wie sich auch Verbindungen zwischen Elementen auf der Ebene der Lemmata entwickeln. Dies soll im Folgenden anhand von zwei Wortnetzen veranschaulicht werden. Das erste ist einsprachig (deutsch) und bildet die Verbindungen zwischen dem Lemma Krankenhaus und anderen Lemmata ab: 25 1.1 Kognitive Aspekte Hierbei handelt es sich um ein sehr kleines Netzwerk, in dem die Aktivierung von Krankenhaus zur Aktivierung von Krankenschwester beziehungsweise Krankenpfleger und nachfolgend Arzt beziehungsweise Ärztin und Untersuchung führt. Eine weitere Verbindung existiert zwischen Krankenhaus und Bett, da die Assoziation zu einer stationären Aufnahme stark ist und dies wiederum eine Übernachtung voraussetzt. Es könnte auch eine aktivierende Verbindung zwischen Arzt und Bett bestehen, was aber nicht notwendigerweise sein muss, da dies von persönlichen Erfahrungen abhängt: Es ist möglich, dass für den Einzelnen der Besuch eines Arztes oder einer Ärztin nicht direkt dazu führt, dass er in einem Bett liegt. Bei Abbildung 1.2 handelt es sich hingegen um ein etwas komplexeres Netzwerk mit Wörtern aus zwei Sprachen, nämlich Niederländisch und Englisch, deren Wörter Verbindungen aufweisen. Beachten Sie, dass es eine Verbindung zwischen den beiden Wörtern school gibt, die in den beiden Sprachen Kognaten (siehe Lerneinheit 4.2 im Band »Sprachenlernen und Kognition«) sind. Beachten Sie auch, dass teacher das Wort blackboard aktivieren kann, aber blackboard nicht unbedingt teacher aktiviert. Das bedeutet, dass zwischen Wörtern aus derselben Sprache Verbindungen entstehen, weil sie häufig zusammen verwendet werden, ebenso existieren Knotenpunkte zwischen Wörtern, die sich in den beiden Sprachen ähneln. Kulturspezifische Wörter wie zum Beispiel juf, was ursprünglich unverheiratete junge Frauen bezeichnete und in den Niederlanden heutzutage noch für Vorschullehrkräfte benutzt wird, finden zum englischsprachigen Netzwerk keine Verbindung. Das ist auf die unterschiedlichen Bildungskontexte zurückzuführen, die in den jeweiligen Ländern als Schule betrachtet werden. Eine detaillierte Beschreibung der Funktionsweise des multilingualen mentalen Lexikons finden Sie in Kapitel 4 im Band »Sprachenlernen und Kognition«. Wenn ein Subset im Wortschatz im Rahmen einer Gesprächssituation Abbildung 1.1: Einsprachiges Netzwerk Abbildung 1.2: Mehrsprachiges Netzwerk 26 1. Mehrsprachigkeit aktiviert wird, dann kann eine bestimmte Sprache aktiviert werden, aber auch ein Dialekt, ein Sprachregister, oder ein Sprachstil. Diese Subsets können sowohl top-down aktiviert werden (wenn ein Sprecher oder eine Sprecherin eine Sprache für eine Äußerung auswählt) als auch bottom-up (wenn die Sprache, die in der Umgebung verwendet wird, ein spezielles Subset triggert und aktiviert) (vergleiche de Bot 2004). Das Triggern erfolgt auf unterschiedlichen Ebenen: Laute, Wörter, Konstruktionen, aber vermutlich auch Gesten können ein Subset aktivieren. Interessant zu beantworten wäre an dieser Stelle die Frage, in welchem Maße es in gewöhnlichen Konversationen eine bewusste Entscheidung ist, dass ein spezielles Subset verwendet wird. Die Forschung zu Akkomodationsphänomenen (Street & Giles 1982) zeigt, dass Gesprächspartner und -partnerinnen ihre Sprechstile einander anpassen, allerdings erfolgt dies größtenteils unbewusst. Dasselbe kann auch in mehrsprachigen Situationen geschehen, in denen viele unterschiedliche Faktoren bestimmen können, welcher der am besten geeignete Sprechstil ist. 1.1.6 Vom statischen zum dynamischen Modell von Mehrsprachigkeit Mehrsprachigkeit setzt den Gebrauch und somit die Beherrschung mehrerer Sprachen voraus. Aktuelle Erkenntnisse psycholinguistischer Forschung zur Mehrsprachigkeit weisen darauf hin, dass die folgenden Annahmen, die zum Beispiel im Rahmen strukturalistischer oder nativistischer Ansätze zur Beschreibung von Sprachkompetenz vertreten werden, nicht haltbar sind. Im Folgenden werden die überholten Annahmen wiedergegeben und im Anschluss kritisch reflektiert. 1. Sprachverarbeitung erfolgt modular: Sie wird von einer Anzahl kognitiver Module durchgeführt, die über eine eigene spezifische Ein- und Ausgabe (Input und Output) verfügen, die mehr oder weniger eigenständig funktioniert. 2. Sprachverarbeitung erfolgt inkrementell und es gibt kein internes Feedback oder Feedforward. 3. Isolierte Elemente (Phoneme, Wörter, Sätze) werden erlernt, indem die übergreifende Linguistik und der soziale Kontext (ihr Kommunikationskontext) nicht berücksichtigt werden. 4. Die standardmäßige Sprechsituation ist der Monolog anstelle der Interaktion. 5. Die Sprachverarbeitung umfasst die Verarbeitung von unveränderlichen, statischen und abstrakten Repräsentationen. Wegen dieser zugrundeliegenden Annahmen wurden bislang isolierte Elemente (Phoneme, Wörter, Sätze) untersucht, ohne dass der übergreifende linguistische und soziale Kontext berücksichtigt wird, dessen sie Bestandteil sind. Außerdem lag der Schwerpunkt auf Monologen anstelle von Interaktionen als standardmäßige Sprechsituation. Die Modelle sind daneben statisch und in einem stabilen Zustand, in denen Veränderungen im Laufe der Zeit keine Rolle spielen. In den letzten Jahren haben sich jedoch neue Perspektiven auf die Kognition entwickelt, die zu einer anderen Sichtweise führten. Die wichtigste Entwicklung ist die Herausbildung einer dynamischen Perspektive auf die Kognition im Allgemeinen und auf die Sprachver- 27 1.1 Kognitive Aspekte arbeitung im Speziellen. Der wichtigste Grundsatz dabei lautet, dass jedes beliebige komplexe System (wie das mehrsprachige Gehirn) kontinuierlich mit seiner Umgebung interagiert und sich mit der Zeit kontinuierlich verändert. Dies führt mit sich, dass strukturalistische oder nativistische Betrachtungen von Sprachenerwerb nicht mehr haltbar sind. Van Gelder und Port beschreiben, wie sich eine dynamische Perspektive auf die Kognition von einer traditionelleren Sichtweise unterscheidet und abgrenzt: The cognitive system is not a discrete sequential manipulator of static representational structures: rather, it is a structure of mutually and simultaneously influencing change. Its processes do not take place in the arbitrary, discrete time of computer steps: rather, they unfold in the real time of ongoing change in the environment, the body, and the nervous system. The cognitive system does not interact with other aspects of the world by passing messages and commands: rather, it continuously coevolves with them. (van Gelder & Port 1995: 3) Zur Annahme der Stabilität von Repräsentationen in traditionellen Modellen, wurde bislang kaum geforscht. De Bot und Lowie (2010) berichten von einem Experiment, in dem eine einfache Benennungsaufgabe für hochfrequente Wörter gestellt wurde. Die Ergebnisse zeigen, dass es sehr selten Übereinstimmungen zwischen den unterschiedlichen Sitzungen mit demselben Probanden beziehungsweise derselben Probandin und zwischen weiteren Probanden und Probandinnen gab. Anders ausgedrückt: Auf ein Wort, auf das in einer Sitzung schnell reagiert wurde, konnte in einer anderen Sitzung oder von einem anderen Probanden beziehungsweise einer anderen Probandin langsam reagiert werden. Das deutet auf eine Variation hin, die im Wortschatz vorgegeben ist und die aus der Interaktion und der Umstrukturierung von Elementen in Netzwerken resultiert. Elman (1995: 207) formuliert dies wie folgt: We might choose to think of the internal state that the network is in when it processes a word as representing that word (in context), but it is more accurate to think of that state as the result of processing the word rather than as a representation of the word itself. Zusätzliche Belege für die Veränderlichkeit von Wörtern und ihrer Bedeutung stammen aus einer Ereigniskorrelierten-Hirnpotenziale-Studie von Nieuwland und Van Berkum (2006) (vergleiche Lerneinheit 1.3 im Band »Sprachenlernen und Kognition«), die Daten für Sätze wie Die Erdnuss war verliebt mit Die Erdnuss war salzig verglichen. Diese Art der Abweichung führt normalerweise zu N400-Reaktionen, die, vereinfacht gesagt, beschreiben, wie leicht eine Information verarbeitet wird. Kommt es zu Komplikationen bei der Verarbeitung, beispielsweise aufgrund semantisch widersprüchlicher Informationen, ist der N400 Wert größer als bei semantisch unauffälligen Reizen. Im weiteren Verlauf der Studie erzählten sie den Probanden die Geschichte von einer Erdnuss, die sich verliebt. Nachdem sie diese Geschichte angehört hatten, verschwanden die N400-Effekte, was zeigt, dass die grundlegenden semantischen Aspekte von Wörtern durch Informationsvermittlung verändert werden können. Traditionelle Modelle setzen Sprachkompetenz als inhärent, stabil und statisch voraus. Man könnte sagen, dass Zeit bei diesen Modellen keine Rolle spielt. Zeit vergeht während der Verarbeitung im System unter sehr strengen Vorgaben dazu, welche Elemente in einem bestimmten Moment in der Zeit zur Verfügung stehen sollten. Im Produktionsmodell bei 28 1. Mehrsprachigkeit Levelt (1999, siehe auch Lerneinheit 4.1 im Band »Sprachenlernen und Kognition«) werden zum Beispiel Konstruktionen durch die Aktivierung einer gewissen Anzahl an Vorgängen gebildet, so wie der Abgleich von Ergänzungen mit Verben (Subjekt und Objekt für transitive Verben und indirekte Objekte). Die Aktivierung der Wortform, die in den Slot einer Konstruktion passt, muss genau rechtzeitig stattfinden. Wenn ein Wort zu spät ankommt, bleibt der Slot leer und der Satz muss neu konstruiert werden. Zeit spielt dort bei den Repräsentationen und den Prozessen keine Rolle, da diese statisch sind, wenn sie einmal gebildet wurden. Wörter werden mehr oder weniger wie Bücher in einer Bibliothek wahrgenommen, sie werden herausgenommen und eingefügt. Wie wir später sehen werden, funktioniert diese Metapher einer Bibliothek bei einer dynamischen Auffassung von Sprache nicht. Wie die Theorie dynamischer Systeme (dynamic system theory) (siehe Lerneinheit 4.1) zeigt, ist die Auffassung von Sprachkompetenz als komplexes adaptives System dem Beschreibungsgegenstand angemessener (vergleiche die Diskussion bei Lowie & Verspoor 2011). 1.1.7 Zusammenfassung ▶ Grundlegende Annahmen des Ansatzes zur Informationsverarbeitung, in denen unsere derzeitigen Modelle der mehrsprachigen Verarbeitung verankert sind, müssen überprüft werden. ▶ Es müssen Modelle, welche die dynamische Perspektive berücksichtigen, in der Zeit und Veränderung die Kernfragen darstellen, entwickelt werden. ▶ Auf Dynamik basierende Modelle sollten folgende Aspekte beinhalten: ▷ Berücksichtigung der Zeit als Kerneigenschaft: Sprachverwendung findet auf unterschiedlichen, aber miteinander interagierenden Zeitskalen statt. ▷ Berücksichtigung von Repräsentationen, die nicht unveränderlich, sondern veränderbar und episodisch sind. ▷ Berücksichtigung von Feedback- und Feedforward-Informationen anstelle eines strikt inkrementellen Prozesses. ▷ Anerkennen, dass Sprachverwendung verteilt, situativ und verkörpert ist; deshalb sollten linguistische Elemente nicht in Isolation betrachtet werden, sondern in Interaktion mit den größeren Einheiten, derer sie Teil sind. ▷ Anerkennen, dass Interaktion anstelle des Monologs der Schwerpunkt der Forschung ist. 1.1.8 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Welche Faktoren erwähnt Poulisse in ihrer Beschreibung des Fremdsprachenlerners als mehrsprachigen Sprecher oder mehrsprachiger Sprecherin, die bei einem mehrsprachigen Modell berücksichtigt werden müssen? Nennen und erläutern Sie diese. 2. Was versteht man unter der Subset-Hypothese? 3. Was sind die wesentlichen Kritikpunkte traditioneller Modelle? 4. Wodurch sind auf Dynamik basierende Modelle gekennzeichnet? 29 1.2 Historische und kommunikative Aspekte 1.2 Historische und kommunikative Aspekte Jala Garibova (übersetzt von Simone Lackerbauer) In der ersten Lerneinheit haben Sie bereits einen guten Eindruck gewinnen können, dass die Ambiguität in der Definition der Mehrsprachigkeit unter anderem mit dem zugrundeliegenden Bild von Sprache zu tun hat, das sich von einem statischen hin zu einem dynamischen und fragmentierten entwickelt (vergleiche auch Blommaert 2010: 197). Wie in Lerneinheit 1.1 gezeigt wurde, wird Sprache nicht länger als ein abstraktes System struktureller Regeln, Vokabeln und Lauten, sondern vielmehr als eine dynamische Ressource, die unterschiedliche kontextgebundene Bedürfnisse und Funktionen ihrer Nutzer und Nutzerinnen bedient, wahrgenommen. Dieser Wandel wirft eine Reihe von Fragen auf, die sich hauptsächlich damit beschäftigen, welche Art von Sprachverwendung und welche Stufe der Sprachkompetenz einen Sprecher oder eine Sprecherin mehrsprachig machen. Wie hoch sollte die Kompetenzstufe in der zweiten oder fremden Sprache sein, um jemanden als mehrsprachig einzustufen? Welche Aspekte der Sprachkompetenz sind ausschlaggebend? Um diese und weitere Fragen zu klären, werden wir uns nun mit dem Wesen der Mehrsprachigkeit, ihren Ausprägungen, ihren Determinanten und ihrer historischen Betrachtung beschäftigen. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ die verschiedenen Formen von gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit sowie Kriterien zu deren Bestimmung benennen können; ▶ eigene Bestimmungen von mehrsprachigen Individuen, mehrsprachigen Gemeinschaften und mehrsprachigen Gesellschaften formulieren und begründen können; ▶ die grundlegende kommunikative Funktion von Mehrsprachigkeit erkennen; ▶ die historischen und globalen Einflüsse, die auf Mehrsprachigkeit einwirken, bestimmen können. 1.2.1 Zur Entstehung von Mehrsprachigkeit Während wir uns bisher mit den kognitiven und psycholinguistischen Aspekten der individuellen Mehrsprachigkeit beschäftigt haben, möchten wir das Phänomen nun auch aus den Perspektiven der Entwicklung, der Funktion und des Verhaltens von Mehrsprachigkeit beziehungsweise Mehrsprachigen behandeln. Mehrsprachigkeit ist normalerweise eine Antwort auf eine konkrete Kommunikationssituation. Menschen werden zunächst aus pragmatischen Gründen mehrsprachig. Sie erlernen eine Sprache oder Varietät, weil diese bestimmten Funktionen erfüllt, welche von den ihnen bereits verfügbaren Sprachen und Varietäten nicht erfüllt werden. Natürlich ist diese Wahl oft durch politische Prioritäten (zum Beispiel eine 30 1. Mehrsprachigkeit offizielle Landessprache zu erlernen), ökonomische Überlegungen (zum Beispiel eine Sprache zur Sicherung besserer Arbeitsbedingungen zu erlernen), oder soziokulturelle Motive (zum Beispiel eine im Bildungswesen vorherrschende Sprache, eine weitläufig gebräuchliche Alltagssprache, oder eine kulturell hochangesehene Sprache zu erlernen) motiviert. Mehrsprachigkeit kann jedoch auch aus anderen Gründen entstehen, etwa aus ästhetischen Überlegungen (einer Sprache verfallen) oder als Ausdruck von Identität, Mode, sozialer Marker etc. Umfragen an der Azerbaijan University of Languages in Baku haben ergeben, dass viele Studenten und Studentinnen die italienische Sprache als Wahlpflichtmodul nur deshalb auswählen, weil ihnen der Klang des Italienischen gefällt. Andere Menschen in Aserbaidschan perfektionieren ihr Türkisch, weil sie sich mit der gesamttürkischen Welt eher identifizieren, als mit Aserbaidschan als einem Teil der türkischen Welt. 1.2.2 Formen von Mehrsprachigkeit Bisher haben wir Mehrsprachigkeit nur auf eine Person bezogen, aber innerlich haben Sie als Leserin oder Leser sicher schon protestiert, dass es damit nicht getan sein kann. Schließlich hat Mehrsprachigkeit viel mehr Formen. Es gibt zum Beispiel Gruppen, die innerhalb einer Stadt oder sogar eines Staates eine eigene Sprache sprechen oder die vielen mehrsprachigen Staaten, die schon einmal ein halbes Dutzend Landessprachen haben können. Deshalb unterscheidet man in der Mehrsprachigkeitsforschung drei verschiedene Typen von Mehrsprachigkeit: individuelle Mehrsprachigkeit, territoriale oder gesellschaftliche Mehrsprachigkeit und institutionelle Mehrsprachigkeit (vergleiche Lüdi & Py 1984: 4). In der ersten Lerneinheit in diesem Band haben wir uns auf die individuelle Mehrsprachigkeit konzentriert, die üblicherweise als die Fähigkeit einer Person verstanden wird, mehr als eine Sprache auf einer gewissen Kompetenzstufe zu beherrschen. Territoriale oder gesellschaftliche Mehrsprachigkeit bezieht sich hingegen stets auf mehrsprachige Gesellschaften, wobei Riehl (2013a) hier verschiedene Formen zur Unterscheidung aufführt: ▶ mehrsprachige Staaten mit Territorialprinzip ▶ mehrsprachige Staaten mit individueller Mehrsprachigkeit ▶ einsprachige Staaten mit Minderheitsregionen ▶ Städtische Immigrantengruppen Von einem mehrsprachigen Staat mit Territorialprinzip sprechen wir dann, wenn es sich um einen Staat handelt, der in mehrere Sprachgebiete eingeteilt ist (Territorialprinzip). Wie aus Abbildung 1.3 hervorgeht, ist hierfür die Schweiz ein gutes Beispiel, da sie als Staat vier Landessprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch) besitzt und diese auf unterschiedliche Regionen im Land verteilt sind: 31 1.2 Historische und kommunikative Aspekte Ein anderer Fall von gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit liegt beispielsweise in vielen Ländern Afrikas vor. Hier spricht man von mehrsprachigen Staaten mit individueller Mehrsprachigkeit. In Namibia beispielsweise (siehe Abbildung 1.4) ist zwar seit der Unabhängigkeit Englisch die offizielle Amtssprache, allerdings gibt es einen großen deutschsprachigen Anteil in der Bevölkerung und auch das Afrikaans ist immer noch als Lingua Franca allgegenwärtig. Die Muttersprachen der verschiedenen ethnischen Gruppen hingegen sind nur in den ersten Schuljahren der Elementarausbildung zu finden (weitere Informationen zu den verschiedenen Muttersprachen finden Sie auch im Ethnologue Projekt von Simons und Fennig (2017), das Sie im Netz unter www.ethnologue.com aufrufen können). Im Gegensatz zum Territorialprinzip sind die Sprachen in diesem Fall nicht auf unterschiedliche Regionen aufgeteilt, sondern im ganzen Land allgegenwärtig, denn hier spricht nahezu jeder mehrere Sprachen (daher individuelle Mehrsprachigkeit, siehe Riehl 2013a). Die nächste Form von mehrsprachigen Gesellschaften, die wir uns ansehen wollen, sind einsprachige Staaten mit Minderheitsregionen. Dieses Phänomen kennt zweierlei Formen: Grenzminderheiten und isolierte Minderheiten. Grenzminderheiten sind beispielsweise Gemeinden, die außerhalb des eigentlichen Sprachraums, aber in unmittelbarer Nähe dazu, zu finden sind. Deutsche Grenzminderheiten gibt es in Südtirol, Ostbelgien, Dänemark und im Elsass. Isolierte Minderheiten hingegen, befinden sich nicht unbedingt an einer Grenze. Auch hier müssen wir wieder genauer unterscheiden. Zum einen gibt es die Minderheiten, die in nur einem Staat existieren wie das Bretonische, das es nur in Frankreich gibt. Zum anderen gibt es Sprachminderheiten, die in mehreren Staaten eine Minderheit darstellen, wie zum Beispiel die Basken. Und zuletzt gibt es noch die Abbildung 1.3: Die Schweiz als mehrsprachiger Staat mit Territorialprinzip ( FDFA , PRS 2015) Abbildung 1.4: Namibia als mehrsprachiger Staat mit individueller Mehrsprachigkeit (Digi-tal.ch 2007) 32 1. Mehrsprachigkeit Minderheiten, deren Sprache in einem anderen Staat die Mehrheit bildet, wie zum Beispiel die vielen deutschen Sprachinseln, die es auf der ganzen Welt gibt, zum Beispiel in Italien, Russland, Australien oder in den USA . Oft tritt Mehrsprachigkeit auch in Ballungszentren auf, in denen verschiedene Gemeinschaften zusammenleben und zusammenwirken. Gruppen von Einwanderern tragen üblicherweise zur Mehrsprachigkeit in großen Städten bei. Die städtischen Migranten siedeln häufig im gleichen Bezirk einer Stadt und sind Zwei- oder Mehrsprachensprecher und -sprecherinnen, weil sie die vorherrschenden Mehrheitssprachen erlernen müssen. Wenn, meistens in Großstädten, intellektuelle und kulturelle Eliten aufeinandertreffen, können wir jedoch auch eine andere Form von Mehrsprachigkeit beobachten-- nämlich die Kombination der Mehrheitssprache mit internationalen Sprachen. Ein bekanntes Beispiel städtischer Migranten ist der New Yorker Stadtteil Chinatown, mit der größten chinesischen Gemeinschaft in Nordamerika. Neben der individuellen und der territorialen Mehrsprachigkeit wollen wir nun noch auf die institutionelle Mehrsprachigkeit eingehen. Institutionelle Mehrsprachigkeit bedeutet, dass der Staat die Mehrsprachigkeit seiner Bürger gesetzlich anerkennt und diesen auch die Einsprachigkeit gewährt. Das bedeutet, dass in den staatlichen Institutionen mehrere Sprachen vertreten sind und die Bürger und Bürgerinnen sich in ihrer jeweiligen Sprache an sie wenden können. Dieses Phänomen ist vor allem dort zu finden, wo die Mehrheit der Bevölkerung eine andere Sprache als die Landessprache spricht. 1.2.3 Die Arbeitsteilung der Sprachen Wenn mehrere Sprachen oder Varietäten innerhalb derselben Gemeinschaft koexistieren, hat meistens eine der Varietäten den offiziellen Status inne und erfüllt formale Aufgaben, während die anderen üblicherweise in informellen Bereichen zu finden sind. Das bedeutet, dass nicht jede Sprache in allen Situationen gleich verwendet wird, da sie sich auf unterschiedliche Domänen aufteilen. Hier spricht man auch von der Arbeitsteilung der Sprachen oder von Diglossie (nach Ferguson 1959, siehe auch Riehl 2013a). Die Varietät mit dem offiziellen Status, die im formellen Kontext verwendet wird (beispielsweise im Bildungswesen, am Arbeitsplatz, in der institutionellen Kommunikation, in der Literatur etc.), wird normalerweise als hochsprachliche H-Varietät (high variety) bezeichnet, während die Sprache, die eher in informellen Kontexten zu finden ist, als L-Varietät (low variety) bezeichnet wird. Eine derartige Situation findet sich am Beispiel von Spanisch und Guaraní in Paraguay. Es gibt aber auch das Phänomen der Triglossie, wenn drei Sprachen oder Varietäten zusammenwirken, wie zum Beispiel Deutsch, Französisch und Letzeburgisch in Luxemburg. H- und L-Varietäten unterscheiden sich meist nicht nur in den Anwendungsbereichen und ihren Funktionen, sondern auch im Prestige, im Grad der Standardisierung und oft auch in der Art des Erwerbs, denn in der Regel ist die L-Varietät die Erstsprache (vergleiche Riehl 2013a). 33 1.2 Historische und kommunikative Aspekte 1.2.4 Mehrsprachigkeit und Sprachkompetenz: Wann ist man mehrsprachig? Wissenschaftler räumen ein, dass Mehrsprachigkeit nicht notwendigerweise das Sprechen mehrerer Sprachen auf demselben Niveau beinhaltet, und dass eine muttersprachenähnliche Kompetenz in mehr als einer Sprache schwer zu erreichen ist (zudem beherrschen wenige ihre Erstsprachen perfekt); aber sie gehen auch davon aus, dass muttersprachenähnliche Kompetenz in mindestens zwei Sprachen zwar selten, jedoch nicht unmöglich ist (vergleiche Cook & Singleton 2014: 3). Andererseits nutzt eine mehrsprachige Person erwiesenermaßen die Sprachen in ihrem Repertoire für unterschiedliche Zwecke, welche die Kompetenzstufe bestimmen, die für diese oder jene Funktion benötigt wird. Die Mehrsprachigkeitsforschung hat eine große Bandbreite an Definitionen hervorgebracht, die zum Teil voller Unzulänglichkeiten und Mehrdeutigkeiten sind (vergleiche Beardsmore 1986: 1ff; Andersson & Boyer 1970: 7ff sowie Skutnabb-Kangas 1981: 82ff; Cook & Singleton 2014: 3ff) und dies sogar innerhalb der Definition einzelner Theoretiker. Beispielsweise zitiert Beardsmore die Definition von Bloomfield, in der ein Gedanke dem nächsten widerspricht: In-[…] cases where-[…] perfect foreign-language learning is not accompanied by loss of the native language, it results in bilingualism, native-like control of two languages.-[…] Of course one cannot define a degree of perfection at which a good foreign speaker becomes a bilingual: the distinction is relative. (Bloomfield 1935: 55-56, zitiert nach Beardsmore 1986: 1) Außerdem ist eine der zwei Definitionen von Haugen (1953: 7) recht frei hinsichtlich der Kompetenz, für die er „die Produktion kompletter, bedeutsamer Äußerungen in der anderen Sprache“ vorsieht, während die andere (Haugen 1987: 14) strenge Vorgaben für „muttersprachliche Kompetenz in mehr als einer Sprache“ macht. Viele Definitionen der Mehrsprachigkeit beruhen auf der uneinheitlichen Bestimmung von Grundbegriffen wie: Kompetenzstufe (ausbalanciert, dominant, passive Mehrsprachigkeit, Semilingualismus, und so weiter), Funktion (aktive Verwendung versus passives Wissen), Alter (frühe versus späte Mehrsprachigkeit), Kontext des Erlernens (natürlicher versus schulischer, oder elitärer versus migrantischer), Haltung (selbstversus fremdbestimmt), Anwendung (primär versus sekundär), und so weiter (vergleiche Skutnabb-Kangass 1981: 80ff; Beardsmore 1986: 1ff; Chin & Willglesworth 2007: 3ff). Soziolinguistische Bestimmungen berücksichtigen daneben auch Aspekte des Ausdrucks von Identität, der Sprecherhaltung, der Verhaltenswahl, und so weiter. Die Definition von Mehrsprachigkeit auf der Grundlage von Sprachkompetenz wurde von Forschern und Forscherinnen innerhalb eines breiten Spektrums angelegt, das von der ausreichend effizienten Nutzung einer zweiten oder fremden Sprache, um in Alltagssituationen zurechtzukommen (zum Beispiel als Touristen oder Touristinnen in einem fremden Land), bis hin zur muttersprachenähnlichen Kompetenz in einer Fremdsprache reicht. Die Definition von Bloomfield (oder ein Teil davon) konzentriert sich auf die „muttersprachenähnliche Beherrschung von zwei oder mehreren Sprachen“ (Beardsmore 1986: 1). Maximilian Braun legte sie ebenfalls als „aktive vollendete Gleichbeherrschung zweier oder mehrerer Sprachen-[…] fest, ohne Rücksicht darauf, wie sie erworben ist.“ (Braun 1937: 115). De Bot 34 1. Mehrsprachigkeit und Sinfree definieren Mehrsprachigkeit als „bis zu einem gewissen Grad in mehr als einer Sprache bewandert zu sein“ (2005: 3). Der erste Fall tritt selten ein, ist aber möglich: Viele Menschen in Hauptstädten der sowjetischen Staaten beherrschten die russische Sprache und ihre Muttersprache in genau gleichem Maße. Wir nennen das ausbalancierte Zweisprachigkeit, im Gegensatz zur dominanten Zweisprachigkeit, bei der eine der Sprachen stärker als die anderen vertreten ist. Cook & Singleton schlagen eine Definition für das gesamte Kontinuum vor, das die Spanne zwischen minimaler und maximaler Zweisprachigkeit umfasst (2014: 3). Funktionale Definitionen von Mehrsprachigkeit fokussieren darauf, dass zwei oder mehr Sprachen in unterschiedlichen kommunikativen Kontexten eingesetzt und in unterschiedlichen Maßen beherrscht werden. Diese alternative Betrachtung, die auf Sprachverwendung anstelle von Sprachkompetenz basiert, deutet auf eine eher sozio-funktionale Ausprägung und auf die postmodernen Bemühungen linguistische Phänomene zu interpretieren hin. Die Definition von William Mackey, der Mehrsprachigkeit als ein Merkmal von Sprachverwendung bezeichnete, ist in dieser Hinsicht anschaulich: It seems obvious that if we are to study the phenomenon of bilingualism we are forced to consider it as something entirely relative.-[…] We shall therefore consider bilingualism as the alternate use of two or more languages by the same individual. (Mackey 1957: 51 zitiert nach Beardsmore 1986: 1) Weinreich bezeichnete Zweisprachigkeit ebenfalls als „das Einüben der alternativen Nutzung zweier Sprachen“ (Weinreich 1953: 1). Blommaert (2010: 103ff) führt das Konzept der unausgeglichenen Mehrsprachigkeit (truncated multilingualism) ein, das die Sprachen im Repertoire eines Sprechers oder einer Sprecherin nach der jeweiligen Kompetenzstufe, dem Verwendungsgebiet, der Beherrschung unterschiedlicher Varietäten, und so weiter anordnet. Die Definition der Mehrsprachigkeit auf der Grundlage von Sprecher- und Sprecherinnenhaltungen setzt den Schwerpunkt auf die Einstellung des Sprechers oder der Sprecherin selbst hinsichtlich der Frage, wie sehr er oder sie sich mit den unterschiedlichen Sprachen identifiziert, ob von sich selbst gesagt wird, dass mehrere Sprachen beherrscht werden, und wie die eigene Sprachkompetenz aufgefasst wird, im Gegensatz zu der Beurteilung durch andere Personen (vergleiche Skutnabb-Kangas 1981: 88ff). Auf der Grundlage der Sprecher- oder Sprecherinnenhaltung ist es möglich, sich der Frage auch aus der Perspektive anzunähern, wie diese Haltung die Sprachwahl beeinflusst. Hier wird das Phänomen der Mehrsprachigkeit in seiner Dynamik betrachtet, anstatt es zu einem bestimmten Zeitpunkt darzustellen. Die Haltung des Sprechers beziehungsweise der Sprecherin (oder der Sprachgemeinschaft) spielt eine entscheidende Rolle dabei, wie viel Platz einer zweiten Sprache eingeräumt wird (sicherlich zumeist primär aufgrund externer Bedingungen). Der Sprecher oder die Sprecherin hält die Zweitsprache entweder davon ab, den Platz der Erstsprache einzunehmen (additive Zweisprachigkeit), oder lässt für die zweite Sprache mehr Raum zu (subtraktive Zweisprachigkeit). Chin und Wigglesworth (2007: 14) schlagen vor, ihr Prinzip der sozialen Orientierung zu verwenden, um zwischen additiver und subtraktiver Zweisprachigkeit zu unterscheiden und liefern ein breites Spektrum an Gründen, welche beide Alternativen bedingen. In der subtraktiven Zweisprachigkeit würden wir auf einen Fall treffen, in dem der Sprecher 35 1.2 Historische und kommunikative Aspekte beziehungsweise die Sprecherin die zweite Sprache flüssiger spricht, was möglicherweise zu einem Wechsel von der ersten zur zweiten Sprache führen könnte. Menschen mit subtraktiver Zweisprachigkeit könnten deshalb-- im Verlauf von mehreren Generationen-- als potenziell monolingual betrachtet werden. Das ist nicht dasselbe wie dominante Zweisprachigkeit (obwohl diese beiden Formen der Zweisprachigkeit theoretisch ein Kontinuum der graduellen Verschiebung von Monolingualismus in der L1 über die Zweisprachigkeit hin zum Monolingualismus in der L2 abbilden könnten). Ein Fallbeispiel für dominante Zweisprachigkeit wären Menschen, die in der L1 flüssig sind und eine niedrigere Kompetenzstufe in einer L2 erreicht haben. Dies geht nicht mit einem erhöhten Risiko einher, wiederum Einsprachigkeit mit der später erlernten L2 zu entwickeln, solange diese im Sprecherrepertoire an zweiter Stelle steht. Es gibt noch eine andere Möglichkeit, Mehrsprachigkeit zu betrachten und zwar vom Verhalten der Sprecher oder Sprecherinnen ausgehend. Verhaltensbasierte Definitionen betrachten Sprecher und Sprecherinnen entweder als Sprachmixer oder als Sprachpuristen. Der Erwerb einer L2 kann das Gefühl einer nationalen Identität bei manchen Menschen oder Gruppen verstärken (insbesondere, wenn der Erwerb politisch motiviert oder erzwungen ist oder anderweitig als Bedrohung der L1 empfunden wird). Dies führt in der Folge zu puristischem Verhalten als Schutzmaßnahme gegen das Eindringen des Fremden. Für einige Menschen oder Gruppen stellt jedoch das Vermischen von Sprachen (insbesondere das Vermischen der Muttersprache mit einer höhergestellten Sprache) eine normale Verhaltensweise dar und wird positiv gewertet. Zum Beispiel ist es unter jungen Menschen aus Aserbaidschan, die in der Türkei, in der EU oder in den USA studiert haben, üblich, Aserbaidschanisch mit Englisch oder Türkisch zu vermischen. Im gesamten post-sowjetischen Raum verwenden die älteren, in den Hauptstädten lebenden Generationen immer noch eine Mischung aus ihrer Muttersprache und dem Russischen, um den Ausdruck ihrer Identität angesichts der zunehmenden Einwanderungen aus ländlichen Gebieten aufzuwerten. 1.2.5 Mehrsprachigkeit und Kommunikation historisch betrachtet Die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven auf das Phänomen der Mehrsprachigkeit hilft dabei, ihre kommunikativen Aspekte besser zu verstehen, denn Mehrsprachigkeit entsteht eigentlich durch Sprachenkontakt. Wie Sie sich vorstellen können, wird eine Person zunächst mehrsprachig, weil sie einen bestehenden Kommunikationsbedarf erfüllen muss. Der Kommunikation liegen wiederum unterschiedliche Motive zugrunde. Sie dient zur Erfüllung bestimmter Funktionen und wird nur dann möglich, wenn die notwendige Kompetenz dafür vorhanden ist. Wie wir gesehen haben, sind die Aspekte, die zur Bestimmung von Mehrsprachigkeit herangezogen werden, die gleichen wie die, die zur Charakterisierung des Kommunikationsprozesses verwendet werden können: 1. Kompetenz (wenigstens ein Mindestmaß davon) als essenzielle Voraussetzung dafür, Kommunikation einzuleiten und durchzuführen; 2. Funktion, da Kommunikation immer zielgerichtet ist und 36 1. Mehrsprachigkeit 3. Verhalten, das den Kommunikationsakt letztendlich ausmacht. Das führt mit sich, dass die Betrachtung von Mehrsprachigkeit auch die Erforschung von Kommunikation aus soziolinguistischer Perspektive umfasst. Braunmuller und Ferraresi (2003: 2) liefern eine breitangelegte historische Darstellung mehrsprachiger Verhaltensmuster in Europa. Sie behaupten, dass Mehrsprachigkeit vor der Herausbildung der Nationalstaaten in Europa, die die Auffassung „ein Staat-- eine Nation-- eine Sprache“ zur Folge hatte, als Normalfall empfunden wurde und dass „die Verwendung von anderen Sprachen außer jener der Mehrzahl der Einwohner keinesfalls etwas Besonderes für die Mittel- und Oberschichten Europas in den Jahrhunderten vor 1800 war“. Als ein Ergebnis von Sprachenkontakt war Mehrsprachigkeit immer schon eine notwendige Voraussetzung für Handel und andere Arten von Kontakten außerhalb der eigenen Gemeinschaften. Die Mitglieder der Mittel- und Oberschicht vor 1800 mussten zum Beispiel die kaiserliche Lingua Franca beherrschen, oder die Sprachen der jeweils anderen, um innerhalb großer Kaiserreiche arbeiten zu können. Vor der Entstehung von Nationalstaaten und der Entwicklung von Diskursen zur nationalen Identität wurde Sprache eher funktional als politisch-symbolisch betrachtet. Die Verwendung mehrerer Sprachen war daher in unterschiedlichen Bereichen der Normalfall. Im mittelalterlichen England wurde Latein beispielsweise als die Sprache der Kirche und der gesetzlichen Verwaltung verwendet, wobei letzteres auch vom Angelsächsischen abgedeckt wurde und anglonormannisches Französisch als Schrift- und Literatursprache verwendet wurde. Die deutsche Oberschicht verwendete andererseits vor Mitte des 18. Jahrhunderts Französisch als die Sprache der Kultur und der Bildung, und in der dänischen Marine wurde bis 1773 Deutsch gesprochen (vergleiche Braunmuller & Ferraresi 2003: 2). Dennoch hat sich die Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit seit dem 19. Jahrhundert bis heute gewandelt, zumindest in der Auffassung von Sprechern und Sprecherinnen höhergestellter Sprachen. Wir neigen nicht dazu, insgesamt verallgemeinernd über den aktuellen Status der Mehrsprachigkeit im globalen Sinne zu sprechen. Wie David Crystal (1997: 362) anmerkt, ist „Mehrsprachigkeit-[…] die natürliche Lebensform für hunderte Millionen überall auf der Welt“. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass Gemeinschaften in kleineren und industriell weniger entwickelten Ländern üblicherweise zwei oder mehrere Sprachen sprechen und Einsprachigkeit in vielen weiterentwickelten, insbesondere westlichen Ländern zu finden ist, in denen die Mehrheitssprache eine der weltweit am weitesten verbreiteten Sprachen ist. Für die Angehörigen der letzteren Gruppe gilt, dass sie immer noch die Einsprachigkeit als Normalzustand wahrnimmt und Mehrsprachigkeit als Spezialfall betrachtet wird. Die Einstellung gegenüber Mehrsprachigkeit ist heutzutage, dank vieler politischer Bemühungen, meist positiv. Wir sprechen heutzutage vermehrt davon, dass Mehrsprachigkeit als Potenzial und Bereicherung anzusehen ist. Vermutlich ist die Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit aber überall auf der Welt unterschiedlich. Wie wir in Lerneinheit 1.3 sehen werden, führen manche politischen Richtlinien auch dazu, Mehrsprachigkeit eher als Problem zu betrachten und manchmal werden Minderheitensprachen als Störfaktoren für die „Supersprachen“ gehalten. Die unterschiedlichen Meinungen gehen von der Auffassung 37 1.2 Historische und kommunikative Aspekte aus, dass nur eine Sprache (insbesondere Englisch) die Sprache für offizielle Angelegenheiten sein sollte, bis hin zur Vorgabe für alle europäischen Bürger zwei Fremdsprachen zu lernen. Trotzdem scheint Mehrsprachigkeit im politischen und soziolinguistischen Diskurs eine größere Gewichtung zu bekommen, da sie, ob es uns gefällt oder nicht, mit fundamentalen Werten wie den Menschenrechten, linguistischer und kultureller Diversität und dem Spracherhalt verbunden ist. 1.2.6 Mehrsprachigkeit und Sprachwandel In Sprachenkontaktsituationen wirken die in Kontakt befindlichen Sprachen selbstverständlich einen gegenseitigen Einfluss aus. Mehrsprachigkeit beeinflusst nicht nur das Sprachverhalten von Menschen als Individuen oder Gruppen beziehungsweise Bürger und Bürgerinnen, sondern auch die Sprachen selbst. Im Sprachenkontakt gehen von Mehrheits- und Minderheitensprachen unterschiedliche Impulse aus. Sprecher und Sprecherinnen von Minderheitensprachen werden den Einfluss auf ihre Sprache eventuell eher zulassen als es Sprecher und Sprecherinnen von offiziellen, standardisierten oder Nationalsprachen tun würden. Weinreichs Beobachtung des Sprachenkontakts im deutsch-, französischsprachigen Teil der Schweiz ist dahingehend interessant: Die Erkenntnis, dass die eigene Muttersprache keine standardisierte Sprache ist, die in allen Situationen der formalisierten Kommunikation angewandt werden kann (staatliche Aktivitäten, Literatur, Radio, Schule, und so weiter) sorgt oftmals dafür, dass die Sprecher anderen Einflüssen gegenüber gleichgültig eingestellt sind. In der Schweiz ist die funktionale ‚Unterlegenheit‘ des Schwyzerdütsch (eine überwiegend gesprochene Sprache) im Vergleich zum Französischen-- eine Sprache mit uneingeschränkten Funktionen-- so tief im Bewusstsein vieler Sprecher verankert, dass der Ablauf, Wörter aus dem Französischen für das Schwyzerdütsch zu borgen, in Grenzgebieten als so natürlich wahrgenommen wird, wie die Unwirtlichkeit des Französischen, Lehnwörter aus dem Schwyzerdütsch zu übernehmen. (Weinreich 1953: 88) Von der dialektalen Varietät können solche Entlehnungen dann auch in die Standardsprache übernommen werden. Das gilt im schweizerischen Standarddeutschen zum Beispiel für Wörter wie Velo (‚Fahrrad‘), Perron (‚Bahnsteig‘) oder pressieren (‚es eilig haben‘). 1.2.7 Globalisierte Mehrsprachigkeit Es wird behauptet, dass die Globalisierung sowie die neuen Kommunikationstechnologien zur Mehrsprachigkeit beitragen. Globalisierung, die Kommunikation sprach- und kulturübergreifend erleichtert und bedingt, fördert den Sprachenkontakt, der wiederum darin resultiert, dass die Anzahl der Mehrsprachigen in vielen Teilen der Welt jene der Monolingualen übertrifft. Die Internationalisierung ermutigt auch politische Ansätze zur Förderung von gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit. Viele weitere Sprachen werden in unterschiedlichen Funktionsbereichen mit eingeschlossen, so zum Beispiel in der Bildung, in Angestelltenverhältnissen, 38 1. Mehrsprachigkeit in den Medien etc. Die Kenntnis von mehr als einer Sprache ist in vielen Unternehmen weltweit zu einer Einstellungsvoraussetzung geworden. In vielen Ländern setzt der Arbeitsmarkt voraus, dass die Bewerber und Bewerberinnen Kenntnisse in der Lokalsprache und in einer internationalen Sprache vorweisen können; Personalchefs und -chefinnen schätzen ebenfalls die Beherrschung der lokalen oder regionalen Verkehrssprache (so wie Russisch in den postsowjetischen Gebieten, Zentralasien, am Kaukasus etc.). Dies ermutigt die Menschen dazu, Sprachen zu lernen und es motiviert Universitäten und Schulen, ihre Sprachrichtlinien in Bezug auf Mehrsprachigkeit anzupassen. Trotzdem sollten wir uns fragen, ob die Globalisierung und die neuen Kommunikationstechnologien sich wirklich nur positiv auf die Mehrsprachigkeit auswirken. Neue Medien erleichtern einerseits den Zugang zu Fremdsprachen, andererseits sehen wir, wie immer mehr Sprachen auf Kosten anderer verschwinden. Außerdem ermutigt der internationale Druck auf die Sprachpolitik in den letzten Jahren Entscheidungsträger und -trägerinnen dazu, sich mehr Gedanken über das Schicksal bedrohter Sprachen, über die Rechte von Minderheiten und den Erhalt der Sprachenvielfalt zu machen. Während sich viele neue Nationalstaaten herausbilden und Sprachen in den offiziellen Status erheben, wird Mehrsprachigkeit immer häufiger von einer Notwendigkeit zu einer Wahl. 1.2.8 Zusammenfassung ▶ Der Untersuchungsgegenstand Mehrsprachigkeit lässt sich in Hinblick auf Einzelpersonen (individuelle Mehrsprachigkeit), auf Personengruppen (gesellschaftliche Mehrsprachigkeit) oder den Grad der Institutionalisierung (institutionelle Mehrsprachigkeit) betrachten. ▶ Es werden vier Formen mehrsprachiger Gesellschaften unterschieden: mehrsprachige Staaten mit Territorialprinzip, mehrsprachige Staaten mit individueller Mehrsprachigkeit, einsprachige Staaten mit Minderheitsregionen (Grenzminderheiten oder isolierte Minderheiten) und städtische Migranten. ▶ Diglossie (beziehungsweise Tri- oder Polyglossie) bezeichnet den Zustand, wenn die Sprachen nicht in allen Situationen verwendet werden, sondern eine Verteilung der Sprachen auf bestimmte Domänen stattfindet. ▶ Der Mehrsprachigkeitsbegriff erfährt eine Vielzahl an Definitionen. Neben engen und weiten Definitionen, die eine Abgrenzung auf Grundlage der Kompetenz in der Sprache treffen, werden auch funktionale Definitionen angeboten, die heutzutage bevorzugt herangezogen werden. ▶ Obwohl Mehrsprachigkeit in den meisten Gesellschaften den Normalfall darstellt, wird sie oft nicht als solcher angesehen. ▶ Mehrsprachigkeit vermittelt soziale Werte und hat eine ethische Dimension: Sie wirkt in den Bereichen Menschenrechte, kulturelle Vielfalt und Koexistenz. 39 1.2 Historische und kommunikative Aspekte 1.2.9 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Nennen Sie die vier Formen mehrsprachiger Gesellschaften und charakterisieren Sie die wesentlichen Eigenschaften. 2. Was versteht man unter Diglossie? Erklären Sie den Begriff und nennen Sie Beispiele. 3. Welche Rolle spielt die Haltung des Sprechers beziehungsweise der Sprecherin (oder der Sprachgemeinschaft) in Bezug auf Formen von Zweisprachigkeit? 4. In welchem Sinne können Globalisierungstendenzen die Ausbreitung und die Entwicklung von Mehrsprachigkeit nachteilig beeinflussen? 5. Mehrsprachigkeit wird nicht immer als vorteilhaft betrachtet. Einige fassen sie als eine Bürde oder eine Gefahr auf. Warum denken Sie, könnte das so sein? Nennen Sie verschiedene Aspekte, die Mehrsprachigkeit als Nachteil erscheinen lassen könnten und machen Sie sich darüber Gedanken, wie man dieser Einstellung entgegenwirken kann. 40 1. Mehrsprachigkeit 1.3 Sprachenpolitische Aspekte Jala Garibova (übersetzt von Simone Lackerbauer) & Svenja Uth Diese Lerneinheit bietet als Einführung einen breiten Überblick über den Umgang mit Mehrsprachigkeit aus sprachenpolitischer Perspektive. Es geht schwerpunktmäßig um gesellschaftliche und territoriale Mehrsprachigkeit und weniger um individuelle, wobei diese nicht gänzlich von ersterer getrennt werden kann, wie wir in dieser Lerneinheit beispielsweise beim Thema Sprachenrechte erfahren werden. Ausgangspunkt bildet die Überlegung, ob einsprachige Richtlinien überhaupt sinnvoll sind, wenn man bedenkt, dass es fast keine rein einsprachige Gesellschaft gibt. Ebenfalls soll aufgezeigt werden, wie Mehrsprachigkeit von verschiedenen Staaten interpretiert wird und welche Aspekte sprachenpolitische Richtlinien widergeben; wie Sprachenpolitik den Sprachen und ihren Sprechern gerecht wird; inwiefern Mehrsprachigkeit in der Sprachenpolitik zur Sprachwahrung beitragen kann und welche sozialen Herausforderungen Mehrsprachigkeit für die Gesellschaft mit sich bringt. Abschließend gehen wir auf die Bildungspolitik ein und befassen uns kritisch mit der vielerorts wahrgenommenen Gefährdung von Sprachen. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ unterschiedliche Formen gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit und den ihnen zugrundliegenden Machtverhältnisse zwischen Sprachen erkennen und zwischen gelebter Mehrsprachigkeit und bildungspolitischen Richtlinien unterscheiden können; ▶ jene Faktoren, die zum erfolgreichen Umgang mit Mehrsprachigkeit geführt haben, erklären können; ▶ Kriterien zur Einstufung der Gefährdung einer Sprache ergründen und benennen können. 1.3.1 Richtungen in der Sprachenpolitik Obwohl sich einige Staaten per Gesetz als einsprachig erklärt haben, ist klar, dass es praktisch unmöglich ist, irgendwo auf der Welt ein einsprachiges Gemeinwesen zu betreiben, innerhalb dessen nur eine einzige Sprache gesprochen wird und nur Vertreter einer Sprachgruppe leben. In seiner gesellschaftlichen Analyse erwähnt Spolsky (2004) einsprachige Staaten, in denen Minderheiten marginalisiert werden, und solche, in denen sie eine gewisse Anerkennung erfahren. Einsprachige Sprachenpolitik mit Marginalisierung von Minderheiten Zu den Ländern mit einer einsprachigen Sprachenpolitik gehören unter anderem die postkolonialen Länder, in denen Minderheiten marginalisiert werden und nun die ehemalige 41 1.3 Sprachenpolitische Aspekte Kolonialsprache oder eine andere Sprache, wie zum Beispiel Englisch den wichtigsten Status innehat (vergleiche Einheit 1.2), was die Verwendung anderer Sprachen in fast allen Bereichen einschränkt. Dies betrifft unter anderem viele afrikanische Länder, in denen die einstige Kolonialsprache zur einzigen Amtssprache in allen formellen Kontexten geworden ist. Dies ist unter anderem in Mosambik, Namibia und Sambia der Fall (vergleiche Banda 2009: 1ff). Auch viele Industrieländer sind per Gesetz einsprachig, so Frankreich, Israel, die Türkei und Japan. Am Beispiel Namibia lässt sich dieses Phänomen gut veranschaulichen. Namibia besitzt nach der Kolonialzeit bis zur Ausgliederung und Unabhängigkeit von Südafrika im Jahr 1990 drei Amtssprachen: Englisch, Deutsch (die ehemalige Kolonialsprache) und Afrikaans. Nach der Unabhängigkeit entscheidet sich die amtierende Partei dazu, dass der Staat einsprachig werden soll (im Gegensatz zu anderen afrikanischen Staaten, wie zum Beispiel dem heutigen Südafrika, wo zur selben Zeit elf Sprachen den offiziellen Status erhielten). Es wird entschieden, dass Englisch die einzige Amtssprache sein solle. Dies ist insofern erstaunlich, wenn berücksichtigt wird, dass zu diesem Zeitpunkt lediglich 2 % der Bevölkerung Englisch als Erstsprache sprechen (Geel 1991) und eine reiche Vielfalt an Sprachen im Großteil der Bevölkerung vertreten ist. Der Grund für dieses Vorgehen bestand vor allem darin, dass Sprache auch zu dieser Zeit bereits als wichtiges identitätsstiftendes Element begriffen wurde. Mit der Maßnahme, Englisch als einzige Amtssprache akzeptieren, sollte die Bildung einer Nation vorangetrieben werden. Dabei wurden die verschiedenen Erstsprachen ausgeblendet, in der Hoffnung die Bevölkerung gebe so die Identitäten auf, die damit verbunden waren. Ein Zitat seitens der Nationalversammlung über die damals geführte Debatte lautet: So, the English language we are talking about is a language which is neutral enough to bring us together. It can facilitate communication between all of us and also internationally. (Debates of the National Assembly 1992: 47) Einsprachige Sprachenpolitik mit Anerkennung von Minderheiten Dem zweiten Typ einsprachiger Länder, die Spolsky als einsprachig mit anerkannten Minderheiten bezeichnet, gehören viele der postsowjetischen, mehrere südamerikanische, einige europäische und viele afrikanische Staaten an. In diesen Staaten erkennt die Verfassung entweder einen gewissen Status einer oder mehrerer Minderheitensprache(n) an oder sieht die Wahrung der Rechte anerkannter Minderheiten vor. Einige Länder führen mehr als eine Sprache in ihrer Verfassung auf, so dass sie offiziell zu den mehrsprachigen Gesellschaftsordnungen zählen (vergleiche den Abschnitt zu einsprachigen Staaten mit Minderheitsregionen und mehrsprachigen Staaten mit Territorialprinzip in Lerneinheit 1.2). Dazu gehören viele Länder wie Kanada, Singapur, Spanien, Kirgisistan und die Schweiz, um nur ein paar zu nennen. Dies soll nun kurz am Beispiel Spaniens unter die Lupe genommen werden. In Spanien werden derzeit vier Amtssprachen aufgeführt: Kastilisch (auch als Spanisch bezeichnet), Katalanisch, Galizisch und Baskisch. Aber auch hier war die Mehrsprachigkeit nicht immer selbstverständlich, denn vor allem unter der Diktatur Francos gab es ein Streben nach Ein- 42 1. Mehrsprachigkeit sprachigkeit. Die zentralistische Sprachenpolitik verbot die Mehrsprachigkeit, indem im offiziellen Gebrauch nur Kastilisch erlaubt wurde, alle weiteren Sprachen sind verboten worden. Die Umsetzung dieses Gesetzes traf vor allem Institutionen wie Schule, Radio, Zeitung, Behörden etc. Doch die Bevölkerung hielt an ihren Sprachen fest und so wurden die Gesetze nach Franco wieder rückgängig gemacht, womit die sprachliche Vielfalt Spaniens offiziell anerkannt wurde. Heute ist ein Großteil der spanischen Bevölkerung mehrsprachig und es wird neben dem Kastilischen auch die jeweilige Regionalsprache als Amtssprache zugelassen (Siguán 2001: 233). Sprachenpolitische Richtlinien Für den sprachenpolitischen Umgang mit Mehrsprachigkeit existieren zwei Hauptrichtlinien. Die erste wäre linguistic human rights ( LHR ) und die Empfehlungen zu reversing language shifts ( RLS ). Skutnabb-Kangas definiert linguistic human rights als die Kombination aus language rights ‚Sprachenrechte’ ( LR ) und human rights ‚Menschenrechte’ ( HR ). LHR s sind all jene (und nur jene) LR s, die erstens dafür notwendig sind, dass die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen erfüllt werden und dass sie würdevoll leben können und die zweitens so grundlegend, so fundamental sind, dass kein Staat (oder Individuum oder Gruppe) sie verletzen sollte. (Skutnabb-Kangas 2006: 272) Deshalb sind nicht alle Sprachenrechte auch Menschenrechte. Sprachenrechte sind umfassender und können über die grundlegenden Menschenrechte hinausgehen. Sobald ein Sprachenrecht in Verbindung mit der Befriedigung eines grundlegenden menschlichen Bedürfnisses steht, zählt es zu den linguistic human rights. Dazu zählen unter anderem, aber nicht nur, das Recht auf Bildung in der oder über die Erstsprache, der Zugriff auf Ressourcen in der Erstsprache, der Ausdruck der eigenen ethnischen Identität über Sprache, der Zugriff auf legale, soziale und soziokulturelle Dienstleitungen in der eigenen Sprache, der Schutz vor aufgezwungener Assimilation der Sprache etc. Linguistic human rights wurden insbesondere, seitdem Sprachenrechte als Teil der Menschenrechte in die entsprechenden Dokumente von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen oder der Europäischen Gemeinschaft aufgenommen wurden, zum Dreh- und Angelpunkt politischer Richtlinien. Der andere wichtige Faktor in den gegenwärtigen sprachenpolitischen Richtlinien dreht sich um die Gefährdung von Sprachen. Es gibt mehrere Indikatoren dafür, dass eine Sprache gefährdet ist. Dazu zählen die Anzahl und das Alter der L1-Sprecher, der prozentuale Anteil der jüngsten Generation, die diese Sprache beherrscht, die demografische Lage (ob die L1- Sprecher dicht zusammen oder in isolierten Gebieten leben), die Verwendung der Sprache innerhalb von Familien, die Lebensbereiche, in denen die Sprache Funktionen einnimmt, die Verwendung einer Zweitsprache in der Gemeinschaft, die offizielle Anerkennung der Sprache und so weiter. Deshalb hat sich die Sprachenpolitik in letzter Zeit verstärkt auf Prozesse konzentriert, die Sprachgefährdung abmindern oder ihr vorbeugen. Insbesondere geht es dabei um die Bestrebungen zur Wiederbelebung von Sprache. Sprachwechsel bezeichnet den 43 1.3 Sprachenpolitische Aspekte Wechsel einer Sprachgemeinschaft von der Erstsprache zu einer anderen Sprache. Reversing language shifts-Bestrebungen zielen darauf ab, einer Sprachgemeinschaft, deren Sprache bedroht ist, dabei zu helfen, den Sprachwechsel aufzuhalten. Man zielt darauf ab, Sprachen vor dem endgültigen Verschwinden (Sprachentod) zu bewahren und hilft sogar dabei bereits ausgestorbene Sprachen wiederzubeleben. Reversing language shifts befasst sich mit allen Gefährdungsstufen und schlägt entsprechende Gegenmittel vor. Dazu zählt etwa die Unterstützung der Verwendung der Sprache innerhalb von Familien, die Erzeugung eines kulturellen Milieus für die Verwendung der Sprache innerhalb der Gemeinschaft, das Ergreifen von Maßnahmen zur Steigerung des Ansehens der Sprache (indem sie beispielsweise zu einem nationalen Kulturgut erklärt wird, wie im Fall der Maori-Sprache in Neuseeland), die Unterstützung der Verwendung dieser Sprache im Bildungssystem (mehrsprachige Bildungsmodelle) und so weiter (siehe Skutnabb-Kangas 2006). 1.3.2 Sprachenpolitik und deren Einfluss auf Machtverhältnisse zwischen Sprachen Der verfassungsmäßige Status einer Sprache hat einen Einfluss darauf, in welchen Situationen eine Sprache benutzt wird und welche Einstellungen die Bürger und Bürgerinnen eines Landes zu dieser Sprache haben. Daneben spiegelt er nicht immer die tatsächliche Sprachensituation wider. Sogar Staaten, die sich als absolut einsprachig bezeichnen, müssen sich mit der Frage nach dem Umgang mit Minderheitensprachen in der Bildung, in der öffentlichen Verwaltung und in den kulturellen Domänen auseinandersetzen, um mögliche Sprachenkonflikte zu lösen oder ihnen vorzubeugen. Die Aufteilung von Staaten in verfassungsmäßig einsprachige oder mehrsprachige Gemeinschaftsordnungen ist daher wenig relevant für unsere Analyse des Vorkommens von Mehrsprachigkeit und für den tatsächlichen (nicht den beschriebenen) Umgang der Staaten mit diesem Umstand. Unsere Analyse beruht darauf, welche Formen die Machtverhältnisse zwischen Sprachen in mehrsprachigen Gesellschaften annehmen, und wie die Staaten auf diese Verhältnisse reagieren, ungeachtet dessen, ob die Staaten offiziell ein- oder mehrsprachig sind. Wenn wir nun die Machtverhältnisse betrachten, unterscheiden wir zwischen mehreren Arten mehrsprachiger Muster. Eines davon beinhaltet Situationen, in denen zwei oder drei Sprachen mehr oder weniger friedlich nebeneinander koexistieren, wie die offiziellen Sprachen in der Schweiz und in Belgien. Zu demselben Muster zählen wir auch die Situationen, in denen zwei oder mehr Sprachen nebeneinander koexistieren, aber doch in Konkurrenz treten, allerdings ohne um ihr Überleben zu kämpfen. Dies ist beispielsweise beim Englischen und Französischen in Kanada der Fall. Hier sind die betroffenen Sprachen nicht vom Aussterben bedroht und ihre Sprecher und Sprecherinnen gehören nicht zur Kategorie der Sprachminderheiten. In anderen Fällen geht es um Situationen, in denen eine der Weltsprachen, zum Beispiel die ehemalige Kolonialsprache oder Englisch, die keine Erstsprache innerhalb des Staates darstellt, als Kolonialsprache fortbesteht. Im Falle von Englisch spricht man hier häufig vom Englischen als associate official, also als angegliederte Amtssprache, wie es in Indien der Fall ist (vergleiche Spolsky 2004: 173). In diesem Fall ist es ebenfalls so, dass diese Sprache 44 1. Mehrsprachigkeit keinen politischen Druck ausübt und deshalb keine große Gefahr für den Erhalt der Mehrsprachigkeit darstellt. Die Dominanz solcher Sprachen, wie im Falle Indiens, ist zum Beispiel auf die Wirtschaft beschränkt (oder sie wird als eine Instanz des globalen sprachlichen Imperialismus klassifiziert) und wird kaum die linguistic human rights bedrohen. Die einstige Kolonialsprache spielt aber aufgrund ihrer zahlreichen Sprecher und Sprecherinnen, wegen ihres offiziellen Status und sozialen Prestiges, immer noch eine wichtige Rolle. Mehrsprachige Leitlinien dieser Staaten berücksichtigen die Position ehemaliger Kolonialsprachen sowohl in der Sprachenpolitik, als auch im politischen Diskurs und deshalb ist die neue Mehrheitssprache weniger stark, als sie trotz ihres offiziellen Status erscheinen mag. Kasachstan und Kirgisistan, in denen Russisch immer noch eine Amtssprache ist und unter anderem in Bildung und Medien weit verbreitet ist, sind dafür typische Beispiele. Es gibt noch eine weitere Situation, in der es um die Interaktion zwischen Lokalsprachen (oder einer Lokalsprache) und einer Handelssprache geht: Sie kann heute fast ausnahmslos in jedem Teil der Welt beobachtet werden, wo Englisch unter anderem für geschäftliche Zwecke, in einigen Medien, bei sozialen Ereignissen und in bestimmten Bildungseinrichtungen verwendet wird. Die Frage, ob die Position der englischen Sprache in solchen Situationen guten oder schlechten Einfluss auf die Sprachenvielfalt in der entsprechenden Umgebung nehmen kann, ist nicht leicht zu beantworten. 1.3.3 Von der territorialen Einsprachigkeit hin zur Mehrsprachigkeit Als nationalstaatliche Vorstellungen im Europa des 18. Jahrhunderts aufkommen, wird Sprache zumeist als Marker der nationalen Identität angesehen (vergleiche auch Lerneinheit 1.2). Zu späteren Zeitpunkten wird diese Vorstellung sogar noch stärker, als sich Nationalstaaten herausbilden. Neben anderen Mitteln nutzen Nationalstaaten die Sprachen, um ihre Existenz aufzuwerten und zu legitimieren sowie um verschiedene Gruppen unter einem nationalen Kollektiv zu vereinen. Aus diesem Grund werden Sprachen standardisiert, oder manchmal sogar erfunden, so wie im Falle einiger zentralasiatischer Sprachen in der ehemaligen Sowjetunion, um als Zeichen der Mitgliedschaft zu einer größeren (nationalen) Gruppe zu dienen. Shohamy stellt dazu fest: Um seine Existenz zu beschützen, musste der Nationalstaat strikte Regeln, Regulierungen und eine Anzahl symbolischer Marker erfinden, um bei seinen Mitgliedern festzustellen, wer dazugehörte oder nicht. Die erste Vorgabe war „biologischer“ Natur, d. h., man war Deutsch, Spanisch oder Chinesisch, wenn man in den ‚Stamm‘ hineingeboren wurde, oder ‚vom selben Blut war‘. Aber der Nationalstaat suchte kontinuierlich nach zusätzlichen symbolischen Markern als klarere und deutlichere Kennzeichen der Zugehörigkeit. Zu den Markern, die zusätzlich zu den biologischen und physiognomischen Indikatoren genutzt wurden, zählten jene einer gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen Kultur, gemeinsamer Vorfahren, einer gemeinsamen Religion und- […] einer gemeinsamen Sprache. (Shohamy 2006: 26) Die Förderung nicht nur der Nationalsprachen, sondern auch ihrer Standardvarietäten war laut Spolsky essenziell für die nationalstaatliche Idee: 45 1.3 Sprachenpolitische Aspekte Sowohl die Französische Revolution als auch die deutsche Romantik vertraten eine Auffassung von Nationalismus, dem die Annahme zugrunde lag, dass eine einzige vereinende Sprache die beste Definition und der beste Schutz für die Nationalstaatlichkeit sei. Eine angemessene Nationalsprache auszuwählen und sie von ihren ausländischen Einflüssen zu bereinigen, war eine bedeutende Leistung. (2004: 57) Die Tendenz zur Förderung von Standards ist während der Periode zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg und auch danach immer noch sehr ausgeprägt. Doch die schwindenden nationalstaatlichen Vorstellungen in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts fördern den Diskurs zur Sprachenvielfalt und zu den sprachlichen Menschenrechten. Internationale politische Organisationen, die zum Ende der Kolonialzeit und des Zweiten Weltkriegs entstehen, legen strikte Regeln zur Sicherung der Menschenrechte fest. Sowohl die jungen postkolonialen Staaten, als auch die Staaten mit einer bereits länger währenden Eigenstaatlichkeit, die traditionsgemäß einsprachige Richtlinien verfolgen, werden unter Druck gesetzt. Letztere werden dafür kritisiert, dass sie keine soliden Mechanismen etabliert haben, um für den Schutz und die Förderung von Minderheitensprachen zu sorgen, um sprachliche und kulturelle Vielfalt zu erhalten und um die Verwendung von Minderheitensprachen im Bildungswesen, am Arbeitsplatz und in den Medien zu fördern. Zusammen mit den internationalen Organisationen übt zu diesem Zeitpunkt auch die Zivilgesellschaft Druck aus, die sich nach dem Scheitern des radikalen Nationalismus im neuen Europa lautstark Gehör verschafft. Junge postkoloniale Staaten sind diesem Druck ebenfalls ausgesetzt, da ihre Sprachenpolitik den Minderheitensprachen fast ausnahmslos keinen Platz einräumt (insbesondere zur Zeit ihrer Gründung). Der verstärkte Ruf nach Demokratisierung in den vergangenen Jahrzehnten hat die Frage nach den Minderheiten höchst dringlich werden lassen. Respekt und Akzeptanz von Minderheitensprachen waren und sind einige der Anforderungen, die internationale Institutionen sowohl an neue Staaten, als auch an jene mit einer längeren Nationalstaatsgeschichte stellen. Die Reaktionen der unterschiedlichen Staaten fallen ungleich aus, aber insgesamt ist die Tendenz dahin gegangen, ein neues Grundgerüst für die Gesetzgebung und die Umsetzung zu schaffen, das zwar den unterschiedlichen Sprachen nicht immer den gleichen Status, aber immerhin eine wesentliche Funktion einräumt. 1.3.4 Sprachenpolitik und Mehrsprachigkeit: historische Meilensteine Obwohl die gesellschaftliche und staatliche Befürwortung von Mehrsprachigkeit insgesamt einen Meilenstein in den vergangenen Jahrzehnten darstellt, hat der Umgang mit Minderheitensprachen innerhalb politscher und rechtlicher Systeme bereits eine längere Geschichte. Schon früh sind die Angelegenheiten der Minderheiten Diskussionsthemen internationaler Versammlungen, wie auf dem Wiener (1814) und auf dem Berliner Kongress (1878) sowie während der Pariser Friedenskonferenz (1919). In Russland, Österreich und Preußen werden beispielsweise 1815 die Rechte der polnischen Minderheiten, die zu diesem Zeitpunkt in diesen Staaten leben, anerkannt. Im Rahmen des Berliner Abkommens von 1876 verpflichten sich die 46 1. Mehrsprachigkeit Balkanstaaten dazu, das Leben und die Freiheit ihrer Minderheiten zu respektieren. Gemäß dem Abkommen von 1881 wird Muslimen in Griechenland Religions- und Sprachenfreiheit gewährt (Castellino 2000: 49ff). Im Rahmen der Pariser Friedenskonferenz nach dem Ersten Weltkrieg, müssen die Staaten, die Mitglied des Bundes werden wollen, Verträge, die eine neue Phase für den Schutz der Minderheitenrechte einläuten, einschließlich des Rechtes auf Verwendung der Erstsprache, unterzeichnen. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein weiterer wichtiger Abschnitt in der Entwicklung internationaler Instrumente zum Schutz der Minderheiten, die in diesen Staaten leben. Das Verbot der Diskriminierung auf Basis einer Sprache ist Bestandteil der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ( UN 1948). Auch die Konvention der UNESCO gegen Diskriminierung im Jahr 1960 ( UNESCO 1960) räumt den Minderheitensprachen Platz ein und schreibt vor, dass Kinder aus Minderheitengruppen in ihren eigenen Sprachen unter der Bedingung unterrichtet werden dürfen, dass sie dies nicht davon abhält, die Mehrheitssprache und die Kultur zu erlernen und kennenzulernen. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt 1966) beinhaltet eine spezifische Verfügung, die voraussetzt, dass Vertretern einer Minderheit ein Dolmetscher beziehungsweise eine Dolmetscherin ihrer eigenen Sprache zur Verfügung gestellt werden soll, falls sie wegen irgendeiner Sache gesetzlich belangt werden sollten. Die nächste wichtige Phase der Wiederaufnahme und Verbesserung des internationalen Engagements gegenüber den Rechten von Minderheiten wurde in den 1990er Jahren eingeläutet, als das sowjetische Reich kollabiert und sich neue Staaten auf dem Territorium des einstigen Reiches herausbilden. Akademische Bemühungen zur Wiederbelebung von Sprachen, zur Umkehr des Sprachwechsels und zur Rettung von Sprachen vor dem Verfall hatten bereits den Höhepunkt erreicht. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen warben aktiv für die linguistic human rights und für die Sprachenvielfalt. Das Bewusstsein für bedrohte Sprachen auf der ganzen Welt stieg an und es wurde ernsthaft an die Regierungen appelliert, die sprachenpolitischen Richtlinien und Mechanismen zum Schutz der Minderheitensprachen zu verbessern (vergleiche Simons & Lewis 2013: 3). In dieser Zeit entstehen mehrere grundlegende internationale Dokumente: Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (1992), das Rahmenübereinkommen zum Schutz Nationaler Minderheiten (1995), die Kopenhagener Dokumente (1990) sowie die Charta der Grundrechte (2000). All diese Dokumente tragen zur Bewahrung der Minderheitensprachen bei und schützen vor der Diskriminierung aufgrund sprachlicher Unterschiede. Die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen wird aufgesetzt, um einheimische Sprachen zu schützen, die traditionsgemäß in den Staatsgebieten gesprochen werden. Die Charta spricht mehrere mit diesen Sprachen verbundene Probleme an, einschließlich der grundsätzlichen Sprachenrechte, Sprachen im Bildungswesen, Sprachenverwendung in den Medien und in kulturellen Bereichen sowie Sprachen als kulturelles Erbe. 47 1.3 Sprachenpolitische Aspekte 1.3.5 Mehrsprachigkeit als ein „Muss“ in der modernen Sprachenpolitik: Was haben die Sprachen und ihre Sprecher und Sprecherinnen davon? Wenn sprachenpolitische Richtlinien bewertet werden, sind mehrere Aspekte zu berücksichtigen. Erstens versteht man unter einer mehrsprachigen politischen Richtung, dass ein Staat den Minderheitensprachen einen gewissen Platz einräumt. Zweitens werden die Richtlinien aus der Perspektive beurteilt, ob sie wirksame Instrumente zum Schutz der Sprachenvielfalt bieten, ob sie dem Sprachenerhalt beitragen und ob sie ausgestorbene oder im Verfall begriffene Sprachen vor dem Sprachentod bewahren können beziehungsweise wiederbeleben können. Dabei handelt es sich um einen traditionellen Ansatz, der Mehrsprachigkeit in der Sprachenpolitik mit Fragen nach den Menschenrechten, der Menschenwürde und dem kulturellen Erbe verbindet. Dieser Ansatz hat Entscheidungsträger in der Sprachenpolitik dazu ermutigt, sich mit den unterschiedlichen Dimensionen von Mehrsprachigkeit aus Perspektiven wie ‚Sprache als Menschenrecht‘, ‚Sprache als ein Mittel zum Ausdruck der nationalen Identität‘, ‚Sprache als kulturelles Kapital‘, ‚Sprache und ihr Wert aus wirtschaftlicher Perspektive‘ sowie ‚die ökologische Stellung der Sprache in einem Ökosystem‘ auseinanderzusetzen. Diese Betrachtungsweise lässt, sowohl im politischen als auch im akademischen Diskurs, neue Bezugspunkte zum Vorschein treten. Zum Beispiel reichen die Argumente zur Verfechtung der Mehrsprachigkeit nun vom Erhalt der Menschenwürde bis hin zur Rolle der Sprache in der wirtschaftlichen Stellung der Einzelnen. Der Diskurs zu Sprache als ein grundlegendes Menschenrecht überlagert nun den abstrakteren Diskurs zur Rolle der Sprache in der politischen oder sozialen Integration. Ein allgemeineres Verständnis der Sprache als ein Symbol der nationalen Identität wird von einer konkreteren und greifbareren Auffassung von Sprache als Ausdruck der persönlichen beziehungsweise gruppenbezogenen Identität ersetzt. Diese Betrachtungsweise lässt andere Perspektiven zu: ‚Sprache als Teil eines Wertesystems‘, ‚Sprache als kulturelles Erbe und als Träger indigenen Wissens‘ und ‚Sprache als ein Schlüsselfaktor in der persönlichen Entwicklung‘. Die Entwicklung der Ökolinguistik als ein neues Feld in der Soziolinguistik hat für weitaus mehr Aufmerksamkeit für den Stellenwert von Sprache im gesamten Ökosystem gesorgt. Warum machen sich Wissenschaftler beziehungsweise Wissenschaftlerinnen und Entscheidungsträger beziehungsweise Entscheidungsträgerinnen in der Politik Sorgen um den Fortbestand einer mehrsprachigen Welt und ihrer Förderung durch Sprachenpolitik, insbesondere da Sprachen (und kulturelle Gruppen) seit dem ersten Erscheinen unserer menschlichen Vorfahren kommen und gehen (siehe Ricento 2006: 232)? Erstens gibt das Schicksal der Sprachen Linguisten und Linguistinnen Grund zur Sorge, da Sprache ihr direktes Forschungsfeld darstellt. Zweitens geht es beim Verfall und beim Verlust von Sprachen nicht nur um die Sprachen an sich, sondern auch um Kulturen, kulturelles Erbe und um indigenes Wissen. Wenn eine Sprache stirbt, dann reißt sie eine gesamte Kultur und ein reichhaltiges Depot indigenen Wissens mit wertvollen Informationen über lokale Gesellschaften mit sich. Mit dem Verlust einer Sprache bricht auch die Weitergabe traditionellen Wissens und sozialer Werte an die nächsten Generationen ab. Und die Aussichten sehen nicht gerade rosig aus. Wie 48 1. Mehrsprachigkeit Krauss (2007: 2) feststellt, liegt die Anzahl der Sprachen, deren Erhalt als gesichert bezeichnet werden kann, bei etwa 300, was circa 5 % aller existierenden Sprachen entspricht. Das Scheitern des Schutzes der Sprachenvielfalt führt zum Verlust vieler Sprachen, was in direkter Verbindung zur Problematik der Menschenrechte steht. Normalerweise handelt es sich bei den rückläufigen Sprachen um solche, die von Minderheiten gesprochen werden. Die Sprachen von Mehrheiten sind besser durch sprachenpolitische oder andere politische Richtlinien geschützt und deshalb genießen Sprecher und Sprecherinnen von Mehrheitssprachen weitaus mehr Vorteile als jene der Minderheitensprachen, sei es in der Politik, in der Bildung, in der Wirtschaft oder in soziokulturellen Bereichen. Aus dieser Perspektive wird der Schutz von Mehrsprachigkeit zu einer Frage des Beschützens von Minderheitensprachen und kulturellem Erbe. Experiment Stellen Sie sich vor, Ihre Familiensprache ist in ihrer Existenz bedroht oder würde nicht weiterexistieren. Was würde passieren? Was würde verloren gehen? Wie würde sich Ihr Leben verändern? Einer der Schwerpunkte in der Verfechtung solcher Schutzmaßnahmen ist die bewusste staatliche Intervention im Namen der schwächeren Sprecher- und Sprecherinnengruppe. Wie groß auch immer der Wille und die Entschlossenheit einer Minderheitensprachgruppe selbst sein mögen, ohne die bewusste staatliche Einflussnahme (welche die funktionale Inklusion und die finanzielle Unterstützung der entsprechenden Minderheitensprache einschließen sollte), wird die Sprachpflege nicht die gewünschten Ergebnisse erzielen. Wie maßgeblich der Wunsch und Wille der Gemeinschaft selbst auch sein mag, so ist der Gemeinschaft möglicherweise nicht in allen Fällen vollends bewusst, welchen Wert der Erhalt ihrer eigenen Sprache und Kultur hat, insbesondere, wenn die durch die Mehrheitssprache angebotenen Möglichkeiten sehr einladend sind. Ein anschauliches Beispiel für eine solche Einflussnahme war die maßgebliche Unterstützung der Regierung für die Wiederbelebung der irischen Sprache, die nach der irischen Unabhängigkeit 1922 zu einer Amtssprache erhoben wird. Trotz der Tatsache, dass die Motivation der irischen Bevölkerung zur irischen Sprache zu wechseln, aufgrund der sich wandelnden wirtschaftlichen, sozialen und demographischen Verhältnisse geringer ist als erwartet, ist die Unterstützung durch die Regierung entscheidend für den Erfolg dieser Maßnahme. Andere Beispiele sind die Wiederbelebung des Maorischen in Neuseeland, oder des Hebräischen in Israel (vergleiche Spolsky 2004: 44f). Fishman identifiziert das Fehlen staatlicher Einflussnahme als eine „Null-Politik-Politik“ gegenüber schwächeren Sprachen, und stellte fest, dass „die meisten Sprachverschiebungen von formaler und schriftlicher Sprache verursacht oder bewusst erleichtert wird (zum Beispiel durch Eroberung oder andere bedeutende Verschiebungen des Status Quo), anstatt dass sie einfach passieren“ (Fishman: 2006: 318). Zum Beispiel erleichterten die Entscheidungsträger und -trägerinnen in der Sprachenpolitik den Umstieg von den Lokalsprachen zum Russischen, indem sie die Qualität russischer Schulen gegenüber den lokalsprachlichen verbessern und diese damit aufwerten, die russische Sprache am Arbeitsplatz fördern und 49 1.3 Sprachenpolitische Aspekte die Bildungspolitik so gestalten, dass die Verwendung von Lokalsprachen in fortschrittlicher Wissenschaft und Technologie beschränkt ist. Experiment Führen Sie Interviews mit 20 Personen, die sich selbst als zweisprachig oder mehrsprachig bezeichnen. Erstellen Sie eine Liste der Sprachen, die jeder beziehungsweise jede von ihnen kennt. Wie viele von ihnen beherrschen ‚weniger bekannte Sprachen‘ (oder solche, die benachteiligt sind) als ihre eigene? Fragen Sie diese Personen nach den Gründen, aus denen sie diese Sprachen gelernt haben. Analysieren Sie Ihre Daten und identifizieren Sie die Hauptmotive, die zum Erlernen einer Sprache führen (ohne zu verallgemeinern). Vermutlich wird Ihre Liste mehrsprachige Personen umfassen, die sich um das Erlernen von Sprachen bemüht haben, die bekannter sind als ihre eigene. Dies zeigt auch, warum Einsprachigkeit am weitesten unter Sprechern und Sprecherinnen der bekanntesten Sprachen verbreitet ist. 1.3.6 Mehrsprachigkeit in der Bildungspolitik: zweisprachige Bildungsmodelle Ob ein Staat verschiedene Sprachengruppen auf seinem Gebiet unterstützt, wird am ehesten anhand der Sprachen deutlich, die im Unterricht verwendet werden. In Staaten, in denen Minderheiten auf engem Raum leben, sind zweisprachige Unterrichtsmodelle normalerweise die beste Antwort auf die bildungsbezogenen Bedürfnisse der Minderheitengemeinschaften, insbesondere jener, die üblicherweise die Mehrheitssprache nicht beherrschen. Zweisprachige Bildungsmodelle sind deshalb so gestaltet, dass sie Kindern aus Minderheitengruppen dabei helfen, sich reibungslos innerhalb des Bildungssystems zu bewegen. Es gibt mehrere zweisprachige Bildungsmodelle, die vom sprachlichen Repertoire und den Bedürfnissen der Gemeinschaft abhängen sowie von den politischen Richtlinien des Staates oder der Schule. Ein weit verbreitetes Modell ist das der übergangsweisen zweisprachigen Erziehung (transitional bilingual education), in dem die Kinder zu Beginn, meist innerhalb der ersten drei Jahre, das Lesen und Schreiben in ihrer Erstsprache lernen. Eines der besten Beispiele dafür sind die Philippinen, auf denen Filipino und Englisch die Amtssprachen sind. Jedoch erlauben die politischen Richtlinien, dass in der Schule lokale Mundarten als Übergangssprachen von der Einschulung bis zur dritten Klasse verwendet werden (vergleiche Dekker & Young 2007: 239). In anderen Fällen können Schulen zweisprachige Programme (dual language programs) anbieten, in denen die Schüler und Schülerinnen simultan in zwei Sprachen unterrichtet werden. Sinn und Zweck dieser Programme ist es, die Kompetenz und Kenntnis in zwei unterschiedlichen Sprachen zu fördern. Beispielsweise bieten viele US -amerikanische Schulen solche zweisprachigen Programme auf Englisch und auf Spanisch an. Diese Programme dauern üblicherweise bis zur fünften Klasse, und viele sogar bis zur High School. 50 1. Mehrsprachigkeit Es gibt viele andere Modelle zur Unterstützung von Minderheitensprachen. In einigen Schulen werden die Hauptfächer beispielsweise in der Mehrheitssprache unterrichtet, während Intensivkurse in der Landessprache angeboten werden. In Aserbaidschan bieten die Schulen zum Beispiel in den von Minderheiten bewohnten Gebieten Intensivkurse in Landessprachen wie unter anderem Talisch, Lesgisch und Tsachurisch an. 1.3.7 Mehrsprachigkeit und gesellschaftlicher Wille Die Haltung einer Gemeinschaft gegenüber ihrer Erstsprache und ihrer Kultur ist sehr wichtig für den Spracherhalt: Wenn der Wille und das Interesse der Gemeinschaft nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind, dann können politische Entscheidungen und die zugewiesenen finanziellen Ressourcen wirkungslos sein. Wenn andererseits der Wille der Gemeinschaft stark ist, dann könnten politische Bereitschaft und finanzielle Ressourcen leichter zugänglich sein. Jede Initiative einer Gemeinschaft benötigt jedoch kontinuierliche Unterstützung und Ermutigung. Sogar bei einer sehr vorteilhaften Sprachenpolitik können Sprecher und Sprecherinnen von Minderheitensprachen eine Tendenz zur Aufgabe der Erstsprache zeigen, wenn die Mehrheitssprache zum Beispiel bessere Möglichkeiten für die Ausbildung, für den Beruf und für soziales Prestige bietet. Die Tendenz wird umso stärker sein, wenn die Mehrheitssprache zusätzlich all die Nischen ausfüllt, in denen die Minderheitensprache bislang eingesetzt wurde. Dies ist bei den Mehrheitssprachen einiger souveräner Staaten zu Zeiten der Sowjetunion der Fall. Zwar werden die Mehrheitssprachen in den souveränen Staaten nicht unterdrückt, aber da Russisch mehr Möglichkeiten bot, vollzieht sich nach und nach ein Sprachwechsel zugunsten des Russischen, welcher die lokalen Sprachen allmählich verdrängt. Fishman behauptet, dass bedrohte Sprachen zu solchen werden, weil ihnen die informelle, generationsübergreifende Transmission und die Unterstützung im informellen täglichen Leben fehlen, und nicht deshalb, weil sie nicht in der Schule unterrichtet werden, oder keinen offiziellen Status haben (vergleiche Romaine 2002: 2). Deshalb ist das Verwenden indigener Sprachen innerhalb der Gemeinschaft (in der Familie, der Nachbarschaft, bei Gemeinschaftstreffen, in der Grundschule, am Arbeitsplatz und so weiter) für ihren Erhalt essenziell. Ein heimatliches Prestige für bedrohte Sprachen zu schaffen, ist in der Tat für ihren Erhalt sehr wichtig. 51 1.3 Sprachenpolitische Aspekte 1.3.8 Zusammenfassung ▶ Auch einsprachige Staaten müssen sich mit verschiedenen Fragen bezüglich des Sprachkontaktes, der Interaktion des Staates mit unterschiedlichen Sprachgruppen, der Interaktion zwischen und innerhalb dieser Sprachgruppen, der Sprachenrechte sowie dem Entgegenwirken von Sprachwechsel und Sprachverlust auseinandersetzen. ▶ Die aktuellen globalen Tendenzen setzen einige traditionell einsprachige Staaten unter Druck und drängen diese dadurch dazu, ihre Richtlinien zu überdenken. Politische Erklärungen tendieren allerdings manchmal dazu, nur auf dem Papier zu bestehen und nicht praktisch umgesetzt oder gefördert zu werden. ▶ Zwischen den Sprachen und deren Sprechern und Sprecherinnen innerhalb einer mehrsprachigen Gesellschaft existieren unterschiedliche Machtverhältnisse, die sich in den soziopolitischen Strukturen, der sprachenpolitischen Praxis, der politischen Positionierung und den wirtschaftlichen Interessen äußern. ▶ Neben den Bemühungen Minderheitensprachen zu erhalten, konzentrieren sich viele Staaten darauf, Weltsprachen in das gesellschaftliche Sprachenrepertoire zu integrieren. ▶ Sprachverlust bedeutet auch immer ein Verlust von traditionellem Wissen, Kultur und Werten. 1.3.9 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Beschreiben und charakterisieren Sie den Wendepunkt für die weltweite Entwicklung von mehrsprachiger Sprachenpolitik. 2. Wie wird Mehrsprachigkeit durch Sprachenpolitik gefördert? 3. Nennen Sie die grundlegenden ideologischen Säulen der mehrsprachigen Sprachenpolitik. 4. Erklären Sie, wie sich die Machtverhältnisse zwischen den Sprachen in mehrsprachigen Regionen darstellen lassen. 5. Erklären Sie die beiden Bildungsprogramme ‚übergangsweise zweisprachige Erziehung‘ und ‚zweisprachige Programme‘. 53 1.3 Sprachenpolitische Aspekte 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit Das folgende Kapitel widmet sich verschiedenen Modellen der Mehrsprachigkeit und den dadurch abgebildeten Prozessen. Dabei zeigt sich, dass frühere, an Defiziten (gegenüber der Einsprachigkeit) orientierte Perspektiven auf Mehrsprachigkeit nicht geeignet sind, den konstitutiven Charakter von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität abzubilden. Mehrsprachigkeit kann dagegen als dynamisches ökologisches System dargestellt werden, das je nach der Relevanzbewertung durch den Sprecher oder die Sprecherin oder den Lerner von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird. Ausdruck des Managements mehrerer Sprachen sind komplexe Dynamiken von Code-Switching und anderen Mischungserscheinungen, die pragmatische Kommunikationsbedingungen sowie bewusste und unbewusste Identitätskonstruktionen widerspiegeln (siehe hierzu auch Kapitel 5 in diesem Band). Welche Rolle die gesellschaftliche Wertigkeit der Sprachen in diesem pragmatischen und sozialkonstruktivistischen System spielt, wird anhand aufschlussreicher Ergebnisse von Migrations- und Bildungsstudien in Lerneinheit 2.1 illustriert. Ferner werden die Potenziale elaborierter Wertschätzung und Wertschöpfung von Sprachen und Konsequenzen für eine Mehrsprachigkeitsdidaktik skizziert. Zu Beginn der zweiten Lerneinheit in diesem Kapitel gehen wir auf die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Mehrsprachigkeit ein und auf den Einfluss der L1 auf den multiplen Sprachenerwerb. Im Anschluss daran werden zentrale Faktoren, die den Sprachenerwerb mitbestimmen, dargestellt und diskutiert. Dabei werden Sie erfahren, wie letztere sich gegenseitig beeinflussen und gebündelt individuelle Formen von Mehrsprachigkeit prägen. Auf diesen Faktoren und deren kombinierter Betrachtung basieren auch die Mehrsprachigkeitsmodelle, mit denen Sie sich in Lerneinheit 2.3 beschäftigen werden. 54 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit 2.1 Mehrsprachigkeit und Migration Jörg Roche Die ökologischen Prozesse der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität lassen sich vor allem bei Migranten gut beobachten, die zeitüberlappend an verschiedenen Orten und in verschiedenen Kulturwelten leben. Transnationalität und Transmigration bilden hier den Rahmen des Lebensumfeldes, der oft durch zirkuläre Migration, Pendelmigration (siehe Bade 2000), dienstliche Reisen für Studien- oder Arbeitsaufenthalte (besonders bei den so genannten expatriates, die für längere Zeit im Ausland leben) und andere temporäre Mobilitätsfaktoren erweitert wird. Diesen Wandel zu dynamisch-multikulturellen Gesellschaften müssten folglich nicht nur die Gesellschaftspolitik, sondern auch die auf Politikberatung ausgerichtete Migrations- und Bildungsforschung abbilden. Stattdessen aber dominiert auch hier ein konzeptuell monolingualer Modus: Im Kontext der Internationalisierung der Bildung und Wissenschaft wird der Bedarf an mehrsprachiger Kommunikation meist auf die Lingua Franca Englisch projiziert. Im Umfeld des Migrations- und Integrationsdiskurses findet dagegen vor allem eine Reduktion auf zielsprachliche Sprachkenntnisse der Lingua Franca Deutsch statt. Im Integrationsdiskurs werden Kenntnisse der Zielsprache die größte Wirkung zugesprochen. Gesetzliche Regelungen und Prüfungen zu Minima von Kenntnissen der Zielsprache werden als Vorbedingung für die Einwanderung oder den Aufenthalt festgelegt und hochqualifizierten fremdsprachigen Migranten, die diese Anforderungen nicht erfüllen, wird die Arbeitserlaubnis verweigert und die Integration erschwert. Die monolinguale Ausrichtung des Integrationsdiskurses bewirkt, dass sich Bildungsstudien auf die Messung von Kenntnissen der Zielsprache konzentrieren, aber die familiensprachlichen Kenntnisse weitestgehend außer Acht lassen. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ Ergebnisse von Migrations- und Bildungsstudien zur gesellschaftlichen Wertigkeit von Mehrsprachigkeit kennen lernen; ▶ die Potenziale elaborierter Wertschätzung und Wertschöpfung von Sprachen reflektieren; ▶ Konsequenzen für eine Didaktik der aufgeklärten Mehrsprachigkeit fokussieren. 2.1.1 Mehrsprachigkeit in Migrations- und Bildungsforschung Reduziertes Sprachverständnis als Hindernis Die in Europa und den USA stark verbreitete gesellschaftliche Ausrichtung auf den monolingualen Modus lässt Fremdsprachigkeit vor allem-- zumal im Kontext von Zuwanderung und Integration- - weitläufig als Problem erscheinen, nicht als Chance. Dahinter verbirgt sich oft die Annahme, Sprache und Identität ließen sich nur in Reinnatur und von anderen 55 2.1 Mehrsprachigkeit und Migration Sprachen und Kulturen strikt getrennt einander zuordnen. Nach diesem „Reinheitsgebot der Identität“ führt alles andere zu Vermischungen, Verwirrungen, sozialer Entfremdung und Identifikationsproblemen. Hansen (2003) führt diese Beschränkungen auf einen begrenzten Nationenbegriff zurück und Oberndörfer (2005) zeigt unter Rückgriff auf Herder und dessen kritische Charakterisierung des Nationenverlustes in Frankreich, wie hieraus die Konzepte der ‚Sprachnation‘ und der ‚Nationalsprache‘ entstanden sind. Oberndörfer (2005) macht weiter deutlich, wie im Zuge dieser Diskussion die Restaurierung oder Schaffung der Volkssprachen beginnt: Aus Dialekten werden verschriftlichte und standardisierte Sprachen, andere Dialekte werden aus alten Überlieferungen völlig neu gebildet oder mit bestehenden Dialekten kombiniert. Dies geschieht unter dem Diktat der Ideologie: „Ohne eigene Sprache keine echte Volksnation, kein Recht auf politische Selbstbestimmung und Separation“ (Oberndörfer 2005: 232). Die Ausschließlichkeit der Zuordnung von Staatsgebiet sowie Nation und Nationalsprache bestimmt auch heute die politische Diskussion in jungen Nationalstaaten und autonomen Gebieten, und zwar gerade dort, wo sie lange politisch gebannt war. In der aktuellen Integrationsdebatte in den deutschsprachigen Ländern schwingen diese Beschränkungen in Begriffen wie ‚Leitkultur‘, ‚kulturelle Identität‘ und ‚Staatssprache‘ mit und motivieren den Vorschlag, die Rolle der deutschen Sprache im Grundgesetz zu verankern. Eine gewisse Zeit lang ist von Gegnern und Gegnerinnen der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität angesichts dieser monolingualen Ausrichtung angenommen worden, dass sich Mehrsprachigkeit insgesamt negativ auf die beteiligten Sprachen und eher „verwirrend“ auf den allgemeinen Geisteszustand ihrer Sprecher und Sprecherinnen auswirken würde. Auch als politische Waffe gegen die Eingliederung ethnischer Minderheiten wurden diese vermuteten negativen Effekte der Mehrsprachigkeit zum Beispiel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland mobilisiert (vergleiche auch die Ausführungen von Wolff (2006) zu ähnlichen Tendenzen in Großbritannien). Dass auch in der Migrationsforschung und der Bildungsforschung ökologische Konzepte der Mehrsprachigkeit bisher kaum angekommen sind, soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Das reduzierte Sprachverständnis in Gesellschaft und Migrationsforschung führt immer wieder zu Fehleinschätzungen des Integrationsstandes und der Integrationsfähigkeit sowohl bei Migranten als auch bei der Mehrheitsbevölkerung. Dabei treten zwei Defizitbereiche in der Behandlung des Themas ‚Sprache und Integration‘ auf: Erstens wird Integration weitgehend am Grad der Übernahme des Verhaltens oder der Annäherung an das Verhalten der Mehrheitsgesellschaft gemessen (Kopftuchfrequenz, Teilnahme am Sportunterricht, religiöse Praktiken, Medienverhalten und vieles mehr). Die Weiterentwicklung von Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit in einem dynamischen System des Kultur- und Sprachenausgleichs wird dabei ausgeblendet. Zweitens wird der Grad der tatsächlichen Annäherung der Migrantenpopulation an die Mehrheitsgesellschaft in der Öffentlichkeit weitgehend unterschätzt. Viele einschlägige Studien widerlegen die Negativ- Klischees über Migranten und zeigen dagegen ein variantenreiches Bild der Migration und Integration (siehe die Studie Muslimisches Leben in Deutschland des BAMF von Haug, Müssig & Stichs 2010; die Gutachten des Sachverständigenrates der Stiftungen mit dem Integrationsbarometer 2016 und mit dem Migrationsbarometer 2017). 56 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit Experiment Die folgende Tabelle schlüsselt exemplarisch den Besuch religiöser Veranstaltungen nach Herkunftsregionen auf. Werten Sie die Tabelle aus: welche Tendenzen können Sie erkennen: Abbildung 2.1: Muslimisches Leben in Deutschland (Haug, Müssig & Stichs 2010: 161 Die BAMF -Studie Muslimisches Leben in Deutschland (Haug, Müssig & Stichs 2010) veranschaulicht unter vielen anderen Aspekten, dass der Einfluss religiöser Traditionen als vermeintliche Hürde zur Integration oft überschätzt wird. Bei diesem Aspekt wird unterstellt, dass eine starke muslimische Prägung eine eher distanzierte Haltung zum Aufnahmeland und gleichzeitig eine strenge Bindung an die Heimat und ihre religiösen und gesellschaftlichen Interessengruppen impliziert. Aus der Studie ergibt sich aber, dass durchschnittlich nur circa ein Drittel der Muslime in Deutschland häufig religiöse Veranstaltungen besucht und sich nur ein Teil der Muslime in Deutschland an religiösen Festen und Handlungen beteiligt. All dies sieht die BAMF -Studie als Indikator dafür, dass der Assimilation vor dem Ausbau transkultureller, mehrsprachiger Kompetenzen der Vorrang gegeben wird. Als allgemeines Problem wird in vielen Studien dagegen die mangelnde Integrationsbereitschaft der Mehrheitsgesellschaft und deren geringes Interesse an den neuen Mitbürgern festgestellt. Auch die Studie Migranten und Medien ( ARD , ZDF 2011) dokumentiert, dass der Integrationsgrad der Migranten in Deutschland weiter vorangeschritten ist, als von der Öffentlichkeit und den Medien dargestellt. Die Mehrheit der Migranten und Migrantinnen in Deutschland nutzt demnach bevorzugt deutschsprachige Medien. 76 % der Menschen mit Einwanderungshintergrund sehen regelmäßig deutschsprachige Fernsehprogramme, 60 % hören deutschsprachiges Radio und 53 % nutzen deutschsprachige Internetangebote. Nur 57 2.1 Mehrsprachigkeit und Migration eine Minderheit nutzt ausschließlich heimatsprachige Medien (13 % Fernsehen, 2 % Radio, 5 % Internet). Bildung, Sprachkenntnisse und Integration Der Erwerb der Zielsprache, etwa durch die Medien, wird von den meisten Befragten als Schlüssel zur Integration und zur Bildung und damit als Grundlage für persönliche und berufliche Karrieren angesehen. Schüler und Schülerinnen „mit Migrationshintergrund“ (auch MiHi) sind zumindest in Deutschland jedoch mit vielfältigen Hürden im Bildungssystemkonfrontiert. So gestaltet sich der Übergang von der Schule in einen Beruf in Deutschland beispielsweise besonders schwierig. Die Abbrecherquoten in Schul- und Berufsausbildung zeigen einen im Durchschnitt um den Faktor vier erhöhten Wert gegenüber Schülern und Schülerinnen ohne Migrationshintergrund (siehe unter anderem OECD 2007, 2010; Bildungsgerechtigkeit; Jahresgutachten 2007 der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft; Politik-Check Schule vom Institut der Deutschen Wirtschaft Köln und der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, siehe Seim 2008). Eine Studie der Bertelsmann Stiftung (Werner, Neumann & Schmidt 2008) beziffert die volkswirtschaftlichen Kosten mangelnder (auch sprachlicher) Integration in der Bundesrepublik Deutschland auf € 16 Milliarden pro Jahr. Als eine der wichtigsten Ursachen dafür werden allgemein mangelnde (bildungssprachliche) Sprachkenntnisse geltend gemacht, und dies, obwohl entsprechende Lehrziele in den Curricula der allgemein- und berufsbildenden Schulen bereits berücksichtigt werden. Wie stark Integration und Sprachkenntnisse zusammenhängen, weisen am deutlichsten die Sinus-Studie (2008) und ein kürzlich herausgebrachter Zwischenbericht des vhw-Bundesverbands für Wohnen und Stadtentwicklung (2016) auf Basis qualitativer Daten von Sinus-Institut Sociovision aus. So zeigt ein Exkurs zu den Daten des Zwischenberichts aus Abbildung 2.2 noch stärker, dass „in den soziokulturell modernen Lebenswelten ein bikulturelles Selbstverständnis die Norm“ und die „moderne Mitte“ sogar zu einer „post-integrativen Perspektive“ neigt und sich damit als „selbstverständlicher Teil der Mitte der Gesellschaft“ betrachtet, wobei andererseits auch „deutliche Segregationstendenzen in den traditionell geprägten Milieus und am sozial unteren Rand der Population“ erwähnt werden müssen (vhw 2016: 7f). 58 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit Abbildung 2.2: Kulturelle Identität in der Milieulandschaft (vhw 2016: 6) Die Sinus-Studie (2008) zeigt eine vielfältige und differenzierte Milieulandschaft. Diese ist in insgesamt acht Migrantenmilieus unterteilt, die sich in Bezug auf den sozialen Status und die damit verbundenen Wertvorstellungen, Lebensstile und ästhetischen Vorlieben unterscheiden. Die Einteilung der Milieus geschieht nicht nach globalen ethnischen Merkmalen. Dadurch wird die Ausbildung gemeinsamer lebensweltlicher Muster bei Migranten aus unterschiedlichen Herkunftskulturen (Ethnien) deutlich. Die Sinus-Studie kommt daher zu dem Schluss, Menschen des gleichen Milieus mit unterschiedlichem Migrationshintergrund verbinde mehr miteinander als mit dem Rest ihrer Landsleute aus anderen Milieus. Der Integrationsgrad in die Zielgesellschaft sei wesentlich von der Bildung und der sozialen Herkunft abhängig: Je höher das Bildungsniveau und je urbaner die Herkunftsregion, desto leichter und besser gelinge die Integration in die Aufnahmegesellschaft. Faktoren wie ethnische Zugehörigkeit, Religion und Zuwanderungsgeschichte beeinflussen die Alltagskultur, seien letzten Endes aber nicht milieuprägend und identitätsstiftend für das Milieu. Die Sinus-Studie verdeutlicht, dass die meisten Migrantenmilieus jeweils auf ihre Weise um Integration bemüht sind und sich als Mitglieder der multikulturellen deutschen Gesellschaft verstehen. Bei drei der acht Milieus kann man starke Assimilationstendenzen erkennen (statusorientiertes Milieu, adaptives Integrationsmilieu, multikulturelles Performermilieu). Bei drei anderen Milieus finden sich zwar zum Teil Haltungen einer Integrationsverweigerung (religiös-verwurzeltes Milieu, entwurzeltes Milieu, hedonistisch-subkulturelles Milieu), aber die große Mehrheit der befragten Migranten will sich in die Aufnahmegesellschaft einfügen, ohne jedoch ihre kulturellen Wurzeln zu vergessen. Vor allem viele jüngere Befragte der zweiten und dritten Generation haben ein bikulturelles Selbstbewusstsein entwickelt und sehen Migrationshintergrund und Mehrsprachigkeit als Bereicherung-- für sich selbst und für die Gesellschaft. Die Migrantenmilieus werden in der Sinus-Studie folgendermaßen dargestellt: 59 2.1 Mehrsprachigkeit und Migration Abbildung 2.3: Soziale Lage und Grundorientierung der Sinus-Migranten-Milieus in Deutschland (Wippermann & Flaig 2009: 8) Die wichtigsten Ergebnisse der Sinus-Studie (2008) in Bezug auf Sprachen lassen sich wie folgt zusammenfassen: ▶ Viele Migranten und Migrantinnen, insbesondere in den soziokulturell modernen Milieus, haben ein bikulturelles Selbstbewusstsein und eine postintegrative Perspektive. Integration ist für sie kein Thema mehr. Dabei betrachten viele Migrationshintergrund und Mehrsprachigkeit als Bereicherung-- für sich selbst und für die Gesellschaft. 61 % der Befragten sagen von sich, sie hätten einen bunt gemischten internationalen Freundeskreis. In den gehobenen Milieus liegt dieser Anteil deutlich über 70 %. ▶ Als wichtigen Integrationsfaktor betrachten auch die Migranten die Beherrschung der deutschen Sprache. 85 % sind der Meinung, dass Zuwanderer ohne die deutsche Sprache keinen Erfolg haben können. ▶ 68 % der Befragten schätzen ihre deutschen Sprachkenntnisse als sehr gut oder gut ein. Weitere 26 % geben an, mittlere oder zumindest Grundkenntnisse zu haben. ▶ 65 % unterhalten sich im engeren familiären Umfeld überwiegend oder auch ausschließlich auf Deutsch, für 82 % ist Deutsch die Verkehrssprache im Freundes- und Bekanntenkreis. ▶ Die geringsten Deutsch-Kenntnisse finden sich im Segment der traditionsverwurzelten Migrantenmilieus. Die Deutschkenntnisse sind unter Migrantengruppen also recht unterschiedlich ausgeprägt und dementsprechend sind auch die Bewusstheit für die Notwendigkeit sprachlicher Kom- 60 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit petenzen, sowie die Bereitschaft sie zu erwerben, differenziert gestaltet. Die Heterogenität der Zielgruppe und die dort unterschiedlichen Einstellungen zum Sprachenlernen sowie die unterschiedlichen sprachlichen Kompetenzniveaus legen grundsätzlich eine nicht segregative Sprachförderung nahe. Wenn ethnische Faktoren nicht milieubildend wirken, können sie auch nicht Maßstab für ethnisch segregierende Fördermaßnahmen sein. Bewertung der Sprachfertigkeiten in der Migrationsforschung In Bezug auf Aussagen zu Sprachkompetenzen haben Migrationsstudien mehrheitlich ein großes Problem, auf das hier hingewiesen werden soll. Die Interpretation von Zusammenhängen zwischen Integration und Sprachenerwerb enthält eine Reihe von Ungenauigkeiten, die sich aus der Erhebung und Analyse der Sprachdaten ergeben. Nur ausnahmsweise stehen belastbare Daten zur Bewertung des Sprachstandes der Migranten und Migrantinnen zur Verfügung. Da verlässliche Daten meist nicht vorliegen oder nur mit großem Aufwand zu erheben sind, behilft sich die Migrationsforschung in der Regel mit Selbsteinschätzungen der Betroffenen. Wie auch in anderen Bereichen der Sozialforschung haben sich Selbsteinschätzungen aber als wenig zuverlässig erwiesen. Verschiedene empirische Vergleichsstudien zwischen Verfahren der Selbstevaluation (self-assessment) und der Kriterien basierten Fremdevaluation haben aber gezeigt, dass die Selbstevaluation in einem bestimmten Rahmen bedingt verlässliche Ergebnisse produzieren kann (vergleiche Dlaska & Krekeler 2008). Um verlässliche Aussagen über sprachliche Aspekte machen zu können, muss in einer Untersuchung, die seriös mit dem Thema Sprachenerwerb und Sprachkompetenzen umgeht, ein objektivierbarer Maßstab angelegt werden, wie er etwa in standardisierten Sprachstandsprüfungen gegeben ist. Nicht jeder beliebige Test ist hierfür geeignet, weil die wenigsten der verfügbaren Sprachtests nach testwissenschaftlichen Maßstäben konzipiert sind (siehe auch Kapitel 3 und 4 im Band »Unterrichtsmanagement«). Die Testerstellung und -durchführung bedarf nicht nur einer Validierung, sondern auch einer Kalibrierung in Bezug auf unterschiedliche Testgenerationen (test-equating) und in Bezug auf das Training der Tester oder Testerinnen und Bewerter oder Bewerterinnen (inter-rater-reliability). Diese Kalibrierung ist besonders bei den in der Regel offeneren produktiven Fertigkeiten notwendig, um individuelle Präferenzen der Bewerter und Bewerterinnen bei der Bewertung auszugleichen. Für die Bewertung von sprachlichen Leistungen bieten sich neben aufwändigeren, auf adäquate kommunikative Kompetenzen ausgerichteten Tests aus organisatorischen Gründen auch Verfahren an, die in Bezug auf Themen und Aufgaben selektiv (bestimmte Kernkompetenzen) messen. Am bekanntesten sind dabei repräsentativ messende C-Tests, die trotz komprimierten Formats und geringer Redundanz nicht nur grammatische Kompetenzen, sondern auch die allgemeine Sprachkompetenz, zum Beispiel zum Zwecke der Einstufung, evaluieren können (Eckes & Grotjahn 2006). Betrachtet man die Methoden der Studien, die herangezogen werden, um damit den vermeintlich mangelnden wirtschaftlichen und integrativen Nutzen von Mehrsprachigkeit zu begründen (so zum Beispiel Esser 2006) so stellt man fest, dass dort unter den sprachlichen Fertigkeiten fast ausschließlich subjektive Einschätzungen nach dem Muster „wie gut ver- 61 2.1 Mehrsprachigkeit und Migration Experiment Wie gut beherrschen Sie die deutsche Sprache? Orientieren Sie sich am Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen ( GER ). Führen Sie anschließend den Beispieltest zum Online-Spracheinstufungstest onSet auf https: / / refugees.onset.de/ (Stand: 1. Juni 2017) durch. Abbildung 2.4: Formulierung der sechs Niveaustufen im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen ( GER 2017) Vergleichen Sie die Ergebnisse Ihrer Selbsteinschätzung mit jenen des Online-Tests. Was können Sie feststellen? Diskutieren Sie im Forum. stehen / sprechen-… Sie die Sprache X? “ zur Anwendung kommen. Aus der Ungenauigkeit und Heterogenität der Angaben ergibt sich, dass weder die untersuchten Populationen noch ihre Selbsteinschätzungen miteinander zu vergleichen sind. Mit solchen Verfahren aber ist ein großer Teil der Migrationsforschung in Bezug auf die Feststellung von Sprachkompetenzen und Mehrsprachigkeit und deren Rolle bei der Integration nur begrenzt brauchbar. 62 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit Aufenthaltsdauer und Arbeitsmarkt Von Interesse für die Migrationsforschung ist vor allem die Bemessung des wirtschaftlichen Nutzens von Mehrsprachigkeit. Wie beeinflussen die sprachlichen Kompetenzen die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, welche Karrieren ergeben sich daraus, welche Einkommensniveaus können dadurch erreicht werden, oder sind der Mangel an Sprachkenntnissen sowie ein ausländischer Akzent ausschlaggebend für schlechtere und schlechter bezahlte Anstellungen? Wenn Mehrsprachigkeit einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wert hätte („kulturelles Kapital“), dann müssten sich überproportional gute Chancen für Menschen ergeben, die mehrere Sprachen beherrschen, also zum Beispiel Migranten und Migrantinnen, die die Sprachen ihrer Heimat oder ihrer Familien und die Zielsprache beherrschen. In einer Metastudie zu verschiedenen deutschen und internationalen Studien hat Esser versucht, den oben genannten Fragen nachzugehen, nicht zuletzt um den wirtschaftlichen Wert der Mehrsprachigkeit im Kontext der Integrationsbemühungen zu bemessen (Esser 2006). Dabei liegt der Studie, die hier wegen ihres politischen Wirkungsanspruchs exemplarisch behandelt wird, folgende Annahme zugrunde: Der Sprachenerwerb ist theoretisch als eine, mehr oder weniger intentionale Investition unter bestimmten sozialen Bedingungen aufzufassen, die allgemein von der Motivation, dem Zugang, der Effizienz und den Kosten dieser Investition abhängig ist (vergleiche Esser 2007). In den Ergebnissen zeigt sich, dass Migranten und Migrantinnen meist schlechter bezahlt werden als Einheimische, und diejenigen, die die Sprache schlechter oder gar nicht sprechen werden schlechter bezahlt als diejenigen, die sie perfekt sprechen. Daraus zieht Esser den Schluss, Mehrsprachigkeit habe insgesamt keinen beruflichen und wirtschaftlichen Nutzen für die betroffenen Migranten oder die Gesellschaft (Esser 2006). Die Mehr-Sprachenkompetenzen beförderten nicht die berufliche Karriere, das Lohnniveau der Mehrsprachigen sei niedrig, „kompetente Bilingualität bleibt die Ausnahme“ (Esser 2006). Die Herkunftssprachen hätten, außer Englisch, keinen wirtschaftlichen Wert und sollten daher zu Gunsten der Zielsprache Deutsch und allenfalls des Englischen als international hochwertiger Verkehrssprache aufgegeben werden. In seiner Metaanalyse unterlaufen Esser eine Reihe gravierender Fehler. Die Bestimmung des Sprachstandes stützt sich-- wie dargestellt-- auf wenig verlässliche Selbsteinschätzungen. Die herangezogenen Studien behandeln die sprachlichen Fertigkeiten weder in der L1 noch in der L2 anhand von validierbaren Kriterien (etwa Blackaby, Clark, Leslie & Murphy 1994; Blackaby, Leslie, Murphy & O'Leary 1998). Wenn man den wirtschaftlichen Nutzen von Mehrsprachigkeit messen will, sind die Qualität der sprachlichen Kompetenzen der Befragten und die im Beruf tatsächlich erforderliche Qualität von (Mehr-) Sprachenkenntnissen in differenzierter Weise zu berücksichtigen. Genauso ist auch die Qualität des Aufenthalts und Zugangs zur Zielsprache und nicht nur die Verweildauer im Zielland beim Erwerb von Sprachkompetenzen zu berücksichtigen. Der quantitative Messindikator ‚Verweildauer‘ liefert keine hinreichende Erklärung von qualitativen Ursachen oder Effekten. Problematisch an der Metaanalyse von Esser und den herangezogenen Daten ist ferner, dass sie von wenig vergleichbaren Informantengruppen stammen. Diese sind zudem nicht selten in Berufen tätig, bei denen sprachliche Kompetenzen nur eine 63 2.1 Mehrsprachigkeit und Migration nachrangige Rolle spielen (vergleiche die Studien von Berman, Lang & Siniver 2003; Kalter 2006). Wenn man einen Beruf hat, in dem Sprachen im Normalfall nicht gebraucht werden und in dem das Qualifikationsniveau vergleichsweise niedrig ist, kann man nicht erwarten, dass die Mehrsprachigkeit die Defizite des Qualifikationsniveaus ausgleichen kann. In der Studie von Berman, Lang und Siniver (2003) etwa werden vor allem Programmierer, Computertechniker, Bauarbeiter und Tankstellenkassierer in den Vereinigten Staaten untersucht, zu deren Berufsfeld eigentlich keine extensiven fremdsprachigen Fertigkeiten gehören. In der deutschen Studie von Dustmann und van Soest (2002), die sich auf eine der wichtigsten Datensammlungen der Sozialforschung, das Sozioökonomische Panel ( SOEP ), stützt, werden „bildungsferne“ Migranten aus Italien, Spanien, der Türkei, Jugoslawien und Griechenland aus der Gesamtheit isoliert, um damit Aussagen über den (mangelnden) Nutzen fremdsprachiger Kompetenzen für die Arbeitstätigkeit und die berufliche Karriere abzuleiten. Viele der von Esser herangezogenen Studien zum Arbeitsmarkterfolg enthalten nur ungenaue Angaben über die untersuchten Berufe (etwa Chiswick & Miller 2002; Davila & Mora 2001; Hayfron 2001). Wieder andere gehen in Bezug auf die Fertigkeiten und Biographien der untersuchten Personen sehr selektiv vor. Bei Kalter (2006) werden die Befragten mit Hochschulabschluss oder Fachhochschulabschluss explizit aus der Erhebungsgruppe herausgenommen. So darf es nicht verwundern, dass sich aufgrund einer selektiven Datenbasis nur wenige Effekte für den Nutzen der Mehrsprachigkeit auf dem Arbeitsmarkt ergeben. 2.1.2 Grundlagen einer Didaktik der aufgeklärten Mehrsprachigkeit Aufgeklärte Mehrsprachigkeit Anhand eines typologischen Vergleichs von drei Mustern europäischer Sprachenpolitik ermittelt Stolle (2013) die unterschiedliche gesellschaftliche Wertschätzung von Migrantensprachen. Demnach verfolgt Frankreich mit seiner Sprachenpolitik einen eher assimilativen Ansatz, obwohl auch dieser Ansatz Elemente des Multilingualismus aufweist und nicht die äußerste Position des Spektrums, die Sprachenverdrängung, markiert. Schweden ist dagegen auf der anderen Seite des Spektrums angesiedelt. Es ist eines der wenigen Länder, das seit langem eine konsequent dynamische Sprachenpolitik verfolgt. Darin besitzen auch Minderheiten und Migrantensprachen einen anerkannten offiziellen Status, der sich in Unterricht und Gesellschaft manifestiert. Deutschlands Sprachenpolitik verortet Stolle zwischen den beiden Extremen als multilingual-dynamisch. In Deutschland zeigen sich demnach ambivalente Tendenzen zwischen der Betonung der Nationalsprache als Integrationssprache (Integrationskurse, Schulsprache; Dirim 2010 spricht hier von Neo-Linguizismus) und der Förderung oder Berücksichtigung von Migrantensprachen (Förderung von Grenzlandsprachen, Begegnungssprachen, Minderheitenschutz) (für weitere Informationen zur Sprachenpolitik siehe auch Lerneinheit 8.3 im Band »Sprachenlehren«). Im Gegensatz dazu bezeichnet aufgeklärte Mehrsprachigkeit ein sprachenpolitisches Desiderat (und eine sich etablierende Praxis) in internationaler Kommunikation: Statt auf eine einzige Sprache auszuweichen, die im ungünstigen Falle von keinem der Beteiligten 64 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit (richtig) gesprochen wird, oder Übersetzungen in Anspruch zu nehmen, bietet sich ein Verfahren an, bei dem jeder beziehungsweise jede Beteiligte seine oder ihre eigene Sprache spricht, aber die der anderen hinlänglich versteht. Dabei kann es auch zu Übersetzungen, Übertragungen und einem temporären Ausweichen in eine dritte Sprache kommen, aber die Grundlage der Kommunikation bildet die pragmatische Mischung der verfügbaren Sprachen. Analog zu dieser pragmatischen Kommunikationspraxis bezeichnet der Begriff ‚aufgeklärte Mehrsprachigkeit‘ eine didaktische Perspektive auf Mehrsprachigkeit. Damit wird dargestellt, dass der Unterricht didaktisch oder sprachenstrategisch je nach Nutzen und Bedingungen nicht auf nur eine Sprache fixiert sein muss (wie das mit dem Einsprachigkeitsprinzip eine Zeit lang dogmatisch vorgegeben war), sondern dass je nach didaktischem Nutzen sprachliche Strukturen (wie etwa neue Vokabeln) mehr- oder einsprachig vermittelt oder gemischt werden können (wie es zum Beispiel die diglot weave method propagiert). Mehrsprachigkeitsdidaktik Ziel aller mehrsprachigkeitsdidaktischen Modelle ist es, die Faktoren für Mehrsprachigkeit im Rahmen schulischen Unterrichts gezielter zu fördern und nutzbar zu machen. Dabei liegt die Annahme zugrunde, Fremdsprachenunterricht könne mit den gleichen zur Verfügung stehenden Ressourcen auf effizientere Weise einen besseren, aber spezifischeren Kenntnisstand erreichen. Das heißt, bei entsprechender Konzeptualisierung ließen sich mit den allgemein verfügbaren Ressourcen mehrere Sprachen bedienen, und mit einer Fokussierung auf bestimmte sprachliche Fertigkeiten in den unterschiedlichen Sprachen ließen sich die Ressourcen optimieren. So kann man etwa mit Grundkenntnissen des Lateinischen die Grundlagen für den Erwerb mehrerer romanischer Sprachen legen und mit Kenntnissen des Deutschen vergleichsweise leicht und fast ohne Unterricht Lesekompetenzen in Niederländisch oder in skandinavischen Sprachen erwerben. Die Transferdidaktik basiert auf Gemeinsamkeiten verschiedener Sprachen (interlinguale Korrespondenzen). Die von Klein und Stegmann (2000) entwickelte Methode des linguodidaktischen Sprachenvergleichs filtert zum Beispiel das romanische Sprachmaterial nach interlingualen Transferbasen in Form eines Wortes, einer lingualen Funktion oder einer konkreten Lernerfahrung aus. Diese Transferbasen bilden die Grundlage der Verständlichkeit von Sprachen einer Sprachfamilie (Interkomprehension). Wenn die gemeinsame Basis identifiziert oder ausgefiltert ist, bleiben monolinguale Profilelemente als Spezifika einer zu erwerbenden Sprache übrig. Beim Erwerb einer weiteren nahverwandten Fremdsprache, zu der der Lerner bereits in erheblichem Maße über Vorwissen verfügt, kommt es demnach darauf an, das vorhandene Wissen und seine Organisation so zu aktivieren, dass die zwischen den Ausgangssprachen und der Zielsprache liegenden kognitiven Schemata miteinander verbunden werden können. Es geht also darum das Bekannte mit dem Neuen zu verknüpfen, um das Spezifische der zu erlernenden Sprache verankern zu können (vergleiche auch den Band »Sprachenlernen und Kognition«). Das Prinzip der Ähnlichkeit greift die EuroCom-Initiative auf, die Lehrpläne und Materialien für romanische, germanische und slawische Sprachen entwickelt (siehe Klein & Stegemann 2000). 65 2.1 Mehrsprachigkeit und Migration Die Interkomprehensionsdidaktik stellt das systemische Vorgehen verschiedener Modelle dar, die auf Ähnlichkeiten von Sprachen aufbauen und bemüht sind, diese in Unterrichtsmethoden umzusetzen. Zu ihren wichtigsten Elementen gehören: 1. Die Spontangrammatik: Sie entsteht bei der ersten Begegnung mit einer einigermaßen interkomprehensiblen oder transparenten Sprache, und zwar im Moment des ersten Dekodierungsvorgangs der neuen sprachlichen Struktur. Bereits hier erkennt der Lerner bedeutungshaltiges lexikalisches Material und gegebenenfalls weitere Regularitäten in und zwischen den Sprachen. Betroffen ist daher das gesamte Sprachensystem. Die Spontangrammatik spiegelt Identifikations- und interlinguale Korrespondenzmuster, die ein Lerner als Sprachhypothesen zwischen ihm aus unterschiedlichen Sprachen bekannten Schemata und einer neuen lingualen oder semantischen beziehungsweise thematischen kognitiven Einheit generiert. Dies setzt ein tertium comparationis für das zielführende Vergleichen voraus. Ohne dieses wäre die Konstruktion einer Analogie oder eine ,Differenzierung in der Ähnlichkeit‘, das heißt die Identifikation einer Transferbasis, nicht denkbar. Die Spontangrammatik ist also eine flüchtige, instinktive Hypothesengrammatik, die im weiteren Lernprozess modifiziert wird, sofern sich das deklarative und prozedurale Wissen auf den systemischen Charakter der Sprachen einstellt und seinen Umfang erweitert. 2. Mehrsprachenspeicher: Das beim Entwurf der Spontan- oder Hypothesengrammatik konstruierte Wissen bezieht sich auf positive und negative Transferbasen sowie auf gelungene und gescheiterte Transferprozesse und bleibt langfristig verfügbar. „Während die Hypothesenverarbeitung weitgehend eine Angelegenheit des Kurzzeitgedächtnisses ist, bleiben die im Mehrsprachenspeicher gesammelten Sprachen-, Hypothesen- und Sprachlernerfahrungen im Langzeitgedächtnis verfügbar“ (Meißner 2004: 42). 3. Didaktischer Monitor: Das aufgebaute Wissen betrifft nicht ausschließlich Sprachdaten, sondern auch Lernerfahrungen und-- so vermuten die Autoren des Gießener Modells-- die Lernsteuerung. Der didaktische Monitor erhöht demnach durch Sensibilisierung die Menge der Sprach- und Lerndaten, die durch Perzeption der mentalen Verarbeitung zugeführt werden. Ohne die hier in Gang gesetzten Monitorprozesse bleibt der Mehrsprachenerwerb nach Ansicht der Autoren inzidentell, also nach ihrem Verständnis unvollständig. Des Weiteren intensiviere die Erhöhung der mentalen Verarbeitungsbreite und -tiefe die Speicherung der lernrelevanten Informationen. Indem die Lernsteuerung die Zugriffsleistungen auf Sprachdaten erhöhe, trage sie bereits zur Automatisierung interlingualer Transferroutinen bei. Deshalb verstärke Mehrsprachentraining deutlich die Fähigkeit zur Nutzung des interlingualen Transferpotenzials. Diese Vorstellung vom Funktionieren des didaktischen Monitors im Kontext der Interkomprehensionsdidaktik erinnert an verbreitete Annahmen zur Effizienz von Steuerungsmaßnahmen im Unterricht und zur Debatte über grammatikbasierte oder metakognitive Sprachbewusstheit. Inzidentelles Lernen wird dagegen in handlungsorientierten Ansätzen gerade als wichtige Grundlage des Sprachenerwerbs angesehen. Die Aktivierung intensiverer kognitiver Verarbeitung kann dementsprechend nicht nur durch metasprachliche Bewusstmachung 66 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit oder Fokussierung geschehen. Auf die Umsetzung von Interkomprehensionsstrategien im Unterricht und den Schulungsbedarf der Lehrkräfte verweist Marx (2008). 2.1.3 Zusammenfassung ▶ Transferbasen bilden die Grundlage der Interkomprehension. Wenn die gemeinsame Basis identifiziert oder ausgefiltert ist, bleiben monolinguale Profilelemente als Spezifika einer zu erwerbenden Sprache übrig. ▶ Beim Erwerb einer weiteren nahverwandten Fremdsprache, zu der der Lerner bereits in erheblichem Maße über Vorwissen verfügt, kommt es demnach darauf an, das vorhandene Wissen und seine Organisation so zu aktivieren, dass die zwischen den Ausgangssprachen und der Zielsprache liegenden kognitiven Schemata miteinander verbunden werden können. ▶ Dermaßen erschlossene sprachliche Kompetenzen können ein wichtiges Mittel auch in spontaner Kommunikation sein, da damit zumindest ein Verständnis einer fremden Sprache erschlossen werden kann, schriftlich oder mündlich. ▶ Viele Migranten und Migrantinnen, insbesondere in den soziokulturell modernen Milieus, haben ein bikulturelles Selbstbewusstsein und eine postintegrative Perspektive. ▶ Deutschkenntnisse sind unter Migrantengruppen unterschiedlich ausgeprägt und dementsprechend sind auch die Bewusstheit für die Notwendigkeit sprachlicher Kompetenzen sowie die Bereitschaft sie zu erwerben, differenziert gestaltet. ▶ Die Heterogenität der Zielgruppe und die unterschiedlichen Einstellungen zum Sprachenlernen sowie die unterschiedlichen sprachlichen Kompetenzniveaus legen grundsätzlich eine nicht segregative Sprachförderung nahe. Wenn ethnische Faktoren nicht milieubildend wirken, können sie auch nicht Maßstab für ethnisch segregierende Fördermaßnahmen sein. 2.1.4 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Welche Defizitbereiche treten in der Behandlung des Themas ‚Sprache und Integration‘ auf ? Erklären Sie die Problematik. 2. Was ist bei der Konzeptualisierung von Sprachfördermaßnahmen zu Integrationszwecken zu beachten? Welche Sprachfördermaßnahmen sind nötig um Integration zu verbessern? 3. Was ist bei der Bewertung von Sprachkompetenzen zu beachten? 4. Wie stehen ein bikulturelles Selbstbewusstsein und eine postintegrative Perspektive vieler Migranten und Migrantinnen in Bezug zur deutschen Sprache? 67 2.2 Faktoren der Mehrsprachigkeit 2.2 Faktoren der Mehrsprachigkeit Jörg Roche Individuelle Mehrsprachigkeit umfasst das Zusammenwirken aller Sprachen, die ein Individuum beherrscht und nutzt. In Lerneinheit 1.2 wurde allerdings bereits angedeutet, dass es nicht immer einfach ist, einzelne Sprachen voneinander abzugrenzen. Das heißt während man jemanden, der Deutsch und Französisch spricht, sofort als mehrsprachig einschätzen würde, könnte man bei jemandem, der Deutsch, Bairisch und Kanaksprak (siehe Lerneinheit 7.1) spricht diskutieren, ob er nun eine oder drei Sprachen beherrscht. Aus diesem Grund führt diese Lerneinheit einleitend in das Konzept der Inneren und Äußeren Mehrsprachigkeit ein. Anschließend beschäftigen wir uns damit, welche Rolle die L1 für den Sprachenerwerb spielt. Dabei möchten wir Sie dafür sensibilisieren, welche Gefahren die Modellierung von Mehrsprachigkeitsmodellen an den Struktureigenschaften von Sprachen, beziehungsweise die Annahme einer reinen L1 für die Gewinnung von Erkenntnissen zu Mehrsprachigkeit als eine dynamische Größe, birgt. Im zweiten Teil der Lerneinheit werden Ihnen lernerinterne und lernerxterne Faktoren präsentiert, die die Entwicklung von Mehrsprachigkeit beeinflussen. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ für Formen der inneren und äußeren Mehrsprachigkeit sensibilisiert werden; ▶ die Darstellung des Einflusses der L1 in traditionellen Darstellungen von Mehrsprachigkeit kritisch reflektieren; ▶ relevante Faktoren für individuelle Mehrsprachigkeit unterscheiden können. 2.2.1 Innere und äußere Mehrsprachigkeit Nach der These der natürlichen Mehrsprachigkeit beginnt diese nicht mit fremdsprachigen Codes. Auch „monolinguale“ Kinder erwerben im Laufe ihrer Sozialisation mit viel Erfolg und viel Vergnügen spielerisch und experimentell mehrsprachige Kompetenzen, die man als Varietäten der Sprache beschreiben kann. Diese natürliche Mehrsprachigkeit, die Wandruszka (1979) innere Mehrsprachigkeit nennt, entwickelt sich Zeit des Lebens mit dem Erschließen neuer Lebens- und Arbeitsbereiche weiter, obwohl gesellschaftliche Sanktionen und mangelnde Förderung in den frühen Jahren nicht selten die Entwicklung behindern. Schon in unserer Muttersprache lernen wir ein dynamisches Polysystem kennen, in dem die Sprachen verschiedener Lebenskreise, denen wir angehören, ineinandergreifen und sich vermischen. (Wandruszka 1979: 314) 68 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit Äußere Mehrsprachigkeit bezeichnet den Erwerb von Fremd- oder Mischsprachen (Hybridsprachen). Die anthropologische Dimension der inneren und äußeren Mehrsprachigkeit ergänzt das Variationsspektrum, das in der nachfolgenden Liste anhand der wichtigsten Dimensionen skizziert ist. Dabei sind die drei klassischen Kategorien des Diasystems nach Coseriu (1988a, 1988b; siehe Lerneinheit 6.1 in diesem Band) um weitere Variationsperspektiven (unterschiedlicher linguistischer Forschungsansätze) ergänzt. Damit ergeben sich auch Mehrfachzuordnungen. Sprachliche Variation kann demnach aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht und erklärt werden: ▶ anthropologisch: in Bezug auf die innere und äußere Mehrsprachigkeit ▶ diatopisch: in Bezug auf groß- und kleinräumige Dialekte; Regionalsprachen, Nationalsprachen, Kontakt- (Minderheiten-)Sprache, In-Group-Sprachen ▶ diastratisch: in Bezug auf Schicht- und Gruppensprachen, Soziolekte, Ethnolekte, Jugendsprache, Alters-, Geschlechtsspezifik ▶ diasituativ: in Bezug auf öffentliche beziehungsweise private Register, Ethnolekte, Soziolekte ▶ diachronisch: in Bezug auf die historische Entwicklung von Sprachen, zum Beispiel die Entstehung von Kreolsprachen aus Pidgins ▶ diaphasisch: in Bezug auf Kommunikationsbedingungen und Situativität, Stile und Register ▶ medial beziehungsweise modal: in Bezug auf Schriftlichkeit und Mündlichkeit, wie sie sich etwa in Diglossien manifestieren ▶ ontogenetisch: in Bezug auf den individuellen Sprachenerwerb und Sprachverlust, etwa in Aphasien ▶ phylogenetisch: in Bezug auf die (chronologische) Entwicklung eines Sprachsystems ▶ adaptiv: in Bezug auf adressatenspezifische Anpassungen, etwa kindgerichtete Sprache (Ammensprache, Motherese), Xenolekte, Pidgins, Gerolekte, Code-Switching ▶ transkulturell: in Bezug auf Neologismen, Transkulturalität ▶ didaktisch: etwa in Bezug auf die Sprache des Unterrichts, Lehrersprache Diese Kategorien sind außerdem um die pragmatische Dimension zu ergänzen, da letztlich jede Art von sprachlicher Variation immer auch pragmatisch begründet werden kann. Im Zusammenhang mit sprachlicher Variation spricht List (2004: 133) von „quersprachiger Kompetenz“ und bezeichnet damit ein fruchtbares Potenzial, die symbolischen Dienste unterschiedlicher sprachlicher Medien und Register zu erkennen, zwischen ihnen zu unterscheiden, sie womöglich selbst zu mischen oder wechselnd zu benutzen und quer durch sie hindurch zu handeln. Quersprachige Variationsstrukturen sind Ausdruck der natürlichen Kreativität im Umgang mit Sprache. Kinder und Jugendliche schaffen sich aus diesem Grund Geheimsprachen oder imitieren mit Freude und Leichtigkeit andere Kinder, Erwachsene, Cartoonfiguren oder öffentliche Stars. Lerner einer fremden Sprache haben vor allem deshalb Zugangsschwierigkeiten zu dem dargestellten Variationsspektrum der Sprachen, weil es am Anfang des Erwerbs von außen betrachtet unkonturiert erscheint und weil aus diesem Grund 69 2.2 Faktoren der Mehrsprachigkeit im Unterricht die Vielfalt oft reduziert, vermieden oder in die fortgeschrittenen Stufen ausgelagert wird. Eine erwerbsfördernde Funktion könnten aber gerade solche Variationstypen übernehmen, die den Lernern aufgrund ihres Erwerbsstandes besonders nahe sind, nämlich solche Strukturen, die von den Lernern auf ihren jeweiligen Erwerbsstufen verarbeitbar sind oder den Strukturen ihrer Erwerbsstufen entsprechen (vergleiche auch Kapitel 7 in diesem Band). 2.2.2 Einfluss der L1 In den Mehrsprachigkeitsmodellen, die sich dagegen an die Kontrastivhypothese anlehnen, spielen Aspekte der gegenseitigen Beeinflussung der Sprachen eine wichtige Rolle (Interferenz), aber Ausmaß und Qualität des Einflusses von vorerworbenen Sprachen und Kulturen werden in den Modellen unterschiedlich stark gewichtet. Die Kontrastivhypothese geht davon aus, dass die erworbenen Vorsprachen, vor allem aber die L1, einen Einfluss auf den weiteren Sprachenerwerb haben. Bei der Modellierung von L1 und L2 werden allerdings homogene Sprachgebilde vorausgesetzt. Das heißt, dass Konzepte der sprachlichen Variation dort nicht berücksichtigt werden. In dem foreign language acquisition model ( FLAM ) von (Groseva 1998) etwa kommt der strukturellen Verwandtschaft der Sprachen eine wichtige Bedeutung zu: Die nähere Sprache übernehme demnach über bewusste und unbewusste Sprachlernstrategien die Funktion der Kontroll- und Korrekturinstanz für die weiteren Sprachen. Erst mit zunehmenden Sprachlernerfahrungen würden die Strategien vertieft und reflektiert. Als Resultat des Erwerbsprozesses entstehe ein L2-System, das alle charakteristischen Merkmale der Zielsprache, aber auch Interferenzerscheinungen aus der L1 sowie spezifische und nach Ansicht des Lerners besonders erfolgreiche Lern- und Kommunikationsstrategien in der L2 enthalte. Diese bewusst gelernte L2 wird nach unserer Ansicht zu einer Art Korrektur- und Kontrollinstanz für jede weitere nächste Fremdsprache (L3, L4 etc.). (Groseva 1998: 22) Auf die katalytische Funktion des kognitiven Entwicklungsstandes beim Sprachenerwerb hebt dagegen die Schwellenhypothese ab. Sie geht davon aus, dass die vermeintliche Globalkompetenz der Erstsprache eine Referenzfunktion für die kognitive Entwicklung und damit für den L2-Erwerb hat. Ursprünglich wird aus dieser Referenzfunktion eine kausale Wirkung abgeleitet. Demnach sind gut ausgeprägte Sprachkompetenzen in der L1 Bedingung für den L2-Erwerb und guter L2-Erwerb ist die Grundlage zur Entwicklung höherer kognitiver Kompetenzen. 70 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit Abbildung 2.5: Schwellen- und Interdependenzhypothese (nach Skutnabb-Kangas & Toukomaa 1977) Der Interdependenzhypothese zufolge sind also bestimmte minimale Niveaus in den Sprachen erforderlich, wenn der Sprachenerwerb positive Effekte auf die allgemeine kognitive Entwicklung der Lerner haben soll (vergleiche Abbildung 2.5). Diese Niveaus werden in Bezug auf die Kompetenz in der Erstsprache definiert und meist an Alter oder sozioökonomischem Status festgemacht. Die Hypothese besagt, dass der Erwerb einer fremden Sprache eher negative Effekte auf die kognitive Entwicklung eines jungen Lerners habe, wenn der Lerner nur eine niedrige Kompetenz in seiner Erstsprache besitze. Das Resultat sei dann ein doppelter Semilingualismus, eine niedrige Kompetenz in Erst- und Zweitsprache. Über dieser Schwelle, in so genannten Standardfällen, in denen die Erstsprache zwar gut entwickelt ist, die Zweitsprache aber weniger gut, sind demnach die Effekte auf die kognitive Entwicklung neutral, das heißt, weder positiv noch negativ. Erst im additiven Bilingualismus, bei einer hohen Kompetenz in Erst- und Zweitsprachen, lassen sich positive Effekte auf die allgemeine kognitive Entwicklung feststellen. Skutnabb-Kangas und Toukomaa (1977) fassen diese Hypothesen in dem Diagramm in Abbildung 2.5 zusammen. Diese frühen Hypothesen zur Mehrsprachigkeit haben unter anderem dazu geführt, Förderunterricht für Kinder mit Migrationshintergrund in deren Erstsprache einzuführen (muttersprachlicher Unterricht wie Türkisch für Kinder mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland und Österreich), wenn diese nicht gut ausgebildet war. Erst nach der Etablierung der Grundlagen der Erstsprache kam der Unterricht in der neuen Umgebungssprache (zum Beispiel Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache) hinzu. Die Hypothesen sind später durch Cummins‘ Differenzierung zwischen Bildungssprache (Cognitive Academic Language Proficiency, CALP ) und instrumentellen umgangssprachlichen Fertigkeiten (Basic Interpersonal Communicative Skills, BICS ) weiterentwickelt worden (Cummins 1981). Diese Differenzierung ist ein wesentliches Kriterium für die Bewertung der allgemeinen kognitiven Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler. Im Sinne von Cummins globaler Unterscheidung lässt sich bei Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund vor allem ein Mangel an Kompetenzen in konzeptioneller Schriftlichkeit feststellen. Auch ihren schriftlichen Arbeiten in der Schule liege demzufolge ein Konzept von Sprache zugrunde, das eigentlich mündlich sei. Die konzeptionelle Mündlichkeit lasse sich als Grundlage medial schriftlicher Produktionen von Schülerinnen und Schülern und 71 2.2 Faktoren der Mehrsprachigkeit damit als Fehlerquelle des Unterrichts und Ursache für schlechte schulische Leistungen identifizieren. Zu der Unterscheidung von konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit und unterschiedlichen medialen Realisierungen siehe Dürscheid und Brommer (2009). 2.2.3 Zur Problematik der Referenzfunktion der L1 und des BICS und CALP -Ansatzes Die Festlegung auf die Referenzfunktion der L1, der Bezug auf das strukturelle Verhältnis der beteiligten Sprachen, die globale Zuordnung von Schwellen und die bipolare Festlegung von bildungs- und umgangssprachlichen Kompetenzniveaus sind trotz ihrer weiten Verbreitung in einer Reihe von Aspekten problematisch. Der Übergang von Schwelle zu Schwelle oder in einen anderen Modus erfolgt nicht abrupt, sondern ist sowohl intraals auch intermodal (mündlich, schriftlich) fließend. Der Einfluss sprachlicher Struktursysteme auf den Erwerb sprachlicher Kompetenzen ist-- wie bereits dargestellt-- umstritten. Die Modellierung von Mehrsprachigkeitsmodellen an den Struktureigenschaften von Sprachen festzumachen, wie beispielsweise im foreign language acquisition model, behandelt nur Teilaspekte des Sprachenerwerbs und des Managements von Mehrsprachigkeit. Die Annahme einer reinen Mutter- oder Herkunftssprache der Lerner, die gänzlich anders ist als die Zielsprache, berücksichtigt vor allem bei Kindern der zweiten, dritten und späteren Migrantengeneration nicht die Mischungsprozesse der Sprachen. Für Kinder aus Migrantenfamilien ist die Sprache der Eltern oft nicht ihre eigene Muttersprache, sondern bestenfalls Familiensprache. Deshalb sind Ansätze fehlleitend, die unkritisch und pauschal auf die Muttersprache der Migrantenkinder aufbauen. Diese Einschränkung gilt in verstärktem Maße für Familien, in denen die Eltern unterschiedliche Erstsprachen beherrschen (vergleiche hierzu auch Brizić 2009, 2008). Die Identifikation der Kinder und Jugendlichen mit den Sprachen der Eltern steht in einem wechselseitigen Verhältnis zum Sozialprestige der Sprachen in der Umgebungsgesellschaft. Das Prestige der Sprachen hat Auswirkungen auf die Selbsteinschätzung sprachlicher Kompetenzen und beeinflusst Sprachenerwerb und Sprachenerhalt sowie Identitätsbildung. Kinder mit der Familiensprache Türkisch verweigern zum Beispiel in deutschsprachiger Umgebung oft den Gebrauch des Türkischen und scheuen sich auch davor, anzugeben, dass sie die Sprache kennen und wie gut sie sie können (vergleiche Brizić 2009). Von besonderer Relevanz im cognitive academic language proficiency-Ansatz sind die in der Regel schwach ausgeprägten schriftsprachlichen Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen. Die von Cummins (1981, 1982, 1991) vorgenommene Globalkategorisierung als cognitive academic language proficiency verlangt hier eine weitere Differenzierung in die unterschiedlichen funktionalen Bereiche der Schriftlichkeit (Bildungssprache, Arbeits- und Berufssprache, Alltagssprache). Das heißt, bei der Diagnose des Kompetenzproblems werden im cognitive academic language proficiency-Ansatz Aspekte der institutionellen Verwendung von Sprachen in Bildung, Beruf und öffentlicher Verwaltung zu wenig berücksichtig, und zwar in der Zielsprache, aber meist noch stärker in den Familiensprachen. Schriftlichkeit und Mündlichkeit bezeichnen nicht ein bi-polares Kontinuum sprachlicher Kompetenzen. Vielmehr sind sie je nach Textgattung unterschiedlich ausgeprägt und es gibt, zumal in einer zunehmend von Medien beeinflussten Zeit, eine Fülle von Misch- und Übergangsformen. Auch Bildungssprache ist kein mono- 72 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit lithischer Komplex (siehe hierzu auch die Ausführungen zu den Milieustudien in Lerneinheit 2.3). Die Gleichsetzung kognitiver Kompetenzen mit Bildungssprache und ihre Kontrastierung mit alltagssprachlichen Kompetenzen suggeriert eine klare Trennung konträrer Modi. Der Begriff Kognition wird dabei in restriktiver Weise auf elaboriertes und systematisches Lernen bezogen, das zudem eine gewisse Affinität zur Schriftsprache ausdrückt. Gleichzeitig verschwimmen im Begriff academic die Grenzen zwischen bildungs- und wissenschaftssprachlichen Normen. Mit den in Folge der cognitive academic language proficiency und basic interpersonal communicative skills-Kategorisierung vorgenommenen Modifikationen (Cummins 1991) wurde versucht, diese Beschränkungen durch eine Kombination von conversational and academic language proficiency aufzulösen, aber dieser Kompromiss ändert nichts Grundsätzliches an den unklaren Definitionen von Kognition und Sprachkompetenz in den genannten Modellen. Verschiedene Untersuchungen an Schulen mit bilingualen Zweigen, die auf der Grundlage der Schwellen- und Interdependenzhypothese durchgeführt wurden, belegen, dass mehrsprachige Schülerinnen und Schüler oft bessere Leistungen in Fächern erbringen, in denen Sprache vermittelt wird. Bemerkenswerterweise erzielen diese Schülerinnen und Schüler oft aber auch in anderen Fächern besonders gute Ergebnisse. Es wird vermutet, dass die gut ausgeprägte Sprachenbewusstheit der mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler Transfereffekte auf die allgemeine kognitive Entwicklung bewirkt. In einer longitudinalen Vergleichsstudie zur Überprüfung der Interdependenzhypothese untersuchten zum Beispiel Bournot-Trites und Reeder (2001) die Entwicklung von Schülerinnen und Schülern mit der L1 Englisch von der 4. bis zur 7.Klasse in einer bilingualen Schule in Kanada, und zwar in Bezug auf sprachliche Kompetenzen in Englisch (L1) und Französisch (L2) und in Bezug auf ihre Leistungen in Mathematik. Die Aufteilung der Gruppen erfolgte nach dem Anteil des Französischunterrichts: Eine der Gruppen erhielt 50 % des Unterrichts in der Zweitsprache Französisch, die andere 80 %. Auch der Mathematikunterricht der zweiten Gruppe erfolgte auf Französisch. Die Rahmenbedingungen der beiden Gruppen wurden ansonsten soweit wie möglich identisch gehalten. So hatten beide Klassen bis auf wenige Ausnahmen die gleichen Lehrer und wurden nach den gleichen Lehrplänen unterrichtet. Es zeigte sich, dass die Lerner beider Gruppen im Englischunterricht die kanadischen Standards von gleichaltrigen monolingualen Schülern übertrafen, zum Beispiel in Leseverstehenstests. Beachtlich sind aber auch die Ergebnisse der Mathematiktests, die in den beiden letzten Schuljahren der Untersuchung auf Englisch durchgeführt wurden. In allen getesteten mathematischen Bereichen des Stanford Diagnostic Mathematics Test schnitten die Schüler der 80 %-Französischgruppe deutlich besser ab, als die Schüler, die den Mathematikunterricht auf Englisch hatten. Das zeigt nicht nur, dass das in einer Sprache erworbene Wissen bei einem entsprechend gut entwickelten Sprachstand in andere Sprachen übertragen werden kann, sondern auch, dass die vertiefte Zweitsprachenkompetenz mit anderen Fertigkeiten (zum Beispiel abstrakten mathematischen Fertigkeiten oder Leseverstehen) positiv korreliert. Da die Gruppen aus dem gleichen sozialen Umfeld stammten und die Unterrichtsbedingungen weitgehend identisch waren, liegt es nahe, der unterschiedlichen Intensität der Vermittlung der Zweitsprache die Hauptverantwortung 73 2.2 Faktoren der Mehrsprachigkeit für die Ausprägung der besseren Ergebnisse in den Sprachtests und bei den Transferleistungen in die Mathematik zuzuschreiben. Experiment Führen Sie eine Umfrage durch. Fragen Sie die ersten 15 Personen, die Ihnen heute über den Weg laufen nach den Sprachen, die sie beherrschen, wie sie sie gelernt haben (Familie, Alltag, Schule, Sprachkurs, …), dem Niveau auf dem sie sie schriftlich und mündlich beherrschen (nach dem GER ) und erkundigen Sie sich nach ihrem Bildungsabschluss. Lassen Sie die erhobenen Daten korrelieren. Sind Mehrsprachige gebildeter beziehungsweise verfügen sie über höhere kognitive Fähigkeiten? Eine Kausalität kann dadurch bisher jedoch nicht nachgewiesen werden. Das Forschungsspektrum zu Aspekten der Mehrsprachigkeit ist damit nicht erschöpft. So beschäftigt sich eine Reihe weiterer Studien zum Beispiel mit soziobiographischen und sozialen Bedingungsfaktoren gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit, zu denen Kriterien wie Status, Prestige und gesellschaftlicher Wert der Mehrsprachigkeit (siehe die Auflistung zur Problematik der Referenzfunktion der L1 oben), Freiwilligkeit beziehungsweise Erzwungenheit und Individualität beziehungsweise Kollektivität der Sprachnutzung, territoriale Gebundenheit der Sprache, Institutionalität (Grad des offiziellen Status der Sprache) sowie migrationsbedingte Erscheinungen oder auch pathologische Mischformen gehören (vergleichen Sie dazu die Behandlung von sprachlichen Variationserscheinungen in Neuland (2006) und die Mehrsprachigkeitsdimensionen bei Oppenrieder und Thurmair (2003) sowie die Analyse der pädagogischen Aspekte bei Dirim (2005) und Mecheril, Dirim, Gomoll, Hornberg und Stojanov (2010)). So lässt sich darstellen, dass kombinierte und koordinierte Formen der Mehrsprachigkeit den Wissenstransfer unabhängig von der Sprache, in der das Wissen erworben wird, begünstigen. Wissensbestände sind bei ausgeglichener Mehrsprachigkeit-- wie es auch die Interdependenzhypothese postuliert-- aus allen beteiligten Sprachen in ähnlicher Weise abrufbar oder aktivierbar. 2.2.4 Lernerinterne Faktoren Im Folgenden sollen die wichtigsten lernerinternen Faktoren, die beim Erwerb von Mehrsprachigkeit interagieren, skizziert werden. Diese Faktoren sind als Variablen des Sprachenerwerbs schon lange bekannt und in unterschiedlicher Ausführlichkeit erforscht worden. Dabei wird vorwiegend versucht, die Wirkungspotenziale einzelner Faktoren in Isolation zu bestimmen oder es werden globale Aussagen angestrebt, wie etwa zur Rolle der Motivation oder des Alters im Sprachenerwerb. Die Wirkung der Faktoren lässt sich in Isolation schwer bestimmen, weil sie-- wie die dargestellten Modelle postulieren-- in Wirklichkeit in einem dynamischen System interagieren. Die komplexe Dynamik lässt sich bisher jedoch nur abstrakt darstellen und ist naturgemäß schwer empirisch zu messen. 74 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit Interesse und Motivation Emotionale oder affektive Faktoren spielen in vielen Mehrsprachigkeitsmodellen eine tragende Rolle. Deklariert werden sie unter anderem als Motivation, Selbstbewusstsein, Introversion und Extroversion, Empathie, Anomie, Xenophilie oder Xenophobie und Angst. Diese Faktoren bestimmen das Interesse (die intrinsische Motivation) und die extrinsische Motivation eines Lerners. Verschiedene Modelle weisen den Faktor der intrinsischen Motivation als einen besonders wichtigen aus, während der Faktor der extrinsischen Motivation im Faktorenmodell erst für den L2-Erwerb angesetzt wird. Das liegt daran, dass das Faktorenmodell von einer existentiellen (intuitiven) Vorgabe des Erwerbsinteresses im L1-Erwerb ausgeht, das von externen Motivationsfaktoren weitestgehend unabhängig ist (vergleiche auch Gopnik, Meltzoff & Kuhl 2001). In der pädagogischen und psychologischen Motivationsforschung wird das Motivationskonstrukt stärker differenziert, als es die Unterteilung in intrinsische und extrinsische Faktoren tut. Das erweiterte kognitive Motivationsmodell von Heckhausen und Rheinberg (1980) etwa betrachtet die Interaktion von Selbst(verwirklichungs)motiven und sozialer Anerkennung als dynamischen Prozess der Erwartungsentwicklung und Einlösung von Erwartungen. Aus diesem Prozess ergibt sich schließlich eine Einschätzung der Erwartbarkeit von Erfolg, das heißt Motivation (Rheinberg 2006). Motivationsfaktoren sind dementsprechend von außen viel schwieriger zu beeinflussen, als verbreitet in der Lehr- und Lernpraxis angenommen wird. Sie sind nur bedingt steuerbar. Browns Practical Guide to Language Learning (1989) ist ein typisches Beispiel für einen Versuch, mit einer Reihe von allgemeinen Lernstrategien einen motivationsgesteuerten Unterricht herzustellen. Dieser Versuch enthält keine spezifischen Empfehlungen für das Sprachenlernen, sondern eine Auflistung externer Motivatoren, die dem Aufbau von Selbstvertrauen zuträglich sind. Inwiefern die Motivationsstrategien mit verschiedenen Lernkulturen und Lerntraditionen kompatibel sind und wie sich aus externen Motivationsversuchen tatsächlich eine nachhaltige Wirkung auf den Sprachenerwerb erzielen lässt, geht daraus nicht hervor und kann daraus auch solange nicht hervorgehen, bis es gelingt, die Interaktion der an Motivation mitwirkenden Faktoren genauer zu bestimmen. Selbstbewusstsein Die (positive) Selbstschätzung und das Selbstbewusstsein haben einen entscheidenden Einfluss auf die Kommunikationsbereitschaft. Die Bereitschaft, ein Kommunikationsrisiko einzugehen und mit unerwarteten Reaktionen zurechtzukommen, ist stark von der Ausprägung des Selbstbewusstseins abhängig. Die Selbstschätzung hängt stark von der Selbsteinschätzung der Sprachkompetenz (perceived language competence) ab (siehe 2.3 unten zur Sprachstandsmessung im Kontext der Migrationsforschung). Durch positive Lernerfahrungen ergeben sich entsprechende Effekte auf das Selbstbewusstsein. Selbstbewusstsein und Selbstschätzung sind damit wichtige Faktoren des Motivationsclusters. 75 2.2 Faktoren der Mehrsprachigkeit Selbsteinschätzung Im Gegensatz zum Rollen-Funktions-Modell von Williams und Hammarberg (1998), das proficiency als Kriterium ansetzt, enthält das dynamic model of multilingualism von Herdina und Jessner 2002 (vergleiche 2.2) einen subjektiven Faktor „Selbsteinschätzung der eigenen Sprachkompetenz durch den Lerner“. Schätzt eine Person demnach den Grad der erreichten Literalität für die persönlichen Kommunikationsbedürfnisse als ausreichend ein, dann sind die Anstrengungen im Hinblick auf weiteres Sprachenlernen entsprechend geringer. Der Einschätzungsprozess verläuft kontinuierlich und kann zu modifizierten Resultaten führen. Die subjektive Einschätzung der Kompetenzen und das Wissen um die Stärken und Schwächen beim Sprachenlernen sind somit wichtige Faktoren im System des Mehrsprachigkeitsmanagements. Angst Angst vor Fehlern, vor dem Fremden oder vor dem Nichterfüllen kommunikativer Aufgaben kann den Erwerbsprozess erheblich behindern. Dieser motivationswirksame Faktor wirkt sich auf andere Faktoren wie die Bereitschaft und den Mut zum Experimentieren aus. Auch die Toleranz gegenüber sprachlichen Abweichungen wird von Angstfaktoren beeinflusst. Toleranz gegenüber dem Neuen, Anderen und Unbekannten ist aber Grundbedingung für den Sprachenerwerb. Angst wirkt sich nicht nur negativ auf den weiteren Erwerb aus, sondern ist selbst das Produkt negativer Erfahrungen. So entsteht ein Kreislauf, der dem Erwerb abträglich ist. Metalinguistisches Bewusstsein Einige Mehrsprachigkeitsmodelle gehen davon aus, dass Mehrsprachigkeit hilft, ein metalinguistisches Bewusstsein auszuprägen, das über das von Monolingualen hinausgeht (vergleiche Nation & McLaughlin 1986: 52). Das metalinguistische Bewusstsein schließt das Wissen über die Struktur von Sprache und eine Reflexionsfähigkeit über die Funktion sprachlicher Strukturen und den Sprachenerwerb ein. Das Bewusstsein erweitert sich mit zunehmendem Sprachenerwerb. Bialystok und Martin (2004: 325) unterscheiden zwei Komponenten des metalinguistischen Bewusstseins, die nacheinander operieren: die control of attention und der process of analysis. Die control of attention bezeichnet die Steuerung der Aufmerksamkeit als einen automatisierten kognitiven Prozess des Lerners. Diesem Prozess nachgeordnet erfolgt die grammatische beziehungsweise metasprachliche Analyse. Wie sich das metalinguistische Bewusstsein im Zuge des Erwerbs entwickelt, wie gut die metalinguistischen Grundkompetenzen für eine Prozesstrennung ausgeprägt sein müssen und ob auch beginnende Lerner einen getrennten Zugang zu den Steuerungs- und Analyseprozessen haben, ist aber nicht hinlänglich geklärt. Pragmatische Sensibilität Im dynamic model of multilingualism von Herdina und Jessner (2002; siehe Lerneinheit 2.3) markieren die Begriffe interactional competence, communicative or pragmatic sensitivity, dass 76 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit multilinguale Personen über ausgeprägtere Fertigkeiten als bilinguale oder monolinguale Menschen verfügen und dass sie sich in ihrer Kommunikation sensibler auf ihre Kommunikationspartner und die soziokulturellen Bedingungen einstellen können. Diese Fertigkeiten wirken sich entsprechend auf die Motivation und die Qualität (das Sprachniveau) des Sprachenerwerbs aus. Pragmatische Sensibilität kann auch als Indikator für Sprachbewusstheit gewertet werden. Fertigkeit und Aktualität Welche Sprache welche Funktion in welcher Intensität in einem mehrsprachigen System übernimmt, entscheidet sich nach Williams und Hammarberg (1998: 322) anhand der Kriterien ‚Literalität‘ (proficiency) (Kompetenz) und ‚Aktualisierungsgrad‘ (recency) in den betreffenden Sprachen. Damit wird bezeichnet, auf welchen Kompetenzniveaus die Sprachen prinzipiell und aktuell beherrscht werden. Prinzipiell verfügbare Kompetenzniveaus geben jedoch nicht notwendigerweise den aktuell verfügbaren Stand wieder: Durch den vordringlichen Gebrauch anderer Sprachen können Kompetenzniveaus (temporär oder dauerhaft) abnehmen (Attrition, siehe auch Lerneinheit 4.3 in diesem Band). Das betrifft auch die Erstsprachen. Durch eine Aktualisierung können jedoch zuvor beherrschte Niveaus wieder aktiviert und weiter ausgebaut werden. Wissen um den eigenen Lerntyp Erfahrene Lerner können ihren Lerntyp besser einschätzen und den Lernprozess dementsprechend besser steuern. Die bessere Einschätzung führt zu einer optimierten Nutzung der Einstellungsfaktoren oder zu einer Vermeidung von Überforderung und Frustration. Dies kann wiederum zu mehr und besseren Erfolgserfahrungen führen, die sich ihrerseits positiv auf die Lernmotivation und Lernanstrengungen auswirken können. Regelorientierung, immersive Orientierung, Einstellungen zu Sprachen und zur Fremdsprache, Einstellungen zu Menschen, Einstellungen zu Fremden, Einstellungen zum Lernen, Einstellungen zur Lehrkraft, Ausdauer und Belastbarkeit, Fähigkeit und Bereitschaft zu kritischem Denken (kritische Kompetenz) gehören zu den Faktoren, die einen Lerntyp bestimmen und damit motivationsrelevant sind. Die gängigen Lernertypologien enthalten zwischen drei und fünfzig verschiedene Typen. Dennoch gilt keine der Typologien als vollständig und daher ist ihr Nutzen für den Sprachenerwerb bisher nicht erwiesen. Eines der meistzitierten Modelle ist das von Kolb (1984, zitiert bei Duda & Riley 1990: 25). Es versucht, die Komplexität der interagierenden Faktoren in den vier folgenden Grundstilen des Lernens zu fassen: Divergent style, emphasizing concrete experience and reflective observation. The diverger has imaginative ability and is aware of meanings and values. He performs well in situations that call for generation of alternative ideas and implications („brainstorming“), is interested in people, and tends to be imaginative and feeling-oriented. Assimilative style, emphasizing reflective observation and abstract conceptualization. Those oriented towards assimilation have the ability to create theoretical models and integrate observations into 77 2.2 Faktoren der Mehrsprachigkeit them. They are less focussed on people and more concerned with ideas and concepts. Ideas are judged less by their practical value; what is more important is that the theory is precise and logically sound. Convergent style, emphasizing abstract conceptualization and active experimentation. The converger’s strength is in problem-solving, decision-making and the practical application of ideas. He does well in situations where there is a single correct answer or solution to a problem or a question. Convergent people are controlled in their expression of emotion, preferring to deal with technical tasks and problems rather than social and interpersonal issues. Accommodative style, emphasizing active experimentation and concrete experience. Accommodative people are good at doing things, carrying out plans and tasks, and getting involved in new experiences. They adapt easily to changing circumstances, take risks and seek opportunities for action. In situations where the theory or plans do not fit the facts, they discard the plan or theory, rather than re-examining or discarding the facts. They tend to solve problems in an intuitive and trial-and-error manner, relying on other people for information rather than their own analytic ability. They are at ease with people but are sometimes seen as impatient or „pushy“. (Duda & Riley 1990: 25) Sprachenerwerbsvermögen und -eignung (Language Acquisition Capacity und Aptitude) Alle neueren Mehrsprachigkeitsmodelle gehen von einer prinzipiellen physiologischen Sprachenerwerbs- und -lernfähigkeit aus, die jedoch durch Dyslexien, neurologische Teilstörungen oder Wahrnehmungseinschränkungen für bestimmte Fertigkeiten begrenzt sein kann. Die Lerneignung steuert den tatsächlichen Verlauf sowohl des L1-Erwerbs als auch des Lernens der folgenden Sprachen. Die Grundeignung ist demnach bei der Geburt vorhanden, wird aber durch sprachliche Erst- und Vorerfahrungen, sprachlichen Input und die Art des Inputs (aus) geprägt (siehe Gopnik, Meltzoff & Kuhl 1999 und Missler 1999: 17ff). Negative Erfahrungen können zu einer Art Selbstausschluss führen, obwohl es keine belastbaren Gründe für eine pauschale Selbstexklusion gibt. Kompetenzen zur Diskriminierung und Analyse der Eingabe sind Teil der Sprachlerneignung und verfeinern sich mit dem Erwerb weiterer Sprachen. 2.2.5 Lernerexterne Faktoren Unter den lernerexternen Faktoren werden die Faktoren gefasst, die von der Lernumgebung ausgelöst und gestaltet werden, wie zum Beispiel die Qualität und Quantität des Inputs. Im Laufe des Erwerbs können sie soweit internalisiert werden, dass die Äußerlichkeit aufgegeben ist. Beim Zugang zur Eingabe können die Lerner beispielsweise direkte oder selektive Strategien entwickeln, die es ihnen erlauben, nach subjektiver Einschätzung besser zu lernen. Sind diese Strategien erfolgreich und finden Bestätigung, können sie soweit internalisiert werden, dass die Steuerung auf den Lerner übergeht oder eine Umgewichtung des Faktors erfolgt. Das Motiv, Zugang zu authentischer Eingabe für den Sprachenerwerb zu bekommen, kann so etwa übergehen in ein Motiv, mit bestimmten Menschen, Ereignissen oder Dingen Kontakt zu haben. Die lernerexternen Faktoren werden in den verschiedenen Modellen in unterschiedlichem Umfang behandelt. Dazu gehören Lernumwelt und kultureller Kontext (learning environment und cultural context). Die folgenden Maßnahmen gelten allgemein als förderlich für den Aufbau einer guten Lernumgebung im Unterricht: 78 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit ▶ die sinnvolle Kombination verschiedener Lernaktivitäten (aufgaben-und projektorientiertes Lernen) ▶ die Reduktion von Ablenkungen und Exkursen ▶ die Beibehaltung eines mittleren Schwierigkeitsniveaus ▶ die Einhaltung eines mittleren Niveaus (bei der Abstimmung der persönlichen Beteiligungserwartungen auf die tatsächlichen sprachlichen Fertigkeiten der Lerner sowie bei der Vermeidung emotionaler Themen, die von der Aufmerksamkeit auf die Sprache ablenken) ▶ ein induktiver Ansatz, der viel Raum für Entdeckungen und Hypothesenbildung lässt ▶ die Frage des gesellschaftlichen Sprachstatus, der Auswirkungen auf die Motivation zum Lernen einer fremden Sprache hat. 2.2.6 Zusammenfassung ▶ Nach Wandruszka wird zwischen innerer und äußerer Mehrsprachigkeit unterschieden, wobei innere Mehrsprachigkeit die Vorstellung bezeichnet, dass jeder Mensch eine natürliche Mehrsprachigkeit erwirbt, indem verschiedene Varietäten einer Sprache erworben werden. Die äußere Mehrsprachigkeit beginnt mit dem Erwerb von Zweit-, Fremd- oder Mischsprachen. ▶ Neben dem klassischen, dreigliedrigen Diasystem nach Coseriu, gibt es zahlreiche weitere Pespektiven, aus denen Mehsprachigkeit und Sprachvariation betrachtet und untersucht werden kann. ▶ Zum Einfluss der L1 auf den Sprachenerwerb haben Sie mehrere theoretische Perspektiven kennengelernt und einzelne Ansätze kritisch hinterfragt. Dabei haben wir die Problematik der Theorien thematisiert, die Sprachenerwerb als ein bi-polares Konstrukt zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ansehen und festgestellt, dass der Übergang zwischen beiden Aspekten fließend ist. ▶ Bemühungen Lernertypologien zu erstellen sind weitestgehend uneinheitlich und gelten als unvollständig. Auch der Nutzen für den Spracherwerb ist nicht erwiesen. ▶ Gesichert ist jedoch die Erkenntnis, dass Erwerbsprozesse von internen und externen Motivationsfaktoren gesteuert werden können. 2.2.7 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Erklären Sie, was man unter innerer und äußerer Mehrsprachigkeit versteht. 2. Beschreiben Sie die Interdependenzhypothese in eigenen Worten. 3. Erklären Sie die Grundannahmen der Schwellenhypothese. 4. Wie wird das Phänomen bezeichnet, das beschreibt, dass eine zweisprachige Person beide Sprachen auf einem hohen Kompetenzniveau spricht? Ist dies der Normalfall von Zweisprachigkeit? 79 2.3 Modelle der individuellen Mehrsprachigkeit 2.3 Modelle der individuellen Mehrsprachigkeit Jörg Roche Mit den neueren Mehrsprachigkeitsmodellen stehen Faktoren der Interaktion der Sprachen und der Dynamik und Flexibilität von Mehrsprachigkeitssystemen im Vordergrund der neueren Forschung. Vor allem durch die Berücksichtigung von Drittsprachen konnte der Forschungshorizont zum Mehrsprachigkeitserwerb wesentlich erweitert werden. Ist die Forschung lange Zeit von einem additiven Verfahren ausgegangen, nach dem jeder weitere Sprachenerwerb nach der Zweitsprache (L2) im Wesentlichen wie derjenige der L2 verlaufen sollte, so ergaben sich aus der Tertiärsprachenforschung Erkenntnisse über Einflüsse und Interdependenzen der beteiligten Sprachen sowie Präferenzen und Synergien in den Erwerbsprozessen. Ein wichtiges Ergebnis dieser Forschungsarbeiten ist die Erkenntnis, dass die sprachlichen Systeme aufeinander aufbauen oder interagieren und daher eine chronologische Betrachtung des Sprachenerwerbs, die sich in der Zählweise nach L2, L3 etc. ausdrückt, keinen Sinn ergibt. Sie schlagen stattdessen eine potenzielle Mehrfachbesetzung der chronologisch bestimmten Positionen vor, und zwar je nach Charakter des Erwerbs als Zweitsprachen (L2n), Drittsprachen (L3n) oder weiteren Sprachen (multipler Sprachenerwerb). Faktoren wie proficiency oder recency, die in den traditionellen Ansätzen wenig behandelt werden, können so zum Beispiel erklären, wie aufgrund der dynamischen Einstellungen aus einer ehemals als L2 gelernten eine nicht mehr gesprochene oder beherrschte Sprache werden kann (zum Begriff der Attrition vergleiche auch Williams & Hammarberg 1998). Die neuere Forschungsrichtung hat mehrere Modelle der Mehrsprachigkeit beeinflusst, die im Folgenden genauer skizziert werden sollen: das Faktorenmodell, das Rollen-Funktions-Modell, das dynamische Modell des Multilingualismus ( DMM ) und das biotisch-ökologische Modell. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ einen Überblick über unterschiedliche Mehrsprachigkeitsmodelle gewinnen; ▶ die Komplexität, die der Modellierung von Mehrsprachigkeit und allen ihren Aspekten innewohnt, reflektieren; ▶ erkennen, welche Faktoren das Management von Mehrsprachigkeit als dynamisches System steuern. 2.3.1 Das Faktorenmodell Das Faktorenmodell von Hufeisen (2010) versteht sich als Modell zur Beschreibung sukzessiven multiplen Sprachenlernens, indem sich frühere Sprachlernerfahrungen auf den Erwerb weiterer Sprachen auswirken. Untersuchungen zur Worterkennung zeigen, stärker als Beobachtungen der Sprachproduktion, dass Lerner besonders im Anfangsstadium versuchen, 80 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit Neues über die erste Fremdsprache oder andere Fremdsprachen zu lernen, um den Rückgriff auf die L1 zu vermeiden. Grosjean (2001) bringt dieses Phänomen in Verbindung mit dem foreign language mode. Die wichtigsten lernerinternen und lernerexternen, in Interaktion befindlichen, Faktoren lassen sich exemplarisch im Rahmen des Faktorenmodells wie folgt darstellen (vergleiche Hufeisen 2010): Abbildung 2.6: Erwerb einer L1 nach dem Faktorenmodell (Hufeisen 2010: 202) Während der Erwerb der L1 weitestgehend intuitiv erfolgt, üben beim sukzessiv erfolgenden Sprachenerwerb erfahrungsbasierte, emotionale, kognitive und fremdsprachenspezifische sowie linguistische Faktoren der Sprachensysteme einen Einfluss aus. Die Sprachlerneignung des Lerners wird im Faktorenmodell nur am Rande berücksichtigt. Beim Erwerb weiterer Sprachen wirken sich die Vorerfahrungen der bereits erworbenen Sprachen entsprechend aus. Diese Interaktionsprozesse stellt die folgende Abbildung dar: 81 2.3 Modelle der individuellen Mehrsprachigkeit Abbildung 2.7: Lernen weiterer Sprachen (L2) nach dem Faktorenmodell (Hufeisen 2010: 205) 2.3.2 Das Rollen-Funktions-Modell Im Faktorenmodell werden die Sprachen als interlanguages der jeweiligen Lerner behandelt, nicht auf normativer und sprachsystematischer Basis der Strukturen der Sprachen. Durch das Lernen einer ersten Fremdsprache wird die Grundlage für eine Fremdsprachenlernbeziehungsweise Erwerbskompetenz gelegt, die weder beim L1-Erwerb noch mit Beginn des L2-Lernens vorhanden ist (Hufeisen 2010: 204). Ähnlich argumentieren Williams und Hammarberg (1998), die den Sprachen der von ihnen untersuchten Lernerin im Rollen- Funktions-Modell bestimmte Funktionen (Rollen) zuschreiben, aber auch die etymologische Verwandtschaft oder Distanz zwischen den Sprachen für eine relevante Größe beim multiplen Sprachenlernen halten. In der Langzeitstudie der englischsprachigen Lernerin der Zielsprache Schwedisch (L5), die vorher auch Französisch (L2), Italienisch (L3) und Deutsch (L4) gelernt und im Deutschen eine sehr hohe Kompetenz erreicht hatte, zeigen Williams und Hammarberg (1998), dass diese Lernerin bei metasprachlichen Äußerungen hauptsächlich auf ihre L1 Englisch und bei Sprachsuchproblemen auf ihre L4 Deutsch zurückgriff. Sie argumentieren, dass hier nicht nur die Faktoren Recency und Proficiency eine Rolle spielen, sondern auch die etymologische und typologische Nähe von Schwedisch und Deutsch. Auch eine höhere Literalität in Französisch oder Italienisch habe wegen der größeren typologischen Distanz zum Schwedischen weniger stark als Transferbasis gedient. 82 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit Experiment Füllen Sie die folgende Tabelle aus: Konzentrieren Sie sich auf die zuletzt von Ihnen gelernte Sprache. Auf welche Sprachen greifen Sie zu welchem Zweck zurück? Versuchen Sie, Ihr Verhalten zu begründen, indem Sie die Nähe oder Distanz der Sprachen, den Zeitpunkt des Erwerbs und dasaktuelle Kompetenzniveau reflektieren. Sprache Warum? metasprachliche Äußerungen Sprachsuchprobleme Aussprache Übersetzen von Redewendungen … … 2.3.3 Das dynamische Modell Das Dynamic Model of Multilingualism ( DMM ) von Herdina und Jessner (2002) basiert auf Annahmen dynamischer Organisationstheorien und wendet diese auf den Bereich der Mehrsprachigkeit an. Die Dynamik der Mehrsprachigkeit ist demzufolge getrieben von der subjektiven Einstellung des Lerners zu den zu erreichenden Zielen. Der Sprachenerwerb ist nie statisch, denn Lernumfeld und Lernkontext interagieren und verändern sich kontinuierlich. Jessner (1999) misst dem L3-Lernen dabei eine besondere Qualität bei. Wie man sich diese dynamischen Prozesse des abstrakten Modells vorstellen kann, illustriert die folgende Abbildung (siehe Abbildung 2.8) anhand der Interaktion verschiedener individueller Faktoren. Sprachlernfähigkeit und metalinguistische Kompetenzen bestimmen den Erwerbsprozess. Dabei spielt die Selbsteinschätzung der Sprachkompetenzen eine wichtige Rolle, weil sie sich auf Selbstbewusstsein, Motivation, Angst und andere Faktoren auswirkt, die sich ihrerseits gegenseitig beeinflussen (Herdina & Jessner 2002). 83 2.3 Modelle der individuellen Mehrsprachigkeit Abbildung 2.8: Darstellung der Dynamik individueller Faktoren in der Entwicklung multilingualer Systeme nach Herdina & Jessner (2002: 138), MLA = (Multi)Language Aptitude / Metalinguistic Abilities; LAP = language acquisition progress; MOT = motivation; ANX = anxiety; PC = perceived language competence; EST = self-esteem 2.3.4 Das biotisch-ökologische Modell Mit ‚Ökologie‘ assoziiert man vor allem die Merkmale: Vielfalt, Umwelt, Schutz, Ausgleich und natürliche Regulierung (Fill 1993, 1996, 2002). Das biotisch-ökologische Modell des Multilingualismus von Aronin und Ó Laoire (2004) nimmt diese Assoziationen auf und beschreibt damit Mehrsprachigkeit als ein ausgleichendes System der Sprachen im Kontext der Identitätsentwicklung einer Person. Es basiert auf der Annahme, dass Mehrsprachigkeit eine gewisse Anpassungsfähigkeit eines Sprechers oder einer Sprecherin erfordert und sich somit einzigartige Bezüge zur Identität des Sprechers beziehungsweise der Sprecherin und seinen oder ihren Zielen und Motiven entwickeln, die sich ständig den Bedingungen der Umwelt und den Interessen der Person anpassen. Das ‚Selbst‘ sucht die Balance seiner Identität und der damit zusammenhängenden Sprachen. Die Komplexität der individuellen Mehrsprachigkeit ergibt sich aus der Mischung von dominanten und peripheren Sprachen, die in verschiedenen, unterschiedlich ausgeprägten Fertigkeitsniveaus interagieren. Aus dieser Interaktion entstehen Kontaktphänomene der Sprachen inklusive Erscheinungen der Interferenz, des Codewechsels und des Transfers. Da Sprachgebrauch und damit Stärke und Bedeutung einer Sprache je nach Bedarf, Schwerpunktsetzungen und Emotionen variieren, kommt es ständig zu Attritions- und Neuentwicklungsprozessen. Die Ökologie der Mehrsprachigkeit ist wesentlich auf den individuellen Sprecher beziehungsweise auf die individuelle Sprecherin bezogen. Die unter Mehrsprachigen beobachtbare Variation und Inkonsistenz ergibt sich dementsprechend aus dem individuellen Kommunikationsbedarf und dem Interesse des Sprechers oder der Sprecherin, diesem gerecht zu werden. Als Instrumente stehen dem Sprecher beziehungsweise der Sprecherin dafür unterschiedliche Textsorten sowie die sprachliche Modalität (schriftlich- - mündlich) zur Verfügung. Mit diesen Instrumenten kann ein Sprecher oder 84 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit eine Sprecherin also den Kommunikationsbedarf regeln und sich auf die Adressaten und Adressatinnen einstellen. Das Konzept der Ökologie eignet sich nicht nur zur Erklärung der unterschiedlichen Erscheinungen von Mehrsprachigkeit, für die die traditionellen chronologischen oder globalen Paradigmen nicht ausreichen. Auch die heterogenen Erscheinungen von Codewechseln lassen sich damit prinzipiell gut fassen. Darüber hinaus kann ein ökologisches Modell erklären helfen, warum bei ausgeglichen Mehrsprachigen oft positive Transfereffekte auf andere kognitive Bereiche zu beobachten sind (Interdependenzhypothese, siehe Lerneinheit 2.2). Der sprachliche Code ist nicht nur Oberflächenerscheinung, sondern erfüllt eine authentische pragmatische Funktion in der Übertragung von Wissen. Sprachenerwerb unterscheidet sich damit nicht grundsätzlich vom Erwerb anderen Wissens. Ökologische Systeme des Sprachenerwerbs berücksichtigen das allgemeine Lernverhalten, das Lernvermögen, das Kommunikationsverhalten, das strategische Ressourcenmanagement und die Fähigkeit zur Selbstreflexion (kritische Kompetenz). Durch die Betonung funktionaler kommunikativer Kompetenzen und die Ausrichtung auf die intrinsische Motivation der Lerner für Sprachenerwerb und Sprachgebrauch ändert sich die Gewichtung der motivationalen Einflussfaktoren. Faktoren, die in Steuerungskontexten im Unterricht eine wichtige Rolle spielen, wie etwa in inhaltsbasierten Verfahren (zum Beispiel content and language integrated learning, CLIL ) und bei der Inputsteuerung, aber auch bei der Altersorientierung und der Förderung der Lernerautonomie, treten in einem ökologisch-ökonomisch ausgerichteten System stärker in den Hintergrund. Ein Grund ist, dass davon ausgegangen wird, dass die Selbststeuerungsmechanismen des Lerners und der Sprecher und Sprecherinnen das Lernen und den Ausgleich von Sprachkompetenzen regulieren. Diese Steuerungsmechanismen sprechen nur bedingt auf Steuerungsversuche von außen an. Mit ökologischen Modellen lassen sich jedoch rudimentär verbleibende Sprachstände (Stabilisierung und Fossilisierung, siehe Lerneinheit 3.3) weniger gut erklären, auch wenn man davon ausgeht, dass Sprachanlage und Bereitschaft zu experimentieren bei verschiedenen Sprechern und Sprecherinnen unterschiedlich ausgeprägt sind. Nach dem Ökologieprinzip wäre zu erwarten, dass durch den ständigen Kontakt mit der Umwelt über einen längeren Zeitraum, bei entsprechendem Kommunikationsbedarf, Sprachenerwerb erfolgt, der zur Ausbildung mehrsprachiger Kompetenzen führt. Ein Mensch, der eine Sprache erworben hat, müsste demnach unter ähnlichen Bedingungen auch eine andere erwerben können. Druck- und Zugfaktoren (push and pull) betreiben schließlich den Sprachenerwerb. Da dies aber so nicht durchgängig zutrifft, bedarf das Ökologieprinzip der Erweiterung um weitere Prinzipien. Dazu gehören: ▶ ein ökonomisches Prinzip, das Aufwand und Nutzen der Mühen des Erwerbs abwägt ▶ ein Latenzprinzip, mit dem sich die Verzögerungseffekte durch die für den Erwerb nötige Zeit gewichten lassen ▶ ein Faktorenbündel zur Erfassung des Einflusses vorerworbenen Wissens und des Umgangs mit Wissens- und Kompetenzlücken (Lernbereitschaft und Lerneignung). Qualität und Geschwindigkeit des Sprachenerwerbs sind abhängig von der subjektiven Abwägung des Aufwandes zum Sprachenlernen und des Aufwands zur Überbrückung von verbleibenden Kompetenzlücken durch ein mögliches Nichtlernen. Die Bandbreite der Stra- 85 2.3 Modelle der individuellen Mehrsprachigkeit tegien zur Bewältigung dieser Aufgabe reicht bekanntlich von Annäherungen der Sprache an die Fremdsprache (foreignizing), über Kommunikationsvermeidung bis zum Spontanerwerb von Teilkompetenzen. Das Zusammenspiel der Prinzipien, die viele der oben genannten Faktoren in gebündelter Weise abbilden, erklärt demnach, warum eine vorteilhafte Grundorientierung des Lerners auf den Sprachenerwerb trotz einzelner ungünstiger Faktoren durchaus zum Erfolg führen kann. Konkret bedeutet das etwa, dass ältere Lerner, Lerner aus bildungsfernen Schichten oder Lerner mit limitiertem Zugang zur Zielsprache sehr wohl in der Lage wären, höchste Kompetenzniveaus in Fremdsprachen zu erreichen. Die Pilotstudie von Roche, Reher und Simic (2012) illustriert am Beispiel einer Kinder-Akademie, dass dies prinzipiell auch unter schwierigsten Bedingungen gilt, nämlich für Schüler und Schülerinnen, die als verhaltensauffällig, unaufmerksam, desinteressiert und aggressiv eingestuft werden. 2.3.5 Der Capabilities Ansatz Auf dieser konstruktiven Perspektive auf Lernpotenziale basiert auch der Capabilities Ansatz in der Interkulturellen Pädagogik (Baros & Otto 2010; Otto & Ziegler 2006; Nussbaum et al. 2000). Er hat zum Ziel, das differenzierte kulturelle Kapital von Kindern aus Migrantenfamilien im handlungsorientierten Lernen in schulischen Kontexten stärker zum Tragen zu bringen, zum Nutzen der betroffenen Schüler und Schülerinnen und der Gesellschaft. Baros (2008) skizziert diesen Ansatz folgendermaßen: Unter Capabilities werden zunächst ganz allgemein die tatsächlich realisierbaren Fähigkeiten von Menschen zum Handeln und Gestalten innerhalb eines sozial und institutionell strukturierten Möglichkeitsraums verstanden. Auf (Migranten-)Kinder, (Migranten-) Jugendliche und ihre Familien bezogen lässt sich in diesem Sinn die Frage klären, wie über Bildung und Befähigung dauerhafte Verfestigungen sozialer Nachteile vermieden bzw. Möglichkeiten geschaffen werden können, die es ihnen erlauben, ein Leben zu führen, für das sie sich selbst mit guten Gründen entscheiden können. In dieser Hinsicht eröffnet der Befähigungsansatz einen analytisch fundierten Blick auf praktisch realisierbare Handlungsmöglichkeiten und sozial-, kulturell-, politisch bzw. ökonomisch bedingte Zugänge, Berechtigungen und Chancen zum Handeln. Ein wesentliches Moment des Ansatzes besteht in der Unterscheidung zwischen physischen, psychischen und sozialen ‚Funktionsweisen‘ von Kindern und Jugendlichen (was sie aktuell tatsächlich ‚tun‘ und ‚sind‘) und ihren Fähigkeiten, Kompetenzen oder Vermögen im Sinne der Möglichkeiten, die ihnen offen stehen, um für ihr Leben (beziehungsweise ihre Lebensziele) wertvolle Daseinsformen und Tätigkeiten realisieren zu können (Capabilities). Eine konstruktive Herausforderung für eine Interkulturelle Erziehung auf der Basis eines Befähigungsansatzes liegt genau in der praktischen Gestaltung und Erweiterung dieser Handlungsfähigkeiten und Gestaltungsmöglichkeiten, die sich in Form von Verwirklichungschancen junger Menschen niederschlagen. Während Benachteiligung aus einer solchen Befähigungsperspektive dann vor allem als ‚Mangel an Verwirklichungschancen‘ zu verstehen ist, ist der Wert bilingual-bikultureller Maßnahmen für Kinder und Jugendliche daran zu messen, ob diese Chancen erhöht worden sind. Unter ‚Verwirklichungschancen‘ werden Autonomiegewinne verstanden, die junge Menschen dazu befähigen, mit 86 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit Gründen erstrebte Lebensentwürfe real verwirklichen, d. h. ein als sinnvoll erkanntes Leben führen zu können. (Baros 2008: 7f) 2.3.6 Mehrsprachigkeit als kulturelles Kapital Mehrsprachigkeit kann als Kapital betrachtet werden, das bisher zu wenig geschätzt und sowohl gesellschaftlich als auch wirtschaftlich zu wenig genutzt wird. Die Hierarchisierung der Sprachen nach- - schlecht bewerteten- - Migrantensprachen und-- hoch bewerteten-- Bildungssprachen verhindert eine aufgeklärte Sichtweise auf Mehrsprachigkeit und auf die effiziente Nutzung vorhandener und leicht entwickelbarer Potenziale. Würde das kulturelle Kapital der Mehrsprachigkeit in Gesellschaft, Wirtschaft und Bildung genutzt werden, ergäben sich vielfache Vorteile: ▶ eine effektivere Kommunikation über Sprachengrenzen hinweg ▶ ein effizienterer Sprachunterricht und Erwerb von bildungssprachlichen Kompetenzen in den vorhandenen Sprachen ▶ Transfereffekte auf den Erwerb und die Nutzung weiterer Sprachen ▶ soziale Anerkennung und Integration ▶ außenwirtschaftliche Vertriebserfolge ▶ beträchtliche ökonomische Einsparungen durch Vermeidung ineffizienter und wenig ertragreicher Formen des Sprachunterrichts und durch die Umverteilung der Ressourcen ▶ eine effektivere und effizientere Nutzung fremdsprachiger Innovationspotenziale in Arbeitsmarkt und Wissenschaft ▶ und eine Verbesserung interkultureller Kompetenzen und transnationaler Verständigung. Aus der Wertschätzung von Sprachen ergäbe sich eine direkte Wertschöpfung. Die Abschätzung des Lernaufwands im Verhältnis zum Nutzen der Mehrsprachigkeit ist wesentlich abhängig vom kulturellen Wert der Sprache für einen Sprecher oder eine Sprecherin. Dieser Wert ergibt sich im Wesentlichen aus der wahrgenommenen Wertschätzung einer Sprache in der Gesellschaft: Ist sie notwendig, ist sie bildungsrelevant oder Karriere entscheidend, kann man mit ihr etwas erwerben, trägt sie Prestige? (Brizić 2009, 2007). Die Vorstellung von Sprache als gesellschaftliches ‚Produktionsmittel‘, als entscheidendes ‚Kapital‘ zur Erschließung sozialer und wirtschaftlicher Potenziale, geht auf Pierre Bourdieu (Bohn & Hahn 2007) zurück. Die herkömmliche Vorstellung von Kapital als materiell-ökonomischer Größe wird damit um weitere Kapitalformen ergänzt, unter anderem um das Konzept des kulturellen Kapitals. Das kulturelle Kapital umfasst die inkorporierten Wissensbestände (inklusive des Sprachenwissens), die Mehrwerte erzeugen können, und zwar entweder durch die Anreicherung weiteren Wissens („kulturellen Kapitals“) oder durch die Transformation dieses Kapitals in andere Kapitalformen. Diese Modellvorstellung ist hilfreich, um die strukturelle Beschaffenheit einiger typischer Zugangsprobleme zu gesellschaftlichen Rollen darzustellen. Die Transformationsmöglichkeiten für bestimmte Kapitalformen gestalten sich dabei nicht 87 2.3 Modelle der individuellen Mehrsprachigkeit beliebig, sondern nach den vorliegenden Macht-und Herrschaftsstrukturen einer jeweiligen Gesellschaft. Typisch für die Situation von Migranten und Migrantinnen ist, dass sie einen großen Anteil ihres kulturellen Kapitals für Transformationen nicht einsetzen können, selbst wenn das Kapitalvolumen an sich einen beträchtlichen Umfang aufweist. Das liegt daran, dass die entsprechenden sprachgebundenen Bestandteile ihres kulturellen Kapitals in der Zielgesellschaft nicht als legitimiert gelten. Wenn man über institutionelle Hürden und Einschränkungen der Zielgesellschaft hinausginge, wäre dieses kapitale Wissen jedoch durchaus erfolgreich transformierbar: in soziale Beziehungen, wirtschaftliche Tätigkeiten sowie in weitere gesellschaftlich wirksame Handlungsmöglichkeiten. Diese Möglichkeiten bestehen bemerkenswerterweise auch ohne einen ausgeprägten Formalisierungsgrad des Ausgangskapitals, das heißt ohne institutionelle Zertifizierung (Sprachzeugnisse). Herkunfts- oder Familiensprachen stellen also ein ruhendes Vermögen dar, das potenziell gewinnbringende Wissensschätze enthält, die ihre Berechtigung als nützliches und verwandelbares Kapital behalten können und nicht verdrängt werden müssen. Gerade mit der stetig steigenden Reichweite des Individuums durch erhöhte Mobilität, neue Kommunikationsformen und andere Globalisierungseffekte steigen auch die potenziellen Konversionsmöglichkeiten geradezu exponenziell. Die klassischen sozialstrukturellen Probleme der Exklusion von (Migranten- und Migrantinnen-)Milieus, die auf mangelndem Kapitalvolumen basieren, ließen sich durch die Anerkennung von Sprachkompetenzen als Kapital vermeiden oder mildern. Würde das Vermögen gesellschaftlich als legitimes Kapital akzeptiert, gäbe es im Gegensatz zu den klassischen sozialstrukturellen Problemen der Exklusion von Milieus aufgrund mangelnden Kapitalvolumens keinen Grund, warum sich die Konversion dieses Kapitals nicht vollständig entfalten sollte. Zudem könnte der volle Umfang der mitgebrachten Kompetenzen in der Zielgesellschaft nicht nur genutzt, sondern auch vererbt werden. Die Realität sieht jedoch anders aus. Der natürlich erworbenen Mehrsprachigkeit wird in vielen Aufnahmeländern nur ein bedingter Wert zugeschrieben, während gleichzeitig aber ein großes Kapitalvolumen in schulisch vermittelte Sprachkenntnisse mit ungewisser Rendite investiert wird. Während in Deutschland, Österreich und anderen Ländern Migrantensprachen und -kulturen nach einer Prestigehierarchie bewertet, geordnet und-- wie Dirim (2010) darstellt-- im Vergleich zu anderen Sprachen gesellschaftspolitisch abgewertet werden, werden Schulsprachen-- oft als abstrakte Bildungssprachen ohne viel Gesellschaftsbezug-- aufgewertet und mit umfangreichen Ressourcen ausgestattet, deren Ertrag oft nicht nachgewiesen ist. Brizić (2009) berichtet in einer Studie zur Mehrsprachigkeit von Migranten, dass ihre Informanten und Informantinnen Kurdisch zwar als Muttersprache nennen, sie aber selbst abwertend einstufen, da sie für die Sprache in ihrer neuen Umgebung (Wien) außerhalb der Familie kaum kommunikative Funktionen erkennen. Selbstexklusion in Bezug auf die eigene Sprachkompetenz oder Verwendungsabsicht, die individuelle und gesellschaftliche Ambivalenz in der Bewertung des Nutzens oder die Einschätzung der vermeintlichen Nutzlosigkeit einer Sprache sowie die negative Einschätzung des Sprachstatus‘ erzeugen so negative Wirkungen auf den Erwerb, auf die Nutzung und auf die Weitergabe einer Sprache an die nächste Generation. Damit geht kulturelles Kapital verloren. 88 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit Dass Migranten und Migrantinnen oft selbst ein ambivalentes Verhältnis zur Bewertung von Sprache als kulturellem Kapital haben, bestätigt auch das Sachverständigengutachten des Rats deutscher Stiftungen (2010). Daraus ergibt sich, dass Migranten und Migrantinnen die Bedeutung der neuen Umgebungssprache Deutsch als Bildungssprache zwar prinzipiell hoch einschätzen (zum großen Teil höher als die Deutschen selbst), diese Wertschätzung aber nur bedingt praktizieren. Das heißt, sie sind nur bedingt bereit, in neues Kapital durch Sprachenerwerb zu investieren. Aus ambivalentem Verhalten in Bezug auf Mehrsprachigkeit ergeben sich Widersprüche und kontradiktorische Einschätzungen nicht nur in den individuellen Konstruktionen von Sprachenpolitik bei Migranten beziehungsweise Migrantinnen und Autochthonen, sondern auch in den offiziell postulierten und adoptierten Sprachenpolitiken der Gesellschaften. 2.3.7 Management von Mehrsprachigkeit Wir haben bis jetzt verschiedene Modelle präsentiert, die die Dynamik von Sprachen und ihre-- oft ungenutzten-- Potenziale behandeln. Welche Faktoren spielen dabei aber wichtige Rollen, wie interagieren diese Faktoren und wie werden sie gemanagt? Im Folgenden sollen die wichtigsten Einflussfaktoren aufgeführt und erläutert werden, die den Erwerb von mehreren Sprachen und die Qualität der darin erworbenen Kompetenzen maßgeblich beeinflussen. Das Management der Mehrsprachigkeit ist demnach von folgenden Faktoren abhängig: Dynamik: Variabilität und Inkonsistenz Ein wesentliches Merkmal der Kompetenzen in den verschiedenen Sprachen des multilingualen Systems ist die Dynamik ihres Zusammenspiels. Die beteiligten Sprachen (erworbenen Kompetenzen) befinden sich in einem konstanten (ökologischen) Wandel, einer fortwährenden Entwicklung, die weder geradlinig noch gleichförmig verläuft. Die Sprachentwicklungsverläufe von Lernern stellen sich von Sprache zu Sprache unterschiedlich dar, es kann zu Brüchen und Sprüngen kommen, die sowohl intern als auch extern ausgelöst werden können (zur trilingual competence vergleiche auch Hoffmann 2001: 19ff). All dies ist von den kommunikativen Rahmenbedingungen abhängig, vor allem vom Nutzen einer bestimmten Sprache für bestimmte Zwecke. Aufrechterhaltung Wenn ein bestimmter Sprachstand erreicht ist (auch in der L1), sind dennoch spezifische Anstrengungen zum Erhalt des erreichten Sprachstandes nötig. Das dynamic model of multilingualism ( DMM ) sieht für diese Erhaltungsleistung deshalb einen Faktor vor, der für die Aufrechterhaltung (maintenance) eines (Teil-)Systems eigene Energie und Ressourcen beansprucht und so maßgeblich zur Konturierung des multilingualen Systems beiträgt. Mangelnde Nutzung von Sprachen führt zu sprachlichen Attritionserscheinungen. 89 2.3 Modelle der individuellen Mehrsprachigkeit Selbst-Erhaltung und -Erweiterung Das ökologische Modell geht von einem Zustand der Mehrsprachigkeit aus, der die Identität des Sprechers oder der Sprecherin beeinflusst und diese erweitert (self extension). Mit weiteren Sprachen wird die Identität des Selbst gefestigt und ausgebaut. Jede Sprache drückt auch ein bestimmtes Verhältnis des Sprechers zu dieser Sprache aus. Auch Sprachwechsel sind in diesem Sinne nicht zufällig oder bedeutungslos. Sprachverfall Der erreichte Sprachstand in einer Sprache bleibt nicht immer auf gleich hohem Niveau erhalten. Es kann zu einem (temporären) Abbau oder Sprachverfall (auch Attrition genannnt) der sprachlichen Kompetenzen kommen, wenn die Sprache nicht genutzt wird (siehe dazu Lerneinheit 4.3). Sprachlernstrategien Im Laufe des Sprachenerwerbsprozesses erwirbt ein Lerner unbewusste und bewusste allgemeine Sprachlernstrategien (language learning strategies), die das dynamische Modell der Mehrsprachigkeit, das Faktorenmodell und andere Mehrsprachigkeitsmodelle als relevante Größen beim multiplen Sprachenerwerb ansehen. Auf sie können Lerner teilweise gezielt zurückgreifen. Nicht alle Strategien, die auf den ersten Blick erfolgversprechend erscheinen, sind dabei auch effektiv. Eine Person, die etwa primär über kommunikative Strategien die Auseinandersetzung mit fremdem (Lern-)Stoff steuert (also über die Auseinandersetzung redet, ohne anderweitig zu handeln) be- oder verhindert damit unter Umständen den Erwerb komplexerer sprachlicher Kompetenzen. Wenn ein Lerner durch Floskeln, Redewendungen und Chunks der Lernumgebung signalisiert, dass er kompetent kommunizieren kann, gibt er der Umgebung wenige Hinweise für die in Wirklichkeit nötige Unterstützung und mögliche Hilfestellungen. Diese Vermeidungsstrategie trägt daher zu Fossilisierungstendenzen bei. Die strategische Wahl eines behutsameren, abwartenden Vorgehens bei der Sprachproduktion ist dagegen nicht mit einem Mangel an Sprachlernstrategien gleichzusetzen, sondern kann als Inputregulativ sogar besonders effektiv sein. Fremdsprachenlernstrategien Eine Reihe von Sprachlernstrategien werden erst mit dem L2-Lernen angelegt und ausgebildet. Die Fremdsprachenlernstrategien (foreign language learning strategies) unterscheiden sich qualitativ, weil die Erwerbssituation bei einer L2 eine weniger vorstrukturierte ist als bei einer L3. Mit jeder weiteren Fremdsprache erhöht sich das Repertoire an Fremdsprachenlernstrategien, und sie werden-- wie Missler (1999) bis zu einer L7 nachgewiesen hat-- desto häufiger und vor allem zielgerichteter eingesetzt, je mehr Fremdsprachen ein Lerner erwirbt. In Bezug auf die lexikalischen Strategien beim Lesen stellt Nassaji (2006) fest, dass L2-Lerner im Laufe des Fremdsprachenerwerbs vor allem die Art und die Qualität der angewandten Strategien verändern, weniger die Quantität. 90 2. Modellierung von Mehrsprachigkeit Einzigartigkeit Das dynamische Modell der Mehrsprachigkeit ist wie die anderen dargestellten Modelle ein theoretischer Ansatz zum Erfassen der Komplexität von Mehrsprachigkeit beziehungsweise dem Erwerb von Fremdsprachen. An eine Operationalisierung im Rahmen von Lehrplänen und Lehrmaterialien oder eine proaktive Steuerung des Lernverhaltens ist damit bisher nicht zu denken. Es stellt jedoch anschaulich dar, dass beim Sprachenerwerb die Variablen in unterschiedlichem Maße in den unterschiedlichen Phasen eingreifen. Sie betreffen auch die L1n. Die Basisvarietät ist als „intuitives“ System in stärkerem oder schwächerem Maße allen Lernern zugänglich. Dieses System wird gelegentlich auch als ‚Spontangrammatik‘ beschrieben. Wie offensiv und zielgerichtet Lerner damit aber umgehen, ist ihrer Disposition, das heißt dem individuellen Zusammenspiel der Variablen, geschuldet. Wie die individuelle Disposition auf den Sprachenerwerb und das Management von Mehrsprachigkeit wirkt, zeigt sich nicht zuletzt daran, wie intensiv und extensiv Lerner die Strategien des Dechunking (vergleiche Lerneinheit 3.3 im Band »Sprachenlernen und Kognition«) anwenden, also wie schnell, wie selbständig, wie konstruktiv sie die Eingabe zerlegen und daraus Regeln entwickeln und erproben. Das ökologische System eines Sprechers ist daher einzigartig (non-replicable). Die affektive Disposition stellt ihrerseits ein dynamisches, intervenierendes Faktorenbündel dar, das essenziell für das Management der Ressourcen in Bezug auf die Belastbarkeit des individuellen Lerners bei der Bewältigung der Lernaufgaben ist. Relevanz Entscheidend ist dabei auch, wie relevant dem Lerner die Aufgabe und der Aufwand erscheinen (Relevanz-Prinzip, siehe hierzu auch Kapitel 2 im Band »Sprachenlehren«). Wird eine Aufgabe vom Lerner als nicht oder wenig relevant erachtet, findet trotz günstiger Disposition und Anlage der Erwerb nur bedingt statt. Umgekehrt mobilisiert Relevanz auch bei individuell schwächer ausgeprägter Disposition die vorhandenen Reserven in beachtlichem Maße, wenn möglicherweise auch limitiert auf den unmittelbaren Relevanzbereich alltäglicher, aber nicht bildungssprachlicher Kommunikation. Die Variablen, die im Sprachenerwerb zusammenwirken, intervenieren in unterschiedlicher Qualität und Quantität und unter unterschiedlichen pragmatischen Bedingungen. Alle Faktoren unterliegen einem ökonomischen Management, in dem Lerner den Aufwand des Erwerbs subjektiv und meist intuitiv in Bezug auf ihre verfügbaren Ressourcen und Interessen beurteilen. So kommt es, dass Lerner mit ähnlichen Biographien zu anderen Ergebnissen im Sprachenerwerb kommen oder Lerner mit unterschiedlichen Biographien gleich gute Ergebnisse erzielen können. Auch lassen sich so Defizite kompensieren. Der M-Faktor Das Resultat der Synergien aller Faktoren nennen Herdina und Jessner (2002: 130) den Multilingualismusfaktor (M-Faktor). Dieser abstrakte Wert bezeichnet die unterschiedliche Qualität der Faktoren im Zusammenspiel im System. Es besteht 91 2.3 Modelle der individuellen Mehrsprachigkeit […] an essential difference between multilingual and monolingual speaker. We must assume that the multilingual system: (1) contains components the monolingual system lacks and (2) that even those components the multilingual system shares with the monolingual system have a different significance within the system. (Herdina & Jessner 2002: 130) 2.3.8 Zusammenfassung ▶ Die dargestellten Modelle der Mehrsprachigkeit gehen davon aus, dass die Funktionsbündel für die Verwendung der Sprachen und ihrer Teilbereiche durch die jeweiligen kommunikativen Ziele und Zwecke bestimmt werden, die der Lerner für sich identifiziert oder akzeptiert. ▶ Mehrsprachigkeit wird nicht als System verstanden, das Mängel verwaltet und ausgleicht, sondern kommunikative Schwerpunkte markiert. Allen neueren Mehrsprachigkeitsmodellen ist gemeinsam, dass sie davon ausgehen, dass vorerworbenes Wissen und vorerworbene Kompetenzen beim Erwerb weiterer Sprachen und Kompetenzen eine Rolle spielen, in Bezug auf Kenntnisse, Wissen, Strategien und Techniken. ▶ Die Relevanz der Sprachen für einen Sprecher oder eine Sprecherin kann auf rezeptive oder andere Teilkompetenzen beschränkt sein oder das gesamte elaborierte Inventar einer oder mehrerer Sprachen umfassen. ▶ Vor allem das ecological model und das dynamic model of multilingualism ( DMM ) gehen davon aus, dass diese Funktionsbündel pro Sprache unterschiedlich sind, je nach den Zielen eines Lerners und den Bedingungen der Lern- und Sprachumgebung. Die Sprachenprofile der Sprecher und Sprecherinnen können daher sehr unterschiedlich ausgeprägt sein, lassen sich aber vor allem dadurch fassen-- und steuern-- da die kommunikative Relevanz ausschlaggebend ist. Hinzu kommt, dass Sprachenerwerb und sprachliche Kompetenzen von allgemeinen Prinzipien, zum Beispiel Sequenzen, Strategien etc., abhängig sind. ▶ Über das Konzept des ‚kulturellen Kapitals‘ lässt sich der Mehrwert von Sprachen für individuelle Sprecher und Sprecherinnen wie auch für eine Gesellschaft fassen und von Konzepten abgrenzen, die Sprachenerwerb und Mehrsprachigkeit primär als Probleme fassen. Werte, Erträge, Transformationen des kulturellen Kapitals lassen sich mit Metaphern des Geldmarktes fassen, gut illustrieren und gegenüber Bildungsinstitutionen argumentativ einsetzen, um die Bedeutung von Sprachenerwerb und -unterricht darzustellen. 2.3.9 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Erstellen Sie ein Faktorenmodell für den Erwerb einer L3. 2. Beschreiben Sie das mögliche Potenzial von Mehrsprachigkeit. 3. Wie kann kulturelles Kapital der Mehrsprachigkeit genutzt, verzinst, transformiert und vererbt werden? 4. Erklären Sie einige Aspekte des Managements von Mehrsprachigkeit. 93 2.3 Modelle der individuellen Mehrsprachigkeit 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb In diesem Kapitel wird Fragen nach den Modalitäten des Erwerbs von Sprache nachgegangen. Um die Besonderheiten von multiplem Sprachenerwerb zu erklären, sollten vor allem die psycholinguistischen Grundlagen der Sprachverarbeitung und Informationsstrukturierung genauer betrachtet werden. Besondere Bedeutung kommt seit geraumer Zeit gebrauchsbasierten Hypothesen zum L2-Erwerb zu. Hier stellt sich die Frage, wie die Lerner vom sprachlichen Input zu den Regeln der Grammatik kommen. Dabei zeigt sich, dass vor allem funktionale und konzeptuelle Modelle des Sprachenerwerbs, die auf grundlegenden Prinzipien des Wissenserwerbs und seiner Strukturierung basieren, aufschlussreicher sind als behavioristische oder nativistische Ansätze. Daneben werden wir uns in diesem Kapitel mit den grundlegenden Prinzipien der Informationsstrukturierung und ihren Erscheinungsformen in Basisvarietäten beschäftigen, die den Output in frühen Sprachenerwerbsstadien ausmachen. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich Sprachenerwerb durch die Aneignung von Wörtern über die Erschließung von Grammatik und Textualität vollzieht. Basierend auf diesen Erkenntnissen, werden Ihnen Studienergebnisse zur Dynamik innerhalb der syntaktischen Entwicklung und den daraus folgenden didaktischen Konsequenzen zur kritischen Reflexion präsentiert. Und schließlich widmen wir uns dem Phänomen der Fossilisierung. Damit bezeichnet man einen Zustand sprachlicher Stabilisierung, der dann eintritt, wenn die Dynamik innerhalb des Sprachenerwerbs zum Stillstand kommt. 94 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb 3.1. Prozesse des Sprachenerwerbs Jörg Roche Diese Lerneinheit beginnt mit der Darstellung von Phänomenen, die den frühen Sprachenerwerb charakterisieren und auf Bedürfnisse der Informationsverarbeitung und -strukturierung zurückgeführt werden können. Dies lässt sich als sukzessiver Prozess darstellen, in dem die Zerlegung des sprachlichen Inputs, mit einem Erproben neuer Strukturen und einer Auseinandersetzung mit der Rückmeldung anderer Sprecher einhergeht. Nach einer Erläuterung der unterschiedlichen Konstruktionsverfahren von Sprache beschäftigen wir uns mit den Eigenschaften der Basisvarietät. Zu diesem Zwecke arbeiten wir mit Transkripten von authentischen Interaktionen, anhand derer aufgezeigt wird, wie Kommunikation mithilfe rudimentärer Mittel erfolgreich ablaufen kann. Zuletzt gehen wir darauf ein, wie der Übergang von einem pragmatischen zu einem syntaktischen Modus erfolgt. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ die wichtigsten Grundlagen des sogenannten natürlichen oder ungesteuerten Fremdsprachenerwerbs kennenlernen und benennen können; ▶ die Wechselwirkungen zwischen Sprachverarbeitung und Sprachenerwerb erkennen können; ▶ Nachvollziehen können, wie Sprachenerwerb dem Wortschatzerwerb entspringt und wie sich die Entwicklung von Grammatik- und Textkompetenz funktional und pragmatisch begründet. 3.1.1 Sprachverarbeitung und Sprachenerwerb Sprachverstehen geht Sprachenerwerb voraus und zwar unabhängig davon, ob man sich eine Sprache als L1, L2 oder Ln, beziehungsweise gesteuert oder ungesteuert aneignet. Im Band »Sprachenlernen und Kognition«haben Sie sich bereits mit den kognitiven Grundlagen von Sprachverarbeitung beschäftigt. In einem Kontext, in dem eine neue Sprache gelernt werden soll, spielen diese kognitiven Prozesse eine zentrale Rolle. Wie in Kapitel 1 in diesem Band dargestellt, leben die meisten Menschen heutzutage in Kontakt mit mehreren Sprachen. Die erste Frage, die sich uns stellt, ist, ob alle Sprachen auf der Grundlage der gleichen kognitiven Mechanismen erworben werden. Die Antwort dazu lautet: Ja. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass sich die Menge und Qualität an sprachlichem Input, genauso wie dessen individuelle Verarbeitung durch unterschiedliche, in ihrem Lernverhalten vorgeprägte, Lerner darauf auswirken, wie schnell und wie gut eine Sprache gelernt wird. 95 3.1. Prozesse des Sprachenerwerbs Grundsätzlich erscheinen Äußerungen von Lernern im ungesteuerten Sprachenerwerb, besonders zu dessen Beginn, meist unvollständig, inkonsistent und inkohärent. Im weiteren Verlauf kann es bei Lernern, die ohne strukturelle Hilfen oder ohne ein ausgeprägtes Bewusstsein für Akkuratheit eine Sprache erwerben, zu diffusen und widersprüchlichen Mischungen aus korrekten zielsprachlichen Elementen und Phrasen und sehr fehlerhaften Annäherungen kommen. Trotz dieses oberflächlichen Erscheinungsbildes kann man davon ausgehen, dass Sprachenerwerb regelgeleitet erfolgt. Lerneräußerungen liegt also eine Systematizität zu Grunde, die jedoch vom Lerner selbst anders abgebildet wird, als es die Grammatikdarstellungen in Lehrbüchern oder Referenzgrammatiken üblicherweise tun. Auch kann man nicht davon ausgehen, dass Lerner ihre eigene mentale Lernergrammatik so reflektieren, wie es Lehrpläne und Lehrbuchprogressionen gerne vorsehen. Wenn man sich in die Situation eines Lerners versetzt, der gerade beginnt, eine neue Sprache zu erwerben (es könnte übrigens durchaus auch die erste sein), dann wird man verstehen, dass er sich zunächst an einzelnen vollständigen oder rudimentären Äußerungen orientiert, die er segmentieren und kontextbedingt verstehen kann. Das heißt, der Sprachenerwerb ist vor allem am Anfang semantisch bestimmt. „Am Anfang war das Wort“ bekommt somit eine neue, aber genauso einprägsame Bedeutung wie in der Bibel. Ergänzt wird die lexikalische Basis mit pragmatischen Verfahren, die sich (sofern sie vorhanden sind) an Vorerfahrungen aus anderen Sprachen orientieren und die Reichweite der Wörter, Gesten und der Mimik maximieren. Früher Sprachenerwerb ist sehr stark an die Interaktionssituation gebunden: Sprachliche und nichtsprachliche Verweise gestalten die Kommunikation zu einem erheblichen Teil. Die Verweise können explizit oder implizit sein. Aus dieser lexikalischen und pragmatischen Basis, zu der auch Phrasen und nicht analysierte Einheiten, so genannte Chunks, gehören, entsteht sukzessive eine komplexe Grammatik. Die Grammatik wird also aus dem Lexikon konstruiert. Dabei lässt sich feststellen, dass Lerner auch mit einzelnen Wörtern in Texten kommunizieren, die sich im fortschreitenden Sprachenerwerb zunehmend von der Situativität der Kommunikationssituation emanzipieren und in komplexeren sprachlichen Mitteln manifestieren (so wird aus einer 1-Wort-Äußerung wie türkei im Zuge des Erwerbs als ich noch in der Türkei gelebt habe). Sprachenlerner stehen demnach zunächst vor der Aufgabe, einzelne Begriffe, mit denen sie die Welt benennen können, zu identifizieren und sich anzueignen. Haben sie einen hinreichenden Wortschatz nach den im folgenden Abschnitt erläuterten Prinzipien der Identifizierung, Segmentierung und Klassifizierung aufgebaut, so ergibt sich die Aufgabe, die einzelnen Elemente zu Äußerungen zu kombinieren. Dabei greifen sie auf ein intuitives Inventar zurück, das Klein und Perdue (1997: 303) die Basisvarietät (auch basic variety) nennen. Viele Lerner verbleiben auch im weiteren Prozess des Sprachenerwerbs im Rahmen dieser Basisvarietät. Sie erlaubt ihnen zwar auch Textualität implizit oder mit einfachen pragmatischen und lexikalischen Mitteln auszudrücken, zu der weiteren Aufgabe, aus einzelnen Äußerungen vollständige, dekontextualisierte Sprache oder komplexere kohäsive Texte zu bilden, gelangen die Lerner jedoch nur schwer oder nicht. 96 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb 3.1.2 Verfahren der Sprachkonstruktion Der Erwerb einer neuen Sprache beginnt mit analysierten, teil-analysierten und analysierbaren Elementen, die unter Umständen einen größeren Umfang haben können, wie etwa Begrüßungs- und Verabschiedungsformeln. Diese größeren Elemente oder Chunks werden im weiteren Erwerbsprozess sukzessive zerlegt, analysiert und dann in neuen Kombinationen wieder zusammengesetzt. Der Ablauf wird von Handwerker (2008: 57) am Beispiel der psychischen Wirkungsverben folgendermaßen dargestellt: Nimmt ein Lerner während einer Filmvorstellung im Input die Äußerung Der Film ist ja unglaublich aufregend wahr und verbindet diese mit der durch den Film erzeugten emotionalen Reaktion, kann er sie zu einem Zeitpunkt als Chunk abspeichern, obwohl er derart komplexe Strukturen noch gar nicht analysieren kann. Mangels sprachlicher Mittel und ausgereifter Analysewerkzeuge übernehmen Lerner zunächst komplexe Strukturen als phonetische Chunks. Dabei spielt für sie keine Rolle, wo die genauen Wort-, Satz- oder Phonemgrenzen liegen. Entscheidend ist die holistische Bedeutung der Chunks, die sie in einem bestimmten pragmatischen Kontext richtig zu interpretieren und im Anschluss daran auch richtig einzusetzen lernen. Diese Chunks werden abgespeichert und stehen zunächst nur für identische Kontexte, später auch für ähnliche Kontexte wieder zur Verfügung. Dieses Verfahren nennt man Chunking. Durch die rezeptive Verarbeitung weiteren, ähnlichen und gegebenenfalls modifizierten Inputs, beginnt die Identifizierung von einzelnen Teilen und daran anschließend die Analyse dieser Teile. Dabei generiert der Lerner Paradigmen, die es ihm erlauben, einzelne Elemente zu identifizieren. Da diese Elemente in anderen Kontexten in anderen Chunks auch vorkommen, entsteht ein gewisser Wiedererkennungswert, der es dem Lerner ermöglicht, verschiedene Bedeutungen und pragmatische Funktionen zu rekonstruieren. Nach der erfolgten Analyse oder auch Teilanalyse, dem so genannten Dechunking, erfolgt eine Resynthese von Teilen oder ganzen Elementen und schließlich eine Einbettung, die durch weitere Erprobungsverfahren zunehmend an Korrektheit gewinnt. Natürlich werden Lerner auf diese Formen auch in Kontexten zurückgreifen, die nicht völlig angemessen sind, es wird also zu gewissen Übergeneralisierungen kommen. Daraus ergibt sich in der Folge eine Ausbildung von grammatischen Kategorien. Diese grammatischen Kategorien entsprechen nicht unbedingt dem, was in deskriptiven oder präskriptiven Grammatiken vorgegeben ist, sondern es handelt sich zunächst um Kategorien, die der Lerner im Sinne einer konzeptuellen Grammatik abbildet. Im Gegensatz zu dem beschriebenen Verfahren des Chunkings und Dechunkings interpretiert Haberzettl (2007: 59f) den Output der in ihrer Studie untersuchten Kinder als inputbasierte kreative Routine oder construction blend, nicht als regelgeleitete Produktion. Semantische Gesichtspunkte scheinen dabei eine leitende Rolle zu spielen. Haberzettl greift in ihrem Ansatz das zunächst von Wong-Fillmore (1979) eingeführte Konzept der Chunks aus konstruktionsgrammatischer Sicht auf und weist darauf hin, dass die Chunks im Kontext in ihrer Bedeutung, Funktion und ihrer Form holistisch verarbeitet werden. Möglicherweise geschieht dies zunächst in ihrer unmittelbaren Bedeutung und auch in teilanalysierten Chunks. Demnach kann der Erstsprachenerwerb als Prozess des Erwerbs von Konkreta wie birdie über Holophrasen wie lemme-see (‚let me see‘) und Schemata wie where’s the x? bis hin zur 97 3.1. Prozesse des Sprachenerwerbs Ableitung abstrakter Konstruktionen als Generalisierungen dargestellt werden (vergleiche Tomasello 2006: 271, 2003: 38). Den Erwerb einer Sprache kann man sich auch als Auseinandersetzung mit der Eingabe (Input) vorstellen, die sich in Form bestimmter Konstruktionen beim Lerner abbildet. Diese Abbildungen kann man auch als Lernergrammatik bezeichnen. Die Verarbeitung weiteren Inputs führt nicht nur zu einer Bestätigung und Modifikation der vom Lerner entwickelten Regeln, sondern auch zu konfliktiven Regeln, die (noch) nicht recht ins System passen. Werden sie nicht ignoriert, sondern bearbeitet, dann führt die Weiterverarbeitung zu einer Umstrukturierung des mentalen Systems der Lernergrammatik. Mit den Konflikten aber gehen Lerner unterschiedlich um: Im Idealfall führen sie zur Ausbildung eines korrekten Struktursystems (der zielsprachlichen Grammatik) mit korrekten Projektionen der Konstruktionen auf grammatische Strukturen (mappings). Diese bleiben solange stabil, bis sie mit neuem, konfliktivem Input koordiniert werden müssen. Oft kommt es aber auch zu Alternativ-Konstruktionen in Warteposition, etwa wenn eine im Entstehen begriffene Konstruktion noch mit zu wenig Evidenz aus der Eingabe verifiziert ist oder wenige Anlässe zur Aktivierung bestehen. Frequenz und Nutzung beziehungsweise Aktivierung spielen bei diesen Wartekonstruktionen tatsächlich eine Rolle, auch wenn Frequenzerscheinungen oft überschätzt werden. Wartenburger (2004) konnte beispielsweise in neurolinguistischen Studien mit italienisch-deutschsprachigen Probanden zeigen, dass das Sprachenerwerbsalter und das Leistungsniveau die grammatikalischen und semantischen Verarbeitungsprozesse in der Zweitsprache unterschiedlich beeinflussen und nicht nur durch Frequenzeffekte erklärbar sind. Unter weniger optimalen Bedingungen des Sprachenerwerbs kann bei neuer Eingabe und den daraus entstehenden Konflikten aber der Umstrukturierungsprozess unter- oder abgebrochen werden, entweder, weil der Lerner die Differenzen nicht wahrnimmt oder weil er mit ihrer Bearbeitung überfordert ist. Die Folge sind Generalisierungen bestehender Regeln, Übernahmen aus der L1 oder anderen Sprachen, Vermeidungen und Ausweichhandlungen, Anwendungen bekannter, nicht ausreichender Regeln oder hypothetische (Misch-)Regeln und Wörter. Auf der Eingabeseite können Anpassungen der Sprecher der Zielsprache die Aufgabe des Dechunkings erleichtern. Vor allem in Form von Strategien der Kennzeichnung von Silben- und Wortgrenzen (Sprechpausen), aber auch mittels der vielfältigen Variation der Eingabe (Paraphrasen, Erklärungen, Verkürzungen) können Lerner bei der Identifizierung und Kategorisierung der Eingabe unterstützt werden (siehe die Ausführungen zu Xenolekten in den Einheiten 7.1 und 7.2). Diewald (1997) bezeichnet analoge historische Prozesse der Entscheidung für die eine oder andere Wahlmöglichkeit in der (diachronen) Sprachentwicklung als Aufgabe der Paradigmatisierung. Wie eine Sprachgemeinschaft (phylogenetisch) vor der Aufgabe steht, ihre Sprache neuen Bedingungen anzupassen, so steht jeder einzelne Lerner (ontogenetisch) vor der Aufgabe, seinen Erwerbsstand entsprechend seiner kommunikativen Bedürfnisse weiterzuentwickeln. Bei den Beschreibungen der dabei entstehenden mentalen Konstruktionen in den Köpfen der Lerner bilden die pragmatische Funktion und strukturelle Beschreibung eine Einheit, aber der Blick von außen nur auf die Strukturen versperrt oft die Sicht auf die Funktionen im Erwerb. 98 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb 3.1.3 Von den Chunks zur Basisvarietät Wortschatzerwerb und Chunking begleiten den Sprachenerwerb und die Kommunikation auch über die Anfangsphase des Erwerbs hinaus. Sie sind dort aber besonders deutlich sichtbar und besonders wichtig für den Aufbau einer kommunikativen Kompetenz. Im Verfahren des Chunkings und der Zerlegung der Chunks (Dechunking) wird deutlich, wie grammatische Strukturen systematisch entwickelt werden. Das erste konsistente Grammatiksystem von Lernern, das sich daraus ergibt, ist nach Klein und Perdue (1997: 301) die Basisgrammatik. In diesem Ansatz geht es um die Begründung einer konzeptuellen Lernergrammatik, nicht um die Projektion einer deskriptiven oder präskriptiven Grammatik auf die Lerneräußerungen. Die Basisvarietät lässt sich nach Klein und Perdue etwa folgendermaßen zusammenfassen: Sie ist eine reguläre Sprachvarietät erwachsener Lerner im ungesteuerten Spracherwerb, die grammatisch fossilisieren und sich dann nur lexikalisch weiter entwickeln kann, oder die-- bei anderen Lernern-- zu komplexeren Varietäten führen kann. Das Lexikon der Basisvarietät besteht größtenteils aus Elementen der Zielsprache, mit einzelnen Entlehnungen aus der Erstsprache. Es handelt sich dabei vor allem um nicht flektierte Inhaltselemente und wenige Funktionselemente. Wortbildung findet im Wesentlichen bei der nominalen Komposition statt. Die Basisvarietät basiert auf wenigen Strukturierungsprinzipien. Die Interaktion der Prinzipien bestimmt die Form der Äußerung und den Ausdruck von Temporalität und Räumlichkeit. Die Prinzipien gelten offenbar für alle Ziel- und Ausgangssprachen, ihre Realisierung hängt vor allem von Situationsfaktoren ab. Auffallend selten sind freie und gebundene Morpheme mit reiner grammatischer Funktion und komplexe hierarchische Strukturen, wie sie etwa in Nebensätzen vorliegen. (Klein & Perdue 1997: 332) Die Vermittlung des Inhalts erfolgt primär durch lexikalische Elemente und deren pragmatische Anordnung nach Informationsgehalt. Das Lexikon der Basisvarietät besteht vor allen Dingen aus Elementen, die aus der L2 abgeleitet sind. Es enthält in der Regel relativ wenige Entlehnungen aus anderen Sprachen. Die nicht flektierten Formen überwiegen. Im Bereich der Wortbildung herrscht ein einfaches Additionsprinzip vor, demzufolge die Komponenten zu Komposita addiert werden. Die Identifizierung der kategoriellen Füllung nach Nomen, Verb oder Adjektivbasis kann nicht immer eindeutig vorgenommen werden. Anders gesagt, es werden Stammformen verschiedener grammatischer Kategorien zusammengefügt und daraus ergeben sich komplexere Komposita. Entscheidend ist dabei ihr lexikalischer Gehalt. Bemerkenswert ist ferner, wie stark sich die Basisvarietät bei unterschiedlichen Lernertypen etabliert, beziehungsweise welchen transitorischen Charakter sie besitzt. So fossilisieren die Strukturen der Basisvarietät bei manchen Lernern oder stabilisieren sich. Andere Lerner verharren dagegen bei den Grundstrukturen, entwickeln aber das Lexikon weiter. Wieder andere Lerner beginnen, die Basisgrammatik weiter zu entwickeln. Die Basisvarietät gilt als natürliche Sprache. Klein und Perdue zeigen, dass in dieser Varietät im Grunde alle gramma- 99 3.1. Prozesse des Sprachenerwerbs tischen Grundlagen natürlicher Sprachen vorhanden sind. Es handelt sich demnach um eine Sprache, mit der sich die essentiellen Dinge des Lebens sprachlich regeln lassen. Klein und Perdue (1988: 173) identifizieren in der Basisvarietät unterschiedliche Arten von Strukturierungsprinzipien, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: ▶ Bekannte und gegebene Information steht vor neuer Information. ▶ Thematisierende Elemente stehen vor fokussierenden Elementen. ▶ Bedeutungsmäßig zusammengehörige Elemente stehen möglichst nahe beieinander. ▶ Orientierende Elemente wie Orts- oder Zeitangaben stehen am Anfang einer Äußerung. ▶ In einer Reihung von Nomen hat das erste Element den größten Einfluss (Kontrollprinzip, Subjektfunktion). ▶ Ereignisse werden nach ihrer tatsächlichen (chronologischen) Reihenfolge berichtet. ▶ Die Betonung bestimmt, ob es sich um eine Aussage, eine Frage oder eine Anweisung handelt. ▶ Die Betonung markiert auch die fokussierten Elemente. ▶ Funktionale Elemente wie kein, viel, alle werden einheitlich vor (oder einheitlich hinter) die von ihnen bestimmten Elemente gestellt, zum Beispiel viel arbeit (Quantifizierung), nix verstehn (Negation). Zur Illustration hier ein Beispiel für eine einfachere Varietät (Basisvarietät): 1 da mädchen 2 hunger 3 fenster gucken 4 (dann) auto (kommen) 5 brot gross 6 brote geklaut 7 frau gesehen 8 chef sagen Tabelle 3.1: Beispiel einer Basisvarietät Diese Varietät weist einfache Thema-Fokus-Strukturen auf (Zeile 1: da = Thema, mädchen = Fokus), die jeweils aus ein bis zwei Elementen bestehen, aber aneinandergereiht einen fortlaufenden Fokus und damit einen Text ergeben (da mädchen = Thema, Zeile 2 hunger = Fokus, Zeile 3: fenster gucken = fortlaufender Fokus). Die temporale Organisation ergibt sich aus der situativen Einbettung und der natürlichen Abfolge der Ereignisse. Eine Nennung der thematischen Referenten, wie etwa eine Wiederholung der Nennung mädchen, erübrigt sich dabei. Das jeweilige Thema ist also stark komprimiert und Redundanzen werden vermieden. Die Endungen sind neutral und weitgehend unmarkiert (Infinitive, Partizipien). Dieses Inventar an Strukturierungsprinzipien erlaubt es den Lernern, auch komplexere Inhalte ohne grammatische Morpheme und hierarchische Strukturen als Texte darzustellen. 100 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb Die verfügbaren Organisationsprinzipien lassen sich je nach Schwerpunktsetzung durch die Lerner unterschiedlich verwenden. Daraus ergibt sich die Frage nach der Reichweite des Systems der Basisvarietät. Klein und Perdue (1997: 332) weisen darauf hin, dass mit der Basisvarietät selbst Konflikte unter den Prinzipien geregelt werden können, sofern solche im zur Verfügung stehenden Inventar auftreten (zum Beispiel wenn phrasale und semantische Prinzipien gegenläufig sind). Zu diesen Strategien der Konfliktregelung gehören erstens der Rückgriff auf Prinzipien, die aus der Erstsprache oder anderen Vorsprachen bekannt sind. Zweitens erfolgt auch eine Selektion aufgrund eines vom Lerner idiosynkratisch als wichtig und erfolgreich empfundenen (präferierten) Prinzips. Drittens kann eine Übernahme aus der Fremdsprache erfolgen, die zielgerichtet oder zufällig sein kann. Viertens werden Impulse für neue, komplexere Strukturen aufgenommen, die- - wie beim Chunking beschrieben- - durch Hypothesenbildung oder durch Abgleich mit weiterem Input geprüft, erprobt und schließlich übernommen werden. Dies gilt zum Beispiel für Tempusmarkierungen bei Konflikten mit dem Prinzip der natürlichen (chronologischen) Abfolge. Klein und Perdue (1988) illustrieren die kulturspezifischen Präferenzen bei der Lösung von Konflikten unter den Prinzipien folgendermaßen: In the case of the Turkish learners, the focus principle clearly dominates the controller principle, and if they can’t avoid a clash, they are inclined to sacrifice the latter. This is clearly not the case with the Italians; if they sacrifice anything, it is rather the focus principle-[…]. (Klein & Perdue 1988: 177) 3.1.4 Pragmatischer und syntaktischer Modus nach Givón Linguistisch begründet ist die Beschreibung der Basisvarietät ansatzweise bereits in den frühen Ausführungen von Behagel (1932) zur informationstheoretischen Strukturierung von Sätzen und in Givóns (1979) einflussreicher, funktional-typologischer Theorie, der zufolge sich Sprachenerwerb, Wiedererwerb, Sprachwandel und Sprachvariation im Allgemeinen von einem pragmatic mode (pragmatischer Modus) in Richtung auf einen syntactic mode (syntaktischer Modus) bewegen. Dieser Prozess der Syntaktisierung manifestiert sich in verschiedenen sprachlichen Bereichen, wie dem Sprachenerwerb, Aphasien, Pidginisierungen und Kreolisierungen, Verschleifungen und Ausdifferenzierungen der Allgemeinsprache und vielem mehr. Die zwei Modi lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Pragmatischer Modus Syntaktischer Modus (a) Thema-Fokus Struktur (a) Subjekt-Verb Struktur (b) lose Verbindungen (b) strikte Einbettungen (c) langsame Sprechgeschwindigkeit mit einem Intonationsmuster (c) schnelle Sprechgeschwindigkeit mit verschiedenen Intonationsmustern (d) die Wortstellung wird von einem pragmatischen Prinzip gesteuert: alte Information zuerst, neue Information folgt (d) die Wortstellung signalisiert semantische Kasus-Beziehungen, kann aber auch pragmatische Beziehungen ausdrücken 101 3.1. Prozesse des Sprachenerwerbs Pragmatischer Modus Syntaktischer Modus (e) ein ungefähres 1: 1-Verhältnis von Verben und Nomen, wobei die Verben semantisch einfach sind (e) mehr Nomen als Verben, wobei die Verben semantisch komplex sind (f) keine grammatische Morphologie (f) entwickelte grammatische Morphologie (Endungen) (g) deutlicher Intonationsschwerpunkt markiert die neue Information, die thematische Position ist weniger klar markiert (g) ähnlich, aber unter Umständen mit weniger funktionaler Bedeutung oder gar nicht vorhanden Tabelle 3.2: Übersicht über Eigenschaften des pragmatischen und des syntaktischen Modus nach Givón (1979: 98) Die Prinzipien des pragmatischen Modus sind in vielen ausgebildeten Sprachen erhalten und erkennbar. Im Chinesischen sind sie etwa in der Syntax und der Flexionsmorphologie sichtbar, zum Beispiel im folgenden Satz aus dem Beijing-Chinesischen, dem Putonghua, das die Funktion der Hochsprache übernommen hat. Wo mai juzi chi bedeutet wörtlich übertragen Ich kaufen Apfelsine essen (‚Ich kaufte einige Apfelsinen, um sie zu essen‘, Thema-- Fokus1-- Fokus 2). Zwischen Singular oder Plural wird nicht unterschieden. ‚Auf dem Tisch liegt das Buch (die Bücher)‘ heißt im Chinesischen gleichermaßen Zhuozi shang you shu oder wörtlich übertragen ‚Tisch(e) auf haben Buch (Bücher)’. Die pragmatischen Syntax-, Serialisierungs- und Wortbildungsprinzipien im Chinesischen zeigt auch folgendes Beispiel: ‚In Deutschland gibt es nicht wenige Ausländer’ heißt im Chinesischen De guo you bu shao wai guo ren oder wörtlich übertragen: Deutsch-Land (Thema) es gibt nicht wenig draußen-Land-Mensch (Zhang Shuping: 2009). Dass die Strukturen nicht nur in Lernervarietäten vorkommen, sondern zur ganz normalen Alltagssprache gehören, zeigen auch die folgenden Beispiele von Zeitungsüberschriften, U- Bahnansagen und Gesangbuchtexten: ▶ Grüne Abgeordnete: blau im TV ? ( BILD -Zeitung) ▶ Geldräuber Ingo: Heimweh nach Mama. (Münchner Abendzeitung) ▶ Nächster Halt: Max-Weber-Platz. Bayerischer Landtag. Umsteigen. U 4. (U-Bahn München) ▶ Christus gestern-- Christus heute-- Christus in Ewigkeit (Gotteslob 563 Laudes Hincmari) Die erwerbslinguistischen Prinzipien des pragmatischen Modus finden Unterstützung durch die Gesetze der Gestaltpsychologie (vergleiche Reinhart 1984), sowie Rosch 1975). Ausgehend von der zentralen Hypothese, dass das Ganze mehr als die Summe der einzelnen Teile darstellt, besagt das Gesetz der Figur-Grund-Beziehung (vergleiche Lerneinheit 2.3 im Band »Sprachenlernen und Kognition«), dass jede Handlung und jedes Ereignis in einem bestimmten Kontext stattfindet, aus dem diese ihre Bedeutung gewinnt. „Figur“ ist dabei als organisierte Ganzheit zu verstehen. Dieses Gesetz bietet somit einen Erklärungsrahmen für die Strategien des backgrounding und foregrounding, wie sie in Thema und Fokus realisiert werden (siehe auch die Anwendung in Langacker 1999 und Roche 2008 in Bezug auf die Kasusbestimmung bei Wechselpräpositionen). Die Auswahl der Strategien durch die Lerner wird schließlich von den inhärenten Merkmalen der beteiligten Objekte unterstützt, zum Beispiel bei der Anord- 102 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb nung erzählter Ereignisse. Obwohl die Gestaltpsychologie ursprünglich davon ausgegangen ist, dass die Figur-Grund-Beziehung von logischen oder kausalen Bedingungen unabhängig ist, wird heute weitgehend angenommen, dass die Figur immer das darstellt, was die meiste Bedeutung trägt. Diese unterschiedliche Perspektive bewirkt schließlich auch die Variabilität in der Thema-Fokus-Realisierung und hilft, die bereits dargestellte, unterschiedliche kategoriale Füllung der Äußerungspositionen zu erklären: Im Fokus kann im Prinzip jedes Element stehen (gleich welcher Kategorie), das die größte Bedeutung (Relevanz) vor dem Hintergrund einer bestimmten Situation trägt (eine eingehende Darstellung und Diskussion des Erwerbs verschiedener Konzepte in unterschiedlichen Zielsprachen findet sich unter anderem bei (Ramat & Galèas 1995; Vogel & Börner 1993; Véronique 1990 & Perdue 1982, 1993). Experiment Illustrieren Sie die Prinzipien der Basisvarietät und des pragmatischen Modus an folgendem Beispiel. Tatiana ist erst seit drei Wochen in Deutschland. In der folgenden Sequenz erklärt sie, wie das Spiel Tempolino funktioniert. Lehrerin: Kannst du mir davor vielleicht erklären, wie das Spiel funktioniert? Tatiana: ok. dieses Spiel … ei … ein … ein Mensch zei … zei, ein Mensch zeit … hmm, oder ein Fisch faat zeig und … dieses zei und dieses saks: der Fisch oder das Fisch, so. Und wer richtig, nimmt ein solche (Tatiana zeigt auf eine Spielkarte). (Hölscher & Roche 2006: 38) Vergleichen Sie dieses Profil mit der späteren Aufnahme. In dieser Sequenz wird Tatiana nach 16 Wochen erneut aufgefordert, das Spiel zu erklären. In wieweit sind hier schon Tendenzen zum syntaktischen Modus zu erkennen? Tatiana: Das Spiel geht so. Ei … ein … ein Plättchen muss man nehmen und sagen: ‹Das … das ist die Krone› und dann schauen - das ist die Krone, dann ist es richtig, muss man da hinlegen. Und so andere auch: ‹Das … das ist das Schwein›, muss man schauen - das Schwein - und ablegen. Immer und so weiter. Lehrerin: Und wieso habt ihr diesen Fisch in diese Schach … also hier rein gelegt? Tatiana: Das war falsch, also das sie hat gesagt, falsch das, also muss man ablegen… (Hölscher & Roche 2006) Der Übergang vom pragmatischen zum syntaktischen Modus erfolgt dann aufgrund von einem zunehmenden Bedarf an Komplexität. Wenn Lerner Bedeutungseinheiten schnell abrufen können, stehen ihnen auch mehr Verarbeitungsressourcen (vergleiche Kapitel 3 im 103 3.1. Prozesse des Sprachenerwerbs Band »Sprachenlernen und Kognition«) zur Wahrnehmung und Produktion weiterer sprachlicher Mittel zur Verfügung. Diese erlauben schließlich ein differenzierteres und damit für fortgeschrittene Sprecher ökonomischeres Kommunizieren, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die grammatischen Mittel automatisiert eingesetzt werden können. Am Ausdruck von Temporalität und Räumlichkeit ist zum Beispiel erkennbar, wie Lerner aus semantischen Konzepten und lexikalischen Markierungen sukzessive, das heißt über 1-Wort-Äußerungen und Chunks, grammatische Kategorien wie Tempus und Kasus entwickeln. In den folgenden Einheiten soll nachvollzogen werden, wie sich in diesem-- je nach Lerner und Lernbedingungen unterschiedlich schnell und komplett ablaufenden-- Prozess aus der Basisvarietät die Syntax weiterentwickelt. 3.1.5 Zusammenfassung ▶ Am Anfang des Sprachenerwerbs steht der Wortschatzerwerb, denn auch die Grammatik entsteht aus dem Lexikon. ▶ Lernersprachen zeigen Tendenzen, die unabhängig von Ausgangs- oder Zielsprache auftreten. Die sogenannte Basisvarietät lässt sich anhand universeller Merkmale für alle Sprachen charakterisieren. ▶ Der Erwerb einer neuen Sprache beginnt mit analysierten, teil-analysierten und analysierbaren Elementen. Diese Chunks werden im weiteren Erwerbsprozess sukzessive zerlegt, analysiert und dann in neuen Kombinationen wieder zusammengesetzt. ▶ Sprachenerwerb ist stets eine Auseinandersetzung mit dem Input, woraus die Lernergrammatik entsteht. Die Konstruktionen werden durch die Verarbeitung weiteren Inputs bestätigt, modifiziert und bearbeitet (Interaktionshypothese). ▶ Anhand des Chunking-Modells kann illustriert werden, wie Lerner vom Input zu den Regeln der Grammatik kommen, beziehungsweise wie sich Lernersprachen von dem pragmatischen zum syntaktischen Modus weiterentwickeln. 3.1.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Was versteht man unter dem Begriff Basisvarietät? Erklären Sie den Begriff und nennen Sie wichtige Merkmale. 2. Warum besitzt die Basisvarietät universelle Tendenzen und bildet sich scheinbar unabhängig von der Ziel- oder Ausgangssprache aus? 3. Untersuchungen konnten feststellen, dass sich die Basisvarietät nicht im Erstsprachenerwerb oder im gesteuerten / schulischen Sprachenerwerb einstellt. Können Sie erklären, warum das so ist? Denken Sie bei Ihren Ausführungen auch an die Prozesse des Dechunkings. 4. Welche Konsequenzen ergeben sich für Sie im Unterricht aus den Erkenntnissen von Aufgabe 2? 104 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb 3.2 Das Modell der Erwerbssequenzen Elisabetta Terrasi-Haufe & Jörg Roche Im Gegensatz zu den funktionalen und konzeptuellen Ansätzen, mit denen Sie sich in Lerneinheit 3.1 beschäftigt haben, versuchen andere Modelle, den Sprachenerwerb zwar auch als systematisch und sequentiell, dabei aber mit formalen Mitteln zu beschreiben. Der Fokus liegt dabei auf der Untersuchung der Realisierung grammatischer Strukturen im Rahmen der Entwicklung aus dem pragmatischen in den grammatischen Modus. Grundlage dafür ist die Feststellung, dass auch Lernersprachen durch Systematizität und Variabilität charakterisiert sind. Zwischen 1970 und 2000 versuchten Nativisten zu erklären, dass Sprachenerwerb von Input und genetisch vorgegebenen sprachlichen Parametern bestimmt sei und es einen allen Sprachen zugrundeliegenden Algorithmus gebe (vergleiche Lerneinheit 5.1 im Band »Kognitive Linguistik«). Zu Beginn des neuen Jahrhunderts wurden dann kognitivistische Ansätze herangezogen, um die beobachtete Systematizität zu erklären. In dieser Lerneinheit werden einige Erwerbsequenzen für den Erwerb des Deutschen als Zweit- und Fremdsprache dargestellt. Dabei soll auch für die Grenzen ihrer Aussagekraft sensibilisiert werden. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ unterschiedliche Modelle zur diachronen Beschreibung von Sprachenerwerb zusammen mit ihren methodischen Grundlagen kennenlernen; ▶ lernen, den Nutzen formenbasierter Erklärungsverfahren kritisch zu beurteilen. 3.2.1 Sprachenerwerb als feste Abfolge von Erwerbssequenzen In Lerneinheit 3.1 haben Sie gelernt, wie die Zerlegung der Eingabe, das Erproben neuer Strukturen und die Auseinandersetzung mit der Rückmeldung anderer Sprecher bei Lernern, die sich ungesteuert eine neue Sprache aneignen, unabhängig von der Ausgangssprache, zu einer selektiven Ausprägung grammatischer Kompetenzen führt. Die synchron betrachtet zwar uneinheitliche Ausprägung der Äußerungsstrukturen zeigt aus diachroner Perspektive eine gewisse Einheitlichkeit, die Sprachenerwerbsforscher dazu veranlasst hat, von einer systematischen Erwerbsprogression in Form von Erwerbsstufen auszugehen. Das Konzept von Erwerbsstufen geht auf Selinker (1985) zurück und hat unterschiedliche Ausprägungen als Interimssprachenmodell, als Modell sich entwickelnder Grammatiken, als multidimensionales Modell und als Lernbarkeitshypothese erfahren. Das multidimensionale Modell ist aus dem Projekt „Zweitspracherwerb Italienischer, Spanischer und Portugiesischer Arbeiter“ ( ZISA , Clahsen 1983), einem in den siebziger Jahren in Wuppertal durchgeführten Projekt, entstanden, wurde in der Processability Hypothesis 105 3.2 Das Modell der Erwerbssequenzen (Lernbarkeitshypothese von Pienemann 1998) modifiziert und ist in Rapid Profile (Keßler 2006) als Software zur Analyse von Sprachprofilen operationalisiert worden. Der Schwerpunkt des ZISA -Projektes lag auf der Untersuchung des Erwerbs der deutschen Wortstellungsregeln durch Gastarbeiter, die ungesteuert Deutsch gelernt haben. Hierzu wurden Tonaufnahmen von mündlichen Beiträgen mehrerer Probanden über einen längeren Zeitraum erhoben. Im Anschluss daran wurden sie transkribiert und diachron und synchron analysiert. Das Projekt versuchte darüber hinaus, auch den Einfluss sozio-psychologischer Faktoren auf den Sprachenerwerb zu erforschen, dies jedoch nur mit beschränkter Reichweite. Bei den Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass die Lerner nach einer ersten Phase, in der nur Ein-Wort-Sätze und Formeln (Chunks, siehe Lerneinheit 3.1) produziert wurden, die Zielsprache Deutsch über vier weitere Phasen erwarben. Pienemann orientiert sich dabei an einer empirisch ermittelten Lernerprogression, nimmt aber die Klassifikation der beobachteten grammatischen Erscheinungen nach Standardkategorien einer nativistisch orientierten deskriptiven Grammatik vor. Ob diese Klassifikation eine Korrespondenz in kognitiven Modellen der Lerner hat, ist auch in seinem Modell nicht belastbar nachgewiesen. Abbildung 3.1: Die Entwicklung der Erwerbssequenzen im Deutschen (nach Pienemann 2005: 30) Auf der Grundlage der Beobachtung dieser strukturellen Abfolge postuliert Pienemann (2005), dass diese als Ergebnis der Anwendung von drei syntaktischen Erwerbsstrategien zu deuten sind: 106 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb Stage Rule Strategies x + 4 x + 3 x + 2 x + 1 x verb final Inversion verb separation adverb preposing canonical order - IFS - IFS + IFS + IFS - COS - COS - COS + COS + COS - SCS + SCS + SCS + SCS + SCS Tabelle 3.3: Von den Erwerbsphasen abgeleitete Verarbeitungsstrategien; x bezeichnet die Erwerbsstufe, IFS die Initialization-Finalization Strategy, COS die Canonical Order Strategy und SCS die Subordinate Clause Strategy nach Pienemann (1998: 46) Die drei Sprachverarbeitungsstrategien, die in verschiedenen Kombinationen Anwendung finden, bestimmen, was der Lerner in jeder Phase erwerben kann und was zu einem gegebenen Zeitpunkt lernbar ist (Lernbarkeitshypothese). Syntaktische Permutationen (im weiteren Sinne Strukturen), die von diesen Strategien ausgeschlossen werden, sind demnach zu diesem Zeitpunkt des Sprachenerwerbs noch nicht lernbar und daher auch nicht lehrbar. In späteren Arbeiten ergänzt Pienemann (2005) eine lexikalische Phase (1). In verschiedenen Studien wurde versucht nachzuweisen, dass Lerner sowohl im gesteuerten als auch im ungesteuerten Sprachenerwerb und L1-Erwerb die gleiche Erwerbsfolge durchlaufen. Die oben dargestellten Phasen geben eine Implikationsskala wieder: Das Erscheinen einer Regel in einer Varietät impliziert das Vorhandensein von früheren Regeln, schließt aber spätere aus. Dabei wird davon ausgegangen, dass die fünf genannten Phasen Entwicklungsschritte darstellen, die nicht übersprungen werden können. Schematisch lassen sich Sequenzmodelle dieser Art folgendermaßen darstellen: 107 3.2 Das Modell der Erwerbssequenzen Abbildung 3.2: Grundprinzipien von Sequenzmodellen des Sprachenerwerbs Vertikal sind die verschiedenen Phasen abgetragen, über die sich der Lerner einer bestimmten Zielvariante nähert. Die Einteilung der Stufen 3 bis 6 folgt in dieser Darstellung der Lernbarkeitshypothese von Pienemann. Ergänzt sind die Stufen 1 und 2 sowie die Fossilisierungsoptionen. Demnach beginnt die Erwerbssequenz im Deutschen im Bereich der Syntax (Wortstellung) mit einzelnen Wörtern (1) und setzt sich fort in Ein- und Zwei-Wortsätzen und einzelnen festen Formeln (Chunks) (2). In diesem Bereich erfolgt der Ausdruck der Grammatik im Wesentlichen durch lexikalische Elemente und pragmatische Prinzipien. Er bezeichnet den Grundbereich der Basisvarietät nach Klein und Perdue (1988) beziehungsweise des pragmatischen Modus nach Givón (1979), wobei die Basisvarietät funktional-konzeptuell bestimmt ist und daher auch grammatische Elemente der höheren Stufen enthalten kann. Nach Klein und Perdue (1997) stellt sie die primäre Fossilisierungsoption dar. Pienemann (2005) zufolge ist die erste grammatikalisch markierte Stufe die adverbiale Voranstellung einzelner Elemente ohne Inversion (3). Dieser folgt die Distanzstellung bei mehrteiligen Verben (4), die Inversion (5) und die Verbendstellung in deutschen Nebensätzen (6). Stufen sind gar nicht oder nur schwer zu überspringen. Wenn man einen Lerner zum Überspringen zwingt, produziert er Fehler, die er ansonsten vermutlich vermieden hätte oder er macht zumindest 108 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb keinen Fortschritt. Das passiert zum Beispiel, wenn durch die Grammatikprogression in Lehrwerken komplexere Strukturen vor einfacheren eingeführt werden. Schematisch sind in diesem Modell verschiedene Fossilisierungsoptionen dargestellt, die jedoch in jeder Stufe auftreten können, aber einen späteren Zuwachs an Wortschatz-- bei weitestgehend gleichbleibender Grammatik-- nicht ausschließen. Die unterbrochene Linie veranschaulicht exemplarisch die nichtlineare, an der Oberfläche als rückläufig erscheinende Verarbeitung neuer Regeln beim Lerner. Im Folgenden wird gezeigt, wie Pienemann (2005) diese Sequenzen auch für Englisch als Fremdsprache realisiert sieht. Processing procedure L2 process morphology syntax 6 - subord.cl. procedure main and sub cl. Cancel INV 5 - S-procedure inter-phr info SV agreement (=3sg-s) Do2nd, Aux2nd 4 - VP -procedure inter-phr info tense agreement Y / N inv, copula inv 3 - phrasal procedure phrasal info NP agr Neg+V ADV , Do-Front, Topi 2 - category procedure lex morph possessive pro plural invariant forms canonical order 1 - word / lemma ‘words‘ single constituent Tabelle 3.4: Abstrakte Beschreibung der Sequenzen im Erwerb des Englischen als Fremdsprache (nach Pienemann 2005: 24) Tabelle 2 stellt zusammen mit Tabelle 3 Anwendungen der gleichen zugrundeliegenden Regeln in verschiedenen Bereichen dar. Sie betreffen die fünf Entwicklungsstufen nach Pienemann (2005) beim Erwerb des Englischen als Fremdsprache inklusive der Stufe 0 als vorgrammatischer Stufe (eine analoge Stufensystematik für Französisch als Fremdsprache liegt bei Bartning & Schlyter 2004 vor), in der nur einzelne Wörter oder Chunks produziert werden. 109 3.2 Das Modell der Erwerbssequenzen STAGE VERB NOUN PN Q ‚ WORDS ’ or FORMULAE X “ IL -ing IRREG -ed “ “ “ “ REG _ PL IRREG _ PL 1st 2nd 3rd POSSESS SVO ? “ “ X + 1 DO _ FRONT WHX _ FRONT X + 2 AUX _ EN AUX _ ING ( POSSESS ) “ “ “ PSEUDO _ INV Y / N_ INV X + 3 3 SG _S + “ ( PL _ CONCD ) “ CASE (3rd) RFLX ( ADV ) AUX _2nd SUPPLET X + 4 ( GERUND ) “ “ “ “ “ “ “ RFLX ( PN ) “ “ “ Q_ TAG “ “ “ KEY : (Round brackets indicate tentative assignment only.) IL -ing = non standard ‘-ing’; PP = in prepositional phrase. DO _ FRONT = fronting of wh-word and possible cliticized element (e.g. ‘what do’). TOPIC = topicalization of initial or final elements. ADV _Front = fronting of final adverbs or adverbial PP s. AUX _ EN = [be / have] + V-ed, not necessarily with standard semantics. PSEUDO _ INV = simple fronting of wh-word across verb (e.g. ‘where is the summer? ’). COMP _ TO = insertion of ‘to’ as a complementizer as in ‘want to go’. PART _ MOV = verb-particle separation, as in ‘turn the light on’. AUX _ ING = [be] + V-ing, not necessarily with standard semantics Y / N_ INV = yes / no questions with subject-verb / aux inversion. Tabelle 3.5: Regeln für den Erwerb des Englischen als Fremdsprache (nach Larsen-Freeman & Long 1991: 278) 110 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb NEG AD ADJ PREP W_ ORDER no no + X “ - - - - - - PP “ “ SVO ? “ “ don’t + V “ ( ADV ) - - (more) “ “ TOPIC ADV _ FRONT “ “ “ “ (better) (best) COMP _ TO “ PART - MOV PREP _ STRNDG Do_2 ND SUPPLET -ly “ -er -erst “ “ ( DAT _ TO ) “ “ “ “ “ “ “ “ “ “ “ “ “ “ “ “ “ ADV VP ( DAT MVMT ) ( CUSATIVE ) (2_ SUB _ COMP ) PREP _ STRNDG = stranding of prepositions in relative clauses. 3 SG _S = third person singular ‘-s’ marking. PL _ CONDCD = plural marking of NP after number or quantifier (e.g. ‘many factories’). CASE (3rd) = case marking of third person singular pronouns. AUX _2 ND = placement of ‘do’ or ‘have’ in second position; DO _2 ND = as above, in negation SUPPLET = suppletion of ‘some’ into ‘any’ in the scope of negation. DAT _ TO = indirect object marking with ‘to’. RFLX ( ADV ) = adverbial or emphatic usages of reflexive pronouns; RFLX ( PN ) = true reflexivization. Q_ TAG = question tags; AV _ VP = sentence internal adverb location. DAT _ MVMT = dative movement (e.g. ‘I gave John a gift’). CAUSATIVE = structures with ‘make’ and ‘let’. 2_ SUB _ COMP = different subject complements with verbs like ‘want’. Tabelle 3.6: Regeln für den Erwerb des Englischen als Fremdsprache (nach Larsen-Freeman & Long 1991: 279) Die verschiedenen, scheinbar unverbundenen Strukturen jeder Stufe können zur gleichen Zeit bearbeitet werden, da sie von den gleichen Strategien abgeleitet sind. Innerhalb der Entwicklungsstufen kann ein gewisses Maß an Variation zwischen den Polen der Normausrichtung (die Bevorzugung von akkuraten Strukturen) und der Simplifizierungsausrichtung (die Bevorzugung kommunikativer Effizienz) auftreten, da sich die Präferenzen des Lerners für bestimmte Strategien mit der Zeit ändern und somit auch innerhalb einer Entwicklungsstufe Variationen produzieren können. Obwohl Pienemanns Modell davon ausgeht, dass entwicklungsbedingte Merkmale durch Unterricht nicht beeinflussbar sind (weil sie als nichtlernbar gelten), ist in verschiedenen Studien gezeigt worden, dass Variationsmerkmale entgegen den Voraussagen des Modells auf unterrichtliche Maßnahmen ansprechen und die Sequenzen insgesamt weniger homogen ausgestaltet sind, als von dem Modell postuliert. 111 3.2 Das Modell der Erwerbssequenzen 3.2.2 Erwerbssequenzen für Deutsch als Fremdsprache Für die Zielsprache Deutsch belegt eine Reihe von Studien deutliche Abweichungen von der oben postulierten Sequenzierung. Dazu gehören Diehl, Christen, Leuenberger, Pelvat & Studer (2000) mit ihrer einschlägigen Untersuchung unter Schweizer Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Altersgruppen und Schultypen- - also in der Domäne des gesteuerten Sprachenerwerbs. Die Studie zeigt, dass nicht nur Primarschüler und -schülerinnen, sondern auch die der Sekundarstufe 1 und 2 die Erwerbsstufen trotz intensiven Unterrichts nicht immer vollständig und nicht linear durchlaufen. Zwar verschiebt sich, wie zu erwarten war, das Erwerbsprofil der drei Gruppen mit dem Alter und der Erwerbsdauer nach oben, das heißt, die älteren Schülerinnen und Schüler sind weiter fortgeschritten. Zu beachten dabei ist, dass keine Longitudinalstudie durchgeführt wurde, sondern lediglich Schülertexte aus den unterschiedlichen Jahrgängen ausgewertet wurden. Außerdem zeigen auch fortgeschrittene Schüler (Matura-Gruppe) besonders im Bereich des Morphologieerwerbs trotz intensiver Grammatikunterweisung noch große Abweichungen von den zielsprachlichen Normen (Diehl et al. 2000: 372). Diese Abweichungen von der aus der Lernbarkeitshypothese abgeleiteten Progression kann man allerdings unterschiedlich werten: je nachdem, ob man Verfechter oder Kritiker des Modells ist. Grießhaber (2006) interpretiert sie als eindeutigen Beleg für die im natürlichen Sprachenerwerb ermittelte Grammatikprogression, die sich trotz großen Grammatiklehraufwandes im Unterricht durchsetze, also gegen Lehrmaßnahmen resistent sei. Um diese Aussage stützen zu können, müsste jedoch sichergestellt sein, dass die im Sinne der Lernbarkeitshypothese abgeleitete Ideal-Progression im Unterricht nicht eingehalten wurde und dass die von Diehl et al. (2000) beobachteten Ergebnisse den Voraussagen der Hypothese entsprächen. Ersteres ist bedauerlicherweise nicht belegt, Letzteres trifft so nicht zu. Zudem müsste der Gegenbeweis eines Unterrichtsexperimentes angetreten werden, bei dem die ideale Reihenfolge tatsächlich eingehalten wird (vergleiche Winkler 2011). Aus einem solchen Vergleich beider Gruppen dürfte sich danach theoretisch kein Unterschied ergeben. So geht etwa Mellow (1996) in seiner oben genannten Studie zur L2 Englisch bei japanischen Studierenden vor (siehe auch VanPatten 1995), stellt aber einige deutliche Unterschiede des Gruppenverhaltens fest. Die alternative, modellskeptische Interpretation der Ergebnisse sieht hierin einen Beleg dafür, wie ineffizient Grammatikunterricht und wie problematisch eine starke Formfokussierung im Unterricht allgemein sein können, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass gerade Drill- und Übungseffekte des Unterrichts zu den von Diehl et al. (2000) beobachteten Ergebnissen beigetragen haben. Die folgenden Tabellen nutzen die fünf Stufen der Lernbarkeitshypothese nach Pienemann als Referenz und tragen darin den Erwerbsstand der drei von Diehl et al. (2000) untersuchten Gruppen nach Altersstufen ab ( EP -= école primaire, Primarschule, CO -= cycle d’orientation, Sekundarstufe I, TP - = Testpersonen, Maturität- = Ende der Sekundarstufe II , Prozentangaben bezogen auf die jeweilige Anzahl der TP ): 112 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb Phase I Phase II Phase III Phase IV Phase V Ende EP (49 TP ) 8 = 16 % 41 = 83 % - - - Ende CO (61 TP ) - 4= 7 % 3 = 6 % 54 = 88 % - Maturität (15 TP ) - - 1 = 7 % 5 = 33 % 9 = 60 % Tabelle 3.7: Erwerbsstand im Verbalbereich nach Diehl et al. (2000: 370) I I / II II II / III III III / IV IV Ende EP (13 TP ) 12 = 92 % 1 = 8 % - - - - - Ende CO (37 TP ) 4= 11 % 1= 3 % 18 = 49 % 3 = 8 % 7 = 19 % 2 = 5 % 2 = 5 % Maturität (12 TP ) - - 3 = 25 % 2 = 17 % 5 = 42 % 1 = 8 % 1 = 8 % Tabelle 3.8: Erwerbsstand im Bereich der Kasus in Nominalphrasen nach Diehl et al. (2000: 307) Phase I Phase II Phase III Phase IV Phase V Ende EP (49 TP ) 11 = 23 % 40 = 77 % - - - Ende CO (61 TP ) - 1= 2 % 12 = 20 % 22 = 37 % 25 = 41 % Maturität (15 TP ) - - - 3 = 20 % 12 = 80 % Tabelle 3.9: Erwerbsstand im Bereich der Satzmodelle nach Diehl et al. (2000: 370) In einer Folgestudie zu der von Diehl et al. (2000) zeichnet Terrasi-Haufe (2004) mittels einer weiter differenzierten Unterteilung auch kleinschrittigere Entwicklungsbewegungen nach, und zwar in Bezug auf die Entwicklung der mündlichen und schriftlichen Lernersprachen. Dazu erhob sie mittels standardisierter Aufgabenstellungen lernersprachliche Daten für zwölf Schülerkohorten über einen Zeitraum von zwei Jahren und erstellte ein digitalisiertes Korpus. Die erhobenen Daten wurden anhand der Kategorien des Duden annotiert und elektronisch ausgewertet. Das Ergebnis umfasst eine Beschreibung für die verschiedenen Kohorten der Realisierung der deutschen Satzmodelle, der Verbflexion und der Kasusmarkierungen sowie die Beobachtung von Stufen der lexematischen und pragmatischen Entwicklung. 113 3.2 Das Modell der Erwerbssequenzen Die Realisierung der Verbalflexion I. Präkonjugale Phase („chunks“, Infinitive) II. Regelmäßige Präsensformen III. Subjekt-Verb Kongruenz IV. Irreguläre Verbflexion im Präsens V. Modalverben + Infinitiv VI. Perfekt VII. Präteritum VIII. Plusquamperfekt, Futur I, Konjunktiv II , Passiv IX. Futur II , Konjunktiv I, dreiteilige Verbformen Die Realisierung der Satzmodelle I. Subjekt-Verb-Objekt II. Inversion in Ergänzungsfragen III. Negation IV. Distanzstellung V. Inversion in Entscheidungsfragen VI. Inversion nach vorangestellten Nebensätzen VII. Verbendstellung in infiniten Nebensätzen VIII. Verbendstellung in finiten Nebensätzen IX. Inversion nach topikalisierten Adverbialien X. Inversion nach einleitenden Konjunktionaladverbien Die Realisierung von Kasus I. Ein-Kasus-System (nur N) II. Ein-Kasus-System (N, A und D beliebig), (N / A und A / N präverbal) III. Zwei-Kasus-System (S und O systematisch markiert A / D, D / A) (A / N bei Prädikatsnomina) IV. Drei-Kasus-System (S, AO und AG weitgehend normgerecht) V. Vier-Kasus-System (S, AO , DO , AG und PP weitgehend normgerecht) Die lexematische Entwicklung I. Allgemeine Erweiterung des Wortschatzes, hauptsächlich Autosemantika II. Erweiterung des funktionalen Wortschatzes III. Aufbau und Erweiterung des modalen Wortschatzes Die pragmatische Entwicklung I. Erweiterung des Sprachhandlungsrepertoires, zunehmende Variation II. Ausbau des Lenkfelds III. Ausbau des Modalfelds IV. Entwicklung der mündlichen Kompetenz Entwicklung von Kohärenz, Genauigkeit und Gewandtheit Tabelle 3.10: Erwerbssequenzen und Entwicklungen in DaF-Lernersprachen nach Terrasi-Haufe (2004) Zwischen den unterschiedlichen Bereichen der lernersprachlichen Entwicklung sind dabei Wechselwirkungen festzustellen. So ist zum Beispiel gut nachzuvollziehen, dass erst das Auftreten von Funktionswörtern, wie unterordnenden Konjunktionen und Konjunktionaladverbien, die Auseinandersetzung mit neuen Wortstellungsmustern, also Verbendstellung und Subjekt-Verb-Inversion, einleitet. Daneben tritt die kanonische S-V-X Wortstellung erst dann auf, wenn die Konjugation von Verbformen, beziehungsweise die Subjekt-Verb-Kongruenz realisiert wird. Diese und weitere Wechselwirkungen dürfen aber nicht den Eindruck entstehen lassen, dass der Erwerb des Deutschen als Fremdsprache als ein paralleles Voranschreiten in den unterschiedlichen Bereichen abläuft. Das bedeutet, dass jemand, der sich auf der Erwerbssequenz zur Realisierung der Satzmodelle in Phase III befindet, sich nicht unbedingt auf den anderen Erwerbssequenzen auch in Phase III befinden muss. Daneben beeinflussen die Komplexität und Modalität der Äußerungen die Realisierung der Strukturen. Die Beispiele verschiedener Schüler sollen hier zur Illustration dienen. Sie nehmen eine vermittelnde Position zu den oben genannten Interpretationsalternativen ein. Einerseits zeigen sich bei Schüler A erwartbare Erwerbszuwächse, andererseits demonstriert das Beispiel-- wie viele andere auch- - die Nichtlinearität und Gegenläufigkeit des Erwerbsverlaufes bei Zunahme an Teilsatzlänge und an hypotaktischer Komplexität. Deutlich wird hier auch, dass sich die Bereiche unterschiedlich schnell und weit entwickeln und dass Unterschiede in den mündlichen und schriftsprachlichen Kompetenzen bestehen. Aus anderen Lernerprofilen, er- 114 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb geben sich zudem zum Teil große Diskrepanzen im Grammatikerwerb, Grammatikrückgang und Grammatikstillstand schriftsprachlicher und mündlicher sprachlicher Kompetenzen. Abbildung 3.3: Beispiel für einen Erwerbsverlauf: Schüler A, schriftlich (bei Zunahme an Teilsatzlänge und an hypotaktischer Komplexität (Terrasi-Haufe im Druck) Abbildung 3.4: Beispiel für einen Erwerbsverlauf: Schüler A, mündlich (bei Zunahme an Teilsatzlänge und an hypotaktischer Komplexität (Terrasi-Haufe im Druck) 115 3.2 Das Modell der Erwerbssequenzen Terrasi-Haufe schließt aus ihrer Untersuchung, dass nicht nur maturationale Faktoren (Alter), sondern auch unterrichtliche Maßnahmen für das größere strukturelle Spektrum in den Profilen der von ihr beobachteten Schülerinnen und Schüler mitverantwortlich sind und daher die großen Diskrepanzen zur Lernbarkeitshypothese auftreten. Für die Verbalflexion und den Kasuserwerb können insgesamt größere Annäherungen an das zielsprachliche System postuliert werden als für die übrigen Untersuchungsbereiche. Die Verbendstellung wird vor der Inversion gelernt, die Inversion wird in unterschiedlichen Kontexten zu unterschiedlichen Zeitpunkten und nicht als einmalige Regel erworben. Der Erwerb schriftlicher und mündlicher Kompetenzen entwickelt sich bis zu einem gewissen Grad unabhängig voneinander und ist von der lexematischen und pragmatischen Entwicklung abhängig. Abschließend kann festgehalten werden, dass sich die Grammatik vor allem aus dem Lexikon entwickelt. Nach Pienemann (2005) entspricht dies der Phase „Null“, die von ihm jedoch nicht eingehend behandelt, sondern lange als ungrammatisch übergangen und erst später berücksichtigt wurde. Das Chunking Modell und die Basisvarietät sind in Bezug auf die lexikalische Basis der Grammatik jedoch sehr explizit (vergleiche Lerneinheit 3.1). Die Chunks werden de facto als größere lexikalische Einheiten vom Lerner betrachtet und erst sukzessive analysiert. Bereits in den frühen Phasen sind sie, wie auch die übrigen lexikalischen Mittel, zentrale kommunikative Instrumente für die Lerner. Wo möglich werden sie in Handlungen erprobt. Forschungsmethodisch weisen die Modelle des Strukturerwerbs eine Reihe von Problemen auf, die die Eignung der Sequenzmodelle für den Unterricht in Frage stellen. Mit Diehl et al. (2000), Bardovi-Harlig (1995) und Roche (2001) kann man jedoch auch aus den Ergebnissen dieser Forschungsrichtung eine Orientierungsfunktion der natürlichen grammatischen Progression für die Progression im Unterricht ableiten. Diese besteht nicht so sehr in der Validität der benannten Kategorien als vielmehr in der Bewusstmachung einer systematischen Sequenzierung im Erwerb, die von Interferenzen der Erstsprache unabhängiger ist, als weitläufig angenommen wird, und die nur bedingt durch unterrichtsmethodische Mittel übergangen werden kann. Folgerichtig ergibt sich daraus auch eine andere Perspektive auf Erwerbs-„fehler“. Es entsteht eine neue Fehlerkultur, in der nichtzielgerechte Erscheinungen als Indikator für den Erwerbsfortschritt und daher besser als Diagnoseinstrument denn als Einladung zu externen Korrekturen zu betrachten sind (vergleiche Kleppin 2009). 116 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb 3.2.3 Zusammenfassung ▶ Sprachenerwerb wird in den meisten Modellen aus formaler Sicht beschrieben. ▶ Die Lernbarkeitshypothese von Pienemann geht dabei von nativistischen Annahmen aus, die eine bestimmte Klassifizierung von Lernerdaten präsupponieren. Dabei werden die Realisierungen von Kategorien gesucht, die a priori als Standard gesetzt wurden. Die eigene Dynamik und Strukturierung der Lernerdaten wird nicht nachvollzogen. ▶ Formbasierte Ansätze stellen sich wegen ihrer kategorialen Zuordnungen als problematisch dar, da die Grundlage standardgrammatische Normen sind, die nicht aus den Lernerdaten selbst abgeleitet sind. Dies führt unter anderem meist zu einer hohen Variation, die kaum plausibel erklärt werden kann. ▶ Arbeitet man mit diesen Modellen, bleiben einige Fragen offen: Warum haben Lerner eine so große Variationsbreite, wenn man von sequentiellen Modellen ausgeht, in denen Erwerbsstufen nicht übersprungen werden sollten? Warum sollte ein Lerner, der bestimmte grammatische Regeln schriftlich anwendet, diese in mündlicher Sprache nicht mehr beherrschen? Und warum sollten diese Erwerbsstufen zu späteren Erhebungszeitpunkten wieder verschwunden sein? ▶ Die formalbasierten Modelle eignen sich also nur bedingt für eine Beschreibung des Sprachenerwerbs und eine Anwendung für Test- und Lehrzwecke. 3.2.4 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Fassen Sie die Grundannahmen der Lernbarkeitshypothese zusammen. 2. Welche Studien haben sich mit Erwerbssequenzen zu Deutsch als Fremdsprache beschäftigt? 3. Inwiefern unterscheiden sich individuelle lernersprachliche Entwicklungen? 4. Welche Transfermöglichkeiten bietet die Abbildung von Erwerbssequenzen für die Praxis? 117 3.3 Fossilisierung und Stabilisierung 3.3 Fossilisierung und Stabilisierung Jörg Roche & Elisabetta Terrasi-Haufe In Lerneinheit 3.2 haben Sie sich mit den Erwerbssequenzen auseinandergesetzt und dabei auch die Theorien Selinkers kennengelernt. Auch das Konzept der Fossilisierung geht auf Selinker zurück. Im Rahmen der Interlanguage-Hypothese bestimmt er Fossilisierungen als typisches Merkmal für den Stillstand in der Entwicklung von einem Interimssystem ins andere. Damit unterscheidet sich die Fossilisierung von der Stabilisierung, die eine Prämisse für die Ausbildung eines Systems innerhalb einer dynamischen Entwicklung bildet. Das heißt Fossilisierungen finden dann statt, wenn Stabilisierungen keine dynamischen Entwicklungsphasen (mehr) folgen. Fossilisierungen können sowohl im pragmatischen als auch im syntaktischen Modus stattfinden und unterschiedliche Bereiche der sprachlichen Entwicklung (Aussprache, Wortschatz, Grammatik etc.) betreffen. Die Sprachenerwerbsforschung hat sich intensiv mit diesem Phänomen auseinandergesetzt und erforscht unter welchen Bedingungen es auftritt und inwiefern es umkehrbar ist. Denn die Tatsache, dass Fossilisierungen unabhängig davon entstehen und bestehen können, wie intensiv wir uns mit einem Phänomen auseinandersetzen, widerspricht unserem Konzept von Lernen. In dieser Lerneinheit werden Sie kennenlernen, welche Gestalt Fossilisierungen annehmen können, wie man sie erkennt und welche Möglichkeiten es gibt, mit ihnen im Unterricht umzugehen. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ erkennen, worin die Stabilisierungs- und Fossilisierungserscheinungen bestehen; ▶ die Prozesse, die bei Stabilisierungen und Fossilisierungen beteiligt sind, benennen können; ▶ Fossilisierungen identifizieren können; ▶ Wege kennenlernen, wie man mit Lernern umgehen kann, die bereits fossilisierte Strukturen aufweisen. 3.3.1 Begriffsbestimmungen und Formen stabilisierter und fossilisierter Lernersprache Das Konzept der Fossilisierung im Sprachenerwerb spielt seit Beginn der Sprachenerwerbsforschung eine zentrale Rolle (vergleiche Selinker 1992; Selinker & Han 2005; Weinreich 1953). Selinker benennt es, indem er auf unterschiedliche Ebenen der sprachlichen Oberfläche (items) und die zugrundeliegenden Regeln sowie die Unabhängigkeit von Alter und Input verweist: Fossilizable linguistic phenomena are linguistic items, rules and subsystems which speakers of a particular native language will tend to keep in their interlanguage relative to a particular target language no matter what the age of the learner or amount of explanation or instruction he receives in the target language. (Selinker 1972: 215) 118 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb Unterschiedliche Autoren operieren anhand von verschiedenen Konzepten wie endstate, steady state, ultimate attainment, fossilized competence oder auch (permanent) stabilization (siehe Han 2003; Lardiere 1998; Schachter 1996; Selinker 1996; Tarone 1994). Empirisch sind diese Differenzierungen jedoch kaum belegt (vergleiche Han 2003, 2004). Der Forschungsstand ist uneinheitlich. Allgemein wird jedoch akzeptiert, dass Fossilisierung eine vorzeitige Entwicklungsunterbrechung bei nicht optimalen Umgebungsbedingungen beinhaltet und dass fossilisierte Strukturen langfristig gegenüber Umfeldeinflüssen inklusive authentischen Inputs und Unterrichts resistent sind (vergleiche Han 2004: 23; Hasbún 2007: 115). Stabilisierung gilt als Vorstufe zur Fossilisierung, das heißt der Unterschied zwischen Stabilisierung und Fossilisierung ist einer der Permanenz. Nach Selinkers Interlanguage Hypothese repräsentieren Interlanguages unterschiedliche Stadien der Stabilisierung des lernersprachlichen Systems. Den Stabilisierungsphasen sollten aber immer weitere dynamische (und folglich instabile) Entwicklungsphasen zur Annäherung an die Zielsprache folgen. Bleiben diese aus, kann es sich um längere Stabilisierungsphasen handeln oder bei Stillstand eben um Fossilisierungen. Dies kann durch Beobachtungen in longitudinalen Experimenten oder durch die Identifikation typischer Fehler von fortgeschrittenen Lernern geschehen. Nach Long (1997) und Selinker (1985) ist für die Bedingung der Fossilisierung ein Erwerbszeitraum von fünf Jahren anzusetzen, der jedoch arbiträr gesetzt wurde. Stabilisierung und Fossilisierung können vor allem in Form von vier Erscheinungen festgestellt werden: ▶ (Nicht)sprachliche Strukturen erscheinen in invarianter Form über einen bestimmten Zeitraum hinweg (invariante Erscheinungen), zum Beispiel hatta für ‚hat er‘ selbst wenn die referierte Person noch anderweitig genannt wird (hatta der Mann). ▶ Sie erscheinen in verschiedenen Kontexten in gleicher Form (inter-kontextuelle Stabilisierung), zum Beispiel bestimmte Phrasen, Nachfrage- oder Modalpartikel und auch ganze Chunks, die mehr oder weniger rhythmisch oder anderweitig verteilt in der Sprache erscheinen, ohne dass das zielsprachlich sinnvoll wäre. ▶ Variante korrekte oder inkorrekte Formen erscheinen im gleichen Kontext (stabilisierte intra-kontextuelle Variation), zum Beispiel wechselweise schwache, starke und unterschiedlich reduzierte Formen der Verben (gehte, gegang, gegangen etc.). Korrekte Formen erscheinen dabei fast nur in Chunks, sonst gibt es kaum richtige grammatische Formen. Vieles ist aus der Umgangssprache „abgehört“ und bleibt unreflektiert und unanalysiert. ▶ Es zeigt sich ein variables Zurückgleiten in frühere Erwerbsstufen (Backsliding), zum Beispiel zum pragmatischen Modus in einem Gespräch, sobald komplexere Themen behandelt werden oder über einen bestimmten Zeitraum. Sowohl die makroskopischen als auch die mikroskopischen (individuellen) Studien zur Stabilisierung des Sprachenerwerbs belegen, dass der Erwerb trotz günstiger Faktoren wie kontinuierlich verfügbarem, authentischem Input, adäquater Motivation und Lernbereitschaft und ausreichender Gebrauchspraxis in der Lernumgebung lokal und global zum Stillstand kommen kann (vergleiche Han 2007). 119 3.3 Fossilisierung und Stabilisierung Experiment Sicher kennen Sie Menschen, bei denen Sie über einen längeren Zeitraum keinen Lernfortschritt im Deutschen erkennen. Fragen Sie sie doch, ob Sie einmal ein einfaches Gespräch mit ihnen aufzeichnen oder Notizen dazu machen dürfen. Oder sehen Sie sich einen schriftlichen Text von ihnen an. Transkribieren Sie den mündlichen Text gegebenenfalls und markieren Sie auffällige Elemente nach obiger Liste. Was fällt Ihnen auf? Wo gibt es ständig wiederkehrende (korrekte und inkorrekte) Strukturen, wo nicht analysierte Chunks und Formeln, wo wechselnde Strukturen? Wie zugänglich ist Ihr Gesprächspartner für korrigierten Input? Mit dieser „Aufgabe“ können Sie natürlich direkt helfen: Erstens könnten Sie Ihrem Gesprächspartner eine gute und hilfreiche Analyse seiner Sprache geben, ihn auf bestimmte Probleme aufmerksam machen. Zweitens könnten Sie ihn damit sensibilisieren für ein aufmerksameres Zuhören und ein Achten auf korrekte Formen. Drittens könnten Sie ihm unter Umständen Vorschläge für eine „Therapie“ geben. Mit experimentellen Methoden kann die Resistenz auf Änderungsversuche gemessen werden (vergleiche Lin 1995; Lin & Hedgcock 1996; Thep-Ackrapong 1990), vor allem mit quasiexperimentellen Defossilisierungsdesigns, also Lehrverfahren, mit denen man spezifische Fehler durch erhöhte Aufmerksamkeit und eine hohe Korrekturfrequenz bereinigen will. Sind entsprechende Versuche ergebnislos, liegt Fossilisierung vor. Dabei sind fossilisierte Fehler- Strukturen prinzipiell schwer von fossilisierten zielsprachlichen Strukturen zu unterscheiden: Wenn der Erwerbsprozess eines Lerners bei einer bestimmten Struktur fossilisiert (zum Beispiel in einer Redewendung), die zu diesem Zeitpunkt zielsprachlichen Normen entspricht (etwa das an Dialekte angelehnte Kanaksprachliche du, isch schlag disch) oder angenähert ist, dann ist diese Verfestigung prinzipiell nicht von zielsprachlich korrekten Strukturen zu unterscheiden. Zu beachten gilt weiterhin, dass der Terminus Fossilisierung nicht nur für den Prozess der Fossilisierung, sofern man bei Stillstand von Prozess sprechen kann, sondern auch für dessen Ergebnis, das heißt für von der zielsprachlichen Norm abweichende, automatisierte sprachliche Formen verwendet wird. 3.3.2 Ursachen für Stabilisierungs- und Fossilisierungserscheinungen Die bisherigen Studien zur Fossilisierung gehen dabei von unterschiedlichen strukturellen, prozeduralen und zeitlichen Parametern aus: Einige Arbeiten führen Stabilisierungs- und Fossilisierungserscheinungen vor allem auf Altersfaktoren zurück (vergleiche Hyltenstam & Abrahamsson 2003; Kellerman 1995). Jedoch lässt sich aus den Untersuchungen nicht eindeutig auf Ursachen im Maturationsprozess, also auf eine Art kritischer Periode oder eine altersbedingte (global) fossilisierte Interlanguage, schließen (vergleiche Selinker 1996 sowie die kritische Position von Klein 1992 zu Aufenthaltsdauer und Zeitfaktoren im Sprachenerwerb, mit der er die verbreiteten, aber oberflächlichen Quantitätskriterien in Frage stellt). Selinker (1985) geht davon aus, dass erwachsene Lerner nie in allen Diskursdomänen muttersprachenähnliche Kompetenzen erwerben können. Andere Untersuchungen zur Frequenz 120 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb und Korrekturresistenz von Aussprache und Grammatikfehlern zeigen, dass Stabilisierungs- und Fossilisierungseffekte in bestimmten Bereichen, wie bei Präpositionen und Artikeln beziehungsweise bei Markierung von Genus und Kasus, in stärkerem Maße auftreten (vergleiche Hasbún 2007) als etwa im syntaktischen oder lexikalischen Bereich (vergleiche Barcroft 2007; Bitchener, Young & Cameron 2005; Chodorow, Tetreault & Han 2007; Han 2004). Bei vielen Lernern stabilisiert oder fossilisiert der Erwerbsstand auf einer Zwischenstufe (Interimssprache), deren Strukturen schwer wieder aufzubrechen sind. Interimssprachen sind zum Teil unabhängig von der Erstsprache, weisen daher unabhängig von der Ausgangssprache des Sprechers gewisse Gemeinsamkeiten auf und enthalten dabei sowohl regelgerechte grammatische und lexikalische Strukturen als auch Strukturen, die an anderer Stelle als ungrammatisch gelten. Die Strukturen werden also offenbar nur unzureichend verarbeitet und nur in bestimmten kommunikativen Kontexten angewandt und verfestigt. Konfliktive Regeln werden nur ungenügend zusammengeführt. Neue Regeln und spezifizierende Regeln führen nicht oder nur bedingt dazu, dass das zuvor erworbene rudimentäre System umorganisiert wird, dass also Reorganisierungsprozesse hinreichend greifen. Die Stabilisierung oder Fossilisierung ergibt sich demnach aus der mangelnden Reorganisation und Erweiterung des Sprachbestandes. Zielsprachliche Chunks und Gesprächsroutinen können die daraus resultierende Variabilität nur zu einem Teil erklären. Das Modell der Basisvarietät (vergleiche Lerneinheit 3.1) nähert sich der Problematik, indem es als eine Grundvarietät aus wenigen semantischen, syntaktischen und pragmatischen Prinzipien mit universellen Gemeinsamkeiten im L2-Erwerb zu verstehen ist. Klein und Perdue (1992: 315) bezeichnen sie deshalb als erste wichtige Fossilisierungsstufe im L2-Erwerb, die bei komplexeren kommunikativen Funktionen in größere Variabilität ausbricht. Inwieweit die Basisvarietät oder die darauf aufbauenden Erwerbsstufen durch eine Begrenzung der kognitiven Funktion (vergleiche Comrie 1997), nichtgrammatische kognitive Prozesse (vergleiche Meisel 1997) oder allgemeine Lernstrategien (vergleiche Bierwisch 1997) charakterisiert sind, bleibt dabei noch zu klären. Neurophysiologische Faktoren reichen als alleinige Begründung für die Fossilisierung nicht aus, denn die Gehirnforschung belegt eine größere neuronale Plastizität und Vernetzung, als bisher vermutet. Selbst im Erwerb der Aussprache, der als frühester und schwierigster Bereich der Verfestigung im Sprachenerwerb gilt, sind Modifikationen unter bestimmten Bedingungen auch nach langzeitiger Habitualisierung möglich. Ob die Ursachen für die rudimentäre Verfestigung grammatischer Regeln primär in der reduzierten Analysekompetenz (Monitor) einer reduzierten Lernfähigkeit, dem hohen Grad der Automatisierung (geringere Beteiligung des Arbeitsgedächtnisses im fortgeschrittenen Erwerb), einem bewussten oder unbewussten codemixing als Ausdruck einer hybriden Identität oder in anderen kognitiven Begrenzungen zu finden sind, ist demnach noch nicht völlig geklärt. Als Codemixing werden Sprachenmischungen bezeichnet, bei denen keine dominante Matrixsprache erkannt werden kann und die Mischungen einem rekurrierenden Muster folgen (vergleiche Auer 1999; Riehl 2009). Dieses Muster kann sich aus den dargestellten Erwerbsrestriktionen ergeben, aber auch einer bewussten Strategie des Sprechers folgen, der damit eine hybride Identität konstruieren und ausdrücken will. Androutsopoulos (2006) bezeichnet diese Verwendungsweise als Sprechstil. 121 3.3 Fossilisierung und Stabilisierung Klein (1992) geht davon aus, dass Lerner mit einer geringen integrativen Motivation, die anhand ihrer L2-Kentnisse ihre kommunikativen Bedürfnisse erfüllt sehen, keinen Bedarf für eine sprachliche Weiterentwicklung erkennen können und entsprechend fossilisieren. Steinmüller (1992: 37) stellt in seiner Studie zum Erwerb des Deutschen als Zweitsprache durch Schüler und Schülerinnen mit türkischem Migrationshintergrund fest, dass vor allem bei Schülern mit stark defizitären Sprachkenntnissen Selbstüberschätzung im sprachlichen Bereich und Stagnation in der Entwicklung beziehungsweise Fossilisierung beobachtet werden kann. Er bringt das Stehenbleiben der Sprachentwicklung auf einem noch immer stark defizitären Niveau in Verbindung mit einer Einschätzung der eigenen Sprachfähigkeiten, für die keine Verbesserungsnotwendigkeit zur Kenntnis genommen wird. Diese stehe einem weiteren Erwerb und einer weiteren Entwicklung im Wege, da deren Notwendigkeit wegen der vermeintlich guten Sprachkenntnisse nicht ins Bewusstsein des Schülers dringt. Motivation und Lernbereitschaft werden dadurch behindert. Genauso beobachtet Borodina (2016: 80), dass Lerner, die zum Beispiel ihre Aussprache überschätzen, sie auch bei fortgeschrittenem Erwerb nicht mehr der Norm der Zielsprache anpassen, beziehungsweise auch keinen Bedarf dafür empfinden. 3.3.3 Fossilisierung im pragmatischen Modus Betrachten wir nun aber ein konkretes Beispiel eines Sprechers beziehungsweise Schreibers, der schon lange in Deutschland lebt (circa 20 Jahre) und viele auffällige Strukturen verwendet, sich damit aber trotzdem einigermaßen verständlich machen kann. Die auffälligen Stabilisierungstendenzen zeigen sich hier in einer Bildbeschreibung eines ägyptischen Deutsch-Lerners. Der Text entstammt einer Studie der Syrerin Al-Mouslie (2009) an der deutsch-jordanischen Hochschule in Amman, für die sie verschiedene Lerner des Deutschen als Fremdsprache aus arabischen Ländern untersucht hat. In der Bildergeschichte „Important to have friends“ ist ein Überfall (Handtaschenraub mit Pistole) dargestellt. Während des Überfalls taucht ein Polizist auf, der den Täter auf frischer Tat ertappt. Als sich der Täter mit erhobenen Händen umdreht, erkennt er im Polizisten einen alten Bekannten. Beide umarmen sich, aber die überfallene Frau erhebt dennoch Anklage gegen den Täter. Als der Richter den Gerichtssaal betrifft, erkennt auch er im Täter einen alten Freund. Beide laufen aufeinander zu, um sich zu umarmen… 122 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb Abbildung 3.5: Bildergeschichte Important to have friends (Faisal 2001-2015) 123 3.3 Fossilisierung und Stabilisierung Der ägyptische Sprecher beschreibt die Bildergeschichte folgendermaßen: R: Könnten Sie bitte diese Bildergeschichte kurz beschreiben? M. A. E.: Eine Dame läuft auf die Straße. Dana trifft sie ein Gängester oder Diebstahl… er bedruht sie mit Pistoli… ein Pistoli… Hatta ihre Tascha von ihr abgenommen-… unn dann kommt die ein Polizeibeamter hinten ihn-… bedreht ihn mit ein Pistoli-… Da sagt zu him: ‚Handa hoch! -… Handa hoch‘… Der Diebstahl hat sein Hända beide hoch belbel… Dann schauta uf im dreht sich-… dann schauta auf dem Polizeibeamter dann waren beide Freunde. Dann die Polizei fragt die Dame, ob sie will weiter Prozeessss-… weiter machen-… Dann die sagt ja bestimmt, natürlich-… sagt jaaa-… Dann die gehen zur-… vor Gericht-… Dann der Richter sagt die Dame: ‹Est dieserr Mann hatta ihra Tascha von dir geklaut? › Sagt diesa Dama: ‹Ja-… › Dann der Schis-… der Richter schauta auf beide… Polizeibeamter und Gängester-… Dann waren alle sind Bekannte-… (Al-Mouslie 2009). Neben den fossilisierten und stabilisierten Formen kommen in dieser Beschreibung auch viele Elemente mündlicher Alltagssprache vor. Das Lexikon ist etwas weiterentwickelt, als man es von einer einfachen Form der Basisvarietät erwarten könnte, es bleibt aber rudimentär und enthält eine Reihe nicht-zielsprachlicher Bezeichnungen. Deutlich zu beobachten ist ferner die Anwendung des Prinzips der natürlichen Abfolge, das allerdings durch die Reihenfolge der Bilder vorgegeben sein könnte: Dann, und dann, da, dann- … dann oder dana (,danach’) sind textstrukturierende Elemente, aus denen sich ein Temporalitätsgerüst ergibt. Als Tempus dient vorwiegend das Erzählpräsens. Es wechselt sich ab mit Perfektformen wie hatta abgenommen und hatta ihra Tascha von dir geklaut und einigen Präteritumformen, die in chunk-ähnlichen Formeln vorkommen (dann waren beide Freunde). Auffällig ist auch die eingebettete direkte Rede als Mittel der Textualität (sagt-…), durch die eine mehrschichtige Sprecherperspektivität (Erzähler, Polizei, Richter, Dame) entsteht. All diese Elemente deuten darauf hin, dass der Sprecher in diesem Text tatsächlich eine Erzählperspektive einnimmt und nicht-- wie durch die einleitende Frage gefordert-- nur eine Bildbeschreibung vornimmt. Es finden sich keine Hinweise auf eine Nummerierung oder andere Bezeichnungen der einzelnen Bilder. Die Verwendung der sprachlichen Mittel zeigt vielmehr eine gewisse Beliebigkeit (waren-… sind-…) und eine unvollständige und eklektische Ausprägung der Grammatik, die vermutlich auf das mündlich-sprachige Erwerbsumfeld und die mangelnde Fokussierung des Sprechers auf sprachliche Formen zurückzuführen ist. Das folgende kurze Beispiel, das Sie bereits aus dem Experiment in Lerneinheit 3.1 kennen, zeigt im Gegensatz zu den fossilisierten Strukturen, die über lange Zeit unverändert bleiben, wie schnell sich prinzipiell die begrenzten und oft impliziten Kommunikationsmittel der Basisvarietät- - unter bestimmten Bedingungen- - zu komplexen Textualitätsinstrumenten entwickeln können. Die Aufnahme stammt von einem dreizehnjährigen russischen Mädchen (Tatiana), das zum Zeitpunkt der Aufnahme erst wenige Wochen in Deutschland lebte, deren Eltern nicht Deutsch sprachen, und das außer schulischen Kontakten vergleichsweise wenig Kontakt zur deutschsprachigen Umgebung hatte, sich aber sichtlich bemüht, die deutsche Sprache schnell zu erwerben. Sie wird hier von einer Interviewerin gebeten, ein Spiel aus 124 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb dem Szenarienkoffer von Hölscher und Piepho (2003-2006) zu beschreiben (vergleiche Roche 2010). Aufnahme 1 fand nach wenigen Wochen Aufenthalt in Deutschland statt (die DVD wurde vom Finken Verlag unter dem Namen Lernszenarien- - Die neue Philosophie des Sprachenlernens frei zugänglich auf YouTube zur Verfügung gestellt): Lehrerin: Kannst du mir davor vielleicht erklären, wie das Spiel funktioniert? Tatiana: ok. dieses Spiel-… ei-… ein-… ein Mensch zei-… zei, ein Mensch zeit-… hmm, oder ein Fisch faat zeig und-… dieses zei und dieses saks: der Fisch oder das Fisch, so. Und wer richtig, nimmt ein solche (Tatiana zeigt auf eine Spielkarte). (Hölscher & Roche 2006: 38) Bei rein struktureller und stichpunktartiger Betrachtungsweise könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass Tatiana ein chaotisches Deutsch verwendet, das sie unter Umständen von einer Einstufung in eine altersgemäße Regelklasse ausschließen sollte. Sie verwendet vor allem Aneinanderreihungen von einzelnen Wörtern, Wortteilen und Teilsätzen, es zeigen sich aber dennoch bereits Ansätze zur Textbildung. Offenbar hat Tatiana aber zunächst noch große Probleme mit dem nötigen Textinventar. Ihr Sprachbewusstsein scheint immerhin so weit entwickelt, dass sie von einer Verbstruktur ausgeht, die eine grundsätzliche Füllung der Verbposition vorsieht, auch wenn diese nur Platzhalterfunktion hätte. Aber sie hat die Feinheiten der Flexion und Syntax und die semantischen Differenzen noch nicht ganz verstanden. Es lässt sich zum Beispiel bei ihr der Ansatz erkennen, nach verschiedenen Verben zu suchen, wobei die Verben häufig aber noch multiple Funktionen haben, also polysem verwendet werden, wie fahren und zeigt. Als verwendet sie als einzige Konjunktion. Durch die Übernahme von Dieses Spiel aus der Frage der Interviewerin stellt sie Kohäsion mittels Referenzidentität her. Damit wird eine Brücke zu der Frage und zu dem Gesprächskontext hergestellt. Interessant ist ferner auch die Verwendung von kataphorischen Elementen wie ein Mensch oder ein Fisch, die Tatiana hier korrekt einsetzt und auf die sie später in anderer Form (etwa mit definitem Artikel) zurückgreift. Das heißt, bei Tatiana ist die Entstehung eines Konzeptes von Textualität früh erkennbar. Sie verwendet ansatzweise textinterne Referenzmittel wie kataphorische und anaphorische Elemente und zeigt damit, dass sie das Konzept der textuellen Kohärenz kennt und dass dieses durch bestimmte Kohäsionsmittel unterstützt werden kann. 3.3.4 Fossilisierung im syntaktischen Modus In Lerneinheit 3.2 haben Sie erfahren, wie die Entwicklung im syntaktischen Modus anhand von Erwerbssequenzen beschrieben werden kann. In einer solchen Modellierung von Sprachenerwerb finden Stabilisierungen immer dann statt, wenn eine neue Erwerbsphase beschritten wird. Die Zunahme an den dazu zugeordneten Strukturen beginnt mit der Realisierung von unanalysierten (und demzufolge oft korrekten Chunks), die nach und nach analysiert werden, was aufgrund von falschen Übergeneralisierungen mit einer Zunahme 125 3.3 Fossilisierung und Stabilisierung nicht zielsprachlicher Formen einhergeht. Werden diese nicht weiter analysiert, kommt es zu Stabilisierungen oder Fossilisierungen. Die folgende Grafik zeigt den Erwerbsverlauf für einen anderen Lerner aus der Studie von Terrasi-Haufe (2004) für den bei der Realisierung der Satzmodelle und der Verbalflexion im Schriftlichen über einen Zeitraum von zwei Jahren keine Entwicklung festgestellt wird. Dabei gilt es aber zu berücksichtigen, dass dies mit einer zunehmenden Komplexität an Teilsatzlänge und hypotaktischer Komplexität einhergeht. Abbildung 3.6: Schüler B, schriftlich (bei Zunahme an Teilsatzlänge und tendenzieller Zunahme an hypotaktischer Komplexität (Terrasi-Haufe im Druck) Ein Grund für diesen Stillstand könnte folglich die erhöhte Verarbeitungskapazität komplexerer Strukturen sein. Ähnliches gilt für die Betrachtung der Entwicklung der mündlichen Sprachkompetenz, für die insgesamt vor allem in der Realisierung von Satzmodellen ein Rückschritt und genauso wie bei jener von Kasusformen niedrigere Erwerbsstufen als im Schriftlichen erreicht werden. Dies wird in der folgenden Grafik zu den mündlichen Daten von Lerner B veranschaulicht. 126 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb Abbildung 3.7: Schüler B (bei Zunahme an Teilsatzlänge und tendenzieller Abnahme an hypotaktischer Komplexität (Terrasi-Haufe im Druck) Inwiefern bei diesem Lerner Fossilisierung eintritt, ließe sich natürlich nur feststellen, wenn mehr Daten für ihn vorlägen. Zu berücksichtigen gilt außerdem, dass dieser Schüler zu einer Kohorte gehört, die während der Datenerhebung die letzten zwei Jahre einer Berufsfachschule besucht hat. Für diese Kohorte konnten insgesamt sowohl im morphosyntaktischen als auch im lexematischen Bereich Entwicklungen beobachtet werden, die als Anzeichen von Fossilisierungen im Erwerbsprozess gedeutet werden können: Darunter eine Reduktion des Formeninventars des Konjugations- und Deklinationssystems, zahlreiche Übergeneralisierungen bei der Partizip- und Pluralbildung und ein Stagnieren des Wortschatzes, das von einer Zunahme an lexematischen Abweichungen begleitet wird. Vereinfachungsprozesse und Verallgemeinerungen sind zwar charakteristisch für Sprachenerwerbsprozesse, allerdings scheint der Erwerbsprozess der Berufsschüler im Vergleich zu jenem der anderen Probandengruppen während des Beobachtungszeitraumes insgesamt abzuflachen. (Terrasi-Haufe 2004). Für die besagten Schüler wurde auch ein mittels Fragebögen abnehmendes Niveau an Motivation für den Deutschunterricht festgestellt. Neben den besagten Anzeichen von Fossilisierungen zeugen nämlich der Zuwachs an Komplexität im Bereich der Satzgliedstruktur, des Satzgliedspektrums, der Hypotaxe und des illokutiven Repertoires davon, dass die Berufsschüler das Bedürfnis haben, komplexe Zusammenhänge effizient auszudrücken. Die Tatsache, dass ihnen dazu nicht immer die geeigneten sprachlichen Mittel zur Verfügung stehen, führt zu einer unbefriedigenden Situation, die wahrscheinlich die Abnahme an Motivation für das Sprachenlernen zur Folge hat, die in vielen Berufsschulklassen beobachtet werden kann. Diese wirkt sich wiederum negativ auf den Erfolg des Unterrichts aus. 127 3.3 Fossilisierung und Stabilisierung 3.3.5 Aufbrechen von Fossilisierungen Fossilisierungen werden oft bei Migrantinnen und Migranten festgestellt, die lange eine L2 in einem ungesteuerten Kontext gelernt haben. In Deutschland wurde nach Einführung der Integrationskurse 2005 festgestellt, dass sich unter den Teilnehmern zahlreiche Lerner mit stark fossilisierten Strukturen befanden. Dies hat zu einer Intensivierung der Vorschläge für methodisch-didaktische Interventionen zur Überwindung von Fossilisierungen geführt. Nach Apeltauer (2010: 838) liegt der Schlüssel zum Aufbrechen von Fossilisierungen in der Erhöhung der subjektiven Wahrnehmbarkeit eines sprachlichen Phänomens, denn Wahrnehmungen erfolgen in einer festgelegten, automatisierten Weise. Zur De-Automatisierung (Defossilisierung) ist es erforderlich, dass die subjektive Wahrnehmbarkeit eines sprachlichen Phänomens erhöht wird, sodass das Phänomen differenzierter wahrgenommen und das Lernersprachensystem entsprechend restrukturiert werden kann. Diese Meinung wird von anderen Autoren geteilt und findet ihren Ausdruck im methodischen Ansatz der Formfokussierung (auch focus on form). Um die Aufmerksamkeit der Lerner auf Merkmale des Inputs zu lenken, die sonst ignoriert würden, wurden verschiedene Techniken und Verfahren herausgearbeitet (Schiffko 2008: 39-42): ▶ Inputflut: Schriftliches und mündliches Inputmaterial wird mit der zu fokussierenden zielsprachlichen Form angereichert, ohne dessen Authentizität zu verändern. ▷ Interpretationsaufgabe: Form-Funktions-Zusammenhänge werden zuerst in rezeptiven Aufgaben eingeführt. ▷ Grammatik kreativ: Unterstützung impliziter Bedeutungs- und Situationsbezüge durch die Arbeit mit Sprachbausteinen (Chunks) ▶ Inputintensivierung: Hervorhebung zielsprachlicher Elemente in authentischen Materialien durch grafische Visualisierungstechniken ▷ Interaktionales Feedback: Fehlerkorrektur durch Bedeutungsaushandlung ▷ Dictogloss: kooperative Rekonstruktion eines Textes ▷ Grammatikalisierungsaufgaben: Aufgaben, in denen zur Überbrückung von räumlichzeitlicher, kognitiver oder sozialer Distanz Lerner bestimmte Strukturen produzieren müssen, die im Hier und Jetzt der Alltagskommunikation nicht vorkommen ▶ Sprachbewusstheitsfördernde Aufgaben: fördern die gemeinsame Reflexion über sprachliche Phänomene (oder auch abweichende Realisierungen) ▷ Verarbeitungsanleitung: um den Anteil an Intake zu erhöhen, üben Lerner die Anwendung metasprachlicher Verarbeitungsstrategien Ein rein formfokussierter Unterricht bringt aber nicht per se den erwünschten Effekt. Um erfolgreich zu sein, müssen die Maßnahmen zur Überwindung von Fossilisierungen auf die individuellen Bedürfnisse der Lerner abgestimmt werden. Formfokussierung soll innerhalb handlungsorientierter Aufgabestellungen stattfinden und möglichst unaufdringlich; reaktiv oder proaktiv und möglichst spontan sein. Daneben sollen die Ursachen von Fossilierungen erforscht werden. Ein geeignetes Verfahren hierfür scheint die Sprachlernberatung zu sein 128 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb (vergleiche Kapitel 5 im Band »Unterrichtsmanagement«). Khakimova (2013) zeigt anhand einer Fallstudie, wie eine erwachsene russischsprachige Probandin durch die Reflexion ihrer Sprachlernbiographie, das Durchführen mitbestimmter Trainingseinheiten und die unterstützte Selbsteinschätzung ihrer mündlichen Kompetenz zu mehreren Zeitpunkten innerhalb des Treatments, eine eindeutige Verbesserung ihrer Aussprache im Deutschen erreicht. Scheller (2008) zeigt am Beispiel der Wechselpräpositionen, dass ein kognitionslinguistischer Erklärungsansatz auch bei erwachsenen L2-Lernern mit langjährigem, stagnierendem Sprachenerwerb positive Effekte zeigen kann, die bei einer Ausrichtung der Vermittlung nach den Kriterien der einschlägigen kognitiven Theorien multimedialen Lernens (vergleiche Mayer 2005; Schnotz 2005; Mayer & Sims 1994; Sweller 2005) noch gesteigert werden können (siehe Lerneinheit 7.3 im Band »Sprachenlernen und Kognition« zu Multimedia sowie Kanaplianik 2016). Scheller (2009) entwickelte ein Untersuchungsdesign, mit dem sie verschiedene Lernergruppen experimentell testen konnte, die schon viele Jahre Deutsch stagnierend gelernt hatten, manche Lerner über 15 Jahre lang. Allerdings war ihre Studie keine Defossilisierungsstudie. Aber die Studie zeigt deutlich, dass Lernergruppen, die offenbar über viele Jahre keine Fortschritte gemacht hatten, lernen können, wenn die Präsentationsinhalte und -formen stimmen. In der Studie gab es Lerner, die mit oder ohne Animationen lernten, und Gruppen, die mit oder ohne kognitivem Modell die Grammatik unterrichtet wurden. Die Ergebnisse ihrer Arbeit zur Kasuswahl bei Wechselpräpositionen zeigen deutlich, dass Animationen gut geeignet sind, die Kasuswahl zu veranschaulichen und die Lerner bei der Bildung mentaler Modelle zu unterstützen, auch wenn die anderen, vergleichbaren Lernergruppen nur geringe, kurzlebige Effekte zeigen. Erst in Verbindung mit einem kognitiven Modell der Grammatikvermittlung entfaltet die mediale Realisierung (Animation) den Lernmehrwert. So zeigten die Animationen in Verbindung mit dem formalen wo / wohin-Ansatz lediglich wenig ausgeprägte oder nur kurzfristige Verbesserungen der Lernleistung. Der kognitive Erklärungsansatz der Grenzüberschreitung in seiner statischen Version reichte ebenfalls nicht aus, um eine deutliche und langfristige Verringerung der Fehler zu bewirken. Dieser Erklärungsansatz bleibt möglicherweise zu abstrakt und bietet wenige Anhaltspunkte für mentale Modellierungsprozesse. Kontiguitätseffekte der Präsentationsmodi für ein sinnstiftendes Lernen entstehen demnach nur, wenn sprachliche und visuelle Information in ein gemeinsames mentales Modell integriert sind. Durch gute Koordination der Modi entstehen generative Effekte. Bei mangelnder Koordination entstehen Interferenzen und Ablenkungen (vergleiche Seel 2000) und damit der Eindruck, der Sprachenerwerb sei stabilisiert oder fossilisiert. Es könnte also sein, dass eine Defossilisierung dann möglich wird, wenn die konzeptuelle Ebene angesprochen wird. Die formalen Drilleffekte, Formorientierung, Bewusstmachung erreichen diese Ebene in der Regel nicht, auch wenn sie Teilelemente einer Fossilisierungstherapie sein können. 129 3.3 Fossilisierung und Stabilisierung 3.3.6 Prävention und Therapie von Fossilisierungen Einmal fossilisierte Formen lassen sich sehr schwer aufbrechen. Also ist die erste Regel, es gar nicht erst zu Fossilisierungen kommen zu lassen. Reicher Input und eine fordernde Verwendung des Sprachmaterials in unterschiedlichen Situationen helfen dabei. Eine Einbettung in Handlungskontexte, die eine Erprobung der Sprache erlaubt, ist ebenfalls essentiell. Die rezeptive Aufnahme von Sprache (Lesen, Hören) ist wichtig, zusätzlich zu dem Input des Unterrichts. Außerdem sollte man, gerade im familiären und freundschaftlichen Umfeld, Fehler nicht einfach überhören oder überlesen, nur weil man ungefähr die Bedeutung verstanden hat. Zwar ist es ziemlich zwecklos, alle Fehler zu korrigieren, aber man kann von seinem Gegenüber doch eine möglichst treffende und korrekte Sprache verlangen. Gerade im schriftlichen Bereich, wo mehr Planungs- und Korrekturmöglichkeiten bestehen. Auch kann man dabei leicht indirekt, etwa durch Paraphrasen und ähnliches, korrigierend eingreifen. Bei der Therapie bereits fossilisierter Strukturen sind der Grad und die Dauer der Fossilisierung entscheidend. In bestimmten Fällen wird es sehr schwer sein, Erfolge zu erzielen. In manchen Fällen kann eine Bewusstmachung der falschen Strukturen und die Vermittlung von korrekten Strukturen einen Effekt erzielen, vor allem, wenn die Bedeutung der falschen und der richtigen Strukturen deutlich gemacht wird und wenn neue Chunks vermittelt werden können. Drill bei Korrekturen hat nicht unbedingt positive Effekte, weil sich die Aufmerksamkeit reduziert, je mehr man wiederholt. Allerdings helfen kommunikative Übungen und Aufgaben bei stark fossilisierten Sprechern gar nicht, denn sie haben ja schon häufig erfahren, dass ihnen für die basalen kommunikativen Zwecke einfachste Strukturen genügen. Sinnvoll ist es daher, soweit möglich, semantische und konzeptuelle Ebenen zur Bewusstmachung der Strukturen heranzuziehen. 130 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Sprachenerwerb 3.3.7 Zusammenfassung ▶ Fossilisierungen können zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Aussprache, Wortschatz oder Grammatik auftreten, sowohl im pragmatischen als auch im syntaktischen Modus. ▶ Es können vor allem vier Formen festgestellt werden: invariante Erscheinungen, inter-kontextuelle Stabilisierung, stabilisierte intra-kontextuelle Variation und Backsliding. ▶ Meist fossilisieren umgangssprachliche Formen, und zwar in keiner erkennbaren Systematik. Es geht „drunter und drüber“. ▶ Fossilisierungen haben unterschiedliche Gründe: eine niedrige Motivation des Lerners, sich zu verbessern; das Bedürfnis, der Anpassung an die zielsprachliche Gesellschaft eine Grenze zu setzen, um die eigene (kulturelle) Identität zu wahren; die Unfähigkeit, nicht-zielsprachliche Formen zu verändern, die aus Lernungeübtheit oder alters- und stressbedingten Veränderungen im Zentralen Nervensystem und folglich auch im Wahrnehmungssystem resultieren. ▶ Ursachen für Fossilisierungen können durch Sprachlernberatungen erforscht und behandelt werden. ▶ Mögliche Strategien für das Aufbrechen von Fossilisierungen sind: Steuerung der Aufmerksamkeit der Lerner auf die fossilierten Bereiche, konzeptuellen Erklärungen und das Einüben von alternativen Chunks. ▶ Formen der Aufmerksamkeitssteuerung sind bewusste Formfokussierung, Reflexion oder kognitive Steuerung. ▶ Kognitionslinguistische Erklärungsansätze zeigen sich in verschiedenen Kontexten als fruchtbar. 3.3.8 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Worin unterscheiden sich fossilisierte und stabilisierte Strukturen? 2. Beim Aufbrechen von fossilisierten Strukturen, setzt man häufig auf Strategien, die die Aufmerksamkeit der Lerner auf die Zielstruktur lenken. Nennen Sie mögliche Verfahren und erklären Sie diese kurz. 3. Welche Rolle spielt die Lernmotivation nach Klein und Steinmüller bei der Fossilisierung? 4. Wie lassen sich Fossilisierungen präventiv verhindern? 5. Welche Strategien sind bei der Therapie von Fossilisierungen zu empfehlen? 131 3.3 Fossilisierung und Stabilisierung 4. Dynamische Modellierung von Sprachenerwerb In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit den Wechselwirkungen bei der Entwicklung mehrerer Sprachen in einem Individuum. Dabei bevorzugen wir den Begriff „Entwicklung“ (anstelle von „Erwerb“), da sowohl der Erwerbsals auch der Attritionsprozess als Teil der sprachlichen Entwicklung zu verstehen ist. Beim Sprachenerwerb und -verlust sind dieselben Faktoren relevant: Einstellung zur Sprache, Motivation, Persönlichkeit, Begabung, Intelligenz etc. Die Theoriebildung zum multiplen Sprachenerwerb reicht bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, als eine Verbindung zwischen Sprachenlernen und -lehren sowie zu anderen Disziplinen wie Psychologie, Soziologie, Bildung und Linguistik hergestellt wurde. In moderneren Ansätzen, wie beispielsweise im gebrauchsbasierten Ansatz, bilden nicht die Regeln den Mittelpunkt, sondern Muster des Sprachgebrauchs werden betont. In diesem Kapitel wird ein Ansatz diskutiert, der versucht soziolinguistische und psycholinguistische Perspektiven mit dem gebrauchsbasierten Ansatz zu kombinieren. 132 4. Dynamische Modellierung von Sprachenerwerb 4.1 Dynamische Systemtheorie Kees de Bot (übersetzt von Simone Lackerbauer) In dieser Einheit besprechen wir die grundlegenden Eigenschaften der dynamischen Systemtheorie (dynamic systems theory). Sie bildete sich als ein Zweig der Mathematik heraus und beschäftigte sich mit dem Zusammenspiel komplexer Systeme. Systeme sind dann als komplex zu betrachten, wenn deren Komponenten über die Zeit interagieren. Das weitverbreitetste Beispiel eines komplexen Systems ist das Wetter. Innerhalb des Systems interagieren viele Komponenten wie Temperatur, Winde, Luftdruck und Luftströmungen. Das Wetter gilt auch als dynamisch und adaptiv, denn es ist zum Teil unvorhersehbar. Da sich die Variablen gegenseitig beeinflussen, kann das Ergebnis ihrer Interaktion nicht vorhergesagt werden. Andere Beispiele für komplexe dynamische Systeme sind die Börse, Universitäten oder Buschbrände. Der Ansatz der dynamischen Systemtheorie eignet sich, wie Sie sehen werden, auch hervorragend zur Modellierung der Entwicklung von Mehrsprachigkeit beziehungsweise des multiplen Sprachenerwerbs. In dieser Einheit besprechen wir ihn erst im Allgemeinen. In Lerneinheit 4.2 geht es dann darum, dass Sprache ein komplexes dynamisches System ist und dass Sprachentwicklung ein dynamischer Prozess ist. Diese Entwicklung betrifft zwei Aspekte: Sprachenerwerb und Sprachverlust, mit denen wir uns in Lerneinheit 4.3 befassen werden. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ das Wesen komplexer dynamischer Systeme verstehen und erklären können; ▶ komplexe dynamische Systeme mit Phänomenen aus dem Alltag in Bezug setzen können; ▶ das Verhältnis komplexer dynamischer Systeme zu unterschiedlichen Zeitskalen verstehen und erklären können. 4.1.1 Definitionen Die dynamische Systemtheorie (dynamic systems theory, DST ) ist ein relativ neuer Ansatz zur Erforschung der Entwicklung komplexer Systeme. Ein dynamisches System kann als „ein Set bestehend aus Variablen, die ihre Veränderung gegenseitig im Verlauf der Zeit beeinflussen“ definiert werden (van Geert 1994: 350). Die Hauptkomponenten sind deshalb einerseits Variablensets und andererseits der Zeitverlauf. Eine detailliertere Erläuterung der dynamischen Systemtheorie würde den Rahmen dieser Einheit sprengen. Die Fachliteratur zur Anwendung der dynamischen Systemtheorie in unterschiedlichen akademischen Disziplinen nimmt stetig zu (Harrison 2006, Larsen-Freeman & Cameron 2008, Byrne & Callaghan 2014). Zunächst sollen einige relevante Begriffe geklärt werden. 133 4.1 Dynamische Systemtheorie ▶ Systeme: stets bestehend aus Einheiten oder Variablen, die miteinander verbunden sind. Wir sprechen vom ökologischen System, vom sozialen System, vom ökonomischen System, und sie alle bestehen aus Teilen, die miteinander kombiniert werden ▶ Dynamisch: Systeme sind dann dynamisch, wenn sie sich im Verlauf der Zeit aufgrund der Interaktion ihrer Variablen verändern. Dynamisch ist das Gegenteil von statisch und hat mit andauernder Veränderung zu tun. In statischen Systemen spielt die Zeit keine Rolle. ▶ Komplexe Systeme: In der dynamischen Systemtheorie bedeutet Komplexität etwas anderes als im alltäglichen Gebrauch: Das Wort „komplex“ bezieht sich auf die Interaktion der Variablen im Verlauf der Zeit, also wenn eine Variable sich verändert und das zu Veränderungen bei anderen Variablen führt; und diese Veränderungen wiederum die Variable beeinflussen, von der wir ausgegangen sind. Eine Uhr ist ein Beispiel für ein System, das in der Alltagssprache als komplex bezeichnet würde, weil es aus vielen Teilen besteht. Diese Teile beeinflussen einander aber nicht: Die Teile verändern sich nicht. Wenn wir uns jedoch einen Baum ansehen, dann erkennen wir ein System, das mit seiner Umgebung interagiert und das aus Teilsystemen besteht (Äste, Zweige, Rinde), die interagieren: Die Wurzeln entwickeln sich aufgrund von Veränderungen an den Ästen und umgekehrt. Während also eine Uhr kein komplexes System darstellt, ist ein Baum sehr wohl eines. ▶ Adaptiv: Systeme verändern sich je nach ihrer Umgebung. Der Baum passt sich an die Wetterbedingungen an: Wenn es zu trocken wird, wirft er seine Blätter ab, um zu überleben. Wenn es nicht genug Wasser auf der Oberfläche gibt, wandern die Wurzeln tiefer nach unten, um dort Wasser zu finden. Ein anderes Beispiel ist der menschliche Gang. Wenn wir gehen, passen wir uns konstant der Umgebung an. Es gibt vielleicht Risse im Gehsteig, oder Steine liegen auf der Straße. Wenn wir einen komplett fixierten und statischen Gang entwickelt hätten, würden wir hinfallen, wenn die Oberfläche nicht flach wäre, weil wir uns den Unebenheiten nicht anpassen könnten. ▶ Komplexitätstheorie (complexity theory, CT ) und dynamische Systemtheorie (dynamic systems theory, DST ): Diese Konzepte werden synonym verwendet und sie beziehen sich im Grunde genommen auf dieselbe Art von Systemen. In der Literatur werden Sie oft die Schreibweise CT / DST in Kombination vorfinden. ▶ komplexe adaptive Systeme (complex adaptive systems, CAS ): Wir werden komplexe Systeme als komplexe adaptive Systeme bezeichnen. Ein sehr offensichtliches Beispiel für ein komplexes adaptives System ist das Wettersystem. Es besteht aus vielen Teilen und Variablen wie etwa Luftfeuchtigkeit, Hoch- und Niedrigdruckgebiete, Wassertemperatur. All diese Variablen und Teilsysteme interagieren: Die Temperatur des Ozeans beeinflusst die Entwicklung von Hochdruckgebieten und der Wind beeinflusst die Temperatur. Man kann nicht sagen, dass einer dieser Teile das Wettersystem ausmacht-- es ist vielmehr die Gesamtheit der interagierenden Systeme. Andere Beispiele sind Ameisenhaufen, in denen viele Ameisen interagieren, um ein komplexes System aufzubauen, das teilweise autonom ist, aber teilweise auch von äußeren Faktoren wie den Wetterbedingungen oder Ameisenfressern beeinflusst wird. Ein weiteres Beispiel ist das Bankensystem. Es besteht ebenfalls aus vielen Teilsystemen wie den Zweigstellen von großen Banken, den Kunden, den Angestellten, den Darlehen und den Regulierungen. All diese komplexen adaptiven 134 4. Dynamische Modellierung von Sprachenerwerb Systeme haben gemeinsam, dass es keine große, übergreifende Autorität gibt, die den Prozess leitet. Es gibt weder einen großen Wettermeister, noch gibt es eine Superameise, die den Bau des Hügels überwacht. Einige Bankiers mögen das Gefühl haben, dass sie diejenigen sind, die das Bankensystem steuern, aber die Finanzkrisen zeigen, dass sie eigentlich hilflos sind, wenn Dinge schiefgehen. Experiment Um ein Gefühl für Anpassung zu bekommen, versuchen Sie einmal, sich nicht anzupassen! Stehen Sie auf und stellen Sie sich mit den Füßen hüftbreit auseinander neben Ihren Schreibtisch. Machen Sie nun einen Schritt, nur einen Schritt und sonst nichts. Was geschieht? Nun versuchen Sie, genauso einen nach dem anderen Schritt zu gehen. Probieren Sie es auf einer unebenen Fläche aus oder wenn Sie über eine Schwelle in einen Raum gehen wollen. Seien Sie nicht zu steif: Wenn Sie sich gar nicht anpassen, dann könnten Sie unglücklich hinfallen und sich verletzen. Das wird Ihnen eine Lehre sein, sich beim nächsten Mal anzupassen! Ohne sich permanent an die neuen Raumbedingungen (zum Beispiel Beschaffenheit des Fußbodens, Gegenstände im Raum, Stellung der anderen Körperglieder, Gewichtslagerung) anzupassen, können wir nicht laufen. Wie Sie sehen, ist Adaption essentiell fürs Überleben. Das ist dasselbe Phänomen, dass wir sehen, wenn wir betrachten, wie unser Herz funktioniert: Es ist flexibel, um sich an neue Situationen anzupassen. Wenn der Herzschlag vollständig regelmäßig und nicht adaptiv wäre, würden wir, sobald wir eine Aktivität ausführen, bei der es erforderlich ist, dass mehr Blut durch die Venen gepumpt wird, sterben. 4.1.2 Merkmale komplexer adaptiver Systeme Es gibt eine Anzahl von Eigenschaften komplexer adaptiver Systeme, die wir voneinander getrennt betrachten werden, obwohl sie eigentlich in Verbindung zueinander stehen und einander beeinflussen. Auf den nächsten Seiten werden wir uns mit den wesentlichen Hauptaspekten beschäftigen. Abhängigkeit von den Ausgangsbedingungen In einigen Systemen ist die Abhängigkeit von den Ausgangsbedingungen essentiell. Kleine Unterschiede in den Ausgangsbedingungen können auf lange Sicht eine große Auswirkung haben. In anderen Systemen haben große Unterschiede bei den Ausgangsbedingungen im Verlauf der Zeit hingegen kaum Einfluss und gleichen sich aus. Wir müssen bedenken, dass die meisten Systeme keinen richtigen Startpunkt haben und dass wir uns nur bestimmte Zeitfenster ansehen. Wie bereits gesagt, ist das Wettersystem wohl das bekannteste Beispiel eines dynamischen Systems. Es ist unmöglich, einen Ursprungspunkt für die Entwicklung dieses Systems zu lokalisieren. Die Empfindlichkeit von Ausgangsbedingungen beim Wettersystem bildet das Kernstück des berühmten Films Butterfly Effect. 1963 verwendete der Meteorologe 135 4.1 Dynamische Systemtheorie Edward Lorentz ein Computerprogramm, um die Wetterbedingungen vorherzusagen. Er gab die Werte für die Temperatur, den Wind etc. ein und ließ das Programm laufen. Für eine erneute Analyse musste er die Daten noch einmal eingeben. Dabei gab er für eine Variable die Dezimalzahl 0,506 anstelle der ursprünglichen vollständigen Zahl 0,506127 ein. Das Ergebnis war ein völlig anderes Wetterszenario. Kleine Veränderungen können also im Verlauf der Zeit zu großen Unterschieden führen. Er nannte dies den butterfly effect: Kann ein Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen? Völlige Vernetzung Dynamische Systeme sind üblicherweise verschachtelt: Große Systeme bestehen aus Teilsystemen und diese wiederum bestehen aus Unter-Teilsystemen etc. Menschen sind Teil vieler eingebetteter Systeme: die Familie, die Gemeinschaft, das Land, die Erde, das Universum. Aber auch sie selbst bestehen aus eingebetteten Systemen wie den Gliedmaßen, dem Gehirn und dem Nervensystem. Jedes dieser Teilsysteme besteht wiederum selbst aus Teilsystemen; so besteht das Gehirn aus Kortex, limbischem System, Stammhirn und weiteren Teilen. Alles ist in etwas eingebunden, vom weiten Universum bis hin zu den kleinsten Partikeln und Atomen. Nichtlinearität der Entwicklung Das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung in einem sich entwickelnden System kann insofern unverhältnismäßig sein, als dass einige kleine Veränderungen im System einen großen Effekt haben, wohingegen andere Veränderungen ähnlichen Ausmaßes neutralisiert werden. Ebenso kann eine große Veränderung kaum einen Effekt auf das System haben, während eine weitaus kleinere Änderung zu weitreichenden Störungen führen kann. Für das Bankensystem kann die Schließung einer kleineren Filiale zu großen Problemen für alle Banken führen, aber gleichzeitig müssen große Probleme innerhalb einer Bank oder Firma nicht notwendigerweise zu Problemen anderswo führen. In einem etwas kleineren Rahmen kann ein Student bei einer Prüfung durchfallen, auf die er sich sehr gut vorbereitet hat, während er für eine andere eine gute Note bekommen kann, für die er kaum gelernt hat. Der Zeitaufwand, der in das Erlernen einer Fähigkeit investiert wird, wie etwa innerhalb von ein paar Monaten das Billardspiel zu beherrschen, führt bei anderen Tätigkeiten nicht notwendigerweise zum selben Grad der Verbesserung, da es keine lineare Verbindung zwischen Einsatz und Erfolg gibt. Veränderung und Entwicklung aufgrund von interner Neuorganisation und Interaktion mit der Umgebung Der Sandhaufen ist das klassische Beispiel der Selbstorganisation (Goles, Morvan & Duong Phan 2002): Wenn Sandkörner auf eine glatte Oberfläche fallen, bilden sie einen Haufen. Während die Körner weiter herunterfallen, wird der Sandhaufen seine Form verändern, dann eine Weile so bleiben und sich dann wieder verändern. Er wird sich selbst auf Basis der internen Kräfte innerhalb des Systems konstant neu organisieren. Die spezielle Weise, in der das 136 4. Dynamische Modellierung von Sprachenerwerb System sich selbst neu organisiert, kann nicht vorausgesagt werden, weil die Gesamtmenge der Kräfte und Variablen nicht berechnet werden kann. Systeme bewegen sich von einem stabilen Zustand (Attraktor-Zustand; engl. attractor state) hin zum nächsten. Systeme verändern sich andauernd und nehmen nur temporär Attraktor-Zustände ein Attraktor-Zustände sind Stadien, die ein System bevorzugt einnimmt. Ein sehr bekanntes Beispiel für Attraktor-Zustände sind die unterschiedlichen Laufarten bei Pferden: Entweder galoppieren sie oder sie traben. Ein Zwischenstadium gibt es nicht. Experiment Errichten Sie einen Sandhaufen und notieren Sie, wann Sie ihn erbaut haben. Machen Sie in regelmäßigen Abständen Bilder davon (stündlich, zweimal pro Tag…) und notieren Sie, welche Kräfte auf ihn einwirken (Wetterkonditionen, Passanten…). Das Beispiel des Sandhaufens veranschaulicht, dass Systeme sich konstant verändern, solange Kräfte auf sie einwirken. Sogar in einem Sandhaufen sind Kräfte aktiv: Die Schwerkraft zieht die Sandkörner nach unten, die Temperatur und Feuchtigkeit verändern sich. Dies beeinflusst die Haftfähigkeit der Körner. Somit wird die Oberfläche des Haufens niemals vollständig gleich bleiben. Aufgrund dieser Kräfte verändert sich das System, allerdings nicht in einer kontinuierlichen Weise: Sandschichten werden sich bewegen und dann eine Zeit lang ruhen. Wann sich das System verändern wird und wie der nächste Attraktor-Zustand aussieht, kann nicht vorhergesagt werden, da es ein Ergebnis aller Kräfte ist, die im Verlauf der Zeit miteinander interagieren. Es gibt viele unterschiedliche Attraktor-Zustände. Wenn Sie ein Läufer oder ein Radfahrer sind, dann gibt es bestimmte Geschwindigkeiten, die sich für Sie besser anfühlen als andere. Nur ein bisschen schneller oder langsamer fühlt sich so an, als würden Sie dabei mehr Energie verbrauchen. Aber dieses System verändert sich auch ständig: Je mehr Sie trainieren, desto höher kann die Geschwindigkeit für Ihren Attraktor-Zustand sein. Wenn Sie aber aufgrund einer Verletzung eine Zeit lang nicht laufen oder Fahrrad fahren können, wird sich Ihre Geschwindigkeit wahrscheinlich verringern. Aber auch beim Lernen und in der Entwicklung existieren Attraktor-Zustände: Wenn Sie Mathematik lernen, versuchen Sie zu lernen, wie man bestimmte Gleichungen löst. Nach vielen Versuchen werden Sie keine Schwierigkeiten mehr damit haben, diese Gleichungen zu lösen, da Sie einen Attraktor-Zustand erreicht haben. Aber wenn Sie mit einem etwas komplizierteren Satz Gleichungen konfrontiert werden, werden Sie wieder Zeit benötigen, bis Sie damit umgehen können. Abhängigkeit von internen und externen Ressourcen Die Kräfte, die auf einen Sandhaufen einwirken, können als Ursprung für Veränderung betrachtet werden, aber bei uns Menschen spielen andere Ressourcen eine Rolle. Interne 137 4.1 Dynamische Systemtheorie Ressourcen, so wie die Motivation zu lernen, Vorkenntnisse und Begabung. Externe Ressourcen schließen die Gelegenheiten zu lernen ein, die von der Umgebung investierte Zeit, die Verfügbarkeit von Lernwerkzeugen und die materiellen Bedingungen (Nahrung, Schutz), die das Lernen ermöglichen. Die Aufnahmefähigkeit eines Systems besteht aus der Summe der Ressourcen, die für die optimale Entwicklung und Leistung eingesetzt werden können. Die Aufnahmefähigkeit eines sehr motivierten, talentierten und gut ausgebildeten Lerners in optimalen Lernbedingungen ist deutlich höher als jene eines wenig motivierten, untalentierten Lerners, der wenig Zeit und Gelegenheit zum Lernen hat. All das hat mit der Verteilung der Ressourcen zu tun. Eine kleinstmögliche Menge an Ressourcen wird auch benötigt, um ein System in Gang zu halten und die Elemente darin zu erhalten. Systeme können im Verlauf der Zeit chaotischen Abweichungen unterliegen Im Verlauf der Zeit wird sich ein dynamisches System von einem Attraktor-Zustand hin zum nächsten bewegen, aber es kann nicht vorhergesagt werden, wie der nächste Attraktor- Zustand sein wird. Aufgrund der komplexen Interaktionen von Variablen kann dasselbe System mit beinahe identischen Ausgangsbedingungen ganz unterschiedliche Attraktor-Zustände erreichen. Um diese Unvorhersagbarkeit zu beschreiben wurde der Begriff „Chaos“ eingeführt. Die Bedeutung dieses technischen Begriffs deckt sich nur teilweise mit der Bedeutung des Wortes im Alltagsgebrauch. Das Schlafzimmer eines 14-Jährigen mag aus der Sichtweise der Eltern chaotisch sein, aber dies ist nicht wirklich unvorhersehbar: Bei einem Heranwachsenden ist dieses Chaos als Normalzustand zu betrachten. Die Entwicklung wird als ein iterativer Prozess begriffen Der aktuelle Status der Entwicklung hängt also entscheidend vom vorherigen Entwicklungsstatus ab. In einer Formal ausgedrückt, ist der aktuelle Zustand (S t+1 ) eine Funktion des vorherigen (S t ): S t+1 =fS t. Das Lernen geht schrittweise voran, aber nicht jeder Schritt bringt einen näher ans Ziel. Viele Variablen können in der Entwicklung eine Rolle spielen und im Idealfall möchten wir sie alle in der Funktion abbilden. Das ist allerdings schwer zu erreichen, da wir nicht alle Variablen kennen, die eine Rolle spielen können. Bei denjenigen, die wir kennen, bleibt zudem unklar, welchen Einfluss sie ausüben. Ein Beispiel dafür wäre, den Freiwurf im Basketball zu erlernen. Sie werden viele Versuche benötigen und allmählich werden Ihre Würfe besser werden, aber zwischendrin werden einige Würfe danebengehen. Sie passen die einzelnen Teilsysteme nach und nach an (Ihre Balance, Haltung, Kraft und den Orientierungssinn), um Ihre Würfe zu verbessern. Wenn Sie entsprechend Ihrer Fähigkeiten und Ressourcen Ihr bestmöglichstes Leistungsniveau erreicht haben, werden Sie vermutlich noch weit entfernt vom Niveau des Weltrekordhalters Ted St. Martin sein. Er punktete im Jahr 1996 in sieben Stunden und 20 Minuten mit insgesamt 5221 aufeinander folgenden Freiwürfen. 138 4. Dynamische Modellierung von Sprachenerwerb 4.1.3 Zeitskalen in der Entwicklung Die Entwicklung findet auf unterschiedlichen Zeitskalen statt. Zu lernen, wie man eine Dose öffnet, mag Sekunden dauern, das Segeln zu erlernen dauert Wochen. Um den Beruf des Chirurgen zu erlernen, braucht man Jahre. Eine Haupteigenschaft der komplexen adaptiven Systeme ist ihr Zeitbezug. Es ist nicht ganz klar, was diese Zeit eigentlich genau ist, die Philosophen bereits im Altertum fasziniert hat. Wir können die Einzelheiten in diesem Rahmen nicht erläutern (Interessierte lesen dazu Turetzky 1998). Die neuzeitlichen Debatten über die Zeit begannen mit Newton im 17. Jahrhundert. Nach Newton existiert die absolute Zeit unabhängig von jedem Empfänger und schreitet in konsistenter Geschwindigkeit durch das Universum voran. Anders als bei der relativen Zeit glaubte Newton, dass die absolute Zeit nicht wahrnehmbar sei und nur mathematisch verstanden werden könne. Die Menschen sind nur dazu in der Lage, die relative Zeit wahrzunehmen. Sie können lediglich anhand von sich bewegenden Objekten (wie etwa dem Mond oder der Sonne) den Fortgang der Zeit beobachten. Hier werden wir uns mit Zeit in Entwicklungsprozessen beschäftigen; der Fokus liegt also auf der relativen anstatt der absoluten Zeit. Wir neigen dazu, Zeitskalen als natürlich gegeben zu betrachten. Während einige Zeitskalen von externen Veränderungen definiert werden, so wie die Jahreszeiten und Jahre, aber auch Tag und Nacht, sind andere Zeitskalen wie Monate, Wochen, Stunden, Minuten und Sekunden kulturelle Erfindungen ohne jegliche „objektive“ Referenz. Zum Beispiel lautet die 1976 ratifizierte Definition einer Sekunde wie folgt: „Das 9.192.631.770-fache der Periodendauer von der Strahlung, die dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids 133Cs entspricht“ (Guinot & Seidelmann 1988). Lombardi (2007) bietet einen interessanten Überblick zur Geschichte der Zeitskalen und behauptet, dass die Unterteilung der Zeit zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang in zwölf Stunden und die des Jahres in zwölf Monate die Ergebnisse der Nutzung des Duodezimalsystems der Ägypter sind, anstelle des Dezimalsystems. Die Sieben-Tage-Woche war in Babylonien geläufig, bevor sie vom Judentum und dem Christentum nach einer Beschreibung der Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis übernommen wurde, aber sie besitzt keine natürliche Grundlage. „Anders als der Tag und das Jahr, stellt die Woche einen künstlichen Rhythmus dar, der von den Menschen völlig unabhängig von jedweder natürlichen Periodizität erschaffen wurde“ (Zerubavel 1989: 4). Die Tatsache, dass diese Zeitskalen sozial konstruiert sind, ändert indes nichts an ihrer Beständigkeit: Versuche im Frankreich des 18. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert, die Woche zu verkürzen beziehungsweise zu verlängern, scheiterten hauptsächlich daran, dass der Wochenrhythmus mit religiösen Bräuchen und dem traditionellen Bauernleben verknüpft war (Zerubavel 1989). Die Minute wurde mit der Erfindung der mechanischen Uhren im 16. Jahrhundert als Einheit eingeführt. Innerhalb einer Minute gibt es nur deshalb 60 Sekunden, weil dadurch eine Parallele zu den 60 Minuten einer Stunde entstand. Noch feinere Zeitskalen, wie etwa Millisekunden, entstanden als der technische Fortschritt deren Messung ermöglichte. 139 4.1 Dynamische Systemtheorie Zeitskalen werden häufig aus methodischen Gründen definiert, um in Studien ein bestimmtes Verhalten zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu messen. Eine zwei Jahre dauernde Longitudinalstudie mit monatlichen Beobachtungen kann auf der Monats-Zeitskala und auf der Jahres-Zeitskala stattfinden sowie auf allen Zeitskalen dazwischen (zum Beispiel zwei Monate, ein halbes Jahr). Ein fünfminütiges Experiment zu lexikalischen Entscheidungen findet auf der Fünf-Minuten-Skala und der 300-Millisekunden-Skala und auf allen Skalen dazwischen statt. Auch wenn der Fokus einer Studie auf sprachlichen Leistungen zu bestimmten Zeitpunkten entlang einer Zeitskala liegt, findet Sprachentwicklung natürlich unabhängig von diesen Skalen statt. Wir sollten einen Unterschied zwischen Zeitskalen und Zeitfenstern machen. Zeitskalen beziehen sich auf einzelne Zeitpunkte des Entwicklungsprozesses: Wir können eine sehr globale Perspektive einnehmen und uns die Veränderungen über die Lebensspanne hinweg zu verschiedenen Zeitpunkten ansehen. Die Zeitskala betrachtet beispielsweise die Dekaden einer Lebensspanne, während das Zeitfenster sich auf die gesamte Periode erstreckt. Zeitfenster beziehen sich auf den beobachteten Zeitraum. Wir können uns also die phonologische Entwicklung von Lernen über einen Zeitraum von zwei Jahren ansehen (Zeitfenster), aber ihre Leistung alle zwei Wochen messen (Zeitskala). Experiment Um zu zeigen, wie schlecht Menschen sind, wenn es um das Schätzen von Zeit geht, können Sie das folgende kleine Experiment durchführen. Erklären Sie einer Gruppe von Studenten und Studentinnen, dass Sie ein Startzeichen geben und sie sich melden sollen, sobald sie denken, dass eine Minute vergangen ist. Natürlich ohne dass sie dabei auf Ihre Uhren oder Handys schauen. Sie werden feststellen, dass bereits bei dieser simplen Aufgabe bemerkenswerte Unterschiede in den Ergebnissen zu verzeichnen sind. In der Forschung zum Erlernen und zur Entwicklung von Motorik wird ein Unterschied zwischen persistenten und transitorischen Eigenschaften der Veränderung gemacht. Persistente Veränderungen finden in großen Zeitfenstern statt und das erworbene Wissen tendiert zur Stabilität. Transitorische Eigenschaften sind in kleineren Zeitfenstern sichtbar. Ein Beispiel könnte die Entwicklung des Zeit- und Aspektsystems bei Französischlernern sein. Während die Entwicklung von einem Teil des Systems, zum Beispiel das imparfait, im Zeitverlauf zu einer graduellen Steigerung seiner korrekten Verwendung in Aufgaben führt, kann ein Lerner an einem gewissen Punkt erkennen, dass es auch das passé simple gibt. Der Lerner wird dieses Wissen eine Zeit lang willkürlich anwenden, bis sich die Verwendung dieser Zeitform auch stabilisiert. Die Übergeneralisierung und falsche Nutzung dieser Zeitform würde Abweichungen auf einer kürzeren Zeitskala zeigen als die des imparfait und wäre eher transitorisch als persistent. Es könnte eine neurologische Basis für die Verarbeitung von Informationen auf unterschiedlichen Zeitskalen geben. Harrison, Bestmann, Rosa, Penny und Green. (2011) legen 140 4. Dynamische Modellierung von Sprachenerwerb Beweise dafür vor, dass die unterschiedlichen Teile des Gehirns auf verschiedenen Zeitskalen arbeiten: Das primäre visuelle Kortexareal reagiert auf rapide Perturbationen in seiner Umwelt, wohingegen die in ausführende Kontrolle involvierten frontalen Kortexareale den Langzeitkontext kodieren, innerhalb dessen diese Perturbationen auftreten.-(…) Viele Aspekte der Funktionsweise des Gehirns können als eine Hierarchie zeitlicher Skalen verstanden werden, auf denen sich die Repräsentationen der Umwelt entwickeln. Die niedrigste dieser Hierarchiestufen korrespondiert mit den schnellen Fluktuationen, die wir mit der sensorischen Verarbeitung assoziieren, wohingegen die höchsten Stufen langsame kontextuelle Veränderungen in der Umgebung kodieren, innerhalb derer sich schnellere Repräsentationen entfalten. Klebel, Daunizeau und Friston (2008) weisen darauf hin, dass es keine Theorie gibt, die erklärt, wie die Großorganisation des menschlichen Gehirns mit unserer Umgebung in Verbindung gebracht werden kann: „Wir nehmen an, dass das Gehirn seine gesamte Umgebung als eine Ansammlung hierarchischer, dynamischer Systeme abbildet, in denen langsamere Veränderungen der Umwelt den Kontext für schnellere Veränderungen bieten“. In anderen Worten verarbeitet das Gehirn die Eindrücke aus seiner Umgebung abhängig von der Zeitskala, auf der es agiert. Schnelle Fluktuationen in der sensorischen Verarbeitung sind in langsamere Fluktuationen in der Umgebung eingebettet. Das Gehirn ist also bis zu einem gewissen Maße angelegt, Informationen auf diesen verschiedenen Zeitskalen zu verarbeiten und zu integrieren. 4.1.4 Zusammenfassung ▶ In dieser Einheit haben wir die Haupteigenschaften komplexer adaptiver Systeme besprochen. Dabei geht es um die Abhängigkeit von Ausgangsbedingungen, Nichtlinearität, Dynamik, Variation, Attraktor-Zustände und Selbstorganisation. ▶ Entwicklung von Sprache kann chaotisch verlaufen, das heißt, dass wir sie nicht vorhersagen können. ▶ Komplexe adaptive Systeme verändern sich konstant, aber ihre einzelnen Komponenten können sich unterschiedlich auf verschiedenen Zeitskalen verändern. ▶ Die menschliche Entwicklung findet auf vielen verschiedenen Zeitskalen statt, von der Millisekunde bis hin zur Lebensspanne Die unterschiedlichen Zeitskalen interagieren miteinander: Was jetzt gerade passiert, ist das Resultat der Ereignisse auf unterschiedlichen Zeitskalen. 4.1.5 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Warum ist ein Auto kein komplexes dynamisches System? 2. Sind Menschen komplexe dynamische Systeme? Welche Variablen interagieren hier? 141 4.1 Dynamische Systemtheorie 3. Bei komplexen Systemen gibt es eine Abhängigkeit von den Ausgangsbedingungen. Denken Sie an die Gesundheit eines Menschen und überlegen Sie, was die Ausgangsbedingungen sind. 4. Wir haben uns in dieser Einheit auch mit unterschiedlichen Zeitskalen beschäftigt. Können Sie bestimmen auf welcher Zeitskala etwas passiert, wenn Sie eine Sprache lernen? 5. Zur Abhängigkeit von Ausgangsbedingungen: Können Sie sich eine Situation in Ihrem Leben vorstellen, in der etwas Kleines eine große Auswirkung auf Ihr Leben hatte? 142 4. Dynamische Modellierung von Sprachenerwerb 4.2 Sprache als dynamisches System Kees de Bot (übersetzt von Simone Lackerbauer) In Lerneinheit 4.1 wurden die Haupteigenschaften komplexer adaptiver Systeme erläutert. In dieser Lerneinheit besprechen wir, inwieweit Sprache als ein komplexes, adaptives System verstanden werden kann und Sprachenentwicklung als ein dynamischer Prozess aufgefasst wird. Im Verlauf dieser Lerneinheit sprechen wir von Zweitsprachenentwicklung (second language development, SLD ) anstelle von Zweitsprachenerwerb (second language acquisition, SLA ), denn aus der Perspektive der dynamischen Systemtheorie, kann Sprachenentwicklung sowohl Erwerb als auch Verlust bedeuten (vergleiche Lerneinheit 4.3 zum Thema Sprachverlust). Wir werden dies anhand einiger Beispiele des L2-Erwerbs und des L1 / L2-Verlustes veranschaulichen und zeigen, dass Sprache als kommunikatives Werkzeug und als Teil des kognitiven Systems alle Eigenschaften eines dynamischen Systems besitzt und somit die Sprachenentwicklung ein dynamischer Prozess ist. Sprache ist stetigen Veränderungen ausgesetzt, die sich aufgrund des Sprachgebrauchs durch die Sprecher und Sprecherinnen, deren Umwelt und interner Prozesse der Selbstregulierung von Sprache vollziehen. Auch sprachliche Variation zwischen und innerhalb von Individuen ist charakteristisch für Sprache. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ die Verbindung zwischen zentralen Aspekten der mehrsprachigen Entwicklung mit allgemeinen dynamischen Prinzipien erkennen; ▶ erklären können, welche Vorteile die Betrachtung von Sprachenentwicklung als ein komplexes adaptives System mit sich führt. 4.2.1 Sprache als komplexes adaptives System Seit der Erscheinung des wegweisenden Artikels von Diane Larsen-Freeman (1997) zur Komplexitätstheorie und zu der Zweitsprachenentwicklung wurde eine Vielzahl an Artikeln und Büchern zu den dynamischen Aspekten der Zweitsprachenentwicklung veröffentlicht (van Geert 1994, 1998; Larsen-Freeman 1997; Herdina & Jessner 2002 und de Bot, Lowie & Verspoor 2005, 2007; Verspoor, de Bot & Lowie 2011). Nachfolgend werden wir die Grundlagen dazu erläutern und verweisen interessierte Leser und Leserinnen auf die genannten Publikationen. 143 4.2 Sprache als dynamisches System Experiment Erstellen Sie eine Liste mit fünf „neuen“ deutschen Wörtern und fünf „alten“ deutschen Wörtern, die nicht mehr im Duden aufgenommen sind. Fragen Sie nun drei Generationen, was diese Wörter bedeuten. Können Sie einen Alterseffekt feststellen? Vermutlich schon, denn dass, was die ältere Generation als neu empfindet (siehe zum Beispiel im Deutschen das Wort geil, das in den 80er Jahren als Neologismus galt), empfindet die jüngere bereits als veraltet. Abhängigkeit von den Ausgangsbedingungen Für die Sprachenentwicklung heißt das, dass kleine Unterschiede beim Lernen eine große Auswirkung auf das Ergebnis des Lernprozesses haben können, und dass dieselben Erfahrungen bei unterschiedlichen Lernern nicht notwendigerweise zu gleichen Ergebnissen im Sprachenerwerb führen müssen. Dasselbe kann auch für Sprachverlust gelten: Kleine Unterschiede zu Beginn des Sprachverlusts könnten mit der Zeit zu großen Veränderungen führen. Clynes Forschung zu niederländischen und deutschen Einwanderern in Australien (1977) weist zahlreiche Beispiele auf, die auf diesen Prozess hindeuten: Einige scheinen ihre Erstsprache sehr schnell zu verlieren, wohingegen andere sie jahrzehntelang ohne sichtbare Veränderungen auf der scheinbar selben Stufe erhalten können. Völlige Vernetzung Die unterschiedlichen Komponenten der Sprachverarbeitung, wie das lexikalische System, das syntaktische System, das pragmatische System, und so weiter, sind keine unabhängig voneinander arbeitenden Module, sondern hochgradig miteinander verknüpft. Im Band »Sprachenlernen und Kognition« haben Sie gelernt, dass Veränderungen an einer Komponente, sämtliche anderen Komponenten beeinflussen, und dieser Einfluss wiederum zu weiteren Veränderungen bei allen anderen Komponenten führt. Unterschiedliche Variablen (im Fall der Sprachen kann es sich dabei um die Motivation zum oder den Erfolg beim Sprachenlernen handeln oder um den Kontakt mit einer Sprache) erzeugen nicht einen bestimmten Effekt, sondern sie interagieren miteinander. Diese Interaktion verändert sich im Laufe der Zeit: Nicht nur Motivation und Erfolg interagieren, sondern diese Interaktion selbst unterliegt ebenfalls Veränderungen (vergleiche den Band »Sprachenlehren«). Hinsichtlich der Zweitsprachenentwicklung bedeutet das, dass wir die einzelnen Faktoren nicht isoliert betrachten können, sondern uns ansehen müssen, welche Rolle die Interaktion mit den anderen Faktoren spielt. Diese Annahme wird von Forschungserkenntnissen unterstützt, die besagen, dass die ‚Zeit seit der Auswanderung‘ nur dann als Faktor relevant ist, wenn die Interaktion mit dem Faktor ‚Anzahl der Kontakte mit der L1‘ ebenfalls berücksichtigt wird. Diese beiden Faktoren sind nicht unabhängig, sondern miteinander verknüpft. 144 4. Dynamische Modellierung von Sprachenerwerb Nichtlinearität der Entwicklung Viele Aspekte der Zweitsprachenentwicklung sind nicht linear. Die Beispiele des Wort- und Lauterwerbs aus der vorherigen Sektion sind dafür typisch. Es kann eine Korrelation zwischen der Zeit, die damit verbracht wird, ein Wörterset oder Satzstrukturen zu erlernen und dem Erfolg dieses Lernprozesses geben. Beim Sprachverlust kann eine unverhältnismäßige lange Zeitspanne zwischen dem Zeitraum des Nichtgebrauchs und des Beginns des Attritionsprozesses geben. Ein solcher Effekt wird aus den Forschungsergebnissen der Studie des lexikalischen Verlustes von Meara (2004) ersichtlich. In dieser Studie wird eine Modellierung des Sprachverlusts erstellt, mit dem Ergebnis, dass der Verlust einer oder zweier lexikalischer Einheiten in manchen Fällen einen enormen Effekt auf das gesamte System haben kann, wohingegen in anderen Fällen der Verlust einer großen Anzahl von Elementen kaum Auswirkungen hat. Veränderung und Entwicklung aufgrund von interner Neuorganisation und Interaktion mit der Umgebung Sprachgebrauch und Input sind für die Zweitsprachenentwicklung die wichtigsten Faktoren. Es hat sich gezeigt, dass die Inputfrequenz eine entscheidende Rolle spielt, aber das Sprachverarbeitungssystem ist kein Schwamm, der alles aufsaugt. Der Input nimmt Einfluss auf das interne System und die internen Prozesse. Das interne System organisiert die Verwendung des Inputs in der Sprachenentwicklung. Wenn wir beispielsweise Französisch lernen, kann ein Lerner irgendwann herausfinden, dass die Verwendung von tu und vous (informelles Du und förmliches Sie) sehr komplex ist und dabei viele Faktoren eine Rolle spielen. Auf der Grundlage des Inputs wird das System allmählich die existierenden Strukturen „erlernen“ und der Lerner wird beginnen, zwischen den beiden Pronomina zu unterscheiden. Systeme verändern sich andauernd und nehmen nur temporär sogenannte ‚Attraktor-Zustände‘ ein Sprache ist ebenfalls ein sich selbst organisierendes System mit Attraktor-Zuständen: Der Input beeinflusst das System, das ein zusätzliches Element einfach ohne interne Neuorganisation aufnehmen oder sich an den neuen Input anpassen kann; aber auch interne Kräfte können zur Neuorganisation führen. Entsprechend bedeutet Sprachverlust nicht nur den Verlust einzelner Elemente oder Strukturen: Wenn Elemente verloren gehen, kann sich das Gesamtsystem neu organisieren, um zu einem neuen Attraktor-Zustand zu finden. In der Zweitsprachenentwicklung können Erwerbsstufen und Fossilisierung (siehe Lerneinheit 3.2 und 3.3 in diesem Band) als Attraktor-Zustände bezeichnet werden, und obwohl dazu kaum geforscht wird, gibt es wahrscheinlich ähnliche Stufen im Sprachverlust. Der vollständige Erwerb einer Struktur oder eines Wortes kann also ein Attraktor-Zustand sein. Wie die Forschung zur Sprachlernentwicklung gezeigt hat, ist die vollständige Beherrschung kein wirklicher Endzustand: Strukturen, die vollständig erworben wurden, können sich ebenfalls verändern oder vergessen werden. 145 4.2 Sprache als dynamisches System Abhängigkeit von internen und externen Ressourcen Alle Systeme benötigen Ressourcen, um zu funktionieren. Für Sprachen bedeutet das, dass es Sprecher und Sprecherinnen geben muss, die Sprache erzeugen und andere, die sie wahrnehmen. Grundsätzlich sind dafür unter anderem Nahrung, Schutz sowie Gesprächspartner und Gespächspartnerinnen als Ressourcen notwendig. Für die Zweitsprachenentwicklung werden Ressourcen wie Input, Zeit, Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung benötigt. Für den Sprachverlust bedeutet dies, dass zumindest einige Ressourcen (Zeit, Kontakt) für eine Sprache aufgewendet werden müssen, um sie zu erhalten. Wir wissen jedoch nicht, wie viel Zeit und Kontakt dafür notwendig sind und welcher Art der Kontakt sein muss, um sie zu erhalten. Vollständige Nichtverwendung resultiert letztendlich im Rückgang: Die Aufnahmefähigkeit des Systems ist so gering, dass es in seiner optimalen Form nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Sehr spezielle Lerner sind sogenannte language savants oder idiots-savants. So bezeichnet man Menschen, die außergewöhnlich gut in einer oder zwei Sachen, aber in anderer Hinsicht defizitär sind. Im Deutschen spricht man hier von ‚Inselbegabung‘. Einige sind Mathegenies, die äußerst komplizierte Berechnungen beinahe so schnell wie moderne Rechenmaschinen durchführen können (zum Beispiel: Ist 459 340 546 eine Primzahl, kann also nur durch sich selbst und 1 geteilt werden? ). Andere sind musikalische Wunderkinder und können ein Musikstück wiedergeben, nachdem sie es nur einmal gehört haben. Idiots-savants weisen oftmals autistische Züge auf und tun sich schwer mit alltäglichen Dingen wie Einkaufen oder Kochen. Inselbegabte, die eine Stärke für Sprache besitzen, so wie Daniel Temmett, sind extrem gut darin, Sprachen zu lernen. Temmett nahm die Herausforderung an, eine aufgrund ihrer morphologischen Komplexität als schwer bezeichnete Sprache innerhalb einer Woche so gut zu erlernen, dass er im Fernsehen flüssig darin sprechen konnte-- und er schaffte es. Auch Christopher Taylor, mit dem sich Smith und Tsimpli (1995) ausführlich beschäftigten, hat diese Begabung. Christopher wurde in eine Anstalt eingewiesen, weil er nicht für sich selbst sorgen kann, aber er spricht 15 bis 20 Sprachen auf unterschiedlichen Kompetenzstufen. Erard (2012) legt einen Überblick über Betroffene vor und versucht zu verstehen, was sie so besonders macht. Eine wichtige Ressource ist, dass sie über eine erheblich größere Gedächtniskapazität verfügen als der Durchschnitt: Sie können zwölf Einheiten in ihrem Kurzzeitgedächtnis speichern, während normale Menschen sich kaum an sechs erinnern können. Wie wir im Band »Sprachenlernen und Kognition« festgestellt haben, ist das Kurzzeitgedächtnis eine wichtige Komponente bei der Sprachbegabung. Ein größerer Speicher erleichtert demnach das Erlernen einer Sprache ungemein. Systeme können im Verlauf der Zeit chaotischen Abweichungen unterliegen Aufgrund der Sensitivität hinsichtlich der Ausgangsbedingungen und der Interaktion zwischen den Variablen, kann die Entwicklung von dynamischen Systemen chaotisch und unvorhersehbar sein. Während es in manchen Systemen, zum Beispiel bei Buschbränden, das System mehr oder weniger explodiert und im reinen Chaos versinken kann, ist dies bei der Zweitsprachenentwicklung nicht der Fall. Aufgrund der Restriktionen bei Input und Ver- 146 4. Dynamische Modellierung von Sprachenerwerb arbeitung scheint es Grenzen der Variabilität zu geben. Obwohl es beachtliche individuelle Unterschiede gibt, entwickeln die meisten Lerner ihre Sprachkenntnisse letztendlich entlang paralleler Linien (siehe Lerneinheit 3.3). Die Sprachenentwicklung ist ein iterativer Prozess Wie in Lerneinheit 3.2 gezeigt, findet die Sprachenentwicklung normalerweise in kleinen Schritten statt, bei denen die jeweils folgende Phase eine Funktion des vorherigen Zustands ist. In der Zweitsprachenentwicklung ist das Vokabellernen das beste Beispiel dafür. Um ein Wort zu lernen, ist eine bestimmte Anzahl von Kontakten mit diesem Wort notwendig; schätzungsweise sechs bis zehn, wobei es erhebliche Abweichungen zwischen einzelnen Lernern geben kann. So viele Kontakte sind notwendig, um mindestens eine Bedeutung eines Wortes zu erlernen. Die meisten Wörter haben jedoch mehrere Bedeutungen, so dass weitaus mehr Kontakte nötig sind, um diese Informationen aufzunehmen. Das Erlernen eines Wortes verläuft also schrittweise, iterativ, und mit jedem Schritt wird ein Aspekt dieses Wissens verändert. Dasselbe trifft beispielsweise auf das Erlernen der Laute im Chinesischen als Fremdsprache zu. Es braucht viele Versuche, um die chinesischen Laute überhaupt einmal in einem akzeptablen Maße zu beherrschen, und mit jedem Versuch rückt das Ziel näher. Das bedeutet nicht, dass in einer Versuchsreihe eine lineare Verbesserung in Zielrichtung stattfindet, denn hier kann das Chaos eine Rolle spielen. Genau wie beim vorher genannten Basketballspiel (siehe Lerneinheit 4.1), bei dem einige Würfe komplett danebengehen und einige den Korb treffen, werden die Versuche unterschiedlich erfolgreich sein. Manchmal sind solche „Fehler“ nötig, um das System neu zu kalibrieren. 4.2.2 Dynamische Systemtheorie und die Definition von Sprache Wie Sie bereits in Lerneinheit 4.1 erfahren haben, ist die dynamische Systemtheorie keine Theorie der Sprache, sondern eine allgemeine Entwicklungstheorie, die auf motorische Fähigkeiten wie das Ausstrecken und das Greifen, auf die Arm- und Beinbewegungen bei Kleinkindern, auf die auditive Wahrnehmung und auf Verhalten in Interaktionen angewandt wird. Eine der interessantesten Publikationen dazu stammt von Gopnik, Meltzoff und Kuhl (1999): The Scientist In the Crib. Minds, brains and how children learn. Eine andere, von der Universalgrammatik ausgehende Perspektive liefert Pinker (1994): The language instinct. Es gibt viele Theorien über Sprache, was sie ist, wie sie entstanden ist, und so weiter. Zwei Jahrzehnte lang hat das Modell der Universalgrammatik von Chomsky (1988) die Linguistik dominiert. Dieses Modell ging von der Existenz eines angeborenen Moduls für Sprachenentwicklung aus, der sogenannte Spracherwerbsmechanismus (language acquisition device, LAD ). Eine Prämisse Chomskys ist, Sprache sei so komplex, dass ein Kind sie niemals erlernen könne, ohne ein gewisses angeborenes Verständnis dessen zu haben, was in der Sprache möglich sei. Ohne die angeborene Grammatik, so Chomsky, gäbe es zu viele Optionen für die Entwicklung einer Sprache. Sogar eine flüchtige Abhandlung dieser Theorie geht weit über den Rahmen dieser Einheit hinaus. In Lerneinheit 5.1 im Band »Kognitive Linguistik« wird das Modell der 147 4.2 Sprache als dynamisches System Universalgrammatik erläutert. In den vergangenen Jahren hat die Forschung nachgewiesen, dass mehrere der Aspekte dieser Theorie nicht haltbar sind. In Computersimulationen haben Forscher und Forscherinnen gezeigt, dass das menschliche Sprachverarbeitungssystem Sprachen ohne eine vorausgesetzte, angeborene Komponente erlernen kann. Wissenschaftliche Forschungsarbeiten auf der Basis von Korpora haben ebenfalls gezeigt, dass Universalien nicht existieren (Granger, Hung & Petch-Tyson 2002). Die Universalgrammatik wurde in mehreren Versionen aufgelegt, die sich alle ziemlich voneinander unterschieden. Kritisiert wird in der Forschung vor allem, dass sie zu keiner Verbesserung unseres Verständnisses der Beschaffenheit von Sprache, und wie sie sich entwickelt, geführt hat. Der begrenzte Fokus auf bestimmte Aspekte der Sprache und die inkonsistenten Ergebnisse zum Zweitsprachenerwerb, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob der Spracherwerbsmechanismus auch beim Zweitsprachenerwerb nach der Pubertät eine Rolle spielt, haben zu einem Abwenden der Forschung von diesem Ansatz geführt. Die meisten neueren Ansätze zur Erklärung des Sprachenerwerbs werden als gebrauchsbasiert (usage-based, UB ) bezeichnet (siehe Kapitel 2 im Band »Sprachenlehren«). Wie der Begriff sagt, gehen sie von der Rolle des Inputs im Sprachenerwerb aus, das heißt, dass die Sprachenentwicklung auch in der L2 von der Verwendung einer Sprache abhängt, ohne dass eine angeborene Komponente vorausgesetzt wird. Sie beziehen sich dabei auf den sogenannten Emergentismus, der im Fall von Sprache so zu verstehen ist, dass ein kleines Set allgemeiner kognitiver Fähigkeiten (logisches Denken, Verallgemeinerung auf Basis von Beispielen) in Verbindung mit einer sehr ergiebigen linguistischen Umgebung auch zur Entwicklung einer komplexen und vollständigen Sprache führen kann. In gebrauchsbasierten Ansätzen gibt es keine Regeln, sondern Schemata. Es wird kein fundamentaler Unterschied zwischen Sprachverwendung und Sprachenerwerb gemacht, da jeder Input Einfluss auf das System nimmt, das sich kontinuierlich weiterentwickelt. Für einen Überblick dazu, vergleiche Verspoor und Behrens (2011). 4.2.3 Zweitsprachenentwicklung erklären Eine weitere in gewissem Maße problematische Eigenschaft eines auf der dynamischen Systemtheorie gestützten Ansatzes zur Sprachenentwicklung, insbesondere zum Sprachverlust, ist, dass Sprachenerwerb an sich nicht erklärt werden kann: Die Faktoren, die in der Sprachenentwicklung eine Rolle spielen, mögen zwar allesamt bekannt sein. Wie sich aber ihre Interaktion im Entwicklungsverlauf ändert, kann nicht vorhergesagt werden und kann in diesem Sinne chaotisch ablaufen. Ein System entwickelt sich auf eine gewisse Weise, weil sich das System so entwickelt. Andererseits ist dies keine zufriedenstellende Erklärung, da es in der Wissenschaft normalerweise um das Aufstellen und das Testen von Hypothesen geht. Die vollständige Vernetzung von Systemen bedeutet, dass die beispielhafte Isolierung einzelner Variablen unproduktiv sein kann, weil beispielsweise der Einfluss einer speziellen Variablen auf alle anderen Variablen eben nicht gezeigt wird. Im Moment müssen wir akzeptieren, dass wir das Ergebnis nicht voraussagen können. Stattdessen konzentrieren wir uns auf die adäquate Beschreibung der Sprachenentwicklungsprozesse. 148 4. Dynamische Modellierung von Sprachenerwerb In der dynamischen Systemtheorie werden Simulationen verwendet um Modelle zu entwickeln, die versuchen, die genannte komplexe Vernetzung bis zu einem gewissen Grad versuchen abzubilden. Da in Simulationen viele Variablen einbezogen werden können, gelingen mit diesem Ansatz weitaus vollständigere Modelle als wir sie jemals am Menschen untersuchen können. Aber Simulationen können niemals die endgültige Antwort liefern. Wir müssen die Simulationen mit empirischen Daten verknüpfen, obwohl das in verbundenen Systemen nicht immer einfach oder machbar ist. Im letzten Abschnitt dieses Beitrags beschreiben wir ein Anwendungsbeispiel der Simulation, das einige Chancen und Probleme der Verwendung der dynamischen Systemtheorie und von Simulationen in der Forschung zum Sprachverlust aufzeigt. Es gibt keine wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Sprachenentwicklung über die gesamte Lebensspanne eines Menschen hinweg. Soweit wir wissen, wurde kein Lerner dabei von der Wiege bis zum Sarg begleitet. Sprachenentwicklung ist ein komplexer Prozess, der auf vielen interagierenden Zeitskalen stattfindet, und die gewählten Zeitskalen nehmen wiederum Einfluss auf die Auswahl und Interpretation der Daten. Dasselbe gilt für das untersuchte Zeitfenster. Es gibt keine Zeitskala oder kein Zeitfenster, das ein vollständiges Bild des gesamten Entwicklungsprozesses liefert. Ein interessantes Forschungsbeispiel, bei dem die gewonnenen Erkenntnisse zur Sprachenentwicklung von der Zeitskala und von dem Zeitfenster abhängen, ist eine Studie von Trinh (2011) zu den Schriften eines Sprachexperten im Verlauf von 35 Jahren. Die lexikalische und syntaktische Komplexität weist im Verlauf der Zeit Abweichungen auf, denn in gewissen Zeitabschnitten nimmt sie ab oder zu. Betrachtet man nur einen kurzen Zeitraum mag der Datensatz einen gewissen Rückgang der Komplexität zeigen, wohingegen-- langfristig betrachtet-- diese Veränderung Teil einer Wachstumsentwicklung sein kann. Die Forschung zum Sprachverlust wird tendenziell mit Blick auf einen längerfristigen Horizont durchgeführt als die Forschung zum Sprachenerwerb. Verlust und Erwerb verändern sich üblicherweise unterschiedlich schnell: Während Sprachenerwerb in Stunden und Tagen geschehen kann, nimmt der Sprachverlust mehr Zeit in Anspruch, üblicherweise braucht er Jahrzehnte, um sich zu materialisieren. Wie der Überblick von Schmid (2011) zeigt, wird an einigen Stellen zu derartigen Zeithorizonten geforscht. Ein Beispiel ist die 16 Jahre andauernde Longitudinalstudie zum Erstsprachenverlust bei holländischen Einwanderern in Australien (de Bot & Clyne 1994). Obwohl der Gesamtzeitraum zwischen den beiden Messungen 16 Jahre betrug, wissen wir nicht, zu welchem Zeitpunkt und in über welchen Zeitraum der Verlust tatsächlich stattfand. Um eine Entwicklungskurve skizzieren zu können, wäre eine große Anzahl von Messungen im Zeitablauf notwendig; allerdings könnte dies zu Problemen führen, da das wiederholte Testen einen Lerneffekt haben kann. 149 4.2 Sprache als dynamisches System 4.2.4 Zusammenfassung ▶ Die dynamische Systemtheorie ist keine Theorie der Sprache, sondern eine allgemeine Entwicklungstheorie. ▶ Sprache kann als komplexes, dynamisches System betrachtet werden, denn es werden die wesentlichen Kriterien hierfür erfüllt: ▶ Abhängigkeit von den Ausgangsbedingungen bezogen auf Sprache meint, dass der Erwerb auch bei ähnlichen Ausgangsbedingungen für die Lerner unterschiedlich verlaufen kann. ▷ Völlige Vernetzung bedeutet, dass die einzelnen Komponenten der Sprachverarbeitung (wie das lexikalische oder das syntaktische System) keine isolierten Prozesse in Gang setzen, sondern stets in der Interaktion stehen. ▷ Die nichtlineare Entwicklung zeigt sich bei Sprache beispielsweise darin, dass es beim Sprachverlust eine unverhältnismäßige Verbindung zwischen dem Zeitraum des Nichtgebrauchs und dem Beginn des Attritionsprozesses geben kann. ▷ Veränderung und Entwicklung aufgrund von interner Neuorganisation und Interaktion mit der Umgebung kann im System ‚Sprache‘ beispielsweise im Input beobachtet werden, der Einfluss auf das interne System nehmen kann, das die Verwendung des Input organisiert, um die internen Prozesse zu verändern. ▷ Sprache ist auch ein sich selbst organisierendes System, bei dem Attraktor-Zustände, wie zum Beispiel in Fossilisierungen zu beobachten ist, eingenommen werden. ▷ Abhängigkeit von internen und externen Ressourcen bedeutet im Zusammenhang mit dem System ‚Sprache‘, dass es Sprecher und Sprecherinnen geben muss, die Sprache erzeugen und andere, die sie wahrnehmen. ▷ Im Gegensatz zu anderen komplexen, dynamischen Systemen sind bei der Sprachenentwicklung weniger chaotische Abweichungen in Abhängigkeit von der Zeit zu beobachten. 4.2.5 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Kann man das Erlernen einer Zweitsprache mit dem Erwerb der Erstsprache vergleichen? Nennen Sie sechs der Unterschiede in den beiden Prozessen. 2. Verwenden Sie die folgende Tabelle aus Lerneinheit 4.1 und tragen Sie dort jeweils ein Beispiel bezogen auf das System ‚Sprache‘ ein. 1. Sensitive Abhängigkeit von den Ausgangsbedingungen 2. Vollständige Vernetzung 3. Nichtlinearität in der Entwicklung 4. Veränderung und Entwicklung aufgrund von interner Neuorganisation und Interaktion mit der Umwelt 150 4. Dynamische Modellierung von Sprachenerwerb 5. Systeme verändern sich andauernd und nehmen nur zeitweise sogenannte ‚Attraktor-Zustände‘ ein 6. Abhängigkeit von internen und externen Ressourcen 7. Die Systeme können im Verlauf der Zeit chaotischen Abweichungen unterliegen 8. Entwicklung wird als ein iterativer Prozess begriffen 3. Sprachunterricht kann ebenfalls als Beispiel für komplexe, adaptive Systeme betrachtet werden. Erstellen Sie ein Schaubild, in dem die unterschiedlichen Subsysteme vertreten sind (Lehrer, Klassenzimmerumgebung, Gebäude, Materialien)? 151 4.3 Sprachverlust 4.3 Sprachverlust Kees de Bot (übersetzt von Simone Lackerbauer) Während der Sprachenerwerb in einer großen Anzahl empirischer Forschungsprojekte untersucht wird, gibt es weitaus weniger Forschungsprojekte, die sich mit Sprachverlust beschäftigen, der mehr oder weniger wie ein Spiegelbild des Sprachenerwerbs funktioniert. Manche begreifen Sprachverlust als einen traurigen Verfallsprozess und als den Verlust mühsam erworbenen Wissens. Man hat unzählige Stunden in das Erlernen der französischen Sprache investiert und nach ein paar Jahren der Nichtverwendung fühlt es sich so an, als hätte man sämtliches Wissen verloren. In dieser Lerneinheit zeigen wir Ihnen, dass Sprachverlust ein normaler und sogar nützlicher Mechanismus ist, durch den unser Gehirn sein gesamtes Potenzial optimal nutzen kann. Es gibt unterschiedliche Arten des Sprachverlustes. Üblicherweise wird zwischen dem unterschieden, was verloren geht, - zwischen der ersten oder einer zweiten, dritten, etc. Sprache, - und zwischen den Rahmenbedingungen: Findet Sprachverlust etwa im Kontext der Alltagssprache statt oder in einer Fremdsprache. Welche Sprache/ Rahmenbedingungen L1-Rahmenbedingungen L2-Rahmenbedingungen L1 L1 / L1 L1 / L2 L2 L2 / L1 L2 / L2 Tabelle 1: Sprachkombinationen und Rahmenbedingungen Da es einige wesentliche Unterschiede zwischen dem Sprachverlust in der ersten und der zweiten Sprache gibt, werden diese Szenarien getrennt behandelt. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ Sprachverlust definieren können und erklären können, welche Formen es gibt; ▶ Sprachverlust anhand unterschiedlicher Testformate messen können; ▶ ein kleines Projekt zum Sprachverlust aufsetzen können. 4.3.1 Sprachverlust definieren Für das Phänomen, dass Sprache „verloren“ wird, existieren unterschiedliche Definitionen. Attrition oder auch Sprachverlust definieren Köpke und Schmid als den „nicht-pathologische[n] Rückgang in einer Sprache, die sich ein Einzelner zuvor angeeignet hat“ (2004: 5). Gemäß Herdina und Jessner (2002) bietet diese Definition keine adäquate Erkenntnis zur dynamischen und systemischen Bedeutsamkeit des Sprachverlustes. Diese wird im Speziellen in der weiterentwickelten Interpretation des Verlustes als eine Reduktion oder Vereinfachung 152 4. Dynamische Modellierung von Sprachenerwerb des Sprachsystems beziehungsweise als die Unfähigkeit, darauf zuzugreifen, bezeichnet. Weiterhin wird angenommen, dass Sprachverlust ein normaler und oftmals unvermeidbarer Aspekt der Sprachenentwicklung und Veränderung im Lebensverlauf einer mehrsprachigen Person ist (Herdina & Jessner 2002: 753). Hier beziehen wir uns auf die folgende Definition: Sprachverlust ist der Rückgang der Sprachkenntnisse eines Einzelnen im Verlauf der Zeit. Beachten Sie, dass sich dieses Konzept von der Sprachverlagerung unterscheidet. Sprachverlagerung ist ein Begriff, der in der Soziolinguistik verwendet wird, um den Rückgang der Sprachverwendung der Ausgangssprache vor allem in Einwanderermilieus zu beschreiben. Die zwei grundsätzlichen Fragen zum Sprachverlust lauten: Warum verlernen Menschen eine Sprache? Und wie verlernen sie eine Sprache? Die erste Frage betrifft die Ursachen des Verlustes, die zweite die Mechanismen des Verlustprozesses. Obwohl diese zwei Fragen eng miteinander verknüpft sind und einander gegenseitig beeinflussen, werden wir uns zur Erläuterung dieser Fragen auf zwei Forschungsbereiche stützen, die bislang größtenteils getrennt voneinander betrachtet werden. Wenn es um die Frage nach dem Warum geht, beziehen wir uns auf Ansätze der Entwicklungspsychologie, in der Entwicklungen über eine ganze Lebensspanne hinweg betrachtet werden. Die Wie-Frage hingegen wird am besten aus der Perspektive der Kognitionslinguistik betrachtet, die sich auf die Entwicklung komplexer Systeme konzentriert, wie etwa die menschliche Informationsverarbeitung und Sprache. In diesem Modul wird die kognitionslinguistische Systemperspektive nicht genauer beschrieben (siehe hierzu den Band »Sprachenlernen und Kognition«), aber ihre Haupteigenschaften werden kurz aufgezählt. Wir betrachten hier also einen Untersuchungszeitraum, der eine ganze Lebensspanne umfasst. Die Erforschung von Entwicklungen, die ein ganzes Leben lang andauern, erstreckt sich von der kognitiven Entwicklung, der Entwicklung von Wahrnehmung und von motorischen Fähigkeiten, der sozialen Entwicklung bis hin zur Persönlichkeitsentwicklung. In der Vergangenheit werden diese verschiedenen Forschungsbereiche wie spezialisierte Teilfelder mit nur wenigen Verbindungen behandelt, aber innerhalb der letzten zwanzig Jahre ist die Erkenntnis gewachsen, dass diese Entwicklungen auf unterschiedlichen Stufen und in verschiedenen Subsystemen miteinander verknüpft sind. Die Untersuchung der Hirnfunktionen, derzeit einer der am schnellsten wachsenden Forschungsbereiche, ergibt, dass die kognitiven Funktionen mit den neurologischen Funktionen interagieren, aber auch mit den physischen Veränderungen und den Veränderungen im direkten Umfeld eines Menschen. Im Verlauf eines Lebens gibt es eine begrenzte Anzahl großer Lebensereignisse, die für den Einzelnen entscheidend sind, wie Heirat und Scheidung, Unfälle, der Tod eines Angehörigen, und so weiter. Um den Sprachverlust zu untersuchen, können wir nach großen linguistischen Lebensereignissen suchen, also Ereignisse, die das linguistische Repertoire eines Einzelnen beeinflussen. 153 4.3 Sprachverlust 4.3.2 Die Methodologie der Forschung zum Sprachverlust Ein entscheidender Aspekt des Verlustes ist, dass er seine Zeit braucht. Wie lange es dauert, eine Sprache zu verlieren, hängt von den Rahmenbedingungen ab. Ammerlaan (1996) erforscht den Sprachverlust bei niederländischen Migranten und Migrantinnen in Australien und stellt fest, dass einige von ihnen ihre Sprache innerhalb einiger Jahre weitgehend verloren haben. Dabei handelt es sich meist um junge Männer und Frauen, die aus wirtschaftlichen Gründen eingewandert sind und gute Arbeitsplätze in Australien gefunden haben. Sie knüpfen hauptsächlich Kontakte mit englischsprachigen Kollegen und Kolleginnen sowie Freunden und Freundinnen, und sprechen kaum mehr Niederländisch. Einige andere Migranten und Migrantinnen, Einwanderer und Einwandererinnen haben noch niederländische Freunde und Freundinnen, sehen das niederländische Fernsehprogramm und stehen häufig in Kontakt mit ihren Familien in den Niederlanden, die sie regelmäßig besuchen. Sie bewahren sich so ziemlich gute Kenntnisse des Niederländischen. Einer der Befragten sagt dazu: „Mein Niederländisch ist wie Fahrrad fahren. Man vergisst es niemals, aber man wird ein wenig wackelig“ (Ammerlaan 1996). Ammerlaan kommt zu dem Schluss, dass es keine festgesetzte Zeitspanne gibt, nach deren Verlauf der Verlustprozess einsetzt. Diese Erkenntnisse werden in mehreren Studien reproduziert. Um Sprachverlust erforschen zu können, benötigt man einen Referenzpunkt: Wann war die Sprache noch vollständig intakt? Diesen braucht man, um herauszufinden, was verloren gegangen ist. Idealerweise folgt man einer Gruppe von Lernern, die ihre Sprache wahrscheinlich verlieren werden, zum Beispiel Migranten und Migrantinnen wie die Niederländer in Australien. Aber dann kann es Jahre dauern, bis einer von ihnen etwas vergisst. Man weiß nicht, wann der Verlust einsetzt, also muss man sie regelmäßig testen. Aber wenn man sie regelmäßig testet, dann könnten sie aus den Tests sogar lernen, oder es könnte sie dazu motivieren, ihr Niederländisch häufiger zu verwenden, um in den Tests gut abzuschneiden. Es gibt einige Studien, die einen longitudinalen Ansatz verfolgen und dieselben Personen über einen langen Zeitraum hinweg begleiteten. Zusammen mit Michael Clyne (1977) arbeitete de Bot mit seinen Kollegen und Kolleginnen in Melbourne mit niederländischen Migranten und Migrantinnen, die sie in den frühen 1970er Jahren getestet hatten, dann 1987 abermals und einige von ihnen wieder 2005 erneut. Die Ergebnisse waren interessant: Bei den meisten Tests zwischen 1972 und 1987 gibt es kaum Unterschiede, wohingegen die Befragten, die wir 2005 testen konnten (nicht alle, die wir zuvor getestet haben, haben noch gelebt), tatsächlich höhere Punktzahlen in den Tests erreicht haben als 1986. Das ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass viele von ihnen in einem Altersheim gelebt haben, das speziell für niederländische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen errichtet worden ist, und dort den größten Teil des Tages Niederländisch gesprochen haben. In gewisser Weise haben sie ihre Erstsprache neu gelernt. Ein anderer Ansatz besteht darin, die Sprachverlust-Kandidaten mit einer Kontrollgruppe aus ihrem Herkunftsland zu vergleichen; das entspräche einer Studie im Querschnittsdesign. Man wählt einige Parameter aus, so wie beispielsweise Grammatikalitätsurteile, Leseverständnis, korrekte Aussprache, Wortfelder und Aufnahmen freier Rede und testet damit eine Gruppe von Migranten und Migrantinnen sowie eine Gruppe von Probanden und Probandinnen 154 4. Dynamische Modellierung von Sprachenerwerb im Heimatland mit ähnlichem Alter und Bildungsstand. Im Anschluss werden die beiden Gruppen verglichen, wobei die Unterschiede zwischen ihnen den Sprachverlust abbilden. Zur Erforschung des L1-Verlusts ist das Design mit einer Kontrollgruppe besser geeignet, da L1-Verlust ein sehr lang andauernder Prozess ist, der sich über Jahrzehnte hinweg erstrecken kann. Im Gegensatz dazu ist das Longitudinaldesign bei Studien zum L2-Verlust besser geeignet, da einige Aspekte des L2-Verlustes innerhalb eines kürzeren Zeitraums stattfinden. Monika Schmid ist eine führende Expertin zum L1-Verlust. 2011 kommt sie zu dem Schluss, dass die verschiedenen Forscher und Forscherinnen unterschiedliche Ergebnisse erzielen, weil sie tendenziell ihre eigenen Tests anstelle eines gemeinsamen Tests verwenden. Sie führte ein Test-Standardset ein, das folgenden Test umfasst: ▶ C-Test: ein Test, in dem Wörter und Buchstaben ausgelassen werden und eingefügt werden müssen ▶ Test zur Wortflüssigkeit: eine Aufgabe, bei der die Befragten so viele Wörter aus einer bestimmten Kategorie auflisten müssen wie sie kennen, zum Beispiel Tiere, Möbel oder Wörter, die mit dem Buchstaben <g> beginnen ▶ Nacherzählungsaufgabe Indem die gleichen Tests verwendet werden, soll das zu einer besseren Vergleichbarkeit der Ergebnisse führen. Experiment Probieren Sie die Aufgabe zur Wortflüssigkeit mit einigen Freunden oder Kollegen aus. Wählen Sie zwei Buchstaben, zum Beispiel <s> (viele Wörter des Deutschen beginnen mit diesem Buchstaben) und <g> (weniger Wörter des Deutschen beginnen mit diesem Buchstaben; Sie können das herausfinden, indem Sie die Anzahl der Seiten pro Buchstabe in einem guten Wörterbuch vergleichen). Die Aufgabe für Ihre Mitspieler besteht darin, innerhalb von 60 Sekunden so viele Wörter wie möglich aufzusagen, die mit diesem Buchstaben anfangen. Erstellen Sie eine Tonaufnahme, um die Ergebnisse später zu analysieren. Führen Sie ihn in der Erst- und einer Zweitsprache durch. Welche Erkenntnisse ziehen Sie daraus; bestehen Unterschiede zwischen den beiden Buchstaben und den Sprachen? Sie werden feststellen, dass diese Aufgabe sehr frustrierend sein kann, da einige Menschen bereits nach ein paar Wörtern einen Totalausfall erleiden! 4.3.3 L1-Verlust L1-Verlust findet normalerweise in Einwanderungskontexten statt, so wie bei den bereits erwähnten niederländischen Migranten und Migrantinnen in Australien, aber auch bei türkischsprachigen Einwanderern und Einwandererinnen in Deutschland, oder bei serbischen Migranten in Schweden. Schmid (2011) befasst sich mit deutschen Juden und Jüdinnen, die in den 1930er Jahren nach England auswandern. Sie stellt einen beachtenswerten Erhalt der 155 4.3 Sprachverlust Erstsprache Deutsch fest und das obwohl einige der Befragten die Verwendung der deutschen Sprache aus emotionalen Gründen vollends aufgegeben haben. Sie zeigt, dass die Haltung hinsichtlich der verlustgefährdeten Sprache dabei eine sehr große Rolle spielt: Wer viele schlimme Erfahrungen gemacht hat, entwickelt eine starke negative Haltung und behält am wenigsten. Die Forschung zu diesem Thema zeigt, dass die Erstsprache im Allgemeinen sehr gut erhalten ist, wenn sie formal getestet wird. Was die Menschen über ihre Kenntnisse in der verlustgefährdeten Sprache denken, ist ein anderes Thema. Sie können das Gefühl haben, dass viel verloren gegangen ist, während die Sprache tatsächlich erhalten geblieben ist. Wir kommen darauf im nächsten Abschnitt zurück. Ecke und Hall (2013) untersuchen das sogenannte tip-of-the-tongue-Phänomen ( TOT ). Man weiß, man kennt das gesuchte Wort, aber man kommt gerade einfach nicht darauf. Im Deutschen verwendet man dafür häufig die Metapher Es liegt mir auf der Zunge. Ein Beispiel: Wie nennt man ein traditionelles Segelschiff auf dem Chinesischen Meer? In der Studie werden Tip-of-the-tongue-Phänomene des ersten Autors, Peter Ecke, untersucht, der fünf verschiedene Sprachen spricht. Der Datensatz zeigt: Obwohl er seine Erstsprache (Deutsch) weitaus seltener verwendet als seine weiteren Sprachen, ist die Erstsprache am stabilsten mit den wenigsten Vorkommnissen von Tip-of-the-tongue-Momenten. Das Auftreten solcher Tip-of-the-tongue-Phänomene in den anderen Sprachen scheint sich dynamisch mit den Nutzungsmustern zu verändern. Sowohl beim Verlust der L1 als auch der L2 spielt das Alter in zweierlei Hinsicht eine entscheidende Rolle. Es wirkt sich deutlich auf den Spracherhalt aus, ob es um den Zeitraum vor oder nach der Pubertät geht: In der präpubertären Phase findet ein erheblicher Verlust statt, während in der postpubertären Phase weitaus mehr bewahrt wird. Der gegensätzliche Alterseffekt tritt im hohen Alter ein. Es gibt Hinweise darauf, dass einige Aspekte der Sprache empfindlich auf altersbedingten Verlust reagieren, insbesondere Wortfindung und Geräuschwahrnehmung. Ein spezifischer Alterseffekt tritt beim Sprachverlust ein, der als Sprachumkehrung (language reversion) bezeichnet wird: Einwanderer und Einwandererinnen sprechen im Erwachsenenalter tendenziell weniger in ihrer L1 und mehr in der L2, allerdings kehrt sich dieses Muster im Alter um. Möglicherweise geschieht dies aufgrund einer Kombination von neurologischen Faktoren und dem Umfeld, wobei der Umzug in ein Altersheim der eigenen Volksgruppe ein offensichtlicher Faktor ist. Hinsichtlich der unterschiedlich ausgeprägten linguistischen Fähigkeiten zeigen die Ergebnisse verschiedener Forschungsprojekte, dass metalinguistisches Wissen (Empfänglichkeit für Grammatikalität) und Grammatik stabil sind, wohingegen der lexikalische Zugang reduziert sein kann. Die Aussprache scheint insbesondere aufgrund der Störung durch die andere Sprache verlustanfällig. Wie bereits erwähnt, spielt das Alter eine wesentliche Rolle für den Verlust der Erstsprache. Pallier, Dehaene, Poline, LeBihan, Argenti, Dupoux und Mehler (2003) berichten von einer Studie mit adoptierten koreanischen Kindern in Frankreich. Die Kinder werden im Alter von fünf bis zwölf Jahren adoptiert und leben in einem vollständig einsprachigen französischen Umfeld. Als man sie im Erwachsenenalter testet, kann kein Hinweis auf den Erhalt der Sprachkompetenz in der L1 nachgewiesen werden. 156 4. Dynamische Modellierung von Sprachenerwerb 4.3.4 L2-Verlust Das Interesse an diesem Phänomen kommt aufgrund einer sehr praktischen und politischen Frage auf: Was nützt es, Menschen vier bis sechs Jahre lang Französisch oder Englisch beizubringen, wenn all das Wissen nach einer Zeit der Nichtverwendung wieder verschwindet? Denn viele L2-Lerner haben im Allgemeinen das Gefühl, dass sie die Sprache sehr leicht wieder vergessen. 1960 landete der Sänger Sam Cook einen Top-Ten-Hit, der Sprachverlust thematisierte: Don’t know much about history Don’t know much biology Don’t know much about a science book Don’t know much about the French I took But I do know… Französisch scheint die Sprache zu sein, die Menschen am ehesten wieder vergessen. In mehreren Projekten zum Erlernen und zum Verlust der französischen Sprache in den Niederlanden und in den Vereinigten Staaten, überprüfen Weltens (1989) und Grendel (1993) diese Annahme und stellen fest, dass es in Messungen im Rahmen einer ganzen Testreihe keinen Beweis für das Vergessen des Französischen gibt. Lediglich in der Sprachproduktion kann ein gewisser Verlust bei Studenten und Studentinnen in den Vereinigten Staaten gemessen werden. Aber in all diesen Forschungsprojekten tritt ein Problem immer wieder auf: Während bei den Befragten keinerlei Anzeichen des Verlustes messbar sind, berichten sie davon, dass sie gefühlt einen wesentlichen Teil ihrer Sprachkenntnisse verloren haben. Folgendes scheint also der Fall zu sein: Die Probanden und Probandinnen versuchen in der Fremdsprache zu sprechen, aber die lexikalische Einheit, die für eine Äußerung benötigt wird, kann aus dem Wortschatz nicht rechtzeitig abgerufen werden. Das Wissen ist vorhanden, aber die zeitliche Koordinierung der Sprachproduktion ist sehr präzise getaktet und aufgrund der Nichtverwendung sind die relevanten linguistischen Einheiten nicht zur richtigen Zeit verfügbar. Experiment Wir alle lernen und verlernen Sprachen ohne es wirklich zu merken, bis wir diese Sprachen benötigen. Denken Sie an Ihre eigenen Sprachen und versuchen Sie, eine Zeitkurve davon anzulegen, wie sie sich entwickelt haben. Wenn es wesentliche Veränderungen gibt, welche Ursache haben sie? Zum Wiedererlernen von Sprachen wird ebenfalls geforscht. Diese Forschung, mit Schwerpunkt auf dem Wortschatz (de Bot, Martens & Stoessel 2004) zeigt, dass vergessene Wörter leicht wieder erlernt werden können: Nur ein paar Wiederholungen sind für die Reaktivierung dieses Wissens ausreichend. Zurück zum Beispiel der Studie von Ventureyra und Pallier (2004) zu den koreanischen Adoptivkindern: In dieser Studie werden erwachsene Koreaner und Koreanerinnen, die im 157 4.3 Sprachverlust Alter von vier bis zwölf Jahren adoptiert werden, in Frankreich getestet, um herauszufinden, wie es um ihr Koreanisch steht. Keiner von ihnen hat lange mit der koreanischen Sprache Kontakt. Alle haben Koreanisch im Kindesalter als Erstsprache erlernt und bei den Adoptivkindern, die älter als zehn Jahre waren, kann davon ausgegangen werden, dass sie ihre Muttersprache bis zu einer hohen Kompetenzstufe erlernt haben. Alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen geben an, dass sie keine Kenntnisse der koreanischen Sprache besitzen. Die Forscher testen sie auf unterschiedliche Weise. Sie bitten sie, auf Koreanisch zu zählen oder eine Reihe mit Monatsnamen weiterzuführen (Januar-Februar-März-…). Sie tragen ihnen Kinderreime vor, die sich tief einprägen und sogar im hohen Alter noch erhalten bleiben können. Ihnen werden spezifisch koreanische Laute vorgespielt und sie werden dann gefragt, ob diese Laute koreanisch seien. Die Ergebnisse sind eindeutig: Bei keinem dieser Tests erkennen die Adoptivkinder etwas Koreanisches. Aufzeichnungen der Gehirnaktivitäten bei der Verarbeitung von Französisch oder Koreanisch weisen wiederum keine Anzeichen dafür auf, dass relevante Informationen geblieben sind. Dies deutet darauf hin, dass die Erstsprache unter bestimmten Bedingungen komplett vergessen werden kann. Der einzige Test, den die Forscher und Forscherinnen nicht durchführen, ist eine Wiederlernaufgabe. Bei einer solchen Aufgabe werden den Probanden und Probandinnen Wörter vorgelegt, die sie wahrscheinlich in ihrer Jugend gekannt haben, an die sie sich aber nicht mehr erinnern können. In dem Experiment werden die Wörter, die sie vermutlich in der Vergangenheit gelernt haben, zusammen mit sehr seltenen Wörtern aufgelistet, die sie niemals erlernt haben. Dann haben die Teilnehmer und Teilnehmerinnen eine gemischte Wörterliste erhalten, und sie mussten die Wörter darauf lernen. Die Daten zeigen, dass „alte“ Wörter, die sie in der Vergangenheit bereits erlernt haben, wesentlich schneller gelernt (oder eher: wiedergelernt) werden als komplett neue Wörter. Dieser sogenannte Sparansatz (savings approach) kann nützlich sein, wenn Restwissen mit konventionellen Recall- und Recognition-Tests (Tests, die das Abrufen oder Widererkennen prüfen) nicht überprüft werden kann. Recall kann durch Übersetzen von der L1 in die L2 oder Benennen von Bildern in der L2 getestet werden. Recognition überprüft man durch Übersetzen von der L2 in die L1 oder paarweises Anordnen von Bildern und Wörtern. Die übliche Erkenntnis in der psycholinguistischen Forschung lautet, dass abrufen schwieriger ist als wiedererkennen. Der Savings-Approach kann verwendet werden, wenn sogar einfache Recognition-Aufgaben keine verlässlichen Ergebnisse erzeugen. 4.3.5 Relevanz für die Pädagogik Was können wir für pädagogische Zwecke aus der Forschung zum Sprachverlust lernen? Erstens ist das Vergessen ein Teil des Lernens. Etwas, das jemand gelernt hat, ist nicht notwendigerweise später auch verfügbar. Zweitens ist eine Sprache auch nach längerer Zeit ziemlich stabil, wenn wir sie einmal erlernt haben. Drittens sind einige linguistische Aspekte anfälliger für Verlust als andere. Die Grammatik ist tendenziell stabil, wohingegen der Zugriff auf den Wortschatz und die Aussprache verlustanfälliger sind. Und schlussendlich kann leicht wieder erlernt werden, was verloren gegangen ist, also kann es für das Wiedererlernen 158 4. Dynamische Modellierung von Sprachenerwerb sinnvoll sein, wieder auf die Lehrmaterialien und Bücher zurückzugreifen, die man in der Vergangenheit verwendet hat. Sprachverlust wird oft als ein trauriger Verlustprozess dargestellt, aber wir sollten uns die Frage stellen, warum wir über diesen eingebauten Verfallsprozess verfügen. Man könnte argumentieren, dass es sich dabei tatsächlich um einen sehr effektiven Mechanismus zur optimalen Nutzung der Ressourcen handelt. Sämtliche Prozesse verbrauchen Ressourcen und die Dinge, die wir regelmäßig machen, sind stärker automatisiert und verbrauchen weniger Ressourcen. Also können wir auf eine Sprache, die wir täglich sprechen, leichter zugreifen als auf eine Sprache, die wir nur selten verwenden. Warum sollten wir Ressourcen in ein System investieren, das wir die meiste Zeit über nicht benötigen? Automatischer Verlust, oder vielmehr das Zurückstellen, ist in diesem Sinne ein effektiver, ressourcensparender Mechanismus. Die Forschung zum Wiedererlernen hat gezeigt, dass auch wenn sich bestimmtes Wissen außer Reichweite befindet, es doch recht einfach reaktiviert werden kann. Experiment Hierbei handelt es sich um ein kleines, klassisches Experiment zum Vergessen, das von Ebbinghaus im 19. Jahrhundert durchgeführt wurde: Erstellen Sie eine Liste von 20 unsinnigen Wörtern bestehend aus 3-4 Buchstaben, etwa kurf, wolm, vlaf… Lernen Sie die Liste auswendig. Führen Sie nach etwa zwei Stunden einen erneuten Selbsttest durch: An wie viele Wörter erinnern Sie sich und wie oft mussten Sie die Wörter wiederholen, die Sie vergessen hatten, um die Liste erneut zu lernen? Wiederholen Sie den Vorgang am nächsten Morgen und eine Woche später. Tragen Sie die benötigte Anzahl der Wiederholungen in ein Diagramm ein - welche Erkenntnis ziehen Sie daraus? 159 4.3 Sprachverlust 4.3.6 Zusammenfassung ▶ Menschen bewahren ihre Sprachkompetenz tendenziell, auch wenn sie eine Sprache über einen längeren Zeitraum hinweg nicht genutzt haben. ▶ Studien zeigen, dass als verloren betrachtete Sprachkenntnisse wieder aktivierbar sind, wenn man den Personen ausreichend Zeit einräumt, sich an die benötigten Wörter zu erinnern. ▶ Ein großes Problem im Zusammenhang mit Attrition ist die Frage nach dem Bezugspunkt: Mit welcher Gruppe sollen die Probanden einer Attritionsgruppe verglichen werden? ▶ Das Lexikon scheint die Ebene der Sprache zu sein, die am leichtesten angreifbar ist, was daraus resultiert, dass es sich hierbei um lose Einheiten handelt im Vergleich zu grammatischen Strukturen. ▶ Wiederholtes Testen einer Attritionsgruppe kann dazu führen, dass sich bei den Probanden und Probandinnen ein Lerneffekt einstellt, der den Attritionsprozess „stört“. ▶ Die Erstsprache ist nicht besser gegen den Verlust geschützt als andere Sprachen, die bis zu einem hohen Kompetenzgrad erworben wurden. 4.3.7 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Warum verlieren Menschen Ihre Sprachen? Hängt es vom Gebrauch beziehungsweise Nicht-Gebrauch ab oder liegt es an der Haltung? Ist die Erstsprache besser gegen den Verlust geschützt als andere Sprachen? 2. Wenn Sie den Verlust der Erstsprache untersuchen möchten: Welche Vor- und Nachteile bieten das Longitudinal- und das Querschnittsdesign? 3. Welche Art von Studie würden Sie durchführen, um das Wiedererlernen einer Fremdsprache zu untersuchen? 4. Wenn Sie ein Experiment mit dem Savings-Approach durchführen wollten, wie würden Sie abschätzen, welche Wörter „alt“ und welche Wörter komplett neu sind? Gibt es dafür eine verlässliche Methode? 161 4.3 Sprachverlust 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch In dem Ansatz der dynamischen Systemtheorie, den Sie in Kapitel 4 kennengelernt haben, sind Sprache, Sprachentwicklung, Sprachwandel und Sprachenkontakt keine innerhalb eines sozialen oder kognitiven Systems isoliert auftretenden Phänomene. Es wird vorausgesetzt, dass sprachliche Handlungen innerhalb eines Kontexts vollzogen werden und dass das, was gesagt wird, durch die zahlreichen interagierenden Komponenten bedingt ist. Als Sprachenkontakt bezeichnet man die Interaktion zwischen zwei oder mehr Sprachen, die sich gegenseitig oder untereinander beeinflussen. Das Ergebnis dieses Prozesses sind unterschiedliche Phänomene, die von Akzenten bis hin zu Geheimsprachen oder Sondersprachen reichen. Zwischen diesen beiden Extrempositionen liegen Lehnwörter, Code-Switching, Code-Mixing, Sprachtransfer, Sprachkonvergenz, Interimssprachen, Mischsprachen und wahrscheinlich noch einige weitere Phänomene, mit denen sich die Linguistik bislang noch nicht beschäftigt hat oder bei denen umstritten ist, ob sie in die Kategorie Sprachenkontaktphänomene fallen. All diese Kontaktphänomene sind aufgrund der linguistischen und soziokulturellen Veränderungen, die sie erzeugen, sehr interessant: Außerdem besteht eine beständige sprachwissenschaftliche Wissbegierde herauszufinden, für welche Veränderungen der Sprachstruktur sowie des linguistischen, kognitiven und sozialen Verhaltens von Sprechern und Sprecherinnen jedes dieser Phänomene verantwortlich ist. Einige Sprachwissenschaftler und Sprachwissenschaftlerinnen gehen sogar davon aus, dass der Sprachenkontakt für jegliche Sprachveränderung verantwortlich ist. In Lerneinheit 5.1 behandeln wir das Thema Code- Switching und untersuchen, warum Sprecher und Sprecherinnen Code-Switching betreiben und wie das Code-Switching und seine mentalen Kosten mit den lebenslangen Auswirkungen der Mehrsprachigkeit in Verbindung stehen. Dies steht mit dem so genannten „Mehrsprachigkeitsvorteil“ in Zusammenhang. In der Lerneinheit 5.2 in diesem Kapitel beschäftigen Sie sich mit verschiedenen Transferphänomenen, die durch den Sprachenkontakt auftreten. In der letzten Einheit in diesem Kapitel lernen Sie das komplexe Thema der Mehrschriftlichkeit kennen. Hier werden Sie sich mit unterschiedlichen Lernertexten beschäftigen und sehen, dass Transferphänomene auch bei der Gestaltung von Texten eintreten können. 162 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch 5.1 Code-Switching Kees de Bot (übersetzt von Simone Lackerbauer) & Jörg Roche Eine der am meisten diskutierten Erscheinungen für Sprachenkontakt ist Code-Switching. Innerhalb des Code-Switching-Verhaltens existiert eine gewisse Systematizität, denn nicht jede Art von Code-Switching ist möglich. Es gibt, wie wir sehen werden, eine gewisse Anzahl an Einschränkungen, die aber mehr als Tendenzen denn als echte Restriktionen interpretiert werden sollten, da es für alle Einschränkungen auch Gegenbeispiele gibt. Code-Switching kann durch verschiedene Faktoren verursacht beziehungsweise begünstigt werden: fehlende Kenntnisse in einer bestimmten Sprache, lexikalische Lücken und Wortfindungsschwierigkeiten, aber auch die Zugehörigkeit und Verbundenheit zu einer Gruppe. Somit werden Sie in dieser Lerneinheit sehen, wie sich Identitäten durch sprachliche Code-Wechsel manifestieren können. Abschließend gehen wir in dieser Lerneinheit auf die Switching-Kosten ein. Hier untersuchen wir den zusätzlichen Aufwand einer mehrsprachigen Person, den sie erbringen muss, um zwischen zwei Sprachen zu wechseln, anstatt kontinuierlich in einer Sprache zu kommunizieren. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ verstehen, warum und wie Menschen Code-Switching betreiben ▶ Code-Switching analysieren können; ▶ die Sprachverarbeitungskosten und den Nutzen des Code-Switching erklären können. 5.1.1 Grundlagen des Code-Switchings François Grosjean ist einer der führenden Forscher im Bereich der Mehrsprachigkeit. Er definiert Code-Switching als „die abwechselnde Nutzung zweier Sprachen; das heißt, dass der Sprecher für ein Wort, eine Phrase oder einen Satz einen vollständigen Wechsel in eine andere Sprache durchführt und dann in die Ausgangssprache zurückkehrt“ (2010: 51f). Laut seiner Definition gibt es also für eine vorliegende Situation eine Ausgangsprache. Indem sie Code- Switching betreiben, verwenden die Sprecher und Sprecherinnen Elemente aus einer anderen Sprache und kehren dann zur Ausgangsprache zurück. Nicht alle stimmen dieser Definition zu. Für andere Sprachwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen ist der Wechsel zurück zur Ausgangsprache nicht notwendig. Für Baker (2006: 76) liegt Code-Switching dann vor, wenn ein Individuum (mehr oder weniger absichtlich) zwischen zwei oder mehreren Sprachen wechselt. Ein solcher Wechsel kann von der Vermischung einzelner Wörter über den Sprung inmitten eines Satzes bis hin zum Umschalten für größere Spracheinheiten reichen. Einige Forscher und Forscherinnen unterscheiden zwischen Code-Switching und Code-Mixing. Letzteres bezieht sich auf die systematische Vermischung zweier Sprachen. Im Allgemeinen 163 5.1 Code-Switching geht man heute davon aus, dass die Unterscheidung zwischen Code-Switching und Code- Mixing nicht nachvollziehbar und deshalb ohne Nutzen ist. Code-Switching bezieht sich zumeist auf den Wechsel zwischen Sprachen, aber es gilt auch bei Dialekten, wahrscheinlich auch für Sprachstil und Sprachregister. Wenn man mit seinen Nachbarn spricht, dann verwendet man einen anderen Sprachstil, als wenn man mit einem Amtsträger spricht, zum Beispiel mit dem Bürgermeister der eigenen Stadt. Natürlich ist diese Art von Code-Switching subtiler als der Wechsel zwischen Sprachen, aber in einer sorgfältigen Analyse kann man ihn trotzdem entdecken. In den 1940er und 1950er Jahren wurde Code-Switching als defizitärer Sprachgebrauch betrachtet, aber in den darauffolgenden Jahrzehnten ergab die Forschung, dass Code-Switching ein komplexes und interessantes Phänomen ist, das von großer Kreativität zeugt. Es wurde nicht länger als minderwertig eingestuft und Code-Switching wurde in geringem Maße sogar als Bereicherung für die Sprache bewertet. Einer der Hauptdiskussionspunkte ist die Frage, in welchem Maße ein gewisses Sprachniveau für Code-Switching entscheidend ist. Shana Poplack, eine führende Forscherin im Bereich Code-Switching, schreibt: Code-Switching ist eine mündliche Ausdrucksfähigkeit, die ein hohes Maß an Sprachenkompetenz in mehr als einer Sprache voraussetzt-- und kein Defekt, der aufgrund unzureichender Kenntnisse der einen oder der anderen Sprache entsteht- […] Anstatt für abweichendes Verhalten zu stehen, ist Code-Switching vielmehr ein sinnvoller Indikator für die Fähigkeiten von mehrsprachigen Individuen. (1980: 615f) Das könnte darauf hindeuten, dass nur dann „echtes“ Code-Switching vorliegt, wenn der Sprecher oder die Sprecherin beide Sprachen flüssig beherrscht. Dieser Fall liegt aber nicht notwendigerweise vor. Es gibt viele Beispiele für Sprecher und Sprecherinnen, die beide Sprachen nicht in gleichem Maße beherrschen, so wie zum Beispiel die Niederländisch-/ Türkisch-Sprecher bei Backus (1992). 5.1.2 Zur Frage nach Universalien beim Code-Switching Mehrere Forscher und Forscherinnen gehen davon aus, dass es linguistische Muster des Code-Switchings gibt, die unabhängig von den verwendeten Sprachen auftreten. Sankoff und Poplack (1981) haben dafür zwei Einschränkungen vorgebracht: die Äquivalenz-Regel und die Einschränkung bei gebundenen Morphemen. Die Äquivalenz-Regel besagt, dass Code-Switching nur an Stellen in einem Satz stattfinden kann, in denen die Strukturen übereinstimmen. Die folgenden beiden Sätze sind im Englischen und im Deutschen äquivalent, weshalb ein Wechsel zwischen jedem Wort in diesen Sätzen möglich ist: Englisch: I saw a man in the pub. Deutsch: Ich sah einen Mann in dem Pub. In diesen beiden Sätzen hingegen: Englisch: I saw my brother yesterday. 164 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch Deutsch: Gestern habe ich meinen Bruder gesehen. ist ein Wechsel nur zwischen my / meinen und brother / Bruder möglich, weil die Sätze abgesehen von diesen Stellen nicht äquivalent sind. Die Einschränkung bei gebundenen Morphemen besagt, dass es nicht möglich ist, zwischen einem lexikalischen Stamm und einem gebundenen Morphem zu wechseln. Im nachfolgenden Satz ist es also nicht möglich, zwischen work und- -ed und zwischen father und ’s zu wechseln. Englisch: He worked on his father’s farm. Mehrere Studien haben Beispiele für Code-Switching aufgezeigt, die sich über diese Einschränkung hinwegsetzen. Im Korpus der niederländischen Sprache bei Einwanderern und Einwanderinnen in Australien gibt es dafür viele Beispiele, zum Beispiel: Niederländisch: Wij walkden naar de strand. Zwischen walk und de findet ein Wechsel statt, der gemäß der Einschränkung bei gebundenen Morphemen nicht möglich sein sollte. Clyne (2003) hat die Vorschläge für Universalien überprüft und ist zu dem Schluss gekommen, dass keiner der Aspekte wirklich universell ist, da es in verschiedenen Sprachpaaren jeweils Gegenbeispiele dafür gab. Anstelle von Universalien sieht er gemeinsame Tendenzen, die nicht so strikt sind wie richtige Universalien. Eine davon nennt er Konvergenz, also die Tendenz dazu, Sprachen einander mehr anzugleichen, um Code-Switching zu erleichtern. Er führt dazu das folgende Beispiel aus dem Hochdeutschen an und die Konvergenz von einem deutschen Auswanderer in Australien: Deutsch: Wir sind in Tarrington zur Schule gegangen We aux+be in Tarington to the school go+past.pt Konvergenz: Wir haben gegangen zu Schule in Tarrington We aux+have go=past.pt to school in Tarrington We have gone to school in Tarrington (Clyne 2003: 80). Bei dem konvergierten Satz ist der Wechsel viel einfacher, da die Sätze strukturell äquivalent sind. Eine weitere Tendenz ist der Einfluss von Wörtern als Auslöser, auch Trigger(wörter) genannt. Triggerwörter sind Wörter, die einander in zwei Sprachen mehr oder weniger gleichen. Die Trigger-Hypothese besagt, dass Wörter, die in zwei Sprachen vorkommen, einen Wechsel von einer Sprache in die andere verursachen können. Diese Hypothese wurde zuerst von Clyne (1967) aufgestellt und in einer Reihe von Veröffentlichungen zur Mehrsprachigkeit in Australien weiterentwickelt (Clyne 1977, 1980). Triggerwörter gehören entweder etymologisch gesehen zu beiden Sprachen oder sie stammen von einer Sprache ab und wurden zu einem späteren Zeitpunkt in die andere aufgenommen. Clyne schlägt in seinen fortlaufenden Veröffentlichungen verschiedene Kategorien für Triggerwörter vor. Sie alle können als Kognate subsumiert werden, internationale Wörter (aus unterschiedlichen Sprachen), die ähnlich 165 5.1 Code-Switching klingen und Ähnliches bedeuten (zu Kognaten siehe Lerneinheit 4.2 im Band »Sprachenlernen und Kognition«). Laut der Trigger-Hypothese kann die Verwendung eines Triggerworts zu Verwirrung führen. Dies kann zu einem Wechsel in die andere Sprache führen. Beide Wörter, das Wort unmittelbar vor und die Wörter direkt nach einem Triggerwort, können deshalb gewechselt werden. Die Wahrscheinlichkeit eines Wechsels ist sogar noch größer bei Wörtern zwischen zwei Triggerwörtern. Dabei handelt es sich um die so genannten Sandwich-Wörter (Clyne 1967), wie in folgendem Beispiel zu sehen: We gingen iedere dag twee keer water halen. Wir gingen jeden Tag zwei Mal Wasser holen. We go-past. every day two times water get-inf. We went get water twice every day. Experiment Sehen Sie sich folgendes Transkript aus einem Auftritt der in Deutschland lebenden, amerikanischen Komikerin Gayle Tufts an. Erklären Sie die Sprachwechsel von Frau Tufts: An welchen Stellen wechselt sie wie lange und mit welchen Begriffen in die jeweils andere Sprache? Warum tut sie das? Was sind die kommunikativen Effekte? Das macht mich verrückt. Fast so verrückt wie ein Deutscher ohne Brot. Habt ihr das mal erlebt? You take a Deutscher, put them irgendwo auf diese Planet. Atemberaubend schön. I don’t know. Timbuktu, Taj Mahal, Tahiti… Die würden sagen: „Aber es gibt kein gutes Brot“. (Lachen und Klatschen im Publikum) „Es ist sehr sehr schön hier, aber man findet kein vernünftiges Brot“. „Es war halt viel viel Spaß, aber was ich wirklich vermisst habe, war wirklich gutes Brot.“ You gotta love that about the germans, ha? Give‘em a piece of Pumpernickel an they’re happy. So bodenständig. Ich finde es auch wichtig so. Ihr seid alle so bodenständig und naturverbunden, ha? Here in the Heimat of Birkenstock und Dr. Hauschka. And ihr seid so-- alle so elementar. So verbundet with die Elemente. Ihr habt Erde, Wasser, Feuer, Luft. Ach, wir haben das nicht mehr in America, wir kennen das nicht mehr. Really. In America heutzutage unsere vier Elemente sind television, Dunkin‘ Donuts, Botox and Crack… (Tufts 2008) Daten, die bei der Analyse gewisser Sprachpaare gesammelt wurden (Niederländisch-Englisch, Arabisch-Niederländisch und Russisch-Englisch) ergaben, dass Triggerwörter zu häufigerem Code-Switching führen als andere Wörter. Auch der Grad der Verwandtschaft beeinflusste die Wechselmuster: Je mehr sich die Wörter in den zwei Sprachen ähnelten, desto höher war die Wahrscheinlichkeit von Code-Switching (Broersma, Isurin, Bultena & de Bot 2009). 166 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch Experiment Finden Sie zwei Menschen, die häufig zwischen zwei Sprachen wechseln. Zeichnen Sie eine Unterhaltung zwischen den beiden auf und finden Sie heraus, ob die zwei Einschränkungen (die Äquivalenz-Regel und bei gebundenen Morphemen) auf Ihre Daten zutreffen. Achten Sie auf Triggerwörter: Welche können Sie identifizieren? Mehrere Faktoren spielen also beim Code-Switching eine Rolle. Einige davon, wie die Triggerwörter oder die Strukturäquivalenz, sind linguistische Faktoren. Aber soziale Aspekte, etwa die Sprachkenntnisse der Interaktanten in den beiden Sprachen, das besprochene Thema und der Status der beiden Sprachen spielen ebenfalls eine Rolle. Keiner dieser Faktoren kann das Auftreten eines bestimmten Wechsels vorhersagen, aber alle Faktoren bestimmen, wann ein Wechsel mehr oder weniger wahrscheinlich ist. Experiment Lesen sie zwei Artikel aus einer deutschen Zeitschrift, wie beispielsweise dem Spiegel (http: / / www.spiegel.de). Versuchen Sie dabei Beispiele für Code-Switching zu finden. Ein Problem bei dieser Aufgabe ist natürlich die Frage, was als Code-Switching gezählt werden kann. Ist beispielsweise Computer ein deutsches Wort oder zeugt es bereits von einem Sprachwechsel, wenn dieses Wort im Deutschen gebraucht wird? Welche Art von Code-Switching nutzen Sie? Ist es mehr auf der lexikalischen oder auf der syntaktischen Ebene? 5.1.3 Zur Pragmatik des Code-Switchings Zu einem dynamischen Modell der Mehrsprachigkeit gehören Sprachenmischungen und Sprachenwechsel selbstverständlich dazu. Bei diesen Mischungen handelt es sich um Formen von Code-Switching, Code-Mixing und Transfer mit unterschiedlichen Funktionen: Das System produziert multidimensionale Kommunikationskonturen durch die Vielfalt, den Wechsel und die Variation der Codes. Das System ist- - je nach den aktuellen Kompetenzen der Sprecher und Sprecherinnen-- auch ein Ausgleichssystem für Lücken in einer der beteiligten Sprachen. Damit bewegt sich Code-Switching zwischen Kompetenzerwerb, Kompetenzmanagement und Mängelverwaltung. Das macht es schwer, die zugrundeliegenden Systematiken zu erfassen (vergleiche Kapitel 4.3 aus Roche 2005, worauf dieser Abschnitt beruht). Die Untersuchungen von Code-Switching-Phänomenen lassen sich in zwei Gruppen gliedern: zum einen die morphosyntaktischen, zum anderen die soziolinguistischen und pragmalinguistischen Arbeiten. Anhand der strukturellen Merkmale des Code-Switchings suchen Poplack (1980) und Myers-Scotton (1993) nach den Regeln, mit denen das Code-Switching in einer Äußerung erklärt werden kann. Auf der strukturellen Ebene kann demzufolge (siehe etwa Biegel 1996) zwischen einem Wechsel innerhalb eines Satzes (intra-sentential switching) und einem Wechsel zwischen den Sätzen differenziert werden (extra-sentential 167 5.1 Code-Switching switching). Poplack (1980) nennt eine dritte Variante, das „Emblematische Switching“, bei dem Interjektionen, Füllwörter oder idiomatische Wendungen als Scharnierstelle für einen Wechsel in die andere Sprache verwendet werden. Die wichtigsten strukturellen Prinzipien dieser Art des Code-Switchings lassen sich wie folgt zusammenfassen: ▶ Freie Morpheme: Der Wechsel findet nur zwischen freien Morphemen statt. Es ist kein Wechsel zwischen gebundenen Morphemen möglich (zum Beispiel nicht zwischen Verbstamm und -endung). ▶ Geschlossene Klasse: Innerhalb von Konstituenten der geschlossenen Klasse ist ein Wechsel zwischen Artikeln, Pronomen, Präpositionen, Konjunktionen, Flexionen und anderen Funktionselementen und ihren Komplementen nicht möglich (zum Beispiel wäre ein Wechsel in der Konstituente ‚on (engl.) der street‘ nicht möglich). ▶ Äquivalenz-Regel: Ein Wechsel kann nur an Stellen (switching points) erfolgen, die dies in beiden Codes oder Sprachen erlauben (zum Beispiel bei ähnlichen Funktionen wie Subjekt oder Objekt). ▶ Matrixsprachenrahmen: Der Rahmen entscheidet über die Makrofunktionen der beteiligten Codes (zum Beispiel Erzählrahmen in Sprache x, eingebettete Kommentare in Sprache y). Myers-Scotton (1993) geht in ihrem Modell des Matrixsprachenrahmens davon aus, dass Code-Switching auf einer rationalen Entscheidung des Sprechers oder der Sprecherin beruhen und damit markiert werden. Ein unmarkierter Wechsel zwischen Codes finde demnach nur dann statt, wenn Sprecher und Sprecherin mit verschiedenen Optionen experimentieren. Der Sprecher oder die Sprecherin müsste somit bereits vor der Verbalisierung der Äußerung den grammatischen Satzrahmen in einer Sprache klar festlegen (matrix language-frame model von Myers-Scotton 1993). Das heißt, Sprecherinnen und Sprecher träfen bei jeder einzelnen Äußerung eine rationale Entscheidung für eine bestimmte Sprache. Eine solche Schnittstelle sieht auch der language node in den Modellen von Grosjean (1997), de Bot (1992) und Grosjean (1988) vor. Sprachenwechsel geschehen aber auch innerhalb von Sätzen und sie umfassen komplexere Einheiten, orientieren sich also nicht immer an der Analyseeinheit Satz. Der Aufwand für eine rationale Wechsel-Entscheidung auf Satz- oder Äußerungsbasis wäre außergewöhnlich hoch. Die Vermeidung ungrammatischer Erscheinungsformen durch syntaktisch korrekt durchgeführte Sprachenwechsel bezeichnen Poplack und Sankoff (1988) mit dem Begriff der so genannten flüssigen Wechsel (smooth switching). Der stilistische Wechsel (flagged switching) ziele, im Gegensatz zu dem flüssigen Wechsel, auf eine stilistische Funktion ab (Poplack & Sankoff 1988: 1176). Bei stilistischen Wechseln spielen Pausen, Verzögerungen und metasprachliche Kommentare, die primär adressatenbezogen sind, eine große Rolle. Durch diese metalinguistischen und parasprachlichen Markierungen wird der Wechsel zuerst „angekündigt“. Dadurch kann es zu Beeinträchtigungen des Sprechflusses kommen. Die communication accommodation theory von Giles (2008) versucht Code-Switching dagegen nicht als Markierung stilistischer Aspekte, sondern als Ausdruck kommunikativer Anpassungen zu behandeln. Sie sieht Code-Switching in der zunehmenden Annäherung von Sprechern 168 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch und Sprecherinnen in der Konversation motiviert, als eine Art Konvergenzmarkierung, oder als Divergenzmarkierung, wo soziale Unterschiede hervorgehoben werden und bestehen bleiben sollen. Konvergenz oder Divergenz zeigen sich in Dialekt, Intonation, Akzent und paralinguistischen Merkmalen. Demnach wäre die Richtung des Sprachenwechsels vorwiegend durch den Gesprächspartner oder -partnerin vorgegeben. Bei einer strikten Auslegung des Konvergenzprinzips müsste ein Deutscher, der mit einem Chinesen redet, folglich zunehmend ins Chinesische wechseln, der Chinese ins Deutsche. Wo solche Sprecherkonstellationen vorliegen, lassen sich tendenziell oft Konvergenzeffekte empirisch beobachten, aber sie erklären nicht die graduellen Unterschiede in den Wechseln, nicht die zeitliche Begrenztheit der Wechsel, nicht die Wechsel in dritte Sprachen und nicht die Rolle der oft mangelnden Kompetenzen eines Sprechers oder einer Sprecherin in der Sprache seines oder ihres Gegenübers. Die bereits skizzierte Dynamik des Sprachenwechsels lässt sich demnach nicht allein aus Fixpunkten der Sprachenkonstellationen erklären. Das Verhältnis von Sprecher oder Sprecherin und Adressat beziehungsweise Adressatin und weitere pragmatische Aspekte der Mitteilungskonstruktion sind ebenfalls zu berücksichtigen. Hierzu gehören situations- und themenabhängige Wechsel von einer Sprache in die andere (vergleiche Skehan 1989; Ellis 1987: 183ff; Hymes 1974; Fishman 1972). Sie markieren den Wechsel der sozialen Rolle, wie er etwa zwischen der Sprache zu Hause und der Sprache in der Schule zu beobachten ist. Blom und Gumperz (1972: 424) benennen das Einfügen eines bestimmten sprachlichen Systems in einer bestimmten sozialen Situation, die oft in erster Linie durch das Gesprächsthema und die Teilnehmersituation gekennzeichnet ist, als situational codeswitching. Die situativen Codewechsel sind gesellschaftlich kodifiziert und demnach vorhersagbar. In manchen Fällen kann mit dem Hinweis auf bestimmte soziale Kategorien in eine andere Sprache gewechselt werden, um einen bestimmten Teil der Konversation hervorzuheben oder den Ton des Gesprächs zu ändern. Dann liegt eine phatische Funktion eines Sprachenwechsels vor (vergleiche Appel & Muysken 1997). Blom und Gumperz (1972) setzen darüber hinaus noch einen metaphorischen Wechsel innerhalb einer sprachlichen Äußerung an, der unabhängig von dem situativen Kontext auftreten kann. Dieser ist gegenüber dem situativen Sprachenwechsel nicht vorhersagbar, sondern wird entsprechend den individuellen Intentionen des Sprechers beziehungsweise der Sprecherin absichtlich oder auch unbewusst eingesetzt, hat also eine pragmatische Funktion. Gumperz modifiziert in seinen späteren Arbeiten (1982) den Fachausdruck und führt den Terminus conversational codeswitching ein (vergleiche Gumperz 1982: 59). Aus erwerbslinguistischer Perspektive klassifiziert das Rollen-Funktions-Modell (Williams & Hammarberg 1998) sieben Typen pragmatisch bedingter Wechsel in einem dreisprachigen System, das heißt den Wechsel zu sprachlichen Elementen, die nicht phonologisch oder morphologisch an die L3-Strukturen angepasst sind. ▶ Edit: betrifft Korrekturen oder das Interaktionsmanagement ▶ Meta Comment: betrifft Metakommentare über den Text oder die Situation ▶ Meta Frame: betrifft Wechsel aus dem oder in den übergeordneten Rahmen der Gesprächssituation 169 5.1 Code-Switching ▶ Insert Explicit Elicit: betrifft explizite Nachfragen zum primären Inhalt (Wie heißt das noch in der Sprache x? ) ▶ Insert Implicit Elicit: markiert implizite Fragen oder Aussagen in einer anderen Sprache, die eine Rückmeldung des Gesprächspartners anfordern ▶ Insert Non-Elicit: markiert Änderungen ohne Anforderungen oder Nachfragen ▶ WIPP : „without identified pragmatic purpose“ Auers Modell des Code-Switchings geht von ähnlichen pragmatischen Kategorien aus wie das Rollen-Funktions-Modell, aber die Untersuchungsperspektive ist anders als bei Williams und Hammarberg keine erwerbslinguistische. Sein Modell bildet die Vielschichtigkeit der pragmatischen Niveaus ab. Daraus ergeben sich acht Funktionsebenen für einen Wechsel: ▶ Reported speech: zitierte Rede ▶ Change of participant constellation: Änderungen in der Sprecherkonstellation in Bezug auf Auswahl, Inklusion, Exklusion oder Marginalisierung von Gesprächspartnern ▶ Parentheses or side-comments: Einschübe und Nebenkommentare ▶ Reiterations: Wiederholungen zur Hervorhebung, Klärung oder Aufmerksamkeitsschaffung ▶ Change of activity type: Änderung der Sozialform, Rolle ▶ Topic shift: Themenwechsel ▶ Puns, language play, shift of key: Humor, Sprachspiel, Imitation ▶ Topicalisation, topic and comment structure: Topikalisierung, Thema und Rhema Struktur ▶ (Auer 1995: 120) Code-Switching hat also System, selbst dann, wenn eine beliebige, routinierte Sprachenmischung im Sinne eines Code-Mixing aus Stil- oder Opportunitätsgründen erfolgt (Foreignizing-Effekte). 5.1.4 Switching-Kosten Eine aktuelle Entwicklung ist das Interesse für die so genannten Switching-Kosten. Seit der Veröffentlichung der Studie von Meuter und Allport zu Switching-Kosten im Jahr 1999 wurde eine maßgebliche Anzahl experimenteller Studien zu diesem Thema durchgeführt. Experiment Unbewusstes Code-Switching geschieht ohne große Mühe. Bewusstes Code-Switching hingegen ist nicht ganz so einfach. Dazu gibt es die bekannte Fabel „Der Nordwind und die Sonne“ des griechischen Dichters Äsop. Lesen Sie diese zuerst laut vor und zeichnen Sie Ihre Rede auf. Der Nordwind und die Sonne Einst stritten sich Nordwind und Sonne, wer von ihnen beiden wohl der Stärkere wäre, als ein Wanderer, der in einen warmen Mantel gehüllt war, des Weges daherkam. Sie wurden einig, 170 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch dass derjenige für den Stärkeren gelten sollte, der den Wanderer zwingen würde, seinen Mantel abzunehmen. Der Nordwind blies mit aller Macht, aber je mehr er blies, desto fester hüllte sich der Wanderer in seinen Mantel ein. Endlich gab der Nordwind den Kampf auf. Nun erwärmte die Sonne die Luft mit ihren freundlichen Strahlen, und schon nach wenigen Augenblicken zog der Wanderer seinen Mantel aus. Da musste der Nordwind zugeben, dass die Sonne von ihnen beiden der Stärkere war. Erzählen Sie nun diese kurze Geschichte nach, aber in einem Code-Switching-Modus, so dass Sie etwa die Hälfte der Wörter in einer Sprache und die andere Hälfte der Wörter in einer anderen Sprache aussprechen. Sie können die Sprachen dabei frei wählen. Warum ist diese Aufgabe so schwer zu erfüllen? Denken Sie an die Einschränkungen beim Code-Switching: Treffen diese in der von Ihnen nacherzählten Geschichte zu? Wie kommt es, dass Sprachkünstler wie Gayle Tufts aus dem Experiment oben, damit kaum Probleme haben? In der Studie von Meuter und Allport (1999) sollten multilinguale Sprecher und Sprecherinnen Ziffern auf Abruf so schnell wie möglich entweder in ihrer Erstsprache oder ihrer Zweitsprache aufzählen. Die Daten zeigen, dass die Latenzzeiten bei Antworten in einem Versuch bei den Nennungen nach einem Code-Switching länger waren als die Latenzzeiten bei Nennungen, denen kein Wechsel voranging. Die Switching-Kosten beim Sprachwechsel waren höher, wenn der Wechsel in die Hauptsprache erfolgte, als wenn in eine L2 gewechselt wurde. Solche Switching-Kosten bilden den zusätzlichen Aufwand einer mehrsprachigen Person ab, den sie erbringen muss, um zwischen zwei Sprachen zu wechseln, anstatt kontinuierlich in einer Sprache zu kommunizieren. Für einen Wechsel muss die aktuelle Sprache zuerst ausgeschaltet werden und die andere Sprache muss aktiviert werden. Es ist unklar, in welchem Ausmaß solche experimentellen Befunde abbilden können, was beim Code-Switching „in freier Wildbahn“, also bei der nicht-experimentellen alltäglichen Verwendung von Sprache geschieht. Man könnte argumentieren, dass uns solche experimentellen Befunde im Grunde keine Informationen zur normalen Sprachverwendung liefern. Die Literatur zu Switching-Kosten beruht auf einem Sprachmodell, in dem unterschiedliche Sprachen als separate Entitäten behandelt werden, die an- und ausgeschaltet werden können. Diese Art von Modell wird zur Zeit hinterfragt und mit ihm auch eine Reihe an psycholinguistischen Aufgaben, die ein Konstrukt aus experimentellen Befunden bilden, das heute ein eigenes Forschungsgebiet darstellt und immer weniger mit authentischer Sprachverwendung zu tun hat. Bei den Experimenten zu Switching-Kosten wird die Zeit gemessen, die ein Sprachwechsel, zu dem explizit aufgefordert wurde, in Aufgaben wie dem Benennen von Bildern beansprucht wird. Sie wird dann mit den Zeiten bei Nennungen ohne Sprachwechsel verglichen. Man nimmt also an, dass es das Ziel des Code-Switchings ist, so schnell wie möglich zu sein. Diese Annahme ist allerdings problematisch. In Konversationen wird Code-Switching bei Themenwechseln oder Änderungen von Gesprächssituationen erwartet und manchmal durch Triggerwörter ausgelöst. Die Vorstellung, dass Sprachen an- und ausgeschaltet werden müssen, ist problematisch in Anbetracht der Tatsache, dass Sprache von 171 5.1 Code-Switching Natur aus im Wesentlichen dialogorientiert und interaktional ist, dass sie geteilt, eingebunden und verkörpert wird. Aus der dynamischen Systemperspektive ist die Ausrichtung auf isolierte Einheiten problematisch, da solche Einheiten normalerweise in größere Einheiten eingebunden sind. In den letzten Jahren haben mehrere Forscher und Forscherinnen neue Methoden erprobt, um Code-Switching auf natürliche Weise zu erzeugen. Ein vielversprechender Ansatz ist die Verwendung eines sogenannten Verbündeten-Settings (Kootstra, van Hell & Dijkstra 2009). In einer solchen Situation sitzen sich zwei Sprecher oder Sprecherinnen auf zwei Seiten einer Leinwand gegenüber. Vor ihnen liegt die Karte einer Stadt. Einer der Teilnehmenden muss einen Weg durch die Stadt beschreiben, während der oder die andere versucht die Route nachzuvollziehen. Einer der Gesprächspartner ist ein Verbündeter oder eine Verbündete, das heißt, dass er oder sie selbst Teil des Experiments ist und versucht, Code-Switching zu erzeugen, indem er oder sie selbst die Sprache wechselt. Dem Gespräch liegt eine dialogorientierte Ausrichtung zugrunde, denn die Gesprächspartner oder -partnerinnen versuchen, sich aneinander anzupassen. Wenn also einer oder eine regelmäßig Code-Switching betreibt, wird die andere Person-- der unwissende Teilnehmer beziehungsweise die unwissende Teilnehmerin- - sich anpassen und ebenfalls zu wechseln beginnen. Das führt zu einem mehr oder minder natürlichen Code-Switching. Was können uns die Code-Switching-Experimente über die Switching-Kosten sagen? In einer kleinen Fallstudie haben wir uns das Code-Switching bei einer 68 Jahre alten niederländischen Einwanderin in Australien angesehen, die einen Sprechstil mit häufigem Code-Switching entwickelt hat. Wir haben uns die Pausen vor Wörtern angesehen, die einen beziehungsweise keinen Wechsel hervorriefen. Dabei fanden wir heraus, dass Pausen vor einem Wechsel in die englische Sprache auftreten, die mit großer Wahrscheinlichkeit die schwächere Sprache ist, da die Frau in den Niederlanden aufgewachsen war und nur ein Grundwissen der englischen Sprache erworben hatte. Das würde also auf Kosten hindeuten. Aber können wir das wirklich aus der Länge der Pausen ableiten? Es mag mehrere Gründe für die Verlängerung von Pausen geben, sogar die Andeutung eines nahenden Wechsels. Es kann auch sein, dass bestimmte Wörter schwerer zugänglich sind, aber nicht notwendigerweise in einer bestimmten Sprache. Viele Faktoren, etwa die Häufigkeit, die Ausprägung, das Thema oder die frühere Verwendung in dem Gespräch bestimmen die Erreichbarkeit einzelner Wörter. Es ist also schwierig, die Pausenlänge als Abbildung der Switching-Kosten auszulegen. Vielleicht gibt es in normalen Code-Switching-Gesprächen gar keine Switching-Kosten. Die experimentellen Daten zu Switching-Kosten sind dann zwar für die Betrachtung der metalinguistischen Aktivität interessant, aber im Grunde genommen sind sie für das alltägliche Code-Switching-Verhalten bei multilingualen Sprechern und Sprecherinnen irrelevant. 5.1.5 Code-Switching und der „Mehrsprachigkeits-Vorteil“ Wenn es aber keine Switching-Kosten gibt, dann fehlt jegliche Grundlage dafür, was heute im Allgemeinen als Mehrsprachigkeits-Vorteil bezeichnet wird. Man bezieht sich dabei auf die Tatsache, dass mehrsprachige Personen bekanntermaßen bei einer Vielzahl von Aufgaben 172 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch besser abschneiden, etwa die Simon-Aufgabe, die Flankierreiz-Aufgabe und bei Aufgabenwechsel-Aufgaben, die üblicherweise als exekutive Funktionen bezeichnet werden (vergleiche zum Beispiel die Studien von Bialystok, Craik, Klein & Viswanathan 2004). Es wurden ebenfalls Studien durchgeführt, die zeigen, dass bei mehrsprachigen Personen die Symptome von Demenz im Vergleich zu einsprachigen Personen später einsetzen. Die Erklärung für die fundiert belegten Erkenntnisse zum Mehrsprachigkeits-Vorteil lautet, dass mehrsprachige Personen ein Leben lang Erfahrung darin sammeln, Sprachen auszuwählen, auszulesen und Code-Switching zu verhindern. Verreyt, Woumans, Vandelanotte, Szmalec und Duyck (2016) befragten ihre Probanden und Probandinnen in einer Studie zu Mehrsprachigkeit und exekutiven Funktionen, wie oft sie Code-Switching durchführten. Die Daten zeigen, dass es eine maßgebliche Korrelation zwischen der Anzahl der Sprachwechsel und den exekutiven Funktionen gibt. Die Anzahl der Sprachwechsel wurde anhand einer siebenstufigen Skala von niemals bis sehr oft bestimmt. In den Auswertungen gab es zwei Gruppen: eine mit <3 (Nicht- Wechsler) und einer mit >5 (Wechsler). Es ist unklar, ob die selbst gemachten Angaben zur Anzahl der Sprachwechsel gültig sind, da die Literatur zu Code-Switching darauf hinweist, dass das Bewusstsein dafür gering ist. In einer Situation, in der Code-Switching vorkommt, müssen Sprecher und Sprecherinnen sich dessen ständig bewusst sein, dass Veränderungen der Gesprächssituation die Verwendung einer bestimmten Sprache erfordern können. Man geht insbesondere davon aus, dass das Unterdrücken der nicht gewählten Sprache Auswirkungen auf unterschiedliche nichtsprachliche Fähigkeiten hat. Die genannten Aufgaben zu den exekutiven Funktionen basieren üblicherweise auf der Notwendigkeit, störende Informationen zu ignorieren. Bei der Flankierreiz-Aufgabe muss der Proband oder die Probandin beispielsweise die Ausrichtung eines Zeigers angeben. Dabei gibt es zwei Zustände: Einen kongruenten, bei dem andere Zeiger um den Zielzeiger herum in dieselbe Richtung zeigen-- und einen inkongruenten, bei dem die anderen Zeiger in die andere Richtung zeigen. Die Aufgabe besteht also darin, die inkongruenten Informationen zu ignorieren. Man geht davon aus, dass diese Aktivität dem Vorgehen einer mehrsprachigen Person entspricht, wenn diese eine Sprache unterdrückt. Aber wenn wir etwas länger darüber nachdenken, dann könnten wir uns die Frage stellen, inwieweit diese Beweisführung haltbar ist. Wann kommt eine mehrsprachige Person in eine Situation, in der eine bestimmte Sprache unterdrückt werden muss? Betrachten wir eine Situation, in der sich eine Sprechergruppe in einer Sprache unterhält. Dann kommt ein anderer Sprecher oder eine andere Sprecherin hinzu, der oder die diese Sprache nicht spricht. Die Sprecher und Sprecherinnen müssen die Sprache wechseln, wenn sie höflich sein wollen. Aber heißt das, dass sie auf einmal die Sprache die ganze Zeit über unterdrücken müssen, die sie gesprochen haben, bevor der „Eindringling“ zu ihnen gestoßen ist? In dem Moment, in dem sie von dessen Anwesenheit Notiz genommen haben, haben sie die Sprache gewechselt, aber welche Switching-Kosten sind damit verbunden? Es war nicht notwendig, in der anderen Sprache so schnell wie möglich zu reagieren. Im Rahmen einer solchen alltäglichen Konversation ist eine Verzögerung um 300 Millisekunden beim Wechsel zu vernachlässigen, wenn sie überhaupt auftritt. Diese Situation tritt außerdem nicht ausschließlich im Rahmen von Mehrsprachigkeit auf. Wenn Kollegen und Kolleginnen aus derselben Abteilung bei einer Be- 173 5.1 Code-Switching triebsfeier miteinander sprechen, geht es dabei üblicherweise um Themen, die ihre Abteilung betreffen. Wenn sich aber jemand aus einer anderen Abteilung dazugesellt, müssen sie ihre Sprache und die Themenwahl an diese neue Gesprächssituation anpassen. Die Erfahrung mit dem Code-Switching tritt also häufig auf und nicht nur bei mehrsprachigen Personen. Wenn es also keine Switching-Kosten gibt oder das Unterdrücken einer Sprache nicht geübt werden muss, wodurch entsteht dann also der Mehrsprachigkeits-Vorteil? Ein weiterer grundsätzlicher Unterschied zwischen Code-Switching-Experimenten und natürlichem Code-Switching ist der, dass die Sprecher und Sprecherinnen bei den Experimenten durch bestimmte Signale zum Wechsel gezwungen werden, zum Beispiel, dass sie Englisch verwenden sollen, wenn dem Zielwort ein roter Punkt vorangeht und Französisch, wenn dem Zielwort ein grüner Punkt vorangeht. In normalen Code-Switching-Konversationen werden sie niemals dazu gezwungen, von einer Nennung zur nächsten zu wechseln. Sie wechseln, weil es in ihrem Sinne ist. Wörter und Konstruktionen werden dadurch ausgelöst, was in den Gesprächen geschieht. Priming-Effekte (siehe Lerneinheit 4.2) treten auf lexikalischer, syntaktischer und konzeptueller Ebene auf. Manche Wörter und Ausdrücke kommen eher in dieser als in jener Sprache in den Sinn. Vielleicht ist sogar der Ausdruck „in jener Sprache“ unzureichend, um die Vorgänge zu beschreiben. Ein Wort oder eine größere Einheit wird deshalb verwendet, weil sie sich sozusagen anbietet, wobei es grundsätzlich egal ist, aus welcher Sprache sie stammt. Das ist keine Frage der Wahl einer Sprache, sondern die einer Behelfslösung für ein dialogorientiertes Ereignis. Wenn also das Code-Switching willentlich geschieht, welchen Raum nehmen dann die Switching-Kosten ein? Wenn es um Äußerungen geht, die in der jeweiligen Situation angemessen sind, können wir das überhaupt als Switching bezeichnen? Auf der metalinguistischen Ebene können wir auswerten, dass der Sprecher oder die Sprecherin diese Sprache verwendet hat und dann in jene andere Sprache gewechselt hat, aber das entspricht möglicherweise nicht dem, was im Kopf des Sprechers oder der Sprecherin vorgeht: Er oder sie verwendet einfach nur die praktische und kostengünstige Variante und das können Entitäten aus dieser oder jener Sprache sein. Das ist allerdings eine metalinguistische Aussage und keine Abbildung dessen, was ein wenig irreführend als Code-Switching bezeichnet wird. 5.1.6 Code-Switching in Erziehung und Bildung Es gibt viele mehrsprachige Familien, in denen die beiden Elternteile unterschiedliche Sprachen sprechen und in diesen mit ihren Kindern kommunizieren. Diese Ein-Elternteil-eine- Sprache-Konstellation wird oft als Idealsituation dargestellt. Bei einer Sprache zu bleiben, hilft dem Kind dabei, zwischen den Sprachen zu unterscheiden. Diese Idealsituation ist jedoch nicht immer möglich. In vielen Konstellationen ist die Trennung zwischen den Sprachen gering und es kommt viel Code-Switching vor. Für strenggläubige Vertreter des Ein-Elternteil-eine-Sprache-Modells ist der Wechsel ein Unding. Wir wissen nicht, ob Code-Switching bei der mehrsprachigen Erziehung wirklich schädlich ist. Es ist schwer, die Auswirkungen von vielen oder wenigen Code-Switchings auf die Entwicklung von Sprachkompetenz in zwei Sprachen zu messen. So viele Faktoren spielen dabei eine Rolle, dass es im Grunde 174 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch unmöglich ist, das Code-Switching als einen entscheidenden Faktor zu identifizieren. Man könnte argumentieren, dass die eingeschränkte Verwendung der anderen Sprache oder das Code-Switching manche Situationen erleichtern, beispielsweise dann, wenn eine ausführliche Erklärung eines Wortes oder Konzeptes darauf reduziert werden kann, dass man das Wort einfach in der anderen Sprache nennt. Die in etwa gleiche Diskussion wird in der Bildungsgemeinschaft für Mehrsprachigkeit geführt. In vielen europäischen Ländern haben sich unter der Überschrift content and language integrated learning ( CLIL )- - integriertes Lernen von Inhalten und Sprache- - verschiedene Formen der mehrsprachigen Erziehung herausgebildet. Schüler und Schülerinnen erlenen die Sprache durch ihre Verwendung. Sprache ist also nicht ein Lernziel, sondern ein Werkzeug und sollte deshalb so umfänglich wie möglich vermittelt werden. Doch auch hier könnte ein geringes Maß an Code-Switching tatsächlich von Vorteil sein. Wenn ein Schüler oder eine Schülerin zum Beispiel in Bedrängnis gerät, könnte der Rückgriff auf die Erstsprache notwendig sein. Ein weiteres Problem stellt die Frage dar, ob wir unseren Schülern und Schülerinnen das Code-Switching beibringen sollten, wenn, wie Poplack (1980) schreibt, das Code-Switching Zeichen für ein hohes Sprachniveau ist. Die Muster des spontanen Code-Switchings sind wahrscheinlich zu unterschiedlich, als dass man daraus ein lehrbares Programm entwickeln könnte. Die meisten Sprecher und Sprecherinnen, die Sprachwechsel betreiben, erlernten das Code-Switching niemals aktiv, sondern haben es einfach gemacht. Obwohl es Muster des Code-Switchings gibt und obwohl manche Formen näher betrachtet wurden als andere, existiert keine normative Grammatik des Code-Switchings. 5.1.7 Zusammenfassung ▶ Code-Switching geschieht nicht vollständig frei, aber es gibt dabei auch keine absoluten Einschränkungen. ▶ Code-Switching orientiert sich nicht an der Analyseeinheit „Satz“, sondern geschieht auch innerhalb von Sätzen und komplexeren Einheiten. ▶ Die Gründe für Code-Switching können stilistischer oder auch strategischer Natur sein, um eine ungrammatische Form zu verhindern (smooth switching und flagged switching). ▶ Code-Switching kann aber auch einen kommunikativen, sozialen Zweck erfüllen (Konvergenz- oder Divergenzmarkierung). ▶ Aus pragmatischer Sicht lassen sich für das Code-Switching nach Auer (1995) acht Funktionen unterscheiden: zitierte Rede; Änderungen in der Sprecherkonstellation in Bezug auf Auswahl, Inklusion, Exklusion oder Marginalisierung von Gesprächspartnern; Einschübe und Nebenkommentare; Wiederholungen zur Hervorhebung, Klärung oder Aufmerksamkeitsschaffung; Änderung der Sozialform und Rolle; Themenwechsel; Humor, Sprachspiel, Imitation; Topikalisierung, Thema und Rhema Struktur. ▶ Die Forschung zu Switching-Kosten kommt bislang zu keinem klaren Ergebnis, was an den komplexen Bedingungen liegt, die ein Versuch hierzu mit sich bringt. 175 5.1 Code-Switching 5.1.8 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Drücken Sie sich anders aus, wenn Sie mit Ihren Freunden sprechen oder wenn Sie sich mit Ihren Lehrern oder älteren Verwandten unterhalten? Wenn die Konversation in einer gemischten Gruppe stattfindet, zum Beispiel mit Ihrem Großvater, Ihrem besten Freund oder Ihrer besten Freundin. Betreiben Sie dann Code-Switching? 2. Gibt es Beweise für die sogenannten Switching-Kosten? 3. Was sind sogenannte „Triggerwörter“? Nennen Sie auch Beispiele. 4. Ist Code-Switching vollständig uneingeschränkt einsetzbar oder gibt es gewisse Einschränkungen? Gibt es etwa gewisse Regeln zum Code-Switching für spezifische Sprachpaare? 176 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch 5.2 Transfer Kees de Bot (übersetzt von Simone Lackerbauer) In dieser Lerneinheit beschäftigen wir uns mit Sprachenkontakt im Rahmen des Sprachenerwerbs. Ein zentrales Phänomen des Sprachenkontakts ist die gegenseitige Beeinflussung, der die betroffenen Sprachen ausgesetzt sind. Für dieses Phänomen existieren verschiedene Bezeichnungen. Weitläufig spricht man hier von Transfer oder sprachübergreifendem Einfluss (crosslinguistic influence). Aber diese Bezeichnungen sind nicht unproblematisch. Sie werfen Fragen auf, wie etwa: Was wird von wo und wohin transferiert? Um das zu verstehen müssen wir definieren, was genau Sprache ist und wie sich Sprachen gegenseitig beeinflussen können. Dieser Untersuchungsgegenstand stellt den Kernbereich mehrsprachiger Modelle zur Sprachproduktion dar und steht somit eng mit der dynamischen Entwicklung der L2 in Verbindung. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ die Effekte der L1 auf die L2 und andersherum erläutern können; ▶ die Transfer-Phänomene beschreiben, analysieren und teilweise erklären können; ▶ die Untersuchung von Gesten in die Sprachanalyse mit einbeziehen können. 5.2.1 Transfer und sprachübergreifender Einfluss: Von der Fehleranalyse zur Performanzanalyse Unter Transfer versteht man im Allgemeinen, wenn sprachliche Phänomene einer Sprache (häufig der L1, aber auch anderer Sprachen, die zuvor gelernt wurden) auf eine weitere Sprache, die gelernt wird (Ln) übertragen werden. Dieser Transfer kann unterschiedliche Auswirkungen haben. Im Falle des positiven Transfers gleichen sich die beiden Sprachsysteme und die Übertragung der Regularität führt zu einer korrekten Äußerung. Im Falle des negativen Transfers sind die beiden Sprachsysteme allerdings unterschiedlich, wodurch in der Ln eine fehlerhafte Äußerung entsteht. Dieses Phänomen wird auch als Interferenz bezeichnet. Seitdem Sprachen unterrichtet werden, ist die Wirkung der L1 auf den Lernprozess der L2 eine der Haupterklärungen für die Fehler von Lernern: Die L1 hinterlässt Spuren in der L2. Nur ein kleiner Teil der Zweitsprachenlerner wird jemals eine Kompetenzstufe erreichen, die jener von L1-Sprechern und Sprecherinnen ähnelt, nämlich ohne jegliche Spur einer anderen Sprache. Die Erforschung des Transfers zwischen zwei Sprachen begann mit der so genannten Kontrastivhypothese (vergleiche van Els, Bongaerts, Extra, van Os & Janssen-van Dieten 1984). Dabei wurde angenommen, dass die Unterschiede zwischen den Sprachen die meisten Fehler von Lernern erklären können. Die kontrastive Analyse hatte drei Ziele: 177 5.2 Transfer ▶ Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Sprachen zu verdeutlichen; ▶ Probleme beim Erlernen der L2 zu erklären und vorherzusagen; ▶ Kursmaterialien für den Sprachunterricht zu entwickeln. Man ging davon aus, dass Unterschiede zwischen Sprachen zu Lernproblemen führen würden, wohingegen Ähnlichkeiten das Lernen erleichtern würden (vergleiche positiver versus negativer Transfer). Mehrere großangelegte Projekte wurden dazu in den 1970er Jahren durchgeführt, aber die Ergebnisse entsprachen nicht den Erwartungen. Es stellte sich heraus, dass einige der vorhergesagten Fehler nicht auftraten, wohingegen viele Fehler gemacht wurden, die man nicht prognostiziert hatte. Die Richtwirkung des Transfers erschien ebenfalls problematisch: Strukturelle Unterschiede sollten in beide Richtungen wirken, von Sprache A zu Sprache B und umgekehrt. Zum Beispiel unterscheidet sich das französische Je le vois von dem deutschen Ich sehe ihn. Man erwartet also, dass deutsche Lerner der französischen Sprache Je vois le sagen, wohingegen man davon ausgeht, dass französische Lerner der deutschen Sprache Ich ihn sehe sagen. In Korpora findet man zwar den ersten Fall (Je vois le), nicht aber den zweiten (Ich ihn sehe). Damit ließ das Interesse an der Entwicklung von Unterrichtsmaterialien nach. Eines der Forschungsergebnisse zum Sprachtransfer besagte, dass weniger die strukturelle Distanz zwischen Sprachen die Fehler beeinflusse, sondern vielmehr die Wahrnehmung dieser Distanz. Dieses Phänomen wurde in einer wichtigen Studie von Kellerman (1978) Psychotopologie genannt. Für diese Studie gab er einer Gruppe niederländischer Lerner der englischen Sprache eine Liste von Sätzen mit dem Wort breken (‚to break’, ,brechen’). Die Lerner mussten angeben, ob die Sätze ins Englische übersetzt werden können. Einige Beispiele lauten: De kop brak / The cup broke / ‚Die Tasse zerbrach’ Hij brak zijn been / He broke his leg / ‚Er brach sich sein Bein’ Zijn stem brak / His voice broke / ‚Seine Stimme brach’ Die Ergebnisse zeigen, dass die Lerner davon ausgingen, dass die Hauptbedeutungen von breken in ‚break‘ übersetzt werden können, nicht jedoch die eher peripheren und weniger übertragbaren Bedeutungen. Es kommt also nicht auf den strukturellen Unterschied an, sondern auf den unterstellten Unterschied. Einige Merkmale sind sich zudem so ähnlich, dass Lerner sie meiden: Sie halten sie schlichtweg für zu einfach. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat sich die Aufmerksamkeit von der Fehleranalyse auf der Basis von Kontrasten hin zur Performanzanalyse verlagert. Diese bezieht nicht nur die Fehler, sondern auch die korrekte Sprachverwendung mit ein. Das bedeutet, dass Vermeidungsstrategien betrachtet werden müssen, also die Vermeidung von möglicherweise fehlerhaften Elementen, aber auch die Überproduktion, also die übermäßige Verwendung bestimmter Elemente; und zwar insbesondere dann, wenn sie gerade erst erworben wurden. Während diese Elemente in der Sprache von Muttersprachlern mit einer gewissen Häufigkeit auftauchen, treten sie in der Sprache eines Lerners tendenziell zu oft auf. Ein Beispiel dafür könnte die Verwendung des sort of (‚irgendwie‘) im Englischen sein. Muttersprachler verwenden es häufig, aber Lerner finden es deshalb sehr nützlich, weil es in gewisser Weise ihre 178 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch Sprache „aufweicht“: I sort of hate dogs, (‚Irgendwie mag ich keine Hunde’) oder I sort of like vanilla ice cream (‚Irgendwie mag ich Vanilleeis’). Experiment Können Sie bei sich selbst feststellen, dass sie bestimmte Wörter oder Konstruktionen in einer fremden Sprache vermeiden? Ertappen Sie sich selbst dabei, dass Sie bestimmte Ausdrücke übermäßig nutzen? Wenn ja, dann versuchen Sie solche Wörter (wie sort of) in einer Unterhaltung einmal komplett wegzulassen. Transfer findet auf allen Sprachebenen statt und ist nicht auf den Einfluss beschränkt, den die Erstsprache auf die Zweitsprache ausübt. Durch das gesteigerte Interesse an der Mehrsprachigkeit und am Erlernen einer L3 werden dem Einfluss der L3 auf die L1 und auf die L2 sowie der L3 auf die L2 und auf die L1 ebenso mehr Aufmerksamkeit zuteil. Ein Beispiel dafür ist der Unterschied zwischen hohen und niedrigen Dependenzen in Sätze wie: The sister of the psychologist who works in Italy, fell ill. Die Frage lautet hier: Wer wohnt in Italien? Die Schwester (hohe Dependenz) oder der Psychologe (niedrige Dependenz)? Spanischsprecher und -sprecherinnen geben der hohen Dependenz den Vorzug, wohingegen Englischsprecher und -sprecherinnen die niedrige Dependenz vorziehen. Laut Dussias und Sagarra (2007) verlagern spanische Lerner der englischen Sprache, die die Zielsprache täglich verwenden, ihre Präferenz von hoher zu niedriger Dependenz. Dies trifft nicht nur auf ihre L1, sondern auch auf die englische Sprache zu. Die Verwendung der L2 kann also zu Veränderungen in der L1 führen. 5.2.2 Transfer und Interimssprache Lange Zeit betrachtete man die Lernersprache als eine defizitäre Version der Zielsprache. Wie Sie gelernt haben, führte Selinker (1972) in einer richtungsweisenden Veröffentlichung das Konzept der Interimssprache ein. Bei einer Interimssprache handelt es sich um ein dynamisches linguistisches System, das hochgradig idiosynkratrisch ist und aufgrund von vielen Faktoren entsteht. Dazu gehören: der Einfluss der L1, Muster in der L2, Strategien beim Erlernen einer Sprache und die Interaktion mit der Umgebung. Wie Sie aus Kapitel 3 wissen, ist eine Interimssprache vielmehr ein eigenes System mit eigenen Regeln und weniger eine Version der Zielsprache. Sie ist je nach Situation unterschiedlich und verändert sich mit der Zeit, wenn neue Informationen hinzugefügt werden und alte Informationen verschwinden. Die Interimssprache deckt alle Aspekte einer Sprache von den Lauten bis hin zur Pragmatik ab. Einige Forscher haben behauptet, dass die Herausbildung einer Interimssprache universal ist. Diese Behauptung wurde jedoch aufgrund der Tatsache angefochten, dass die meisten Nachweise für Interimssprachen von Englischlernern aus der westlichen Welt stammen. Aus anderen L1 / L2-Sprachenpaaren können ganz andere Muster entstehen. 179 5.2 Transfer Experiment Versuchen Sie, Ihren Lieblingsfilm mündlich in zwei Minuten in (einer) Ihrer zweiten Sprache(n) zusammenzufassen. Zeichnen Sie Ihre Zusammenfassung auf und transkribieren Sie diese. Welche Fehler fallen Ihnen auf? Welche Effekte des sprachübergreifenden Einflusses erkennen Sie? An welchen Stellen findet der Transfer häufiger oder weniger oft statt? Transfer kann auf allen Ebenen der Beschreibung von Sprache entstehen: auf der Ebene der Phonologie, der Morphologie, des Lexikons und der Pragmatik. Phonologischer Transfer Transfer tritt besonders häufig bei der Aussprache auf. Dort wird er üblicherweise als ausländischer Akzent bezeichnet. Wenn Laute, die mit konkreten Bedeutungen in Verbindung stehen, gebildet werden, reproduzieren Lerner für gewöhnlich ihnen geläufige Formen. Morphologischer Transfer Wie bereits erläutert, gibt es weitreichende Nachweise für einen sprachübergreifenden Einfluss auf morphosyntaktischer Ebene. Dazu gehören einfache Regeln wie das -s in der dritten Person Singular im Englischen. Lexikalischer Transfer Viele Studien ergeben, dass analog zur Morphosyntax auch auf der lexikalischen Ebene ein Transfer stattfindet Das kann sich in der Verwendung eines falschen Wortes äußern, das aus der anderen Sprache stammt, aber auch in der falschen Verwendung von Mehrwort-Einheiten. Prominente Beispiele sind die sogenannten false friends (,falsche Freunde’). Das sind Wortpaare, die zwar äußerliche Ähnlichkeiten aufweisen, allerdings unterschiedliche Bedeutungen haben (zum Beispiel das deutsche Adjektiv brav und das englische brave). Um Transfer auf der pragmatischen Sprachebene zu erforschen, haben mehrere Forscher zusätzlich zu Korpusdaten und der Analyse natürlicher Sprache das Diskursergänzungsverfahren (discourse completion task, DCT ) angewandt. Eine typische Diskursergänzungsaufgabe besteht darin, dass eine Situation kurz beschrieben wird, woraufhin der Teilnehmer eine Antwort auf eine Anfrage formulieren muss. Zum Beispiel: Sie arbeiten als studentischer Trainee seit sechs Monaten in der PR -Abteilung. Ihr Trainee-Programm sieht vor, dass Sie einen Bericht über Ihre Arbeitserfahrung verfassen. Der Bericht muss morgen bei Ihrem Tutor an der Universität eingereicht werden. Der Leiter der PR -Abteilung und Ihr Vorgesetzter in der Arbeit, müssen eine Kurzzusammenfassung Ihres Berichtes lesen und freigeben, bevor Sie ihn abgeben können. Wenn er die Zusammenfassung heute Abend liest, können Sie den Bericht morgen früh einreichen. Ihr Vorgesetzter Peter Hopkins hat soeben Ihr Büro betreten. Was sagen Sie zu Ihrem Vorgesetzten? Die Forschung hat ergeben, dass Transfer auf der Ebene der Pragmatik vorkommt. So spielen zum Beispiel soziale Distanz und Machtverhältnisse bei der Formulierung von Bitten 180 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch und Anfragen eine wichtige Rolle. Schwerwiegendere Fragen (zum Beispiel Kannst du mir 1000€ leihen) verlangen in manchen Sprachen mehr hedging (Heckenausdrücke können zum Beispiel die bereits oben genannten „Aufweicher“ sein) als kleinere Anfragen (wie zum Beispiel Kannst du mir deinen Stift leihen? ). L2-Lerner brauchen Zeit und Erfahrungen, um sich solche kulturspezifischen Verhaltensweisen anzueignen. Solange sie ihnen nicht bewusst sind, greifen sie auf Verhaltensmuster, die sie aus anderen Sprachen kennen, zurück. 5.2.3 Transfer in der Aussprache: ausländische Akzente Transfer auf der phonologischen Ebene führt zu einem ausländischen Akzent. Diese Bezeichnung wird auf zwei unterschiedliche Arten verwendet: um erstens Bezug auf alle nicht einheimischen Akzente in einer bestimmten Sprache zu nehmen, die nicht mehr oder weniger offiziell anerkannt sind (Moyer 2013). Dazu gehören also nicht schottisches oder indisches Englisch, sondern deutsches oder italienisches Englisch. Zweitens bezeichnet man damit Akzente, die eindeutig von einer anderen Sprache, üblicherweise der L1, beeinflusst werden. Wenn also jemand sagt: Sie haben einen ausländischen Akzent, dann meint man eigentlich: Ich weiß, dass dies nicht deine Erstsprache ist. Die sehr umfassende Definition des ausländischen Akzents von Jenner lautet wie folgt: Der Komplex intersprachlicher oder idiosynkratrisch phonologischer, prosodischer und paralinguistischer Systeme, die einen Sprecher einer Fremdsprache als Nicht-Erstsprachensprecher kennzeichnen. (Jenner 1976: 167) Seine Definition umfasst also nicht nur rein linguistische, sondern auch paralinguistische Aspekte. Nonverbale Systeme wie Gestik und Mimik werden daher ebenfalls mit einbezogen. Wir werden darauf später in dieser Einheit noch zurückkommen. Auf der Grundlage einer Übersicht zur frühen Literatur über Prädikatoren von ausländischen Akzenten nennen Purcell und Suter (1980) die folgenden Faktoren, die scheinbar bei ausländischen Akzenten eine Rolle spielen: ▶ Die Erstsprache: Insbesondere bei strukturell nahen Sprachen werden erkennbare Spuren aus der anderen Sprache auftreten. Gleichzeitig erleichtert die strukturelle Überlappung das Erlernen und die Verwendung der Zielsprache. ▶ Die Fähigkeit zur mündlichen Nachahmung: Diese wird normalerweise bei Spracheignungstests abgefragt. Lerner, die gut darin sind, sind erfolgreicher. Das könnte mit musikalischem Talent zusammenhängen, aber die Forschungsergebnisse dazu sind nicht beweiskräftig. ▶ Verweildauer in der L2-Umgebung: Je größer der Input und je häufiger die Laute und Muster der Zielsprache verwendet werden, desto tiefer werden diese natürlich verankert. Die Sprache zu sprechen wird weniger aufwändig und somit bleibt mehr Raum für Selbstkontrolle und Verbesserung. Gleichzeitig sind aber einige Muster bekanntermaßen nicht leicht zu überwinden- - sie tendieren dazu, zu fossilisieren (vergleiche dazu den entsprechenden Abschnitt oben). 181 5.2 Transfer ▶ Der Grad der Achtsamkeit hinsichtlich der akkuraten Aussprache: Manche Menschen achten wirklich sehr auf ihren Akzent und geben sich große Mühe, um wie ein Einheimischer zu klingen. Manche Lerner erreichen sogar dieses Niveau. Es gelingt ihnen aber nur dann, wenn sie sich dieser Aufgabe wirklich widmen und möglicherweise ein Talent dafür haben, Muster spielend herauszuhören und abzuspeichern (vergleiche Bongaerts, van Summeren, Planken & Schils 1997). ▶ Für die L2: das Einstiegsalter. Dieser Aspekt hängt mit der Debatte zur Hypothese des kritischen Alters zusammen. Wenn man früh mit dem Erlernen einer Fremdsprache beginnt, ist die Aussprache üblicherweise besser als bei einem späten Beginn. Nicht nur die kognitiven Fähigkeiten spielen dabei eine Rolle, sondern auch die äußeren Faktoren, denn im jungen Alter kommen Gruppenzwang und das Ziel, wie die anderen Gruppenmitglieder zu klingen, hinzu. Die Wahrnehmung eines ausländischen Akzents Wie gut gelingt es uns, einen ausländischen Akzent wahrzunehmen oder zu entdecken und welche Komponenten spielen dabei eine Rolle? Die Forschung hat gezeigt, dass wir ziemlich gut darin sind, Akzente zu bewerten. Sogar Nicht-L1-Sprecher, die mit der anderen Sprache nicht vertraut sind, können einen ausländischen Akzent einschätzen: Sogar dann, wenn Sie beispielweise kein L1-Sprecher oder Sprecherin der italienischen Sprache sind, schneiden Sie trotzdem gut bei einer Einschätzung ab, ob jemand Italienisch als L1 spricht oder nicht. Die Erforschung von ausländischen Akzenten hat sich größtenteils auf die Erkennung der L1 konzentriert. Eine der einflussreichsten Studien dazu stammt von Derwing und Munro (1997). Sie ließen englische Muttersprachler kantonesische, japanische, spanische und polnische Englischsprecher und -sprecherinnen nach einem Selektivmodell beurteilen, bei dem sie nicht ich weiß nicht angeben konnten, sondern eine der vorgegebenen Optionen wählen mussten, auch wenn sie sich ihrer Wahl nicht sicher waren. Die Ergebnisse zeigen, dass die Erkennung mit 51,1 % insgesamt überwiegend korrekt war. Bei den verschiedenen Sprachen gab es Unterschiede (Kantonesisch 62,5 %, Spanisch 52,9 %, Polnisch 49,6 %, Japanisch 41 %), die allerdings nicht signifikant waren. Kantonesisch und Japanisch wurden häufiger miteinander verwechselt als Kantonesisch und Spanisch oder Kantonesisch und Polnisch. Die Vertrautheit mit einer Sprache zeigte eine größere Wirkung als die Unterschiede zwischen den Sprachen. An anderer Stelle beschäftigte sich die Forschung mit den linguistischen Komponenten der L1-Erkennung durch ausländische Akzente. Eine der älteren, aber immer noch sehr relevanten Studien wurde von Bush (1967) durchgeführt. Sie widmete sich der Erkennung von Dialekten (amerikanisches, britisches, indisches Englisch) durch Sprecherinnen und Sprecher des amerikanischen Englisch. Sie arbeitete mit vier Arten von Sprache: (1) normale Sprache, (2) tiefpassgefilterte Sprache, bei der die höheren Töne herausgefiltert werden und nur die niedrigen Frequenzen hörbar sind, (3) hochpassgefilterte Sprache, bei der nur die hohen Frequenzen hörbar waren und (4) mittig geschnittene Sprache, in der nur der mittlere Bereich des Frequenzspektrums hörbar war. Ihre Ergebnisse zeigen, dass bei der normalen Sprache der Dialekt zu 100 % richtig erkannt wurde, zu 80 % bei tiefpassgefilterter und mittig 182 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch geschnittener Sprache und zu 60 % bei hochpassgefilterter Sprache. Das deutet darauf hin, dass niedrige Frequenzbereiche, also im Wesentlichen die Muster der Intonation, für die Erkennung wichtiger sind als die hohen Frequenzbereiche, die den Segmentangaben entsprechen. Ohala und Gilbert (1987) haben eine ähnliche Studie durchgeführt. Allerdings untersuchten sie dabei nur die Spracherkennung auf Basis der Intonation (tiefpassgefiltert). Sie arbeiteten mit L1-Sprechern und Sprecherinnen des Japanischen, Englischen und Kantonesischen und auch sie verwendeten ein Selektivmodell-- mit dem Risiko, dass die Teilnehmenden bei der Wahl raten könnten. Die korrekte Identifikationsrate aufgrund der Intonation reichte von 55 % für Englisch und Japanisch bis hin zu 64 % für Kantonesisch. Obwohl die Teilnehmer und Teilnehmerinnen bei ihrer Wahl unsicher waren, lagen sie überwiegend richtig. Das deutet darauf hin, dass die L1-Erkennung teilweise unbewusst erfolgt. Van Els und de Bot (1987) untersuchten ebenfalls die Rolle der Intonation bei der Erkennung der L1 in einem ausländischen Akzent. Sie ließen drei englische, drei türkische, drei französische und drei niederländische Frauen einen Text auf Niederländisch vorlesen. Die Sätze wurden auf zwei Arten verarbeitet: Monoton bei 175 Hz oder tiefpassgefiltert. Sieben Lehrer und Lehrerinnen, die Niederländisch als Zweitsprache unterrichten, wurden zur Beurteilung herangezogen. Für jeden Satz mussten sie zwischen den Optionen keine Ahnung, Niederländisch, Nicht-Niederländisch, Englisch, Französisch, Türkisch wählen. Die Erkennung der L1 scheint bei den normalen Texten machbar (68 % korrekt), aber weitaus geringer bei den tiefpassgefilterten (20 %) und bei den monoton verarbeiteten (43 %) Texten. Die aus unterschiedlichen Studien gesammelten Daten deuten darauf hin, dass die L1- Erkennung nicht allzu schwierig ist und dass sowohl segmentale als auch suprasegmentale Aspekte dabei eine Rolle spielen. Experiment Um den Effekt einer tiefpassgefilterten Sprache nachvollziehen zu können, können Sie eine Unterhaltung im Raum nebenan verfolgen. Wahrscheinlich können Sie nicht verstehen, was dort gesprochen wird, aber vermutlich können Sie erkennen, welche Sprachen gesprochen werden. Die Bewertung eines fremdsprachigen Akzents Die besondere Stellung der englischen Sprache als Lingua Franca hat den Blick auf Englisch und ausländische Akzente verändert (vergleiche Seidelhofer 2005). Da Verkehrssprachen hauptsächlich zwischen Nicht-Muttersprachlerinnen und Nicht-Muttersprachlern verwendet werden, ist eine perfekte Aussprache weniger notwendig: Kaum jemand verfügt über eine received pronounciation ( RP ), also das formale Standardenglisch). Die Sprache wird dafür verwendet, Dinge zu erledigen, wie zum Beispiel eine Geschäftsverhandlung oder ein Bewerbungsgespräch zu führen. Langfristig kann es sein, dass sich ein bestimmter ausländischer Akzent der englischen Sprache profiliert, aber bislang haben sie alle den gleichen Stellenwert, obwohl sie nicht unbedingt gleichermaßen verständlich sind. 183 5.2 Transfer Im Rahmen einer Studie zur Einstellung gegenüber Nicht-Muttersprachlern und Nicht- Muttersprachlerinnen mit unterschiedlichen L1-Sprachen (Griechisch und Deutsch) fand Beinhoff (2013) heraus, dass sich „die griechischen Lerner in Griechenland mit einem griechischen Englisch-Akzent mit weniger L1-Einfluss identifizierten und eine ziemlich schlechte Meinung von einem griechischen Englisch-Akzent mit eindeutigem L1-Einfluss hatten“ (238). Bei den deutschen Nicht-Muttersprachlerinnen und Nicht-Muttersprachlern konnte kein Effekt aufgrund des Niveaus der Akzentuierung festgestellt werden. „Es ist wahrscheinlich, dass deutsche Akzente im Englischen, ungeachtet ihrer Unterschiede hinsichtlich des L1-Einflusses, im Vergleich mit griechischen Englisch-Akzenten immer relativ nah an der englischen Sprache angelehnt klingen“ (Beinhoff 2013: 240). Experiment Ein interessantes Beispiel für den Transfer offenbart sich, wenn man den Umgang von Englischlernern mit Telefonnummern ansieht. Im Niederländischen spricht man die Zahl 665 409 wie folgt aus: Bei der dritten Ziffer wird also ein tiefer Ton produziert und bei der letzten Ziffer ein hoher. Bitten Sie nun einige Sprecher und Sprecherinnen Ihrer Sprache, diese Zahl vorzulesen und finden Sie heraus, wie das Intonationsmuster aussieht. Sprechen Sie außerdem mit einigen Sprecherinnen und Sprechern anderer Sprachen und bitten Sie sie, die Zahl in ihrer eigenen Sprache und auf Englisch vorzulesen. Wenn Sie Glück haben, dann werden Sie Spuren der anderen Sprache in deren Englisch vorfinden. Zu den unterschiedlichen Formen eines ausländischen Akzents und wie sie zur Erkennung der L1 beitragen wurde bereits geforscht. In der eingangs vorgestellten Definition des ausländischen Akzents von Jenner (1976) wurden auch paralinguistische Aspekte genannt. Ein größtenteils unerforschter aber potenziell interessanter Bereich der Sprache sind die Gesten. 184 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch 5.2.4 Gestik und Transfer Die Erforschung der Gesten im Zweitsprachenerwerb ist ein eher neues Studiengebiet (Gullberg 2011). Zwischen den suprasegmentalen Bereichen in Sprache und Gestik existieren interessante Parallelen, die sprachbezogene Handbewegungen genannt werden. Wir alle gestikulieren, während wir reden, selbst wenn wir am Telefon sind und für unseren Gesprächspartner nicht sichtbar sind. Sogar blind geborene Menschen gestikulieren, wenngleich in eingeschränkterem Maße als Sehende. Wir haben den Eindruck, dass Sprecher und Sprecherinnen mancher Sprachen mehr oder ausgiebiger gestikulieren als Sprecher und Sprecherinnen anderer Sprachen. Experiment Bevor Sie weiterlesen: Gehen Sie nach draußen, auf einen Markt, in ein Café oder an einen anderen gesellschaftlichen Treffpunkt. Beobachten Sie dort die Gestik der Menschen. Dort könnten Sie auf Menschen unterschiedlicher Herkunft treffen. Erkennen Sie Unterschiede in deren Gesten und denken Sie, dass Sie auf Basis der Gestik erkennen könnten, welche Erstsprache die Menschen sprechen oder aus welchem kulturellen Umfeld sie stammen? In Zusammenhang mit der Gestik existieren fest verankerte Stereotypen: Italienern und Italienerinnen sagt man nach, sie würden mehr gestikulieren und dabei mehr Raum einnehmen, wohingegen Schweden und Schwedinnen angeblich weniger und zurückhaltender gestikulieren. Wenn man die Beobachtungen allerdings unter kontrollierten Bedingungen durchführt, unterscheiden sich die beiden Nationalitäten nur geringfügig voneinander (Gullberg 1998). Zu Transferspuren zwischen Sprachen in Bezug auf Gesten wurde bereits geforscht. Anzeichen deuten darauf hin, dass ein Transfer sowohl von der L1 in die L2 als auch andersherum stattfindet. Das Hauptproblem dieser Forschung besteht darin, dass Gesten in einer bestimmten Sprache sehr schwer zu definieren sind. Es ist weitaus problematischer, Einheiten von Gesten zu definieren als Wörter oder Sätze. Sogar einfache Beschreibungen grundlegender Gesten sind komplex, weil die Bewegungen in drei Dimensionen stattfinden-- sogar in vier, wenn man die Bewegungsgeschwindigkeit noch mit einbezieht. Um also die Übertragung von Gesten zu messen, müssen wir zunächst definieren, was sprachspezifisches Gestikulieren ist. Im Rahmen einer Studie von Alferink (2008) wurden Videoaufnahmen von L1-Sprechern und Sprecherinnen der niederländischen, deutschen, französischen Sprache, sowie des britischen und des amerikanischen Englisch gemacht, während sie eine Geschichte nacherzählten. Die Aufnahmen wurden Gruppen von L1-Sprechern und Sprecherinnen dieser Sprachen ohne Ton vorgeführt. Sie mussten erraten, welche Sprache die unterschiedlichen Sprecher verwendeten. Die Ergebnisse zeigen einen sehr geringen positiven Einfluss: Die Zuschauer und Zuschauerinnen erkannten ihre eigene Sprache nur geringfügig oberhalb des Zufallswertes. Die eigene Sprache wird tendenziell besser erkannt als eine andere Sprache. In einer Folgestudie zur Erkennung eines ausländischen Akzents in Englisch als Zweitsprache ließ Hooijschuur (2014) Muttersprachler, sowie holländische Englischsprecher 185 5.2 Transfer und Sprecherinnen auf nahezu L1-Niveau und auf mittlerem Niveau dieselbe Geschichte aus der Alferink-Studie nacherzählen. Eine Gruppe britischer L1-Sprecher und Sprecherinnen sah die Videoaufzeichnungen ohne Ton und nur mit den Gesten an und musste sich bei jedem der 15 Sprecher entscheiden, ob es sich um einen L1-Sprecher beziehungsweise Sprecherin handelte. Zwischen den drei Gruppen konnten weder Unterschiede hinsichtlich der Art und Häufigkeit der Gesten festgestellt werden noch bei der Erkennungs-Trefferzahl. Es stellte sich heraus, dass die individuellen Unterschiede viel größer waren als die Gruppenunterschiede. Interessant bleibt die bislang unbeantwortete Frage, ob die Kombination von Sprache und Gesten den Erkennungsgrad über L1- und Nicht-L1-Sprecher beziehungsweise Sprecherinnen hinaus eher verbessert als nur die Sprache oder nur die Gesten. 5.2.5 Zusammenfassung ▶ Transfererscheinungen können alle Bereiche des Sprachsystems betreffen. ▶ Transfer kann positive oder negative Konsequenzen für die zielsprachliche Produktion haben. Bei negativem Transfer spricht man auch von Interferenz. ▶ Obwohl früher davon ausgegangen wurde, dass die meisten Lernerfehler auf einen negativen Transfer aus der L1 zurückzuführen wären, zeigten Forschungsergebnisse, dass nur ein Bruchteil der Fehler auf diese Art erklärt werden können. ▶ Die Aussprache ist oft von Transfer betroffen. ▶ Es gibt unterschiedliche Arten von ausländischen Akzenten, wobei in den aktuellen Forschungsansätzen zum ausländischen Akzent nicht nur linguistische, sondern auch paralinguistische Aspekte wie Gestik eine Rolle spielen. ▶ Ausländische Akzente sind leicht erkennbar, sowohl von L1als auch Nicht-L1-Sprechern und Sprecherinnen. ▶ Die Rolle der Gestik ist in Bezug auf die Erkennung von ausländischen Akzenten noch nicht klar definiert. 5.2.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Erklären Sie den Unterschied zwischen den Begriffen Fehleranalyse und Performanzanalyse. 2. Wie definiert man Fehler? Wenn Sie den englischen Satz I don’t want no peanuts hören, ist er dann Ihrer Meinung nach im Englischen fehlerhaft? Warum? 3. Wählen Sie einen englischen Text mit 300 Wörtern aus, zum Beispiel aus einem bekannten Wissenschaftsmagazin. Übersetzen Sie diesen in Ihre L1. Lassen Sie dann Google Translate denselben Text übersetzen. Vergleichen Sie die beiden Übersetzungen. Wodurch entstehen die Unterschiede? 4. In einigen Studien wurde herausgefunden, dass amerikanische Sprecher und Sprecherinnen aufgrund ihrer Gestik besser erkannt werden konnten als Sprecher und Spreche- 186 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch rinnen einer anderen L1. Gleichzeitig fällt es Amerikanern offensichtlich schwerer andere Sprachen auf Grundlage ihrer Gestik zu erkennen. Können Sie sich vorstellen, warum das so ist? 5. Die Intonation ist ein wesentlicher Teil der Sprache, allerdings ist sie schwierig zu unterrichten. Wie würden Sie Ihren Schülern und Schülerinnen dabei helfen, die Intonation zu verbessern? 187 5.3 Mehrschriftlichkeit und Transfer 5.3 Mehrschriftlichkeit und Transfer Claudia Maria Riehl In den vorherigen Lerneinheiten haben wir uns mit dem Aspekt des Code-Switchings und Transfers befasst. Diese Formen des Sprachenkontakts treten überwiegend im Gesprochenen auf. In der geschriebenen Sprache werden Übernahmen von der einen in die andere Sprache eher vermieden. Dennoch treten auch hier Wechselwirkungen zwischen den Sprachen in Erscheinung. Diese finden häufig auf der pragmatischen Ebene statt. In der folgenden Einheit wird zunächst auf den Begriff Mehrschriftlichkeit als wichtige Komponente der Mehrsprachigkeit in schriftorientierten Gesellschaften eingegangen. Danach wird Mehrschriftlichkeit im engeren Sinne (Biliteralismus) und im weiteren Sinne (Textkompetenz in zwei oder mehr Sprachen) thematisiert. Davon ausgehend werden zunächst die Wechselwirkungen von Schriftsprachkompetenzen diskutiert und es wird dargestellt, welche Fähigkeiten man beim Schreiben von Texten von einer auf die andere Sprache übertragen kann. Danach wird gezeigt, wie Formulierungsmuster und Textmuster übertragen werden. Schließlich wird auf die wechselseitigen Einflüsse beim Schreiben von akademischen Texten eingegangen. Den Abschluss der Lerneinheiten bildet ein Beispiel zur Sprachmischung im Sinne von Code-Switching in geschriebenen Texten. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ relevante Aspekte für die Entwicklung von Mehrschriftlichkeit benennen können; ▶ wissen, dass beim Schreiben Wechselwirkungen zwischen Erst-, Zweit- oder Drittsprache auftreten können; ▶ besonders beim Schreiben von akademischen Texten darauf achten, dass hier Übertragungen im Bereich von gesellschaftlich geprägten Mustern stattfinden; ▶ Transfererscheinungen auf verschiedenen Sprachebenen in verschiedenen Textsorten erkennen können. 5.3.1 Mehrschriftlichkeit als wichtige Komponente der Mehrsprachigkeit Im Rahmen der individuellen Mehrsprachigkeit spielen auch der mediale Aspekt der Sprachen sowie ihr Status eine wichtige Rolle. In vielen Darstellungen zur Mehrsprachigkeit wird immer wieder betont, dass Mehrsprachigkeit die Regel und Einsprachigkeit die Ausnahme sei (vergleiche Kapitel 1). Dabei wird aber oft übersehen, dass Mehrsprachigkeit besonders dort der Normalfall ist, wo verschiedene orale Kulturen zusammentreffen (zum Beispiel in Afrika, Neu Guinea, Südamerika) und der überwiegende Teil der Bevölkerung gar nicht alphabetisiert ist. Laponce (1984: 21) hat diesen Typus von oraler Mehrsprachigkeit als bilinguisme du mot bezeichnet und stellt ihn der komplexeren Mehrsprachigkeit in schriftsprachlich 188 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch orientierten Gesellschaften gegenüber, die er als bilinguisme du discours bezeichnet. Da dieser Typ von Mehrsprachigkeit schwerer zu erreichen sei, sei Mehrsprachigkeit in Schriftgesellschaften eher ein Privileg der Elite. In modernen urbanen Gesellschaften tritt nun häufig eine Mischung der Fälle ein: Sprecher, die auf der Ebene des mündlichen Ausdrucks mehrsprachig sind, tendieren auf der Ebene der Schriftlichkeit zur Einsprachigkeit, da ihnen oft der schulische Zugang zu ihrer Herkunftssprache nicht ermöglicht wird (vergleiche Riehl 2014: 121). Beherrscht ein Sprecher mehrere Sprachen im Bereich des schriftsprachlichen Ausdrucks, so spricht man von Mehrschriftlichkeit (in Anlehnung an den englischen Terminus multiliteracy). Dabei unterscheidet man einmal zwischen einer Alphabetisierung in zwei oder mehr Sprachen, das heißt das Beherrschen von unterschiedlichen Schriftsystemen und Orthographieregeln, zum anderen aber auch die schriftliche Ausdrucksfähigkeit in zwei Sprachen. Letztere geht weit über das reine Beherrschen des Schriftsystems und der Rechtschreibung hinaus. Denn hier muss man auch Ausdrucksweisen beherrschen, die im Mündlichen nicht vorkommen und die nicht nur ein elaboriertes Lexikon, sondern auch komplexe syntaktische Strukturen umfassen (sogenannte konzeptionelle Schriftlichkeit, siehe Lerneinheit 8.2 und unten). Weiter muss man auch bestimmte Muster eines Textes, etwa eine bestimmte Makrostruktur, einen bestimmten Stil, besondere Formulierungsmuster etc. kennen, die kulturspezifisch sind (vergleiche Riehl 2001). 5.3.2 Biliteralismus Wenn Schreiber oder Schreiberinnen unterschiedliche Schriftsysteme beherrschen, spricht man vom sogenannten Biliteralismus beziehungsweise von der Mehrschriftigkeit (Rosenberg & Schroeder 2016). Im einfachsten Fall haben die Sprachen das gleiche Schriftsystem (zum Beispiel die lateinische Schrift). Dann müssen die Lerner vor allem die unterschiedlichen Zuordnungen von Lauten und Buchstaben in den beiden Sprachen lernen, das heißt sie müssen die Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln für die jeweiligen Sprachen erwerben. Ein Beispiel: Ein Kind, das zweisprachig Deutsch-Portugiesisch alphabetisiert wird, lernt zum Beispiel, dass man den Laut [k] im Deutschen im Anlaut mit dem Graphem <k> (außer in Fremdwörtern) widergibt, während man ihn im Portugiesischen als <c> oder <qu> realisiert, oder dass man im Deutschen in der Regel den Laut [v] mit dem Graphem <w> bezeichnet und im Portugiesischen mit <v>. Außerdem lernt es, dass es ein k oder w im portugiesischen Schriftsystem gar nicht gibt (außer in Fremdwörtern). Erwerben nun die Sprecher das Schriftsystem in einer Sprache nicht, so übertragen sie die Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln von der Sprache, in der sie alphabetisiert worden sind, auf die andere Sprache. Grapheme, die es in der Sprache, in der sie alphabetisiert worden sind, nicht gibt, sind dann auch nicht bekannt. Die Schreiber müssen folglich für lautliche Ähnlichkeiten von Fall zu Fall eine Lösung suchen (vergleiche Maas 2008: 477ff). Hier ein Beispiel von einem neunjährigen Mädchen, das in einer ehemals deutschen Enklave in Südbrasilien aufgewachsen ist und von den Großeltern Deutsch gelernt hat. In der Schule findet einmal pro Woche eine Stunde Deutschunterricht statt, aber da lernen die Schüler nur einzelne Wörter und haben keine konkrete Unterweisung in die Orthographie. 189 5.3 Mehrschriftlichkeit und Transfer Eine Bildergeschichte von Vater und Sohn, die das Mädchen auf Deutsch verschriftlichen soll, gibt sie nun folgendermaßen wieder: Beispieltext 1 Ain tag volt dea Vater Luís ain Schlitten bauchen, das ada gemacht. Vora das feartig gemacht at, eza met zain quint Mário ronda guerocht bai der chene, nua vora unt va es in das cabot guebron, aba den vuada ai deg-mauli, on das quint blib roich. Vo das quint on der Vater, bai zain haus vant at der Vater doch gedat, voma doch ai haus fia die claine feichan man, non vo das feiedi va, amza ebais ezen ren getan onda am die claine feichan ge gecen. Standarddeutsche Entsprechung: Eines Tages wollte der Vater Luís einen Schlitten bauen. Das hat er gemacht. Wo er das fertig gemacht hat, ist er mit seinem Kind Mário runtergerutscht bei der Schnee (? ). Nun wo er unten war, ist ihm das kaputt gebrochen, aber dann wurde er arg dickmaulig, und das Kind blieb ruhig. Wo das Kind und der Vater bei seinem (= ihrem) Haus waren, hat der Vater doch gedacht: Wollen wir doch ein Haus für die kleinen Vögelchen machen. Nun wo das fertig war, haben sie etwas Essen rein getan und da haben die kleinen Vögelchen gegessen. In unserem Beispiel zeigt sich, dass die Schreiberin die Orthographieregeln des Portugiesischen vollständig imitiert (mit Ausnahme der Wörter Vater, das die Schreiberin vermutlich aus dem Unterricht kennt, und Schlitten, das an der Tafel angegeben war). So wird beispielsweise das deutsche <k> entsprechend mit der portugiesischen Schreibung als <c> (cabot = kaputt, claine = kleine) oder als <qu> (quint = Kind) realisiert und das portugiesische <v> ersetzt deutsches <w> (volt = wollt(e), vo = wo, vuada = wurde er). Auf weitere Besonderheiten dieses Textes kommen wir später noch zurück. Häufig müssen aber Mehrsprachige nicht nur unterschiedliche orthographische Konventionen, sondern sogar verschiedene Alphabete beherrschen (zum Beispiel das lateinische und kyrillische). In diesem Falle tritt bisweilen ein anderes interessantes Phänomen auf, nämlich Transfererscheinungen zwischen den einzelnen Schrifttypen. Das äußerst sich zum Beispiel darin, dass innerhalb eines Wortes Graphemmischungen vorkommen wie in folgendem Beispiel aus einem Brief eines russlanddeutschen Schreibers (vergleiche Berend & Riehl 2008: 34): In dem Wort Greмячинск (Gremjatschinsk) verwendet der Schreiber im ersten Teil des Wortes lateinische (Grem) und im zweiten Teil kyrillische Buchstaben (ячинск). Der Übergang könnte hier auch durch das Graphem м hervorgerufen sein, das es in beiden Schriftsystemen gibt (im Kyrillischen aber mit dem Lautwert [t]). Dieses bewirkt nun wiederum den Auslöseeffekt, den wir bereits beim Code-Switching beobachten konnten (vergleiche Trigger-Hypothese in Lerneinheit 5.1). Interessant sind auch Fälle von Graphemtransfer, bei denen ein Buchstabe in der gleichen Gestalt in beiden Schriftsystemen vorkommt, aber in dem jeweiligen System einen anderen Lautwert hat, zum Beispiel <c> im Deutschen mit 190 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch Lautwert [ts] oder [k] im Kyrillischen mit Lautwert [s]. Ein weiteres Beispiel aus dem gleichen Brief: Der Schreiber schreibt bic statt bis. Diese Formen von Graphemmischungen oder Graphemtransfer finden sich vor allem bei Sprechern und Sprecherinnen, die zwar verschiedene Schriftsysteme erworben haben, aber eine Schrift kaum mehr verwenden, wie das bei zahlreichen Sprachminderheiten der Fall ist (vergleiche Riehl 2014: 125 und Lerneinheit 1.2). Im Extremfall des Biliteralismus muss der Schreiber oder die Schreiberin sogar verschiedene Schrifttypen beherrschen: Eine Sprecherin oder ein Sprecher, die beziehungsweise der deutsch-chinesisch zweisprachig ist, muss dann eine Alphabetschrift und eine logographische Schrift (Bilderschrift) erlernen. Die logographische Schrift enthält Zeichen, die sowohl semantische als auch phonetische Elemente enthalten. Eine Zwischenposition nehmen sogenannte Silbenschriften ein (zum Beispiel Koreanisch oder Japanisch): Dort symbolisiert ein Zeichen jeweils eine Konsonant-Vokal-Kombination (dazu Dürscheid 2012: 71ff). Wie die Beispiele gezeigt haben, ist eine Grundvoraussetzung für Mehrschriftlichkeit der Erwerb des Schriftsystems und der Orthographienormen in den jeweiligen Sprachen. Um Kindern, die mit anderen Herkunftssprachen aufgewachsen sind, auch die Beherrschung der Schrift in ihrer Muttersprache zu ermöglichen, wurden verschiedene Programme entwickelt, eines davon ist die sogenannte Koordinierte Alphabetisierung (vergleiche Doyé & Héloury 2011). Dieses Modell sieht vor, dass Kinder bei ihrer Einschulung in der Mehrheits- und Schulsprache und in ihrer Herkunftssprache gleichzeitig Schreiben lernen. Dies wurde bislang vor allem in Sprachen durchgeführt, die sich einer Alphabetschrift bedienen (zum Beispiel Deutsch-Türkisch, Deutsch-Arabisch, Deutsch-Portugiesisch, Deutsch-Italienisch). Haben die Sprachen das gleiche Alphabet, wie etwa das lateinische, so kann ein Synergieeffekt erzielt werden, indem zuerst die Buchstaben eingeübt werden, die in beiden Sprachen den gleichen Lautwert haben. Dies geschieht in der Regel mit Anlauttabellen, die kontrastiert werden (vergleiche Beispiele bei Riehl 2014: 126). 5.3.3 Mehrsprachige Schriftkompetenzen (Mehrschriftlichkeit im weiteren Sinne) Wie wir gesehen haben, bezieht sich der Erwerb einer Sprache als Schriftsprache nicht nur auf das Erlernen des Alphabets und der Orthographie. Man muss beim Schriftsprachenerwerb darüber hinaus spezielle schriftsprachliche grammatische Strukturen lernen, die im mündlichen Diskurs nicht vorkommen. Ein Beispiel dafür sind etwa erweiterte Attribute wie in aufgrund der vom Kompetenzzentrum beschlossenen Maßnahmen. Man spricht hier von konzeptioneller Mündlichkeit und konzeptioneller Schriftlichkeit. Wie Sie in Lerneinheit 8.2 erfahren werden, geht diese Begrifflichkeit auf Koch und Oesterreicher (1994) zurück, die die konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit von der medialen Mündlichkeit und medialen Schriftlichkeit abgrenzen. Die mediale Dimension bezieht sich auf die Realisationsform der Äußerungen (phonisch versus graphisch), die konzeptionelle dagegen auf den Duktus, das heißt auf die Ausdrucksweise, die für die jeweilige Äußerung gewählt wird. Diese ist als ein Kontinuum angelegt, auf dem sich verschiedene Äußerungsformen und Textsorten relativ zueinander anordnen lassen. 191 5.3 Mehrschriftlichkeit und Transfer In der gesprochenen Sprache erfolgt die Verarbeitung der Äußerung on-line. Daher werden komplexere Einheiten in kleinere Einheiten zerlegt, das heißt die jeweiligen Segmente (Propositionen) werden aneinander gereiht (sogenannte Aggregation, siehe dazu Lerneinheit 8.2). Im Geschriebenen ist dagegen eine komplexere Strukturierung möglich, die Segmente werden hier ineinander geschachtelt (durch syntaktische Unterordnung, Nominalisierung, Infinitivkonstruktionen etc.). Dies bezeichnet man als Integration (siehe auch hierzu Lerneinheit 8.2). Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache zeigen sich aber nicht nur auf der Ebene der Informationsstrukturierung, sondern auch im Wortschatz und in der Art der Verknüpfung der Elemente (zum Beispiel in einer Erzählung mit reihendem und dann oder komplexen Gliederungssignalen). Die jeweiligen Merkmale lassen sich daher grob in die drei Bereiche Wortschatz, Syntax und Textverknüpfung einteilen (vergleiche Riehl 2001 und dazu die Überblickstabelle zu Merkmalen gesprochener und geschriebener Sprache in Einheit 8.2). Der Erwerb von Textkompetenz reicht aber noch weit über die Beherrschung der Strukturen konzeptioneller Schriftlichkeit hinaus. Um sich adäquat schriftlich ausdrücken zu können, muss man auch spezifische Textmuster in einer Sprache erlernen. Hier entwickelt jede Sprachbzw. Kulturgemeinschaft bestimmte Konventionen, die man im Allgemeinen als Diskurstraditionen (Oesterreicher 2008) bezeichnet. Die Texte besitzen einerseits bestimmte Makrostrukturen wie das Pro-contra-conclusio-Schema für argumentative Texte, andererseits bestimmte Formulierungsmuster, die typisch sind für eine bestimmte Textsorte: So gebraucht man beispielsweise in einer Gebrauchsanweisung im Deutschen als Aufforderungen Infinitive (den Behälter mit Wasser füllen) oder den höflichen Imperativ (Füllen Sie den Behälter mit Wasser). Deshalb ist es wichtig bei der Sprachvermittlung, neben Wortschatz und grammatischen Strukturen auch textmusterspezifische Konventionen sowie die jeweiligen Formulierungsmuster, die für bestimmte Textsorten typisch sind, mit den Schülerinnen und Schülern einzuüben. 5.3.4 Wechselwirkungen von Schriftsprachkompetenzen und Formen des Transfers Eine Reihe von Studien haben nun gezeigt, dass bestimmte Kompetenzen, die für das Schreiben von Texten notwendig sind, von einer Sprache auf die andere übertragbar sind (siehe Bialystok 2007). Das betrifft zunächst globale Kompetenzen wie etwa die Kohärenzkompetenz, Kontextualisierungskompetenz, Kommunikationskompetenz, Textoptimierungskompetenz und strategische Kompetenz (vergleiche Schmölzer-Eibinger 2011: 51ff). So haben einige Untersuchungen zum Schreiben bei Migrantenkindern gezeigt, dass die Kinder, die in ihrem Heimatland schriftsprachlich sozialisiert wurden, die Fähigkeit zur Bildung von Makrostrukturen besitzen, die auf die Zweitsprache übertragen werden können. So untersuchte etwa Knapp (1997) die Erzählkompetenz von Migrantenkindern in den Jahrgangsstufen 5-7. Bei der Analyse der Erzähltexte in der Zweitsprache Deutsch zeigte sich, dass Migrantenkinder, die bereits im Heimatland die Schule besucht hatten, eine höhere Text- und Erzählkompetenz im Deutschen besitzen als Schülerinnen und Schüler mit Migrationshinter- 192 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch grund, die in Deutschland eingeschult wurden. Ähnliche Ergebnisse zum positiven Einfluss der Unterweisung in der L1 bei Migrantenkindern finden sich auch in Studien, die in der Schweiz durchgeführt wurden, etwa von Caprez-Kompràk (2010) zu Schülern mit Türkisch oder Albanisch als L1 und von Schader (2006) zu albanisch-deutschen bilingualen Kindern. Im Projekt zur Mehrschriftlichkeit an der LMU München (www.mehrschriftlichkeit.daf. uni-muenchen.de) untersuchen wir die Wechselwirkungen beim Schreiben von Texten bei bilingualen Schülerinnen und Schülern mit Türkisch, Italienisch und Griechisch als Erstsprache. Hierbei zeigt sich, dass Wechselwirkungen von L1 und L2 beim Schreiben von Texten vorliegen. Diese äußern sich zum einen in der Übertragung der Makrostruktur: Die meisten der Probanden haben in ihrer L1 keine Unterweisung in argumentativen Texten. Daher übertragen sie Makrostruktur, Diskursmodus und auch die kommunikative Grundhaltung, die sie beim Schreiben von Texten im Deutschen gelernt haben (siehe Riehl, Barberio, Tasiopolou & Yilmaz- Woerfel demnächst). Neben der Übertragung von grundlegenden Textkompetenzen, von Makrostrukturen oder der kommunikativen Grundhaltung, übertragen mehrsprachige Schreiber auch Formulierungsmuster von der einen auf die andere Sprache. Ein markantes Beispiel ist die Kopie des Fokussierungsmusters im Italienischen c'è (es gibt, wörtlich ‚hier ist') beziehungsweise im Französischen il y a (es gibt, wörtlich ‚es hat hier') bei deutsch-italienischen oder deutsch-französischen bilingualen Schülerinnen und Schülern. Diese Formulierungsmuster werden im Französischen und Italienischen benutzt, um das Satzsubjekt in den Fokus zu stellen. Einige Schreiber lehnen sich an diese Muster an und verwenden eine entsprechende Fokussierungstechnik im Deutschen, nämlich die Konstruktion es + Verb. Damit erzeugen sie aber eine im Deutschen untypische Konstruktion wie Es hing an einer Rebe eine Traube oder Es ist im Jahre 2000, dass-[…]. Interessant ist, dass die Schreiber das Formulierungsmuster nicht 1: 1 übernehmen, sondern die Konstruktion analog mit Mitteln des Deutschen nachbilden. Es handelt sich damit um eine von der Kontaktsprache initiierte hybride Erscheinung (vergleiche Riehl 2001: 254f). Wenn mehrsprachige Schreiber bestimmte Formulierungsmuster in ihrer L1 in der Schule nicht erlernen, greifen sie auch häufig auf Formulierungsmuster zurück, die sie aus anderen Textsorten kennen, etwa im Falle der Gebrauchsanweisung auf die Muster eines Kochrezepts. Dort kann man statt des Infinitivs (siehe oben) auch die formelhafte Wendung mit man nehme verwenden. Vergleiche dazu folgendes Beispiel aus Ostbelgien, einem deutsch-französisch zweisprachigen Gebiet. Eine deutsch-französisch bilinguale Schreiberin verfasst die folgende Gebrauchsanweisung für eine Kaffeemaschine: Die Kaffeemaschine. Man nehme 2 Tassen und eine Maschine. Man nehme den Behälter und füllt ihn mit Wasser. Man nehme eine Filtertüte stecke sie in den Filter und fülle sie mit Kaffeepulver. Man drücke den Schalter und der Kaffee kocht von alleine. (aus Riehl 2001: 193) 193 5.3 Mehrschriftlichkeit und Transfer Auch dieses Beispiel unterstreicht wieder die Bedeutung, die das Einüben von Textsorten im Mutterwie Zweitbeziehungsweise Fremdsprachenunterricht hat und dass der Erwerb von Schriftlichkeit in einer Sprache auch Textkompetenz mit einschließt. 5.3.5 Mehrschriftlichkeit beim wissenschaftlichen Schreiben Ein wichtiger Forschungsbereich ist die Mehrschriftlichkeit im akademischen Kontext: Das wissenschaftliche Schreiben umfasst unterschiedliche, kulturspezifische Diskurstraditionen, die häufig beim Schreiben in eine Zweit- oder Drittsprache übertragen werden. In einer Vielzahl von kontrastiven Vergleichen im Bereich der Wissenschaftskommunikation, hier besonders zum Vergleich Deutsch-Englisch (zum Beispiel Clyne 1987), Deutsch-Französisch (Sachtleber 1993) oder zum Deutschen und Russischen (Breitkopf 2006), werden die kulturspezifischen Unterschiede beim akademischen Schreiben herausgestellt. Die Untersuchungen konzentrieren sich dabei vor allem auf Aspekte wie Makrostruktur, Stil, Selbstreferenz oder Subjektivität. Dabei wird deutlich, wie kulturspezifische Muster der Erstsprache das Schreiben in anderen Sprachen prägen (vergleiche Roche 2013: 28ff, Riehl 2014: 165ff). Ein weiteres Kriterium sind unterschiedliche gesellschaftliche Anforderungen an wissenschaftliche Texte, die im Wesentlichen durch die Schreiberversus Leserorientierung gekennzeichnet sind. Dies hat unter anderem Clyne bereits in den 80er Jahren festgestellt (vergleiche Tabelle 5.1). Anforderungstyp Orientierung Charakteristika Anforderung I Schreiberorientiertheit Texte sollen interessant, gehaltvoll, aufklärend sein Anforderung II Leserorientiertheit Texte sollen gut lesbar, verstehbar, knapp, präzise, wohlgeordnet sein Tabelle 5.1: Gesellschaftliche Anforderungen an Texte So hat etwa die angelsächsische Seite die zweite Anforderung kulturspezifisch stärker ausgeprägt, die deutsche (und auch romanische) Kultur die erste. In den von Clyne (1984, 1987) durchgeführten Analysen von Aufsatzratgebern (essay-writing manuals) stellte sich heraus, dass in anglophonen Ländern ein wesentlich stärkeres Augenmerk auf Linearität in der Diskursstruktur und auf Relevanz, das heißt enge Beschränkung auf das formulierte Thema, gelegt wird. Interessant in diesem Zusammenhang ist der Erwerb des akademischen Schreibens in der Zweitsprache bei Sprachstudierenden. Im Gegensatz zu amerikanischen Studien, die sich bereits in den späten 80er Jahren mit kontrastiven Studien zum studentischen Schreiben auseinandersetzten (vergleiche Connor 1996: 130ff), sind vergleichbare Studien für den deutschsprachigen Bereich eher selten. In der Untersuchung von Kaiser (2002) zu Unterschieden bei deutschsprachigen und spanischsprachigen Studierenden (in Venezuela) zeigte sich beispielsweise, dass spanischsprachige Schreiber viel stärkeren Wert auf die sprachlich-stilistische Ausformung ihrer Texte legen als die deutschen. Außerdem sind ihre Arbeiten stärker wertend 194 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch und es werden Gefühle zum Ausdruck gebracht (228). Die deutschsprachigen Studenten bemühen sich dagegen mehr um Objektivität und stellen die formale Richtigkeit (Zitieren, Quellenangaben) in den Mittelpunkt (177ff). In ihren Arbeiten werden auch Unsicherheit und Zweifel ausgedrückt (228). Daraus wird ersichtlich, dass Parameter wie Subjektivität und Objektivität im romanischen Kontext einen ganz anderen Stellenwert haben als im Deutschen (vergleiche Tabelle 5.2). Deutsche Schreiber Spanischsprachige Schreiber ▶ objektive Schreibweise ▶ stärker sprachlich-stilistisch orientiert ▶ viel Wert auf formale Richtigkeit (Zitieren, Quellenangaben) ▶ Wert auf Eleganz ▶ Unsicherheit und Zweifel kommen zum Ausdruck (scheinen, erscheinen, den Anschein haben) ▶ stärker wertend (pienso que, en mi opinión) ▶ Gefühle (me interessa, lo considero muy importante, me soprende que, lo más fascinante me parece) Tabelle 5.2: Gegenüberstellung deutsche und spanische Studierende (nach Kaiser 2002) In einer Untersuchung zum argumentativen Schreiben bei tschechischen DaF-Studierenden, haben Heinrich und Riehl (2011) festgestellt, dass es Unterschiede auf der Ebene der Makrostruktur, der kommunikativen Grundhaltung sowie der Ebene des Diskursmodus gibt. So schreiben etwa die tschechischen Studierenden Texte, die in die Textordnungsschemata linear-entwickelnd oder materialsystematisch einzuordnen sind (zu den unterschiedlichen Mustern, vergleiche Lerneinheit 5.2), während die deutschen Muttersprachler überwiegend das formal-systematische Muster verwenden (vergleiche Abbildung 5.1). Es gibt auch große Unterschiede im Bereich der Selbstreferenz. Wie wir in Lerneinheit 5.2 gesehen haben, gibt es hier drei verschiedene Typen: Selbstreferenz auf der Diskursebene: Ich-Kommentare in Form von Elementen der Leserführung (zum Beispiel im Folgenden werde ich-[…]), Selbstreferenz auf der Bewertungsebene: Ich-Kommentare in Form von Bewertung und Evaluation von Argumenten (ich bin der Meinung, dass; ich finde, dass) und Selbstreferenz auf der Darstellungsebene: Der Text enthält narrative Passagen, in denen der Schreiber über sich selbst berichtet. Während die deutschen Schreiber überwiegend nur auf der Ebene der Diskurssteuerung auf sich selbst referieren, weisen die tschechischen Studierenden vor allem auf den Ebenen der Meinungsäußerung und auf der Argumentationsebene einen hohen Prozentsatz an Selbstreferenz auf. Sie demonstrieren damit die kommunikative Grundhaltung der Involvierung, während die deutschen Schreiber eine Distanzierungsstrategie verfolgen (siehe Abbildung 5.2): 195 5.3 Mehrschriftlichkeit und Transfer Abbildung 5.1: Unterschiede in den Textordnungsschemata Abbildung 5.2: Unterschiede bei den Ebenen von Selbstreferenz Als Ursachen für diese kulturellen Unterschiede können zum einen unterschiedliche Kulturstandards (siehe auch im Band »Kultur- und Literaturwissenschaften«) angenommen werden-- wie Sachversus Personenbezug--, zum anderen sind diese Differenzen auch auf unterschiedliche Unterrichtstraditionen zurückzuführen. Denn es stellte sich heraus, dass in den tschechischen Schulen nicht die Textsorte Erörterung eingeübt wird, sondern eine Textsorte, die uváha genannt wird und etwa dem Typus Essay entspricht. Das bedeutet, dass die 196 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch Schüler und Schülerinnen hier gerade ihre persönlichen Meinungen mit einbringen. In der Erörterung dagegen wird die Distanzhaltung gegenüber dem Dargestellten eingeübt, so dass die Argumente als objektiv präsentiert erscheinen. Es spielt demnach für das Erlernen akademischen Schreibens eine wichtige Rolle, welche Textsorten mit welcher kommunikativen Grundhaltung im Schulunterricht vermittelt werden (vergleiche Heinrich & Riehl 2011). Diese Beispiele unterstreichen die Bedeutung, die das gezielte Einüben der im Deutschen üblichen Muster im universitären Unterricht des Deutschen als Fremdsprache hat. Das geht über die Vermittlung von Formulierungsmustern des argumentativen Diskurses und Fachtermini weit hinaus, da die Studierenden auch Einsicht in die kulturspezifischen Unterschiede etwa im Bereich der Objektivierungsstrategien bekommen müssen. 5.3.6 Mehrschriftlichkeit und Sprachmischung In den vorhergehenden Abschnitten konnten wir sehen, dass auch im Bereich der Schriftlichkeit ähnliche Prozesse ablaufen wie in der gesprochenen Sprache, nämlich dass Muster von einer Sprache auf die andere übertragen werden. Allerdings kommt es im Bereich des Schriftlichen zu weit weniger Transfererscheinungen im Bereich von Lexik und Grammatik als im Mündlichen. Da die Schriftlichkeit ein Bereich des monolingualen Sprachmodus (vergleiche Kapitel 2) ist und zudem mehr Zeit für Planungs- und Überarbeitungsprozesse zur Verfügung steht, werden vor allem lexikalische Übernahmen weitgehend vermieden, es sei denn sie sind in der jeweiligen mehrsprachigen Gemeinschaft bereits konventionalisiert. Allerdings sind Bedeutungsübernahmen und auch syntaktischer Transfer oft für die Sprecher nicht als solche erkennbar und treten daher auch in schriftlichen Texten auf (siehe Riehl 2001). Neben diesen Erscheinungen des Transfers gibt es auch Formen der Sprachmischung in geschriebenen Texten, die mit Code-Switching in spontaner gesprochener Rede vergleichbar sind (siehe Lerneinheit 5.1). Das Interesse an Code-Switching in geschriebenen Texten hat in den letzten Jahren in Zusammenhang mit der Kommunikation in den neuen Medien einen großen Aufschwung erfahren (vergleiche Sebba 2012). In diesem Kontext entstanden eine Vielzahl von Kommunikationsformen, die eine Zwischenstellung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit einnehmen, zum Beispiel E-Mail, Chat, Blogs, Twitter, SMS etc. (vergleiche etwa Androutsopoulos 2007, Dürscheid 2012). Hier zeigen sich dann auch viele Formen der Sprachmischung in Form von Code-Switching, die vorwiegend der mündlichen Kommunikation vorbehalten war. Im Folgenden finden Sie ein Beispiel aus einer asynchronen computervermittelten Kommunikation, nämlich aus einer privaten E-Mailkorrespondenz zwischen zwei befreundeten Frauen (A. mit L1 Deutsch und L2 Italienisch und B. mit L1 Italienisch und L2 Deutsch), die in ihren E-Mails grundsätzlich die beiden Sprachen mischen. Dadurch, dass die Sprecherin B. ihre Antworten in den Text von A. inseriert, entsteht eine Kommunikationsform, die eine Nähe zu einem Dialog gesprochener Sprache beziehungsweise zum Chat hat. Der Text der E-Mail von A. ist in Normalschrift, die Insertionen von B. sind in Kursive gesetzt (Beispiel aus unveröffentlichem Korpus 2013, Schreibung im Original): 197 5.3 Mehrschriftlichkeit und Transfer Beispieltext 2 (Text einer deutsch-italienisch bilingualen Schreiberin) Mia bella ['meine Schöne'] > Carissima, > mille grazie per il tuo email. ['Liebe, herzlichen Dank für deine Email'] Ich habe mich sehr darüber gefreut, > wieder von dir zu hören. Sono appena ritornata da Parigi - e sempre un bellissima > esperienza. Salutami C …! ['Ich bin gerade von Paris zurückgekommen - es ist immer wieder ein wunderbares Erlebnis. Grüße mir C.'] --Wir waren auch in Paris aber am 14 Juni fuer einen Tag. E' vero Parigi E´ TRAUMHAFT . ['Es ist wahr, Paris ist traumhaft.'] > Sfortunatamente al momento sono occupatissima al istituto, spesso anche di sera. ['Leider bin ich zur Zeit sehr beschäftigt am Institut, oft auch am Abend'] ---du, die Arme. > Schau, am 27en Juni kommen meine Eltern und sie fahren am 2en oder 3en July wieder ab, weil Daddy > sehr sehr busy ist. Ruf mich an wenn du kannst, und versuchen wir uns zu treffen. > wir werden uns viel daruf freune. > Anfang Juli wird es besser - ich rufe dich mal Ende nächster Woche an, ist das o. k.? ----okay bella. ['o.k. Schöne'] > Inzwischen alles Gute, > Abbraccioni ['Umarmung'] > ----dir auch alles Gute und ti saluta G. ['dich grüßt G.'] Baci baci (aus Riehl 2014: 140) Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, wie vielfältig die Kommunikation zwischen Bilingualen sein kann und dass man nicht nur im Mündlichen, sondern auch im Schriftlichen mit vielfältigen Sprachmischungs- und Transfererscheinungen bei Sprachlernern rechnen muss. 198 5. Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch 5.3.7 Zusammenfassung ▶ Mehrschriftlichkeit umfasst zunächst die Beherrschung der Schriftsysteme und der orthographischen Konventionen in den beteiligten Sprachen. ▶ Mehrschriftlichkeit im weiteren Sinne beinhaltet mehrsprachige Schriftkompetenzen, die sich zum einen in Formen der konzeptionellen Schriftlichkeit äußern, aber darüber hinaus auch bestimmte Textmuster umfassen, die auf kulturspezifische Diskurstraditionen zurückgehen. Diese äußern sich in einer bestimmten Makrostruktur, in der kommunikativen Grundhaltung oder in der unterschiedlichen Realisierung von nähe- oder distanzsprachlichen Formulierungsmustern. ▶ Bei Mehrschriftlichkeit kommt es zu wechselseitigen Einflüssen von einer Sprache auf die andere. Diese manifestieren sich zum einen im Transfer von Formulierungsmustern. Sehr häufig-- und das auch bei fortgeschrittenen Schreibern-- findet sich Transfer auf der makrostrukturellen Ebene des Textes. ▶ Der Transfer kulturspezifischer Diskurstraditionen zeigt sich auch beim akademischen Schreiben. Hier werden besonders von akademischen Novizen Muster, die in der Erstsprache im schulischen oder auch universitären Kontext erworben wurden, auf die L2 übertragen. ▶ Ein besonderes Merkmal von Mehrschriftlichkeit ist Code-Switching in Texten. Diese kommt vor allem in Textsorten vor, die der konzeptionellen Mündlichkeit nahestehen und zeigt ähnliche Phänomene wie in gesprochener Sprache. 5.3.8 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Erläutern Sie, was ein Lerner sich aneignen muss, um eine Schriftsprachkompetenz in einer zweiten oder dritten Sprache zu erreichen. 2. Beschreiben Sie, auf welchen Ebenen Textmuster von einer Sprache auf die andere übertragen werden. 3. Worin besteht der hauptsächliche Unterschied im Wissenschaftsstil zwischen dem Deutschen einerseits und dem Englischen andererseits? Beschreiben Sie ausgehend von den Beispielen in der Lerneinheit die Bereiche, in denen studentische akademische Texte sich in verschiedenen Sprachen unterscheiden. Auf welchen Ebenen nehmen Sie Transfer von L1 auf L2 an? 4. Erläutern Sie folgendes Beispiel zur Sprachmischung in einem deutsch-türkischen Chatroom (aus Androutsopoulos & Hinnenkamp 2001: 14) und beschreiben Sie deren Funktion. <C> Korkdum senden [du machst mir angst] <C> nayn mach ich nih [nein, mach ich nicht] <B> niye lo [= niye lan, dt. warum Mann] <B> haste kein tv? <C> nayn [nein] 199 5.3 Mehrschriftlichkeit und Transfer 6. Sprachvariation Wie bereits in anderen Einheiten (vergleiche Lerneinheiten 1.1 und 1.2) erläutert wurde, kann man Sprachen aus zwei Blickwinkeln betrachten: Sprache als soziales Werkzeug und Sprache als Teil des kognitiven Systems des Einzelnen. Wir werden feststellen, dass Varietäten von Natur aus Teil der beiden Betrachtungsweisen von Sprache sind. Jede Sprache wird an verschiedenen Orten und von unterschiedlichen Sprachgemeinschaften verwendet. Deshalb finden sich in der Sprache spezielle Merkmale wieder, die nur an bestimmten Orten oder in bestimmten sozialen Gruppen vorkommen. Außerdem kann jeder Einzelne über gewisse sprachliche Elemente verfügen, die nur in seinem oder ihrem Repertoire vorkommen. Sprachen weisen daher Variation über eine breite Spanne von geografischen und sozialen Umfeldern auf- - definiert durch Regionen, Städte, soziale Klassen und Gruppen, Alter, berufliche oder organisatorische Zugehörigkeit, Geschlechter, Familien, Individuen und so weiter. Diese Codes werden Varietäten genannt. Darüber hinaus variieren Sprecher Sprache kontextspezifisch oder in sprachlichen Aktivitäten unterschiedlicher Art, indem sie den Code je nach Situation, Zeitpunkt und Umgebung wechseln. Dieses Phänomen nennen wir Variabilität. Sie kann intra-individuell oder inter-individuell sein. Zum Beispiel unterscheidet sich der Code, den man verwendet, um einem Freund oder einer Freundin einen Brief zu schreiben, je nach Gemütszustand und Leistungsfähigkeit. Genauso unterscheidet er sich von dem Code, der zum Verfassen eines wissenschaftlichen Artikels für einen unbekannten Gutachter benötigt wird. 200 6. Sprachvariation 6.1 Variation und Variabilität aus einer dynamischen Perspektive Jala Garibova (übersetzt von Simone Lackerbauer), Jörg Roche & Svenja Uth In Lerneinheit 2.2 haben Sie sich mit der Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Mehrsprachigkeit beschäftigt. In den Lerneinheiten 6.2 und 6.3 werden Sie sich mit regionalen Varietäten (auch Dialekte oder Regiolekte genannt) und sozialen Varietäten (auch Soziolekte genannt) beschäftigen. Sie machen die innere Mehrsprachigkeit eines jeden Individuums aus, wurden aber lange Zeit nicht in Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit betrachtet. In dieser Lerneinheit widmen Sie sich wesentlichen Aspekten der Betrachtung von Variation und Variabilität. Variation und Variabilität sind grundlegende Themen für die Auseinandersetzung mit komplexen dynamischen Systemen (Lowie & de Bot 2015, auf dem diese Lerneinheit zum Teil basiert; zum Modell des komplexen, dynamischen Systems siehe Kapitel 4 und 5). Die Haupteigenschaften der dynamischen Systeme sind die Vernetzung ihrer Subsysteme, die Abhängigkeit von den Ausgangsbedingungen und die Interaktion unterschiedlicher Variablen im Verlauf der Zeit. Variation und Variabilität sind das Ergebnis davon, dass eine Vielzahl an Variablen im Zeitablauf miteinander interagieren und so Mehrsprachigkeit beeinflussen. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ Varietäten in Abgrenzung von Standardsprachen identifizieren können; ▶ unterschiedliche Quellen und Funktionen von Varietäten erkennen; ▶ Sprachvariation beziehungsweise Variabilität auf der sozialen und auf der individuellen Ebene als Komponenten von Mehrsprachigkeit reflektieren lernen. 6.1.1 Sprachvarietäten definieren Jede Sprache bildet in der Verwendung durch ihre Sprecher Varietäten aus und zwar in zeitlicher, räumlicher und soziokultureller Hinsicht, genauso wie nach ihren Kommunikationsbedingungen. Dabei zeigt sich sprachliche Variation auf allen Ebenen: im Wortschatz, in der Aussprache, in der Grammatik sowie in der Pragmatik. Coseriu (1988a, 1988b) schlägt für die Varietätenlinguistik die Metapher der „Spracharchitektur“ vor. Dabei bildet die Architektur die Gesamtheit aller Varietäten einer Sprachgemeinschaft ab, wobei diese von einer Dachsprache überdacht werden. Die Standardsprache ist demnach die übergeordnete, autonome Varietät, die von der gesamten Sprachgemeinschaft akzeptiert wird. Sprachen bestehen, wie eingangs erwähnt, immer aus verschiedenen Varietäten, die sich aufgrund verschiedener Kriterien und vor allem durch den Sprachgebrauch und aus der Sprachgeschichte herausgebildet haben. Innerhalb der Spracharchitektur nehmen Varietäten den Status von Subsystemen an, die von Coseriu (1988b) auf Grundlage ihrer 201 6.1 Variation und Variabilität aus einer dynamischen Perspektive Verschiedenheit in drei große Kategorien eingeteilt werden: Diatopik, Diastratik und Diaphasik. Unter diatopischer Varietät versteht man die sprachliche Variation im Raum, die sogenannten regionalen Varietäten beziehungsweise die Dialekte einer Sprache (vergleiche Lerneinheit 6.2). Diastratische Variation hingegen bezieht sich auf die Variation im sozialen Kontext. Durch den Sprachgebrauch innerhalb verschiedener sozialer Gruppen, die sich hinsichtlich Bildung, Alter, Beruf oder gesellschaftlicher Schicht etc. unterscheiden können, entstehen sogenannte Soziolekte, wie zum Beispiel die Jugendsprache (vergleiche Lerneinheit 6.3). Die dritte Kategorie bildet die diaphasische Variation, die auf die unterschiedlichen Kommunikationsbedingungen verweist und in verschiedenen Stilen resultiert. Ein wesentlicher Einflussfaktor für diaphasische Variation ist das Medium der Kommunikation (Schriftlichkeit gegenüber Mündlichkeit) (zu Mündlichkeit und Schriftlichkeit siehe Lerneinheit 8.2; vergleiche Coseriu 1988b). Varietäten zu identifizieren ist keine leichte Aufgabe. Wir werden dabei mit vielen Fragen konfrontiert, die schwer oder gar nicht zu beantworten sind, zum Beispiel: „Welche Kriterien bestimmen, wo die Grenzen einer Sprachvarietät gesetzt werden: Wo beginnt sie-- bei einem Einzelnen, in einer Familie, einer sozialen Gruppe, einer Sprachgemeinschaft, einer Ethnie oder etwa in einer Nation? “-- „Wie weit muss sich ein Code vom akzeptierten Standard entfernen, um als eine Varietät identifiziert werden zu können? “-- „Sollten wir schon geringfügige Abweichungen als eine Art von Varietät betrachten-- wenn zum Beispiel eine Familie einen besonderen Stil hat oder ein Einzelner einen spezifischen Sprechstil verwendet, oder wie können wir Stil und Variation abgrenzen? “-- „Sollten Sprachwissenschaftler und Sprachwissenschaftlerinnen sich stets an der politisch behafteten Grenzen einer Sprache oder eines Dialekts orientieren, oder sollten sie über ihre eigenen Kriterien verfügen, um diese beiden Typen zu definieren? “- - „Stehen (Standard-)Sprachen in einer hierarchisch ausgerichteten Beziehung zu ihren Varietäten und belegen sie somit die Spitze der Pyramide, oder repräsentieren sie einfach die Summe ihrer unterschiedlichen Varietäten? “-- „Handelt es sich bei einem Dialekt um eine bestimmte durch den Kontext, die Situation oder die Zeit bedingte Instanz einer Sprache, oder ist er vielmehr die unabhängige soziokulturelle Umsetzung einer Sprache? “- - „Sollten das individuelle Sprachverhalten (Idiolekte) als Untersuchungsgegenstand in die Erforschung der Sprachvarietäten mit einbezogen werden? “- - „Sollten eine zeitliche (diachrone) Sprachvarietät als ebenso legitim betrachtet werden wie eine räumliche (synchrone) Sprachvarietät, um Daten zu sozialen Faktoren zu erheben; können also historische Variablen (zumindest teilweise) hinzugezogen werden, um Variablen des gegenwärtigen sozialen Verhaltens zu erklären? “-- und so weiter. Wardhaugh nennt noch weitere Schwierigkeiten bei der Definition einer Sprachvarietät (2006: 35ff). Sogar wenn wir eine Varietät auf eine Sprachgemeinschaft begrenzen und festlegen, dass wir eine Varietät als etwas innerhalb dieser Grenzen definieren können-- eigentlich eine einfache Aufgabe-- stoßen wir dennoch auf Mehrdeutigkeiten. Obwohl eine bestimmte Varietät mehr oder weniger sinnvoll innerhalb der Grenzen einer Sprachgemeinschaft identifiziert werden kann, besteht das sprachliche Repertoire der Gemeinschaft aus weitaus mehr als nur dieser einzigen Varietät: Die (oder einige) Mitglieder der Gemeinschaft beherrschen mehrere andere Varietäten, verwenden sie in bestimmten Situationen und wechseln den 202 6. Sprachvariation Code, wenn die Situation oder das Thema es erfordert. Sollen wir dann also festlegen, dass das gesamte Sprachrepertoire oder das Sprachverhaltensmuster dieser Gemeinschaft eine bestimmte Varietät repräsentiert? Wenn wir diese breite Definition einer Varietät ablehnen und uns auf einen einzelnen Code (zum Beispiel auf einen Dialekt) im Repertoire dieser Gemeinschaft konzentrieren, woraus besteht dann das Gesamtrepertoire und wie sollten wir es definieren? Wardhaugh lenkt die Aufmerksamkeit auch auf Mehrdeutigkeiten, die aufgrund von politisch begründeten Definitionen von Sprache im Unterschied zu Dialekt aufgeworfen werden (Wardhaugh 2006: 26ff). Beispiele dafür sind in der Tat zur Genüge vorhanden. Zum Beispiel unterscheiden sich die Sprachen im Westen und im Osten der Türkei viel mehr als die Varietäten, die sich entlang des Dialektkontinuums von Ostanatolien (Türkei) durch das gesamte Aserbaidschan hindurch erstrecken. Trotzdem sprechen wir im ersten Fall von einer Sprache (Türkisch) und im zweiten Fall von zwei Sprachen (Türkisch und Aserbaidschanisch). Abbildung 6.1: Türkische Varietäten (Wikipedia 2017), Batı Rumeli: ,Westrumelien‘ (im Norden Bulgariens); Dog˘ u Rumeli: ,Ostrumelien‘ (im Süden Bulgariens); Batı Anadolu: ,Westanatolien‘; Dog˘ u Anadolu: ,Ostanatolien‘; Suriye: ,Syrien‘; Irak: ,Irak‘ Doch bevor diese Fragen und Bedenken angegangen werden können, besteht das größte Problem bei der Definition einzelner Varietäten natürlich in der Schwierigkeit zu definieren, was eine Sprache überhaupt ist. Diese Frage hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass sich 203 6.1 Variation und Variabilität aus einer dynamischen Perspektive mehrere Definitionen für Sprache herausgebildet haben: Sprache als ein Kommunikationsmittel, Sprache als Ausdruck von Emotionen, Sprache als ein Kanal zur Übermittlung von Informationen, Sprache als Ausdruck der Identität, Sprache als Menschenrecht etc. Sie alle definieren Sprache in Bezug auf ihren Zweck. Für unseren Zweck wäre es sinnvoll, zwei der oben genannten Betrachtungsweisen von Sprache zu berücksichtigen: Sprache als ein System und Sprache, die in oder durch Varietäten existiert. Wie jedes andere System, ist das Sprachsystem hierarchisch angeordnet. Es verfügt über Subsysteme und bedingt wechselseitige Beziehungen und Interaktionen zwischen ihren Elementen. Im Gegensatz zu anderen Systemen ist das Sprachsystem jedoch unstet und veränderlich (siehe Lerneinheit 4.1). Natürlich weisen auch andere Systeme Veränderungen aufgrund von zeitlichen, örtlichen und umweltbedingten Faktoren auf. Aber alle anderen Systeme erlauben die exakt gleiche Umsetzung ihrer konstituierenden Elemente in unterschiedlichen Kontexten. In einem Sprachsystem ist dies jedoch so gut wie unmöglich: Keine zwei Äußerungen eines bestimmten Lauts (sogar von derselben Person) werden jemals genau gleich sein; ebenso wenig werden zwei Begrüßungen in derselben Kultur innerhalb eines Zeitfensters identisch sein etc. Der postmoderne Ansatz zur Sprache stellt tatsächlich die Ontologie der Sprache an sich in Frage, wie Pennycook (2007: 60f) anhand von unterschiedlichen Beispielen erläutert. Harris (1990: 45) stellt beispielsweise infrage, ob Sprache überhaupt einem bestimmten oder bestimmbaren Untersuchungsgegenstand entspricht- - sozial oder individuell, institutionell oder psychologisch gesehen. Hopper (1998: 157f) argumentiert andererseits, dass es keine natürlich festgelegte Sprachstruktur gibt und dass Sprecher und Sprecherinnen sich in großem Maße auf ihre vorherigen Erfahrungen in ähnlichen Umständen, zu ähnlichen Themen und mit ähnlichen Gesprächspartnern beziehen. Hopper behauptet auch, dass Systematik eine Illusion ist, die dadurch produziert wird, dass häufig verwendete Formen sich in vorläufigen Subsystemen teilweise manifestieren oder sedimentieren (1998: 157f). Wenn wir diesen postmodernen Ansatz weiterverfolgen, dann müssten wir den Begriff Varietät eliminieren und den Gegensatz zwischen Standardsprache und Varietäten streichen, denn die Sprache an sich würde dann als Anhäufung sich ständig verändernder Varietäten verstanden werden. Aber welche Faktoren bestimmen eigentlich einen Standard-- insbesondere, wenn es dazu keine ausdrückliche Referenz in der entsprechenden Sprachpolitik oder der Gesetzgebung gibt? Ist es die Macht, der Ort, sind es die wirtschaftlichen Mittel? Prestige, Demografie, Religionszugehörigkeit? Schreibsystem, Kodierung, Modernität? Spielen diese Faktoren alle zusammen eine Rolle oder einzeln? Was ist, wenn diese Faktoren gleichmäßig über mehrere Varietäten verteilt sind-- welche wird und sollte dann als Standard ausgewählt werden? Außerdem handelt es sich bei der Standardsprache eher um ein theoretisches als um ein praktisches Phänomen: Es ist schwer vorstellbar, dass irgendeine Sprachvarietät, die als Standard akzeptiert oder etabliert wurde, verwendet wird, ohne dass sich dabei Veränderungen und Varianz manifestieren (sowohl synchron als auch diachron). Wird die Standardsprache als Erstsprache gelernt? Wenn wir annehmen, dass der (Erst-)Sprachenerwerb aus Kommunikation und sprachlichem Handeln resultiert, können wir nicht davon ausgehen. Wie sollte man mit diesem Paradox der Stabilität im Angesicht der Veränderbarkeit umgehen? 204 6. Sprachvariation Die Ambiguität in der Gegenüberstellung von Standardsprache und Varietät bringt verschiedene Ansätze dazu hervor, wie eine Standardvarietät definiert werden kann. In seinem Versuch, eine Sprache von einer Varietät zu unterscheiden, bezieht sich Hudson (1993: 30ff) zum Beispiel auf die beiden Aspekte Anwendungsverbreitung und Prestige. Das heißt, dass die Sprache im Gegensatz zu ihren Dialekten weiter verbreitet ist und ein höheres Ansehen genießt. Wardhaugh (2006: 26) berichtet von der vielfältigen Wahrnehmung der Standardsprache im Vergleich zu Varietäten in mehreren Sprachgemeinschaften. Im Angesicht dieser Mehrdeutigkeiten sollten wir eigentlich gewillt sein, die Definition einer Standardsprache im Gegensatz zu ihren Varietäten abzulehnen-- zumindest aus sprachwissenschaftlicher Sicht. Aber ist das für unseren Ansatz immer sinnvoll? Wir machen uns augenscheinlich Gedanken dazu, was Standards sind, denn sie helfen uns dabei, viele unserer praktischen Ziele effizienter und mit weniger Aufwand zu erreichen. Außerdem beschützen sie uns vor Anarchie, Chaos und Unvorhersehbarkeit. Auch wenn es Gründe für die postmoderne Ablehnung von tatsächlichen Standardsprachen gibt, werden wir eine fiktive Standardsprache festlegen müssen, weil wir sie benötigen. Die Frage lautet daher nicht, wie wir die oben erwähnte Gegenüberstellung als Sprachphänomen beseitigen, sondern vielmehr, wie wir mit den Varietäten vor dem Hintergrund der bestehenden expliziten oder impliziten Vorherrschaft von Standardsprachen umgehen. Da Varietäten den menschlichen Faktor in einem größeren Maße als Standardsprachen miteinbeziehen, ist ihre Berücksichtigung in sprachwissenschaftlichen Untersuchungen zunächst ein ethisches Thema: Jede Varietät repräsentiert einen Komplex aus identitätsbezogenen und menschenrechtlichen Aspekten eines Einzelnen oder einer Gruppe. Aber die Frage hat auch eine praktische Seite: Unsere Bemühungen in den Bereichen Erziehung, Bildung, Sprachplanung etc., die sich mit der Verwendung und der Entwicklung von Sprachen beschäftigen, werden umso effizienter sein, wenn wir uns auf die Sprache beziehen, wie sie in der Praxis Anwendung findet. Dennoch möchten wir versuchen, den Standard als überlagernde Varietät zu verstehen, die überregional, kodifiziert und institutionalisiert ist und sich vor allem in der Schriftsprache äußert. 6.1.2 Quellen und Funktionen von Sprachvariation Eine der grundlegenden Fragen zur Variation der Sprache beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen zwischen etablierten Varietäten. Laut Coulmas (2013) könnte ebendiese Tatsache ein Grund dafür sein, dass die Soziolinguistik entstanden ist: Why linguistic distinctions are maintained in the face of both homogenization pressure and the opportunities offered by uniformity is one of the key questions that brought the discipline of sociolinguistics into existence. Efficiency of communication, considered an important evolutionary advantage of the human species, would seem to call for a reduction, if not elimination, of potentially disruptive distinctions in the speech of individuals and groups. Yet, such distinctions persist. (Coulmas 2013: 7) Das führt uns zu einer weiteren Frage, nämlich, ob Sprachvariation stets von stabilen sozialen Faktoren motiviert ist. Tatsächlich zeigt sich in der Mehrzahl der Fälle, dass die sozialen 205 6.1 Variation und Variabilität aus einer dynamischen Perspektive Faktoren zu den wichtigsten gehören. Gleichberechtigte Varietäten stehen in Konkurrenz zueinander und steuern keiner Vereinheitlichung zu, es sei denn, es bildet sich eine überdachende Sprache aus. Wenn ihre Gleichwertigkeit nicht durch den Faktor Macht oder Prestige gestört wird, kann die Vielfalt besser aufrechterhalten werden. Dabei sollte die wichtige Rolle der Sprachpolitik nicht vernachlässigt werden. Die Urbanisierung ist ein Beispiel dafür, dass Prestige und Macht bei der Vereinheitlichung wesentliche Antriebsfaktoren sind: Ländliche Gemeinschaften, die in die Städte umsiedeln, werden ihre Dialekte eher ablegen als solche Gemeinschaften, die in ihrem begrenzten Umfeld verbleiben. Tendenziell kann aber festgestellt werden, dass die letztere Gruppe sehr selten geworden ist. Varietäten zeigen in der heutigen Zeit eher den Trend, sich in Richtung Standard zu bewegen, wodurch vor allem regionale Varietäten tendenziell zugunsten einer regionalen Umgangssprache, die großräumiger angelegt ist, weichen. Dabei muss aber beachtet werden, dass Varietäten auch immer Ausdrucksmittel der Identität sind und sogar einen identitätsstiftenden Charakter aufweisen. Gumperz stellt dazu fest: In highly stratified societies such as the caste societies of India, it is quite possible for people to be in constant and regular communication over long periods of time without adopting each other’s speech patterns. It would seem that communication leads to uniformity only when there is both the possibility and the desire for social assimilation. Where social norms put a premium on social distinctness, linguistic symbols of such distinctness tend to be maintained. (Gumperz 1967: 228) Umgekehrt kann aber auch der Wunsch nach einer gemeinsamen Identität dazu führen, dass sich zwei Varietäten einander annähern: For the present purposes the important thing to note is that mental dispositions such as the desire for assimilation (or division) influence language change. Desires and the willingness to adhere to, or breach, social norms make a difference, since it is by virtue of its members having desires and preferences that the speech community creates and perpetuates its language. This is testimony to the intrinsically mental character of language. (Coulmas 2013: 7) Am Beispiel der Ethnolekte (siehe Lerneinheit 7.1) kann man sehr gut erkennen, dass die Sprache ein wichtiges Mittel ist, um zum einen die eigene Identität nach außen zu tragen und zum anderen eine gemeinsame soziale beziehungsweise ethnische Identität zu manifestieren. Experiment Ethnolektsprecher und Ethnolektsprecherinnen (vergleiche Lerneinheit 7.1) sind Mitglieder einer bestimmten ethnischen Gruppe. Ethnolekte sind sehr häufig dadurch gekennzeichnet, dass Elemente aus den Familiensprachen übernommen werden. Gibt es in Ihrem Umfeld so etwas wie einen Ethnolekt? Wenn ja, dann versuchen Sie eine Diskussion oder ein Gespräch zwischen Ethnolektsprechern und Ethnolektsprecherinnen (zum Beispiel in der U-Bahn) zu beobachten und versuchen Sie dabei, Hinweise auf die unterschiedlichen Sprachen zu finden, die in dieser Gemeinschaft interagieren. Möglicherweise werden Sie die Hilfe einiger Ihrer Informanten und Informatinnen benötigen, um herauszufinden, worum es geht. 206 6. Sprachvariation Häufig kann beobachtet werden, dass nicht nur zwei Sprachen miteinander vermischt werden, sondern mehrere „Einwanderersprachen“ gemeinsam mit dem Deutschen zu einem Ethnolekt verschmelzen. Dabei haben Sie bei Ihrem Experiment sicher auch gemerkt, dass der Sprechrhythmus im Vergleich zu anderen Varietäten derselben Sprache ungewohnt klingt und im Bereich des Wortschatzes häufig Gesprächspartikel oder besonders oft vorkommende Lexeme, wie etwa Mann oder geil in einer anderen Sprache realisiert werden. 6.1.3 Zum Verhältnis zwischen Sprachvariation und Variabilität Sprachvariation auf gesellschaftlicher oder sprachsystematischer Ebene erzeugt Variabilität auf individueller Ebene. Das heißt, Mitglieder einer Sprachgemeinschaft greifen nach Bedarf auf verschiedene Varietäten zurück, um in unterschiedlichen Situationen effizient zu kommunizieren. Wenn wir Variabilität aus der Perspektive der Theorie komplexer dynamischer Systeme betrachten, erkennen wir außerdem, dass unterschiedliche Faktoren stets in Wechselwirkung zueinanderstehen. Wir können das anhand von einer einfachen Übung sehen, etwa wenn ein Sprachenlerner eine kurze mündliche Präsentation hält. Dabei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle, so zum Beispiel das Kompetenzniveau, der Zeitdruck, das Selbstbewusstsein, die Komplexität des Themas, der Vorbereitungsaufwand und die Interaktion mit dem Publikum. Andere und eher weiter entfernte Faktoren, so wie das allgemeine Befinden, die Umgebungstemperatur und der Gesprächspartner oder Gesprächspartnerinnen können ebenfalls eine Rolle spielen. Die Person könnte sich gut vorbereitet haben und das Thema gut kennen, dann aber aufgrund des Zeitdrucks nervös werden, was wiederum ihre Haltung und ihre Stimmung beeinflussen kann. Sie könnte auch aufgrund einer persönlichen Angelegenheit besorgt sein, oder weil ihr Rad einen Platten hat. Der Einfluss keiner dieser Faktoren ist von Dauer. Sie wirken vielmehr phasenweise und beeinflussen sich gegenseitig. Man könnte argumentieren, dass einige der Aspekte der Variabilität post hoc erklärbar sind (Ich kann nachvollziehen, dass sie eine schlechtere Leistung abgeliefert hat, weil während des Referats Löcher durch die Decke gebohrt wurden). Allerdings ergibt eine Aufreihung der einzelnen Bestandteile des Settings und des Systems keine vollständige Beschreibung der Muster von Variabilität. Die Theorie der komplexen dynamischen Systeme eröffnet Soziolinguisten und Soziolinguistinnen eine neue Perspektive. Sie berücksichtigt die Sprachverarbeitung auf der individuellen Ebene und untersucht Sprachvariation sowie Variabilität in einem dynamischen, multifaktoriellen Kontext. Nach diesen Modellen interagieren mehrere Faktoren im Verlauf der Zeit miteinander und erzeugen so unvorhersehbare Sprachvariation und -variabilität. Außerdem können kleine individuelle Unterschiede zu einem bestimmten Zeitpunkt einen größeren Effekt auf die Sprachentwicklung haben (vergleiche Verspoor, de Bot & Lowie 2011: 19). Deshalb sollten bei der Untersuchung von sprachlicher Variation nicht nur regionale oder soziale Varietäten berücksichtigt werden, sondern auch Idiolekte, also die individuelle Varietät des Einzelnen, die sich aus verschiedenen Merkmalen mehrerer Varietäten zusammensetzt. 207 6.1 Variation und Variabilität aus einer dynamischen Perspektive 6.1.4 Sprachvariation und Sprachwandel Jede Sprache durchläuft ständig Entwicklungsprozesse und ist einem stetigen Wandel ausgesetzt (siehe Roche 2005: 140ff, worauf der folgende Abschnitt teilweise beruht). Diese Prozesse sind nicht immer leicht zu bemerken, wenn man mit und in einer Sprache lebt. Am ehesten lassen sich die stetigen Veränderungen der Sprache beim Wortschatz und bei den Redewendungen feststellen, etwa in der Jugend- oder Mediensprache. Eine Betrachtung der Veränderungen von Sprachformen aus der Distanz (diachrone Betrachtung) macht deutlich, wie stark sich Sprachformen mit der Zeit verändern (Sprachwandel). Diese Veränderungen zeigen sich in der Schrift, der Aussprache, der Bedeutung von Wörtern und den grammatischen Strukturen. Zur Illustration hier eine Variation des Klassikers ‚Wilhelm Tell‘ von Friedrich von Schiller. Die erzählenden Teile lehnen sich an Schillers Originaltext an. Die direkten Redeteile sind in einer neueren Variante realisiert. Diese entspricht zwar nicht der heutigen Standardsprache, drückt aber deutlich den Generationenunterschied zwischen den beiden Texten aus. Abbildung 6.2: Sprachvariation am Beispiel Wilhelm Tell: die literarische Sprache des Originals in den Einleitungs- und Übergangspassagen, die Szenesprache der 80er und 90er Jahre in den Dialogen (Claus & Kutschera 1985: 272) 208 6. Sprachvariation Für die Zwecke des Sprachenerwerbs besonders interessant sind die ganz frühen Phasen der Sprachentstehung, weil deutlich wird, dass sich dort ähnliche Entwicklungsprozesse abgespielt haben oder abspielen wie im Sprachenerwerb. Wie in diesem Band bereits gezeigt wurde, bestehen die ersten Phasen von Sprachenentwicklung und Sprachenerwerb aus einem Wechselspiel von loser und starker Grammatikalisierung, dem wechselnden Bezug zu einem pragmatischen oder syntaktischen Modus (siehe Kapitel 3). Dabei bleiben bestimmte sprachliche Fossilien zurück, archaische Sprachstrukturen, wie sie besonders in Gedichten, Liedern oder auch in Orts- und Eigennamen zu finden sind. Der folgende Auszug aus einem authentischen Interview mit zwei Bergleuten im Ruhrgebiet illustriert, nach welchen Aspekten die Entwicklung des Wortschatzes erfolgen kann. Die beiden ehemaligen Bergleute B und S werden in dem Interview von I über die Entwicklung der Bergmannsprache im Ruhrgebiet befragt. Beide nennen verschiedene Begriffe für den gleichen Gegenstand, einen Förderschacht, der keinen direkten Ausgang nach draußen hat (Blindschacht, Stapel, Aufbruch, Gesenk). In Zeile 13 gibt B einen Hinweis auf die sozial bedingte Wahl des Ausdrucks Blindschacht als einem Element der Sprache der Vorgesetzten. Von dieser Sprache und anderen Varianten der Umgangssprache hebt sich der Ruhrdialekt der beiden Bergleute stark ab, wie das Beispiel zeigt. Bei Sprecher B wird an einzelnen Stellen deutlich, dass er zwischen Dialekt und Umgangssprache wechseln kann (zum Beispiel dat / das), möglicherweise um sich der hochdeutschen Varietät des Interviewers anzupassen. Das Interview ist zur besseren Verständlichkeit in Partiturschreibweise verschriftlicht und in Bezug auf die Grammatik oder Lautung nicht verändert. Es finden sich in umgangssprachlich typischer Weise auch unvollständige und überlappende Formen und nicht abgestimmte Äußerungen der beiden Interviewten. Unverständliche Teile des Interviews sind in Klammern ( ) angegeben. Dieses Interview ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Sprachwissenschaftler und Sprachwissenschaftlerinnen sich ihre Quellen zugänglich machen-- oft ein schwieriges Unterfangen des Zugangs zu authentischen Daten und ihrer Verarbeitung. Auch wenn sprachliche Variation im Fremdsprachenunterricht nur auswahlweise behandelt werden kann, muss eine Lehrkraft bei der Diagnose, der Auswahl des Sprachmaterials, beim Feststellen von Parallelen in Ausgangs- und Zielsprache und bei der Korrektur von Fehlern die Reichweite der Sprachvariation kennen. Variantenreichtum ist ein grundlegendes Merkmal der lebendigen und authentischen Sprache. Diese Authentizität zu vermitteln, ist daher auch eines der wichtigsten Anliegen des kommunikativen Sprachunterrichts und eine der wichtigsten Grundlagen der kognitiven Linguistik. Sprache soll in ihrem natürlichen Umfeld und in ihrer ganzen Breite dargestellt werden. Durch eine künstliche Vereinfachung fallen wichtige Elemente der natürlichen Sprache weg. Elemente, die so wichtig sind, dass ein Kommunizieren ohne sie in der Fremdsprache kaum möglich ist. Wenn Authentizität im Unterricht ein Ziel ist, muss zwischen den Bedingungen der Zielsprache und den jeweiligen Möglichkeiten des Lerners mit viel Fingerspitzengefühl und Kenntnis der zielsprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten vermittelt werden. Dies gelingt am ehesten mit authentischen Texten, die eine dem Entwicklungsstand der Lerner entsprechende reduzierte Komplexität aufweisen. Hierfür eignen sich manche Werbetexte oder Zeitungsüberschriften ausgezeichnet. 209 6.1 Variation und Variabilität aus einer dynamischen Perspektive Abbildung 6.3: Transkript eines Interviews mit zwei Bergleuten im Ruhrgebiet (Schlickau 1995: 105f) 210 6. Sprachvariation 6.1.5 Zusammenfassung ▶ Jede Sprache variiert in zeitlicher, räumlicher und soziokultureller Hinsicht, genauso wie nach ihren Kommunikationsbedingungen. ▶ Sprachliche Variation kann also aus drei Perspektiven betrachtet werden: Diatopik (geographische Variation), Diastratik (soziale Variation) und Diaphasik (mediale Variation). ▶ Sprachliche Variation äußert sich auf allen Ebenen der Sprachbetrachtung: im Wortschatz, in der Aussprache, in der Grammatik sowie in der Pragmatik. ▶ Unter Sprache verstehen wir die Gesamtheit ihrer Varietäten, die von einer übergeordneten Sprache überdacht werden. ▶ Standardsprachen sind der Versuch, Sprachen zu normieren und linguistische Anarchie zu verhindern. ▶ Varietäten sind Kulturträger und Ausdruck von Identität. Dabei kann der Wunsch nach Assimilation zu Annäherungen von Varietäten führen. ▶ Sprachvariation ist eine natürliche Erscheinung, die sowohl auf der Gruppenals auch auf der Individualebene stattfindet. ▶ Sprache unterliegt einem ständigen Wandel. ▶ Variantenreichtum ist ein grundlegendes Merkmal der lebendigen und authentischen Sprache und sollte daher auch im Fremdsprachenunterricht eingesetzt werden. 6.1.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Denken Sie an Ihre eigene Erstsprache. Handelt es sich dabei um den Standard in der Region, in der Sie leben? Warum ist sie dort die Standardsprache- - oder eben nicht? Nennen Sie drei Faktoren, die bei dieser Definition eine Rolle spielen. 2. Wir haben einige der komplexen Fragen zur Beschaffenheit von Sprache behandelt. Wir haben ebenfalls festgestellt, dass viele von ihnen nicht beantwortet werden können. Wie haben diese von Soziolinguisten gestellten Fragen die Wahrnehmung von Sprache in den letzten Jahren beeinflusst? 3. Indem er Bezug darauf nimmt, dass unser Verstand mehr Varietäten wahrnimmt als wir sprechen, sagt Wardhaugh: „Unsere rezeptiven sprachlichen Fähigkeiten sind viel größer als unsere produktiven sprachlichen Fähigkeiten“. Bitte erläutern Sie diese Prämisse. 4. Wodurch wird die Verwendung des Begriffs ‚Code‘ in Abgrenzung von ‚Sprache‘ in der Soziolinguistik notwendig? 211 6.2 Regionale Varietäten 6.2 Regionale Varietäten Jala Garibova (übersetzt von Simone Lackerbauer) & Svenja Uth In dieser Einheit stellen wir Ihnen das Konzept regionaler Varietäten vor und führen die grundlegenden Begriffe zu regionalen Varietäten ein. Sie werden erfahren, unter welchen Bedingungen sich Regiolekte bzw. Dialekte entwickeln und ausbreiten, welche Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Varietäten existieren und wie ein Dialektkontinuum und Abweichungen von der erwarteten Norm begründet werden. Außerdem lernen Sie die Kriterien kennen, anhand derer Dialekte von Standardsprachen abgegrenzt werden können. Wir werden die konzeptuellen Herausforderungen ansprechen, die sich bei der Definition von Dialekt und Varietät im Allgemeinen ergeben. Sie werden auch Gelegenheit haben, sich mit der Vielfalt regionaler Varietäten und ihrer Entstehung und Funktion auseinanderzusetzen. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ Ihre eigene Definition von Dialekt im Gegensatz zu Sprache erarbeiten und Ihre Annahmen auf Beispiele aus der Sprachumgebung stützen, mit der Sie vertraut sind; ▶ die Bedingungen, zu denen sich regionale Varietäten herausbilden und verbreiten, erklären können; ▶ den Begriff ‚Isoglosse‘ erklären und Beispiele für Isoglossen nennen können; ▶ den Unterschied zwischen ‚Abstandsprache‘ und ‚Ausbausprache‘ verstehen und Beispiele für die beiden Typen nennen können; ▶ über den Einfluss der Variable Zeit auf die Entstehung regionaler Varietäten nachdenken. 6.2.1 Grundlegende Begriffe: Dialektkontinuum, Isoglossen und Grenzlinien Personengruppen, die innerhalb einer großen geografischen Fläche eine Sprache sprechen, entwickeln innerhalb eines Raumes verschiedene Realisierungsformen dieser Sprache, die in der Aussprache, der Morphologie, dem Lexikon, der Syntax etc. variieren. So entstehen regional bestimmbare Varietäten, die innerhalb der Grenzen eines deutlich kleineren Raumes, etwa in einem Dorf, einer Siedlung oder einer Stadt in dieser geografischen Lage bestehen. Die regional bestimmbaren Varietäten bezeichnet man allgemein auch als Dialekt oder Mundart und die übergeordnete Sprache bezeichnen wir im weiteren Verlauf als Standard oder Standardvarietät (vergleiche dazu kritisch die vorangegangene Lerneinheit). Wenn in uns sofort eine Assoziation mit einem Staat oder mit einer Gemeinschaft erzeugt wird, in der eine bestimmte Sprache eindeutig und eigenständig verwendet wird, dann sollten wir uns Folgendes vorstellen können: Für jede dieser Sprachen beziehungsweise Standardvarietäten existieren regionale Varietäten, die graduell von Norden nach Süden und von 212 6. Sprachvariation Westen nach Osten in dieser Gemeinschaft oder in diesem Staat verlaufen. Diese Art der linearen Ausbreitung ist typisch für regionale Variation. Regionale Varietäten einer Sprache, die sich innerhalb der Grenzen eines Staates oder einer Gemeinschaft ausbreiten, stehen also in einem linearen Verhältnis, das wir Dialektkontinuum nennen. Ein Dialektkontinuum deutet die Kette an, die Dialekte aufgrund ihrer wechselseitigen Verstehbarkeit, innerhalb einer Standardvarietät bilden. Dabei sind an den beiden Enden der Kette jeweils Dialekte zu finden, die Extreme darstellen und deren Sprecher sich nicht unbedingt problemlos verständigen können, aber durch die dazwischenliegenden Varietäten verbunden sind. An diesem Punkt müssen wir mit zwei Anmerkungen zur Vorsicht warnen. Üblicherweise verbinden wir mit Sprache das Konzept der Standardvarietät, denn für viele muss eine Sprache bestimmte Kriterien erfüllen, wie eine gewisse Sprecheranzahl, oder dass eine Sprache in allen Situationen verwendet werden kann (zum Beispiel im Alltag, auf dem Amt, in der Wissenschaft oder in der Literatur). Ein Sprachsystem, das nicht in allen möglichen Bereichen vollständig funktional ist, hat in der Regel eine übergeordnete Standardvarietät, die diese Zwecke erfüllt. Aber: Wenn wir es mit einem Sprachsystem zu tun haben, das nicht an einen „großen Bruder“ im Sinne einer Standardvarietät angegliedert ist, können wir es trotzdem mit einer Sprache zu tun haben. So betont Fishman, dass nicht alle Sprachen über Standardvarietäten verfügen (1972: 19). Die chinalugische Sprache beispielsweise, die von nur mehr etwa 2000 Menschen im nördlichen Gebirge in Aserbaidschan gesprochen wird und weder über einen offiziellen Status noch ein entwickeltes Schreibsystem verfügt, ist dennoch eine eigene Sprache. Oder die samischen Sprachen, die in Nordeuropa gesprochen werden (unter anderem Inarisamisch, Kemisamisch, Pitesamisch), werden als Sprachen klassifiziert, obwohl viele von ihnen stark gefährdet sind und manche von weniger als 100 Menschen gesprochen werden. Deshalb sollte sich unsere Definition einer etablierten und vollständig funktionalen Sprache nicht auf die bekannten Sprachen beschränken. Als Sprachwissenschaftler und Sprachwissenschaftlerinnen verstehen wir, dass die Varietäten einer Sprache politische oder anderweitig auferlegte Grenzen überschreiben, da die Entwicklung oder Ausbreitung einer Sprache in erster Linie ein natürlicher Prozess ist-- unabhängig davon, ob die Politik daran beteiligt ist oder nicht. Weiterhin sollten wir beachten, dass Dialekte nicht immer in einem linearen Verhältnis innerhalb oder über politische Grenzen hinweg stehen. Regionale Varietäten einer Sprache können sich auch in nicht angrenzenden und nicht benachbarten Gebieten finden. Beispiel dafür ist Französisch, das in Frankreich und Kanada gesprochen wird, oder die internationalen Varietäten der englischen Sprache, die world englishes genannt werden (siehe Trudgill 2002: 147ff). Eine Besonderheit stellen zudem die geschlossenen Sprachgemeinschaften dar, die innerhalb einer anderssprachigen Mehrheit auftreten, wie beispielsweise die deutsche Sprachgemeinschaft in Zimbern im Trient oder die Siebenbürger Sachsen in Rumänien. Diese nennen wir Sprachinseln. Warum bildet eine Sprache-- nun im weiteren Sinne-- überhaupt einen solch graduellen Transfer von einer Form zu einer anderen heraus, anstatt stabil und fixiert zu bleiben? Warum kommt es vor, dass Elemente einander innerhalb einer Sprache ersetzen, die sich entlang einer dialektalen Linie oder entlang mehrerer solcher Linien erstrecken? Wir können ein- 213 6.2 Regionale Varietäten deutig feststellen, dass diese Faktoren sowohl auf individuellen als auch auf soziokulturellen Phänomenen beruhen. Dabei wird deutlich, dass die Faktoren, die an einer solchen Veränderung beteiligt sind, nie oder selten rein sprachlicher Natur sind. Eine Sprache bleibt deshalb nicht stabil und fixiert, weil sie in einem bestimmten natürlichen oder soziokulturellen Umfeld mit spezifischen Faktoren existiert oder vorkommt. Das bedeutet jedenfalls, dass sich das Kontinuum auch verändert und es sich so neue natürliche und soziokulturelle Besonderheiten aneignet. Sprachen entwickeln sich nach ihrer geografischen Umgebung. Dialektkontinuen erstrecken sich über unterschiedliche Geografien und Umweltbedingungen, die den Lebensstil beeinflussen und dadurch auch den Kommunikationsstil. Klimaverhältnisse werden als ein Faktor betrachtet, der hauptsächlich Auswirkungen auf die Lautstruktur hat. Dialektkontinuen erstrecken sich auch über und durch verschiedene Gemeinschaften, die homogen oder heterogen sein können, reich oder arm, fortschrittlich oder rückständig, und so weiter. Wie sich eine Variante einer Sprache entlang eines Dialektkontinuums formt, hängt auch von der Art des gemeinschaftlichen Lebensstils sowie von der Intensität des Sprachenkontakts und vielen anderen ähnlichen Faktoren ab. In der Schweiz spiegeln Änderungen im schweizerdeutschen Dialektkontinuum beispielsweise Einflüsse der angrenzenden Gemeinschaften innerhalb und außerhalb des Landes wider. Während sich in den Dialekten nahe der französischen Grenze (zum Beispiel die deutschen Dialekte im Wallis) Einflüsse aus den franko-provenzalischen Sprachen zeigen, übt die italienische Sprache Einfluss auf die Dialekte (zum Beispiel die deutschen Dialekte in Bosco / Gurin) in den Gebieten an der Grenze zu Italien aus (vergleiche Rash 2002: 126). Weitere Beispiele stammen aus anderen Regionen, etwa in bestimmten Dörfern in den Vororten von Baku (im Osten von Aserbaidschan). Dort stehen die Taten und die Aserbaidschaner in regelmäßigem Kontakt, da es an diesen Orten tatische Dörfer gibt. Sprecher der aserbaidschanischen Sprache weisen phonetische und lexikalische Merkmale auf, die denen der tatischen Sprache ähneln. Die südlichen Dialekte der aserbaidschanischen Sprache, die entlang der aserbaidschanischen Grenze mit Iran existieren, weisen Laute und Lexeme auf, die der persischen Sprache nahe sind. Der Unterschied zwischen zwei unmittelbar benachbarten Dialekten ist nicht so deutlich erkennbar wie der Unterschied zwischen weiter auseinanderliegenden Punkten entlang des Kontinuums. Das heißt, dass ein Dialekt gleichmäßig und fließend in den nächsten übergeht. Deshalb ist die Grenze nicht scharf oder abrupt. Andererseits können die Dialekte an zwei sehr weit auseinanderliegenden Punkten entlang des Kontinuums füreinander gegenseitig unverständlich sein. Sprachmerkmale von zwei benachbarten Dialekten werden von Isoglossen getrennt. Der Begriff Isoglosse bedeutet, dass eine Grenze zwischen zwei Sprachmerkmalen existiert und damit zwei identifizierbare Varianten eines Sprachmerkmals. Es kann beispielsweise eine relativ klare Linie in Deutschland gezogen werden, wo auf der nördlichen Seite das Wort machen als maken (mit [k]) realisiert wird und südlich davon machen (mit [x]). Treffen viele dieser Isoglossen, bezogen auf verschiedene Merkmale, aufeinander, spricht man von einem Isoglossenbündel. Dialekte werden also durch Isoglossenbündel abgegrenzt. Die Benrather Linie (vergleiche Abbildung 6.4) trennt beispielsweise Hochdeutsch und Niederdeutsch. Auf der nördlichen Seite der Benrather Linie werden dieselben Wörter 214 6. Sprachvariation mit [k, p, t] ausgesprochen, die auf der südlichen Seite eher mit [x / ç, f / p ͜ f und s] realisiert werden. Während im oberdeutschen Teil die Lautverschiebung vollständig stattgefunden hat und hier ausschließlich [x / ç, f / p ͜ f und s] realisiert wird, fand die Lautverschiebung im mitteldeutschen Gebiet nicht komplett statt (vergleiche Tabelle 6.1). Deshalb gibt es innerhalb des hochdeutschen Sprachraumes eine weitere Grenze: die Germersheimer Linie (vergleiche Abbildung 6.4). Abbildung 6.4: Der deutsche Sprachraum: Benrather und Germersheimer Linie (nach Protze 2001: 514) Niederdeutsch ik Pund dat Hochdeutsch Mitteldeutsch ich Pund dat / das Oberdeutsch ich Pfund das Tabelle 6.1: Lautverschiebung am Beispiel ich, Pfund und das 215 6.2 Regionale Varietäten Experiment Ein Heimatmuseum in Ihrer Gegend hat Sie als ansässigen Sprachwissenschaftler beziehungsweise Sprachwissenschaftlerin darum gebeten, eine Übersicht zu zwei benachbarten Dialekten Ihrer Sprache zu erstellen. Arbeiten Sie hierfür mit einem Kollegen oder einer Kollegin zusammen und suchen Sie mindestens fünf Informanten oder Informantinnen aus jeder Dialektgruppe. Befragen Sie Ihre Informanten oder Informantinnen, zeichnen Sie die Interviews auf, hören Sie Ihnen genau zu und notieren Sie die Unterschiede. Versuchen Sie dabei Beispiele für Variationen auf allen sprachlichen Ebenen (Lexik, Morphologie, Syntax, Phonetik und Pragmatik) zu finden. Interpretieren Sie Ihre Ergebnisse und präsentieren Sie die Resultate auf einem Plakat, das das Heimatmuseum in die Ausstellung integrieren kann. Stellen Sie auch Hörbeispiele für die einzelnen Merkmale zur Verfügung. Auf der Webseite www.regionalsprache.de/ atlanten-und-karten.aspx finden Sie eine ausführliche Übersicht über online verfügbare Sprachatlanten. 6.2.2 Konzeptuelle Herausforderungen Wie wir bereits gesehen haben, ist ein Dialekt kein eigenständiges Phänomen, und es ist wirklich sehr schwer, fast schon unmöglich, zu erkennen, an welchem Punkt ein Dialekt zu einem anderen wird. Es scheint einfacher zu sein, über einzelne Elemente innerhalb eines Dialekts zu sprechen, anstatt über den Dialekt als Ganzes: Es ist beispielweise einfacher, zwei Lexeme zu unterscheiden, die dasselbe Phänomen beschreiben, oder zwei Varianten von einem Laut zu identifizieren und voneinander zu unterscheiden. Ein Beispiel dafür sind die parallel existierenden Laute [n] und [ ŋ ], die im englischen Suffix {-ing} verwendet werden (etwa [ ɹi: dɪŋ ] und [ ɹi: dɪn ] für die Realisierung des Verbs reading). Sprachliche Merkmale mit solchen identifizierbaren Varianten werden Variablen genannt. Obwohl wir den Begriff Linie verwenden, um die Änderungen entlang eines Dialektkontinuums zu erklären, verläuft die Linie an sich nicht immer gerade und nicht ohne Rückschritte. Auf einem Dialektkontinuum, auf dem beispielsweise acht Dialekte von A bis H aufgereiht sind, ist es möglich, dass E (oder Elemente davon) aus irgendeinem Grund mehr Ähnlichkeit mit A (oder Elementen davon) aufweisen als mit D (oder Elementen davon). So zeigen etwa Heeringa und Nerbonne: Trotz der traditionellen Dialektologie, die ein Dialektkontinuum mit den Augen eines Reisenden sieht, der eine gerade Linie geht und sukzessive kleine Änderungen bemerkt, während er von Dorf zu Dorf geht, zeigen die Grenzen etablierter Dialekträume trotzdem große Abweichungen von der angenommenen aggregierten Distanz in der Aussprache (vergleiche Heeringa & Nerbonne 2001: 375). Weiterhin haben wir es nicht immer mit linearen Kurven zu tun und solche Distanzen sind nicht einfach kumulativ (vergleiche Heeringa & Nerbonne 2001: 389). Auch die Definition einer Sprachengrenze muss kritisch reflektiert werden. An welchem Punkt eines Dialektkontinuums betreten wir ein neues Dialektkontinuum oder- - einfach gesagt-- einen neuen Sprachraum? Da es bei einem Dialektkontinuum üblicherweise so ist, 216 6. Sprachvariation dass zwei benachbarte Dialekte fast untrennbar und vollständig gegenseitig verständlich sind: Ist es ein realistisches, logisches und machbares Phänomen, von einer Sprache in die nächste an der Grenze zweier Dialekte überzugehen? Gibt es anerkannte oder erkennbare Grenzen, die eine Sprache oder einen Dialekt von einem anderen unterscheiden? Sprach- und Sozialwissenschaftler beziehungsweise Sprach- und Sozialwissenschaftlerinnen müssen ebenfalls abwägen, ob solche Sprachgrenzen (wenn es sie denn gibt), die von varietätsspezifischen Sprachmerkmalen gebildet werden, immer mit den politisch-administrativen Abgrenzungen übereinstimmen, oder ob sie mit solchen Abgrenzungen auch kollidieren können. Wir werden noch sehen, dass es für die Antwort auf diese Frage nötig ist, eher die sozialen als die sprachlichen Faktoren miteinzubeziehen. Fasold behauptet: „Sprachwissenschaftlern ist es nicht gelungen, die Kriterien zu bestimmen, anhand derer Sprachen von Dialekten oder anderen Sprachsystemen unterschieden werden können“ (2005: 697). Zunächst stellen wir fest, dass sowohl eine Sprache als auch ein Dialekt Varietäten eines Sprachsystems sind, innerhalb dessen sie eine jeweils spezifische Position einnehmen. Fishman weist darauf hin, dass Varietät im Vergleich zu Sprache neutral und unvoreingenommen ist (1972: 15ff). In diesem Fall kann der Begriff Varietät sowohl Sprache als auch Dialekt ersetzen, egal ob sozial (hier hätten wir es mit einem Soziolekt zu tun) oder regional oder beruflich. Aber in welchem Fall bezeichnen wir eine Varietät als Sprache und in welchem als Dialekt oder Soziolekt? Der einfachste Maßstab wäre, wenn wir ein weiterentwickeltes Sprachsystem einem weniger entwickelten gegenüberstellen. Allerdings kann auch an dieser Stelle manipuliert werden. Denn ob ein Sprachsystem als Sprache oder als Varietät gewertet wird, hängt zum Großteil von der politischen Struktur und der sozialen Einstellung ab. Wardhaughs Anmerkung (2006) dazu ist an dieser Stelle interessant: If we turn our attention to China, we will find that speakers of Cantonese and Mandarin will tell you that they use the same language. However, if one speaker knows only Cantonese and the other only Mandarin, they will not be able to converse with each other: they actually speak different languages, certainly as different as German and Dutch and even Portuguese and Italian. If the speakers are literate, however, they will be able to communicate with each other through a shared writing system. They will almost certainly insist that they speak different dialects of Chinese, not different languages, for to the Chinese a shared writing system and a strong tradition of political, social, and cultural unity form essential parts of their definition of language. (Wardhaugh 2006: 32) 6.2.3 Sprache versus Dialekt: Abstandsprache und Ausbausprache Die intrinsische Distanz ist eine Grundlage, auf deren Basis eine Sprache von einem Dialekt unterschieden werden kann. Die Varietät, die aus ihrem Dialektkontinuum herausfällt und unverständlich wird, kann als Sprache identifiziert werden. Auf dieser Grundlage hat Kloss (1967) die Unterscheidung zwischen einem Dialekt und einer Sprache vorgenommen, wobei er Sprachsysteme, die (offenbar nach einer gewissen Entwicklungszeit) Distanz zu den Varietäten aufweisen, mit denen sie einst zusammen ein Dialektkontinuum gebildet haben, Abstandsprache nennt. Solche Sprachsysteme werden von Kloss als Sprachen bezeichnet 217 6.2 Regionale Varietäten (nicht als Dialekte). Der Sprachabstand lässt sich anhand der Unterschiede im Lexikon, in der Aussprache, in der Morphosyntax und anhand des Grades der wechselseitigen Verstehbarkeit bestimmen. Im Rahmen dieses Separationsprozesses von seinem ehemaligen Dialektkontinuum bildet ein solches Sprachsystem jedoch neue Arten der Varietäten heraus und wird somit Teil einer neuen Dialektgruppe. Die deutsche und die englische Sprache sind beispielsweise historisch gesehen einander näher und haben in einer dialektalen Beziehung gestanden. Später jedoch haben sie sich allmählich voneinander entfernt, da sie zu vollwertigen Sprachen geworden waren und sodann als Abstandsprachen in einem neuen Verhältnis zueinander standen. Während diese Systeme zu Sprachen werden, indem sie sich von ihren ehemaligen Dialektkontinuen abtrennen, kommt es im natürlichen Prozess des Sprachwandels zu neuen Varietäten dieser Sprache. Wir sehen jedoch, dass das Kriterium des Sprachabstandes nicht ausreicht, um einen Dialekt von einer Sprache zu unterscheiden. Denn ein Sprachsystem, das sich so weit von seinem vorherigen Dialektkontinuum abgegrenzt hat, dass es als Sprache bezeichnet werden kann, wird Teil eines neuen Dialektkontinuums, wenn es neue Varietäten herausbildet. Ob diese Varietät als Sprache oder als Dialekt anerkannt wird, mag wenig mit ihrer sprachlichen Beschaffenheit zu tun haben. Natürlich kann man argumentieren, dass ein Sprachsystem mit einem weiterentwickelten Korpus generell als Sprache anerkannt werden wird und eine wichtige Rolle für andere Varietäten spielen wird. Das ist jedoch nicht immer der Fall. Ob ein Sprachsystem als Sprache identifiziert wird, hängt hauptsächlich von vielen politischen, ökonomischen und soziokulturellen Faktoren ab. Das veranlasst Kloss dazu, ein zweites Kriterium für die Bestimmung einer Sprache zu entwickeln. Dabei handelt es sich um das Kriterium des Sprachausbaus, das eine zusätzliche (und möglicherweise realistischere) Erklärung dafür liefert, wie Sprachen in Abgrenzung zu Dialekten identifiziert werden können. Eine Sprache, kann dann als Ausbausprache bestimmt werden, wenn sie in allen Bereichen funktional ist beziehungsweise funktional ausgebaut ist. Das heißt, dass Ausbausprachen in allen denkbaren Kommunikationssituationen und auch Textsorten zum Einsatz kommen (auch in der Literatur oder in der Wissenschaft). Ein weiteres Kriterium von Ausbausprachen ist, dass sie im Gegensatz zu Dialekten kodifiziert sind. Das bedeutet, dass eine anerkannte Norm existiert, beispielsweise in Form von Orthographieregeln und einer niedergeschriebenen Grammatik. Darüber hinaus zählt selbstverständlich auch das politische Kriterium dazu, ob eine Varietät in einem bestimmten Land eine National- oder Amtssprache ist. Experiment Recherchieren Sie in den Lehrplänen Ihrer Region: Werden regionale Varietäten berücksichtigt? Reflektieren Sie gemeinsam mit Ihren Kollegen und Kolleginnen, ob und wie regionale Varietäten auch in der Fremd- oder Zweitsprachenvermittlung eingesetzt werden können und präsentieren Sie Ihre Ergebnisse in Form eines eigenen Lehrplans im Blog. 218 6. Sprachvariation Interessant sind auch Sprachsysteme, die in kein Kontinuum hineinpassen. Wenn man sie untersucht, stellt sich auf jeden Fall nicht die Frage, wo ihre Grenzen liegen. Außerdem ist es einfacher, ein solches System als Sprache zu definieren, weil es nicht mit einer Varietät aus einem anderen Kontinuum um die Position des Standards konkurriert. Die Position eines solchen Systems ist sogar aufgrund der Tatsache noch besser gesichert, dass es nicht in die Kategorie einer Varietät aus einem fremden Dialektkontinuum fällt. Diese Sprachen können daher rein aufgrund des Abstands als Sprachen identifiziert werden, egal ob es sich dabei um Ausbausprachen handelt. Kloss stellt fest: „An abstand language is a linguistic unit which a linguist would have to call a language even if not a single word had ever been written in it“ (1967: 29). Wie Kloss zeigt, ist die baskische Sprache ein Beispiel dafür. Während manche Sprachen sowohl als Abstandals auch als Ausbausprachen bezeichnet werden können, so wie Englisch und Deutsch, sind einige aufgrund ihrer intrinsischen Distanz von anderen Sprachen-- und weil sie absichtlich umgestaltet wurden-- reine Abstandsprachen. Dazu gehören verschiedene kleinere Sprachen, die über kein Schreibsystem und keinen standardisierten Korpus verfügen, so wie die oben genannten samischen Sprachen in Nordeuropa. Eine damit nahe verbundene und sich sofort aufdrängende Frage lautet: Wie ist das Verhältnis zwischen einer Sprache und ihren eigenen Dialekten? Im Grunde genommen sind diese beiden Fragen untrennbar und können gemeinsam behandelt werden. Wir sollten zuerst festhalten, dass ein Großteil der Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen einer Sprache und einem Dialekt wieder darauf hinausläuft, wie Sprache allgemein definiert wird. Wir sollten in der Lage dazu sein, drei verschiedene Sichtweisen des Verhältnisses zwischen einer Sprache und ihren Dialekten zu benennen. Im ersten Fall ist Sprache eine der Varietäten, die einen Sonderstatus als Standardcode einnimmt und alle anderen Varietäten dominiert (eine eher emotionale Sichtweise). Im zweiten Fall ist Sprache eine Ansammlung aller Varietäten mit oder ohne Status, Standardisierung und so weiter (eine eher soziale und egalitäre Sichtweise). Im dritten Fall ist Sprache ein abstraktes System, das mit einem festen Regelwerk und einem Korpus aus statischen Sprachelementen bestehen bleibt (das keinerlei Dynamik aufweist, bevor es in der gesprochenen Sprache verwendet wird); es verändert sich in seiner praktischen Anwendung in Form von Varietäten (eine postmoderne Sichtweise, die die Auffassung von der Essenz von Sprache infrage stellt). Alle drei Kriterien sind in der sprachwissenschaftlichen Literatur vorhanden, die sich mit Dialektologie beschäftigt. 6.2.4 Verstehbarkeit als ein Kriterium Welche Sichtweise wir auch immer vertreten: Wir müssen bestimmen, was das Verhältnis zwischen einer Sprache und einem Dialekt bestimmt. Das setzt zunächst einmal voraus, dass wir bestimmen, in welchen Fällen zwei oder mehr Sprachsysteme als gleichwertig für ein dialektales Verhältnis betrachtet werden können. Der vorgeschlagene klassische Ansatz beruht auf dem Prinzip der wechselseitigen Verstehbarkeit: Wenn zwei oder mehr Systeme gegenseitig verständlich sind, dann sind sie demselben Kontinuum zuzurechnen und stehen somit in einem dialektalen Verhältnis zueinander. Wechselseitige Verstehbarkeit ist jedoch nicht immer in gleichem Maße vorhanden, da Verstehbarkeit manchmal asymmetrisch sein 219 6.2 Regionale Varietäten kann. Es ist also nicht immer der Fall, dass beide Sprechergruppen zweier Sprachsysteme, die als (mehr oder weniger) gegenseitig verständlich gelten, einander auf dem gleichen Niveau verstehen. In manchen Fällen versteht eine Gruppe die andere Gruppe besser als umgekehrt. Auch in anderer Weise ist die wechselseitige Verstehbarkeit nicht immer ein zuverlässiges Indiz, wenn es darum geht, Varietäten und Sprachen abzugrenzen, denn die wechselseitige Verstehbarkeit zwischen den Varietäten, die an den beiden Endpunkten des Kontinuums liegen, ist häufig nicht gegeben, weshalb man, würde man alleine nach diesem Kriterium entscheiden, sie nicht als Varietäten derselben Sprache kennzeichnen würde. Betrachtet man im Gegensatz dazu das bereits erwähnte Beispiel des Serbischen und Kroatischen, stellt man fest, dass die Sprachen sehr wohl wechselseitig verstehbar sind, obwohl man, aus gesellschaftlich und politisch motivierten Gründen, von zwei Sprachen spricht. Wenn wir jedoch dem Ansatz von Kloss (1967) folgen, dann können wir (zumindest bedingt) die wechselseitige Verstehbarkeit (oder unterschiedliche Abstufungen) mit all ihren immanenten Widersprüchen als Grundlage für die Identifizierung dialektaler Verhältnisse übernehmen. Theoretisch gesehen, ist die Möglichkeit für eine Varietät als Sprache identifiziert zu werden umso geringer, je besser die Verstehbarkeit ist. Es muss aber auch beachtet werden, dass das Sprache-Dialekt-Verhältnis oft eine soziale Konstruktion ist, die auf der biologischen Verbindung zwischen Dialekten aufbaut. Das heißt, dass eine oder mehrere der Varietäten aus dem Kontinuum über die anderen gestellt werden. Das geschieht durch Prozesse, die zum Sprachausbau beitragen (zum Beispiel die Kodifizierung und Normierung). Die übergeordnete Varietät wird dann zum Standard und erfüllt oft die Kriterien für eine Sprache, wobei ihr die Varietät zugrunde liegt, die ausgebaut, verändert, modernisiert, angereichert etc. wurde. Das heißt, dass Änderungen vorgenommen werden, um verschiedene standardisierte Funktionen und Zwecke zu erfüllen, die von anderen Varietäten aus derselben Gruppe nicht erfüllt werden können. Das ist natürlich eher das Ergebnis eines oft künstlichen und willkürlichen Eingriffs, da nicht die gesamte Sprachgemeinschaft im Kontinuum über die Normen entscheidet (zum Beispiel hat in Deutschland lange Zeit einzig die Dudenredaktion darüber entschieden, wie ein Wort geschrieben werden soll, was dann häufig dazu führte, dass die Norm vom tatsächlichen Sprachgebrauch in einigen Gebieten abweicht beziehungsweise umgekehrt). Darüber hinaus wurde in der postkolonialen Zeit häufig willkürlich bestimmt, welche Varietät innerhalb eines Kontinuums als überdachende Sprache anzusehen ist. Die Wahl eines Standards ist oft, aber nicht immer eine Frage der Politik, denn manchmal ist die Wahl rein sprachlich begründet: Die Varietät, die ohnehin schon über eine umfangreichere, elaboriertere, etabliertere Terminologie verfügt (beispielsweise aufgrund von ökonomischem oder wissenschaftlichem Fortschritt der Sprecher und Sprecherinnen dieser Varietät) oder die ausdrucksstärker und somit funktionaler ist (beispielsweise aufgrund von hochentwickelter Prosa, Poesie oder Kunst in dieser Varietät) kann als höchst entwickelte Varietät, im Vergleich zu den anderen, zur überdachenden Standardsprache ernannt werden. Es liegt also nicht immer daran, dass andere Varietäten nicht in der Lage sind, diese Funktionen zu erfüllen, sondern eher, dass sie nicht dazu autorisiert sind, oder man es ihnen nicht erlaubt, dies zu tun. ‚Die Sprache‘ könnte dann also nicht nur aufgrund der intrinsischen Distanz, sondern auch aufgrund ihres Ausbaustatus als solche identifiziert werden-- weil ihr Korpus oder ihre 220 6. Sprachvariation Funktionen umgestaltet oder weiterentwickelt worden sind, was auch aufgrund künstlicher Eingriffe geschehen kann. Kloss nennt das Beispiel der tschechischen und der slowakischen Sprache, die von Sprachwissenschaftlern und Sprachwissenschaftlerinnen als Dialekte eines einzigen Sprachsystems behandelt werden würden, wenn sie nicht ihre eigenen literarischen Standards entwickelt hätten (1967: 31). Das andere Extrem ist eine künstliche Herabstufung von Sprachen zu Dialekten. Beispielsweise wird Italien im Jahr 1861 eine vereinte Nation, wobei Florentinisch, das heute als Italienisch bekannt ist, zur offiziellen Sprache gewählt wurde und die anderen Sprachen zu Dialekten abgewertet wurden (d’Agostino 2007: 23). Fälle von Sprachen, die durch solche Entscheidungen hervorgebracht wurden, führten zu der Erkenntnis, dass Sprachen sozial konstruiert sind. Das könnte sogar bedeuten, dass es keine schlüssigen Kriterien dafür gibt, die es ermöglichen eine Sprache von einem Dialekt auf natürlicher Basis zu unterscheiden. 6.2.5 Historische Variation Zum Schluss müssen wir noch die Frage beantworten, ob dialektale Verhältnisse auch diachron definiert werden können. Das dient nicht als Grundlage für das Verständnis regionaler Variation, sondern auch der Unterscheidung, um uns dabei zu helfen, die historische Dynamik von Sprachvariation zu verstehen. Gibt es also ein solches Phänomen wie eine „historische Variation“? Wenn wir uns vorstellen können, dass Sprache ein historisches Phänomen ist, dann sollten wir behaupten können, dass jede Sprache diachrone Varietäten herausbildet-- über ganze oder halbe Jahrhunderte hinweg-- da sich Veränderungen nicht nur über den Raum erstrecken, sondern auch über die Zeit. Sprachen ändern sich in ihrem Inneren von einem Zeitraum bis hin zum nächsten. Das bedeutet, dass sich die historische Linie neben der geografischen Linie, entlang der sich eine Sprache erstreckt, ebenfalls verändert, um neue ökologische, politische und soziokulturelle Merkmale aufzunehmen und somit neue natürliche und soziokulturelle Eigenheiten zu entwickeln. In unseren Untersuchungen der sprachlichen Variation konzentrieren wir uns jedoch hauptsächlich auf die synchronen Veränderungen und lassen die diachronen Veränderungen außer Acht. Dennoch bringt auch die historische Entwicklung einer Sprache- - ebenso wie ihre geografische Verbreitung oder ihre Ausbreitung über verschiedene Gemeinschaften- - Varietäten hervor, die es zu betrachten gilt (siehe zum Beispiel Poplack & Tagliamonte 2001: 2f). Diese werden im Rahmen der historischen Linguistik untersucht. Soziolinguisten sollten jedoch auch Interesse für diese Art von Variation entwickeln, da historische Veränderungen nicht nur für sich stehen, sondern viele politische, soziokulturelle und andere außersprachliche Faktoren einschließen. Mit diesem Wissen möchten wir vorschlagen, dass Variation nicht nur aus regionaler und sozialer Perspektive betrachtet werden kann und vielleicht auch sollte, sondern auch aus der historischen Perspektive. Die nachfolgende Annahme von Kloss lässt darauf schließen, dass ein dialektales Verhältnis auch diachron sein kann. „Französisch ist eine ‚Sprache‘, die in einem Verhältnis zum ‚Dialekt‘ von Picardy steht, aber es ist ein Dialekt in diachronem Verhältnis zur lateinischen Sprache“ (Kloss 1967: 29). 221 6.2 Regionale Varietäten Andererseits ist wechselseitige Verstehbarkeit ebenfalls in einem diachronen Kontinuum möglich- - wiederum selten erkennbar von Laien, aber trotzdem vorhanden. Romanische Sprachen werden nicht nur deshalb (und nicht immer) als in einem dialektalen Verhältnis stehend bezeichnet, weil sie gegenseitig zu einem gewissen Grad verständlich sind; sondern auch deshalb, weil sie alle als gegenseitig verständlich erkannt werden, wenn man sie vor dem Hintergrund der lateinischen Sprache betrachtet, in der sie alle verwurzelt sind. Man könnte also die Rolle der historischen Dimension als einen Vorschlag verstehen, ob der Diskurs über den Sprachenwandel umstrukturiert werden sollte. So könnten seine Grenzen über die regionalen und sozialen Variationen hinaus erweitert werden, um die historische Komponente als separates und legitimes Kriterium für die Bestimmung eines Sprache-Dialekt-Verhältnisses mit einzuschließen. Unsere Ausführungen deuten darauf hin, dass dies wohl möglich sein sollte. 6.2.6 Zusammenfassung ▶ Regionale Varietäten liegen üblicherweise in Form einer weiterlaufenden Linie vor, da dialektaler Transfer linear als ein gradueller Prozess stattfindet. Die Linie, entlang der Dialektkette, nennt man ein Dialektkontinuum. ▶ Zur Abgrenzung von regionalen Varietäten innerhalb des Kontinuums werden Sprachatlanten geführt und Isoglossen untersucht, die zunächst ein bestimmtes Merkmal skizzieren. Treffen mehrere Isoglossen an einer Stelle aufeinander (Isoglossenbündel), kann man von einer Dialektgrenze sprechen. ▶ Zur Abgrenzung von Dialekten und Sprachen werden verschiedene Kriterien wie wechselseitige Verstehbarkeit, Kodifizierung, Sprachausbau, Sprachabstand etc. herangezogen, die nicht immer eindeutige Ergebnisse liefern. ▶ Häufig werden die sprachlichen Kriterien zur Abgrenzung von regionalen Varietäten und Sprachen durch willkürliche, politische Entscheidungen außer Kraft gesetzt. ▶ Standardsprachen entstehen aus ihren Varietäten und ihrer Geschichte. Daher muss in der Dialektologie neben der räumlichen Entwicklung einer Sprache auch stets die zeitliche Dimension berücksichtigt werden. 6.2.7 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Nennen Sie die Kriterien, die zur Abgrenzung von Sprache und Dialekt herangezogen werden können. Welche davon sind in der Praxis oft problematisch? 2. Was meint der Begriff Dialektkontinuum? 3. Erklären Sie den Unterschied zwischen den Bezeichnungen Abstandsprache und Ausbausprache als Kriterien zur Definition einer Sprache. 4. Erklären Sie was man unter Isoglossen und Isoglossenbündeln versteht und welche Rolle diese Konzepte in der Varietätenlinguistik spielen. 222 6. Sprachvariation 6.3 Soziale Variation Jala Garibova (übersetzt von Simone Lackerbauer) & Svenja Uth (unter Mitarbeit von Eduard Arnhold) Sprachliche Unterschiede hängen nicht ausschließlich mit dem geografischen Umfeld zusammen. In Lerneinheit 6.1 haben Sie bereits erfahren, dass Sprachvarietäten auch im Hinblick auf den Sprachgebrauch verschiedener sozialer Gruppen betrachtet werden können. In dieser Lerneinheit beschäftigen wir uns ausführlicher mit dieser diastratischen Variation - der Variation im sozialen Kontext. Durch den Sprachgebrauch innerhalb verschiedener sozialer Gruppen, die sich hinsichtlich Bildung, Alter, Beruf oder sozialer Schicht etc. unterscheiden können, entstehen sogenannte Soziolekte, wie zum Beispiel die Jugendsprache. Sie gehen einher mit sozialen Faktoren, wie soziokulturelle Präferenzen, Einkommen, Bildungsstand, Religion, ethnische Zugehörigkeit etc. Sprachliche Variation ist somit nicht nur ein linguistisches oder geografisches, sondern auch ein soziales Phänomen. In dieser Einheit geben wir Ihnen einen Einblick, was soziale Variation bedeutet und wie einzelne Faktoren darauf Einfluss nehmen können. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ die Hintergründe der Entstehung sozialer Gruppen und deren Zusammenhänge mit Kohäsion und sozialer Identität erklären können; ▶ die Rolle von Sprachvariation als Indikator für soziale Stratifizierung deuten können; ▶ Merkmale und Funktionen sozialer Varietäten voneinander unterscheiden können; ▶ wichtige soziale Varietäten benennen und deren Haupteigenschaften erklären können. 6.3.1 Soziale Gruppen, Sprechergruppen und Sprachgemeinschaften Die Untersuchung und Erforschung des Sprachengebrauchs im sozialen Kontext erhielt Mitte des 20. Jahrhunderts Einzug in die klassische Soziolinguistik. Seither wird Sprache als Merkmal einer sozialen Gruppe untersucht, wobei besonders auf Gruppen, die sich aufgrund der Variablen Alter, Geschlecht, soziale Schicht und ethnische Herkunft bilden, eingegangen wird (vergleiche Spiekermann 2010: 350f). Diese Gruppen von Sprechern und Sprecherinnen, die aufgrund der genannten Variablen bestimmbar sind, bilden einen gruppenspezifischen Sprachgebrauch aus, der zur Entstehung von Soziolekten führen kann. Ausgangspunkt für die Beschreibung der diastratischen Variation von Sprache ist folglich die soziale Gruppe, wobei die Sprache als Merkmal für die entsprechende Gruppe betrachtet werden kann. Definitionen zu sozialen Gruppen setzen häufig bei den beiden grundlegenden Prinzipien, der sozialen Kohäsion (der soziale Zusammenhalt) und der sozialen Identität an. Die Theorie der sozialen Kohäsion bezeichnet eine soziale Gruppe als eine Personengruppe, die auf Basis des Zusammenhalts vereint ist. Forsyth (2010: 118) stellt uns wichtige Aspekte einschlägiger 223 6.3 Soziale Variation Definitionen zur Gruppenkohäsion bereit. Dazu gehören beispielsweise, wie sehr sich Mitglieder zueinander hingezogen fühlen (Lott & Lott 1965: 259), wie sehr sich diese zur Gruppe als Ganzes hingezogen fühlen (Thye, Yoon & Lawler 2002: 146; Nixon 1979: 76), Zugehörigkeitsgefühl und Moralvorstellung (Bollen & Hoyle 1990: 482), die Stärke der sozialen Kräfte, die den Einzelnen oder die Einzelne vom Verlassen der Gruppe abhalten (Festinger 1950: 274), die Tendenz zum Zusammenhalt (zu kohärieren) (Chan, To & Chan 2006: 298) sowie Vertrauen und Teamarbeit (Siebold 2007: 288). Forsyth selbst legt die folgenden Komponenten zur Definition der Gruppenkohäsion fest (2010): sozialer Zusammenhalt (social cohesion), aufgabenbezogener Zusammenhalt (task cohesion), gefühlter Zusammenhalt (perceived cohesion) und emotionaler Zusammenhalt (emotional cohesion) (vergleiche Forsyth 2010: 119ff). Im Allgemeinen bezeichnet die Theorie des sozialen Zusammenhalts eine Einheit von Menschen, die eine gemeinsame Sache oder ein gemeinsames Interesse teilen, miteinander interagieren, sich ihrer Mitgliedschaft in der Gruppe bewusst sind und eine Organisationsstruktur besitzen. Eine andere Perspektive nimmt der Ansatz der sozialen Identität ein, der das Prinzip der Interdependenz und der Anziehung zwischen Gruppenmitgliedern außen vor lässt. Dieser Ansatz basiert auf der Selbstwahrnehmung des Mitglieds, dem Bewusstsein von In-Group Erwartungen und dem Verständnis zu den Beziehungen zwischen In- und Out-Group, was wiederum essentiell für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ist (siehe Tajfel & Turner 1979). Der Kern der Definition von sozialen Gruppen auf Basis der sozialen Identität liegt also in der Wahrnehmung des oder der Einzelnen im Vergleich mit anderen Individuen oder Gruppen. Eine Person fühlt sich demnach einer bestimmten Gruppe zugehörig, wenn sie Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten zu den Mitgliedern dieser Gruppe aufzeigt und Eigenschaften besitzt, die sie von Mitgliedern anderer Gruppen abgrenzt. Während in der Theorie der Gruppenkohäsion die Elemente der „Anziehungskraft“ der Gruppe betont werden, konzentriert sich die Theorie der sozialen Identität eher auf den Stolz, den Selbstwert und das Zugehörigkeitsgefühl des oder der Einzelnen zur sozialen Umwelt (vergleiche Reicher, Spears & Haslam 2010). Experiment Bitten Sie einen Freund oder eine Freundin, seine oder ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu erklären und zu charakterisieren. Welche Assoziationen impliziert die Beschreibung? Ist die Theorie der sozialen Kohäsion oder die Theorie der sozialen Identität besser dazu geeignet die Assoziation des Freundes oder der Freundin zu erklären? Sie haben bestimmt festgestellt, dass es kein leichtes Unterfangen ist, die Parameter und Charakteristika einer Gruppe zu identifizieren, die für das Hervorbringen sozialer Variation zuständig sind. Dennoch stellen sie interessante und nützliche Forschungsgegenstände für die Soziolinguistik dar. Will man den Sprachgebrauch einer sozialen Gruppe untersuchen, wird in der Soziolinguistik meist der Begriff Sprachgemeinschaft verwendet, um jedwede Aggregation von Menschen zu beschreiben, die gemeinsame Regeln und Normen besitzen, einen geteilten Kommunikationscode anzuwenden und zu entschlüsseln. Aus soziologischer 224 6. Sprachvariation Perspektive bilden derartige soziale Gruppen Subkulturen mit „ausgrenzende[n] Wert[en]- und Normstrukturen. Ihnen liegen besondere Deutungsmuster der (Um-)Welt (kognitiv) zugrunde, die zu besonderen Ausdrucksformen führen“ (Veith 2005: 77). Hockett definiert eine Sprachgemeinschaft als „the whole set of people who communicate with each other, either directly, or indirectly, via the common language” (Hockett 1958: 8). Er bestimmt Sprachgemeinschaft also als die gesamte Menge an Menschen, die miteinander über eine gemeinsame Sprache kommunizieren. Lyons Definition einer Sprachgemeinschaft lautet ähnlich: „all the people who use a given language (or dialect)” (Lyons 1970: 326). Im Gegensatz zu diesen weitgefassten Auffassungen, misst die nachfolgende Generation von Definitionen dem Konzept der Kommunikation oder der Interaktion einen höheren soziolinguistischen Wert bei: Die Sprachgemeinschaft wird nicht nur auf Basis einer gemeinsamen Sprache definiert, die Sprecher und Sprecherinnen verwenden oder in der sie interagieren, vielmehr wird die Sprachgemeinschaft auch auf Basis der differenzierbaren Normen des Sprachgebrauchs und der Kommunikationsmuster bestimmt. Demzufolge sind sowohl eine gemeinsame Sprache als auch gemeinsame Kommunikationsmuster feste Kriterien zur Definition einer Sprachgemeinschaft. Diese Ansätze orientieren sich, im Vergleich zur undifferenzierten Sprachnutzung, die statisch und meist vorhersehbar ist, mehr an dynamischen, sozialen und gebrauchsbasierten Kriterien. Einige Definitionen beziehen auch die Dimension sozialer Faktoren wie Identität, Emotionen, Einstellungen, Ziele etc. als Bestimmungsfaktoren für eine Sprachgemeinschaft mit ein. Damit verbinden sie das Konzept der Sprachgemeinschaft mit dem der sozialen Gruppe. Labovs (1972: 120) Definition bezieht sich auf das Sprachverhalten in Form von geteilten Normen: „The speech community is not defined by any marked agreement in the use of language elements, so much as by participation in a set of shared norms”. Gumperz fasst gemeinsame Bestrebungen als einen zusätzlichen Faktor für den Zusammenhalt einer Sprachgemeinschaft auf: „A Speech Community is defined in functionalist terms as a system of organized diversity held together by common norms and aspirations” (1982: 24). Aber auch diese genannten Definitionen sind für die Erforschung sozialer Variation noch zu weit gefasst. Um die Komponenten sozialer Variation zu verdeutlichen, sollten wir kleinere Gruppen betrachten und bestimmen. Dafür führen wir an dieser Stelle den Begriff Sprechergruppe ein. Wir verwenden den Begriff, um eine Gruppe von Menschen zu bestimmen, die eine spezifische Varietät verwenden, beziehungsweise eine spezifische Varietät häufiger oder häufiger in bestimmten Kontexten verwenden als andere. Sprechergruppen sind normalerweise kleiner als Sprachgemeinschaften und werden durch eine Vielzahl von Faktoren bestimmt. Es besteht jedoch ein Unterschied darin, ob Personen, die einer Sprechergruppe zugeordnet werden, sich auch ihr zugeordnet fühlen oder nicht. Für gewöhnlich analysieren oder diskutieren Menschen ihr eigenes Sprachverhalten nicht. Sie sind jedoch viel eher dazu bereit, eine soziale Haltung, politische Ansichten und soziokulturelle Präferenzen zu analysieren, zu diskutieren und auf eine gewisse Art und Weise zu entwickeln. Auf dieser Grundlage schließen sie sich einer oder mehreren, von ihnen gewählten sozialen Gruppen an. Andererseits können Menschen aufgrund ihrer Sprache einer sozialen Gruppe zugeordnet werden, auch wenn sie gar kein Teil davon sein wollen. 225 6.3 Soziale Variation Sprechergruppen werden anhand von bestimmten sprachlichen Merkmalen unterschieden, die fast immer korrespondierende soziale Faktoren widerspiegeln. Die daraus entstehenden sozialen Varietäten, wie Berufssprachen, Fachsprachen, altersspezifische oder genderspezifische Sprachen etc., die in der Soziolinguistik untersucht werden, nennen wir Soziolekte. 6.3.2 Sprachliche Variation im sozialen Kontext Sprachliche Varietäten in sozialen Kontexten (Soziolekte) sind an spezifische außersprachliche soziale Systeme und Subsysteme gebunden, die untereinander im Austausch stehen und gemeinsame Vorstellungen und Ziele von Sprechern und Sprecherinnen besitzen. Eine derartige Betrachtungsweise von Sprache geht über das klassische Modell Bühlers (Darstellungs-, Ausdrucks- und Appellfunktion von Sprache) hinaus beziehungsweise spezifiziert dieses (zum Organon Modell siehe Bühler 1934: 28 sowie Kapitel 3 im Band »Sprachenlehren« und Kapitel 2 im Band »Sprachenlernen und Kognition«). So unter anderem Jakobson (1960: 353), welcher in seinem Funktionsmodell die deckungsgleichen referentiellen, emotiven und konativen Funktionen von Sprache um metasprachliche, poetische und insbesondere phatische Funktionen ergänzt. Gerade Letztere betont im Gegensatz zur herkömmlichen Informationsübertragung auch die sozialen Faktoren und mit ihr die Erzeugung, Unterbrechung oder Aufrechterhaltung einer kommunikativen Funktion von Sprache zwischen zwei Gesprächspartnern beziehungsweise -partnerinnen, ohne genauer auf die Bedeutung soziolinguistischer Kontexte und gruppenspezifischer Sprechhandlungen einzugehen. Eckert und McConnell führen daher den Begriff der community of practice in die Sozio- und Varietätenlinguistik über: Rather than seeing the individual as some disconnected entity floating around in social space, or as a location in a network, or as a member of a particular group or set of groups, or as a bundle of social characteristics, we need to focus on communities of practice. (Eckert und McConnell 1998: 89-99) Das Konzept der community of practice betont im Gegensatz zur Sprachgemeinschaft den dynamischen Aspekt von (Sprach-)Handlungen (practice, ‚Praxis, Gewohnheit’) und ist mit einer gebrauchsbasierten Herangehensweise an die Untersuchung von sozialer Varietät verbunden. Nachdem in den vorhergehenden Lerneinheiten (insbesondere in Lerneinheit 6.1) bereits vertiefend auf regionale Varietäten eingegangen wurde, möchten wir uns im Folgenden den sozialen Varietäten und mit ihnen insbesondere der Jugendsprache, den Genderlekten, den Fach- und Wissenschaftssprachen, den Sondersprachen und auch der Alltagssprache als Subsysteme sprachlicher Variation widmen, welche zwar regional beeinflusst sein können, aber nicht lediglich dadurch bedingt sind. Jugendsprache Wurden soziale Varietäten, wie die Jugendsprache, vor einigen Jahren noch abwertend als defizitär eingestuft (siehe Defizit-Hypothese nach Bernstein 2003), betrachtet die Soziolinguistik derartige Zusammenhänge heutzutage objektiver. Gerade für Heranwachsende 226 6. Sprachvariation fungieren sprachliche Varietäten als Orientierungshilfe im Umgang mit dem alltäglichen Leben. Jugendsprache als diastratische Varietät ist kein neues Phänomen und kann trotz einiger Merkmale, die besonders charakteristisch erscheinen, wie stereotypischer Floskeln, Anredeformen oder Wortbildungen etc., nicht als homogen betrachtet werden. Vielmehr ist Jugendsprache als dynamische Varietät (vergleiche Neuland 2010: 434) zu betrachten, die sich beispielsweise durch die erwähnten sprachlichen Merkmale, aber auch durch außersprachliche „Realisierungsformen des Sprachsystems mit sozialen und funktionalen Merkmalen von Sprachgebrauchssituationen“ (Neuland 2003: 136) äußert. Jugendsprache ist aufgrund dessen in sich heterogen und abhängig von spezifischen Gruppenstrukturen und Kommunikationssituationen. Letzterer Punkt verdeutlicht, dass es sich bei jugendsprachlichen Varietäten nicht um einen rein soziolektalen Sprachgebrauch aufgrund von emotionalen gruppeninternen Beziehungen, sondern eben auch um einen situationsabhängigen Sprachgebrauch (auch Situolekt genannt), handelt. Jugendliche beherrschen daher nicht lediglich eine sprachliche Varietät, sondern mehrere (vergleiche Henne 1986). Darüber hinaus ist die jugendsprachliche Varietät abhängig von dem verwendeten Medium, der geografischen Verortung, dem sozialen Geschlecht etc. Jugendsprache kann ebenfalls Elemente fachsprachlicher Varietäten (beispielsweise aus dem Bereich der Musik- oder Computerszene) oder der alltagssprachlichen Varietät aufnehmen beziehungsweise an sie abgeben. Dies führt dazu, dass Jugendsprache nicht als konventionalisiertes Sprachsystem samt arealer Ausdifferenzierung und Verortung betrachtet werden kann (vergleiche Veith 2005: 71), sondern die charakteristischen Merkmale eher in der Heterogenität derselben zu verorten ist. Sollen trotz der Heterogenität von Jugendsprachen typische Kennzeichen untersucht werden, können im mündlichen Sprachgebrauch gehäuft Kontraktionen, Interjektionen und Onomatopoetika wahrgenommen werden. Lexikalisch charakterisiert sich diese Variation durch Bedeutungswandel, Bedeutungserweiterungen und dem Gebrauch spezifischer Stilmittel, allen voran Intensivierung und Hyperbolik etc. (vergleiche Neuland 2010: 435, siehe auch Kapitel 2 in diesem Band). Aus diesen doch recht diffusen Merkmalsbildungen und Charakterisierungen von Jugendsprachen, geht hervor, dass jugendsprachliche Variation sich nicht nur durch eine höhere Frequenz, sondern auch durch „rascheres Wechseln und-[…] Spaß an Verfremdungen, Abwandlungen und Neuinszenierungen“ (Neuland 2010: 436) auszeichnet und damit ein hohes kreatives schöpferisches Potential besitzt und einen Beitrag zur gesamtsprachlichen Innovation leistet (für eine Übersicht der Merkmale siehe auch Keim 2010: 450f). Häufig wird Jugendsprache auch als Gerontolekt und damit „als sprachliche Ausdrucksform, deren Sprecher durch ihr biologisches und soziales Alter erfasst werden können“ (Spiekermann 2010: 352), verstanden und leitet sich von der Gerontologie, also der Wissenschaft über Alterungsvorgänge ab. Schlobinski (1989) kritisiert den Status der Jugendsprache als soziale Variation, da strukturelle Merkmale zu unregelmäßig beziehungsweise diffus vertreten sind und sich nicht von den Merkmalen anderer Varietäten abgrenzen lassen. Beispielhaft kann das von Wiese (2012) untersuchte Kiezdeutsch aufgeführt werden, das sowohl als Jugendsprache als auch als Ethnolekt klassifiziert werden kann und zudem regional bestimmbar ist (vergleiche Lerneinheit 7.1 in diesem Band): 227 6.3 Soziale Variation Kiezdeutsch ist ein Sprachgebrauch im Deutschen, der sich unter Jugendlichen in Wohnvierteln wie Berlin-Kreuzberg entwickelt hat, in denen viele mehrsprachige Sprecher / innen leben-[…], ist aber natürlich nicht auf Kreuzberg beschränkt, sondern tritt überall dort in Deutschland auf, wo Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Erst- und / oder Zweitsprachen zusammenleben, das heißt grundsätzlich in multiethnischen Wohngebieten. Interessanterweise besitzt Kiezdeutsch sprachliche Gemeinsamkeiten über unterschiedliche Regionen hinweg (außerdem finden sich-[…] ganz ähnliche neue Sprechweisen sogar in vergleichbaren Wohnvierteln in anderen europäischen Ländern). Daneben gibt es natürlich auch unterschiedliche lokale dialektale Einflüsse. (Wiese 2012: 13) Im Unterricht kann die Thematisierung von Jugendsprache förderlich für die Lernerorientierung sein und ein Mittel darstellen auf autonome Lernprozesse einzugehen. So können alltägliche Spracherwerbsprozesse mittels Radio, Fernsehen, Internet, Chat, E-Mail etc. als Gegenstandsfeld und als Medium produktiv in den Deutschunterricht einbezogen werden. Dies fördert rezeptive, produktive und analytische Kompetenzen der Lerner und kann zu einer Sensibilisierung und einem besseren Verständnis von interkulturellen Thematiken führen (vergleiche hierzu Neuland 2010). Die erwerbsfördernden Funktionen eines lernernahen Sprachgebrauchs werden in Lerneinheit 7.1 thematisiert. Genderlekt In der älteren Forschung zum geschlechterspezifischen Sprachgebrauch wurde davon ausgegangen, dass sich die Sprache von Männern und Frauen in einigen Punkten voneinander unterscheidet (so zum Beispiel bei Jespersen 1925, für eine Übersicht siehe Ayaß 2008 oder Klann-Delius 2005). Dabei wurde die Frauensprache, wie das folgende Zitat veranschaulicht, als unterlegen gewertet: Die frauen bewegen sich vorzugsweise auf dem mittelfeld der sprache, wobei sie alles abseits des weges liegende oder seltsame vermeiden, die männer dagegen prägen oft entweder neue wörter oder nehmen altmodische wieder auf, wenn es ihnen dadurch ermöglicht wird oder sie es sich wenigstens einbilden, einen angemesseneren oder genaueren ausdruck für ihre gedanken zu finden. Die frauen folgen regelmäßig der landstraße der sprache, die männer aber geben häufig der neigung nach, einen schmalen seitenpfad einzuschlagen oder sogar sich einen neuen weg erst zu bahnen. (Jespersen 1925: 231f) Jespersen führte dazu einige Hypothesen aus. Zum Beispiel glaubte er erkannt zu haben, dass die Syntax der Frauensprache häufig von Parataxen gekennzeichnet sei, was gegenüber der meist hypotaktischen Satzmuster der Männersprache eher von Primitivität zeuge (siehe Jespersen 1925: 235f). Aber nicht nur auf grammatischer Ebene wurde die Frauensprache als defizitär eingestuft. Jespersen bezeichnete sie auch als „inhaltsarm“ und sprach von einer unvollständigen Gedankenführung, wobei tendenziell mehr Wörter in kürzerer Zeit verwendet würden. Dies führte er wiederum auf einen kleineren Wortschatz zurück, der leichter zu handhaben wäre (Jespersen 1925: 235). 228 6. Sprachvariation Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die strikte Trennung zwischen Männer- und Frauensprache aufgelöst, denn die Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Gesprächsstilen sind keineswegs naturgegeben, sondern ein Produkt „sozialer, historisch gewordener Verhältnisse“ (Klann-Delius 2005: 8). Auf Grundlage der Erkenntnisse aus verschiedenen Forschungsbereichen, allen voran durch den Psychoanalytiker Robert Stoller (1968), wurden daher in den 1960er Jahren die Begriffe sexus und gender eingeführt, um zwischen dem natürlichen und dem sozialen Geschlecht zu unterscheiden. Sex ist ein Wort, das sich auf die biologischen Unterschiede zwischen männlich und weiblich bezieht-[…], dagegen ist Gender eine Sache der Kultur: es bezieht sich auf die soziale Klassifizierung in »maskulin« und »feminin«. (Oakley 1972: 16) Bezogen auf Sprachvariation wird also nicht mehr von Männer- und Frauensprache gesprochen, sondern vom weiblichen und männlichen Gesprächsstil, denn die neueren Erkenntnisse zeigen, dass Sprecher und Sprecherinnen unabhängig des natürlichen Geschlechts einen männlichen oder weiblichen Gesprächsstil wählen können: je nachdem, was die Kommunikationssituation verlangt (siehe Trömel-Plötz 1982: 51, vergleiche den konstruktivistischen doinggender Ansatz nach West & Zimmerman 1987). Wenn wir also von Genderlekten sprechen, meinen wir einen (hypothetischen) Soziolekt, der durch das soziale Geschlecht bedingt ist. Seit den 1970er Jahren entwickelten sich unterschiedliche Konzeptionen, anhand derer die sich verändernden Haltungen gegenüber Genderlekten veranschaulicht werden können. Nach Klann-Delius (2005) können diese folgendermaßen zusammengefasst werden: ▶ Defizitkonzeption; sie unterstellte Frauen einen grundsätzlichen Mangel an Einfluss und Kompetenzen. Diese Konzeption wurde abgelöst von der ▶ Differenzkonzeption; hier wurden die Unterschiede als gleichwertige Differenzen betont. Dieser Konzeption folgten ▶ Konzeptionen der radikalen Dekonstruktion des Geschlechtskonzeptes; in ihnen wurde die Kategorie ›Geschlecht‹ in eine historische, soziale und situativ variable Kategorisierung aufgelöst. (nach Klann-Delius 2005: 9) Die verschiedenen Perspektiven und Ansichten eint eine relativ ähnliche Auffassung über die Unterschiede in den Gesprächsstilen. Der männliche Gesprächsstil wird meist als dominant, aggressiv und hierarchisch beschrieben, was sich beispielsweise durch viele Unterbrechungen des Gesprächpartners äußert. Dem männlichen Gesprächsstil wird ebenso nachgesagt, sach- und resultatorientiert und damit auch objektiver zu sein. Durch Strategien zur Agensvermeidung beispielsweise wird eine Faktizität vermittelt, die dem Gegenüber Kritik erschwert, da Informationen somit als objektiv und allgemein anerkannt dargestellt werden. Eine weitere Technik, die denselben Zweck erfüllt, ist einen Konsens zu suggerieren. Durch Floskeln wie Wie Sie ja wissen… oder Sie wissen doch sicher auch, dass… wird dem Adressaten vermittelt, dass es sich um Tatsachen handelt und Widerworte werden somit erschwert (vergleiche Ayaß 2008: 65f; Sinner 2014: 169f; Klann-Delius 2005). Der weibliche Gesprächsstil hingegen gilt als emotional, subjektiv, implizit und kooperativ. Hier wird zu Subjektivierung, Selbstverteidigung und Selbstkritik geneigt. Der Sprecher 229 6.3 Soziale Variation oder die Sprecherin verteidigt im weiblichen Gesprächsstil sein beziehungsweise ihr Wissen, indem fremde Autoritäten herangezogen werden. Belege sollen dazu dienen, die Angriffsfläche zu verringern und Relativierungen, wie Unschärfemarkierungen, sogenannte hedges oder Heckenausdrücke (siehe Lakoff 1975 sowie Coates 2004), haben einen vermittelnden Charakter und dienen dem Zweck des Selbstschutzes. Im Gegensatz zum männlichen Stil, der wenig Raum für Kritik lassen möchte, führen die Heckenausdrücke wie vielleicht, soweit ich weiß, so eine Art…, wahrscheinlich etc. dazu, dass die Aussage als „verhandelbar“ dargestellt wird (vergleiche Eigler 2002: 204; Ayaß 2008: 65f; Sinner 2014: 169f; Klann-Delius 2005). Als „echte“ Varietät können Genderlekte allerdings nicht eingeordnet werden, da sich die Variation größtenteils auf pragmatische Elemente bezieht und kein eigenständiges System mit Variation in allen Betrachtungsebenen (Phonologie, Morphologie etc.) vorliegt. Fach- und Wissenschaftssprache Präziser als bei der Jugendsprache und den Genderlekten, gestaltet sich die Zuordnung der Fach- und Wissenschaftssprache zur sozialen Variation. Fach- und Wissenschaftssprachen dienen Fachleuten zur fachspezifisch präzisen Kommunikation Grundannahme der Fachsprachenforschung ist, dass die Fachkommunikation horizontal gegliedert und vertikal geschichtet ist. Horizontale Gliederung bedeutet, dass in Abhängigkeit von den Fächergliederungen einer Gesellschaft unterschiedliche fachliche Kommunikationsbereiche (z. B. der Philosophie, Medizin, vgl. Art. 46) nebeneinander bestehen, von denen die Wirtschaftskommunikation eine typische Vertreterin ist. Vertikale Schichtung bezieht sich auf die wissensmäßigen Abstraktionsebenen in der fachsprachlichen Kommunikation. Idealtypischer Leitgedanke ist, dass in der fachinternen Verständigung zwischen Fachleuten ein Höchstmaß an Wissen bei einem Mindestmaß an sprachlicher Darstellung vermittelt wird. Die mathematische Formel und der wissenschaftliche Fachartikel sind hierfür Paradebeispiele. In der hierarchisch niedrigeren fachexternen Verständigung zwischen Fachleuten und Laien nimmt folglich der Abstraktionsgrad und somit der Grad der Fachsprachlichkeit ab. (Reuter 2010: 458f) Reuter (2010: 458f) geht in seiner Beschreibung zur Grundannahme der Fachsprachenforschung neben den Vorzügen der fachsprachlichen Kommunikation, wie etwa eine bessere fachinterne Kommunikation auf die hierarchische Schichtung im Kontext der fachexternen Verständigung bereits auf die Problematik der Hierarchisierung ein, sodass der Zusammenhang zwischen Sprache und hierarchisierter Kommunikation und damit auch Machtausübung beziehungsweise Herrschaft zum Vorschein kommt. Fach- und Wissenschaftssprachen entwickeln sich durch Aktivitäten und sind gleich der Gemeinsprache variable Konstrukte. Erst durch eine fachliche Sprachverwendung kann es zu weiteren Sprachdifferenzierungen und diachronem Sprachwandel kommen (vergleiche Hoffmann 2004). Auf der Ebene der Lexik von Fach- und Wissenschaftssprachen wurde lange angenommen, dass diese sich durch eine präzisere Terminologie auszeichnen und dadurch eine verständlichere Kommunikation ermöglichen. Neuere Erkenntnisse, allen voran der kognitionslinguistischen Fachsprachenforschung zeigen jedoch, „dass auch Fachwörter grundsätzlich 230 6. Sprachvariation vage und mehrdeutig sind. Exaktheit und Eindeutigkeit erhalten Fachwörter erst durch Bezug auf kontextspezifische Kenntnis- und Handlungssysteme“ (Reuter 2010: 459). Ein weiteres linguistisches Kriterium von Fach- und Wissenschaftssprachen besteht in der ökonomischen Wortbildung und Sprachverwendung durch Verfahren der Komposition, Derivation, Konversion und des Kurzwortgebrauchs (vergleiche Reuter 2010: 459). Derartige Konstruktionsverfahren bedürfen einer fachinternen Normierung um als einheitliches Kommunikationsmedium zwischen Fachleuten fungieren zu können. So legt beispielsweise das Deutsche Institut für Normierung e. V. ( DIN ) fest, was bestimmte Termini für einen Bauingenieur zu bedeuten haben (vergleiche Veith 2005: 27) (siehe hierzu auch Lerneinheit 2.1 im Band »Berufs-, Fach- und Wissenschaftssprachen«). Auf syntaktischer Ebene treten gehäuft der Nominalstil und „Aussage-, Relativ-, Konditional- und Finalsatz, Hypotaxe (weil, obwohl), Funktionsverbgefüge (in Rechnung stellen), Nominalisierung (Discounter), Attribuierung (das umweltverträgliche Produkt), Präpositional- (infolge der Finanzkrise) und Partizipialkonstruktion (durch repräsentative Marktbefragung erzielte Erkenntnisse)“ (Reuter 2010: 460) auf (näheres erfahren Sie hierzu auch in Lerneinheit 2.2 im Band »Berufs-, Fach- und Wissenschaftssprachen«). Sondersprachen Wurde der Begriff der Sondersprachen früher noch weit für allerlei subkulturelle Gruppen, „deren Träger sich zur Abschirmung, Abwehr oder sogar zur Opposition gezwungen sehen und dies noch einmal zur Herausbildung spezieller Ausdrucksformen, Deutungsmuster und Wertvorstellungen führt“ (Bahrdt 2000: 93) angewandt, ist er heutzutage im engeren Sinne als Sprachvarietät mit verschleierndem Geheimhaltungscharakter für ausgeschlossene oder sich ausschließende Gruppierungen zu verstehen, auch wenn derartige Kommunikation im digitalen Raum heutzutage beispielsweise durch moderne Verschlüsselungsmethoden oder durch neuere Sonder- und Geheimsprachen ersetzt wurde. Eine derartige historische Sprachvarietät ist die der Landstreicherbeziehungsweise Landstreicherinnensprache des Rotwelschen, die Anfang des 16. Jahrhunderts beispielsweise von Martin Luther im Wittenberger Druck des Liber Vagatorium Erwähnung findet (vergleiche Siewert 1991). Zwar ist sie grammatisch nicht ausgebaut gewesen, besaß jedoch einen umfangreichen Wortschatz mit „Wörtern jiddischen, zigeunerischen und deutschen Ursprungs. Daneben gibt es, vereinzelt bis heute, graphische Zeichen als Logogramme, so genannte „Zinken“, die z. B. an Türen oder Hauswänden gekritzelt sind und anzeigen, ob man feindlich gesinnt ist, ob es einen bissigen Hund oder ob es kauffreudige Bewohner gibt“ (Veith 2005: 77). Alltagssprache Im Unterricht leben wir Lehrer und Lehrerinnen häufig mit der Illusion eines idealen Sprechers beziehungsweise einer idealen Sprecherin. Viele Jahre versuchte der Unterricht eine Standardsprache zu vermitteln, auch wenn diese im Umfeld des Lernortes nicht gesprochen oder eventuell nicht einmal beherrscht wurde. Die Folge dieses Vorgehens kann man sich 231 6.3 Soziale Variation leicht vorstellen. Wirft man aber einen Blick in die neueren Lehrwerke, finden sich nun immer mehr Textsorten, welche die Alltagssprache widerspiegeln. Um Lerner auf alltägliche Situationen vorzubereiten, wird zusätzlich die Vermittlung von Kompetenzen im Bereich der (regional geprägten) Alltagssprache vonnöten sein. DaZ-Lerner dagegen kommen in ihrem natürlichen, ungesteuerten Erwerb des Deutschen zuallererst mit alltagssprachlichen Varietäten und Registern in Berührung. (Elspaß 2010: 421f) Das Konzept der Alltagssprache (auch Umgangssprache) ist eng mit dem der konzeptionellen Mündlichkeit beziehungsweise der Sprache der Nähe verknüpft (vergleiche Koch & Oesterreicher 1994, 2007 sowie Dürscheid 2012; siehe hierzu auch Lerneinheit 8.2 in diesem Band). Zu betonen ist, dass das Konzept der Alltagssprache sich von dem der traditionellen Dialekte ableitet. Jedoch werden letztere häufig nur noch von Sprechern und Sprecherinnen höheren Alters verwendet (vergleiche Elspaß & Möller 2012). Alltagssprache hingegen greift viele lexikalische Besonderheiten und lautliche Merkmale von Dialekten auf (siehe Abbildung 6.5) und integriert diese in die Standardsprache bestimmter Sprechergruppen (Diastratik) in verschiedenen räumlichen Gebieten (Diatopik). 6.3.3 Zusammenfassung ▶ Die soziolinguistische Untersuchung von Sprachvariation hat gezeigt, dass die Verortung im Raum nicht der einzige für Sprachvariation verantwortliche Faktor ist und dass der Einfluss sozialer Faktoren ebenfalls berücksichtigt werden sollte. ▶ Wie wir sehen konnten, besteht die Problematik darin, die Parameter und Charakteristika einer Gruppe zu identifizieren, welche für das Hervorbringen sozialer Variation zuständig sind und die daher interessante und nützliche Forschungsgegenstände für Soziolinguisten und Soziolinguistinnen darstellten. ▶ Bei soziolinguistischen Varietäten handelt es sich entweder um bewusst oder unbewusst motivierte Konstrukte. Sie treten normalerweise dort auf und werden dort aufrechterhalten, wo es hoch motivierte soziale Gruppen gibt. ▶ Während soziale Variation auch von der Motivation und der sozialen Identität abhängt (dazu gehören Faktoren wie Alter, Geschlecht, politische Ansichten, Beruf, Art der Aktivität, soziale Klasse etc.), sind situationsbezogene Varietäten ebenfalls möglich. Sie treten auf, wenn Sprecher und Sprecherinnen unterschiedliche Stile in verschiedenen Sprachsituationen verwenden. ▶ Soziolekte, wie die hier betrachtete Jugendsprache, Fachsprachen etc. unterscheiden sich lexikalisch, morphosyntaktisch und pragmatisch voneinander. 232 6. Sprachvariation 6.3.4 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Erklären Sie, wieso die sprachliche Funktion der Informationsübertragung bei der Kommunikation zwischen zwei Gesprächspartnern, beziehungsweise Gesprächspartnerinnen nicht ausreichend ist. Welche Rolle spielt hierbei die von Jakobson beschriebene phatische Funktion? Welche Funktion könnten subsystembezogene Besonderheiten auf sprachlicher Ebene zwischen Sprechern beziehungsweise Sprecherinnen haben? 2. Wieso ist die Einordnung der Jugendsprache als soziolinguistische Varietät schwierig? Begründen Sie Ihre Entscheidung. Welche Rolle kann Jugendsprache im Deutsch als Fremdsprache Unterricht einnehmen? 3. Inwiefern entgegnet die neuere Forschung der stereotypischen Beschreibung des Sprachgebrauchs von Männern und Frauen im Kontext der Genderlekte? Beachten Sie hierbei den neueren Gebrauch des sozialen Geschlechts im Gegensatz zum biologischen Geschlecht. 4. Erklären Sie den diastratischen und diatopischen Zusammenhang der alltagssprachlichen Varietäten. Wieso können beide Konzepte nicht völlig getrennt voneinander betrachtet werden? 233 6.3 Soziale Variation 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten Der Mensch ist naturgegebenermaßen mehrsprachig und verfügt über eine innere Mehrsprachigkeit (vergleiche Wandruszka 1979, dessen Konzept Sie bereits in Lerneinheit 2.1 kennenlernten), mit der gerade Kinder bereits im frühen Erstsprachenerwerb wild und mit großem Vergnügen experimentieren. Diese innere Mehrsprachigkeit verkümmert jedoch allzu oft, weil sie weder von Hort, Kindergarten oder Schule noch dem übrigen, auch familiären Umfeld gefördert wird. Oft wird sie stigmatisiert oder verboten. Der frühe Fremdsprachenerwerb böte dagegen eine günstige Gelegenheit, die frühe Experimentierfreude und Prägbarkeit des Kindes auf dem Weg zur (äußeren) Mehrsprachigkeit aktiv zu halten und damit an seine natürliche, innere Mehrsprachigkeit anzuschließen. Dabei können Mischsprachen eine wichtige Brückenfunktion übernehmen. Unterschieden werden in diesem Kapitel Ethnolekte (Lerneinheit 7.1), als Varietäten, die bestimmten Gruppen in einer Gesellschaft zugeordnet werden, Xenolekte (Lerneinheit 7.2), als wohlgemeinte vereinfachte Register, die Sprecherinnen und Sprecher einer Sprache einsetzen, wenn sie mit jemandem interagieren dessen Sprachkompetenz sie als sehr niedrig einschätzen, und Kreolsprachen, als Verfestigung von Hybridsprachen (Lerneinheit 7.3). 234 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten 7.1 Ethnolekte Jörg Roche In der ersten Lerneinheit beschäftigen wir uns mit Ethnolekten, die eine wichtige Komponente im Variationskontinuum von Sprachen sind. Besonders in Zeiten der Globalisierung, die leicht Sprachenmischungen begünstigt, übernehmen sie unterschiedliche Kommunikations- und Identitätskonstruktionsfunktionen. Anders als verbreitet vermutet, sind die von ihren Sprecherinnen und Sprechern gepflegten Ethnolekte dabei nicht nur ein temporäres Pidgin zur Überwindung akuter Kommunikationsprobleme, sondern auch ein Ausdrucksmittel einer besonderen Identität, die denen verwehrt bleibt, die sozial nicht zur Ingroup gehören. Als sekundäre und tertiäre Ethnolekte erfüllt zum Beispiel die Kanaksprak oft auch literarische, kabarettistische und karikierende Funktionen zur Fremd- oder Eigencharakterisierung von Sprechern und Sprecherinnen mit Migrationshintergrund oder Ausländern. Wenn Ethnolekte zwischen dem ursprünglichen Milieu und authochtonen Milieus vermitteln, das heißt Zugänge erlauben oder schaffen, dann eignen sie sich in idealerweise auch als Brückenvarietät für die soziale Integration und als Gegenstand des Unterrichts. In dieser Lerneinheit werden wir die unterschiedlichen Formen genauer ansehen und Überlegungen anstellen, wie diese auch für Unterrichtszwecke nutzbar gemacht werden können, sowohl als Mittel des Sprachenerwerbs als auch als Fenster zur Dynamik von Gesellschaften. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ die Merkmale von Ethnolekten beschreiben können ; ▶ die unterschiedlichen Funktionen, die Ethnolekte in der Alltagssprache und in der Literatur übernehmen, erklären können; ▶ Ethnolekte von Pidginvarietäten oder rudimentären Lernersprachen abgrenzen können; ▶ mit den Einsatzmöglichkeiten des Themas Ethnolekt im Unterricht vertraut gemacht werden. 7.1.1 Ethnolekte Sprachliche Variation ist-- auch im Unterricht-- kein Übel oder Problem, das zu vermeiden wäre. Sprachliche Varietäten markieren zum großen Teil eine innere Mehrsprachigkeit. Wie Sie bereits in Lerneinheit 2.1 erfahren haben, ergibt sich diese bei vielen Menschen zumindest ansatzweise ohne explizite Lehrverfahren, nämlich aus den Anforderungen und Mustern der Umwelt. Schon in unserer Muttersprache lernen wir ein dynamisches Polysystem kennen, in dem die Sprachen verschiedener Lebenskreise, denen wir angehören, ineinandergreifen und sich vermischen (Wandruszka 1979: 314, siehe auch Lerneinheit 2.1). In dieses Spektrum gehören demnach auch Ethnolekte, die aus Lernervarietäten entstehen, aber oft ein Eigenleben 235 7.1 Ethnolekte entwickeln und als Ko-Varietät zur Markierung einer bestimmten Identität und Rolle neben anderen bestehen. Die deutsche Sprache erfährt, wie jede andere auch, ständig Neuerungen. Neben lexikalischen Veränderungen, wie beispielsweise bei der Jugendsprache, treten dabei auch grammatische Modifikationen auf, die jedoch (noch) nicht als abgeschlossener Sprachwandel bezeichnet werden können. Auer (2003: 255) zufolge handelt es sich hier um Erscheinungen verschiedener Milieus. Im Fall der Kanaksprak (dem Kanakischen) wird dieser Ethnolekt primär von männlichen Jugendlichen verwendet. Auer bezeichnet diese Sprechweise als Ethnolekt und definiert sie wie folgt: Ein Ethnolekt ist eine Sprechweise (Stil), die von den Sprechern selbst und / oder von anderen mit einer oder mehreren nicht-deutschen ethnischen Gruppen assoziiert wird. (Auer 2003: 256) Nach Auer (2003) existieren drei verschiedene Formen von Ethnolekten: ein primärer, ein sekundärer (medialer Ethnolekt) und ein tertiärer Ethnolekt (vergleicheAbbildung 7.1): Abbildung 7.1: Die verschiedenen Formen des Ethnolekts (Auer 2003: 257) Primärer Ethnolekt Diese Art des kanaksprachlichen Ethnolekts zeichnet sich durch eine türkisch-deutsche Mischung und einen Wechsel zwischen Codes aus, wenn die Gruppe nicht homogen ist. Er wurde zunächst vorwiegend von männlichen, in Deutschland aufgewachsenen, türkischstämmigen Sprechern erworben und verwendet. Heute ist die Kanaksprak weiter verbreitet und hat Elemente einer allgemeinen Jugendsprache angenommen. Auch autochtone deutschsprachige Jugendliche übernehmen so zum Beispiel Elemente dieses Ethnolekts, vor allem das gerollte / r/ und bestimmte Chunks wie Ischwör! (‚Ich schwöre’). Wenn deutschsprachige Jugendliche sich dieser Varietät annehmen, dann oft, um damit eine Gruppenzugehörigkeit zu signalisieren, die eigentlich nicht gegeben ist. Damit verändert sich sukzessive das 236 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten pragmatische Umfeld des Ethnolekts. Er wechselt von einem Mittel der Abgrenzung vom Mainstream zu einem Identifikationsmittel einer neuen In-Group. Zu den strukturellen Merkmalen gehören nach Auer (2003: 258) die folgenden: ▶ Phonetik: Keine Vokalisierung des / r/ , Keine Auffüllung durch Glottalverschlüsse, Reduzierung der Anlautcluster / ts/ werden zu / s/ reduziert, Silbenzählender Rhythmus, Verkürzung der gespannten Vokale, Erhöhung der Sonoritätswerte ▶ Morphologie: Veränderung der Genera (gutes Gewinn, son großer Plakat), Veränderung der Endungen (schlechten Gewissen gehabt, keine richtige Gruppen), Fehlen der Artikelwörter (da wird Messer gezogen, sonst bist du toter Mann), Weglassung der Präpositionen (geh’mer Tankstelle, ich wohn ja Karl-Preis-Platz), Änderung der Verbvalenz (mit dem du geheiratet hast) ▶ Syntax: Veränderung der deutschen Satzstellung in SVO (jetzt ich bin 18), Weglassung der suppletiven Pronomen (als ich kennengelernt hab) ▶ Lexik: Verwendung von Diskursmarkern wie verstehsdu oder hey Alter, Verstärker wie krass und korrekt (krasse Gegend, voll korrekt) Diese Merkmalliste ergänzt Heike Wiese in ihren Arbeiten zum „Kiezdeutschen“ (aus Wiese 2012: 53ff und Wiese 2006: 255ff) folgendermaßen: ▶ Artikel und Präpositionen bei Ortsangaben: Wir gehen Görlitzer Park ▶ Andere Endung beim Artikel: Die mit den Knutschfleck immer hier, Ich frag mein Schwester ▶ Fehlendes Pronomen: Du kennst! , Und dann kam die Mutter rein, kann da im Zimmer nicht mal rauchen, Kannst dir vorstellen, ja? , Weiß, Alter. ▶ Fehlender Artikel: Und die hat immer hier Knutschfleck, Dann war´s Fehler von Tschechien, Torwart hat doch Fehler gemacht, Aber das dritte Tor war Foul, Hast du Handy? ▶ Fehlende Verbform: München weit weg, Alter. ▶ Neue Aufforderungswörter: lassma (Lassma Moritzplatz aussteigen! ) oder musstu (Musstu Doppelstunde fahren! ) ▶ Neue Partikeln: Ischwör oder Ischwöre (entstanden aus „ich schwör(e)“, zur Betonung von Aussagen verwendet z.B. Ihre Schwester ist voll ekelhaft, Alter. Ischwöre.), gibs oder gibt’s (entstanden aus „es gibt“; das Pronomen „es“ kann zusätzlich noch benutzt werden zum Beispiel in Das Problem daran ist ja, dass es Rivalitäten gibs, aber es gibts ja auch Gründe), Alter (Alter, mein Vanille ist nicht da, Alter), Ey (Was denn los hier, was denn los, ey ey? ), So (als Partikel zum Beispiel in Teilweise so für Bikinifigur und so, weißt doch so, Ich höre Alpa Gun, weil er so aus Schöneberg kommt), So (als Partikel mit Artikelfunktion, so ersetzt den Artikel zum Beispiel in Ich such nicht so Ausbildungsplatz, ich such richtige Arbeit, Da gibt´s so Club immer). ▶ Neue Funktionsverbgefüge: Rote Ampel machen (Machst du rote Ampel! ), Messer machen (Ich mach dich Messer! ), Kino sein (Was guckst du-- bin ich Kino) 237 7.1 Ethnolekte ▶ Subjekt-Verb- Objekt-Konstruktion: Verb steht an anderer Stelle (Danach ich ruf dich an) Adverbiale am Satzanfang (Ich wollte heut zu C&A gehen, wollt mir ein T-Shirt kaufen, danach ich muss zu mein Vater. Irgendwann in Schule isch fang an zu schlafen, ischwöre.) ▶ Verb-Subjekt-Objekt-Konstruktionen: Machst du rote Ampel! , Guckst du´n bisschen traurisch ▶ Ellipse (Auslassung): Weiß ich noch nicht. Er hat sich ein Tarnschaf gebastelt. Kommt er näher an die Vögel ran. ▶ Lexikalische Reduktion: Erst wenn der Trainer sagt, ey! (intransitiver Gebrauch von sagen), Ich guck dich. (transitiver Gebrauch von gucken), Ich will so Make-up gucken (transitiver Gebrauch von gucken) Die Tatsache, dass in Ethnolekten, die ja ursprünglich von Lernersprachen ausgingen, nicht nur Vereinfachungen, wie beispielsweise das Weglassen der komplizierten Endungen oder auch das Streichen der vielen unübersichtlichen lokalen Präpositionen zu finden sind, soll an dieser Stelle am Beispiel der Funktionsverbgefüge kurz genauer betrachtet werden: 1. Semantische Bleichung des Verbs Das Verb machen nimmt in Äußerungen wie Rote Ampel machen oder ich mach‘ dich Messer eine andere Bedeutung an, als normalerweise im Deutschen. Hier findet eine semantische Bleichung des Verbs statt. Das Verb verliert an Bedeutung und wird mit einer Nominalgruppe kombiniert, die die Hauptbedeutung trägt (vergleichende Abbildung 7.2) (Wiese 2012: 80; Wiese 2006: 259). Abbildung 7.2: Ich mach dich Messer als Funktionsverbgefüge (Wiese 2006: 266) 2. Eingeschränkte Referenzfähigkeit des Nomens. Neben der semantischen Bleichung des Verbs, kommt es auch zur Veränderung in der Nominalgruppe, die zu einer eingeschränkten Referenzfähigkeit führt. Die Vereinfachungen in der Nominalgruppe, betreffen in der Regel die morphosysntaktischen Merkmale zur Markierung von Numerus und Genus. Darüber hinaus sind die Nominalgruppen nicht durch Pro-Formen ersetzbar (fehlende Anaphorisierbarkeit) und können nicht mit einem Attribut versehen werden (fehlende Attribuierbarkeit) (vergleiche Wiese 2006: 259). 3. Enge Verbindung von Nomen und Verb Im Funktionsverbgefüge tritt das Nomen nicht mehr als Aktant auf, sondern steht so eng mit dem Verb in Verbindung, dass sie gemeinsam die Bedeutung des Prädikats bestimmen. Auch syntaktisch bedeutet das, dass sich die Aktantenstruktur nicht mehr nach 238 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten dem Verb alleine richtet, sondern von der Verbindung aus Funktionsverb und Nomen als Einheit abhängt. Die folgende Abbildung (Abbildung 7.3) illustriert eine Gegenüberstellung von Funktions- und Vollverben an den Beispielen bringen und machen. Abbildung 7.3: Das Verb machen als Funktions- und Vollverben (nach Wiese 2006: 260) 4. Arbeitsteilung bei Funktionsverbgefügen Die Verbindung von Verb und Nomen bringt eine „grammatische Arbeitsteilung“ (Wiese 2006: 261) mit sich. Wie in Abbildung 7.3 dargestellt, kann man diese Arbeitsteilung so beschreiben, dass die Semantik des Funktionsverbgefüges im Nomen kodiert wird, während das Verb die Anforderungen eines Prädikats mit sich bringt. 5. Sprachliche Ökonomie Die Arbeitsteilung, die in Funktionsverbgefügen zwischen Verb und Nomen herrscht, führt zu einer hohen sprachlichen Ökonomie, die wesentlich zur Beliebtheit dieser Konstruktionen in Ethnolekten beiträgt. Da Funktionsverben (wie zum Beispiel machen) hochfrequente Verben sind und deren Flexionsmuster folglich bekannt sind, ist es einfach, diese in den Satz zu integrieren. Darüber hinaus sind die Konstruktionen einfacher zu memorisieren, weil das Nomen an prominenter Stelle in der Äußerung erscheint, also salient ist. Das Muster, nach dem Strukturen gebildet werden, ist hoch produktiv und lässt sich reihenbildend einsetzen (vergleiche Wiese 2006: 259f). Diese grammatischen Merkmale sind jedoch kein Zeichen eines schlecht oder unvollständig erworbenen Deutsch, da die Sprecher und Sprecherinnen des primären Ethnolekts in formellen Situationen durchaus oft in der Lage sind, ein korrektes Deutsch zu verwenden und den Ethnolekt zu vermeiden. Diese Form ist somit stark situationsabhängig und wird vor allem identitätsstiftend als Selbststilisierung verwendet. 239 7.1 Ethnolekte Sekundärer Ethnolekt Der primäre Ethnolekt fungiert als Quelle für den sekundären Ethnolekt, der meist in den öffentlichen Medien (etwa in Comedy, Filmen, Zeitungsartikeln etc.) oder auch in literarischer Gestaltung auftritt und dort als typische Ausdrucksform von türkischen, beziehungsweise von Jugendlichen, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, dargestellt wird. Da der sekundäre Ethnolekt in dieser Form nicht von den ursprünglichen Sprechern und Sprecherinnen des primären Ethnolekts verwendet wird, bezeichnet ihn Auer als eine Art Usurpierung oder Transgression (vergleiche Auer 2003: 256). Er wird zum Beispiel von den Comedy-Duos Mundstuhl oder Erkan und Stefan und inzwischen von vielen anderen zur Charakterisierung ausländischer Sprechweise (foreignizing) verwendet und wird auch als Türkenslang, Kanak(sprak) Türkendeutsch, Balkandeutsch oder Türkenpidgin bezeichnet. Den Namen Kanaksprak hat dieser Ethnolekt aber von dem gleichnamigen Buch von Feridun Zaimoglu (2011) erhalten, der aus einer primären Varietät abgeleitet ist, gegenüber ihrer ursprünglichen kommunikativen Verwendung aber charakterisierende, oft poetologische Züge aufweist. So bezeichnet Zaimoglu seine Literatur als „Nachdichtung“ (21), die den Mitgliedern des authentischen Milieus eine von ihnen autorisierte Stimme verleiht. Sie hebe sich ab von dem Märchen von der Multikulturalität: Der Kanake taugt in diesem Falle als schillerndes Mitglied im großen Zoo der Ethnien, darf teilnehmend beobachtet und bestaunt werden. >>Türkensprecher<< gestalten bunte Begleitprospekte für den Gang durch den Multikulti-Zoo, wo das Kebab-Gehege neben dem Anden-Musikpavillon platziert wird. (Zaimoglu 2011: 17) Der Kanaksprak dieser poetologischen Prägung geht es dabei nicht darum, jeden sprachlichen Schnitzer als poetische Bereicherung der „Mutterzunge“ zu feiern. Zaimoglu definiert Kanaksprak vielmehr als eine Art „Creol oder Rotwelsch mit geheimen Codes und Zeichen. Ihr Reden ist dem Free-Style-Sermon im Rap verwandt, dort wie hier spricht man aus einer Pose heraus. Diese Sprache entscheidet über die Existenz: Man gibt eine ganz und gar private Vorstellung in Worten“ (2011: 18). Einer „weinerlich[en], sich anbiedernd[en] und öffentlich gefördert[en] >>Gastarbeiterliteratur<<“, die seit den 70er Jahren als „Müllkutscher-Prosa“ (2011: 17) die Legende vom „armen, aber herzensguten Türken Ali“ verbreitet, setzt Zaimoglu mit seinen über ein Jahr lang gesammelten, alle existentiellen Bedingungen wie Gebärden, Gleichnisse und Jargontreue verkörpernden und verschriftlichten 24 Misstönen vom Rande der Gesellschaft die detektivisch ermittelte, authentisch übersetzte, vielstimmige Sprache des „Milieus“ entgegen. Für „sozial verträglich[e]“ Stimmen ohne gesellschaftliche Sprengkraft ist in dieser Sprache kein Platz. „Hier hat allein der Kanake das Wort“ (2011: 22). Diese Sprengkraft ist konstitutiv für die Sprache und wird bei Zaimoglu eben nur poetologisch aufbereitet. Damit ist sie in sozialer Hinsicht ein primärer Ethnolekt, in der Form aber ein veränderter. Diese Form charakterisiert Zaimoglu folgendermaßen: Die Wortgewalt des Kanaken drückt sich aus in einem heraugepreßten, kurzatmigen und hybriden Gestammel ohne Punkt und Komma, mit willkürlich gesetzten Pausen und improvisierten Wendungen. Der Kanake spricht seine Muttersprache nur fehlerhaft, auch das >>Alemannisch<< ist 240 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten ihm nur bedingt geläufig. Sein Sprachschatz setzt sich aus >>verkauderwelschten<< Vokabeln und Redewendungen zusammen, die so in keiner der beiden Sprachen vorkommen. In seine Stegreif- Bilder und -Gleichnisse läßt er Anleihen vom Hochtürkisch bis zum dialektalen Argot anatolischer Dörfer einfließen. Er unterstreicht und begleitet seinen Vortrag mimisch und gestisch. Die reiche Gebärdensprache des Kanaken geht dabei von einer Grundpose aus, der sogenannten ‚Ankerstellung’: Die weit ausholenden Arme, das geerdete linke Standbein und das mit der Schuhspitze scharrende rechte Spielbein bedeuten dem gegenüber, daß der Kanake in diesem Augenblick auf eine rege Unterhaltung großen Wert legt. Ballt der Kanake beispielsweise seine rechte Faust, um sie blitzschnell zu öffnen und die Hand zu fächern, will er seine Mißbilligung oder seine Enttäuschung zum Ausdruck bringen. Streicht er sich mit einem angefeuchteten Zeigefinger über eine Augenbraue, so möchte er seine Kompetenz oder einen gelungenen Spruch anerkannt wissen. Und über die einzelne charakteristische Gebärde hinaus signalisiert der Kanake: Hier stehe ich und gebe mit allem, was ich bin, zu verstehen: Ich zeige und erzeuge Präsenz. (Zaimoglu 2011: 18ff) Tertiärer Ethnolekt Der sekundäre Ethnolekt wird seinerseits von deutschen Jugendlichen (und gelegentlich auch Erwachsenen) übernommen und weiterentwickelt. Geschieht dies nicht durch direkten Kontakt mit Türkischen beziehungsweise Nicht-Deutschen, sondern aufgrund einer Transformierung der in den Medien verwendeten Sprechweise, wird die Sprechweise als tertiärer Ethnolekt bezeichnet. Diese Form des Ethnolekts unterscheidet sich von der Verwendung der primären Varietät durch Deutschsprachige, weil er ausschließlich von Deutschsprachigen verwendet und im Kontakt mit türkischen Jugendlichen vermieden wird. Er hat vor allem eine Spott-Funktion, oft mit aggressiv abgrenzender oder sogar diskriminierender ethnischer Bedeutung. Strukturell ist der tertiäre Ethnolekt weder dem primären noch dem sekundären Ethnolekt sehr ähnlich. Es handelt sich vielmehr um eine Karikatur des Pidgindeutsch der Gastarbeiter der 1. Generation (vergleiche hierzu die Lerneinheit 7.2 zu Xenolekten). 7.1.2 Identitätskonstruktion durch Ethnolekte Mit der Sprache konstruieren Sprecher und Sprecherinnen ihre Rollen in der sozialen Interaktion und kommunizieren diese an ihre Gesprächspartner und die Außenwelt. Quist und Jørgensen (2009: 386) weisen darauf hin, dass selbst die most monolingual speakers Code- Wechsel (vergleichende Lerneinheit 5.1) betreiben, um damit den Wechsel von einer Rolle zur anderen zu markieren. Dieser Wechsel muss nicht situativ oder kontextuell, sondern kann auch metaphorisch sein. Die soziale Konstruktion kann ihren Ausdruck in unterschiedlicher sprachlicher Form finden oder sie kann durch Registermarkierungen unterstützt werden. Zu den Markierungen gehören syntaktische, morphologische oder phonetische Markierungen. Quist und Jørgensen (2009) zeigen, wie etwa durch den Wechsel von einem labio-dentalen / w/ zu einem dentalen Verschlusslaut / v/ in dänischer Jugendsprache eine Markierung als ausländisch entsteht und welche Folgen diese sprachliche Identitätskonstruktion bewirkt. 241 7.1 Ethnolekte Hierzu gehören etwa auch lexikalische Markierungen eines Registerwechsels: zum Beispiel in der deutschen und dänischen Kanaksprak Ischwör oder Dänisch jeg sværger, (Quist & Jørgensen 2009: 383) im Sinne von ‚ehrlich’, ‚ich sag’s dir doch’ oder ‚wonn isch dirs doch saach’ (Hessisch). Nicht jeder Sprecher beziehungsweise jede Sprecherin greift jedoch auf diese Konstruktionsmittel zurück. Die Markierung des Wechsels verlangt eine Bereitschaft, Sensibilisierung, und persönliche Anlage und Kompetenz für die Konzeptualisierung beim Sprecher oder bei der Sprecherin, eine hinreichende Salienz in der Kommunikation sowie eine entsprechende Einschätzung der sozialen Bedeutung durch den Sprecher oder die Sprecherin. Auer und Dirim (2003) zeigen in ihrer Studie, wie Jugendliche in Hamburg Strategien zur Identitätskonstruktion und Markierung von Gruppenzugehörigkeiten verwenden. Dabei spielt es keine Rolle, ob die aus einer der beteiligten Sprachen entlehnten Elemente reale Wörter oder Chunks dieser Sprache sind. Sie können auch als Anlehnungen an diese Sprachen zur Markierung der Fremdsprachigkeit oder eines Identifizierungs- oder Distanzverhältnisses zu einer Sprache verwendet werden. Damit kann man sich von dieser Sprache oder von einer Gruppe abgrenzen, der man die Sprache zuordnet, zum Beispiel indem man sich über sie lustig macht (vergleiche Hinnenkamp 2003). Jørgensen (2004) nennt dieses Verfahren languaging und Wächli (2005) bezeichnet den Vorgang der Neu- oder Umbenennung mittels fremdsprachiger Elemente in Anlehnung an Kreolisierungsprozesse der Relexifizierung relexicalisation. Auch als Foreignizing kann man dieses Verhalten bezeichnen. Wie Lo (1999) anhand des heteroglossischen Verhaltens asiatischer Jugendlicher in Los Angeles zeigt, bedarf es aber trotz der genannten sprachlichen Identifikationsmittel immer noch der Ratifizierung und Legitimierung der sozialen Rolle der Jugendlichen durch das soziale Umfeld. Die soziale Legitimierung ergibt etwa die Aufnahme in die Ingroup und die Übernahme bestimmter Rollen. Wo sprachliche und soziale Identität nicht korrespondieren, bedarf es oft weiterer Legitimierungsprozesse. 7.1.3 Zur Brückenfunktion von Ethnolekten Die Verbreitung des sekundären Ethnolekts Kanaksprak unter populären Radio-, Fernseh- und Filmstars zeigt, welch weitreichenden und flächendeckenden Einfluss sogar eine vermeintliche Migrantenvarietät auf die Mehrheitssprache ausüben kann. Als Gruppencode ist dieser Ethnolekt mittlerweile auch unter vielen deutschen Jugendlichen verbreitet, die ansonsten mit dem Türkischen oder Russischen kaum Kontakt haben und sich damit von der eingefahrenen Sprache der Elterngeneration absetzen wollen wie das bekannte Beispiel von Erkan und Stefan, die beiden Ingolstädter John Friedmann und Florian Simbeck, zeigt. Damit kein Missverständnis entsteht: Selbstverständlich beherrschen die Jugendlichen neben der politisch so unkorrekten Kanaksprak auch perfekt Deutsch und gegebenenfalls andere Muttersprachen ihrer Eltern. Es handelt sich also um ein Wahl-Register, das wie die anderen bereits genannten Varietäten für bestimme Kontexte verwendet wird und nicht als Rudimentärcode ausgebildete Sprachen ersetzt (vergleiche auch Riemer 2004 und Quetz 2004: 182). Die Kanaksprak ist damit eines der eindrucksvollsten Beispiele der Gegenwart, das deutlich die natürlichen Kräfte der Mehrsprachigkeit belegt, und zwar sogar gegen die 242 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten überwältigenden Kräfte der politischen Korrektheit. Da diese Sprachvarietät inzwischen von Jugendlichen mit Deutsch oder anderen Familiensprachen gleichermaßen verwendet wird, belegt sie gleichzeitig den Brücken bildenden, geradezu Integration fördernden Charakter dieser Art Mehrsprachigkeit. Eine besondere erwerbsfördernde Funktion können Register und Sprachformen übernehmen, die den Kindern und Jugendlichen besonders nahe sind, nämlich solche Strukturen, die von ihnen auf ihren jeweiligen Erwerbsstufen verarbeitbar sind oder gar den Strukturen ihrer Erwerbsstufen entsprechen (vergleiche Roche 2001). In der Kommunikation mit Kindern (vergleiche Snow & Ferguson 1977) und in der Kommunikation mit Ausländern (vergleiche Roche 1998, 2001, 2005) ist nachdrücklich gezeigt worden, dass derartige Anpassungen zu einem beschleunigten und verbesserten Sprachenerwerb führen, wenn sie mit den Erwerbsstufen der Kinder Schritt halten. In der Kommunikation mit Kindern betrifft das in der ersten Phase auch das Imitieren der Lalllaute, mittels derer Eltern wichtige, erwerbsfördernde und nachhaltige soziale Bindungen zu ihrem Kind aufbauen können. In der Kommunikation mit Ausländern (Xenolekten, vergleichende Lerneinheiten 7.2) betrifft das unter bestimmten Umständen auch das Verwenden rudimentärer, infinitivartiger Äußerungen in Erklärungen oder anderweitig zentralen Äußerungen. Im Unterricht könnte ähnlich verfahren werden, und zwar primär mit solchen sprachlichen Realisierungen, die sich zum einen durch funktionale und pragmatische Merkmale auszeichnen und zum anderen gegebenenfalls auch rudimentäre Formen der Grammatik (oder Ellipsen) beinhalten, die als Übergang zu komplexeren Formen dienen können. Rück (2004) macht übrigens einen verwandten Vorschlag zur Brückenbildung über Internationalismen und konkretisiert das anhand verschiedener Sprachen für den Grundschulbereich. Bei Weinrich (1981) findet sich bereits ein Vorschlag zur Einführung von Sprachen in schulischen Lehrplänen, der sich an den hier gemachten Vorschlag gut andocken lässt: Er fordert das spielerische Erlernen von Begegnungssprachen in der Vorschule, das Einführen einer Fundamentalsprache zur Ausbildung des Sprachbewusstseins und einer internationalen Verkehrssprache in der Sekundarstufe 1 sowie die Einführung einer Erschließungssprache einer räumlich oder zeitlich entfernten Kultur in der Sekundarstufe 2. Zu verschiedenen Aspekten einer Umsetzung von Mehrsprachigkeit in Unterricht und Lehrerausbildung machen besonders auch Königs (2004) und List (2004: 133) konkrete Vorschläge. Die oft dargestellte Polarität von innerer und äußerer Mehrsprachigkeit lässt sich durch ein Kontinuum ersetzen. Das mögliche Einstiegsniveau zur Zweitsprache wird somit vorverlegt. Die Kinder sind früher an den Umgang mit differenten Strukturen gewöhnt. Ihre instinktiven Suchmechanismen werden ohne Unterbrechungen gefördert und weiterentwickelt. Die kritische Periode des Sprachenerwerbs (Lenneberg 1972) würde sich damit auch nur als fiktiv erweisen, denn der Sprachenerwerb lässt sich auf diese Weise weit über die Automatisierung von Routinen hinaus, die mit der kritischen Periode normalerweise erreicht wird, expandieren, günstigstenfalls bis ins hohe Alter hinein (vergleiche dazu auch Traoré 2000). In Begegnungsklassen oder gemischten Kooperationsklassen ließe sich das hier beschriebene Mehrsprachigkeitskonzept effizient von beiden Seiten aus, also von deutschsprachigen und nicht-deutschsprachigen Kindern verwenden, indem nämlich eine Extension der ihnen 243 7.1 Ethnolekte jeweils gegebenen inneren Mehrsprachigkeit in Richtung der jeweiligen Fremdsprache angestrebt wird. So begegnet man sich an den verschiedensten Ankerpunkten, wie bei der Kanaksprak unter Umständen auch in der Mitte. Die Interdependenzeffekte ließen sich auf diese Weise bereits vor der durch die Schule angestrebten Fremd- oder Mehrsprachigkeit geradezu spielerisch und ohne großen Aufwand gewinnbringend nutzen. Experiment Wie ist die Einstellung der Bevölkerung zum Thema Ethnolekt? Führen Sie eine Umfrage in Ihrem Bekanntenkreis und in der Familie durch. Erstellen Sie einen Fragenkatalog über fünf Fragen, die Ihnen Aufschluss über die Einstellung gegenüber Ethnolekten geben (zum Beispiel: Womit wird der Ethnolekt assoziiert? Sollte Ethnolekt im Unterricht thematisiert werden oder ist das ein Tabu? Schaden Ethnolekte der Umgebungssprache? und so weiter). Präsentieren Sie Ihren Probanden eine Kostprobe eines von Ihnen frei gewählten Ethnolekts und stellen Sie den Teilnehmern und Teilnehmerinnen im Anschluss die Fragen. Werten Sie die Ergebnisse aus und präsentieren Sie diese im Forum. Was halten Sie von den Ergebnissen? Da Sprache immer Wissen über eine Kultur transportiert und sie damit als Schlüssel zu fremden Kulturen angesehen wird, führt die Mehrsprachigkeit, wenn sie von beiden Seiten kommt, auch zu einer vernetzenden Begegnung der Kulturen. Natürlich bedingen sich dabei Sprache und Identität gegenseitig. Dieses Verhältnis ist jedoch nicht als ein abgeschlossenes und abgeschirmtes Verhältnis kultureller Geprägtheit zu verstehen, das einer Integration und Inklusion grundsätzlich im Wege stehen muss. Vielmehr ist es auch hier, wie bei modernen Kulturbegriffen, sinnvoll, von einem offenen und prozessbedingten Identitätsbegriff auszugehen. Schließlich hat eine Identität durch Differenziertheit und Facettenreichtum eher zu gewinnen als zu verlieren. Und diese Einsicht ist eben auch der Antrieb der inneren Mehrsprachigkeit aller Muttersprachen. Befürchtungen, dass Brückenvarietäten die Standardsprache verdrängen, sind deshalb grundlos. Sie unterschätzen den Spiel- und Entdeckungstrieb des Menschen und überschätzen die Fixiertheit von Sprachen. 244 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten 7.1.4 Zusammenfassung ▶ Ethnolekte sind eine wichtige Komponente im Variationskontinuum von Sprachen. ▶ Ethnolekte übernehmen besonders in einer Zeit der zunehmenden Globalisierung unterschiedliche Kommunikations- und Identitätskonstruktionsfunktionen. ▶ Anders als verbreitet vermutet, sind die von ihren Sprecherinnen und Sprechern gepflegten Ethnolekte dabei nicht nur ein temporäres Pidgin zur Überwindung von Kommunikationsproblemen, sondern auch ein Ausdrucksmittel einer besonderen Identität, die denen verwehrt bleibt, die sozial nicht dazu gehören. ▶ Als sekundäre und tertiäre Ethnolekte erfüllen Ethnolekte oft auch literarische, kabarettistische und karikierende Funktionen zur Fremd- oder Eigencharakterisierung von Sprechern und Sprecherinnen mit Migrationshintergrund oder Ausländern. ▶ Wenn ein Ethnolekt die bevorzugte Varietät von Lernern ist, scheint es sinnvoll, diese in den Unterricht aufzunehmen oder daran mit der sprachlichen Progression anzudocken. ▶ Auch als Gegenstand der Beschäftigung mit der Zielkultur sind Ethnolekte wichtig für den Unterricht. ▶ Wenn Ethnolekte zudem zwischen dem ursprünglichen Milieu und autochthonen Milieus vermitteln, das heißt Zugänge erlauben oder schaffen, dann eignen sie sich in idealerweise auch als Brückenvarietät für die soziale Integration. Die Kanaksprak ist dafür ein gutes aktuelles Beispiel. 7.1.5 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Erklären Sie, was Auer unter primärem, sekundärem und tertiärem Ethnolekt versteht. 2. Wo werden Ethnolekte und Sprachmischungen zur Charakterisierung von Fremdheit eingesetzt? 3. Inwiefern konstituieren Ethnolekte eine besondere Gruppenidentität? 4. Welche Rolle spielen Ethnolekte in Bezug auf landeskundliche Aspekte? Sollten Ethnolekte grundsätzlicher Gegenstand des Landeskundeunterrichts sein? Warum werden sie aber praktisch nie in Unterricht und Lehrmaterial behandelt? 245 7.2 Xenolekte und ihre Struktur 7.2 Xenolekte und ihre Struktur Jörg Roche Sie haben sich sicher schon einmal gefragt, welche Rolle neben biographischen und motivationalen Faktoren, die sprachliche Umgebung im Sprachenerwerb spielt. Die sprachliche Umgebung ist insofern relevant, als sie zum einen die Eingabe (Input) liefert, nach der der Lerner seine eigenen Äußerungen modellieren kann und zum anderen weil über sie versucht werden kann, den Erwerb gezielt zu steuern. Die Art und Weise, wie Sprecher und Sprecherinnen einer Zielsprache mit Lernern kommunizieren, wurde unter verschiedensten Aspekten untersucht. Von besonderem Interesse sind die Aspekte der sprachlichen Reduktion (Reduktionssprachen, Pidginformen), des Codewechsels und der Adressaten-Stigmatisierung (Abwertung). Während der Input in universalistisch-nativistischen Ansätzen eine untergeordnete Rolle spielte, betonen die in jüngerer Zeit aufkommenden Input-Modelle (Inputflut, Input Enhancement, Chunking und andere) dagegen die Bedeutung von Frequenzeffekten im Input für die Aufnahme (Intake) durch die Lerner. Dabei gibt es bis heute nur wenige Daten zum authentischen kommunikativen Verhalten von Sprechern und Sprecherinnen der Zielsprache im Kontakt mit Lernern. In der vorliegenden Lerneinheit werden die ungeahnte Variationsbreite und eine bis heute weitestgehend übersehene Systematik von Xenolekten ausführlich präsentiert. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ die Systematik und die hohe Variation der Sprache von Deutschsprachigen, die mit Lernern des Deutschen kommunizieren, kennenlernen; ▶ die stereotypen Vorstellungen von der Art und Weise und der Funktion dieser Sprache korrigieren können; ▶ die vielen Parallelen des großen Variationsspektrums dieser Xenolekte mit anderen Formen des Codeswitching und Sprachenwechsels und die Effizienz, die damit verbunden ist, erkennen können; ▶ die vielen Parallelen zu der Sprache der Basisvarietät und anderen Reduktionssprachen erkennen können; ▶ bessere Inputstrategien auch für den Unterricht entwickeln und anwenden können. 7.2.1 Struktur des Inputs im Sprachenerwerb Eine wichtige Rolle im Sprachenerwerb spielen die verschiedenen Umgebungssprachen, an denen ein Lerner seine eigene Sprache modellieren kann. Lerner sind in der Regel unterschiedlichen sprachlichen Umgebungen ausgesetzt, zu denen oft auch reduzierte Formen der Eingabe gehören. Diese sind besonders interessant, weil unterstellt werden kann, dass sie 246 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten entweder den Sprachenerwerb behindern oder das genaue Gegenteil bewirken, also besser auf die Bedürfnisse der Lerner abgestimmt sind als unspezifischer Input. Verbreitet wird die veränderte Eingabe folgendermaßen charakterisiert: Phonologische Merkmale: ▶ Pausen zwischen Silben und Wörtern, insbesondere von Schlüsselwörtern ▶ längere Pausen zwischen Phrasen und Sätzen ▶ verringerte Sprechgeschwindigkeit, stärkere Betonung zur Hervorhebung ▶ deutlichere Aussprache ▶ größerer Stimmbereich und übertriebene Intonation ▶ lauteres Sprechen ▶ Vermeidung von zusammengezogenen Formen Morphologische und syntaktische Merkmale: ▶ kürzere Äußerungen (weniger Wörter pro Äußerung) ▶ größere Regelkonformität / Orientierung an unmarkierten Formen der Syntax ▶ koordinierende Strukturen werden subordinierenden vorgezogen ▶ weniger Inversion ▶ Tendenz zur Beibehaltung optionaler Elemente ▶ deutlichere und analytische Markierung grammatischer Beziehungen ▶ mehr korrekte Äußerungen/ weniger Abbrüche ▶ mehr Fragen, besonders ▷ ja / nein Fragen, Intonationsfragen ▷ mehr Bestätigungs- und andere Nachfragen ▶ mehr Verben im Präsens/ weniger in anderen Tempora ▶ Auslassung von Endungen ▶ Auslassung von Wörtern Semantische und lexikalische Merkmale: ▶ beschränktes Lexikon ▶ niedriges Type-Token-Verhältnis (hohe Frequenz von wenigen Elementen / Typen) ▶ höherer Anteil von Inhaltswörtern/ weniger Funktionswörter ▶ höhere Frequenz von Nomen und Verben ▶ höherer Anteil an Kopula im Vergleich zu anderen Verben ▶ hohe Frequenz von Paraphrasen, alternativen Formulierungen und Wiederholungen ▶ deutlichere und analytische Markierung semantischer Beziehungen ▶ weniger idiomatische Ausdrücke ▶ hohe Frequenz deiktischer Elemente ▶ keine Markierung von situativ und kontextuell bekannten Referenten ▶ markierte Verwendung lexikalischer Elemente, wie Fremdwörter oder fremd klingende Wörter 247 7.2 Xenolekte und ihre Struktur Themen: ▶ engerer Themenbereich ▶ Bevorzugung auffälliger Themen ▶ kürzere Behandlung von Themen (weniger Information pro Thema/ niedriges Verhältnis von Thema-einleitenden zu weiterführenden Einheiten) ▶ Bevorzugung von Hier-und-Jetzt-Themen Interaktionale Struktur: ▶ offene Themenkontrolle einschließlich ▷ mehr abrupten Themenwechseln ▷ größere Bereitschaft, die Themenwahl dem Gesprächspartner zu überlassen ▷ größere Akzeptanz unbeabsichtigter Themenwechsel ▷ größere Ambiguitätstoleranz ▶ klare Markierung neuer Themen ▶ höhere Frequenz von Fragen bei Thema-einleitenden Sequenzen ▶ mehr Frage-Antwort-Paare ▶ bessere Verständniskontrolle des nichtmuttersprachlichen Sprechers einschließlich ▷ mehr Verständnisnachfragen ▷ mehr Bestätigungsfragen ▷ mehr Bitten um Klärung ▶ mehr Bestätigung des eigenen Verstehens ▶ mehr Wiederholungen (Selbstwiederholungen und Wiederholungen des anderen) ▶ mehr Erweiterungen ▶ mehr Segmentierungen ▶ mehr Gestik und Mimik Tabelle 7.1: Liste typischer Merkmale von Xenolekten (nach Roche 2013: 98) Die reine Aufzählung von Merkmalen in unterschiedlichen linguistischen Bereichen führt unter anderem dazu, dass funktionale und pragmatische Aspekte dieser Kommunikationsregister in den Hintergrund treten. Es tritt der irritierende Effekt ein, dass in dieser Form der Kommunikation auch diametral entgegengesetzte Merkmale wie Auslassungen und Erweiterungen sowie standardsprachliche Merkmale nebeneinander erscheinen. Wenn aber alles möglich ist, lässt sich das Besondere nicht mehr feststellen. Das ist dann nicht besonders attraktiv für die Theoriebildung. Gleichzeitig muss aber auch festgehalten werden, dass auch in anderen Bereichen der Erwerbsforschung und auch in der Sprachstandsdiagnose und auch in Lernerübungen und Unterrichtsmaterialien oft strukturelle Elemente im Vordergrund stehen, die wenige Aussagen über die wirklichen Kommunikationsprinzipien zulassen. Wir wollen daher in dieser Einheit gerade einen Blick auf die kommunikativen (pragmatischen) Funktionen werfen. Aber zunächst noch ein weiterer Blick auf die Formelemente. 248 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten Wie Sie in der Darstellung der Merkmale sehen, scheint in reduzierten Varietäten (Reduktionssprachen) fast alles möglich zu sein scheint. Deshalb wurde verschiedentlich versucht, die auftretende Variation funktional zu klassifizieren. Ellis (1986: 133f) unterscheidet daher drei verschiedene Gesprächstypen, die sich durch folgende Anpassungen auszeichnen: 1. interaktionale Anpassungen ohne formale Vereinfachungen, 2. interaktionale und grammatische Anpassungen und 3. interaktionale, grammatische und ungrammatische Anpassungen. Häufig wird die Ursache der Veränderungen allgemeinen Merkmalen wie bestimmten Sprecherpräferenzen, den Sprachkenntnissen des Adressaten beziehungsweise der Adressatin oder den Rollen und dem Alter der Gesprächsteilnehmer und -Teilnehmerinnen zugeschrieben. Diese allgemeinen Zuschreibungen können jedoch nicht die interne Variation-- bei gleichbleibenden allgemeinen Bedingungen- - erklären. Diese Variation manifestiert sich im Inventar von vier erstaunlich gut unterscheidbaren Äußerungsebenen: ▶ Umgangssprachliche Strukturen (a-Äußerungen) ▶ Vorwiegend phonologische Anpassungen (b-Äußerungen) ▶ Begrenzte Veränderungen oder Auslassungen, wobei selten mehr als ein Element pro Äußerung betroffen ist (c-Äußerungen) ▶ Vorwiegend unflektierte Inhaltselemente, die in strikten Thema-Rhema-Strukturen angeordnet sind (d-Äußerungen) Im Gegensatz zu älteren Annahmen handelt es sich also nicht um ein typisches Register mit gleichbleibenden Merkmalen wie im „Tarzanischen“ (der stereotypisierten, meist literarischen Reduktionsvarietät des richtigen oder urbanen Dschungels), sondern um ein dynamisches System der Anpassungen an einen Sprecher einer anderen Sprache. Diese variantenreichen, dynamischen Sprachformen werden analog zu anderen Variationssystemen (-lekten), die innere Mehrsprachigkeit ausdrücken, Xenolekte genannt. a-Äußerungen Dieser Äußerungstypus kann in jeder Art von xenolektaler Kommunikation beobachtet werden, die über sehr begrenzte (anekdotische) Gesprächsfetzen hinausgeht. Er besteht aus Äußerungen, die keine oder nur wenig bemerkbare Veränderungen der grammatischen Struktur aufweisen. Diese Äußerungen entsprechen im Großen und Ganzen der Umgangssprache oder dem Dialekt eines Sprechers beziehungsweise einer Sprecherin und können daher als Standardäußerungen bezeichnet werden: Die Tür geht nicht zu, das ist zu schwer, geh’n Sie mal. Manche Äußerungen stellen Anpassungen auf mehreren konversationellen Ebenen dar. Sie können eine semantische, lexikalische oder diskursstrategische Anpassung repräsentieren: Ich glaube, es ist zu schwer, Ihnen das zu erklären. b-Äußerungen Diese Äußerungen lassen sich in Bezug auf ihre deutlich langsamere Sprechgeschwindigkeit und ihre + kla-re + Pau-sen-struk-tur + zwi-schen + Sil-ben + Wort + und + Satz unterscheiden. Das Zeichen ,-‘ stellt dabei eine kurze Pause zwischen Silben dar, während ,+‘ 249 7.2 Xenolekte und ihre Struktur einer Pause von circa einer Sekunde in dieser Art der Transkription entspricht. Dieser Äußerungstyp kann auch Hyperkorrekturen enthalten, wie zum Beispiel die betonte Aussprache von Endsilben statt der Verschleifungen der Umgangssprache und des Dialekts (guten Abend statt gutn aamt). In diesem Äußerungstyp gibt es keine ungrammatischen Anpassungen. Fossilisierte Ausdrücke wie Türkischmann (,Türke’) oder double dogi (‚ein ein-Fuß-langer-Hot Dog‘) treten jedoch häufiger auf. Bei vielen dieser Ausdrücke handelt es sich um Spontanbildungen, die außer in sogenannten „Kultformeln“ (guckstu? ; long time-- no see) so in der Umgangssprache nicht vorkommen. c-Äußerungen Im Gegensatz dazu zeigt der dritte Äußerungstyp grammatische Veränderungen gegenüber der Umgangssprache, die normalerweise auf ein Element oder zwei zusammengehörige Elemente einer Konstituente (zum Beispiel Artikel und Präposition) beschränkt sind (ich geh zum Bus, du gehst Bahnhof). Die Anpassungen sind auf ein Vorkommen der gleichen oder einer ähnlichen Konstituente pro Äußerung beschränkt. So ist zum Beispiel in den oben angegebenen Äußerungen zu dem nur einmal in du gehst Bahnhof ausgelassen, aber in zum Bus sind Präposition und Artikel realisiert. d-Äußerungen Dieser Äußerungstyp enthält nur Inhaltselemente in höchst komprimierter Form und verzichtet weitestgehend auf grammatische Markierungen. Oft erscheinen mehrere d-Äußerungen in einer Sequenz. Hier ist dann eine klare Trennung von rahmenden, thematischen und fokussierten Elementen zu beobachten. Bekannte Information, die für die Äußerung als (thematisch) nicht relevant angesehen wird, bleibt meist implizit. Die drei Äußerungen der Sequenz this coffee container goes to the storage, the tablecloths need to be washed, but leave the table here lauten als d-Äußerung komprimiert: this go storage + wash + leave table here. Die Informationsstruktur dieser Sequenz lässt sich folgendermaßen darstellen: 1 2 3 This → go storage wash leave table here Äußerung Thema → Rhema → Rhema Thema → Rhema → Rhema äußerungsinterne Mikrostruktur der Sequenz Thema → Rhema Thema → Rhema sequenzinterne Entwicklung Thema → Rhema → Rhema Makrostruktur Tabelle 7.2: Informationsstruktur und -entwicklung in d-Äußerungssequenzen (nach Roche 2013: 101) 250 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten Die Realisierung der vier Äußerungsstufen geschieht nach pragmatischen Gesichtspunkten und wechselt daher auch innerhalb eines Gesprächs und bei gleichbleibender Sprecherkonstellation, Thematik und Situation. Die funktionalen Strukturierungsprinzipien, wie sie in dem Beispiel aus Florida deutlich werden und nach denen die veränderten Äußerungstypen kategorisiert werden, weisen offensichtliche Parallelen zur Basisvarietät der Lerner, Givóns Typologie (1979) von pragmatischem und grammatischem Modus und anderen Varietäten erschwerter oder begrenzter Kommunikation auf (vergleiche Lerneinheit 3.1). Parallelen sind zum Beispiel in Fällen des Erst- und Fremdsprachenerwerbs, des Sprachverlustes, wie bei der Wiedererlernung der Erstsprache durch Aphasiker (vergleiche Heeschen 1985; Kolk & van Grunsven 1985) sowie in der Telegrammsprache, in SMS , Chats oder journalistischen Genres zu finden: (1) Nächster Halt: Assling. Oberbayern. Ausstieg rechts. (Bahn-Ansage) (2) Alles gut? / long time no see ( SMS , Begrüßung), (3) Geldräuber: Heimweh nach Mama (Zeitungsüberschrift). So lassen sich d-Äußerungen auch sehr gut in das Paradigma einordnen, das Givón (1979) als Pragmatic Mode und Klein und Perdue (1997) als Basisvarietät beschreiben (siehe Lerneinheit 3.1). Wie sich die xenolektale Variation in einem zusammenhängenden Gespräch gestaltet, illustriert das folgende Beispiel. Zur Situation: Der Verkäufer mit L1 Englisch erklärt in einem großen Warenhaus in Toronto (Kanada) einer Migrantin aus El Salvador, die nur über einfache Englischkenntnisse verfügt, die Funktionsweise verschiedener Waschmaschinen (Roche 1998: 125f): A simpler washing machine Verkäufer: well this + here is a simpler ++ this is a very simple + okay? ++ this very basic is just all normal + no delicate no permanent press + okay? is just very basic + you go from here + and then when you go to this one here + see this one has a three speeds + and a washer its water temperature + but that one you can’t do much with is 251 7.2 Xenolekte und ihre Struktur Migrantin: okay is much simpler Verkäufer: yeah +++ Die zahlreichen „Fehlstarts“ oder Neuansätze zeigen deutlich, dass der Verkäufer anfänglich Probleme hat, die Kundin in angemessener Weise anzusprechen. Die unvollständigen Äußerungen am Anfang des Auszugs und einige in der Mitte (and then when you go to this one here) sowie umgangssprachliche Elemente belegen diese Unsicherheit. Andere wie this one has a three speeds, its watertemperature oder is just very basic enthalten dagegen leichte Veränderungen (c-Typus), während eine weitere Gruppe von Äußerungen dem d-Typus zuzuordnen ist (this very basic, no delicate, no permanent press). Ein-Wort-Äußerungen wie okay? und see könnten dabei auch zu dieser Gruppe gezählt werden, da sie umfangreiche und teilweise implizite Propositionen in stark komprimierter Form zusammenfassen. 7.2.2 Zur Systematik des Codewechsels in Xenolekten Diese Art der Variation in der Eingabe, wie sie im Beispiel A simpler washing machine zu sehen ist, kann als Codewechsel aufgefasst werden. Sie ist typisch für Gespräche mit Lernern, von denen der Sprecher oder die Sprecherin annimmt, dass sie über keine ausreichenden Kenntnisse der Zielsprache verfügen. Abbildung 7.4 illustriert dies anhand quantitativer Daten einer umfangreichen Untersuchung authentischer Eingabe (Roche 1989). Die Gespräche wurden in einem quasi kontrollierten Versuch aufgezeichnet. Zur Situation: Der Adressat (T18), ein 35-jähriger türkischer Arbeiter und seine deutschen Kollegen (25 bis 55 Jahre alt) waren in einem großen Zulieferbetrieb der Automobilindustrie angestellt, kannten sich schon lange und kamen gut miteinander aus. Alle Aufnahmen entstanden bei ungezwungenen Gesprächen über die Arbeit oder privaten Angelegenheiten der Informanten. Sie wurden am Arbeitsplatz, in der Werkskantine oder auf dem Parkplatz des Betriebes aufgezeichnet. Zu beachten ist, dass es sich immer um denselben Adressaten handelt und nur die deutschen Informanten wechseln (siehe Abbildung 7.4). 252 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten Abbildung 7.4: Präferenzfolge von xenolektalen Merkmalen in den Fabrikdaten (nach Roche 1998), dargestellt am Mittelwert der Interaktionen T1801, T1802, T1803, T1807, T1810, T1814, T1816) pro Wörter Um bestimmen zu können, inwieweit der Adressat für die Anpassungen der Sprecher selbst verantwortlich ist, wurden die sprachlichen Fertigkeiten verschiedener Migranten von einer deutschsprachigen Kontrollgruppe bewertet, dem nur die Tonaufnahmen vorgespielt wurden. Die Ergebnisse dieser Bewertung zeigt Abbildung 7.5: Abbildung 7.5: Subjektive Sprachstandsbewertung von sechs nichtdeutschsprachigen Adressaten und einem deutschsprachigen Sprecher durch eine Kontrollgruppe von deutschsprachigen Bewertern. Die Bewertung basiert auf der Verständlichkeit der Sprache der Informanten auf einer Skala von 0 bis 6 (Roche 1998: 100) 253 7.2 Xenolekte und ihre Struktur Zu den Informanten: Bei It01 handelt es sich um einen 52-jährigen italienischen Arbeiter, der Deutsch auf einfachem A1-1 Niveau nach dem Europäischen Referenzrahmen beherrscht. Sein Wortschatz ist sehr begrenzt und er spricht mit starkem Akzent. It02 ist ein 55-jähriger italienischer Arbeiter, der Deutsch zwar flüssiger, aber grammatikalisch nicht wesentlich besser als It01 beherrscht (A1-2 Niveau). T13 ist eine 43-jährige türkische Putzkraft mit Deutschkenntnissen auf A2-Niveau. T12 ist ein 35-jähriger türkischer Krankenpfleger mit mittleren Deutschkenntnissen auf B1 / 2-Niveau. T11 ist ein 25-jähriger türkischer Student, der sich nebenbei seinen Lebensunterhalt in einer Fabrik verdient. Wortschatz und Grammatik sind gut entwickelt und seine Aussprache ist zielsprachlichen Normen sehr nahe (B2 / C1). Pe01 ist ein 26-jähriger peruanischer Deutschstudent, der zwar vergleichsweise langsam, aber größtenteils grammatikalisch korrekt Deutsch spricht (C1-Niveau). Seine dunkle Hautfarbe beeinflusst offenbar-- zumindest am Anfang der Gespräche-- die Einschätzung seiner Sprachkompetenzen durch die deutschen Informanten, wie vor allem an deren stark verlangsamter Sprechweise zu Beginn der Gespräche erkennbar ist. Die Informanten wurden anschließend gebeten, sich mit mehreren, zuvor ausgewählten Verkäufern in größeren Warenhäusern im Rhein-Neckar-Gebiet zu treffen, um sich über verschiedene Waschmaschinenmarken und -modelle zu informieren. Dies geschah über einen Zeitraum von mehreren Wochen und in zufällig gewählter Reihenfolge. Alle Informanten bekamen dabei die gleichen Instruktionen und die gleiche Liste von Fragen, zum Beispiel, wie die Maschine funktioniert, wie viel sie kostet, wie viel Wasser und Strom sie verbraucht, wie die Garantiebedingungen sind, wie die Ersatzteilversorgung gewährleistet ist, ob die Maschine auch im Heimatland der Adressaten benutzt werden könnte und wie der Export ablaufen würde. Folgt man der Sprachstandseinschätzung der Adressaten, so müsste man annehmen, dass die Anpassungen analog zu den abnehmenden Fertigkeiten der Adressaten zunehmen, oder anders ausgedrückt, je geringer die Deutschkenntnisse der Adressaten, desto mehr Anpassungen müssten in der Sprache der Zielsprachensprecher zu finden sein. Überraschenderweise passiert das aber nicht in allen Fällen. Die Daten von D101, einem circa 40-jährigen Waschmaschinenverkäufer, zeigen dies in eindrucksvoller Weise (vergleiche dazu Abbildung 7.6). 254 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten Abbildung 7.6: Adressatenspezifische Anpassung in Xenolekten (Roche 1998: 101) Die vier ausgewählten Merkmale weisen einige überraschende Anpassungsstrategien des Sprechers auf. Wie erwartet, benutzt er die stärksten Anpassungen in dem Gespräch mit dem am niedrigsten eingestuften Adressaten. Aber er verwendet ebenfalls recht starke Anpassungen gegenüber den höchsteingestuften Adressaten. Mehr als zwei Drittel aller Äußerungen des Informanten im Gespräch mit It01 bestehen aus d-Äußerungen. Obwohl die hier wiedergegebenen Daten sowohl die sprecherspezifischen Präferenzen als auch die adressatenspezifischen Einflüsse in xenolektaler Variation belegen, reichen sie nicht aus, um die in einem Gespräch auftretende Variation völlig zu erklären. Experiment Sie fragen sich bestimmt schon, welche Auswirkungen diese Ergebnisse auf den Sprachenerwerb eines Lerners haben können. Machen Sie sich Notizen über die potentiellen Auswirkungen eines dermaßen heterogenen Inputs für den Lerner. Sehen Sie sich im Anschluss den folgenden Dialog an: Inwiefern reflektiert die Sprache des Telefonats xenolektale Strukturen, aber auch korrekte Strukturen authentischer Telegrammsprache? Wie bewerten Sie die Verständlichkeit und Nützlichkeit für den oder die Lerner? Was wären die nächsten Schritte? Wie verhindern Sie Fossilisierungen? Suchen Sie für Ihre eigenen Unterrichtszwecke für die Grundstufe geeignete Texte und bearbeiten Sie sie im gleichen Sinne. Ä = deutschsprachige Ärztin; P = türkische Patientin auf niedrigem Erwerbsniveau (…) 255 7.2 Xenolekte und ihre Struktur 1 Ä: Rauchen Sie noch Frau Eski? 2 P: Ah, nix zu viel (…) 3 Ä: Wie viel? 4 P: Zwei, drei Stück, jeden Tag, nicht so viel. 5 Ä: Zwei bis drei? 6 P: Früher war zwei Pakett. 7 Ä: Huijuijui. 8 P: Aber jetzt nix mehr, jetzt (…) 9 Ä: Mhm. 10 P: Wann ich nerven bin, ich rauch weg, ich hab nix lügen (…) . 11 Ä: Mhm. 12 P: Aber wann nicht nerven (…). 13 Ä: Mhm. 14 P: ist nichts. 15 Ä: Mhm. 16 P: Aber wenn ich merk irgendwas, Probleme oder was, oder schlecht werd (…) 17 Ä: Mhm. 18 P: hören oder, oder irgendwas (…) 19 Ä: Mhm. 20 P: Oder bin ich 21 Ä: Mhm 22 P: krank 23 Ä: Mhm 24 P: oder irgendwas mag ich rauchen (…) aber sonst (…) 25 Ä: Mhm, mhm sonst nicht. 26 P: Hmhm, nö nö. 27 Ä: Mhm, ja gut. Also jetzt füllen wir das nachher aus. (…) (Sancak 2004: 69-70) 7.2.3 Illokution und Codezuordnung Um die hohe Variation in Xenolekten zu erklären, sind auch hier (wie im Sprachenerwerb oder bei den Pidgins) die illokutionären Funktionen der Äußerungen zu berücksichtigen. Nur so können beispielsweise die erhöhten Werte des Gespräches zwischen D101 und Pe01 und die gegenläufig erscheinenden Strategien im oben beschriebenen Beispiel erklärt werden. Die beobachtbare Variation zeigt daher auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit der Systematik von anderen Codewechseln: Narrative Sequenzen und andere Gesprächspartien, die eine zentrale Rolle bei der Informationsübertragung spielen (wie Erklärungen), weisen in der Regel die stärksten Veränderungen auf, zum Beispiel die Erklärung der wichtigsten Funktionen der Waschmaschine in dem oben zitierten Auszug (no delicate, no permanent 256 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten press, okay? ). Interessanterweise kehren die Informanten auch nach der Einblendung anderer Sprechakte, wie Kommentaren oder zitierter Rede, zu dem Äußerungstyp zurück, in dem sie die Erzählung oder Erklärung begonnen haben. Das gilt auch für andere Vorkommen, in denen der Sprecher oder die Sprecherin nach längerer Zeit (zum Beispiel bei Erklärungen in Verkaufsgesprächen) zu einem früheren Skript zurückkehrt. Dies ist im folgenden Beispiel (Roche 1998) ebenfalls zu erkennen. Hier versucht MF , ein englischsprachiger kanadischer Student, einem estnischen Immigranten ( GZ ) das Konzept ‚Mennonit‘ zu erklären. GZ war zum Zeitpunkt der Aufnahme pensioniert und wurde von MF im Rahmen eines Projektes zur Geschichte der kanadischen Migration interviewt, wobei das Projekt keinen spezifischen Sprachfokus hatte: GZ : are you catolic? or? MF : no I’m not I’m not catholic no GZ : ah MF : I’m kind of a ++ my mother is + my family is basically ähm ++ mennonite? you know mennonites? + ähh Kitchener Waterloo ++ ähm area down ä south in the south äh ++ mennonites they’re from + Germany and Switzerland GZ : yes yes yes MF : and they wear black and +++ very old old fashioned people they they + they ride on horses and buggies still even you know? I come from that + group + of reli of religion + yeah but I + I know a little bit about + catholicism and what’s involved-[…] (Roche 1998: 126f) MF beginnt in diesem Beispiel die Sequenz ‚mennonites‘ in umgangssprachlichen Äußerungen (no I’m not, I’m not catholic), fügt eine erweiterte Erklärung ein, um dann wieder zu der ursprünglichen Äußerungsebene zurückzukehren (I come from that group of religion …). Darüber hinaus gibt es im xenolektalen Repertoire drei Typen von Komprimierungen: Textsequenzen, die eine gegebene Proposition oder Nachricht komprimieren, Textsequenzen, die eine Proposition durch Zusatzinformation erweitern, und Textsequenzen, mit denen versucht wird, bestimmte Aspekte durch die Einführung verschiedener konzeptueller Referenzpunkte zu verankern. Ein Beispiel aus dem Gespräch ‚mennonite‘ ist der Versuch, das Konzept durch die Lokalisierung in verschiedenen Städten Südontarios zu verankern. Diese Formen der Komprimierung sind mit einer Reihe von Lexikalisierungsstrategien verwandt, die Zweitsprachenlerner selbst anwenden, zum Beispiel lexikalische Dekomposition, Umschreibung, Paraphrase, Annäherung und Übergeneralisierung (hierzu Duff 1997 zu einer detaillierten Darstellung von Lexikalisierungsstrategien und semantischer Kompetenz). Rahmende Sequenzen und Einbettungen, Klärungen als Folge von Nachfragen, Kommentare (inklusive Schimpfwörter) und Exkurse sowie Bewertungen, Bestätigungsbitten und metalinguistische Einleitungen zu direkter und indirekter Rede sind in der Regel in weniger 257 7.2 Xenolekte und ihre Struktur stark veränderten Äußerungstypen oder umgangssprachlich (als a-Äußerungen) realisiert. Zitierte Rede (direkt oder indirekt) erscheint dabei normalerweise in umgangssprachlichen Äußerungen oder der angenommenen beziehungsweise imitierten Form des Originals: Du weißt des doch noch, ne? Mist, geht nicht richtig zu hier. Na, dann ist der also gekommen und hat gesagt: -… Verstehst Du? . Die Anpassungsniveaus geben die Einschätzung der kommunikativen Relevanz wieder, so wie sie sich im Rahmen der Ziele und Absichten des Sprechers und der von ihm angenommenen Aufnahme durch den Adressaten realisiert. Je höher die kommunikative Relevanz der Information eingeschätzt wird, desto stärker sind die strukturellen Veränderungen der entsprechenden Äußerungen. Beeinflusst wird die Realisierung xenolektaler Äußerungen auch durch bestimmte soziale Normen, die kulturspezifisch variieren können. Xenolekte sind in verschiedenen Kulturen unterschiedlich akzeptiert oder tabuisiert. Deswegen sprechen manche Leute lieber laut, langsam oder wiederholen viel, statt grammatische Veränderungen vorzunehmen. Unter anglophonen Sprechern lässt sich oft, zumindest in bestimmten Kontexten, eine Präferenz für lautes Sprechen beobachten. 7.2.4 Zur Rolle der vereinfachten Eingabe im Zweitsprachenerwerb Die vereinfachte Eingabe hat immer wieder zu Spekulationen über die limitierenden Funktionen der sprachlichen Umgebung im Sprachenerwerb Anlass gegeben. Zum einen ist angenommen worden, dass die gegenseitige Imitation semantisch und grammatikalisch verarmter Formen durch Lerner und Xenolektsprecher beziehungsweise -Sprecherinnen zu einer Pidginisierung oder Fossilisierung der Interimssprache der Lerner führt. So entstehe ein zirkulärer Prozess ohne Ausgangsmöglichkeit (Pidginisierungshypothese) (Schumann 1978). Zum anderen ist die angenommene Unterspezifizierung der Eingabe (Underdetermination und Degeneracy) oft zur Stützung nativistischer Modelle des Sprachenerwerbs herangezogen worden (White 1989). Wenn die Lerner nicht alle Elemente und Strukturen der Zielsprache hören, aber sie dennoch erwerben, so postuliert White, müssten sie einer angeborenen Grammatik entnommen werden. Die angeborene, universelle Grammatik müsse dabei über die Universalität funktionaler und prozessbezogener Prinzipien sowie die allgemeine Fähigkeit des Lerners hinausgehen, aus der Eingabe zu generalisieren. Die simplifizierte Eingabe „fails to exemplify all sorts of complex properties of language, making the acquisition problem worse rather than better“ (White 1989: 12). Diese Behauptung geht von einer verarmten, homogen simplifizierten Sprachumgebung aus, die aber in keiner Studie belastbar belegt ist. Im Gegenteil, die wenigen Studien authentischer Xenolektkommunikation (siehe Übersicht und Analysen in Roche 1998, 1989) zeigen, wie auch die Beispiele oben, eine sehr variantenreiche Sprachumgebung und umfangreiche Aushandlungsprozesse mit dem Ziel, eine verstehbare Eingabe zu generieren (Larsen-Freeman & Long 1991: 134ff; Klein 1992; Hatch 1983). Dabei werden solche Anpassungen als für den Sprachenerwerb am besten geeignet angesehen, die aufgrund einer Aushandlung der referentiellen Bedeutung zustande kommen (Kasper & Kellermann 1997). 258 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten Würde sich die Eingabe strikt an dem sprachlichen Niveau des Lerners ausrichten, müsste sich interindividuell unter den Sprechern der Zielsprache bei gleichbleibenden Adressaten und Gesprächssituationen eine größere Homogenität zeigen. Diese Homogenität ergibt sich aber nicht aus den oben dargestellten Daten. Es ergibt sich ferner auch keine Anpassung, wie sie Krashen in der Inputhypothese (i+1-Hypothese) (Krashen 1985, 1980) formuliert hat, nicht zuletzt deshalb, weil die Sprecher und Sprecherinnen dann ja über eine recht geschulte Analysefähigkeit verfügen müssten (vergleiche auch die hohe beobachtete Variation in Lerneräußerungen in der Studie von Terrasi-Haufe 2004 und Diehl, Christen, Leuenberger, Pelvat & Studer 2000). Demnach läge die optimale Eingabe jeweils eine Stufe über der Erwerbsstufe der Lerner, in der „Zone der nächsten Entwicklung“. Über die dazu nötigen Diagnosekompetenzen verfügen Sprecher und Sprecherinnen aber nur in seltenen Fällen. Zudem bewerten sie den Klärungsbedarf der Lerner oft in anderen als linguistischen Kategorien (zum Beispiel nach der Sprechgeschwindigkeit, der Mimik und dem Aussehen). Xenolekte weisen eine große Bandbreite von Zugangsmöglichkeiten zur Eingabe auf, und zwar sowohl simplifizierte als auch komplexe. Diese verschiedenen Formen dienen dazu, angenäherte Kommunikationsebenen und damit eine angemessene Eingabe auszuhandeln. Daraus ergeben sich auch Produktionen, die entweder hinter dem Erwerbsstand der Lerner zurückbleiben, oder ihm weit voraus sein können. Hinzu kommt ein undefinierbares Maß an inzidenteller Eingabe in der Sprachumgebung, besonders durch das Sprachbad der Medien. Sprecher und Sprecherinnen der Zielsprache passen sich den kommunikativen Bedürfnissen der Adressaten und Adressatinnen in flexibler Weise an, während sie-- aus eigenem Interesse-- ein effizientes Management ihrer eigenen Anpassungsressourcen betreiben. In gewisser Weise können Xenolekte als intuitives pädagogisches Mittel im natürlichen Sprachenerwerb gelten: Sobald ein Zugangsniveau (in Form eines bestimmten Äußerungstyps) festgelegt ist, wird der Lerner beziehungsweise Adressat oder Adressatin meist schnellstmöglich zu umgangssprachlichen (zielsprachlichen) Strukturen zurückgeführt. Snow und Ferguson (1977), Hatch (1983) und andere haben bereits früh darauf hingewiesen, dass Foreigner Talk (als verkürzte und oft stereotype Variante von Xenolekten) und Caretaker Talk (die Sprache von Pflege- und Betreuungspersonal)- - kindgerichtete Sprache (Motherese- - Ammensprache) ähnliche Funktionen erfüllen, nämlich die Kommunikation zu fördern, persönliche Beziehungen auf- und auszubauen und temporäre Funktionen im Unterricht zu übernehmen. Lernerkommentare bestätigen diese Forderungen, indem sie auf die Hilfestellung hinweisen, die eine simplifizierte Eingabe solange darstellt, wie sie kommunikativ nötig und als solche (und nicht als Stigmatisierung) beabsichtigt ist (Roche 1989). Die Verfügbarkeit einer breiten Palette von Eingabevarietäten bedeutet nicht, dass die Lerner die überwältigende Fülle der neuen Strukturen analysieren und verarbeiten können. Es fehlt ihnen oft die Kompetenz zur Unterscheidung zwischen umgangssprachlicher Eingabe und verschiedenen davon abweichenden Varietäten und Registern. Archibald und Libben (1995: 373) zeigen dazu auf, wie Lerner das von ihnen bevorzugte Eingabemodell aktiv, wenn auch nicht immer bewusst, suchen. Ihre Auswahl gilt als unmarkiert, wenn die Lerner die Sprache ihrer unmittelbaren Umgebung (zum Beispiel ihrer Alters- oder Freundesgruppe) erwerben, und als markiert, wenn sie davon abweichen. Im Sprachunterricht mit Jugendlichen 259 7.2 Xenolekte und ihre Struktur und Kindern, aber auch im Fachsprachenunterricht, liegt es daher nahe, die Eingabemodelle der Adressatengruppen angemessen zu berücksichtigen. Dies gilt auch in Bezug auf die Auswahl kommunikativer Aufgaben und Lesetexte oder grammatikorientierter Aufgaben und Übungen. 7.2.5 Zusammenfassung ▶ Xenolekte weisen eine große Bandbreite von Zugangsmöglichkeiten zur Eingabe auf, und zwar sowohl simplifizierte als auch komplexe. ▶ Die verschiedenen Formen sowohl umgangssprachlicher als auch reduzierter Eingabe dienen dazu verständliche Eingabe auszuhandeln. ▶ Die Äußerungen von Zielsprachensprechern und -Sprecherinnen in der Kommunikation mit Lernern lassen sich recht konsistent in vier Äußerungstypen einteilen, deren reduzierte Varietäten (d-Äußerungen) sehr viele Gemeinsamkeiten mit der Basisvarietät der Lerner und anderen Erscheinungen des pragmatic mode haben. ▶ Produktionen können gelegentlich entweder hinter dem Erwerbsstand der Lerner zurückbleiben („Tarzanisch“), oder ihm weit voraus sein (wenn Sprecher beziehungsweise Sprecherinnen ihre eigenen Normen voranstellen und sich nicht auf den Adressaten oder die Adressatin einstellen können oder wollen). ▶ Sprecher und Sprecherinnen der Zielsprache passen sich also den kommunikativen Bedürfnissen der Adressaten und Adressatinnen in flexibler Weise an, während sie-- aus eigenem Interesse-- ein effizientes Management ihrer eigenen Anpassungsressourcen betreiben. ▶ Xenolektale Sprache ist für Sprecher und Sprecherinnen auf Dauer mühsam. ▶ Imitationen der Sprechweise der ausländischen Adressaten und Adressatinnen sind in authentischen Situationen kaum zu beobachten und wenn dann auf einzelne lexikalische Elemente und Chunks sowie eine kurze Zeit begrenzt. 7.2.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Was versteht man unter den Begriffen Xenolekt, Foreigner Talk, Caretaker Talk und Motherese? 2. Vergleichen Sie die Beispiele dieser Lerneinheit mit den Beispielen der Basisvarietät. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede stellen Sie fest? Beachten Sie hierbei vor allem die Typologie Givóns. 3. Erstellen Sie eine Tabelle, in der die vier Äußerungstypen xenolektaler Sprache übersichtlich dargestellt werden. 260 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten 7.3 Pidginisierung und Kreolisierung Jörg Roche & Svenja Uth Haben Sie sich schon einmal gefragt, ob es Ähnlichkeiten zwischen dem individuellen Sprachenerwerb (ontogenetische Entwicklung) und der Entwicklung von Sprachen (phylogenetische Entwicklung) gibt? Dieser Frage ging auch Givón (1979) nach, der in seinem Modell (siehe Lerneinheit 3.1) viele interessante Gemeinsamkeiten bestätigen konnte. Sie können sich sicher vorstellen, welche Bedeutung diese Erkenntnis für den Sprachenunterricht haben kann. Es ergeben sich grundlegende, vielleicht sogar universelle, intuitive Strategien der Ausbildung von Grammatik. Für Lerner und Lehrkräfte von Sprachen ist es von großem Vorteil, diese Strategien und ihre Dynamik zu kennen, denn erstens sind diese Prinzipien in vielen ausgebildeten Sprachen konstitutiv oder zumindest immer noch erkennbar und wirksam, zweitens lassen sich damit die Lernprozesse und die oft intuitiven Strategien der Lerner besser verstehen und drittens könnten mit diesem Wissen spezifischere Strategien der Sprachvermittlung entwickelt werden. Daraus ergibt sich, dass es eine größere gemeinsame Basis von Sprachen gibt, die Lerner zumindest intuitiv beherrschen und die für die Sprachvermittlung demnach konstruktiv eingesetzt werden können. Die Kenntnis der Prozesse ist auch wichtig, um fossilisierte Strukturen in der Sprache von Lernern „aufzubrechen“ und in Richtung zielsprachlicher Normen weiterzuentwickeln. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ die Eigenschaften von Pidgin- und Kreolsprachen benennen können; ▶ die funktionalen Gemeinsamkeiten kennenlernen, die in der phylogenetischen und ontogenetischen Sprachentwicklung bestehen; ▶ die phylogenetische und ontogenetische Sprachentwicklung mit den Prozessen des Sprachenerwerbs, insbesondere mit der Stabilisierung beziehungsweise Fossilisierung in Bezug setzen können; ▶ auf Basis dieser Kenntnis Strategien für Ihren eigenen Unterricht entwickeln können und die Kenntnisse nutzen können, um Lernerprobleme besser zu diagnostizieren. 7.3.1 Pidginsprachen Bei intensivem Sprachenkontakt können sich in einer mehrsprachigen Situation, meist einer durch Kolonisation oder einer anderen Änderung von Machtstrukturen erzwungenen Situation, Mischsprachen herausbilden. Mischungen treten dabei vor allem dann auf, wenn die Struktur der einen Sprache mit dem lexikalischen Material einer anderen Sprache vermischt wird. Dabei bezeichnet man häufig die Sprache der damaligen Eroberer beziehungsweise Eroberinnen als Superstrat (Superstratsprache), während die Sprache der Ureinwohner 261 7.3 Pidginisierung und Kreolisierung beziehungsweise Ureinwohnerinnen als Substrat (Substratsprache) bezeichnet wird. Zu derartigen Mischsprachen gehören unter anderem Wutunhua (eine Mischung aus Chinesisch und Mongolisch), Mednyj-Aleutisch (eine Mischung aus Aleutisch und Russisch) und Michif (eine Mischung aus Französisch und Cree). Wenn sich benachbarte Sprachen im Sprachenkontakt beeinflussen, spricht man von einer Hybridisierung. Eine solche ist derzeit zwischen den Nachbarsprachen Aserbaidschanisch und Türkisch zu beobachten, aufgrund des ansteigenden Sprachenkontaktes zwischen den zwei Sprachen. Den neuesten Angaben im Ethnologue nach existieren im Moment 93 Kreolsprachen und 16 Pidginsprachen, die am weitesten in der Karibik, in Westafrika und im Südpazifik verbreitet sind (Simons & Fennig 2017). Abbildung 7.7: Karte der Pidgin- und Kreolsprachen weltweit (Michaelis, Maurer, Haspelmath & Huber 2017) Name der Sprache Pidgin / Kreol Wird wo gesprochen? Superstratsprache Chinook Wawa Pidgin Kanada Indianisch Tay Boi Pidgin Vietnam Französisch Pidgin Bantu Pidgin Südafrika Zulu Liberan English Pidgin Liberia Englisch Settla Pidgin Sambia Suaheli 262 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten Name der Sprache Pidgin / Kreol Wird wo gesprochen? Superstratsprache Küchendeutsch Pidgin Namibia Deutsch Bahamas Creole English Kreol Bahamas Englisch Haitian Kreol Haiti Französisch Kabuverdianu Kreol Kapverden Portugiesisch Chavacano Kreol Philippinen Spanisch Antillen Kreolisch Kreol Kleine Antillen Französisch Unserdeutsch Kreol Papua-Neuguinea/ Australien Deutsch Tabelle 7.3: Liste einiger Superstratsprachen Experiment An Ihrer Schule wird bald eine Tagung zum Thema „Sprachenkontakt“ stattfinden und die Direktorin Ihrer Schule hat Sie zusammen mit drei Ihrer Kollegen beauftragt, eine Präsentation zum Thema „Beispiele von Pidgin- und Kreolsprachen“ anzufertigen. Hierzu können Sie davon ausgehen, dass die Tagungsteilnehmer und -teilnehmerinnen zwar wissen, was es mit Pidgin- und Kreolsprachen auf sich hat, allerdings keine Erfahrung damit haben, wie diese Mischsprachen tatsächlich aussehen könnten. Arbeiten Sie zusammen mit Ihren Kollegen und Kolleginnen eine Präsentation aus, in der Sie zwei Pidginsprachen und zwei Kreolsprachen vorstellen und miteinander vergleichen. Auf der Internetseite zum Atlas of Pidgin and Creol language structures (kurz: AP i CS ) finden Sie zahlreiche fundierte Informationen zu ausgewählten Pidgin- und Kreolsprachen. Am besten teilen Sie die Arbeit auf und verwenden das Wiki, um Ihre Präsentation zu einem kohärenten Ganzen zusammenzufügen. Bei der Veranstaltung könnte natürlich auch die Frage auftreten, inwiefern die Sprachen der Schüler beziehungsweise Schülerinnen und ihrer Eltern Pidginstrukturen aufweisen … Dazu aber später mehr. Die Herausbildung der modernen europäischen Sprachen ist ein Beispiel für die Zusammenlegung und das Verschwinden vorhandener Sprachen oder Varietäten. Nach dem Zerfall des Römischen Reiches verschwanden die Dialekte, die in seinem Hoheitsgebiet gesprochen wurden, indem sie mit neuen, auf der lateinischen Sprache basierenden linguistischen Formen zusammengelegt wurden. Damit ebneten sie den Weg für die Entstehung vieler heutiger europäischer Sprachen, etwa Französisch, Italienisch, Spanisch, und so weiter. Natürlich hätte eine solche Zusammenlegung nicht stattfinden können, wenn zuvor nicht 263 7.3 Pidginisierung und Kreolisierung eine konzentrierte Form der Mehrsprachigkeit existiert hätte, denn Mehrsprachigkeit ist eine Voraussetzung für die Herausbildung von Pidgins. Gemeinschaften oder Einzelpersonen, die sich auf eine gemeinsame, wenn auch instabile Varietät für die Kommunikation einigen, müssen mehrsprachig sein (oder zumindest zweisprachig). Obwohl sie über keine gemeinsame Sprache zur Kommunikation verfügen, müssen sie eine zweite Sprache bis zu einem gewissen Grad beherrschen lernen, um die Kommunikation zu ermöglichen. Pidgins sind also Kommunikationssysteme, die sich unter Menschen entwickeln, die keine gemeinsame Sprache sprechen. Dadurch unterscheiden sich Pidgins von anderen Arten der gemischten Sprachen in natürlich vorkommenden Situationen der Mehrsprachigkeit. Die Besonderheit der Pidgins im Verhältnis zu anderen gemischten Varietäten ist, dass sie-- als spontan konstruierte Varietäten-- meist Produkte einer aufgezwungenen, anstelle einer natürlichen Mehrsprachigkeit sind. Im Gegensatz zu anderen Mischformen, die das Ergebnis einer natürlichen Sprachenzusammenlegung aufgrund eines anhaltenden Kontaktes mehrerer Sprachen sind, entstehen Pidgins als Kommunikationsstrategie beziehungsweise Behelfssprache für die Verwaltung, den Handel, das Geschäftsleben und andere ähnliche Zwecke, das heißt sie haben stets einen eingeschränkten Funktionsbereich. Der Prozess, in dessen Verlauf das reduzierte Vokabular einer weitreichend kodifizierten, dominanten Sprache mit der vereinfachten Grammatik der anderen Sprache vermischt wird, heißt Pidginisierung. Insbesondere die einstigen europäischen Kolonialsprachen, wie Englisch, Französisch, Holländisch, Spanisch, Portugiesisch oder Deutsch, übernahmen die Rolle der dominanten Sprache bei der Herausbildung von Pidgins in den Gebieten der ehemaligen europäischen Kolonien. In anderen Teilen der Welt können Pidgins von anderen, nicht-europäischen Sprachen abstammen und sogar auf Basis grammatikalisch weniger entwickelter Sprachen entstanden sein. Der Chinook-Jargon beispielsweise, der sich als eine Pidgin-Sprache herausbildete-- eine Handelsverkehrssprache im pazifischen Nordwesten des 19. Jahrhunderts-- stammte von der Sprache der Chinook-Stämme ab. Galgalia ist eine arabischstämmige Pidgin-Sprache, die im Nordosten von Nigeria verwendet wird. Ein weiteres Beispiel ist Ewondo Populaire, bei dem es sich um eine afrikanischstämmige Pidgdin-Sprache handelt, die in Kamerun verwendet wird. Im Allgemeinen verschwinden die Pidgins wieder, sobald der Kommunikationsbedarf zwischen den betroffenen Gruppen nicht mehr besteht. Zur Entstehung von Pidginsprachen gibt es verschiedene Theorien, die vor allem daraus resultieren, dass Pidginsprachen, auch wenn sie räumlich weit auseinander liegen, eine hohe strukturelle Ähnlichkeit aufweisen. Dazu gehören: ▶ Die Theorie der monogenetischen Entstehung: Alle Pidginsprachen entstanden demnach aus demselben „Ur-Pidgin“, das auf das Sabir (Lingua franca des Mittelmeerraumes seit dem Mittelalter) zurückgeht. Alle Pidginsprachen basieren also auf diesem Proto- Pidgin, wobei je nach Lexikon-gebender Sprache in die vorhandene Grundstruktur die jeweils anderen Wörter integriert werden (vergleiche Whinnom 1956; Taylor 1961). ▶ Die Theorie der unabhängigen Parallelentwicklung: Die auf europäischen Sprachen basierenden Pidginsprachen entwickelten sich in einer ähnlichen Weise, da sie allesamt unter ähnlichen Bedingungen entstanden. Die Pidginisierungsprozesse basieren auf 264 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten den gemeinsamen Gründen des Mangels an gemeinsamen sprachlichen Mitteln von Eingeborenen und Kolonisatoren beziehungsweise Kolonisatorinnen und des Mangels an deren Lernmöglichkeit oder Lernbereitschaft (vergleiche Mesthrie, Swann, Deumert & Leap 2000). ▶ Die Theorie über das Wirksamwerden besonderer universeller Tendenzen: Parallel zur Vorstellung, dass Kinder Sprache nach einer Universalgrammatik lernen, zeigten Vertreter dieser Theorie, dass den Pidginsprachen eine vermeintlich universelle Systematik zugrunde liegt, die sich in den ähnlichen Strukturen der Pidginsprachen äußert (vergleiche Bechert & Wildgen 1991; Bickerton 1981; Chomsky 1980; Todd 1994). ▶ Das Syntaktisierungsbeziehungsweise Grammatikalisierungsmodell von Givón (1979), demzufolge Sprachen aus einem pragmatischen Modus entstehen und daraus eine Grammatik entwickeln, die sich später zurückentwickeln kann (siehe Lerneinheit 3.1). Der Reduktions- und Vereinfachungsprozess bei Pidgins geht oft mit der Reduktion der Anzahl der Wörter einher (erweitert aber gleichzeitig die Semantik der Wörter, die beibehalten werden). Durch Synkretisierung der Formen beispielsweise werden bei Substantiven keine Marker für Geschlecht und Anzahl gesetzt und bei Verben fallen die Marker für das Tempus weg. Auch die Verwendung von Verdoppelungen und die Nachahmung von Geräuschen sind beliebte Wortbildungsmittel. In Tok Pisin, einer Kreol-Sprache, die in Papua-Neuguinea verwendet wird, ist beispielsweise grasbilonghed das Äquivalent für hair (‚Haar’) und grasbilongpigin das Äquivalent für feather (‚Feder’). Hier beruht die Methode der Objektbenennung darauf, eine geringere Anzahl an Wörtern mit erweiterter Semantik und in verschiedenen Kombinationen zu verwenden. Die Äquivalente für das Wort heart (‚Herz’) lauten klak in Tok Pisin (die Nachahmung eines Geräusches) und tumtum im Chinook-Jargon (eine Verdoppelung). 7.3.2 Kreolsprachen Pidginsprachen können sich im Laufe der Zeit zu einer Kreolsprache entwickeln. In der Regel spricht man von einer Kreolsprache, sobald eine Pidginsprache zur Muttersprache einer Gesellschaft, also zur Erstsprache wird. Während die Pidginisierung mit der Reduktion des Vokabulars und der Vereinfachung der Grammatik einhergeht, kommt es bei der Kreolisierung zu einem umgekehrten Prozess. Da eine Kreolsprache nun nicht mehr auf bestimmte Situationen und Funktionsbereiche beschränkt ist, sondern alle möglichen Funktionen einer L1 abdecken soll, muss die Sprache ausgebaut werden. Es kommt zu einer Erweiterung des Vokabulars, zu einer Diversifikation und Regulation der phonetischen und strukturellen Muster, zu einer Elaboration der Ausdrucksweise und zu einer Anreicherung der Sprachfunktionen. Im Vergleich zu Pidgins können Kreolsprachen dadurch unterschieden werden, dass sie über eine komplexere Syntax, eine schnellere Aussprache, ein angereichertes Vokabular mit mehr abstrakten Begriffen sowie eine morphophonologische Differenzierung verfügen (wie zum Beispiel die Unterscheidung zwischen der Aussprache von <y> in type und typical), und dadurch, dass sich morphologische und syntaktische Kategorien entwickeln (wie zum Beispiel 265 7.3 Pidginisierung und Kreolisierung ein System der Zeitformen). In diesem Prozess nähern sich Kreolsprachen viel weiter an die dominanten Sprachen an, die ihnen zugrunde liegen. Jedoch verfügen Kreolsprachen nicht über solch komplexe Systeme wie die Standardsprachen, mit denen sie assoziiert werden. Kreolsprachen können sich sogar bis hin zum Status offizieller Sprachen entwickeln. Eine der am weitesten verbreiteten Kreolsprachen-- das Haitian Creole-- ist zu einer offiziellen Sprache auf Haiti geworden. Kreolsprachen sind vollständig entwickelte Sprachsysteme. Durch Kreolsprachen können wir viel darüber lernen, wie Sprachwandelprozesse ablaufen, wenn zwei Sprachen miteinander in Kontakt kommen. Interessant ist dabei aus Sicht des Sprachenerwerbs auch, wie neue Sprachen entstehen. Trotz dieser Möglichkeiten, viel über die Entstehung von Sprachen und den Sprachwandel zu lernen, wurden Pidgin- und Kreolsprachen lange Zeit marginalisiert, sowohl hinsichtlich der gesellschaftlichen Haltung ihnen gegenüber, als auch hinsichtlich der linguistischen Bemühungen, ihre Ursprünge, Funktionsweise und systemische Beschaffenheit zu erforschen. Deshalb warnen Sprachkontaktforscher und -Forscherinnen davor, Pidgins als kaputte Sprachen zu stereotypisieren, die mit primitiven Gedankenprozessen, Faulheit oder geistiger Unterlegenheit assoziiert werden (Crystal 1997: 336; Wardhaugh 2006): Each pidgin or creole is a well-organized linguistic system and must be treated as such: you cannot speak Tok Pisin by just ‘simplifying’ English quite arbitrarily: you will be virtually incomprehensible to those who actually do speak it, nor will you comprehend them. (Wardhaugh 2006: 67) Kreolsprachen sind weitaus mehr, als ihre stereotype (meist pidginisierte) Darstellungsweise in vielen Filmen (überspitzt als „Ich Tarzan-- Du Jane“ Version) vermuten lassen. Sie zeigen uns unmissverständlich auf, dass Sprachen aus der einen Motivation heraus entstehen, nämlich zu kommunizieren. 7.3.3 Stabilisierung und Kreolisierung Stabilisierungs- und Fossilisierungsprozesse im L2-Erwerb weisen bemerkenswerterweise starke Parallelen zu systemischen Kreolisierungsprozessen basilektaler Varietäten auf (vergleiche Neumann-Holzschuh 2000; Winford 2000). Wie im individuellen Sprachenerwerb geht Neumann-Holzschuh (2000) davon aus, dass auch im Sprachsystem einer Kreolsprache nur individuelle Eigenschaften restrukturiert (verändert) werden können, nicht das komplette Sprachsystem. In der Entwicklung einer Kreolsprache lassen sich fünf Phasen unterscheiden: 266 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten •Die Entlehnung einzelner Wörter. Jargon Stage oder Pre-Pidgin •Die vollständige Entwicklung eines Pidgin mit neuem Wortschatz und einer Zunahme der Verbreitung der Sprache, die bestimmte Funktionsbereiche beschränkt bleibt. Stabilization Stage oder Pidgin •Die Ausdehnung der Sprache auf das ganze Land und weitere Domänen (zum Beispiel im privaten umgangssprachlichen Bereich aber auch im institutionellen Kontext). •Die Schaffung von Möglichkeiten zur "self expression". •Einzelne Grammatikalisierungen wie Satzeinbettungen und Ähnliches. Expansion Stage •Die lexikalische Erweiterung und Umstrukturierung (Grammatikalisierung) vom Pidgin zum Kreol, das auch als Muttersprache gelernt wird. Creolization Stage •Die Entwicklung von Varianten. Post Creole Stage oder Post-Pidgin Tabelle 7.4: Stufen der Kreolisierung Detges (2000) versteht diese Entwicklungsprozesse als universelle Prozesse der Grammatikalisierung im Sinne der Typologie von Givón (1979). Die Grammatikalisierung entsteht demnach aus einer im Hier und Jetzt lokalisierten Situation, aus der sich Bezüge in die Vergangenheit und die Zukunft ergeben können. Diese Lokalisierung ist am Anfang des Sprachenerwerbs sprecherinitiiert und verliert erst im Laufe der Zeit, also bei zunehmendem Erwerb, ihre Situationsbindung. Restrukturierungsprozesse, die zu Entwicklungen in der Grammatik und Lexik einer Sprache im Sprachenkontakt führen, sind ein Hörerbeziehungsweise Hörerinnenphänomen. Sie entstehen aus der (annähernd) zielgerechten Analyse von Chunks und deren Resynthese, wobei sich sprachliche Information und Parallelinformation verbinden. So wird aus Französisch la pluie (‚der Regen‘) das mit dem Artikel verschmolzene lapli in karibischen Kreolsprachen. In ähnlicher Weise werden auch aus Ortsbeschreibungen Ortsnamen, wie sie etwa die aus indianischen Sprachen abgeleiteten kanadischen Städtenamen Toronto (‚der Ort, an dem Bäume am Wasser stehen‘ oder ‚der Ort der Zusammenkünfte‘, entlehnt von tkaronto in der Sprache der Mohawk) und Ottawa (‚Händler‘ in der Sprache der Algonquin-Indianer) darstellen. Der Begriff Kreolsprachen umfasst eine breite Palette von sprachlichen Erscheinungen im Verhältnis zu weiteren Kontaktsituationen und in Bezug auf die kreolinterne Differenzierung. Der Grad der Kreolisierung lässt sich am Ort der Kreolsprachen in der Sprachentypologie festmachen. Die wichtigsten Einflussfaktoren sind dabei der L1-Einfluss (Substratum) und die Restrukturierungserscheinungen (Superstrat) in der L2. 267 7.3 Pidginisierung und Kreolisierung Winford (2000) unterscheidet zwischen radikalen Kreolsprachen wie Sranan und dem haitischen Kreol, basilektalen Varianten, wie den guayanesischen, jamaikanischen und anderen karibischen Kreolsprachen, und mittleren (intermediate) Kreolsprachen (Zwischenstufen) wie Barbadisch, städtisches Guayanesisch, Trinidadisch, Réunionnais und anderen. Davon unterscheidet er Varietäten, die stark an die Zielsprache angelehnt sind und nur wenige L1- Elemente aufweisen. Diese lassen sich auf einer Achse abtragen: Abbildung 7.8: Grade der Kreolisierung (Winford 2000: 216) Diese Schichtung der Kreolvarietäten kann analog zum Komplexitätsgrad vereinfachend als Basilekt (rudimentäre oder radikale Varietät), Mesolekt (mittlere Varietät) und Acrolekt (elaborierte Varietät) erfolgen. Die Entsprechungen zum Sprachenerwerb ergeben sich aus der gemeinsamen L1-Basis der radikalen Formen des Kreols und des frühen L2-Erwerbs. Transfererscheinungen aus vorerworbenen Sprachen, morphologische Simplifizierungen und andere universelle Strategien bestimmen sie. Die Merkmale entsprechen damit denen der basic variety des Sprachenerwerbs, wie sie Klein und Perdue (1997) beschrieben haben. Der Unterschied von Kreolsprachen und L2-Erwerb besteht darin, dass der L2-Erwerb als ein kontinuierlicher Prozess der Annäherung an die L2 beschrieben werden kann, im L2- Erwerb also ein labiler Zustand gegeben ist. Die Kreolisierung beschreibt dagegen die Entstehung und Verfestigung einer eigenständigen Sprache und ist daher also mit Fossilisierungsprozessen vergleichbar. Inwieweit die Basilekte immer der vollen basic variety im L2-Erwerb entsprechen, ist bisher noch nicht geklärt. Für das Verständnis von Stabilisierungs- und Fossilisierungseffekten bei Lernern, die bereits lange im Zielland leben, ist die Beobachtung besonders relevant, dass Kreolvarietäten (in karibischen Sprachen) über mehrere Jahrhunderte in wenig veränderter Form bestanden haben und weiter bestehen und gegenüber Restrukturierungen, auch bei vorhandener Diglossie, sehr resistent sind (vergleiche Schwegler 2000; Winford 2000). 268 7. Kommunikation in mehrsprachigen Kontexten 7.3.4 Kreolisierung, Restrukturierung und Fossilisierung Winford (2000) zeigt darüber hinaus, dass die Kreolvarietäten in karibischen Sprachen stark fossilisiert über viele Jahrhunderte bestanden haben und weiter bestehen und daher genetisch von mesolektalen Varietäten unterschieden werden müssen. Die mesolektalen Varietäten sind Winford zufolge das Produkt von kreativen Adaptationen und Restrukturierungsprozessen in einer intensiven Kontaktsituation von Substrat- und Superstratsprechern beziehungsweise -sprecherinnen im 17. und 18. Jahrhundert. Es handelt sich demnach weder um Imitationen von Superstratdialekten noch um dekreolisierte Varietäten von Basilekten. In den basilektalen Varietäten finden dagegen kaum Restrukturierungen der L2 oder des Superstrats statt. Da sich basilektale Varietäten grundsätzlich (genetisch) von anderen Kreolsprachen unterscheiden, findet also keine Restrukturierung zwischen den Stufen statt. Demnach erfolgt auch kein Übergang von basilektalen zu mesolektalen Varietäten. Dieser hypothetische Übergang wird in der Literatur (vergleiche Winford 2000) fälschlicherweise als Dekreolisierung bezeichnet. Den L2-Erwerbsprozess könnte man analog als Prozess der Restrukturierung statt Defossilisierung fassen und bei Etablierungsbestrebungen wegen des möglichen Entwicklungspotenzials eher von Stabilisierungsanstatt von Fossilisierungsprozessen ausgehen. 7.3.5 Zusammenfassung ▶ Pidginsprachen entstehen aus einer Situation des Sprachenkontaktes, die meist mit ungleichen Machtverhältnissen einhergeht (zum Beispiel Kolonisierung). ▶ Pidginsprachen sind vereinfachte Behelfssprachen, die zur Kommunikation in bestimmen Funktionsbereichen dienen (zum Beispiel beim Handel). Ihre Grammatik entspricht den Prinzipien des pragmatischen Modus und sie weisen daher viele Gemeinsamkeiten mit der Lernersprache und anderen Reduktionssprachen auf. ▶ Kreolsprachen entstehen aus Pidginsprachen und sind Muttersprache in der Sprachgemeinschaft. ▶ Die Entstehung von Kreolsprachen lässt sich in die fünf Phasen Jargon Stage, Stabilization Stage, Expansion Stage, Creolization Stage und Post Creole Stage unterteilen. ▶ Kreolsprachen sind komplett ausgebildete Sprachsysteme, die in allen Domänen Verwendung finden. ▶ Kreolisierungsprozesse weisen ähnliche Phänomene wie Stabilisierungs- und Fossilisierungsprozesse auf. 269 7.3 Pidginisierung und Kreolisierung 7.3.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Wie entstehen Pidginsprachen? Nennen Sie die typischen Merkmale der soziokulturellen Gegebenheiten und erklären Sie, was man unter Pidginisierung versteht. 2. Wie kann man Pidgin- und Kreolsprachen voneinander abgrenzen? 3. Wie unterscheiden sich Xenolekte, Lernersprachen oder Ethnolekte von Pidgin beziehungsweise Kreolsprachen? Denken Sie hier vor allem an den Kontext, in dem diese Sprachen gesprochen werden und an deren Sprecher und Sprecherinnen. 4. Welche Konsequenzen ergeben sich für den Sprachenerwerb und den Sprachunterricht aus den Erkenntnissen über Pidginisierung und Kreolisierung? Wie lassen sich Kreolisierungserscheinungen im Sprachenerwerb vermeiden? 271 7.3 Pidginisierung und Kreolisierung 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis Obwohl es nicht die einzige Methode zu dessen Erforschung gibt, bildet die Auseinandersetzung mit Lernervarietäten eine wichtige Grundlage für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprachenerwerb. In den vorausgegangenen Kapiteln haben Sie bereits erfahren, wie sich gesellschaftliche Mehrsprachigkeit auf individuelle auswirkt (Kapitel 1 und 4) beziehungsweise anhand welcher Modelle der multiple Sprachenerwerb erklärt wird (Kapitel 2). All diesen Erkenntnissen liegt die Erforschung von Mehrsprachigkeit zugrunde, die- - wie in Lerneinheit 8.3 dargestellt- - über unterschiedliche empirische Methoden möglich ist. Der Vorteil der Analyse von Lernervarietäten ist, dass jeder Lehrkraft mündliche und schriftliche Daten im Unterrichtsalltag vorliegen, sodass sie eine schnell zugängliche empirische Basis für Handlungsforschung bieten. In Lerneinheit 8.1 konzentrieren wir uns auf das Verhalten von Lernern in mündlichen Interaktionen und den aktuellen Forschungsstand darüber, wie sich dies auf den Lernprozess auswirkt. In Lerneinheit 8.2 liegt der Schwerpunkt auf der Analyse schriftlicher Lernervarietäten. In Kapitel 3 haben Sie bereits erfahren, welche grundlegenden Entwicklungen die Sprachproduktion von Lernern charakterisieren. Dort liegt der Fokus auf der funktionalen Entwicklung von Lernervarietäten von einem pragmatischen hin zu einem syntaktischen Modus. Daneben wird gezeigt, wie eine Analyse der Akkuratheit und Komplexität von Lerneräußerungen aus longitudinaler Perspektive zur Beschreibung von Erwerbssequenzen geführt hat. Diese Modellierung von Sprachenerwerb als Progression von Lernersprachen beruht auf Frequenzanalysen (welche Strukturen werden wie häufig produziert und korrekt realisiert) und geht auf die Interlanguage-Hypothese von Selinker (1972) zurück. Dies setzt wiederum nicht voraus, dass die postulierte zielsprachliche Norm von allen Lernern erreicht wird, wie Sie in Lerneinheit 3.3 anhand der Fossilisierungen erfahren haben. 272 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis 8.1 Analyse mündlicher Lernervarietäten Elisabetta Terrasi-Haufe & Jörg Roche Neben der Systematizität, wie sie in den Modellen zu Erwerbssequenzen dargestellt wird, ist Sprachenerwerb auch immer von Variabilität gekennzeichnet. Diese ist darauf zurückzuführen, dass Lernerfahrungen von einer starken Individualität geprägt sind. In behavioristisch geprägten Zeiten hat sich die Beschäftigung mit Lernervarietäten auf die Fehleranalyse beschränkt. Hintergrund war die Überzeugung, dass ein Fehler, der identifiziert und klassifiziert worden ist (Kleppin 1997, 2006) beziehungsweise dessen Ursache (zum Beispiel Interferenz aus der L1) bestimmt worden ist, auch erfolgreich „therapiert“ werden konnte. Leider hat sich dieser Wunsch nicht erfüllt. In dieser Lerneinheit erfahren Sie, dass die Analyse von Lernervarietäten trotzdem wichtige Einsichten in das sprachliche Verhalten von Lernern bietet und zur Gestaltung von Sprachenunterricht unbedingt zu berücksichtigen ist. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ Lernervarietäten aus interaktionaler und gesprächsanalytischer Perspektive betrachten; ▶ Interaktionen zwischen L2-Lernern interkulturell deuten können; ▶ Daraus folgende Konsequenzen für den Unterricht erkennen können. 8.1.1 Mündliche Lernervarietäten Die folgende Transkription einer Aufnahme der türkischsprachigen Lernerin Ayse, die an einem longitudinalen, vergleichenden europäischen Projekt zum Sprachenerwerb der European Science Foundation ( ESF ) (Klein & Perdue 1992; ESF Korpus 2017) teilgenommen hat, zeigt eine Reihe elementarer Merkmale von Lernersprachen: ▶ sie weisen eine hohe Variation auf ▶ sie sind elliptisch, stellenweise ambig oder undeutlich und werden von (nicht immer deutbarer) Gestik und Mimik begleitet ▶ sie reflektieren in bedingter Weise die Strukturen der Umgebungssprache und des sozialen Umfeldes der Sprecherin (Regionalsprache, Dialekt) ▶ sie enthalten in unterschiedlicher Qualität und Quantität Elemente anderer Sprachen ▶ sie geben eine Innenperspektive auf authentischen Fremdsprachenerwerb Ayse, die zum Zeitpunkt der Aufnahme ungefähr 18 Jahre alt ist und seit circa 27 Monaten in Deutschland lebt, nachdem sie aus der Türkei in das Rhein-Neckar-Gebiet gekommen ist, wird in drei Aufnahmezyklen des Projektes mehrfach aufgenommen. Im zweiten und dritten Zyklus der Datenerhebung wird sie dabei gebeten, die Aufgaben des vorangegangenen Zyklus 273 8.1 Analyse mündlicher Lernervarietäten zu wiederholen. Damit sollen zuverlässige Vergleiche ermöglicht werden. Die oben zitierte Aufnahme entstammt dem zweiten Zyklus. Alle Aufnahmen von Ayse sowie die anderen Aufnahmen von weiteren Informanten und Informantinnen aus fünf europäischen Ländern werden auf verschiedene Erwerbsbereiche hin untersucht: ▶ das Lexikon (Broeder, Extra, van Hout, Strömqvist & Voionmaa 1988) ▶ den Ausdruck von Raumreferenzen (Becker, Carroll & Kelly 1988) und den Ausdruck von Temporalität (Bhardwaj, Dietrich & Noyau 1988; von Stutterheim 1986) ▶ Rückmeldungen (Allwood 1988) ▶ Kommunikationsstrategien (Bremer, Broeder, Roberts, Simonot & Vasseur 1993) ▶ Erwerb der Syntax (Klein & Dimroth 2003; Klein 1998; Klein & Perdue 1988) Die folgenden exemplarischen Analysen von Ayses Äußerungen behandeln nur die Syntax, und zwar so, wie sie sich im Repertoire der Informantin im ersten und dritten Zyklus manifestiert (Klein & Perdue 1988: 168-171). Auswahl von Äußerungen der Lernerin Ayse aus dem ersten Aufnahmezyklus: 30 da war ein mädchen 31 sie ist hunger 32 sie hat auf fenster geguckt 33 dann da gibts ein auto 34 da den brot, französische brot, so gross 35 dann die hat diese brote geklaut 36 dann eine frau hat gesehen 37 diese frau hat gesagt der chef 38 „diese mädchen hat ihr brot genommen“ 39 dann der chef geht auch 40 wenn sie schneller laufen 41 dann kommt Charlie Chaplin 42 dann sie machen hingefallen 43 dann diese brot nimmt Charlie Chaplin 44 dann wenn polizei kommt 45 dann polizei hat gesagt 46 „wir gehen gefängnis“ Ayse ist keine absolute Anfängerin beim Erlernen des Deutschen. Bereits vor den Aufnahmen des ersten Zyklus hat sie etwas Deutsch gelernt. Im ersten Zyklus verwendet sie hauptsächlich SVO (Subjekt-Verb-Objekt) Strukturen. In ihrem gesamten Korpus gibt es nur eine Nebensatzkonstruktion, die Verbendstellung verlangt (wenn-…, dann-…). Sie verwendet zwar Konnektoren und ungefähr zehn verschiedene temporale und räumliche Adverbien, aber nimmt nicht die standardsprachlich nötigen Änderungen in der Wortstellung vor (zum Beispiel Inversion oder Verbletztstellung). Nominalphrasen haben keine Kasusmarkierungen. Verben haben dagegen eine vollständige Markierung, auch wenn diese nicht immer standardsprachlichen Normen entspricht. Alle Personalpronomen werden realisiert. 274 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis Im zweiten Zyklus, der bereits zwei Monate später einsetzt, zeigen ihre Äußerungen insgesamt wenig Fortschritte. Zwar realisiert sie verschiedene Einleitungen (es, da und dann), und das deiktische der wird anstelle von er als Pronomen verwendet, aber sie realisiert weiterhin keine Inversion, Nebensatzkonstruktionen oder Klammerstrukturen. Insgesamt scheint der Sprachenerwerb zu stagnieren. Im dritten Erhebungszyklus wird dagegen ein großer Fortschritt deutlich, obwohl nur ein paar Monate zwischen zweitem und drittem Zyklus liegen. Ayse verwendet komplexe Äußerungsstrukturen, trennbare Präfixe, Nebensatzkonstruktionen mit wenn‚ als und dass sowie direkte Rede (siehe Zeile 30). In Verbletzt-Konstruktionen befindet sich aber jeweils nur ein Element vor dem Verb, das heißt die Komplexität der Satzklammer bleibt noch relativ überschaubar. Hier eine Auswahl von Äußerungen der Lernerin Ayse aus dem dritten Aufnahmezyklus: 25 und der hat das holz gesehen 26 und der hat das rausgenommen 27 und der schiff geht ins wasser rein 28 und die waren böse 29 und der hat gedacht 30 „ich muss sofort hier verschwinden“ 31 und der machte einen spaziergang oder-- ich weisses nicht 32 irgendwas machte er 33 und diese mädchen, arme mädchen, war hunger und müde und alleine 34 sie hat geguckt 45 aber sie konnte nicht nehmen 8.1.2 Lernersprachliche Interaktionen Da Interaktionen nie im leeren Raum stattfinden, sondern immer ein Ziel verfolgen und neben einer Darstellungsauch eine Ausdrucks- und eine Appellfunktion (vergleiche Kapitel 2 im Band »Sprachenlehren«) realisieren, beschäftigen wir uns nun damit, in welchen Kontexten lernersprachliche Varietäten vorkommen. In der Forschung werden zwei grundlegende Konstellationen unterschieden: Interaktionen, die unter Lernern (im englischsprachigen Raum als non native speakers bezeichnet, NNS ) stattfinden, und solchen die zwischen Lernern und Muttersprachlern beziehungsweise Muttersprachlerinnen (native speakers, NS ) stattfinden. Die Kontexte solcher Interaktionen sind vielfältig und variieren in Abhängigkeit von ihrer institutionellen Verortung (Schule, Ämter, Krankenhaus etc.) und individuellen Zielsetzung (Bewertung, Informationsbeschaffung, Diagnose etc.). Die Aufnahmen von Ayse, die Sie oben in transkribierter Fassung gesehen haben, stammen aus einer monologischen Nacherzählung. Im Folgenden präsentieren wir Ihnen ein Beispiel aus einem Interview mit Ayse (A), die im ersten Zyklus von einem Projektmitarbeiter (I) nach ihren Kontakten zu Sprechern und Sprecherinnen des Deutschen befragt wurde. Dialogisches Sprechen, Ayse, erster Aufnahmezyklus: 275 8.1 Analyse mündlicher Lernervarietäten 1 I: was kennst Du denn für Deutsche? Ayse. 2 A: isch? isch-… kenn noch-… nischt 3 I: deine Lehrer kennst de ne? 4 A: meine Lehrer ist sehr-… nette Lehrerin 5 I: mhm. 6 A: mhm 7 I: und sonst? -… im Haus jemand oder so… Nachbarn. 8 A: ja-… hab isch so viel eh nischt Nachbarn hab isch so viel Mami Deutsche-… aber 9 I: mhm 10 A: ja sehr gute Mami wir gehn in den Park-… wir sitzen immer-… jede Tag wann kommt Sommer 11 aber. und dann 12 I: ja-… und dann? 13 A: und dann 14 I: da ist auch n 15 A: wir spreschen Deutsch 16 I: und wie habt ihr euch kennengelernt? 17 A: isch? isch war in dem Park-… dann sie kommt zu mir-… dann isch frage-… wie heisen Sie? -… 18 dann isch versteh gal niks aber Deutsch-… nur Tag 19 I: nur Tag [lacht] 20 A: dann sie sagt mir alles das is so so [leiser] wir gehn jede Tag hier. Wann sie sieht sieht nisch 21 misch-… dann fragt mir-… wo bis du? -… wo warst du? 22 I: [lacht] ne alte-… Frau oder ne junge-… Frau? 23 A: alte Frau. Auffallend ist hier, dass die Redebeiträge von Ayse trotz vieler Pausen und Reformulierungen, insgesamt länger sind. Sie bemüht sich um eine genaue Darstellung und korrigiert sich selbst, um von ihrem Gesprächspartner verstanden zu werden. Dieser ermuntert sie durch den Einsatz von Rückmeldepartikel (ja), Interjektionen (mhm) und Nachfragen (und dann? ). Sprachliches Verhalten ist immer auch das Ergebnis von kognitiven Strategien, Transfererscheinungen und zielsprachlichen Bedingungen. Der Einfluss von Sprachlernerfahrungen zeigt sich unter anderem in Präferenzen für bestimmte Lernstrategien im Umgang mit der fremden Kultur und Sprache. Das Strategieninventar umfasst dabei nach Tarone (1978) die Strategiemuster Paraphrase, Transfer, Code-Switching und Vermeidung. Unter den Paraphrasen zählt man die spontanen Wortschöpfungen (wie in Tag statt ,Gruß‘ Zeile 18), Umschreibungen (wann sie sieht sieht nisch misch für ,wenn ich nicht komme‘, Zeile 20-21) und Approximationen. Das sind Übernahmen eines Begriffes oder einer Struktur, die der Lerner zwar für nicht korrekt hält, die aber in hinreichendem Maß semantische Gemeinsamkeiten mit der eigentlich beabsichtigten Struktur hat, wie zum Beispiel Mami statt ,Frau‘ in Zeile 8. 276 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis Eine weitere wichtige kommunikative Strategie ist der Transfer, beziehungsweise die wörtliche Übersetzung aus der Erstsprache oder anderen bekannten Sprachen, wie zum Beispiel soziales Leben (aus dem Englischen) anstelle von ‚Kontakte‘ im folgenden Beispiel, in dem allerdings nicht mehr Ayse die Lernerin ist, sondern Mina, eine pakistanische Studentin, die zum Zeitpunkt der Aufnahme zwei Jahre im deutschsprachigen Raum gelebt hat. 1 M: In Wien ich habe.. ich habe fast gar keines keine soziales Leben. 2 S: Wenig Kontakte ne? Wenig Kontakte. 3 M: [kichern] Wenig Kontakte. Bei der Interaktion in diesem Beispiel handelt es sich um ein Gespräch zwischen einem Nichtmuttersprachler und einem Muttersprachler, in dem ersterer häufig die Gelegenheit nutzt, sich von ihrer Gesprächspartnerin bei Wortfindungsschwierigkeiten helfen zu lassen. Es handelt sich hierbei um eine Strategie, die nach Poulisse (1993) als appeal for help klassifiziert wird. Erfolgreiche Lerner thematisieren häufig-- so wie oben Ayse--, dass sie die Interaktion mit Muttersprachlern oder Muttersprachlerinnen beim Sprachenlernen unterstützt hat. In Abbildung 8.1 sehen Sie einen Ausschnitt einer Transkription eines Gesprächs mit einer italienischsprachigen Studentin, die drei Jahre lang in Deutschland studiert und Deutsch gelernt hat: 277 8.1 Analyse mündlicher Lernervarietäten Abbildung 8.1: Interaktionale Lernerstrategien Die Arbeit mit Lernervarietäten ist folglich nicht nur für die Identifizierung sprachlicher Schwächen und Entwicklungen relevant, sondern kann inhaltlich genutzt werden, um Daten zu den Sprachlernerfahrungen und zu den subjektiven Theorien von Lernern zu sammeln. Diese können im Rahmen von Sprachlernberatungen eingesetzt werden, aber auch zur Evaluation und Planung des eigenen Unterrichts im Hinblick auf die individuelle Förderung der Teilnehmer und Teilnehmerinnen. In Interaktionen zwischen Lernern, die eine gemeinsame weitere Sprache beherrschen, kann auch Code-Switching als kommunikative Strategie genutzt werden, um zum Beispiel durch direkte Entlehnungen Wortschatzlücken zu füllen (siehe auch Lerneinheit 5.1). Im folgenden Gespräch (Abbildung 8.2), das zwischen zwei Lernerinnen mit Griechisch als Erstsprache stattgefunden hat, wird Sprachwechsel auch zu anderen Zwecken genutzt. 278 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis Abbildung 8.2: Einsatz von Code-Switching als Kommunikationsstrategie Neben den Entlehnungen diochiliadeseksi in Fläche [2] wird die Erstsprache eingesetzt, um höchst emotional die Distanz zu Deutschland und dessen Bevölkerung beziehungsweise den ihr zugeordneten Attributionen zu markieren (Fläche [3]: den ine ellada, ine e toso klisti toso tsingunides). Interessant ist, dass auch in die andere Richtung gewechselt wird, das heißt deutsche Wörter entlehnt werden (Fläche [4]: toso eh langweilig, toso blond). Daneben wird der Sprachwechsel in der letzten Äußerung genutzt, um die Aufforderung lach doch nicht durch eine Wiederholung auf Griechisch zu verstärken. Das Thema Code-Switching wird in Lerneinheit 5.1 behandelt, in diesem Zusammenhang bleibt festzuhalten, dass, wie Günthner (2010: 334f) betont, Lerner durch die Inszenierung bestimmter Sprechweisen und Varietäten auch soziale und kulturelle Identitäten herstellen. Da die Sprachkompetenz der Interaktanden und deren Wissen über beziehungsweise Erwartungen an unterschiedlichen Kommunikationssituationen sehr unterschiedlich sind, werden manchmal in Interaktionen zwischen Muttersprachlern und Nichtmuttersprachlern Verhaltensweisen an den Tag gelegt, die zu Kommunikationsproblemen führen können. Das Erfahren und Lösen solcher Schwierigkeiten führt laut Interaktions- und Outputhypothese (vergleiche Long 1983, 1996) genauso wie Erfolgserlebnisse, die direkt erzielt werden, zu Sprachenerwerb. Eine zentrale Rolle wird dabei dem Aushandeln von Bedeutung zugesprochen, wie sie im folgenden Beispiel dargestellt wird (Pica 1994: 512): NS : It’s a rectangular bench NNS : rectangular? 279 8.1 Analyse mündlicher Lernervarietäten NS : yeah it’s in the shape of a rectangle with um you know a rectangle has two long sides and two short sides NNS : rectangle? NS : re-rectangle it’s it’s like a square except you flatten it out NNS : square except NS : uh a rectangle is a square NNS : uhuh NS : except a square has four equal sides NNS : yes NS : a rectangle has two sides that are much longer and two sides that are much shorter NNS : OK NS : Muttersprachler; NNS : Nicht Muttersprachler Zur Aushandlung von Bedeutungen, die ihnen wichtig sind, setzen Lerner alle ihre Kommunikationsressourcen ein: Gestik, Mimik, Proxemik. Umgangssprachlich wird von „mit Händen und Füßen“ kommunizieren gesprochen. Solche Aushandlungssequenzen sind natürlich auch für die Unterrichtsinteraktion typisch, in der der NS gleichzeitig die Lehrerrolle innehat. Darauf basierend und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass, wie oben gezeigt, interaktionsunterstützende Mittel Verstehens- und Lernprozesse in authentischen Interaktionen unterstützen (vergleiche hierzu auch Lerneinheit 7.1 und 7.2 zu den Xenolekten), wurde das Konzept des Scaffoldings entwickelt (siehe im Band »Sprachenlehren«). Danach wird um dem Lerner ein Gerüst an kommunikativen Hilfestellungen angeboten und bei zunehmender sprachlicher Handlungsfähigkeit nach und nach abgebaut. Abbildung 8.3: Scaffolding (Lengyel 2010: 602) 280 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis 8.1.3 Gesprächsanalytische Aspekte Die Gesprächsanalyse beschäftigt sich mit Aspekten der Gesprächsorganisation. Das sind im Wesentlichen Redebeiträge, deren Ausgestaltung, Verteilung und Sequenzialität. Das heißt, es wird analysiert, wer in einem Gespräch wie viele Redebeiträge inne hat, wer Redebeiträge initiiert, in welcher Kombination Redebeiträge auftreten (zum Beispiel Frage-Antwort etc.) und an welcher Stelle im Gesprächsverlauf, welche Redebeiträge stattfinden beziehungsweise wie sie aufeinander aufbauen und Bezug nehmen. Experiment Fertigen Sie eine Tonaufnahme in einem Unterrichtskontext an. Halten Sie fest, wer was wann sagt. Vergleichen Sie den Ablauf der Unterrichtsinteraktion mit jenem eines Alltagsgesprächs. Was fällt Ihnen auf? Interaktion im Unterricht wird zusätzlich davon beeinflusst, dass Unterricht ein institutionelles Ereignis ist. Die Teilnahme daran wird gesetzlich geregelt, die Rollen der Interaktanden und damit ihre Handlungsmöglichkeiten sind festgelegt, die Ziele (curriculare Vorgaben, Selektion) vorbestimmt. Unterrichtskommunikation wird daneben durch deren Öffentlichkeit beeinflusst. Den Beteiligten wird die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf einen einheitlichen kognitiven und sozialen Prozess abverlangt. Der Lehrkraft obliegt es, für eine möglichst erfolgreiche, die Aufmerksamkeit aller Lerner einbindende Gestaltung des Unterrichts zu sorgen. Dafür stellt sie Fragen oder Aufgaben und entscheidet, wer sie beantworten beziehungsweise lösen soll. Die Lerner können ihn aktiv mitgestalten, kommentieren und in Partnergesprächen begleiten. Daneben können sie Nebendiskurse betreiben oder einfach abschalten (siehe Becker-Mrotzek & Vogt 2009: 7). Ein weiterer Aspekt, der für die Analyse von mündlichen Lernervarietäten interessant ist, betrifft die Nutzung von Kontextualisierungshinweisen. Kontext wird aus gesprächsanalytischer Sicht als dynamische Größe erfasst, die in der Interaktion selbst entsteht. Prägend dafür ist das Konzept von Frames, die nach Goffmann (1974) als Deutungsmuster zu betrachten sind, die den Beteiligten als Ressource für die angemessene Interpretation einer sich im Gange befindlichen Situation dienen (Morek 2012: 57). Es handelt sich um soziokognitive Wissensbestände, auf die mit sprachlichen und nichtsprachlichen Mitteln in Form von Kontextualisierungshinweisen (Gumperz 1992) Bezug genommen wird und die die Koordination von Interaktion erlauben. So kann zum Beispiel durch eine Kopfbewegung in Richtung Küchentür ein Erziehungsberechtigter einem Jugendlichen anzeigen, dass eine Diskussion darüber, wer an der Reihe sei, den Müll rauszubringen, beendet ist. Kontext wird in Gesprächen somit nicht als statische, sondern als dynamische Größe verstanden, die im Gespräch vollzogen wird. Prägend dafür sind nach van Dijk (2008: 56) individuelle mentale Kontextmodelle (context models), die im episodischen Gedächtnis der Interaktanden abgespeichert sind und sich aus ihrem persönlichen und professionellen Selbstverständnis, soziokulturellen Wissen und gesellschaftlich geteilten Überzeugungen 281 8.1 Analyse mündlicher Lernervarietäten speisen. Nehmen Interaktanden Rahmungsdifferenzen wahr, können sie durch Aushandlungssequenzen die zugrundeliegenden Wissensbestände erweitern oder anpassen. 8.1.4 Interkulturelle Aspekte Betrachtet man Lerneräußerungen in den Kontexten, in denen sie erzeugt werden, fällt auf, dass sie in verschiedenen Bereichen nicht immer den Normen der Zielsprache entsprechen. Dies betrifft nicht nur morphosyntaktische und pragmatische Aspekte, sondern auch gesprächsanalytische. Sie können auch in der Rederechtverteilung, den Sprechhandlungsmustern, den Eröffnungs- und Beendigungsverfahren, der Durchführung von Reparaturen und dem nonverbalen und paraverbalen Verhalten Transfer festgestellt werden kann. Daneben betont Günthner (2010), dass das sprachliche Verhalten von Lernern in Interaktionen Einblicke in ihre Fremdheitskonstruktionen eröffnet. In folgendem Beispiel (aus Günthner 2010: 334f) ist dies zu sehen: Kurt und Uli (ein deutsches Paar) sind bei einem chinesischen Ehepaar zum Essen eingeladen. Guo lebt bereits seit einigen Jahren in Deutschland, während Bao, seine Frau, erst vor einigen Monaten hierher gezogen ist. Nachdem bereits mehrere Gerichte aufgetragen wurden und die Gäste (Kurt und Uli) darauf hingewiesen haben, dass sie „ VÖLL . IG . SATT .“ sind, stellt Bao einen weiteren Teller mit chinesischem Essen auf den Tisch und fordert gemäß der chinesischen Etikette ihre Gäste auf, weiter zuzugreifen: ESSEN BEI GUO UND BAO 1 Bao: essessen sie. 2 Kurt: hh’ nein. hh’ danke. 3 ich bin sch’ schon VÖLL . IG . SATT . 4 Bao: ja. nehmnehmen sie. 5 Guo: du MUSST nicht I: MMER SAGEN . eh. 6 das NICHT notwendig bei DEUTSCHEN . ja? 7 Kurt&Uli: hihihihi 8 Uli: eh: nein. 9 VIE : LEN dank. 10 wir habn ECHT ’ (−) sind ECHT SATT . 11 aber s’hat ganz TOLL GESCHMECKT .= 12 Kurt: = WIRKLICH . 13 Guo ((zu Bao)): die DEUTSCHEN soll man n’nicht so DRÄNG ? 14 DRÄNGELN ja. sie NEHMEN wann sie wollen. ja. 15 macht mal keine SO : RGE . 16 Bao: hihihihi 17 Kurt: jaja. ich NEHM dann schon. 18 Guo: die deutschen ja. (−) sind so nicht so sehr ja BESCHEI : DEN . 19 hahahah. SO . IST DAS . hihi[hihi] 20 Kurt: [hihi]hihi. 282 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis Nach Günthner (2010: 335) veranschaulicht diese Sequenz, wie Guo kulturelle Differenzen zwischen ‚uns‘ (den Chinesen) und ‚ihnen‘ (den Deutschen) situativ konstruiert und damit einen Zuschreibungsprozess des ‚Anderen‘ vollzieht. Die Konfrontation mit unvertrauten Verhaltensweisen wie der direkten Ablehnung einer Essensaufforderung und dem Ausbleiben mehrfachen Lobes für das Essen (im chinesischen Kontext sind Aufforderungen zum Weiteressen häufig Lobelizitierungsstrategien: Mehrfaches Lob des Essens während des Abends wird erwartet) führt hier zu der Zuschreibung einer Handlung als fremdkulturell und damit zu einer Differenzierung zwischen ‚denen‘ und ‚uns‘ (Günthner 2010: 335). Indem er die Deutschen als „nicht so sehr ja BESCHEI : DEN “ (Zeile 18) kategorisiert, konstruiert Guo zugleich auf der Negativfolie der Fremdidentifikation die kulturelle Selbstidentifikation der „bescheidenen Chinesen“. Hierbei wird zum einen deutlich, dass der Prozess der Konstruktion des ‚Anderen‘ eine Dialektik der Ein- und Ausgrenzung enthält: Der Rückgriff auf kulturelle Stereotypen wird als Verfahren zur interaktiven Zuschreibung von Differenzen und damit zur interaktiven Konstruktion des ‚Anderen‘ eingesetzt (Günthner 2010). 8.1.5 Konsequenzen für den Sprachunterricht In dieser Lerneinheit haben Sie erfahren, wie mündliche Lernersprachen Aussagen über den Sprachstand, das Inventar an Lernerstrategien und die Möglichkeiten des sprachlichen Handelns von Lernern ermöglichen. Dahinter steckt die Annahme, dass Prozesse der Interaktion, wie sie jeder Form von menschlichem Handeln und Lernen zugrunde liegen, eine der zentralen Grundlagen für das Lernen von Sprachen bilden: The procedural infrastructure of interaction and intersubjectivity, and the demonstrations of understanding that participants provide for each other from moment to moment, are a condition for all human activities, language learning included. (Kasper 2009: 15) Es stellt sich nun die Frage, wie dieses Potenzial auch im Unterricht genutzt werden kann. Auf der Ebene der Unterrichtsplanung gilt es im Unterricht kommunikative Anlässe zu erzeugen, die authentische Interaktionen stimulieren (siehe Kapitel 2 im Band »Sprachenlehren«). Dies gilt sowohl für die Lerner als auch für die Lehrkraft. Auf der Ebene der Unterrichtsumsetzung sollten Gelegenheiten für das Aushandeln von Bedeutung geschaffen werden. Nach Longs Interaktionshypothese (1996) erfüllen Aushandlungssequenzen für das Zweitsprachenlernen drei Funktionen: Sie bieten Lernern zielsprachliche Muster (positive evidence), direkte oder indirekte Rückmeldung zu zielsprachlich nicht korrektem Sprachgebrauch (negative evidence) und Gelegenheiten eigene Äußerungen zu verändern (modified output). Nach Pica (1987, 1992, 1994) bietet das Aushandeln von Bedeutung für Lerner zusätzlich dazu die Gelegenheit, das Aufgliedern von Äußerungen (Sprache und Konzepten) direkt zu erleben, indem Gesprächspartner und -partnerinnen sie für sie vereinfachen, paraphrasieren oder erklären. Die interaktionale Veränderung des Inputs (interactionally modified input) in Aushandlungssequenzen wirkt sich nach dem in Ellis (2015) dargestellten Forschungsstand besonders positiv auf Sprachverarbeitung und Zweitsprachenerwerb aus. Die Wortschatzentwicklung und die Aussprache sind davon viel stärker betroffen als die Lernersprachengrammatik. Dies wird einerseits darauf zurückgeführt, dass 283 8.1 Analyse mündlicher Lernervarietäten die meisten Lerner ihre Aufmerksamkeit eher auf Bedeutung als auf Form richten, andererseits darauf, dass die lernersprachliche Progression im Bereich der Grammatik nach eigenen Gesetzmäßigkeiten verläuft (Ellis 2015: 168), die die Abstraktion produktiv verwendbarer Konstruktionsschemata voraussetzen. In gesteuerten Unterrichtssituationen haben sich in Bezug auf den Umgang mit Fehlern insbesondere solche als lernförderlich herausgestellt, die Lerner implizit mit zusätzlichem Sprachinput versorgen, wie zum Bespiel Reformulierungen (recasts), solche, die sie explizit zu zusätzlichem Sprachoutput motivieren, wie zum Beispiel Elizitierungen (elicitations), durch die Lehrkräfte die Lerner zur Ergänzung oder Korrektur eigener Äußerungen motivieren wollen sowie metasprachliche Kommentare zur Korrektheit ihrer Äußerungen (metalinguistic feedback). 8.1.6 Zusammenfassung ▶ Die Auseinandersetzung mit Lernervarietäten bietet Einblicke in den Lernstand, die kommunikativen Ressourcen und in die subjektiven Theorien von Sprachenlernern. ▶ Daneben bietet die Analyse von Unterrichtsinteraktionen Lehrern und Lehrerinnen, zum Beispiel mit Bezug auf Feedbackverhalten, die Möglichkeit über die eigene Gesprächsführung zu reflektieren. ▶ Mündliche Lernerinteraktionen wirken sich positiv auf den Lernprozess aus, indem sie die Voraussetzungen für das Aushandeln von Bedeutung und die Fokussierung von Aufmerksamkeit bilden. ▶ Mündliche Lernervarietäten spiegeln strukturell kulturspezifische Auffassungen von angemessenem mündlichen Verhalten wider und bieten Raum zur Konstruktion und Auflösung kultureller Differenzen. ▶ Unterricht soll genuin interaktiv gestaltet werden, um das Potenzial von Interaktionen für die Entwicklung von Lernersprachen zu nutzen. Eine künstliche Überbetonung im Sinne von kommunikativem Aktionismus trägt nicht zur sprachlichen Entwicklung bei. 8.1.7 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Fassen Sie die elementaren Merkmale von Lernersprachen zusammen. 2. Worüber geben Lernervarietäten Auskunft? 3. Warum soll neben lernersprachlichen Varietäten auch der Kontext berücksichtigt werden, in denen sie entstehen? 4. Wie unterscheiden sich Lernersprachen, die in einem Unterrichtskontext erhoben werden von solchen in Alltagsgesprächen? 5. Das folgende Transkript gibt ein Gespräch zwischen einem internationalen Studenten und einer internationalen Studentin in Deutschland wieder. Beschreiben und deuten Sie das kommunikative Verhalten der drei Personen aus interkultureller Perspektive. 284 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis Abbildung 8.4: Unterschiedliches kommunikatives Verhalten in einem informellen Gespräch von drei mehrsprachigen Studenten 285 8.2 Analyse schriftlicher Lernervarietäten 8.2 Analyse schriftlicher Lernervarietäten Claudia Maria Riehl In der vorhergehenden Lerneinheit haben wir uns mit verschiedenen Betrachtungsweisen von Lernervarietäten beschäftigt. Die Analyse von Lernervarietäten erfolgt dabei vorwiegend anhand von gesprochenen Daten. Wie aber bereits erwähnt, bietet die Auseinandersetzung mit schriftlichen Daten Einblick in weitere für die Sprachentwicklung zentrale Aspekte. In dieser Lerneinheit wollen wir uns nun mit Lernertexten beschäftigen und die Unterschiede zwischen geschriebenen und gesprochenen Daten herausarbeiten. Bei schriftlichen Texten können zwar höhere Planungsphasen dazu dienen, dass Sprachlerner in bestimmten Bereichen höhere Korrektheit und Akkuratheit erreichen, andererseits fordert die Schriftlichkeit auch andere, formellere Register, die höhere Anforderungen an die Produktion von Äußerungen stellen. Außerdem kommen bestimmte kulturspezifische Textmuster hinzu, die man beim Schreiben von Texten in einer anderen Sprache erlernen muss. Bei der Betrachtung von geschriebenen Lernertexten muss man daher auf andere Aspekte achten als bei der Analyse von gesprochenen Daten. In dieser Lerneinheit beschäftigen wir uns daher zunächst mit den unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten, denen gesprochene und geschriebene Sprache unterliegen und den Unterschieden zwischen gesprochener und geschriebener Sprache auf der sprachlichen Ebene. Dabei lernen wir das Paradigma ‚konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit‘ und den Begriff ‚Textkompetenz‘ kennen. Danach diskutieren wir Kriterien, mit Hilfe derer man Texte auf einer globalen Textstruktur analysieren kann. Abschließend betrachten wir Beispiele von Lernertexten, einmal von Schülern und Schülerinnen mit Deutsch als L2 und einmal von Studenten und Studentinnen im Fach Deutsch als Fremdsprache. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ erkennen können, wodurch sich gesprochene und geschriebene Sprache voneinander unterscheiden; ▶ die Gesetzmäßigkeiten von gesprochener und geschriebener Sprache bestimmen können; ▶ die Unterschiede bei der Planung und Produktion von mündlichen oder schriftlichen Äußerungen in der L1 und L2 erklären und bestimmen können; ▶ den Begriff ‚Textkompetenz‘ erläutern können; ▶ die Kriterien zur Analyse von Lernertexten kennenlernen und diese auch anwenden können. 286 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis 8.2.1 Gesetzmäßigkeiten gesprochener und geschriebener Sprache Gesprochene und geschriebene Sprache unterliegen unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten, die mit der Anwesenheit beziehungsweise Abwesenheit der Kommunikationspartner im Raum zu tun haben. In einer prototypischen Situation von gesprochener Sprache findet die Kommunikation face-to-face statt, es werden nonverbale und paraverbale Mittel eingesetzt (Mimik, Gestik, Intonation, Lautstärke, Stimmfärbung etc.) und sie ist dialogisch angelegt. Die typische Kommunikationssituation der geschriebenen Sprache ist gekennzeichnet durch eine räumliche und zeitliche Trennung der Kommunikationspartner, die Beschränkung auf den visuellen Kanal (Schrift) und eine monologische Sprechsituation. Wir werden später noch sehen, dass es auch Mischformen gibt, wobei diese nicht der prototypischen Situation entsprechen, die man für gesprochene und geschriebene Sprache definiert. Wichtige Aspekte sind dabei auch die Körpergebundenheit (durch Stimme und Körperbewegungen) im gesprochenen und die Körperentbundenheit im schriftlichen Medium. 8.2.2 Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache: Planung und Sprachproduktion Gesprochene und geschriebene Sprache unterliegen auch unterschiedlichen Produktions- und Rezeptionsbedingungen: Während man im Gesprochenen unmittelbar sprachlich handeln muss, hat man in einer typischen schriftlichen Situation mehr Planungszeit. Das ist vor allem für Sprachlerner von enormer Bedeutung, da sie längere Zeit benötigen, um bestimmte Einheiten aus dem mentalen Lexikon zu aktivieren (vergleiche dazu Kapitel 4 im Band »Sprachenlernen und Kognition«) oder korrekte grammatische Strukturen zu produzieren. Der Prozess des Monitorings ist im geschriebenen Modus (zu Monitoring vergleiche Lerneinheit 4.1 im Band »Sprachenlernen und Kognition«) viel stärker ausgeprägt. Ein weiterer Aspekt ist, dass im Gesprochenen die Korrekturvorgänge offen liegen. Bei gesprochenen Lerneräußerungen kann man also erkennen, ob die Lerner Fehler bemerken und korrigieren. Im Geschriebenen hingegen sind Korrekturvorgänge meist nicht erkennbar, höchstens durch Streichungen. Ein wesentlicher weiterer Punkt, der nicht mit dem Produktionsprozess selbst, sondern vielmehr mit der Tatsache verbunden ist, dass in einer Gesprächssituation die Gesprächspartner oder Gesprächspartnerinnen anwesend sind, ist, dass in der gesprochenen Sprache der Kontext stärker miteingebunden werden kann. Das bedeutet, man kann in einer konkreten Kommunikationssituation auf das, worauf man sich bezieht, zeigen und einfach mit einem deiktischen Signal (zum Beispiel das da) darauf referieren. Da die geschriebene Situation durch eine sogenannte „Zerdehnung der Sprechzeit“ (Ehlich 1983) gekennzeichnet ist, kann man hier nicht mit raumdeiktischen Elementen referieren, sondern muss alles explizit, das heißt dekontextualisiert, beschreiben und dabei die Perspektive des Adressaten oder der Adressatin berücksichtigen. Auch für die Rezeption hat das Konsequenzen: Das gesprochene Wort ist flüchtig, kann nur einmal wahrgenommen werden, und ist darüber hinaus nur linear wahrnehmbar. Wenn Äußerungen in geschriebener Form vorliegen, kann man sie wiederholt lesen. 287 8.2 Analyse schriftlicher Lernervarietäten 8.2.3 Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache: Sprachliche Phänomene Auf die Unterschiede zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache wird in unterschiedlichen Forschungsansätzen immer wieder hingewiesen. So werden etwa in der Pädagogik und Bildungsforschung die sogenannten basic interpersonal communicative skills ( BICS ) (mündliche kommunikative Kompetenzen) und cognitive academic language proficiency ( CALP ) (schriftsprachlich-elaborierte sprachliche Kompetenzen) unterschieden (vergleiche Cummins 2000, siehe Lerneinheit 2.2). In der Linguistik spricht man dagegen von konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit (vergleiche Koch & Oesterreicher 1994, 2007, 2011 sowie Dürscheid 2012) oder oraten und literaten Strukturen (vergleiche Maas 2008). Die Sprachformen der Schriftlichkeit werden in der Regel nur institutionell erlernt. Im Folgenden wollen wir uns das Konzept der konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit etwas genauer ansehen: Koch und Oesterreicher (1994) grenzen diese von der medialen Mündlichkeit und medialen Schriftlichkeit ab (siehe auch Dürscheid 2012 und ebenso Lerneinheit 2.2 im Band »Berufs-, Fach- und Wissenschaftssprachen«). Die mediale Dimension bezieht sich auf die Realisationsform der Äußerungen, das bedeutet, ob die Äußerung phonisch oder graphisch realisiert wird. Die konzeptionelle Realisierung nimmt dagegen Bezug auf den Duktus der Äußerung, also auf die Ausdrucksweise, die für die jeweilige Äußerung gewählt wird. Während mediale Mündlichkeit und Schriftlichkeit dichotomisch angelegt ist,- - das bedeutet, die Äußerung ist entweder gesprochen oder geschrieben- - ist die konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit als ein Kontinuum aufzufassen, das sich zwischen einem Endpol extremer Schriftlichkeit und einem Endpol extremer Mündlichkeit erstreckt. Auf diesem Kontinuum lassen sich verschiedene Äußerungsformen und Textsorten relativ zueinander anordnen. Beispiele dafür sind etwa eine private E-Mail, die zwar geschrieben wird, aber konzeptionell sehr mündlich sein kann oder ein wissenschaftlicher Vortrag, der im gesprochenen Medium realisiert wird, aber sehr elaboriert und daher auch konzeptionell schriftlich sein kann (siehe dazu Lerneinheit 5.3 und Dürscheid 2012). Diese Anordnung ergibt sich nach Koch und Oesterreicher (1994) durch das Zusammenwirken mehrerer Parameter. Entscheidende Parameter sind etwa, ob sich die Kommunikationspartner im gleichen Raum befinden und zeitgleich kommunizieren, ob sie sich gut kennen oder eher fremd sind, ob sie sich in einem privaten oder öffentlichen Raum befinden etc. (vergleiche folgende Abbildung): 288 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis Abbildung 8.5: Das Kontinuum konzeptionelle Mündlichkeit / Schriftlichkeit (Koch & Oesterreicher 2011: 13). Diese unterschiedlichen kommunikativen Voraussetzungen schlagen sich nun auch in unterschiedlichen sprachlichen Strukturen nieder, die einmal sprechsprachliche Muster und einmal schriftsprachliche Muster umfassen (Maas 2008 verwendet dafür die Kunstwörter orat und literat). Da in der gesprochenen Sprache die Verarbeitung der Äußerung online erfolgen muss, werden komplexere Einheiten in kleinere Einheiten zerlegt, das heißt die jeweiligen Segmente (Propositionen) werden aneinander gereiht (sogenannte Aggregation, vergleiche Raible 1992, Riehl 2001). Dabei kommen auch Ellipsen, das bedeutet unvollständige Sätze, vor. Im Geschriebenen ist dagegen eine komplexere Strukturierung möglich, die Segmente werden hier ineinander geschachtelt (durch syntaktische Unterordnung, Nominalisierung, Infinitivkonstruktionen etc.). Dies bezeichnet man als Integration (vergleiche Raible 1992, Riehl 2001). Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache zeigen sich aber nicht nur auf der Ebene der Informationsstrukturierung, sondern auch im Wortschatz und in der Art der Verknüpfung der Elemente (zum Beispiel in einer Erzählung mit reihendem und dann oder komplexen Gliederungssignalen). Die jeweiligen Merkmale lassen sich daher grob in die drei Bereiche Wortschatz, Syntax und Satzverknüpfung einteilen (vergleiche Riehl 2001). Die folgende Überblickstabelle dazu zeigt Merkmale gesprochener und geschriebener Sprache in der Erzählung und Argumentation: 289 8.2 Analyse schriftlicher Lernervarietäten Merkmale gesprochener Sprache (Erzählung) Merkmale geschriebener Sprache (Erzählung) Wortschatz einfacher, alltäglicher Wortschatz: Kopf, Tür, gut, sagen elaborierter, teilweise literarischer Wortschatz: Haupt, Portal, exzellent, sich äußern Syntax Sachverhalte werden in Hauptsätzen nebeneinander gestellt (Aggregation) Peter ging im Park spazieren. Er fand eine Leiche. Ein Sachverhalt wird in einen anderen integriert, zum Beispiel durch Nebensatz (als Peter im Park spazieren ging…) oder Nominalisierung (Bei einem Spaziergang im Park fand Peter eine Leiche). Satzverknüpfung Die Sätze werden durch einfache strukturierende Gliederungssignale wie und, und dann, da miteinander verknüpft. Die Sätze werden durch narrative Gliederungssignale wie eines schönen Tages, urplötzlich etc. miteinander verbunden oder asyndetisch gereiht. Tabelle 8.1: Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit am Beispiel der Textsorte ‚Erzählung‘ Merkmale gesprochener Sprache (Argumentation) Merkmale geschriebener Sprache (Argumentation) Wortschatz Basiswortschatz bzw. Umgangssprache; niedrige Type-Token-Relation; Passe-partout- Wörter („Allerweltswörter“ wie zum Beispiel Ding, machen, tun) Elaborierter, fachsprachlicher Wortschatz; hohe Type-Token-Relation Syntax Aggregative Muster; Elliptische Konstruktionen Agensorientierung (Aktivsätze) Integrative Muster; Objektivierungsstrategien (Verwendung von Passiv, Modalpassiv, man- Konstruktionen, Nominalisierungen und Ähnlichem) Satzverknüpfung Lineare Organisation, semantisch unspezifisch (und, daher, aber) Elaborierte Textverknüpfungsmuster, semantisch spezifiziert (einerseits-andererseits) Tabelle 8.2: Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit am Beispiel der Textsorte ‚Argumentation‘ 8.2.4 Textkompetenz Beim Schreiben von Texten spielen über diese lexikalischen und grammatischen Besonderheiten hinaus, die ein Sprachlerner erwerben muss, auch bestimmte pragmatische Konventionen eine Rolle, die kulturspezifisch sind. Bei der Beherrschung dieser Konventionen spricht man von Textkompetenz und versteht darunter die Fähigkeit, Texte unterschiedlicher Zwecke und Strukturen selbstständig, sachbezogen und adressatenorientiert zu verfassen (siehe unter anderem Schmölzer-Eibinger 2011, Becker-Mrotzek & Böttcher 2011). Die Grundlagen der Textkompetenz beinhalten Weltwissen (Diskurswissen, Kontextwissen), Routinewissen (Schreiben, Sprache), makrostrukturelles Wissen (Textmusterwissen), das Wissen über Leseradäquatheit und die Kenntnis von textspezifischen Gestaltungsmustern. Dazu kommen noch die verschiedenen Anforderungs- und Inhaltsbereiche beim Produzieren von Texten. Becker-Mrotzek und Böttcher (2011) führen hierfür die folgenden Punkte auf: Zum einen geht es darum die Schrift produzieren zu können. Das kann bei Lernern, die in 290 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis einem anderen Schriftsystem alphabetisiert wurden, durchaus die ersten Probleme aufwerfen (siehe Lerneinheit 5.3 zu Biliteralismus). Eine weitere Anforderung ist das Richtigschreiben, das heißt die Beherrschung der orthografischen Regeln einer Sprache. Neben diesen Anforderungen, die auf der Schriftebene ablaufen, ist dann die Wahl des passenden lexikalischen Ausdrucks wichtig und es müssen korrekte grammatikalische Strukturen hergestellt werden. Schließlich kommt aber beim Schreiben von Texten noch eine weitere Ebene hinzu und diese betrifft das Herstellen einer Textstruktur. Als übergreifende Aufgabe in den Bereichen Lexik, Syntax, Textstruktur erscheint schließlich die Leserorientierung. Bei professionellen Schreibern und Schreiberinnen sind die untersten Ebenen, das heißt die der orthografischen und grammatischen Korrektheit, in der Regel automatisiert. Auch weitere Teile können automatisiert oder teilautomatisiert ablaufen, so dass sich geübte Schreiber und Schreiberinnen in ihrer L1 in der Regel auf die komplexeren Aufgaben der Leserorientierung und des Herstellens einer Textstruktur sowie des Einhaltens der Kohärenz konzentrieren können. Bei ungeübten L1-Schreibern und Schreiberinnen beziehungsweise auch Schreibern und Schreiberinnen in einer L2 kann es aufgrund der mangelnden Automatisierung der unteren Ebenen zu einer Systemüberlastung kommen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass alle Bereiche kontrolliert werden müssen, aber dem Schreiber und der Schreiberin nur ein bestimmter „Aufmerksamkeitsbetrag“ (Herrmann & Grabowski 1994: 282) zur Verfügung steht. Ist dieser ausgeschöpft, kommt es zur Systemüberlastung, was bedeutet, dass Schreiber und Schreiberinnen bei komplexeren Textsorten oder Textmustern, die sie nicht geübt haben, teilweise Fehler im Bereich der sprachlichen Korrektheit produzieren, die sie bei einfacheren Texten nicht machen würden (vergleiche Riehl 2001: 278ff). Viele Schreiber und Schreiberinnen weichen dann auch auf die weniger komplexen Äußerungsformen der konzeptionellen Mündlichkeit aus (siehe unten). 8.2.5 Kriterien der Analyse Wenn man die Textkompetenz von Sprachlernern erfassen will, muss man ein Modell entwickeln, mit dessen Hilfe man neben den Elementen auf der Mikrostruktur (Wortschatz, syntaktische Strukturen, morphologische Marker) auch globale Muster von Texten erfassen kann. Ein derartiges Analysemodell wurde von Berman und Nir-Sagiv (2007) vorgeschlagen und in unseren Projekten für das Deutsche weiterentwickelt (Riehl 2013b, Woerfel, Koch, Yilmaz-Woerfel & Riehl 2014). Hier haben wir ein Raster, mit dem wir die Makrostruktur der Texte, den Diskursmodus (konzeptionell mündliche beziehungsweise schriftliche Strukturen) und die kommunikative Grundhaltung (Distanziertheit versus Involviertheit) erfassen. Um die Texte hinsichtlich der Textkompetenz bewerten zu können, werden diese zunächst mithilfe eines für jede Textsorte spezifischen Analyserasters analysiert und in verschiedene Kompetenzstufen eingeteilt. 291 8.2 Analyse schriftlicher Lernervarietäten Makrostruktur Bei der Analyse der Makrostruktur von narrativen Texten kann man beispielsweise das klassische Modell von Labov und Waletzky (1967) verwenden. Dieses Modell wird in verschiedenen Studien für die Analyse von narrativen Texten herangezogen. Die Analyseschwerpunkte umfassen dabei folgende Aspekte: Abstract, Orientierung, sich entwickelnder Konflikt, Evaluation (Höhepunkt), Auflösung und Coda. Diese werden ergänzt durch eine zusätzliche Komponente, die in der Regel als „Bruch“ (Quasthoff 1980) oder „Unerwartetes“ (Ehlich 1983) bezeichnet wird. Der Bruch teilt die globale Gliederung des Ereignisverlaufs in ein Vorher und ein Nachher. Ein Ereignis löst ein weiteres Geschehen innerhalb der Ereignisfolgen aus (vergleiche Boueke, Büscher, Schülein, Terhorst & Wolf 1995: 134). Im Vergleich zu narrativen Texten stehen bei argumentativen Texten andere makro-strukturelle Merkmale im Vordergrund. Hier kann man für Lernertexte etwa auf das von Augst und Faigel (1986) entwickelte Modell von Textordnungsstrategien zurückgreifen. In dem Modell werden vier unterschiedliche Strategien unterschieden: 1. Linear-entwickelnd / Assoziative Aneinanderreihung von Gedanken aus einer intrinsischen Perspektive: In diesem Fall gibt der Schreiber oder die Schreiberin Beispiele aus seinem eigenen Erleben. Der Text ist sehr subjektiv gestaltet und enthält auch narrative Passagen. 2. Material-systematisch / Reihenfolge basierend auf der Ordnung des Gegenstandes und der Perspektive des Schreibers beziehungsweise der Schreiberin: Hier orientiert sich der Schreiber oder die Schreiberin bereits am Inhalt, ordnet aber seine Argumente nicht in einer systematischen Reihenfolge an, sondern bestimmt diese daran, was ihm persönlich am Wichtigsten erscheint. Texte dieser Art sind daher auch noch subjektiv gestaltet. 3. Formal-systematisch / Formale Anordnung, konsistente Makrostruktur: Bei diesem Muster bedient sich der Schreiber oder die Schreiberin einer formalen Ordnung, die er im schulischen Unterricht gelernt hat, wie das Muster einer Erörterung nach dem Schema pro-contra-conclusio. Die Texte enthalten auch eine Hinführung zum Thema und einen Schluss. 4. Linear-dialogisch / Formale Anordnung, Einbezug des Adressaten oder der Adressatin: In diesem Fall wird ebenfalls ein formales Schema der Textordnung angewandt (wie das pro-contra-conclusio-Muster), aber der Schreiber oder die Schreiberin bezieht außerdem den Adressaten oder die Adressatin durch direkte Anrede oder rhetorische Fragen mit ein. Diese Kriterien werden ebenfalls in verschiedenen Studien angewendet (eine Modifizierung für die Analyse von Texten jüngerer Schüler und Schülerinnen findet sich in Augst, Disselhoff, Henrich, Pohl & Völzing 2007: 201ff) und wird auch auf bilinguale Textproduktionen übertragen (Rapti 2005)). 292 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis Diskursmodus Ein weiteres Kriterium, das bei der Analyse im Zentrum steht, ist der sogenannte Diskursmodus. Darunter verstehen wir das Konzept für konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit von Koch und Oesterreicher (1994, 2007), das oben vorgestellt wurde. Wie Tabelle 8.1 zeigt, unterscheiden sich konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit vor allem auf drei sprachlichen Ebenen: der lexikalischen, der morpho-syntaktischen und der textuellen. Im Rahmen dieses Modells werden für diese verschiedenen Ebenen der Sprache Kriterien formuliert, die bei der Analyse berücksichtigt werden, zum Beispiel: Im Bereich des Lexikons: ▶ Verwendung von Passe-Partout-Wörtern und Basislexemen, reduzierter Wortschatz gegenüber elaboriertem Wortschatz ▶ Verwendung von umgangssprachlich oder regionalspezifisch definierten Lexemen gegenüber Begriffen mit registerspezifischen Konnotationen ▶ Variationen bzw. Wiederholungen ▶ Phraseologismen und Kollokationen ▶ Semantische Abweichungen, Neologismen, hybride Formen ▶ Brief- und Anredeformeln Im Bereich der Morphosyntax: ▶ Parataxe bzw. Aggregation gegenüber Hypotaxe bzw. Integration ▶ Allegro-sprachliche Merkmale ▶ Kongruenzschwächen, Anakoluthe, Holophrasen, Ellipsen, Links-, Rechtsversetzungen ▶ Ich-bezogene Formulierungs- und Gestaltungsmuster gegenüber unpersönlichen Konstruktionen und Passiv Im Bereich der textuell-pragmatischen Ebene: ▶ Abtönungs- und Modalpartikel gegenüber kommunikations-, text- und argumentationsstrukturierenden meta-kommunikativen Wendungen ▶ einförmiger Satzbeginn gegenüber differenziertem Satzbeginn ▶ konzeptuell mündliche kausale und adversative Konnektoren gegenüber konzeptionell schriftlichen kausalen Konnektoren Kommunikative Grundhaltung Ein weiterer wichtiger Aspekt, der ebenfalls die globale Textstruktur beeinflusst, ist die Involvierung in den Text oder die Distanzierung vom Text, die im Anschluss an Sieber (1998) als Kommunikative Grundhaltung bezeichnet wird. Ein wesentliches Merkmal der Involvierungsstrategie ist das Herstellen einer unmittelbaren Sprecher-Hörer-Deixis durch die Präsenz von Schreiber und Schreiberinnen beziehungsweise Leser und Leserinnen im Textraum. Der Terminus Involvierung hat dabei eine doppelseitige Bedeutung: das Sich-Einbringen des Sprechers selbst in den Text (sprecher- und sprecherinnenseitige Involvierung) 293 8.2 Analyse schriftlicher Lernervarietäten und das Verwickeln des Hörers und der Hörerin in den Text (hörer- und hörerinnenseitige Involvierung). Die Involvierung in narrativen Texten wird von Boueke et al. (1995) als sogenannte ‚Affektstruktur‘ bezeichnet. Diese wird mit Affektmarkierungen gekennzeichnet, die sich in drei Hauptkategorien unterteilen lassen: Valenz, psychologische Nähe und Plötzlichkeit. Die Kategorie Valenz bezieht sich dabei auf positive versus negative Ausdrücke, die im ersten Fall die plan-kompatiblen und im zweiten Fall die plan-divergenten Ereignisse bezeichnen. Die Kategorie psychologische Nähe hat die Aufgabe, den Leser beziehungsweise die Leserin in den Text miteinzubeziehen. Dies geschieht vor allem durch direkte Rede, aber auch durch erlebte Rede oder Wiedergabe von Gedanken der Akteure. Die Kategorie Plötzlichkeit kennzeichnet dagegen neu auftretende, unerwartete Ereignisse. Während nun die Grundhaltung der Involvierung ein typisches Merkmal narrativer Texte ist, wird bei argumentativen Texten im Deutschen in der Regel die Grundhaltung der Distanzierung gefordert. Allerdings kann der Schreiber und die Schreiberin auch hier Involvierungsstrategien vornehmen. Neben der Herstellung der unmittelbaren Hörer-Leser-Deixis können hier Evaluationen vorgenommen werden. Die für die Involvierung wichtige unmittelbare Sprecher-Hörer-Deixis kann durch zwei verschiedene Verfahren erzeugt werden: einmal durch Selbstreferenz, das heißt der Sprecher oder die Sprecherin verwendet die erste Person (zum Beispiel ich meine, ich glaube, ich befürworte etc.), und zum anderen durch die unmittelbare Anrede des Lesers (zum Beispiel Sie werden wohl jetzt denken, dass…). Evaluationen sind durch evaluierende Adjektive (überflüssig, schlimm) sowie Modalpartikel (doch, wohl) gekennzeichnet. Involvierungsmuster werden vor allem von Schreiblernern verwendet, die das kulturspezifische Muster der Distanzierungsstrategie noch nicht erworben haben. Demgegenüber stehen Distanzierungsstrategien, das heißt Strukturen, die eine objektive Gestaltung zu erreichen suchen. Ein wesentliches Element ist dabei die Vermeidung von Sprecher- und Sprecherinnen beziehungsweise Hörer- und Hörerinnen-Referenzen, zum Beispiel durch die Verwendung von Passiv und verwandten Konstruktionen wie beispielsweise das unpersönliche man… oder Nominalisierungen (vergleiche Heinrich & Riehl 2011: 29f). Die kommunikative Grundhaltung Involvierung versus Distanzierung in argumentativen Texten drückt sich demnach in den folgenden beiden Kategorien aus: Hörer-Leser-Deixis und Evaluation (=-Affektmarkierung ja-- nein) (vergleiche Tabelle 8.3): Kategorien Involvierung Distanz Sprecher-Hörer-Deixis Selbst-Referenz Adressierung des Hörers Keine Selbst-Referenz (oder nur in den Rahmenteilen) Fokussierung des Themas Evaluation Gebrauch evaluierender Adjektive oder Modalpartikel „toll, idiotisch, sicherlich“ Objektive Formen zur Meinungsdarstellung Tabelle 8.3: Markierung der Involvierung und Distanzierung für argumentative Texte 294 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis Experiment Im vorausgehenden Abschnitt haben Sie die Kategorie der kommunikativen Grundhaltung kennengelernt. Erläutern Sie anhand des folgenden Beispiels, welche kommunikative Grundhaltung der Schreiber beziehungsweise die Schreiberin einnimmt und an welchen Merkmalen Sie das festmachen können: Ich bin dafür daß Englisch gewählt wird. Als Sprache ist Englisch am geeignetsten weil es am leichtesten zu lernen ist. Deutsch u. Latein sind grammatikalisch gesehen viel schwerer. Und daher auch schwerer erlernbar. Außerdem ist das Englische gegenüber dem Dt. nicht so formell und krampfhaft, sondern viel lockerer. Dies fängt schon bei der Anredeform mit „you“ an. „You“ ist keine Höflichkeitsform, man geht also automatisch viel offener und lockerer auf die angespr. Person ein. Latein auf keinen Fall. Damit komme ich jetzt schon nicht zurecht. Was glauben sie da, was für Schwierigkeiten ich dann später hätte bei Kommunikation und Gesprächen, wo die Wörter schnell her müssen ohne zuvor lange an Grammatikregeln usw. zu denken. Esperanto: kenne ich nicht. Ich glaube viele Leute kennen diese Sp. nicht. Also müßte man hierbei eine völlig neue Spr. lernen; dies ist auch kompliziert. Das Englische versteht man ja auch sofort auf Anhieb, weil viele Wörter dabei aus dem Lateinischen stammen, also dem Italienischen u. Dt. sehr ähnlich sind, daher auch leicht verständlich. Bleiben wir bei Englisch. 8.2.6 Analyse von Lernertexten Die angeführten Kriterien können nun bei der Analyse für unterschiedliche Lernertexte verwendet werden. Wir zeigen dies im Folgenden anhand von zwei Beispielen: Beim ersten Beispiel handelt es sich um Texte von Schülern und Schülerinnen, die in ihrer Zweitsprache Deutsch schreiben. Die Texte stammen aus einem Projekt zur Mehrschriftlichkeit, in dem Schüler und Schülerinnen, die mit den Herkunftssprachen Italienisch, Griechisch oder Türkisch aufgewachsen sind, narrative und argumentative Texte in ihrer L1 und in der L2 Deutsch schreiben. Hier ist zu beachten, dass die meisten der Schüler und Schülerinnen in Deutschland aufgewachsen sind und deshalb in Deutsch besser schreiben können als in ihrer Erstsprache. Diesen Umstand werden wir in Lerneinheit 5.3 näher beschreiben. Hier soll dagegen ein Beispiel von einer Schülerin mit L1 Italienisch dienen, die erst zwei Jahre zuvor nach Deutschland gekommen ist, und daher in ihrer Herkunftssprache die Textkompetenz erworben hat. Die Aufgabe ist, einen Brief an den Schulleiter oder die Schulleiterin zu formulieren, in dem sie zu einem Handyverbot in der Schule Stellung nimmt. Sehr geehrte Frau Ch. 1 Ich bin Michaela eine Schulerin von der Klasse 9b und möchte über regel von Schule reden… Ich finde 2 nicht gut, dass wir kein Handy in der Schule benutzen können, also, nämlich schon, es ist schon klar dass wir nicht 3 in der Klasse es benutzen nicht können, und ich sage auch nichts dazu, aber in der Pause, es nicht benutzen 4 finde ich ein bisschen blöt, in der Pause lernen wir auch nicht, das ist unser Freizeit da konnen wir machen 5 alles was wir wollen, ich bitte ihnen zu überlegen es zustimmen. 6 Liebe Grüße Michaela 7 295 8.2 Analyse schriftlicher Lernervarietäten Der Text lässt ähnliche Abweichungen von der Zielsprache erkennen: fehlender Artikel (Zeile 1 über regel von Schule), abweichende Wortstellung (Zeile 4 in der Klasse es), fehlender Infinitivmarker zu (Zeile 4 es nicht benutzen), Gebrauch des Dativpronomens statt Akkusativ (Zeile 6 ihnen zu überlegen) und umgekehrt (Zeile 6 es zuzustimmen). Darüber hinaus gibt es einige orthografische Fehler, etwa das Fehlen des Umlauts in Schulerin (Zeile 2) oder konnen (Zeile 5). Gerade hier zeigt sich, dass die Schülerin offensichtlich nur die Markierung vergessen hat, denn in Zeile 3 erscheint können korrekt. Da derartige Fehler auch bei L1-Sprechern und -Sprecherinnen häufig auftreten, handelt es sich hier keineswegs um ein Phänomen, das typisch ist für L2-Lerner. Lediglich die grammatischen Abweichungen von der Zielsprache sind bei L2-Lernern häufiger. Weitaus interessanter sind aber die Besonderheiten auf der Ebene der Makrostruktur des Textes: Hier argumentiert die Schülerin nach einem linear-entwickelnden Schema: Sie geht assoziativ nach einer intrinsischen Perspektive vor. Der Text enthält aber eine korrekte Rahmung durch Anrede und Schlussformel sowie einleitenden Satz und Schlusssatz. Der Diskursmodus ist konzeptionell mündlich: Die Schülerin verwendet weitgehend Basiswortschatz (reden, benutzen, sagen, lernen, blöd, machen etc.), mit einer niedrigen Type-Token-Relation (allein dreimal benutzen). Darüber hinaus gibt es umgangssprachliche Formulierungen wie es ist schon klar dass…-(Zeile 3). Die Satzeinheiten bestehen fast ausschließlich aus aggregativ aneinanderreihenden Sätzen (außer dass-Sätzen). Die Verknüpfung erfolgt asyndetisch oder durch die einfachen Konjunktionen und, aber. Ein weiterer Aspekt auf der globalen Textebene ist die starke Involvierung der Sprecherin, die mit dem konzeptionell mündlichen Diskursmodus einhergeht: persönliche Stellungnahmen mit ich-Referenz (ich finde nicht gut, Zeile 2f, und ich sage auch nichts dazu, Zeile 4, finde ich ein bisschen blöt). Auch der Rest des Textes wird sehr persönlich mit wir realisiert. Diese Besonderheiten auf der Ebene der Makrostruktur werden häufig von Sprachlehrern und Sprachlehrerinnen in der Beurteilung von Lernertexten gar nicht berücksichtigt. Viele beschränken sich eher auf die Markierung von rein sprachlichen oder orthografischen Abweichungen. Um aber Lernertexte richtig analysieren zu können, müssen gerade die Abweichungen von der Norm auf der textuellen Ebene viel stärker hervorgehoben werden. Es ist zu beachten, dass einige dieser Phänomene auch bei Schreibern und Schreiberinnen mit L1 Deutsch oder Schreibern und Schreiberinnen mit Deutsch als L2, die aber im deutschen Schulsystem schriftsprachlich sozialisiert werden, zu beobachten sind. Auch hier handelt es sich um Schreiblerner, die das System noch nicht vollständig erworben haben und oft eine hohe Variation in der Schreibung aber auch in der Wortwahl, im Bereich der Kollokationen sowie in der Registeradäquatheit zeigen. Dabei kommt es noch häufig zu Formen konzeptioneller Mündlichkeit, wenngleich in wesentlich geringerem Maße (vergleiche Riehl, Barberio, Tasiopolou, Yilmaz-Woerfel demnächst). 296 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis Experiment Führen Sie mit zehn Ihrer Sprachkursteilnehmer und -teilnehmerinnen oder zehn Freunden und Freundinnen, die gerade eine Fremd- oder Zweitsprache lernen eine Umfrage durch. Finden Sie heraus, in welchem Bereich die Lerner Ihre Kompetenzen höher einstufen: Im konzeptionell mündlichen oder schriftlichen Bereich. Veröffentlichen Sie Ihre Ergebnisse im Blog und gehen Sie bei der Interpretation der Ergebnisse auf folgende Fragen ein: Wie ist das Ergebnis zu deuten? Haben Sie dieses Ergebnis erwartet? Wie kommt dieses Ergebnis zustande? Würden Sie als Lehrer oder Lehrerin die Einschätzung Ihrer Freunde und Freundinnen oder Lerner auf dieselbe Art vornehmen, oder sehen Sie Ihre Kompetenzen andersherum gewichtet? Hat dieses Wissen Einfluss auf Ihre Unterrichtskonzeption? 8.2.7 Schreiben in der Zweitsprache bei DaF-Studierenden Auch bei Lernern auf hohem Niveau zeigen sich neben lexikalischen und grammatischen Besonderheiten besonders die Einflüsse auf der Textebene im Bereich der Makrostruktur, der kommunikativen Grundhaltung und des Diskursmodus, wie oben beschrieben. Das folgende Beispiel entstammt einer Studie zum Schreiben bei tschechischen DaF-Studenten und Studentinnen (vergleiche Heinrich & Riehl 2011). Dort wird untersucht, wie DaF-Studenten und Studentinnen argumentative Texte verfassen. Diese haben die Aufgabe, zu der Forderung nach einem Pflicht-Auslandssemester für alle Studenten und Studentinnen Stellung zu nehmen. Hierzu wird eine fiktive Umfrage durchgeführt (vergleiche Heinrich & Riehl 2011). Sehen wir uns nun den Beispieltext an, der dazu von einer Studentin aus dem 1. Studienjahr geschrieben wurde: 297 8.2 Analyse schriftlicher Lernervarietäten Als die Universitätsstudentin soll ich jetzt überlegen, ob es gut oder schlecht ist, einen 1 Pflichtsemester im Außland zu verbringen. Meiner Meinung nach ist es eine gute Idee, diese 2 Möglichkeit zu haben, aber ich bin nicht einverstanden damit, dass es meine Pflicht wäre. 3 Vielleicht wäre es besser, dass die Universitäts- oder Hochschulestudenten sich selbst 4 entscheiden dürften, ob ins Ausland zu fahren und einen Semester dort zu verbringen, oder zu 5 Hause bleiben und ihres Studium dort zu Ende zu führen. 6 Heute gibt es viele Möglichkeiten. Die Leute und die Studenten in der heutigen Gesellschaft 7 können praktisch irgendwann ins Ausland fahren und ihre Kenntnisse verbessern. Es ist doch 8 egal, wann werden sie entscheiden, ein halbes Jahr in einem anderen Land zu verbringen und 9 es ist doch nicht nötig, meiner Meinung nach, schon während des Studiums dorthin zu fahren. 10 Zum Beispiel, ich kann mich überhaupt nicht vorstellen, dass im nächsten Schuljahr oder 11 Semester jemand kommt zu mir und sagt, dass es schon entschieden ist, einen Pflichtsemester 12 in einem anderen und vor allem für mich fremden Land zu verbringen. Selbstverständlich wäre 13 es eine große Möglichkeit, weil ich irgendwo fahren könnte, neues Land und neue Leute 14 kennen lernen könnte, aber... Ich kann nicht sagen, dass die Auslandsemester Pflicht gerade 15 das ist, was ich wünschen würde. Vielleicht würde ich lieber mein Studium hier in der 16 Tschechischen Republik vollenden und erst dann mich entscheiden, was weiter zu machen. 17 Vielleicht irgendwo ins Ausland zu fahren, aber das weiß ich noch nicht. 18 Für mich selbst ist diese Idee der Auslandsemester Pflicht nicht so gut, aber es gibt Leute, die 19 eine andere Meinung haben können. 20 Neben einigen lernersprachlichen grammatischen und lexikalischen Besonderheiten (zum Beispiel Artikelgebrauch, Wortstellung etc.) fällt vor allem auf, dass der Text auf der makrostrukturellen Ebene-- wie schon der obige Text der italienischsprachigen Schülerin-- einem Muster folgt, das wir oben nach Augst und Faigl (1986) als „linear-entwickelnd“ beschreiben. Darunter wird ein Muster verstanden, das eine assoziative Aneinanderreihung der Gedanken und eine Argumentation aus einer intrinsischen Perspektive beinhaltet. Ein weiterer Gesichtspunkt ist der Diskursmodus: Die Schreiberin verwendet ebenfalls eine Reihe von Ausdrucksformen, die der konzeptionellen Mündlichkeit zuzuordnen sind: ist eine gute Idee (Zeile 2), es ist doch egal (Zeile 7), das weiß ich noch nicht (Zeile 16), jemand kommt zu mir und sagt (Zeile 10), ist diese Idee-[…] nicht so gut (Zeile 17). Wie wir am Beispiel des Textes der Schülerin schon gesehen haben, könnte das auch mit der Sprachkompetenz der Schreiber und Schreiberinnen zusammenhängen, da konzeptionelle Schriftlichkeit auch erst mit fortschreitender Sprachkompetenz erworben wird (Becker-Mrotzek & Böttcher 2011). Auf der Ebene der kommunikativen Grundhaltung allerdings könnten die Lerner Muster ihrer L1 auch auf die L2 übertragen. Diese stark involvierende von der eigenen Person ausgehende Schreibweise findet sich bei den meisten der tschechischen Studenten und Studentinnen. Wir haben hier gezeigt, dass auch unterschiedliche Ebenen der Selbstreferenz betroffen sind. So gibt es Selbstbezüge auf drei unterschiedlichen Ebenen, die jeweils einen unterschiedlichen Grad von Involvierung zeigen: die Diskursebene, die Bewertungsebene und die Darstellungsebene. Die Diskursebene bezieht sich auf Ich-Referenzen in textstrukturierenden Formeln (wie im Folgenden werde ich…): Hier hat der Ich-Bezug die Funktion, den Leser auf der Ebene des Diskurses zu unterstützen. Auf der Bewertungsebene werden Ich-Kommentare in Form von 298 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis Bewertung und Evaluation von Argumenten gegeben (ich bin der Meinung, dass; ich finde, dass). Der Ich-Bezug dient hier dazu, die Aussagen zu relativieren. Bei Involvierung auf der Darstellungsebene dagegen enthält der Text narrative Passagen, in denen der Schreiber oder die Schreiberin über sich selbst berichtet. In diesem Fall wird eigenes Erleben als Argument eingesetzt und eigene Wünsche und Einstellungen werden referiert. In dem vorliegenden Text befinden sich nun Selbstreferenzen auf allen drei Ebenen: ▶ Diskursebene: soll ich jetzt überlegen, ob es gut oder schlecht ist (Zeile 1). ▶ Bewertungsebene: ich bin nicht einverstanden (Zeile 3), es ist doch nicht nötig, meiner Meinung nach (Zeile 8f), für mich ist diese Idee nicht so gut (Zeile 17). ▶ Darstellungsebene: Zum Beispiel, ich kann mich überhaupt nicht vorstellen, dass im nächsten Schuljahr jemand zu mir kommt-… das weiß ich noch nicht (Zeile 9-16). Diese ganze Passage berichtet aus der persönlichen Perspektive der Schreiberin. Bei der Analyse von 40 Texten tschechischer DaF-Studenten und Studentinnen und einer Kontrollgruppe von 30 Studenten und Studentinnen mit Deutsch als L1 ergab sich, dass die tschechischen Studenten und Studentinnen vor allem auf den Ebenen der Meinungsäußerung und auf der Argumentationsebene einen hohen Prozentsatz an Selbstreferenz aufweisen, während die deutschen Schreiber und Schreiberinnen überwiegend nur auf der Ebene der Diskurssteuerung auf sich selbst referieren. 8.2.8 Zusammenfassung ▶ Geschriebene und gesprochene Sprache unterliegen unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten, die mit der Anwesenheit der Kommunikationspartner im Raum verbunden sind. Während eine prototypische Situation gesprochener Sprache face-to-face stattfindet, ist die prototypische Situation geschriebener Sprache durch räumliche und zeitliche Trennung der Sprecher und Sprecherinnen gekennzeichnet. ▶ Die Unterschiede zwischen Sprechen und Schreiben liegen auch in der Planung und Sprachproduktion. Für Sprachlerner bedeutet Schreiben zwar eine längere Planungszeit, andererseits aber verlangt geschriebene Sprache wesentlich explizitere Äußerungen. ▶ Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache werden im Paradigma der konzeptionellen Mündlichkeit versus Schriftlichkeit genauer erläutert. Sie befinden sich auf der lexikalischen Ebene (Basiswortschatz gegenüber elaboriertem Wortschatz), auf der syntaktischen (Aggregation gegenüber Integration) und auf der Ebene der Satzverknüpfung (einfache Verknüpfungen gegenüber textsortenspezifischen Gliederungselementen). ▶ Textkompetenz umfasst neben lexikalischen und grammatischen Spezifika einer Textsorte auch deren pragmatische Konventionen, die kulturspezifisch sind. Diese müssen L1-Sprecher und -sprecherinnen ebenso institutionell erwerben wie Lerner einer L2. 299 8.2 Analyse schriftlicher Lernervarietäten ▶ Analysekriterien für Texte können neben mikrostrukturellen Einheiten auch makrostrukturelle Muster wie Textordnungsmuster, Diskursmodus (konzeptionelle Mündlichkeit versus Schriftlichkeit) und kommunikative Grundhaltung (Involvierung versus Distanzhaltung) beinhalten. ▶ Lernertexte sind sehr häufig von konzeptionell mündlichen Strukturen sowie Involvierungsmustern des Schreibers und der Schreiberinnen geprägt. 8.2.9 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Beschreiben Sie, was man unter „konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ versteht und wie sich diese von medialer Mündlichkeit und Schriftlichkeit unterscheidet. Geben Sie Beispiele für Textsorten oder Äußerungsformen, die der konzeptionellen Mündlichkeit und solche, die der konzeptionellen Schriftlichkeit zuzuordnen sind. 2. Diskutieren Sie den Begriff Textkompetenz und erklären Sie, warum es bei Lernern zu einer Systemüberlastung kommen kann. 3. Inwiefern lassen sich auch Texte von L1-Sprechern und -Sprecherinnen als „Lernertexte“ beschreiben? Diskutieren Sie hier die Unterschiede zwischen dem Text der Schülerin der 9. Klasse und der tschechischen Studentin. Auf welchen Ebenen fallen Ihnen die meisten Unterschiede auf und wie lassen sich diese erklären? 4. Analysieren Sie den folgenden Text einer weiteren tschechischen Studentin aus dem ersten Studienjahr in Hinblick auf die globalen Textstrukturen: In dieser Zeit ist sehr wichtig Fremdsprachen zu lernen. Vor allem in solchen Staaten, wie z. B. die 1 Tschechische Republik, Slowakei, Polen und andere, die seine eigene Sprache haben. Tschechisch 2 kann man nur in der Tschechischen Republik sprechen, aber in anderen Staaten versteht 3 Tschechisch fast niemand. Für die Staaten ist Zusammenarbeit mit anderen Staaten wichtig. Und 4 deshalb muss man Fremdsprachen lernen um mit Auslandspartneren handeln zu können. Meiner 5 Meinung nach ist es gut, dass die Kinder schon in der Grundschule eine Fremdsprache lernen 6 müssen. Aber man muss in Ausland fahren um die Sprache gut zu beherrschen. Als ich in Opava 7 studierte, hatte ich Möglichkeit für drei Monaten nach Deutschland zu fahren. In der Schule war 8 ich eine der beste in Deutsch. Aber als ich hingekommen bin, war alles anders. Ich hatte Angst zu 9 sprechen. Nach paar Tagen war es besser und mein Angst war weg. Es hat mir sehr befreut, 10 wenn mir ein Deutscher nach zwei Monaten gesagt hat, dass ich ganz gut Deutsch spreche. Für 11 drei Monaten in Deutschland habe ich mehr gelern, alles für zehn Jahren in der Schule. Aber man 12 vergisst viel, wenn nach Hause kommt. Also ich bin dafür, dass die Studenten ein Pflichtsemester 13 im Ausland hätten. Es ist gut für ihre Fremdsprachenkenntnisse und sie kennen auch andere 14 Kultur und Mentalität lernen. Andere Frage aber ist, wer das finanziert wird. 15 300 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis 8.3 Empirische Forschungsmethodologie Jala Garibova (übersetzt von Simone Lackerbauer) Um den natürlichen, unverstellten Sprachenerwerb in Bezug auf ein besseres Verständnis der Erwerbsprozesse der Mehrsprachigkeit zu untersuchen, muss man sich zwangsläufig einer Reihe von komplexen Datenerhebungstechniken bedienen, und zwar besonders solchen, die ein Maximum an Authentizität gewährleisten. In dieser Einheit geben wir Ihnen einen kurzen Überblick zu den Methoden, die in der Mehrsprachigkeitsforschung verwendet werden (für eine ausführlichere Darstellung siehe Lerneinheit 6.2 im Band »Propädeutikum«). Sie werden grundsätzliche Aspekte der empirischen Forschung kennenlernen. Dazu gehören die Auswahl einer Stichprobe und das eigene Verhalten als Forscher zusammen mit ethischen Fragen, genauso wie die Auswahl und Kombination geeigneter Methoden zur Erhebung von Daten, die für Fragestellungen der Mehrsprachigkeitsforschung relevant sind. Letzteres bezeichnet man als Triangulation, weil dadurch die Möglichkeit entsteht, ein Phänomen aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten. Besonderen Wert legen wir auf die Arbeit mit Probanden, insbesondere bei der Anwendung von Techniken zur Beobachtung von Sprachverhalten und der Erhebung von sprachlichen und nichtsprachlichen Daten. Wir werden die Problematik der linguistischen Ethik erörtern und Sie zur Reflexion darüber ermuntern. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ die verschiedenen Herausforderungen verstehen, die in Zusammenhang mit der empirischen Forschung stehen; ▶ die unterschiedlichen Methoden, die in der Mehrsprachigkeitsforschung verwendet werden, kennenlernen und einschätzen, für welche Fragestellungen sie sich eignen; ▶ einen ersten Einblick über Korpuserstellung und -nutzung gewinnen; ▶ die Vorteile von Methoden- und Datentriangulation erkennen; ▶ eigenständig verschiedene Fragen der Forschungsethik reflektieren. 8.3.1 Stichproben Empirische Forschung ermöglicht den direkten Zugriff auf natürliche Daten. Ziel der Mehrsprachigkeitsforschung muss es sein, einen möglichst unverstellten Blick auf den natürlichen Sprachenerwerb werfen zu können. Authentische Kommunikation ist aber schwer zugänglich. Allein die Aufgabe, kooperationsbereite Versuchspersonen zu finden, stellt viele Forschungsprojekte vor ungeheure Probleme. Im Fall der Mehrsprachigkeitsforschung müssen die Forscher mit Menschen arbeiten, die in zweisprachigen oder mehrsprachigen Gemeinschaften leben. Doch wie wir gesehen haben, beeinflussen soziodemografische Faktoren, wie 301 8.3 Empirische Forschungsmethodologie etwa das Alter, das Geschlecht und das soziale Umfeld das Sprachverhalten. Bei der Auswahl der Probanden und Probandinnen muss dies berücksichtigt werden (Crystal 1997: 414). Um zuverlässige Aussagen über ein Phänomen treffen zu können, ist es wichtig, dass die Probanden oder Versuchspersonen gut gewählt werden. Es muss eine Auswahl aus einer großen Anzahl potenzieller Probanden getroffen werden. Die Zusammensetzung der Informanten und Informantinnen sollte daher möglichst repräsentativ sein. Das heißt sie sollte alle Eigenschaften aller potenzieller Probanden und Probandinnen (Grundgesamtheit) möglichst gut widerspiegeln. Außerdem sollte der Umfang der Stichprobe, um ein aussagekräftiges Ergebnis zu erhalten, im Verhältnis zur Grundgesamtheit stehen. Daten zum linguistischen Phänomen, für das man sich interessiert, können durch die Verwendung verschiedener Methoden gesammelt werden. In dieser Lerneinheit beschäftigen wir uns hauptsächlich mit der Beobachtung, der Befragung und der Anfertigung von Ton- und Videoaufnahmen. Wir gehen aber auch kurz auf Experimente ein. Didaktisch ausgerichtete Methoden, wie zum Beispiel Interventionsstudien oder Methoden der Handlungsforschung, werden in Kapitel 2 des Bandes »Sprachenlehren« behandelt. 8.3.2 Der Feldforscher Feldforschung ist weit verbreitet, da sie den empirischen Zugang zu primären, natürlichen Daten und zu praxisbezogenem, sprachwissenschaftlichem Material ermöglicht. Für die effektive Feldforschung benötigt der Forscher oder die Forscherin bestimmte Fähigkeiten und Kompetenzen. Erstens werden hervorragende Fähigkeiten im Bereich der Datenorganisation benötigt, um die Informationen in Kategorien einzuordnen und eine forschungsfreundliche Datenbank zu erstellen (siehe hierzu auch Kapitel 7 im Band »Propädeutikum«). Gute analytische Fähigkeiten, solides linguistisches Grundwissen und soziokulturelle Kompetenz sind für die erfolgreiche Feldforschung ebenso unerlässlich, um zu entscheiden, welche Daten für eine Forschungsfrage relevant sind. Hierzu merkt Bowern an: There is more to data gathering than just asking questions. Decisions need to be made as to what to record, what to collect and what to write down. Then data must be interpreted. How do you know that your data answers your original research questions? (Bowern 2008: 3) Forscher und Forscherinnen benötigen ebenfalls ausgeprägte Kommunikationskompetenzen, um mit Mitgliedern der Gemeinschaft in Verbindung zu treten, mit denen sie arbeiten werden. Es muss außerdem objektiv vorgegangen werden, so dass die Fragen und die weiteren Interpretationen sachlich bleiben. Die Dateninterpretation kann von den Erwartungen der Wissenschaftler beziehungsweise Wissenschaftlerinnen, deren a priori-Wissen und deren soziokulturellen Präferenzen beeinflusst werden und deshalb subjektiv sein. Andererseits Abbildung 8.6: Grundgesamtheit und Stichprobe 302 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis erfordert die Interpretation auch Quantifizierung, da Feldforschung auch weitere statistische Analysen mit einbezieht. Wie wir im Folgenden sehen werden, unterliegt die Quantifizierung auch bestimmten Einschränkungen, da nicht alle für die Mehrsprachigkeitsforschung relevanten Faktoren messbar sind: Im Gegensatz zum Alter und zum Geschlecht ist die soziale Schicht beispielsweise schwer nach messbaren Kriterien festlegbar, da jeder Untersuchende andere Kriterien anwenden kann, um Menschen sozialen Gruppen zuzuordnen. 8.3.3 Forschungsmethodologische Verfahren (Teilnehmende) Beobachtung Bei der Beobachtung handelt es sich um eine Methode aus dem Bereich der Soziologie. In der Mehrsprachigkeitsforschung wird sie vor allem zu soziolinguistischen Zwecken herangezogen. Man unterscheidet zwischen offenen und verdeckten Verfahren. Da die Probanden und Probandinnen bei der verdeckten Beobachtung nicht wissen, dass sie beobachtet werden, liefert diese Herangehensweise erfahrungsgemäß die authentischeren Ergebnisse. Allerdings werden hier sowohl ethische als auch gesetzliche Grenzen überschritten. Daher wird in der Regel die offene Beobachtung gewählt. Hier bewegt man sich zwar im ethisch korrekten und legalen Raum, muss allerdings mit gewissen Beobachtungseffekten rechnen, denn sobald sich die untersuchten Personen bewusst sind, dass sie beobachtet werden, werden sie sich nicht mehr ganz natürlich verhalten. Dieses Phänomen nennt man Beobachter-Paradoxon (observer’s paradox). Es beschreibt die Zwickmühle, in der sich jeder Interviewer und jede Interviewerin befindet, sobald er oder sie herausfinden will, wie Menschen sich benehmen, wie sie sprechen oder wie sie denken, wenn sie unbeobachtet sind. Labov beschreibt das Phänomen als nahezu unumgänglich: […] the aim of linguistic research in the community must be to find out how people talk when they are not being systematically observed; yet we can only obtain these data by systematic observation. (Labov 1991: 209) Viele Probanden und Probandinnen werden alleine durch die Anwesenheit eines Sprachwissenschaftlers oder Sprachwissenschaftlerin, der oder die eine Studie zu ihrer Sprache vorbereitet, eingeschüchtert, wodurch sie versuchen möglichst korrekt zu sprechen. Dadurch werden zum Beispiel Code-Switching-Erscheinungen unwahrscheinlicher. Hier hilft es, den Probanden und Probandinnen Zeit zu lassen, um sie allmählich an die Gegebenheiten (zum Beispiel die Räume oder das Vorhandensein einer Kamera oder eines Diktiergerätes) zu gewöhnen (vergleiche Albert & Koster 2002: 24). Bei der teilnehmenden Beobachtung nehmen Untersuchende selbst an den alltäglichen Aktivitäten der Gemeinschaft teil und werden mit der Zeit nicht mehr als Forscher oder Forscherinnen wahrgenommen und manchmal sogar als Mitglieder der Gruppe akzeptiert. Während sie aktiv an den Handlungen und Gesprächen teilnehmen, werden Notizen zu den Beobachtungen gemacht, die später verarbeitet und in die theoretische Arbeit eingebunden werden. Die teilnehmende Beobachtung sollte daher als ein integrativer Prozess betrachtet 303 8.3 Empirische Forschungsmethodologie werden. Er besteht aus der Erhebung von Daten sowie der Analyse und der Produktion schriftlicher Berichte linguistischer Phänomene auf Basis der Untersuchung (Emerson, Fretz & Shaw 2007: 352ff). Die teilnehmende Beobachtung ist ein wichtiges Werkzeug, da sie es dem Forscher oder der Forscherin ermöglicht, die selbst gesammelten Daten damit abzugleichen, was die Gemeinschaftsmitglieder selbst über ihre eigene Sprachverwendung mitteilen oder sagen. Befragung Durch Befragungen können anhand gezielter Fragen Daten erhoben werden. Gefragt wird nach soziodemografischen Daten, Sprachlernerfahrungen, Sprachverhalten aber auch nach Sprachwissen. Zum Beispiel kann danach gefragt werden, wie ein Konzept in der Erstsprache des Informanten oder der Informantin ausgedrückt wird, ob eine Struktur korrekt ist, in welchen Situationen Code-Switching erfolgt, wie ein Satz am besten in der L2 ausgedrückt wird etc. Wie bereits erwähnt, können diese Daten dann mit jenen verglichen werden, die durch Beobachtung erhoben werden. Ähnlich wie bei der Beobachtung, können auch hier gewisse Störfaktoren das Ergebnis beeinflussen. Bei schriftlichen oder online stattfindenden Befragungen beantworten die Befragten die Fragen selbstständig. Dabei kann es zu Missverständnissen kommen oder zu einem willkürlichen abarbeiten oder abhaken der einzelnen Items. Es kann auch der Fall sein, dass sich das Antwortverhalten der Befragten danach richtet, was sie als sozial erwünscht vermuten. Aus Angst davor, dumm dazustehen, geben sie dann zum Beispiel nicht an, dass sie in einer Sprache kaum lesen können oder im Herkunftsland nur sehr kurz die Schule besucht haben. Im Fall der mündlichen Befragung beschreiben die sogenannten Interviewer-Effekte, welche Einflüsse die Rahmenbedingungen des Interviews auf die Antworten haben können. Die Rahmenbedingungen erstrecken sich vom Aussehen des Interviewers beziehungsweise der Interviewerin über die Art des Fragens (Formulierung, Intonation, Aussprache, Wortschatz etc.) bis hin zu den Räumlichkeiten, in denen das Interview stattfindet. Alle denkbaren Faktoren, denen man sich oft nicht bewusst ist, können die Antworten des Informanten oder der Informantin beeinflussen. Was beispielsweise den Ort betrifft, ist es wichtig Räumlichkeiten zu wählen, die möglichst neutral sind. Im Idealfall kann das Interview an einem Ort stattfinden, der dem Informanten oder der Informantin vertraut ist und an dem er oder sie sich wohl fühlt. Eine Möglichkeit Interviewer-Effekte zu vermeiden, ist das Format des gesteuerten Interviews. Hier wird ein Leitfaden vorbereitet, der für jeden Informanten beziehungsweise jede Informantin dieselben Fragen enthält. Durch Leitfaden-Interviews können zwar die Interviewer-Effekte verringert werden, allerdings leidet durch das „Abfragen“ auch häufig die Qualität der erhaltenen Daten. Durch narrative Interviews hingegen kann ein natürlicheres Gesprächsverhalten erwartet werden, was die Qualität der Daten erheblich verbessert. Um die Effekte des Beobachter-Paradoxon, das sich auch bei Interviews zeigt, zu vermeiden, hat es sich als besonders effektiv erwiesen, das Interviewgespräch auf besonders emotionale Themen zu lenken, da die Informanten und Informantinnen so leichter vergessen, 304 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis dass es sich um ein Interview handelt und sich darauf konzentrieren, ein Erlebnis möglichst gut widerzugeben: We can also involve the subject in questions and topics which recreate strong emotions he has felt in the past-[…]. One of the most successful questions of this type is one dealing with the “Danger of Death“: “Have you ever been in a situation where you were in serious danger of being killed? “. (Labov 1991: 209f) Experiment Erstellen Sie in Ihrem Kurs einen kurzen Leitfaden zu einem Interview mit einem sprachwissenschaftlichen Thema Ihrer Wahl (zum Beispiel Einstellung zu Duzen und Siezen oder Dialekt versus Standard etc.) und führen Sie diese Interviews in Partnerarbeit miteinander durch. Tauschen Sie sich im Anschluss daran aus, ob Sie einen Interviewer-Effekt an sich beobachtet haben. Haben Sie zum Beispiel eine Frage auf eine Weise beantwortet, die Sie besonders schlau wirken lässt, oder haben Sie immer Ihre persönlichen Ansichten vertreten. Seien Sie ehrlich! Erhebung und Erfassung sprachlicher Daten Die Erhebung sprachlicher Daten ist ein zentrales Instrument der Mehrsprachigkeitsforschung. Ziel ist es möglichst authentische sprachliche Daten zu erheben, es geht also primär darum, Sprachgebrauch so zu erfassen, wie er in echten Kommunikationssituationen eingesetzt wird. Erhoben werden freies Schreiben, Erzählungen und Gespräche. Problematisch ist dabei, dass solche Daten schwer mit anderen zu vergleichen sind, da sie stark kontextabhängig sind. Aus diesem Grund wird versucht, die Datenerhebungssituation zu standardisieren. Zu den beliebtesten Erhebungstechniken zur Aufzeichnung oder Sammlung von mündlichen und schriftlichen Sprachdaten gehören: ▶ Bildbeschreibungen ▶ Kommunikationsspiele ▶ Rollenspiele ▶ Interviews ▶ Quasi-authentische Kommunikationsformen Der erste Schritt in der Analyse so erhobener mündlicher Daten ist deren Rekonstruktion. Dabei werden die Aufnahmen gesprächsanalytisch gedeutet, beziehungsweise ihre Ziele, ihr Ablauf und die Bezugnahme auf den Kontext ausformuliert. An dieser Stelle kann ein gewisses Maß an Subjektivität nicht vermieden werden. Um die Validität der Ergebnisse zu verbessern, werden in der Sprachenerwerbsforschung trotz Aufwand Langzeitstudien (longitudinale Studien) Querschnittsstudien vorgezogen. Ein effizientes Mittel bei der Absicherung der Validität der Daten ist auch das Verfahren der nachträglichen Dateninterpretation durch die Sprecher und Sprecherinnen selbst (Selbstkonfrontation). 305 8.3 Empirische Forschungsmethodologie Zur stärkeren Fokussierung auf im Vorfeld festgelegte Variablen werden strukturiertere Verfahren eingesetzt, wie zum Beispiel: ▶ Lautes Denken ▶ Vorstrukturierte Aufgaben ▶ Vervollständigungsaufgaben ▶ Nachsprechen ▶ Übersetzungen ▶ Nacherzählungen ▶ Frage- und Antwort-Aufgaben Im Vergleich zur Beobachtung nehmen diese Techniken der Datenerhebung weniger Zeit in Anspruch, da der Forscher beziehungsweise die Forscherin die Erhebung vorab strukturieren kann und Fragen zur Verwendung spezifischer sprachlicher Elemente stellen kann. Aufnahmen Ton- und Videoaufnahmen dienen als Datenspeicher und zur wiederholten Verifizierung. Im Unterschied zur Niederschrift von Notizen kann mit Hilfe der Aufnahmen wiederholt auf die Daten zugegriffen werden. Dem Aufnehmen von mündlichen Daten schließt sich deren Transkription (Verschriftlichung) an. Das ist eine langwierige und kleinschrittige Aufgabe. Schwierig ist diese Aufgabe besonders deshalb, weil gesprochene Sprache normalerweise von Hintergrundgeräuschen begleitet wird und durch unvollständige und sich überlappende Äußerungen sowie durch begleitende, außersprachliche Kontexte (Mimiken, Gestiken) gekennzeichnet ist und ebenfalls durch den Kontext beeinflusst wird. So müssen auch diese Aspekte festgehalten werden. Die gleichzeitige Verwendung von Aufnahmen und Notizen oder die Durchführung von Videoaufnahmen macht es deshalb möglich, die Daten in einem umfassenderen Kontext zu analysieren. Andererseits ist es aufgrund des Beobachter-Paradoxons keine leichte Aufgabe, jedoch Daten bei Aufnahmen zu erhalten. Dieses Problem kann gelöst werden, indem beispielsweise das Aufnahmegerät außer Sicht aufbewahrt wird. Aufnahmen ohne das Wissen der Probanden werfen natürlich ethische und gesetzliche Fragen auf. In einem weiteren Schritt der Aufarbeitung der Daten muss die „wichtige“ Information von der „unwichtigen“ getrennt werden, wobei der Grad der Wichtigkeit davon abhängt, was zur Beantwortung der Forschungsfrage genau beobachtet werden soll. Darüber hinaus muss das Transkriptionssystem auch in Bezug auf Genauigkeit, Schnelligkeit und elektronische Verarbeitungsfähigkeit effizient sein. Phonetische Transkriptionsverfahren, die Lautschriftsysteme nutzen, sind wegen des höheren Verschriftlichungsaufwandes nur bei Projekten erforderlich, bei denen Fragen der Aussprache und Intonation berücksichtigt werden. Phonetische Transkriptionssysteme sind etwa die phonetische Umschrift nach der IPA (Internationales Phonetisches Alphabet) und das daran angelehnte SAMPA (speech assessment methods phonetic alphabet, vergleiche Dittmar 2009). Zu den gesprächsanalytischen Verfahren, die die Diskursorganisation und den Ablauf von Gesprächen in den Blick nehmen, gehören unter anderem das System der amerikanischen Konversationsanalyse (Atkinson & 306 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis Heritage 1984), das computerbasierte Verarbeitungsprogramm EXMAR a LDA , die Diskurs- Datenbank ( DIDA ), die Diskurs-Transkription (Du Bois, Cumming, Schuetze-Coburn & Paolino 1992), das Gesprächs-Analytische Transkriptionssystem ( GAT , Selting, Auer, Barden, Bergmann, Couper-Kuhlen, Günthner, Meier, Quasthoff, Schlobinski & Uhmann 1998) und das Transkriptions- und Analyseverfahren CHAT (codes for the human analysis of transcripts, MacWhinney 2000) für multifunktionale Mehrebenenanalysen der verbalen, paraverbalen und nonverbalen Interaktion. CHAT ist aus dem CHILDES -Projekt zur Erforschung des L1- und L2-Erwerbs entstanden und wird auch vermehrt bei der Konversion bereits bestehender Datenbanken eingesetzt (zum Beispiel den Daten des ESF -Projektes zum Sprachenerwerb in Europa, das Sie in diesem Band bereits kennengelernt haben). Experiment Recherchieren Sie über das Transkriptionsystem EXMAR a LDA . Installieren Sie den Partitur-Editor auf Ihrem Rechner. Betrachten Sie das Tutorial zur Anfertigung von Transkripten. Wählen Sie nun einen einminütigen Ausschnitt von einer Videoaufnahme Ihrer Wahl im mp4-Format. Sie können sich selbst beim Essen mit Freunden oder bei einem Telefongespräch aufnehmen. Alternativ können Sie Material aus dem Internet wählen oder einen Filmausschnitt transkribieren. Korpusarbeit Ein Korpus ist eine Sammlung repräsentativer mündlicher oder schriftlicher Daten, die Forscher und Forscherinnen für bestimmte Analysen zusammenstellen. Die Erstellung von Korpora ist aufgrund der Entwicklung neuer Technologien und verschiedener Programme zur digitalen Datenspeicherung und Datenverarbeitung in der Gegenwart sehr beliebt geworden. Dabei sind die Systematisierung und Kodierung der Daten besonders wichtig. Obwohl die Erstellung eines Korpus auf vorläufigen Annahmen des Forschers beziehungsweise der Forscherin basiert-- etwa welche Daten gesammelt werden sollen (und wo), um repräsentative Stichproben zu erhalten-- werden am Ende nicht alle Daten von Nutzen sein. Deshalb ist es umso wichtiger, während der Erstellung des Korpus die überflüssigen Elemente daraus zu entfernen. Das Material für ein Korpus sollte auch in standardisierter Form vorliegen, zum Beispiel bezüglich des digitalen Formates und der Form der Verschriftlichung (Lautschrift, Partitur etc.). Der Forscher beziehungsweise die Forscherin kann unterschiedliche Programme für die Erfassung, Strukturierung und Auswertung der Daten nutzen. Der Prozess der Datenbereinigung (Welche Daten behalte ich welche nicht? Lasse ich Selbstkorrekturen weg? etc.) und einheitlichen Erfassung (Welche Metadaten erfasse ich für jeden Probanden? Wie verschriftliche ich was? Synchronisiere ich das Transkript und die Ton- oder Videodatei? ) an sich hilft dabei, nutzerfreundliche und standardisierte Dateien zu erstellen, so dass das Korpus später effizienter und mit einem geringeren Zeitaufwand ausgewertet werden kann (zur Datenauswertung und -analyse siehe Lerneinheiten 7.1 und 7.2 im Band »Propädeutikum«). Der nächste Schritt in der Vorbereitung des Datenkorpus besteht darin, zusätzliche para- und nonverbale oder kontextuelle Informationen in das Material des Korpus einzubinden. 307 8.3 Empirische Forschungsmethodologie Linguisten und Linguistinnen verwenden spezifische Kodierungs- und Markierungswerkzeuge, um die Daten zu kommentieren. Annotationen liefern zusätzliche Informationen zu den linguistischen Besonderheiten der Daten. Im nachfolgenden Beispiel wurden die Elemente nach Fall, Anzahl, Person und Zeit markiert: Elçini kitab-ı özi-ü üçün al-dı name book-acc self-(3.sg)-possd for buy-past-(3.sg) ‘Elchin bought the book for himself ’ (Zuercher 2009: 83) Annotationen können auch semantische, pragmatische und syntaktische Informationen zu den Elementen liefern. Dazu gehören zum Beispiel bestimmte Bedeutungen eines Elementes oder Situationen, in denen das Element sehr häufig verwendet wird. Gries und Newman weisen darauf hin, dass Annotationen auch außersprachliche Informationen beinhalten können, etwa die Datenquelle oder Ort und Zeit der Dateivorbereitung und so weiter (2013: 260). Korpus-linguistische Arbeit ist folglich sehr aufwendig. Sie bietet allerdings die Möglichkeit, Forschung auf der Grundlage von großen standardisierten Datenmengen zu betreiben und entsprechend auch statistische Verfahren einzusetzen. Zu diesem Zweck kann auch auf bereits bestehende Korpora zurückgegriffen werden. Die folgende Abbildung zeigt eine Übersicht über frei verfügbare Korpora: Korpus Zielsprache L1 Medium Child Language Data Exchange System ( CHILDES ) Verschiedene Verschiedene Sprachen mündlich und schriftlich The ETS Corpus of Non-Native Written English Englisch 11 Sprachen schriftlich The Europarl corpus of Native Nonnative and Translated Texts ( ENNTT ) Englisch 24 EU Sprachen schriftlich The Lang-8 Learner Corpora Englisch Verschiedene Sprachen schriftlich A Learners' Corpus of Reading Texts Englisch Französisch mündlich The Louvain International Database of Spoken English Interlanguage ( LINDSEI ) Englisch Verschiedene Sprachen mündlich The Michigan Corpus of Academic Spoken English ( MICASE ) Englisch Muttersprachler mündlich The Michigan Corpus of Upperlevel Student Papers ( MICUSP ) Englisch Lerner und Muttersprachler schriftlich The Montclair Electronic Language Database ( MELD ) Englisch Verschiedene Sprachen schriftlich The NUS Corpus of Learner English Englisch Ostasiatische Sprachen schriftlich The Santiago University Learner of English Corpus ( SULEC ) Englisch Spanisch mündlich und schriftlich The Scientext English Learner Corpus Englisch Französisch schriftlich 308 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis Korpus Zielsprache L1 Medium The deL1L2 IM corpus Deutsch Russ.-Weißruss. Zweisprachig schriftlich Fehlerannotiertes Lernerkorpus ( FALKO ) Deutsch Lerner und Muttersprachler schriftlich The European Science Foundation Second Language Database ( ESF database) Verschiedene Verschiedene Sprachen mündlich The Me LLANGE Learner Translator Corpus ( LTC ) Verschiedene Verschiedene Sprachen geschrieben The University of Toronto Romance Phonetics Database ( RPD ) Verschiedene Verschiedene Sprachen mündlich Tabelle 8.4: Übersicht frei zugänglicher Korpora Hat man Zugriff auf einen bereinigten und annotierten Korpus, können zur Auswertung verschiedene statistische oder grafische Instrumente eingesetzt werden, zum Beispiel um Type-Token-Relationen oder die Häufigkeit bestimmter Strukturen (Frequenzanalysen) zu untersuchen oder Kollokationen visuell darzustellen. Die Universität Lancaster bietet unter: www.futurelearn.com/ courses/ corpus-linguistics Onlinekurse zur Analyse und Auswertung korpuslinguistischer Daten anhand einer vor Ort entwickelten Toolbox an. Weitere Informationen zu den Methoden der kontrastiven Korpusanalyse finden Sie auch im Band »Berufs-, Fach- und Wissenschaftssprachen«. Experimente Der experimentelle Ansatz beruht auf der kontrollierten Anwendung von Erhebungstechniken, um Sprachelemente zu erzeugen und zu beurteilen. Die bekanntesten darunter, die in der Psycholinguistik traditionell eingesetzt werden, sind: ▶ Freies Assoziieren ▶ Satzgenerierung ▶ Satzvervollständigung ▶ Benennen ▶ lexikalische Kategorisierung ▶ lexikalische Entscheidung ▶ Beschleunigte Grammatikalitätsurteile ▶ Selbstbestimmtes Lesen ▶ Blickbewegungsmessungen Umgesetzt werden Sie anhand raffinierter Messinstrumente, die neben der Erfassung von Reaktionszeiten und Blickbewegungen am Computer auch bildgebende Verfahren (Computertomographie, Magnetresonanz etc.) umfassen können. So lassen Forscher und Forscherinnen zum Beispiel bei der Erforschung von Code- Switching Antworten auf von außen simulierte Situationen erzeugen (zum Beispiel in Form 309 8.3 Empirische Forschungsmethodologie von einem Sprachwechsel). Die Ergebnisse dieser Aufgabe zeigen, ob die Probanden und Probandinnen in beiden Sprachen ähnliche Verbindungen herstellen (vergleiche Gullberg, Indefrey & Muysken 2009: 28ff). In Lerneinheit 5.1 haben Sie beispielsweise bereits verschiedene Befunde zu Switching-Kosten kennengelernt. In einem Experiment dazu müssen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen zum Beispiel Bilder auf Abruf in einer Sprache benennen, beispielsweise auf Englisch oder auf Deutsch. Blau könnte dabei als Hinweis für Englisch stehen und Rot für Deutsch. Mehrere Studien haben gezeigt, dass es einen Kosteneffekt beim Wechsel gibt, wenn Switch-Bilder (Bilder, die in der jeweils anderen Sprache benannt werden müssen als das vorangegangene Bild), mit Nicht-Switch-Bildern verglichen werden. Die allgemeine Erkenntnis daraus lautet, dass Switch-Bilder mehr Zeit „kosten“ als Nicht- Switch-Bilder. Neuere Studien (Mosca & Clahsen 2015) zeigen jedoch, dass diese Switching- Kosten verschwinden, wenn Hinweis und Zielgegenstand nicht gleichzeitig, sondern mit einer Verzögerung von 800 Millisekunden gezeigt werden. Das weist auch darauf hin, dass es bei spontanem Code-Switching keine Kosten gibt, da die Gesprächspartner beziehungsweise -partnerinnen in einer Konversation genug Zeit haben, einen Switch aufgrund einer Veränderung in der Gesprächssituation zu antizipieren (vergleiche Einheit 5.1). Forscher und Forscherinnen, die ein Experiment durchführen, entwerfen spezielle Aufgaben für die jeweiligen Probanden und Probandinnen, um Informationen auf unterschiedlichen Ebenen zu erheben: auf der phonetischen, der lexikalischen, der syntaktischen und der pragmatischen Ebene. Wie Gullberg, Indefrey und Muysken feststellen, werden experimentelle Aufgaben häufiger bei Untersuchungen zum Sprachverständnis als zur Sprachproduktion verwendet (2009: 26). Beispiele für Aufgaben auf der phonetischen Ebene bei der Erforschung von Code-Switching können so aussehen, dass gehörte Laute der Sprache A oder B zugeordnet werden sollen. Wortassoziationen sind ein Beispiel für lexikalische Aufgaben. Dabei müssen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen Verbindungen zwischen bestimmten Wörtern in ihren zwei Sprachen finden. Korrelationsanalyse Wir haben bereits an mehreren Stellen gezeigt, wie sich verschiedene Forschungsmethoden zur Erfassung unterschiedlicher Mehrsprachigkeitsphänomene eignen. Die Triangulation unterschiedlicher Methoden bietet die Möglichkeit, die Auswertung unterschiedlicher Daten zu kombinieren. Dies führt wiederum zu vertieften Einblicken in die untersuchten Sachverhalte. Eine der ersten durchgeführten Korrelationstudien im Bereich der Sprachvariabilität stammt von William Labov. Bereits 1972 schlug er vor, dass in der Erforschung sozialer Unterschiede verschiedene Daten kombiniert werden sollten. Es ging nicht nur darum, welche Formen die einzelnen Sprecher und Sprecherinnen verwenden, sondern auch wie oft die Sprecher und Sprecherinnen diese oder andere Formen verwenden (und in welchen Situationen häufiger als in anderen). Labov betrachtet deshalb die Nutzungsfrequenz einer Variablen in verschiedenen Situationen und erarbeitet Mengenindizes, um die verschiedenen Werte der sozialen Faktoren zu messen. Danach stellt er die Korrelation zwischen der Nutzungsfrequenz einer sprachlichen Gegebenheit und den verschiedenen Werten der sozialen Faktoren her. 310 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis Er interessiert sich dafür herauszufinden, ob das soziale Sprachverhalten, also ob der sprachliche Vorrat der Sprecher und Sprecherinnen (oder die Normen, die sie anwenden, wenn der Wechsel von einer Variablen zur nächsten vorgenommen wird) oder die Häufigkeit dieses Verhaltens, mit der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe zusammenhängt oder von einem sozialen Faktor angeregt wird. In seiner Marthas Vineyard Studie verwendet Labov eine Korrelationsanalyse, um festzustellen, ob sich verschiedene Gruppen in der Aussprache des R-Lautes unterscheiden. Auf Basis eines zuvor entwickelten 10-Punkte umfassenden, sozioökonomischen Klassenindex (erstellt von der New York School of Social Work for the Mobilization for Youth), der nach Beruf, Bildung und Einkommen bemisst, identifiziert Labov verschiedene Gruppen zur Bestimmung von sprachlichen Unterschieden. Um die Streuung der R-Variable und ihrer Hyperkorrekturen (Fälle, in denen bewusst gesprochen wird wie Angehörige einer höhergestellten Klasse) nachzuverfolgen, formuliert Labov einen 4-Punkte-Index sozialer Klassen und gibt jeder Klasse eine bestimmte Gewichtung (0-1 Unterschicht, 2-4 Arbeiterschicht, 5-8 untere Mittelschicht, 9 obere Mittelschicht). Dann definiert er fünf Szenarien zur Beobachtung der Fälle und der Häufigkeit der Aussprache des R-Lautes. Als Labov diese Daten mit Sprachdaten, die er im Rahmen standardisierter Beobachtungssituationen (die wiederum auch gewichtet und skaliert werden) erhebt und in Korrelation setzt, stellt er fest, dass die Standardaussprache zunimmt, je höher die soziale Klasse und je formeller der Sprachverwendungskontext ist. Das Kernstück von Labovs quantitativem Paradigma ist die Systematik: Variationen können systematisch betrachtet werden, indem man die Produktion der Varianten in unterschiedlichen sozialen und linguistischen Kontexten quantitativ aufzeichnet (Hazen 2011: 32). Diese Methode zeigt, dass sprachliche Variation kein zufälliger Prozess ist. Es wird deutlich, dass die Wahl bestimmter Formen von Variablen durch den Sprecher von sozialen Faktoren abhängt, die entweder die soziale Organisation oder die soziale Motivation widerspiegeln. Die Korrelation ist ein zentraler Aspekt in der quantitativen Analyse sprachlicher Variationen. Damit kann untersucht werden, wie eine abhängige linguistische Variable sich mit den Veränderungen unabhängiger (sozialer) Variablen auf systematische Weise verändert: Socially significant linguistic variation requires correlation: the dependent (linguistic) variable must change when some independent variable changes. It also requires that the change be orderly: the dependent variable must stratify the subjects in ways that are socially or stylistically coherent. (Chambers 2003: 26) Diese Methode wird seitdem in der Mehrsprachigkeitsforschung verwendet, um genauere Ergebnisse zu den sozialen Motivationen für Variation und Variabilität zu erzielen. From the incidence and distribution of language variables in different social groups, scholars expect not only to learn the rate and direction of linguistic change but also to obtain valuable clues concerning the motivations that lead to such change. (Salzmann 2007: 2013) Die Korrelationsanalyse hat jedoch ihre Grenzen, denn sie setzt die Quantifizierbarkeit der beteiligten Faktoren voraus. Allerdings sind nicht alle Faktoren, die bei der Identifizierung 311 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis der sozialen Organisation oder Motivation für Variation eine Rolle spielen, leicht quantifizierbar. Alter und Geschlecht sind offenkundig quantifizierbare Faktoren, aber zum Beispiel die soziale Klasse bereitet Schwierigkeiten, wenn Menschen in gewisse Gruppen unterteilt werden. Generell werden unterschiedliche Kriterien verwendet, um Versuchspersonen sozialen Klassen zuzuordnen. Die Kriterien können Faktoren wie Beruf, Bildungsstand, Einkommen, Herkunft, Bildungsabschluss der Eltern oder Familienstand und viele andere mit einbeziehen, aber es ist zu erwarten, dass jeder Forscher und jede Forscherin unterschiedliche und nicht selten subjektive Kombinationen dieser Kriterien für eine Zuordnung verwenden. 8.3.4 Ethische Aspekte Forschungsethik ist eines der wichtigsten Themen, das bei der empirischen Forschung berücksichtigt werden muss. Forscher und Forscherinnen haben klare Ziele und einen vorgegebenen Arbeitsplan. Für die Probanden und Probandinnen haben diese aber nicht dieselbe Wichtigkeit-- und dessen sollte man sich stets bewusst sein. Das erste Prinzip, das berücksichtigt werden muss, lautet: Forscher und Forscherinnen sollten ehrliche Auskunft über sich selbst und über ihre Forschung geben. Es sollten auch effiziente Werkzeuge verwendet werden, die bei der Interaktion mit der Gemeinschaft helfen, ohne deren normale Lebensweise zu stören. Es sollte ebenfalls großen Wert darauf gelegt werden, die Privatsphäre der Probanden zu achten und sie um Erlaubnis zu bitten, bevor ihre Namen oder spezielle Informationen preisgegeben werden. In der Vergangenheit wurde den persönlichen Prioritäten, den Präferenzen und sogar den Gefühlen der Probanden und Probandinnen in Mehrsprachigkeitsstudien wenig Beachtung geschenkt. Die Frage nach dem menschlichen Faktor, wurde von Kibrik in seinem Buch mit dem Titel The Methodology of Field Investigations in Linguistics (1977) aufgeworfen. Mit dem menschlichen Faktor als Parameter, wurde die Feldarbeit nicht länger als eine Auftragsarbeit zwischen Linguisten beziehungsweise Linguistinnen und Informanten beziehungsweise Informantinnen aufgefasst, bei der die Bezahlung für die Informanten und Informantinnen den einzigen Reiz darstellte. Den persönlichen Emotionen, sozialen Vorurteilen, individuellen Präferenzen, psychologischen Prädispositionen, unvorhersehbaren Schwierigkeiten und so weiter wurde mehr Beachtung geschenkt (Rice 2004). Später erfasste die linguistische Ethik auch die Interessen der Gemeinschaft als Ganzes. Die Regeln der Gemeinschaft, die Rechte, Entscheidungen, Präferenzen wurden Teil des ethischen Konzepts der linguistischen Feldarbeit. Dieses Bewusstsein führt zu einer größeren Sorge um die Gemeinschaft, die sich beispielsweise in den folgenden Maßnahmen widerspiegelt: Schutz der Umwelt, in der die Studie durchgeführt wird, die Bereitschaft zur Beratung mit der Gemeinschaft über die Feldforschung sowie Versuche der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, der Gemeinschaft etwas zurückzugeben (etwa in Form von Schulungen, Wörterbüchern oder Druckerzeugnissen in deren Sprachen etc.). 312 8. Mehrsprachigkeit in Forschung und Praxis 8.3.5 Zusammenfassung ▶ Die Auswahl einer Stichprobe muss sorgfältig bedacht werden. ▶ Neben den fachlichen und technischen Fähigkeiten benötigt ein Mehrsprachigkeitsforscher auch soziale Kompetenzen. ▶ Für die Erforschung von Sprachenerwerb und Sprachanalyse werden unterschiedliche Forschungsmethoden angewandt. Da die Untersuchungsanalyse sich auf empirische Daten und Statistiken stützt, werden qualitative und quantitative Methoden fast immer gemeinsam verwendet, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. ▶ Bei allen Methoden sind Effekte und Faktoren erkennbar, die das Ergebnis beeinflussen können. ▶ Das Aufbereiten oder Erstellen des Datenkorpus und die Analyse der Daten erfordert Kenntnisse der Systematisierung und Kodierung. ▶ Die empirische Forschung unterliegt gewissen Einschränkungen, die sich aus der subjektiven Interpretation des Forschers ergeben können, aus bestimmten soziokulturellen Tatsachen und so weiter. ▶ Ethisch-moralische Gesetze dürfen in der empirischen Forschung nicht verletzt werden. 8.3.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Wie ergänzen quantitative und qualitative Methoden einander in der Soziolinguistik oder in der Sprachkontaktforschung? 2. Benennen sie einige der Herausforderungen in der empirischen Forschung zur Mehrsprachigkeit. 3. Auf Basis von welchen Faktoren wird eine soziale Klasse normalerweise definiert? 4. Welche Vorteile bieten Ton- und Videoaufnahmen im Vergleich zum Anfertigen von Notizen? 313 9. Literaturverzeichnis 9. Literaturverzeichnis Albert, Ruth & Koster, Cor J. (2002), Empirie in Linguistik und Sprachlehrforschung: Ein methodologisches Arbeitsbuch. Tübingen: Narr. Alferink, Inge (2008), Recognizing languages based on gestures, MA thesis, University of Groningen. Allwood, Jens (Ed.) (1988), Feedback in Adult Language Acquisition. Strasbourg, Göteborg: European Science Foundation. Al-Mouslie, Rabya (2009), Zur Fossilisierung im Spracherwerb bei arabischsprachigen Deutschlernern. GJU Amman: unveröffentlichte Masterarbeit. Ammerlaan, Ton (1996), You get a bit Wobbly… Exploring Bilingual Retrieval Processes in the Context of First Language Attrition. Enschede: CopyPrint 2000. Anderson, John R. (1982), Acquisition of cognitive skill. Psychological Review 89, 369-406. Andersson, Theodore & Boyer, Mildred (1970), Bilingual Schooling in the United States. Austin: Southwest Educational Development Lab. Androutsopoulos, Jannis K. & Hinnekamp, Volker (2001), Code-Switching in der bilingualen Chat-Kommunikation: ein explorativer Blick auf #hellas und #turks«. In: Beißwenger, Michaelm (Hrsg.), Chat-Kommunikation. Sprache, Interaktion, Sozialität und Identität in synchroner computervermittelter Kommunikation. Stuttgart, 367-401. Androutsopoulos, Jannis K. (2006), Mehrsprachigkeit im deutschen Internet: Sprachwahl und Sprachwechsel in Ethno-Portalen. In: Schlobinski, Peter (Hrsg.), Von *hdl* bis *cul8 r*. Sprache und Kommunikation in den neuen Medien. Mannheim: Dudenverlag, 172-196. Androutsopoulos, Jannis K. (2007), Ethnolekte in der Mediengesellschaft. Stilisierung und Sprachideologie in Performance, Fiktion und Metasprachdiskurs. In: Fandrych, Christian & Salverda, Reinier (Hrsg.), Standard, Variation und Sprachwandel in germanischen Sprachen. Tübingen: Narr, 113-155. Apeltauer, Ernst (2010), Lernersprachen. In: Krumm, Hans-Jürgen; Kosta, Peter; Fandrych, Christian; Hufeisen, Britta & Riemer, Claudia (Hrsg.), Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Berlin: de Gruyter, 833-842. Appel, René & Muysken, Pieter (1997), Language contact and biligualism. London, New York & Melbourne: Edward Arnold. Archibald, John & Libben, Gary (1995), Research perspectives on second language acquisition. Mississauga, Ont.: Copp Clark. ARD ; ZDF (Hrsg.) (2011), Migranten und Medien. Neue Erkenntnisse über Mediennutzung, Erwartungen und Einstellungen von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Köln: WDR . [Online unter: http: / / www1.wdr.de/ unternehmen/ der-wdr/ migranten-und-medien100.pdf. 1. Juni 2017]. Aronin, Larissa & Ó Laoire, Muiris (2004), Exploring multilingualism in cultural contexts: Towards a notion of multilinguality. In: Hoffmann, Charlotte & Ytsma, Jehannes (Hrsg.), Trilingualism in family, school, and community. Bilingual education and bilingualism 43. Clevedon: Multilingual Matters, 11-29. Aronin, Larissa & Singleton, David (2012), Multilingualism. Amsterdam: John Benjamins. Atkinson, Maxwell J. & Heritage, John (Eds.) (1984), Structures of social action: Studies in conversation analysis. Cambridge: Cambridge University Press. Auer, Peter (1995), The pragmatics of code-switching: A sequential approach. In: Milroy, Lesley & Muysken, Pieter (Hrsg.), One speaker, two languages: Cross-disciplinary perspectives on code-switching. Cambridge, UK & New York: Cambridge University Press, 115-135. 314 9. Literaturverzeichnis Auer, Peter (1999), From codeswitching via language mixing to fused lects: Toward a dynamic typology of bilingual speech. International Journal of Bilingualism 3: 4, 309-332. Auer, Peter (2003), ‚Türkenslang‘: Ein jugendsprachlicher Ethnolekt des Deutschen und seine Transformationen. In: Häcki-Buhofer, Annelies (Hrsg.), Spracherwerb und Lebensalter. Tübingen: Francke, 255-264. Augst, Gerhard & Faigel, Peter (1986), Von der Reihung zur Gestaltung. Untersuchungen zur Ontogenese der schriftsprachlichen Fähigkeiten von 13-23 Jahren. Frankfurt am Main: Peter Lang. Augst, Gerhard; Disselhoff, Katrin; Henrich, Alexandra; Pohl, Thorsten & Völzing, Paul-Ludwig (2007), Text, Sorten, Kompetenz: Eine echte Longitudinalstudie zur Entwicklung der Textkompetenz im Grundschulalter. Frankfurt am Main: Peter Lang. Ayaß, Ruth (2008), Kommunikation und Geschlecht. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer. Backus, Ad (1992), Patterns of language mixing: A study in Turkish-Dutch bilingualism. Wiesbaden: Harrassowitz. Bade, Klaus J. (2000), Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München: Beck. Bahrdt, Hans Paul (2000), Schlüsselbegriffe der Soziologie. Eine Einführung mit Lehrbeispielen. München: C. H. Beck. Baker, Colin (2006), Foundations of bilingual education and bilin gualism. Clevedon: Multilingual Matters. Banda, Felix (2009), Critical perspectives on language planning and policy in Africa: Accounting for the notion of multilingualism. Stellenbosch Papers in Linguistics PLUS 38, 1-11. Barcroft, Joe (2007), When knowing grammar depends on knowing vocabulary: Native-speaker grammaticality judgements of sentences with real and unreal words. The Canadian Modern Language Review / La revue canadienne des langues vivantes 63: 3, 313-343. Bardovi-Harlig, Kathleen (1995), The Interaction of Pedagogy and Natural Sequences in the Acquisition of Tense and Aspect. In: Eckman, Fred R.; Highland, Diane; Lee, Peter W.; Mileham, Jean; Weber, Rita R. (Eds.), Second language acquisition theory and pedagogy. New York & London: Routledge, 151-168. Baros, Wassilios & Otto, Hans-Uwe (2010), Befähigungs- und Verwirklichungsgerechtigkeit als Aufgaben interkultureller Bildung. In: Baros, Wassilios; Hamburger, Franz & Mecheril, Paul (Hrsg.), Zwischen Praxis, Politik und Wissenschaft. Die vielfältigen Referenzen interkultureller Bildung. Georg Auernheimer zum 70. Geburtstag gewidmet. Migrationsforschung 3. Berlin: Regener, 250-267. Baros, Wassilios (2008), Bildung und Überprüfung von Hypothesen in der Migrationsforschung. Zum Verwertungszusammenhang von wissenschaftlichen Erkenntnissen am Beispiel des Neo- Assimilationsansatzes in der Bilingualismusdebatte. conflict & communication online 7: 2, 1-10. [Online unter http: / / www.cco.regener-online.de/ 2008_2/ pdf/ baros_2008.pdf. 20. Juli 2012]. Bartning, Inge & Schlyter, Suzanne (2004), Itinéraires acquisitionnels et stades de développement en français L2. Journal of French Language Studies 14, 281-299. Bausch, Karl-Richard; Christ, Herbert & Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.) (2007), Handbuch Fremdsprachenunterricht (5., gegenüber der 4. unveränd. Aufl.). Tübingen: Francke. Beardsmore, Hugo Baetens (1986), Bilingualism: Basic Principles (2nd ed.). Bristol: Multilingual Matters. Bechert, Johannes & Wildgen, Wolfgang (1991), Einführung in die Sprachkontaktforschung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Becker, Angelika; Carroll, Mary & Kelly, Ann (Eds.) (1988), Reference to Space. Strasbourg, Heidelberg: Max Planck Institut für Psycholinguistik / European Science Foundation. 315 9. Literaturverzeichnis Becker-Mrotzek, Michael & Böttcher, Ingrid (2011), Schreibkompetenz entwickeln und beurteilen. 2. Aufl. Berlin: Cornelsen Scriptor. Becker-Mrotzek, Michael & Vogt, Rüdiger (2009). Unterrichtskommunikation. Linguistische Analysemethoden und Forschungsergebnisse. Tübingen: Niemeyer. Behagel, Otto (1932), Deutsche Syntax (4 Bde.). Heidelberg: C. Winter. Beinhoff, Bettina (2013), Perceiving Identity through Accent: Attitudes towards Non-native Speakers and their Accents in English. Peter Lang, New York. Berend, Nina & Riehl, Claudia M. (2008), Russland. In: Eichinger, Ludwig; Plewnia, Albrecht & Riehl, Claudia M. (Hrsg.), Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa. Tübingen: Narr, 17-58. Berman, Eli; Lang, Kevin & Siniver, Erez (2003), Language-skill complementarity: Returns to immigrant language acquisition. Labour Economics 10: 3, 265-290. Berman, Ruth A. & Nir-Sagiv, Bracha (2007), Comparing narratives and expository text construction across adolescence: A developmental paradox. Discourse Processes: A Multidisciplinary Journal 43: 2, 79-120. Bernstein, Basil B. (2003), Class, codes, and control. Volume I: Theoretical studies towards a sociology of language. London, New York: Routledge. [Online unter http: / / site.ebrary.com/ lib/ alltitles/ docDetail.action? docID=10272788, 20. Oktober 2017]. Bhardwaj, Mangat; Dietrich, Rainer & Noyau, Colette (Eds.) (1988), Temporality: Second Language Acquisition by Adult Immigrants. Strasbourg: Max Planck Institut für Psycholinguistik / European Science Foundation. Bialystok, Ellen & Martin, Michelle M. (2004), Attention and inhibition in bilingual children: Evidence from the dimensional change card sort task. Developmental Science 7: 3, 325-339. Bialystok, Ellen (2007), Acquisition of literacy in bilingual children: A framework for Research. Language Learning Supplement 57, 45-77. Bialystok, Ellen; Craik, Fergus I. M.; Klein, Raymond & Viswanathan, Mythili (2004), Bilingualism, Aging, and Cognitive Control: Evidence from the Simon Task. Psychology and Aging 19: 2, 290-303. Bickerton, Derek (1981), Roots of language. Ann Arbor: Karoma. Biegel, Thomas (1996), Sprachwahlverhalten bei deutsch-französischer Mehrsprachigkeit. Soziolinguistische Untersuchungen mündlicher Kommunikation in der lothringischen Gemeinde Walscheid. Frankfurt am Main: Peter Lang. Bierwisch, Manfred (1997), Universal grammar and the basic variety. Second Language Research 13: 4, 348-366. Bitchener, John; Young, Stuart & Cameron, Denise (2005), The effect of different types of corrective feedback on ESL student writing. Journal of Second Language Writing 14: 3, 191-205. Blackaby, David H.; Clark, Ken; Leslie, Derek G. & Murphy, Peter D. (1994), Black-white male earnings and employment prospects in the 1970s and 1980s evidence for Britain. Economics Letters 46: 3, 273-279. Blackaby, David H.; Leslie, Derek G.; Murphy, Peter D. & O'Leary, Nigel C. (1998), The ethnic wage gap and employment differentials in the 1990s: Evidence for Britain. Economics Letters 58: 1, 97-103. Blom, Jan-Petter & Gumperz, John Joseph (1972), Social meaning in linguistic structure: codeswitching in Norway. In: Gumperz, John Joseph & Hymes, Dell H. (Hrsg.), Directions in sociolinguistics: The ethnography of communication. New York: Holt, Rinehart and Winston, 407-434. 316 9. Literaturverzeichnis Blommaert, Jan (2010), Sociolinguistics of Globalization. Cambridge / New York: Cambridge University Press. Bloomfield, Leonard (1935), Language. New York: Holt, Rinehart and Winston, Inc. Bohn, Cornelia & Hahn, Alois (2007), Pierre Bourdieu (1930-2002). In: Käsler, Dirk (Hrsg.), Klassiker der Soziologie. München: Beck, 289-310. Bollen, Kenneth A.; Hoyle, Rick H. (1990), Perceived cohesion: A conceptual and empirical examination. Social forces 69: 2, 479-504. Bongaerts, Theo; van Summeren, Chantal; Planken, Brigitte & Schils, Erik (1997), Age and ultimate attainment in the pronunciation of a foreign language, Studies in Second Language Acquisition 19: 4, 447-465. Borodina, Ksenya (2016), Integrative Motivation als Faktor des Ausspracheerwerbs. Universität München: Mimeo. Bot, Kees de & Clyne, Michael (1994), A 16-year longitudinal study of language attrition in dutch immigrants in Australia. Journal of Multilingual and Multicultural Development 15, 17-28. Bot, Kees de & Lowie, Wander (2010), On the stability of representations in the multilingual lexicon. In: Pütz, Martin & Sicola, Laura (Eds.), Cognitive Processing in Second Language Acquisition. Amsterdam: John Benjamins. Bot, Kees de & Sinfree, Makoni (2005), Language and Aging in Multilingual Contexts (Bilingualism and Bilingual Education). Bristol: Multilingual Matters. Bot, Kees de (1992), A bilingual production model: Levelt’s ’speaking‘ model adapted. Applied Linguistics 13 (1), 1-24. Bot, Kees de (2004), The multilingual lexicon: modeling selection and control. International Journal of Multilingualism 1, 17-32. Bot, Kees de; Jaensch, Carol & García Mayo, María Del Pilar (2015), What is special about L3 processing? Bilingualism: Language and Cognition 18: 2, 130-144. Bot, Kees de; Lowie, Wander & Verspoor, Marjolijn (2005), Second Language Acquisition: An Advanced Resource Book. London: Routledge. Bot, Kees de; Lowie, Wander & Verspoor, Marjolijn (2007), A dynamic systems theory approach to second language acquisition. Bilingualism: Language and Cognition 10: 1, 7-21. Bot, Kees de; Martens, Vanessa & Stoessel, Saskia (2004), Finding residual lexical knowledge: The “savings” approach to testing vocabulary. International Journal of Bilingualism 8, 373-382. Boueke, Dietrich; Büscher, Hartmut; Schülein, Frieder; Terhorst, Evamaria & Wolf, Dagmar (1995), Wie Kinder erzählen. Untersuchungen zur Erzähltheorie und zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten. München: Wilhelm Fink. Bournot-Trites, Monique & Reeder, Kenneth (2001), Interdependence revisited: Mathematics achievement in an intensified French immersion program. The Canadian Modern Language Review 58: 1, 27-43. Bowern, Claire (2008), Linguistic Fieldwork: A Practical Guide. Palgrave: Macmillan Braun, Maximilian (1937), Beobachtungen zur Frage der Mehrsprachigkeit. Göttingische Gelehrte Anzeigen 199, 115-13. Braunmuller, Kurt & Ferraresi, Gisella (2003), Aspects of Multilingualism in European Language History. Amsterdam: John Benjamins. Breitkopf, Anna (2006), Wissenschaftsstile im Vergleich. Subjektivität in deutschen und russischen Zeitschriftenartikeln der Soziologie. Freiburg: Rombach. 317 9. Literaturverzeichnis Bremer, Katharina; Broeder, Peter; Roberts, Celia; Simonot, Margaret & Vasseur, Marie T. (1993), Ways of Achieving Understanding. In: Perdue, Clive (Ed.), Adult Language Acquisition: Cross- Linguistic Perspectives. Vol. II : The Results. Cambridge: Cambridge University Press, 153-195. Brizić, Katharina (2007), Das geheime Leben der Sprachen. Gesprochene und verschwiegene Sprachen und ihr Einfluss auf den Spracherwerb in der Migration. Münster: Waxmann. Brizić, Katharina (2008), Familiensprache als Kapital. In: Plutzar, Verena (Hrsg.), Nachhaltige Sprachförderung. Zur veränderten Aufgabe des Bildungswesens in einer Zuwanderergesellschaft. Innsbruck: Studien Verlag, 136-151. Brizić, Katharina (2009), Ressource Familiensprache. Eine soziolinguistische Untersuchung zum Bildungserfolg in der Migration. In: Schramm, Karen & Schroeder, Christoph (Hrsg.), Empirische Zugänge zu Sprachförderung und Spracherwerb in Deutsch als Zweitsprache. Münster: Waxmann, 23-42. Broeder, Peter; Extra, Guus; van Hout, Roeland; Strömqvist, Sven & Voionmaa, Kaarlo (Eds.) (1988), Processes in the Developing Lexicon. Strasbourg, Tilburg & Göteborg: Max Planck Institut für Psycholinguistik / European Science Foundation. Broersma, Mirjam; Isurin, Ludmila; Bultena, Sybrine & de Bot, Kees (2009), Triggered code switching: Evidence from Dutch-English and Russian-English bilinguals. In: Isurin, Ludmila; Winford, Donald & de Bot, Kees (Eds.), Multidisciplinary approaches to code switching. Amsterdam: John Benjamins, 85-128. Brown, H. Douglas (1989), A Practical Guide to Language Learning: A Fifteen-week Program of Strategies for Success. New York: McGraw-Hill. Bühler, Karl (1934), Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena: Fischer. [Online unter unter http: / / catalog.hathitrust.org/ api/ volumes/ oclc/ 1558188.html, 20. Oktober 2017]. Bush, Clara N. (1967), Some acoustic parameters of speech and their relationships to the perception of dialect differences, TESOL Quarterly 1, 20-30. Byrne, David & Callaghan, Gill (2014), Complexity theory and the social sciences. London: Routledge. Caprez-Krompàk, Edina (2010), Entwicklung der Erst- und Zweitsprache im interkulturellen Kontext. Eine empirische Untersuchung über den Einfluss des Unterrichts in heimatlicher Sprache und Kultur ( HSK ) auf die Sprachentwicklung. Münster [u. a.]: Waxmann. Castellino, Joshua (2000), International Law and Self-Determination. Den Haag: Martinus Nijhoff Publishers. Chambers, J. K. (2003), Sociolinguistic Theory: Linguistic Variation and its Social Significance. Oxford: Blackwell. Chan, Joseph; To, Ho-Pong; Chan, Elaine (2006), Reconsidering social cohesion: Developing a definition and analytical framework for empirical research. Social Indicators Research 75: 2, 273-302. Chin, Ng Bee & Wigglesworth, Gillian (2007), Bilingualism: An Advanced Resource Book. London: Routledge. Chiswick, Barry R. & Miller, Paul W. (2002), Immigrant earnings: Language skills, linguistic concentrations and the business cycle. Journal of Population Economics 15: 1, 31-57. Chodorow, Martin; Tetreault, Joel & Han, Na-Rae (2007), Detection of grammatical errors involving prepositions. In: Costello, Fintan; Kelleher, John D. & Volk, Martin (Eds.), Proceedings of the Fourth ACL - SIGSEM Workshop on Prepositions. Prag: Association for Computational Linguistics, 25-30. Chomsky, Noam (1980), Rules and representations. New York: Columbia University Press. Chomsky, Noam (1988), Language and Problems of Knowledge: The Managua Lectures. Cambridge, MA u. a.: The MIT Press. 318 9. Literaturverzeichnis Clahsen, Harald; Meisel, Jürgen M. & Pienemann, Manfred (1983), Deutsch als Zweitsprache. Der Spracherwerb ausländischer Arbeiter. Tübingen: Narr. Clyne, Michael (1967), Transference and Triggering. The Hague: Nijhoff. Clyne, Michael (1977), Nieuw nederlands or double dutch. Dutch Studies 3, 1-20. Clyne, Michael (1980), Triggering and language processing. Canadian Journal of Psychology 34: 4, 400-406. Clyne, Michael (1984), Wissenschaftliche Texte Englisch- und Deutschsprachig. Textstrukturelle Vergleiche. Studium Linguistik 15, 92-97. Clyne, Michael (1987), Cultural differences in the organization of academic texts: English and German. Journal of Pragmatics 11, 211-247. Clyne, Michael (2003), Dynamics of language contact. Cambridge: Cambridge University Press. Comrie, Bernard (1997), On the origin of the basic variety. Second Language Research 13: 4, 367-373. Connor, Ulla (1996), Contrastive Rhetoric: Cross-Cultural Aspects of Second-Language Writing. Cambridge et al.: Cambridge University Press. Cook, Vivian & Singleton, David (2014), Key Topics in Second Language Acquisition. Bristol: Multilingual Matters. Coseriu, Eugenio (1988a), Sprachkompetenz. Grundzüge der Theorie des Sprechens. Weber, Heinrich (Hrsg.). Tübingen: UTB Francke. Coseriu, Eugenio (1988b), ‚Historische Sprache‘ und ‚Dialekt‘. In: Albrecht, Jörn; Lüdtke, Jens & Thun, Harald (Hrsg.), Energeia und Ergon. Sprachliche Variation-- Sprachgeschichte-- Sprachtypologie. Studia in honorem Eugenio Coseriu. Tübingen: Narr, 45-61. Coulmas, Florian (2013), Sociolinguistics: The Study of Speakers’ Choices. Cambridge: Cambridge Unversity Press. Crystal, David (1997), The Encyclopedia of Language. Second Edition. Cambridge: Cambridge University Press. Cummins, James (1981), The role of primary language development in promoting educational success for language minority students. In: Cummins, James (Ed.), Schooling and Language Minority Students: A Theoretical Framework. Los Angeles: Evaluation, Dissemination, and Assessment Center, California State University, Los Angeles, 3-49. Cummins, James (1982), Die Schwellenniveau- und Interdependenz-Hypothese: Erklärungen zum Erfolg zweisprachiger Erziehung. In: Swift, James (Hrsg.), Bilinguale und multikulturelle Erziehung. Würzburg: Königshausen & Neumann, 34-43. Cummins, James (1991), Conversational and academic language proficiency in bilingual contexts. Aila Review-- Revue de l’Aila 8, 75-89 [Online unter http: / / www.aila.info/ download/ publications/ review/ AILA08.pdf. 30. Juni 2017]. Cummins, James (2000), Language, Power and Pedgogy: Bilingual Children in the Crossfire. Clevedon: Multilingual Matters. d’Agostino, Mari (2007), Sociolinguistica dell’Italia Contemporanea. Bologna: Il Mulino. Davila, Alberto & Mora, Marie T. (2001), Hispanic ethnicity, English-ekill investments, and earnings. Industrial Relations 40: 1, 83-88. Debates of the National Assembly (1992), First Session, First Parliament (Vol. 23). Dekker, Diane & Young, Catherine (2007), Bridging the gap: The development of appropriate educational strategies for minority language communities in the Philippines. In: Liddicoat, Anthony J. (Ed.), Language Planning and Policy: Issues in Language Planning and Literacy. Clevedon: Multilingual Matters, 235-253. 319 9. Literaturverzeichnis Derwing, Tracey M. & Munro, Murray J. (1997), Accent, intelligibility and comprehensibility. Studies in Second Language Acquisition 19, 1-16. Detges, Ulrich (2000), Two types of restructuring in French creoles: A cognitive approach to the genesis of tense markers. In: Neumann-Holzschuh, Ingrid & Schneider, Edgar W. (Hrsg.), Degrees of restructuring in Creole languages. Amsterdam & Philadelphia: John Benjamins, 135-162. Diehl, Erika; Christen, Helen; Leuenberger, Sandra; Pelvat, Isabelle & Studer, Thérèse (2000), Grammatikunterricht, alles für der Katz? Untersuchungen zum Zweitsprachenerwerb Deutsch. Tübingen: Niemeyer. Diewald, Gabriele (1997), Aspekte der Grammatikalisierung. In: Diewald, Gabriele (Hrsg.), Grammatikalisierung. Eine Einführung in Sein und Werden grammatischer Formen. Tübingen: M. Niemeyer, 1-20. Dirim, Inci (2005), Verordnete Mehrsprachigkeit. In: Datta, Asit (Hrsg.), Transkulturalität und Identität. Bildungsprozesse zwischen Exklusion und Inklusion. Frankfurt am Main: IKO -- Verlag für Interkulturelle Kommunikation, 83-97. Dirim, Inci (2010), Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute auch, dass man mit Akzent denkt oder so. Zur Frage des (Neo-)Linguizismus in den Diskursen über die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft. In: Mecheril, Paul; Dirim, Inci; Gomoll, Mechtild; Hornberg, Sabine & Stojanov, Krassimir (Hrsg.), Spannungsverhältnisse. Assimilationsdiskurse und interkulturell-pädagogische Forschung. Münster, München: Waxmann, 92-112. Dittmar, Norbert (2009), Transkription. Ein Leitfaden mit Aufgaben für Studenten, Forscher und Laien. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Dlaska, Andrea & Krekeler, Christian (2008), Self-assessment of pronunciation. System 36: 4, 506-516. Doyé, Peter & Héloury, Michèle (2011), Lernen in zwei Sprachen in der Grundschule. In: Bausch, Karl-Richard; Christ, Herbert & Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.), Handbuch Fremdsprachenunterricht (5. Aufl.). Stuttgart: UTB , 186-190. Du Bois, John W.; Cumming, Susanne; Schuetze-Coburn, Stefan & Paolino, Danae (Hrsg.) (1992), Discourse Transcription. Santa Barbara: Department of Linguistics at the University of California. Duda, Richard & Riley, Philip (Eds.) (1990), Learning Styles: European Cultural Foundation-- Proceedings of the First European Seminar. Nancy: Presses Universitaires de Nancy. Duff, Patricia (1997), The lexical generation gap: A connectionist account of circumlocution in Chinese as a second language. In: Kasper, Gabriele & Kellerman, Eric (Eds.), Communication strategies: Psycholinguistic and sociolinguistic perspectives. London & New York: Longman, 192-215. Dürscheid, Christa & Brommer, Sarah (2009), Getippte Dialoge in neuen Medien. Sprachkritische Aspekte und linguistische Analysen. Linguistik Online 37: 1, 3-20 [Online unter http: / www. linguistik-online.de/ 37_09/ duerscheidBrommer.html. 30. Juni 2017]. Dürscheid, Christa (2012), Einführung in die Schriftlinguistik (4. überarb. und erg. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Dussias, Paola E. & Sagarra, Nuria (2007), The effect of exposure on syntactic parsing in Spanish- English bilinguals, Bilingualism, Language and Cognition 10, 101-116. Dustmann, Christian & van Soest, Arthur (2002), Language and the earnings of immigrants. Industrial and Labor Relations Review 55: 3, 474-492. [Online unter http: / / discovery.ucl. ac.uk/ 16457/ 1/ 16457.pdf. 4. April 2017]. Ecke, Peter & Hall, Christopher J. (2013), Tracking tip-of-the-tongue states in a multilingual speaker: Evidence of attrition or instability in lexical systems? International Journal of Bilingualism 17: 6, 734-751. 320 9. Literaturverzeichnis Eckert, Penelople & McConnell-Ginet, Sally (1998), Communities of Practice: Where Language, Gender, and Power All Live. In: Hall, Kira; Bucholtz, Mary & Moonwomon, Birch (Eds.), Women and Language Conference. Berkeley. Berkeley Women and Language Group, 89-99. Eckes, Thomas & Grotjahn, Rüdiger (2006), C-Tests als Anker für TestDaF: Rasch-Analysen mit dem kontinuierlichen Ratingskalen-Modell. In: Grotjahn, Rüdiger (Hrsg.), Der C-Test: Theorie, Empirie, Anwendungen. The C-test: theory, empirical research, applications. Frankfurt am Main: Peter Lang, 167-193. Ehlich, Konrad (1983), Erzählen im Alltag. In: Sanders, Willy & Wegenast, Klaus (Hrsg.), Erzählen für Kinder, Erzählen von Gott: Begegnung zwischen Sprachwissenschaft und Theologie. Stuttgart: Kohlhammer, 128-150. Eigler, Friederike (2002), Frauen und Männer im Gespräch. Marburg: Tectum. Ellis, Rod (1986), Understanding Second Language Acquisition. Oxford & New York: Oxford University Press. Ellis, Rod (2015), Understanding Second Language Acquisition. 2nd ed. Oxford: Oxford University Press. Ellis, Rod (Hrsg.) (1987), Second language acquisition in context. Englewood Cliffs, NJ : Prentice-Hall International. Elman, Jeffrey L. (1995), Language as a Dynamical System. In: Port, Robert F. & van Gelder, Timothy (Eds.), Mind as Motion. Explorations in the Dynamics of Cognition. London & Cambridge, Mass.: MIT Press, 195-226. Elspaß, Stephan (2010): Alltagsdeutsch. In: Krumm, Hans-Jürgen; Fandrych, Christian; Riemer, Claudia & Hufeisen, Britta (Hrsg.), Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin: de Gruyter, 418-424. Emerson, Robert M.; Fretz, Rachel I. & Shaw, Linda L. (2007), Participant observation and fieldnotes. In: Atkinson, Paul; Coffey, Amanda; Delamont, Sara; Lofland, John & Lofland, Lyn (Eds.), Handbook of Ethnography. Los Angeles: Sage, 352-368. Erard, Michael (2012), Babel no more: The Search for the World's Most Extraordinary Language Learners. New York: Free Press. ESF Korpus (2017), The Language Archive: Metadata Browser. Nijmegen: Max Planck Institute for Psycholinguistics, [Online unter https: / / corpus1.mpi.nl/ ds/ asv/ ? 0. 19. Januar 2017]. Esser, Hartmut (2006), Migration, Sprache und Integration: Die AKI -Forschungsbilanz kurz gefasst. AKI -Forschungsbilanz 4. Berlin: Arbeitsstelle Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration ( AKI ). [Online unter http: / / www.bagkjs.de/ media/ raw/ AKI_Forschungsbilanz_4_Sprache. pdf. Januar 2006]. Esser, Hartmut (2007), Sprache und Integration. [Online unter http: / / www.migration-boell.de/ web/ integration/ 47_1472.asp. 9. Oktober 2012]. Eurydice (2011), Key Data on Learning and Motivation through ICT at School in Europe. Luxembourg: Publications Office. Fasold, Ralph W. (2005), Making Languages. In: Cohen, James; McAlister, Kara T.; Rolstad, Kellie & MacSwan, Jeff (Eds.), Proceedings of the 4th International Symposium on Bilingualism. Somerville, MA : Cascadilla Press, 697-702. Ferguson, Charles (1959), Diglossia. Word 15, 325-340. Festinger, Leon (1950), Informal social communication. Psychological Review 57: 5, 271-282. Fill, Alwin (1993), Ökolinguistik. Eine Einführung. Tübingen: Narr. Fill, Alwin (1996), Sprachökologie und Ökolinguistik. Referate des Symposiums Sprachökologie und Ökolinguistik an der Universität Klagenfurt, 27.-28. Oktober 1995. Tübingen: Stauffenburg. 321 9. Literaturverzeichnis Fill, Alwin (2002), Tensional Arches: Language and Ecology. Im Spannungsfeld von Sprache und Ökologie. In: Fill, Alwin & Penz, Hermine (Hrsg.), Colourful green ideas. Papers from the Conference 30 Years of Language and Ecology (Graz, 2000) and the Symposium Sprache und Ökologie (Passau, 2001). Frankfurt am Main: Peter Lang, 15-27. Fishman, Joshua (1972), The Sociology of Language: An Interdisciplinary Social Science Approach to Language in Society. Rowley, Mass.: Newbury House. Fishman, Joshua (2006), Do not Leave Your Language Alone. Mahwah: Lawrence Elbraum Associates Publishers. Fishman, Joshua A. (1972), The sociology of language. An interdisciplinary social science approach to language in society. Rowley, Mass.: Newbury House Publishers. Forsyth, Donelson R. (2010), Group dynamics. 5. ed. Belmont, Calif.: Wadsworth Cengage Learning. Geel, A. E. (1991), The development of (business-)communication courses in English for Namibia. In: Bungarten, Theo (Hrsg.), Konzepte zur Unternehmenskommunikation, Unternehmenskultur & Unternehmensidentität. Tostedt: AttikonVerlag, 231-232. Genesee, Fred (1989), Early bilingual development: one language or two? Journal of Child Language 16: 1, 161-179. Giles, Howard (2008), Communication Accommodation Theory: When in Rome… or Not! In: Baxter, Leslie A. & Braithwaite, Dawn O. (Hrsg.), Engaging theories in interpersonal communication: Multiple perspectives. Los Angeles: Sage Publications, 161-173. Givón, Talmy (1979), From Discourse to Syntax: Grammar as a Processing Strategy. In: Kimball, John P. & Givón, Talmy (Hrsg.), Syntax and semantics. New York: Academic Press, 81-112. Goffmann, Erving (1974). Frame Analysis: An Essay on the Organization of Experience. New York: Harper & Row. Goles, Eric; Morvan, Michel & Duong Phan, Ha (2002), Sand piles and order structure of integer partitions. Discrete Applied Mathematics 117, 51-54. Gopnik, Alison; Meltzoff, Andrew N. & Kuhl, Patricia K. (1999), The Scientist in the Crib: Minds, Brains, and How Children Learn. New York: Morrow. Gopnik, Alison; Meltzoff, Andrew N. & Kuhl, Patricia K. (2001), The Scientist in the Crib. What Early Learning Tells us about the Mind. New York: Harper Perennial. Granger, Sylviane; Hung, Joseph & Petch-Tyson, Stephanie (2002), Computer Learner Corpora, Second Language acquisition and Foreign Language Teaching. Amsterdam: John Benjamins. Grendel, Marjon (1993), Verlies en Herstel van Lexical Kennis (Loss and Recovery of Lexical Knowledge). University of Nijmegen: PhD thesis. Gries, Stefan Th. & John Newman (2013), Creating and using corpora. In: Podesva, Rober J. & Sharma, Devyani (Eds.), Research Methods in Linguistics. Cambridge: Cambridge University Press, 257-287. Grießhaber, Wilhelm (2006), Die Entwicklung der Grammatik in Texten vom 1. bis zum 4. Schuljahr. In: Ahrenholz, Bernt (Hrsg.), Kinder mit Migrationshintergrund. Spracherwerb und Fördermöglichkeiten. Freiburg im Breisgau: FillibachVerlag, 150-167. Groseva, Maria (1998), Dient das L2-System als ein Fremdsprachenlernmodell? In: Hufeisen, Britta & Lindemann, Beate (Hrsg.), Tertiärsprachen. Theorien, Modelle, Methoden. Tübingen: Stauffenburg, 21-30. Grosjean, François (1982), Life with Two Languages: An Introduction to Bilingualism. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Grosjean, François (1988), Exploring the recognition of guest words in bilingual speech. In: Language and Cognitive Processes, 233-274. 322 9. Literaturverzeichnis Grosjean, François (1997), Processing mixed language: Issues, findings, and models. In: Groot, Annette M. B. de & Kroll, Judith F. (Hrsg.), Tutorials in bilingualism: Psycholinguistic perspectives. Mahwah, NJ : Lawrence Erlbaum, 225-254. Grosjean, François (2001), The bilingual’s language modes. In: Nicol, Janet & Langendoen, Terence (Hrsg.), Language Processing in the Bilingual. Oxford: Blackwell, 1-25. Grosjean, Francois (2010), Bilingual life and reality. Cambridge Mass.: Harvard University Press. Guinot, Bernard & Seidelmann, P. Kenneth (1988), Time scales-- Their history, definition and interpretation. Astronomy and Astrophysics 194: 1-2, 304-308. Gullberg, Marianne (1998), Gesture as a Communication Strategy in Second Language Discourse: A Study of Learners of French and Swedish Linguistics and Phonetics. Lund: Lund University. Gullberg, Marianne (2011), Language specific encoding of placement events in gestures. In: Bohnemeyer, Jürgen & Pederson, Eric (Eds.), Event Representations in Language and Cognition. Cambridge: Cambridge University Press, 166-188. Gullberg, Marianne, Indefrey, Peter & Muysken, Pieter (2009), Research techniques for the study of code-switching. In: Bullock, Barbara E. & Toribioeds, Almeida Jacqueline (Eds.), The Cambridge Handbook of Linguistic Code-Switching. Cambridge: Cambridge University Press, 21-39. Gumperz, John (1992). Contextualization and understanding. In: Duranti, Alessandro & Goodwin, Charles (Eds.), Rethinking Context: Language as an Interactive Phenomenon. Cambridge: Cambridge University Press, 229-252. Gumperz, John J. (1967), Language and communication. The Annals of the American Academy of Political and Social Sciences 373, 219-231. Gumperz, John Joseph (1982). Conversational Code Switching. In: Gumperz, John Joseph (Hrsg.), Discourse strategies. Cambridge, UK , New York: Cambridge University Press, 59-99. Gumperz, John Joseph (Ed.) (1982), Discourse strategies. Cambridge, New York: Cambridge University Press. Günthner, Susanne (2010), Interkulturelle Kommunikation aus linguistischer Perspektive. In: Krumm, Hans-Jürgen; Fandrych, Christian; Hufeisen, Britta & Riemer, Claudia (Hrsg.), Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. 1. Halbband. Berlin, New York: de Gruyter, 331-342. Haberzettl, Stefanie (2007), Konstruktionen im Zweitspracherwerb. In: Fischer, Kerstin & Stefanowitsch, Anatol (Hrsg.), Konstruktionsgrammatik. Von der Anwendung zur Theorie. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 55-77. Han, ZhaoHong (2003), Fossilisation: From simplicity to complexity. International Journal of Bilingual Education and Bilingualism 6: 2, 95-128. Han, ZhaoHong (2004), Fossilization in Adult Second Language Acquisition. Clevedon: Multilingual Matters. Han, ZhaoHong (2007), Understanding Second Language Process. Clevedon: Multilingual Matters. Handwerker, Brigitte (2008), Chunks und Konstruktionen. Zur Integration von lerntheoretischem und grammatischem Ansatz. Estudios Filológicos Alemanes 15, 49-64. Hansen, Klaus P. (2003), Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen: Francke. Harris, Roy (1990), On redefining linguistics. In: Davis, Hayley G. & Taylor, Talbot J. (Eds.), Redefining Linguistics. London: Routledge, 18-52. Harrison, Lee M.; Bestmann, Sven; Rosa, Maria J.; Penny, William & Green, Gary G. R. (2011), Time scales of representation in the human brain: Weighing past information to predict future events. Frontiers in Human Neuroscience 5: 37. 323 9. Literaturverzeichnis Harrison, Neil E. (Ed.) (2006), Complexity in world politics. Albany: State University of New York Press. Hasbún, Leyla (2007), Fossilisation and acquisition: A study of learner language. Revista de Filología y Linguística de la Universidad de Costa Rica 33: 1, 113-129. Hatch, Evelyn (1983), Simplified Input and Second Language Acquisition. In: Andersen, Roger (Hrsg.), Pidginization and Creolization as Language Acquisition. Rowley, Mass.: Newbury House, 64-86. Haug, Sonja; Müssig, Stephanie & Stichs, Anja (2010), Muslimisches Leben in Deutschland. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), [Online unter: https: / / www.bamf.de/ SharedDocs/ Anlagen/ DE/ Publikationen/ Forschungsberichte/ fb06-muslimisches-leben.pdf ? __blob=publicationFile. 1. Juni 2017]. Haugen, Einar (1953), The Norwegian Language in America: A Study in Bilingual Behavior (Vol.1). Philadelphia: University of Pennsylvania Press. Haugen, Einar (1987), Blessings of Bible: Bilingualism and Language Planning. Problems and Pleasures. Berlin, Boston: Mouton de Gruyter. Hayfron, John E. (2001), Language training, language proficiency and earnings of immigrants in Norway. Applied Economics 33: 15, 1971-1979. Hazen, Kirk (2011), Labov: Language variation and change. In: Wodak, Ruth & Johnstone, Barbara (Eds.), The Sage Handbook of Sociolinguistics. Los Angeles: Sage, 24-39. Heckhausen, Heinz & Rheinberg, Falko (1980), Lernmotivation im Unterricht, erneut betrachtet. Unterrichtswissenschaft 8: 1, 7-47. Heeringa, Wilbert & Nerbonne, John (2001), Dialect areas and dialect continua. Language Variation and Change 13: 3, 375-400. Heeschen, Claus (1985), Agrammatism versus Paragrammatism: A Fictitious Opposition. In: Kean, Marie-Louise (Hrsg.), Agrammatism. Orlando: Academic Press, 207-248. Heinrich, Dietmar & Riehl, Claudia M. (2011), Kommunikative Grundhaltung. Ein interkulturelles Paradigma in geschriebenen Texten. In: Földes, Csaba (Hrsg.), Interkulturelle Linguistik im Aufbruch. Das Verhältnis von Theorie, Empirie und Methode. Tübingen: Narr, 25-43. Henne, Helmut (1986), Jugend und ihre Sprache. Darstellung, Materialien, Kritik. 1. Auflage. Berlin: de Gruyter. Herdina, Philip & Jessner, Ulrike (2002), A dynamic model of multilingualism. Perspective of Change in Psycholinguistics. Clevedon: Multilingual Matters. Herrmann, Theo & Grabowski, Joachim (1994), Sprechen. Psychologie der Sprachproduktion. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Hinnenkamp, Volker (2003), Mixed language varieties of migrant adolescents and the discourse of hybridity. Journal of Multilingual and Multicultural Developement 24 (1 / 2), 12-40. Hockett, Charles F. (1958), A Course in Modern Linguistics. New York: Macmillan. Hoffmann, Charlotte (2001), The status of trilingualism in bilingualism studies. In: Cenoz, Jasone; Hufeisen, Britta & Jessner, Ulrike (Hrsg.), Looking beyond second language acquisition: Studies in triand multilingualism. Tübingen: Stauffenburg, 13-25. Hoffmann, Lothar (2004), Fachsprache / Language of specific purpose. In: Ulrich Ammon (Hrsg.), Sociolinguistics. An international handbook of the science of languague and society. Berlin, New York: Walter de Gruyter, 232-238. Hölscher, Petra & Piepho, Hans-Eberhard (Hrsg.) (2003-2006), DaZ Lernen aus dem Koffer. Lernszenarien für Deutsch als Zweitsprache Schulen. 3 Koffer für die Grundschule, 3 Koffer für die weiterführenden Schulen. Oberursel: Finken. 324 9. Literaturverzeichnis Hölscher, Petra & Roche, Jörg (2006), Lernszenarien. Die neue Philosophie des Sprachenlernens ( DVD mit Begleitbuch). Oberursel: Finken [Film online unter www.youtube.com/ watch? v=kTdyuyADbL4. 22. September 2017]. Hooijschuur, Lisa T. (2014), Gestures and SLA : What gestures reveal about nativeness in a second language. MA thesis, University of Groningen. Hopper, Paul (1998), Emergent grammar. In: Tomasello, Michael (Ed.), The New Psychology of Language. Mahwah, NJ : Lawrence Erlbaum, 155-175. Hudson, Richard A. (1993), Sociolinguistics. Cambridge: Cambridge University Press. Hufeisen, Britta (2010), Theoretische Fundierung multiplen Sprachenlernens-- Faktorenmodell 2.0. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Intercultural German Studies 36. München: Indicium, 200-208. Hyltenstam, Kenneth & Abrahamsson, Niclas (2003), Maturational constraints in SLA . In: Doughty, Catherine & Long, Michael H. (Eds.), The Handbook of Second Language Acquisition. Malden, MA : Blackwell, 539-588. Hymes, Dell H. (1974), Foundations in sociolinguistics: An ethnographic approach. Philadelphia: University of Pennsylvania Press. Jakobson, Roman (1960), Linguistics and poetics. Style in language, 350-377. Jenner, Bryan R. A. (1976), Interlanguage and foreign accent. Interlanguage Studies Bulletin 1: 166-195. Jennifer, Coates (2004), Women, Men and Language.3. Aufl. New York: Taylor & Francis. Jespersen, Otto (1925), Die Sprache. Ihre Natur, Entwicklung und Entstehung. Hildesheim, Zürich, New York: Olms Verlag. Jessner, Ulrike (1999), Metalinguistic awareness in multilinguals: Cognitive aspects of third language learning. Language Awareness 8: 3-4, 201-209. Jørgensen, Normann J. (2004), Languaging and languagers. In: Dabelsteen, Christine B. & Jørgensen, Normann J. (Hrsg.), Languaging and language practice. Copenhagen: University of Copenhagen, Faculty of the Humanities, 5-22. Kaiser, Dorothee (2002), Wege zum wissenschaftlichen Schreiben. Eine kontrastive Untersuchung zu studentischen Texten aus Venezuela und Deutschland. Tübingen: Stauffenburg. Kalter, Frank (2006), Auf der Suche nach einer Erklärung für die spezifischen Arbeitsmarktnachteile von Jugendlichen türkischer Herkunft. Zugleich eine Replik auf den Beitrag von Holger Seibert und Heike Solga: „Gleiche Chancen dank einer abgeschlossenen Ausbildung? “ Zeitschrift für Soziologie 35: 2, 144-160. [Online unter: http: / / www.zfs-online.org/ index.php/ zfs/ article/ view- File/ 1214/ 751. 1. Juni 2017]. Kanaplianik ( EL -Bouz), Katsiaryna (2016), Kognitionslinguistisch basierte Animationen für die deutschen Modalverben. Zusammenspiel der kognitiven Linguistik und des multimedialen Lernens bei der Sprachvermittlung. Berlin, Münster: LIT . Kasper, Gabriele & Kellerman, Eric (Hrsg.) (1997), Communication strategies: Psycholinguistic and sociolinguistic perspectives. London, New York: Longman. Kasper, Gabriele (2009), Locating cognition in second language interaction and learning: inside the skull or in public view? International Review of Applied Linguistics in Language Teaching 47: 1, 11-37. Keim, Inken (2010), Sprachkontakt: Ethnische Varietäten. In: Krumm, Hans-Jürgen; Fandrych, Christian; Riemer, Claudia & Hufeisen, Britta (Hrsg.), Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin: de Gruyter, 447-457. Kellerman, Eric (1978), Giving learners a break: Native language intuitions as a source of predictions about transferability. Working Papers on Bilingualism 15, 59-92. 325 9. Literaturverzeichnis Kellerman, Eric (1995), Age before beauty: Johnson and Newport revisited. In: Eubank, Lynn; Selinker, Larry & Sharwood Smith, Michael (Eds.), The Current State of Interlanguage: Studies in Honor of William E. Rutherford (unter Mitarbeit von William E. Rutherford, unrevised paperback ed.). Amsterdam: Benjamins, 219-232. Keßler, Jörg-Ulrich (2006), Englischerwerb im Anfangsunterricht diagnostizieren. Linguistische Profilanalysen am Übergang von der Primarstufe in die Sekundarstufe I. Tübingen: Narr. Khakimova, Albina (2013), Die Vermittlung von Lernstrategien durch Sprachlernberatung am Beispiel der Fertigkeit „Sprechen“. Universität München: Mimeo. Kibrik, Aleksandr E. (1977), The Methodology of field investigations in linguistics. Berlin: de Gruyter. Kielhöfer, Bernd & Jonekeit, Sylvie (1983), Zweisprachige Kindererziehung. Tübingen: Stauffenburg Verlag. Klann-Delius, Gisela (2005), Sprache und Geschlecht: Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzler. Klebel, Stefan; Daunizeau, Jean & Friston, Karl J. (2008), A hierarchy of time-scales and the brain. PL oS Computational Biology 4, 11. Klein, Horst G. & Stegmann, Tilbert Dídac (2000), EuroComRom-- die sieben Siebe. Romanische Sprachen sofort lesen können. Aachen: Shaker. Klein, Wolfgang & Dimroth, Christine (2003), Der ungesteuerte Zweitspracherwerb Erwachsener. Ein Überblick über den Forschungsstand. In: Maas, Utz & Mehlem, Ulrich (Hrsg.), Qualitätsanforderungen für die Sprachförderung im Rahmen der Integration von Zuwanderern (Bd. 21). Osnabrück: IMIS (= IMIS -Beiträge, 21), 127-161. Klein, Wolfgang & Perdue, Clive (1992), Utterance structure: Developing grammars again. Amsterdam: John Benjamins. Klein, Wolfgang & Perdue, Clive (1997), The basic variety (or: Couldn’t natural languages be much simpler? ). Second Language Research 13: 4, 301-347. Klein, Wolfgang & Perdue, Clive (Eds.) (1988), Utterance Structure. Nijmegen, Strasbourg: Max Planck Institut für Psycholinguistik / European Science Foundation. Klein, Wolfgang (1992), Zweitspracherwerb. Eine Einführung. Frankfurt am Main: Hain. Klein, Wolfgang (1998), The contribution of second language acquisition research. Language Learning 48, 527-550. [Online unter http: / / www.mpi.nl/ world/ materials/ publications/ Klein/ 128_1998_ The_contribution_of_second_language_acquisition_research.pdf. 15.Dezember 2016]. Kleppin, Karin (1997), Fehler und Fehlerkorrektur. München: Langenscheidt. Kleppin, Karin (2006), Sprachlernberatung auf Distanz. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht [Online unter tujournals.ulb.tu-darmstadt.de / index.php / zif / article / download / 371 / 359 11. Mai 2015]. Kleppin, Karin (2009), „Fehler“ und „Fehlerkorrektur“. In: Praxis Fremdsprachenunterricht (1), 60-61. Kloss, Heinz (1967), „Abstand languages“ and „Ausbau languages“. Anthropological Linguistics 9: 7, 29-41. Knapp, Werner (1997), Schriftliches Erzählen in der Zweitsprache. Tübingen: Niemeyer. Koch, Peter & Oesterreicher, Wulf (1994), Schriftlichkeit und Sprache. In: Günther, Hartmut & Ludwig, Otto (Hrsg.), Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Berlin, New York: de Gruyter, 587-604. Koch, Peter & Oesterreicher, Wulf (2007), Schriftlichkeit und kommunikative Distanz. Zeitschrift für Germanistische Linguistik 35, 346-375. Koch, Peter & Oesterreicher, Wulf (2011), Gesprochene Sprache in der Romania. Französisch, Italienisch, Spanisch. Berlin: de Gruyter. 326 9. Literaturverzeichnis Kolb, David A. (1984), Experiential learning: Experience as the source of learning and development. New Jersey: Prentice Hall. Kolk, Herman H. J. & van Grunsven, Marianne M. F. (1985), Agrammatism as a Variable Phenomenon. Cognitive Neuropsychology 2 (4), 347-384. Königs, Frank G. (2004), Mehrsprachigkeit ernst genommen. Überlegungen zum Übersetzen (und Dolmetschen) mit Lernern unterschiedlicher Muttersprache. In: ENS Lettres et Sciences humaines-- Lyon / The British Council / Goethe-Institut (Hrsg.), Les langues maternelles dans l'enseignement des langues étrangères. Mother tongues in foreign language teaching. Muttersprachen im Fremdsprachenunterricht. Colloque des 12-13 février 1999 (=Triangle 19), Lyon, 83-106. Kootstra, Gert-Jan, van Hell, Janette & Dijkstra, Ton (2009), Syntactic alignment and shared word order in code-switched sentence production: Evidence from bilingual monologue and dialogue. Journal of Memory and Language 63: 2, 210-231. Köpke, Barbara & Schmid, Monika S. (2004), First language attrition: The next phase. In: Schmid, Monica S.; Köpke, Barbara; Keijzer, Merel & Weilemar, Lina (Eds.), First language attrition: Interdisciplinary perspectives on methodological issues. Amsterdam: John Benjamins, 1-43. Krashen, Stephen D. (1980), The Input Hypothesis. In: Alatis, James E. (Hrsg.), Georgetown University Round Table on Languages and Linguistics 1980: Current issues in bilingual education. Washington, DC : Georgetown University Press, 168-180. Krashen, Stephen D. (1985), The input hypothesis: Issues and implications. New York: Longman. Krauss, Michael (2007), Classification and terminology for degrees of language endangerment. In: Brezinger, Matthias (Ed.), Language Diversity Endangered. Berlin: de Gruyter, 1-8. Labov, William & Waletzky, Joshua (1967), Narrative analysis: Oral versions of personal experience. In: Helm, June (Ed.). Essays on the Verbal and Visual Arts. Seattle: University of Washington Press, 12-44. Labov, William (1972), Sociolinguistic Patterns. Philadelphia: University of Pennsylvania Press. Labov, William (1973), Sociolinguistic Patterns. Philadelphia, PA : University of Pennsylvania Press. Labov, William (1991), Sociolinguistic Patterns. Philadelphia: University of Pennsylvania Press. Lakoff, Robin (1975), Language and Woman’s Place. New Xork: Harper & Row. Langacker, Ronald W. (1999), Grammar and Conceptualization. Berlin: Mouton de Gruyter. Lanza, Elizabeth (2009), Multilingualism and the family. In: Auer, Peter & Wei, Li (Eds.), Handbook of Multilingualism and Multilingual Communication. New York: Mouton de Gruyter, 45-67. Laponce, Jean A. (1984), Langue et territoire. Québec: Les presses de l'université Laval. Lardiere, Donna (1998), Case and tense in the ‘fossilized‘ steady state. Second Language Research 14: 1, 1-26. Larsen-Freeman, Diane & Cameron, Lynne (2008), Complex Systems and Applied Linguistics. Zeitschrift für interkulturellen Fremdsprachenunterricht 15: 1, 123-124. Larsen-Freeman, Diane & Long, Michael H. (1991), An Introduction to Second Language Acquisition Research. London, New York: Longman. Larsen-Freeman, Diane (1997), Chaos / complexity science and second language acquisition. Applied Linguistics 18: 2, 141-165. Lenneberg, Eric H. (1972), Biologische Grundlagen der Sprache. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Levelt, Willem J. M. (1999), Producing spoken language: A blueprint of the speaker. In: Brown, Colin M. & Hagoort, Peter (Eds.), The Neurocognition of Language. Oxford, New York: Oxford University Press, 88-122. Lin, Yue-Hong & Hedgcock, John (1996), Negative Feedback Incorporation Among High-Proficiency and Low-Proficiency Chinese-Speaking Learners of Spanish. Language Learning 46: 4, 567-611. 327 9. Literaturverzeichnis Lin, Yue-Hong (1995), An Empirical Analysis of Stabilization / Fossilization: Incorporation and Self Correction of Chinese Learners. Universitat de Barcelona: Dissertation. List, Gudula (2004), Eigen-, Fremd- und Quersprachigkeit: psychologisch. In: Königs, Frank; Krumm, Hans-Jürgen & Bausch, Karl-Richard (Hrsg.), Mehrsprachigkeit im Fokus.Arbeitspapiere der 24. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr, 132-138. Lo, Adrienne (1999), Codeswitching, speech community membership, and the construction of ethnic identity. Jornal of Sociolinguistics 3 (4), 461-479. Lombardi, Michael (2007), Why is a minute divided into 60 seconds, an hour into 60 minutes and there are only 24 hours in a day? Scientific American [Online unter www.scientificamerican.com/ article/ experts-time-division-days-hours-minutes/ . 5. März 2007]. Long, Michael (1983), Native speaker / non-native speaker conversation and the negotiation of compehensible input. Applied Linguistics 4, 126-141. Long, Michael (1996), The Role of Linguistic Environment in Second Language Acquisition. In: Ritchie, William C. & Bhatia, Tej K. (Eds.), Handbook of Second Language Acquisition. San Diego: Academic Press, 413-468. Long, Michael H. (1997), Construct validity in SLA research: A response to Firth and Wagner. Modern Language Journal 81: 3, 318-323. Lott, Albert J. & Lott, Bernice E. (1965), Group cohesiveness as interpersonal attraction: a review of relationships with antecedent and consequent variables. Psychological bulletin 64: 4, 259-305. Lowie, Wander & Bot, Kees de (2015), Variability in bilingual precessing: A dynamic perspective. In: Schwieter, John W. (Ed.), The Cambridge Handbook of Bilingual Processing. Cambridge: Cambridge University Press, 255-272. Lowie, Wander & Verspoor, Marjolijn (2011), The dynamics of multilingualism. Levelt’s Speaking model revisited. In: Schmidt, Monika S. & Lowie Wander (Eds.), Modeling Bilingualism: From Structure to Chaos. Amsterdam: John Benjamins. Lüdi, Georges & Py, Bernard (1984), Zweisprachig durch Migration. Einführung in die Erforschung der Mehrsprachigkeit am Beispiel zweier Zuwanderergruppen in Neuenburg (Schweiz). Tübingen: Niemeyer. Lyons, John (1970), New Horizons in Linguistics. Harmondsworth: Penguin. Maas, Utz (2008), Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft. Die schriftkulturelle Dimension. Göttingen, Osnabrück: V & R unipress, Universitätsverlag Osnabrück. Mackey, William F. (1957), The Description of Bilingualism. Journal of the Canadian Linguistic Association. MacWhinney, Brian (2000), Transcription format and programs. Mahwah, NJ : Lawrence Erlbaum. Marx, Nicole (2008), Is it necessary to train learners in interlingual comprehension strategies? In: Gibson, Martha; Hufeisen, Britta & Personne, Cornelia (Hrsg.), Mehrsprachigkeit: Lernen und lehren, Multilingualism: Learning and instruction, Le Plurilinguisme: appendre et enseigner, O Plurilinguismo: aprender ensinar. Selected papers from the L3 conference in Freiburg / Switzerland 2005. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 135-150. Mayer, Richard E. & Sims, Valerie K. (1994), For whom is a picture worth a thousand words? Extensions of a dual-coding theory of multimedia learning. Journal of Educational Psychology 86: 3, 389-401. Mayer, Richard E. (2005), Cognitive theory of multimedia learning. In: Mayer, Richard E. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Multimedia Learning. Cambridge: Cambridge University Press, 31-48. 328 9. Literaturverzeichnis Meara, Paul (2004), Modeling vocabulary loss. Applied Linguistics 25: 2, 137-155. Mecheril, Paul; Dirim, Inci; Gomoll, Mechtild; Hornberg, Sabine & Stojanov, Krassimir (Hrsg.) (2010), Spannungsverhältnisse. Assimilationsdiskurse und interkulturell-pädagogische Forschung. Münster / München: Waxmann. Meisel, Jürgen M. (1989), Early differentiation of languages in bilingual children. In: Hyltenstam, Kenneth & Obler, Loraine K. (Eds.), Bilingualism Across the Lifespan: Aspects of Acquisition, Maturity, and Loss. Cambridge, New York: Cambridge University Press, 13-40. Meisel, Jürgen M. (1997), The L2 basic variety as an I-language. Second Language Research 13: 4, 374-385. Meißner, Franz-Joseph (2004), Transfer und Transferieren. Anleitungen zum Interkomprehensionsunterricht. In: Klein, Horst G. & Rutke, Dorothea (Hrsg.), Neuere Forschungen zur Europäischen Interkomprehension. Aachen: Shaker, 39-66. Mellow, John Dean (1996), A Longitudinal Study of the Effects of Instruction on the Development of Article Use by Adult Japanese ESL Learners. Dissertation. Vancouver: University of British Columbia. Mesthrie, Rajend; Swann, Joan; Deumert, Ana & Leap, William L. (2000), Introducing Sociolinguisitcs. Edinburgh: Edinburgh University Press. Meuter, Renata & Allport, Albert (1999), Bilingual language switching in naming: Asymmetrical costs of language selection. Journal of Memory and Language 40: 1, 25-40. Meyerhoff, Miriam (2002), Communities of practice. New York: Blackwell Publishing. Missler, Bettina (1999), Fremdsprachenlernerfahrungen und Lernstrategien. Eine empirische Untersuchung. Tübingen: Stauffenburg. Morek, Miriam (2012), Kinder erklären-- Interaktionen in Familie und Unterricht im Vergleich. Tübingen: Stauffenburg. Mosca, Michela & Clahsen, Harald (2015), Examining language switching in bilinguals: The role of preparation time. Bilingualism: Language and Cognition 19: 2, 415-424. Moyer, Alene (2013), Foreign Accent: The Phenomenon of Non-native Speech. Cambridge: Cambridge University Press. Myers-Scotton, Carol (1993), Social motivations for codeswitching: Evidence from Africa. Oxford: Clarendon Press. Nassaji, Hossein (2006), The relationship between depth of vocabulary knowledge and L2 learners’ lexical inferencing strategy use and success. Modern Language Journal 90: 3, 387-401. [Online unter http: / / onlinelibrary.wiley.com/ doi/ 10.1111/ j.1540-4781.2006.00431.x/ full. 1. Juni 2017]. Nation, Robert & McLaughlin, Barry (1986), Novices and experts: An information processing approach to the “good language learner“ problem. Applied Psycholinguistics 7: 1, 41-55. Neuland, Eva (2010), Jugendsprache. In: Krumm, Hans-Jürgen; Fandrych, Christian; Riemer, Claudia & Hufeisen, Britta (Hrsg.), Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin: de Gruyter, 431-438. Neuland, Eva (Hrsg.) (2003), Jugendsprache-- Jugendliteratur-- Jugendkultur. Interdisziplinäre Beiträge zu sprachkulturellen Ausdrucksformen Jugendlicher. 1. Auflage. Frankfurt am Main: Lang. Neuland, Eva (Hrsg.) (2006), Variation im heutigen Deutsch. Perspektiven für den Sprachunterricht. Sprache-- Kommunikation-- Kultur 4. Frankfurt am Main: Peter Lang. Neumann-Holzschuh, Ingrid (2000), Restructurations dans un créole „conservateur“: Le cas du créole louisiannais. In: Neumann-Holzschuh, Ingrid & Schneider, Edgar W. (Hrsg.), Degrees of restructuring in Creole languages. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins, 383-408 329 9. Literaturverzeichnis Nieuwland, Mante & van Berkum, Jos J. A. (2006), When peanuts fall in love: N400 evidence for the power of discourse. Journal of Cognitive Neuroscience 18, 1098-1111. Nixon, Howard L. (1979), The small group. New Jersey: Prentice Hall. Nussbaum, Martha C.; Pauer-Studer, Herlinde & Utz, Ilse (2000), Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Oakley, Ann (1972), Sex, Gender and Society. London: Temple Smith. Oberndörfer, Dieter (2005), Sprache und Nation. In: Gogolin, Ingrid (Hrsg.), Migration und sprachliche Bildung. Wissenschaftliches Kolloquium. Münster: Waxmann, 231-248. OECD (Hrsg.) (2007), PISA 2006. Naturwissenschaftliche Kompetenzen für die Welt von morgen. Bielefeld. OECD (Hrsg.) (2010), PISA 2009. Potenziale nutzen und Chancengerechtigkeit sichern: Sozialer Hintergrund und Schülerleistungen. Band 2: OECD Publishing. Oesterreicher, Wulf (2008), Raumkonzepte in der Sprachwissenschaft. Abstraktionen Metonymien-- Metaphern. Romanistisches Jahrbuch 58, 51-91. Ohala, John J. & Gilbert, Judy B. (1987), Listeners’ ability to identify languages by their prosody. Report of the Phonology Lab 2, 126-132. Oppenrieder, Wilhelm & Thurmair, Maria (2003), Sprachidentität im Kontext von Mehrsprachigkeit. In: Janich, Nina & Thim-Mabrey, Christiane (Hrsg.), Sprachidentität-- Identität durch Sprache. Tübinger Beiträge zur Linguistik 465. Internationales Symposium „Sprachidentität-- Identität durch Sprache. Beiträge der Sprachwissenschaft zur Wissenschaftlichen und Öffentlichen Diskussion“. Tübingen: Narr, 39-60. Otto, Hans-Uwe & Ziegler, Holger (2006), Education and capabilites. Social Work & Society 4: 2, 269-287. [Online unter http: / / www.socwork.net/ sws/ article/ view/ 158/ 218. 19. Juli 2016]. Pallier, Christophe; Dehaene, Stanislas; Poline, Jean-Baptiste; LeBihan, Denis; Argenti, Anne-Marie; Dupoux, Emmanuel & Mehler, Jacques (2003), Brain imaging of language plasticity in adopted adults: Can a second language replace the first? . Cerebral Cortex 13: 2, 155-161. Paradis, Michel (1998), Aphasia in bilinguals: How atypical is it? In: Coppens, Patrick; Lebrun, Yvan & Basso, Anna (Eds.), Aphasia in Atypical Populations. Mahwah, NJ : Lawrence Erlbaum, 35-66. Paradis, Michel (2004), A Neurolinguistic Theory of Bilingualism. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins. Pennycook, Alastair (2007), Postmodernism in language policy. In: Ricento, Thomas (Ed.), An Introduction to Language Policy: Theory and Method. Oxford: Blackwell, 60-76. Perdue, Clive (Ed.) (1993), Adult Language Acquisition. Vol. 1: Field Methods. Cambridge: Cambridge University Press. Perdue, Clive (Hrsg.) (1982), Second Language Acquisition by Adult Immigrants: A Field Manual. Strasbourg: Max Planck Institut für Psycholinguistik / European Science Foundation. Pica, Teresa (1987), Second-language acquisition, social interaction, and the classroom. Applied Linguistics 8, 3-21. Pica, Teresa (1992), The textual outcomes of native speaker-non-native speaker negotiation. What do they reveal about second language learning? In: Kramsch, Claire & McConnell-Ginet, Susan (Eds.), Text and Context: Cross-Disciplinary Perspectives on Language Study. Lexington, MA : Heath, 198-237. Pica, Teresa (1994), Research on negotiation: What does it reveal about second-language learning conditions, processes, and outcomes? Language Learning 44: 3, 493-527. Pienemann, Manfred (1998), Language Processing and Second Language Development: Processability Theory. Amsterdam, Philadelphia: Benjamins. 330 9. Literaturverzeichnis Pienemann, Manfred (2005), Cross-linguistic Aspects of Processability Theory. Amsterdam, Philadelphia: Benjamins. Pinker, Steven (1994), The Language Instinct. London: Penguin books. Poplack, Shana & Sankoff, David (1988), Code-switching. In: Ammon, Ulrich; Dittmar, Norbert & Mattheier, Klaus (Hrsg.), Sociolinguistics: An international handbook of the science of languague and society. Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. Berlin, New York: Walterde Gruyter, 1174-1180. Poplack, Shana & Tagliamonte, Sali A. (2001), African American English in the Diaspora. Oxford: Blackwell. Poplack, Shana (1980), Sometimes I’ll start a sentence in Spanish y termino en espanol: Toward a typology of code-switching. Linguistics 18: 7-8, 581-618. Poulisse, Nanda & Bongaerts, Theo (1994), First language use in second language production. Applied Linguistics 15, 36-57. Poulisse, Nanda (1993), A theoretical account of lexical communication strategies. In: Schreuder, Robert & Weltens, Bert (Eds.), The Bilingual lexicon. Amsterdam: John Benjamins, 157-189. Poulisse, Nanda (1997), Language production in bilinguals. In: de Groot, Annette M. B. & Kroll, Judith F. (Eds.), Tutorials in Bilingualism. Mahwah, N. J.: Lawrence Erlbaum, 201-224. Purcell, Edward T. & Suter, Richard W. (1980), Predictors of pronunciation accuracy: A reexamination. Language Learning 30: 2, 271-287. Quasthoff, Uta (1980), Erzählen in Gesprächen: Linguistische Untersuchungen zu Strukturen und Funktionen am Beispiel einer Kommunikationsform des Alltags. Tübingen: Narr. Quetz, Jürgen (2004), Polyglott oder Kauderwelsch? In: Königs, Frank; Krumm, Hans-Jürgen & Bausch, Karl-Richard (Hrsg.), Mehrsprachigkeit im Fokus. Arbeitspapiere der 24. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr, 181-190. Quist, Pia & Jørgensen, Normann J. (2009), Crossing-- Negotiating social boundaries. In: Auer, Peter & Wie, Li (Hrsg.), Handbook of multilingualism and multilingual communication. New York: de Gruyter, 371-389. Raible, Wolfgang (1992), Junktion. Eine Dimension der Sprache und ihre Realisierungsformen zwischen Aggregation und Integration. Heidelberg: Winter. Ramat, Anna Giacalone & Galèas, Grazia Crocco (Eds.) (1995), From Pragmatics to Syntax: Modality Second Language Acquisition. Tübingen: Narr. Rapti, Aleka (2005), Entwicklung der Textkompetenz griechischer, in Deutschland aufwachsender Kinder. Untersucht anhand von schriftlichen, argumentativen Texten in der Muttersprache Griechisch und der Zweitsprache Deutsch. Frankfurt am Main [u. a.]: Peter Lang. Rash, Felicity (2002), German-Roman language borders in Switzerland. In: Treffers-Daller, Jeanine & Willemyns, Roland (Eds.), Language Contact at the Romance-Germanic Language Border. Clevedon: Multilingual Matters, 112-136. Redlinger, Wendy E. & Park, Tschang-zin (1980), Language mixing in young bilinguals. Journal of Child Language 1980: 7, 337-352. Reicher, Stephen; Spears, Russell & Haslam, Alexander (2010), The Social Identity Approach in Social Psychology. In: Wetherell, M. S. & Mohanty, C. T. (Eds.), Sage Identities Handbook. London: Sage. Reinhart, Tanya (1984), Principles of Gestalt Perception in the Temporal Organisation of Narrative Texts. Linguistics 22: 6, 779-809. 331 9. Literaturverzeichnis Reuter, Ewald (2010), Fachsprache der Wirtschaft und des Tourismus. In: Krumm, Hans-Jürgen; Fandrych, Christian; Riemer, Claudia & Hufeisen, Britta (Hrsg.), Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin: de Gruyter, 458-467. Rheinberg, Falko (2006), Intrinsische Motivation und Flow-Erleben. In: Heckhausen, Jutta & Heckhausen, Heinz (Hrsg.), Motivation und Handeln. Mit 43 Tabellen. Heidelberg: Springer, 331-392. Rice, Keren (2004), Ethical Issues in Linguistic Fieldwork: An Overview. [Online unter http: / / projects. chass.utoronto.ca/ lingfieldwork/ pdf/ 2.pdf. März 2004]. Ricento, Thomas (2006), Topical areas in language policy: An overview. In: Ricento, Thomas (Ed.), An Introduction to Language Policy: Theory and Method. Oxford ( UK ), Cambridge (Mass.): Blackwell Publishing, 231-237. Riehl, Claudia M. (2001), Schreiben, Text und Mehrsprachigkeit. Zur Textproduktion in mehrsprachigen Gesellschaften am Beispiel der deutschsprachigen Minderheiten in Südtirol und Ostbelgien. Tübingen: Stauffenburg. Riehl, Claudia M. (2013b), Multilingual discourse competence: Exploring the factors of variation. European Journal of Applied Linguistics 2, 254-292. Riehl, Claudia M. (2014), Sprachkontaktforschung. Eine Einführung (3. überarb. Aufl.), Tübingen: Narr. Riehl, Claudia Maria (2009), Sprachkontaktforschung. Eine Einführung. Tübingen: Narr. Riehl, Claudia Maria (2013a), Sprachkontaktforschung. Eine Einführung (3. überarb. Aufl.). Tübingen: Narr. Riehl, Claudia; Barberio, Teresa; Tasiopolou, Eleni & Yilmaz-Woerfel, Seda (demnächst), Mehrschriftlichkeit. Wechselwirkungen zwischen L1 und L2 und außersprachlichen Faktoren. Münster: Waxmann. Riemer, Claudia (2004), Thesen zu Mehrsprachigkeiten mit DaF, DaZ, DaH und DaM. In: Königs, Frank; Krumm, Hans-Jürgen & Bausch, Karl-Richard (Hrsg.), Mehrsprachigkeit im Fokus. Arbeitspapiere der 24. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr, 197-205. Roche, Jörg (1989), Xenolekte. Struktur und Variation im Deutsch gegenüber Ausländern. Berlin, New York: Walter de Gruyter. Roche, Jörg (1998), Variation in Xenolects (Foreigner Talk). In: Ammon, Ulrich (Hrsg.), Sociolinguistica. Tübingen: Niemeyer, 117-139. Roche, Jörg (2001), Interkulturelle Sprachdidaktik. Eine Einführung. Tübingen: Narr. Roche, Jörg (2005), Fremdsprachenerwerb und Fremdsprachendidaktik. Tübingen: UTB Basics. Roche, Jörg (2008), Fremdsprachenerwerb, Fremdsprachendidaktik (2. Aufl.). Tübingen: Francke. Roche, Jörg (2010), Emergente Textualität in der Lernersprache. Von Chunks und Situativität zum Text. In: Foschi Albert, Marina; Hepp, Marianne; Neuland, Eva & Dalmas, Martine (Hrsg.), Text und Stil im Kulturvergleich. Pisaner Fachtagung 2009 zu interkulturellen Wegen germanistischer Kooperation. München: Iudicium, 47-65. Roche, Jörg (2013), Mehrsprachigkeitstheorie-- Erwerb, Kognition, Transkulturation, Ökologie. Tübingen: Narr. Roche, Jörg; Reher, Janina & Simic, Mirjana (2012), Focus on Handlung. Zum Konzept des handlungsorientierten Erwerbs sprachlicher, sozialer und demokratischer Kompetenzen im Rahmen einer Kinder-Akademie. Münster: LIT . Roelofs, Ardi (1992), A spreading-activation theory of lemma retrieval in speaking. Cognition 42: 1, 107-142. 332 9. Literaturverzeichnis Romaine, Suzanne (1995), Bilingualism (2. Aufl.). Oxford, UK , Cambridge, Mass.: Blackwell Publishing. Romaine, Suzanne (2002), The impact of language policy on endangered languages. International Journal on Multicultural Societies 4: 2, 194-212 [ Online unter http: / / unesdoc.unesco.org/ images/ 0013/ 001387/ 138795E.pdf#page=49. 26. Juni 2017]. Rosch, Eleanore (Ed.) (1975), Basic Objects in Natural Categories. Berkeley: University of California Press. Rosenberg, Peter & Schroeder, Christoph (Hrsg.), (2016), Mehrsprachigkeit als Ressource in der Schriftlichkeit. Berlin: De Gruyter. Rück, Heribert (2004), Neugier auf Sprachen wecken, und zwar früh! In: Königs, Frank; Krumm, Hans-Jürgen & Bausch, Karl-Richard (Hrsg.), Mehrsprachigkeit im Fokus. Arbeitspapiere der 24. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr, 206-215. Sachtleber, Susanne (1993), Die Organisation wissenschaftlicher Texte. Eine kontrastive Analyse. Frankfurt am Main [u. a.]: Lang. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (Hrsg.) (2016), Integration im föderalen System: Bund, Länder und die Rolle der Kommunen. Jahresgutachten 2016 mit Integrationsbarometer. [Online unter https: / / www.svr-migration.de/ wp-content/ uploads/ 2016/ 04/ SVR_JG_2016-mit-Integrationsbarometer_WEB.pdf. 1. Juni 2017]. Salzmann, Zdenek (2007), Language, Culture, and Society: An Introduction to Linguistic Anthropology. Oxford: Wetview Press. Sancak, Melek (2004), Techniken und Strategien in der Kommunikation zwischen deutschen Ärzten und türkischen Patienten. Unveröffentlichte Magisterarbeit, München: Ludwig-Maximilians Universität München. Sankoff, David & Poplack, Shana (1981), A formal grammar for codeswitching. Papers in Linguistics 14, 3-45. Schachter, Jacquelyn (1996), Maturation and the issue of universal grammar in second language acquisition. In: Ritchie, William C. & Bhatia, Tej K. (Eds.), Handbook of Second Language Acquisition. San Diego: Academic Press, 159-193. Schader, Basil (2006), Albanischsprachige Kinder und Jugendliche in der Schweiz. Hintergründe, schul- und sprachbezogene Untersuchungen. In Zusammenarbeit mit Andrea Haenni Hoti. Zürich: Verlag Pestalozzianum. Scheller, Julija (2008), Animationen in der Grammatikvermittlung. Multimedialer Spracherwerb am Beispiel von Wechselpräpositionen. Berlin, Münster: LIT . Scheller, Julija (2009), Animationen in der Grammatikvermittlung: Multimedialer Spracherwerb am Beispiel von Wechselpräpositionen. Berlin, Münster: LIT . Schiffko, Manfred (2008), „… Oder muss ich expliziter werden? “ Formfokussierung als fremdsprachendidaktisches Konzept: Grundlagen und exemplarische Unterrichtstechniken. Fremdsprache Deutsch 38, 36-48. Schlobinski, Peter (1989), Frau Meier hat Aids, Herr Tropfmann hat Herpes, was wollen Sie einsetzen? 'Exemplarische Analyse eines Sprechstils. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 41, 1-34. Schmid, Monika S. (2011), Language Attrition. Cambridge: Cambridge University Press. Schmölzer-Eibinger, Sabine (2011), Lernen in der Zweitsprache. Grundlagen und Verfahren der Förderung von Textkompetenz in mehrsprachigen Klassen. 2. Aufl. Tübingen: Narr. Schneider, Walter & Shiffrin, Richard M. (1977), Controlled and automatic human processing. I: Detection, search, and attention. Psychological Review 84: 2, 1-66. 333 9. Literaturverzeichnis Schnotz, Wolfgang (2005), An integrated model of text and picture comprehension. In: Mayer, Richard E. (Eds.), The Cambridge Handbook of Multimedia Learning. Cambridge, UK , New York: Cambridge University Press, 49-69. Schumann, John H. (1978), The pidginization process: A model for second language acquisition. Rowley, Mass.: Newbury House Publishers. Schwegler, Armin (2000), The myth of decreolization: The anomalous case of Palenquero. In: Neumann-Holzschuh, Ingrid & Schneider, Edgar W. (Hrsg.), Degrees of restructuring in Creole languages. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins, 409-436. Sebba, Mark (2012), Researching and theorising mixed-language texts. In: Sebba, Mark; Mahootian, Shahrzad & Jonsson, Carla (Eds.), Language mixing and code-switching in writing: Approaches to mixed-language written discourse. New York, London: Routledge, 1-26. Seel, Norbert M. (2000), Psychologie des Lernens. Lehrbuch für Pädagogen und Psychologen. München, Basel: Reinhardt. Seidlhofer, Barbara (2005), English as a lingua franca. ELT Journal 59: 4, 339-334. Seim, Carsten (2008), Politik-Check Schule. Reformmonitor Allgemeinbildendes Schulsystem. Institut der Deutschen Wirtschaft Köln; Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft ( INSM ) (Hrsg.), [Online unter http: / / www.insmbildungsmonitor.de/ files/ pdf/ spc_kurzfassung.pdf. 2. Juni 2016]. Selinker, Larry & Han, ZhaoHong (2005), Fossilization in L2 learners. In: Hinkel, Eli (Ed.), Handbook of Research in Second Language Teaching and Learning. Mahwah, NJ : Lawrence Erlbaum, 455-470. Selinker, Larry (1972), Interlanguage. International Review in Applied Linguistics 10, 209-231. Selinker, Larry (1985), Attempting comprehensive and comparative empirical research in second language acquisition: A review of second language acquisition by adult immigrants: A field manual. Language Learning 35: 4, 567-584. Selinker, Larry (1992), Rediscovering Interlanguage. London, New York: Longman. Selinker, Larry (1996), On the notion of ‘ IL competence‘ in early SLA research: An aid to understanding some baffling current issues. In: Brown, Gillian; Malmkjaer, Kirsten & Williams, John (Eds.), Performance and Competence in SLA . Cambridge, UK , New York: Cambridge University Press, 92-113. Selting, Margret; Auer, Peter; Barden, Birgit; Bergmann, Jörg; Couper-Kuhlen, Elizabeth; Günthner, Susanne; Meier, Christoph; Quasthoff, Uta; Schlobinski, Peteri & Uhmann, Susanne (1998), Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem ( GAT ). Linguistische Berichte 173, 91-122. Shohamy, Elana (2006), Language Policy: Hidden Agendas and New Approaches. London: Routledge. Sieber, Peter (1998), Parlando in Texten: Zur Veränderung kommunikativer Grundmuster in der Schriftlichkeit. Tübingen: Niemeyer. Siebold, Guy L. (2007), The essence of military group cohesion. Armed Forces & Society 33: 2, 286-295. Siewert, Klaus (1991), Masematte. Zur Situation einer regionalen Sondersprache. Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 58: 1, 44-56. Siguán, Miguel (2001), Bilungüismo y lenguas en coontacto. Madrid: Alianza. Simons, Gary & Lewis, Paul M. (2013), The world languages in crisis. In: Mihas, Elena; Perley, Bernard; Rei-Doval, Gabriel & Wheatley, Kathleen (Eds.), Responses to Language Endangerment: In Honor of Mickey Noonan. Amsterdam: John Benjamins, 3-19. Simons, Gary F. & Fennig, Charles D. (Eds.) (2017), Ethnologue: Languages of the World (20th edition). Dallas, TX : SIL International [Online unter www.ethnologue.com. 2017]. Sinner, Carsten (2014), Varietätenlinguistik. Eine Einführung. Tübingen: Narr. 334 9. Literaturverzeichnis Sinus-Institut Sociovision (Hrsg.) (2008), Zentrale Ergebnisse der Sinus-Studie über Migranten-Milieus in Deutschland. [Online unter http: / / www.sinus-institut.de/ veroeffentlichungen/ downloads/ download/ zentrale-ergebnisse-der-sinus-studie-ueber-migranten-milieus-in-deutschland-2008/ download-file/ 180/ download-a/ download/ download-c/ Category/ . 1. Juni 2017]. Skehan, Peter (1989), Individual differences in second language learning. London: Edward Arnold. Skutnabb-Kangas, Tove & Toukomaa, Pertti (1977), Teaching Migrant Children’s Mother-tongue and Learning the Language of the Host Country in the Context of the Socio-cultural Situation of the Migrant Family ( UNESCO -Report / Forschungsbericht). Tampere: Universität Tampere. Skutnabb-Kangas, Tove (1981), Bilingualism or Not: The Education of Minorities. Bristol: Multilingual Matters. Skutnabb-Kangas, Tove (2006), Language policy and linguistic human rights. In: Ricento, Thomas (Ed.), An Introduction to Language Policy. Oxford ( UK ), Cambridge (Mass.): Blackwell Publishing, 273-291. Smith, Neil & Tsimpli, Ianthi-Maria (1995), The Mind of a Savant: Language Learning and Modularity. Malden: Blackwell. Snow, Catherine E. & Ferguson, Charles A. (1977), Talking to children. Language input and acquisition: Papers from a conference sponsored by the Committee on Sociolinguistics of the Social Science Research Council ( USA ). Cambridge, New York: Cambridge University Press. Spiekermann, Helmut (2010), Variation in der deutschen Sprache. In: Krumm, Hans-Jürgen; Fandrych, Christian; Riemer, Claudia & Hufeisen, Britta (Hrsg.), Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin: de Gruyter, 343-359. Spolsky, Bernard (2004), Language Policy. Cambridge: Cambridge University Press. Steinmüller, Ulrich (1992), Spracherwerbsbiographie und Zweisprachigkeit. In: Spracherwerb und Sprachdidaktik. Deutsch als Fremdsprache und als Zweitsprache. Berliner Beiträge zu Deutsch als Fremdsprache. Reihe Geistes- und Sozialwissenschaften. Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin 5, 25-40. Stolle, Anne-Katrin (2013), Integrationspolitik und -praxis im europäischen Vergleich. Theoretische Diskussion und Darstellung anhand exemplarischer Gesetze und bildungspolitischer Richtlinien. Zeitschrift für interkulturellen Fremdsprachenunterricht 1. Stoller, Robert (1968), Sex and Gender. New York: Science House. Street, Richard L. & Giles, Howard (1982), Speech accommodation theory: A social cognitive approach to language and speech behavior. In: Roloff, Michael E. & Berger, Charles R. (Eds.), Social Cognition and Communication. Beverly Hills, CA : Sage, 193-226. Sweller, John (2005), Implications of cognitive load theory for multimedia learning. In: Mayer, Richard E. (Ed.), The Cambridge Handbook of Multimedia Learning. Cambridge, UK , New York: Cambridge University Press, 19-30. Tajfel, Henri; Turner, John C. (1979), An integrative theory of intergroup conflict. The social psychology of intergroup relations 33: 47, 33-74. Tarone, Elaine (1994), A summary: Research approaches in studying second-language acquisition or “If the shoe fits-…”. In: Tarone, Elaine; Gass, Susan M. & Cohen, Andrew D. (Eds.), Research Methodology in Second-Language Acquisition. Hillsdale, NJ : Lawrence Erlbaum, 323-336. Tarone, Elaine E. (1978), Conscious communication strategies in interlanguage: A progress report. In: Brown, H. Douglas; Yorio, Carlos Alfredo & Crymes, Ruth H. (Eds.), On TESOL '77: Teaching and Learning English As a Second Language: Trends in Research and Practice. Washington: TESOL , 194-203. 335 9. Literaturverzeichnis Taylor, Douglas (1961), New languages for old in the West Indies. Comparative Studies in Society and History 3, 277-288. Terrasi-Haufe, Elisabetta (2004), Der Schulerwerb von Deutsch als Fremdsprache. Eine empirische Untersuchung am Beispiel der italienischsprachigen Schweiz. Tübingen: Niemeyer. Terrasi-Haufe, Elisabetta (im Druck), Prinzipien des Fremdsprachenerwerbs. In: Roche, Jörg (Hrsg.), Grundlagen und Konzepte des DaF-Unterrichts. München: Goethe-Institut. Thep-Ackrapong, Tipa (1990), Fossilization: A Case Study of Practical and Theoretical Parameters. Illinois State University Normal: Dissertation. Thye, Shane R.; Yoon, Jeongkoo & Lawler, Edward J. (2002), The theory of relational cohesion: Review of a research program research program. In: Thye, Shane R.; Yoon, Jeongkoo & Lawler, Edward J. (Hrsg), Advances in group processes. Bingley: Emerald, 139-166. Todd, Loreto (1994), Pidgins and creoles. In: Asher, Ron (Ed.), The Encyclopedia of Language and Linguistics. (6th Vol.). Oxford: Pergamon, 177-181. Tomasello, Michael (2003), Constructing a language: A usage-based theory of language acquisition. Cambridge, Mass: Harvard University Press. Tomasello, Michael (2006), Acquiring linguistic constructions. In: Kuhn, Deanna & Siegler, Robert (Eds.), Handbook of Child Psychology: Cognition, perception, and language. (Vol. 2.). New York: Wiley, 256-298. Traboulsi, Fawwaz (2014), Social Classes and Political Power in Lebanon. Heinrich Böll Stiftung. [Online unter https: / / lb.boell.org/ en/ 2014/ 05/ 04/ social-classes-and-political-power-lebanon, 20. Oktober 2017]. Traoré, Salifou (2000), Die kritische Periode beim Erlernen einer fremden Sprache. Alte Fragen und neue Antworten. Deutsch als Fremdsprache 2000: 4, 234-239. Trinh, Thi Giang Thanh (2011), An Adult's Language Variability and Development. University of Groningen: Unpublished MA . Trömel-Plötz, Senta (1982), Frauensprache-- Sprache der Veränderung. Frankfurt am Main: Fischer. Trudgill, Peter (2002), Sociolinguistic Variation and Change. Georgetown: Georgetown University Press. Tufts, Gayle (2008), Auftritt von Gayle Tufts beim großen Kleinkunstfestival der Wühlmäuse 2008 [Online unter https: / / www.youtube.com/ watch? v=_UiiuG4Tqjo. 22. September 2017]. Turetzky, Philip (1998), Time. New York: Routledge UN (1948), Generalversammlung. Dritte Tagung. Resolution der Generalversammlung. 217 A ( III ). Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte [Online unter www.un.org/ depts/ german/ menschenrechte/ aemr.pdf. 22. September 2017]. UNESCO (1960), Übereinkommen gegen Diskriminierung im Unterrichtswesen [Online unter https: / / www.parlament.gv.at/ PAKT/ VHG/ XXIV/ I/ I_01061/ imfname_204582.pdf. 22. September 2017]. Van Dijk, Teun A. (2008). Discourse and Context: A sociocognitive Approach. Cambridge: Cambridge University Press. van Els, Theo & de Bot, Kees (1987), The role of intonation in foreign accent. The Modern Language Journal: 71: 2, 147-155. van Els, Theo; Bongaerts, Theo; Extra, Guus; van Os, Charles & Janssen-van Dieten, Anne-Mieke (1984), Applied Linguistics and the learning and teaching of foreign languages. London: Edward Arnold. van Geert, Paul (1994), Vygotskian dynamics of development. Human Development 37, 346-365. van Geert, Paul (1998), A dynamic systems model of basic developmental mechanisms: Piaget, Vygotsky and beyond. Psychological Review 5, 634-677. 336 9. Literaturverzeichnis Van Gelder, Tim & Port, Robert (1995), It’s about time: An overview of the dynamical approach to cognition. In: Port, Robert & van Gelder, tim (Eds.), Mind as motion: Exploration in the dynamics of cognition (1-45). Cambridge, Mass.: MIT Press. Van Gelder, Timothy (1998), The dynamical hypothesis in cognitive science. Behavioral and Brain Sciences 21, 615-656. VanPatten, Bill & Sanz, Christina (1995), From input to output: Processing instruction and communicative tasks. In: Eckman, Fred R.; Highland, Diane; Lee, Peter W.; Mileham, Jean & Weber, Rita R. (Eds.), Second language acquisition theory and pedagogy. New York, London: Routledge, 169-185. Veith, Werner H. (2005), Soziolinguistik. Ein Arbeitsbuch. 2. Aufl. Tübingen: Narr. Ventureyra, Valérie & Pallier, Christophe (2004), In search of the lost language: The case of adopted Koreans in France. In: Schmid, Monica S. et al., First Language Attrition: Interdisciplinary Perspectives on Methodological Issues. Amsterdam: John Benjamins, 207-221. Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. (Hrsg.) (2007), Bildungsgerechtigkeit. Jahresgutachten 2007. Wiesbaden: Aktionsrat Bildung. [Online unter http: / / www.aktionsrat-bildung.de/ fileadmin/ Dokumente/ Bildungsgerechtigkeit_Jahresgutachten_2007_-_Aktionsrat_Bildung.pdf. 19. Mai 2017]. Véronique, Daniel (1990), Reference and discourse structure in the learning of French by adult Moroccans. In: Dechert, Hans W. (Ed.), Current Trends in European Second Language Acquisition Research. Clevedon, Philadelphia: Multilingual Matters Ltd., 171-201. Verreyt, Nele; Woumans, Evy; Vandelanotte, Davy; Szmalec, Arnaud & Duyck, Wouter; (2016), The influence of language-switching experience on the bilingual executive control advantage. Bilingualism: Lang Cogn 19: 1, 181-190. Verspoor, Marjolijn & Behrens, Heike (2011), Dynamic systems and a usage-based approach to second language development. In: Verspoor, Marjolijn; Lowie, Wander & de Bot, Kees (Eds.), A Dynamic Approach to Second Language Development: Methods and Techniques. Amsterdam: John Benjamins, 25-38. Verspoor, Marjolijn; de Bot, Kees & Lowie, Wander (2011), A dynamic approach to second language development: Methods and techniques. Amsterdam, Philadelphia: Benjamins. vhw-Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e. V. (2016), Migranten-Lebenswelten in Deutschland 2016. Projektphase 1: Qualitative Leitstudie. Berlin: Zwischenbericht. [Online unter www.vhw.de/ fileadmin/ user_upload/ 06_forschung/ Gesellschaftliche_Vielfalt/ Zwischenbericht_ Migranten-Lebenswelten_in_Deutschland_2016.pdf. 22. September 2017]. Vogel, Klaus & Börner, Wolfgang (1993), Wortschatz und Fremdsprachenerwerb. Bochum: AKS -Verlag. Volterra, Virginia & Taeschner, Traute (1978), The acquisition and development of language by bilingual children. Journal of Child Language 5: 2, 311-326. von Stutterheim, Christiane (1986). Temporalität in der Zweitsprache. Eine Untersuchung zum Erwerb des Deutschen durch türkische Gastarbeiter. Berlin, New York: de Gruyter. Wächli, Bernhard (2005), Relexicalization vs. Relexification: The Case of Stadin Slangi Finnish. Manuskript. Leipzig: Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology. Wandruszka, Mario (1979), Die Mehrsprachigkeit des Menschen. München: Piper. Wardhaugh, Ronald (2006), An Introduction to Sociolinguistics. Oxford: Blackwell. Wardhaugh, Ronald (2008), An Introduction to Sociolinguistics. 5. ed., [reprinted]. Malden, Mass.: Blackwell. 337 9. Literaturverzeichnis Wartenburger, Isabell (2004), Einfluss von Spracherwerbsalter und Sprachleistungsniveau auf die kortikale Repräsentation von Grammatik und Semantik in der Erst- und Zweitsprache. Humboldt-Universität, Berlin, Medizinische Fakultät Charité: Dissertation [Online unter http: / / edoc.hu-berlin. de/ dissertationen/ wartenburger-isabell-2004-01-26/ PDF/ Wartenburger.pdf. 26. Januar 2017]. Weinreich, Uriel (1953), Languages in Contact: Findings and Problems. New York: Mouton de Gruyter. Weinrich, Harald (1981), Von der Langeweile des Sprachunterrichts. Zeitschrift für Pädagogik 27, 169-185. Weltens, Bert (1989), The Attrition of French as a Foreign Language. Dordrecht: Foris. Werner, Dirk; Neumann, Michael & Schmidt, Jörg (2008), Volkswirtschaftliche Potenziale am Übergang von der Schule in die Arbeitswelt. Eine Studie zu den direkten und indirekten Kosten des Übergangsgeschehens sowie Einspar- und Wertschöpfungspotenzialen bildungspolitischer Reformen. Köln: Bertelsmann Stiftung. West, Candace & Zimmerman, Don (1987), Doing Gender. Gender and Society, 1: 2, 125-151. Whinnom, Keith (1956), Spanish Contact Vernaculars in the Philippine Islands. Hong Kong: Hong Kong University Press. White, Lydia (1989), Universal grammar and second language acquisition. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins. Wiese, Heike (2006), „Ich mach dich Messer“: Grammatische Produktivität in Kiez-Sprache („Kanak Sprak“). Linguistische Berichte 207, 245-273. Wiese, Heike (2012), Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht. München: C. H. Beck. Williams, Sarah & Hammarberg, Björn (1998), Language switches in L3 production: Implications for a polyglot speaking model. Applied Linguistics 19: 3, 295-333. Winford, Donald (2000), “Intermediate“ creoles and degrees of change in creole formation: The case of Bajan. In: Neumann-Holzschuh, Ingrid & Schneider, Edgar W. (Hrsg.), Degrees of restructuring in Creole languages. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins, 215-246. Winkler, Steffi (2011), Progressionsfolgen im DaF-Unterricht. Eine Interventionsstudie zur Vermittlung der deutschen (S) OV -Wortstellung. In: Hahn, Natalia & Roelcke, Thorsten (Hrsg.), Grenzen überwinden mit Deutsch. 37. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache an der Pädagogischen Hochschule Freiburg / Br. 2010. Göttingen: Universitätsverlag Göttingen, 193-208. Wippermann, Carsten & Flaig, Berthold Bodo (2009), Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten. Aus Politik und Zeitgeschichte 5, 3-11. Woerfel, Till; Koch, Nikolas; Yilmaz-Woerfel, Seda & Riehl, Claudia M. (2014), Mehrschriftlichkeit bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern: Wechselwirkungen und außersprachliche Einflussfaktoren. Lili-- Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 174, 44-65. Wolff, Dieter (2006), Mehrsprachigkeit, Spracherwerb und Sprachbewusstheit. In: Neuland, Eva (Hrsg.), Variation im heutigen Deutsch. Perspektiven für den Sprachunterricht. Sprache-- Kommunikation-- Kultur 4. Frankfurt am Main: Peter Lang, 51-66. Wong-Fillmore, Lily (1979), Individual differences in second language acquisition. In: Fillmore, Charles J.; Kempler, Daniel & Wang, William S.-Y (Eds.), Individual Differences in Language Ability and Language Behavior. New York: Academic Press, 203-228. Zaimoglu, Feridun (2011), Kanak Sprak. Köln: Kiepenheuer & Witch. Zerubavel, Eviatar (1989), The seven day cycle: The history and meaning of the week. Chicago: University of Chicago Press. Zhang Shuping, Jiangsu (2009), Die Verwendung von chinesischen Sprichwörtern für den Deutschunterricht. Unveröffentlichter Vortrag bei der Tagung Deutsch-chinesisches Germanistentreffen 338 9. Literaturverzeichnis Peking 17.-20. September 2009. Deutscher Akademischer Austausch Dienst ( DAAD ): Zentrum für Deutschlandstudien / Peking Universität. Zivilpakt (1966), Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte [Online unter www.zivilpakt.de/ internationaler-pakt-ueber-buergerliche-und-politische-rechte-355. 22. September 2017]. Zuercher, Kenneth (2009), Code-Switching and Code-Mixing in Azerbaijan. University of Texas at Arlington: Unpublished Dissertation presented to the Graduate School of the University of Texas at Arlington. 339 10. Abbildungsverzeichnis 10. Abbildungsverzeichnis 1.1: Einsprachiges Netzwerk; Eigene Abbildung. 1.2: Mehrsprachiges Netzwerk; Eigene Abbildung. 1.3: Die Schweiz als mehrsprachiger Staat mit Territorialprinzip ( FDFA , PRS 2015; https: / / www.eda. admin.ch/ content/ dam/ PRSWeb/ Bilder/ Infografiken/ de/ 1.2.1_DE.jpg. 9. November 2017. 1.4: Namibia als mehrsprachiger Staat mit individueller Mehrsprachigkeit; http: / / www.digi-tal.ch/ export/ sites/ digi-tal/ img/ country/ africa/ na_map.gif. 1. Januar 2017. 2.1: Muslimisches Leben in Deutschland; Haug, Sonja; Müssig, Stephanie & Stichs, Anja (2010), Muslimisches Leben in Deutschland. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.). [Online unter: https: / / www.bamf.de/ SharedDocs/ Anlagen/ DE/ Publikationen/ Forschungsberichte/ fb06muslimisches-leben.pdf ? __blob=publicationFile. 1. Juni 2017], 161. 2.2: Kulturelle Identität in der Milieulandschaft; vhw-Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e. V. (2016), Migranten-Lebenswelten in Deutschland 2016. Projektphase 1: Qualitative Leitstudie. Berlin: Zwischenbericht. [Online unter http: / / www.vhw.de/ fileadmin/ user_upload/ 06_ forschung/ Gesellschaftliche_Vielfalt/ Zwischenbericht_Migranten-Lebenswelten_in_Deutschland_2016.pdf. Dezember 2016], 6. 2.3: Soziale Lage und Grundorientierung der Sinus-Migranten-Milieus in Deutschland; Wippermann, Carsten & Flaig, Berthold Bodo (2009), Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten. Aus Politik und Zeitgeschichte 5, 8. 2.4: Formulierung der sechs Niveaustufen im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen; GER (2017), Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen. Globalskala [Online unter http: / / www. europaeischer-referenzrahmen.de/ sprachniveau.php. 11. Mai 2017]. 2.5: Schwellen- und Interdependenzhypothese; Skutnabb-Kangas, Tove & Toukomaa, Pertti (1977), Teaching Migrant Children’s Mother-tongue and Learning the Language of the Host Country in the Context of the Socio-cultural Situation of the Migrant Family ( UNESCO -Report / Forschungsbericht). Tampere: Universität Tampere. 2.6: Erwerb einer L1 nach dem Faktorenmodell; Hufeisen, Britta (2010), Theoretische Fundierung multiplen Sprachenlernens-- Faktorenmodell 2.0. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Intercultural German Studies 36. München: Indicium, 202. 2.7: Lernen weiterer Sprachen (L2) nach dem Faktorenmodell; Hufeisen, Britta (2010), Theoretische Fundierung multiplen Sprachenlernens-- Faktorenmodell 2.0. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Intercultural German Studies 36. München: Indicium, 205. 2.8: Darstellung der Dynamik individueller Faktoren in der Entwicklung multilingualer Systeme nach Herdina & Jessner (2002: 138); Herdina, Philip & Jessner, Ulrike (2002). A dynamic model of multilingualism: Perspectives of change in psycholinguistics. Clevedon: Multilingual Matters, 138. 3.1: Die Entwicklung der Erwerbssequenzen im Deutschen; Pienemann, Manfred (2005), Crosslinguistic Aspects of Processability Theory. Amsterdam, Philadelphia: Benjamins, 30. 3.2: Grundprinzipien von Sequenzmodellen des Sprachenerwerbs; Eigene Abbildung. 3.3: Beispiel für einen Erwerbsverlauf: Schüler A, schriftlich (bei Zunahme an Teilsatzlänge und an hypoaktischer Komplexität; Terrasi-Haufe, Elisabetta (im Druck), Prinzipien des Fremdsprachenerwerbs. In: Roche, Jörg (Hrsg.), Grundlagen und Konzepte des DaF-Unterrichts. München: Goethe-Institut. 3.4: Beispiel für einen Erwerbsverlauf: Schüler A, mündlich (bei Zunahme an Teilsatzlänge und an hypotaktischer Komplexität; Terrasi-Haufe, Elisabetta (im Druck), Prinzipien des Fremdsprachen- 340 10. Abbildungsverzeichnis erwerbs. In: Roche, Jörg (Hrsg.), Grundlagen und Konzepte des DaF-Unterrichts. München: Goethe-Institut. 3.5: Bildergeschichte Important to have friends; Faisal, Mohammad (2001-2015), Important to have friends [Online unter http: / / www.faisalmb.com/ image.axd? picture=important+to+have+friends. JPG. 21 Februar 2008]. 3.6: Schüler B, schriftlich (bei Zunahme an Teilsatzlänge und tendenzieller Zunahme an hypotaktischer Komplexität; Terrasi-Haufe, Elisabetta (im Druck), Prinzipien des Fremdsprachenerwerbs. In: Roche, Jörg (Hrsg.), Grundlagen und Konzepte des DaF-Unterrichts. München: Goethe-Institut. 3.7: Schüler B (bei Zunahme an Teilsatzlänge und tendenzieller Abnahme an hypotaktischer Komplexität (Terrasi-Haufe im Druck); Terrasi-Haufe, Elisabetta (im Druck), Prinzipien des Fremdsprachenerwerbs. In: Roche, Jörg (Hrsg.), Grundlagen und Konzepte des DaF-Unterrichts. München: Goethe-Institut. 5.1: Unterschiede in den Textordnungsschemata; Eigene Abbildung. 5.2: Unterschiede bei den Ebenen von Selbstreferenz; Eigene Abbildung. 6.1: Türkische Varietäten; https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Turkish_dialects#/ media/ File: Turkey_Turkish_dialects_map_(Main_subgroups)_en.jpg. 1. Januar 2017. 6.2: Sprachvariation am Beispiel Wilhelm Tell: die literarische Sprache des Originals in den Einleitungs- und Übergangspassagen, die Szenesprache der 80er und 90er Jahre in den Dialogen; Claus, Uta & Kutschera, Rolf (1985), Bockstarke Klassiker. Frankfurt am Main: Eichborn, 272. 6.3: Transkript eines Interviews mit zwei Bergleuten im Ruhrgebiet; Schlickau, Stephan (1995), Linguistische Feldforschung 'vor Ort': Bergleute, ihre Sprache und ihre Kommunikation im Ruhrgebiet und in Yorkshire. In: Ehlich, Konrad; Elmer, Wilhelm & Noltenius, Rainer (Hrsg.), Sprache und Literatur an der Ruhr. Essen: Klartext, 105 f. 6.4: Der deutsche Sprachraum: Benrather und Germersheimer Linie; Protze Helmut (2001), Das Deutsche in Deutschland und seine regionale Varianten. In: Helbig, Gerhard; Götze, Lutz; Henrici, Gert & Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.), Deutsch als Fremdsprache: ein internationales Handbuch. Berlin, New York: de Gruyter, 514. 7.1: Die verschiedenen Formen des Ethnolekts; Auer, Peter (2003), ‚Türkenslang‘: Ein jugendsprachlicher Ethnolekt des Deutschen und seine Transformationen. In: Häcki-Buhofer, Annelies (Hrsg.), Sprachenerwerb und Lebensalter. Tübingen: Francke, 257. 7.2: Ich mach dich Messer als Funktionsverbgefüge; Wiese, Heike (2006), „Ich mach dich Messer“: Grammatische Produktivität in Kiez-Sprache („Kanak Sprak“). Linguistische Berichte 207, 266. 7.3: Das Verb machen als Funktions- und Vollverben; Wiese, Heike (2006), „Ich mach dich Messer“: Grammatische Produktivität in Kiez-Sprache („Kanak Sprak“). Linguistische Berichte 207, 260. 7.4: Präferenzfolge von xenolektalen Merkmalen in den Fabrikdaten; Roche, Jörg (1998), Variation in Xenolects (Foreigner Talk). In: Ammon, Ulrich (Hrsg.), Sociolinguistica. Tübingen: Niemeyer, 99. 7.5: Subjektive Sprachstandsbewertung von sechs nichtdeutschsprachigen Adressaten und einem deutschsprachigen Sprecher durch eine Kontrollgruppe von deutschsprachigen Bewertern. Die Bewertung basiert auf der Verständlichkeit der Sprache der Informanten auf einer Skala von 0 bis 6; Roche, Jörg (1998), Variation in Xenolects (Foreigner Talk). In: Ammon, Ulrich (Hrsg.), Sociolinguistica. Tübingen: Niemeyer, 100. 7.6: Adressatenspezifische Anpassung in Xenolekten; Roche, Jörg (1998), Variation in Xenolects (Foreigner Talk). In: Ammon, Ulrich (Hrsg.), Sociolinguistica. Tübingen: Niemeyer, 101. 341 10. Abbildungsverzeichnis 7.7: Karte der Pidgin- und Kreolsprachen weltweit; Michaelis, Susanne Maria; Maurer, Philippe; Haspelmath, Martin & Huber, Magnus (2017), Atlas of Pidgin and Creole Language Structures ( AP i CS ) Online [Online unter http: / / apics-online.info/ languages. 11. Juli 2017]. 7.8: Grade der Kreolisierung; Winford, Donald (2000), “Intermediate“ creoles and degrees of change in creole formation. The case of Bajan. In: Neumann-Holzschuh, Ingrid & Schneider, Edgar W. (Hrsg.), Degrees of restructuring in Creole languages. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins, 216. 8.1: Interaktionale Lernerstrategien; Eigene Abbildung. 8.2: Einsatz von Code-Switching als Kommunikationsstrategie; Eigene Abbildung. 8.3: Scaffolding; Lengyel, Drorit (2010), Bildungssprachförderlicher Unterricht in mehrsprachigen Lernkonstellationen. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 13: 4, 602. 8.4: Unterschiedliches kommunikatives Verhalten in einem informellen Gespräch von drei mehrsprachigen Studenten; Eigene Abbildung. 8.5: Das Kontinuum konzeptionelle Mündlichkeit / Schriftlichkeit; Koch, Peter & Oesterreicher, Wulf (2011), Gesprochene Sprache in der Romania. Französisch, Italienisch, Spanisch. Berlin: de Gruyter, 13. 8.6: Grundgesamtheit und Stichprobe; Eigene Abbildung. 343 Sachregister Abhängigkeit (dynamischer Systeme) von den Ausgangsbedingungen 134 Acrolekt 267 additiver Bilingualismus 70 additive Zweisprachigkeit 34 Affektmarkierung 293 Aggregation 288 Akkomodationsphänomene 26 Alltagssprache 231 Äquivalenz-Regel 163 Attraktor-Zustand (attractor state) 136 Attrition / Sprachverlust 151 Aufgeklärte Mehrsprachigkeit 63 ausbalancierte Zweisprachigkeit 34 äußere Mehrsprachigkeit 68 BBacksliding 118 Basilekt 267 Basisgrammatik 98 Basisvarietät (basic variety) 95 Beobachter-Paradoxon (observer's paradox) 302 BICS (basic interpersonal communicative skills) 287 Biliteralismus 188 biotisch-ökologisches Modell 83 CCALP (cognitive academic language proficiency) 287 Capabilities Ansatz 85 Caretaker Talk 258 Chunking 96 Chunks 96 Code-Mixing 162 Code-Switching 162 construction blend 96 DDachsprache 200 Dechunking 96 Dialektkontinuum 212 Diaphasik 201 Diastratik 201 Diatopik 201 Dictogloss 127 Diglossie 32 Diskursergänzungsverfahren 178, 179 Diskursmodus 292 dominante Zweisprachigkeit 34 Dynamic Model of Multilingualism (DMM) 82 dynamische Systemtheorie (dynamic systems theory, DST) 132 EEinschränkung bei gebundenen Morphemen 164 Emergentismus 147 FFachsprachenforschung 229 Faktorenmodell 79 Feedback 26 Feedforward 26 flüssiger (Sprach-)Wechsel (smooth switching) 167 Foreigner Talk 258 Foreignizing 241 Formfokussierung (auch focus on form) 127 Formulierungsmuster 188 Fossilisierung 118 Frames 280 GGenderlekt 228 Gesprächsanalyse 280 Gesprächsstil 228 Grundgesamtheit 301 Hhedges / Heckenausdrücke 229 H-Varietät (high variety) 32 Hybridisierung 261 IIdiolekt 206 Illokutionäre Funktionen 255 individuelle Mehrsprachigkeit 30 innere Mehrsprachigkeit 67 Inputflut 127 Inputintensivierung 127 institutionelle Mehrsprachigkeit 32 Integration 288 Interdependenzhypothese 70 344 Sachregister Interferenz 69 Interimssprachenmodell 104 Interkomprehension 64 Interviewer-Effekte 303 Isoglosse 213 Isoglossenbündel 213 JJugendsprache 226 KKiezdeutsch 226 Kommunikative Grundhaltung 292 komplexe adaptive Systeme (complex adaptive systems, CAS) 133 komplexe Systeme 133 Komplexitätstheorie (complexity theory, CT) 133 Kontextmodelle (context models) 280 Kontextualisierungshinweise 280 Kontrastivhypothese 69 Konvergenz 164 konzeptionelle Mündlichkeit / Schriftlichkeit 287 Koordinierte Alphabetisierung 190 Kreolisierung 264 Kreolsprachen 261 Kulturelles Kapital 87 Kulturelles Kapital der Mehrsprachigkeit 86 LLeitfadeninterviews 303 L-Varietät (low variety) 32 MMakrostruktur 291 mappings 97 mediale Mündlichkeit und Schriftlichkeit 287 Mehrschriftlichkeit (multiliteracy) 188 Mehrsprachigkeit 18 Mehrsprachigkeits-Vorteil 171 Mesolekt 267 monolingualer Modus 54 Motherese 258 multidimensionales Modell 104 Nnarrative Interviews 303 negativer Transfer 176 OÖkolinguistik 47 Performanzanalyse 177 Pidginisierung 263 Pidginsprachen 261 Polysystem 67 positiver Transfer 176 pragmatic mode (pragmatischer Modus) 100 primärer Ethnolekt 235 proficiency 75 Psychotopologie 177 RRapid Profile 105 Recall- und Recognition-Tests 157 recency 76 Reduktionssprachen 248 Resynthese 96 reversing language shifts (RLS) 42 Rollen-Funktions-Modell 81 SSandwich-Wort 165 Schreiberversus Leserorientierung 193 Schwellenhypothese 69 sekundärer Ethnolekt 235 Semilingualismus 70 Sensitivität hinsichtlich der Ausgangsbedingungen 145 Sinus-Studie 58 Sondersprachen 230 soziale Identität 223 soziale Kohäsion 222 Soziolekt 225 Sparansatz (savings-approach) 157 Spontangrammatik 65 Sprachabstand 217 Sprachausbau 217 Sprachbewusstheitsfördernde Aufgaben 127 Sprachenerhalt 47 Sprachenpolitik 63 Sprachentod 43 Spracherwerbsmechanismus (language aequisition device, LAD) 146 Sprachgemeinschaft 223 Sprachinseln 212 Sprachstandseinschätzung 253 sprachübergreifender Einflusses 179 Sprachumkehrung (language reversion) 155 Sprachverlagerung 152 345 Sachregister Sprachwechsel 50 Sprechergruppe 224 Stabilisierung 118 Standardsprache 200 stilistischer (Sprach-)wechsel (flagged switching) 167 Subset 23 Subset-Hypothese (Teilmengen-Hypothese) 23 Substrat 261 Subtraktive Zweisprachigkeit 34 Superstrat 260 Switching-Kosten 169 Synkretisierung 264 syntactic mode (syntaktischer Modus) 100 syntaktische Permutationen 106 TTerritoriale oder gesellschaftliche Mehrsprachigkeit 30 Territorialprinzip 30 tertiärer Ethnolekt 235 Tertiärsprachenforschung 79 Textkompetenz 289 tip-of-the-tongue-Phänomen (TOT) 155 Transfer 176 Transferdidaktik 64 Trigger-Hypothese 164 Triggerwörter (Auslöser) 164 Triglossie 32 Type-Token-Relationen 308 UUnausgeglichene Mehrsprachigkeit (truncated multilingualism) 34 Underdetermination und Degeneracy 257 Universalgrammatik 147 Usurpierung / Transgression 239 VVariante 207 Varietät 200 In der Spracherwerbs- und Mehrsprachigkeitsforschung spielen kognitive Aspekte schon lange eine bedeutende Rolle. In der Ausbildung von Sprachlehrkräften, in Lehrplänen, im Lernmaterial und im Unterricht ist von der Vielfalt kognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse bisher allerdings wenig angekommen. Dieser Band zeichnet ein kohärentes Bild davon, was beim Erwerb und dem Management von mehreren Sprachen in den Köpfen der Lerner abläuft und welche Konsequenzen dies für einen optimierten Unterricht hat. Er behandelt - aus dieser Perspektive und in verständlicher Sprache - die Grundlagen der Mehrsprachigkeit, der Migrationsfaktoren, des Sprachenerwerbs und der Attrition, der dynamischen Modelle der Mehrsprachigkeit, der Sprachvariation und Sprachmischungen (Code-Switching, Ethnolekte, Xenolekte), der Pidginisierung und Kreolisierung sowie des Erwerbs mündlicher und schriftlicher Kompetenzen in der Fremdsprache. 4 4 Kompendium DaF/ DaZ DaF/ DaZ 4 Kompendium DaF/ DaZ ISBN 978-3-8233-8182-2 Roche / Terrasi-Haufe (Hg.) Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb Jörg Roche / Elisabetta Terrasi-Haufe (Hg.) Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb